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Full text of "Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluss ihrer Anwendungen"

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ENCYKLOPÄDIE 


DER 


MATHEMATISCHEN 
WISSENSCHAFTEN 


MIT EINSCHLUSS IHRER ANWENDUNGEN 


FÜNFTER BAND: 
PHYSIK 











ENCYKLOPÄDIE 


MATHEMATISCHEN 
WISSENSCHAFTEN 


MIT EINSCHLUSS IHRER ANWENDUNGEN 


FÜNFTER BAND IN DREI TEILEN 


PHYSIK 


REDIGIERT FON 


A.SOMMERFELD 


IN MÜNCHEN 


ZWEITER TEIL 


& 


LEIPZIG 
VERLAG UND DRUCK VON B.G. TEUBNER 
1904 — 1922 


EIH STATE, 


ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


D. Elektrizität und Optik. 


12. Standpunkt der Fernwirkung. Die Elementargesetze. Von 
R. REiFF in Stuttgart und A. SOMMERFELD in Aachen. 


Seite 
LT N A a ea a re ik ar Ka a A A 4 
3. Örsted,:Biot und: Bea na, ea, ee, ee 7 
DI: RE EEE BEER EEE ne a a 10 
GE a re ET ET de Pre en ah Saar na 20 
el a a Ba a a a ae a a 23 
WE ERBE a a 34 
7. Gauß und Riemann ....... EEE ge 45 
TERCAT NONE 9. 009 nr RE NEL ER 2 .BE 
BEE u pr Die A RE 55 
(Abgeschlossen im Dezember 1902.) 
13. Maxwells elektromagnetische Theorie. Von H. A. LoRENTZ 
in Leiden. 
I. Vorbereitende Begriffe und Rechnungsmethoden. 

%: Dinleitaiei uiid la Sa are a ey ee 67 
TRIERER EBREUE BRG REDEN. ee ae ee a 69 
3. Mathematische Behandlungsweise und Bezeichnungen. . ... 2... 70 
4, Hilfssätze aus der Vektorentheorie . . 2». 2.2 2220002. 73 

II. Die mathematische Formulierung der Maxwellschen Theorie. 
5. Die in den Feldgleichungen auftretenden Vektoren. . ... 2...» 78 
6. Die BauDEglsighungen . m 2 0 0 0 a ee de 81 
7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten... . . . 2.2.2... 83 
8. Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen an derselben Stelle... . - 88 
en Tr Ru Par Au ee 89 

III. Anwendung der Grundgleichungen. 

10. Vergleichung der Theorie mit den Beobachtungen . ... 2.2... 90 
Ss ; Blektrinche: Badang: u: un: gr ech enmbrnieme sch Iren all 92 
u. Biekktonialakı hrie ia: Mania: 0 elite > aan At 93 
13. Elektrische Polarisatin .... 2.222. enen een 94 
14. Konstante Ströme in Leitern . . . ... 2.2... et Kara 94 
15. Magnetismus. Magnetisierung . . 2... 2.2» 2. 2 men nen. 95 
16. Das magnetische Feld konstanter Ströme . . 2: rn 96 
17. Zerlegung des elektrischen Stroms . . » 2222er. 20. 97 

18. Der magnetische Strom und die unipolare Induktion. Dualität zwischen 


den elektrischen und den magnetischen Erscheinungen... ....* 


M794656 


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Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


Seite 

eeramenbe Bimsmebe =: 3.0 ee ee es... 88 101 

versuche Won Biondiob:. u... . Kaserne ee 

Fortpflanzung des Lichtes. Aberration. .. 2... 22222000. 103 

IV. Allgemeine Folgerungen und Theoreme. 

. Emeesie. Foyatlingscher Sale „Su ae . s 105 

: PORSWBOINDIOHENBR REREB ; as en ee ie. 107 

. Beispiele für die Bestimmung der ponderomotorischen Kräfte... . . 110 

. Bemerkung zur Definition der elektrischen und der magnetischen Kraft 113 

. Bewegungen deh Albers HE IN. BINTERHINTSTEN DSL. . 113 

. DORiDIDEihie- MNd BERERBEBEBO Sn ee 114 

. Vektorpotential der magnetischen Erregung. .... . 2.2.2... 116 
nderung der magnetischen Energie bei unendlich kleiner Änderung 

des elektrischen Sfromas\ . nisi= sata. JE. 2 2.2.% 117 

30. Elektrische und magnetische Erregungslinien . . . ».. 22 22 2.0. 118 

31. Bewegung der Erregungslinien in einfachen Fällen ......... 121 

. Verschiedene Auffassungen der Hauptgleichungen. ... ..2.... 122 
Y. Zusammenhang der Theorie mit den Prinzipien der Mechanik. 

Mechanische Analogien und Bilder. 

33. Anwendung der Prinzipien der Mechanik. . .. 2... 2.2 2 eine“ 122 

. Dynamische Theorie von Maxwell . . ... ... 2 2 ven“ ir 

; Allgemeine Betrachtungen: ; .. . 2. w..0 1... „apa ee 124 

, Ableitung der zweiten Hauptgleichung.. . . . . . me. nee. 127 

. Berechnung der ponderomotorischen Kräfte. . .. . . 2 22 nu. 128 

. Helmholtz’ Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung . . . 130 


. Bemerkungen zu der Anwendung des Prinzips der kleinsten "Wirkung 133 
. Die Elektrizität als inkompressibele Flüssigkeit. Maxwells Vorstellungen 


TUR VRRIR  NERSBNRERERR ©: 5.400 00 sa as na ae A na a aa re re 134 
. Verschiedener Charakter der elektrischen und der magnetischen Zu- 
nn aa RE ts > grade ern 135 
. Anschluß an die Theorie elastischer Medien . .... 2. 22.2.2... 136 
inermodyanssaane Dohandlunge „is 140 


VI. Vergleichung von Fern- und Feläwirkungstheorien. 


. Fernwirkungstheorie von Helmholtz . ... 2.2.2 22.22... 141 
. Verhältnis zwischen den Feldwirkungs- und den Fernwirkungstheorien 143 


(Abgeschlossen im Juni 1903.) 


14. Weiterbildung der Maxwellschen Theorie. Elektronen- 
theorie. Von H. A. LoRENTz in Leiden. 


I. Grundlagen der Elektronentheorie. 


RER ee a ee ee Re a, 151 
Grundgleichungen für den Atller.', ri, ii ram, 9b yagjalyı 155 
. Die auf die geladene Materie wirkende Kraft... ... 2.2... ...156 
, Einführung von Potentialen .-...-.-..2-u.....: „eur N? 156 
. Integration der Potentialgleichungen . .. .. 2.2.2.2 22.22... 158 
Energie. Poyntingscher Balz - .- .-.:4-.:. „LEERE: FE ANEIRBER RERFL 159 
. Allgemeine Betrachtung der auf geladene Materie wirkenden Kräfte. 
Elektromagnetischer Impuls: ... .. 2,2% 224 2205,29 2 SAREEgED 5 161 
Ableitung der Grundgleichungen aus den Prinzipien der Mechanik . . 164 
Allgemeine den Grundgleichungen äquivalente Sätze. . . ...... 167 


Die Hauptgleichungen für ein bewegliches Koordinatensystem . . . . 170 


. Wirkung eines äußeren Feldes... .... 2... BEE 
. Bewegung eines Elektrons in einem gegebenen Felde ........ 
. Wechselwirkung zweier Elektronen. . . ..... 222.2... 


. Induktion in einem bewegten Dielektrikum 
‚ Deformation eines Dielektikums . N... 222200 
. Abhängigkeit der Dielektrizitätskonstante und des Brechungsexponenten 


. Elektronentheorie der Magnetisierung 
. Elektrische Ströme in magnetisierten Leiten... 2: 222.2... 
. Allgemeine Betrachtungen betreffend die Beziehungen zwischen den Zu- 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


IL. Bestimmung des elektromagnetischen Feldes bei gegebener Lage 
und Bewegung der Elektronen. 


he 1 er RR a Er 
. Zustand des Feldes, wenn die erregende Ladung in einem unendlich 


ME: 2 ei 


. Ein elektrisch polarisiertes Teilchen . . . ... 22... EBD BER 
. Eine einfache Lichtquelle. . . . . 2.2... SIRTRRBTE Ian, 
sin magnetisiertes Tollchen - - - +» > #2: ner en 
koblerende geladene Kugeln. » # =... 2... ....2wBan 387 TORE 
. Das von einem Elektron mit beliebiger Bewegung erregte Feld. 

. "Ausstrahlung von’Energie. 1.0 200 mer 9 alt 
. Entstehung von Röntgenstrahlen . . ... 2... 0 rn. 


III. Freie Elektronen. Bestimmung der Bewegung bei gegebenem 


äußerem Felde. 


‚ Rückwirkung des Äthers auf ein langsam bewegtes Elektron von be- 


liebiger Gestalt. Widerstand gegen A A 


. Elektromagnetische Masse der Elektronen. .... 2... 22... 
. Quasi-stationäre Bewegungen im allgemeinen. Rückwirkung des Äthers 


Sur en robierenHan Wlekurum.. 4. 000 20 u ae , 


IV. Elektromagnetische Vorgänge in ponderablen Körpern. 


. Die Elektronen in den ponderablen Körpern ........ 
ERWERBEN 0 0 a aan 
. Hilfssätze für die Berechnung der Mittelwerte 
. Mittelwerte, die von den Leitungselektronen herrühren. . ...... 
. Mittelwerte, die von den Polarisationselektronen herrühren 
. Mittelwerte, die von den Magnetisierungselektronen herrühren . . 
. Die verschiedenen Teile des elektrischen Stroms 


. Die Grundgleichungen für die Mittelwerte . . . ... 2.2.2... A 
„ Versuche von Miobenwald.. WaBIBRDA BBIDHBIN . . nee. 
. Das elektromagnetische Feld im Innern verschieden gestalteter Höh- 


RER EDBSE HH 27. a GR ABA ale 0 N ER Rn 


. Die auf die Elektronen und die Teilchen wirkenden Kräfte 
. Leitfähigkeit 
. Elektrizitätsbewegung in Elektrolyten 
u glei ne ER 
. Elektrizitätsbewegung in Metallen 
. Halleffekt und verwandte Erscheinungen . . 
„Induktion in bewegten Leitern. . . 2... el. 2... 
. Polarisierte Dielektrika 
. Statistische Zustände in einem ruhenden System von Leitern und iso- 


tsopen Nichtleiterm, » . miss 2 24 a0 0 nung ‚gr 


von Dichte und Zusammensetzung der Körper, . . 


TE TE Te ee re 


standsgrößen 


Be PAR TA 30 a Be a. ee, ee Er Tr ET 


. Energie und Energiefluß in ruhenden Körpern. .. 2.2.2.2... 
. Andere Bestimmung der Energie und des Energieflusses .. . .. : » 
. Fiktive Spannungskomponenten in ruhenden unmagnetisierten Nicht- 


TE a u ein helee star 


vo 
Seite 


173 


177 
178 
180 
181 
182 
184 
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187 


188 
190 


193 
194 
198 
199 


200 
201 
203 
206 
206 
207 
208 
208 
210 


211 


viit Intialisverzeiöhnid zu. Bad Vy:2. Teil; 


54. 
55. 


Seite 
Energie und: Energiefluß in: bewegten Nichtleitern. Verifizierung der 
Bemuliäle ... N 2.2 enable ab We mie: Numiien se co + 250 
Bemerkungen zu den ponderomotorischen Kräften...» ...... 254 


V. Nähere Betrachtung bewegter Systeme. 


. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen . . 255 


57. Einfluß einer Translation auf optische Erscheinungen in durchsichtigen 
KÖrpern .. u: .<..nn. stone rare ae et aan na TREE Meran 265 
58" Aberration des Lächtes .. .... enzec ann. 9 0. aa Sushi Abadtai 266 
59. Versuche mit irdischen Lichtquellen . ... 2. 2 2 2 2 2 en 2 u u 267 
60. Mitführung der Lichtwellen durch die ponderabele Materie. .. ... 271 
61. Andere Ableitung des zur Erklärung der Aberration führenden Satzes 272 
62. Der Michelsonsche Interferenzversuch. . . .. » 22 2 2 2 2 220. 273 
68. Topos von LobE un neaih wie eometertäsent ‘ menbemeinbn ee A 274 
VI. Schluß. 
64. Gegenwärtiger Stand der Theorie ., . .... 2. were eiecn one 277 
65. Anwendung der Begriffe der Elektronentheorie auf andere Gebiete . . 279 


(Abgeschlossen im Dezember 1903.) 


15. Elektrostatik und Magnetostatik. Von R. Gans in Tübingen. 


hi Einleitung 2: „la nn u a a 291 
2: Hlektrümuunetische "PREOMB man, STRSREU EHER 292 
3. Die Grundgleichungen der Elektrostatik und der Magnetostatik. . . . 293 
4, Eindeutigkeit des Feldes. Vergleich mit der Fernwirkungstheorie . . 295 
5, Allgemeine Eigenschaften des Feldes. .. 2.2.2... 2 u 200 a .elee 296 
6. Superposition der Felder. Die Energie... . ..1..21-umuesshensue ne 298 
Ba. 

E I. Elektrostatik. 


A. Die Dielektrizitätskonstante ist im ganzen Raume eine und 
dieselbe Konstante. 


7. Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. Influenzmaschine. 

Kinttenköndenaakor . : .: : u: ne Na a 299 
8. Kräfte eines Leitersystems. Absolutes Elektrometer. Quadrantelektro- 

a Bi ER REN er 3504 
9. Zweidimensionale Probleme. Abbildung. Dichtigkeit der Elektrizität 

an BRRn 2.0 Sn ee 306 
19. "Anwendung auf das Schutzgitter. .; . 7 HE ABIT EI TIE, 310 
I "Anwendung auf den Kondensator‘ Hg" NER Du Dip, 313 
2 Kügel.‘ Ellipsoid. Zylinder Bing... Een REF NAGET 
78."Blekttiache: Bilder: Zwei Kugeln .; : 1.223 2.0 amaPXe SEIMIACRB, 319 


B. Die Dielektrizitätskonstante hat in verschiedenen Teilen des Raumes 
verschiedene Werte.! 


14. Ungeladene Dielektrika im Felde. Leiter als Grenzfall des Dielektri- 

kums. Kondensator mit geschichtetem Dielektrikum . . ...... 325 
15. Influenz. Wahre und freie Elektrizität. . . . : 2.2 2 2 2 2 nn 327 
16. Influenz auf Ellipsoid und Kugel. Clausius-Mossottische Theorie... . 328 
17. Hohlkugel und Hohlzylinder im gleichförmigen Feld... ...... 330 
28.-Spannungen und Kräfte; °; u, we EI HE AT 331 
29. Kräfte auf starre Körper 154,2. 059 pour I BRAIN, 331 
30-Blektromotorisch6 rlbe:9 1, >. Dy 1 rege a NEIN. 334 
21. Krisulb . 2 Wa HP PABAmDE, BIREEETR ERTHLIDER NET NE 335 
WBöückbtand : a ni EN RERE u RER 336 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. IX 


II. Magnetostatik. 


23. Unterschiede der magnetostatischen und elektrostatischen Probleme. .. 837 
SE u ushaen Maguelismut 3 aan... 0 nern. 338 
25. Influenz. Wahrer und freier Magnetismus . . .. : 2 222220. 339 
N NEE EB 342 
EEE AERO. <; 5 BE DE I REIZE 342 
28. Magnetisches Moment. Horizontalintensität. Kompaß. ....... 343 
29: Magnetische Doppelschichten . . . . 2... 222.2. 1. ee UHR 345 
IE VORSEB EI a een 4 ae, 2 2. 6. 2 EOS 346 
ERROR Re 347 
er 348 


(Abgeschlossen im Oktober 1906.) 


16. Beziehungen zwischen elektrostatischen und magnetosta- 
tischen Zustandsänderungen einerseits und elastischen und 
thermischen andererseits. Von F. PockELs in Heidelberg. 


1. Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum . ......... 351 
2. Die Bedeutung der Maxwellschen Spannungen für die Elektrostriktion 356 
3. Spannungen, welche durch die Veränderlichkeit der dielektrischen Kon- 
Buba DOBEHGR WER 3 5: 2.550 I BRER, 359 
4. Elektrostriktion von Flüssigkeiten . . . ..: 2 22... 2 2 222.2. 361 
5. Elektrostriktion isotroper fester Körper. Ihre Behandlung nach den 
Methoden der EHlastizitätstheorie . . . .... . „Wir... .. 362 
6. Fortsetzung. Energetische Behandlung. . . . . 2... 222 nn 20. 366 
SELERSBREIBERERION . , , , , . 2 ma Sec = eve 369 
8. Piözoelektrizität und Elektrostriktion azentrischer Kristalle. Allgemeiner 
ee pr en Sr u re 374 
9. Spezialisierung für die einzelnen Kristallgruppen ...... 2... 378 
N A re 330 
11. Polare Pyroelektrizität und reziproker Wärmeeffekt .. ....... 384 
12. Molekulartheorien der Pi&zo- und Pyroelektrizität . .. . ...... 386 
18. Zentrische Pyro- und Pi&zoelektrizität . .. .. 2... 22.222 .. 388 
En en RE Bu SE are: 392 


appwn 


(Abgeschlossen im Oktober 1906.) 


17. Stationäre und quasistationäre Felder. Von P. DEsyE in 


München. 
I. Stationäres Feld. 


A. Allgemeine Formulierung der Probleme. 


+ Gruhäpleichungen a ee. een 395 
el see Sr BR N rs RR, al ae NEUERE EEE 396 
HERE SEHEN BF @beh ; = ; EERENTIEE, ERRLNE. DNERAR ON BAERTNT, 398 
Das magnetische Feld. Allgemeiner Fall. ..... 2.2.2220. 399 
Das magnetische Feld. Spezieller Fall w=const.. ......... 401 


B. Spezielle Behandlung körperlicher Leiter. 


I DEE ER ERERNERIGDER . ua > spe sn rar ae chuannäfit: ® 401 
03 II ERNOREI TER: U RER 2 EN ER IE REEL A 404 
8. Elektroden endlicher Abmessungen. Halbraum, Kugel... ..... 406 
9. Kirchhoffs Methode zur Bestimmung der Leitfähigkeit. Parallelopiped. 
Kreiszylinder 2. „euwagbodssmt 35 Dos zopmaneielybiat 411 
m Noßilische: Ringer. iu. runden geb yinssauyeileibunn. wlan 412 


. 
Inhaltsverzeichuis zu Band V, 2. Teil. 


‚ Inhomogene heiter: ...» Aisaeranabne ee. 
. Näherungsweise Berechnung des Widerstandes. Draht von variabelem 


Querschnitt. Übergangswiderstand. . ...... 2: 22 22 22. 


C. Flächenleiter. 


. Grundgleichungen. Übliche Fragestellung . . ... 2 222.0... 
. Zusammenhang mit der Theorie der Flächen ... ....... En 
Ebene Plan". "N... cn. + aikaniielertane oralen 
iekrümmie Pinkten = Sun ee a 


» Grunägleichungen.... ine Bi DD, 
RR SE RR ee ee len 
. Spezielle Fälle der Stromverzweigung: Wheatstonesche Brücke usw.. . 
. Das magnetische Feld in speziellen Fällen: Einzelner gerader Draht, 


zwei oder mehrere parallele gerade Drähte. . 


RE RE Er ET Na ER ee Ar 


. Das magnetische Feld eines Kreisstroms . . . 2 22 2.2 2 0... 
..Das magnetische Feld ainer,Bpule x... „+... sa: east sep 


II. Quasistationäres Feld. 
A. Allgemeines. 


;“Grundgleichungen und Potentiale . . ... . -... ‚mbsasse wink -ce \ 
Au;Die Energiegleishung. 2.2 RT AR arena 


B. Spezielles über Körper- und Flächenleiter. 


. Körperliche Leiter. a) Ruhende Körper . .. . 2.22 2.2 2. 


h). Bewegte Körper. ;;. u. u SOHERTERITSTE 


„‚Flächenleiter..- 28. 77:8 MI PS IE TTS ERLERNEN ENTER 


C. Lineare Leiter. 


. Die gewöhnlichen Differentialgleichungen für Stromkreise ohne Kapa- 


zität. Definition der Induktionskoefizienten -. . . . : 2 2 2 2 2 2.0 


. Die Differentialgleichungen für Stromkreise mit Kapazität... .. . 
jiDie Energiegleichung . . , nt a a ne ce 
. Induktionskoeffizienten für geradlinige Leiter. Der mittlere geometrische 


Abstand 


2 Aare a N re ee ee? VRR 2 m A RENT RN U m Sie re Nie 


‚Werte für BR. in. speziellen Fällen. a2... 103 een. 
. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 


a) Gerade. Leiter. ....; . able ae 
©) MERDEMIGO LOIUOE na a ee a 


. Spezielle Fälle von Stromkreisen mit zeitlich veränderlicher elektromoto- 


rischer Kraft. Der Widerstandsoperator 


äh ES Et ec RD. Hape, rt rer VRR Kar ANee 


. Wheatstonesche Brücke für Wechselstrom . ..: 2. 2 2 2 2 2 u. 


III. Ponderomotorische Wirkungen. 


35. Berechnung der Kräfte zwischen Strömen. . .. 2.2. 22. nen. 
36.:Galvanometer . . . . . usa 


DT RT Le Da Biere: yo 


re re u a a ee Er 


(Abgeschlossen Ende 1909.) 


18. Elektromagnetische Wellen. Von M. ABRAHAM in Mailand. 


I. Einleitung. 


. Die Feldgleichungen und die Grenzbedingungen. . . . . vr 2. 
. Geschichte und Begrenzung des Gebietes . . . . . . me. mn... 


Seite 
415 


416 


419 
419 
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441 
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454 
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460 


462 
463 
464 
467 


472 
474 


476 
478 
479 


mu 


von 


10. 
11. 
12. 


13. 


er 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


I. Entstehung und Ausbreitung elektrischer Wellen. 


Theorie der Entladung eines Kondensators . . .. 2 22.2... 
Die Hertzsche Lösung der Feldgleichungen ......... 
Superposition -Hertzscher Lösungen, . . ... 2. N. 
Elektrische Eigenschwingungen . ... .... 2.2. 2 v2 2.2.2. 
GE 2 ee a we ie 
Di Drinaseale Ben RER FR N a ne 
0: BRosteiin Be ne iin ARTEN. 1 a ce 


. Sendeantennen der drahtlosen Telegraphie . . ... 2.2 ve... 
Elektrische Bosonansraniisih Buena] a Hard onneirerab 


II. Fortleitung elektrischer Wellen durch Drähte. 


Eindringen des Feldes in zylindrische Leiter. Skin-Effekt...... 
Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie . . .. . 22 2 2... 
Drahtwellen; strenge Theorie. 

2) Buweldrshlsird antun ana . ent un mals) 
bi-Kahel ‚und Zarelloläschle.. . . una a ia ie ee 
Reflexion am Ende der Leitung . ........ 2. 2m. ee. 


(Abgeschlossen im Juli 1906.) 


“19. Relativitätstheorie. Von W. Paurı jr. in München. 


I. Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie. 


Historisches (Lorentz, Poincare, Einstein) . . . . 2.2 2 22 2 2. . 
Das’ Bolativitätspostulad 2:5. unterm pe m 2  ENTTRHEREE 
. Das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die Theorie 
von Ritz und verwandte Theorien . . .. 2.2.2222 2 2. vn. 
. Relativität der Gleichzeitigkeit Ableitung der Lorentz-Transformation 
aus den beiden Postulaten. Axiomatik der Lorentz-Transformation . 

Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation . . . . .. 2. 2 2 2 2 2 2 2. 


. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten und seine Anwendung 


auf Aberration und Mitführungskoeffizient. Dopplerefiekt ...... 


II. Mathematische Hilfsmittel. 


Die vierdimensionale Raum-Zeitwelt (Minkowski) . . . .. 2.2... 
bergang zu allgemeineren Transformationsgruppen . .. . . 2... 


. Tensorrechnung bei affinen Koordinatentransformationen . . .2... 
. Die geometrische Bedeutung der kontra- und kovarianten Komponenten 


EINEBE VORROTSRIER ROTE NAHEN an nn asuhnsw 


. Flächen- und Raumtensoren. Vierdimensionales Volumen . ..... 
. Duale Ergänzung zu Flächen- und Raumtensoren . . . . 2.2... 


bergang zur allgemeinen Geometrie Riemanns. . .. ..... 


. Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors. ......... I“ 
EC BE SE N a eo 6 ernidn nee 


a a 
. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen . ..... 

. Die Spezialfälle der euklidischen Geometrie und der konstanten Krüm- 
pe versehen RER BEIDEN OR TESTIBE PB BERT SHE, 
. Die Integralsätze von Gauß und Stokes im vierdimensionalen Riemann- 
are RR ENTE N ER Sen DR N 

. Herleitung von invarianten Differentialoperationen mit Benutzung der 
gedditotinn Koinbenanen : un... Beraten NanaKav 


tt Affintensoren ‚und; freie. Vektöfdn ao imdsA aaa m ga 
E Realitätsverhältnisse ADELS IETIEDE WED BUNTE GULUY 


33. 
34. 
35. 


36. 


50. 
51. 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2, Teil. 


III. Weiterer Ausbau der speziellen, Relativitätstheorie. 
a) Kinematik. 


» Vierdimensionale Darstellung der Lorentz-Transformation ...... 
„Das Additionstheorem der Geschwindigkeiten . 2» 2.2.2 2 2220. 
. Transformation der Beschleunigung. Hyperbelbewegung ....... 


b) Elektrodynamik. 


. Invarianz der Ladung. Viererstrom . 222.220 0 
. Die Kovarianz der Grundgleichungen der Elektronentheorie. . . . . . 
. Ponderomotorische Kraft und Dynamik des Elektrons . . . . . 2... 
. Impuls und Energie des elektromagnetischen Feldes. Differential- und 


Integralform der Erhaltungssätze.: . . - ». 2.2.2222 22020. 


. Das invariante Wirkungsprinzip der Elektrodynamik. . . ...... 
. Anwendungen auf spezielle Fälle: 


«) Die Integration der Potentialgleichungen. . . . .. 2.22.22... 
ß) Das Feld der gleichförmig bewegten Punktladung . . ...... 
y) Das Feld der Hyperbelbewegung . ... 2.2.2 2 nn 2 
0) Invarianz der Lichtphase. Reflexion am bewegten Spiegel. Strah- 
lungsdruek: . - 2... 0 et  RARTRLTN Ku EREU RR, 
e) Das Strahlungsfeld eines bewegten Dipols . .. . 22.22.20. 
&) Die Reaktionskraft der Strahlung . „une: 2» 2 2 02 eene. 
Minkowskis phänomenologische Elektrodynamik bewegter Körper. . 
Elektronentheoretische Ableitungen. - . .. ... 2.2.2... 22.2. 
Impuls-Energietensor und ponderomotorische Kraft der phänomenologi- 
schen Elektrodynamik. Joulesche Wärme ...... 2.2.22. 
Anwendungen der Theorie: 
«) Die Versuche von Rowland, Röntgen, Eichenwald und Wilson. . . 
ß) Widerstand und Induktion in bewegten Leitern. . .. 2 2... 
y) Die Ausbreitung des Lichtes in bewegten Medien. Mitführungskoeffi- 
siank. i' Versuch. vom Adryazici.anl.uoh an eb ensure 
ö) Signalgeschwindigkeit und Phasengeschwindigkeit in dispergierenden 
Medien. era. seta RER eat a rel 


c) Mechanik und allgemeine Dynamik. 


. Die Bewegungsgleichungen. Impuls und kinetische Energie . . . .. 
. Von der Elektrodynamik unabhängige Begründung der relativistischen 


Machsnik ;.. .. 5.5... 2:00 VE nn, 


. Das Hamiltonsche Prinzip der relativistischen Mechanik ..... .. 
. Generalisierte Koordinaten. Kanonische Form der Bewegungsgleichungen 
Die Trägheit der Energiei 034.1 Jlawtins nat alsieinaeihn ; 
düällgemeine Dynamik . 1, cur Hanteayglia us nuaynr 
. Transformation von Energie und Bewegungsgröße eines Systems bei 


Vorhandensein von äußeren Kräften . . 2.2 2 m m 2 m En Er 2 2. 


. Anwendung auf spezielle Fälle. Versuch von Trouton-Noble. .. . . 
. Hydrodynamik und Elastizitätstheorie . . . 2... 2m 2.22. 00. 


d) Thermodynamik und Statistik. 


. Das Verhalten der thermodynamischen Zustandsgrößen bei einer Lorentz- 


WAR de Sa SE ERLABIRGE REEBER OBER 2324.77 286, ER 


EZRNsID GBr Kleinsten Wirkung. . . 2.2 20 #0 0 
. Die Anwendung der relativistischen Mechanik auf die Statistik. . . . 
, Spezialfälle: 


a) Die Strahlung im bewegten Hohlraum. . ... 2.222220. 
DB) DET ÜBEN 


IV. Allgemeine Belativitätstheorie. 


Historisches bis zu Einsteins Arbeit von 1916. . 2.2.2.0... 
Allgemeine Formulierung des Aquivalenzprinzips, Zusammenhang zwi- 
schen Grevitation und Matrik .; ui intended ae 


675 


675 
677 
678 
679 
682 


684 
685 
689 


'». 
53. 


54. 
55. 


56. 
57. 
58. 


-59. 
60. 
61. 
62. 


Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


Das Postulat der allgemeinen Kovarianz der Naturgesetze ...... 
Einfache Folgerungen aus dem Aquivalenzprinzip: 
a) Die Bewegungsgleichungen des Massenpunktes bei langsamen Ge- 
schwindigkeiten und schwachen Gravitationsfeldem. ....... 
b) Die Rotverschiebung der Spektrallinien .... 2.222220 .. 
c) Fermats Prinzip der kürzesten Lichtzeit in statischen Gravitations- 
ee er sr DEE re 
Der Einfluß des Schwerefeldes auf materielle Vorgänge ....... 
Die Wirkungsprinzipien für materielle Vorgänge bei Vorhandensein 
We VE an ae ae ie 
Die Feldgleiehungen der Gravitation . . 2... 2.2 mm nn nn 
Herleitung der Gravitationsgleichungen aus einem Variationsprinzip. . 
Vergleich mit der Erfahrung: 


b) Strenge Lösung für das Gravitationsfeld eines Massenpunktes . . 
c) Perihelbewegung des Merkur und Krümmung der Lichtstrahlen 
Andere spezielle, strenge Lösungen im statischen Fall. ....... 
Einsteins allgemeine Näherungslösung und ihre Anwendungen . ... . 
Die Energie’ des’ Gravitationsfeld . . Zu. TTT, 
Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Trägheit und räum- 
lich-geschlossene Welt: 
a EEE PR, 0 een 
b) Betrachtungen über das statistische Gleichgewicht des Fixstern- 
ayskams, "Des VER 2ER ER ERLERNT RT, 
ce) Die Energie der geschlossenen Welt. .... 2... 222202 .. 


V. Theorien über die Natur der elektrischen Elementarteilchen. 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. . . . .. 222 2 2 22. 
64. Die Theorie VORKIBMENaE a een 
a a Er 

a) Reine Infinitesimalgeometrie. Eichinvarianz . . .. 2.2.2 .2.. 


66. 
67. 


A190» MD 


b) Elektromagnetisches Feld und Weltmetrik .. .. 2.2.2 22... 
c) Der Tensorkalkül in Weyls Geometrie... .. 22.222200. 
d) Feldgesetze und Wirkungsprinzip. Physikalische Folgerungen. . . 
Be a ee 
Allgemeines über den gegenwärtigen Stand des Problems der Materie. 


(Abgeschlossen im Dezember 1920.) 


20. Elektronentheorie der Metalle. Von RUDOLF SEELIGER 
in Greifswald. 


. Einleitung; historische Übersicht; Abgrenzung des Gebietes . . . . . 


I. Die gaskinetischen Theorien der Wärme- und Elektrizitäts- 
leitung. 


. Grundlagen der Theorien von Riecke und Drude .... 2.2.2... 


Pe a EB: ea Dee 


ee RR NONE AT EC a a Pe 
. Vervollkommnung der Theorie durch H. A. Lorentz . ........ 
AUGMSING BESSER Von: Doby6.. . 2... 2... 002 00. 0 
KO VE a an le 


II. Anwendungen und Folgerungen der gaskinetischen Theorie. 


. Das Gesetz von Wiedemann und Franz; Temperaturkoeffizient des elek- 
SSR: TOBRERNERRE a es tereistie 
. Thermoelektrische Effekte. Voltaeffekt. . .... 222... 00.% 


a) Newtons “Theorie als erste Näherung. . ..... 2 2 22 0. 


778 


XIV Inhaltsverzeichnis zu Band V, 2. Teil. 


11. 
12. 
13. 


14. 
15. 
16. 


17. 
18. 
19. 
20. 
21. 
22. 
23. 


Thermomagnetische und EeLTAnOTIRERAÄIEChe BR .S 5.; 
Legierungen, Halblöiee e:-arrliieireihben ih aan men Set 
Oplik;.der, Meiallai; ai: £ırmineet wa oe 


III. Das Elektronengas. 


Freie Elektronen im Innern des Metalls. Die Elektronenkonstanten 
Thermoionische Untersuchungen... - + » „Slatapietaleneneede it was 
Die thermodynamischen Arbeiten von Laue und Schottky .... .. 


IV. Semigaskinetische und quantentheoretische Ansätze. 


Kritik der gaskinetischen Theorien. . . . ee ee nen 
Thossie men N. Thomann ara ee indem SE A 
Die Slbeskhparn: BE ein fe Sehen ut Mina A 
Die phoretische Elektronentheorie von Benedicks . . ...2 2... 
Quantentheoretische Ansätze: 2:3 una nhaneını on dance nenne 
Thoprin: man: Dil; ZN aaa :; ists aan Bananen Sasha FF var komm fü 


(Abgeschlossen im Mai 1921.) 


Übersicht 


über die im vorliegenden Bande V, 2. Teil zusammen- 
gefaßten Hefte und ihre Ausgabedaten. 


Heft 1. 


16. VI. 1904. 


Heft 2. 


12. III. 1907. 


Heft 3. 


18. III. 1910. 


Heft 4. 


15. IX. 1921. 


Heft 5. 


15. II. 1922. 


D. Elektrizität und Optik. 


. Reırr und SommerreLp: Standpunkt der Fernwirkung. Die 


Elementargesetze. 


. Lorentz: Maxwells elektromagnetische Theorie. 
. Lorentz: Weiterbildung der Maxwellschen Theorie. Elek- 


tronentheorie. 


. Gans: Elektrostatik und Magnetostatik. 
. Pockers: Beziehungen zwischen elektrostatischen und magne- 


tostatischen Zustandsänderungen einerseits und elastischen 
und thermischen andererseits. 


. Desye: Stationäre und quasistationäre Felder. 
. Aurınam: Elektromagnetische Wellen. 


. W. Pıauuı jr.: Relativitätstheorie. 


0. Seruiger: Elektronentheorie der Metalle. 
nhaltsverzeichnis von Band V, 2. Teil. 


si Dur ustlöeitele 


asdosttiaala Dur allgertsnig 


82H 


..33hlo#. and 





D. ELEKTRIZITÄT UND OPTIK. 


* 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 1 





2 

ER 

ED 
% er 


SE, 
ER 





V12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 3 


V12. STANDPUNKT DER FERNWIRKUNG. 
DIE ELEMENTARGESETZE. 


Von 
R. REIFF mn 4: SOMMERFELD 
IN STUTTGART IN AACHEN. 
Inhaltsübersicht. 
1. Coulomb. 6. Wilhelm Weber. 
2. Örsted, Biot und Savart. 7. Gauß und Riemann. 
3. Ampere. 8. Carl Neumann. 
4. Graßmann. 9. Clausius. 
5b. Franz Neumann. 
Literatur. 
Lehrbücher. 


@. Wiedemann, Die Lehre vom Galvanismus und Elektromagnetismus. Braun- 
schweig 1861, 2. Aufl. 1874, 3. Aufl. (Die Lehre von der Elektrizität) 1882, 
4. Aufl. 1889. 

F. Neumann, Vorlesungen über elektrische Ströme, herausgeg. von K. Vonder- 
mühll, Leipzig 1884. 

B. Riemann, Schwere, Elektrizität und Magnetismus, herausgeg. von K. Hatten- 
dorf, Hannover, erste Aufl. 1876. 

@. Kirchhoff, Vorlesungen über Elektrizität und Magnetismus, herausgeg. von 
M. Planck, Leipzig 1891. 

H. Poincare, Electrieit6 et optique, Paris, deutsch von Jäger und Gumlich, 
Berlin 1891. 

P. Duhem, Legons sur l’&lectrieit et le magndtisme, Paris 1891. 


Monographien. 


A Ampere, Memoire sur la theorie mathematique des phenomenes &lectro- 
dynamiques uniquement deduite de l’experience. Paris 1826. 
W. Weber, Elektrodynamische Maßbestimmungen. Leipz. Abh. 1840—1878. 
1* 


4 V'12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


1. Abh.: Insbesondere über ein allgemeines Grundgesetz der elektrischen 
Wirkungen. 
2. Abh.: Insbesondere Widerstandsmessungen. 
3. Abh.: Insbesondere über Diamagnetismns. 
4. Abh.: R. Kohlrausch und W. Weber, Zurückführung der Stromintensitäts- 
messungen auf mechanisches Maß. 
5. Abh.: Insbesondere über elektrische Schwingungen. 
6. Abh.: Insbesondere über das Prinzip der Erhaltung der Energie. 
7. Abh.: Insbesondere über die Energie der Wechselwirkung. 
R. Clausius, Die mechanische Behandlung der Elektrizität, Bd. 2 der Mecha- 
nischen Wärmetheorie, 2. Ausg. Braunschweig 1879. 
C. Neumann, Die Prinzipien der Elektrodynamik. Gratulationsschrift der Tübinger 
Universität zum Jubiläum der Bonner Universität. Tübingen 1868, abgedruckt 
in Math. Ann. 17 (1880), p. 400. 
— Die elektrischen Kräfte. Leipzig, Teil I 1873, Teil II 1878. 
— Allgemeine Untersuchungen über das Newtonsche Prinzip der Fernwirkungen, 
Leipzig 1896. 
E. Wiechert, Grundlagen der Elektrodynamik. Festschrift zur Feier der Ent- 
hüllung des Gauß-Weber-Denkmals. Leipzig 1899. 


Sammeiwerke. 

Collection de Memoires relatives & la physique, publ. par la societe frangaise de 
physique, T. 2, 3. Paris 1885, 1887. 

W. Weber, Ges. Werke Bd. 3 und 4. 1893. 

H. v. Helmholtz, Ges. Abhandlungen. Leipzig 1882—1895. 

In Ostwald’s „Klassiker der exakten Wissenschaften“ erschienen: 

Nr. 10. F. Neumann, Die mathematischen Gesetze der induzierten elektrischen 
Ströme (1845). Herausgeg. von ©. Neumann. 

Nr. 13. Coulomb, 4 Abhandlungen über die Elektrizität und den Magnetismus 
(1785—1788). Herausgeg. von W. König. 

Nr. 36. F. Neumann, Über ein allgemeines Prinzip der mathematischen Theorie 
induzierter elektrischer Ströme (1847). Herausgeg. von ©. Neumann. 

Nr. 63. Hans Christian Örsted und Thomas Johann Seebeck, Zur Entdeckung 
des Elektromagnetismus (1820—1821). Herausgeg. von A. J. v. Öttingen. 

Nr. 81—87 und Nr. 126, 128. Michael Faraday, Experimental-Untersuchungen 
über Elektrizität (1832—1838). Herausgeg. von A. J. v. Öttingen. 


1. Coulomb. Die Grundlagen für die theoretische Behandlung 
der elektrischen und magnetischen Erscheinungen hat Ch. A. Ooulomb im 
Jahre 1785 gegeben. Nachdem er im vorangehenden Jahre gezeigt 
hatte, daß man die Torsion eines Drahtes benutzen kann, um sehr 
kleine Kräfte zu messen, wendete er diese Methode nun an, um die 
Kraft der Anziehung und Abstoßung elektrischer Mengen zu be- 
stimmen. Zu dem Ende konstruierte er seine Torsionswage, neben 
weleher er auch ein elektrisches Horizontalpendel benutzte. Seine 


1. Coulomb. 5 


Untersuchungen legte er der Pariser Akademie in sieben Abhand- 
lungen vor!). 

In der ersten Abhandlung leitete er mit Hülfe der Torsionswage 
und des elektrischen Horizontalpendels das Gesetz vom umgekehrten 
Quadrat der Entfernung für die Wirkung der elektrischen und magne- 
tischen Kräfte ab. Von da aus wurde er zu einer eingehenden Unter- 
suchung über den Elektrizitätsverlust geladener Körper geführt, die 
er in der dritten Abhandlung niederlegte. 

Für die theoretische Behandlung der Probleme sind ferner die 
vierte und die siebente Abhandlung bedeutsam. 

In der vierten Abhandlung werden die zwei wichtigsten Sätze 
über die Gleichgewichtsverteilung der Elektrizität auf einem Leiter 
festgestellt: „Die Verteilung der Elektrizität ist unabhängig vom Ma- 
terial der Leiter“ und „Die Elektrizität findet sich nur auf der Ober- 
fläche der Leiter“. Die Methode zum Nachweis des letzteren Satzes 
bestand im wesentlichen in der Anwendung von Probescheiben, die 
in das Innere des mit Öffnungen versehenen Körpers eingeführt wurden. 
Das experimentelle Ergebnis wußte Coulomb auch durch eine theore- 
tische Überlegung zu stützen, die hier angeführt werden möge. An 
die Oberfläche des elektrisch geladenen Körpers wird in irgend einem 
Punkt die Tangentialebene gelegt und durch eine zu ihr benach- 
barte Parallelebene ein unendlich kleines Stück des (konvex gedachten) 
Leiters abgeschnitten. Zu diesem Stück wird darauf in Bezug auf die 
Parallelebene das symmetrische konstruiert. Wäre nun die Elektrizität 
gleichnamig und stetig durch das Innere des Körpers verteilt, so 
würden die in den beiden symmetrischen Stücken enthaltenen elektri- 
schen Mengen, deren Dichtigkeit innerhalb dieser Gebiete als konstant 
betrachtet werden darf, auf die Elektrizität in der Symmetrieebene ent- 
gegengesetzt gleiche Wirkungen ausüben. Die Wirkung der im ganzen 
übrigen Körper vorhandenen Elektrizität: würde aber eine abstoßende 
Kraft liefern. Daher kann sich die Elektrizität auf der genannten 
Parallelebene nicht im Gleichgewicht befinden. Elektrizität kann also 
nur auf der Oberfläche des Leiters vorhanden sein, wenn man freie 
Beweglichkeit der Elektrizität im Leiter voraussetzt. 

In der siebenten Abhandlung endlich findet sich diejenige An- 
schauung über das Wesen des Magnetismus, die später von Poisson 
seinen Entwickelungen zu Grunde gelegt wurde, wonach die magne- 
tischen Flüssigkeiten nicht frei im Körper verschiebbar, sondern an 
die Molekeln desselben gebunden sind. 


1) Histoire et M&moires de l’Acadömie Royale. Paris, 1785—1787. Vgl, 
auch Litteraturübersicht, Ostwald’s Klassiker. 


6 V 12. R. Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Zu den elektrischen Arbeiten Ooulomb’s ist noch zu erwähnen, 
dass FA. Cavendish?) nach einer erst nach seinem Tode veröffent- 
lichten Arbeit vom Jahre 1772 die Ooulomb’schen Resultate schon teil- 
weise vor diesem gefunden hat. 

Eine der bedeutsamsten Folgerungen, die später aus den Coulomb- 
schen Untersuchungen gezogen sind, besteht darin, dass sie die Hand- 
habe bieten zur absoluten zahlenmäßigen Messung der Elektrizitätsmenge 
und der Menge des Magnetismus. Nach Coulomb kann die mechanische 
Kraft %, die zwei elektrische Mengen e, e’ bezw. zwei Magnetpole m, 
m’ im Abstande r aufeinander ausüben, gleichgesetzt werden 


(1) la; 8-5, 


wo k und h Proportionalitätsfaktoren bedeuten und positiv sind, wenn 
Abstoßung als positiv gerechnet wird. Dabei möge vorausgesetzt 
werden, daß sich zwischen den beiden elektrischen oder magnetischen 
Mengen Luft befinde. Nimmt man nun die Faktoren %k und h gleich 1 
und mißt man % z. B. im absoluten Maß (CGS-System), so ist 
damit die Dimension und die Einheit der Elektrizitätsmenge sowie 
der Menge des Magnetismus festgelegt. Insbesondere wird in den heute 
gebräuchlichen absoluten Einheiten die Elektrizitätsmenge (Magnetismus- 
menge) 1 diejenige, welche in der Entfernung 1 auf eine gleich 
große Menge die Kraft 1 Dyne ausübt. Die so definierte Elektrizi- 
tätseinheit heisst die elektrostatische Einheit. Dagegen ist die durch 
internationale Festsetzung definierte und nach Coulomb benannte Elek- 
trizitätseinheit nicht auf das elektrostatische, sondern auf das elek- 
tromagnetische Maßsystem begründet (vgl. Nr. 6); sie ist gleich 1/10 
der elektromagnetischen Elektrizitätseinheit und (vgl. Nr. 6) gleich 
3-10° elektrostatischen Einheiten. Die soeben definierte Einheit des 
Magnetismus ist die im elektromagnetischen System benutzte magne- 
tische Einheit; sie wurde von ©. F. Gauß?), dem Begründer des ab- 
soluten Maßsystems, eingeführt und verwertet. 

Zugleich mit der Einheit des elektrischen und magnetischen 
Quantums ist auch die elektrische und magnetische Feldstärke (oder 
Kraft) als diejenige mechanische Kraft festgelegt, welche an einem 
Orte auf die dorthin gebrachte Einheit der Elektrizität oder des 
Magnetismus wirken würde, wenn das Feld durch Hinzufügung dieser 


2) Electrical Researches, geschrieben zwischen 1771 und 1781, herausgeg. 
von Cl. Maxwell 1879. 

3) Intensitas vis magneticae ad mensuram absolutam revocata, Göttingen 
1832, Ges. Werke 5, p. 81—118. 


2. Örsted, Biot und Savaıt. 7 


Einheit nicht merklich geändert würde. Die elektrische Feldstärke 
ergibt sich auf diese Weise im elektrostatischen, die magnetische 
Feldstärke im magnetischen Maßsystem. 

Eine wesentliche Ergänzung hat das Coulomb’sche Gesetz später 
durch M. Faraday erfahren, welcher zeigte, dass das Zwischenmedium 
bei der Übertragung der Kraft eine Rolle spielt. Die Proportionali- 
tätsfaktoren h und k sind nämlich von der Beschaffenheit des Mediums 
abhängig und erweisen sich umgekehrt proportional der sogen. Di- 
elektrizitätskonstanten (e) bezw. der sogen. magnetischen Permeabilität 
(w) des Mediums*). Setzt man also für den leeren Raum (oder für 
Luftf)A=k=1, so ist für irgend ein anderes Medium zu setzen 
k=1/e, h=1/u. Entsprechend kann man auch für den leeren 
Raum %k und h als die reziproken Werte der Dielektrizitätskonstanten 
bezw. der Permeabilität des reinen Äthers bezeichnen, welche Größen 
also im absoluten elektrostatischen bezw. elektromagnetischen System 
(willkürlich) gleich 1 angenommen werden. 

In den folgenden Artikeln wird übrigens eine Maßbestimmung 
benutzt werden, in der k und A nicht gleich 1 sondern gleich 1/4 
gewählt werden, was vom Standpunkte der Feldwirkungstheorien aus 
naturgemäßer ist. Auch wird dort (Art. 13, Nr. 7e) ein allgemeineres 
Maßsystem erwähnt werden, bei welchem von einer willkürlichen Fest- 
setzung dieser Faktoren überhaupt abgesehen wird. 


2. Örsted, Biot und Savart. Die ersten Versuche über die Ein- 
wirkung des elektrischen Stromes auf die Magnetnadel hat Örsted®) 
angestellt. Ob er zu seinen Versuchen durch Zufall oder durch Über- 
legung gekommen ist, geht aus der Abhandlung nicht hervor. 

Der grundlegende Versuch wurde von Örsted folgendermaßen 
beschrieben: Der Strom wird zunächst von Süd nach Nord über die 
Magnetnadel in der Richtung des magnetischen Meridians fortgeführt, 
wobei das Nordende der Nadel gegen Westen abgelenkt wird. Wird 
der Strom in derselben Horizontalebene gegen Westen oder Osten 
parallel mit sich verschoben, so ergibt sich in beiden Fällen gleich- 
sinnige Ablenkung der Nadel. Örsted zieht hieraus den Schluß, daß 
die Wirkung des Stromes auf die Nadel nicht von anziehenden oder 
abstoßenden Kräften herrühren könne, weil alsdann derjenige Pol der 


4) M. Faraday, Experimental researches, 11. Reihe $ 1164, 14. Reihe $ 1669 
und 1670, ebenfalls teilweise von Cavendish antizipiert. 

5) Chr. Örsted, Experimenta eirca efficaciam conflictus electriei in acum 
magneticam, Hafniae 1820. Abgedruckt Schweigger’s Journal 29 (1820), p. 273 
und Annalen d. Phys. u. Chemie (Gilbert) 66 (1820), p. 295. 


8 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Nadel, der sich dem Strom nähert, wenn er auf der östlichen Seite 
liegt, sich ihm auch nähern müßte, wenn er auf der westlichen 
Seite fließt. Wird der Strom unter der Nadel vorbeigeführt, so ist 
die Ablenkung entgegengesetzt derjenigen, die sich ergab, als er 
sich oberhalb der Nadel befand. Aus diesen Tatsachen scheint nun 
für Örsted hervorzugehen, daß der „elektrische Strom einen Wirbel 
um den Leiter bilde“; denn es sei die Eigentümlichkeit des Wirbels, 
an den Enden eines Durchmessers im entgegengesetzten Sinne zu 
wirken. 

Man kann bemerken, daß die Vorstellung des Wirbels recht gut 
mit demjenigen Bilde stimmt, welches man sich heute über den Ver- 
lauf der magnetischen Kraftlinien um einen geraden Leiter bildet. 

Örsted begnügte sich mit der qualitativen Darlegung der Ver- 
hältnisse. Die quantitative Untersuchung führten noch in demselben 
Jahre J. B. Biot und F. Savart durch®). Sie stellten sich die Auf- 
gabe, die Wirkung eines Stromelementes auf den Magnetpol ihrer 
Größe nach zu bestimmen. 

Zunächst wurde die Wirkung eines vertikalen Stromes auf eine 
in der Horizontalebene schwingende Nadel in ihrer Abhängigkeit von 
der Entfernung untersucht, indem die Schwingungen, welche die Nadel 
unter dem Einfluß des Stromes ausführte, ihrer Schwingungsdauer nach 
verglichen wurden. Dabei zeigte sich, dass die Kraft, welche der als 
unendlich lang zu betrachtende Strom auf den einzelnen Magnetpol 
ausübt, umgekehrt proportional der kürzesten Entfernung des Pols 
vom Strome ist. Die Richtung der Kraft steht auf der durch den 
Stromleiter und den Pol bestimmten Ebene senkrecht. 

Da die relative Lage eines Stromelementes gegen einen Pol aber 
nicht nur von der Entfernung, sondern auch von dem Winkel zwischen 
Entfernung und Stromelement abhängt, so untersuchten .Biot und 
Savart weiter die Wirkung eines gegen die Vertikale geneigten 
Stromes, indem sie den Stromleiter in einer Vertikalebene schief gegen 
die Nadel führten, derart, daß der Leiter von oben gegen die durch 
die Nadel gelegte Horizontalebene unter einem Winkel « verlief und 
unterhalb dieser Ebene mit einem Knick unter demselben Winkel « 
in der gleichen Vertikalebene fortgeführt wurde. Hierbei ergab sich, 


6) Mitteilungen über die Versuche wurden im Oktober und Dezember 1820 
an die Pariser Akademie gemacht, die indessen nicht veröffentlicht wurden. Die 
erste gedruckte Mitteilung findet sich im Journal des Savants 1821, p. 221. Aus- 
führlich sind die Versuche dargestellt in der 3. Aufl. von Biot’s: Preeis el&men- 
taire de physique, 2, p. 704, Paris 1818 und 1821, deutsch von Fechner, 4, 
p. 158, Leipzig 1828. Vgl. auch Coll. de M&moires, 2, p. 80. 


2, Örsted, Biot und Savart. 9 


daß die Wirkung proportional der Tangente des halben Winkels « 
war, wenn « an der der Nadel abgewandten Seite des Knickes ge- 
messen wurde. 

Von diesen Tatsachen aus mußte nun auf die Wirkung der 
Stromelemente geschlossen werden. Wenn die Wirkung des geraden 
Stromes umgekehrt proportional der ersten Potenz des kürzesten Ab- 
standes ist, so mußte die Wirkung des Stromelementes umgekehrt 
proportional dem Quadrat des Abstandes r von Pol und Stromelement 
angesetzt werden. Wenn ferner die Wirkung des oben geschilderten 
geknickten Drahtes proportional mit tg «/2 und umgekehrt propor- 
tional mit dem Abstand a des Knickungspunktes vom Pol ist, so 
mußte das Differential eines Integrals gesucht werden, welches längs 


des geknickten Drahtes geführt, den Wert re ergab. Eine mög- 
liche Form dieses Differentials ist 

inter 
(2) ds 
wo ds die Länge des Stromelementes und (ds, r) den Winkel zwischen 
ds und r bedeutet. Denn es wird für den genannten Integrationsweg 


sin (ds, r) ER. & 
fr? o-:%% 


Die Formel (2) spricht das Biot-Savart'sche Gesetz aus, wonach die 
Wirkung eines Stromelementes auf einen Magnetpol umgekehrt propor- 
tional dem Quadrat der Entfernung und direkt proportional dem Sinus 
des Winkels zwischen dem vom Pol aus gezogenen Radiusvektor und der 
Richtung des Stromelementes ist. Der Richtung nach steht die Kraft 
sowohl auf dem Stromelement wie auf dem Radiusvektor senkrecht. 

Zur Bestimmung der absoluten Grösse dieser Wirkung, also zur 
Bestimmung des von der Stromstärke abhängigen Proportionalitäts- 
faktors, fehlte in jener Zeit noch ein geeignetes Maß der Stromstärke, 
welches in theoretisch befriedigender Weise erst durch die Unter- 
suchungen von Ampere geliefert wurde. 

Ebenfalls von Ampere rührt eine allgemeingültige Regel zur Be- 
stimmung des Sinnes der Kraft her; (Ampere’sche Regel): Wenn man 
sich im Stromelement schwimmend denkt, so daß der positive Strom 
zum Kopfe austritt und das Gesicht der Magnetnadel zugewandt ist, 
so weist die auf den Nordpol der Nadel wirkende Kraft nach links. 

Einfacher gestaltet sich die Ausdrucksweise, wenn man eine all- 
gemeine Verabredung darüber trifft, wie einem gegebenen Drehsinn 
ein bestimmter Fortschreitungssinn zugeordnet werden soll. Man knüpft 


10 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


hierbei passend an das Bild einer Rechtsschraube an und setzt fest: 

einem gegebenen Drehsinn entspreche als zugehöriger Fortschreitungs- 

sinn derjenige, in dem die Rechtsschraube bei der vorge- 

t gebenen Drehung vorrückt. (Vgl. die nebenstehende Figur, 

die als Grundlage für eine konsequente Bestimmung der 

Vorzeichen in der gesamten mathematischen Physik dienen 
kann.) 

Handelt es sich um zwei Drehungen mit irgendwie zugeordneten 
Fortschreitungsrichtungen, so werden wir sagen, dass die Zuordnung 
gleichnamig ist, wenn in beiden Kombinationen die Fortschreitungs- 
richtungen dem Sinne der Drehungen entsprechen oder in beiden nicht 
entsprechen; daß dagegen die Zuordnung ungleichnamig ist, wenn in 
der einen Kombination die Fortschreitungsrichtung der Drehrichtung 
entspricht, in der anderen nicht entspricht. 

Im Falle des Biot-Savart!'schen Gesetzes wird nun durch die 
Richtung des positiven Stromes im Linienelement ein bestimmter Um- 
kreisungssinn des Magnetpols innerhalb der durch Element und Pol 
gelegten Ebene festgelegt; der Inhalt der Ampere’schen Regel lässt 
sich alsdann einfach dahin aussprechen, dass der Sinn der auf den 
Nordpol wirkenden Kraft dem Sinn dieser Umkreisung „entspricht“. 


3. Ampöre. Kurz nach Örsted hat A. Ampere die Kräfte unter- 
sucht‘), welche vom Strom durchflossene Leiter aufeinander ausüben. 
Er ging dabei mit wunderbarer Folgerichtigkeit sogleich auf die 
scharfe mathematische Formulierung des Gesetzes aus; seine Methode 
zeigt eine seltene Vereinigung von experimentellem und mathemati- 
schem Denken. Dass Ampere ein Elementargesetz suchte, d. h. daß 
er die Wirkung endlicher Ströme aufeinander aus der Summation der 
Wirkungen ihrer einzelnen Elemente abzuleiten wünschte, ist bei dem 
grossen Einfluß, den das Newton’sche Anziehungsgesetz auf die Ent- 
wicklung der gesamten mathematischen Physik ausgeübt hat, nicht 
zu verwundern, um so weniger, als Coulomb für die Wirkung ruhender 
elektrischer Mengen ein dem Newton’schen analoges Gesetz ge- 
funden hatte. 

Dem Newton’schen Gesetz entnahm Ampere die Hypothese, daß 
die Kraft zwischen zwei Stromelementen einer Potenz der Entfernung 


7) Die Versuche Ampere’s waren ziemlich gleichzeitig mit denen von Biot 
und Savart im Jahre 1820 Gegenstand von Mitteilungen an die Pariser Akademie. 
Die erste Veröffentlichung erfolgte in den Ann. chim. phys. 15, p. 59—76, p. 170 
— 218. Die in der Literaturübersicht aufgeführte große zusammenfassende Arbeit: 
M&moire de la th6orie mathem. etc. erschien in den Par. M&m. 6, p. 175—388. 
Vgl. auch Collection de mem. 2, p. 7—54. 


3. Ampere. 11 


umgekehrt proportional sei, sowie daß die Wirkung in die Richtung 
der Verbindungslinie der Elemente falle. 

Da die Ableitung?) der Ampere’schen Formel aus den experimen- 
tellen Tatsachen in fast alle Lehrbücher übergegangen ist, so mögen 
hier nur die (allerdings wohl etwas unsicheren) experimentellen Grund- 
lagen angeführt werden, aus denen jene folgt. Dieselben sind: 

1. Die Wirkung eines Stromes bleibt der absoluten Größe nach 
dieselbe, wird aber entgegengesetzt gerichtet, wenn der Strom umge- 
kehrt wird. 

2. Fließt ein Strom von A nach B in gerader Linie oder in 
einer beliebigen von der Geraden nur wenig abweichenden Zickzack- 
linie, so ist die Wirkung beidemal dieselbe. 

3. Die Wirkung eines beliebigen geschlossenen Stromes auf ein 
Stromelement steht auf diesem stets senkrecht. 

4. Die Wirkung zweier Stromelemente aufeinander bleibt unver- 
ändert, wenn die Elemente bei gleichbleibendem Strom und ähnlicher 
relativer Lage in demselben Verhältnis vergrößert werden wie ihre 
Entfernung. 

Zunächst ist es nötig, ein bestimmtes Maß für die Stromstärke 
einzuführen. Wir folgen dabei den Ausführungen Ampere’s in etwas 
freier Weise, _ 

Es seien © und ©’ die Verhältnisse der Intensitäten der frag- 
lichen beiden Ströme zu demjenigen Strom, dessen Stärke als Einheit 
angenommen wird und es seien ds und ds’ die Längen der beiden 
Stromelemente; die letzteren mögen parallel zu einander und auf ihrer 
Verbindungslinie senkrecht stehen. Nach der Erfahrungstatsache 
1. kann alsdann die Wirkung der beiden Stromelemente aufeinander, 
wenn sie sich in der Entfernung 1 befinden, gleich gesetzt werden 


kivdsds'. 


Das Vorzeichen möge so gewählt werden, daß das Zeichen + eine 
Abstoßung, das Zeichen — eine Anziehung bedeutet. Der Propor- 
tionalitätsfaktor %k hängt dabei von der Wahl der Einheiten ab, also 
von dem zur Messung der Intensitäten benutzten Einheitsstrom und 
von der zur Messung der Wirkung benutzten Krafteinheit. Setzt man 
mit Ampere den Faktor k gleich — 1, so ist dadurch eine Beziehung 
zwischen der Einheit des Stromes ‚und der Einheit der Kraft fest- 


8) Diese Ableitung ist diskutiert und stellenweise verschärft von J. Liowville, 
Ann. de chimie (2) 41 (1829), p. 415. 
9) Vgl. M&moire sur la theorie etc., p. 199 u. 200. 


12 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung 


gelegt; die Einheit des Stromes bleibt nicht mehr willkürlich, sobald 
über die Einheit der Kraft verfügt ist. 

Der Zeit Ampere's lag es am nächsten, alle Kräfte auf die 
Schwere zu beziehen, also diejenige Kraft als Einheit zu wählen, die 
die Schwere auf die Volumeinheit eines geeigneten Körpers ausübt. 
Wählt man als diesen Körper Wasser und als Längeneinheit 1 cm, 
so ist die Krafteinheit als 1 gr (Gewicht) zu bezeichnen. Die hieraus 
mit k=— 1 resultierende Stromeinheit möge „Ampere’'s elektro- 
dynamische Einheit“ heissen. 

Wählt man dagegen die Krafteinheit nach dem absoluten Maß- 
system gleich 1 Dyme, so entsteht eine andere Stromeinheit, die 
schlechtweg als „elektrodynamische Einheit“ bezeichnet wird. Dal gr 
(Gewicht) = 981 CGS-Einheiten (Dynen) ist, so wird die Ampere- 
sche Stromeinheit gleich dem Y981-fachen der gewöhnlichen elektro- 
dynamischen Einheit. 

Die durch internationale Festsetzung definierte und nach Ampere 
benannte Stromeinheit ist nicht auf das elektrodynamische, sondern 
auf das elektromagnetische Maß begründet (vgl. Nr. 6); sie ist gleich 
1/10 der elektromagnetischen Stromeinheit, während sich die gewöhn- 
liche elektrodynamische Stromeinheit gleich Y1/2 der elektromagneti- 
schen Stromeinheit erweist (vgl. Nr. 6). Somit ergibt sich die von 
Ampere definierte Stromeinheit gleich 


9%. 10 Amp. — 221,4 Amp.) 


Im folgenden wird zunächst das auf die Dyne als Krafteinheit 
bezogene elektrodynamische Strommaß zu Grunde gelegt werden. 

Aus den vorangestellten Erfahrungsthatsachen 1. und 2. folgt nun 
zunächst eine erste allgemeine Form des Ampere’schen Gesetzes. 

Es sei r die Entfernung der Stromelemente ds, ds’, $ und 9° ihre 
bez. Winkel gegen r, © der Winkel der beiden Ebenen (ds, r) gegen 
(ds’, r). Den Stromelementen ds und ds’, sowie dem Fahrstrahl r 
wird dabei ein bestimmter Sinn beigelegt. Die Ebenen (ds, r) und 
(ds’, r) sind als Halbebenen zu denken, welehe nach derselben Seite 
von r wie ds oder ds’ weisen. Die Winkel $, ® und ® sind hier- 
nach eindeutig bestimmt als Winkel derjenigen kleinsten Drehungen, 
welche den Sinn von ds oder ds’ in den von r oder die Halbebene 
(ds, r) in die Halbebene (ds’, r) überführen. Die Intensitäten © (7) 
werden positiv gerechnet, wenn die Richtung des positiven Stromes 


10) Vgl. eine Bemerkung von Joubert zu der Ausgabe der Ampere’schen Ab- 
handlungen, Collection de m&moires 8, p. 24. 


N ea a Bar aa Er hr Aa fl ai ai m np a A a a 


3. Ampere. 13 


mit dem Sinne von ds (ds’) übereinstimmt, negativ im entgegen- 

gesetzten Falle. Die Kraft % zwischen beiden Elementen wird dann: 
"dsds’ 

53 Mi 

&) i 





(sin $ sin # cos ® + x cos # cos ©), 


wo %# und » zunächst noch unbekannte Zahlen sind. Führt man den 
Winkel &= (ds, ds’) zwischen den Richtungen der beiden Strom- 
elemente ein, so kann man auch schreiben: 





(4) [eose + (« — 1) cos # cos #]. 


Weitere Formen desselben Ausdrucks ergeben sich mit Hülfe der 
Differentialformeln für den Zusammenhang von r, ds und ds’ mit den 
vorbenutzten trigonometrischen Funktionen, nämlich 


DI A d’r dr dı 
$- (art + 7-40) 





_W in d » dr 
(5) I Tamm (r 2) 


_diWdsde 1-n—. d’(r!t”) 
EB dsds' 














Mit Hülfe der letzten Formeln leitet Ampere nun aus der Erfahrungs- 
tatsache 3. ab, daß 
1—n— 2=0 


und endlich aus der vierten, daß 


1 
n—=2, ao x —= — 


m 


ist. Die definitive Form des Ampere'schen Gesetzes lautet daher 
nach (4): 


ii’ dsds’ 3 
(6) 3= 757° (08 8 — 3.0059 6089”). 


Da die Ampere’schen Schlüsse zwingend sind, so ist das vor- 
stehende Gesetz das einzige, welches mit den vorausgeschickten Er- 
fahrungstatsachen und der Annahme vereinbar ist, daß die Kraft 
allein von der relativen Lage der Elemente abhängt und, dem Newton- 
schen Gesetze der Wechselwirkung entsprechend, in der Verbindungs- 
linie wirkt. 

Ampere gibt sodann für die Wirkung eines geschlossenen Stromes 
auf ein Stromelement eine Reihe bemerkenswerter Entwicklungen und 
Umformungen. Das Stromelement ds’ befinde sich im Koordinaten- 
ursprung und bilde mit den rechtwinkligen Koordinatenachsen die 
Winkel A, u, v. Das Koordinatensystem sei im Sinne der vorigen 


14 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Nr. so gewählt, daß die positive z-Achse demjenigen Drehsinne „ent- 
spricht“, durch den die positive &- in die positive y-Achse auf 
kürzestem Wege übergeführt wird. x, y, z sind die Koordinaten eines 
Punktes des geschlossenen Stromes, dx, dy, dz die Koordinaten- 
änderungen beim Fortschreiten längs des Stromes in der durch will- 
kürliche Festsetzung als positiv vereinbarten Richtung. Für die x- 
Komponente der Gesamtwirkung auf ds’ erhält man 


ww ady— ydz Izde— xdz 
3, as [oo [EUEHRE_ cos» f |, 


wo sich die Integrale über den geschlossenen Strom erstrecken. Ent- 
sprechende Formeln gelten für die anderen Komponenten. 

Ampere führt nun einen Vektor D ein, dessen drei Komponenten 
nach den Koordinatenachsen A, B, © er folgendermaßen definiert: 





dze— zd zdxe — xdz zdy— ydz 


’ r3 ’ r 

Dieser Vektor heißt die Direktris des Stromes''). Er hängt nur von 
der Gestalt der geschlossenen Strombahn ds und dem Orte des Ele- 
mentes ds’, nicht aber von der Orientierung des letzteren und den 
Stromintensitäten ab. In den Größen A, B, © sind die Zähler der 
Integralelemente die (mit Vorzeichen gerechneten) doppelten Projek- 
tionen der durch die Elemente des geschlossenen Stromes und die 
Radienvektoren r bestimmten Dreiecke auf die Koordinatenebenen. 
Für ungeschlossene Ströme oder Stromelemente kommt der Begriff der 
Direktrix bei Ampere nicht vor. Den Gleichungen (7) kann man 
auch die Form geben: 


(7) 4—— (rar = lt ay) u. s. w. 


Mit Hülfe dieses Vektors D lässt sich die auf das Element ds’ 
ausgeübte Kraft % einfach folgendermaßen bestimmen; es ist 


$,= Si ds (C cos u — Beosv), 








(8) | d,= Sii’ds‘ (Acosv — CcosA), 


= Side (BcosA — A cosu). 





Hiernach gelten die Gleichungen: 


11) Seine halben Komponenten bezeichnet F. Neumann als die Determi- 
nanten des geschlossenen Stromes. Vgl. Vorlesungen über elektr. Ströme, $ 41, 
p. 121. 


3. Ampf£re. 15 


S, cos + %,cosu + %,csv—(, 
3,4+ 3,B+ 3,C0=0. 


Die erste derselben drückt die oben unter 3. genannte Tatsache aus, 
daß die Wirkung eines geschlossenen Stromes auf ein Element auf 
diesem senkrecht steht. Die zweite Gleichung zeigt außerdem, daß 
diese Wirkung auch senkrecht zur Direktrix gerichtet ist. 

Man kann die Schreibweise der Gleichung (8) aber noch weiter 
vereinfachen, wenn man die Begriffe der Vektorrechnung, insbesondere 
den des vektoriellen Produktes einführt'”). Faßt man neben D auch 
ds’ vektoriell auf, so kann man sagen: % ist nach Richtung und 
Größe gleich dem mit $ii’ multiplizierten vektoriellen Produkt von ds’ 
und D: 


(9) $—>ü'fds'.D) 


Für die Größe von % erhält man nach der Bedeutung jener Produkt- 
bildung insbesondere noch die folgende Formel: 


(10) 81 zii’ as D sin (ds’, D). 


Die physikalische Bedeutung der Direktrix, die bei Ampere nur als 
Rechnungsgröße auftritt, wird bei der folgenden Darstellung der Am- 
pere'schen Theorie des Magnetismus hervortreten. 

Man betrachte zunächst eine unendlich kleine geschlossene ebene 
Strombahn. &,n, & seien die Winkel der Normalen der Stromebene 
gegen die Koordinatenachsen, x, y, z die Koordinaten eines Punktes der 
vom Strom umflossenen unendlich kleinen Fläche, f die Größe dieser 
Fläche, ! der Radiusvektor vom Koordinatenanfang nach der Strom- 
fläche, qg das vom Koordinatenanfang auf die Stromebene gefällte Lot. 
Die Normale soll dabei nach derjenigen Seite gezogen werden, welche 
dem für die Umlaufung der Stromfläche gewählten Sinne entspricht. 
Das jener Normalen parallele Lot q soll positiv oder negativ ge- 
rechnet werden, je nachdem es dieselbe oder die entgegengesetzte 
Richtung wie jene Normale hat. Für die Komponenten der Direktrix 
dieser Strombahn im Koordinatenanfang ergeben sich die Werte: 


12) Vgl. hierzu den Art. Abraham IV‘14 oder den Anfang des folgenden Art. 
von H. A. Lorentz. Es sei hervorgehoben, daß wir den Sinn des vektoriellen 
Produktes stets folgendermaßen wählen werden: Der aus den Vektoren X und 
8 gebildete, zu A und ® senkrechte Produktvektor [X-9] weist nach der- 
jenigen Seite hin, welche der kürzesten Überdrehung von X in ® „ent- 
spricht‘. 


16 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


41-1), 


‚[c08 N 3qY 
-—f( RESET | >), 


(= =). 











1° 

Statt einer einzelnen unendlich kleinen Strombahn werde jetzt ein 
System von Strombahnen betrachtet, ein „Solenoid“, welches folgender- 
massen definiert ist: Man denke sich im Raum eine beliebige Linie 
Mm, welche von unendlich kleinen ebenen Strombahnen umkreist 
wird. Die unendlich benachbarten Ebenen derselben stehen senkrecht 
auf der Kurve Mm und haben alle voneinander denselben Abstand a. 
Der Sinn aller dieser Ströme entspreche dem Sinne der Fortschreitung 
von M nach m. f sei die gemeinsame Flächengröße der Strombahnen. 
Auf ein Element ds der Kurve Mm kommen alsdann ds/a Strom- 
bahnen und man erhält für die Direktrix des Solenoides die Gleichung: 


f [ (cos& 34% 
en Tr F-% I) ds, u.s.w, 


wo die Integration längs der Linie Mm zu erstrecken ist. Hier sind 
die Winkel &, 7, & nichts anderes wie die Neigungswinkel der Tan- 
gente von Mm gegen die Koordinatenachsen, ihre Kosinusse also nichts 
da dy de 
ds’ ds’ ds’ 
beim nn längs Br bedeuten. Ferner it ?=2?+y?+ 2? 


und g= no + Yy = +2 1%. Man erhält also 


uf U Mhrer 


Fällt der Pol M des dr ins Unendliche, so folgt, wenn 
man die Koordinaten des anderen Poles wieder einfacher mit x, y, 
und seinen Abstand vom Koordinatenanfang mit r bezeichnet: 


nn. 8 A, 


ar:? 


anderes wie wenn dx, dy, dz die Koordinatenzuwächse 


Die Direktrix hat also die Richtung der von dem Pole m nach dem 
Koordinatenanfang gezogenen Strecke und die Größe 
f 
D=—- 


ar? 


Befindet sich im Koordinatenursprung ein Stromelement ©’ds’ und 
ist i die Stärke der das Solenoid umkreisenden Ströme, so berechnet 
sich die Wirkung des Solenoides auf jenes Stromelement nach 
Gleichung (10) zu 


3. Amp£re, 17 


(11) 67 Er g ds’ sin (r, ar. 


2ar? 





nach Gleichung (9) steht diese Wirkung senkrecht auf der durch den 
Solenoidpol und das Stromelement gelegten Ebene und hat den ent- 
gegengesetzten Sinn wie diejenige Normale dieser Ebene, welche dem 
Umlaufssinne des Stromelementes um den Solenoidpol entspricht. 

In analoger Weise kann man nach der Wirkung zweier 
Solenoide aufeinander fragen. Liegt von beiden Solenoiden der eine 
Pol im Unendlichen, der andere je in einem bestimmten endlichen 
Punkte und haben f’, a’, ö” dieselbe Bedeutung für das zweite Solenoid 
wie f, a,i für das erste, so ergibt sich ‘die Größe der Wirkung, 
wenn r den Abstand der beiden im Endlichen gelegenen Solenoidpole 
bedeutet, zu 


(12) sr 

der Richtung nach fällt diese Wirkung mit der Verbindungslinie r der 
Pole zusammen; sie bedeutet Abstoßung oder Anziehung je nachdem 
für beide Pole die Zuordnung zwischen der Umlaufsrichtung der po- 
sitiven Ströme und der nach dem Pole hin verlaufenden Achse des 
Solenoides „gleichnamig“ oder „ungleichnamig“ ist. 

Aus den letzteren Ergebnissen folgt die Berechtigung der Am- 
pere’schen Auffassung des Magnetismus, wonach ein Magnet nichts 
anderes als ein System unendlich kleiner elektrischer Ströme (Mole- 
kularströme) oder ein Solenoid ist. 

In der Tat deckt sich Gleichung (12) mit dem Coulomb’schen 
Gesetz der magnetischen Wirkungen, sobald man die den beiden So- 
lenoidpolen entsprechenden (magnetisch gemessenen) Magnetismen ın 
und m’ aus der Beschaffenheit der Solenoide folgendermaßen definiert: 


fi R e* 
(13) n= Ya ‚m= Va 
In gleicher Weise deckt sich Gleichung (11) mit einer gewissen Um- 
kehrung des Gesetzes von Biot und Savart. Bei gleicher Messung 
und Erklärung der Stärke m des Magnetpols wie soeben und bei Be- 
nutzung des elektrodynamischen Strommaßes sagt Gleichung (11) aus, 
daß ein Magnetpol m auf ein Stromelement ©’ds’ die Kraft 


14 _ mi’ds sin (r, ds’) 

14) Es 

senkrecht zur Ebene durch m und ds’ ausübt, welche in ds’ angreift 
und den oben bei Gleichung (11) angegebenen Sinn hat. Nimmt 


man an, daß ebenso groß nur entgegengesetzt gerichtet und in m 
Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2, 2 





18 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


angreifend diejenige Kraft ist, die das Stromelement auf den Magnet- 
pol ausübt, so hat man in (14) den verschärften zahlenmäßigen Aus- 
druck des Gesetzes von Biot und Savanrt. 

In der Tat stimmt die so definierte Kraft nach Richtung, Sinn 
und Größe mit der Biot-Savart!'schen Kraft überein, soweit die letztere 
durch die Angaben der vorigen Nr. überhaupt bestimmt war. 

Trotzdem besteht ein Gegensatz zwischen dem .Biot-Savart'schen 
Gesetz und den vorstehend aus dem Ampere’schen Gesetz gezogenen 
Folgerungen. Dieser Gegensatz betrifft den Angriffspunkt der Kraft. 
Die Grundlage der Ampere’schen Theorie bildet nämlich die ausnahms- 
lose Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Wenn also die 
Wirkung des Magnetpols auf das Stromelement in einer Kraft besteht, 
die im Stromelemente angreift, so müsste nach der Ampere'schen 
Theorie die Wirkung des Stromelementes auf den Magnetpol in einer 
Kraft von entgegengesetztem Sinn bestehen, die ebenfalls im Strom- 
elemente angreift. Will man sie mit Biot und Savart durch eine Kraft 
ersetzen, die im Magnetpol angreift, so wäre nach dem in der Statik 
starrer Systeme gebräuchlichen Verfahren noch ein Kräftepaar hin- 
zuzufügen, welches aus zwei entgegengesetzt parallelen Kräften im 
Stromelement und im Magnetpol besteht. Für den mit der Erfahrung 
allein vergleichbaren Fall der Wirkung eines geschlossenen Stromes 
. auf einen Magneten kommt indessen dieser Gegensatz in Fortfall, weil 
die hierbei auftretenden Kräftepaare in der Summe verschwinden, und 
steht also die Ampere'sche Theorie mit dem Biot-Savart!'schen Ge- 
setze in vollem Einklang. 

Eine bemerkenswerte Fassung kann man der Umkehrung des 
Biot-Savart!'schen Gesetzes noch dadurch geben, daß man die dem 
Magnetpole m entsprechende Feldstärke einführt. Dieselbe wurde in 
Nr. 1 als die auf einen Einheitspol wirkende mechanische Kraft de- 
finiert und hat nach dem Coulomb’schen Gesetz die Größe 

m 


y? 
und die Richtung von r. Mithin läßt sich die Umkehrung des .Biot- 
Savart'schen Gesetzes auch so schreiben: 


I$| - 7, 191d5 sin (ds, $) 


oder, wenn man den Begriff des vektoriellen Produktes benutzt und 
das Linienelement ds’ vektoriell auffaßt: 


[ds 9]. 


(15) -7; 


3. Ampere. 19 


Diese Darstellung bringt außer der Größe auch Richtung und Sinn 
der Kraftwirkung % zum Ausdruck. 

Die Ampere'sche Auffassung des Magnetismus, die in genialer 
Weise die weiten Gebiete der Elektrizität und des Magnetismus zu 
einem Ganzen verschmilzt, hat sich in vieler Hinsicht als fruchtbar 
erwiesen; es ist andrerseits bemerkt worden, daß sie die magnetischen 
Begriffe zu abgeleiteten Größen herabdrückt und auf diese Weise 
dazu beigetragen hat, „die Aufmerksamkeit von dem heute für den 
ganzen Auffassungskreis so bedeutsamen Vektor der magnetischen 
Kraft abzulenken“'?). 

Es erübrigt noch, die physikalische Bedeutung der Ampere’schen 
Direktrix auf Grund des Begriffes der magnetischen Feldstärke zu er- 
läutern. Da nach dem Biot-Savart'schen Gesetze ein Stromelement 
auf einen Magnetpol eine Kraft ausübt, so dürfen wir sagen, dass ein 
vom Strom durchflossenes Leiterelement in seiner Umgebung ein magne- 
tisches Feld erzeugt. Da ferner nach Gleichung (14) die Größe der vom 
Stromelemente ‘ds auf den magnetischen Einheitspol ausgeübten Kraft 
gleich ids sin (r, ds)/Y2r? ist, so wird die Stärke des genannten 
Feldes gleich i/Y2r° multipliziert in das aus dem Stromelemente ds 
und der Entfernung r gebildete Parallelogramm. Wünscht man zu- 
gleich mit der Größe auch die zu ds und r senkrechte Richtung der 
Feldstärke zum Ausdruck zu bringen, so empfiehlt sich wieder die 
folgende vektorielle Schreibweise, bei welcher r die vom Magnetpol 
zum Stromelement hin gezogene Strecke r vektoriell darstellt: 





Legt man sodann durch den Anfangspunkt der Strecke r ein recht- 
winkliges Koordinatensystem und bezeichnet mit x, y, z die Koordinaten 
eines Punktes von ds, so werden die Komponenten des Vektors 9 im 
Koordinatenursprung nach den drei Koordinatenachsen die folgenden: 


“ 2de — xd2 








i ydz— 2d 
=! — 


(16) ee ee 
en Ta Li 
2 V2 r> 


Betrachtet man endlich statt eines Elementes einen geschlossenen 
Strom von beliebiger Gestalt, so findet man das zu letzterem gehörige 
magnetische Feld durch Integration über die Strombahn zu: 


13) Vgl. E. Wiechert, Festschrift, p. 34. 
298 


20 V 12. R. Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 





i de — 2d i 2de — xdz 
9 —-— .j2 y 9, = 


v2 y3 ’ Va y3 eh, 


u er en yaz 


Vergleicht man aber diese Werte mit den Definitionsgleichungen (7) 
der Ampere’schen Direktrix, so zeigt sich, daß 


4:B:0—=9,:8,:0, 5D=|8l. 


Die Ampere'sche Direktrix bedeutet also nach Größe und Richtung 
diejenige magnetische Feldstärke, welche ein Strom von der elektrodynamisch 
gemessenen. Stromstärke i—= Y2 in seiner Umgebung erzeugt“). 

Endlich möge noch aus dem reichen Inhalt der Ampere’schen 
Untersuchungen erwähnt werden, daß Ampere die Möglichkeit, einen 
geschlossenen Strom von endlichen Dimensionen als ein System un- 
endlich kleiner Ströme aufzufassen, benutzt hat, um den endlichen 
Strom durch eine sogen. magnetische Doppelschale zu ersetzen, eine 
Auffassung, die sich für die spätere Entwickelung als besonders 
fruchtbar erwiesen hat. 


4. Graßmann. Während die Ampere’schen Sätze, soweit sie sich 
auf geschlossene Ströme beziehen, als erfahrungsmäßig sichergestellt 
gelten müssen, kann die Ampere'sche Elementarformel für Strom- 
elemente angezweifelt und durch andere Formeln ersetzt werden, die 
dann allerdings für geschlossene Ströme zu dem gleichen Ergebnis 
wie die Ampere’sche Formel führen müssen. Vor allem ist in dieser 
Hinsicht ein von H. Graßmann') aufgestelltes Elementargesetz zu 
nennen, welches übrigens in den Ampere’schen Formeln für geschlossene 
Ströme bereits vorgebildet erscheint. 

Gegen das Ampere'sche Gesetz macht Graßmann geltend, daß 
dieses die Analogie mit dem Newton’schen Gravitationsgesetz auf einem 
äusserlichen Wege suche, da die Annahme einer nach der Verbindungs- 
linie der Agentien gerichteten Wirkung bei zwei punktförmigen 
Massen geboten, dagegen bei zwei „Linienteilen“ (Stromelementen) 
willkürlich sei. Ferner sieht er die folgende Konsequenz des Ampere- 
schen Gesetzes als höchst unwahrscheinlich an, daß sich für zwei 

14) Vgl. z. B. R. Clausius, Mechan. Behandlung der Elektrizität (näheres s. 
Literaturübersicht) Abschn. VIII, $3 und 4, p. 209. Ampere selbst spricht sich 
über diesen Zusammenhang nicht explieite aus. 

15) H. Graßmann, Ann. Phys. Chem. 64 (1845), p. 1; J. f. Math. 83 (1877) 
und Ges, Werke 2°, p. 147 und 203, Leipzig 1902. Bei der Festlegung des Sinnes 
der Kraftwirkung sind wir von Graßmann abgewichen; die diesbezügliche An- 


gabe von Graßmann ist unzutreffend, da sie bei stetiger Drehung von ds’ eine 
unstetige Änderung der Kraftrichtung ergeben würde. 


4. Graßmann. 21 


parallele Stromelemente («= 0, #— #) die Wirkung Null ergeben 
soll, wenn das eine Stromelement auf einer Kegeloberfläche liegt, 
deren Spitze sich in dem wirkenden Element befindet, deren Achse 
mit diesem zusammenfällt und deren Winkel an der Spitze zum Ko- 
sinus 4 hat, daß ferner innerhalb dieser Kegeloberfläche Abstoßung, 
außerhalb derselben Anziehung stattfinden soll. 

Die Formel, welehe Graßmann als Ersatz des Ampere'schen Ge- 
setzes vorschlägt, lautet: 


1 ee ds 
2 





sin (r, ds) - sin(n, ds’), 


wo n die Normale zu er durch das wirkende Element ds und den 
Abstand r gelegten Ebene bedeutet, so zwar, daß n dem Umlaufssinne 
von ds um ds’ „entspricht“. Die Richtung der Kraft steht nach 
Graßmann senkrecht auf ds’ und n; ihr Sinn entspricht demjenigen 
Drehsinne, durch welchen der Sinn des Elementes ds’ auf kürzestem 
Wege in den Sinn der Normalen n» übergedreht wird. In diesen Fest- 
setzungen liegt, wie man sieht, eine Verletzung des Newton’schen Ge- 
setzes der Wechselwirkung, auf welches sich andererseits die Ampere- 
sche Annahme einer in der Verbindungslinie wirkenden Kraft stützt. 
Übrigens läßt sich eine Verletzung des Wechselwirkungsgesetzes 
sofort rechtfertigen, wenn man sich auf den Standpunkt der Feld- 
wirkung stellt, wonach es sich im vorliegenden Falle nicht um die 
direkte Wirkung zweier räumlich getrennter Elemente, sondern um 
eine durch das Zwischenmedium vermittelte Wirkung handelt. 
Liegen beide Elemente im besonderen in einer Ebene, so kann 
man sich denken, daß die Wirkung von ds auf ds’ und ebenso die 
von ds’ auf ds die Elemente ds’ bezw. ds um den gemeinsamen 
Schnittpunkt beider bei unveränderter Entfernung vom Schnittpunkte 
zu drehen strebt und kann die Produkte Masse mal Winkelbeschleu- 
nigung dieser Drehung für beide Elemente bestimmen. Dieselben er- 
geben sich, wenn wie vorausgesetzt die Elemente in einer Ebene 
liegen, und wenn R, R’ die Abstände der Elemente ds, ds’ vom 
Schnittpunkte bedeuten: 
1 idsids sin (r, ds) 1 en ds’ 














(für ds) — —a Rey sin (ds, ds”), 
; 1 idsids sin(r,ds) __1idsid 
a N REN zin(ds,.ds)). 


Die Produkte aus Masse und Winkelbeschleunigung werden also für 
beide Elemente der Grösse nach gleich; der Sinn der Drehungen er- 
gibt sich daraus, daß sich vermöge dieser Winkelbeschleunigungen 
der. Winkel (ds, ds’) vermindert, wenn beide Elemente nach dem 


22 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Schnittpunkte hin oder beide von ihm fortweisen, daß er sich ver- 
größert, wenn das eine Element nach dem Schnittpunkte hin- das 
andere von ihm fortweist. In diesem Umstande sieht Graßmann die 
wahre Analogie zum Newion’schen Gesetz, indem er die Begriffe: wirkende 
Punkte, wirkende Linienteile; Verbindungslinie der Punkte, Durch- 
schnittspunkt der Linienteile; Entfernungsbeschleunigung der Punkte, 
Winkelbeschleunigung der Linienteile sich dual entsprechen läßt. Auch 
die Größe der nach seinem Gesetz berechneten Winkelbeschleunigung 
setzt Graßmann zunächst wieder für den besonderen Fall zweier sich 
schneidender Stromelemente in Analogie zu der Größe der Newton- 
schen Entfernungsbeschleunigung, da nach der Terminologie der Aus- 
dehnungslehre (vgl. Bd. IIl, Art. 1 B 3) die Newton’sche Kraft oder das 
Produkt aus Masse und Entfernungsbeschleunigung proportional dem 
durch r? dividierten Produkt der beiden anziehenden Punkte und 
andererseits das nach obigem Gesetz berechnete Produkt aus Masse 
mal Winkelbeschleunigung proportional dem durch r? dividierten 
(äußeren) Produkt der beiden Linienteile, nämlich proportional dem 
Inhalte des von ihnen gebildeten Parallelogrammes ist?). 

Um den Zusammenhang des G@raßmann’schen mit dem Ampere’schen 
Gesetz hervortreten zu lassen, führen wir denjenigen Vektor ein, dessen 
rechtwinklige Komponenten die bei der Definition der Ampere'schen 
Direktrix vorkommenden Integranden sein mögen und mit dA, db, 
dC bezeichnet werden sollen: 


(17) en dp — de — rde 


; y3 , 


zdy — ydz 
dt =“ AZ. 


Derselbe hat Richtung und Sinn der Normalen » und die Größe: 
laD| BA ds sin (r, ds) \ 


y? 
Man kann daraufhin die Formel für die Größe der Graßmann’schen 
Kraft zunächst so schreiben: 


|| >= #$ii’ds’|@D]| sin (dD, ds’). 
Es lassen sich aber auch die obigen Angaben über Richtung und 
Sinn der Graßmann’schen Kraft bequem durch die Formel zum Aus- 
druck bringen; man hat nämlich 
(18) 3 = til [ds’- dD)]. 
Gleichung (18) unterscheidet sich von der aus der Ampere’schen 
Theorie gefolgerten Gleichung (9) nur dadurch, daß an Stelle der 


16) Die Graßmann’sche Ausdrucksweise ist an dieser Stelle etwas ver- 
schwommen. Graßmann spricht von Winkeländerung statt von dem Produkt 
Masse mal Winkelbeschleunigung. Vgl. p. 10—12 in Ann. Phys. Chem. 64. 


5. Franz Neumann. 23 


Direktrix des geschlossenen Stromleiters (s) die des Stromelementes 
(ds) getreten ist. Graßmann verteilt also, ohne es übrigens selbst 
auszusprechen, die von Ampere abgeleitete Integralwirkung eines ge- 
schlossenen Stromes in naheliegender Weise auf die einzelnen Ele- 
mente des geschlossenen Stromes. Dass das Graßmann’sche Gesetz für 
geschlossene Ströme zu demselben Ergebnis wie das Ampere’sche führen 
muß, ist auf Grund der vorigen Formeln einleuchtend. 

Endlich läßt sich das Graßmann’sche Gesetz auch in Beziehung 
zu dem Biot-Savart'schen setzen. Da nämlich die für das einzelne 
Stromelement berechnete Direktrix nach den Gleichungen (17) und (16) 
bis auf den Faktor i/Y2 mit der von diesem Element erzeugten magne- 
tischen Feldstärke sich identisch erweist, so kann man statt der vorigen 
Gleichung auch schreiben: 

(19) Ö als ‘9. 

In dieser Form deckt sich das Graßmann’sche Gesetz völlig mit 
der Umkehrung des Biot-Savar!'schen Gesetzes (Gleichung (15)), mit 
dem einzigen Unterschiede, dass bei dem einen Gesetz das magnetische 
Feld von einem Magnetpol, bei dem anderen von einem stromdurch- 
flossenen Leiterelemente erzeugt gedacht wird. 





5. Franz Neumann. Das Jahr 1831!) brachte die Entdeckung 
der elektromagnetischen Induktion durch Michael Faraday. Die 
nächste Aufgabe der theoretischen Physik mußte darin bestehen, diese 
Erscheinungen an die bekannten Gesetze anzugliedern. 

Den ersten Schritt hierzu hat E. Lenz'?) getan durch Aufstellung 
der nach ihm benannten Regel, welche die Erscheinungen der durch 
Bewegung hervorgerufenen Induktion wenigstens qualitativ auf die 
Ampere’schen Gesetze zurückzuführen gestattet. Die Lenz’sche Regel 
lautet: Der induzierte Strom hat immer eine solche Richtung, daß die 
Wirkung, welche der induzierende Strom oder Magnet auf den indu- 
zierten Leiter ausübt, wenn die Induktion durch eine Bewegung des 
letzteren hervorgerufen ist, diese Bewegung hemmt. Oder mit anderen 
Worten: Die Richtung des induzierten Stromes ist derjenigen ent- 
gegengesetzt, die ein Strom haben müßte, wenn die vorhandene Be- 
wegung durch elektrodynamische Einwirkung des induzierenden Systems 
erzeugt werden soll; wenn eine elektrodynamische Wirkung die fragliche 
Bewegung nicht hervorzubringen imstande ist, so ist die Bewegung 
auch nicht imstande, Induktion hervorzubringen. Die Lenz’sche Regel 


17) November 1831. Vgl. Experimental-Untersuchungen, Art. 1—139. 
18) Ann. Phys. Chem. 31 (1834), p. 483. 


24 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


bezieht sich hiernach lediglich auf die Induktion durch Bewegung des 
induzierten Leiters. Aber gerade diese bot die Handhabe zur mathe- 
matischen Behandlung der Erscheinungen. 

Eine weitere allgemeine Vorarbeit, welche der Entdeckung der 
Induktionserscheinungen noch vorausging, wurde durch die Feststellung 
des Zusammenhanges zwischen Stromstärke und elektromotorischer 
Kraft (Ohm’sches Gesetz) geliefert. Der Begriff der elektromotorischen 
Kraft war einerseits durch den Volta’schen Fundamentalversuch und 
die Aufstellung der Spannungsreihe der Metalle, andererseits durch 
die Untersuchungen von Th. J. Seebeck über die Thermoströme und die 
Aufstellung der thermoelektrischen Reihe begründet. Man versteht 
unter der elektromotorischen Kraft längs eines bestimmten (geschlossenen 
oder ungeschlossenen) Weges das Linienintegral der gesamten auf die 
Elektrizitätseinheit wirkenden Kraft. Von der elektromotorischen Kraft 
zwischen zwei Punkten schlechtweg (ohne Angabe des Weges) kann 
also nur in solchen Fällen die Rede sein, wo jenes Linienintegral 
einen vom Weg unabhängigen Sinn hat, wo also die Feldstärke wirbel- 
frei verteilt ist oder wie man sagt ein Potential hat (elektromotorische 
Kraft = Potentialdifferenz). 

G. 8. Ohm?) ging in seinen theoretischen Überlegungen von der 
Analogie der elektrischen Strömung mit der Wärmeleitung aus. Der 
strömenden Wärme entspricht hierbei die strömende Elektrizität, der 
Temperaturdifferenz die elektromotorische Kraft?®). 

So wie nach dem Fouwrier'schen Ansatz der Wärmeleitung die 
eine Fläche durchströmende Wärme dem Temperaturgefälle propor- 
tional ist und wie letzteres bei stationärem Zustande längs eines 
linearen homogenen Wärmeleiters konstant wird, so wird auch die 
den Querschnitt eines homogenen Drahtes in der Zeiteinheit durch- 
strömende Elektrizität (die Stromstärke) dem Spannungsgefälle (Po- 
tentialgefälle) proportional und bei stationärer Strömung, wo das 
Spannungsgefälle durch den ganzen Leiter konstant ist, auch der 
Spannungsdifferenz an den Enden des Drahtes oder der elektromoto- 
rischen Kraft proportional. Der Proportionalitätsfaktor hat die be- 
kannte Bedeutung des reziproken Widerstandes und hängt nur von 
den Abmessungen und der Materialbeschaffenheit des Leiters ab. 


19) Die galvanische Kette, mathematisch bearbeitet, Berlin 1827. 

20) Ohm selbst spricht nicht von elektromotorischer, sondern von elektroskopi- 
scher Kraft und definiert sie nicht ganz klar als Dichtigkeit der Elektrizität. Gauß 
sucht sich den Begriff in einer nicht für den Druck bestimmten Aufzeichnung 
dadurch näher zu führen, dass er von „Etwas einer Höhe Analogem‘ spricht, 
welches längs des Stromes gleichmäßig abfällt. Vgl. Ges. Werke 5, p. 602. 


5. Franz Neumann. 5 


Die experimentelle Bestätigung seines Gesetzes gelang Ohm durch 
Beobachtungen an Thermoketten, während die Hydroketten zu jener 
Zeit zu inkonstant waren, um einer genaueren quantitativen Forschung 
dienlich sein zu können. 

Durch Verknüpfung des Ohm’schen Gesetzes mit der Lenz’schen 
Regel und den Faraday’schen Entdeckungen kam nun F. E. Neu- 
mann?") zu einem einfachen mathematischen Ausdruck, der das Ge- 
samtgebiet der Induktion umfaßt. 

Neumann baute seine Theorie auf die folgenden Grundsätze??) auf, 
die als Zusammenfassung der Beobachtungsergebnisse anzusehen sind: 

1. Induzierte Ströme entstehen allemal da, wo die „virtuelle 
Wirkung“ des induzierenden Stromes auf den Leiter eine Änderung 
erfährt, d. h. diejenige elektrodynamische Wirkung, die der indu- 
zierende Strom auf den Leiter ausüben würde, wenn der letztere von 
einem konstanten Strom, z. B. dem Strom 1, durchflossen gedacht wird. 

2. Die induzierte elektromotorische Kraft ist unabhängig von der 
Substanz der Leiter. 

3. Unter sonst gleichen Umständen ist die induzierte elektro- 
motorische Kraft der Geschwindigkeit proportional, mit welcher die 
Stromelemente gegeneinander bewegt werden. 

4. Die nach der Richtung der Bewegung genommene Komponente 
der elektrodynamischen Wirkung, welche der induzierende Strom auf 
ein Element des bewegten induzierten Leiters ausübt, ist immer negativ 
(Lenz’sche Regel). 

5. Unter sonst gleichen Umständen ist die induzierte Stromstärke 
der induzierenden proportional. 

Der Gedankengang der ersten Neumann’schen Abhandlung ist 
folgender. Es sei % die elektrodynamische Wirkung des induzierenden 
Stromes auf die Längeneinheit des zu induzierenden Leiters, wenn 
dieser in einem willkürlich gewählten aber festen Sinne von der Strom- 
einheit durchflossen wird, die Stärke des induzierten Stromes. Dann 
beträgt die elektrodynamische Wirkung auf das Stromelement öds: 


ids% 
und die Komponente dieser Wirkung in der Bewegungsrichtung 
idsd,, 


21) Die mathematischen Gesetze der induzierten elektrischen Ströme, Berlin. 
Abhdlg. 1845. Über ein allgemeines Prinzip der mathematischen Theorie indu- 
zierter elektrischer Ströme, Berlin. Abhdlg. 1848. Ostwald’s Klassiker Nr. 10 
und 36. 

22) Vgl. Vorlesungen über elektrische Ströme, p. 267. 


26 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


wenn %, die Komponente von % in der Richtung der dem Element 
ds erteilten Geschwindigkeit v (3, % cos (%, v)) bedeutet. 

Es werde zunächst angenommen, daß die Bewegung in einer 
bloßen Parallelverschiebung des zu induzierenden Leiters bestehe, so- 
daß allen seinen Elementen dasselbe v zukommt. Nach 3. schliesst 
man mit Hinzuziehung des Ohm’schen Gesetzes, daß ebenso wie die 
elektromotorische Kraft auch die induzierte Stromstärke i der Ge- 
schwindigkeit v proportional ist. Es sei etwa 

i=jv. 
Die Komponente der elektrodynamischen Wirkung in der Bewegungs- 
richtung kann daher auch geschrieben werden 


I vF,ds, 
woraus sich für die Gesamtwirkung ergibt: 


jvf $,ds 


(das Integral erstreckt über den induzierten Leiter). Dieser Ausdruck 
muss nach 4. das umgekehrte Vorzeichen wie v haben; man genügt 
dieser Bedingung am einfachsten, indem man 


i=—K F 3,ds 
setzt, wo K eine positive Größe ist. Der induzierte Strom wird daher 
i= — Kv f Y,ds 


und die elektromotorische Kraft E im induzierten Leiter, wenn ® 
seinen Widerstand bedeutet, nach dem Ohm’schen Gesetz: 


E= io = — aKvf %,ds. 


Es ist aber diese elektromotorische Kraft nach 2. von der Substanz 
des Leiters unabhängig. Deshalb muß ®K eine universelle, nur von 
den gewählten Maßeinheiten des Stromes, der Länge etc. abhängige 
Konstante sein, die Neumann als „Induktionskonstante &“ bezeichnet. 
Die gesamte elektromotorische Kraft ist daher 


E= — uf %,ds. 


Bedeutet ferner & die elektromotorische Kraft pro Längeneinheit des 
Leiters oder die Komponente der elektrischen Feldstärke nach der 
Richtung von s, so hat man 


E=/[&as = — su [%,ds. 


Man genügt dieser Gleichung unter der Annahme einer allen Leiter- 
elementen gemeinsamen Geschwindigkeit v am einfachsten, indem man 


5. Franz Neumann. 97 


die elektromotorische Kraft auf die Elemente des Leiters verteilt und 
dementsprechend schließt: 

(20) E= — 

Dies ist die Grundgleichung der Neumann’schen Theorie, von der die 
weitere Untersuchung ausgeht. Während bei ihrer Ableitung der be- 
sondere Fall der Parallelverschiebung vorausgesetzt ist, läßt sie sich 
nachträglich auf eine beliebige aus Parallelverschiebung und Drehung 
zusammengesetzte Bewegung des Leiters sowie auf den Fall, wo die 
einzelnen Teile des Leiters gegeneinander relative Bewegungen aus- 
führen (Vorhandensein von Gleitstellen), übertragen. 

Noch mögen die Neumann’schen Bezeichnungen .Differentialstrom 
und Integralstrom erwähnt werden. Der Differentialstrom bedeutet die 
in der Zeit dt durch einen Querschnitt des induzierten Leiters 
fließende Elektrizitätsmenge ‘di, der Integralstrom die während der 
Gesamtbewegung hindurchfließende Blektrizitätsmenge S ide. 

Von besonderer Bedeutung für die Theorie der Induktion und 
für die Elektrizitätslehre überhaupt war sodann der von Neumann 
geführte Nachweis, daß die elektrodynamische Wirkung zweier ge- 
schlossener Ströme aufeinander ein Potential besitzt. Dieses Neumamn- 
sche Potential der beiden Stromkreise i und vi aufeinander lautet: 


SHP.S rn. + N +dede _ a = (ds, ds), 


© e) (9) () 

In allgemeinster Weise wird man auf das Neumann’sche Potential 
geführt), wenn man die Arbeit der elektrodynamischen Kräfte % bei 
einer virtuellen Bewegung des Leiters s’ berechnet, bei welcher dem 
einzelnen Elemente ds’ die beliebige Verrückung (dx, öy’, 62’) er- 
teilt wird und die genannten Verrückungskomponenten als Funktionen 
von s’ anzusehen sind. (Mit d«’, dy', dz’ bezeichnen wir zum Unter- 
schiede die Projektionen des Elementes ds’ auf die Koordinatenaxen.) 
Die Arbeit ist alsdann gegeben durch 


13,82’ + 8,09’ + 8.87}, 
wo sich die Summation auf den Leiter s’ erstreckt. Wir schreiben 
dafür, indem wir durch die Gleichungen (8) die Ampere’sche Direktrix 
einführen und für die letztere die Darstellung (7’) benutzen: 


if | (Cdy’— Baz’)dx’ +: = tw SIE =E dydy' 


5 














dady’ — “ dz +5 ı 


23) Vgl. die zweite der in der vorigen Anm. cit. Abhdlgn., Anhang, wo 


28 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 
Btje SEES 
dx ER dx ist. 
Fügen wir noch geeignete Zusatzglieder mit positivem und negativem 
Vorzeichen hinzu, so erhalten wir 


her RER +57.0% +52 82))(dedv’+ aydy + dedz‘) 


uff OUT gg, (dzdx’ + dydy’+dadz'). 


In dem letzten Ausdruck der Arbeitsgröße kann man die erste Zeile 
gleichsetzen: 








Hierbei wurde davon Gebrauch gemacht, daß 





(22) 





2 (PC) (dxd&’ + dydy' + ded?'); 
die zweite Zeile lässt sich durch partielle Integration umformen und gibt: 
2 [fe avada +.) tif fl lawaa +.) 

Mithin wird die Gesamtarbeit: 
Zul fto( —) (dxde’ +. )+-- Hdxde’ +. 2) 
er Ba v3 a e auydy +dsd? _ __ sy, 


ii) 





wenn bei der Variation von V die ee i und @ festgehalten 
werden. 

V bedeutet hiernach die gesamte mechanische Arbeit, welche gegen die 
auf die Stromleiter wirkenden elektrodynamischen Kräfte zu leisten ist, 
wenn diese Leiter auf einem durchaus beliebigen Wege mit durchaus be- 
liebiger Geschwindigkeit aus unendlicher gegenseitiger Entfernung in die be- 
trachtete gegenseitige Endlage versetzt werden, vorausgesetzt, daß beide 
Leiter von den konstanten Strömen ö und i” durchflossen gedacht 
werden, daß also durch geeignete Vorkehrungen das Auftreten von 
induzierten Strömen vermieden wird. Eine unmittelbare Folge hier- 
von ist, daß sich die Resultierende der elektrodynamischen Kräfte 
‘ sowie das resultierende Drehmoment für jeden der beiden Leiter durch 
die negativen Ableitungen”) des Neumann’schen Potentials nach den 
die Lage des Leiters definierenden Koordinaten darstellen läßt. 


etwas spezieller die Komponenten der auf den Leiter wirkenden Einzelkraft und 
Drehkraft durch die Ableitungen des Potentials nach den die Lage des Leiters 
bestimmenden Koordinaten dargestellt werden. 

24) Wir sind bei der Definition des Potentials der zweiten der in Anm. 21 
genannten Abhandlungen gefolgt; in der ersten wird das Potential mit dem 
umgekehrten Vorzeichen gerechnet und werden daher die Kräfte durch die 
positiven Differentialquotienten von V dargestellt. 


5. Franz Neumann. 29 


Der Neumann’sche Potentialausdruck und seine mechanische Be- 
deutung läßt sich ohne weiteres auch auf nicht-lineare, räumlich aus- 
gedehnte Leiter erweitern, wenn man diese in einzelne Stromfäden 
zerlegt denkt und bei der Berechnung des Potentials die Verteilung 
der Stromfäden im Innern der Leiter und ihre Stromstärken als un- 
veränderlich und an der bewegten Materie haftend voraussetzt. Wegen 
des Zusammenhanges des Neumann’schen Potentials mit der magne- 
tischen Feldstärke und der magnetischen Feldenergie vgl. E. Wiechert”°). 

Indem nun Neumann weiter zeigte, dass seine Induktionsgesetze 
sich ebenfalls mit Hilfe seines Potentials in einfacher Weise dar- 
stellen lassen, knüpfte er das Auftreten der induzierten Ströme an 
die Leistung eines gewissen Quantums mechanischer Arbeit an und 
lieferte damit, wie später Helmholtz”°) ausgeführt hat, einen wichtigen 
Beitrag zu der Lehre von der Energieverwandlung, welche umgekehrt 
die sicherste Stütze der Induktionsgesetze bildet. Zunächst soll hier- 
bei wieder nur die Induktion durch Bewegung betrachtet werden; 
der induzierende Strom ®’ wird daher als konstant angesehen und es 
wird vorausgesetzt, daß in dem induzierten Leiter außer der durch 
Induktion erregten keine andere elektromotorische Kraft vorhanden ist. 

Der sog. Differentialstrom ist nach dem Ohm’schen Gesetz und 
der Neumann’schen Gleichung (20) bei einer beliebigen Bewegung des 
induzierten Leiters, bei welcher die verschiedenen Leiterelemente ev. 
verschiedene Wege dw zurücklegen und verschiedene Geschwindigkeiten 
v = dw/dt besitzen: 


öt y : 
=! (= — 20: [v8,05 = —& [öw8,as, 


wo © wie früher den Widerstand des induzierten Leiters bedeutet. 
Da in Gleichung (20) %, die elektrodynamische Wirkung des indu- 
zierenden Systems auf die Längeneinheit des von der Stromeinheit 
durchflossenen induzierten Leiters war, so bedeutet %,ds die Kompo- 
nente dieser Wirkung auf das Stromelement ds in der Richtung 
des Weges dw und daher dw%,ds die am Elemente ds geleistete 
elektrodynamische Arbeit. Das über den induzierten Leiter erstreckte 
Integral dieser Arbeitsgröße wird daher gleich der negativen Änderung 
‚des Neumann’schen Potentials bei der fraglichen Bewegung, berechnet 


25) Festschrift, Art. 25 und 26. 

26) ‚Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, Berlin, Phys. Gesellschaft (1847), 
Abschn. VI, vervollständigt in Ann. Phys. Chem. 91 (1854), p. 241. Vgl. auch 
die Einwände von ©. Neumann, Math. Ann. 6 (1873), p. 342; A. Seydler, Prager 
Sitzungsber. 1883, p. 235 (Referat hierüber von Lorberg in Fortschritte d. Mathem. 
17 (1885), p. 1026). 


30 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


für den Strom 1 im induzierten und für den Strom ;’ im induzie- 
renden Leiter. Es gilt daher die folgende Darstellung des Differential- 
stroms: 


itt= — 07, ,. 
[07 


Hieraus folgt für den Integralstrom: 


fiai ai: -- (Mid. SER Ha ’ 
wo die Indices a und e auf die Anfangs- und Endlage des Leiters hin- 
weisen, und für die jeweilige Stromstärke im induzierten Leiter: 
3 ed 
(24) = onliee 
Nennt man W die im induzierten Leiter geleistete Stromarbeit, 
d. h. das Produkt aus der elektromotorischen Kraft in die durch den 
Strom beförderte Elektrizitätsmenge, so ist die Stromarbeit pro Zeit- 
einheit 
dW 


Wie 
Fr, wE MR) 


und man kann auf Grund der vorigen Gleichung schreiben 
(25) TE AR 

Die Stromarbeit dW erweist sich hiernach zunächst proportional der 
bei der Bewegung zur Überwindung der elektrodynamischen Kräfte 
aufgewandten mechanischen Arbeit. Daraus, daß sie ihr nach dem 
Energiegesetz gleich sein muß), folgt der Wert der universellen 
Induktionskonstanten &. & muß bei den gewählten Maßeinheiten gleich 1 
sein. Gleichung (25) zeigt dann, daß die mechanische Arbeit bei 
der Bewegung des Leiters ihr genaues Äquivalent in der Stromarbeit 
(der durch den induzierten Strom erzeugten Wärme) findet. 

Die gleichen Gesetze und ihr Zusammenhang mit dem gleichen 
Potentialausdruck übertragen sich schließlich von dem bisher voraus- 
gesetzten Falle der Induktion (Induktion durch gegenseitige Bewegung 
der Leiter) auf die Magnetoinduktion und diejenigen Induktions- 
erscheinungen, wo nicht die Lage, sondern die Stärke des induzieren- 
den Stromes eine Änderung erfährt. Im letzteren Falle entspricht der 
„Strom Null im induzierenden Leiter“ demjenigen Zustande, von dem 
aus bei der Bestimmung des Potentiales die Arbeit zu zählen ist, also 
demjenigen Zustande, der früher als „Entfernung unendlich“ bezeichnet 
wurde. 

Ausführlicher möge noch der Fall der Magnetoinduktion dar- 
gestellt werden, wegen der besonders einfachen Formulierung, die 


5. Franz Neumann. : 31 


Neumann für diesen Fall gefunden hat, und deswegen, weil sie den 
Übergang zu den Vorstellungen Faraday's vermittelt. 

Wir betrachten zunächst, von der Neumann’schen Darstellung”) 
abweichend, zwei unendlich kleine, geschlossene, ebene Strombahnen 
(s) und (s’), welche beide von dem Strom + 1 in demjenigen Sinne 
umflossen sein mögen, in welchem die Variabeln s und s’ gemessen 
werden. Die Flächeninhalte derselben seien f und f’. Nach der 
Ampere’schen Theorie des Magnetismus kann eine unendlich kleine 
Strombahn f ersetzt werden durch ein unendlich kurzes Solenoid, 
dessen Achse senkrecht zur Strombahn nach der der Stromrichtung 
entsprechenden Seite gerichtet ist und die Länge dn haben möge, 
oder durch einen Elementärmagneten, dessen Nord und Südpol um dn 
voneinander abstehen. Um die diesen Polen zuzuschreibende Stärke 
zu bestimmen, haben wir für unseren Fall in Gleichung (13) «=1 
zu setzen und zu beachten, daß dort 1/a die auf die Längeneinheit 
der Solenoidaxe entfallende Anzahl der Strombahnen f bedeutete. Da 
in unserem Falle auf die Länge dn nur die eine Strombahn f kommt, 
so ist = dn zu nehmen. Die Polstärken der den Strombahnen f 
und f’ zugeordneten Elementarmagnete betragen daher 

f ‚ £ 
Va aan: 
Nun ist das Potential der nach Coulomb berechneten Wirkung eines 
Poles unseres ersten Elementarmagneten auf einen Einheitspol am 
Orte von f’ gleich 








TREE 

r Yadnr’ 

und dementsprechend das ebenso berechnete Potential der beiden Pole 
unseres ersten Elementarmagneten 


’ 


Da wir aber in f’ nicht einen Einheitspol, sondern die beiden Pole 
unseres zweiten Elementarmagneten von der Stärke + m’ haben, er- 
gibt sich als Potential der Wirkung unseres ersten auf unseren zweiten 
Elementarmagneten und zugleich als Neumann’sches Potential unserer 
unendlich kleinen, von Einheitsströmen durchflossenen Strombahnen: 
"0? 1/r 

(26) r% ni -£ or : 

ein Ausdruck, der auch durch Umrechnung aus dem Neumann’schen 
Potentialgesetz hätte gefunden werden können. 





27) Vgl. 8 12 der in Anm. 21 zuerst genannten Abhdlg. 


32 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Um die geometrische Bedeutung des Ausdruckes (26) anzugeben, 
betrachten wir die Größe 


feos (r, n) 
r? 








öl/r or 
9 Inn fan age 
Hier bedeutet f cos (r,n) die Projektion der Fläche f auf eine zu r 
senkrechte Ebene und daher K die von f’ aus gesehene scheinbare 
Größe von f oder die Öffnung desjenigen Kegels, welcher von f’ aus 
die Fläche f projiziert. K wird dabei positiv oder negativ gerechnet, 
je nachdem man die Fläche von der einen oder anderen Seite her 
betrachtet. 
Das Neumann’sche Potential zweier unendlich kleinen von Einheits- 
strömen umflossenen Strombahnen (s) und (s’) drückt sich daher durch 
die scheinbare Grösse K bezw. K’ dieser Bahnen folgendermaßen aus: 


FAR LOK 


Wir ersetzen jetzt einerseits die unendlich kleine Strombahn s 
durch ein System solcher Strombahnen, die wir auf einem beliebigen 
berandeten Flächenstück gleichsinnig nebeneinander reihen. Ein solches 
System von unendlich kleinen Strombahnen ist, wie schon Ampere 
erkannt hat (vgl. p. 20) äquivalent einem die Berandung des Flächen- 
stücks umkreisenden Strom. Andererseits ergänzen wir die Strom- 
bahn s’ durch Hintereinanderreihung unendlich vieler gleich großer 
im Abstand @ einander folgender Bahnen zu einem aus dem Unend- 
lichen bis zur Stelle von (s’) reichenden Solenoid. Endlich gehen 
wir noch von den Strömen 1,1 zu den Strömen ;,ö über. Wir er- 
halten dadurch das Neumann’sche Potential eines Solenoidpoles auf 
einen endlichen Strom in der Form: 


RS WE 


4 En 
Hierin bedeutet X nunmehr die Summe der zu dem .System der 
Strombahnen s gehörigen unendlich kleinen Kegelöffnungen, d. h. die 
gesamte scheinbare Größe des endlichen Stroms. Das D'-Zeichen 


bezieht sich auf das System der Strombahnen s’ und läßt sich durch 
eine Integration nach der Axe des Solenoides, welche mit der jewei- 
ligen Richtung von n’ zusammenfällt, ersetzen. 


Auf das Achsenelement dr’ kommen Strombahnen. Man hat 
daher 


eK 1 1 
2 [2E an = 7(K—K,)= Kr, 


5. Franz Neumann. 33 


wo Kr die vom Pole des Solenoids gesehene Kegelöffnung ist. Mit- 
hin wird 





Va ERFg 


ur 2 a 
Hier führen wir abermals die Polstärke m’ = f/Y2a nach 
Gleichung (13) ein und erhalten schließlich als wechselseitiges Po- 
tential des Stromes © und des Magnetpoles m’: 
% 
(28) Re. 

Sämtliche Erscheinungen der Magnetoinduktion, sowie sämtliche 
ponderomotorische Wirkungen zwischen Strom und Magnetpol folgen 
nun aus den Änderungen des Potentials Yım bez. V;m bei einer 
Lagenänderung des Stromes gegen den Pol oder des Poles gegen den 
Strom, hängen also im Grunde nur von der Änderung ı der scheinbaren 
Größe K des Stromes ab. 

Um zu der Faradayschen Auffassung der Gesetze der Magneto- 
induktion überzugehen, denken wir uns von dem Magnetpole eine der 
Stärke desselben proportionale hinreichend grosse Anzahl 4xm’ N von 
Kraftlinien gleichmäßig nach allen Seiten ausstrahlen, d. h. von Linien, 
welche überall die Richtung der magnetischen Feldstärke haben und 
welche im besonderen geradlinig verlaufen, wenn der Pol als isoliert 
vorhanden gedacht wird. (Wegen der allgemeinen Definition und Ver- 
wendung von Kraft- und Erregungslinien vgl. den folgenden Art. 
Nr. 30.) Die Anzahl derjenigen Linien, welche die Strombahn (s) 
durchsetzen, beträgt alsdann m’ NK7>; das Neumann’sche Potential des 
Poles m auf den Strom 1 ist daher dieser Kraftlinienzahl proportional. 
In demselben Sinne ist die im Stromkreise induzierte elektromotorische 
Kraft proportional der (positiven oder negativen) Änderung, die diese 
Kraftlinienzahl bei einer Bewegung von Strom oder Pol erfährt. 

Handelt es sich nicht um einen einzelnen Pol, sondern um eine 
beliebige Verteilung von magnetischen Mengen, so tritt in der obigen 
Formel I mXK an die Stelle von m’K; die magnetischen Kraftlinien 
sind alsdann nicht mehr geradlinig, sondern gekrümmt, da sie überall 
der Richtung der magnetischen Feldstärke 9 folgen; ihre Dichte ist 
gleich |$ | N zu wählen, d. h. so zu bestimmen, daß eine zur Richtung 
der Feldstärke senkrechte Fläche do von |Ö|Ndo Kraftlinien ge- 
troffen wird. Der Satz über die Änderung der die Strombahn durch- 
setzenden Kraftlinienzahl aber bleibt bestehen. 

Auch für die Induktion zweier Ströme aufeinander läßt sich der 
Faraday'sche Kraftlinienbegriff verwerten, wenn man dem induzieren- 


den Strom durch den Vektor der Ampere’schen Direktrix sein magne- 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 3 


34 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


tisches Feld zuordnet und in diesem das System der Kraftlinien 
konstruiert. 

Hervorzuheben ist noch, daß Neumann die Gültigkeit seiner 
Theorie ausdrücklich auf langsam veränderliche Felder und auf lang- 
same Bewegungen beschränkt. Neumann schließt also „z. B. die 
durch elektrische Entladungen induzierten Ströme“ von der Betrach- 
tung aus. Das Wort „langsame Bewegung“ versteht Neumann in dem 
Sinne, daß nur Geschwindigkeiten vorkommen, die „klein sind gegen 
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Elektrizität“ (gegen die Licht-. 
geschwindigkeit, wie man heutzutage sagen würde). 


6. Wilhelm Weber. Unter den zahlreichen Leistungen von 
W. Weber auf dem Gebiete der Elektrizitätslehre ist die Aufstellung 
des nach ihm benannten Grundgesetzes vielleicht nicht die größeste. 
Wir erwähnen von seinen anderen Arbeiten die genaue experimentelle 
Prüfung des Ampere’schen Gesetzes mit Hülfe des Dynamometers?*) 
und, als besonders bedeutsam und fruchtbar, die Einführung eines 
allgemeinen und konsequenten, auf den Ideen von Gauß (vgl. p. 6) 
fußenden elektromagnetischen Maßsystems. 

Durch die Arbeiten von Gaufß war ein absolutes Maß für die 
Menge des Magnetismus und für das magnetische Moment eines Stab- 
magneten sowie für die magnetische Feldstärke eingeführt. Es han- 
delte sich nun darum, die Messung der elektrischen Größen, ins- 
besondere die des elektrischen Stromes an jene magnetischen Maße 
anzugliedern. 

Die Möglichkeit hierzu bot die Wechselwirkung von Strom und 
Magnetpol nach dem Biot-Savartschen Gesetz oder die Magneto- 
induktion. Am bequemsten ist es dabei, an das Neumann’sche Po- 
tential, welches jene beiden Wirkungen, die ponderomotorischen und 
die elektromotorischen, 'zusammenfaßt, anzuknüpfen. 

Das Neumann’sche Potential V eines ebenen geschlossenen 
Stromes auf einen Magnetpol von der Gaußisch gemessenen Stärke 1 
ist proportional der (z. B. elektrodynamisch gemessenen) Stromstärke ı 
und der scheinbaren Größe der vom Strom umflossenen Fläche f. 
Man bezeichne irgend einen Punkt im Innern von f als „Mittelpunkt“ 
und nenne r den Abstand dieses Punktes vom Einheitspol. Befindet 
sich der letztere in hinreichend großer Entfernung, aber sonst in be- 
liebiger Lage gegen den Strom, so kann man das Potential nach den 
Gleichungen (27) und (28), unter n die Normale zur Ebene des 


28) Elektr. Maßbest. 2, insbes. Widerstandsmessungen. 


6. Wilhelm Weber 35 


Stromleiters, unter k einen von der Wahl der Einheiten abhängigen 
Proportionalitätsfaktor verstanden, gleichsetzen: 

(29) _ we kif ee 

Man denke sich andererseits durch den „Mittelpunkt“ senkrecht zur 
Ebene des Stromleiters einen Stabmagneten hindurchgesteckt; sein 
Moment M kann berechnet werden aus der im Nord- und im Südpol 
konzentriert gedachten magnetischen Menge + m und dem Abstand I 
dieser beiden Pole: M= mi. Das Potential für die Ooulomb’sche 
Kraftwirkung der beiden Pole auf unseren Einheitspol ist im Gauß- 
schen Maß: 

(30) v- "cos nn) en. 

Der Vergleich dieses Ausdrucks mit dem Ausdrucke (29) zeigt, 
Ein ebener Strom von der Stärke i und der umflossenen Fläche f wirkt 
auf einen Magnetpol in hinreichender Ferne wie ein Stabmagnet vom 
Momente 
(31) M=kif, 
der am Orte des Stromkreises senkrecht zwr Ebene desselben angebracht ist. 

Auf diesen Satz gründet sich das elektromagnetische oder Weber- 
sche Maß der Stromstärke: Weber setzt in (31) k = 1, bestimmt also 
den zahlenmäßigen Wert der Stromstärke, welcher (zum Unterschied 
mit dem elektrodynamisch gemessenen Werte) J heißen möge, aus 
dem Momente des äquivalenten Stabmagneten durch die Beziehung 
J= M/f. Mit k= 1 wird der Wert V des Neumann’schen Potentiales 
nach Gleichung (29) 


an ERS ehe (nm, r), 


andererseits ergibt die frühere Darstellung (28) desselben Potentials 
mit m’ —= 1 bei hinreichendem Abstand von Strom und Einheitspol 


RER un 


Es wird daher, wenn man denselben Strom einmal elektrodynamisch 
das andere Mal elektromagnetisch mißt: 
ee 
Va 
Die elektromagnetische Maßzahl der Stromstärke ist also V2 - mal 
kleiner wie die elektrodynamische. Umgekehrt ist die elektromagnetische 
Einheit der Stromstärke Y2-mal größer als die elektrodynamische Einheit. 
Gleichzeitig mit der Stromstärke ist auch die Elektrizitätsmenge 


elektromagnetisch bestimmt; die Einheit derselben ist diejenige Elek- 
3* 


36 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


trizitätsmenge, die der Strom 1 in der Einheit der Zeit durch den 
Querschnitt befördert. Hieraus ergibt sich ferner auch die Feldstärke 
in elektromagnetischem Maß; ein Feld besitzt die Stärke 1, wenn es 
in dem betrachteten Punkte auf die elektromagnetische Elektrizitäts- 
einheit die Kraft 1 Dyne ausübt, u. s. w. 

Andererseits liefern die oben erörterten Beziehungen die Handhabe 
dazu, auch das an das Coulomb’sche elektrische Gesetz anknüpfende 
elektrostatische Maßsystem einheitlich durchzuführen. Indem man die 
Stromstärke elektrostatisch mißt als die in der Zeiteinheit durch den 
Querschnitt beförderte elektrostatisch gemessene Elektrizitätsmenge und 
indem man wieder in (31)k—=1 setzt, kann man zunächst die elektro- 
statische Einheit des magnetischen Momentes festsetzen als Moment 
desjenigen Stabmagneten, welcher dem die Fläche 1 umkreisenden 
Strome 1 in seiner Wirkung auf einen hinreichend entfernten Pol 
äquivalent ist. Hieraus folgt weiter die elektrostatische Einheit des 
Magnetismus und der magnetischen Feldstärke. 

Dass dieses elektrostatische System weniger gebräuchlich ist, wie 
das elektromagnetische System, liegt namentlich daran, daß die inter- 
nationalen praktischen Einheiten an das letztere System anknüpfen und 
sich nur durch Potenzen von 10 von den Einheiten desselben unter- 
scheiden. Z. B. ist bekanntlich 

1 Amp = 0,1 elektromagn. Stromeinheiten. 

Durch Einführung des elektromagnetischen Strommaßes wird der 

formale Ausdruck der früher genannten Gesetze vereinfacht, indem 


darin ein Faktor 1/2 bezw. 1/Y2 in Fortfall kommt. Z. B. wird in 
diesem Maßsystem der Neumann’sche Potentialausdruck: 


(32) ER >; je ds’ ei (ds, ds’) 


der Ausdruck des Biot-Savart'schen Gesetzes nach p. 17 
(33) 3 Br mJds sin (; ds) 


y? ’ 








der Umkehrung des Biot-Savartschen Gesetzes nach p. 18 


(34) 3—-J[d-9, 9-5 


des Graßmann’schen Gesetzes nach p. 23 und 19 
_ I'fe:ds/] 


(35) 3 = J[ds- 9]; 9 BE a 
endlich des Ampere’schen Gesetzes 


(6) = — deln (2 eos (ds, ds’) — 3 c08 (r, ds) cos (r, ds’). 


6. Wilhelm Weber. 37 


Wir kommen nun zur Darstellung des Weber’schen Grundgesetzes. 
Dasselbe beabsichtigt namentlich, das Coulomb’sche Gesetz für ruhende 
Elektrizitäten mit den Ampere-Neumann’schen Gesetzen für strömende 
Elektrizität in Zusammenhang zu bringen. Nach dem Vorbilde von 
Newton und Coulomb wünschte Weber ein Punktgesetz aufzustellen, 
also die elektrostatischen, elektrodynamischen und elektrokinetischen 
Wirkungen aus dem Ort und der Bewegung der elektrischen Elementar- 
quanten abzuleiten. Da elektrische Massenpunkte, die ihre gegenseitige 
Lage nicht ändern, keine andere als die Coulomb’sche Wirkung auf- 
einander ausüben, war in erster Linie die relative Geschwindigkeit 
der elektrischen Mengen in Rechnung zu setzen. 

Weber benutzt bei der Ableitung”) und nachträglichen Bestäti- 
gung seines Grundgesetzes drei spezielle Tatsachen, welche allerdings, 
da sie sich auf Stromelemente beziehen, nicht mit Sicherheit aus der 
direkten Erfahrung erschlossen werden können: 

1) Daß zwei Stromelemente, welche in gerader Linie liegen, mit 
welcher ihre Richtung zusammenfällt, sich abstoßen oder anziehen, 
je nachdem sie von der Elektrizität in gleichem oder entgegengesetztem 
Sinne durchflossen werden. 

2) Daß zwei parallele Stromelemente, welche mit ihrer Verbin- 
dungslinie rechte Winkel bilden, einander anziehen oder abstoßen, je 
nachdem sie von der Elektrizität in gleichem oder entgegengesetztem 
Sinne durchflossen werden. 

3) Daß ein Stromelement, welches mit einem Leiterelement in 
gerader Linie liegt, mit welcher die Richtungen beider Elemente zu- 
sammenfallen, einen gleich oder entgegengesetzt gerichteten Strom 
induziert, je nachdem seine eigene Stromintensität abnimmt oder 
zunimmt. 

Von grundlegender Bedeutung ist ferner der Umstand, daß Weber 
sich der dwalistischen Auffassung in der Elektrizitätslehre anschließt, 
nach der sich, im Gegensatz zu der unitarischen Auffassung, die posi- 
tive und negative Elektrizität im elektrischen Strom mit entgegen- 
gesetzt gleicher Geschwindigkeit bewegt. 

Schwierig bleibt hierbei die Vorstellung, die man sich über die 
Verkettung von elektrischen und ponderabeln Massen zu bilden hat, 
worüber die Theorie eigentlich eine bestimmte Vorschrift geben sollte. 
Die auftretenden Kräfte sind in der Weber’schen Theorie rein elek- 
trischer Natuf und greifen in den elektrischen Teilchen an; die letz- 


29) Elektr. Maßbest. 1, insbes. über ein allgem. Grundgesetz der elektr, 
Wirkungen (1846) = Ges. Werke 3, p. 25. 


38 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


teren sind in den Leitern frei beweglich; trotzdem übertragen sich 
die Kräfte unter Umständen auf diese. In Fällen wie die unter 1) und 
2) genannten hat man sich wohl die Elektrizitäten im Stromelement 
zwangläufig zu denken; die in ihnen angreifenden Kräfte gehen dann 
auf die ponderabeln Träger der Elektrizitäten über und wirken pon- 
deromotorisch. Bei Fragen wie die unter 3) hat man sich dagegen 
den induzierten Stromleiter als festgehalten oder zwangläufig geführt 
zu denken; die an den Elektrizitätsteilchen angreifenden Kräfte wirken 
dann auf diese selbst, also elektromotorisch. 

Sind e, e’ die elektrischen Mengen, r die Entfernung derselben, 
t die Zeit, so führt die erste Tatsache mit Rücksicht auf die Coulomb- 
sche Kraftwirkung zunächst zu dem folgenden Ansatz für die zwischen 


ihnen wirkende Kraft: ; E 
=: (1 = a (7) y 


Derselbe genügt aber nicht, um von der unter 2) genannten Tat- 
sache Rechenschaft zu geben, da er sich bei paralleler und senkrecht 
gegen die Verbindungslinie gerichteter Bewegung der Elektrizitäts- 
mengen (wegen dr/dt—= 0) auf die Coulomb’sche Wirkung reduzieren 
würde. Es muß daher noch ein Glied mit d?r/dt? hinzutreten und 
der vorstehende Ansatz deigendermafen ergänzt werden: 


r ta 7 +5) 


Damit diese Form des Gesetzes gleiche Resultate mit dem Ampere- 
schen Gesetz ergebe, ist notwendig und hinreichend, daß b = 2ra®, 
sodaß die definitive Form des Weber’schen a lautet: 


en (ehe). 


Indem hierdurch auch die dritte der oben angeführten Tatsachen 
und bei geeigneter Berücksichtigung von eventuellen „Gleitstellen“ die 
Induktionserscheinungen überhaupt dargestellt werden, ergibt sich 
eine erste Bestätigung des Gesetzes. 

Die Konstante «a ist, wie aus dem Weber’schen Gesetz unmittelbar 
folgt, der reziproke Wert einer Geschwindigkeit?®). In dem besonderen 
Falle, wo die relative Beschleunigung d?r/dt? gleich Null ist, ergibt 
sich die Bedeutung von 1/a als diejenige Geschwindigkeit elek- 
trischer Teilchen, bei der die gegenseitige Einwirkung „derselben ver- 


30) Die bekannte Weber’sche Bezeichnung dieser Geschwindigkeit ist c; 
wir reservieren hier den Buchstaben c für die Lichtgeschwindigkeit, welche der 
V2 Teil des Weber’schen e ist. 


6. Wilhelm Weber. 39 


schwindet oder bei welcher die elektrostatische Wirkung durch die 
elektrodynamische gerade aufgehoben wird. Die Bedeutung dieser Ge- 
schwindigkeit für die elektrischen Maßeinheiten, daß sie nämlich das 
Verhältnis der elektrostatischen und der elektromagnetischen Stromeinheit 
gibt, wird von Weber bei der Vergleichung seines Gesetzes mit dem 
Ampere'schen auseinandergesetzt. Schreibt man nämlich z. B. in dem 
oben genannten Fall 1) die zwischen zwei gleich gerichteten und in 
der gleichen Geraden liegenden Stromelementen ausgeübte Kraft ein- 
mal nach dem Weber’schen, das andere Mal nach dem Ampere’schen 
Gesetze hin, so erhält man, wenn e,e die in der Längeneinheit der 
Leiter in jedem Augenblick enthaltenen und mit der Geschwindigkeit 
v, v’ sich bewegenden Mengen positiver Elektrizität bedeuten: 


nach Wer it aräsds EL. (87), 





nach Ampere IT ds ds’ Gl. (36). 


Nun sind e, e€ ebenso wie e,e€’ elektrostatisch gemessene Elektrizitäts- 
mengen, v und v’ die in der Zeiteinheit von ihnen zurückgelegten 
Wege und ev, e’v' die in der Zeiteinheit den Querschnitt des Leiters 
durehströmenden positiven Elektrizitäten, also 2ev, 2e'v’ nach der 
dualistischen Auffassung die pro Zeiteinheit den Querschnitt passieren- 
den gesamten Elektrizitätsmengen oder die elektrostatisch gemessenen 
Stromstärken, J(stat) bezw. .J’(stat). Damit Übereinstimmung mit 
dem Ampere’schen. Gesetze herrscht, muß sein | 
2J (stat) J’ (stat) a = J (magn) J’ (magn) 

und daher auch 

I(stat) 1 

Jagen) Y2a 
Das Verhältnis der elektrostatischen zur elektromagnetisch gemessenen 
Stromstärke (und ebenso der Elektrizitätsmengen) ist der Dimension 
nach eine Geschwindigkeit und dem Zahlenwerte nach gleich Y4-mal 
der Geschwindigkeit 1/a. Weber ist in späteren Arbeiten auf diese 
Verhältnisse vielfach zurückgekommen, bis er im Jahre 1855 den 
zahlenmäßigen Wert von 1/a im Verein mit R. Kohlrausch experi- 
mentell bestimmte®'). Es ergab sich 


1 
— — 489 450.105 . 
a sec 
31) Über die Elektrizitätsmenge, welche bei galvanischen Strömen durch 


den Querschnitt der Kette strömt, Ann. Phys. Chem. 99 (1856), p. 10 und Elektr, 
Maßbest. 4. . 


40 V 12. R. Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Dividiert man diesen Wert durch Y2, so erhält man die Zahl 


1 cm 

77: = 3,11.109 —, 

also eine Zahl, die auffallend genau mit der Lichtgeschwindigkeit 

übereinstimmt®®). Es war Maxwell vorbehalten, aus dieser Überein- 

stimmung fundamentale Schlüsse zu ziehen, nachdem bereits früher 

(vgl. die folgende Nummer) Riemann an eben diese Übereinstimmung 
theoretische Überlegungen geknüpft hatte. 

Man kann das Weber'sche Gesetz ansehen als eine Formel, in der 
die Wirkung zweier elektrischen Massen aufeinander dargestellt wird 
durch eine Reihe, die nach den zeitlichen Differentialquotienten des 
die Massen verbindenden Fahrstrahls fortschreitet und in der die 
ersten Glieder aus der Erfahrung bestimmt sind. Da indessen bereits 
die ersten Glieder hinreichen, um die elektrodynamischen und elektro- 
kinetischen Wirkungen vollständig wiederzugeben, so hat man von 
der möglichen Hinzufügung unbekannter höherer Glieder abgesehen; 
vielmehr nahm Weber für sein Gesetz in Anspruch, daß es in der 
angegebenen Form genau und für alle Fälle gültig sei. Dem gegen- 
über möge erwähnt werden, daß Helmholtz??) gelegentlich bemerkt 
hat, ein von ihm gegen das Weber’sche Gesetz erhobener Einwand, 
auf den wir unten zu sprechen kommen, werde hinfällig, wenn man 
dem Weber’schen Gesetz noch ein geeignetes Glied mit dem dritten 
Differentialquotienten des Fahrstrahls nach der Zeit hinzufügt. 

Das Weber’sche Gesetz ist Gegenstand vielfacher Diskussion ge- 
wesen. 

Der erste Einwand gegen das Weber’sche Gesetz rührte von 
W. Thomson und P. @. Tait**) her und machte geltend, daß das Ge- 
setz von der Erhaltung der Energie dadurch verletzt werde. Weber 
begegnete diesem Einwand mit dem Nachweis, daß bei allen durch 
sein Gesetz beherrschten Bewegungen die Summe 


RE 


konstant bleibt??) (Beweis s. p. 42 oben); hier bedeutet 7’ die kinetische 
Energie der bewegten Teilchen, U das elektrostatische Potential oder das 


32) Vgl. auch die Korrektion, welche W. Voigt an der Berechnung der 
Weber’schen Versuchsresultate anbringt, Ann. Phys. Chem. (3) 2 (1877), p. 476. 

33) Ges. Abhalg. Bd. 1, p. 554 Anm. 

34) Natural Philosophy, 1. Aufl., deutsche Übersetzung, Braunschweig 1871, 
Nr. 385, p. 351. In die 2, Aufl. ist der Einwand nicht aufgenommen. 

35) W.Weber, Ann. Phys. Chem. 73 (1848), p. 29 oder Jubelband (1874), 
p. 199. Ausführlicher in Elektr. Maßbestimmungen, 6. Abhdlg. 


6. Wilhelm Weber. 41 


Potential der Coulomb’schen Kraft, also wenn nur zwei Teilchen in 
Betracht gezogen werden 


’ 


U--, 
während V die Bedeutung hat 
(38) we ) 


und als Weber’sches elektrodynamisches Potential bezeichnet werden 
möge. Die Gleichung 7 + U + V = const. stellt mithin die Energie- 
gleichung für das Weber’sche Gesetz dar. Dementsprechend bedeutet 
die Summe | 


89) U+r-7(1-0()) 


die gesamte potentielle Energie zweier bewegter Elektrizitätsteilchen ee’; 
diese Summe ist es, die Weber selbst als das zu seinem Gesetz ge- 
hörige Potential bezeichnet. 

In anderem Sinne nennt ©. Neumann?®) die Differenz: 

(40) v—-v-*(1+0($)) 

das „effektive Potential“ des Weber’schen Gesetzes. Er zeigt nämlich, 
daß man, ausgehend von den allgemeinen Variationsprinzipien der 
Mechanik, die Weber’sche Kraft aus diesem Ausdrucke durch Varia- 
tion gewinnt, ähnlich wie man aus einem nur von den Lagenkoordi- 
naten abhängigen Potential die Kraft durch .Differentiation ableitet. 
Schon vor ©. Neumann hatte 1861 B. Riemann in einer Göttinger 
Universitätsvorlesung den Gedanken entwickelt, aus einem geeignet 
gewählten Potential mittels der mechanischen Variationsprinzipien die 
elektrodynamischen Kräfte abzuleiten (vgl. die folgende Nr.). 

Schwerer als der Thomson-Tait’sche wiegt der erste Einwurf von 
Helmholtz?"), daß unter dem Einfluß des Weber’schen Gesetzes ein 
Teilchen in endlicher Entfernung von einem anderen eine unendliche 
Geschwindigkeit, also auch eine unendlich große lebendige Kraft an- 
nehmen könne. 

Ist nämlich m die Masse des Trägers der elektrischen Menge e, 
welche der Abstoßung einer gleichartigen ruhenden Menge e’ unter- 
worfen ist, und geht die Bewegung in der Richtung des Radiusvektors 
vor sich, so lautet die Gleichung der Bewegung: 


36) C. Neumann, Prinzipien der Elektrodynamik und Allg. Unters. über 
das Newton’sche Prinzip der Fernwirkungen, Kap. VII (s. Literaturübersicht), 
sowie Math. Ann. 1 (1869), p. 317 und Math. Ann. 17 (1880), p. 400. 

37) J. f. Math. 72 (1870), p. 57—129. 


42 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


min —! s(1-a(& ‘) +2a a rn). 


Hieraus folgt als Energiegleichung durch Multiplikation mit > und 


Integration: 
+ e-el)=o 
oder | 
RER 
Alukeinwern 
20a? r 


Dementsprechend wird die Geschwindigkeit unendlich groß für 
2ee’a? 
Vz E z— Sn . 
Dies ist ein möglicher positiver Wert des Radiusvektors, wenn, wie 
vorausgesetzt, die Massen e und e’ gleichartig sind. Damit für r = o 
die Geschwindigkeit der Bewegung reell, die Lage r = o selbst also mög- 


lich wird, ist nur erforderlich, daß im Falle einer abstoßenden Wirkung, 
wo zu Anfang r <o und daher . > 5 ist, auch = > sei, was 
durch geeignete Verfügung über die Anfangsgeschwindigkeit zu er- 
reichen ist. 

Gegen diesen Einwurf machte Weber geltend®®), daß die Ent- 
fernung o jedenfalls eine sehr kleine (molekulare) Entfernung wird, 
weil in ihrem Zähler die Größe 2a? vorkommt, die experimentell 
gleich dem reziproken Quadrate der Lichtgeschwindigkeit gefunden 
wurde (s. oben), daß aber für so kleine Entfernungen möglicherweise 
ganz andere Gesetze gelten können als für endliche Entfernungen. 

Helmholtz erwiderte darauf, daß man nicht notwendig auf mole- 
kulare Entfernungen geführt wird, wenn man außer den elektrischen 
noch andere ponderomotorische Kräfte auf den Träger der elektrischen 
Menge e einwirken lasse. Allgemein argumentiert Helmholtz so°°): 

Man nehme eine beliebige Anzahl N von elektrisch geladenen 
Punkten, deren träge Massen mit u, bezeichnet werden; sie mögen 
alle oder zum Teil Quanten von Elektrizität enthalten, die nach 
elektrostatischem Maß gemessen mit e, bezeichnet werden; es sei r,„ 
die Entfernung der Punkte » und m, q, die Geschwindigkeit des 
Punktes n, ®,, der Winkel, den die Geschwindigkeit q, mit der über 


38) Elektr. Maßbest. 7, insbes. über die Energie der Wechselwirkung (1871) 
== Ges. W. 4, p. 247. 
39) J. f. Math. 75 (1873), p. 35—66 — Ges. Abhdlgn. 1, p. 647. 


6. Wilhelm Weber. 43 


n hinaus verlängerten Richtung der Linie r,,, bildet. Dann ist ent- 


nm 


sprechend dem Coulomb’schen Gesetz der Wert des elektrostatischen 


Potentials: 
0-42 238. 


(r) (m) 


nach dem Weber’schen Gesetz der Wert des elektrodynamischen Po- 
tentials: 


a? 6, mM 
ED Sun one. te) 


R) (m) 


Der letztere Ausdruck läßt sich in zwei Teile sondern, von denen 


der eine 
Q RL EN, a? > | > | nn An4m cos Om cos Pan 
Be 





sei und der andere unter Benutzung der Abkürzung 


e 
2, = 20? > co dm 
(m) Tım 
ı 
geschrieben werden kann: 


(n) 


Er ist mithin, da er das Quadrat der Geschwindigkeit enthält, von 
der Form des Ausdruckes der lebendigen Kraft. 

Bedeutet endlich P das Potential der übrigen Kräfte, welche auf 
die träge Masse wirken, so ist nach dem Weber’schen Gesetz die Glei- 
chung für die Erhaltung der Energie: 


3 2 (p, — 2,6) A + 2 E= Q - U — const. 


Hieraus geht hervor, daß diejenige Größe, welche die lebendige 
Kraft des Punktsystems vertritt (das erste Glied der vorstehenden 
Gleichung), von der gewöhnlichen Form dadurch abweicht, daß die 
Quadrate der Geschwindigkeiten mit Faktoren multipliziert werden, die 
nicht notwendigerweise positiv sind. Sollte also für einen Punkt die 
Größe w, — p„e, negativ sein, so würde der Punkt gewissermaßen 
negative Masse haben und einer Vergrößerung seiner Geschwindig- 
keit würde eine Verminderung seiner „lebendigen Kraft“ entsprechen. 
Wenn die Summe T— 4 SD (u, — e,p,)g,? aus einer Anzahl positiver 
und negativer Größen bestände, so würde die Geschwindigkeit ein- 
zelner Punkte über alle Grenzen hinaus wachsen, die Summe selbst 
aber konstant bleiben können. Hierin sieht Helmholtz einen Verstoß 
gegen das Energieprinzip. 


44 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Besonders deutlich zeigt sich dies in dem Falle, daß nur eine 
Masse u sich bewegt und die übrigen auf einer Kugel gleichmäßig 
verteilt sind. 

Weber*®) und C©. Neumann*!) wandten hiergegen ein, der erstere, 
daß die Koeffizienten von q,? in 7 keine wirkliche Masse bedeuten, 
der letztere, daß dem Energieprinzip in solchen Fällen wie dem in 
Rede stehenden eine erweiterte Fassung gegeben werden müsse, daß 
nämlich nur eine von dem augenblicklichen Zustande des Systems 
(Lage und Geschwindigkeit seiner Massenteile) abhängige Funktion zu 
existieren brauche, die bei der Bewegung ungeändert bleibt. (Neumann’s 
Postulat, s. Nr. 8.) 

Ferner zeigte Helmholtz*?) noch, daß sich unter Umständen aus 
dem Weber’schen Gesetz eine Elektrizitätsverteilung auf Konduktoren 
ergeben könne, die in labilem Gleichgewicht ist. 

Wenn R. Olausius*?) einen Vorwurf gegen das Weber'sche Gesetz 
aus der demselben zu Grunde liegenden dualistischen Auffassung der 
Elektrizitätsbewegung konstruierte, so ist dagegen zu bemerken, daß 
zu jener Zeit die Entscheidung zwischen der unitarischen und duali- 
stischen Auffassung mehr Sache des persönlichen Geschmacks wie des 
objektiven Urteils war und daß erst neuere Erfahrungen und Theorien 
über bewegte Elektronen gegen die Annahme einer mit entgegen- 
gesetzt-gleicher Geschwindigkeit erfolgenden Strömung der positiven 
und negativen Elektrizität sprechen. 

Die mathematische Behandlung spezieller Probleme wird unter 
Zugrundelegung des Weber'schen Gesetzes meist recht kompliziert. 
Selbst die Bewegung eines einzelnen, frei beweglichen, geladenen 
Massenteilchens, welches von einem festen Zentrum nach dem Weber- 
schen Gesetz angezogen wird“), gibt zu recht umständlichen Rech- 
nungen mit elliptischen Funktionen und zu zahlreichen Fallunter- 
scheidungen Anlaß. 

Wie es scheint, sind die Diskussionen über das Weber’sche Gesetz 
nicht bis zu einem positiven Ergebnis durchgeführt worden. Das Für 
und Wider versiegte allmählich, weil sich das Interesse einstweilen, 
zu Gunsten der Faraday- Maxwell’schen Auffassung, überhaupt von 


40) Ann. Phys. Chem. 156 (1875), p. 1 = Ges. Werke 4, p. 312. 

41) Leipz. Ber. 1872 und 1874; Ann. Phys. Chem. 155 (1875), p. 211. 

42) J. f. Math. 72 (1870), $ 4, p. 85 = Ges. Abhdlgn. 1, p. 578. 

43) J. f. Math. 82 (1877), p. 85. 

44) Vgl. E. Riecke, Gött. Nachr. 1874; @. Lolling, Leopoldina 44; E. Ritter, 
Ztschr. Math. Phys. 37. Wegen der einschlägigen Arbeiten astronomischer Rich- 
tung vgl. Art. 2 dieses Bandes Nr. 21. | 


7. Gauß und Riemann. 45 


der Frage nach der Form eines umfassenden Massenpunktgesetzes ab- 
kehrte. 


7. Gauß und Riemann. Während Weber in konsequentester 
Weise den Standpunkt der Fernwirkungen verfocht, machten sich in 
seiner unmittelbaren Umgebung, bei seinem Lehrer Gauß und seinem 
Schüler Riemann, Strömungen entgegengesetzter Richtung geltend. 

Im Jahre 1845 schrieb Gauß®) an Weber auf eine Mitteilung 
von dessen Grundgesetz hin, daß er sich zehn Jahre früher selbst mit 
ähnlichen Untersuchungen beschäftigt, daß er sie aber nicht bekannt 
gemacht hätte, „weil ihm das gefehlt, was er als den eigentlichen 
Schlußstein betrachtet hatte, nämlich die Ableitung der Zusatzkräfte 
(die zu der gegenseitigen Wirkung ruhender Elektrizitätsteile noch 
hinzukommen, wenn sie in gegenseitiger Bewegung sind) aus der 
nicht instantanen, sondern (auf ähnliche Weise wie beim Licht) in der 
Zeit sich fortpflanzenden Wirkung“. Hierzu wäre es seiner Über- 
zeugung nach nötig, „sich von der Art, wie die Fortpflanzung ge- 
schieht, eine konstruierbare Vorstellung zu machen“. 

Gauß ist auch später nicht dazu gekommen, seine Untersuchungen 
im Sinne dieser Forderung zu ergänzen. Das Gauß’sche Grundgesetz‘), 
welches in seinem Nachlaß veröffentlicht ist, genügt dieser Forderung 
nieht. Dasselbe ist vom Juli 1835 datiert und lautet 


“ re) 


wo e, € die in Bewegung befindlichen Elektrizitätsmengen, Y1/k eine 
bestimmte Geschwindigkeit, r den Abstand von e und e’ und « die 
relative Geschwindigkeit der Punkte e (xyz) und e («’y'z’) bedeutet, 
sodaß 


(42) ee re Eh Aerek Da a des 
Nach einer Kritik von Maxwell‘) gibt dieses Gesetz indessen die 
Induktionserscheinungen nicht richtig wieder. 

Ganz im Sinne der Gauß’schen Forderung liegt dagegen eine 
Theorie, die B. Riemann“) im Jahre 1858 aufgestellt hat. Er be- 
stimmt das Potential V eines bewegten elektrischen Teilchens als 
Lösung einer Differentialgleichung, die der Poisson’schen Gleichung 
der Potentialtheorie nachgebildet ist, nämlich: 


45) Ges. Werke 5, p. 627. 

46) Ges. Werke 5, p. 616. 

47) Treatise, 2. Ausg., 2, p. 437. 

48) Ann. Phys. Chem. 131 (1867), p. 237 — Ges. Werke, 2. Aufl. Leipzig, 
1892, p. 288. 


46 V 12. R. Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 

1ay 

a? 91 
in der g die räumliche Dichte der Elektrizität im Punkte x, y, 2 und 
« eine Geschwindigkeit bedeutet. Nach dieser Gleichung pflanzt sich 
das Potential mit der Geschwindigkeit « fort und braucht, um vom 
Punkte xyz’ zu dem um r entfernten Punkte xyz zu gelangen, die 
Zeit r/«. Will man also die Potentialwirkung im Punkte e (xyz) zur 
Zeit t bestimmen, die von einer elektrischen Masse e’ ausgeht, so hat 
man diejenige Lage «’y'’z’ der letzteren in Betracht zu ziehen, in der 
sie sich zu einer gewissen früheren Zeit t” befunden hat. ?’ kann, 
wenn die Bewegung von e', also insbesondere die Entfernung der 
Lage des Teilchens e' zu jeder früheren Zeit von dem Orte des Teil- 
chens e zur Zeit t bekannt ist, durch Auflösung der Gleichung 
'=t— r/a nach gefunden werden. Man erhält auf diese Weise 
als Elementarpotential der Wirkung von €’ auf e 

ee 

(43) r(t,t)?’ 
wo r(t,?) die Entfernung des Ortes von e zur Zeit t von dem Orte 
von €’ zur Zeit #” bedeutet. Dieses Elementarpotential ist eine Lösung 
der vorangestellten Differentialgleichung. 

Riemann summiert nun dieses Elementarpotential über alle elek- 
trischen Massen e und e’ zweier stromführender Leiter und findet 
durch Schlüsse, deren Zulässigkeit von R. Olausius*”) angefochten 
worden ist, für das Gesamtpotential einen Wert, der sich mit dem 
Neumann’schen Potential deckt, wenn « mit der von Weber und Kohl- 
rausch bestimmten Geschwindigkeit 1/a nach der Gleichung zusammen- 
hängt «= 1/2a?, d.h. wenn « gleich der Lichtgeschwindigkeit e ge- 
wählt wird. Das Interesse der Riemann’schen Theorie beruht einer- 
seits in dem letztgenannten Ergebnis, welches Riemann als Vorläufer 
Maxwell’s kennzeichnet, andererseits darin, daß die neuere Elektronen- 
theorie in gewissem Sinne zu der Riemann’schen Form des Elementar- 
potentials zurückführt"). 


—= AV -+4no, 


49) Ann. Phys. Chem. 135 (1869), p. 606. Vgl. auch die Bemerkungen 
H. Weber’s in Riemann’s Ges. Werken, 2. Aufl. p. 293. 

50) Vgl. Art.14, Nr.4 und 5. Allerdings spricht die Elektronentheorie das frag- 
liche Potentialgesetz nicht für punktförmige sondern für räumlich verteilte Elek- 
trizitätsmengen aus; auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Abweichung 
von dem Riemann’schen Ansatz weist besonders E. Wiechert hin, Haarlem Arch. 
Neerl. (2) 5 (1900), p. 563 (Jubelband für H. A. Lorentz). In der Elektronen- 
theorie kommt zu dem skalaren Potential der Wirkung zweier Elektronen noch 
sein Vektorpotential hinzu, auf welches in Nr. 9 des vorliegenden Art. hin- 
gewiesen wird, 


7. Gauß und Riemann. 47 


Wohl zu unterscheiden von diesen weittragenden Spekulationen 
ist ein Grundgesetz der elektrodynamischen Wirkungen, welches Rie- 
mann in seinen Universitätsvorlesungen°!) vorgetragen, das er selbst 
aber nicht publiziert hat. Die Riemann’sche Form des Grundgesetzes 
der Wirkung zweier bewegter elektrischer Mengen e und e’ schreibt 
sich am einfachsten ebenfalls in der Form eines Potentials; dasselbe 
lautet: 


(44) 09€ 


wo u die in Gl. (42) angegebene Bedeutung der relativen Geschwindig- 
keit der Elektrizitätsmengen e und e’ hat; die letzteren sind dabei in 
elektrostatischem Maß gemessen; c bedeutet die Lichtgeschwindigkeit. 

V bestimmt nach Riemann die potentielle Energie zweier Elektri- 
zitätsteilchen, soweit sie elektrodynamischen Ursprungs ist; hierzu 
kommt die potentielle Energie elektrostatischen Ursprungs, welche 
wieder U heißen möge, sowie die kinetische Energie 7. Die Energie- 
gleichung lautet daher nach Riemann 


(45) T+U-+YV= const. 


Es entsteht nun allgemein die Frage, wie aus der Form der 
einen Energiegleichung auf das Kraftgesetz und die Bewegungs- 
gleichungen (sechs Gleichungen bei zwei Teilchen) geschlossen werden 
kann. Die Frage ist zunächst natürlich unbestimmt, da man in sehr 
mannigfaltiger Weise Kraftausdrücke bilden kann, die mit der vor- 
gegebenen Energiegleichung im Einklange sind. Es muß daher noch 
eine weitere Annahme hinzutreten; diese besteht bei Riemann und 
ähnlich bei ©. Neumann (vgl. die vorige Nr.) in der Forderung eines 
möglichst engen Anschlusses an die Mechanik. Als allgemeinste For- 
mulierung der Mechanik kann das Variationsprinzip gelten, welches 
in Deutschland gewöhnlich das Hamilton’sche Prinzip genannt wird 
und welches Riemann zutreffender als Lagrange’sches Prinzip bezeichnet. 
Hängt die potentielle Energie nur von der Lage des Systems ab, so 
lautet das Prinzip bekanntlich 


INT— T)dt—=0 


(bei gegebener Anfangs- und Endlage des Systems und bei fest- 
gehaltenen Grenzen des Integrals). Die hieraus folgenden Bewegungs- 
gleichungen geben als zugehörige Energiegleichung 7 + U = const. 
Wenn dagegen, wie im vorliegenden Falle, die potentielle Energie 
auch von der Geschwindigkeit abhängt, so ist die geeignete Form 


51) Schwere, Elektrizität und Magnetismus, Hannover 1876, $ 98, $ 9. 


48 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


des Prinzipes erst zu suchen. Maßgebend hierbei muß der Gesichts- 
punkt sein, daß die Folgerungen des Prinzipes mit dem Energie- 
gesetz in der Form (45) verträglich sein sollen. Man setze in dem 
Sinne das Prinzip zunächst mit unbestimmtem Vorzeichen folgender- 
maßen an: 


(46) ONT—- UT+HNd=0. 

Das System besteht aus zwei Teilchen von den Massen m, m’ 
und den Ladungen e, e’; zyz und x’y’z’ sind die rechtwinkligen 
Lagenkoordinaten, & y2 und &’y’2’ die entsprechenden Geschwindigkeits- 
koordinaten. E 7 folgt nach den Regeln der Variationsrechnung: 

0 
(47) 7 T— la A en 
und entsprechende Gleichungen für die Variabeln yzx’y’z’. Um zur 
Energiegleichung zu gelangen, multipliziere man die Gleichungen der 
Reihe nach mit &y2, &’y’z’ und addiere. Da 


a a. iD 
el Je &zzı )— zz; 3 


ergibt sich, wenn zu jedem der hingeschriebenen Glieder diejenigen 
fünf hinzugedacht werden, die durch Vertauschung von x mit yzx’y’z’ 
daraus entstehen: 


et )AT-UHN=-l@L+ ++ T-U+N). 


Nun ist nach (42) und (44) V ebenso wie T' eine homogene 
Funktion zweiten Grades von &y2x’y’2’, während U von diesen 
Größen unabhängig ist. Die linke Seite wird daher gleich 2d(T+V)/dt; 
auf der rechten Seite steht der vollständige Differentialquotient von 
T— U+YV nach t. Mithin lautet die Energiegleichung: 


2 ITHN-LAI—ULN oder ZIHULN-0. 


Soll dieses mit (45) stimmen, so muß bei V das obere Vorzeichen 
gewählt werden. Dieser Umstand läßt sich dahin deuten, daß bei 
der Anwendung der mechanischen Prinzipien das Potential V eigent- 
lich als eine Art kinetischer Energie aufgefaßt werden sollte, so daß 
es sich in dem Ausdrucke (46) nicht zu U, sondern zu 7 hinzu- 
addiert. 

Aus Gleichung (47) ergeben sich nun die Komponenten der auf 
das Teilchen e wirkenden Kraft %. Man hat nämlich: 


(48) = mi- 4 2 U-N-LU—N. 


7. Gauß und Riemann. 49 


Insbesondere erhält man, wenn man für U den Ausdruck ee’/r und 
für Y den Ausdruck (44) einträgt, als Riemann’sches Kraftgesetz: 


et 
u.S8. W 


Setzt man dagegen in (48) für Y das Weber’sche elektrodynamische 
Potential aus Gleichung (38) ein, welches nur von r und r abhängt, 
und schreibt r, r statt x, x, so folgt 


d N 
G— le) +5 (+ a) 
= en (1 — a®r? + 2a?rf), 


d.h. genau der Ausdruck des Weber’schen Gesetzes aus Gleichung (37). 

Weiter möge noch der Zusammenhang eines vorgelegten beliebigen 
Elementarpotentials V zweier bewegter elektrischer Teilchen e und € 
mit dem Neumann’schen Potential V,, zweier Stromkreise s und s’ 
erörtert werden. Wir erteilen, wie es bei der Ableitung des Neumann- 
schen Potentiales geschah, den Stromkreisen s und s’ eine beliebige 
virtuelle Verrückung, durch welche ihre gegenseitige Lage verändert 
wird. Die Verrückungskomponenten für irgend eine Stelle seien 
dx öyöz und dxw’öy’dz’. Die Stromstärken ö und ö’ werden dabei 
ungeändert gelassen. 

Indem wir uns die Strömung durch Bewegung elektrischer Ele- 
mentarquanten hervorgerufen denken, stellen wir uns jeden der beiden 
Leiter in seiner ursprünglichen und in seiner varlierten Lage von 
Teilchen e, e’ durchströmt vor, so zwar, daß sich ein individuelles 
Teilchen e in dem ursprünglichen Leiter an der wechselnden Stelle &... 
und gleichzeitig mit unveränderter Ladung in dem variierten Leiter 
an ‘derjenigen Stelle + dx... befindet, die vermöge unserer vir- 
tuellen Verrückung der Stelle x... jeweils entspricht. Je zwei ent- 
sprechende Querschnitte des Leiters in der einen und anderen Lage 
werden alsdann von genau denselben Ladungen gleichzeitig durch- 
strömt, d. h. die Stromstärke bleibt, wie es sein soll, bei dieser Auf- 
fassung der Variation konstant. Wir bemerken noch, daß die Ge- 
schwindigkeitskomponenten eines individuellen Teilchens in dem ur- 
sprünglichen Leiter dx/dt... oder &... und in dem variierten Leiter 
d(x + da)/dt... oder + döx/dt... sind; bezeichnen wir die letz- 
teren mit @+ö&..., so ergibt sich die Bedeutung von d# gleich 


d 
Encyklop. d. math, Wissensch, V 2. 4 


50 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


Die bei unserer virtuellen Verrückung von den elektrodynamischen 
Kräften an beiden Stromkreisen im Ganzen geleistete Arbeit ist nun 
einerseits nach der Definition des Neumann’schen Potentials: 


(50) oW= —$V,, 


(£ und ©’ konstant); sie kann andererseits aus den Kräften % und % 
berechnet werden zu 


—- II +, 


wo das Zeichen & über die Kombination irgend zweier Teilchen e 
und e’ zu erstrecken ist und wo zu dem hingeschriebenen diejenigen 
fünf Glieder hinzuzudenken sind, die durch Vertauschung von x mit 
y2x'y'z’ entstehen. Nach (48) ist aber, wenn wir von den elektro- 
statischen Kräften absehen, also U gleich Null setzen: 


Zaun ZuhlirrZefin 
= Deut + Nut HN a4 


In der letzten Zeile verschwindet das erste Glied, weil die Strömung 
sowohl in den ursprünglichen wie in den variierten Leitern stationär 
ist. Die beiden folgenden Glieder stellen zusammen die vollständige 
Variation von &Y bei der virtuellen Verrückung dar. Es wird 
daher auch 


(51) oW=02V. 
Aus (50) und (51) ergibt sich 
(52) ZV=— TV, 


Dieser Bedingung muß jedes Elementarpotential V, welches man 
für die Wirkung zweier Teilchen aufstellen mag, genügen, wenn anders 
es den durch das Neumann’sche Potential dargestellten Erfahrungs- 
tatsachen entsprechen soll. Im Falle des Riemann’schen sowie des 
Weber'schen Potentials ist Gleichung (52) bei dualistischer Auffassung 
des Strömungsvorganges befriedigt. Insbesondere liegt bei dem ersteren 
die Sache so, daß Riemann, ausgehend von dem Neumann’schen Po- 
tential, dieses durch Hinzufügung von Gliedern, die bei der Integration 
über einen geschlossenenen Stromkreis den Wert Null ergeben, in 
eine Form setzte, die sich als Summe der gegenseitigen Wirkungen 
zweier Teilchen e und e’ auffassen ließ, daß also Riemann auf sein 
Potential durch eine geeignete Zerspaltung des Neumann’schen Poten- 
tials im Sinne der Gleichung (52) geführt wurde. 

Inwieweit sich das Riemann’sche Potential in seinen Folgerungen 
von dem Weber’'schen Potential der Elementarwirkung zweier bewegter 


S. Carl Neumann. 51 


Elektrizitätsmengen unterscheidet, wird in der letzten Nummer er- 
örtert werden. ; 

Man hat versuchsweise sowohl das Gauß’sche wie das Riemann- 
sche Gesetz auf bewegte ponderable Massen übertragen und auf astro- 
nomische Probleme angewandt (vgl. Art. 2 dieses Bandes Nr. 21); 
jedoch scheint sich diese Übertragung nicht als fruchtbar zu erweisen. 


8. Carl Neumann. Von den elektrodynamischen Untersuchungen 
dieses Forschers heben wir zunächst eine Gruppe von Arbeiten°?) hervor, 
in denen der schon von Riemann ausgesprochene Gedanke einer zeit- 
lichen Fortpflanzung des Potentials aufgenommen, aber in wesentlich 
anderer Weise ausgeführt wird. Neumann drückt sich etwa folgen- 
dermaßen aus: Zur Zeit 2’ geht von einem elektrischen Teilchen e’ 
ein „Befehl“ an ein zweites Teilchen e aus; derselbe wird mit kon- 
stanter, sehr großer Geschwindigkeit 8 auf dem die beiden Teilchen 
verbindenden, im Raume veränderlichen Radiusvektor r transmittiert. 
Er erreicht das Teilchen e zur Zeit =t’+ At, wo At=r/ß und 
r die Entfernung von e und e’ zur Zeit t ist. Der Befehl oder das 
von e’ emittierte Potential bemißt sich nach der Entfernung von e 
und e’ zur Zeit t’ der Emission, welche r’” heißen möge, und laute 
ee’p(r’), wo @ eine zunächst unbestimmt gelassene Funktion des 
Argumentes ist. Entsprechend !—=t— At setze man r =r — Ar 
und entwickle g(r’)= p(r — Ar) nach Potenzen der kleinen Größe 
At=r/ß unter Vernachlässigung der dritten und höheren Potenzen. 
Es ergibt sich für das zur Zeit t’ von e’ emittierte und zur Zeit t 
von e rezipierte Potential der Wert 


‚ r dg (dr\® ‚d dr —r r® dp dr 
ee een): 
Während also ursprünglich das Potential als reine Funktion der Ent- 
fernung r’ zur Zeit der Emission angesetzt wurde, wird es, wenn man 
es durch die Entfernung r zur Zeit der Rezeption ausdrückt, eine 

Funktion von r, dr/dt und d?r/dt?. 

Um aus diesem Potential die zwischen den beiden Teilchen e 
und e’ wirkende Kraft abzuleiten, benutzt Neumann (vgl. die vorige 
Nummer) das Hamilton’sche Prinzip. Bei der Anwendung dieses Prin- 
zipes kommt das zweite Glied des vorstehenden Ausdruckes in Fort- 
fall, da es durch einen Differentialquotienten nach £ dargestellt wird. 
Das erste Glied geht, wenn man die nächstliegende Annahme p = 1/r 
macht, über in 


52) Math. Ann. 1 (1869), p. 317, vgl. auch die frühere Anm. 36, 
4* 


52 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


ee’ 1 /(dr\? 

te): 
es stimmt also, wenn man noch 3 = 1/a wählt, überein mit dem 
Ausdrucke (40) und führt wie dieser bei Ausführung der im Hamil- 
ton’schen Prinzip vorgeschriebenen Variation auf das Weber’sche 
Gesetz. 

Neumann weist selbst darauf hin, daß die Analogie seiner Theorie 
mit der Riemann’schen sowie der von ihm angenommenen Fort- 
pflanzung des Potentials mit der Fortpflanzung des Lichtes nur eine 
äußerliche ist. In der Tat wird die von Neumann postulierte Poten- 
tialgeschwindigkeit ß nicht gleich der Lichtgeschwindigkeit c (oder 
dem Riemann’schen «), sondern gleich 1/a = Y2c gesetzt. Ferner ist 
für die Neumann’sche Untersuchung die Annahme wesentlich, daß sich 
das Potential auf dem die beiden Teilchen verbindenden, im Raume 
veränderlichen Radiusvektor, nicht im Raume selbst mit konstanter 
Geschwindigkeit fortpflanzt. Bei Neumann kann daher nicht, wie bei 
Riemann, der absolute Raum (oder der Äther) als das die Potential- 
wirkung übertragende Mittel angesehen werden, vielmehr hängt ganz 
im Sinne von W. Weber die Größe des Potentials und die Art seiner 
Übertragung nur von der relativen Lage der Teilchen und dem die- 
selben verbindenden relativen Radiusvektor ab, so daß es verständlich 
. wird, warum diese Neumann’sche Vorstellung gleiche Resultate wie 
die Weber'sche Theorie ergibt. 

In einer anderen Gruppe von Arbeiten stellt sich Neumann die 
Aufgabe, die Grundlagen der Elementargesetze, namentlich des Ampere- 
schen „ponderomotorischen“ Gesetzes, scharf zu formulieren und ein 
„elektromotorisches“ Elementargesetz zu entdecken, welches das F\. Neu- 
mann’sche für geschlossene Ströme ausgesprochene Integralgesetz er- 
gänzt und auf die Wirkung von Stromelementen zurückführt. Eine 
zusammenfassende Darstellung dieser Untersuchungen gibt das Werk 
„Die elektrischen Kräfte, Erster Teil“. (Vgl. Literaturübersicht.) 

Neumann geht hierbei von einer allgemeinen Formulierung des 
Energiegesetzes aus. Die potentielle Energie des Systems wird hier- 
bei als eine zwar durchaus unbekannte, jedenfalls aber nur von dem 
augenblicklichen Zustande des Systems abhängige Funktion F'angesehen, 
deren Existenz eben durch das Energiegesetz postuliert wird. Er 
nennt sie deshalb „das Postulat des Systems“. Betrachtet man nur 
die elektrodynamischen Wirkungen innerhalb des Systems, so läßt 
sich das Energiegesetz dahin aussprechen, daß die Summe der von 
den elektrodynamischen Kräften hervorgerufenen Vermehrung der 
lebendigen Kraft und der im System entwickelten (Joule’schen) Wärme 


8. Carl Neumann. 53 


ein vollständiges Differential sein soll, nämlich das negative Differential 
— dF des elektrodynamischen Postulates. 

Was zunächst das ponderomotorische Elementargesetz angeht, so 
hält Neumann an den Ampere’schen Hypothesen (vgl. pag. 11) fest, 
mit Ausnahme derjenigen, daß die Kraft einer Potenz der Entfernung 
umgekehrt proportional sei. Macht man den allgemeinen Ansatz 


JJ dsds’P, 
wo P eine Funktion der relativen Lage der beiden Stromelemente ds 
und ds’ ist, so folgt aus den Ampere’schen Hypothesen mit Benutzung 
der früher erklärten Bezeichnungen: 
P= 0! c08 # cos #° + 0’! cos s, 


(54) 472 /(dw\? d (dy\? 8 /dap\? 
ee 
Man kann hierfür auch kürzer schreiben: 
8 dp d’y 
69 rer 


ı ist eine Funktion der Entfernung r der beiden Stromelemente, die 
man, um Übereinstimmung mit dem Ampere’'schen Gesetz zu erzielen, 
gleich Yr zu wählen hat. Diese Wahl ist jedoch nur für endliche 
Entfernungen angezeigt, während für molekulare Entfernungen % even- 
tuell anders zu bestimmen sein wird. 

Bei der Ableitung des elektromotorischen Elementargesetzes für die 
Einwirkung eines stromdurchflossenen Drahtes auf einen beliebigen 
Körper werden die folgenden Hypothesen zu Grunde gelegt. 

1. Die elektromotorische Kraft elektrodynamischen Ursprungs, 
welche in irgend einem Punkte des Körpers während der Zeit dt 
von dem Stromelement ds hervorgebracht wird, ist proportional mit 
der Länge ds desselben, sonst aber nur noch abhängig von seiner 
Stromstärke und seiner relativen Lage zu dem betrachteten Punkte, 
sowie von denjenigen Änderungen, welche Länge und Stromstärke 
während der Zeit dt erleiden. Sie ist Null, falls solche Änderungen 
nicht stattfinden. 

2. Die elektromotorische Kraft ist zerlegbar in zwei Kräfte, von 
denen die eine mit der Stromstärke J des Elementes ds, die andere 
mit der Änderung d.J der Stromstärke während der Zeit di proportional 
ist; mit anderen Worten, die rechtwinkligen Komponenten der elektro- 
motorischen Kraft sind homogene lineare Funktionen von J und dJ. 

3. Denkt man sich das Stromelement Jds in die rechtwinkligen 
Komponenten Jdx, Jdy, Jdz aufgelöst, welche mit dem Stromelement 
starr verbunden sind, so ist die elektromotorische Kraft von Jds 


54 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


identisch mit der gesamten elektromotorischen Kraft von Jdx, Jdy, 
Jdz, vorausgesetzt, daß nicht nur J, sondern auch d.J für alle vier 
Elemente denselben Wert hat. 

4. Das F. Neumann’sche Integralgesetz ist für geschlossene Ströme 
ausnahmslos gültig, wenn die Ströme ohne Gleitstellen und gleich- 
förmig sind. 

Aus den drei ersten Hypothesen und der vorausgeschickten For- 
mulierung des Energiegesetzes folgt nun die allgemeinste Form der 
Wirkung zweier Stromelemente aufeinander: 

Befinden sich zwei Stromelemente Jds und J’d’s’ in irgend 
welchem Zustande der Bewegung und die in ihnen enthaltenen Ströme 
in irgend einem Zustande der Veränderung, so wird die während der 
Zeit dt von J’ds’ in der Richtung von Jds hervorgebrachte elektro- 
motorische Kraft elektrodynamischen Ursprungs 


rg. (AR — Pdr) + 6(cos #d cos#’ — cos #’d cos #) 
Edt=J'ds z 





+dJds’8; 


durch die Zeichen d2, dJ’, d cos $, d cos # werden diejenigen Ände- 
rungen angedeutet, die während dt stattfinden; P hat die schon ge- 
nannte, & die folgende Bedeutung: 


2 = 0! cos $ cos #’ + @ cos 5; 


o’, 0’, 6 sind Funktionen von r allein, über deren Beschaffenheit auf 
Grund der ersten drei Hypothesen nichts ausgesagt werden kann. 

Nimmt man aber die Hypothese 4. hinzu, so ergibt sich eine 
Relation zwischen ®/, ©! und %, nämlich 


4 (dap\? dal! 
(56) eben 


Ferner zeigt sich, daß — Jds J’ds’Q das elektrodynamische „Postu- 
lat“ der Stromelemente darstellt. 

Zur näheren Bestimmung von »’ und o/! werden zwei weitere 
Hypothesen eingeführt: Die erste derselben erweitert das in der Hy- 
pothese 3. für lineare Leiter Ausgesprochene auf körperliche Leiter; 
die zweite lautet: 

Bezeichnet dS ein unendlich kleines, genau kugelförmiges Volum- 
element eines Körpers B, in welchem beliebige elektrische Vorgänge 
stattfinden und steht der Mittelpunkt von dS in starrer Verbindung 
mit einem Körper A, während B selber um diesen Mittelpunkt in 
irgend welcher Drehung begriffen ist, so soll angenommen werden, 
daß die von dS in irgend einem Punkte von A hervorgebrachte elektro- 
motorische Kraft elektrodynamischen Ursprungs immer Null ist, so- 


9. Clausius. . A5 


bald die in dS vorhandene elektrische Strömung, beurteilt mit Bezug 
auf A, ihrer Riehtung und Stärke nach konstant bleibt. 
Hieraus ergeben sich zur Bestimmung der unbekannten Funk- 
tionen folgende Gleichungen: | 
Hr md” ot, 
also wegen (56) 
(57) all), ao 


c? \dr 

Von da aus gelangt Neumann zu dem folgenden Elementargesetz 
für die elektromotorische Kraft elektrodynamischen Ursprungs: 

Sind zwei Körper A und B in beliebiger Bewegung begriffen, 
während gleichzeitig im Innern eines jeden irgend welche elektrischen 
Vorgänge stattfinden und bezeichnet ® einen Punkt des Körpers A, 
dS ein Volumelement des Körpers B, so setzt sich die von dS in ® 
während der Zeit dt hervorgebrachte elektromotorische Kraft aus 
zwei Komponenten zusammen: die eine fällt in die Richtung der Ent- 
fernung r und besitzt die Stärke 


ds 


wo J, die Komponente der in dS vorhandenen Strömung J, genommen 
nach r, bedeutet und zwar nach derjenigen Richtung von r, in welcher 
die elektromotorische Kraft positiv gerechnet wird; die andere ist 
parallel mit der Strömung J und besitzt, in der Richtung von J ge- 
rechnet, die Stärke 


od(rJ,) 
r ’ 





oJdr, 
Pa 


— dS 
dabeı ist unter ® die Funktion 





zu verstehen, sodaß also ® für beträchtliche Entfernung (% = YVr) 
identisch ist mit — 1/e?r. 

Für geschlossene Ströme liefert dieses ©. Neumann’sche Elementar- 
gesetz, auch wenn dieselben Gleitstellen enthalten, dieselben Ergebnisse 
wie die F. Neumann’schen Integralgesetze. 

Der zweite Teil der „elektrischen Kräfte“ beschäftigt sich haupt- 
sächlich mit den .Helmholtz’schen Arbeiten zur Elektrodynamik, über 
die erst im nächsten Artikel berichtet werden wird, sodaß wir von 
der Analyse dieses zweiten Teiles hier absehen können. 

9. Clausius. Bei seinen elektrodynamischen Untersuchungen?) 
wurde R. Olausius von dem Wunsche geleitet, die dualistische Auf- 


53) J. f. Math. 82 (1877), p. 85, sowie Mechanische Wärmetheorie, 2. Ausg., 
Braunschweig 1879, 2, Abschn. IX und X, p. 227—305. 


56 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


fassung der Elektrizitätsbewegung durch die ihm einfacher er- 
scheinende unitarische Auffassung zu ersetzen. Er neigte zu der 
Annahme, daß im elektrischen Strom nur die positive Elektrizität 
ströme, die negative in Ruhe sei; jedenfalls aber wünschte er die 
Möglichkeit offen zu lassen, beiden Elektrizitäten verschiedene Ge- 
schwindigkeiten zuzuschreiben. 

Beim Weber’'schen Gesetz sowie beim Riemann’schen ist man nach 
Olausius gezwungen°®), an der dualistischen Auffassung festzuhalten. 
Diese Gesetze würden nämlich bei der entgegengesetzten Auffassung 
ergeben, daß die strömende Elektrizität auf ein statisch geladenes Teil- 
chen eine Kraft ausübt, was nach Clausius der Erfahrung widerspricht. 

Bei der Aufstellung seines neuen Grundgesetzes geht Olausius 
systematisch zu Werke, indem er die Kraftkomponenten als allgemeine 
Ausdrücke ansetzt, welche von den relativen Koordinaten des einen 
Teilchens zum andern und von den nach der Zeit genommenen Diffe- 
rentialquotienten erster und zweiter Ordnung der Koordinaten beider 
Teilchen abhängen. Die hierin eingehenden willkürlichen Funktionen 
der Koordinaten bestimmt Olausius schrittweise teils durch Symmetrie- 
betrachtungen, teils durch Heranziehung von Erfahrungstatsachen, 
bei beständiger Zugrundelegung der unitarischen Auffassung. Indem 
er weiter das Energiegesetz zu Hülfe nimmt und verlangt, daß die 
bei der Bewegung zweier Teilchen während der Zeit dt geleistete 
Arbeit sich durch das negative Differential einer nur von den augen- 
blicklichen Lagen- und Geschwindigkeitskoordinaten der Teilchen 
abhängigen Funktion darstellen lasse, erhält er für diese Funktion 
einen Ausdruck, der nur noch eine unbekannte Funktion R von 
r enthält, nämlich ler ee 
(88) ee ke Act: = 7 7 ds 7) 2: =) 

V1/k bedeutet hierin eine Geschwindigkeit. Die Form der Funktion R 
bleibt dabei unbekannt und ist durch die von Clausius benutzten Er- 
fahrungstatsachen nicht zu bestimmen. Es steht daher frei, sie will- 
kürlich zu wählen. Insbesondere schlägt Olausius vor, R=0 zu 
nehmen. Dann ergibt sich aus (58): 

‚fi k d’(r?) ds ds’ 
Ta 

Dieser Ausdruck zerlegt sich in zwei Teile: einen statischen, der der 
Coulomb’schen Kraftwirkung entspricht, und einen dynamischen, der 
als Olausius’sches Potential bekannt ist. Der letztere lautet 





54) Vgl. dagegen ©. Neumann, Leipz. Abh. 1876, p. 623, 639. 


9. Clausius. 57 


kee’ d?(r?) ds ds’ 
2r dsds dt dt 


oder nach einfacher Ausreehnung 


__ kee (dada | dydy | dede 
(59) ve tat a 
oder auch 

kee’ , ‚ 
(60) V= vw cos (vv), 


wenn v und v die (absoluten) Geschwindigkeiten der Teilchen e und 
€’ bedeuten. 

Man zeigt leicht, daß dieses Potential in der durch Gleichung (52) 
geforderten Weise mit dem Neumann’schen Potential zusammenhängt. 
Betrachtet man nämlich zwei Leiterelemente ds und ds’ und nennt 
die in der Längeneinheit der Leiter enthaltenen positiven Elektrizitäts- 
mengen e und €’, die Geschwindigkeit ihrer Bewegung v;, v;, während 
man entsprechend der unitarischen Auffassung für die in der Längen- 
einheit enthaltenen negativen Elektrizitätsmengen — e, — €‘ andere 
Geschwindigkeiten v_, v_ annimmt, die im besonderen etwa gleich 
Null gesetzt werden können, so berechnet sich nach Olausius die 
Summe der Potentialwirkungen für die vier verschiedenen Kombina- 
tionen zwischen den in ds und ds’ enthaltenen positiven und nega- 
tiven Elektrizitätsmengen zu: 


k F ’ ’ ' [4 ’ 
DV/= —— ds ds’ cos (ds, ds’) (vu}v4 + v_vl + v;vV_ + v_vi) 


kee' B : £ 
== -— ds ds (v4 + v_) (v4 Fr v). 


Nach der unitarischen Auffassung bedeuten aber die Produkte e(v; + v_) 
bezw. e (v; + v_) direkt die den Querschnitt in der Zeiteinheit passieren- 
den elektrostatisch gemessenen Elektrizitätsmengen oder die elektro- 
statischen Stromstärken. Man kann daher anstatt der vorigen Formel 
schreiben: | 





kJ (stat) J’ (stat ’ r 
SI7= a Et) 1sas cos (ds, ds’). 


Dies ist im wesentlichen das einzelne Integralelement des Neumann- 
schen Potentials. Dehnt man die Summation auf alle möglichen 
Paare von Stromelementen innerhalb zweier geschlossener Ströme aus, 
so wird die so entstehende Gesamtsumme der Olausius’schen Potential- 
wirkungen, wie es Gl. (52) verlangt, gleich dem negativen Werte des 
Neumann’schen Potentials selbst. 

Gleichzeitig ersieht man aus dem Vergleich der vorstehenden 
Formel mit der Gl. (32), daß Y% gleich dem Verhältnis der elektro- 
magnetisch gemessenen zur elektrostatisch gemessenen Stromstärke 


58 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


zu wählen ist, d. h. daß Y%k die reziproke Lichtgeschwindigkeit 
bedeutet. 

Die Übereinstimmung mit dem Neumann’schen Potential für ge- 
schlossene Ströme zeigt, daß die beobachtbaren Induktions- und pondero- 
motorischen Wirkungen nach Clausius richtig wiedergegeben werden. 
Es entsteht ferner die Frage, welches Elementargesetz der pondero- 
motorischen Wirkungen dem Olausius’schen Potential entspricht. Bei 
der Entscheidung derselben schließt sich Clausius dem Vorbilde Rie- 
"mann’s an (vgl. Nr. 7). Man erhält nach Gl. (48), indem man unter 
V das Clausius’sche und unter U wieder das Potential der Coulomb- 
schen Wirkung versteht: 





OR Be. 
a pe 
Tee EN (di +9Y +20) — her 4 Ko cos (v, ©) 
und 
‚01 ‚ ‚ gg 
(61) = — wllı—ko cos (w, v')) — ke in 


Um von hier aus zu der Wirkung zweier Stromelemente ds, ds’ 
überzugehen, verstehe man unter e, e’ die in der Längeneinheit der 
beiden Leiter in jedem Augenblick enthaltenen positiven Elektrizitäten 
und denke sich mit Clausius in dem einen Elemente die Elektrizitäts- 
menge eds mit der Geschwindigkeit v, in dem anderen Element die 
Menge e’ds’ mit der Geschwindigkeit v’ bewegt. Was die negativen 
Elektrizitätsmengen — eds, — e’ds’ betrifft, so ist es zwar nicht not- 
wendig aber zulässig und der Einfachheit wegen zu empfehlen, diese 
als ruhend anzusehen. Die Gesamtwirkung ist dann gleich der alge- 
braischen Summe derjenigen vier Terme, die man aus den vier ver- 
schiedenen Kombinationen + eds, + e’ds’ erhält. Der Ausdruck (61) 
entspricht dabei nach Vertauschung von ee’ mit edse’ds’ der Kom- 
bination (+, +), während den übrigen Kombinationen die folgenden 
Ausdrücke entsprechen: 


(+, —) +edseds 


(—, + + edseds — 
ur 
ex 


ne, 





a 





FE PLA 
+ kedseds 46): 
(—, .—) —edseds 


In der Summe aller vier Kombinationen hebt sich die Coulomb’sche 
Wirkung heraus; setzt man in (61) 


9. Clausius. 59 
Bea ee 
dir ds\r) a! d\r) a 
„galt d (&\ , 
7 ds" Mr ds’ () ER 


und entsprechend in der Kombination (—, +), da die negative Elek- 
trizität als ruhend angesehen wird, 





so bleibt als Gesamtwirkung übrig: 


> 5, = hkedsveds'v Bere cos (v, v) — kedsve'ds’#’ en 


Hier kann man ähnlich wie oben die elektrostatisch gemessenen Strom- 
stärken einführen, welche unter der Annahme ruhender negativer 
Elektrizität einfach gleich ev, e'v’ sind und von diesen durch Multi- 
plikation mit Yk = 1/e zu den elektromagnetischen Stromstärken J, 
J’ übergehen, wobei 


(62) Br —= JJ'dsds’ (7 eos (ds, ay a. E). 





Wie Olausius betont, erhält man eben diesen Ausdruck für die 
Wirkung zweier Stromelemente auch dann, wenn man nicht von der 
Form (60), sondern von der allgemeineren, mit der willkürlichen 
Funktion R behafteten Form (58) des Potentials ausgeht, da sich bei 
der Summation die verschiedenen die Funktion R enthaltenden Terme 
aufheben. 

Man kann schließlich, indem man die Differentiationen ausführt 
und die Komponenten der Linienelemente einführt, (62) umrechnen in 


SE ke rg + dydy' + ded?) 


© dad — ars dyda’ — 








ad dd‘) 
en. SL Ne dere BLE 


y3 








Um dies übersichtlicher zu gestalten, führe man einen Vektor $ von 
den Komponenten 
‚@—-)dy —y—y)de 
9,= 7° ) yr Y) 





etc. 
ein; man erhält dann 
Pr:7 au J(dy 9. — de 9,) 


und entsprechende Ausdrücke für die Gesamtwirkung in der y- und 
2-Richtung. Mithin schreibt sich vektoriell: 


60 V 12. R.Reiff und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 
(63) 23-715), 8- ea. 


Dies ist nach Gl. (35) genau der Ausdruck des Graßmann’schen Ele- 
mentargesetzes. 


Dasselbe, was früher vom Graßmann’schen Gesetz gesagt wurde, 
gilt auch von dem dasselbe verallgemeinernden Clausius’schen Po- 
tential: Dieses wird nur bei der Annahme eines die Wirkung vermitteln- 
den Zwischenmediums widerspruchsfrei verständlich. Im Olausius’schen 
Potential kommen nämlich die absoluten, gegen den festen Raum oder, 
wie man sagen könnte, gegen den ruhenden Äther gemessenen Ge- 
schwindigkeiten v und v’ vor, welche gegenstandslos sein müßten, sofern 
es sich um die direkte Wirkung des einen Teilchens auf das andere 
handelte, eine Wirkung, die lediglich durch die relative Lage und Ge- 
schwindigkeit der beiden Teilchen bestimmt sein könnte. Insofern ge- 
hören das Clausius’sche Potential und das Graßmann’sche Gesetz 
nicht nur der vorausgeschiekten mathematischen Ableitung, sondern 
auch ihrer inneren Bedeutung nach zusammen. 


Es wird hiernach verständlich, daß die Elektronentheorie, welche 
die Vorstellung eines ruhenden, die elektrischen Wirkungen übertragen- 
den Äthers zu Grunde legt, im wesentlichen auf das Clausius’sche Po- 
tentialgesetz zurückführt, sofern man nämlich dieses nicht für punkt- 
förmige sondern für räumlich ausgedehnte Ladungen ausspricht (vgl. 
Anm. 50) und überdies die im Olausius’schen Gesetz vorkommende Ent- 
fernung r der beiden Ladungen nicht aus ihren gleichzeitigen Lagen 
bestimmt, sondern wie in der Riemann’schen Theorie (vgl. Gl. (43)) 
ersetzt durch die Entfernung r (£, t”), welche die von der einen Ladung 
zur Zeit #° ausgehende und mit Lichtgeschwindigkeit sich fortpflanzende 
Potentialwirkung zurückzulegen hat, um die andere Ladung zu der 
Zeit tzu treffen. In diesem Sinne abgeändert stimmt das Olausius’sche 
Potential im wesentlichen mit dem sog. Vektorpotential der Elektronen- 
theorie überein, während andererseits das p. 46 genannte Riemann’sche 
Potential, wie erwähnt, mit dem skalaren Potential der Elektronen- 
theorie zusammenfällt. Die drei Komponenten des Vektorpotentials 
der Elektronentheorie nach den Richtungen x, y, z erhält man, wenn 
man im Clausius’schen Potential die Geschwindigkeit vo’ der Reihe 
nach gleich der nach der x, y, 2-Achse gerichteten Einheitsgeschwin- 
digkeit setzt und e = 1 nimmt. 

Es möge schließlich noch das Olausius’sche Potentialgesetz hin- 
sichtlich seiner Folgerungen mit dem Potential des Weber’schen Grund- 
gesetzes und dem Riemann’schen Potential verglichen werden. 


9. Clausius. 61 


Wir hatten (s. @l. (60), (44) und (38)) mit Rücksicht auf die 
Bedeutung der konstanten « und k: 

Va= Se; vv cos(w,vV), Vr=— ne; w“ MH=— se; (7): 
An die Stelle des skalaren Produktes der absoluten Geschwindigkeiten 
bei Clausius tritt also bei Riemann das halbe negative Quadrat der 
relativen Geschwindigkeit, bei Weber das halbe negative Quadrat der 
Entfernungsgeschwindigkeit, welche letztere gleich der in die Richtung 
der Entfernung fallenden Komponente der Relativgeschwindigkeit ist. 
Ein Unterschied der drei Gesetze kann natürlich nur bei ungeschlossenen 
Strömen oder bei konvektiv bewegten elektrischen Mengen auftreten, 
da ja für geschlossene Ströme alle drei Gesetze mit dem Neumann- 
schen Potentialgesetz zusammenfallen. 

Der Unterschied zeigt sich am klarsten, wenn man zwei elektrische 
Massen e, €’ auf einem Kreise an den Endpunkten eines Durchmessers 
mit gleichförmiger Geschwindigkeit herumführt. In diesem Falle ist 

dr _ 
dt 
= —ıH, y--y, W= 4. 


Mithin wird das Olausius’sche Potential: 


0, vr, soßw\)=—l1, 


y 
Va = — - FE 
das Weber’sche Potential: 
Ir =0, 
das Riemann’sche Potential: 
2ee v* 
ee 


Es verhält sich also 
VYw:Va :Ir=0:1:2. 

Die Möglichkeit einer experimentellen Entscheidung zwischen den 
genannten drei Gesetzen hat u. a. E. Budde°”) genau erörtert. Er kommt 
zu dem Resultat, daß in der Tat entscheidende Versuche möglich 
seien. Die besten sind folgende: 

a) Ladung und Entladung eines metallischen Hohlkörpers, in dem 
ein Magnet an einem Kokonfaden so suspendiert ist, daß seine mag- 
netische Achse vertikal hängt. Der Magnet erleidet nach Clausius keine 
Wirkung, nach Weber einen sehr schwachen, nach Riemann einen 
dreimal größeren rotatorischen Stoß. 

b) Rotatorische Schwingungen eines möglichst großen isolierten 
Magneten um seine magnetische Achse und Ableitung desselben von 


55) Ann. Phys. Chem. 30 (1887), p. 100. 


62 V 12. R. Reif und A. Sommerfeld. Standpunkt der Fernwirkung. 


dem Punkt, wo die Rotationsachse seine Oberfläche schneidet, in dem 
Augenblick, wo er seine Maximalgeschwindigkeit hat; wenn er zur 
Ruhe kommt, findet man ihn nach Riemann geladen, nach den beiden 
andern Gesetzen ungeladen. 

Weniger gut, aber mit außerordentlichen Mitteln vielleicht noch 
durchführbar sind folgende Versuche: 

c) Rotation einer stark elektrischen Scheibe wie bei dem Row- 
land’schen Versuche, während ein ruhender Drahtring so befestigt ist, 
dass seine Medianebene durch die Rotationsachse geht. Nach Weber 
entsteht in dem Ring ein stationärer Strom, nach den beiden andern 
Gesetzen nicht. 

d) Rotation eines kreisförmigen Multiplikators entweder in einem 
magnetischen Feld oder mit einem Kommutator, der den im Ring 
fließenden galvanischen Strom nach jeder halben Drehung umkehrt. 
Die Achse der Drehung ist horizontal zu legen und es ist in derjenigen 
Horizontalebene, welche durch die Achse geht, ein fein suspendierter 
polarelektrischer Körper anzubringen. Nach Weber wird derselbe ab- 
gelenkt, nach Riemann und Clausius nicht. 

Wie es scheint, sind derartige Versuche nie zur Ausführung ge- 
kommen. Der Grund hierfür mag zum Teil in ihrer experimentellen 
Schwierigkeit, zum Teil darin liegen, daß zu der Zeit, als sie vor- 
geschlagen wurden, auf Grund der Maxwell’schen Theorie den Physikern 
dringendere Aufgaben gestellt wurden. 

Vom Standpunkte der heutigen Elektronentheorie würde man 
unter den elektrodynamischen Gesetzen dem Graßmanmn’schen, unter 
den Grundgesetzen dem Clausius’schen den Vorzug geben, nachdem 
man beide Gesetze noch durch die von Gauß postulierte und von 
Maxwell realisierte konstruierbare Vorstellung von der zeitlichen Aus- 
breitung der elektrischen Wirkungen ergänzt hat. 


(Abgeschlossen im Dezember 1902.) 


V13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 63 


V13. MAXWELLS ELEKTROMAGNETISCHE 
THEORIE. 


Von 
H. A. LORENTZ 


IN LEIDEN, 





Inhaltsübersicht. 


I. Vorbereitende Begriffe und Rechnungsmethoden. 
1. Einleitung. 
2. Ponderabele Materie und Äther. 
3. Mathematische Behandlungsweise und Bezeichnungen. 
4. Hilfssätze aus der Vektorentheorie. 


II. Die mathematische Formulierung der Maxwell’schen Theorie. 
5. Die in den Feldgleichungen auftretenden Vektoren. 
6. Die Hauptgleichungen. 
7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten. 


8. Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen an derselben Stelle. 
9. Elektromotorische Kräfte. 


III. Anwendung der Grundgleichungen. 
10. Vergleichung der Theorie mit den Beobachtungen. 
11. Elektrische Ladung. 
12. Elektrostatik. 
13. Elektrische Polarisation. 
14. Konstante Ströme in Leitern. 
15. Magnetismus. Magnetisierung. 
16. Das magnetische Feld konstanter Ströme. 
17. Zerlegung des elektrischen Stroms. 
18. Der magnetische Strom und die unipolare Induktion. Dualität zwischen den 
elektrischen und den magnetischen Erscheinungen. 
19. Permanente Magnete. 
20. Versuche von Blondlot. 
21. Fortpflanzung des Lichtes. Aberration. 


IV. Allgemeine Folgerungen und Theoreme. 
22. Energie. Poynting’scher Satz. 
23. Ponderomotorische Kräfte. 
24. Beispiele für die Bestimmung der ponderomotorischen Kräfte. 
25. Bemerkung zur Definition der elektrischen und der magnetischen Kraft. 
26. Bewegungen des Äthers. 
27. Reziprozitäts- und Minimalsätze, 


64 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


28. Vektorpotential der magnetischen Erregung. 

29. Änderung der magnetischen Energie bei unendlich kleiner Änderung des 
elektrischen Stromes. 

30. Elektrische und magnetische Erregungslinien., 

31. Bewegung der Erregungslinien in einfachen Fällen. 

32. Verschiedene Auffassungen der Hauptgleichungen. 


V. Zusammenhang der Theorie mit den Prinzipien der Mechanik. 
Mechanische Analogien und Bilder. 


33. Anwendung der Prinzipien der Mechanik. 

34. Dynamische Theorie von Maxwell. 

35. Allgemeine Betrachtungen. 

36. Ableitung der zweiten Hauptgleichung. 

37. Berechnung der ponderomotorischen Kräfte. 

38. Helmholtz’ Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung. 

39. Bemerkungen zu der Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung. 

40. Die Elektrizität als inkompressibele Flüssigkeit. Maxwell’s Vorstellungen 
über den Mechanismus. 

41. Verschiedener Charakter der elektrischen und der magnetischen Zustands- 
größen. 

42. Anschluß an die Theorie elastischer Medien. 

43. Thermodynamische Behandlung. 


VI. Vergleichung von Fern- und Feldwirkungstheorien. 


44. Fernwirkungstheorie von Helmholtz. 
45. Verhältnis zwischen den Feldwirkungs- und den Fernwirkungstheorien. 


Literatur. 
(Zugleich für den folgenden Artikel V 14.) 


M. Faraday, Experimental researches in electrieity, 3 vol., London 1839—1855. 
Deutsche Übersetzung in Ostwald’s Klassikern d. exakten Wiss., Nr. 81, Leipzig 
1896. 

W. Thomson, Reprint of papers on electrostatics and magnetism, London 1872. 

J. Clerk Maxwell, On Faraday’s lines of force (1855, 1856), Transactions of the 
Cambridge Phil. Soc. 10 (1864), p. 27 (Scientifie papers, Cambridge, 1 (1890), 
p. 155). Deutsche Übersetzung in Ostwald’s Klassikern, Nr. 69, Leipzig 1895. 

— On physical lines of force, Phil. Mag. (4) 21 (1861), p. 161, 281, 338; 23 (1862), 
p: 12, 85 (Scientific papers 1, p. 451). 

— A dymamical theory of the electromagnetic field, Transactions of the London 
Royal Soc. 155 (1865), p. 459 (Scientific papers 1, p. 526). 

— A treatise on electricity and magnetism, 2 vol., Oxford, 1. ed. 1873, 2. ed. 
1881, 3. ed. 1892. 

H. Poincare, Electrieit6 et optique, Paris, 1. 6d. 1890, 1891; 2. ed. 1901. 

L. Boltzmann, Vorlesungen über Maxwell’s Theorie der Elektrizität und des 
Lichtes, 2 Teile, Leipzig 1891, 1893. 

H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leipzig 1892, 

O. Heawiside, Electrical papers, 2 vol., London 1892. 

— Electromagnetic theory, 2 vol., London 1893, 1899, 


Literatur. Bezeichnungen, 65 


H. A. Lorentz, La theorie &lectromagnetique de Maxwell et son application aux 
corps mouvants, Leiden 1892 (auch erschienen in Archives neerlandaises 25, 
p- 363). 

— Versuch einer Theorie der elektrischen und optischen Erscheinungen in be- 
wegten Körpern, Leiden 1895. 

J.J. Thomson, Notes on recent researches in electrieity and magnetism, intended 
as a sequel to Prof. Clerk Maxwell’s treatise on electricity and magnetism, 
Oxford 1893. 

A. Föppl, Einführung in die Maxwell’sche Theorie der Elektrizität, Leipzig 1894. 

P. Drude, Physik des Äthers auf elektromagnetischer Grundlage, Stuttgart 1894. 

R. Reiff, Theorie molekular-elektrischer Vorgänge, Freiburg i. Br. und Leipzig 
1896. 

A. Gray, A treatise on magnetism and electricity, 2 vol., London, vol. 1 1898. 

E. Wiechert, Grundlagen der Elektrodynamik (in „Festschrift zur Feier der Ent- 
hüllung des Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen“), Leipzig 1899. 

J. Larmor, Aether and matter, a development of the dynamical relations of the 
aether to material systems on the basis of the atomic constitution of matter, 
including a discussion of the influence of the earth’s motion on optical 
phenomena, Cambridge 1900. 

@G. T. Walker, Aberration and some other problems connected with the electro- 
magnetic field, Cambridge 1900. 

E. Cohn, Das elektromagnetische Feld. Vorlesungen über die Maxwell’sche 
Theorie, Leipzig 1900. 

P. Duhem, Les theories &lectriques de J. Clerk Maxwell, &tude historique et 
ceritique, Paris 1902, 


Bezeichnungen. 


Radiusvektor r; unendlich kleine Verrückung q; unendlich kleine Drehung u; 
Geschwindigkeit der Materie tw; Lichtgeschwindigkeit im Äther e. 

Elektrische Feldstärke oder elektrische Kraft &; elektromotorische Kraft & 
(in Leitern €e!, in Nichtleitern &®); totale elektrische Kraft € (E*!, €); elek- 
trischer Gesamtstrom &; Leitungsstrom $; Verschiebungsstrom ®’ oder ®; Kon- 
vektionsstrom 8; Röntgenstrom R; Flächenstrom €; elektrische Erregung ®; 
elektrische Polarisation ®. 

Magnetische Feldstärke oder magnetische Kraft 9; magnetische Erregung 
3; Magnetisierung M. 

Elektrische Ladung e; elektrische Raumdichte oe; elektrische Flächen- 
dichte o. 


Magnetische Menge m; magnetische Raumdichte 9 magnetische Flächen- 
dichte @,,. 

Dielektrizitätskonstante &; Leitfähigkeit o; magnetische Permeabilität u. 

Skalares Potential der elektrischen Kraft 9; Vektorpotential der magne- 
tischen Erregung X. 

Elektrische Energie pro Volumeneinheit W,; magnetische Energie pro 
Volumeneinheit W,,; Joule’sche Wärme pro Volumen- und Zeiteinheit @; Energie- 
fluß ©; potentielle Energie U; kinetische Energie 7. 

Äußere ponderomotorische Kraft und äußeres ponderomotorisches Kräfte- 
paar pro Volumeneinheit %°, Ne; Spannungskomponenten X, X, u. 8. w. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 5 


66 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Zusammenstellung der in dem Artikel durch 
römische Ziffern hervorgehobenen wichtigsten 


Gleichungen. 
Hauptgleichungen: 


of5.0— + [6.a0, oder [5.0 = 2 ( [ao +7 / 2.40), 
(MD) jes--:4 S®.as 


Dieselben Gleichungen in Differentialform: 
‚ 1 1 E 
(T) rt9=—l, oder 9 = RD), 
‚ ER 
(I) rtE—-— —B. 


Zusammenhang zwischen elektrischer Erregung und Feldstärke im isotropen 
und anisotropen Medium bei eventuellem Vorhandensein einer elektromotorischen 
(eingeprägten Verschiebungs-) Kraft: 


DD) D®=:£, I) D= (sd, 
MM) D—-()(E+ EN), E+E— (FD. 


Zusammenhang zwischen Leitungsstrom und elektrischer Feldstärke in iso- 
tropen und anisotropen Körpern bei eventueller Anwesenheit einer elektromoto- 
rischen (eingeprägten Leitungs-) Kraft: 


A)S3=ot, N)I-NE, 
(IV) S=() (E+EN, E+ = ()}. 
Zusammenhang zwischen magnetischer Erregung und Feldstärke im iso- 
tropen und anisotropen Medium: 


(V) B= ud, (V) B= (8. 


Beziehungen zwischen der elektrischen Erregung und der von einer Fläche 
umschlossenen elektrischen Ladung, bezw. der elektrischen Raum- und Flächen- 
dichte: 


(VD) e—/B,de, (N) divrd—e, (N) Din— Dura. 
Grundgleichungen der Elektrostatik: 
(VII) fi C,ds = 0 (für jede geschlossene Linie), 
(VI) € = — grad p. 
Definition der elektrischen Polarisation: 
(VOII) ?P=-9d—-E, D=-E+P. 


Beziehungen zwischen der magnetischen Erregung und dem von einer 
Fläche umschlossenen Magnetismus, bezw. der magnetischen Raum- und Flächen- 


dichte: 
(IX) m—/®,de, 
(IX) div Ds) — Om; (IX”) Burn BR 5 € Bur = Om: 


1. Einleitung. 67 


Definition der Magnetisierung: 


OH M-B-H, B-H+M. 
KD) S-c[E-$]. 


Energiegleichung, für die Volumen- und die Zeiteinheit: 
(XI) (E*-Y+(E*-H)- (HI-H+lÖBD-D)+H-B)+dvE. 
Elektrische Energie pro Volumeinheit: 
AI) W,=}$($)D:-D)— 4(C”-D), 
XI) W,=$(u1®2 + usw. + 2830,D, + u. 8. w.) 
Magnetische Energie pro Volumeinheit: 
RI) WIE BD) = LH: B), 
XIV) WW, =t(wn®d + usw. + 202.8, + u. s. w.). 
Joule’sche Wärme pro Volumen- und Zeiteinheit: 
(XV) Q=-(NI-N—-ou+ u 8 w.-+ [ee + 64]323, + u: 8. w. 


Spannungen im elektromagnetischen Felde: 
(XV) X, EEE +{ D— ED, Be ED, } + 3 { 9,8. — HB, EBEN 9, B,} 
oW, oWn 
+ ( Fr Ba), „Uu.8. W., 
RD 3%, +) =-4HEDd, +%D)+ 398, + 9,8) 
oW, oW 
ter 
Zusammenhang zwischen der magnetischen Erregung und ihrem Vektor- 
potential: 


(XVII) [U,ds— [®,de, XV) B= rot. 


Darstellung der elektrischen Kraft mittels des skalaren Potentials p und 
des Vektorpotentials X (für ruhende Körper): 


XIX) E&= — U — grad p. 


Energiefluß: 








I. Vorbereitende Begriffe und Rechnungsmethoden. 


1. Einleitung. Die Ansicht, daß bei den elektromagnetischen 
Erscheinungen das zwischen den aufeinander wirkenden Körpern be- 
findliche Medium mitspiele, wurde in konsequenter Weise zuerst von 
Faraday vertreten. Clerk Maxwell stellte sich die Aufgabe, die 


Faraday’schen Anschauungen in die übliche mathematische Sprache 
5* 


68 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


einzukleiden; nach vielen Richtungen hin vervollkommnete er die 
Theorie und er krönte dieselbe durch die Schöpfung der elektro- 
magnetischen Theorie des Lichtes. Seinen Nachfolgern gelang es, 
einerseits durch experimentelle Arbeiten das Zutrauen zu den neuen 
Ideen zu verstärken und die Fruchtbarkeit derselben durch vielseitige 
Anwendungen darzutun, andererseits die Grundgedanken, klarer als 
Maxwell es getan hatte, hervortreten zu lassen. 

Charakteristisch für die Feldwirkungstheorien ist die Annahme, 
daß sich die Wirkungen mit endlicher Geschwindigkeit fortpflanzen. 
Dem entspricht die Darstellung der Erscheinungen mittels Differential- 
gleichungen, welche die örtlichen und zeitlichen Änderungen der Zu- 
standsgrößen miteinander verknüpfen. Gleichungen, welche nur Dif- 
ferentialquotienten nach den Koordinaten, nicht aber solche nach der 
Zeit enthalten, können, da sie einen Zusammenhang zwischen gleich- 
zeitig an verschiedenen Stellen bestehenden Zuständen ausdrücken, 
auch in einer Fernwirkungstheorie auftreten‘). 

Dem Zwecke der Eneyklopädie wird es am besten entsprechen 
und eine Übersicht über das ausgedehnte Gebiet wird sich am leich- 
testen ergeben?), wenn ein System von Feldgleichungen als Ausgangs- 
punkt gewählt wird. Wir geben denselben im wesentlichen die von 
Heaviside?) und Hertz*) herrührende Form. Von einer Ableitung der 


1) Vgl., was das Verhältnis zwischen den beiderlei Theorien anbetrifft, 
weiter unten, Nr. 45. 

2) Leider ist es mir unmöglich gewesen, die umfangreiche Literatur so 
durchzuarbeiten und zu berücksichtigen, wie ich es gewünscht hätte. Ich fürchte, 
daß mir manche wichtige Arbeit unbekannt geblieben ist und daß ich viele 
andere nicht in gebührender Weise gewürdigt habe. Ich bitte den Leser sehr, 
diese Mängel zu entschuldigen. 

Dem Redakteur des physikalischen Teiles der Encyklopädie, Herrn Prof. 
Sommerfeld, bin ich für das an meiner Arbeit genommene Interesse zu vielem 
Dank verpflichtet. 

3) O. Heaviside, Electromagnetic induction and its propagation, The Electri- 
cian 1886, p. 219, 306 (Electrical papers 1, p. 429); On the forces, stresses and 
fluxes of energy in the electromagnetic field, Lond. Trans. 183, A (1892), p. 423. 
(Electrieal papers 2, p. 521). 

4) H. Hertz, Über die Grundgleichungen der Elektrodynamik für ruhende 
Körper, Ann. Phys. Chem. 40 (1890), p. 577 (Untersuchungen u. s. w., p. 208); Über 
die Grundgleichungen der Elektrodynamik für bewegte Körper, Ann. Phys. Chem. 
41 (1890), p. 369 (Untersuchungen u. s. w., p. 256). Auch E. Cohn, Zur Systematik 
der Elektrizitätslehre, Ann. Phys. Chem. 40 (1890), p. 625, hat für ruhende isotrope 
Körper Gleichungen von derselben Gestalt aufgestellt, in solcher Modifikation 
jedoch, daß nur „innere“ Konstanten der Körper auftreten, d. h. Konstanten, 
deren Werte in absoluten Einheiten völlig durch die Natur des Körpers be- 
stimmt sind. 


2. Ponderabele Materie und Äther. 69 


Gleichungen wird dabei zunächst kaum die Rede sein; es soll höch- 
stens kurz angedeutet werden, in welcher Weise beobachtete Tat- 
sachen und aus denselben gezogene Verallgemeinerungen zu den 
Formeln geführt haben. Später wird dann über ihre Deduktion aus 
irgend welchen Annahmen betreffend den Mechanismus der Erschei- 
nungen zu berichten sein. Es empfiehlt sich dieser Weg auch aus 
dem Grunde, weil die Feldgleichungen, wenigstens in der für ein- 
fachere Fälle geltenden Gestalt, besser gesichert erscheinen als die 
Vorstellungen, mittels welcher man sie mit mehr oder weniger Glück 
zu begründen versucht hat. 


2. Ponderabele Materie und Äther. Obgleich als Feld oft nur 
ein Teil des Raumes, z. B. bei elektrostatischen Erscheinungen der 
von Nichtleitern eingenommene Teil bezeichnet wird, so ist doch im 
allgemeinen der unendliche Raum darunter zu verstehen. Jeder Raum- 
teil enthält entweder den Sinnen direkt zugängliche Materie, pondera- 
bele Materie, oder Äther; es soll also angenommen werden, daß im 
Innern eines ponderabelen Körpers kein Hohlraum hergestellt werden 
kann, der nicht Äther enthielte. „Äther“ ist hierbei das genannt, 
was man sich, bei Abwesenheit ponderabeler Materie, als Träger der 
in den elektromagnetischen Feldgleichungen vorkommenden Zustands- 
größen vorstellt. 

Wir‘ betrachten sofort die Gleichungen für bewegte Körper; in 
denselben sind die für ruhende Systeme geltenden als Spezialfall ent- 
halten. Mit „Bewegung“ ist hier zunächst die sichtbare Bewegung 
ponderabeler Körper gemeint. Außefdem werden wir in diesem Artikel 
mit Hertz die Möglichkeit zulassen, daß ähnliche Bewegungen, „Strö- 
mungen“ kann man sagen, auch im Äther, außerhalb der pondera- 
belen Körper bestehen können. Übrigens ist jedes Durcheinander- 
schieben zweier Teile der betrachteten Materie von seiner Theorie aus- 
geschlossen; es besteht also in jedem Punkte nur eine einzige Be- 
wegungsgeschwindigkeit w, die in den Punkten ponderabler Körper 
mit der sichtbaren Bewegung dieser Punkte zusammenfällt. Aus diesem 
Grunde, und weil jetzt, im Gegensatz zu der später zu behandelnden 
Elektronentheorie (V 14), auf jede molekulartheoretische Behandlung 
verzichtet werden soll, braucht auf die Frage, ob sich in den pon- 
derabelen Körpern Äther befinde, nicht eingegangen zu werden; gleich- 
wohl soll bisweilen der Äther in einem von ponderabeler Materie 
entblößten Raum als „freier“ Äther bezeichnet werden. Auch wird 
es in diesem Artikel bequem sein, das Wort „Materie“ sowohl auf die 
ponderabele Materie, wie auch auf den Ather anzuwenden. 

Es ist noch zu bemerken, daß die Hertz’sche Theorie notwendiger- 


70 V 13. H.4A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


weise Dichtigkeitsänderungen des Äthers — z. B. in einer sich zu- 
sammenziehenden Höhlung — zulassen muß. Nichtsdestoweniger 
werden die in Betracht kommenden Eigenschaften des Äthers als 
unveränderlich vorausgesetzt. 

An geeigneter Stelle (Nr. 17, 20, 21) sollen übrigens einige bei 
bewegten Systemen sich zeigende Üisiheirängek erwähnt werden, welche 
die Hertz’sche Theorie nicht zu erklären vermag, und die zugunsten 
der im nächsten Artikel zu behandelnden Theorie sprechen. 


3. Mathematische Behandlungsweise und Bezeichnungen. Wir 
betrachten in der allgemeinen Behandlung alle den Zustand der Materie 
bestimmenden Größen, auch die Geschwindigkeit w, als kontinuierlich 
von Punkt zu Punkt veränderlich; Fälle, in denen an gewissen Flächen 
die Stetigkeit unterbrochen ist, können in bekannter Weise als Grenz- 
fälle aufgefaßt werden. 

Die Normale » zu einer Fläche 6 ziehen wir nach einer be- 

stimmten Seite, die wir die positive nennen, hin; bei einer ge- 
schlossenen Fläche soll das die Außenseite sein. Die Werte irgend 
einer Größe an den beiden Seiten einer Fläche unterscheiden wir 
durch die Indices I und II; dabei soll sich der Index II auf die 
positive Seite beziehen. Mit A bezeichnen wir eine beliebige Richtung 
in der Fläche. 
» Wir wollen sagen, daß einer Rotation in einer Ebene eine be- 
stimmte Richtung der Normale enispreche, und zwar soll das die 
Richtung nach derjenigen Seite gein, auf der sich ein Beobachter be- 
finden muß, damit für ihn die Rotation in einer der Uhrzeiger- 
bewegung entgegengesetzten Richtung verlaufe. Die Drehungsrichtung 
bestimmt in diesem Falle zusammen mit der Normalenrichtung eine 
Rechtsschraube. Vgl. auch den vorigen Art. Nr. 2. 

Bei einer Linie s wird eine bestimmte Richtung positiv genannt. 
Dabei beachten wir, wenn es sich um die Randlinie s einer Fläche 6 
handelt, folgende Regel: Ist P ein Punkt von 6 in der unmittel- 
baren Nähe von s, und durchläuft ein zweiter Punkt @ den nächst- 
liegenden Teil von s in der positiven Richtung, so soll der Rotation 
der Verbindungslinie PQ die Richtung der Normale zu 6 im Punkte P 
entsprechen. 

Kommen in einer Gleichung ein Flächenintegral und ein Linien- 
integral zusammen vor, so ist das so zu verstehen, daß das eine 
Integral sich auf eine begrenzte Fläche 6, und zwar, wenn das Gegen- 
teil nicht gesagt wird, auf eine beliebige Fläche, das andere Integral 
aber auf die Randlinie dieser Fläche bezieht. 


3. Mathematische Behandlungsweise und Bezeichnungen. 71 


Die zueinander senkrechten Koordinatenachsen OX, OY, 0Z 
wählen wir so, daß die Richtung von OZ einer Drehung um einen 
rechten Winkel von OX nach OY entspricht. Die Achsen nehmen 
(in diesem Artikel, mit einer einzigen Ausnahme, Nr. 21) an der Be- 
wegung der Materie nicht teil. 

Vektoren bezeichnen wir mit großen oder kleinen deutschen 
Buchstaben, die Projektion auf irgend eine Richtung unterscheiden 
wir durch einen passenden, sich auf diese Richtung beziehenden Index. 
2. B. bedeutet W, die Komponente des Vektors X nach der Richtung 
der positiven Normale einer Fläche; ähnlich W,, W,, WU, die Kompo- 
nenten nach den Koordinatenachsen. Für die Größe eines Vektors A 
soll das bei den komplexen Zahlen (zweidimensionalen Vektoren) 
übliche Zeichen des absoluten Betrages |X| benutzt werden; in manchen 
Fällen, namentlich wenn es sich um die Größe eines Quadrates handelt, 
kann dieses Zeichen entbehrt werden, z. B. in dem Ausdruck der 
lebendigen Kraft eines mit der Geschwindigkeit vd sich bewegenden 
Massenteilchens 4m v?. 


2 2 2 
Für Fa 4 en + Er schreiben wir A, und wir benutzen auch 


häufig die drei Zeichen 
div, rot, grad, 


von denen sich die beiden ersten auf einen Vektor, das letzte auf 
eine skalare Größe bezieht. Das Zeichen div A (sprich Divergenz 
von X) bedeutet die skalare Größe 

ou, 0u,, cu 

wrutn 
sie wird unabhängig vom Koordinatensystem definiert als Grenzwert, 
dem die Größe rn f W,do, berechnet für eine den Raum $ um- 


schließende geschlossene Fläche 6, zustrebt, wenn man 6 auf einen 
Punkt zusammenzieht. Unter rot X (sprich Rotation von W) verstehen 
wir den Vektor mit den Komponenten 

OU U U om ou, om, 

a rede de ag 
Unabhängig vom Koordinatensystem läßt sich rot X durch den Grenz- 
wert definieren, dem die Größe - f AU,ds, berechnet für eine die Fläche 


6 begrenzende ebene geschlossene Kurve s, zustrebt, wenn man s 
auf einen Punkt zusammenzieht; dieser Grenzwert gibt die Kom 
ponente von rot X nach der auf der Ebene von s senkrechten Rich- 


713 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


tung, welche dem bei der Integration gewählten Durchlaufungssinne 
von s entspricht. Endlich verstehen wir unter grad @ (sprich Gradient 
von 9) den Vektor mit den Komponenten 

ae are 

22’: 94° 
Er kann unabhängig vom Koordinatensystem mit Hilfe der Flächen 
p = konst. definiert werden und stimmt der Richtung nach mit den 
Normalen jener Flächen, der Größe nach mit öp/ön überein. 

Nachweise über die erste Einführung dieser Bezeichnungen und 
über gleichbedeutende abweichende Benennungen findet man in Art. 
IV 14, Nr. 4 und 5. Die Definition von grad haben wir ent- 
sprechend dem Wortsinne von Gradient so gewählt, daß grad den 
Anstieg, nicht das Gefälle von 9 angibt. 

Bei verschwindender Divergenz sagt man von einem Vektor, daß 
er quellenfrei oder solenoidal, bei verschwindender Rotation, daß er 
wirbelfrei, lamellar oder irrotationell verteilt sei. 

Für das skalare Produkt zweier Vektoren wird die Bezeichnung 


AB), 
und für das Vektorprodukt das Zeichen 
[X] 


angewandt. Das skalare Produkt ist das Produkt aus der Größe 
von W in die senkrechte Projektion von B auf W, ist also gleich 


(A| |B] cos (U, 8). 


Das Vektorprodukt ist ein Vektor, dessen Größe durch den Inhalt 
des auf X und 3 beschriebenen Parallelogramms gegeben wird und 
dessen Richtung senkrecht steht auf der durch X und ®B gelegten 
Ebene, und zwar so, daß sie einer Rotation um weniger als 180° 
entspricht, durch welche die Richtung von X in die Richtung von 
B übergeführt wird. Die Komponenten von [X-3] sind 

ADB —-AB, WBTUB, AB TUB 

Auch bei den mit dem Zeichen „rot“ oder „grad“ angedeuteten 
Vektoren, sowie im Fall eines Vektorprodukts, dienen angehängte 
Indices zur Bezeichnung der Komponenten. 

Es sollen vielfach Vektorgleichungen benutzt werden, mitunter 
aber auch statt einer Vektorgleichung drei sich je auf eine der Koor- 
dinatenachsen beziehende Formeln. Gehen drei derartige Gleichungen 
oder Größen durch cyklische Vertauschung der Buchstaben und In- 
dices ineinander über, so kann man sich darauf beschränken, nur die 


4, Hilfssätze aus der Vektorentheorie. 73 


erste hinzuschreiben und die beiden anderen durch ein „u. s. w.“ oder 
durch ... anzudeuten. 

Wenn von einem begrenzten Raum $, einer Fläche 6, einer Linie s 
oder von Elementen dS, de, ds die Rede ist, so denken wir uns (in 
diesem Artikel) diese Gebilde als fest mit der Materie verbunden und 
der Bewegung derselben folgend; wir reden, um das anzugeben, von 
„substantiellen‘ Räumen, Flächen u. s. w. Die zeitliche Änderung 
einer auf ein substantielles Gebilde oder auf einen substantiellen Punkt 


sich beziehenden Größe bezeichnen wir mit 2. 


In den Differentialgleiehungen dagegen treten als unabhängige 
Variabele neben der Zeit t die Koordinaten x, y, 2 eines festen Punktes 
auf; es ist daher bei den Differentialquotienten 

9 au 

0’ 6 
einer skalaren Größe @ oder eines Vektors WA an einen festen Punkt 
(z,y,2) zu denken. Für diese Differentialquotienten schreiben wir auch 


9, U. 
Mit der Schreibweise 
(1) A—= (v)B 


soll angedeutet werden, daß W eine lineare Vektorfunktion von ® ist; 
diese Gleichung steht also statt der drei Gleichungen 
AW,=r dt Yod, + vB, , 
A, m. B, + vd, Fr vd, 
A, vr; B, + Ya B, + v5B,, 
in welchen die v Konstanten sind. Für die Umkehrung von (1) möge 
B—= (v)A 
geschrieben werden. 

Schließlich setzen wir noch fest, daß alle Größen, welche die 
Abweichung vom natürlichen Zustande der betrachteten Systeme be- 
stimmen, entweder nur in einem endlichen Raum von Null verschieden 
sind, oder jedenfalls bei wachsender Entfernung so rasch abnehmen, 
daß die etwa bei partiellen Raumintegrationen auftretenden Integrale 
über die „unendlich entfernte Grenzfläche des Raumes“ verschwinden. 


4. Hilfssätze aus der Vektorentheorie. Obwohl die folgenden 
Sätze zum Teil neu sein dürften°), wird es genügen, den Beweis nur 
kurz anzudeuten. 


5) Es finden sich Formeln, die mit einigen der hier anzuführenden gleich- 
bedeutend sind, bei verschiedenen Autoren. 


74 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


a) Von einem Punkte P aus ziehen wir drei beliebige Geraden 
PS,, PS,, PS,, deren Richtungen wir s,, $,, S; nennen, und einen 
beliebigen Vektor 4. Wird dieser mittels eines schiefwinkligen 
Parallelepipeds nach s,, 55, 5; zerlegt, so sollen die Komponenten 
Ar, Ar, X» heißen. Andererseits bezeichnen wir mit U,, W,, U, 
die senkrechten Projektionen des Vektors auf PS,, PS,, PS, Wenn 
nun ® ein beliebiger zweiter Vektor ist, dann besteht die Beziehung 


(AUB)=U Bd +A, Br + U, D*. 
Zum Beweise projiziere man den aus ®*, B*, 8% bestehenden Linien- 
zug senkrecht auf die Richtung von W. Man erhält so: 


A-Dd)=|A| |B| eos AB) 
— |A| [B* cos (A, s;) + B* cos (N, 3) + B* cos (N, s,)} 
—=W Br + A, 0 + A, B*. 


b) Es seien ds,, ds,, ds, unendlich kleine von P aus in den 
Richtungen s,, 5,, s, gezogene Strecken, dS der Inhalt des auf den- 
selben beschriebenen Parallelepipeds, de,, do,, do, die Größen der in P 
zusammenstoßenden Seitenflächen, sodaß do, die Strecken ds, und ds, 
zu Seiten hat, u.s. w.; ferner seien n,, %,, n, die Normalen zu 
do,, dö,, d6,, in solehen Richtungen gezogen, daß die Winkel (n,, s,), 
(N;, 59), (Nz, S;) spitz sind, und dn,, dn,, dn, diejenigen Stücke dieser 
Normalen, welche zwischen je zwei Gegenflächen des Parallelepipeds 
enthalten sind. Es ist sodann 


2) A-DaAaS—= N, ds: B,de, + NY, ds: DB, do; + A, ds; B,,doz. 
Dies ergibt sich aus der Gl. a) mit Rücksicht darauf, daß 
Bıdn, = DB, ds, U.8.W. 


c) Die Punkte einer Raumfigur in dem Felde eines Vektors A 
mögen die unendlich kleinen, sich kontinuierlich von Punkt zu Punkt 
ändernden Verrückungen q erleiden. Wir verstehen unter ds, de, dS 
Elemente, die an diesen Verrückungen teilnehmen. Der Vektor A 
erleide unendlich kleine Veränderungen, gänzlich unabhängig von den 
Verrückungen q. Mit einem vorgesetzten ö bezeichnen wir die wirk- 
liche Änderung einer Größe, die sich auf einen an der Verrückung 
teilnehmenden Punkt, auf ein ds, ein do oder ein dS bezieht, mit Ö, 
aber die Änderung einer Größe in einem festen Raumpunkte. 

Wir betrachten für ein ursprünglich am Punkte P liegendes 
Flächenelement do die Änderung von YX,dse. Es läßt sich in P ein 
von der Stellung und der Größe von do unabhängiger Vektor IA 
angeben, derart daß 
(3) d{A,doe} = 0dU,do. 





4. Hilfssätze aus der Vektorentheorie. 75 


Ebenso führt die Betrachtung der Änderung von A,ds für ein ur- 
sprünglich an P liegendes Linienelement auf einen Vektor dA, von 
solcher Größe und Richtung, daß für jedes ds 


(4) s[A,ds}) = HN,ds. 

Dabei ist 

(5) FA—=IA+AvA-gq+roe[A-q], 
(6) 5A — IA + grad (Ag) — [q- rot]. 


Zum Beweise sehe man zunächst von der selbständigen Ände- 
rung 6,A von A ab und betrachte im ersten Falle das eylindrische 
Volumelement dS, welches zu Grundflächen das ursprüngliche und 
das verschobene de besitzt und dessen Mantel aus den Verrückungs- 
vektoren q gebildet wird. Man berechne nun, über die Oberfläche 
dieses Volumelementes erstreckt: 


Sa.a = 48 - div 1. 


Die rechte Seite ist gleich ds.q, div \, wenn de die am Punkte P 
gelegene Grundfläche des Volumelementes ist, und wenn wir zunächst 
annehmen, daß die bereits gewählte positive Richtung der Normale » 
zu dieser Grundfläche einen spitzen Winkel mit q bildet. Auf der 
linken Seite berechne man das Integral für die beiden Grundflächen 
und den Mantel des Cylinders einzeln. In der Summe für beide 
Grundflächen erhält man ö{W, de}. Das über den Mantel erstreckte 
Integral besteht aus Elementen der Form: 


(A-[ds-a]) = (as-[q- A) — ds [a A), 
wo ds ein Element der Randlinie von do bedeutet, welches in dem 
der Normalen » entsprechenden Sinne positiv gerechnet wird. Deshalb 
wird jenes Oberflächenintegral über den Mantel gleich dem Linien- 
integral über diese Randlinie 


Sasta-%, = 46: rot, [g-W. 
Es ergibt sich daher: 
SA, do}-+do.rot,[g- A] = do-q,div. 

Fügt man hier rechter Hand den der Änderung 0,4 entsprechenden 
Teil von d{X,do}, d. h. ds-(d,W), hinzu, und dividiert man die 
Gleichung mit de, so erhält man Gl. (5). Daß man zu demselben 
Resultat gelangt, wenn %» mit q einen stumpfen: Winkel bildet, sieht 
man leicht ein. 

Um die zweite Formel zu beweisen, betrachte man das Viereck de, 
welches das ursprüngliche, das verschobene ds und die beiden Ver- 


76 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


schiebungsvektoren in den Endpunkten von ds zu Seiten hat. Über 
den Umfang dieses Vierecks erstrecke man das Integral: 


Saas = ds:rot, A, 


wo n die Richtung senkrecht zur Fläche des Vierecks nach der dem 
Integrationssinne entsprechenden Seite bedeutet. Diesen Integrations- 
sinn wähle man so, daß das ursprüngliche Linienelement ds in der 
Richtung von seinem Endpunkte nach seinem Anfangspunkte durch- 
laufen wird. Die rechte Seite ist nun gleich 


ds q,rot,A= — ds. [q - rotW],, 

wo v das in der Ebene des Vierecks auf ds errichtete Lot bedeutet, 
welches mit q einen spitzen Winkel einschließt. Die linke Seite be- 
rechne man für die beiden Paare gegenüberliegender Seiten des Vier- 
ecks einzeln. Für das ursprüngliche und das verschobene ds erhält 
man in der Summe d{A,ds); die beiden anderen Seiten liefern die 
Beiträge qY, = (X-g), das eine Mal mit dem positiven, das andere 
Mal mit dem negativen Vorzeichen; die Summe dieser Beiträge ist 


ds: ZU) = — ds-grad, (U: 0). 
Es ergibt sich daher 
s[A,ds} — ds: grad, (A -q) = — ds[g-rotA],. 

Fügt man hier rechter Hand den der Änderung d,A entsprechenden 
Teil von ${W,ds}, d.h. ds- (6,W), hinzu, und dividiert man mit ds, 
so findet man Gl. (6). 

d) Aus (2) folgt 
IKA-BDASY)— A, ds, IB, do, + u.s.w. +HQ, ds,-B, de, + u.s.w, 
also, wenn man auf der rechten Seite wieder (2) anwendet, 
7) A: B)AS) — ((U- 88) + (OU B))AS. 

Man überzeugt sich leicht davon, daß diese Gleichung auch dann 


gilt, wenn dS ein beliebig gestaltetes Volumelement bedeutet. 
e) Besteht zwischen zwei Vektoren die Relation 


(8) rt A—=B, 
so folgt aus (5) und (6) 
(9) rtöA—=IB+ro[B-a]= IB. 


In der Tat gilt für jeden Vektor X und jeden Skalar g: 
divr A\—=0, rotgradp =. 
f) Wenn vor den besprochenen Verrückungen und Anderungen 





4. Hilfssätze aus der Vektorentheorie. 717 


im Punkte -P der Vektor X und nach denselben im verschobenen 
Punkte P’ der Vektor W besteht, und wenn weiter W’ der Vektor 
ist, in den A übergegangen wäre, wenn er sich, ohne die Größe zu 
ändern, mit einem um P liegenden Raumelemente verschoben und zu 
gleicher Zeit die Drehung 4rotq dieses Elementes mitgemacht hätte, 
dann können wir W’— 4” die relative Variation 6,W von W in Bezug 
auf das sich drehende Raumelement nennen. 
g) Setzt man zur Abkürzung 


usw; — +7, = Ya 48. W 


(unendlich kleine Dehnungen und Schiebungen), so ist 

10) UI + Gt) — 37,4, — 37,4, usw, 
11) 9U,—=0,N, +, +4 U, +40 uw 

Zum Beweise benutze man die N 


m, 
A, —L, = IN, ut vay er 


und 


U U=-—; 2 yot,g: er, rot, g- A, 


BE = io. se 
--: 14, 4 


Indem man diese voneinander subtrahiert, erhält man 


a, ee. a 
IU-U-WEIM, HN tag tur 


0, 6% 0, 09, 
ET HSPRRT BET 
und man gelangt zu (10) und (11), wenn man auch die Gleichungen 
(5) und (6) speziell für die x-Richtung hinschreibt. 

h) Ähnliches wie von den Variationen in einer sich verrückenden 
Raumfigur gilt von den zeitlichen Änderungen in einer sich mit der 
Geschwindigkeit w bewegenden Figur. Wir bezeichnen mit dA, dX, 
d,A die in dem Zeitelement dt stattfindenden Variationen IX, OU, 
6,A und definieren drei neue Vektoren X, X, Un, mittels der Glei-. 
chungen 





du r AU . d,u 3 
ln 
Weiter setzen wir 
dw 3 ow ow i . 
> „a; U.S. W.; ytm une u 8. W. 


Dann ist in genauer Analogie mit dem Vorhergehenden 


78 V 13. H..A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


(12) 2 19,do) — do, 

(13) Was) = Was, 

(14) A—U+ dvrAX-w-+ rot[X- mw], 

(15) — M-+ grad (A - w) — [w rot A], 
(16) U D)AS) = (AU-B) + A-B)AS, 
und, wenn (8) gilt, 

(17) rtA—=B+ro[d wm] B; 
ferner 


(18) A, rn Une + (Y, m: 2,) A, FE 43%, 4, ER 30, U.8.W,, 


(19) X, ea %, Fr A, = 32,4, ar 34, u. 8. w. 
Falls der Vektor X zur Zeit {, verschwindet, ist (12) gleich- 
bedeutend mit 


t 
(20) A,d0 |,— [Ü,de- dt. 
to 


Bei Anwendung der obigen Sätze soll in den meisten Fällen 
für die Raumfigur, von der die Rede war, das System der substan- 
tiellen Punkte (Nr. 3) der Materie genommen werden. 


II. Die mathematische Formulierung der Maxwell’schen Theorie. 


5. Die in den Feldgleichungen auftretenden Vektoren. Diese 
sind: die elektrische Feldstärke oder elektrische Kraft &, die magnetische 
Feldstärke oder magnetische Kraft 9, der elektrische Gesamtstrom 6, 
der Leitungsstrom 3, der Verschiebungsstrom 3’, die elektrische Er- 
regung D, die magnetische Erregung B. 

Zur vorläufigen Orientierung möge folgendes dienen: 

a) Als Maß für die elektrische Feldstärke in einem Punkte des 
freien Äthers wählen wir die durch e dividierte Kraft, welche auf 
einen daselbst befindlichen, unendlich kleinen, mit der unendlich 
kleinen elektrischen Ladung e versehenen und der Bewegung des Äthers 
folgenden Körper wirkt. Die Einheit für e (und für elektrische 
Ladungen überhaupt) setzen wir in der Weise fest, daß die Abstoßung 
zwischen zwei um r von einander entfernten, in ruhendem Äther ein- 


’ 


ee 
4er? 





gelagerten Körpern mit den Ladungen e und e’ durch gegeben 
wird). 


6) Siehe über die Wahl der Einheiten Nr. 7. 





5. Die in den Feldgleichungen auftretenden Vektoren. 79 


b) Als Maß für die magnetische Feldstärke $ in einem Punkte 
des Äthers wählen wir die durch m dividierte Kraft, welche auf einen 
daselbst befindlichen, an der Bewegung des Äthers teilnehmenden 
Magnetpol von der unendlich kleinen Stärke m ausgeübt wird, und 
zwar soll diese Stärke in einer solchen Einheit ausgedrückt werden, 
daß zwei in dem ruhenden Äther liegende Magnetpole m und m’ sich 


in der Entfernung r mit der Kraft . abstoßen’). 


Wenn von € und $ im Innern eines ponderabelen Körpers die 
Rede ist, so ist dabei wiederum an die auf die Einheit der Ladung 
oder auf einen Magnetpol von der Stärke Eins wirkende Kraft zu 
denken; eine genaue Festsetzung kann jedoch erst später gegeben 
werden (Nr. 10). 

Übrigens ist mit € und 9 die Vorstellung gewisser Zustände der 
Materie zu verbinden, die eben eine auf einen elektrisierten Körper 
oder einen Magnetpol wirkende Kraft zur Folge haben. Diese Auf- 
fassung kommt in den Benennungen „elektrische“ und „magnetische 
Feldstärke“ zum Ausdruck. 

Bei den Bezeichnungen „elektrische“ und „magnetische Kraft“ ist 
zu beachten, daß & und S nicht die Dimensionen einer Kraft, sondern 
einer „Kraft pro Ladungseinheit“ haben. 

c) Der Begriff des in leitenden Körpern unter geeigneten Be- 
dingungen bestehenden elektrischen Stromes $ ist von der Elementar- 
physik her bekannt, und es braucht hier auch kaum an die bildliche 
Redeweise erinnert zu werden, nach welcher in einem Körper, der 
Sitz eines Stromes ist, eine Fläche 6 von einer Elektrizitätsmenge durch- 
strömt wird, die für die Zeiteinheit durch das Integral 
(21) Srds 
gegeben wird. Ihre Rechtfertigung findet diese Ausdrucksweise, die 
man nach Hertz’scher Auffassung auf substantielle Flächen (Nr. 3) an- 
wendet, darin, daß, wenn die Fläche zwei Systeme voneinander trennt, 
die Ladung des einen Systems um den Betrag (21) zu- und die des 
anderen Systems um gleichviel abnimmt. 

Die Wahl der Einheit für den Strom ist in dem bereits Gesagten 
enthalten. 

d) Der Begriff des Leitungsstromes 3 umfaßt nicht nur die Ströme 
in Metallen und Elektrolyten, sondern auch die Elektrizitätsbewegung 
bei allen Entladungserscheinungen. Es gibt indessen noch einen 
Vorgang ganz anderer Art, den die Mazwell’sche Theorie gleichfalls 


7) Siehe Nr, 7. 


80 V 13. H.4A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


als „elektrischen Strom“ ansieht, und den sie zur Unterscheidung 
Verschiebungsstrom ®’°) nennt. Dieser Vorgang spielt sich in nicht- 
leitenden Körpern (Dielektrika) ab, und indem er die Aufmerksamkeit 
auf denselben hinlenkte, wurde es Maxwell möglich, die Hypothese 
daß der elektrische Strom immer solenoidal verteilt sei, zu einer 
Grundlage seiner Theorie zu machen. Wird z. B. einem Konduktor 
durch einen Leitungsdraht eine elektrische Ladung zugeführt, so scheint 
auf den ersten Blick die Strombahn in dem Konduktor zu endigen; 
die ältere Elektrodynamik sprach denn auch in diesem Falle von einem 
„ungeschlossenen“ Strome. Maxwell dagegen stellt sich vor, daß, so- 
lange der Ladungsstrom im Leitungsdraht anhält, auch in dem den 
Konduktor umgebenden Dielektrikum eine Strömung stattfindet, welche 
die Elektrizitätsbewegung im Drahte zu einer solenoidal verteilten 
Strömung ergänzt. Da nun nach den heutigen Anschauungen die Ur- 
sache aller von dem geladenen Konduktor ausgehenden Wirkungen 
in dem umgebenden Felde liegt, so muß im Dielektrikum eine gewisse 
Zustandsänderung stattgefunden haben, deren Betrag um so größer 
ist, je größer die Ladung des Konduktors. Man kann auch sagen, 
diese Zustandsänderung sei um so erheblicher, je stärker der Ver- 
schiebungsstrom war und je länger derselbe dauerte; man findet also 
ein naheliegendes Maß für dieselbe in dem Zeitintegral des Ver- 


schiebungsstromes. 
Wir verstehen — auch in vielen später in Betracht kommenden 
Fällen — unter i, eine Zeit, zu welcher die Materie noch keinen 


elektromagnetischen Einflüssen ausgesetzt war, und führen zur Kenn- 
zeichnung des zu einer späteren Zeit t in einem Punkte P bestehen- 
den Zustandes einen Vektor ® ein, den wir so wählen, daß D,do für 
jedes substantielle Flächenelement in P die Elektrizitätsmenge ist, 
welche das Element seit der Zeit Z, durchsetzt hat. Dieser Vektor, 
der oft dielektrische Verschiebung genannt wird, soll hier elektrische 
Erregung heißen. Nach der Definition ist [vgl. (20)] 


t 
(22) D,40|,—=/B,de dt, 


(23) | =D. 

Während nach dem Gesagten ein Strom in einem Nichtleiter eine 
Abweichung vom ursprünglichen Zustande hervorruft, die um desto 
größer wird, je länger der Strom in derselben Richtung anhält, kann, 
ohne daß etwas derartiges geschähe, ein Leitungsstrom in einem Me- 


8) Der Strich bei ®’ soll zur Unterscheidung von einem später (Nr. 17) ein- 
zuführenden Vektor ® dienen. 





6. Die Hauptgleichungen. 81 


talle während unbeschränkter Zeit bestehen. Um der Allgemeinheit 
willen sollen auch Körper betrachtet werden, welche die Eigenschaften 
der Leiter und der Nichtleiter in sich vereinen („Körper gemischter 
Natur“). Es soll das heißen, daß hier nur einem Teile des Stromes 
eine anwachsende Zustandsänderung der Materie entspricht. Dieser 
Teil, den wir den Verschiebungsstrom nennen, und mit ®’ bezeichnen, 
hängt in der oben angegebenen Weise mit der elektrischen Erregung 
D zusammen. Den übrigen Teil $ nennen wir den Leitungsstrom. 
Der Gesamtstrom ist 


(24) =-I+%); 


nur von diesem behaupten wir, daß er immer solenoidal verteilt sei. 

Da in einem Körper gemischter Natur zweierlei Ströme $ und 
9’ bestehen können, so sagen wir auch, es könne ein solcher Körper 
in verschiedenen Weisen, die wir als die erste und die zweite unter- 
scheiden, von Elektrizität durchflossen werden. 

Den getroffenen Festsetzungen zufolge sind für den ruhenden 
freien Äther die elektrische Kraft und die elektrische Erregung gleich- 
gerichtet und von gleichem numerischen Wert. Wir betrachten diese 
Gleichheit 
(25) DdD—=€E 


als auch für bewegten Ather gültig. Für die ponderabele Materie 
ist die Beziehung zwischen ® und € weniger einfach. 

e) Die gewöhnlich magnetische Induktion, hier aber magnetische 
Erregung genannte Größe ® fällt bei geeigneter Wahl der Einheit 
(vgl. Nr. 7) im Äther mit der magnetischen Kraft zusammen, sodaß 
für dieses Medium wird 


(26) | B—=8. 


Im Innern permanent oder temporär magnetisierter Körper, und also 


genau genommen im Innern jedes ponderablen Körpers, ist B von 9 
verschieden. 


6. Die Hauptgleichungen. Diese lassen sich auf folgende Form 
bringen: 


oder [8.4 er f 06, 
1 a r 1 d 
Sp: f& +80 (Bas + 4, f®.de), 


rd 
(I) a! Gas — — 1 2, (8,d0. 


Encyklop, d. math, Wissensch. V 2. 6 


82 V 13. H.A.Lorente. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Diesen Beziehungen äquivalent sind die Differentialgleichungen 


rt = r ß, 
(1) oder 
= IHN) -II+D), 
(I) te -— 8. 


Die Konstante c hat denselben numerischen Wert wie die Licht- 
geschwindigkeit im freien Äther?). 

Erläuterungen. a) Die Gleichung (I) enthält die Verallgemeinerung 
des Satzes, nach welchem für eine geschlossene Linie s, die einen vom 
Strome ö durchflossenen Draht einmal in einem der Richtung von i 
entsprechenden Sinne umkreist, das Integral [ $,ds der Stromstärke i 
proportional ist. Diese Verallgemeinerung setzt voraus, daß & immer 
solenoidal verteilt ist. 

b) Ein Urteil über das Linienintegral der elektrischen Kraft längs 
eines geschlossenen linearen Leitungsdrahtes gewinnt man durch die 


9) Es möge hier noch kurz eine von V.Volterra (Il nuovo Cimento (3) 29 
(1891), p. 53) herrührende Umformung der Hauptgleichungen erwähnt werden. 
Man charakterisiere jeden substantiellen Punkt eines sich in gegebener Weise 
bewegenden Systems durch drei Größen &', y’ 2’, die im Laufe der Zeit unverändert 
bleiben (etwa die Koordinaten des Punktes für t = 0), sodaß die rechtwinkligen 
Koordinaten zur Zeit t sich als kontinuierliche Funktionen von x’, y’, 2’, t dar- 
stellen lassen. Es seien PX’, PY’, PZ’, in irgend einem Punkte P, die den 
unendlich kleinen Zuwächsen dx’, dy’, dz’ bei festgehaltenem t entsprechenden 
Strecken; die Längen derselben seien &dx’, ndy’, $dz’. Für einen beliebigen 


Vektor X setze man weiter (Nr. 4) AU, = &4,, u. s. w., um) — n A” u.s.w., dem- 
zufolge das Element eines Linienintegrales die Form 

Andre’ +. Andy + AUn,dz 
annimmt. Indem man nun die Hauptgleichung (I) auf ein Parallelogramm, dessen 


beide Seitenpaare den Zuwächsen dy’ und dz’ entsprechen, anwendet, ergibt 
sich einerseits bei geeigneter Wahl der Umlaufsrichtung 


06.,::0, 
re 2) a, 
Se : | öy' ET Drag 


andererseits, wenn D die Funktionaldeterminante der x, y,z nach den x’, y’, z’ ist, 
f Z,do = DYy")ay’dz’, f D,de = DO "ay’dz'. 


On Oi ER ae 

Die Gleichung (I) läßt dieselbe Umformung zu, und es haben schließlich die 
Hauptgleichungen für bewegte Körper bis auf das Hinzutreten des Faktors D 
dieselbe Gestalt in den x’, y’, 2° wie für ein ruhendes System in den x, y, 2. 





Folglich: 





7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten. 53 


Beobachtung des in demselben bestehenden Stromes; dementsprechend 
bringt die Gleiehung (II) das allgemeine Gesetz für die induzierten, 
d.h. durch Veränderung des magnetischen Feldes hervorgerufenen 
Ströme zum Ausdruck. Liegt die Fläche 6 vollständig im Äther, so 
geht Gleichung (Il) über in 


(27) 7 Gs——ı% f 9,de. 


Da nun das rechts stehende Integral auch bei der Betrachtung der pon- 
deromotorischen (eventuell elektrodynamischen) Kräfte, die im Magnet- 
felde auf einen Stromleiter wirken, auftritt, so kann man die Formel 
als Ausdruck des Zusammenhanges zwischen den ponderomotorischen 
Wirkungen und den Induktionserscheinungen ansehen. Es ist das der 
Zusammenhang, den unter Zugrundelegung des Energiegesetzes Helm- 
holtz!®) und Lord Kelwin‘!) zuerst nachgewiesen haben. 

Die Beobachtungen über die durch magnetisierte Körper erregten 
Induktionsströme haben weiter gezeigt, daß sich in jedem Punkte ein 
bestimmter, von dem magnetischen Zustande abhängiger Vektor ® 
angeben läßt, der Art, daß das Induktionsgesetz noch immer die so- 
eben angeführte Gestalt (27) hat, nur daß ®B an die Stelle von 9 
tritt. Die Hauptgleichung (II) ist die Verallgemeinerung für ganz 
oder teilweise in ponderabeler Materie liegende Linien und für be- 
wegte Körper. 

Es möge noch hervorgehoben werden, daß nach den Grund- 
gleichungen dem Strome € und dem Vektor ® die Eigenschaft der 
solenoidalen Verteilung zukommt, und daß sich hieraus für jede Dis- _ 
kontinuitätsfläche die Stetigkeitsbedingungen 

&,r a Gr, Pr Fu Er 
ergeben. 

Überdies folgt aus (I) und (I), endliche Werte von & und 8 
vorausgesetzt, für jede Richtung Ah in der Unstetigkeitsfläche, 


Har = Hut, &,r = &ır. 


7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten. (Vgl. auch 
den vorigen Art. p. 6 und 35). Die verschiedenen für die elektrischen 
und magnetischen Größen in Anwendung gekommenen Maßsysteme 


10) H. v. Helmholtz, Die Erhaltung der Kraft, Berlin 1847. 

11) Sir W. Thomson (Lord Kelvin), On the theory of electromagnetic in- 
duetion, Brit. Assoc. Rep. 1848, Comm. to the Sections, p. 9; Applications of the 
principle of mechanical effect to the measurement of electromotive forces, and 
of galvanie resistances, in absolute units, Phil. Mag. (4) 2 (1851), p. 551 (Math. 
Phys. Papers, Cambridge 1882, 1, p. 91 und p. 490). 

6* 


84 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


unterscheiden sieh voneinander durch die Dimensionen der konstanten 
Koeffizienten k und h, welche in den Ausdrücken 


(28) 3-15 


y2? 


(29) gm 


y? 





für die mechanische Kraft zwischen zwei im freien Äther liegenden 
elektrischen Mengen ee’ bezw. magnetischen Mengen mm’ auftreten, 
sowie durch die Dimensionen gewisser konstanter Faktoren in den 
Hauptgleichungen (I) und (II). Nachdem man durch die Wahl dieser 
Dimensionen die Art des Maßsystems bestimmt hat, sind noch die 
numerischen Werte für die Einheiten und also auch für jene Koeffi- 
zienten festzusetzen. Hierbei schließt man sich gegenwärtig allgemein 
den CGS-Einheiten für Länge, Masse und Zeit an. 

In allen Systemen werden die Feldstärken € und $ durch die 
auf eine Ladung 1 bezw. auf einen Pol 1 wirkende Kraft gemessen, 
während die elektrische Erregung ® durch eine pro Flächeneinheit 
hindurchgeströmte Elektrizitätsmenge, der Strom & (3 und 9’) aber 
durch die pro Flächeneinheit und pro Zeiteinheit hindurchgeströmte 
Elektrizitätsmenge gemessen wird. Mit der Einheit für e sind dem- 
nach zu gleicher Zeit die Einheiten für €, D und & festgelegt, und 
die Einheit für m bedingt sofort die für $. Die Einheit für B ist 
jedesmal besonders festzusetzen. 

a) Man gelangt zu einem elektrostatischen Systeme für die elektri- 
schen Größen, wenn man verlangt, daß % in (28) eine reine Zahl sein 
soll; speziell ist es üblich, die Einheit für e so zu wählen, daß %k den 
Wert 1 erhält. Es können dann weiter die Einheiten für die magne- 
tischen Größen noch in verschiedener Weise definiert werden. In 
dem elektrostatischen System, von dem bei Maxwell'?) die Rede ist, 
geschieht das in solcher Weise, daß die Hauptgleichungen die Formen 


[5.0 — da [6.de, fess ar — a [ 9do 
annehmen. 


Bezeichnet man mit Z eine Länge, mit M eine Masse und mit 7 
eine Zeit, so sind in diesem Systeme die Dimensionen von e: 
[23 m 7-1, 
und es wird im freien Ather nicht 8= 9, sondem dB — #8. Der 
Koeffizient A in (29) erhält den Wert c?. 
b) In dem elektromagnetischen System ist der Koeffizient h in 
(29) eine reine Zahl; die Dimensionen von & (e und &), sowie die 


12) Maxwell, Treatise 2, Art. 625—628. 


7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten. 85 


von ®B werden dadurch festgelegt, daß man Übereinstimmung der 
Dimensionen für die beiden Integrale [$,ds und [C,do in (I), und 


ebenso für die beiden Größen / &,ds und . f B,de in (II) verlangt. 


Setzt man, wie das allgemein üblich ist, —= 1, und nimmt man für 
die Hauptgleichungen die Gestalt 


fS. — 4m [@,de, fe et [900 


an, so wird für den freien Äther 8B—=$. Der Koeffizient k aber 
erhält den Wert e?, und die Dimension von e wird [L? M?]. 
Aus dem Gesagten geht hervor, daß das Verhältnis 
Elektromagnetische Elektrizitätseinheit 
Elektrostatische Elektrizitätseinheit 

die Dimension einer Geschwindigkeit hat. Infolge der erwähnten 
näheren Festsetzungen fällt dasselbe mit der Lichtgeschwindigkeit ec 
im Ather zusammen. 

c) Gauß, Helmholtz und Hertz haben Einheiten von solchen Di- 
mensionen eingeführt, daß die beiden Koeffizienten k und h in (28) 
und (29) reine Zahlen werden. Wählt man in einem derartigen ge- 
mischt elektrostatisch-elektromagnetischen Systeme die Einheiten so, daß 

—=1,h=1 ist, so wird die erste Hauptgleichung 


f 9,ds — °" [E,d0. 


Für die zweite aber muß man schreiben 





wenn man für den freien Äther die Gleichheit 8 — $ festhalten will. 

d) Wir haben uns in diesem Artikel dem Beispiele von Gauß, 
Helmholtz und Hertz angeschlossen, und zwar aus dem Grunde, weil 
in dieser Weise der Parallelismus zwischen den elektrischen und den 
magnetischen Erscheinungen auch in der Form der Gleichungen am 
besten zu Tage tritt. Indes veranlaßt uns ein Vorschlag von Heavi- 
side zu einer Änderung der numerischen Werte der Einheiten. Die- 
selbe bezweckt, von allen, oder jedenfalls von den meisten Faktoren 
4, die bei gewöhnlicher Wahl der Einheiten die elektromagnetischen 
Gleichungen verunzieren, frei zu werden. Wir wählen nämlich, wie 
bereits gesagt, die Einheiten für e und m so, daß die Koeffizienten 
k und h in (28) und (29) den Wert 1/4x annehmen. Es tritt dann 
in der ersten Hauptgleichung notwendig der Faktor 1/c auf; derselbe 
erscheint ebenso in der zweiten Hauptgleichung, wenn man verlangt, 


daß im freien Äther B— $ sein soll. 


86 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Das so entstehende gemischte System nennen wir füglich das 
„modifizierte“, im Gegensatz zu dem „ursprünglichen gemischten“ 
System. Natürlich hätten wir auch das rein elektromagnetische oder 
das rein elektrostatische System in ähnlicher Weise modifizieren können. 

Es möge zu der Modifikation noch bemerkt werden, daß es 
durchaus der historischen Entwicklung entspricht, daß man ursprünglich 
vom Standpunkt der Fernwirkung das Coulomb’sche Gesetz als funda- 
mental ansah und daher den mathematischen Ausdruck dieses Gesetzes 
möglichst einfach zu gestalten wünschte, indem man %k oder h, oder 
beide gleich 1 setzte, daß wir dagegen jetzt die Verkettungsgleichungen 
zwischen den elektrischen und den magnetischen Größen, sowie die 
später anzuführenden Gleichungen für die Energie als Ausdrücke 
fundamentaler Gesetze ansehen, und daß wir diese daher von den 4x 
zu befreien wünschen. Wir nehmen es dabei gern in den Kauf, daß 
der Ausdruck des Coulomb’schen Gesetzes mit dem Faktor 1/4x be- 
schwert wird. Freilich rächen sich die 4” dadurch, daß sie in 
mancher Gleichung der Elektronentheorie, eben weil diese sich den 
älteren Anschauungen nähert, wieder auftauchen. 

Übrigens ist eine Begründung der Elektrizitätslehre möglich, bei 
welcher man gar nicht in die Versuchung kommt, diesen Faktor in 
die Formeln einzuführen. Man würde da z. B. von dem Platten- 
kondensator im freien Äther ausgehen und demjenigen Felde, welches 
pro Volumeneinheit den Energieinhalt Y, besäße, die Werte C=1 
und D—= 1 zusprechen. 

e) Es ist namentlich von E. Cohn“) warm befürwortet. worden, 
die willkürliche Dimensionierung elektrischer Größen überhaupt zu 
vermeiden. In seinem System, in dem, wie bei Heaviside, die 4x in 
den wichtigsten Gleichungen vermieden werden, treten drei unbe- 
stimmte Größen &,, u, und V auf, zwischen welchen die Relation 





V? 
19 &, Ho m 
besteht. Es ist in (28) und (29) 
RE. RL, 
dns? A? 


und für den freien Ather wird 
D=.E, Bew. 
Die beiden Hauptgleichungen aber lauten wie folgt: 


[95-7 f 46, fo - 7a &d 


13) Cohn, Das elektromagnetische Feld u. s. w., vgl. namentlich p. 279 u. f, 


7. Bemerkungen zu den angenommenen Einheiten. 87 


Dieses System hat den Vorteil, daß man von demselben leicht durch 
Spezialisierung der Werte von V, &,, u, zu anderen Systemen über- 
gehen kann. Für die endgültige Festsetzung der Einheiten würde 
man eventuelle spätere Fortschritte in dem Verständnis der Erschei- 
nungen verwerten können. Wir haben uns indes nicht dazu ent- 
schließen können, in die ohnehin schon verwickelten Formeln un- 
bestimmte Größen aufzunehmen, und wollen uns daher an unser modi- 
fiziertes gemischtes System halten. Man erhält dasselbe aus dem 
Cohm’schen System, wenn man ,—1, w=1, V=e setzt, was der 
Bedingung (30) genügt. 

f) Setzt man bei Cohn V gleich 1, demzufolge &, und u, der 
Bedingung 

El, — 4 

zu genügen haben, so gelangt man zu den von Heaviside vor- 
geschlagenen „rationellen Einheiten“ und erreicht namentlich den 
Vorteil, daß die Hauptgleichungen die äußerst einfache Gestalt 


fs fe fü -- af 0 


bekommen. 

In diesem Heaviside’schen System ist das von mir gewählte 
nicht mehr enthalten. 

g) Man kann von den in diesem und dem folgenden Artikel 
vorkommenden Gleichungen, bei welchen die modifizierten gemischten 
Einheiten zugrunde gelegt sind, zu den Formeln in irgend einem 
anderen Maßsystem übergehen, indem man unsere Größen e, m, &, u. s. w. 
durch «e, Bm, y&, u.s. w. ersetzt, wo «, ß, y, u.8. w. gewisse kon- 
stante Faktoren sind. 

Zur Erleichterung der Umrechnung stellen wir einige dieser 
Faktoren zusammen. 



































,D,3,C) € m B 9 
Urspr. elektrostat. System (s. 1 e 1 
N RR NS V4r | Var |cVY4r|yYır| cYAr 
Urspr. elektromagn. System 1 1 1 
ee ee cY4x |eyAr| YAr Yız| Yan 
Urspr. gemischtes System (8. 1 1 1 
Bee. V4r |yıar | Y4r |Yır | Var 
System von Heaviside und Cohn 1 1 1 
(s. oben eund f) ....... V. !|Vo | Vo. |Vm Vo 


88 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Es ist dann weiter zu berücksichtigen, daß bei Cohn die Relation (30) 
gilt, während bei Heaviside &,u, = 1/e* ist. Die Zahlen in der Tabelle 
geben auch an, um wieviel Mal die Einheiten in den verschiedenen 
Systemen größer sind als die von uns gewählten. 

h) Was die praktischen Einheiten betrifft, so beschränken wir uns 
darauf, für einige derselben die Werte, in den von uns angenommenen 
Einheiten ausgedrückt, anzuführen. Wir denken dabei an die Ein- 
. heiten, wie sie ursprünglich im Anschluß an die elektromagnetischen 
CGS-Einheiten definiert worden sind, und von welchen sich die 
gesetzlichen Einheiten mehr oder weniger entfernen. 

Es ist der Wert für das Ooulomb (Elektrizitätsmenge) 10-1: Y4z:c; 
ebenso für das Ampere (Stromstärke); für das Volt (Linienintegral 
der elektrischen oder elektromotorischen Kraft, Potentialdifferenz) 
10%/e YA; für das Farad (Kapazität, d. h. Verhältnis von Ladung und 
Potentialdifferenz) 10°. Arc?. 


8. Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen an derselben 
Stelle. a) Aus den Beobachtungen über den Einfluß ponderabler 
Dielektrika auf die elektrostatischen Erscheinungen hat man ge- 
schlossen, daß in vielen Fällen die elektrische Erregung D eine lineare 
Funktion der elektrischen Kraft € ist. Für isotrope Körper setzen wir 


(III) D=:E, 

wo & die Dielektrizitätskonstante ist — für den Äther ist nach (25) 
e=1-—., und für anisotrope Körper (vgl. Nr. 3) 

(IT) D— (JE. 

Manchmal ist ® keine lineare Funktion von €, oder ist D sogar nicht 


durch den augenblicklichen Wert von € bestimmt. 
b) Für isotrope Leiter ist zu setzen 


(IV) Ru 1 
(6 Leitfähigkeit), und für anisotrope Leiter 
(IV) 3 — (0)E. 


Für einen Körper gemischter Natur (Nr. 5, d)) lassen wir zu gleicher 
Zeit die Gleichungen (III) und (IV) gelten. 

Geht man nach der in Nr. 7,g) gegebenen Vorschrift mit der 
Gleichung (IV) zu den gewöhnlichen elektromagnetischen Einheiten 
über, dann erhält man 


6 
de Arc? E. 
.r ; me i 
Es ist also 6 = 4rc G nagn., WENN 6, gm, Lie in üblicher Weise elektro 


magnetisch gemessene Leitfähigkeit bedeutet. . 


8. Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen. 9. Elektromotorische Kräfte. 89 


In unserem Maßsystem ist die Einheit des Widerstandes der Wider- 
stand eines Leiters von der Länge 1, dem Querschnitte 1 und der 
Leitfähigkeit o = 1. In dieser Widerstandseinheit wird das Ohm 


durch den Wert 
10° 
4c? 
ausgedrückt. 
c) In den einfachsten Fällen darf man die magnetische Erregung 
®B als eine lineare Funktion der magnetischen Kraft 5 betrachten, also 


für isotrope Körper 
(V) B—=ud 


(u magnetische Permeabilität), und für anisotrope Körper 


(V) B— (u)d 


setzen. Indes gelten auch diese Relationen nicht allgemein. Oft ist 
B keine lineare Funktion von $, oder wird sogar die magnetische 
Erregung nicht durch den augenblicklichen Wert der magnetischen 
Kraft bestimmt (magnetische Hysteresis). 

Für den Äther ist u—=1. 

Wird, umgekehrt als es oben geschah, & als Funktion von ® 
oder 3, $ als Funktion von ® aufgefaßt, so benutzen wir (vgl. 
Nr. 3) für die Koeffizienten die Bezeichnungen 8’, 0’, W. Von allen 
hier eingeführten Koeffizienten soll angenommen werden, daß sie von 
der Bewegung der Materie an und für sich nicht beeinflußt werden, 
d.h. daß sie in jedem Augenblick dieselben Werte haben, als wenn 
die Teilchen der Materie in den dann erreichten Lagen verharrten. 


9. Elektromotorische Kräfte. Bei nicht homogenen Körpern 
genügen im allgemeinen die Gleichungen (IV) nicht zur Darstellung 
der Erscheinungen, und gelingt diese nur, wenn man den Vektor & 
durch & + € ersetzt, wo €” ein Vektor ist, der von dem physi- 
schen und chemischen Zustande der Materie an der betrachteten Stelle 
abhängt. Es ist dann also allgemein 


AV’) sl) (EHEN E+E— (ef) 


zu setzen. Den Vektor &°’ nennt man die elektromotorische oder ein- 
geprägte elektrische Kraft. 
In ähnlicher Weise kann man (III) abändern in 


(II1”) D=()(E+ EN), E+Er—= (MD. 
Auch der Vektor &°” kann als elektromotorische oder eingeprägte elek- 


trische Kraft bezeichnet werden; der Index v deutet dabei auf „Ver- 
schiebung“, wie in (IV”) der Index ! auf „Leitung“ hin, während der 


90 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Buchstabe e beidemal daran erinnern soll, daß es sich um eine ein- 
geprägte Kraft handelt. Auf einen Körper gemischter Natur könnte 
man zu gleicher Zeit (III”) und (IV”) anwenden. 

Zur Abkürzung soll weiterhin 


& E Eee — Er, & — Er — E!r 


gesetzt werden (totale elektrische Kraft); bisweilen lassen wir die 
Indices ! und v fort. 

Es liegt kein Grund vor, im freien Äther elektromotorische Kräfte 
vorauszusetzen. 


III. Anwendung der Grundgleichungen. 


10. Vergleichung der Theorie mit den Beobachtungen. Wenn 
wir jetzt, gänzlich abgesehen von den gegebenen Erläuterungen, die 
Gleichungen (D)—(V) als eine Beschreibung oder Erklärung der Er- 
scheinungen an die Spitze der weiteren Betrachtungen stellen, so 
wird damit folgendes behauptet: Es lassen sich den in den Glei- 
chungen auftretenden mathematischen Größen gewisse physikalische 
Größen zuordnen, die in eindeutiger Weise mittels Beobachtungen 
an elektromagnetischen Systemen bestimmt werden können und deren 
aus den Messungen abgeleitete Zahlenwerte den Gleichungen genügen. 
Was die Prüfung dieser Behauptung betrifft, so ist zu beachten, daß 
eg sich nur darum handelt, ein System physikalischer Größen an- 
zugeben, durch deren Werte die Gleichungen befriedigt werden. Es 
ist daher nichts dagegen einzuwenden, daß man bei der Definition 
dieser Größen und bei der Festsetzung der Meßmethoden sich von 
einigen der Gleichungen führen läßt; es erübrigt dann eben noch zu 
zeigen, daß auch den noch nicht benutzten Gleichungen genügt wird. 

a) Messung der elektrischen und der magnetischen Kraft. Wir wissen 
bereits (Nr. 5, a und b), wie diese für einen Punkt des Äthers vor- 
zunehmen ist. Zu einer für das Innere der ponderabelen Materie 
passenden Methode gelangt man folgenderweise. 

Es sei s eine beliebige geschlossene Linie, s ein so kleiner Teil 
derselben, daß von dessen Krümmung und von der Verschiedenheit 
des Zustandes in den Punkten dieses Teils abgesehen werden kann, 
$ der übrige Teil von s, 6 eine von s begrenzte Fläche. Dann ist 
nach (I) 


(31) ‚[ö.as + fd. = 4fE,de. 


Wir bilden jetzt eine zylindrische Höhlung, deren Achse die Strecke s 


10. Vergleichung der Theorie mit den Beobachtungen. 91 


ist; im Inneren derselben besteht keine elektromotorische Kraft mehr, 
weil daselbst keine Materie vorhanden, und wir lassen die Natur der 
Materie außerhalb der Höhlung, sowie die Bewegung des Systems 
ungeändert. Man hat es dann mit einem neuen elektromagnetischen 
System (5, € u. s. w.) zu tun, und zwar sind die Anderungen der 
Zustandsgrößen nur bis zu einer Entfernung, die von der Größen- 
ordnung der Querdimensionen des Zylinders ist, von derselben Ord- 
nung wie die ursprünglichen Werte. 
Für den neuen Fall gilt 


(32) SS. + [8a = SE, de. 


Läßt man jetzt die Querdimensionen des Zylinders fortwährend ab- 
nehmen, sodaß das Verhältnis derselben zu s sich der Null nähert, 
so nähern sich die beiden letzten Integrale in (32) den entsprechenden 
Gliedern in (31); es müssen also auch die ersten Integrale in den 
beiden Gleichungen denselben Grenzwert haben. Es läßt sich weiter 
zeigen, daß 9, auf der ganzen Strecke s, mit Ausnahme von unend- 
lich kleinen Teilen an den Enden, die zu vernachlässigen sind, als 
konstant betrachtet werden darf. Daher ist, wenn P der mittlere 


Punkt von $ ist, 
(9,1, — lim (9) ,- 


Also: Um die Komponente von Ö$ nach einer vorgeschriebenen Rich- 
tung s zu bestimmen, mißt man $, in einer Höhlung von der be- 
sagten Gestalt, deren Achse die Richtung s hat. Sobald man die 
Messung nach drei Richtungen ausgeführt hat, kennt man Richtung 
und Größe von 9.) 

Zu einer ähnlichen Bestimmungsmethode für E gelangt man, 
wenn man von der Gleichung (II) ausgeht. 

b) Messung des Stromes und der magnetischen Erregung. Nach- 
dem man in allen Punkten des Systems $ und & gemessen hat, leitet 
man daraus mit Hilfe der Gleichungen (I) und (I) & und 8, also 
auch, wenn die Messungen für alle Augenblicke seit 4, (Nr. 5, d) 
Gl. (20)) ausgeführt worden sind, ® selbst ab. Die Prüfung der 
Theorie besteht dann, was $ und 3 betrifft, darin, daß man zwischen 
diesen Vektoren einen Zusammenhang im Sinne von Nr. 8,c) nachweist. 

Andererseits wird man nachzuweisen haben, daß der für & ge- 


14) Ich habe hier die von Lord Kelvin (Reprint of papers on electro- 
statics and magnetism, p. 362, Fußnote }) herrührende und auch von Hertz 
gewählte Festsetzung in der Weise abgeändert, daß die Kenntnis der Richtung 
der Magnetisierung nicht vorausgesetzt zu werden braucht. 


92 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


fundene Vektor sich in solcher Weise in zwei Vektoren $ und 9’ 
(oder D) zerlegen läßt, daß bei geeigneten Annahmen betreffend 
Richtung und Größe der elektromotorischen Kräfte €” und C&°° der 
Nr. 9 erörterte Zusammenhang sich herausstellt. Mit „geeigneten An- 
nahmen“ sind hier solche gemeint, die mit den allgemeinen Erfahrungen 
über elektromotorische Kräfte nicht in Kollision geraten. 

In Wirklichkeit hat man bei der Vergleichung der Theorie mit 
den Beobachtungen vielfach andere Wege eingeschlagen. Obige Aus- 
einandersetzung hat nur den Zweck, den Sinn der theoretischen Be- 
hauptungen klar hervortreten zu lassen. 

Es sollen jetzt (Nr. 11—21) die wichtigsten im obigen noch 
nicht erwähnten elektrischen und magnetischen Größen definiert und 
die für dieselben geltenden Gesetze, sowie einige weitere sich auf 
spezielle Probleme beziehende Folgerungen aus den Grundgleichungen 
abgeleitet werden. 


ll. Elektrische Ladung. Die elektrische Ladung e der von 
einer Oberfläche o umschlossenen Materie definieren wir für die Zeit £ 
als die Elektrizitätsmenge, welche zwischen den Zeiten {, und t durch 
Leitung in diesen Teil des Systems hineingeführt worden ist. Also 


(33) u _ far f&,as 
to 


Folgerungen. a) Da der Gesamtstrom C —= 3 + 9 solenoidal 
verteilt ist, so ist auch 


(WW) = 2 at [do — [D,do. 
to 


b) Im Inneren eines Körpers kann eine Ladung nur dann ent- 
stehen, wenn derselbe gemischter Natur (Nr. 5, d)) ist. In einem Körper, 
der nur Leiter ist, ist nämlich fortwährend f: S,do —=0 für jede in 
demselben liegende geschlossene Fläche; ist aber der Körper ein 
Nichtleiter, so ist stets 3—= 0. Denkt man sich aber, daß ein Körper 
gemischter Natur, nachdem die Ladung in seinem Inneren entstanden 
ist, sein Leitungsvermögen verliert, so gelangt man zur Vorstellung 
einer elektrischen Ladung im Inneren eines Nichtleiters. Man kann 
sich auch vorstellen, daß diese, ohne unser Zutun, fortwährend be- 
standen hat. Dann ist, vorausgesetzt, daß man D aus Beobachtungen 
ableiten könne, die Gleichung (VI) als Definition von e aufzufassen. 

c) Aus (VI) ergibt sich für einen Raum, über den die Ladung 
mit der Dichte g verteilt ist, 


11. Elektrische Ladung. 12. Elektrostatik. 95 


(VT) div®—=e, 
und für eine Fläche, die eine Ladung von der Flächendichte & trägt, 
(VF’) a A 


Bei der Bewegung nichtleitender Materie bleibt die Ladung jedes 
Raumteils und jedes Flächenteils unverändert. 

Zu bemerken ist, daß die für die Ladung gegebene Definition 
versagen würde, sobald man sich nicht darüber einigen könnte, in 
welcher Weise der Strom & in Leitungsstrom und Verschiebungs- 
strom zu zerlegen sei. 

Die z. B. durch (VI) bestimmte Größe e, welche hier als „elek- 
trische Ladung“ bezeichnet wird, nennt Hertz die innerhalb der 
Fläche 6 liegende wahre Elektrizität, im Gegensatz zu der Größe 


fi E,do,”) die er die freie Elektrizität nennt. Da im Äther D und 


€ zusammenfallen, so sind für jedes von Äther umgebene System die 
Gesamtmengen der wahren und der freien Elektrizität gleich. 


12. Elektrostatik. In einem Systeme ruhender stromloser Körper 
können unveränderliche Ladungen und ein konstantes elektrisches Feld 
bestehen. Es ist sodann E=0, 5 =0,8-=0, folglich für jede 
geschlossene Linie 


(vII) Seas = 0. 


Aus dieser Bedingung für die elektrische Kraft folgt, daß dieselbe 
jetzt von einem Potential p abhängt, sodaß 


(VI) E — — gradp 


ist. Im Innern eines Leiters ist, wegen 3 = 0), nach (IV) auch E=(, 
mithin = konst. Auch ist dort e=0. Für einen Körper, der nur 
Leiter ist, gilt das, wie bereits erwähnt (Nr. 11, b)) allgemein. Handelt 
es sich aber um einen Körper gemischter Natur, so folgt, für den Fall 
des elektrischen Gleichgewichts, aus E=0 und (ID), da D—=0, 
was wieder nach (VI) auf g=0 führt. Eine Ladung besteht also 
nur an der Oberfläche des Leiters. 

Aus (VT), (IT) und (VIF) ergibt sich eine Gleichung für 9, 
die, wenn an allen Stellen des Dielektrikums der Wert von oe, und 
für jeden Konduktor der Wert von g gegeben ist, in Verbindung 
mit 9=0 in unendlicher Entfernung, zur Bestimmung des Potentials 
in allen Punkten des Feldes ausreicht. 


15) Hertz, Ann. Phys. Chem. 40 (1890), p. 594—596 (Untersuchungen u. s. w., 
p. 225—227). 


94 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


13. Elektrische Polarisation. Es befinde sich ein ponderabeles, 
ungeladenes Dielektrikum in einem elektrostatischen Felde. Entfernt 
man die ponderable Materie aus einem unendlich kleinen Raum, so 
wird sich im allgemeinen der Zustand außerhalb dieses Raumes ver- 
ändern. Man kann es jedoch so einrichten, daß diese Änderung ver- 
mieden wird. 

Zu diesem Zwecke definieren wir einen neuen Vektor ® mittels 
der Gleichung 


(vID) P-9D-E D=-E+P 


und geben der Höhlung die Gestalt eines geraden Zylinders, dessen 
Achse AB die Richtung von PB hat. Versieht man nun die End- 
flächen dieser Höhlung mit Ladungen, deren Dichte für die bei B 
liegende Fläche den Wert |B|, und für die gegenüberliegende Fläche 
bei A den Wert — |'B| hat, läßt man ferner in dem Außenraum die 
Vektoren D und &, und in der Höhlung den Vektor & so wie sie 
waren, so wird allen Gleichungen — namentlich an der Wand der 
Höhlung der Gleichung (VI”) — genügt. 

Es zeigt sich in dieser Weise, daß die aus der Höhlung ent- 
fernte ponderable Materie, was die Wirkung nach außen betrifft, den 
Ladungen +|®|o und — |P|o an den Endflächen o, und also 
dem elektrischen Momente |®B|os (s Länge von AB) in der Rich- 
tung von ® äquivalent ist. Man sagt deshalb, die Elemente des 
Körpers seien elektrisch polarisiert, und nennt ®B die elektrische 
Polarisation. (Helmholtz und im Anschlusse an ihn Hertz und Cohn 
brauchen allerdings das Wort Polarisation in anderem Sinne, nämlich 
im Sinne unserer Erregung ®.) Die Größe |B| des Vektors ® be- 
stimmt das elektrische Moment pro Volumeneinheit. 

Die Gleichung (VII) und die für ® gewählte Benennung wendet 
man auch in anderen als elektrostatischen Fällen an. Zu bemerken 
ist noch, daß bei obiger Betrachtung konstante elektromotorische Kräfte 
€‘, die dann in der Höhlung nicht wirken, nicht ausgeschlossen zu 
werden brauchen. 


14. Konstante Ströme in Leitern. Sind in einem System ruhen- 
der Körper der Strom 3 und die elektrische Erregung D an jeder 
Stelle konstant, so sind auch die magnetische Kraft 9 und die magne- 
tische Erregung ® unveränderlich. Für jede geschlossene Linie gilt 
dann wieder (VII), sodaß wie oben ein Potential p existiert. Bei 
gegebenen elektromotorischen Kräften €” bestimmen die Gleichungen 
(IV”), in Verbindung mit der solenoidalen Verteilung von 3, das Po- 
tential und den Stromverlauf. Speziell sind das Ohm’sche Gesetz und 





13. Elektr, Polarisation. 14. Konst. Ströme in Leitern. 15. Magnetismus. 95 


die Kirchhoff’schen Sätze!) naheliegende Folgerungen aus den Haupt- 
gleichungen. 

Soll in einem leitenden Körper kein Strom bestehen, obgleich in 
demselben elektromotorische Kräfte wirksam sind, so muß E = — €’ 
sein, und also für jede Linie zwischen den Punkten A und B 


B 
9, —Pp, — (&ras. 
4A 


15. Magnetismus. Magnetisierung. Aus (II) folgt, auch bei 
bewegten Systemen, für jede substantielle geschlossene Fläche (Nr. 3) 


(IX) fi B,do — const., 


d. h. unabhängig von der Zeit. Es bestehen Lösungen der Gleichungen, 
in welchen diese Konstante einen von O verschiedenen Wert hat; dieser 
sei m. Man sagt dann, es umschließe die Fläche eine Menge m an 
Magnetismus. Diese Ausdrucksweise führt weiter dazu, von einer 
Raumdichte o,, bezw. einer Flächendichte &,„ des Magnetismus zu 
reden, sobald in einem Raum 


(IX) divd—=o,; 
bezw. an einer Fläche 

(IX”) Dur ay B,r — Om 
ist. 


Es befinde sich jetzt ein ruhender, selbst nicht von Strömen 
durchflossener Körper in der Nähe eines ebenfalls ruhenden Leiters 
mit konstantem Strom. Wir definieren für denselben einen neuen 


Vektor M mittels der Gleichung 
&) M-B-5, B-H+M, 


und führen eine Betrachtung durch, die genau mit der in Nr. 13 benutzten 
übereinstimmt. Das Ergebnis ist, daß ein unendlich kleiner eylin- 
drischer Teil des Körpers, dessen Achse die Richtung von Mi hat, 
denselben Einfluß auf die Umgebung ausübt wie ein magnetisches 
Moment von jener Richtung. Man sagt deshalb, die Materie sei 
magnetisch polarisiert oder magnetisiert, und nennt den Vektor M die 
Magnetisierung. Die Größe |M| desselben bestimmt das magnetische 
Moment pro Volumeneinheit. 

An die Gleichung (X) und die angeführten Benennungen hält 
man sich in allen Fällen. 


16) Kirchhoff, Über die Auflösung der Gleichungen, auf welche man bei 
Untersuchung der linearen Verteilung galvanischer Ströme geführt wird, Ann, 
Phys. Chem. 72 (1847), p. 497; Ges. Abh., p. 22. 


96 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie, 


Was oben mit m bezeichnet wurde, nennt Hertz wahren Magne- 
tismus, zur Unterscheidung vom freien Magnetismus; unter dem Betrag 
des letzteren für einen begrenzten Raum versteht er den Wert von 


[S.ds, 


für die Oberfläche dieses Raumes berechnet”). 

Übrigens, obgleich es Lösungen der Gleichungen gibt, welche 
für einen bestimmten Teil des Raumes (wahren) Magnetismus an- 
zeigen, und solche Lösungen (wie in dem Fall der oben betrachteten 
Höhlung, wenn deren Endflächen mit geeigneten Mengen von Magne- 
tismus belegt sind) was den übrigen Teil des Raumes betrifft, mit 
der Wirklichkeit übereinstimmen können, so können wir doch tat- 
sächlich alle Erscheinungen so auffassen, daß wir der Konstanten in 
(IX) den Wert Null zuschreiben. Wir wollen das tun und sagen 
also, es existiere kein wahrer Magnetismus und die magnetische Er- 
regung sei immer solenoidal verteilt'®). 


16. Das magnetische Feld konstanter Ströme. Wenn die Glei- 
chung (V) oder (V’) gilt, dann bestimmt diese in Verbindung mit 
(34) dv® —= 0 
und (T') das zu gegebenen Strömen & gehörige magnetische Feld. 

Wir erwähnen noch die Gleichung, die aus (I) hervorgeht, wenn 
der Strom auf eine unendlich dünne Schicht beschränkt ist. Es 
mögen die Grenzflächen derselben von einer Normalen in den Punkten 
C und D geschnitten werden, so zwar, daß die Richtung von C nach 
D mit der von n übereinstimmt; es sei weiter P ein beliebiger Punkt 
von CD, CP=8&,C0D=e. Stellt man sich nun vor, daß bei fort- 
währender Abnahme von & der durch 


ke 
0 


bestimmte Vektor einen endlichen Wert behält, so folgt aus der 
solenoidalen Verteilung von €, daß die Richtung dieses Vektors C° in 
die Fläche 6 fallen muß („Flächenstrom“). Aus (I) läßt sich ableiten, 
daß, wenn die Indices / und ZI sich auf die Punkte C und D be- 
ziehen und n einen Vektor von der Länge 1 in der Richtung von % 


bedeutet, 
= c[n (Hr — 9 )] 


ist. 


17) Hertz, Ann. Phys. Chem. 40 (1890), p. 599 und 600 (Untersuchungen u.s. w., 
p. 230 und 231). 
18) Vgl. indes Nr. 19. 


16. Das magnetische Feld konst. Ströme. 17. Zerlegung des elektr. Stroms. 97 


Man kann dieses Resultat benutzen, um zu zeigen, daß das in Nr.15 
erwähnte zylindrische Element eines magnetisierten Körpers sich, was 
die Wirkung nach außen betrifft, durch einen Strom in der Zylinder- 
fläche ersetzen läßt. Dieser Strom muß den Cylinder in Ebenen 
senkrecht zu M in einem der Richtung von M entsprechenden Sinne 
umkreisen, und es muß |&| = c|M| sein. Entfernt man die ponde- 
rable Materie des Zylinders und läßt man zu gleicher Zeit diesen 
Strom zirkulieren, so bleibt nicht nur außerhalb sondern auch inner- 
halb der Höhlung das ursprüngliche ® bestehen. 


17. Zerlegung des elektrischen Stroms. Auf Grund von (14) 
und (23) und unter Benutzung von (VT’) schreiben wir für den 
Vektor ®’ 

G=-GHKHR, 


wo 

(35) —-9, 

(86) K—ow, 

(37) R— r0t[D - w]. 


Es läßt sich also der Gesamtstrom & in vier Teile, den Leitungs- 
strom $ und die Ströme ®, 8 und ® zerlegen, die alle, der Haupt- 
gleichung (I) gemäß, an der Erzeugung eines magnetischen Feldes 
beteiligt sind, und von denen die drei ersten zusammengenommen 
und der letzte für sich allein der Bedingung der solenoidalen Ver- 
teilung genügen '?). 

Man kann ® den Verschiebungsstrom im engeren Sinne des Wortes 
nennen. & ist der Konvektionsstrom, dessen magnetische Wirkung 
zuerst von Rowland?) beobachtet und von diesem Physiker, zu- 
sammen mit Hutchinson**), messend verfolgt wurde. Auch Röntgen und 
Himstedt”?) haben ähnliche Versuche angestellt. Nachdem Oremieu ”) 


19) H. Poincare, Electricit6 et optique, 2° 6dit., p. 379—385. 

20) H. A. Rowland, On the magnetic effect of electric convection, Am. J. 
of Sc. (3) 15 (1878), p. 30. 

21) H. A. Rowland u. ©. T. Hutchinson, On the electromagnetic effect of 
convection-currents, Phil. Mag. (5), 27 (1889), p. 445. 

22) W.C. Röntgen, Berl. Ber. Akad. 1885, p. 198; F. Himstedt, Ann. Phys. 
Chem. 38 (1889), p. 560. 

23) V. Oremieu, Recherches sur l’existencee du champ magnetique produit 
par le mouvement d’un corps &lectrise, Par. C. R. 130 (1900), p. 1544; Recherches 
sur l’effet inverse du champ magne6tique que devrait produire le mouvement 
d’un corps &lectrise, Par. C.R. 131 (1900), p. 575; Sur les experiences de M. Row- 
land relatives ä l’effet magnetique de la convection &lectrique, Par. C. R. 131 
(1900), p. 797; Nouvelles recherches sur la convection electrique, Par. C. R. 132 

Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2. 7 


98 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


das Resultat von Rowland auf Grund neuer Versuche in Zweifel ge- 
zogen hatte, wurde dasselbe von Pender”*) und Adams”°) durch nume- 
rische Bestimmung des Effekts bestätigt ?®). 

Der Strom WR macht sich bemerklich, wenn ein Dielektrikum, in 
dem eine elektrische Erregung besteht, bewegt wird. Die dabei: auf- 
tretende magnetische Wirkung hat Röntgen?") beobachtet, indem er eine 
nichtleitende Scheibe zwischen den Platten eines geladenen Konden- 
sators rotieren ließ. Es möge deshalb N der Röntgenstrom heißen. 

In jüngster Zeit hat Eichenwald?®) die magnetischen Effekte 
sowohl des Konvektions- und des Röntgenstroms, wie auch des Ver- 
schiebungsstromes quantitativ untersucht. Besonders interessant sind 
die Versuche dieses Physikers, bei welchen ein Kondensator, zusammen 
mit dem festen Dielektrikum, um eine zu den Platten senkrechte 
Achse in Rotation versetzt wurde. Es zeigte sich, daß auch in diesem 
Falle ein magnetisches Feld erregt wird, obgleich nach der Hertz’schen 
Theorie die Fortführung der auf den Platten befindlichen Ladungen 
und die Bewegung des Dielektrikums entgegengesetzt gleiche Wir- 
kungen hervorbringen müßten. 

Um sich von letzterem zu überzeugen, bemerke man zunächst, 
daß der Röntgenstrom R zu einem Flächenstrom R° wird, sobald der 
Vektor [D - w], der U heißen möge, an einer Fläche unstetig ist; es 
ist sodann 


life]. 


Diese Gleichung ergibt sich aus einer Betrachtung, die mit der in 
Nr. 16 angewandten genau übereinstimmt; man geht dabei von der 
Formel R = rot U, ebenso wie in jener Nummer von der Gleichung 
&=crot$ aus. In derselben Nummer ist auch die Bedeutung von 
n erklärt. ! 

Es falle nun die Grenzfläche zwischen der einen Kondensator- 


(1901), p. 327; Sur l’existence des courants ouverts, Par. ©. R. 132 (1901), p. 1108; 
siehe auch Ann. chim. phys. (7) 24 (1901), p. 85, 145 u. 299. 

24) H. Pender, On the magnetic effect of electrical convection, Phil. Mag. 
(6) 2 (1901), p. 179. 

25) E. P. Adams, The electromagnetic effects of moving charged spheres, 
Phil. Mag. (6) 2 (1901), p. 285. 

26) Siehe auch die gemeinschaftlichen Untersuchungen von Pender u. Oremieu, 
Par. C. R. 136 (1903), p. 548 u. 955. 

27) W. C. Röntgen, Über die durch Bewegung eines im homogenen elek- 
trischen Felde befindlichen Dielektrikums hervorgerufene elektrodynamische Kraft, 
Ann. Phys. Chem. 35 (1888), p. 264. Siehe auch Ann. Phys. Chem. 40 (1890), p. 93. 

28) A. Eichenwald, Über die magnetischen Wirkungen bewegter Körper im 
elektrostatischen Felde, Ann. Phys. Chem. (4) 11 (1903), p. 1, 421. 





18. Der magnetische Strom und die unipolare Induktion. 99 


platte und dem Dielektrikum mit der xy-Ebene zusammen, und es 
liege das Dielektrikum auf der positiven Seite dieser Ebene. Ist das 
Feld homogen, mit D parallel zu OZ, und besteht die Bewegung in 
einer Rotation um OZ, wir wollen sagen in positiver Richtung, so 
ist im Dielektrikum der Vektor U senkrecht zur z-Achse, nach der- 
selben hin gerichtet, und es ist |U| = D,-|w|. Daraus folgt, daß an 
der Grenzfläche NR’ dieselbe Größe hat und entgegengesetzt zu iw ge- 
richtet ist. Andererseits hat der Konvektionsstrom, der ebenfalls ein 
Flächenstrom ist, die Richtung von w, und die Größe » |w|, wenn ® 
die Flächendichte der Ladung auf der Platte it. Da nn o=D, 
so sind die beiden Ströme gleich und entgegengesetzt. 

Zu bemerken ist hierbei, daß bei den gemachten Annahmen im 
Inneren des Dielektrikums R = 0, und daß ebenso an der seitlichen 
Begrenzungsfläche des Dielektrikums, wenn diese die Gestalt eines 
Cylinders um OZ hat, W = (. 


18. Der magnetische Strom und die unipolare Induktion. 
Dualität zwischen den elektrischen und den magnetischen Erschei- 
nungen. Wenn kein Leitungsstrom vorhanden ist, besteht nach den 
Gleichungen (I) und (II) dieselbe Beziehung zwischen der magne- 
tischen Kraft und ® ‚ wie zwischen der elektrischen Kraft und — 8, 


eine Übereinstimmung, die sich einfach ausdrücken läßt, wenn man ® 
den magnetischen Strom nennt. Diese sich in der Form der Glei- 
chungen kundgebende Dualität, die vollkommen sein würde, wenn es 
auch „magnetische Leitungsströme“ und im Zusammenhang damit 
wahren Magnetismus gäbe, hat besonders Heaviside hervorgehoben. 
Dieser Physiker hat sogar in seinen mathematischen Untersuchungen 
oft eine eingeprägte Kraft $° angenommen, sodaß er (V) durch 


(88) B— u(d+ 9) 

ersetzt, und auch einen der Summe 9 + $° proportionalen magne- 
tischen Leitungsstrom ®®). Hertz hat ebenfalls den Parallelismus zwischen 
den elektrischen und den magnetischen Erscheinungen hervorgehoben; 
indem er sich dadurch führen ließ, gelangte er in einer seiner älteren 


Abhandlungen°®) in sehr bemerkenswerter Weise zu den Formeln der 
Maxwell’schen Theorie. 


29) O. Heaviside, Electrical papers 1, p. 441, 449, 451—455. Siehe auch 
4A. Föppl, Einführung in die Maxwell’sche Theorie, $ 80. 

30) H. Hertz, Über die Beziehungen zwischen den Maxwell’schen elektro- 
dynamischen Grundgleichungen und den Grundgleichungen der gegnerischen 
Elektrodynamik, Ann. Phys. Chem. 23 (1884), p. 84. (Schriften vermischten In- 
halts, p. 295.) 


7 


100 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


und (34) in die beiden Ströme ® und 
rot[® - mw]. 


Die zu diesem letzteren Strom gehörenden elektrischen Kräfte kommen 
in den Erscheinungen der unipolaren Induktion zum Vorschein. Man 
betrachte z. B. eine Metallmasse M, welche die Gestalt eines Rota- 
tionskörpers mit der Achse OZ hat und sich in einem um OZ sym- 
metrischen magnetischen Felde befindet; die Richtungen von 9 und 
B mögen an jeder Stelle in der Meridianebene liegen. Dieser Körper, 
den man sich permanent, temporär, oder auch gar nicht, magnetisiert 
denken kann, rotiere um OZ mit der konstanten Winkelgeschwindig- 
keit g; außerhalb des Körpers sei alles in Ruhe, sodaß ein statio- 
närer Zustand entsteht. Es ist dann ® — 0, also 


rt& — — — r06[8 -w]. 


Der magnetische Strom ® zerfällt nach den Gleichungen (14) 


Hieraus folgt, daß für jede geschlossene Linie das Linienintegral von 
E mit dem des Vektors — rn [Bd - w] übereinstimmt. Tritt der Inte- 


grationsweg im Punkte A in den Körper M hinein und verläßt er 
denselben wieder im Punkte B, so ergibt sich für das Linienintegral 


der Wert 
ame| [Bde Base], 


wo die beiden Integrale sich auf die Flächen der durch B und A 
gehenden Parallelkreise beziehen. 

In Verbindung mit den Widerständen bestimmt dieser Ausdruck 
die Stärke des Stromes, der in einem von B nach A führenden 
Schließungsdraht entsteht. Ist aber ein solcher nicht vorhanden, so 
beachten wir, daß für jede die Oberfläche nicht schneidende Linie das 


Integral _ X G,ds verschwindet, und daß also°die elektrische Kraft in 


dem äußeren Raum von einem Potential 9 abhängt. Da weiter im 
stationären Zustande im Inneren des Körpers C=0 und also auch 
= (0 sein wird, so läßt sich das Linienintegral für die oben betrachtete 
den Körper durchsetzende Linie durch 9, — 9, ersetzen. Der für 
das Integral gefundene Wert liefert also jetzt die Potentialdifferenzen 
auf der Oberfläche. Von diesen kann man zur Bestimmung des 
äußeren elektrischen Feldes und der Ladung auf der Oberfläche über- 
gehen. 

Das elektrische Analogon zu dem magnetischen Strom rot[B-w] 
ist der Röntgenstrom. Hätte Röntgen mit einer permanenten statt mit 





19. Permanente Magnete. 101 


einer temporären (influenzierten) elektrischen Polarisation gearbeitet, 
so wäre die von ihm beobachtete Erscheinung genau das Gegenstück 
zu der unipolaren Induktion gewesen. 

Auch in einer eigentümlichen von Rowland entwickelten Theorie"), 
über die hier nicht weiter berichtet werden kann, tritt die Rezipro- 
zität zwischen den elektrischen und den magnetischen Erscheinungen 
in den Vordergrund. 


19. Permanente Magnete. Im Fall dieser Körper ist man weit 
von der in der Gleichung (V) ausgedrückten Beziehung entfernt; wie 
diese zu modifizieren sei, läßt sich ohne genauere Kenntnis der 
physikalischen Eigenschaften nicht sagen. In vielen Fällen wird 
man mit einer gewissen Annäherung (V) durch M — const., d. h. 
B — H = const., oder durch B — const. ersetzen dürfen, wobei die 


Konstanz wohl am besten so zu verstehen ist, daß man M— 0 oder 


B— 0 setzt. Heaviside bedient sich, um das Verhalten von Stahl- 
magneten zu beschreiben, eines großen konstanten 9° in der Glei- 
chung (38). 

Der Auffassung von Hertz würde es entsprechen, wenn man für 
permanente Magnete die solenoidale Verteilung von ® fallen ließe 
und sich vorstellte, daß hier für jede substantielle geschlossene Fläche 


f ®,do einen im allgemeinen von O verschiedenen unveränderlichen 


Wert hat, m. a. W. wenn man im Inneren dieser Körper eine gewisse 
Verteilung von an der Materie haftendem „wahren Magnetismus“ 
(Nr. 15) annähme; es wäre dann noch eine Relation zwischen B® und 
H hinzuzufügen. Indes ist diese Auffassung von der hier gewählten, 
nach welcher wahrer Magnetismus nicht bestehen soll, im Grunde 


kaum verschieden. Gälte nämlich von fi B,do das soeben Gesagte, 


so könnte man einen neuen Vektor B” einführen, derart, daß B’— 0 
und daß für jede geschlossene Fläche fi Bde mit f B,do überein- 


stimmt. Setzt man dann weiter B— B’—=%, so wird dvd — (0; 


es läßt sich in der Hauptgleichung (I) B durch ®’ ersetzen und 
es verwandelt sich die Relation zwischen ® und 9 in eine solche 
zwischen B’ und 5. Die Gleichungen haben am Ende wieder die 
von uns gewählte Form, nur daß überall bei ® ein Strich steht. 


31) H.A.Rowland, On the general equations of electromagnetic action, with 
application to a new theory of magnetic attractions, and to the theory of the 
magnetic rotation of the plane of polarization of light, Am. J. of math. 3 
(1880), p. 89. 


102 Vı3. H.A.Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


20. Versuche von Blondlot. Von der Besprechung spezieller 
Erscheinungen, für deren Theorie die Hertz’schen Gleichungen die 
Grundlage liefern können, muß hier abgesehen werden. Es möge 
jedoch noch eine theoretische Folgerung erwähnt werden, die Blondlot 
experimentell geprüft hat. 

Zwei parallele, durch einen Metalldraht D verbundene Metall- 
platten P und ® befinden sich in einem konstanten magnetischen 
Felde, dessen Richtung den Platten parallel ist. Ein homogenes 
und isotropes Dielektrikum, das den Raum zwischen den Platten ganz 
füllt, bewegt sich parallel zu denselben und senkrecht zu $ mit 
der überall gleichen Geschwindigkeit w. Zur Zeit # befinde sich ein 
Teilchen des Dielektrikums in einem beliebigen Punkt A der Platte P, 
ADB sei das von hier aus auf Q gefällte Lot; indem diese Linie sich 
mit dem Dielektrikum verschiebt, erreicht sie zur Zeit +dt die 
neue Lage A’B’. Man ergänze AB zu einem geschlossenen Weg 
durch eine im Metall von B durch D nach A zurücklaufende Linie 
und wende auf diesen Weg, der, als substantielle Linie aufgefaßt, 
im nächsten Augenblicke die Lage A’B’BDAA’ hat, die Gleichung 


(I) an, wobei es rechts offenbar auf das Integral fi B,do für das 


Rechteck A’B’BA ankommt. Wählt man als positive Integrations- 
richtung ABDA, so ergibt sich, wenn u=1, AB=! ist, 


1: 
S&a= + +18 |w|, 


wobei das obere oder das untere Vorzeichen gilt, je nachdem die 
Richtung von A nach B mit der Richtung des Vektorproduktes [w-5] 
übereinstimmt oder demselben entgegengesetzt ist. 

Im stationären Zustande fließt im Leitungsdrahte kein Strom, 
sodaß in diesem E—=0. Zwischen den Platten, senkrecht zu den- 


selben in der Richtung von A nach B, besteht dann also eine elek- 
trische Kraft 


+71. 
Dieser entspricht eine elektrische Erregung 
+z1ö|m|. 
Die Platten P und @ haben daher Ladungen von den Flächendichten 
+z[81lm| und #181 ml, 


die im Momente, wo die Bewegung anfing oder das Magnetfeld erregt 
wurde, durch einen Strom im Verbindungsdraht entstanden sein 





20. Versuche von Blondlot. 21. Fortpflanzung des Lichtes. Aberration. 103 


müssen. Blondlot??) hat, indem er als das Dielektrikum Luft wählte, 
und diese mit großer Geschwindigkeit zwischen den Platten hindurch- 
blies, vergeblich versucht, diesen elektrischen Strom zu beobachten. 
Es spricht dies gegen die Annahme, daß das ganze Dielektrikum 
zwischen den Platten sich mit der Geschwindigkeit der Luft bewegt 
habe und somit überhaupt gegen die bisher gegebene Theorie, soweit 
sie bewegte Medien betrifft. 


21. Fortpflanzung des Lichtes. Aberration. Für die Fort- 
pflanzungsgeschwindigkeit transversaler elektrischer Schwingungen und 
also für die Geschwindigkeit des Lichtes in ruhenden isotropen Nicht- 
leitern liefert die Theorie den Wert 
(89) VE 

Dieser ist unabhängig von der Periode, und es kann daher die 
Theorie in der Gestalt, wie sie hier dargestellt wurde, von der Disper- 
sion des Lichtes nicht Rechenschaft geben. Soll sie auch diese, sowie 
andere optische Erscheinungen in ponderabelen Körpern umfassen, so 
ist es nötig, die Beziehung zwischen € und D — für die Metalle 
auch die Beziehung zwischen € und 3 — in passender Weise abzu- 
ändern, wie von vielen Forschern bereits getan worden ist. 

Es gibt indeß eine optische Erscheinung, für welche in dem 
geschilderten Erklärungssystem kein Platz gefunden werden kann. Es 
ist dies die von Fizeau®®) festgestellte Tatsache, daß eine strömende 
Flüssigkeit Lichtwellen, die sich in der Richtung des Stroms fort- 
pflanzen, nicht mit der ganzen Stromgeschwindigkeit mitführt, mit 
anderen Worten, daß die relative Geschwindigkeit des Lichtes in 
Bezug auf die strömende Materie von der Geschwindigkeit im ruhen- 
den Mittel verschieden ist. Daß hierin für die Hertz’sche Theorie 
eine unüberwindliche Schwierigkeit liegt, springt sofort in die Augen. 
Hat Alles, was sich an der Fortpflanzung des Lichtes beteiligt (Nr. 2) 
— es sei dies bloß ponderabele Materie oder ponderabele Materie 
und Ather — eine gemeinschaftliche Translation, dann können die 
im Inneren des Körpers stattfindenden Vorgänge in keiner Weise 
davon beeinflußt werden. 

Was die astronomische Aberration betrifft, so läßt sich diese, 


32) R. Blondlot, Sur l’absence de deplacement &lectrique lors du mouve- 
ment d’une masse d’air dans un champ magnetique, Par. ©. R. 133 (1901), p. 778. 

33) H. Fizeau, Sur les hypothöses relatives ä l’&ther lumineux, et sur une 
experience qui parait demontrer que le mouvement des corps change la vitesse 
avec laquelle la lumiere se propage dans leur interieur, Par. C. R. 33 (1851), 
p. 349; A. A. Michelson u. E. W. Morley, Am. J. of Sc. (3) 31 (1886), p. 377: 


104 Vı3. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie, 


allerdings unter einer gewissen Voraussetzung, aus der Theorie ab- 
leiten. Stokes®*) hat eine Erklärung dieser Erscheinung versucht, 
indem er annahm, daß die Erde bei ihrer jährlichen Bewegung den 
umgebenden Äther in Bewegung setze, sodaß an allen Punkten der 
Erdoberfläche die Geschwindigkeit des Äthers mit der Geschwindig- 
keit der Erde übereinstimmt, und daß bei dieser Bewegung des Äthers 
ein Geschwindigkeitspotential y existiere. Diese Annahmen wider- 
sprechen sich, wenn man den Äther als inkompressibel voraussetzt). 
Planck?®) hat aber gezeigt, daß sich durch die Hypothese einer be- 
trächtlichen Kondensation des Äthers um die Erde herum, wie sie 
durch eine von der Erde ausgehende Anziehung bewirkt werden 
könnte, die Geschwindigkeit des Gleitens an der Erdoberfläche bei 
einer wirbelfreien Ätherbewegung in beliebigem Grade verkleinern 
läßt. Die Grundgleichungen führen dann sofort zu der beobachteten 
Aberration, wenn man die Bewegung als stationär betrachtet, Glieder 
von der Ordnung = vernachlässigt, und annimmt, daß sogar eine 
Vergrößerung der Ätherdichte auf mehr als das Fünfzigtausendfache 
ohne Einfluß auf die elektromagnetischen Erscheinungen ist. 

Am einfachsten gestaltet sich die Theorie®”), wenn man zu neuen 
Variabelen übergeht. Die Form der Gleichungen (I), (II) und (14) 
legt es nahe, für den bewegten Äther die neuen Vektoren 


(40) ®=-€+72[$-n] 
und 
(41) $-9—-[E-w] 


einzuführen. Zu gleicher Zeit nehmen wir ein an der Translation der 
Erde teilnehmendes Koordinatensystem an und verstehen unter w die 
relative Geschwindigkeit in Bezug auf dieses System. Ersetzt man 
nun — in der Voraussetzung, daß w == grady und x unabhängig von 
t sei — die Zeit # durch die neue Variabele 


34) @. @. Stokes, On the aberration of light, Phil. Mag. (3) 27 (1845), p. 9 
(Mathematical and physical papers, Cambridge 1880, 1, p. 134); Lorentz, De 
aberratietheorie van Stokes, Zittingsverslag Amsterdam Akad.v. Wet. 1 (1892), p. 97. 

35) Lorentz, Over den invloed dien de beweging der aarde op de licht- 
verschijnselen uitoefent, Verslagen en Mededeelingen Amsterdam Akad. v. Wet. 
(3) 2 (1886), p. 297 (Arch. neerl. 21 (1887), p. 103). 

36) Mitgeteilt in Lorentz, De aberratietheorie van Stokes in de onder- 
stelling van een aether die niet overal dezelfde dichtheid heeft, Zittingsverslag 
Amsterdam Akad. v. Wet.7 (1899), p. 523 (Proceedings Amsterdam Akad. 1898 
—1899, p. 443). 

37) Lorentz, (s. vorige Anm.) Zittingsverlag, p. 528 (Proceedings, p. 447) 


22. Energie. Poynting’scher Satz. 105 


’ 1 
. (42) tt al 


dann wird die Gestalt der Differentialgleichungen, denen & und 9 
als Funktionen von &,%,2 und ?’ zu genügen haben, unabhängig von 
der Bewegung. Aus diesem Umstande ergibt sich leicht eine Er- 
klärung der Aberration®®). 


IV. Allgemeine Folgerungen und Theoreme. 


22. Energie. Poynting’scher Satz. Wir führen einen neuen 
Vektor ein, dessen Bedeutung sich bald ergeben wird, nämlich 


(&H. ;; S=c[C-9]. 
Aus (T)) und (IV) folgt alsdann unter Berücksichtigung von (III”) 
und (IV”): 


X) (€. H)+(E*-D) = (HNI-H+lHD-D)+(H-B)+divS. 
Man multipliziere diese Gleichung mit dS, und wende sie zunächst 
auf ein ruhendes System an. Enthält ein Teil eines solchen Systems 
freien Äther, so wird für ein Raumelement dieses Teiles 


, . 1:4 
(HD-D)as- 14 (DYas; 


es ist dies als die Zunahme pro Zeiteinheit einer im Äther vor- 
handenen Energiemenge zu betrachten, da sich aus der elementaren 
Behandlung elektrostatischer Fälle der Wert der Energie in einem 
elektrischen Felde zu 4 D? pro Volumeneinheit des freien Athers er- 
gibt. Man darf hieraus schließen, daß im allgemeinen (XII) die auf 
die Zeiteinheit bezogene Energiegleichung ist, und es wird klar, wie 
die einzelnen Glieder zu deuten sind. 

a) Die links stehenden Glieder stellen die (mit der Peltier’schen 
Wärme, der Änderung der chemischen Energie u. s. w. zusammen- 
hängende) Arbeit der elektromotorischen Kräfte vor. 

b) Soll ((«)D-D) oder, da das betrachtete System ruht, ((e) D-D) 
die Zunahme einer von D abhängigen Energiemenge bedeuten können, 
so muß sein°®) 


(43) m, UB.W iu, 8 W. 

Die elektrische Energie pro Volumeneinheit beträgt sodann 
(XIN) W-H OD: D)—4(E”-D), 

oder 


RI) W,=$(nDd?+ usw. +285D,Dd, + usw). 


38) Vgl. den folgenden Art., Nr. 58. 
39) Maxwell, Treatise 1, art. 101. 


106 V 13. H.A.Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


ec) In derselben Weise zeigt die Betrachtung des Gliedes ($-®), 
daß, sofern die Relation (V”) gilt‘), 


(44) Ks Lg, U8.W, Uemml, USW. 
Die magnetische Energie ist pro Volumeneinheit 
(XIV) WHWB BD) 4-8), 
oder 


XIV) W„= (und? + usw. +2un®,B, + us. w.). 

Falls 8 nicht durch den augenblicklichen Wert von 9 bestimmt ist, 
läßt sich aus (XII) schließen, daß in einem ponderabelen Körper, der 
einen magnetischen Kreisprozeß durchläuft, sodaß 5 und B zu den 
Anfangswerten zurückkehren, eine Energiemenge, die für die Volumen- 


einheit 
Ss: 8) at = [5 : 48) — [(H - aM) 


beträgt, in irgend einer Form zum Vorschein kommt. Man hat dieses 
benutzt zur Berechnung der die magnetische Hysteresis begleitenden 
Wärmeentwicklung *"). 

d) Die von einem Leitungsstrom entwickelte Wärme (Joule’sche 
Wärme) ist für die Volumen- und die Zeiteinheit in Arbeitseinheiten 
KV) QA=(I-I) = sh, u.8.w. + [612 + 04] 3,8, + U8.W. 

e) Die Gleichung (XIT) hat jetzt folgende Bedeutung. Die Ände- 
rung der in dem Elemente dS enthaltenen Energie läßt sich aus der 
Arbeit der elektromotorischen Kräfte berechnen, wenn man die Vor- 
stellung hinzufügt, daß eine Energiemenge div ©-dS das Element durch 
seine Oberfläche hin verläßt. Diese Energieströmung ist also, wie 
Poynting zuerst hervorgehoben hat“?), durch den Vektor © bestimmt; 
die in der Zeiteinheit durch ein Element de strömende Energie ist 
©,de. 

Den Vektor © nennen wir daher den Energiefluß oder den Strahl- 
vektor *°). 


40) W. Thomson (Lord Kelvin), Reprint of papers on electrost. a. magn., p.480. 

41) E. Warburg, Ann. Phys. Chem. 13 (1881), p. 141. 

42) J. H. Poynting, On the transfer of energy in the electromagnetic field, 
London Trans. 175 (1884), p. 343. Siehe auch Heaviside, Electrical papers 1, 
p. 437—441, 449, 450; W. Wien, Über den Begriff der Lokalisierung der Energie, 
Ann. Phys. Chem. 45 (1892), p. 685; Kr. Birkeland, Über die Strahlung elektro- 
magnetischer Energie im Raume, Ann. Phys. Chem. 52 (1894), p. 357; @. Mie, 
Entwurf einer allgemeinen Theorie der Energieübertragung, Wien. Sitz.-Ber., 
math. naturw. Kl. (Ila) 107 (1898), p. 1113. 

43) Wir wählen letzteren Namen, weil bei der Fortpflanzung des Lichtes 
in einem beliebigen durchsichtigen Körper der Energiefluß in der Richtung des 
Lichtstrahls stattfindet. 


23. Ponderomotorische Kräfte. 107 


23. Ponderomotorische Kräfte. Die auf geladene Körper, Strom- 
leiter, Magnete u. s. w. wirkenden ponderomotorischen Kräfte wurden 
von Faraday“) und Maxwell“) als die Folge innerer Spannungen 
im Felde aufgefaßt. An seine Gleichungen für bewegte Körper knüpft 
nun Hertz*°) eine Ableitung der Spannungen auf Grund des Energie- 
gesetzes an. Wir wollen diese hier mit einiger Abänderung wieder- 
geben und es soll dabei angenommen werden, daß auch in bewegten 
Körpern die elektrische Energie, die magnetische Energie und die 
Wärmeentwicklung mittels der angeführten Formeln berechnet werden 
können, daß auch jetzt noch © den Energiefluß, und zwar den Fluß 
relativ zur Materie angebe, und daß die Arbeit der elektromotorischen 
Kräfte durch die linke Seite von (XII) bestimmt wird. Der zu den 
Spannungen führende Gedankengang ist dann folgender. Man berechnet 
für ein substantielles Raumelement dS und pro Zeiteinheit einerseits 
die Arbeit p der elektromotorischen Kräfte, andererseits die Summe 
q der Jouleschen Wärme, der hinausströmenden Energie und der Zu- 
wächse an elektrischer und magnetischer Energie. Für einen ruhen- 
den Körper wäre p=q. Jetzt trifft das nicht mehr zu, und der 
Unterschied g — p muß eben mit den ponderomotorischen Kräften 
zusammenhängen. 


Bezeichnet man üblicherweise mit X,, X, u.s.w. die Spannungs- 
komponenten, nimmt man an, es wirke auf dS eine äußere pondero- 
motorische Kraft %°d$ und ein äußeres Kräftepaar N°dS, und be- 
rücksichtigt man, daß A — 2“ 
Winkelgeschwindigkeit des Elementes sind, so erhält man für die 
Gesamtarbeit, welche pro Zeiteinheit von den äußeren ponderomoto- 
rischen Wirkungen, sowie von den auf die Oberfläche des Elementes 
wirkenden Spannungen geleistet wird, 


) ‚u.s. w. die Komponenten der 


ow om 


|3um, + u. 8. w. +25) + us. w.} a8 





+ (2.&w, + Y,w, -- Z,W,) +... w.\dS. 


Dieser Wert läßt sich nun zerlegen in die drei folgenden Aus- 
drücke, welche einzeln den drei Teilbewegungen des Elementes d$, 
Parallelverschiebung, Drehung und Formänderung entsprechen: 


44) Faraday, Exp. researches, 1, art. 1297, 1298; 3, art. 3266, 3267, 3268. 
45) Maxwell, Treatise, part 1, chap. 5 (vol 1); part 4, chap. 11 (vol 2). 
46) Hertz, Ann. Phys, Chem 41 (1890), p.389 (Untersuchungen u. s. w., p. 275). 


108 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


(45) er 
(46) im +2, a N dS-+ u.s.w., 


und 
(47) I, + usw +48, +2)2,+ usw}äß. 
Was die lee von @,,&, u.s.w. betrifft, vergleiche man Nr. 4h). 


Da («+ + &, "+ 25 un u, u.s. w. die Komponenten der 


resultierenden Kraft sind und (N, + Z, — Y,)dS u. s. w. diejenigen 
des resultierenden Kräftepaares (das übrigens aus bekannten Gründen 
verschwinden muß), so entspricht der Summe von (45) und (46) der 
Zuwachs der kinetischen Energie der Materie; es muß daher (47) der 
Differenz qg — p gleich sein. Diese letztere läßt sich nun aus der 
Gleichung (XII) ableiten. Multipliziert man diese mit dS, so kommt 
links die Arbeit der elektromotorischen Kräfte, rechts im ersten Gliede 
die Wärmentwicklung und im vierten Gliede die Energiemenge, welche 
das Element durch die Oberfläche hin verläßt, während man im zweiten 
Gliede (e)D durch E” ersetzen kann. Da sich weiter mit Hülfe von 
(16) für die Zunahme der Energie 


Er. Das -B)ds 
a +( )AS + 49:8) 


HE -D)+(E- DAS +8 + (5: Bas 


ergibt, so erhält man für die gesuchte Differenz 


4) ga p—4{(E- D— (E- DIAS HIHI BD (H-B}AaS 

Hier setze man nach (18) und (19) 
(&.D)—(©-H-(E5-D)(-D)+@— aD USW. 

+3(&8,+&%B8,)+ usw. 

Die beiden ersten Glieder rechts zusammengenommen lassen sich 
in einfacher Weise deuten. Wir wollen dabei die zweite der Glei- 
chungen (III”), deren linke Seite €” ist, anwenden und also CE” als 
Funktion von D auffassen, wobei indes zu beachten ist, daß die im 
Laufe der Zeit stattfindende Deformation des Elementes dS eine 
Änderung der Koeffizienten # herbeiführt. Von dem zur Zeit t be- 
stehenden Zustande gehen wir jetzt in drei Schritten zu dem zur Zeit 
t—+ dt erreichten Zustande über. N lassen wir das Element 


ow, a ı)ar, 
dy FF u. 8. w. 


drehen und stellen uns vor, daß die Vektoren D und E&” die Drehung 
mitmachen; wir denken uns, daß die Koordinatenachsen das eben- 


sich nur verschieben und um die Winkel — Je2 


23. Ponderomotorische Kräfte. 109 


falls tun, so daß nach wie vor die Relation (III”) mit ungeänderten 
€ besteht. Zweitens lassen wir den Vektor D werden wie er zur 
Zeit + dt wirklich ist; €'” möge, gebunden an (III”) mit un- 
geänderten &', dieser Änderung folgen. Drittens soll, indem jetzt die 
Deformation stattfindet, auch €” die tatsächlich zur Zeit + dt be- 
stehende Richtung und Größe annehmen. 

Die Änderung von D beim zweiten Schritt ist eben D, ‚dt, und 
für die Änderungen von €” beim zweiten und dritten Schritt läßt 
sich schreiben 

(Eia}.dt und [E}ydt, 
wobei die angehängten Indices anzeigen sollen, daß man einmal die 
e und dann ® konstant hält. Schließlich ist 


= (Eer+ Er}. 
Da nun wegen der Beziehungen (43) 
EA} D) — (ED) = 0, 
so reduzieren sich die beiden Glieder, um die es sich handelt, auf 
({&*)y-D). Es ist dies das Doppelte der Zunahme, welche W, pro 
Zeiteinheit erleiden würde, wenn dS nicht rotierte und D unverändert 
bliebe, die Koeffizienten # aber die Änderungen erführen, welche 
durch die Deformationsgeschwindigkeiten &, u.8s.w., 2, u.8.w. ver- 


ursacht werden. Wir bezeichnen diese Zunahme von W, mit 


oW\ : OWN : 
(32), + usw + (u), + u.8.w. 


Was die Koeffizienten in diesem Ausdruck betrifft, so ist zu bemerken, 
daß man z. B. den mit ©, multiplizierten erhalten”würde, wenn man 
die durch eine unendlich kleine rotationslose Schiebung &,, bei kon- 
stantem D, bewirkte Änderung von W, durch die Größe der Sohiebung 
dividierte. 

Transformiert man das letzte Glied von (48) in ähnlicher Weise, 


indem man auch die Größen (32”) u.8.w., (32°) u.s. w. (für ein 
8 8 


0x 0% 
y 
konstantes ® berechnet) einführt, so zeigt sich schließlich, daß (47) 
mit (48) übereinstimmt, wenn man annimmt: 


(XV) I Ya +{ ee Er D,} ns 3 { I Rn 9,8, — 9,8. } 
DW, 3W,, 
4 et Sr Y- ,„ U.8.W., 
RVM 4%, + Y)=4[&D8,+&%D,) +39, + 9,8) 


oW, ww, 
EM u.8.w. 
0, y (= E 4 











110 V13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Will man ungleiche Werte von X, und Y, u.s.w. zulassen, dann 
lassen die letzteren Formeln die tangentiellen Spannungen zum Teil 
unbestimmt. Indessen würden bei Ungleichheit von X, und Y, u.s. w. 
diese Spannungen ein auf dS wirkendes Kräftepaar hervorbringen, 
das durch ein äußeres Kräftepaar aufgehoben werden müßte. Wenn 
nun ein äußeres Kräftepaar nicht besteht, so wird man X,—= Y, u.s.w. 
setzen müssen. Die Gleichungen (XVII) liefern dann die Werte dieser 
Spannungskomponenten; sie stimmen, ebenso wie die Werte (XV), 
mit dem Resultate von Hertz überein. Die andere Auffassung ist 
hier nur deshalb angeführt worden, weil Maxwell?) für die magne- 
tischen Spannungskomponenten die Werte 
X,=92, u=9,Bd, usw. 
angibt, und Heaviside“®) zu den hiermit übereinstimmenden Formeln 
xX,- [&©8,+9.8,), „= (&D,49,8,) us. 

gelangt. Allerdings sind diese, da Heaviside von den Gliedern 


) u.s. w. absieht, mit (XVII) verträglich. 
® 


0%, 
Wohl mit Unrecht hält Heaviside die von Hertz angegebenen 
Werte für unzulässig. 





24. Beispiele für die Bestimmung der ponderomotorischen 
Kräfte. Daß die Formeln (XVI) und (XVII) zur Erklärung der tat- 
sächlich beobachteten ponderomotorischen Wirkungen ausreichen, und 
wie sie z. B. der Theorie der Deformationen ponderabeler Körper im 
elektrischen und magnetischen Felde zu Grunde gelegt werden können, 
muß hier unerörtert bleiben (vgl. hierüber Art. V 16). Es mögen 
indes einige Beispiele angeführt werden. In denselben wird es sich 
jedesmal um die gleichzeitige Existenz zweier Zustände handeln, und 
um die infolge dieses Umstandes bestehende ponderomotorische Wir- 
kung; eine eventuelle Wirkung im Fall, daß nur der eine oder der 
andere Zustand vorhanden wäre, wird von der Betrachtung aus- 
geschlossen. Unterscheidet man die beiden Zustände durch die In- 
dices 1 und 2, so ist zu setzen 9, —= 9,.+ Ss. U. 8. w. Dieser Zer- 
legung der Zustandsgrößen entspricht eine Zerlegung der quadra- 
tischen Ausdrücke, welche wir für die Spannungskomponenten ge- 
funden haben; wir brauchen nur diejenigen Glieder in denselben zu 
berücksichtigen, in welchen zwei Größen, die sich je auf einen der 
Zustände beziehen, miteinander multipliziert sind. 


47) Maxwell, Treatise 2, art. 641. 
48) Heaviside, Lond. Trans. 183 A. (1892), p. 423 (Electrical papers 2, p.549); 
Electromagnetic theory 1, p. 84. 





24. Beispiele für die Bestimmung der ponderomotorischen Kräfte. ft 


a) Wir betrachten wieder die Metallmasse M, von der ‚in Nr.18 
die Rede war; dieselbe möge jetzt ruhen und von einem Strom & 
durchflossen werden, dessen Eintritts- und Austrittsstellen gleich- 
mäßig über die Parallelkreise der Punkte A und B verteilt sind. 
Die Strömung ist dann symmetrisch in Bezug auf die Achse und 
findet überall in der Meridianebene statt. 

Der erste Zustand sei derjenige, welcher bestehen würde, wenn 
der Strom nicht da wäre, der zweite der von letzterem selbst hervor- 
gerufene. Da $, in der Meridianebene liegt und 9, längs des Parallel- 
kreises gerichtet ist, so erleidet der Körper seitens des umgebenden 
Mediums, wenn für letzteres u=1 ist, eine tangentielle Spannung 
HınSs. Ist nun ds ein Element des Parallels, ds’ ein Element des 
Meridians, r die Entfernung von der z-Achse, so ergibt sich für das 
resultierende Drehungsmoment um diese 


SSrrds [S,.as 
Das Integral fi S,,ds ist nur für die zwischen A und B liegenden 


Parallelkreise von 0 verschieden; für diese hat es den Wert —-, wenn 


die Strömung im Körper nach der Seite der positiven 2 stattfindet. 
Das Drehungsmoment wird demzufolge 


i 
ge [s..0, 


wo sich das Integral über den Teil der Oberfläche zwischen den 
Kreisen A und B erstreckt. Das Resultat gilt auch dann, wenn der 
Ein- und Austritt des Stromes auf einzelne Punkte A und 5, in der- 
selben Meridianebene, konzentriert ist. 

b) Ein gerader, der y-Achse paralleler Leitungsdraht werde in 
der Richtung der positiven y von einem Strome ö durchflossen. Das 
umgebende Medium sei der freie Äther und in demselben bestehe 
ein homogenes Magnetfeld 9, in der Richtung der 2-Achse. Auf die 
Oberfläche des Drahtes wirkt in Richtung der «-Achse die Spannung 

3192° — 9,7 — 97) 008 m, ©) + 29,9, c08 (m, 2)}- 
Demzufolge existiert eine resultierende Kraft in dieser Richtung. 
Wenn s der Umlauf eines senkrechten Querschnittes und 9, die von 
dem Strome i selbst herrührende magnetische Kraft ist, dann ergibt 
sich für die Kraft pro Längeneinheit 


’ I. 
3:5, 1-9. 008 (m,0)+9s, 008(m,2)) ds 9, [dns — 418. 
ein sehr bekanntes Resultat. 

€) Die vorstehende Formel ist auch dann anwendbar, wenn i 


112 Vı3. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


ein Verschiebungsstrom ist. Bestände in dem Zylinder eine überall 
gleich große elektrische Erregung D, in der Richtung von OY, und 
änderte sich diese mit der Zeit, so wäre, wenn & die Fläche des 
senkrechten Querschnitts bedeutet, 


(49) 3.— -9,9,2 


d) Wegen des Parallelismus zwischen den elektrischen und den 
magnetischen Größen, der sich auch in den Gleichungen (XVI) und 
(XVII) ausspricht, gilt ein der Gleichung (49) analoger Satz für 
die Kraft, welche ein von einem magnetischen Strom durchflossener 
Zylinder von einem äußeren elektrischen Felde erfährt. Es bestehe 
in dem Zylinder ein mit der Zeit veränderliches ®,, und es sei €,, 
die äußere Feldstärke. Dann ist, wenn im umgebenden Medium e=1, 


(50) = —- B,E,2. 


Diese Kraft, deren Existenz sich übrigens kaum experimentell würde 
nachweisen lassen, nennt Powncare die Hertz’sche Kraft“”). In der Tat 
hat Hertz°®) schon 1884 die Behauptung ausgesprochen, es müsse eine 
solche Wirkung geben. Er ging dabei von. dem Prinzip der Gleich- 
heit der Aktion und Reaktion aus; nach demselben muß der bekannten 
von einem Körper mit veränderlichem ® ausgeübten elektrischen 
Kraft eine Wirkung eines geladenen Systems auf einen solchen Körper 
gegenüberstehen. 

e) Die infolge der Spannungen auf ein Volumelement wirkende 
Kraft sei %dS. Man findet für den freien Äther, wenn man sich in 
diesem eine elektrische Ladung vorstellt und jetzt um der Allgemein- 
heit willen div $ nicht = 0, sondern = o,, setzt, 


3, = 0, + 0,9; 


(51) 1 
+ (derer re), 


U..8. W. 


Um et 3 Gleichung zu gelangen, führe man in die Aus- 
X 0X 
drücke —_- Br 7 "+ ö: u.s. w. die für den Äther geltenden Werte 


ns 3 (As E, SEE €) sy 4(92 re g, BE, 92), u. 8. W,, 
X,= &E, + 9,9,, u 8. w. 
ein. Es ergibt sich dann mit Rücksicht auf (VT’) 


= +9 + [rt &-E]+ [re 9], 


49) Poincare, Electrieite et optique, 2° Edit., p. 410—420. 
50) Hertz, 1. c. 30), p. 87 (Schriften vermischten Inhalts, p. 297). 





25. Bemerkung zur Definition d. elektr. Kraft. 26. Bewegungen des Äthers. 113 
oder, wenn man (Il”) und (I”) benutzt, 
nr Bat, 
gt dd + tgl. 


Hier führe man für D) und & die Werte ein, welche sich aus den 


mit (14) gleichbedeutenden Formeln 
S AA, 3 ow, ew, ow, 
L.- a rin A AI 
u. 8. w. 


ergeben, und beachte die Gleichung (XI), sowie den Umstand, daß 
d N 
7, (48) = div w.dS. 


25. Bemerkung zur Definition der elektrischen und der 
magnetischen Kraft. Soll die auseinandergesetzte Theorie keine 
inneren Widersprüche enthalten, so muß sie folgender Bedingung ge- 
nügen. Bringt man in einen Punkt des freien Äthers, wo die elek- 
trische Kraft € und die magnetische Kraft $ besteht, eine unendlich 
kleine Ladung e bezw. einen Magnetpol von der unendlich kleinen 
Stärke m an, so muß die darauf wirkende Kraft e® bezw. m$ sein. 
Man kann das wirklich aus den Gleichungen ableiten, wenn man sich 
e oder m als am Ather haftend vorstellt°)). Auch jetzt hat man es 
wieder (vgl. Nr. 24) mit zwei superponierten Feldern, dem bereits 
bestehenden 1 und dem etwa durch die im Punkte P konzentrierte 
Ladung e hervorgebrachten Felde 2 zu tun. Legt man um P eine 
Kugel mit unendlich kleinem Radius r, so darf man annehmen, daß 
in jedem Punkte @ derselben €, die Richtung PQ und die Größe 


ri hat, und daß daselbst 9, = 0; in der unmittelbaren Umgebung 


von P wird ja das Feld 2 dasselbe sein, als wenn das ganze System 
sich mit der in P bestehenden Geschwindigkeit bewegte, also auch 
dasselbe als wenn alles ruhte, nur daß das Feld sich jetzt mit P 
fortbewegt. Die Kraft auf P ergibt sich als die Resultierende der 
elektrischen Spannungen auf der Kugelfläche. 


26. Bewegungen des Äthers. Für den freien Ather, in welchem 
oe=0,0_0,„=0, verschwindet die Kraft % nicht, sogar nicht, wenn 
w=0(0. Es bleibt dann noch 


(52) -,56 
oder 
(53) 3=-- [6-9 +4 1[E-$] 


51) Vgl. die Bemerkungen von Boltzmann, Vorlesungen u. s. w. 2, p. 13—15, 
Encyklop. d. math, Wissensch, V 2, 8 


114 Vı3. H.A.Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


In dem zweiten Teil dieses letzteren Ausdrucks erkennt man die 
Hertz’sche Kraft (Nr. 24 d)) wieder, während der erste Teil der Kraft 
(49) entspricht. 

Während also in stationären Feldern die Spannungen den Ather 
selbst in Ruhe lassen, trifft dieses in veränderlichen Feldern nicht 
mehr zu. Die Bewegungen des Äthers, die hierdurch entstehen könnten, 
— von denen sich freilich in den Beobachtungen nie etwas gezeigt hat 
— sind von verschiedenen Physikern diskutiert worden ??). 


27. Reziprozitäts- und Minimalsätze. Von diesen mögen hier 
nur einige, die für ruhende Systeme gelten, erwähnt werden. 

a) Elektrostatik. Sind in einem mit gegebenen Nichtleitern ge- 
füllten Raum D, und D, zwei nach der. Theorie mögliche Verteilungen 
von ®, so ist, mit Rücksicht auf (43) 


(54) FÜ )D-D)as—-(e)D,-D,)as, 


wobei sich, sobald einer der Vektoren (e’)D von einem Potential 
abhängt, das entsprechende Integral durch partielle Integration um- 
formen läßt. Man kann diese Gleichung benutzen, um bei einem 
System von Konduktoren (©, 0’, C”, u. s. w., die von beliebigen Nicht- 
leitern umgeben sind, zwei Fälle, die wir durch die Indices 1 und 2 
unterscheiden, zueinander in Beziehung zu setzen. Vorausgesetzt wird 
dabei, daß in beiden Fällen Gleichgewicht besteht. 

«) Im einen Falle befinde sich eine elektrische Ladung in einem 
Punkte P des Dielektrikums, im anderen Falle eine Ladung von der- 
selben Größe in einem Punkte Q, während für einige der Konduktoren 
in beiden Fällen = 0, für die anderen in beiden Fällen die Ladung 
O0 ist. Es ist sodann?) 

Pu — Pxp)- 


ß) Das Dielektrikum sei ungeladen; es seien die Ladungen von 
ÜC und C’ in einem Falle e und O, im anderen O und e, und es gelte 
für die übrigen Konduktoren das soeben Gesagte.e Dann besteht die 
Relation°*) 


Pie) = Pxco)- 


52) v. Helmholtz, Folgerungen aus Maxwell’s Theorie über die Bewegungen 
des reinen Äthers, Ann. Phys. Chem. 53 (1894), p. 135; W. Wien, Über die 
Fragen, welche die translatorische Bewegung des Lichtäthers betreffen (Referat 
für die 70. Naturforscherversammlung, 1898, Beilage zu Ann. Phys. Chem. 65); 
G. Mie, Über mögliche Ätherbewegungen, Ann. Phys. Chem. 68 (1899), p. 129. 

53) Green, An essay on the application of mathematical analysis to the 
theories of electrieity and magnetism (1828), Papers p. 42—46. 

54) Vgl. z. B. Maxwell, Treatise 1, art. 87. 





27. Reziprozitäts- und Minimalsätze. 115 


y) Im ersten Fall mögen die Konduktoren Ladungen haben, deren 
Flächendichte » heiße; die nichtleitenden Körper seien ohne Ladung. 
Im zweiten Fall besteht an einer Stelle P des Dielektrikums die Ladung 
1, während für jeden Konduktor die Ladung O ist, oder auch alle 
Konduktoren, oder einige von ihnen, durch beliebige ungeladene, nicht- 
leitende Körper ersetzt sind. Unter diesen Voraussetzungen gilt 


Pi) — /9,0do, 

wo das Integral sich auf die Oberflächen sämtlicher Leiter bezieht. 

ö) Wenn in jedem Punkte des Dielektrikums der Wert von @ 
und für jeden Leiter die Ladung e gegeben ist, dann ist die nach 
(XIII) berechnete Energie kleiner für den wirklichen Zustand als für 
jede andere Verteilung von D®, die den Bedingungen dvD®=o in 
jedem Punkte des Feldes, und / D,do —e für die Oberfläche jedes 
Leiters genügt). 

b) Stationäre Ströme. Es sei ein System leitender Körper ge- 
geben, in welchen elektromotorische Kräfte wirksam sind. Bestehen 


die Gleichungen 6,, = 6,,, U. 8. w., so gilt für zwei Strömungszustände 
3; und S%, die Beziehung 


SH Mas fl), -1)a8 


«) P und Q seien beliebige Punkte, } eine Richtung in P und 

k eine Richtung in @. In einem Falle wirke eine elektromotorische 

Kraft €’ in einem den Punkt P enthaltenden unendlich kleinen Raume 

S,, sodaß der Vektor 4 &:'dS die Richtung h und die Größe «a hat. 
Sı 

In einem zweiten Falle bestehe eine elektromotorische Kraft € in 

einem den Punkt © in sich schließenden unendlich kleinen Raume 


S,; dabei hat der Vektor fi E&dS die Richtung %k und wieder die 
$ 


Größe a. Dann ergibt sich 5) 
Ir) = Van: 


ß) Bestehen in dem System gegebene elektromotorische Kräfte, 
so ist die mit (XV) berechnete Joulesche Wärme kleiner für den 
wirklichen Strom 3 als für jeden anderen Strom, der an den Stellen, 
wo eine elektromotorische Kraft wirkt, mit dem wirklichen Strom 
übereinstimmt und übrigens der solenoidalen Verteilung genügt”). 


55) Maxwell, Treatise 1, art. 100c. 

56) Vgl. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 72 (1847), p. 508. 

57) Etwas spezieller bei Maxwell, Treatise 1, art. 283, 284. 
8" 


116 Vı3. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


c) Das magnetische Feld gegebener Ströme. Der Wert S(w H.H)d8 
der magnetischen Energie ist für das wirkliche Feld kleiner als für 
jede andere Verteilung von $, die der Hauptgleichung (I) genügt. 

d) Variabele Zustände. Allgemein gilt folgender Satz’), der dem 
Poynting’schen Theorem sowie dem Green’schen Satze verwandt ist. 
Ist 6 irgend eine geschlossene Fläche in einem gegebenen System 
von Körpern, und bestehen in diesen zwei die Gleichungen (I) und (Il) 
befriedigende Zustände 1 und 2, so ist, wenn man 


Ss=c[&.H, S—=el& -H] 


fi, 8, )ao = [{(&, -&) — (E,-6&,)}d8 
+ St: 8) — (8) a8. 


28. Vektorpotential der magnetischen Erregung. Ist irgend 
ein Vektor ® solenoidal verteilt, so läßt sich immer ein zweiter Vek- 
tor Q einführen, der mit demselben nach der Gleichung 


SB.as = fB.do 


zusammenhängt. Hierfür läßt sich auch schreiben 
Prod, 


welche Formel zeigt, wie ® mittels der Differentialquotienten von Q 
dargestellt werden kann. Man nennt Q das Vektorpotential von ®. 

Da nun die magnetische Erregung immer solenoidal verteilt ist, 
so besteht für diese immer, auch in bewegten Systemen, ein Vektor- 
potential. Bezeichnet man dieses mit W, so hat man 


setzt, 


(XVII) [A,as = [8,6 
und 
(XVUT) B—= rot. 


Für ruhende Systeme ergibt sich nun aus (II”) folgende einfache und 
oft benutzte Darstellung der elektrischen Kraft: 


(XIX) E=— 1 — grad p, 


wo g eine skalare Größe (skalares Potential) ist. 

Zu der Formel (XVII) möge noch bemerkt werden, daß zwar 
die magnetische Erregung B in jedem Punkte eines elektromagne- 
tischen Systems bestimmte Richtung und Größe hat, daß aber der 


58) Lorentz, Het theorema van Poynting over de energie in het electro- 
magnetisch veld, enz. Zittingsverslag Amsterdam Akad. 4 (1895), p. 176. 





28. Vektorpotential. 29. Änderung der magnetischen Energie. 117 


Gleichung durch verschiedene Vektoren A genügt werden kann. 
Diesen Vektoren entsprechen dann auch verschiedene Funktionen g. 
Sonst könnte ja die Gleichung (XIX) die in jedem Punkte völlig 
bestimmte elektrische Kraft nicht darstellen. Um die Unbestimmtheit 
von X und zu heben, kann man der Gleichung (XVIIT) irgend eine 
weitere Bedingung hinzufügen. Hat man es z. B. mit einem System 
stationärer Ströme in ruhenden nicht magnetisierten Körpern zu tun, 
so setzt man füglich 


(55) divl—0. 
Aus der Gleichung 
(56) rot rot U — — &, 


die aus (I’) und (XVII), in Verbindung mit B= 9 hervorgeht, 
ergibt sich dann zur Bestimmung von A 


AU, = — —$, u. 8. w. 


Es ist indes oft überflüssig, eine Bedingung wie (55) anzunehmen; 
man kann W teilweise unbestimmt lassen. 

Das Vektorpotential spielt in manchen Theorien eine bedeutende 
Rolle; in den ursprünglichen Gleichungen von Maxwell begegnet man 
ihm oft. Für einen nichtleitenden Kristall z. B., dessen Hauptachsen 
mit den Koordinatenachsen zusammenfallen und dessen elektrische 
und magnetische Eigenschaften durch D, = &,€, u.s.w,8=9 de- 
finiert sind, lauten seine Formeln °°): 


d - Pe BEN 0°? 
AU, Erg 7, (div A) = al, -- a) 3.8, W; 
Diese Beziehungen gehen sofort aus (56) und (XIX) hervor. 


29. Änderung der magnetischen Energie bei unendlich kleiner 
Änderung des elektrischen Stromes. Ohne etwas an der Lage der 
Materie und an den Werten der Koeffizienten u zu ändern, variieren 
wir den Zustand unendlich wenig. Es ergibt sich zunächst aus (XIV) 
und (44) 

ofw,as— f(0H-8)as, 


also, wenn man ein Vektorpotential X der magnetischen Erregung 


einführt, und die aus (I) folgende Beziehung rot 69 — _ 8 be- 
achtet, 


(N 9[W„as=/(8H rot WAS— (A: rotoH)das— [A - 8) a8. 


59) Maxwell, Treatise 2, art. 794. 


118 V13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Man beachte hierbei, daß wegen der solenoidalen Verteilung von d& 
das letzte Integral von der Unbestimmtheit von A unberührt bleibt. 


30. Elektrische und magnetische Erregungslinien. In jedem 
Vektorfelde — in einem variabelen Felde zunächst für einen be- 
stimmten Augenblick — lassen sich Linien ziehen, die an allen Stellen 
die Richtung des Vektors Q angeben (Richtungslinien); dieselben 
lassen sich weiter zu unendlich dünnen Richtungsröhren zusammen- 
fassen. Wir ziehen die Linien in solchem Maße gedrängt, daß jede 
Röhre an jeder Stelle 
(58) n= N|O|de 


Richtungslinien enthält, wo do der senkrechte Querschnitt der Röhre 
und N eine ein für allemal festgesetzte sehr große Zahl ist. Es ist 
üblich, diesen Faktor in vielen Aussagen fortzulassen; dies gewährt 
den Vorteil, daß man einfach 


[ade 


als die Anzahl der die Fläche 6 nach der positiven Seite hin durch- 
setzenden Richtungslinien bezeichnen kann. 

Die gemachte Festsetzung erfordert, daß man an verschiedenen 
Stellen neue Richtungslinien anfangen oder bereits gezogene endigen 
läßt, und zwar bestimmt der Ausdruck 


NdvüQd-dS, 


wenn er positiv ist, die Anzahl der Richtungslinien, welche in dS 
ihren Anfangspunkt, und wenn er negativ ist, die Zahl der Linien, 
welche daselbst ihren Endpunkt haben. Ist OQ solenoidal verteilt, so 
gibt es weder Anfangs- noch Endpunkte. 

In der Elektrizitätslehre ist von Stromlinien, elektrischen Er- 
regungslinien („Verschiebungslinien“) und magnetischen Erregungslinien 
(„magnetische Induktionslinien“) die Rede; diese Linien beziehen sich 
auf die Vektoren &, D und 2. 

Mit Hilfe derselben lassen sich jetzt die Hauptgleichungen (TI) 
und (I) in einfacher Weise in Worten ausdrücken, indem man 
z. B. sagt, das Linienintegral der elektrischen Kraft für eine ge- 
schlossene substantielle Linie ergebe sich, wenn man die pro Zeit- 
einheit stattfindende Abnahme der Zahl der von dieser Linie um- 
faßten magnetischen Erregungslinien mit c dividiert. Es werden 
somit die Erregungslinien oder „Kraftlinien“, wie sie oft genannt 
werden (weil in isotropen Körpern die Richtungen von ® und ® mit 
denen von € und $ zusammenfallen), ein wertvolles Mittel für die 
Forschung. Faraday hat sich derselben mit Vorliebe bedient. 


30. Elektrische und magnetische Erregungslinien. 119 


Bei variabelen Zuständen kann man sich zunächst denken, daß 
man für jede neue Zeit die Figur der Erregungslinien wieder neu 
entwirft. Man kann sich indes die Frage stellen, ob und in welcher 
Weise es möglich sei, die für die Zeit + dt geltende Figur aus 
der für die Zeit £ erhaltenen durch eine kontinuierliche Bewegung 
hervorgehen zu lassen. Diesen Punkt hat W. Wien untersucht ®). 

Die Idee einer Bewegung der Erregungslinien, und zwar einer 
Mitführung derselben durch die Materie, liegt in gewissem Sinne den 
Hertz’schen Gleichungen für bewegte Körper zu Grunde. Hafteten 
z. B. die magnetischen Erregungungslinien einfach an der Materie, 
so wäre offenbar B=0. Man kann daher die Gleichung (I) dahin 
deuten, daß die Gesamtänderung der magnetischen Erregungsfigur 
sich aus zwei Teilen zusammensetzt, deren einer in einer Mitführung 
durch die Materie besteht, während der andere mit der elektrischen 
Kraft zusammenhängt. Es handelt sich jetzt darum, diesen letzteren 
Teil als die Folge einer Bewegung der Linien, relativ zur Materie 
aufzufassen. Auf eine ähnliche Frage wird man bei der Betrachtung 
der elektrischen Erregungslinien geführt. Wir fangen mit diesem 
letzteren Problem an, wobei wir uns auf nicht-geladene Nichtleiter 
beschränken, sodaß div D = O0 ist. 

Man sieht leicht, daß eine Bewegung der elektrischen Erregungs- 
linien, bei der sich die Punkte derselben mit den Geschwindigkeiten v 
verschieben (w ist die Geschwindigkeit der Materie), der Aufgabe 
genügt, sobald für jedes Element do, das die Bewegung d mitmacht, 
der Wert von D,do zur Zeit 2-+- dt derselbe ist wie zur Zeit £. 
Setzt man v=mw-+o,, sodaß dv, die relative Geschwindigkeit der 
elektrischen Erregungslinien in Bezug auf die Materie ist, so soll 
also, mit Rücksicht auf (14), 


D+re[®: (mw +n,)]= 0 
sein. Wegen (I), wo 

3-0, D=-D-+ro[l®:-w] 
zu nehmen ist, soll daher 

rot[D -v,]= — cerot$, 
(59) [D-v,]= —cH9 + grady 


werden, wo Y eine skalare Funktion ist. 
In derselben Weise ergibt sich für die relative Geschwindig- 


60) W. Wien, Über die Bewegung der Kraftlinien im elektromagnetischen 
Felde, Ann. Phys. Chem. 47 (1892), p. 327. 


120 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


keit v,, der magnetischen Erregungslinien in Bezug auf die Materie 
die Bedingung 
(60) [Bd -v,]=eE + grady. 


Diese Gleichungen lassen, wie es in der Natur des Problems liegt, 
die Geschwindigkeit in der Richtung der Linien unbestimmt. Sieht 
man von dieser Unbestimmtheit ab und versteht von jetzt ab (in 
dieser Nummer) der Kürze wegen unter v, oder v,, speziell die Ge- 
schwindigkeit senkrecht zu den Linien, so ergibt sich aus (60) 
— wir betrachten nur diese Gleichung weiter —, wenn man zu jedem 
Gliede das Vektorprodukt mit ® nimmt, 

(61) Br, = c[lE-B] + [grady - 9]. 

Es ist weiter zu bemerken, daß nach der Gleichung (60) der Vektor 
c& + grad y senkrecht zu ® steht. Es ist also, wenn man die magne- 
tische Erregungslinie mit s bezeichnet, 

(62) 1—_ ce, 

wodurch die Änderung der skalaren Funktion x längs der Linie be- 
stimmt wird. Nimmt man für jede Linie y in Übereinstimmung mit 
dieser Bedingung an, und zwar in solcher Weise, daß auch in Rich- 
tungen senkrecht zu den Erregungslinien x sich stetig ändert, so 
führt (61) zu zulässigen Werten der Geschwindigkeit v,,. 

Eine Komplikation tritt ein, wenn man es mit einer geschlossenen 
Linie zu tun hat. Aus (62) folgt nämlich, wenn man längs einer 


solchen integriert, 
$ 


Das Integral rechts ist im allgemeinen nicht 0, und es ist daher y 


eine unendlich vieldeutige Funktion mit der Periode — c fi E.ds. 
Da nun diese von einer Erregungslinie zur anderen variiert, so er- 
streckt sich die Vieldeutigkeit auch auf die Komponenten von grady 
senkrecht zu den Linien und nach (61) auf v,. Es löst sich in 
diesem Falle die im Anfang geschlossene Erregungslinie in eine 
spiralförmige Linie auf. Ich erlaube mir hierbei die Bemerkung, daß 
die Aussage, die Richtungslinien solenoidal verteilter Vektoren seien 
geschlossene oder bis in unendliche Entfernung fortlaufende Linien, 
im allgemeinen nicht richtig ist. Schon in dem Felde eines kon- 
stanten linearen, nicht in einer Ebene liegenden Stromes sind die 
magnetischen Erregungslinien nicht geschlossen, ohne sich dennoch 
ins Unendliche zu entfernen ®'). 


61) Das Gleiche gilt auch von den Richtungslinien anderer Vektoren, z. B. 


31. Bewegung der Erregungslinien in einfachen Fällen. 121 


Poynting®?) hat die Bewegung der Erregungslinien in einigen 
speziellen Fällen untersucht. Später hat J. J. Thomson‘) eine auf 
der Betrachtung der elektrischen Erregungslinien beruhende Theorie 
entwickelt, die in mancher Hinsicht von dem oben Gesagten ver- 
schieden ist. Indem er nämlich das Feld in viele einfachere Felder 
zerlegt, gelangt er dazu, sich an derselben Stelle sich durchkreuzende 
und sich durcheinander hin bewegende Erregungslinien vorzustellen, 
deren jede eine gewisse Selbständigkeit hat. 


31. Bewegung der Erregungslinien in einfachen Fällen. a) Wenn 
sich in einem homogenen Nichtleiter ein geradlinig polarisiertes Licht- 
büschel mit ebenen Wellen fortpflanzt, so steht 5 senkrecht zu D 
und & senkrecht zu 3; deshalb gibt es Werte von v, und d,, 
für welche v=y=0 (s. Gl. (62)). Es ist jetzt (E-D) = (9-3) und 
den Gleichungen (59) und (60) wird durch die gemeinschaftliche 
Geschwindigkeit 

CUBE EA RER NEE.) 

2 E (ED) (9: ®) 
genügt. Man kann sich vorstellen, daß sich mit eben dieser Ge- 
schwindigkeit (Geschwindigkeit des Strahls) auch die im Raume vor- 
handene Energie verschiebt; es würde ja daraus gerade der Energie- 
strom © resultieren. 

Zu bemerken ist, daß in anisotropen Körpern die soeben an- 
gegebene Geschwindigkeit v, oder v,, nicht senkrecht zu D oder ® steht. 

b) Hat ein Körper eine konstante Translationsgeschwindigkeit und 
ist der Zustand des Feldes stationär in Bezug auf den Körper, so 
kann man die Anderungen des Feldes so auffassen, daß die Erregungs- 
linien (deren Gestalt freilich eine andere sein wird als beim ruhenden 
Körper) mitgeführt werden. Ähnliches gilt von einem Körper mit 
konstanter Rotation. Wenn in letzterem Falle die Gestalt des Körpers 
und der Zustand desselben, sowie der des Feldes, symmetrisch um 
die Achse herum sind, dann kann man auch ebensogut die Linien in 





von den Stromlinien in einer inkompressibelen Flüssigkeit. Daß übrigens Linien 
einen Lauf wie den hier besprochenen haben können, wird klar, wenn man sich 
z. B. auf der Oberfläche eines kreisförmigen Ringes eine Spirale in solcher Weise 
gezogen denkt, daß eine Windung durch eine zu x inkommensurable Rotation 
um die Achse des Ringes in die andere übergeht. 

62) Poynting, On the connexion between the electrie current and the 
electric and magnetic inductions in the surrounding field, London Trans. 176 
(1885), p. 277. 

63) J. J. Thomson, On the illustration of the properties of the electric 
field by means of tubes of electrostatic induction, Phil. Mag. (5) 31 (1891) 
p- 149; Recent researches, chapt. I. 


122 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Ruhe lassen. Die beiden Auffassungen sind gleichberechtigt, so- 
lange man von der Bewegung der Linien nur verlangt, daß sie die 
in einem Augenblicke bestehende Figur in die im nächsten Augen- 
blick bestehende überführe. 


32. Verschiedene Auffassungen der Hauptgleichungen. In 
manchen Fällen liegt es nahe, ein magnetisches Feld als durch elek- 
trische Ströme hervorgebracht zu betrachten und andererseits in der 
Änderung eines magnetisches Feldes die Ursache der dieselbe be- 
gleitenden Induktionsströme zu erblicken. Jedoch ist diese Auffassung 
eine willkürliche. Gleichberechtigt und in besserer Übereinstimmung 
mit der Gestalt der Hauptgleichungen ist eine andere, die darin besteht, 
daß man die zeitlichen Anderungen von D und B als durch 9 und & 
bedingt ansieht. Überdies kann man, in Anbetracht der Beziehungen 
(IID, (IV) und (V), nachdrücklicher als es im vorhergehenden ge- 
schehen ist, hervorheben, daß der Zustand in jedem Punkte bereits 
durch zwei Vektoren € und $ bestimmt ist, und die drei übrigen ®, 
3 und ® zu mathematischen Hilfsgrößen herabsetzen. Zu bemerken 
ist noch, daß bei der zweiten der soeben genannten Auffassungen nicht 


nur das Glied rot$, sondern auch das Glied En: in (T) als Aus- 


druck einer Anderungsursache für D anzusehen ist, und zwar zeigt es 
sich, wenn man $ und ® durch € darstellt, daß man es hier mit 
einer Wirkung zu tun hat, vermöge welcher in einem Körper ge- 
mischter Natur eine elektrische Kraft, wenn sie nicht „von einem 
magnetischen Felde unterhalten wird“, mit einer von ihrem augen- 
blicklichen Werte abhängigen Geschwindigkeit abnehmen muß. 

Da die Gleichungen die zeitlichen Änderungen von € und 9 als 
Funktionen dieser Vektoren selbst zu bestimmen gestatten, so wird 
man schließen, daß das Feld für jede Zeit eindeutig bestimmt und 
berechenbar ist, wenn man sich die Werte von & und 9 für irgend 
eine Anfangszeit vorgibt. Die mathematisch strenge Durchführung 
dieses Schlusses würde allerdings noch manche Weiterungen verur- 
sachen. 


V. Zusammenhang der Theorie mit den Prinzipien der Mechanik. 
Mechanische Analogien und Bilder. 


33. Anwendung der Prinzipien der Mechanik. Von funda- 
mentaler Bedeutung ist die Frage, ob es möglich sei, die elektro- 
magnetischen Erscheinungen „mechanisch“ zu erklären, d. h. ob man 
jedem elektromagnetischen System ein nach den ‚Gesetzen der Mechanik 





32. Verschied. Auffassungen. 33. Anw.d. Prinz. d.Mech. 34. Dyn. Theorie. 123 


sich bewegendes Massensystem in der Weise zuordnen könne, daß jeder 
Zustandsgröße im elektromagnetischen System fortwährend eine be- 
stimmte Größe im mechanischen System entspricht. Um diese Frage 
zur Entscheidung zu bringen, ist es nicht nötig, den Versuch mit be- 
stimmten, ins einzelne gehenden Voraussetzungen über den Mechanis- 
mus zu machen; es genügt, zu untersuchen, ob sich die Erscheinungen 
mit Hilfe der allgemeinen Bewegungsgleichungen der Mechanik be- 
schreiben lassen. Gelingt dieses, so wird man gewiß mechanische 
Erklärungen, und sogar mehr als eine‘*) konstruieren können, obgleich 
immerhin die Möglichkeit bestehen bleibt, daß dieselben, ihrer Kompli- 
ziertheit wegen, nur geringe Befriedigung gewähren. 

In den Untersuchungen, über welche hier zunächst berichtet 
werden soll, wird die elektrische Energie als potentielle und die mag- 
netische Energie als kinetische aufgefaßt. Damit ist gesagt, daß in 
einem elektrischen Felde materielle Teilchen aus ihren Gleichgewichts- 
lagen verschoben seien und daß man es bei einem Strome und einem 
magnetischen Felde mit einer Bewegungserscheinung zu tun habe. 
Freilich sind hierbei unsichtbare Massen und verborgene Bewegungen 
gemeint. 

Bei der genannten Auffassung der elektrischen Energie ordnet 
sich der Nr. 27, a), d) erwähnte Satz dem Satze der Mechanik unter, 
nach welchem für jede Gleichgewichtslage die potentielle Energie 
des Systems ein Minimum sein muß. 


34. Dynamische Theorie von Maxwell. Maxwell®®) hat gezeigt, 
wie bei linearen Stromleitern die Gesetze der Induktion und der elektro- 
dynamischen Wirkungen in die Form der Lagrange'schen Bewegungs- 
gleichungen zusammengefaßt werden können. Als allgemeine Koordi- 
naten führt er gewisse, die Lage der Leiter bestimmende Parameter p, 
ein und außerdem für jeden Leiter eine Größe p,, deren Anderungs- 
geschwindigkeit die Stromstärke repräsentiert. Aus experimentellen 
Ergebnissen wird geschlossen, daß die kinetische Energie Produkte 
eines 9, mit einem 9, nicht enthält. Auch die Koordinaten p, kommen 
in dem Ausdruck der kinetischen Energie nicht vor; diese sind also 
cyklische Koordinaten. Auf die Analogie zwischen den elektromagne- 
tischen Systemen und speziell den von Helmholtz untersuchten cyklischen 
Systemen der Mechanik haben später viele Autoren hingewiesen °). 


64) Poincare, Electricits et optique, Introduction. 

65) Maxwell, Treatise, part 4 (vol 2), chap. VI, VI. 

66) Boltzmann, Vorlesungen; H. Ebert, Zur Theorie der magnetischen und 
elektrischen Erscheinungen, Ann. Phys. Chem, 51 (1894), p. 268; Über die Be- 


124 V13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


35. Allgemeine Betrachtungen. In Verfolgung der Ideen von 
Maxwell habe ich ®°) versucht, die Hauptgleichung (II) für beliebige 
bewegte Körper abzuleiten. Ich habe dabei das d’Alembert’sche Prinzip 
in der Form 


d ıy 
(63) 841— 4, (# T) — 87T 


zu Grunde gelegt. Hier bezieht sich das Zeichen ö auf unendlich 
kleine Variationen der bei der wirklichen Bewegung aufeinander- 
folgenden Lagen. Diese virtuellen Verrückungen sollen mit den im 
System bestehenden Zusammenhängen verträglich sein (mögliche Ver- 
rückungen) und sich kontinuierlich in der Zeit ändern. Unter der 
varüierten Bewegung möge eine Bewegung verstanden werden, bei der die 
variierten Lagen zu denselben Zeiten erreicht werden, wie die ent- 
sprechenden ursprünglichen Lagen bei der wirklichen Bewegung. Mit 
öT wird der Unterschied zwischen der kinetischen Energie der vari- 
ierten und der wirklichen Bewegung bezeichnet, mit 6A die Arbeit 
der Kräfte bei der virtuellen Verrückung und mit 0’7 die Zunahme, 
welche die kinetische Energie erleiden würde, wenn, bei ungeänderter 
Lage, die rechtwinkligen Geschwindigkeitskomponenten der materiellen 
Punkte diejenigen Anderungen erführen, welche infolge der virtuellen 
Verrückung die entsprechenden rechtwinkligen Koordinaten erleiden. 

Für die Gültigkeit der Gleichung (63) ist es nicht nötig, daß die 
varlierte Bewegung eine mögliche, d.h. eine die Zusammenhänge nicht 
verletzende sei. Im allgemeinen ist sie das nur bei den Systemen, 
die Hertz ®) holonom nennt. 

In der Anwendung auf elektromagnetische Vorgänge stößt man 
auf eine Schwierigkeit, die daher rührt, daß man einerseits, um zu 
den Feldgleichungen zu gelangen, die für holonome Systeme geltenden 
Sätze anwenden muß, und daß es andererseits fraglich bleibt, ob man 
mit wirklich holonomen Systemen ein Bild der elektromagnetischen 
Erscheinungen konstruieren könne. Der Punkt, wo diese Schwierig- 
keit liegt, möge zunächst bezeichnet werden. 

Das einzige uns zu Gebote stehende Mittel, eine Lagenänderung 
der unsichtbaren Teilchen im elektromagnetischen Felde zu bewirken, 
besteht, neben einer eventuellen Verrückung der ponderabelen Materie, 
darin, daß man dieselbe in einer der in Nr.5,d) unterschiedenen 
Weisen, oder in beiden zugleich, von Elektrizität durchströmt werden 


wegungsformen, welche den elektromagnetischen Erscheinungen zu Grunde gelegt 
werden können, Ann. Phys. Chem. 52 (1894), p. 417. 

67) Lorentz, La theorie &leetromagnetique, 8$ 55—61. 

68) Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, p. 91. 


35. Allgemeine Betrachtungen. . 125 


läßt. Es liegt daher nahe anzunehmen, daß eine von einer bestimmten 
Lage ausgehende unendlich kleine Verrückung vollständig bestimmt ist, 
sobald man die Verrückung der Materie kennt, und für jedes substan- 
tielle Flächenelement die Elektrizitätsmenge, von der es durchflossen 
wird, gegeben ist. Die Geschwindigkeiten aller Massenpunkte und die 
kinetische Energie 7 des Systems müssen daher von den Geschwindig- 
keiten der Materie und den Komponenten der Ströme 3 und ®’ (Nr. 5) 
abhängen. Es soll vorausgesetzt werden, daß der magnetische Teil von 
T — nur auf diesen hat man Rücksicht zu nehmen — bei jeder 


möglichen Bewegung den Wert Fi W,„dS hat, wo für W, der Aus- 


druck (XIV) einzusetzen ist, nachdem man 9 und B mit Hilfe der 
Gleichungen 


109 = €, diıvß—=0, B=(u)H 


aus dem Strome & abgeleitet hat. Daß, bei gegebenem Strömungs- 
zustande, 7’ gerade den so berechneten Wert hat, ist in der Verteilung 
der Massen und in den Zusammenhängen des Systems begründet. 

Es seien nun %, und %, die bei der wirklichen Bewegung zu den 
Zeiten & und #-++- dt erreichten Lagen, (%,) und (%,) die entsprechen- 
den Lagen in der variierten Bewegung. Die Lagenänderungen 2, —%;, 
u) %—(%,) sind dann sämtlich durch gewisse Verrückungen 
der Materie und durch bestimmte Elektrizitätsmengen, von welchen 
die substantiellen Flächenelemente do in der ersten und der zweiten 
Weise durchfiossen worden sind, charakterisiert. Sollte nun die Be- 
wegung (%,) — (%,) eine mögliche sein, so müßte es gelingen, von 
(2,) aus alle Teilchen des Feldes in ihre zu (2,) gehörige Lage da- 
durch überzuführen, daß man die Teilchen der Materie auf unendlich 
kurzen geraden Wegen in diese Lage bringt und zu gleicher Zeit be- 
stimmte Elektrizitätsmengen durch die Elemente ds hindurchtreibt. 
Bei näherer Überlegung erweist sich die Hypothese, daß dies immer 
möglich sei, als kaum haltbar und hierin besteht eben die Schwierig- 
keit, von der soeben die Rede war. 

Um dieselbe zu umgehen, soll nun zunächst eine Klasse von 
mechanischen Systemen definiert werden, die, ohne holonom zu sein, 
dennoch Bewegungsgleichungen von derselben Gestalt wie die für 
holonome Systeme geltenden zulassen. Es soll dann weiter die Hypo- 
these eingeführt werden, daß die elektromagnetischen Systeme zu 
dieser Klasse gehören. 

Jede unendlich kleine Lagenänderung eines materiellen Systems, 
welcher Art es auch sei, läßt sich dadurch beschreiben, daß man die 
Werte gewisser unendlich kleiner Größen angibt, die, wenn es sich um 


126 V13. H.A.Lorentz, Maxwells elektromagnetische Theorie. 


eine virtuelle Verrückung handelt, «, «', @”, ---, und für ein Element 
der wirklichen Bewegung adt, a’dt, a’dt, --- heißen mögen, und die 
wir als „Verrückungskomponenten“ bezeichnen können. Mögen nun 
zwischen diesen, wegen der Zusammenhänge des Systems, noch homo- 
gene lineare Bedingungsgleichungen bestehen oder nicht, jedenfalls 
sind die Änderungen der rechtwinkligen Koordinaten der einzelnen 
Punkte homogene lineare Funktionen von «, «, «”, --- und die Ge- 
schwindigkeitskomponenten dieser Punkte eben dieselben Funktionen 
von a, @, @, ++». Die kinetische Energie ist demzufolge eine homo- 
gene quadratische Funktion von a, @’,a”,--- und wenn man in dieser, 
ohne an den Koeffizienten etwas zu ändern, a, «’, a”, .-- um a, «,«",--- 
' zunehmen läßt, erhält man die mit 07 bezeichnete Variation. 


Bei der Anwendung der Gleichung (63) hat man sich die Ver- 


rückungskomponenten «, «, «”, --- als stetige Funktionen der Zeit 
vorzustellen, die zu den Zeiten # und £+ dt etwa die Werte «,, «,', 
&,.*- und &, &%, & , ++ haben. 


Ein System möge nun quasi-holonom heißen, wenn die Zusammen- 
hänge eine von der Lage (%,) ausgehende und in der Zeit dt statt- 
findende Bewegung zulassen, die durch die Werte add +, — a, :: 
der Verrückungskomponenten bestimmt ist, und wenn außerdem diese 
Bewegung, obgleich bei ihr die Lage (%,) vielleicht gar nicht genau 
erreicht wird, dennoch, was die kinetische Energie betrifft, mit der 
varlierten Bewegung übereinstimmt. Für derartige Systeme gelten nun 
dieselben Gesetze, wie für ein wirklich holonomes System, und man 
kann auch für sie diese Gesetze in den gewöhnlichen Formen aus- 
drücken, wenn man gewisse Variabelen p einführt, als deren virtuelle 
bez. wirkliche Anderungen die Größen «, «, ---, adt, a’dt, »-- be- 
trachtet werden können. Für eine bei der Gleichung (63) in Betracht 
kommende wirkliche Lage % definieren wir die » als die von einer 
beliebigen Anfangslage bis zu dieser Lage ausgedehnten Integrale 


f adt, f' adt, ---, während der entsprechenden variierten Lage (2) 


die Werte p+ «a, p'+«, ..- zugeordnet werden mögen. Insofern 
nun jede Lage, von der die Rede ist, wenn man (63) auf eine be- 
stimmte Bewegungserscheinung anwendet, durch bestimmte Werte 
P, 9,» charakterisiert ist, kommt diesen der Name Koordinaten 
zu; damit soll aber nicht gesagt sein, daß bei Betrachtung aller Be- 
wegungen, deren ein System fähig ist, die Größen p zur Bestimmung 
der Lagen dienen können. 


Daß sich nun für ein quasi-holonomes System aus (63) Gleichungen 
ableiten lassen, die in der Form mit den Bewegungsgleichungen von 


36. Ableitung der zweiten Hauptgleichung. i 127 


Lagrange oder mit dem Prinzip der kleinsten Wirkung übereinstimmen, 
braucht hier nicht ausführlich erörtert zu werden. Es kam nur darauf 
an, die Hypothese, welche jetzt über die Natur der elektromagne- 
tischen Systeme gemacht werden soll, dahin zu formulieren, daß die- 
selben quasi-holonom seien und daß für die Größen «, «’, ---, adt, 
adt, »-- die Elektrizitätsmengen genommen werden dürfen, von welchen 
die substantiellen Flächenelemente durchströmt werden, und zwar sind 
hier immer die beiden Weisen, in welchen das geschehen kann, zu 
unterscheiden, sodaß, bei einem Körper gemischter Natur, für ein be- 
stimmtes Element jedesmal zwei elektrische Verrückungskomponenten 
in Betracht kommen. Koordinaten sind also neben den Parametern, 
welche die Lage der Materie bestimmen, die Elektrizitätsmengen, 
welche von einem gewissen Anfangszustande an die Flächenelemente 
durchsetzt haben. 

Wollen wir, wie das bei Anwendung der Gleichung (63) nötig 
ist, die kinetische Energie der variierten Bewegung berechnen, so 
denken wir uns, daß jedes substantielle Flächenelement im Laufe der 
Zeit dt von einer Elektrizitätsmenge adt + «, — «, durchflossen wird. 
Unter adt, «, und «, verstehen wir dabei die Mengen, welche das 
Element bei der wirklichen Bewegung in der Zeit dt, und bei den 
für die Zeiten £ und t-+ dt vorausgesetzten virtuellen Verrückungen 
durchsetzen. 

Es möge schließlich noch hervorgehoben werden, daß wir die 
solenoidale Verteilung des Stromes als eine fundamentale Bedingung 
betrachten, welcher auch jede virtuelle Elektrizitätsbewegung zu ge- 
nügen hat, und daß jede Elektrizitätsmenge, von der ein Element do 
in der zweiten Weise durchflossen wird, als reelle oder virtuelle 
Änderung von D,do aufgefaßt werden kann. 


36. Ableitung der zweiten Hauptgleichung. Um zu dieser zu 
gelangen, nehme ich noch an, daß der Widerstand der Leiter von 
gewissen Kräften herrühre, deren Arbeit sich in derselben Weise wie 
die einer elektromotorischen Kraft 

RT PR: 
berechnen läßt. ce an. 

Die Lage der Materie bleibe unvariiert, die Variation bestehe 
also bloß darin, daß die substantiellen Flächenelemente entweder in 
der ersten oder in der zweiten Weise von Elektrizitätsmengen c,d6 
durchflossen werden, wo c irgend ein unendlich kleiner solenoidal ver- 
teilter Vektor ist. Es sei dabei &©&=(0, d.h. es sei für jedes sub- 
stantielle Flächenelement die elektrische Verrückungskomponente („do 
unabhängig von der Zeit. 


128 Vı3, H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 
Für die Arbeit 6A ist entweder 
51— (Er. )dS+ FR - das 
5A— [(&". 48 — 8 [W,ds 


oder 


zu setzen, und zwar ist die im letzten Gliede stehende Anderung der 
potentiellen Energie für $D —= c zu berechnen. 

Da jetzt nach unseren Annahmen für jedes. substantielle do (vgl. 
den Schluß von Nr.35) ,—=«,, so wird adt +, — a, = adt. 
Die für die variierte Bewegung in Betracht kommenden Stromkom- 
ponenten sind also dieselben wie die wirklichen Komponenten und 


es ergibt sich 
oT=0. 


Weiter ist nach (57), wenn man mittelst (XVIII) ein Vektorpotential 


einführt, x 
06T = 2 fe .)dS8. 


Setzt man die angegebenen Werte von 0A, ÖT und Ö’T in (63) 
ein und berücksichtigt man, daß die Formel für jede solenoidale 
Verteilung von c gelten muß, so gelangt man zu Gleichungen, die der 
mit (III”) und (IV”) verbundenen Hauptgleichung (Il) äquivalent sind. 

Bei der Ableitung hat man die Gleichungen (16) und (17) heran- 
zuziehen. Nach der ersten ist, wegen Ce =(, 


ent f&-9as, 


37. Berechnung der ponderomotorischen Kräfte”). Bei einer 
zweiten Variation möge die Materie die unendlich kleinen Verrückungen 
q erleiden, ein beliebiges substantielles Flächenelement aber weder 
in der ersten, noch in der zweiten Weise von Elektrizität durchflossen 
werden. Es ist dann d9D® —=0, 66 —=0, ’T=0. Die erste dieser 
Gleichungen geht daraus hervor, daß D,de sich nicht ändert, wenn 
das Element nicht in der zweiten Weise von Elektrizität durchflossen 
wird; die zweite rührt daher (vgl. den Schluß von Nr. 35), daß 
für jedes Element  =0, ,—=0 und also adi + ©, — «a, = adt 
ist, und die dritte folgt gleichfalls (Nr. 35) aus der Annahme, daß 
die elektrischen Verrückungskomponenten «—= 0 sind. Die elektro- 
motorischen Kräfte und die Widerstände leisten bei der jetzt voraus- 
gesetzten Variation keine Arbeit, und es ergibt sich daher, wenn man 





69) Diese Berechnung kommt in meinen früheren Abhandlungen nicht vor, 


87. Berechnung der ponderomotorischen Kräfte. 129 


mit U die potentielle (elektrische) Energie und mit %° die äußere pon- 
deromotorische Kraft für die Volumeneinheit bezeichnet, 


(64) S& ds = 8 Uon-y — OToc-9- 


Hilfssatz. Berechnet man für bestimmte Verrückungen der 
Materie (mit den entsprechenden Änderungen der Koeffizienten u) 97 


einmal in der Voraussetzung 6&C = (0 und dann in der Voraussetzung 
6B—=I, 80 ist 
(65) dToc=0, = — PTon=9. 


Beweis. Man hat für jede Variation 


ST — Ton + fl IB) a8. 
Andererseits nach (XIV) und (7) 


ST—+/(H-8B8)AS + 4/8 - 89) q8. 
Ist nun d6E — 0, so folgt aus (I) und (9) rot 9 —= 0 und 


[8 : 65) 48 — [(rot L- 05) as — [(U- rot 09) 48 — 0. 


Aus diesen Beziehungen folgt (65). 

Die Werte von $Uo9=0), und dTag-0,, auf die es jetzt bei der 
Berechnung von (64) ankommt, lassen sich in der folgenden, für beide 
Größen gleichen Weise ermitteln. Aus d$D=0 ergibt sich nach (10) 
ein bestimmter Wert von d,D und es setzt sich dann weiter 6 Uo9=0) 
aus drei Teilen zusammen. Für den ersten findet man mit Rück- 


sicht auf (XII), (III”) und (43) 
SE: 5,8) a8, 


und für den zweiten 


[w.sas = [W.@,+v,+ 2)48. 
Der dritte Teil ist 
fi daW.:dS, 


wo dyW, die Anderung bedeutet, welche stattfinden würde, wenn das 
Element dS, bei konstant gehaltenem D und ohne zu rotieren, die 
Deformationen &,, ***, 2, erlitt Drückt man diese letzteren 
Größen in den Differentialquotienten von q,, q,, 4, nach den Koordinaten 
aus, schafft man dann diese Differentialquotienten mittels partieller 
Integration auf der rechten Seite von (64) fort und behandelt man 
ITog =0) in derselben Weise wie Un =0), 80 erhält man schließlich 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 9 


130 vı3. H.A. Lorentt. Mäxwells elektromägnetische Theorie. 


durch Gleichsetzung der beiderseitigen Koeffizienten von q,, q,, 9, die 
Werte von 3%, 3,, 3, Diese kann man auf die Form 
2X 2 208 
a 
bringen, wenn man darin für die Spannungskomponenten X,, --, 
X,,:': die in Nr. 23 gefundenen, durch die Gleichheiten X,— Y, u. s. w. 
näher bestimmten Werte setzt. 

Das Resultat stimmt also vollständig mit dem von Hertz er- 
haltenen überein. In der Tat bedeutet in unserer Ableitung % die 
äußere Kraft, welche auf die Materie wirken muß, damit diese sich 
(unter dem Einflusse eventueller anderer Kräfte) so bewege, wie sie 
es tun würde, wenn keine elektromagnetischen Vorgänge stattfänden. 
M. a. W., % ist die Kraft, welche den durch diese Vorgänge hervor- 
gerufenen Spannungen das Gleichgewicht hält; % muß daher mit 
diesen Spannungen in der in unserer letzten Gleichung ausgedrückten 
Weise zusammenhängen. 


38. Helmholtz’ Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung. 
Helmholtz) hat die Feldgleichungen, sowie die Formeln für die pon- 
deromotorischen Kräfte aus der Annahme abgeleitet, daß bei unend- 
lich kleiner Variation des wirklichen Vorganges die Variation eines 
gewissen Zeitintegrals verschwinden soll. Die Funktion ®, um deren 
Zeitintegral es sich handelt, hat in der hier gewählten Schreibweise 
und erweitert auf anisotrope Körper die Gestalt 


o— ([w+W.- 1.9 (€. 9-9) as; 


sie enthält als zu variierende Größen die elektrische Erregung D, das 
magnetische Vektorpotential A und den von einem festen Ursprung 
nach einem Punkte der Materie gezogenen Radiusvektor r. Die 
äußere ponderomotorische Kraft %5°d8 bleibt für jedes substantielle 
Raumelement dS unvariiert; was die elektromotorische Kraft &” be- 
trifft, so soll 6 — 0 sein, d.h. das Linienintegral der elektromoto- 
rischen Kraft für eine substantielle Linienstrecke des Systems soll 
unvariiert bleiben. Für den den Formeln (24) und (23) gemäß in & 
steckenden Leitungsstrom wird festgesetzt, daß 630 sei, d.h. der 
eine substantielle Fläche durchfließende Leitungsstrom soll bei der 
Variation ebenfalls ungeändert bleiben. Elektromotorische Kräfte der 
mit © bezeichneten Art kommen bei Helmholtz nicht vor. 


70) v. Helmholtz, Das Prinzip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik, 
Ann. Phys. Chem. 47 (1892), p. 1 (mit kleinen Abänderungen wiedergegeben). 


88. Helmholtz’ Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung. 131 


Es ist weiter unter W, die Funktion (XII) und unter W,, die 
Funktion (XIV’) zu verstehen. Letztere wird freilich dadurch etwas 
kompliziert, daß Helmholtz auch eine permanente Magnetisierung oder 
vielmehr einen gewissen permanenten Teil der magnetischen Erregung 
voraussetzt. Bezeichnet man diesen mit ®? und den variabeln Teil 
mit ®, so soll das in der Formel auftretende Vektorpotential A dem 


Vektor 8 + 3? entsprechen; also 
(66) B—= rot A — Br. 


Für diesen Wert von ® ist W,, nach (XIV’) zu berechnen. Es wird 
übrigens die Permanenz von ®? von Helmholtz in dem Sinne ver- 
standen, daß bei der Bewegung 8’ — 0 und bei den virtuellen 
Verrückungen IB? — 0 ist. 

Es soll nun 


to 
oJ=6dIDd—=0 
J 


sein, wenn die Variation so gewählt wird, daß für t=t, und t=1, 
ID —=( ist. 
Zur Abkürzung setze man 


oW, ® OW 
FE Fi Re: 78, Me 





und bei den mathematischen Transformationen beachte man folgendes: 
Es können die beiden Operationen, deren Ergebnisse wir für einen 
beliebigen Vektor Q mit O und dQ bezeichnet haben, nach einander 
auf einen Vektor angewandt werden. Das Resultat ist in diesem Falle 
unabhängig von der Reihenfolge der Operationen, wie sofort aus der 
für jedes substantielle do geltenden Gleichung 


d d 
di O(D,do)—= () di [Q,do} 
hervorgeht. Setzt man also 


D-% ud dd = 


so ist 


a) Variation von X bei konstantem r und D. Hierdureh wird 
nur das zweite und dritte Glied in dem Ausdrucke von ® berührt. 
Es ist 


3 [Ww.ds = [($-88) 48 — [($- rot 8W a8 — [(OX- 1019) 8 


Se IAUO—(C-W; 
g*® 


132 V13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


folglich, da in 6.J die Summe der Koeffizienten jedes dA ver- 
schwinden muß, 
(67) 19 — €. 


b) Variation von ® bei konstantem r und W. Diese erstreckt 
sich auf das erste, dritte und vierte Glied des Ausdrucks von ®. 
Es ist hierbei 


$W,—= (E”.8D), $(Er.D)— (Er.6D), 9C— HR. 
Daraus folgt, wenn man (16) benutzt, 
IK(AU-OGAS)— (A- HD) AS 


(68) — 7 {(U-89)d8)— (U: 58) a8. 


Aus (68) läßt sich ableiten 


sfarfa:9as-— far (&:on)as; 
a tı 


setzt man die Summe der mit OD zu skalaren Produkten vereinigten 
Vektoren gleich Null, so erhält man, 


oder, wenn man 


Er _ Ce — 
setzt, 
(69) -— 4. 
Hieraus ergibt sich schließlich nach (66) und (17) 
rt = — (848°) 


c) Variation von r und A, wobei 6D —= 0 sein möge, demzufolge 
$B—=0 und auch dE& —= O ist. Diese Variation beeinflußt alle Terme 
in dem Ausdruck von ® mit Ausnahme des vorletzten, für welchen 
wegen 6&”—=(0 und ID — 0 zufolge von (7) 

d{(Er. Das) = 0 
ist. Man findet mit Rücksicht auf (7), (67) und (9) 


Ssta-9as) = f(oU-©as— ef (U: rot 9)d8 
— e[ (8: ro 8MAas—e[(H-88)a8. 
Da nun 


5 W„d8) — (H-08)dS = 8 ( W,dS}on-0 


89. Bemerkungen zu der Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung. 133 


ist, so gelangt man zu einer Gleichung, die mit (64) übereinstimmt. 
Die Ableitung der Spannungen fällt daher weiter mit der am Schluß 
der vorhergehenden Nummer mitgeteilten zusammen. 

39. Bemerkungen zu der Anwendung des Prinzips der kleinsten 
Wirkung. Soll der von Helmholtz aufgestellte Variationssatz sich dem 
Prinzip der kleinsten Wirkung unterordnen, so hat man in demselben 
die Komponenten von ® als Koordinaten aufzufassen; daß dieses mit 
Helmholtz’ Meinung übereinstimmt, geht auch daraus hervor, daß er 
für t=t undt=t, dd 0 annimmt. Dieser Auffassung von D 
würde es entsprechen, D und also auch $ als Geschwindigkeiten zu 
betrachten, d.h. die in Nr.35 genannten Elektrizitätsmengen als Koordi- 
naten einzuführen. Man hätte dann auch die in der ersten Weise 
(Nr. 5) durchgeströmten Elektrizitätsmengen zu variieren und hierbei 
eine Widerstandskraft (vgl. Nr. 36) einzuführen. Indem Helmholtz 
63=0 setzt, verzichtet er auf die Ableitung der Bewegungs- 


gleichungen für einen Leiter, in welchem keine elektrische Erregung 
D bestehen könnte. 

Interpretiert man die Stromkomponenten als Geschwindigkeiten, 
so werden die &° zu äußeren Kräften und nach (57) die Kompo- 
nenten des Vektorpotentials A zu Bewegungsmomenten (Impulskom- 
ponenten)"). Da nun Helmholtz auch X zu den zu variierenden 
Größen rechnet, so entspricht der von ihm angewandte Variations- 
satz folgender eigentümlichen Fassung des Prinzips der kleinsten 
Wirkung "?). 

Es seien p die Koordinaten eines materiellen Systems, » die Ge- 
schwindigkeiten, P die äußeren Kräfte, g die Impulskomponenten, U 
die potentielle Energie und 7 die kinetische Energie, als Funktion 
der p und der q betrachtet. Dann ist bei beliebiger Variation der p 
und der g, unter der Bedingung, daß dp —=0 sei für =t, und!=t, 
und daß die P konstant gehalten werden, 


2 
s/{U+T- I(po) — Z(Pr)) at=0. 
h 
In der Tat folgen hieraus die Bewegungsgleichungen 





71) Maxwell, Treatise 2, art. 590. Haben der Strom € und das Vektor- 
potential A die angegebene Bedeutung, so erkennt man in dem Hilfssatze der 
Nr. 87 ein bekanntes Theorem der Mechanik wieder. 

72) Vgl. v. Helmholtz, Über die physikalische Bedeutung des Prinzips der 
‚kleinsten Wirkung, J. f. Math. 100 (1887), p.137 u. 213. 


134 V 13. H. A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


und 


Der ersten entspricht bei Helmholtz die Formel (67), der zweiten die 
Formel (69), sowie das für die ponderomotorischen Kräfte erhaltene 
Resultat. 

Übrigens läßt sich das Prinzip der kleinsten Wirkung auch in 
der gewöhnlichen Form 


in 
s[(T— Wat=0 
h, 
anwenden. Das hat z. B. J. Larmor getan '®), wobei er freilich für ein 
Dielektrikum nicht die Komponenten von ®, sondern diejenigen des 
„elektrischen Vektorpotentials“ &, von dem D nach der Gleichung 

D—= rot Ö 

abhängt, als Koordinaten ansieht. 

Es möge schließlich hervorgehoben werden, daß es sogar dann, 
wenn man auf eine mechanische Erklärung ganz und gar verzichten 
wollte, von Bedeutung bleiben würde, die Gesetze der Elektrodynamik 
in einer Form darzustellen, die mit den Gleichungen der Mechanik 
übereinstimmt. Diese Form eignet sich vorzüglich zur Lösung spe- 
zieller Probleme, und manche wichtige Folgerung, wie z. B. die rezi- 
proken Beziehungen zwischen Induktionsströmen und elektrodyna- 
mischer Wirkung, gewinnt ein erhöhtes Interesse, wenn sie als Ko- 
rollarium zu einem Satze der allgemeinen Mechanik erscheint "*). 

Wegen der Analogie, welche zwischen den elektromagnetischen 
Erscheinungen und den Bewegungen gewisser mechanischer Systeme 
besteht, ist es möglich, wie viele Physiker es getan haben, die Eigen- 
schaften elektromagnetischer Systeme an mechanischen Modellen zu 
erläutern "°). 


40. Die Elektrizität als inkompressibele Flüssigkeit. Maxwells 
Vorstellungen über den Mechanismus. Wenn man die in Nr.35 ge- 
nannten Elektrizitätsmengen als Koordinaten ansieht, liegt es nahe, an 
die Strömung einer Substanz, einer „Flüssigkeit“ zu denken, die 
man dann „Elektrizität“ nennen könnte Man hätte sich vorzu- 
stellen, daß diese Substanz alle Körper und auch den Äther durch- 
dringt, daß ihre Teilchen in nichtleitenden Körpern an bestimmte 


73) Larmor, Aether and matter, $ 50. 

74) Vgl. v. Helmholtz, 1. c. (Anm. 7%) 

75) Siehe z.B. @. F. Fitz Gerald, Dublin Roy. Soc. Proc. 1885, p. 407; 
O. Lodge, Modern views of electrieity, London 1889; Boltzmann, Vorlesungen 1. 


40. Inkompr. Flüssigkeit. 41. Verschiedener Charakter d. Zustandsgrößen. 135 


Gleichgewichtslagen gebunden sind, nach welchen elastische Kräfte 
sie immer wieder zurückzutreiben bestrebt sind, daß in den Leitern 
ein Reibungswiderstand zu überwinden ist, und schließlich, daß jede 
Strömung jener Substanz vermöge der im System bestehenden Zu- 
sammenhänge gewisse Bewegungen hervorruft, in welchen das Wesen 
‚eines magnetischen Feldes besteht und deren kinetische Energie die 
magnetische Energie repräsentiert. Die Bedingung dv&® —=0 läßt 
sich in diesem Gedankengange als „Inkompressibilität der Elektrizität“ 
umschreiben, wenigstens so lange man es mit ruhenden Körpern zu 
tun hat; bei bewegten Systemen wäre diese Ausdrucksweise schon 
nicht mehr zutreffend. 

In dem Bilde, welches Maxwell”) von dem Mechanismus der 
Erscheinungen entworfen hat, enthält das Feld ein System unzähliger 
kleiner drehbarer Körperchen und zwischen diesen ein zweites System 
von Teilchen, die etwa nach Art von Friktionsrädern mit den ersten 
Teilchen gekoppelt sind. In einem magnetischen Felde bestehen 
Rotationen des ersten Systems. Das zweite vermittelt die Über- 
tragung dieser Bewegung von einem Ort zum andern und übernimmt 
außerdem die Rolle der oben besprochenen inkompressibeln Flüssig- 
keit, indem eine Translation der Friktionsräder von einer Rotation 
der sich nicht verschiebenden Teilchen des ersten Systems begleitet 
ist. Allerdings stößt man bei weiterer Verfolgung dieser Ideen, wie 
überhaupt bei der Ausbildung einer mechanischen Theorie auf recht 
große Schwierigkeiten. 


41. Verschiedener Charakter der elektrischen und der mag- 
netischen Zustandsgrößen. Man kann sich zu jedem geometrischen 
oder materiellen System & das Spiegelbild &’ in Bezug auf eine 
feste Ebene denken, wobei im Falle eines materiellen Systems durch 
nähere Angaben festzusetzen ist, in welcher Weise & und &” einander 
entsprechen sollen; das geometrische Bild eines Vektors Q möge 
mit (Q) angedeutet werden. Es lassen sich nun alle Vektoren in 
2 in zwei Klassen teilen, je nachdem die Bedeutung, welche der 
Vektor DO in & hat, in dem Spiegelbilde dem Vektor (Q) oder dem 
Vektor — (DO) zukommt. Aus der Form der Hauptgleichungen erhellt, 
daß die Vektoren &, D, C, & einerseits und die Vektoren 9, B 
andererseits immer zu verschiedenen Klassen gehören. Dieser Unter- 
schied, der von verschiedenen Seiten betont worden ist”), zeigt sich 


76) Maxwell, On physical lines of force, Phil. Mag. (4) 21 (1861), p. 161, 
281, 338. 

77) Siehe z.B. E. Wiechert, Über die Grundlagen der Elektrodynamik, Ann, 
Phys. Chem. 59 (1896), p. 283, und den Artikel der Encykl. IV 14 von M. Abraham. 


136 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


auch darin, daß in allen mechanischen Erklärungen entweder die 
Vektoren der ersten Gruppe translatorischen und die der zweiten 
Gruppe rotatorischen Charakter haben, oder umgekehrt. 


42. Anschluß an die Theorie elastischer Medien. a) In einem 
den Raum kontinuierlich erfüllenden Medium, das nicht isotrop und 
auch nicht homogen zu sein braucht, mögen Bewegungen stattfinden, 
bei welchen sich die Teilchen unendlich wenig von ihren Gleich- 
gewichtslagen entfernen. Ist q die Verschiebung aus der Gleichge- 
wichtslage, so ist die Drehung eines Volumenelements 


(70) w—=4rotg 
und die Winkelgeschwindigkeit desselben 
(71) = }roti. 


Es soll angenommen werden, daß die Drehung ıt aus irgend welcher 
Ursache ein zurücktreibendes Kräftepaar zur Folge hat, dessen Moment 
der Größe des Volumenelements proportional ist und das sich für die 
Volumeneinheit durch 
(72) N= — (k)u 
darstellen läßt, wo Ay=Ägı, '"'. Den Komponenten der inneren 
Spannungen schreiben wir die hiermit verträglichen Werte 


X,=0, Ze +4NR, .-, = — N, 
zu. Letztere sind so gewählt, daß, wie notwendig ist, die aus den 
tangentiellen Spannungen herrührenden Drehungsmomente dem Mo- 


mente W das Gleichgewicht halten. Die potentielle Energie pro Vo- 
lumeneinheit beträgt 


Wwetrlku tr + 2, +...) 
Was die kinetische Energie pro Volumeneinheit betrifft, so soll 
dafür nicht einfach der Wert 


(73) mtr +) 
( Dichte) angenommen werden, sondern vielmehr der Ausdruck 
(74) W,= (9. + 2 + 244,4, +) 


(g=lı,'), 
zu welchem man mittels gewisser freilich nicht sehr einfacher An- 


nahmen über die Konstitution des Mediums gelangen könnte. Diesem 
letzten Ausdrucke entspricht die Formel 


(75) = Wmä 
für die pro Volumeneinheit bestehende Bewegungsgröße, und die Be- 
wegungsgleichung 





42. Anschluß an die Theorie elastischer Medien. 137 


(76) +rN=6, 


deren linke Seite sich aus den Werten der Spannungskomponenten 
ergibt. 

Ein Medium mit diesen Eigenschaften hat zuerst Mac Oullagh ") 
ersonnen, um dadurch die optischen Eigenschaften der Kristalle zu 
erklären. Später hat auch Kelvin”) ein solches betrachtet; er nennt 
es einen „quasi-rigiden“ Äther. Beide Forscher haben übrigens statt 
(74) die Gleichung (73) benutzt. Kelvin®®) hat auch gezeigt, wie die 
in der Gleichung (72) ausgesprochene Eigenschaft eine Folge ver- 
borgener rotierender Bewegungen sein könne und wie sich ein gyro- 
skopisches Modell für den quasi-rigiden Äther konstruieren lasse. 

b) Die Gestalt der vorstehenden Gleichungen führt auf eine mecha- 
nische Deutung der elektrodynamischen Gleichungen für ruhende 
nichtleitende Körper, und zwar läßt sich diese auf zweierlei Weise 
erreichen. | 

Man kann zunächst annehmen, daß die Drehung u des Mediums sich 
bei unseren Beobachtungen in derjenigen Zustandsänderung offenbart, 
die man als elektrische Erregung bezeichnet, und daß die Geschwindig- 
keit 4 von uns als magnetische Kraft wahrgenommen wird, während 
den Vektoren — N und g die elektrische Kraft und die magnetische 
Erregung entsprechen. Setzt man 


(77) u=nd, 
mit einem von &, y, z unabhängigen n, so kann man die Verhältnis- 
zahlen zwischen — W und &, d und $, g und ® leicht so bestimmen, 
daß die Gleichungen (71), (76), (72) und (75) in (T), (IV), (II) und 
(V”) übergehen und daß zu gleicher Zeit 

W=W, W=Wn 


wird. Es muß dann für alle Indices ,k — 1, 2,3 





&) Bi 
i ee = int 
sein. 
Man kann aber auch — 4 als elektrische Kraft, — g als elek- 
trische Erregung, u als magnetische Erregung und — N als magne- 


tische Kraft interpretieren. Z. B. setze man 
(78) wu, 


78) J. Mac Cullagh, An essay towards a dynamical theory of crystalline 
reflexion and refraction (1839), Irish. Acad. Trans. 21(1848), p.17. Coll.works, p. 145. 

79) W. Thomson, Mathematical and physical papers, London 1890, 3, Art. 99, 
p- 442. 

80) On a gyrostatic adynamic constitution for ether, a. a. ©. Art. 100, p. 466. 


138 V 13. H._A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


wo wieder v an allen Stellen denselben Wert haben muß, und richte 
es so ein, daß 


rar ar FE 


v 

Jetzt entsprechen den Formeln (1”), (I’, (IT) und (IV’) die Glei- 
chungen (76), (71), (75) und (72), und es ist 

W=Wn; W,=W,. 
Auf die Notwendigkeit eines konstanten n oder v ist speziell dann 
Gewicht zu legen, wenn man auch die Erscheinungen, welche nach den 
elektromagnetischen Gleichungen in nicht homogenen Körpern — und 
also auch an Grenzflächen — stattfinden können, wie die Reflexion 
des Lichtes, aus der Theorie des quasi-rigiden Äthers ableiten will. 

c) Die erste Auffassung führt dazu, für alle Körper, für welche 
B—= 9 gesetzt werden darf, gleiche Dichte ! des Athers anzunehmen 
(Annahme von F. E. Neumann und Mac Cullagh) und den Unterschied 
der Dielektrizitätskonstanten und der Brechungsexponenten in den ver- 
schiedenen Werten der in (72) auftretenden Elastizitätskonstanten % 
zu erblicken. Auf diesem Wege kehrt man, was die anisotropen Nicht- 
leiter betrifft, zu der Theorie von Mac Oullagh zurück. 

Die andere Auffassung dagegen erfordert für alle die genannten 
Körper denselben Wert des einen Elastizitätskoeffizienten k und schreibt 
den Unterschied der Dielektrizitätskonstanten und des Brechungsexpo- 
nenten einer verschiedenen Dichte 7 des Äthers zu (Annahme von 
Fresnel). 

d) Kelvin?!) hat (zweite Auffassung) gezeigt, wie man die mag- 
netische Erregung als in einer Rotation der Volumenelemente be- 
stehend betrachten kann. 

e) Spätere Forscher haben vielfach an diese Ideen angeknüpft 
oder dieselben neu entwickelt und dabei auch die Leitungsströme und 
die elektromotorischen Kräfte in das Bild aufzunehmen versucht. Zu 
bemerken ist dabei, daß, sobald die als Geschwindigkeit gedeutete 
Größe längere Zeit in derselben Richtung bestehen bleibt, die Ver- 
schiebungen q nicht unendlich klein bleiben können und die Theorie 
in entsprechender Weise zu modifizieren ist. Hier kann nicht über 
alle einschlägigen Arbeiten berichtet werden. Es mögen daher bloß 
die Bilder erwähnt werden, die Sommerfeld ®?), Reif ®°), Larmor ®) und 


81) W. Thomson, Mathematical and physical papers 3, art. 99, p. 450. 

82) A. Sommerfeld, Mechanische Darstellung der elektromagnetischen Er- 
scheinungen in ruhenden Körpern, Ann. Phys. Chem. 46 (1892), p. 139. 

83) R. Reiff, Elastizität und Elektrizität, Freiburg i. Br. und Leipzig 1893. 

84) Larmor, A dynamical theory of the electric and luminiferous medium, 


42. Anschluß an die Theorie elastischer Medien. 139 


Boltzmann ®) von den Vorgängen im elektromagnetischen Felde ent- 
worfen haben, sowie die Betrachtungen von Voigt°®), die mit dem 
oben entwickelten viele Berührungspunkte haben. Die drei zuerst ge- 
nannten Autoren schlagen mit größeren oder kleineren Abweichungen 
den ersten der zwei oben angegebenen Wege ein; .Doltzmann dagegen 
hat den zweiten gewählt ®”). 

Es bleiben immerhin große Schwierigkeiten bestehen, die sich 
schon in dem einfachen Falle einer geladenen Kugel zeigen. Nach 
der zweiten Auffassung würde in der Umgebung einer solchen eine 
fortdauernde radial gerichtete Strömung bestehen. Die Annahme (77) 
dagegen ist zu verwerfen, wenn man daran festhalten will, daß D an 
allen Stellen einer mit dem Leiter konzentrischen Kugelfläche von 
dem Mittelpunkte fort oder auf denselben zu gerichtet ist. Es kann 
dann nicht für diese Kugelfläche ei D,do = 0 sein, wie aus (77) und 
(70) folgen ®°) würde. 

f) Man hat auch versucht, den Gleichungen für ein elastisches 
Medium die Gestalt der elektromagnetischen Gleichungen zu geben, 
ohne zu der eigentümlichen Art der Elastizität, die Mac Oullagh an- 
nahm, seine Zuflucht zu nehmen. Für einen gewöhnlichen homogenen 
und isotropen Körper mit der Dichte oe und den Kirchhoff’schen 
Elastizitätskoeffizienten X und # lauten die Bewegungsgleichungen 


(79) oe —K[A0, + (1 +29) 2 (div o)],u.s.w. 


Auf der rechten Seite derselben treten nun wieder die Komponenten 
der Rotation eines gewissen Vektors auf, wenn man mit Cauchy ?°) setzt 





(80) = —l. 
Es läßt sich dann nämlich für die Bewegungsgleichungen schreiben 
(81) oü= — Krot-rotq, 


London Trans. A185 (1894), p. 719; 186 (1895), p. 695; 190 (1897), p. 205; Aether 
and matter, Appendix E, p. 323. 

85) Boltzmann, Über ein Medium, dessen mechanische Eigenschaften auf 
die von Maxwell für den Elektromagnetismus aufgestellten Gleichungen führen, 
Ann. Phys. Chem. 48 (1893), p. 78. 

86) W. Voigt, Über Medien ohne innere Kräfte und über eine durch sie 
gelieferte mechanische Deutung der Maxwell- Hertz’schen Gleichungen, Ann. 
Phys. Chem. 52 (1894), p. 665. 

87) Vgl. indes die allgemeiner gehaltene Darstellung dieses Physikers 
in „Vorlesungen u. s. w.“, 2, p. 1—7. 

88) Vgl. Boltzmann, Ann. Phys. Chem. 48 (1893), p. 96; Reiff, Elastizität 
und Elektrizität, p. IX; Larmor, Aether and matter, Appendix E. 

89) A. Cauchy, Par. C. R. 9 (1839), p. 637 (vgl. insbesondere den Schluß 
dieser Note, p. 649), p. 676, 726, 727, 764; Öeuvres (1) 5, p. 23. 


140 V 13. H.A.Lorente. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


deren Analogie mit den Grundgleichungen der Elektrodynamik in die 
Augen fällt. Indes ist diese Analogie auf homogene Körper beschränkt. 

Die Annahme des Wertes (80) für $ wurde von Green”) zurück- 
gewiesen, weil die entsprechende Konstitution des Äthers labil wäre. 
Später hat Kelvin?!) dieselbe wieder aufgenommen und zur Vor- 
stellung eines sogenannten „quasi-labilen Äthers“ ausgebildet. 

Es möge hier noch kurz die mechanische Darstellung, die Graetz ”?) 
von den elektromagnetischen Erscheinungen zu geben versucht hat, 
erwähnt werden. Dieser Physiker läßt für den freien Ather die 
Form (79) der Bewegungsgleichungen bestehen, gelangt aber für den 
in ponderablen Körpern enthaltenen Äther zu der Form (81), indem 
er annimmt, daß die ponderabele Materie auf den Äther eine Kraft 
ausübt, die pro Volumeneinheit des Äthers 


— 2K(1-+ 9) grad (div q) 


beträgt und deren Komponenten man zu den rechten Seiten der Glei- 
chungen (79) zu addieren hat. 


43. Thermodynamische Behandlung. Die im vorhergehenden 
besprochenen mechanischen Erklärungen lassen die Beziehungen der 
elektrischen und magnetischen Erscheinungen zur Wärme und alles, 
was mit Molekularbewegungen zusammenhängt, unberücksichtigt; mit 
denselben kann daher, wenigstens was die greifbaren Körper betrifft, 
nie das letzte Wort gesagt sein. Weiter wird man vordringen können, 
wenn man sich, wie das in einigen Kapiteln der Elektrizitätslehre schon 
geschehen ist (thermoelektrische Ströme, Peltier- und Thomson-Effekt, 
elektrochemische Erscheinungen), der Begriffe und Methoden der 
Thermodynamik bedient. Man kann z. B. der thermodynamischen 
Theorie der Elastizität eine ähnliche Behandlung der elektrischen und 
magnetischen Erregung und der elektromagnetischen Spannungen in 
den ponderabelen Körpern an die Seite stellen. 

Den thermodynamischen Standpunkt hat insbesondere P. Duhem °°) 


90) @. Green, On the laws of reflexion and refraction of light, Cambr. 
Trans. 6 (1838), p. 403; Math. Papers, London 1871, p. 243. 

91) W. Thomson, On the reflexion and refraction of light, Phil. Mag. (5) 
26 (1888), p. 414 u. 500; Boltzmann, Ann. Phys. Chem. 48 (1893), p. 84 u. 85. 

92) L. Graetz, Über eine mechanische Darstellung der elektrischen und 
magnetischen Erscheinungen in ruhenden Körpern, Ann. Phys. (4) 5 (1901), p. 375. 

93) Duhem, Legons sur l’Electrieit6 et le Magndtisme, 2 vol., Paris 1891— 
1892; Theorie nouvelle de l’aimantation par influence, fondee sur la Thermo- 
dynamique, Paris 1888; Sur les pressions dans les milieux dielectriques ou 
magnetiques, Amer. J. of Math. 12 (1895), p. 117. 


48. Thermodynam. Behandlung. 44. Fernwirkungstheorie von Helmholtz. 141 


vertreten. Die Arbeiten dieses Forschers entfernen sich jedoch zu 
weit von dem Hauptgegenstande dieses Artikels, als daß über dieselben 
hier berichtet werden könnte. 


VI. Vergleichung von Fern- und Feldwirkungstheorien. 


44. Fernwirkungstheorie von Helmholtz. Obgleich bei dem 
jetzigen Stande unserer Kenntnisse von einer Theorie, welche die Er- 
scheinungen in nichtleitenden Körpern, speziell im Äther, ignorieren 
würde, nicht mehr die Rede sein kann, so sind doch Fernwirkungs- 
theorien in einem anderen Sinne des Wortes keineswegs ausgeschlossen. 
Man kann sich vorstellen, daß der an irgend einer Stelle des Raumes, 
sei es im Äther oder in der ponderablen Materie, bestehende Zustand 
einen unmittelbaren Einfluß an entfernten Stellen ausübt. Die Ge- 
setze einer solchen Wirkung könnten sich in Differentialgleichungen 
ausdrücken lassen; nur müßten diese die Eigenschaft haben, die z. B 
der bekannten Poisson’schen Gleichung zukommt, daß der Wert 9, 
den die von einer solchen Gleichung bestimmte Größe in einem 
Punkte P annimmt, sich durch ein Integral 


Seras 


darstellen läßt, in dem «& der gleichzeitige Wert irgend einer Zustands- 
größe im Element dS bedeutet und f nur von der gegenseitigen Lage 
von dS und P abhängt. 

Zu den Gleichungen, welche in dieser Weise einen Teil der elek- 
trischen Vorgänge als „Fernwirkungen“ mathematisch beschreiben, 
werden sich immer noch andere von derselben Art wie die Beziehungen 
(IH), (IV), (V) und (VI) gesellen. 

Es möge hier genügen, die Gleichungen, zu welchen Helm- 
holtz in seiner Fernwirkungstheorie gelangt ist), zusammenzustellen 
und zwar in einer Schreibweise, die sich der bis jetzt angewandten 
möglichst anschließt. Für ruhende isotrope Körper lauten dieselben”) 


(82) = —div, 
(83) C-Y+®, 


94) v. Helmholtz, Über die Bewegungsgleichungen der Elektrizität für 
ruhende leitende Körper, J. f. Math. 72 (1870), p. 57; Die elektrodynamischen 
Kräfte in bewegten Leitern, ibid. 78 (1874), p. 273. 

95) Die Striche sollen dazu dienen, die verschiedenen Größen von den ana- 
logen in den früheren Nummern vorkommenden zu unterscheiden. Es entsprechen 
also e° und 0’ den früheren Koeffizienten e und o, nicht den früheren e und 0’. 


142 Vı3. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


(84) ere, Year, MW=9$, 





Apy=dv®P’— ge), 
KESSEE 0° 1) 2 

(85) AU, == (1 u u.S8. W. 

Ay=dvW, 

AG, = M,, usw. 
(86) | $=—grady+ 4A rot A, 
E—= — gradp — AU + Arot ®. 
Die Gleichungen (82) und (84) sagen aus, wie der Leitungs- 


Ar 


strom 3 eine Anderung der Dichte 0’ der elektrischen Ladung be- 
wirkt und welcher Zusammenhang zwischen der elektrischen Kraft € 
und der magnetischen Kraft 5 einerseits, dem Strome %’, der 
elektrischen Polarisation ®’ und der Magnetisierung M’ andererseits 
besteht. Dagegen sind (85) und (86) die Fernwirkungsgleichungen; 
$ und € erscheinen hier von den skalaren Potentialen y und p und 
den Vektorpotentialen W und © abhängig. 

Die Gleichungen enthalten zwei universelle Konstanten, deren 
eine k unbestimmt gelassen wird, während die andere mit dem aus 
A 
A 
zur elektrostatischen Elektrizitätseinheit nach der Formel 

A = 
VA+2)(d+6) 
zusammenhängt; in diesen sind &, und 6, die Werte von &’ und 6 für 
den freien Äther. Abgeleitete Gleichungen sind 


den Beobachtungen abgeleiteten Verhältnis — der elektromagnetischen 








rt = — Ad, vd —0, 
wo 
—-HHM, 
und 
(87) rt = — Agradp + AEG, 
(88) div®’—Ap, 
(89) A div © — 4?k div © — Adiv €”. 


Aus dieser Theorie ergibt sich, daß sich in einem Dielektrikum nicht 
nur transversale elektrische Schwingungen mit der Geschwindigkeit 


1 TEE )AHB, 
(90) 5 V EN), 
sondern auch longitudinale mit der Geschwindigkeit 


ı 1/AFNa+e)aH06) 
=V ek 








45. Verhältnis zwischen den Feldwirkungs- und den Fernwirkungstheorien. 143 


fortpflanzen können. Aus letzterem Werte erhellt, daß % positiv sein 
muß; sonst wäre das Gleichgewicht der Elektrizität labil. 
Innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler stimmt die Licht- 


geschwindigkeit im freien Äther mit 4 überein. Es muß daher, wie 


aus (90) hervorgeht, &, und also auch für jeden ponderablen Körper & 
einen sehr hohen Wert haben. Läßt man &,, 4 e und o’ alle in 


demselben Verhältnis ins Unendliche wachsen, so folgt aus (89) 
div&’—=0 und aus (88) 9=0. Es verschwindet in (87) das erste 
Glied rechts und das Gleichungssystem nimmt nach Einführung 
einiger neuer Variabeln und Koeffizienten gänzlich die Hertz’sche 
Form an. 

Sollte sich je die Notwendigkeit zeigen, den Grundsatz von der 
solenoidalen Verteilung des Stromes fallen zu lassen, so könnten 
weitere Entwicklungen an die Helmholtz’sche Theorie mit einem end- 
lichen &, anknüpfen. 


45. Verhältnis zwischen den Feldwirkungs- und den Fern- 
wirkungstheorien. Es lassen sich nicht bloß Fernwirkungstheorien 
aufstellen, die, wie die Helmholtz’sche, die Theorie von Maxwell als 
einen Grenzfall in sich schließen, sondern auch solche, die, mathe- 
matisch gesprochen, völlig mit dieser Theorie übereinstimmen ”*), und 
zwar gilt das ganz allgemein, auch für bewegte Körper. Man kann 
nämlich, wenn man nach Nr. 15 die Magnetisierung M einführt, die 
Gleichung (I) und die Gleichung div dB = 0 ersetzen durch 
(91) H = rot U” — grad, 
wo das Vektorpotential A” bestimmt wird durch 
(92) AU—— LE, 
und das skalare Potential durch 
(93) Ay = div WM. 


Andererseits erhält man, wenn man ein elektrisches Vektorpotential ©’ 
und ein elektrisches skalares Potential $ mittelst der Gleichungen 


(94) "= 8 

und 

(95) Apy—= — dvd + div® 
einführt, 

(96) E = rot &” — grad p. 


96) Vgl. Boltzmann, Vorlesungen u. s. w., 2, 8$ 25 u. 27. 


144 V 13. H.A. Lorentz. Maxwells elektromagnetische Theorie. 


Diesen Formeln sind dann noch die Beziehungen (III), (IV) und (V), 
sowie 

(97) div(I+D)=0 

hinzuzufügen. 

Wie man sieht, haben die Formeln (91) bis (96) die von einer 
Fernwirkungstheorie geforderte Gestalt. Die Gleichung (97) gehört 
in dieselbe Kategorie wie (82) in der Helmholtz’schen Theorie Man 
könnte etwa div® und —div ‘PB als Dichtigkeiten g und og’ gewisser 
„elektrischer Mengen“ auffassen und hätte sodann 


Ap=—(e+e)), 
während die erste Dichte o sich infolge eines Leitungsstromes nach 
der mit (97) gleichbedeutenden Gleichung 


d 
[sa feas 
ändern würde. 


Die vorhergehenden Betrachtungen führen zu dem Schluß, daß 
sich, mathematisch gesprochen, eine scharfe Grenze zwischen der Feld- 
wirkungs- und der Fernwirkungstheorie nicht ziehen läßt. Man kann 
eben mit demselben Gleichungssystem zweierlei Vorstellungen ver- 
binden. Freilich wird niemand bestreiten, daß der Vorzug der Ein- 
fachheit und der größeren Anschaulichkeit und Verständlichkeit in 
physikalischer Hinsicht auf Seiten der Maxwell’schen Theorie liegt. 


(Abgeschlossen im Juni 1903.) 


V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 145 


V14. WEITERBILDUNG DER MAXWELLSCHEN 


9. 
10. 


THEORIE. ELEKTRONENTHEORIE. 


Von 
H. A. LORENTZ 
IN LEIDEN. 
Inhaltsübersicht. 
I. Grundlagen der Elektronentheorie. 
Allgemeines. 
Grundgleichungen für den Äther. 


Die auf die geladene Materie wirkende Kraft. 

Einführung von Potentialen. 

Integration der Potentialgleichungen. 

Energie. Poynting’scher Satz. 

Allgemeine Betrachtung der auf geladene Materie wirkenden Kräfte. Elektro- 
magnetischer Impuls. 

Ableitung der Grundgleichungen aus den Prinzipien der Mechanik. , 
Allgemeine den Grundgleichungen äquivalente Sätze. 

Die Hauptgleichungen für ein bewegliches Koordinatensystem. 


IH. Bestimmung des elektromagnetischen Feldes bei gegebener Lage 


11. 
12. 


13. 
14. 
15. 
16. 
17. 
18. 
19. 


20. 


21. 


und Bewegung der Elektronen. 
Elektrostatisches Feld. 
Zustand des Feldes, wenn die erregende Ladung in einem unendlich kleinen 
Raum liegt. 
Ein elektrisch polarisiertes Teilchen. 
Eine einfache Lichtquelle. 
Ein magnetisiertes Teilchen. 
Rotierende geladene Kugeln. 
Das von einem Elektron mit beliebiger Bewegung erregte Feld. 
Ausstrahlung von Energie. 
Entstehung von Röntgenstrahlen. 


Ill. Freie Elektronen. Bestimmung der Bewegung bei gegebenem 
äußeren Felde. 
Rückwirkung des Äthers auf ein langsam bewegtes Elektron von beliebiger 
Gestalt. Widerstand gegen die Bewegung. 
Elektromagnetische Masse der Elektronen. 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 10 


146 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


22. Quasi-stationäre Bewegungen im allgemeinen. Rückwirkung des Äthers auf 
ein rotierendes Elektron. 

23. Wirkung eines äußeren Feldes. 

24. Bewegung eines Elektrons in einem gegebenen Felde. 

25. Wechselwirkung zweier Elektronen. 


IV. Elektromagnetische Vorgänge in ponderablen Körpern. 


26. Die Elektronen in den ponderablen Körpern. 

27. Mittelwerte. 

28. Hilfssätze für die Berechnung der Mittelwerte. 

29. Mittelwerte, die von den Leitungselektronen herrühren. 

30. Mittelwerte, die von den Polarisationselektronen herrühren. 

31. Mittelwerte, die von den Magnetisierungselektronen herrühren. 

32. Die verschiedenen Teile des elektrischen Stroms. 

33. Die Grundgleichungen für die Mittelwerte. 

34. Versuche von Eichenwald. 

35. Das elektromagnetische Feld im Inneren verschieden gestalteter Höhlungen. 

36. Die auf die Elektronen und die Teilchen wirkenden Kräfte. 

37. Leitfähigkeit. 

38. Elektrizitätsbewegung in Elektrolyten. 

39. Gasionen. 

40. Elektrizitätsbewegung in Metallen. 

41. Halleffekt und verwandte Erscheinungen. 

42. Induktion in bewegten Leitern. 

43. Polarisierte Dielektrika. 

44. Statische Zustände in einem ruhenden System von Leitern und isotropen 
Nichtleitern. 

45. Induktion in einem bewegten Dielektrikum. 

46. Deformation eines Dielektrikums. 

47. Abhängigkeit der Dielektrizitätskonstante und des Brechungsexponenten von 
Dichte und Zusammensetzung der Körper. 

48. Elektronentheorie der Magnetisierung. 

49. Elektrische Ströme in magnetisierten Leitern. 

50. Allgemeine Betrachtungen betreffend die Beziehungen zwischen den Zu- 
standsgrößen. 

51. Energie und Energiefluß in ruhenden Körpern. 

52. Andere Bestimmung der Energie und des Energieflusses. 

53. Fiktive Spannungskomponenten in ruhenden unmagnetisierten Nichtleitern. 

54. Energie und Energiefluß in bewegten Nichtleitern. Verifizierung der Re- 
sultate. 

55. Bemerkungen zu den ponderomötorischen Kräften. 


V. Nähere Betrachtung bewegter Systeme. 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen. 

57. Einfluß einer Translation auf optische Erscheinungen in durchsichtigen 
Körpern. 

58. Aberration des Lichtes. 

59. Versuche mit irdischen Lichtquellen. 

60. Mitführung der Lichtwellen durch die ponderabele Materie. 





Literatur. Bezeichnungen. Zusammenstellung d. wichtigsten Gleichungen. 147 


61. Andere Ableitung des zur Erklärung der Aberration führenden Satzes. 
62. Der Michelson’sche Interferenzversuch. 
63. Theorie von Cohn. 
VI. Schluß. 
64. Gegenwärtiger Stand der Theorie. 
65. Anwendung der Begriffe der Elektronentheorie auf andere Gebiete. 





Literatur. 


(Vgl. den vorhergehenden Artikel. Die abgekürzten Citate in den Anmerkungen 
verweisen auf die dort genauer angeführten Werke.) 





Bezeichnungen. 


Radiusvektor r; unendlich kleine Verrückung q; Geschwindigkeit relativ zum 
Äther v; Geschwindigkeit der Materie oder des Koordinatensystems w; Geschwin- 
digkeit relativ zur Materie oder zum Koordinatensystem u; Winkelgeschwindig- 
keit g; Beschleunigung j; Lichtgeschwindigkeit im Äther e. 

Allgemeine Zeit t; Ortszeit #’. 

Masse m; Kraft %; Kräftepaar N; elektrische (potentielle) Energie U; 
magnetische (kinetische) Energie T; Lagrange'sche Funktion L; Impuls (Be- 
wegungsgröße) ©. 

Elektrische Ladung e; elektrische Raumdichte g; elektrische Flächendichte o; 
elektrisches Moment eines Teilchens p; magnetisches Moment eines Teilchens m; 
Anzahl der Teilchen pro Volumeneinheit N. 

Für den Äther: Elektrische Erregung d; magnetische Kraft h; skalares 
Potential 9; Vektorpotential a; mit diesen verwandte Größen in den auf be- 
wegliche Achsen bezogenen Gleichungen dv’, h, 9, a’; elektrischer Strom c; 
elektrische Kraft f; elektrische Energie pro Volumeneinheit w,; magnetische 
Energie pro Volumeneinheit w,,; Energiefluß 3. 

Für ponderabele Körper (Mittelwerte): Elektrische Kraft € (für bewegte 
Teilchen €’); elektrische Polarisation ®; elektrische Erregung ®; Gesamtstrom €; 
Leitungsstrom $; Verschiebungsstrom ®; Konvektionsstrom &; Röntgenstrom R; 
magnetische Kraft 9; ein hiermit verwandter Vektor für bewegte Systeme $; 
Magnetisierung M; magnetische Erregung B; skalares Potential ®; Vektor- 
potential A; elektromotorische Kraft &*!, €”; elektrische Energie pro Volumen- 
einheit W,; magnetische Energie pro Volumeneinheit W,„; Joule’sche Wärme 
pro Volumen- und Zeiteinheit @; Energiefluß ©. 

Spannungskomponenten X, X,, U. 8. w.; Spannung an einer beliebigen 
Fläche (mit der Normale n) T”. 

Dielektrizitätskonstante e; Konstante der elektrischen Polarisation n; Leit- 
fähigkeit 6; magnetische Permeabilität u. 


Zusammenstellung der mit römischen Ziffern 
bezeichneten wichtigsten Gleichungen. 
Grundgleichungen: 
(D) dvd —=0 (für den freien Äther), 
(la) divd=o (für das Innere eines Elektrons), 
10* 


148 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


(I) 2 + div) —0, 
A) 19 -—-c—= (+ g0), 


4 . 
(VW) etdi=-— —b, 
(V) dvd=0, 
1 

u ter ind 

Differentialgleichungen für die Potentiale: 
2. 7 

(VD) Ap—76=—o, (VID) A zZä=— Ion. 
Bestimmung des Feldes aus den Potentialen: 


R)d=-— ta gradg, A) herota. 


Werte der Potentiale: 
1 3 $: 1 
Do L/Ireas, am at; / + Ievjas 


Elektrische Energie pro Volumeneinheit: 
(XI) w,— 48%. 
Magnetische Energie pro Volumeneinheit: 
(XIV) w. = 49%. 
KV) 8=efb- hl. 
Fiktive Spannungskomponenten im Ather: 
(XVI) X, = 4[20,d,— d? cos (n, z)] + 4[25,5, — h? cos (n, x)], u. s. w. 


Elektromagnetische Bewegungsgröße: 


XV) = [848. 


Energiefluß: 


Definition der Ortszeit: 
4 1 [4 4 
(XVII) ?—t— 4 (m,a’ + w,y + w,e) 
(«', y', 2 Koordinaten in Bezug auf bewegliche Achsen). 
Definition der Vektoren d’ und fi: 
AR) v-5+— [mh], 


 Grundformeln für bewegte Systeme, Gleichungen für die Potentiale, und 
zur Bestimmung des Feldes mittels der Potentiale: 


1) dv = (1-7) e, 
AT) rt =. ten), 


X) $—-h— mb]. 





Zusammenstellung der mit römischen Ziffern bezeichneten Gleichungen. 149 


AV) tt -——-h, 
(v) divy=0, 
# [4 .s F f; 1 ..r 1 
I) A390 (VI) Ar zi=— zen, 
KX)d = _. a — gradp’+ — grad w-d), KY=roa, 


m g-Lftınas, am) da, / +teulas. 


Definition des elektrischen und des magnetischen Moments eines Teilchens: 
1 
(XXI) Seras 50 RR fh [r-u]das= m. 


Gleichungen für ponderabele Körper. 
Konvektionsstrom: 
(XXIII) 8 = gWw (e beobachtbare Dichte der Ladung). 
Leitungsstrom: 
(XXIV) 3=ou, (XXIVa) I Neu+ N’ewW-+N”e’w’+u.s.w. 
Elektrische Erregung und Verschiebungsstrom: 
(XXV) 8=d+8, (XXVD) 3=P. 


Röntgenstrom: 


(XXVI) R= rot [B- w]. 
Gesamtstrom: 
XV) E=-BSH+ILFRHR. 


Definition der magnetischen Erregung und der magnetischen Kraft: 
(XXIX) HB, (XXX) H-M-B-M-9, (XXX) H-—m-E]=9. 
Definition der elektrischen Kraft: 
AXXDd-E, KXME+-M-B=E,, (KXXFa) y—E. 
Potentiale: 
XXX) 5=®, 3-1. 
Grundgleichungen für die Mittelwerte: 
(N) divdD=e, 
N) dve=0, 


(MN) rt5-+C, (Ma) t$= (849), 
7 u: 7 ‚ EN, 
((V) e=— —B, Va)ntd=-— 8, 
(N) div®=0, 

VUN) A936 =-—o+div®, 


150 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


(VII) AU-3ÄI=- —-S+tow+B + ro[P-w]+ crot M), 
(IX) E&=— -U—grad®, (X) Bro. 


Zusammenhang zwischen Leitungsstrom und elektrischer, bez. elektromoto- 
rischer Kraft: 


(XXXII) 3=6s€, (XXXIT) I=(6)€, (XXXII”) I=(o)(E+E) 
Leitungsstrom in einem bewegten Körper: 


(XXXII”) 3 = (€. 


Zusammenhang zwischen elektrischer Polarisation, bez. elektrischer Er- 
regung, und elektrischer Kraft in isotropen und anisotropen Körpern: 


(XXXIV) B=nC, AXXIV) BP (ME, 
(XXXV) D=:€, (XXXV) D= (JE. 
Elektrische Polarisation bei Anwesenheit einer elektromotorischen Kraft: 
RRXXIV) BP=nlE+ Er), KRXVN) B-n)(E+ E). 
Elektrische Polarisation in einem bewegten unmagnetisierten Nichtleiter: 


(XXXIV”) B= (mE 


Zusammenhang zwischen magnetischer Erregung und magnetischer Kraft 
in isotropen und anisotropen Körpern: 


(XXXVI)) B=u9, (KXXV) B=(n)$. 
Energiefluß, Joule'sche Wärme, elektrische und magnetische Energie in 
ruhenden Körpern: 
(XXXVO) S=ecl[€E-$], 
(RIXVH) 9 e (I:D; 
(KXXIK) WIE HH MB-P— LED) + 4(E-P), 


oder 


(XXXIX’) W, SER $ & + w.; Wi; ee 3 () P : RB), 
XL) W,—=4(9:2). 
Elektromagnetischer Impuls in einem ruhenden Dielektrikum: 
XL) &—= ı le dS. 


Fiktive Spannungskomponenten in ruhenden unmagnetisierbaren Nicht- 
leitern, bei Abwesenheit elektromotorischer Kräfte: 


RL) %,—4(E,9,—- ED, —-E&0)+408.-9’— 9) 


oW,, 
(XLIN) $ (X, + I er +(8&,2, + €,2,) 9.9, zu Be jE m. 3. W. 





1. Allgemeines, 151 


Elektrische und magnetische Energie, Energiefluß relativ zur Materie, in 
bewegten unmagnetisierbaren Nichtleitern, bei Abwesenheit elektromotorischer 
Kräfte: : 

RRXIX”) WIE +LE.PW-IEHLPP, KL) W=39, 


(XLIV) S,=clE:-H],—- @&"- mw). 


I. Grundlagen der Elektronentheorie. 


1. Allgemeines. Die Theorie, mit der sich dieser Artikel zu 
befassen hat, ist aus dem Bedürfnis entstanden, von den elektromag- 
netischen Vorgängen in ponderablen Körpern ein klareres und de- 
taillierteres Bild zu entwerfen als es die Maxwell- Hertz’sche Theorie 
zu liefern vermag. Sie sucht dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß 
sie erstens die Existenz des Äthers auch im Innern der ponderablen 
Körper voraussetzt, und zweitens die Anschauungen der Molekular- 
theorie, die sich auf anderen Gebieten als so fruchtbar erwiesen haben, 
verwertet. Für die erste Annahme findet sie in vielen optischen Er- 
scheinungen schwer ins Gewicht fallende, in einigen derselben geradezu 
zwingende Gründe. Das Band aber zwischen der Materie!) und dem 
Äther sucht sie in kleinen, mit elektrischen Ladungen ausgestatteten 
Teilchen, die sie in allen ponderablen Körpern voraussetzt. Nachdem 
zuerst die Tatsachen der Elektrolyse zu der Vorstellung solcher Teil- 
chen geführt hatten, hat man später versucht, dieselbe in weiterem 
Umfange und namentlich auf die Entladungserscheinungen in Gasen, 
sowie auch auf die metallische Leitung?) anzuwenden. Daß viele 
Entladungserscheinungen, speziell die an den Kathodenstrahlen ?) be- 


1) Die Benennung „Materie“ wird in diesem Artikel nicht mehr auf den 
Äther angewandt. 

2) W. Giese, Experimentelle Beiträge zur Kenntnis vom elektrischen Lei- 
tungsvermögen der Flammengase, Ann. Phys. Chem. 17 (1882), pp. 537—544; 
Grundzüge einer einheitlichen Theorie der Elektrizitätsleitung, Ann. Phys. Chem. 
37.(1889), p. 576; A. Schuster, Experiments on the discharge of electricigy 
through gases. Sketch of a theory. London Proc. R. Soc. 37 (1884), p. 317; 
Sv. Arrhenius, Über das Leitungsvermögen der phosphoreszierenden Luft, Ann. 
Phys. Chem. 32 (1887), p. 545; Über das Leitungsvermögen beleuchteter Luft, 
Ann. Phys. Chem. 33 (1888), p. 638; J. Elster und H. @eitel, Wien. Ber. 97, 
IIa (1888), p. 1255; F\. Richarz, Über die elektrischen und magnetischen Kräfte 
der Atome, Ann. Phys. Chem. 52 (1894), p. 385. 

3) Die experimentelle Kenntnis dieser Erscheinung verdankt man in erster 
Linie W. Hittorf (erste Mitteilung: Über die Elektrizitätsleitung der Gase, Ann. 
Phys. Chem. 136 (1869), p. 1). In dem Vortrage „On radiant matter“, Nature 
20 (1879), p. 419, 436; Amer. Journ. of Science (3) 18 (1879), p. 241; Ann. chim, 


152 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


obachteten, überhaupt keine andere Deutung zulassen, unterliegt gegen- 
wärtig keinem Zweifel mehr. Andererseits lag es nahe, oscillierende 
Bewegungen geladener Teilchen als Ursprung der von einem Körper 
emittierten Licht- und Wärmestrahlen zu betrachten®), und das Mit- 
schwingen ponderabler Teilchen, welches bereits in der Dispersions- 
theorie von Sellmeier, Ketteler und Helmholtz angenommen wurde, als 
eine Folge einer Ladung dieser Teilchen aufzufassen?). 

So ist man allmählich dazu gekommen‘), kleinen geladenen Teil- 
chen, die wir mit einem von Johnstone Stoney‘) herrührenden Namen 
„Elektronen“ nennen wollen®), bei allen elektromagnetischen Erschei- 
nungen, die sich nicht im freien Äther abspielen, eine Rolle zuzu- 
schreiben. 

Würde man nun den zwischen den Teilchen der Materie einge- 
schlossenen Äther an den sichtbaren Bewegungen der ponderablen 
Körper teilnehmen lassen, so käme wohl im wesentlichen wieder die 
Hertz’sche Theorie heraus, obgleich die Möglichkeit bestehen bliebe, 
diese durch die Erforschung der Umstände, welche die Werte der 
elektromagnetischen Konstanten der Körper bedingen, zu ergänzen. 
Man hat es jedoch vorgezogen, den Äther gar nicht durch die Ma- 


phys. (5) 19 (1880), p. 195, und anderen Abhandlungen hat W. Orookes eine Hypo- 
these aufgestellt, die man als den Vorläufer der jetzigen Theorie der Kathoden- 
strahlen betrachten kann. Siehe, was diese letztere betrifft, Z. Wiechert, Über 
das Wesen der Elektrizität, Sitzungsber. der phys.-ökonom. Ges. zu Königsbergi.Pr., 
Jan. 1897, p. 3; J. J. Thomson, Cathode rays, Phil. Mag. (5) 44, p. 293, Okt. 1897. 

4) H. Ebert, Elektrische Schwingungen molekularer Gebilde, Ann. Phys. Chem. 
49 (1893), p. 651. 

5) Lorentz, Over het verband tusschen de voortplantingssnelheid van het 
licht en de dichtheid en samenstelling der middenstoffen, Amsterdam Akad. Verh. 
18 (1878), p. 1; Über die Beziehung zwischen der Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit des Lichtes und der Körperdichte, Ann. Phys. Chem. 9 (1880), p. 641. 

6) Vgl. W. Kaufmann, Die Entwicklung des Elektronenbegriffs, Phys. 
Zeitschrift 3 (1901), p. 9. 

7) @. Johmstone Stoney, Dublin Trans. R. Soc. (2) 4 (1891), p. 583. 

s 8) Wir nehmen das Wort in etwas weiterem Sinne als Johnstone Stoney. 
„Elektron“ heißt im folgenden jedes geladene Teilchen, einerlei ob es ponde- 
rabele Masse enthält, oder, wie es für die „freien Elektronen“ z. B. in den Kathoden- 
strahlen wahrscheinlich ist, sich nur durch seine Ladung von Teilen des freien 
Äthers unterscheidet. In den allgemeinen Betrachtungen legen wir indes die 
erste Annahme als die allgemeinere zu Grunde. 

Nach dieser Auffassung ist der Name auch für die bei der Elektrolyse 
ins Spiel kommenden geladenen Teilchen geeignet. Für diese ziehen wir 
jedoch das Wort „Ion“ vor; vielleicht sind in denselben ein ungeladener Teil 
und eine gewisse Anzahl geladener Körperchen, die dann „Elektronen“ genannt 
werden könnten, zu unterscheiden. 


1. Allgemeines. 153 


terie mitführen zu lassen), eine von Frresnel herrührende Hypothese, 
die sich auf dem Gebiete der Lichtaberration und der damit zu- 
sammenhängenden Erscheinungen wohl bewährt hat. Dieselbe liegt, 
und zwar in voller Konsequenz, den nachstehenden Betrachtungen zu 
Grunde; der Äther soll also ein Medium sein, das alle Elektronen und 
alle sonstigen materiellen Teilchen durchdringt und dessen Volumen- 
elemente sich nie relativ gegen einander bewegen. Eine vollkommene 
Naturwissenschaft würde, nach dieser Auffassung, die relativen Be- 
wegungen der Materie in Bezug auf den Äther, und auch nur diese, aus 
den Beobachtungen ableiten können. Es steht nichts im Wege, diese 
relativen Bewegungen zur Abkürzung als absolute zu bezeichnen und 
von einem „ruhenden“ Äther zu sprechen. 

Die Zustände im freien Äther werden von den gewöhnlichen 
Hertz-Heawiside’schen Gleichungen beherrscht, und lassen sich mittels 
zweier Vektoren darstellen. Diese sind die elektrische Erregung, die 
jetzt mit d, und die magnetische Feldstärke, die mit h bezeichnet 
werden soll!®). Auch im Inneren eines Elektrons bestehen die ent- 
sprechenden Zustände des Äthers; hier sind indes die Feldgleichungen 
in einer von der Ladung und der Bewegung der Elektronen ab- 
hängigen Weise zu modifizieren. Zu den in diesem Gedankengange 
erhaltenen Formeln kommen dann noch solche, welche die von dem 
Äther auf die Elektronen ausgeübten und die Bewegung dieser letzteren 
bestimmenden Kräfte angeben. 

Was die nicht geladenen Teilchen der Materie betrifft, so wird 
angenommen, daß in deren Innerem der Äther sich in nichts von 
dem freien Äther unterscheidet; diese Teilchen können infolgedessen 
nur dadurch einen Einfluß auf die Erscheinungen haben, daß von 
ihnen gewisse auf die Elektronen wirkende Kräfte ausgehen. Die Theorie 
versucht es nicht, von der Natur dieser Kräfte Rechenschaft zu geben. 


9) Lorentz, La theorie &lectromagnetique ete.; Versuch u. s. w.; Larmor, A 
dynamical theory of the electric and luminiferous medium, London Phil. Trans. A, 
185 (1894), p. 719; 186 (1895), p.695; 190 (1897), p.205; Aether and matter, (1900); 
E.Wiechert, Über die Bedeutung des Weltäthers, Abh. d. phys. ökonom. Ges. z. 
Königsberg i. Pr. (1894), p. 4; Die Theorie der Elektrodynamik und die Röntgen- 
sche Entdeckung, Abh. der Phys.-ökon. Ges. zu Königsberg i. Pr. (1896), p. 1; 
Über die Grundlagen der Elektrodynamik, Ann. Phys. Chem. 59 (1896), p. 283; 
Hypothesen für eine Theorie der elektrischen und magnetischen Erscheinungen, 
Göttinger Nachr., math.-phys. Klasse 1898, p. 88; Grundlagen der Elektrodynamik, 
Festschrift z. Feier d. Enthüllung d. Gauß-Weber-Denkmals in Göttingen, 
Leipzig 1899. 

10) Es geschieht dies in der Absicht, die großen Buchstaben für später 
einzuführende Vektoren zu reservieren. 


154 V 14. H. A. Lorentz. WElektronentheorie. 


Es ıst klar, daß in den genannten Annahmen in gewissem Sinne 
eine Rückkehr zu der älteren, namentlich von Wilhelm Weber ver- 
tretenen Elektrizitätslehre liegt, die mit zwei elektrischen Flüssig- 
keiten operierte. Jedoch bleibt die Grundidee der Maxwell’schen 
Theorie bestehen; alle elektromagnetischen Wirkungen geschehen 
unter Vermittlung des Äthers, und zwar in solcher Weise, daß im 
allgemeinen jede Änderung im Bewegungszustande der Elektronen 
einen Einfluß hat, der sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. 
Insofern die Theorie über diese Fortpflanzung ganz bestimmte Aus- 
sagen macht, erfüllt sie eine Forderung, die vor vielen Jahren von 
Gauß'!) an ein Grundgesetz der Elektrodynamik gestellt wurde; zu- 
gleich führt sie, und zwar in einer neuen erst nach den Arbeiten von 
Maxwell möglichen Form einen Gedanken durch, den schon Rie- 
mann”), ©. Neumann'?) und Betti“) verfolgt haben. 

Während die Elektronentheorie für ruhende Systeme zu den- 
selben Ergebnissen wie die Theorie von Hertz führt, besteht ein tief- 
gehender Unterschied, was die bewegten Systeme betrifft. Dieser 
zeigt sich darin, daß dem Prinzip von der Gleichheit der Wirkung 
und Gegenwirkung nicht mehr, wie bei Hertz genügt wird, was damit 
zusammenhängt, daß die Erscheinungen nicht nur von der relativen 
Bewegung der betrachteten Körper, sondern von deren Bewegung in 
Bezug auf den Äther abhängen. Es besteht in dieser Beziehung 
zwischen den Hertz’schen Anschauungen und der Elektronentheorie 
ein ähnlicher Gegensatz, wie zwischen den elektrodynamischen Grund- 
gesetzen von Weber und Clausius®). Überhaupt hat die Elektronen- 
theorie manche Berührungspunkte mit den Entwicklungen von Olausius;; 
nur fehlt bei diesem Physiker die Fortpflanzung der Wirkungen mit 
endlicher Geschwindigkeit. 

Es war oben die Rede von dem Inneren eines Elektrons. Damit 
ist gesagt, daß ein solches Teilchen eine gewisse räumliche Aus- 
dehnung habe. Allerdings kann man bei vielen Problemen davon 
gänzlich absehen; man kann ein Elektron manchmal als einen Punkt 
betrachten, der eine Ausnahmestelle für die Gültigkeit der sonst im 
Äther erfüllten Gleichungen bildet und in dem gewisse Zustands- 


11) Gauß, Werke 5, p. 627. Vgl. auch Art. V 12, Nr. 7. 

12) Riemann, Ein Beitrag zur Elektrodynamik, Ann. Phys. Chem. 131 (1867), 
p- 237; Ges. Werke, 2. Aufl. Leipzig 1892, p. 288. Vgl. auch Art. V 12, Nr. 7. 

13) ©. Neumann, Die Prinzipien der Elektrodynamik, Tübingen (1868); 
Math. Ann. 1 (1869), p. 317. Vgl. auch Art. V 12, Nr. 8. 

14) E. Betti, Sopra la elettrodinamica, Il Nuovo Cimento 27 (1868), p. 402. 

15) Vgl. Art. V 12, insbes. p. 60, 61. 


2. Grundgleichungen für den Äther. 155 


größen in bestimmter Weise unendlich werden. Da indessen die Be- 
obachtungen eine untere Grenze für die Dimensionen der Elektronen 
liefern‘), und da man leicht an den Resultaten erkennt, inwiefern 
dieselben von den über den inneren Zustand der Elektronen gemachten 
Ansätzen abhängig sind, so empfiehlt es sich, mit der Analyse auch in 
das Innere der Teilchen einzudringen. Freilich bleibt gerade in diesem 
Punkte große Ungewißheit bestehen. Trotzdem wird eine Theorie, 
die, indem sie von ganz bestimmten Voraussetzungen ausgeht, auch 
auf jede Frage mit einer bestimmten Aussage antwortet, nützlich sein, 
wäre es auch nur als Vorbereitung zu späteren vielleicht sehr ab- 
weichenden Auffassungen. 

Zur Vereinfachung wird angenommen, daß die Ladung eines 
Elektrons mit endlicher Raumdichtigkeit go verteilt ist, welche sich 
stetig von Punkt zu Punkt ändert, also an der Oberfläche eines 
Elektrons allmählich auf O0 herabsinkt. Fälle einer scharf begrenzten 
Ladung und einer Flächenladung können als Grenzfälle behandelt 
werden. 

Viele Sätze gelten auch dann, wenn die elektrische Ladung in 
beliebiger Weise kontinuierlich über einen Raum verteilt ist. Bei 
den Grundgleichungen setzen wir daher diesen allgemeinen Fall voraus 
und reden von den Feldgleichungen im Inneren einer Ladung, sowie 
von der „auf die Ladung“ oder „auf die geladene Materie“ infolge 
des im Äther bestehenden Zustandes wirkenden Kraft. Der Übergang 
zu einer in vereinzelten Elektronen konzentrierten Ladung und zu 
den auf diese wirkenden Kräften ist dann immer leicht auszuführen. 


2. Grundgleichungen für den Äther!”). Bestimmte Annahmen 
über den „Mechanismus“ der Erscheinungen sollen im folgenden nicht 
gemacht werden. Larmor hat in seiner Theorie die Vorstellung des 
quasi-rigiden Äthers (V 13, Nr. 42) zum Ausgangspunkt gewählt; doch 
sind auch bei ihm die weiteren Entwickelungen davon unabhängig. 

Die Einheiten wählen wir so, wie es im vorigen Art. Nr. 7 aus- 
einandergesetzt wurde. Auch halten wir uns an die in Nr. 3 daselbst 
erklärten mathematischen Bezeichnungen. 

Es ist für jeden Punkt des freien Äthers 


(D dvd—=0, 
und an allen Stellen, wo eine elektrische I,adung vorhanden ist, 


(Ia) dvd=o, 


16) Siehe unten, Nr. 24. 
17) Vgl. z. B. Wiechert, Grundlagen der Elektrodynamik. 


156 V 14. H.4. Lorentz. Elektronentheorie. 


welche letztere Gleichung man auch als Definition von o auf- 
fassen könnte. 

Es sei weiter vd die Geschwindigkeit irgend eines Punktes der 
geladenen Materie, und es möge im Laufe der Bewegung jedes sub- 
stantielle Raumelement seine Ladung unverändert behalten. Es gilt 
dann, ein ruhendes Koordinatensystem vorausgesetzt, die Gleichung 


0 . 
(I) + ro) 0. 
Der Verschiebungsstrom ist 
: d, 
und als Ausdruck des Konvektionsstromes hat man den Vektor 
od 
anzusehen. Der Gesamtstrom 
(1) c=d+o 
besitzt dann nach (la) und (II) die Eigenschaft der solenoidalen Ver- 
teilung. Demgemäß ist es statthaft, für die magnetische Feldstärke h 
die Gleichung 
1 1% 
(III) rt -t=—-(d+ Er) 
anzunehmen. 
Die andere Hauptgleichung der Hertz-Heaviside'schen Theorie soll 
ungeändert bleiben; wir führen sie in der Gestalt 


(Av) rotd = — =) 

ein, und nehmen überdies an, daß nicht nur, wie hieraus hervorgeht, 
divd—=0, 

sondern auch 

(V) dvh=0 


ist. 

3. Die auf die geladene Materie wirkende Kraft. Es soll jetzt 
unter der elektrischen Kraft f die auf ein Volumenelement der gela- 
denen Materie pro Einheit der Ladung wirkende Kraft verstanden 
werden. Die Beobachtungen über die ponderomotorischen Wirkungen 
in elektrostatischen und elektromagnetischen Feldern legen es nahe, 
für dieselbe die Formel 


(vD) f=b+-[-h] 
zu Grunde zu legen. 


4. Einführung von Potentialen. Von den Grundgleichungen 
ausgehend kann man die Vektoren d und h mit Hilfe eines elektri- 


3. Auf die geladene Materie wirkende Kraft. 4. Potentiale. 157 


schen skalaren Potentials p und eines magnetischen Vektorpotentials a 
darstellen '®). Es genügen diese Hilfsgrößen den Differentialgleichungen 


(vm) A—49=—9, 

(vIN) Aa — zä=— In, 

und es ist 

(IX) = — 4 — gradg, 

(X) b=rota. 

Zwischen den beiden Potentialen besteht die Relation 
(2) diva—= — 29. 


Man gelangt zu diesen Formeln in folgender Weise. Aus (V) 
geht sofort hervor, daß die magnetische Kraft sich in der Form (X) 
darstellen läßt, und es folgt dann weiter aus (IV) 


rot (d +6) N, 
was auf (IX) führt. Hierbei bleiben, obgleich bei jeder elektromagne- 
tischen Erscheinung d und bh bestimmte Funktionen von x, y, 2, t 
sind, die Potentiale a und teilweise unbestimmt. Diesen Übelstand 
heben wir, indem wir dieselben der weiteren Bedingung (2) unter- 
werfen. Sind nämlich a, und 9, irgend welche mit den Gleichungen 


(IX) und (X) verträgliche Potentiale, so ist jedes andere zulässige 
Funktionenpaar a, @ von der Form 


L::, 
—=n—grady, 9=-9n+t—H 


Hier läßt sich nun die skalare Funktion y so bestimmen, daß der 
Gleichung (2), oder 


1% i DAN 
dd - Fr = t+ Mm 


genügt wird. Man gelangt schließlich zu (VII) und (VIII), wenn man 
die Werte (IX) und (X) in (Ia) und (III) einführt und dabei (2) be- 
rücksichtigt. 

Auch für d und h selbst gelten Gleichungen von derselben Ge- 
stalt wie (VII) und (VII) ®), 


18) A. Lienard, Champ &lectrique et magnetique produit par une charge 
@lectrique concentree en un point et animde d’un mouvement quelconque, 
L’Eelairage &lectrique 16 (1898), p. 5, 53, 106; Wiechert, Elektrodynamische 
Elementargesetze, Arch. neerl. (2), 5 (1900), p. 549. 

19) Lorentz, La theorie electromagneötique ete., $ 112. 


158 V 14. H..A. Lorentz. Elektronentheorie. 
N a ER 
— ;d—=grade +3 (ed), 


In 1 
A — z3)=—-rot(ev). 


5. Integration der Potentialgleichungen ®). Soll die Funktion % 
in einem von der Fläche 6 begrenzten Raum der Differentialgleichung 


Av— zi=o 


genügen, in der & eine gegebene Funktion von &, %, z, t ist, so ist 
der Wert von % in einem Punkt P jenes Raumes zur Zeit 


(3) — —  ([0]d8 


+ E06) +24) ae. 


Hier ist r die Entfernung des Raumelementes dS oder des Ober- 
flächenelementes do vom Punkte P; die Einschließung in eckige 
Klammern soll dazu dienen, die Werte zur Zeit *— r/c anzudeuten. 
Läßt man die Fläche 6 nach allen Richtungen hin ins Unendliche 
rücken, so verschwindet in vielen Fällen das Oberflächenintegral, 
namentlich dann, wenn einmal, im Laufe der Zeit, in entfernten 
Punkten 9 = 0 gewesen ist. Die in dieser Weise aus (3) ent- 
stehende Gleichung soll im folgenden zur Bestimmung des elektro- 
magnetischen Feldes dienen. Nach derselben ist 


(XD) 9- 2 [e]48, 


und, da die Gleichung auch dann gilt, wenn © und % Vektoren sind, 


(XI) u fe [ov]aS. 


Die Form der vorstehenden Gleichungen veranlaßt uns zu zwei 
Bemerkungen. Erstens zeigt sie, daß die zur Zeit £ in einem be- 
stimmten Punkte bestehenden Zustandsgrößen von den Zuständen ab- 
hängen, die in den verschiedenen Raumelementen zu einer früheren 
Zeit und zwar jedesmal zur Zeit £— r/c vorhanden waren. Das ist 
nun allerdings (eben weil wir das Öberflächenintegral in (3) ver- 
schwinden ließen) nicht die allgemeinste Lösung der Grundgleichungen 
und sind z. B. auch Lösungen möglich, die eine Fortpflanzung auf die 
Volumelemente zu, statt von denselben fort, anzeigen würden. Von 
solehen wollen wir indes die Theorie frei halten, indem wir ein für 


20) Encyklopädie IV, Art. Lamb, Akustik. Gl. (8) ist eine Verallgemeine- 
rung der Lösung des sog. Poisson’schen Problems. 


5. Integration der Gleichungen. 6. Energie. Poynting’scher Satz. 159 


allemal die Voraussetzung machen, daß in Wirklichkeit die geladenen 
Volumelemente nur Ausgangspunkte von Gleichgewichtsstörungen sind. 
Wir schließen auch alle Zustände im Äther aus, die gar nicht mit ge- 
ladener Materie zusammenhängen; wäre letztere nicht da, so bliebe das 
Gleichgewicht des Äthers beständig ungestört. 

Im Hinblick auf die soeben besprochene Eigentümlichkeit der 
Lösung nennen wir füglich p und a verzögerte Potentiale. 

Die zweite Bemerkung betrifft das lineare Auftreten von e, od, 
op, a, d und b. Wir schließen daraus auf die Möglichkeit der Super- 
position verschiedener Lösungen, aus der wir oft Nutzen ziehen 
werden. Wir können uns nämlich jedes elektromagnetische Feld zu- 
sammengesetzt denken aus einer größeren oder kleineren Zahl von 
Partialfeldern, deren jedes, obigen Gleichungen entsprechend, durch ein 
einzelnes Elektron oder durch einen gewissen Teil des Elektronen- 
systems „erregt“ wird. 

Es empfiehlt sich sogar bei einigen Untersuchungen — ob- 
gleich es im folgenden nieht geschehen wird — sich ein gegenseitiges 
Durchdringen zweier Ladungen, jede mit ihrer eigenen Geschwindig- 
keit, vorzustellen, und also etwa e in Q,, &, U.s.w. zu zerlegen 
und ed durch 9,0, + 050, + U. Ss. w. zu ersetzen. 


6. Energie. Poynting’scher Satz. Es sei 6 eine beliebige ge- 
schlossene Fläche, $ der innere Raum. Aus den angeführten Glei- 
chungen folgt 


few as+nl5 fo +mas}+efp-H1.00 0. 


Diese Gleichung drückt das Energiegesetz, auf die Zeiteinheit 
bezogen, aus, und zwar stellt das erste Glied die Arbeit der vom 
Äther auf die geladene Materie ausgeübten Kräfte vor, das zweite 
die Zunahme der Energie des Äthers und das dritte die Energie- 
menge, welche den Raum durch die Fläche 6 hin verläßt. Für die 
elektrische Energie pro Volumeneinheit ist zu setzen 
(XI) w— 40°, 
für die magnetische 


(XIV) w„—$h’ 
und für den Energiestrom 
(XV) 3—c[d-h]. 


Die gesamte elektrische Energie bezeichnen wir mit U, die mag- 
netische mit 7. 

Wir führen auch die Gleichungen an, die sich ergeben, wenn 
man in w, und w,, die Werte (IX) und (X) einsetzt. Wir schreiben 


160 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


dieselben, ebenso wie viele spätere Formeln, für den unendlichen 
Raum hin, was man sofort an dem Fehlen eines Integrales über eine 
Grenzfläche sieht; es soll dabei angenommen werden, daß die Inte- 
grale über den unendlichen Raum endlich bleiben und daß Integrale 
über eine unendlich entfernte Grenzfläche verschwinden. 

Für die elektrische Energie findet man zunächst 


1 ı ee 33° 
U-— 4 [pApas +! [grad pas + ,',fwras, 


und dann, indem man die Hälfte des zweiten Gliedes partiell inte- 
griert und die Werte von Ay und divä den Gleichungen (VII) und 
(2) entnimmt, 


(4) grad 9) + 4?) q8. 


Eine ähnliche Transformation, wobei man auch (VIII) zu beachten 
hat, führt zu der Formel 


(5) T= 5; | [(ed- a) — (a- grad 9) — — (a: ü)}a8. 


Von Interesse ist auch die sich hieraus ergebende Formel für 
die Differenz 7 — U, die wir mit L bezeichnen. Sie lautet 


(6) L=-T7—U=—  [evds— he grad 9) + (a-&)}d8 


. fovas+ 2,4 /@- das 


(7) v-9—-(v-0). 


Substituiert man hier die Werte (XI) und (XII), so erhält man 
für die Funktion % die einfache von Schwarzschild?') angegebene 
Form 


(&) v7.) ([el— 30 -[evD}as 


Hier bedeutet v die Geschwindigkeit im Punkte, für den man % be- 
rechnen will, v’ die Geschwindigkeit im Elemente dS$. 

Schwarzschild nennt Y das elektrokinetische Potential. 

Wir bemerken schließlich, daß die Gesamtenergie zweier super- 
ponierten Felder, die wir durch die Indices 1 und 2 voneinander 
unterscheiden wollen, sich aus drei Teilen zusammensetzt, deren erster 


21) K. Schwarzschild, Zwei Formen des Prinzips der kleinsten Aktion in 
der Elektronentheorie, Gött. Nachr., math.-phys. Kl. 1903, p. 125. 


7. Allgemeine Betrachtung der auf geladene Materie wirkenden Kräfte. 161 


und zweiter die Energien sind, die vorhanden sein würden, wenn ent- 
weder das erste oder das zweite Feld allein existierten, während der 
dritte Teil U,+ 7, von der gleichzeitigen Existenz von beiden 
Feldern herrührt. Man erhält diesen Teil, wenn man pro Volumen- 
einheit eine elektrische Energie (d, - d,) und eine magnetische Energie 
(d, - H) in Anschlag bringt. Man denke sich hierbei, daß die Ladungen 
der beiden Felder gänzlich auseinander liegen, daß also nie an der- 
selben Stelle o, und o, gleichzeitig von Null verschieden seien. 

Für die Größen U,,, Tjs, Lis = Tia — Ur, gelten die den Glei- 
chungen (4), (5) und (6) entsprechenden Formeln 


(9) U -/ (a9. ie rn (ü, grad Q,) +5 (,-&,)1dS, 


1) Lem) grad) — 1 (-0)}a8, 


1d 
(11) Ls =— 9% dS+ 24 (&-)a8. 
In der letzten Gleichung ist 
1 
(12) 77T (%, 9). 


7. Allgemeine Betrachtung der auf geladene Materie wirkenden 
Kräfte. Elektromagnetischer Impuls. Eine ruhende Fläche 6 um- 
schließe ein aus geladener Materie bestehendes System, und es sei % 
die Resultierende aller nach (VI) auf dieses System wirkenden Kräfte, 
also 


3- feid+Im-s1Jas. 


Ersetzt man hier g und ob durch die aus (la) und (III) folgenden 
Werte, so ergibt sich nach partieller Integration, wenn man überdies 
RE RR 

a 52 + 7 d. us. w. (nach (IV)) benutzt, 


(13) = HH tr 

(14) 3.4 /120,0,— Deos(n,2)]ds +4 f[25,5,— h°cos(n,a)]do 
u. 8. w., 

(15) .:-—-5% E ds, 

wo % die in (XV) angegebene Bedeutung hat. 


Die Kraft %, könnte man deuten als die Resultierende eines 
Systems auf 6 wirkender Spannungen 
AV) %,— 412,5, — d° cos (n, z)] + 412 5,5, — 5° cos (m, =)] 
u. 8. w. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 11 


Substitutionen wie 


162 V 1A. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Nimmt man die Existenz dieser Spannungen, die mit den von 
Maxwell abgeleiteten übereinstimmen, an, so ist damit im allgemeinen 
die auf die geladene Materie wirkende Kraft noch nicht vollständig 
dargestellt, da noch die Kraft %, hinzukommt. Es zeigt sich hier 
ein fundamentaler Gegensatz zwischen der jetzt entwickelten und der 
Hertz’schen Theorie, ein Gegensatz, der damit zusammenhängt, daß 
die Gesamtkraft %, ihrer Bedeutung nach, verschwinden muß, sobald die 
Fläche 6 nur freien Äther in sich schließt. Die Kraft $,, welche in 
diesem Fall aus den Spannungen resultieren würde (vgl. Art. V 13, 
Nr. 26), wird eben durch %, aufgehoben. 

Hat man es mit einem System geladener Materie von endlichen 
Dimensionen zu tun, so hat die Kraft % einen bestimmten Wert, 
einerlei ob die Fläche 6 dem Systeme eng anliegt oder dasselbe in 
größerer Entfernung umschließt. Läßt man dann die Fläche nach 
allen Seiten hin ins Unendliche rücken, und verschwindet dabei %,, 


so wird oe 
5-2 fias 


Es würde also der Impuls (die Bewegungsgröße) ©” des materiellen 
Systems in der Zeiteinheit eine dieser Kraft $ gleiche Änderung erleiden, 
und dem würde keine entgegengesetzt gleiche Änderung einer anderen 
Bewegungsgröße gegenüberstehen. Hierin liegt eine Verletzung des 
Prinzips der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, die namentlich 
Poincare””) als einen Mangel der Theorie hervorgehoben hat, obgleich 
er zugibt, daß derselbe schwer zu beseitigen ist. In der Tat wurzelt 
diese Abweichung von der gewöhnlichen Mechanik in den Grundlagen 
der Theorie, wenn man diese so auffaßt??), daß zwar der Äther Kräfte 
auf geladene Materie ausübt, daß aber von einer strömenden Be- 
wegung des Äthers, von Beschleunigungen dieses Mittels und von 
Kräften, die auf dasselbe wirken, nie die Rede ist. Es verdient in- 
dessen bemerkt zu werden, daß jede Änderung der Bewegungsgröße 
der Materie von einer Änderung in entgegengesetztem Sinne einer 
bestimmten von dem Zustande des Äthers abhängigen Größe, wenn 
auch nicht einer Bewegungsgröße im gewöhnlichen Sinne des Wortes 
begleitet ist. Setzt man nämlich 


(XviD) v4 /sas, 
indem man durch den Index a auf den Äther, sowie vorher durch 
den Index m auf die Materie hinweist, so ist 


22) Poincare, Klectrieit6 et optique, 2° Edition, p. 448; La theorie de 
Lorentz et le principe de la reaction, Arch. neerl. (2) 5 (1900), p. 252. 
23) Lorentz, Versuch u. s. w., $$ 15—17. 


7. Allgemeine Betrachtung der auf geladene Materie wirkenden Kräfte. 163 


Gr + © — konst. 
Wegen dieser Eigenschaft kann man 6“ den elektromagnetischen Im- 
puls oder die elektromagnetische Bewegungsgröße nennen **). 

Bleibt man dem Grundsatze getreu, nicht von Kräften zu reden, 
die auf den Äther wirken, so kann man den Spannungen (XV), die 
ja zwischen zwei Teilen des Äthers wirken würden, keine reelle 
Existenz zuschreiben. Immerhin kann man sich der Gleichungen (14) 
und (15) als bequemer Rechnungsformeln bedienen und für die auf 
der rechten Seite der ersten stehenden Größen den Namen „(fiktive) 
Spannungen“ beibehalten. Es empfiehlt sich dies besonders in den 
Fällen, wo %, verschwindet, so bei allen stationären Zuständen, 
und wenn es sich bei rein periodischen Vorgängen um den Mittel- 
wert der Kraft während einer vollen Periode handelt. Ist z. B. ein 
Körper einer konstanten Lichtstrahlung ausgesetzt, dann läßt sich die 
resultierende ponderomotorische Kraft durch ein Integral über eine 
im Äther liegende, den Körper eng umschließende Fläche darstellen; 
in diesem Sinne kann man von einem „Druck“ der Lichtstrahlen 


reden. Der Druck ist normal gerichtet und hat den Wert —(E +E), 


wenn eine Scheibe senkrecht von Strahlen getroffen wird, die der 
Flächeneinheit pro Sekunde die Energiemenge E zuführen, während 
in den reflektierten Strahlen die Energie E’ rückwärts strömt. Pflanzen 
sich in einem nur Äther enthaltenden Raum Strahlen von jeder trans- 
versalen Schwingungsrichtung nach allen Seiten in derselben Weise 
fort, dann gelten für die in Betracht kommenden Mittelwerte die Be- 
ziehungen 
X, RR 2, Bar Z, N 0, 

= L,- 2-4 &%,+L,+2)= 4049) = — Hu, +w,); 


daraus folgt, daß für jedes Flächenelement die fiktive Spannung sich 
auf einen normalen Druck 4 (w, + w,,) reduziert. Diesen Druck er- 
leiden alle in dem Raum befindlichen Körper und auch die Teile einer 
denselben einschließenden Wand. Von letzterem überzeugt man sich, 
wenn man ein Element do der Wand durch einen engen Schlitz von 
dem übrigen Teil trennt und dann das obengenannte Integral für eine 
dieses Wandelement eng umschließende durch den Schlitz geführte 
Fläche berechnet. 

Es hängt übrigens von der Natur der Probleme ab, ob man die 
auf einen Teil der geladenen Materie wirkende Kraft am leichtesten 


24) M. Abraham, Prinzipien der Dynamik des Elektrons, Ann. Phys. 10 
(1903), p. 105. 
:* 


164 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


aus den „Spannungen“, durch direkte Anwendung der Grundgleichung 
(VI) oder mittels der weiter unten anzuführenden Sätze bestimmen wird. 

Ebenso wie die Resultierende der auf die von 6 eingeschlossene 
geladene Materie wirkenden Kräfte kann man auch das resultierende 
Drehmoment N dieser Kräfte in Bezug auf den Koordinatenursprung 
berechnen. Es gelten hierfür die den Formeln (13)—(15) analogen 


Gleichungen 
N = N, 5, N,, 
N.—=/[WZ,— eY,)de, u.s. w., 


(16) ne 4 fe :3]d8, 


wo t der von OÖ aus gezogene Radiusvektor ist. 

Um zu diesen Gleichungen zu gelangen, kann man z. B. die auf 
ein Raumelement dS wirkende Kraft gfd$=FdS in einer den Formeln 
(13)—(15) entsprechenden us se, IR, 


oX, 
P.—! En Ir oy ee Fri 


wird, und dann die Integrale So F, — zF,)dS, u. s. w. bestimmen ®). 


Den Gleichungen (4) und (5) lassen sich ähnliche für die Kom- 
ponenten des elektromagnetischen Impulses an die Seite stellen. Es ist 
nach (XVII), (XV), (IX) und (X) für den unendlichen Raum 


et ze 


also, wenn man a Red und (III), (IX) und (2) benutzt, 


a do dä, ir 6ä, 
ae: a,p)dS, u. s. w. 


8. Ableitung der Grundgleichungen aus den Prinzipien der 
Mechanik. Nimmt man an, daß die Gleichungen (I), (la), (O), 
sowie die Gleichungen (III) und (V), welche bei gegebenem c die 
magnetische Kraft 5 bestimmen, aus den im System bestehenden 
Zusammenhängen hervorgehen, betrachtet man die mit (XIII) be- 
rechnete elektrische Energie U als die potentielle und die magne- 
tische Energie 7, nach (XIV) berechnet, als die kinetische Energie 


25) Siehe Lorentz, Bijdragen tot de electronentheorie, Zittingsverslag Amster- 
dam Akad. v. Wet. 11 (1903), p. 729 (Proceedings Amsterdam Akad. 1902—1903, 
p- 608). Dort ist auch ein dem Virialtheorem analoger Satz bewiesen. 


8. Ableitung der Grundgleichungen aus den Prinzipien der Mechanik. 165 


eines quasi-holonomen Systems (V 13, Nr. 35), und die Koordinaten 
der Materie nebst den Komponenten von d als Koordinaten, so lassen 
sich die Bewegungsgleichungen für den Äther, d. h. die Formel (IV), 
und der Ausdruck (VI) für die elektrische Kraft aus dem d’ Alembert- 
schen Prinzip ableiten®). Man kann sich dabei vorstellen, daß auf 
die geladene Materie gewisse äußere Kräfte 5° wirken, deren Arbeit 
in dem ersten Gliede der Formel 


’ dv 


enthalten ist. Die virtuellen Verrückungen sind durch die Ver- 
rückungen q der Materie und die Variation Öd anzugeben, wobei 
sich das Zeichen ö auf einen festen Raumpunkt beziehen soll. Die- 
selben sind der Bedingung zu unterwerfen, daß der Vektor 


(19) dog, 


den man den „Verrückungsstrom“ nennen könnte (vgl. (1)), solenoidal 
verteilt ist. Der Wert von ö’7 ergibt sich, wenn man bei fest- 
gehaltener Lage der Materie dem Strome c die Variation (19) auf- 
erlegt; es ist daher, wenn man irgend ein Vektorpotential a mittels 
der Gleichung 

h=rota 


einführt (vgl. V 13, Nr. 29) 
KL 2a -{8d + og))dS. 


Was den Wert von ö7 anbelangt, so erhält man diesen richtig 
(vgl. V 13, Nr. 35), wenn man als variierte Bewegung eine solche be- 
trachtet, bei welcher im Laufe der Zeit dt die Koordinaten der Materie 
und die Komponenten von d von den der Zeit # entsprechenden 
varlierten Werten in die variierten Werte für die Zeit {+ dt über- 
gehen. 

a) Es sei zunächst q= 0, öd unabhängig von der Zeit. Man 
hat dann 


IT—0, ort ((a-o0)as, 
54-5 U-— [d-80)a8, 


also nach (18), für jedes solenoidal verteilte öd 
—/ B-01)as =! | (ü-00)a8. 


26) Lorentz, La theorie Electromagnetique etc., 8$ 76—80. 


166 V 14. H.4. Lorentz. Elektronentheorie. 


Hieraus folgt 
rotd = — rotd — 25. 


b) Zweitens kombiniere man eine Verrückung q der geladenen 
Materie, die in jedem Raumpunkte unabhängig von der Zeit gedacht 
wird, ah einer solehen Variation öd, daß der Verrückungsstrom (19) 
gleich Null ist, also mit 
(20) eg; 
es ist dann 7’=0. Man kann aus den äußeren auf die Materie 
wirkenden Kräften einen Teil abscheiden, der gerade der elektrischen 
Kraft f das Gleichgewicht hält. Die übrigbleibenden Kräfte, von 
welchen dann die Bewegung der Materie allein abhängt, brauchen 
nicht weiter berücksichtigt zu werden, wenn man unter U und 7 nur 
die elektromagnetischen Teile der potentiellen und der kinetischen 
Energie versteht. Es ist also zu setzen 


94 — Sol: )ds—öU. 


Um öv,, die Variation in einem festen Punkte des Raumes, zu be- 


rechnen, bemerken wir, daß, wenn (Öv,) und 2 sich auf einen be- 


stimmten Punkt der Materie beziehen, 
(d v,) BE = 
ist. Also, wenn man den NS einerseits zwischen (Öb,) 


und Öv,, andererseits zwischen = und 4, in Betracht zieht, 


; . 0) © 0 
(21) 00, —4,— (9,55 + war 1.) v,+ (v5; +5, +2,,,) Oz 


u. 8. w., 
wo jetzt d= 0 zu setzen ist. Weiter ist (vgl. (ID) 
do = — div (09), 


und nach (20) und (II) 

dd — — og — div (ed) :gq. 
Berechnet man mit diesen Werten die Variation des Gesamtstroms (1), 
so erhält man nach einigen Umformungen 


dc=rotfo[g-v]}, 
und bei Integration über den unendlichen Raum 


1 (a 0yas—! (a-rot{e[a-v]})dSs— — (o[g-v]-rota)dS 


1 fee 1-Das—L few: 11-0as. 


9. Allgemeine den Grundgleichungen äquivalente Sätze. 167 


Da nun 


3U—- [0:08 — feld: a)aS, 
so liefert schließlich (18) die Bedingung 


1 
— fot-vas+ [oo was= — Lt fewv-11-0as, 
die für ein beliebig gewähltes q erfüllt sein muß. Folglich 
| f=d+- hl. 


Ebenso wie hier das d’Alembert’sche Prinzip angewendet wurde, 
kann man sich auch des Prinzips der kleinsten Wirkung”) oder der 
Lagrange’schen Gleichungen *) bedienen. 


9. Allgemeine den Grundgleichungen äquivalente Sätze. Ab- 
gesehen von der Frage nach der Möglichkeit einer mechanischen Er- 
klärung, ist es beachtenswert, daß man die Grundgleichungen der 
Theorie in Sätze, die an die Prinzipien der Mechanik erinnern, zu- 
sammenfassen kann. Man hat, um das zu tun, gewissermaßen den 
umgekehrten Weg wie in der vorigen Nummer zu gehen. 

a) Wir bestimmen wieder?”) eine unendlich kleine Variation der 
zu betrachtenden elektromagnetischen Erscheinung durch die Vek- 
toren q und Öd, die sich kontinuierlich in der Zeit ändern sollen. 
Denken wir uns, was die Lage der Materie und das Feld d betrifft, 
den Übergang von dem der Zeit Z entsprechenden variierten Zustande 
in den der Zeit {+ dt entsprechenden in dem Intervall dt vollzogen, 
so gelangen wir zur Vorstellung des variierten Vorganges; auch die 
bei diesem bestehende Elektrizitätsbewegung berechnen wir nach (1). 
Daß dann auch der variierte Strom solenoidal verteilt sein wird, 
dafür bürgt uns unsere Annahme, daß auch bei den virtuellen Varia- 
tionen weder die Bedingung (la) verletzt, noch die Ladung der mate- 
riellen Elemente geändert wird. 

Wir können nun die Variationen dU und Ö7 ins Auge fassen, wobei 
wir auch für den variierten Vorgang die Gleichungen (III), (V), (XII) 
und (XIV) gelten lassen wollen. Was den ursprünglichen Zustand 
anbelangt, so legen wir für diesen sämtliche Grundgleichungen zu 
Grunde; speziell verstehen wir unter a das bestimmte in (VIII)—(X) 
vorkommende Vektorpotential. Zur Abkürzung der Formeln empfiehlt 


27) Larmor, Aether and matter, chap.VI; vgl. auch V 13, Nr. 39. 
28) Poincare, Blectrieite et optique, 2° Edit., p. 427—446 
29) Lorentz, 1. c. (Anm. 25). 


168 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


es sich, für den Verrückungsstrom (19) ein einfaches Zeichen einzu- 
führen. Wir schreiben 
od -+og=dt 


und bezeichnen die Änderungen, welche h und 7 erleiden würden, 
wenn der Strom sich um dieses ö’c änderte, mit ö’h und 67T. Um 
der Allgemeinheit willen soll zunächst ein von einer Fläche 6 um- 
schlossenes System betrachtet werden; in den Punkten dieser Fläche 
sei jedoch e =. 

Es zeigt sich nun zunächst, wenn man (21) benutzt, daß die 
Variation dc aus den beiden Teilen 


ER 7 EBERE 
(22) d,c= Fr; (0°c) 
und 

d,c = rot {o[g-v]) 


zusammengesetzt ist. Die entsprechenden Variationen von hd und 7 
nennen wir 6,5, 0,5, 6,7, 6, T. 


Benutzt man den leicht zu beweisenden Satz, daß, wenn dc und 
öh irgend welche zusammengehörige Änderungen von c und h sind, 
für jeden Vektor f, 


(23) f (rot f- öh)ds— — f (-ö)dS+ f [t- öh],de, 


so erhält man 


1 


,7= [6-8,905— | @ota-5,905—!.[(a-5,045+ [[n-0,H1,d0 
und ebenso 
IT 2 fa ds + fta -ö'h],do. 
Mit Rücksicht auf (22) folgt aus diesen Gleichungen 


sT-Zen=—-Ifa- v9)as— li .d'b],do 


+/[a [36-2 @9}] ae. 


Zu dieser Gleichung addieren wir nun erstens die aus (23) hervor- 
gehende 


0— —[(grad p- 8 )dS — oflgrad p. 8'5],do, 


und zweitens die Gleichung 


9. Allgemeine den Grundgleichungen äquivalente Sätze. 169 


1 


0,7 — 2 fa -d,0)dS + fie - 0,5],d6 
1/6: ol: Das + fie: 551.06 
— 1 fedo-1- Das + fin: 51.00 


(bei deren Transformation berücksichtigt worden ist, daß ge =0 in 
jedem Punkte von 6). 


Das Resultat transformieren wir dadurch, daß wir — = ü — gradp 
durch d ersetzen, den Wert von d’c einführen, die Gleichung (VI) 
berücksichtigen und außerdem für die virtuelle Arbeit Sei -q)dS 


der elektrischen Kräfte das Zeichen öE und statt S® -d)dS das 
Zeichen ÖU schreiben. Es kommt schließlich 


.@) dE=d(T—U)—4,(#T) —(fn-[ö5 - (9) | do 


ei fio - Ö’H],de. 


b) Aus dieser allgemeinen Gleichung kann man durch Speziali- 
sierung verschiedene Sätze gewinnen®®). Es liegt z. B. nahe, für die 
virtuelle Variation die Änderung zu wählen, die bei dem wirklichen Vor- 
gange in einem Zeitelement stattfindet; dies führt auf die Energiegleichung 
(Nr. 6) zurück. Nimmt man dagegen für die Variation eine Trans- 
lation des ganzen Systems (Materie und Feld) in Richtung der x-Achse, 
dann stellt sich die in Nr. 7 besprochene Darstellung der in dieser 
Richtung wirkenden Gesamtkraft heraus. Schließlich gelangt man zu 
dem ebenfalls in Nr. 7 besprochenen Drehmomente N mittels der Be- 
trachtung einer virtuellen unendlich kleinen Drehung. 

c) Wir lassen jetzt die Fläche 6 ins Unendliche rücken, sodaß 
(24) übergeht in 
(25) 8E=-8(T— UV) ZN), 


und wir kombinieren diese Gleichung mit derjenigen, welche das 
d’Alember!’sche Prinzip für die Materie an und für sich betrachtet 
ausdrückt. Es sei Ö0A die Arbeit der auf diese wirkenden Kräfte, 
insofern sie nicht elektromagnetischen Ursprungs sind, und 7,, die 


as 


kinetische Energie der Materie. Die besagte Gleichung lautet dann 
dv 
9AH-IE= (OT) —IT, 


m’ 


30) Vgl. Abraham, 1. c. (Anm. 24). 


170 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Mithin wird 
9A=-—IT+T,- D+ 0 (T+T,)). 


Sind nun die Kräfte, deren Arbeit mit dA bezeichnet wurde, konser- 
vativ, und ist die denselben entsprechende potentielle Energie U, so 
ist 69A=— 6TU, zu setzen. Wenn man dann schließlich nach t 
zwischen t, und t, integriert und annimmt, daß für diese Grenzzeiten die 
Verrückungen q und die Variationen Öd verschwinden, dann ergibt sich 


(26) fr +T) (Wr Tao, 


eine genau mit dem Hamilton’schen Prinzip übereinstimmende Glei- 
chung. Dieses Resultat legt es nahe, die bereits in Nr. 6 betrachtete 
Differenz L= T— U als Lagrange’sche Funktion zu bezeichnen. 

Man kann nun auch rückwärts von (26) aus, durch eine Be- 
trachtung, die der in Nr. 8 benutzten ähnlich ist, zu den Gleichungen ' 
(IV) und (VI) gelangen; man hat dabei die Formeln (la), (II), (V), 
(XHI) und (XIV), sowie die Unveränderlichkeit der Ladung eines mate- 
riellen Elementes anzunehmen. 

d) Es ist aber auch möglich, ein Variationsprinzip so zu formu- 
lieren, daß es eine größere Zahl der Grundgleichungen vertreten kann. 
2. B. hat Schwarzschild?') gezeigt, daß man zu den Gleichungen (Ia), 
(II) und (VI) gelangt, wenn man postuliert, daß die Variation des 
Integrals 


to 
Si-fevas—(T- + (7, — T,)}at 

ı 
verschwinden soll. Zu variieren sind hierbei die Lage der Materie 
und die beiden Potentiale $ und a, durch welche letztere %» nach (7) 
und U, T nach (XI), (XIV), (IX), (X) auszudrücken sind. Weiter 
hat man sich die Ladung als an der Materie haftend vorzustellen und 
g und da für die Grenzzeiten verschwinden zu lassen. Die Annahme 
der Formeln (IX) und (X) involviert hierbei die Relation (IV). 


10. Die Hauptgleichungen für ein bewegliches Koordinaten- 
system. Für viele Anwendungen ist es bequem, die Gleichungen auf 
ein Koordinatensystem zu transformieren, das sich mit einer kon- 
stanten Geschwindigkeit w verschiebt. Dabei empfiehlt es sich, auch 
statt der Zeit t eine neue Variable ? einzuführen, welche man als die 
Zeit, gerechnet von einer von der Lage im Raum abhängigen An- 
fangszeit („Ortszeit“ im Gegensatz zur „allgemeinen Zeit“ t) betrachten 


31) Schwarzschild, 1. c. (Anm. 21). 


10. Die Hauptgleichungen für ein bewegliches Koordinatensystem. 171 


kann, und d und 5 durch zwei neue Vektoren d’ und h' zu ersetzen”). 
Die Gleichungen bleiben dann ziemlich einfach, wenn man Glieder 


von der Ordnung a: vernachlässigt®), (siehe indes Nr. 11b) und Nr.16b)). 


Für die relative Geschwindigkeit der geladenen Materie in Bezug auf 
die beweglichen Koordinatenachsen schreiben wir u, sodaß 
vb=w+u 
zu setzen ist. Dieselbe Bezeichnung u wenden wir hin und wieder 
auch in Fällen an, wo w=0 ist. Ich mache auch darauf aufmerk- 
sam, daß zwar die Glieder mit w? im allgemeinen vernachlässigt wer- 
den, diejenigen aber, welche dem Produkte |w| |] proportional sind, 
beibehalten werden sollen. 
Es sei 


14 1 4 [4 ! 
(XVII) =t— (we + Ww,y + w, % 
wo x, y, 2’ die neuen Koordinaten sind, für welche aber weiterhin 


x, y, 2 geschrieben wird. Nach dieser Gleichung fallen im Anfangs- 
punkt der Koordinaten Ortszeit und allgemeine Zeit zusammen. 


Ferner sei 
(XIX) v—d+- [m], 
(XX) Y=h——[w-bl. 
Man erhält dann 
(n) divv— (1-9) o, 
(V) div —=0, 
IT) = (Heu), 
(IV) | hi. 


Hier sind d und die Differentialquotienten nach der Ortszeit und 
in den mit „div“ und „rot“ angedeuteten Ausdrücken treten die für 
konstantes £” genommenen Differentialquotienten nach x, y', z’ in der- 
selben Weise auf, wie sonst die nach x, y, 2 bei konstantem t. Die- 
selbe Bemerkung gilt von dem weiter unten vorkommenden Symbol „grad“. 


32) Lorentz, Versuch u. s. w., $$ 19, 20, 31. 

33) Die entsprechende Transformation bei Berücksichtigung dieser Glieder 
findet man in Lorentz, Vereenvoudigde theorie der electrische en optische ver- 
schijnselen in lichamen die zich bewegen, Amsterdam Akad. Zittingsversl. 7 
(1899), p. 507 (Proceedings 1898—99, p. 427) [vgl. auch eine ähnliche Transfor- 
mation in Lorentz, De stralingswetten van Boltzmann en Wien, ibid. 9 (1901), 
p. 572 (Proceedings 1900—1901, p. 607)]. 


172 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Was die Ableitung obiger Formeln anbelangt, so bemerken wir 
folgendes. 
Aus den Beziehungen zwischen x, 9, 2, & und «,y',2',t' folgt 
für jeden Vektor f 
div = div t— 4 (w- 57), 
ot 


; 1 
rot f = rot t— | ; 


wo die Zeichen div’ und rot’ eine naheliegende Bedeutung haben, und 
wenn man die Glieder mit w? vernachlässigt, 


of of : 
Tg rim rob[w-f]. 

Wir transformieren jetzt die Gleichungen (la), (V), (III) und (IV), 
wobei wir der Reihe nach (III), (IV), (Ia) und (V) benutzen. Dabei 
beachten wir, daß es, wo ein w steht, einerlei ist ob ein Strich ge- 


schrieben wird oder nicht, und daß 
(w- rot) = — div[w-H], (w- rotd) = — div[w-D]. 
Das Ergebnis ist 
dvd + -divm- 5) + mw W)=e, 
div h — —- divfw-d]= 0, 
‚ 1 0 1 /0d 
; 1 ddr, 


Diese Formeln verwandeln sich in (T), (V), (IN) und (IV’), 
wenn man die neuen Vektoren (XIX) und (XX) einführt, die Striche 
bei den Zeichen „div“ und.,rot“ fortläßt und die Differentialquotienten 
nach ? durch einen Punkt bezeichnet. 

Auch jetzt kann man alle Größen in einem skalaren Potential p’ 
und einem Vektorpotential a’ ausdrücken. Bestimmt man diese aus 
den Gleichungen 


‚ Ru 
(VI) a — 39 =-—9 
(vIIT) A Zi — Ip, 
so ist 
(IX) 7 — 24 — grad + grad (m a), 


(X) = rota, 


11. Elektrostatisches Feld. 173 


während zwischen den Potentialen die Relation 


(2) divi—— 194 5(mw-i) 


[4 
besteht. 
Aus (VIV‘) und (VIIY) erhält man die mit (XI) und (XI) über- 


einstimmenden Formeln 


’ z 1 1 
(AT) Gere —ieldd, 
’ 2 1 1 


Es handelt sich in denselben um die Werte, welche ’ und a’ in 
einem bestimmten Punkte des sich mit der Geschwindigkeit w ver- 
schiebenden Raumes für eine bestimmte Ortszeit ? annehmen. Unter 
dS ist ein um r von jenem Punkte entferntes Element dieses Raumes 
zu verstehen; die Klammern zeigen an, daß die der Ortszeit f — — 
entsprechenden Werte einzusetzen sind. 

Im folgenden Kapitel wird der von gegebenen Elektronen im 
Äther erregte Zustand näher untersucht. Wir unterscheiden dabei 
immer die Fälle (zur Abkürzung mit den Ausdrücken „ruhendes 
System“ und „bewegtes System“ angedeutet), daß nur die Geschwin- 
digkeiten u vorkommen, und daß neben diesen noch die gemein- 
schaftliche Translationsgeschwindigkeit w besteht. Jeden Fall wo 
u=0(, rechnen wir zur Elektrostatik; bei bewegten Systemen wer- 
den, wenn das Gegenteil nicht gesagt wird, die Gleichungen dieser 
Nummer zu Grunde gelegt. 


II. Bestimmung des elektromagnetischen Feldes bei gegebener 
Lage und Bewegung der Elektronen. 


1l. Elektrostatisches Feld. a) Ruhendes System. Es ist 
a0, 9-0, 


und also 
(27) Ay=—o, 
(28) d=f—= — gradp. 


Dies sind die gewöhnlichen Formeln der Elektrostatik, über die hier 
weiter nichts gesagt zu werden braucht. Es wird sich weiterhin 
empfehlen, die durch (27) bestimmte Funktion p die zu der Dichte @ 
gehörende Potentialfunktion zu nennen. Diese Bezeichnung wenden 
wir auch im Fall einer Flächenladung an. 


174 Y-14. H.A. Lorentz. HElektronentheorie. 


b) Bewegtes System®*). Es ist leicht, das Feld für beliebige Werte 
Im| 
c 


des Verhältnisses zu bestimmen; daher wenden wir nicht die 


Formeln der letzten Nummer an, sondern gehen auf (VII) zurück. Es 
folgt daraus, wenn man ein mit der Geschwindigkeit w fortschreitendes 
Koordinatensystem einführt, die Zeit ti aber ungeändert beibehält, und 
zur Vereinfachung die x-Achse in Richtung der Geschwindigkeit legt, 





1 [0 O\? 
(29) 19-5 - Pl) = — 0 
also, da der Zustand in Bezug auf das neue Koordinatensystem sta- 
tionär ist, wenn wir zur Abkürzung Di —= ß setzen, 

0? 0° 0° 

(30) a Er Br 
Weiter ist nach (VII) ,=0, a,=0, 

0?a, 0?a, 0?a, 
(31) (1) dx° RT RER 
also 
(82) 0,— By. 


Ist |v|<c, so kann man die Gleichung (30) mittels der Sub- 
stitution 


(33) = (1 PN} 
auf die Form (27) zurückführen. Man gelangt in dieser Weise dazu, 


dem bewegten System ein ruhendes zuzuordnen, welches durch Ver- 
größerung der der #-Achse parallelen Dimensionen im Verhältnis 


(1 — B2)? aus dem gegebenen System hervorgeht. Dabei wollen 


34) Siehe J. J. Thomson, On the electric and magnetic effects produced by 
the motion of electrified bodies, Phil. Mag. (5) 11 (1881), p. 229; Onthe magnetic 
effects produced by motion in the electric field, Phil. Mag. (5) 28 (1889), p. 1; 
On the illustration of the properties of the electric field by means of tubes of 
electrostatie induction, Phil. Mag. (5) 31 (1891), p. 149; Recent researches, p. 16; 
Heaviside, On the electromagnetic effects due to the motion of electrification 
through a dielectric, Phil. Mag. (5) 27 (1889), p. 324; Electrical papers 2, p. 504; 
Eleetromagn. Theory 1, p. 269; Lorentz, Versuch u.s.w., $22; W. B. Morton, Notes 
on the electromagnetic theory of moving charges, Phil. Mag. (5) 41 (1896), p. 488; 
G. F. C. Searle, Problems in electrie convection, London Phil. Trans. A. 187 
(1896), p. 675; On the steady motion of an electrified ellipsoid, Phil. Mag. (5) 44 
(1897), p. 329; Lienard, 1. c. (Anm. 18); Th. Des Coudres, Zur Theorie des Kraft- 
feldes elektrischer Ladungen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen, 
Arch. neerl. (2) 5 (1900), p. 652; Abraham, 1. c. (Anm. 24); T. Levi-Civita, Sur le 
champ &lectromagnätique engendre par la translation uniforme d’une charge 
electrique parallölement A un plan conducteur infini, Toulouse Ann. de la Fac. d. Sc, 
(2) 4 (1902), p. 1. 


11. Elektrostatisches Feld. 175 


wir immer die Zustandsgrößen in korrespondierenden Punkten ((z, %, 2) 
im bewegten, (x, y, 2) im ruhenden System) miteinander vergleichen. 
Die Dichte o wird in beiden Fällen gleich genommen und der Index 0 
bezieht sich auf das ruhende System. Bei der Rechnung hat man 
darauf zu achten, daß für jede Zustandsgröße y in dem bewegten System 


4 — mISE ist. 
Es ergibt sich nun folgendes: 


e) As pg—=9, 1,—=Pp, 0,—=a,—0 folgt für das elektro- 
kinetische Potential von Schwarzschild (Nr. 6) 


v= (1 PP) y- 
Die Komponenten von d und H sind nach (IX) und (X) 
n 99 AL. BPRAUG.L.ı 
be N) 7 De öy? Du, 02’ 
89) 1.0, 1-85, Bi 
02’ 3 0Y ’ 


und die elektrische Kraft f, nach (VI) berechnet für eine Ladung, die 
an der Translation des Systems teilnimmt, bestimmt sich aus 
(35) i=— (1 PP) gradp = — grad y. 
Man ersieht hieraus, daß % dieselbe Funktion ist, wie das Konvek- 
tionspotential von Searle. 

ß) Es kommen weiter interessante Beziehungen zwischen der 
elektrischen Energie U, der magnetischen 7, der Lagrange’schen 
Funktion L und der Bewegungsgröße © in Richtung der Trans- 


lation zum Vorschein. Da der Zustand stationär ist, so verschwinden 
in (6) und (17) die letzten Glieder und es wird (siehe (4) und (5)) 


Price me) (22)’}as, 
T=+B@/ (eg +1 —B)953)a8=4Rf [ep — A) (FE) as, 


86) L=— 4(1— B)fepds—— 4 fevds =—— (1—PY*R, 
wo & das Selbstpotential 
3 f epdS 
für das ruhende System bedeutet, 
el! ep + a — 9) p53)as=£ | (pp — (189) (E)’)as. 
Es ist also 


BEL EL, 
87) GT 


176 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Wichtig ist auch der Wert von Er e 
man von folgendem Satze der Potentialtheorie ausgeht: 

Erleidet ein ruhendes System, dessen Potentialfunktion 9, ist, die 
unendlich kleine Dilatation x,, während die Dichte o konstant gehalten 
wird und also die Ladung im Verhältnis 1 + x, zunimmt, dann ändert 


sich das Selbstpotential & um den Betrag 


[a4 SerJash- 


Setzt man nun (1— 9) ”—=y, so entspricht einer Änderung dy 


den man leicht erhält, wenn 


; ' 3 d Ä . : 
eine Dilatation n des ruhenden Systems, dessen Dimensionen in der 


x-Richtung ja nach obigem das y-fache von denen des bewegten 
Systems sein sollen. Man gewinnt daher aus dem angeführten Satz 


den Wert von . woraus sich dann, weil nach (36) L= — y"°?2, 
_ die Werte von Fr und En ableiten lassen. Es wird schließlich 

an ? 
> aa 
und, nach der Formel (37), 

1 dl 1 dL 
T— vl zur Der its a 
dLl 

(39) en Neekeeingli.d rn 


Die Bestimmung aller dieser Größen für das bewegte System redu- 
ziert sich daher auf die Berechnung von 2 für das ruhende. Ist das 
bewegte System, wie wir das jetzt voraussetzen wollen, eine Kugel 
mit gleichförmig verteilter Flächenladung, so wird das ruhende ein 
verlängertes Rotationsellipsoid mit der bekannten Ladungsverteilung, 
die auf einem leitenden Körper von dieser Gestalt im Gleichgewicht 
ist, und man findet®°) 

















(40) L=— ur lg, 
(41) u 5], 
(42) U 
3) Pl 2]. 


35) Abraham, 1. c. (Anm. 24), p. 147, berechnet auch die Werte für eine 
Kugel mit gleichförmig verteilter Volumenladung. 


12. Erregende Ladung in einem unendlich kleinen Raum. 177 


Hier ist, wie immer wenn von einer geladenen Kugel die Rede sein 


wird, e die Ladung, R der Radius. 
Vernachlässigt man =, so darf man allgemein gagen, daß ein 


elektrostatisches System, welches sich mit der Geschwindigkeit w 
verschiebt, das elektrische Feld, von dem es im Zustande der Ruhe 
umgeben sein würde, mit sich fortführt. Die Translation hat indes 
ein magnetisches Feld zur Folge, dessen Stärke der Größe ia pro- 
portional ist. 


12. Zustand des Feldes, wenn die erregende Ladung in einem 
unendlich kleinen Raum liegt. Wir betrachten sofort ein bewegtes 
System und nehmen an, daß in einem Raum S, der, physikalisch ge- 
sprochen, als unendlich klein gelten kann, und der sich mit dem 
Koordinatensystem verschiebt, elektrische Ladungen in irgend welcher 
Verteilung vorhanden sind. Wir lassen beliebige Bewegungen dieser 
Ladungen zu, wobei sie jedoch die Grenzen des Raumes S, an welchen 
stets e— 0 ist, nicht erreichen sollen. Einen beliebigen Punkt O 
von $ („Mittelpunkt“) wählen wir zum Koordinatenursprung, und be- 
zeichnen mit x, y, z die Koordinaten eines Punktes @ des Raumes, 
mit x, %, 2 diejenigen eines äußeren Punktes P. Es seien die Ent- 
fernungen OP=r und QP=r’ unendlich groß gegen x, y, z, und 
es mögen in den folgenden Berechnungen die ersten Potenzen von 
x, y, 2 beibehalten, die höheren aber vernachlässigt werden. Wir 
berechnen — vgl. (XT’) und (XII’”) — für den Punkt P und für die 
daselbst geltende Ortszeit it’ das Integral 


Sl as 
rT ’ 


in welchem g irgend eine in jedem Punkte von $ angebbare, ev. mit der 
Zeit veränderliche Größe, und [q] den Wert dieser Größe in Q für 
die daselbst gültige Ortszeit #° — — bedeutet. In dem hierdurch be- 
stimmten Augenblick ist die Ortszeit in O nach (XVII), 


‚ Fr 1 , r 
e—-t3WztWytW.)=t ee, 
wo 


1 1 
=, a@z+yy+t22)+ 5 (W,x +Ww,y + w.2). 
Man hat also, wenn man fernerhin die eingeklammerten Größen 
sich auf den Augenblick beziehen läßt, in welchem die zum Punkte O 


gehörende Ortszeit ft — — ist, |q] zu ersetzen durch [ga] + [a]r- 
Außerdem ist 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 12 


178 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


te 


sodaß schließlich 
a) SWas-+| fs] (Ze +ZEl4 2m). 
+ 55 (m, [&] + mw, [&] + w, [ä,]}, 


a, — [ axaS, q, — [ayas, A, — [unas, 


und wo zu bemerken ist, daß in dem Ausdrucke {} auch die Zähler 
[a,], u.s. w. nach x, y, # zu differenzieren sind. Sie hängen von 


wo 


diesen Größen ab, weil die Ortszeit ! — —, auf welche sie sich be- 


ziehen, eine Funktion von &, y, 2 ist, und weil q (nicht x,y,z) von 
der Zeit abhängt. 
Um die durch die Formeln (XT’) und GE bestimmten Werte 


‚ 13 
p', a,, u. 8. w.'zu berechnen, hat man q durch — oU,, Uu.8.w. 


= 9, me 
zu ersetzen. Es treten dann die Integrale 


(45) Seas; 
(46) Sexas, Seyas, Sozas; 
(47)  Sen.ds, Sou,ds, [ou,ds; 


(48) Sou,xas, Seu.sas, Seu.2ds 
u. 8. w. 
auf. 
Aus (44) läßt sich eine entsprechende Formel für ein ruhendes 
System ableiten. 


13. Ein elektrisch polarisiertes Teilchen. Es mögen zunächst 
die Integrale (45) und (48) verschwinden, (46) und (47) aber von Null 
verschieden sein. Setzt man 


(XD) Seras =», 


wo tr der von 0 aus gezogene Radiusvektor ist, so ist p von der Wahl 
des Ursprungs O unabhängig, und es ist 


Sexds = p,, U.8 WW, Seu,as =p,,u 8 w 


Wenn die soeben gemachten Voraussetzungen erfüllt sind, sprechen 
wir von einem elektrisch polarisierten Teilchen und nennen p dessen 
elektrisches Moment. Die einfachste Entstehungsweise eines solchen 


13. Ein elektrisch polarisiertes Teilchen. 179 


ist eine Verschiebung eines einzelnen in dem Teilchen liegenden 
Elektrons. 
a) Ruhendes .n In dem umgebenden Felde ist 


0 [Pz] ° [Ps] “ na 
(49) ET im Ab r er PR er: a 
(50) = Bl 


Ist p der Zeit nach konstant, so ist a—= (0; man hat sodann zur 
Bestimmung des Feldes 


1 1 1 1 

entre) 
(52) d— — grad p. 

Zu diesen Formeln machen wir zwei Bemerkungen. Erstens daß 
für die unmittelbare Nähe des Teilchens in dem aus (49) und (50) 
folgenden Ausdrucke für d die Glieder mit 1/r? die mit 1/r und 1/r? 
überwiegen, sodaß man annäherungsweise mit (51) und (52) rechnen 
darf, auch dann wenn p variabel ist. Zweitens, daß wenn zwei pola- 
risierte Teilchen « und b mit konstanten Momenten p, und p, zugleich 
im unendlich ausgedehnten Äther vorhanden sind, für den Teil der 
elektrischen Energie, der von diesem Umstande abhängt (Nr. 6), 
(53) U, N (P. z d,,),= BE (P, € d,,) 
geschrieben werden kann. Hier bedeutet d,, die elektrische Erregung, 
die durch das zweite Teilchen an dem Ort des ersten hervorgebracht 


wird. Zum Beweise schreibe man zunächst für die gesuchte Größe 
das über den Raum S des ersten Teilchens erstreckte Integral 


f 09,d8, Ay nach (9) gestattet ist, und ersetze dann 9, durch 
ot x m + U.8.W. 
b) a System. Für dieses gilt 


6 1,0 [pe] [ps] & [pe] 1 
enciarn r +, ie Me r ee (w-[P), 
m E IP], 


(54) d u Gr [$] + 2 grad (7; 0 [pz] + PT ° [prl #5 0 el}, 


dx, r r 
(65) rl) 


Auch hier gelten ähnliche Bemerkungen wie soeben für das ruhende 

System. Ist die Entfernung r so klein, daß das Moment p sich in 

der Zeit r/c nur sehr wenig ändert, dann überwiegen in (54) wieder 
12* 





180 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


die Glieder mit 1/r?; man darf, wenn man sich auf solche Glieder 
beschränkt, 9 —= 0 setzen, und d’, oder .das dann damit zusammen- 
fallende d, nach (51) und (52) berechnen. Das Feld in der unmittel- 
baren Nähe eines Teilchens mit variabelem Moment kann also immer 
als ein elektrostatisches Feld betrachtet werden. Daß dieser Satz, den 
wir mehrfach benutzen werden, auch im Fall einer Translation gilt, 
ist in Übereinstimmung mit der Schlußbemerkung der Nr. 11. Aus 
dem dort Gesagten erhellt auch, daß die Formel (53) für zwei Teil- 
chen mit gemeinschaftlicher Translation richtig bleibt. 


14. Eine einfache Lichtquelle Mit diesem Namen kann man 
ein elektrisch polarisiertes Teilchen bezeichnen, dessen Moment eine 
einfache periodische Funktion der Zeit ist, also etwa 


p=becos (nt-+p), 
wo der konstante Vektor b Richtung und Amplitude der Berihe 
n die Frequenz und p die Phase bestimmt. 

a) Ruhendes System. Es werden die Formeln sehr einfach für 
Punkte, deren Entfernung r von der Lichtquelle sehr groß gegen 
. die Wellenlänge ist. Hat z. B. b die Richtung der x-Achse und liegt 
die Quelle im Ursprung der Koordinaten, so wird in solchen Punkten) 


d,= .. . 2 2” Los In (t— —) +P]|, 











Ance’r 
rg Br re aa [" (e— >) +p], 
(56) 1.0, 5 BEN —: cos Ir (t — —) + v| ; 





0, male 2) +3] 
ne tnfal 2) +2] 


b) Bewegtes System. Es sei für eine in der Richtung der x-Achse 
sich bewegende Lichtquelle 


Akne ıb] c08 (nt 3 P), »„,= 0, )J,= 0. 
Die dazu gehörigen Werte von d,, u. s. w., h,/, u. s. w. erhält man 
aus (56), wenn man ?t durch ?’ ersetzt. Transformiert man dann die 
Formeln auf ein ruhendes Koordinatensystem und die allgemeine 
Zeit t, so erhält man die nach dem Doppler’schen Prinzip statt- 
findende Änderung der Schwingungsdauer ?”). 








36) Vgl. Hertz, Die Kräfte elektrischer Schwingungen, behandelt nach der 
Maxwell’schen Theorie, Ann. Phys. Chem. 36 (1888), p. 1 (Untersuchungen u. s. w., 
p. 147). | 

37) Lorentz, Versuch u. s. w., $ 37. Vgl. unten Nr. 58. 


14. Eine einfache Lichtquelle. 15. Ein magnetisiertes Teilchen. 181 


Im allgemeinen ist noch zu bemerken, daß sich die von den ver- 
schiedenen Komponenten des.elektrischen Momentes herrührenden Felder, 
also auch die von gleichzeitigen Schwingungen in verschiedenen Rich- 
tungen hervorgebrachten Lichtbewegungen einfach superponieren. 


15. Ein magnetisiertes Teilchen. Es soll jetzt angenommen 
werden, daß die Integrale (46) und (47) verschwinden, einige von 
den Integralen (48) aber von Null verschiedene Werte haben. Dabei 
machen wir indes die Beschränkung, daß die Größen 


(57) Sex4s, Sexyas, Sexzas, u. 8. w. 


unabhängig von der Zeit sind, was der Fall sein wird wenn, trotz der 
Bewegungen, die Ladungsverteilung ungeändert bleibt. Es ist dann, 
wenn man den Vektor 


(XXI) = A ofe-n]as- m 


einführt (der infolge der gemachten Annahmen unabhängig von der 
Lage des Koordinatenursprungs ist), 


(58) Seu,zas = 0, Seu,sas =—chm, Seu.sas =-+em,, 


u. 8. W. 


Nennt man für eine Ladung e, die sich mit der Geschwindig- 
keit d bewegt, ev die „Bewegungsgröße der Ladung“, so kann man 
das Integral 


Set v1as, 


oder das in (XXII) vorkommende Integral, welches denselben Wert 
hat, weil die Größen (46) verschwinden, das Drehmoment der Be- 
wegungsgröße der Ladung in Bezug auf den Ursprung nennen. Wenn 
dieses Moment von Null verschieden ist, sprechen wir von einem magne- 
tisierten Teilchen und nennen m das magnetische Moment. Dasselbe 
kann rotierenden oder umlaufenden Bewegungen der im Teilchen ent- 
haltenen Ladungen seine Entstehung verdanken. 

In den folgenden Formeln sehen wir ab von dem Teil des @ehden, 
der von der Gesamtladung (45) herrührt. 


a) Ruhendes System. Hierfür gilt 


8 110 [m] 0 [my] 
9—=(, en nn 5 u. W., 
ERS 110 [m] 0) [ty] 
Be Er " N, u. 8. w., 


182 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


also, falls m unabhängig von der Zeit ist, 
d—=0, 

(59) = — grady, 

wo das magnetische Potential y den Wert 


1 fi oz o /1 
an a Tank rlelenfree! 
hat (vgl. den analogen Ausdruck (51)). 

Wir erwähnen noch die Ausdrücke 


(61) In u (m, h d,4) eg: (m, i 5.3) 
für den Teil der magnetischen Energie (Nr. 6), der durch die gleich- 
zeitige Existenz zweier unveränderlicher magnetischer Momente m, 


und ın, bedingt wird. Man gelangt zu dieser Formel, in welcher h,, 
eine ähnliche Bedeutung wie d,, in (53) hat, wenn man zunächst 


aus (10) den Wert 
1 
73—tfe® -0,)d8 


ableitet, wo über den Raum des ersten Teilchens zu integrieren ist, 
und hier die Komponenten von a,, ähnlich wie in Nr. 13a) den 
Wert von 9,, entwickelt. Schließlich hat man (58) zu benutzen. 

b) Bewegtes System. Für dieses erhält man die Werte 








p - 0, 
(62) «= rt u — 5; |w- I], 
(63) = rl) + [m il] + grad (m rot}, 


Ist m wieder unabhängig von der Zeit, so reduziert sich d’ auf 
das letzte Glied, während 


(64) h = — grad y), 
‚ 1 ER! oe /1 0 (1 
H tete) 
Auch diese Ausdrücke vereinfachen sich, wenn r so klein ist, daß das 
Moment m sich in der Zeit r/ce nur sehr wenig ändert. Man kann 


sich dann in der Gleichung (63) auf das letzte Glied beschränken und 
zur Bestimmung des magnetischen Feldes (59) und (60) anwenden. 


16. Rotierende geladene Kugeln. a) Ein einfaches Beispiel eines 
magnetisierten Teilchens ist eine symmetrisch geladene Kugel, die mit 
konstanter Geschwindigkeit g um einen Durchmesser rotiert. Der 
Mittelpunkt möge in Ruhe bleiben und die Drehungsachse mit der 


16. Rotierende geladene Kugeln. 183 


2-Achse zusammenfallen; es sei r die Entfernung vom Mittelpunkt. Das 
magnetische Moment hat die Richtung der 2-Achse und die Größe 


R 

4m 

Im] = ze forar. 
ö 


Setzt man weiter 2 


= [ordr fürr <R, 


=0 ER, 
und bestimmt man eine Hilfsfunktion & aus der Gleichung 
A=—k, 
dann ist sowohl außerhalb wie auch innerhalb der Kugel 


al 0° 7481.95 PR ia 0° 
enge Ton eat 


Die elektrische Energie ist unabhängig von der Rotation, die 
magnetische läßt sich durch 


6) 120 





darstellen, wo M von der Ladungsverteilung abhängt. Für eine un- 
endlich dünne Kugelschale findet man 


eR 
(67) ir 18c®' 
Im Inneren einer solchen besteht das homogene Feld 
N 0 ,—0, 5,— er 


b) Wir wollen noch kurz andeuten, in welcher Weise die La- 
grange’sche Funktion L= T— U zu berechnen ist für eine symme- 
trisch geladene Kugel von beliebiger Größe, die eine konstante Trans- 
lationsgeschwindigkeit w in der x-Richtung hat, und zu gleicher Zeit, 
ebenfalls mit konstanter Geschwindigkeit, um einen Durchmesser ro- 
tiert. Man kann dabei verfahren®®) wie in Nr. 11 b) (Koordinaten- 
ursprung im Mittelpunkt), und zwar bleibt die Gleichung (30) für das 
skalare Potential ungeändert, während auf der rechten Seite von (31) 
neue durch die Rotation bedingte Glieder auftreten und Gleichungen 
für a, und a, hinzukommen. Auf Grund der Symmetrieverhältnisse 
kann man schließen, daß der gesuchte Wert von L sich aus vier 
Teilen, die sich einfach zueinander addieren, aufbaut. Der erste Teil 


38) Abraham, ]. c. (Anm. 24), p. 131, behandelt auch die Transformation 
der Grundgleichungen auf Koordinatenachsen, die sowohl an der Rotation als 
auch an der Translation des Elektrons teilnehmen. 


184 V 14. H. A. Lorentz. Flektronentheorie. 


ist der bereits in Nr. 11%, ß) gefundene, die anderen entsprechen den 
Komponenten der Drehgeschwindigkeit g und können ohne viele Mühe 
bestimmt werden. 

Betrachten wir beispielsweise die Rotation um die y-Achse und 
verstehen wir also unter a bloß das daher rührende Vektorpotential. 
Die Gleichungen lauten dann: a,—0, 

0?a, Pole PRBRTERT 71 9 
19 dx: Sept Mn, 
0?a, 0?a, 0°a, 
ABIT TH De 
Für den entsprechenden Teil der Zagrange’'schen Funktion erhält man 
aus der Gleichung (6), in der es jetzt nur auf den Teil 


ı few: was 


des ersten Gliedes rechter Hand ankommt, 


1 9y 1 gy 
1% (on,as— 4 " ( 020,08. 


Man benutze weiter die Substitution (33). Dadurch reduziert sich 
das Problem, Flächenladung der Kugel vorausgesetzt, auf die Be- 
stimmung des Selbstpotentials eines Rotationsellipsoids, welches eine 
Flächenladung trägt, die sich, was die Dichte betrifft, von einer La- 
dung der in Nr. 11 b, £) genannten Art entweder durch den Faktor z 
oder durch den Faktor x unterscheidet. Es sind das gerade solche 
Flächenladungen, wie man sie erhält, wenn man von zwei Ellipsoiden 
mit gleichen und entgegengesetzten, gleichförmig verteilten Volum- 
ladungen, die sich ursprünglich decken, das eine in Richtung der 2- 
oder x-Achse unendlich wenig gegen das andere verschiebt. Das ent- 
sprechende Selbstpotential läßt sich daher ziemlich leicht mittels be- 
kannter Formeln®®) bereehnen. Man erhält schließlich für die totale 
Lagrange'sche Funktion 








+ te 














A A ie 
(69) Le — u 75 rg a ver en 2B° I) 
ER@’+H)(_ 1 ,14®, 14 
r PT aa al 2° log 15)" 


17. Das von einem Elektron mit beliebiger Bewegung erregte 
Feld. Will man, unter Zugrundelegung eines ruhenden Koordinaten- 
systems, die Werte von p und a für innere und äußere Punkte be- 
stimmen, so empfiehlt es sich die Gleichungen (XT) und (XII) derart 
umzuformen, daß man über den Raum, den das Elektron zu einer be- 


39) Siehe z. B. Maxwell, Treatise 2, art. 437, 438. 


17. Das von einem Elektron mit beliebiger Bewegung erregte Feld. 185 


stimmten Zeit einnimmt, zu integrieren hat. Es seien: t die Zeit, für 
welche man die Werte von p und a in einem Punkte P berechnen 
will, , irgend ein anderer, beliebig gewählter Augenblick, , y, 2 die 
Koordinaten eines substantiellen Punktes @ des Elektrons in diesem 
letzteren Augenblick. Unter den Lagen, die Q@ im Laufe der Be- 
wegung einnimmt, gibt es eine, @,, welche dadurch ausgezeichnet ist 
daß, wenn sie zur Zeit 4, r erreicht wird, die Entfernung @, P 
gerade den Wert e(t— t,— r) hat. Bei festgesetzten Werten von 
t und i, lassen sich die Koordinaten x,, y,, 2, von @, in den Koordi- 
naten &, y, z ausdrücken. Man ersetze nun in den Gleichungen (XI) 
und (XII) d$ durch Daxdydz, wo D die Funktionaldeterminante der 
%, Y, 2, nach den x, y, 2 ist, e und od durch ihre zur Zeit + 
in @, bestehenden Werte, welche sich ebenso wier= Q, Pin %, 9, 2 
ausdrücken lassen. Am Ende hat man dann nach x, y, 2, d. h. über 
den zur Zeit i, vom Elektron eingenommenen Raum zu integrieren. 
Was die Wahl von £, betrifft, so kann man z. B. = t setzen oder 
es so einrichten, daß für einen bestimmten Punkt des Elektrons 
r=0 wird®). ' 
Wir betrachten speziell ein Elektron, dessen Ladung an alle 

Stellen von gleichem Vorzeichen ist, und von welchem ein Punkt M 
sich mit der Geschwindigkeit vd bewegt, während die Geschwindigkeiten 
der anderen Punkte relativ zu M vernachlässigt werden dürfen. 
Man kann ein solches Elektron, was die Wirkung auf größere Ent- 
fernung hin betrifft, als einen „geladenen Punkt“ betrachten, obgleich 
bei der Ableitung der Formeln für das Feld in der soeben ange- 
gebenen Weise zu verfahren ist. In der Voraussetzung, daß, wenn / 
eine Dimension des Elektrons ist, der Bewegungszustand sich in der 
Zeit l/e nur sehr wenig ändert, und bei Vernachlässigung von Gliedern, 
die, neben der Ladung e, eine Dimension / als Faktor enthalten, er- 
hält*!) man für eine Zeit und einen um r entfernten Punkt P 


(70) 9— nn Mel. 
[9] Tendrle] 
Die eingeklammerten Größen sind für denjenigen Augenblick zu 
nehmen, in welchem ein mit der Geschwindigkeit c fortschreitender 








40) Nach der hier geschilderten Methode lassen sich auch die in Nr. 11 
und 16 für das Feld abgeleiteten Resultate gewinnen, und bestätigt es sich, 
daß ein von d=— oo ab in konstanter Translation begriffenes Elektron sein 
Feld mitführt, daß also eine solche Translation in der Bezeichnungsweise von 
Abraham zu den „ausgezeichneten Bewegungen“ gehört. 

41) Lienard, 1. c. (Anm, 18); Wiechert, 1. c. (Anm. 18). 


186 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Punkt von M aus, in der dann erreichten Lage M’, abgehen müßte, 
um gerade zur Zeit # in P anzulangen. Es ist r—= M’P und v, die 
Komponente von v nach der Richtung M’P. 

Für die Ableitung der Formeln möge folgende Andeutung ge- 
nügen. Man wähle M’ zum Ursprung der Koordinaten, und nehme 
den Augenblick, in dem M diese Lage einnimmt, für die im Anfang 
dieser Nummer mit {, bezeichnete Zeit. Sind dann weiter, wie an 
jener Stelle, x, y, z die Koordinaten irgend eines Punktes des Elek- 
trons zur Zeit Z,, ©, y’, 2’ aber die des entfernten Punktes P, so hat 
man zur Bestimmung der jetzt äußerst kurzen Zeit z die Gleichung 


(2 — 2 —d,r? + usw = et —4W—n), 


also, da e(?—t,)=r, während x, y, z, cr, |b|r als unendlich klein 
betrachtet werden dürfen, 
“ctyy+zz 
Ei —h)r.:.. 





Die Verbindung dieser Gleichung mit 2, —=x2-+b,r u. s. w. führt dann 
auf den Wert 





c 
er v, 
der obengenannten Funktionaldeterminante. Schließlich kann man 
unter &, y, 2 wieder die Koordinaten von P in Bezug auf das ur- 
sprüngliche Achsenkreuz verstehen. 


18. Ausstrahlung von Energie. Um aus (70) die Werte von d 
und h abzuleiten, hat man nach x, y, 2, t zu differenzieren. Dabei 
können, wenn r sehr groß ist, die Glieder mit 1/r? vernachlässigt 
werden; man darf also das r im Nenner als konstant ansehen. Über- 
dies hat man im Auge zu behalten, daß, wenn man und a in dem 
entfernten Punkte P einmal für die Zeit # und dann für die Zeit 
t?+ dt berechnen will, die Augenblicke, auf welche sich die einge- 
klammerten Werte beziehen, nicht um dt, sondern um c/(e — v,) dt 
auseinanderliegen. Es kommt schließlich, wenn j die Beschleunigung 
des Elektrons ist, 








während 


18. Ausstrahlung von Energie. 19. Entstehung von Röntgenstrahlen. 187 


8 1 0 

er == IE [eos (r, x)] re 

da, 1 00, 

dx = — 7% [cos (r, x)] er ‚„ u. SW, 


gesetzt werden darf. Beschränkt man sich nun in den hieraus folgen- 
den Werten von d und H auf die in Bezug auf vd und j linearen An- 
teile, so lassen sich die Vektoren leicht angeben. Es bedeute j, die 
Komponente der Beschleunigung j, senkrecht zu der Verbindungslinie 
M'P. Die elektrische Erregung in P hat dann die Richtung von j, 
und die Größe 
e 
4nc? ?] 


Die magnetische Kraft hat den gleichen numerischen Betrag. Sie 
steht senkrecht auf der durch j und r gelegten Ebene, und zwar hat 
sie solche Richtung, daß der Energiefluß von M’ fortgerichtet ist. 

Eine unendlich große um den Mittelpunkt M’ gelegte Kugel wird 
in der Richtung nach außen von einer Energiemenge durchflossen, 
die pro Zeiteinheit 





e?[j”] 
6rc° 





beträgt*?). 

Während also eine gleichförmig geradlinige Bewegung des Elek- 
trons von keiner Ausstrahlung von Energie begleitet ist, tritt eine 
solche ein, sobald sich die Geschwindigkeit nach Größe oder Richtung 
ändert. 


19. Entstehung von Röntgenstrahlen. Ein kugelförmiges Elek- 
tron bewege sich bis zur Zeit {= (0 mit der konstanten Geschwindig- 
keit v nach O hin, wobei sein Mittelpunkt auf der negativen x-Achse 
fortschreite; in dem Augenblicke t=0, wo der Mittelpunkt den Koordi- 
natenursprung erreicht hat, wird es plötzlich festgehalten. Ein Punkt P 
liege um r von O entfernt, und es bilde OP mit OX den Winkel «. 


Beschränkt man sich wieder auf die Glieder mit z, so ist in diesem 


PR]; R R 
Punkte zur Zeit + r (-7 << +7) 


1 v COS « 
9er), 


—vcosa« % 


,=0, ,=0, 


42) Larmor, On the theory of the magnetic influence on spectra; and on the 


radiation from moving ions, Phil. Mag. (5) 44 (1897), p. 503; Aether and matter, 
hap. XIV. 


188 V 1A. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


wo e, die in einem Kugelsegmente von der Höhe 
h=R- cr 


liegende Ladung ist. In dem genannten Zeitintervall besteht in P 
eine elektrische Erregung 

SR. sin & . de, 

4arce—vcos«a dh’ 
deren Richtung in der Ebene POX senkrecht zu OP steht, und 
eine magnetische Kraft von gleicher Größe, senkrecht zu POX. Das 
plötzliche Vernichten der Geschwindigkeit v bringt demnach eine 
sphärische Welle hervor, deren Dicke dem Durchmesser des Elektrons 
gleich ist, und in der sich eine gewisse Energiemenge ausbreitet. 
J. J. Thomson?) hat in dieser Weise die Entstehung der Röntgen- 
strahlen erklärt, indem er sich der Auffassung“) von Wiechert und 
Stokes anschloß, der zufolge diese Strahlen in kurzen en. 
nacheinander felgendin Impulsen bestehen. 

Obige Betrachtung läßt sich dahin abändern, daß man das Elek- 
tron nicht gerade zur Ruhe kommen läßt, sondern nur eine plötzliche 
Änderung der Geschwindigkeit, vielleicht ein Umschlagen in die ent- 
gegengesetzte Richtung voraussetzt. Findet die Änderung nicht 
momentan, sondern in einer Zeit ® statt, so bleibt, wenn diese <2.R/c 
ist, die Dicke der ausgesandten Welle von derselben Größenordnung 
wie oben; ist aber #>2R/c, so wird die Dicke von der Ordnung c®. 


III. Freie Elektronen. Bestimmung der Bewegung bei 
gegebenem äußeren Felde. 


20. Rückwirkung des Äthers auf ein langsam bewegtes 
Elektron von beliebiger Gestalt. Widerstand gegen die Be- 
wegung. Während in dem letzten Kapitel das von Elektronen mit 
gegebener Bewegung erzeugte Feld Gegenstand der Untersuchung 
war, wenden wir uns jetzt den auf ein Elektron wirkenden Kräften 
und der Bestimmung seiner Bewegung zu. Dieses Problem, das 
Abraham in der schon mehrfach eitierten Arbeit ausführlich behandelt 
hat, kompliziert sich durch den Umstand, daß ein Elektron nicht nur 


43) J. J. Thomson, A theory of the connexion between cathode and Röntgen 
rays, Phil. Mag. (5) 45 (1898), p. 172. 

44) E. Wiechert, Die Theorie der Elektrodynamik und die Röntgen’sche 
Entdeckung, 1.c.(Anm. 9); Über die Grundlagen der Elektrodynamik, Ann. Phys. 
Chem. 59 (1896), p. 283; @. @. Stokes, On the nature of the Röntgen rays, Manch. 
Memoirs 41 (1897), Mem. 15. 


20. Rückwirkung des Äthers auf ein langsam bewegtes Elektron. 189 


infolge des von anderen Teilchen erregten Feldes, sondern auch wegen 
des eigenen Feldes eine Kraftwirkung erleidet. Diese wollen wir zu- 
nächst betrachten. Dabei können wir ganz allgemein in der Weise 
verfahren, daß wir nach der in Nr. 17 dargelegten Methode das Feld 
bestimmen und dann (VI) anwenden. Jetzt, da es sich um die Be- 
stimmung von und a in einem Raumpunkte P(x’, y’, 2”) handelt, 
der zu der betrachteten Zeit im Inneren des Elektrons liegt, 
empfiehlt es sich für den in Nr. 1% mit {, bezeichneten Zeitpunkt 
‘den Augenblick t selbst zu wählen, 'sodaß r—= — r/c wird. Setzt 
man weiter 2 —=x-+-8 u.s. w., indem man wie früher unter x, y, 2, 
bez. &,,Y,, 2, die Koordinaten ein und desselben substantiellen Punktes 
zu den Zeiten Z, und 4,-+-r versteht, so ist, reine Translation voraus- 
gesetzt, 


1d 15 
(71) mar are zart, u. 8. w., 


wenn d,,d,,d,... die zur Zeit £ bestehenden Werte sind. Diesen 
Kuuditcken für 8, n, & entsprechen am Ende der Rechnung ähnliche 
Reihenentwickelungen für die Komponenten der Gesamtkraft %, mit 
welcher der Äther auf’das Elektron wirkt, und es sollen bereits jetzt 
die Reihen in der Weise abgebrochen werden, daß in dem Endresul- 
tate keine Glieder erscheinen, die neben dem Quadrate der Ladung e 
noch eine Dimension des Elektrons als Faktor enthalten. Setzen wir 
außerdem v,d, u.s. w. als so klein voraus, daß man nur die in Bezug 
auf diese Größen linearen Glieder beizubehalten braucht, dann darf 


man in (71) unter r die Entfernung QP ARFANEN: ee ‚ wenn 


man das tut, in der Formel (XI) der Faktor —- - (a. h. on) durch 


(72) det 


zu ersetzen ist. Was die in Nr. 1% ala) nn. 
D anbelangt, so hat diese den Wert 1 +5 +2 +35 —; für das 
Produkt derselben mit dem Ausdrucke (72) Iabk in daher schreiben 


tale ae Ihe): 
Der Wert von p ist demnach 
2er rss okerigkengli 


wo nach Einsetzung der Werte (71) über den Raum, den das Elek- 
tron zur Zeit 2 einnimmt, zu integrieren ist. 


QAP. 


190 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie, 


Andererseits darf man in der Gleichung (XII) für das Vektor- 
potential, weil hier ein Faktor [v] steht, unter r ohne weiteres die 
Länge von Q P verstehen; jener Faktor ist aber jetzt zu ersetzen durch 


sodaß 





wird. Ist nun schließlich 48’ ein am Punkte (x’, y’, 2”) liegendes 
Element des Elektrons, und o’ die in demselben bestehende Dichte, 
so erhält man 


F., = fe Bas — 2 feüas‘, u. 8. w,, 
oder nach Ausführung aller Rechnungen 


) Bl ade 
Ö ee (e — a) (y — y) ‚ 
FERIR. JE = 8a. 














Arc? 


d, 00 (X — x) ( — 2) ; Ben 
eff 53 dSdS ige de U: 


In den Integralen ist hier jede Kombination zweier Elemente 
nur einmal zu nehmen. 


Die Kraft 
(74) us 


6rc° 





kann man als einen Widerstand betrachten“). Sie hängt mit der in 
Nr. 18 erwähnten Ausstrahlung von Energie zusammen. 


21. Elektromagnetische Masse der Elektronen. Die letzten 
Glieder in den Formeln (73) sind, im Vergleich zu den ersten Glie- 
dern, klein von der Ordnung 


l 
1 


wo ! eine der Dimensionen des Elektrons ist; man darf sie daher 
vernachlässigen, wenn d sich in der Zeit - nur wenig ändert. Die 
dann übrig bleibenden ersten Glieder können nun in einfacherer Weise, 
und zwar für beliebig rasche Bewegungen berechnet werden, wenn 


man seine Aufmerksamkeit auf die (für den unendlichen Raum ge- 
nommene) elektromagnetische Bewegungsgröße ©“ richtet. Kennt 


45) Lorentz, La theorie @lectromagnetique ete., $ 120. Hier hat sich indes 
ein Rechenfehler eingeschlichen. Die beiden Glieder des Ausdrucks (111) sind 
mit dem Faktor % zu multiplizieren. 


21. Elektromagnetische Masse der Elektronen. 191 


man nämlich die letztere für jede Zeit, dann folgt (Nr. 7) die resul- 
tierende Kraft sofort aus 


(75) g- 


während sich auch ein eventuell vorhandenes Kräftepaar N leicht aus 
einer in Nr. 7 angeführten Gleichung ableiten läßt. 

a) Ein Elektron von beliebiger Gestalt habe eine reine Trans- 
lation, deren Geschwindigkeit von {= — oo an konstant war, sodaß 
sich der in Nr. 11 b) untersuchte stationäre Zustand eingestellt hat. 
Es ist dann ©“ konstant, % = 0, d. h., um die Geschwindigkeit kon- 
stant zu erhalten, ist keine äußere Kraft erforderlich. Im allgemeinen 
muß aber ein äußeres Drehmoment wirken, wenn das Elektron auch 
seine Orientierung fortwährend behalten soll. Es folgt ja aus der 
Formel (16) für N,, welche Größe, wenn die Integration über den 
ganzen Raum erstreckt wird, mit W selbst identisch ist (vgl. Nr. 7), 
daß die Wirkung des Äthers ein resultierendes Drehmoment R— [®*-v] 
liefert. Man gelangt zu diesem Ausdruck, wenn man unter r den von 
einem bestimmten Punkte des Elektrons nach dem feststehenden Raum- 
elemente d‚S gezogenen Radiusvektor versteht und beachtet, daß 


d 
2 fe s1as=0, 


und also 


4 fir 20-4 fi 148-4 [p-8148-—1- 6. 


Für eine symmetrisch geladene Kugel ist das Drehmoment natürlich Null, 
für Elektronen von anderer Gestalt aber verschwindet es nur bei gewissen 
bestimmten Orientierungen, unter welchen dann noch stabile und labile 
zu unterscheiden sind. Sobald nämlich das Elektron aus einer Lage, 
für welche X—=0, um einen kleinen Winkel gedreht wird, tritt ein 
Drehmoment auf, welches das Teilchen entweder nach der ursprüng- 
lichen Lage zurücktreiben, oder weiter von derselben entfernen wird. 
Für ellipsoidische Elektronen hat Abraham diesen Punkt untersucht. 

b) Ein kugelförmiges Elektron habe eine Translation mit der 
veränderlichen Geschwindigkeit v, und es sei, für die Zeit t, ©@ die 
elektromagnetische Bewegungsgröße, die bestehen würde, wenn die 
dann vorhandene Geschwindigkeit seit = — oo mit konstanter Rich- 
tung und Größe bestanden hätte, &°— & + &2 aber die wirkliche 
Bewegungsgröße, sodaß &2 den von der Änderung der Bewegung 
herrührenden Anteil bedeutet. Die resultierende Kraft ist 

d& d®; 
ne isgre Ten 





192 Vıa. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Je langsamer sich nun der Bewegungszustand ändert, um so mehr 
(47 


tritt 6% hinter 2, und ebenso en hinter nn zurück; im Falle sehr 





langsam veränderlicher Zustände („quasi-stationärer“ Bewegungen, wie 
Abraham sie nennt) darf man daher in (75) unter &° den Vektor & 
verstehen. 

Es seien j’ und j” die Tangential- bez. Normalbeschleunigung, 


x das Verhältnis 9°. Dann ist, mit Rücksicht darauf, daß j’ und 


Id 
&“ die Richtung von vd haben, 
dv vr = Ri 2 
zit Gil W-lol‘ 
G = ev. 


Diese letztere Gleichung liefert, wenn man sie nach £ differenziert, 


MEM 


= — mi —m’j, 
wo 


d|8« 


‚ de [2 &« 
(76) m Mans ie m | j 


IvI 








Wir nennen m die materielle Masse des Elektrons, %° eine äußere 
auf dasselbe wirkende Kraft. Die Bewegungsgleichung lautet dann 


F+3-nd+), 
F- mt ++“. 


Der Einfluß des eigenen Feldes läßt sich demnach als eine schein- 
bare Vergrößerung der Masse beschreiben, und zwar beträgt diese 
Vergrößerung, was die Beschleunigung in Richtung der Bahn betrifft, 
m', und was die Normalbeschleunigung anbelangt, m”. 

Für eine Kugelschale sind nach (76) und (41) die für die beiden 
Beschleunigungskomponenten in Betracht kommenden „scheinbaren“ 
oder „elektromagnetischen“ Massen) 


u at ee. 14 il: 
A) m RR ker m 108 


De = aeipal tt] 
oder 


m teetrht-), 
atetetetet): 


oder 








46) Diese Werte wurden von Abraham, 1. ce. (Anm. 24), p. 152 angegeben. 


22. Rückwirkung des Äthers auf ein rotierendes Elektron. 193 


Für kleine Geschwindigkeiten ist 
(79) mM:=m' = — 


im allgemeinen aber ‚ Z 
m > m”. 


Es ist noch zu bemerken, daß für die Bestimmung von m’ schon 
das Energiegesetz ausreicht; dieses führt zu dem mit (76) identischen 
Resultat (vgl. (38) und (39) 

1 dU+N 


m = — 
vl div] 


ec) Was die Grenzen betrifft, innerhalb welcher die oben für 
quasi-stationäre Zustände abgeleiteten Resultate gelten, so ergeben 
sich diese am leichtesten, wenn man das Problem nach der in Nr. 20 
angegebenen Methode behandelt. Die Gültigkeitsbedingung besteht 
darin, daß, wenn / eine Dimension des Elektrons ist, in der Zeit 
l/(e— |v|) der Bewegungszustand (d. h. nicht bloß die Geschwindigkeit, 
sondern auch die Beschleunigung) sich nur in geringem Maße ändern soll. 


22. Quasi-stationäre Bewegungen im allgemeinen. Rückwir- 
kung des Äthers auf ein rotierendes Elektron. Wir betrachten 
noch kurz ein Elektron von beliebiger Gestalt und mit irgend 
welcher Ladungsverteilung, dessen Lage wir durch die (Lagrange’schen) 
Koordinaten p bestimmen. Wir setzen voraus, daß zu jeder Zeit 
das eigene Feld mit genügender Annäherung als durch die augen- 
blickliche Lage und Geschwindigkeit bestimmt angesehen werden 
darf, und daß man also die Lagrange'sche Funktion L=T—U 
als Funktion der p und der 9 behandeln kann. Es soll die der 
Koordinate p entsprechende Kraftkomponente P, insofern sie vom 
eigenen Felde herrührt, berechnet werden. Zu diesem Zwecke gehen 
wir auf (25) zurück, und zwar wollen wir uns die virtuellen Ver- 
rückungen q des Elektrons mit solchen Variationen dd kombiniert 
denken, daß das variierte Feld eben dasjenige ist, welches bestehen 
würde, wenn das Elektron die variierte Bewegung wirklich ausführte. 
Für die variierte Bewegung ist dann, ebensogut wie für die ursprüng- 
liche, L Funktion der p und der p». 

Wir integrieren die Gleichung (25) von t, bis t, und nehmen zur 
Vereinfachung an, daß für diese Zeitpunkte do p=0 und I —=(, 
was nach dem Gesagten für *=t, oder t=1t, auf 0’7T = 0 führt. Also 


ta 


ty t, 
Jpr-«= for. =D (E09 +%% 55) a - 
2 t 


2 
to 


IE aa, 
Eneyklop. d. math. a ; v2 13 


194 V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


und, da dE= DI Pöp, 

OL d (oL 
(80) Pe ale) 
Von dieser Gleichung ausgehend, gelangt man leicht zu den Ergeb- 
nissen der vorigen Nummer. Auch könnten wir mittels derselben 
untersuchen, inwiefern das Gefundene gültig bleibt, wenn zugleich mit 
der Translation auch eine Rotation stattfindet*). Wir hätten dann für 
L den Wert (69) einzusetzen. Doch wollen wir das nicht weiter 
ausführen und uns, was rotierende Elektronen betrifft, auf den Fall 
beschränken, daß, wie auch in Nr. 16 a) vorausgesetzt wurde, keine 
Translation besteht. 

Ist die Rotationsgeschwindigkeit g der dort betrachteten Kugel mit 
der Zeit langsam veränderlich, so wirkt der Äther auf dieselbe mit 
einem Drehmoment — Mg um die z-Achse. Ebenso wie oben von 
einer elektromagnetischen Masse, kann man daher von einem schein- 
baren oder elektromagnetischen Trägheitsmomente M reden. 

Auf die Berechnung des Widerstandes, den ein Elektron mit 
variabler Rotation im allgemeinen erleidet, und der mit der Kraft 
(74) zu vergleichen ist, soll hier nicht eingegangen werden. 


23. Wirkung eines äußeren Feldes. a) Die auf den kleinen 
Raum $ (Nr. 12) beschränkte geladene Materie befinde sich in einem 
konstanten und homogenen Felde d,5. Es sei vd, die absolute Ge- 
schwindigkeit des Punktes O0, v = v, + v’ die Geschwindigkeit irgend 
eines andern Punktes, und, indem wir unter x, y, z die Koordinaten in 
Bezug auf drei durch O gelegte und sich mit diesem Punkte verschie- 
bende Koordinatenaxen verstehen, 


Seds ==6, Jexds =, u. W, Sov:dS =), u 8 w. 
Aus (VI) ergibt sich für die resultierende Kraft 
(81) I=-od+ m HH 


Bei der Berechnung des Drehmomentes N in Bezug auf O nehmen 
wir an (vgl. Nr. 15), daß von der Änderung der Größen (57) ab- 
gesehen werden kann, sodaß wir setzen dürfen 


Sov:xdS (0, Sev:yds = — ci, Sev:248 =-+em, us. w., 


47) Die Arbeit von Schwarzschild, Über die Bewegung des Elektrons, Gött. 
Nachr. math.-phys. Kl. 1903, p. 245, in welcher der Einfluß der Rotation ausführ- 
lich untersucht wird, konnte ich nicht mehr berücksichtigen. 


23. Wirkung eines äußeren Feldes. 195 


wenn 
1 ‚ 
4 fer v1as = m, 


in welcher Formel r den von O nach dem Elemente dS gezogenen 
Radiusvektor bedeutet. 
Man erhält dann 


(82) N— [Pd] + Ph + m - Hl. 


b) Für den Fall, daß die Ladung symmetrisch in Bezug auf 
drei durch O gelegte Koordinatenebenen verteilt ist, und daß die 
geladene Materie sich nur wie ein starrer Körper bewegen kann, 
wollen wir auch die Formeln für die Wirkung eines nicht homogenen 
und variablen Feldes anführen. Es sei g die Winkelgeschwindigkeit 
um eine durch O gehende Achse, also, wenn r der von 0 aus gezogene 


Radiusvektor ist, 
v=lg:1; 


Jez?4s = Q,ı, Ses?ds = o, Soz’d8 =: 
Unter 


weiter 


ob, 
Dun: Di, Ga, U. 8. W. 


sollen jetzt die Werte in O verstanden werden, sodaß für die: Werte 
in anderen Punkten zu setzen ist: 


(83) De 5 a De, us w. 
Beachtet man auch, a ih 


p= 0, foxyas — 0, u.s.w., 


so findet man 


4) et dt 
ds ie (2% An Tr g, on) EUR eg — - | ,‚ u.s.Ww. 


(85) N, — Gr Tr Od, + 
in r e-mail 


e — (9,5. sus Q,9;D, ), U. 8. w. 


ce) Für ein a Elektron tt, = Q, = Q,=0,1=— 09. 
Man erhält dann mit Rücksicht = an und (V) 


N— 0% ’+[m- b], 


13* 


196 V 14. H.A.Lorentz. Elektronentbeorie. 


= 


wo sich = auf die Änderung von 5 im Mittelpunkte der fortschrei- 


tenden Kugel bezieht. Besteht kein weiteres Kräftepaar, und ist zu 
einer Zeit, ddh=0 war, g=0, m=( gewesen, dann ist für alle 
späteren Zeiten 


9 —ı85, m—-—4%5, 

wenn M das Trägheitsmoment in Bezug auf einen Durchmesser ist. 
Es gilt dieses Resultat sowohl wenn in dem Raume, wo ein nicht 
fortschreitendes Elektron liegt, ein magnetisches Feld entsteht, wie 
auch, wenn das Elektron in ein bereits vorhandenes Feld hineinfliegt. 

Besonders einfach gestaltet sich das Resultat für eine Kugel- 
schale (Nr. 16). Hier ist Q=+4eR?, also, wenn kein wirkliches 
Trägheitsmoment neben dem elektromagnetischen besteht, sodaß für 
M die Formel (67) gilt, 


(86) 9 —#h, m=—2aRl, 


In Verbindung mit (66)—(68) zeigt dieses, daß das Elektron 
gerade in so rasche Rotation gesetzt wird, daß im Inneren das 
magnetische Feld aufgehoben wird und daß die von der Rotation 
herrührende magnetische Energie den Wert 


(87) — — (mh) 
hat. 





d) Wir betrachten schließlich, und zwar nur insofern sie sich 
in einer resultierenden Kraft % äußert, die Wirkung eines beliebigen 
Feldes auf ein polarisiertes Teilchen, dessen Moment variabel ist. 
Wir lassen dabei den Punkt O (Nr.12) des Teilchens in Ruhe 
bleiben und behandeln nicht nur die Koordinaten x, y, z, sondern auch 
die in dem Teilchen vorkommenden Geschwindigkeiten vd als unend- 
lich klein. Indem wir nun wieder d, u. s. w. durch die Ausdrücke (83) 
ersetzen, erhalten wir 


SB) ne tn ZetnGetel ih usw 


oder, da nach der (IV) 
od, 
ve 

od, od 1d 
d, = mu Pir-rez FM 7 Dry rer u. 8. W. 


e) Eine ähnliche Gleichung gilt für ein magnetisiertes Teilchen, 
das sich in einem nicht homogenen magnetischen Felde befindet, und 





Mb EB 
+, b,, ae u. 8. w. 








23. Wirkung eines äußeren Feldes. 197 


dessen Mittelpunkt in Ruhe bleibt. Ersetzt man nämlich in dem 
zweiten Teile der elektrischen Kraft (VI) h, durch 6, + x: > Zr Be - 


+2 Er, u. 8. w. wo sich jetzt ,, 4 3, En u. 8. w. a id: 


punkt beziehen, und nimmt man an, daß die Gesamtladung (45) Null 
ist, dann erhält man mit Rücksicht auf (58), wo jetzt v statt u ge- 
schrieben werden darf, für die resultierende Kraft 

Ge me mo. 

f) Es ist bemerkenswert, daß man die Wirkung eines gegebenen 
äußeren Feldes auf ein Elektron mit beliebiger Ladungsverteilung ganz 
allgemein in einer der Gleichung (80) entsprechenden Form darstellen 
kann. Wir bezeichnen wieder, wie in Nr. 22, die Lagrange’schen 
Koordinaten des Teilchens mit p, verstehen aber jetzt unter P die zu 
der Koordinate p gehörende vom äußeren Felde herrührende Kraftkom- 
ponente; demgemäß soll in der Gleichung (25), von der wir ausgehen 
wollen, öE bloß die virtuelle Arbeit dieser äußeren Kräfte bedeuten. 
Das äußere Feld möge das zweite, das zum Elektron selbst gehörende 
das erste Feld genannt werden. Nur dieses letztere Feld d,, h, wollen 
wir variieren, und zwar denken wir uns, daß sich zu den Verrückungen q 
der Ladungen solche Variationen von d, gesellen, daß das Elektron 
in seiner varlierten Bewegung gerade von demjenigen Felde begleitet 
wird, welches es hervorrufen würde, wenn die variierte Bewegung 
eine wirkliche wäre. Was nun die Variation von L=T-—U be- 
trifft, so kommt es jetzt offenbar nur auf die Änderung des früher 
(Nr. 6) mit Z,, bezeichneten Teiles an; desgleichen brauchen wir nur 
auf das letzte Glied in dem Werte 


eT— 2 fc, daS + 2 I’ )d8, 


wo der Verrückungsstrom ö’c = dd, + 0,9 ist, Rücksicht zu nehmen. 
Aus der Verbindung der Gleichungen (25) und (11) folgt daher, 


wenn man 


(89) BR — [otyd8 


setzt 
\ %:d = 
0 = OL 2; (a, -0,9)d8, 


mithin, wenn für 2=t, und t{=t, die Verrückungen q verschwinden, 


198 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Da nun, wie aus (12) erhellt, der Wert von L außer von 9, und a, 
nur von den Koordinaten p und den Geschwindigkeiten » des Elek- 
trons abhängt, so finden wir‘®) 

oL d (eL 
er Pla) 

24. Bewegung eines Elektrons in einem gegebenen Felde. Die 
durch die Gleichungen (84) mit Fortlassung der letzten Glieder be- 
stimmte Kraft reicht vollständig hin zur Erklärung der gekrümmten 
Bahn, welche Kathodenstrahlen in elektrischen und magnetischen 
Feldern zeigen; auch die Beobachtungen über das Potentialgefälle, dem 
die in diesen Strahlen fortfliegenden Elektronen ihre Geschwindigkeit 
zu verdanken haben, sowie über die Änderung der Geschwindigkeit 
durch in der Bewegungsrichtung wirkende elektrische Kräfte sind mit 
der Theorie in befriedigender Übereinstimmung. Was die magnetische 
Ablenkbarkeit betrifft, so ist zu bemerken, daß dieselbe unabhängig ist 
von der Rotation, welche die Elektronen in dem magnetischen Felde 
annehmen können. In einem homogenen Magnetfelde ist die Bahn 
eine auf einem Kreiszylinder liegende Spirale; die Achse des Zy- 
linders hat die Richtung des Feldes und der Radius ist 

me|v}| sin (v, 6) 
eh ; 
wo unter m die Summe der elektromagnetischen Masse m” (Nr. 21), 
und einer eventuellen wirklichen Masse zu verstehen ist. Für ein 
beliebiges magnetisches Feld hat man die Bahn noch nicht bestimmen 
können. Poincard”?) hat indes die Bewegungsgleichungen integriert 
für ein Magnetfeld, dessen Kraftlinien nach einem Punkte hin kon- 
vergieren, und Riecke®) für den Fall der Superposition eines homo- 
genen magnetischen und eines ebenfalls homogenen elektrischen Feldes. 
Die Feldrichtungen können dabei in beliebiger Weise zueinander 
geneigt sein. 

Ähnliches wie von den Kathodenstrahlen gilt auch von den Becquerel- 

strahlen. Im allgemeinen lassen sich bei diesen Phänomenen durch ge- 





eignete Kombination verschiedener Beobachtungen das Verhältnis n 


48) Vgl. Schwarzschild, 1. ec. (Anm. 21). 

'49) Poincare, Remarques sur une experience de Birkeland, Par. C. R. 123 
(1896), p. 530. 

50) E. Riecke, Bewegung eines elektrischen Teilchens in einem Felde elektro- 
statischer und elektromagnetischer Kraft, Ann. Phys. 4 (1901), p. 378; Zur Be- 
wegung eines elektrischen Teilchens in einem konstanten elektromagnetischen 
Felde, Ann. Phys. 7 (1902), p. 401. 


24. Bewegung eines Elektrons. 25. Wechselwirkung zweier Elektronen. 199 


und der Wert von |d| bestimmen. Bei den Untersuchungen von Kauf- 
mann!) über Becquerelstrahlen wurden hohe Werte für die Ge- 


schwindigkeit — bis über 0,95 c — gefunden, und es zeigte sich, daß n 


bei den verschiedenen Geschwindigkeiten nicht den gleichen Wert 
hat. Dies beweist, daß jedenfalls die elektromagnetische Masse von 
derselben Größenordnung wie die wirkliche Masse ist; es sind sogar 
die Messungen mit der Auffassung, daß letztere gar nicht existiert, 
sehr gut verträglich. Abraham ist bei seiner Behandlung der Dynamik 
des Elektrons von dieser Auffassung ausgegangen. 

Ist n der Wert, den die Beobachtungen für das Verhältnis = 
ergeben, so ist 
m <<; 


also, wenn man es mit nicht zu großen Geschwindigkeiten zu tun 


hat und die Elektronen als geladene Kugelschalen betrachtet, nach (79) 
R er ne 


= 6nc? 
Da man nun zuverlässige Schätzungen über den Wert von e gemacht 
hat, so kann man eine untere Grenze für den Radius AR festsetzen. 
Nach der Auffassung von Abraham müssen in den letzten Formeln 
die Ungleichheitszeichen fortbleiben. 


25. Wechselwirkung zweier Elektronen’). Kombiniert man die 
Formeln für das von einem Elektron erregte Feld mit dem, was über 
die Wirkung des Feldes gesagt wurde, so gelangt man zu der Wirkung, 
welche das eine Elektron unter Vermittelung des Äthers auf das an- 
dere ausübt. Es soll hier nur erwähnt werden, was für diesen Fall 
aus den Gleichungen von Nr. 23 f) wird, wenn wir die Dimensionen 
der Elektronen e, und e, als äußerst klein gegen ihren Abstand be- 
trachten. Aus (90) folgt für die rechtwinkligen Komponenten der auf 
e, wirkenden Kraft 

oL d /(eL 


(91) = et rk u. 8. w., 


wo nach (89) 
L=— e%s 


51) W. Kaufmann, Die magnetische und elektrische Ablenkbarkeit der 
Becquerelstrahlen und die scheinbare Masse der Elektronen. Gött. Nachr., math.- 
phys. Kl. 1901, p. 143; Über die elektromagnetische Masse der Elektronen, ibid. 
1903, p. 90. 

52) Vgl. Wiechert, Elektrodynamische Elementargesetze, Arch. neerl. (2) 5 
(1900), p. 549; Schwarzschild, Die elementare elektrodynamische Kraft, Gött. 
Nachr., math.-phys. Kl. 1903, p. 132. 


200 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


ist. Substituiert man hier für %,, den Wert (12), und für , und a, 
die aus (70) folgenden Werte, dann erhält man 


(92) ee a ER 1-50). 
iu|r (i uns =r)] 

Es ist vielleicht nicht überflüssig, an die Bedeutung der hier auf- 
tretenden Symbole zu erinnern. Man fasse die wirkliche Bewegung 
von @, und eine bestimmte Zeit £ ins Auge, gebe aber zunächst dem 
Elektron e, eine beliebige Lage ©, mit den Koordinaten &,, y,, 2, und 
eine beliebige Geschwindigkeit dv, mit den Komponenten ä,, %, &- 
Unter den aufeinander folgenden Lagen von e, suche man weiter die- 
jenige, wir wollen sagen zur Zeit &—r erreichte Lage (, auf, die 
der Bedingung genügt, daß C,C, gerade die Länge cr hat. Wenn 
man dann mit dem Werte r—=(,C, und der Geschwindigkeit v,, 
welche e, in der Lage C, hat, und deren Komponente nach der Rich- 
tung (0,0, für v,, zu nehmen ist, die Größe L berechnet, erhält man 
diese als Funktion von 4, &,, Yı, 21; %> Yı, 21. Man differenziere diese 
Funktion, bei konstant gehaltenem ?, nach &,, &,, u. s. w. und lege 
in dem Resultat diesen Größen die Werte bei, die sie zur Zeit i in 
Wirklichkeit haben. In dieser Weise gelangt man zu den in der 
Gleichung (91) vorkommenden Werten von = und Se, deren letzter 
dann noch total nach £t zu differenzieren ist. \ 

Das gefundene Resultat läßt das Verhältnis der Elektronentheorie 
zum Clausius’schen Gesetze°?) deutlich erkennen. Man kann nämlich 
auch nach diesem die Kraftkomponenten mit Hilfe der Formeln (91) 
bestimmen; nur hat man statt (92) die ähnlich gebaute Größe 

1=-—4: [11-509], 


4er 





wo sich alles auf dieselbe Zeit t bezieht, zu nehmen. 


IV. Elektromagnetische Vorgänge in ponderablen Körpern. 


26. Die Elektronen in den ponderablen Körpern’*). Zur 
Unterscheidung mögen die Elektronen, die in einem Leitungsstrome 
über größere Strecken hin fortwandern, gleichviel ob sie vollkommen 


53) Vgl. den Artikel V 12 von Reiff und Sommerfeld, Nr. 9. 

54) Vgl. zu diesen und den nächstfolgenden Nummern Larmor, Aether and 
matter; Walker, Aberration ete.; Lorentz, De grondvergelijkingen voor electro- 
magnetische verschijnselen in ponderabele lichamen, afgeleid uit de electronen- 
theorie, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 11 (1902), p. 305 (Amsterdam 
Proceedings 1902—1903, p. 254). 


26. Die Elektronen in den ponderablen Körpern. 27. Mittelwerte. 201 


frei (Metalle), oder an Atome oder Atomgruppen gebunden (Elektro- 
lyte) sind, Leitungselektronen heißen, dagegen die Teilchen, welche 
im Inneren eines Atoms oder Moleküls aus ihrer Gleichgewichtslage 
verschoben werden können, sodaß das Atom oder das Molekül elek- 
trisch polarisiert wird, wie man das für nichtleitende Körper im elek- 
trischen Felde anzunehmen hat, Polarisationselektronen, und schließlich 
die Teilchen, deren rotierende oder umlaufende Bewegungen sich uns 
als eine Magnetisierung bemerklich machen, Magnetisierungselektronen. 
Finden die verschiedenen Vorgänge zu gleicher Zeit in demselben 
Körper statt, so soll angenommen werden, daß die drei verschiedenen 
Klassen nebeneinander vorhanden sind und in den Betrachtungen 
scharf voneinander getrennt werden können, obgleich das vielleicht 
kein getreues Bild der Wirklichkeit ist. 


27. Mittelwerte. Die Grundgleichungen (I) bis (V) sind in 
jedem Punkte des Raumes in aller Strenge erfüllt, und würden es 
ermöglichen, bei vollständiger Kenntnis der Lagerung und der Be- 
wegungen der Elektronen den Zustand bis in alle Einzelheiten zu 
überblicken und das elektromagnetische Feld mit allen den raschen 
und oft höchst unregelmäßigen Änderungen, die von Punkt zu Punkt 
in demselben bestehen müssen, genau kennen zu lernen. Offenbar ist 
aber an eine derartige Behandlungsweise nicht zu denken. Für das 
Verständnis mancher Tatsachen kann man sich indes mit weniger 
tiefgehenden Betrachtungen zufrieden stellen; es sind ja auch nicht 
die Vorgänge in den einzelnen Elektronen, Atomen und Molekülen, 
die sich dem Beobachter zeigen; was man wahrnimmt ist vielmehr 
immer durch die Mitwirkung unzählig vieler Teilchen bedingt und 
hängt von den Mittelwerten der über gewisse Räume verbreiteten 
Zustandsgrößen ab. 

„Physikalisch unendlich klein“, im Gegensatz zu „mathematisch 
unendlich klein“ soll eine Länge / heißen, wenn sie folgende Be- 
dingungen erfüllt. Erstens sollen in zwei Punkten, die um die 
Strecke Z voneinander entfernt sind, die der Beobachtung zugäng- 
lichen Zustandsgrößen keinen bemerkbaren Unterschied zeigen, mit 
andern Worten, wenn, für irgend eine solche Größe p, der Wert 
von grad p von der Ordnung g/l, ist, so soll 1,/l eine sehr große 
Zahl sein. Zu gleicher Zeit sollen die Entfernungen zwischen einem 
Körperteilchen und den nächstbenachbarten, welche Entfernungen von 
der Größenordnung /, sein mögen, äußerst kleine Bruchteile von / sein. 

In einigen Fällen werden wir uns vorstellen, daß zwischen /, 
und /, zwei oder sogar drei Größen, etwa I, 2’, 1” eingeschaltet werden 
können, derart, daß die Verhältnisse /,/l, 1/1’, 7/1”, 1”/l, sämtlich sehr 


202 V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


große Zahlen sind. Wir können dann /, !’, 1” als physikalisch un- 
endlich kleine Längen verschiedener Ordnung, und zwar I als die 
Länge der niedrigsten Ordnung bezeichnen. 

Den Mittelwert irgend einer skalaren oder Vektorgröße A im 
Punkte P definieren wir durch die Gleichung 


=: 1 
(93) A— ufnas, 


in welcher $ die Größe eines den Punkt P enthaltenden physikalisch 
unendlich kleinen Raumes bedeutet und die Integration sich über diesen 
Raum erstreckt. Wenn nötig, sind dabei über Gestalt, Größe und 
Lage der Grenzfläche 6 von S nähere Festsetzungen zu treffen. Hat 
man das für einen Punkt P getan, so soll bei der Berechnung der 
Mittelwerte für irgend einen anderen Punkt P’ der Raum 8’ gewählt 
werden, den man erhält, wenn man den Raum $ um die Strecke 
PP’ verschiebt. Bei bestimmter Wahl der Fläche 6 ist der Mittel- 
wert A eine Funktion der Zeit und der Koordinaten des Punktes P. 
Es kann und soll die Fläche 6 so gewählt werden, daß die von dem 
molekularen Gefüge des Körpers herrührenden raschen und unregel- 
mäßigen Änderungen der Größe A aus dem Mittelwerte verschwunden 
sind. Man sieht leicht, daß diese Bedingung genügt, um die Defi- 
nition des Mittelwertes von jeder Unbestimmtheit zu befreien und daß 
es auf die Gestalt und Größe des Raumes S, vorausgesetzt daß die 
Dimensionen physikalisch unendlich klein bleiben, weiter nicht an- 
kommt; ebenso daß man setzen darf?) 
oA oA oA A 

(94) I ZUR, ee 

Das Operieren mit solchen Mittelwerten hat zur Folge, daß eine 
scharfe Abgrenzung zwischen zwei Körpern, vorausgesetzt, daß eine 
solche in Wirklichkeit existierte, gleichsam verwischt wird. Darin 
liegt jedoch kein Nachteil, da eine Übergangsschicht von unendlich 
kleiner Dicke sich doch jeder Beobachtung entziehen würde. 

Es kommt nun zunächst auf die Mittelwerte 9 und od an. Wir 
nehmen an, daß die ponderable Materie eine sichtbare Bewegung mit 
der Geschwindigkeit w habe, die sich in beliebiger Weise langsam 


55) In dem Differentialquotienten eines Mittelwertes, wie 0 ‚ darf man 


0% 
unter dem Nenner nach Belieben einen mathematisch oder, was besser in den Ge- 
dankengang, der uns zu den Mittelwerten führte, paßt, einen physikalisch unend- 


lich kleinen Zuwachs von x verstehen. Dagegen hat man es in 2 notwendig 
mit mathematisch unendlich kleinen Größen zu tun. 


28. Hilfssätze für die Berechnung der Mittelwerte. 203 


und kontinuierlich von Punkt zu Punkt ändern möge. Die Geschwin- 
digkeit der elektrischen Ladung bezeichnen wir weiterhin mit w-+ u. 
Demgemäß ersetzen wir gV durch ow + out, sodaß sich nach (1) für 
den Mittelwert des Stroms der Ausdruck 


(95) c—d+00-+ oü 
ergibt. 


28. Hilfssätze für die Berechnung der Mittelwerte. a) In 
einem Raum liegen zahlreiche Punkte P, in ähnlicher Weise ge- 
ordnet oder zerstreut wie die kleinsten Teilchen eines ponderablen 
Körpers; die Anzahl N pro Volumeneinheit sei von derselben Größen- 
ordnung, wie die Anzahl dieser Teilchen. Von allen diesen Punkten 
aus ziehe man gleiche und gleichgerichtete Vektoren PQ=r. Es 
sei weiter do ein physikalisch unendlich kleiner Flächenteil mit der 
Normale n, und es soll angegeben werden, wie viele der Linien PQ 
von diesem Element durchschnitten werden, und zwar soll diese Zahl 
mit positivem oder negativem Vorzeichen genommen werden, je nach- 
dem die Endpunkte ® der durchschnittenen Linien auf der positiven 
oder der negativen Seite von do liegen. 

Setzt man zunächst eine homogene Verteilung der Punkte P 
voraus, und nimmt man an, daß gleiche und gleichgerichtete Elemente 
do alle gleich viel Strecken r durchschneiden’), so erhält man für 
die gesuchte Zahl 


(96) Nr,de. 


Wir werden nur Fälle zu betrachten haben, wo die Länge der 
Strecken r nicht erheblich größer als die Dimensionen des Elementes 
de ist. Dann kommt es bei der gestellten Frage nur auf diejenigen 
Strecken an, deren Anfangspunkte in der unmittelbaren Nähe des 
Elementes liegen; der gefundene Ausdruck bleibt demzufolge auch 
dann anwendbar, wenn die Häufigkeitszahl N sich langsam, d.h. in 
„beobachtbarer“ Weise von Punkt zu Punkt ändert. Auch dürfen wir 


56) Dies darf ohne weiteres angenommen werden, wenn die Punkte P un- 
regelmäßig zerstreut liegen. Bei regelmäßiger Anordnung und kleiner Länge 
von P@ könnte man gewisse Ebenen so durch das System legen, daß sie keine 
einzige der Linien PQ durchschneiden, während andere Ebenen von derselben 
Richtung eine große Anzahl von Linien treffen würden. Um diese Schwierig- 
keit zu vermeiden, stelle man sich do nicht eben, sondern in geeigneter Weise 
gefaltet vor, so jedoch, daß die Höhe und Tiefe der Falten sehr klein gegen 
die Dimensionen des Elements sind. Unter n ist dann eine mittlere Richtung der 
Normale zu verstehen. 


204 Vı4A. H.4A.Lorentz. Elektronentheorie. 


uns vorstellen, daß eine ähnliche langsame Änderung in der Richtung 
und der Größe der Vektoren r besteht. 

b) Ein Raum enthalte sehr viele materielle Teilchen und es sei 
q eine skalare Größe von irgend welcher physikalischen Bedeutung, 
die in vereinzelten Punkten, etwa A,, As, .. ., A, jedes Teilchens die 
Werte 9, 99, ---, qQ,„ hat. Dabei sei für jedes Teilchen Sy = 0. 
Man denke sich weiter eine geschlossene Fläche 6, deren Elemente do 
physikalisch unendlich klein sind; die Dimensionen von 6 selbst mögen 
entweder endlich oder gegenüber denen von d6 physikalisch unend- 
lich klein niedrigerer Ordnung sein. Es soll = &g für alle inner- 
halb dieser Fläche liegenden Punkte A bestimmt werden. Dabei wird 
vorausgesetzt, daß die Fläche eine gewisse Anzahl von Teilchen durch- 
schneidet, und zwar in solcher Weise, daß gleiche und gleichgerichtete 
nahe beieinander liegende physikalisch unendlich kleine Teile do das 
in derselben Weise tun (vgl. oben a). Wir schließen also den Fall 
aus, daß alle Punkte der Fläche 6 in dem Raum zwischen den Teil- 
chen liegen, in welchem Falle @ = 0 wäre. 

In jedem Teilchen wählen wir einen Ursprung O0, den wir als 
n-fachen Punkt O,, O,,..., 0, betrachten. Den Punkten O,, O,,..., O, 
legen wir die Werte — 9, — 4, - --; — q, bei, und rechnen dann 
diese Punkte mit zu den Punkten A. Die Summe @ wird hier- 
durch nicht geändert, dd —, — % —:''— =). 

Für alle Teilchen in der Nähe eines Elementes de mögen die 
Lagen der Punkte A und O und die Werte g die gleichen sein. Ist 
nun N die Anzahl der Teilchen pro Volumeneinheit, und 0,A,=t, 
0, A; = T,, u. 8. w., so ist nach dem oben Gefundenen der Anteil, den 
die Punkte 0, A, zu @ liefern, 


— [Nq,n,.do. 


Indem man in derselben Weise die übrigen Punktpaare 0,A,, 
0, A; u. s. w. berücksichtigt, gelangt man zu folgendem Resultat: 
Setzt man für ein Teilchen: 


(97) = DIqr, 

wo sich die Summe auf alle in demselben vorkommenden Werte von 
q bezieht (es wird diese Summe unabhängig von der Wahl von O), 
und weiter 


(98) = Na, 
so ist 
(99) Q— — [O,de. 


Man kann nun auch leicht zu dem Fall übergehen, daß die Größe 


28. Hilfssätze für die Berechnung der Mittelwerte. 205 


q nicht blos in vereinzelten Punkten, sondern an jeder Stelle eines 
Teilchens besteht. Statt der Summe der zu jenen Punkten gehören- 
den Werte q, wollen wir dann die Summe der von den Volumelementen 
dS herrührenden Werte qdS betrachten. Die Größe Q, um die es 


sich jetzt handelt, ist das Integral f qdS über den von der Fläche 6 
umschlossenen Raum ausgedehnt. Dieselbe wird noch immer durch 


(98) und (99) bestimmt; nur ist jetzt (97) durch das jedesmal für 
ein Teilchen berechnete Integral 


(100) q — [gras 


zu ersetzen. Bedingung für die Anwendbarkeit von (99) ist in diesem 
Falle, daß für jedes Teilchen 


Saas = 0. 


Mit einer kleinen Abänderung bleiben obige Formeln auch gültig, 
wenn zwischen den zahllosen Teilchen eines physikalischen Raum- 
elementes, was die Verteilung der Werte von g betrifft, Verschieden- 


heiten bestehen. Die für den Raum 5 berechnete Summe ) = -[ga8 


läßt sich noch immer durch (99) darstellen und für jedes Teilchen 
kann die Gleichung (100) zur Bestimmung des Vektors q dienen. 
Die Gleichung (98) aber ist zu ersetzen durch die allgemeinere Defi- 
nition von O als die für die Volumeneinheit berechnete Summe aller q. 
M. a. W., man berechnet Q, wenn man einen physikatisch unendlich 
kleinen Raum S wählt, dessen Oberfläche kein einziges Teilchen 
durchschneidet, unter r den von einem beliebigen festen Punkte aus 


gezogenen Radiusvektor versteht, das Integral fi qrdS für den Raum 
S$ berechnet und schließlich durch $ dividiert. 

Um den Mittelwert 7 zu erhalten, hat man (99) auf einen 
physikalisch unendlich kleinen Raum anzuwenden und durch die Größe 
desselben zu dividieren. So ergibt sich 


(101) g- —dird. 


c) Es läßt sich die Summe © für alle innerhalb einer Fläche o 
liegenden Punkte A auch dann angeben, wenn für jedes Teilchen &q 
(oder Saas) von Null verschieden, etwa =gq ist. In diesem Falle 
ist der Ausdruck (99) um &q zu vermehren, wenn man die Summe 
auf alle Teilchen bezieht, deren Mittelpunkte O innerhalb der Fläche 
liegen. So lange nun q nicht ganz nahe an Null kommt, genauer 
gesagt, so lange q von der Größenordnung |q|/|r| bleibt, wo |r| die 
Größenordnung der in (97) oder (100) vorkommenden r angibt (wir 


206 V1A. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


werden das in ähnlichen Fällen stillschweigend voraussetzen), tritt 
(99) weit hinter Z’q zurück, und darf als Mittelwert 

g—Nq 
‚angenommen werden. 

Es ist bemerkenswert, daß es in diesem Falle bei der Berechnung 
des Mittelwertes nach der Vorschrift von Nr. 27 einerlei ist, ob die 
Fläche 6 Teilchen durchneidet oder nicht, während in dem unter b) 
behandelten Fall ein derartiges Durchschneiden notwendige Voraus- 
setzung ist. 


29. Mittelwerte, die von den Leitungselektronen herrühren. 

Den Mittelwert 
919; 
bloß für diese Elektronen berechnet, nennen wir weiterhin die (be- 
obachtbare) Dichte der elektrischen Ladung. Wir nehmen an, daß o 
in allen Punkten eines Leitungselektrons dasselbe Vorzeichen hat, und 
daß für ein solches Teilchen die Ausdrücke (46) und (48) verschwin- 
den. Sind nun verschiedene Arten von Leitungselektronen vorhanden, 
deren Ladungen e, e’, e”, u.s. w., und deren Anzahlen pro Volumen- 
einheit N, N’, N”, u.s.w. sind, so ist 
0, = Ne+Ne+ N’ + usw. 


Das für die Leitungselektronen berechnete vorletzte Glied der 
Gleichung (95) nennen wir den Konvektionsstrom 


(XXI) K= 0,W, 
und das letzte Glied den Leitungsstrom 
(XXIV) I m.01, 


oder, wenn die Elektronen der verschiedenen soeben genannten Gruppen 
die Geschwindigkeiten u, u’, u”, u. s. w. haben, 


(XXIVa) 8= Neu + NewW+ N’edu’ + us. w. 


30. Mittelwerte, die von den Polarisationselektronen her- 
rühren. Es mögen sich in dem Körper zahllose elektrisch polarisierte 
Teilchen (Nr. 13) befinden; es sei p das elektrische Moment eines 
einzelnen Teilchens, ® das elektrische Moment der Volumeneinheit, 
oder die elektrische Polarisation des Körpers. 

a) Für den Mittelwert von ge, insofern derselbe von den Polari- 
sationselektronen herrührt, erhält man nach (101) 


0, = — div®$. 
b) Wir nehmen an, daß die „Mittelpunkte“ der Teilchen (Nr. 12) 
xeine andere Bewegung haben als die, welche die Materie im Ganzen 


29—81. Mittelwerte, die von den verschiedenen Elektronenarten herrühren. 207 


besitzt, und daß also die Geschwindigkeiten dieser Mittelpunkte durch 
die Werte von w an den betreffenden Stellen gegeben sind. Die 
Ladungen eines Teilchens können sich nun aber relativ zum Mittel- 
punkte bewegen. Die Geschwindigkeit dieser Bewegung bezeichnen 
wir mit u, die volle Geschwindigkeit der Ladungen also mit w—+ u. 


Da infolge dieser Festsetzung für ein Teilchen f owdS=(0, so kann 


man die Mittelwerte ow,, oW,, ow, nach der Formel (101) berechnen. 
Man findet dabei 
(102) ow, = — div (w,P), u.s. w. 


c) Für ein einzelnes Teilchen ist 


ap 
fe uds— a 


da dieses von Null verschieden ist, so kann man bei der Berechnung . 
des Mittelwertes von ou eine Fläche o wählen, die kein einziges Teil- 
chen durchschneidet (vgl. Nr.28 ©), Man erhält, wenn man sich 
vorstellt, daß die Fläche an der Bewegung mit» der Geschwindigkeit w 
teilnimmt, 


(108) = CD-R + tw + divm-B 


Alles zusammengenommen ergibt sich aus (102) und (103) für den 
Mittelwert des elektrischen Stroms, insofern derselbe von den Pola- 
risationselektronen herrührt, 


B+rot[P- mw]. 


31. Mittelwerte, die von den Magnetisierungselektronen her- 
rühren. Der Körper möge auch magnetisierte Teilchen, wie die in 
Nr. 15 betrachteten, enthalten. Solche Teilchen liefern, wenn für 
jedes die Gesamtladung (45) verschwindet, nur zu gli einen Bei- 
trag, und man kann diesen mittels der Gleichung (101) berechnen, da 
für jedes Teilchen die Größen (47) verschwinden. Ersetzt man z. B. 
in den Formeln von Nr.28 b) die Größe q durch ou,, so wird nach (100) 
und 58) 





.=0, „= ch, ,„=-+tem, 


folglich, wenn M das magnetische Moment pro Volumeneinheit oder 
die Magnetisierung ist, 





2-0, De M, Det M, 
Bi OM, OEM 
an ee Ar re er: 


Also 
on —=croM. 


208 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


32. Die verschiedenen Teile des elektrischen Stroms’). Es 
können jetzt die verschiedenen für die rechte Seite von (95) ge- 
fundenen Beiträge zusammengefaßt werden. Setzt man 


(XXV) D—-d+%, 
(XXVI) Bß—-9, 
und 

(XXVI) R—rot[P- w], 


welche Größen man elektrische Erregung, Verschiebungsstrom und 
Röntgenstrom nennen kann, so wird der Gesamtstrom 


(104) BHIÄIHKRLNLErEM. 


Die Übereinstimmung dieses Resultats mit der Zerlegung des 
Stroms in der Hertz’schen Theorie (V 13, Nr. 1%) springt in die 
Augen. Es besteht indessen in zweifacher Hinsicht ein Unterschied. 
Erstens, was die Formel (37) von V 13, Nr. 17 und die jetzige 
Formel (XXVI) für den Röntgenstrom betrifft. Dieser Unterschied 
hängt damit zusammen, daß die elektrische Erregung in (XXV) als 
aus zwei Teilen zusammengesetzt erscheint, von welchen nur der 
zweite an der bewegten Materie haftet. 

Zweitens tritt jetzt auch ein von der Magnetisierung abhängiges 
Glied in dem Ausdruck für den Gesamtstrom auf; man könnte dieses 
„den die Magnetisierung ersetzenden Strom“ nennen. 


Dem allgemeinen Gebrauch gemäß soll indes im folgenden nur 
der Vektor 


(XXVII) [=-B-IHEKEHR 

als „elektrischer Strom“ bezeichnet werden; man hat dann aber als 
Mittelwert von c in den Grundgleichungen 

(105) e=-0+creM 


zu setzen. 


33. Die Grundgleichungen für die Mittelwerte’®). Um auch weiter 
die Bezeichnungen und Benennungen denen der Hertz’schen Theorie 
möglichst anzupassen, setzen wir 


(XXIX) y=8, 

(XXX) H-N=-B-MN—-$, 

und nennen diese Vektoren die magnetische Erregung und die magne- 
tische Kraft. Außerdem führen wir ein 


57) Vgl. Poincare, Eleetrieit6 et optique, 2° &dit., $$ 360, 384. 
58) Lorentz, 1. c. (Anm. 54). 


32. Teile des elektrischen Stroms. 33. Grundgleichungen f. d. Mittelwerte. 209 


(XXXD) I=E, 

(XXXT) +. m: )=€+- -[w-8]= €, 
oder (vgl. (XIX)) 

(XXXTa) v=®. 


Den ersten dieser beiden Vektoren kann man die „mittlere elek- 
trische Kraft für ruhende Ladungen“ nennen, während der zweite die 
mittlere Wirkung des Feldes auf Elektronen, welche die Geschwindig- 
keit w haben, bestimmt. 

Für die Differenz schreiben wir 


(106) € —-€E=--m-9]- 


wo der Index b anzeigen soll, daß man es hier mit einer von der 
Bewegung abhängigen Größe zu tun hat. 

Ähnlich wie wir hier € einführten, stellen wir der magnetischen 
Kraft 5 den Vektor 


(XXX) $--m-i-$ 


an die Seite. Zu bemerken ist dabei, daß dieser nicht mit dem Mittel- 
werte des früheren 5 (Nr. 10) zusammenfällt; dieser Mittelwert ist 


8— - [m- €]. 


Indem man nun in den Hauptgleichungen (Ia), (II), (III), (IV) 
und (V) beiderseits die Mittelwerte nimmt, und statt o, (Nr. 29) ein- 
fach o schreibt, gelangt man nach einiger Umformung zu folgenden 
Gleichungen: 


(1”) div Do, 
A) div6—0, 

„ Hi 
(IIT”) rt 9 = — €, 
(IV”) rt = — 8, 
(v”) div B—0. 


Dazu kommen noch zwei Formeln. Erstens die aus (XXXT) und 


(1V”) folgende Beziehung (vgl. V 13, Nr. 4, Gl. 14) 


(IV”a) rot e=-—- 842-8 — IB 
und zweitens die analoge Gleichung 
(UIL”a) =D, 


Encyklop. d, math. Wissensch, V 2, 14 


210 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


die aus (XXX”), (IU”), (XXVIOD, (XXVD, (XXOD, (XXVO), (7), 
(XXV) und (XXXI) hervorgeht. 

Die Gleichungen stimmen jetzt der Form nach fast vollkommen 
mit denen der Hertz’schen Theorie überein; nur fehlt, wie bereits ge- 
sagt, in & ein Teil des früheren Röntgenstroms. Auch ist zu bemerken, 
daß in einem Leiter, der keine Polarisationselektronen enthält, D—= € 
ist, während man in der Theorie von Hertz für einen solchen Körper 
D— 0 setzen darf. 

Aus den Formeln (IV”a) und (Ill”a) folgt, daß an der Grenz- 
fläche zweier Körper die tangentiellen Komponenten von & und 9’ 
stetig sind. Ebenso schließen wir aus (II”) und (V”) auf Kontinuität 
der normalen Komponenten von & und ®. 

Bemerkenswert sind auch die Gleichungen für die Mittelwerte, 
die sich aus (VII) bis (X) ergeben. Setzt man 


(XXX) 9-8, il, 


und versteht man unter g dasselbe wie in (I”) (mittlere von den 
Leitungselektronen herrührende Dichte), so erhält man 


(vi) Ad — Zd=-—e+ÄrE, 

VI) AA zÜ=-—- 2 I+m+B+ro[ß.w]+ croetM), 
IX”) = — — SU — grad ®, 

(X) B— rot. 


In allen diesen Gleichungen ist ein ruhendes Koordinatensystem 
vorausgesetzt. Sie gelten für beliebige Größe der Geschwindigkeiten w. 


34. Versuche von Eichenwald. Dank dem Umstande, daß 
der Röntgenstrom jetzt durch rot|®-w] und nicht, wie in der 
Theorie von Hertz, durch rot[D -w] dargestellt wird, ist die Elek- 
tronentheorie imstande, von dem Ergebnisse der in V 13, Nr. 17 er- 
wähnten Versuche mit einem rotierenden Kondensator Rechenschaft 
zu geben. Macht man dieselben Annahmen, wie am Schluß jener 
Nummer, so findet man wieder, daß an jeder Kondensatorplatte zwei 
Flächenströme vorhanden sind. Der eine, der Röntgenstrom, hat für 
die a. a. O. betrachtete Platte die Größe ®B,- |w] und ist der Ge- 
schwindigkeit w entgegengesetzt gerichtet; der andere, der Konvek- 
tionsstrom, hat die Richtung von w und, wenn & die Flächendichte 
der Ladung auf der Platte ist, die Größe »o |w| = ®, - |w| (vgl. I”)). 


Die Ströme heben sich also nicht mehr auf; zusammen mit den ent- 


34. Versuche von Eichenwald. 835. Das Feld in einer Höhlung. >11 


sprechenden Strömen an der anderen Platte bringen sie ein magne- 
tisches Feld hervor, das man mittels (IIT”) und (V”) bestimmen kann. 

Die Differenz der beiden Ströme ist, nach (XXV) und (XXXT), 
E,-|w|. Es folgt weiter aus (IX”), wo jetzt, weil der Zustand als 
stationär vorausgesetzt wird, A — 0, daß €, dem Gefälle des Poten- 
tials ® zwischen den Platten gleich ist. In dieser Weise erklärt es 
sich, daß, wie Eichenwald beobachtet hat, der magnetische Effekt 
lediglich von der Potentialdifferenz der Belegungen, nicht aber von 
der Natur des Dielektrikums abhängt. 


35. Das elektromagnetische Feld im Inneren verschieden ge- 
stalteter Höhlungen. a) Wir benutzen die Gleichungen (VII”) und 
(VIII”) zur Bestimmung des Feldes im Inneren einer Kugel B, insofern 
dasselbe von den Teilehen herrührt, deren Mittelpunkte in dem be- 
trachteten Augenblick in dieser Kugel liegen („innere“ Teilchen); der 
Index 1 soll sich auf diesen Teil des Feldes beziehen. Wir vernach- 
lässigen Grössen mit w? und wählen den Radius R der Kugel physi- 
kalisch unendlich klein, obgleich von niedrigerer Ordnung als die 
Dimensionen des in der Definition der Mittelwerte (Nr. 27) voraus- 
gesetzten Raumes $S. Indem wir demgemäß in den Endformeln die 
Glieder, welehe R oder eine Länge von derselben Größenordnung als 
Faktor enthalten, fortlassen, finden wir für die Zustandsgrößen in 
allen Punkten des kugelförmigen Raumes dieselben Werte; das Feld 
darf somit als homogen angesehen werden. Dies näher zu entwickeln 
würde uns zu weit führen, und es soll auch nicht von allen Verein- 
fachungen, die wegen unserer die Größe von A betreffenden Annahme 
erlaubt sind, Rechenschaft gegeben werden. 

Wollte man von diesen Vereinfachungen zunächst absehen, so 
hätte man ähnlich wie in Nr. 20 zu verfahren. Dabei dürfte nicht 
aus dem Auge verloren werden, daß die Grenzfläche des Raumes BD, 
wenn sie an der Bewegung mit den Geschwindigkeiten w teilnimmt 
und also fortwährend dieselben polarisierten und magnetisierten Teil- 
chen umschließt, ihre Gestalt allmählich ändert, und daß eine gewisse 
Zahl von Leitungselektronen diese Grenzfläche überschreitet. 

Wir berechnen für ein beliebiges System die Komponenten von 
&,, 8, und außerdem für einen ruhenden, keine anderen als Polarisa- 
06, 0%. 

dx ? dy 

Der Koordinatenursprung liege im Mittelpunkte der Kugel und 
es mögen die rechten Seiten von (VII”) und (VIII”) mit — oe’ und 
— Q) bezeichnet werden. Für jeden inneren Punkt dürfen dann 
®,A,, u.s.w. als die zu den Dichten 0°, Q,, u. 8. w. gehörenden Po- 

14* 








tionselektronen enthaltenden Körper die Größen ‚usw. 


212 V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


tentialfunktionen (Nr. 11a)) aufgefaßt werden. Nur ist zu beachten, 
daß jetzt, da wir von allen äußeren Teilchen abstrahieren, B und M 
an der Kugelfläche unstetig sind; den Teilen 


— div®ß, 8, + rot, [Bw] + rot,M, u. s. w. 


in den Werten von 0,Q,, u. s. w. entsprechen infolgedessen die 
Flächendichten 


1 
B, e w,P, nz EM, — AM,, U.S. W., 
die gleichfalls bei der Bestimmung der Potentialfunktionen ®, W,, 


u. 8. w. zu berücksichtigen sind. In dem ersten Ausdruck haben 
wir ®B,, u.s. w. durch 


B,+ zur == Yy5 ge 1 ee, u. 8. w. 
OB, 


zu ersetzen, wenn wir unter ®%,, Bet speziell die Werte im 
%c 





Mittelpunkte verstehen wollen. Dagegen braucht der Veränderlich- 
keit von M,, u.s. w. längs der Fläche und von 0, Q,, u.s. w. im 
Inneren der Kugel nicht Rechnung getragen zu werden; ebensowenig 
der Veränderlichkeit von w. So gelangt man zu folgender Vorschrift 
für die Bestimmung von %,, u. s. w. in @l. (IX”): Man ermittle zu- 
nächst für die Zeit 2 die Werte von W,, u.s.w. in einem Punkte 
(x, y, 2), und dann für die Zeit {+ dt die Werte, welche die um 
dt. w verschobene Kugel mit der dann bestehenden Polarisation ® 
und Magnetisierung M an derselben Stelle des Raumes hervorbringt, 
also in einem Punkte, dessen Koordinaten in Bezug auf den Mittel- 
punkt x& — w,dt, u. s. w. sind. 

Indem wir nun die in Betracht kommenden Potentialfunktionen 
entweder durch direkte Integration oder mit Hilfe der Theorie der 
Kugelfunktionen berechnen, ergibt sich folgendes: 

Zu der Raumdichte 0° gehört als Potentialfunktion 


RI +PHN)le— Av ®), 
und ähnliche Ausdrücke ergeben sich für die Potentialfunktionen, 
welche den Raumdichten Q,, u. s. w. entsprechen. Ferner gehört zu 
der Flächendichte ®, die Potentialfunktion 


taB, + usw) +r [let usw to (+ Ge) + usw.) 
sr dire: 


während wir uns, was die Flächendichten w „PB, und - EM, — Z—M, 


I 
R. 


35. Das elektromagn. Feld im Inneren verschieden gestalteter Höhlungen. 213 


betrifft, auf die Werte 5 w(oPB, + YyPB, + zB) und +EM, — yM,) 
beschränken dürfen. 

Jetzt stellen wir die Werte von ®, U,, u.s. w. zusammen; wir 
erhalten schließlich 





(107) = — +9 ;,m-M], 

(108) —-IM— .[w- Pl, 
a — 2 dB — Ge, u. 8. w., 
a u (tz), u. 8. w. 


Wie bereits gesagt, gelten die letzten Formeln nur für ruhende nicht 
magnetisierte Nichtleiter. 

Damit jeder Zweifel an der Richtigkeit dieser Resultate gehoben 
werde, bemerken wir noch folgendes. Man sieht leicht, daß €, und 
9, lineare und homogene Funktionen von ®, M und deren Diffe- 
rentialquotienten nach x, y, 2, t sein müssen; auch können, weil wir 
Glieder mit w? vernachlässigen, die Differentialquotienten von w nur 
linear auftreten. Da nun die Ausdrücke neben diesen verschiedenen 
Größen nur noch den Kugelradius R und die Lichtgeschwindigkeit c 
enthalten können, und die verschiedenen Teile, aus welchen sich €, 
und 9, zusammensetzen, unter sich homogen sein müssen, so tritt 
zugleich mit einem Differentialquotienten nach x, y oder z notwendig 
ein Faktor R und zugleich mit einem Differentialquotienten nach 
ein Faktor R/ce auf. Somit dürfen wir, wenn wir die Kugel hin- 
reichend klein wählen, von allen Gliedern mit jenen Differential- 
quotienten absehen, und uns bei der Berechnung von &, und ®, vor- 
stellen, es seien ® und M unabhängig von x, y, z, t und es ver- 
schiebe sich die ganze Kugel mit der konstanten Geschwindigkeit w. 
In diesem Falle empfiehlt es sich, fest mit der Kugel verbundene 
Koordinatenachsen einzuführen (vgl. Nr. 11 b)). Dann reduzieren sich 
die linken Seiten von (VII”) und (VII”) auf A® und AU. Die 
rechten Seiten verschwinden für das Innere der Kugel, wenn wir von 
den Gliedern mit oe und 9, deren Einfluß schon hinreichend erledigt 
wurde, absehen; folglich sind ®, W,, u. s. w. die den oben angegebenen 
Flächendichten entsprechenden Potentialfunktionen. Daraus erhält man 
leicht für jeden inneren Punkt 








ed 1 
0x are B., 
coau 1 ou 1 1 ou 1 1 
Ye ha 5 WB Mn TURM, 
u. 


Ss. w.; 


214 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


man gelangt von da aus zu den Formeln (107) und (108), wenn man 
berücksichtigt, daß 
3). 


... (m, 5 +05, +n, 5, 





Was die Werte von Te, u.s. w. anbelangt, so kann man sich bei 


diesen von vornherein auf einen ruhenden nicht magnetisierten Nicht- 
leiter beschränken. Man hat es dann mit einer ruhenden Kugel zu 
tun, was die gegebene Ableitung einigermaßen vereinfacht. 

b) Subtrahiert man die gefundenen Werte von den entsprechenden 
in Wirklichkeit bestehenden €, 3, u. s. w., so erhält man Ausdrücke für 
denjenigen Teil des Feldes, der von den Teilchen außerhalb der Kugel 
herrührt, oder, wie man auch sagen kann, für das Feld im Inneren 
einer kugelförmigen, nur Äther enthaltenden Höhlung. Wir versehen 
diese Ausdrücke mit dem nr 2, me 


(109) g=-E+,B+,,Ww-Ml, 
(110) B-B-IMtLW-P-HHZM+ m: P], 
(111) a er 2 divB +2, un W, 








0%, €, | 1/0B, , OB) dk, dE DB, , OP 
age Ar +5 ),5 e=5t+z A +% SP) u.s.w. 


Da die Höhlung nur Äther enthält, so Mi man statt B, auch 9, 
schreiben. 

c) Interessant ist auch der Fall einer spaltenförmigen Höhlung, 
bei dessen Besprechung wir uns indes auf nichtleitende Körper be- 
schränken wollen. Wir denken uns die Höhlung als einen physika- 
lisch unendlich kleinen Zylinder, dessen Höhe von höherer Ordnung 
unendlich klein als die Dimensionen der Grundfläche ist. Um das 
innere Feld zu bestimmen, kann man wie oben verfahren. Es ist 
jedoch einfacher, zunächst nachzuweisen, daß das äußere Feld (mit 
Ausnahme von Punkten in der unmittelbaren Nähe des Zylinder- 
umfanges) nicht geändert wird, wenn man die Materie aus dem 
Zylinder entfernt, und dann die in Nr. 33 erwähnten Stetigkeits- 
bedingungen anzuwenden. 

Das Resultat ist, daß die nach einer beliebigen der Grundfläche 
parallelen Richtung genommenen Komponenten von ® und $', und 
ebenso die senkrecht zur Grundfläche gerichteten Komponenten von 
D und B in der Höhlung dieselben Werte haben, wie sie an der be- 
trachteten Stelle bestehen würden, wenn man keine Materie entfernt 
hätte. 


36. Die auf die Elektronen und die Teilchen wirkenden Kräfte. 215 


36. Die auf die Elektronen und die Teilchen wirkenden Kräfte. 
In der Elektronentheorie kann man versuchen die Beziehungen zwischen 
3, D und E, sowie zwischen B und Ö aus Betrachtungen über den 
molekularen Bau und die Eigenschaften der Teilchen der Materie ab- 
zuleiten, wobei man freilich auf manche Schwierigkeit stößt. Aus- 
gangspunkt bei diesen Bestrebungen ist die Vorstellung, daß der auf 
ein Leitungselektron wirkende Bewegungsantrieb, sowie das elektrische 
oder magnetische Moment eines Teilchens bestimmt wird durch das 
Feld, welches im Inneren des Elektrons oder des Teilchens besteht, 
und zwar insofern es nicht von dem Zustande des Teilchens selbst ab- 
hängt (vgl. jedoch den Schluß von a) unten). Dieses „fremde Feld in 
einem Teilchen“ entsteht aus der Zusammensetzung der Felder, welche 
die übrigen Elektronen hervorbringen, und deren jedes mit Hilfe der 
Formeln (XD), (XID), (IX) und (X) bestimmt werden könnte. Hier 
soll angenommen werden, daß jedes partielle Feld, und also auch das 
resultierende fremde Feld in einem Teilchen homogen ist, obgleich 
diese Voraussetzung zu Fehlern führen kann, sobald die Dimen- 
sionen der Teilchen nicht sehr klein sind im Vergleich zu den 
Entfernungen aller, auch der nächstliegenden Teilchen. 

Es handelt sich nun um die Werte von d und 5, welche das 
Feld in einem Teilchen charakterisieren und welche d, und h, heißen 
mögen, oder vielmehr — wenigstens bei vielen Fragen — um die 
Mittelwerte von d, und 5, für sämtliche Teilchen einer bestimmten 
Art in einem physikalisch unendlich kleinen Raum $. Diese Mittel- 
werte dürfen nicht ohne weiteres den früher betrachteten d und 5 
gleich gesetzt werden, und sollen daher mit d, und h, bezeichnet 
werden. Doppelstriche über den Buchstaben sollen nämlich benutzt 
werden, wenn es sich um die Mittelwerte von Größen handelt, von 
welchen nur in vereinzelten Punkten die Rede ist. 

Um zu d, und h, zu gelangen, gehen wir auf Nr. 35b) zurück. 
Das daselbst bestimmte Feld €&,, 9, dürfen wir für die ganze Aus- 
dehnung des Kugelraumes B als homogen betrachten. Ist weiter für 
irgend ein Teilchen dieses Raumes Dd,,, h,, das Feld, das von allen 
anderen Teilchen der Kugel hervorgebracht wird, dann ist 


= +0, edit . % 
folglieh mit Rücksicht auf (109) und (110), wenn d,, und h,, die 
für alle Teilchen des Raumes B berechneten Mittelwerte sind, 


(113) B=-E+-B+, mM +, 
(114) BES ZNt BI + 


216 Vı4. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Oft hängt der Zustand oder die Bewegung eines Teilchens nicht 
von d,, sondern von der elektrischen Kraft 


y—d;+- [w-hj] 
(vgl. (VD) und (XIX)) ab. Der Mittelwert derselben ist 
=, az i en 
d, = Se 8 d], 
also nach (113) und (114), wenn man Glieder mit w? vernachlässigt, 
=, 1 1 2 =, 
115) %=-E+-wm IS H+ZFtrz, ME MH Id 
wo die Bedeutung des letzten Gliedes ohne weiteres klar ist. 

Wir betrachten jetzt einige spezielle Fälle. a) Der Körper ent- 
halte bloß verschiedene Gruppen von Leitungselektronen (Nr. 29). 
Die Teilchen, welche zu einer dieser Gruppen gehören, haben erstens 
die Geschwindigkeit w der Materie, zweitens eine gemeinsame Ge- 
schwindigkeit u, vermöge welcher sie einen Anteil zu dem Leitungs- 
strom liefern, und drittens eine unregelmäßige Wärmebewegung, deren 
Geschwindigkeiten u, seien. Man sieht leicht, daß bei Vernachlässigung 
von Gliedern, welche in Bezug auf diese Geschwindigkeiten zweiter 
Ordnung sind, die nach allen Seiten gleichmäßig gerichteten Geschwin- 
digkeiten u, in die Mittelwerte der auf die Elektronen wirkenden 
Kräfte nicht eingehen können; für eine bestimmte Gruppe von Elek- 


tronen ist also der Mittelwert der auf dieselben wirkenden elektrischen 
Kraft nach (VI) 


+ -Um+n)-h. 


Was nun den Teil dieser Kraft betrifft, der von den inneren Wir- 
kungen in der Kugel B (Nr. 35) herrührt, so erinnern wir erstens 
daran, daß (vgl. Nr. 21a)) für eine Gruppe von Teilchen, die sich mit 
einer gemeinschaftlichen konstanten Geschwindigkeit bewegen, das 
eigene Feld keine resultierende Kraft hervorbringt; der in Nr. 21a) 
gezogene Schluß gilt nämlich nicht nur für ein einziges Elektron, 
sondern für jedes sich verschiebende System. Zweitens bemerken 
wir, daß zwar die Wirkungen zwischen verschiedenartigen Elektronen 
einen von Null verschiedenen Beitrag zu dem Mittelwerte der Kräfte 
für eine bestimmte Gruppe liefern können, weil die verschiedenen 
Gruppen ungleiche Strömungsgeschwindigkeiten ı, haben, daß man 
aber diese Wirkung, die von dem Durcheinanderströmen der ungleich- 
artigen Elektronen herrührt, zu dem später zu betrachtenden Wider- 
stand rechnen kann. Hier sehen wir von derselben ab. Da weiter 
nach unserer Voraussetzung an der betrachteten Stelle weder eine elek- 


36. Die auf die Elektronen und die Teilchen wirkenden Kräfte. 217 


trische Polarisation noch eine Magnetisierung besteht, so darf man als 
Mittelwert der auf Leitungselektronen einer bestimmten Art wirkenden 
elektrischen Kraft nach (109) und (110) den Ausdruck 


(116) C++; Sl 
einführen. 

Während der von w abhängige Teil dieser elektrischen Kraft die 
Induktionsströme bedingt, die bei Bewegung eines Leiters in einem 
magnetischen Felde entstehen (vgl. Nr. 42), führt der letzte Teil zu 
einer Erklärung der auf einen stromführenden Leiter von einem äußeren 
magnetischen Felde ausgeübten ponderomotorischen Kraft. Summiert 
man nämlich jenes Glied über sämtliche in dem Leiter vorhandenen 
Elektronen (Nr. 29), dann erhält man für die pro Volumeneinheit 
wirkende Kraft 


Andererseits hat man in der Ungleichheit der Werte, welche das 
letzte Glied in (116) für die verschiedenen Arten von Elektronen an- 
nimmt, die Ursache des Hall-Effektes zu erblicken. 

Zu der Formel (116) möge übrigens bemerkt werden, daß bei 
ihrer Ableitung nur von den Kräften die Rede war, welche die Elek- 
tronen, jedes infolge des in demselben bestehenden „fremden“ Feldes 
erleiden. In Fällen veränderlicher Bewegung kommt noch die der 
Beschleunigung proportionale Wirkung des eigenen Feldes (Nr. 21 b)) 
hinzu. Dieselbe ist jedoch in allen genauer untersuchten speziellen 
Fällen so gering, daß wir von dieser Komplikation absehen dürfen. 

b) Eg seien keine anderen als elektrisch polarisierte Teilchen 
vorhanden; jedem derselben als Ganzem schreiben wir nur die Ge- 
schwindigkeit w des betrachteten Volumenelementes zu. Da wir an- 
nehmen dürfen, daß in der Zeit, die zum Durchlaufen der Kugel 8 
mit Lichtgeschwindigkeit erforderlich ist, die elektrischen Momente 
sich nicht merklich ändern, so darf man bei der Berechnung der 
Wirkung, die ein Teilchen auf ein benachbartes ausübt, die Gleichung 
(54) ersetzen durch 
(117) v—=— grady, 
wo @ den Wert (51) hat. Lägen nun die Teilchen in den Punkten 
eines kubischen Raumnetzes, dann hätten alle in S vorhandenen Teil- 
chen gleiche Momente, und man hätte, wie aus (117) und (51) folgt, 
(118) dt. 

Für andere isotrope Anordnungen ist zu setzen 


(119) dv —=s$, 


218 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


wo s eine durch die Natur und die Dichte des Körpers bestimmte, 
von der Bewegung aber unabhängige Konstante ist; desgleichen für 
beliebige anisotrope Anordnung (vgl. wegen der Bezeichnung der 
linearen Vektorfunktion V 13, Nr. 3) 


(120) = (R. 

c) Wenn der Raum nur magnetisierte Teilchen enthält, so kommt 
es auf den Wert von h,, an; es liegt ja nahe sich vorzustellen, daß das 
magnetische Moment eines Teilchens von dem magnetischen Felde, in 
dem es liegt, abhängt. Es dürfen jetzt die Gleichungen (59) und (60) 
angewandt werden, aus welchen man ähnliche Folgerungen zieht, 
wie soeben aus (117) und (51). Also ist bei kubischer Anordnung der 
magnetisierten Teilchen 


=, 
für einen beliebigen isotropen Körper 
(121) HM, 
und für einen anıisotropen 
(122) 9, = (NM. 


37. Leitfähigkeit. In einem ruhenden homogenen und isotropen 
Körper, in dem sich ev. mehrere Arten von Leitungselektronen (Nr. 29), 
aber weder Polarisations- noch Magnetisierungselektronen befinden, 
habe der Vektor & an allen Stellen dieselbe Größe und Richtung. 
Man fasse die Elektronen der ersten Art, die sich zu einer bestimmten 
Zeit in einem Raume $ befinden, ins Auge. Vernachlässigt man das 
letzte Glied in dem Ausdrucke (116), so erhält man für die gesamte 
auf diese Elektronen wirkende Kraft 


NesS®. 


Dieselbe muß, wenn der Zustand stationär sein soll, von einem 
„Widerstande“ aufgehoben werden. Wir sehen von der Wechselwirkung 
der Elektronen verschiedener Arten (Nr. 36 a)) ab, und nehmen also 
an, daß die Widerstandskraft nur von den ungeladenen Teilchen des 
Körpers herrühre. Es liegt nahe, dieselbe der Strömungsgeschwindig- 
keit ıt, proportional, und dieser entgegengesetzt gerichtet, vorauszu- 
setzen, sie also mit 


(123) — NkSu, 
zu bezeichnen. 
Daraus ergibt sich 
ku, =eE, 


und, wenn man die übrigen Elektronenarten in gleicher Weise be- 


37. Leitfähigkeit. 38. Elektrizitätsbewegung in Elektrolyten. 219 


handelt, zufolge der Gleichung (XXIVa), in der jetzt u, w', w”,... durch 
1,1, ,... zu ersetzen sind (vgl. Nr. 36 a)), 


(XXXIO) 3= oE, 
wo die Leitfähigkeit 6 den Wert hat 


(124) ee ev 





Ähnliche Betrachtungen könnten für anisotrope Körper zu der 
Gleichung 


(XXXIIT)) J— (0)E 


führen. Von einer Korrektion, die man streng genommen an obigen 
Formeln anbringen müßte, sobald der Strom variabel ist, und die 
darin besteht, daß man für eine bestimmte Gruppe von Elektronen, 
Bewegungsantrieb und Widerstand nicht als gleich betrachtet, sondern 
die Differenz dieser Kräfte dem Produkte von Masse und Beschleu- 
nigung.gleichsetzt, dürfen wir in allen beobachteten Fällen absehen. 

Von dem Ausdrucke (124) für die Leitfähigkeit kann man sich mittels 
molekulartheoretischer Betrachtungen Rechenschaft geben. Zu diesem 
Zwecke kann man von der Vorstellung ausgehen, daß die Elektronen 
an der Wärmebewegung der Materie teilnehmen, und dabei durch 
rasch aufeinanderfolgende „Zusammenstöße“ mit ungeladenen Teilchen 
jedesmal eine andere Bewegungsrichtung erhalten. Die in dem Inter- 
vall zwischen zwei Stößen a und b durch die Kraft € einem Elektron 
mitgeteilte Geschwindigkeit geht bei dem Stoß b ganz oder zum Teil 
wieder verloren, und es muß daher die mittlere Geschwindigkeit u, 
(Nr. 36 a), welche die Elektronen einer bestimmten Art durch die 
Wirkung der Kraft & annehmen, von dem mittleren Zeitintervall 
zwischen zwei Stößen, also von der „Molekulargeschwindigkeit“ ır, der 
Elektronen und von der mittleren Länge ihres freien Weges abhängen. 
Diese Größen bestimmen also die Werte der Koeffizienten %,%, A”, u. s. w. 

Elektromotorische Kräfte kann man in der Weise in Rechnung 
bringen, daß man in (XXXII) und (XXXIT) € durch E + €” er- 
setzt. Die Elektronentheorie kann hierbei jedoch nicht stehen bleiben; 
es liegt ihr ob, durch nähere Betrachtung der stromerregenden Vor- 
gänge von dem Gliede &° Rechenschaft zu geben. 


38. Elektrizitätsbewegung in Elektrolyten. Man stellt sich vor, 
daß in den Elektrolyten die Elektronen mit chemischen Atomen oder 
Atomgruppen zu „lonen“ vereinigt sind, deren es in einem einfachen 
Elektrolyten zwei Arten gibt. Diese, die positiven und die negativen 
Ionen, sind zum Teil miteinander zu Molekülen verbunden, zum Teil 


220 V 14a H.4A. Lorentz. Elektronentheorie. 


frei, und zwar schreitet bei wachsender Verdünnung der Lösung 
eines Elektrolyts die Dissoziation immer weiter fort, so daß bei sehr 
großer Verdünnung sämtliche Ionen als frei betrachtet werden dürfen °®). 
Von diesen freien Ionen, mit welchen allein man bei vielen Fragen 
zu rechnen hat, gilt alles, was oben von den Leitungselektronen gesagt 
wurde, so daß die Leitfähigkeit auch hier durch (124) bestimmt wird. 

Von der Annahme ausgehend, daß die kinetische Energie der 
Wärmebewegung im Mittel für ein Ion ebenso groß sei, wie für 
das Molekül eines Gases bei derselben Temperatur, haben nament- 
lich Nernst‘®) und Planck®') eine weitgehende Theorie der bei Elektro- 
lyten beobachteten Erscheinungen entwickelt. Bei vielen dieser Er- 
scheinungen ändern sich die Konzentrationen der Ionen von Punkt 
zu Punkt. Man kann, wenn das der Fall ist, seine Aufmerksamkeit 
richten auf die Bewegungsgröße der Ionen der einen oder anderen Art, 
die zu einer bestimmten Zeit in irgend einem Raume liegen, und 
speziell auf die Ursachen, wodurch sich diese Bewegungsgröße im 
Laufe der Zeit ändern kann. Es kommt dann, neben den elektrischen 
Kräften und den Widerständen, die Bewegungsgröße in Betracht, 
welche den Raum verläßt oder in denselben hineintritt, d. h. die 
Bewegungsgröße derjenigen Ionen, welche die Grenzfläche des Raumes 
nach der einen oder der anderen Seite hin durchsetzen. Hierbei 
findet folgender Satz aus der kinetischen Molekulartheorie Anwendung: 

Wenn sich eine große Anzahl von Teilchen irgend welcher Art 
in ungeordneter, gleichmäßig nach allen Seiten gerichteter Bewegung 
(Wärmebewegung,) befinden, dann ist die nach der Normale » zerlegte 
Bewegungsgröße, welche ein physikalisches Flächenelement de in der 
Zeiteinheit mehr in positiver als in negativer Richtung durchsetzt 
(„osmotischer Druck“), 3Kde, wo K die kinetische Energie der Teil- 
chen pro Volumeneinheit bedeutet. 

Mit Hilfe dieses Satzes kann man Rechenschaft geben von dem 
Zusammenhange zwischen Leitfähigkeit und Diffusionsgeschwindigkeit, 
von den Potentialdifferenzen zwischen ungleich konzentrierten Schichten 
einer und derselben Lösung oder zwischen verschiedenen Lösungen 
und sogar, unter Einführung einer Auffassung, auf die hier nicht näher 

59) Sv. Arrhenius, Über die Dissoziation der in Wasser gelösten Stoffe, 
Zeitschr. f. phys. Chemie 1 (1887), p. 631. 

60) W. Nernst, Zur Kinetik der in Lösung befindlichen Körper, Zeitschr. f. 
phys. Chemie 2 (1888), p. 613; Die elektromotorische Wirksamkeit der Ionen, 
ibid. 4 (1889), p. 129. 

61) M. Planck, Über die Erregung von Elektrizität und Wärme in Elektro- 


lyten, Ann. Phys. Chem. 39 (1890), p. 161; Über die Potentialdifferenz zwischen 
zwei verdünnten Lösungen binärer Elektrolyte, ibid. 40 (1890), p. 561. 


39. Gasionen. 40. Elektrizitätsbewegung in Metallen. 221 


eingegangen werden kann, von der Potentialdifferenz zwischen einem 
Elektrolyt und gewissen festen Elektroden. 


39. Gasionen. Analogie mit diesen Erklärungen hat die theo- 
retische Behandlung des Leitungsvermögens, welches gasförmige 
Körper zeigen, wenn sie von Kathodenstrahlen, Röntgenstrahlen, 
oder Beequerelstrahlen getroffen werden. Man nimmt an, daß unter 
der Wirkung dieser Einflüsse freie Ionen durch Dissoziation von Mole- 
külen oder Atomen entstehen. Charakteristisch für diese Fälle ist, 
daß man auf die beschränkte, von der Intensität der wirksamen Strah- 
lung abhängige Bildungsgeschwindigkeit der freien Ionen Rücksicht zu 
nehmen hat®?). 


40. Elektrizitätsbewegung in Metallen. Die neuere Theorie der 
in den Metallen auftretenden Erscheinungen schließt sich der Theorie 
der Elektrolyte aufs engste an. Auch hier gibt es Fälle, wo für eine 
bestimmte Art von Elektronen die kinetische Energie pro Volumenein- 
heit nicht an allen Stellen denselben Wert hat, und wo also die in 
einem bestimmten Raum enthaltene, diesen Teilchen zukommende 
Bewegungsgröße sich infolge des Hinein- und Hinausfliegens von 
Elektronen ändert. Riecke®?), Drude®*) und J. J. Thomson”) verdankt 
man ausführliche Betrachtungen über die Elektronenbewegungen in 
Metallen, welche zum Teil auf der Voraussetzung beruhen, daß auch 
die mittlere kinetische Energie eines Elektrons denselben Wert hat, 
wie die eines Gasmoleküls bei derselben Temperatur‘). Die ge- 


62) Aus der umfangreichen Literatur erwähne ich nur J. J. Thomson, On 
the theory of the conduction of electricity through gases by charged ions, Phil. 
Mag. (5) 47 (1899), p. 253, sowie die zusammenfassenden Darstellungen in 
J.J. Thomson, Conduction of electricity through gases, Cambridge 1903; J. Stark, 
Die Elektrizität in Gasen, Leipzig 1902 und P. Langevin, Recherches sur les gaz 
ionises, These, Paris 1902. 

63) Riecke, Zur Theorie des Galvanismus und der Wärme, Ann. Phys. Chem. 
66 (1898), p. 353, 545 u. 1199; Über das Verhältnis der Leitfähigkeiten der Metalle 
für Wärme und für Elektrizität, Ann. Phys. 2 (1900), p. 835. 

64) P. Drude, Zur Elektronentheorie der Metalle, Ann. Phys. 1 (1900), 
p. 566; 3 (1900), p. 369. 

65) J. J. Thomson, Indications relatives & la constitution de la matiere 
fournies par les recherches r&centes sur le passage de l’electricit€ ä travers 
les gaz, Rapports du Congres de physique de 1900, Paris, 3, p. 138. 

66) Infolge der Geschwindigkeitsänderungen bei den Zusammenstößen mit 
Atomen strahlen die Elektronen eine gewisse Energiemenge aus (Nr.18). Hier- 
von ausgehend, habe ich die Strahlung der Metalle, speziell was die langen Wellen 
des Spektrums betrifft, behandelt und gezeigt, daß man aus den Beobachtungs- 
daten die mittlere kinetische Energie eines Elektrons, und also auch die eines 
Gasmoleküls, dem absoluten Werte nach ableiten kann. Das Resultat stimmt 


232 Vı4. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


nannten Physiker erklären die Wärmeleitung der Metalle aus der 
Wärmebewegung der Elektronen und zeigen, daß, wie die Wahr- 
nehmung es lehrt, die besten Wärmeleiter auch die besten Elektri- 
zitätsleiter sein müssen. Auch die Potentialsprünge an der Grenze 
zweier Metalle, die thermo-elektrischen Ströme, der Peltier- und der 
Thomson-Effekt, wurden in den Kreis der Betrachtungen gezogen ®"). 


41. Halleffekt und verwandte Erscheinungen. Bis jetzt war 
von dem Teil = [u, - 9] der elektrischen Kraft (116) nicht die Rede. 


Der Einfluß dieses Teils macht sich in starken magnetischen Feldern 
dadurch bemerklich, daß eine senkrecht zu den Kraftlinien gestellte 
Metallplatte, die in der einen Richtung von einem elektrischen Strom 
oder einem Wärmestrom durchlaufen wird, in einer dazu senkrechten 
Richtung eine Potentialdifferenz und auch eine 'Temperaturdifferenz 
zeigt. Die Theorie dieser Erscheinungen folgt dem in der vorher- 
gehenden Nummer angedeuteten Wege und hat immer wieder auf die 
verschiedenen Arten von Elektronen Rücksicht zu nehmen®®). 

Es bleibt auf diesem Gebiete noch viel zu tun übrig. Z.B. tritt 
die Frage in den Vordergrund, was geschehen wird, wenn zwei Elek- 
tronen mit entgegengesetzten Ladungen sich vereinigen, und in welcher 
Weise ein stationärer Zustand sich einstellt, wenn, wie es mitunter 
angenommen werden muß, ein die Berührungsstelle zweier Stäbe aus 
verschiedenen Metallen A und B durchfließender Strom sowohl die 
positiven wie auch die negativen freien Elektronen in größerer Zahl 
nach dieser Stelle hin als von derselben hinwegführt, oder umgekehrt. 

Die beim Wismut beobachtete Änderung der Leitfähigkeit in 
einem magnetischen Felde hat man aus dem Einfluß des Feldes auf 
die Bahnen der Elektronen abzuleiten versucht‘”). 





mit den Schlüssen überein, zu welchen Planck auf ganz anderem Wege ge- 
kommen ist. Siehe Lorentz, Het emissie- en het absorptievermogen der metalen, 
in het geval van groote golflengten, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet.11 
(1903), p. 787 (Amsterdam Proceedings 1902—1903, p. 666); Planck, Über das Ge- 
setz der Energieverteilung im Normalspektrum, Ann. Phys. 4 (1901), p. 553; Über 
die Elementarquanta der Materie und der Elektrizität, ibid., p. 564. 

67) Vgl. hierzu Art. Diesselhorst V 18. 

68) ©. H. Wind, Etude theorique des phenomenes magn6to-optiques et du 
phenomene de Hall, Arch. neerl. (2) 1 (1898), p. 119; Riecke, 1. ce. (Anm. 63); 
Drude, 1. c. (Anm. 64); E.van Everdingen, Quelques remarques sur l’application 
de la theorie des @lectrons & l’augmentation de la resistance &dlectrique dans un 
champ magne6tique et au phenom®ne de Hall, Arch. ne&erl. (2) 6 (1901), p. 294. 

69) J.J. Thomson, 1. e. (Anm. 65), p. 143; E. van Everdingen, Über eine 
Erklärung der Widerstandszunahme im Magnetfelde und verwandter Erschei- 
nungen in Wismuth, Arch. neerl. (2) 5 (1900), p. 453; 1. c. (Anm. 68). 


41. Halleffekt. 42. Induktion in bewegten Leitern. 43. Polaris. Dielektrika. 223 


42. Induktion in bewegten Leitern. Die Erscheinungen in 
einem bewegten, nicht magnetisierbaren Leiter hängen nach (116) in 


derselben Weise von dem Vektor E + [m -9], oder, da hier $=B 


ist, von dem Vektor € (Nr. 33) ab, wie die Vorgänge in dem ruhen- 
den Körper von dem Vektor &, sodaß allgemein 

(XXX ”) 3= (NE 

zu setzen ist. 

Es sei s eine geschlossene Linie, in deren Punkten M = 0 ist, 
womit jedoch nicht ausgeschlossen sein soll, daß in anderen Teilen 
einer von ihr begrenzten Fläche 6 eine Magnetisierung vorhanden 
sein kann. Für das Linienintegral der in den Punkten von s wirk- 
samen elektrischen Kraft ergibt sich aus (IV”’a), wenn man s als 
substantielle Linie und 6 als substantielle Fläche betrachtet (vgl. 
V 13, Nr.4 h)), ä : 


(125) J Gas — — 14 (Bao 


In diesem Resultat, welches in Übereinstimmung ist mit einer 
der Hauptgleichungen der Hertz’schen Theorie, liegt die Erklärung 
der bei Änderung des magnetischen Feldes und bei Bewegung der 
Leiter stattfindenden Induktionswirkungen. Von hieraus gelangt man 
leicht zu dem bekannten Zusammenhange zwischen diesen Wirkungen 
und den elektromagnetischen bezw. elektrodynamischen Kräften (Nr.36a)). 


43. Polarisierte Dielektrika. a) Enthält ein ponderables Teil- 
chen, dessen Ladung im Gleichgewichtszustande so verteilt ist, daß 
kein elektrisches Moment besteht, ein einzelnes aus seiner Gleich- 
gewichtslage verschiebbares Elektron e, und wird dieses nach einer 
Verrückung q durch eine elastische Kraft —aq nach der Gleich- 
gewichtslage hin zurückgetrieben, so wird eine konstante elektrische 
Kraft f eine Verschiebung 


(126) 1-1 


und ein Moment 


2 


e 

.- a j 

hervorbringen. Diese Formeln bleiben anwendbar im Falle einer 

variabelen Kraft, so lange die Veränderung so langsam erfolgt, daß 

während einer Periode der Schwingungen, deren das Elektron vermöge 

der elastischen Kraft fähig ist, f als konstant gelten kann (vgl. Nr. 57). 

Auch bei komplizierterem, jedoch isotropem Bau eines Teilchens 
kann man von der Beziehung 


224 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


(127) pP=pi 
mit einem konstanten Koeffizienten p ausgehen. 

b) Wenn in einem isotropen Nichtleiter sehr viele gleiche, jedes 
für sich isotrop gebaute Teilchen vorhanden sind, dann ist nach (127), 
wenn N die Anzahl pro Volumeneinheit ist, (mit der in Nr. 36 er- 
klärten Bezeichnungsweise) = 

P— Npt. 

Hier ist nun, falls der Körper ruht, auf Grund von (113) und 

(119) zu setzen 


=C+G4+98. 
Man erhält demnach 
(XXXIV) P=nE, 
wo Np 





"Nur 
und mit Rücksicht auf (XXV) und (XXXI) 





(XXXV) D—=:E, 
in welcher Formel die „Dielektrizitätskonstante“ g den Wert‘®) 
EB —_1+NXrG 9 
E> Samen 
at. 


c) Man sieht leicht, daß eine Gleichung wie (XXXV) auch dann 
noch gilt, wenn zwar die einzelnen Teilehen nicht isotrop sind, dem 
Körper im ganzen aber, wegen der ungeordneten Orientierung der 
Teilchen, diese Eigenschaft zukommt. Nur kann man dann die Be- 
deutung von & nicht in so einfacher Weise angeben. 

d) Wir denken uns schließlich ein Teilchen von beliebiger Struktur, - 
in welchem durch unendlich kleine Verrückungen seiner Punkte ela- 
stische Kräfte geweckt werden; trägt ein solches elektrische Ladungen 
in irgend welcher Anordnung, so wird ein elektrisches Feld (das wir 
hier als homogen und unveränderlich voraussetzen) eine Deformation 
verursachen, der zufolge das Teilchen ein elektrisches Moment erhält. 

Wir bezeichnen mit h allgemeine, die Konfiguration des Teil- 
chens bestimmende Koordinaten, die wir so wählen, daß sie in der 
Gleichgewichtslage alle Null sind, und daß für jede andere Lage die 
den elastischen Kräften entsprechende potentielle Energie in der Form 


u=14 Dal? 
dargestellt werden kann. Für das elektrische Moment lässt sich dann 
schreiben 








70) Lorentz, La theorie &lectromagnetique ete., $ 107. 


43. Polarisierte Dielektrika. 44. Statische Zustände. 225 


p ht, 


wo zu jeder Koordinate h ein bestimmter konstanter Vektor f gehört. 

Die Gleichgewichtsbedingung besteht darin, daß für jede unend- 
lich kleine Variation der Koordinaten h die Arbeit der elektrischen 
Kraft f der Zunahme öu gleich ist. Bezeichnet man nun mit ör (vgl. 
Nr. 13) die unendlich kleine Verrückung der Ladung odS, so erhält 


man für jene Arbeit Set -ör)dS oder (vgl. XXD) (f-6p). Man 


erhält also für jedes h 
ah— (fd) 


und 

Pd -d-dE 
oder 
(129) Pf, 


1 1 

(130) Bist mich unm. 
ist. Für die potentielle Energie findet man leicht den Wert 
(131) 30 -D, 
wobei noch zu bemerken ist, daß die oben als „elastisch“ bezeich- 
neten Kräfte zum Teil elektrischen Ursprungs sein können, und daß 
in diesem Falle in (131) eine gewisse elektrische Energie steckt. 

Besteht nun ein Körper aus regelmäßig gelagerten Teilchen der 
betrachteten Art — wie man das für Krystalle anzunehmen hat —, 


dann gelangt man unter Berücksichtigung ihrer Wechselwirkungen zu 
den allgemeinen Formeln 


(XXXIV) P=ME, 
(XXXV)) D— (dE. 


Nach (130) ist 9, = Pa, U. 8. w. und es läßt sich nachweisen, 
daß die entsprechenden Beziehungen auch zwischen den Koeffizienten 
bestehen, die durch die Symbole (7) und (s) zusammengefaßt werden 
(vgl. Nr. 50 und 51). 


44. Statische Zustände in einem ruhenden System von Leitern 
und isotropen Nichtleitern. a) Die Gleichung (IV”) oder (IX”) zeigt, 
daß die elektrische Kraft & in diesem Falle von einem Potential ® 
abhängt; dieses muß in allen Punkten eines Leiters konstant sein, 
da sonst der Leitungsstrom 3 (XXXIH) nicht verschwinden könnte. 
In den Nichtleitern ist o = 0, also nach (1”) und (XXXV) 

div (e grad ®) — 0. 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 15 


226 V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Nachdem man ® aus diesen Bedingungen abgeleitet hat, dient 
zur Bestimmung der Dichte der Ladung an der Oberfläche eines Kon- 
duktors die aus (I”) hervorgehende Gleichung 


(132) o—=D 


oder 


Diese Ergebnisse stimmen mit denen der Hertz’schen Theorie 
überein. 

b) Eine in einem Leiter wirkende elektromotorische Kraft € 
läßt sich in der Weise in Rechnung ziehen, daß man für diesen 
Körper 

grad® +" — 0 
setzt, während die übrigen Bedingungen für das Potential ungeändert 
bleiben. Gleichgewicht ist jetzt offenbar nur bei wirbelfreier Ver- 
teilung von &*’' möglich. 

c) Stehen dagegen die Elektronen des Dielektrikums unter dem 
Einfluß einer der Ladung proportionalen äußeren Kraft, die für die 
Einheit der Ladung &*° ist, so hat man statt (XXXIV) 

(XXXIV”) Penler+E), 
und statt (XXXV), wie aus (XXV) und (XXXI) hervorgeht, 
D=sC+n1&t =: + (e — 1)E”. 

Das Potential, von dem & abhängt, ist jetzt wieder in jedem 
Konduktor konstant, genügt aber in dem Dielektrikum der Bedingung 
div{— sgrad® + (e— 1) &)= 0. 

Zur Bestimmung von & dient schließlich die Formel (132). 

d) Ein einfaches Beispiel hiefür liefert ein aus zwei parallelen Platten 
bestehender, durch einen Leitungsdraht geschlossener Kondensator, auf 
dessen Dielektrikum eine an allen Stellen gleiche Kraft &°” senkrecht 
, zu den Platten wirkt. Es ist dann ®=0, D — (s — 1)€, mithin 
für die eine Platte 

= + Der) 


= — (e—1)|@)|. 


45. Induktion in einem bewegten Dielektrikum. Wenn der 
Körper nicht magnetisiert ist, kommt nach (115) neben der Kraft, 
von der schon in Nr. 43 die Rede war, noch eine auf die Elektronen 
wirkende Kraft 


und für die andere 


®- [v8] 


45. Induktion in e. bewegten Dielektrikum. 46. Def. eines Dielektrikums. 227 


(vgl. Nr. 33, Gl. (106)) in Betracht. Für die unter ihrem Einfluß statt- 
findenden Erscheinungen gelten die Formeln der vorhergehenden 
Nummer, wenn man 6°” durch © ersetzt. 

Allgemein ist für ein unmagnetisiertes Dielektrikum 


(XXXIV”) P= mE. 

Wir beschränken uns auf die Anordnung des Blondlot'schen Ver- 
suches (V 13, Nr. 20). Hier steht € senkrecht auf den Kondensator- 
platten, und ist (vgl. wegen der Vorzeichen die angeführte Stelle) 

1 
|e-+7z1H911W|; 
sodaß man für die Dichten der elektrischen Ladungen die Werte 
A A 
+75] |w| und FH] w| 


€ [4 








erhält. Diese sind kleiner, als die aus der Hertz’schen Theorie abge- 
leiteten Werte. Ebenso ergibt sich die Stärke des Stromes, der, 
während die Ladungen entstehen, in dem Verbindungsdraht fließt, 


wenn man die nach der Hertz’schen Theorie berechnete Stärke mit 


ai multipliziert. Für Luft ist & nur wenig von 1 verschieden; es 





ist also, wie Blondlot hervorhebt, das negative Resultat seines Ver- 
suchs mit der jetzt entwickelten Theorie in Übereinstimmung. 


46. Deformation eines Dielektrikums. Im Anschluß an die 
in Nr. 36 und 43 mitgeteilten Betrachtungen wollen wir auch den 
Einfluß unendlich kleiner, von Punkt zu Punkt veränderlicher Ver- 
rückungen auf die Eigenschaften eines Nichtleiters untersuchen. Dabei 
beschränken wir uns auf einen ruhenden Körper, der aus gleichen 
Teilchen besteht, die ursprünglich gleichgerichtet und in einem (aniso- 
tropen) parallelepipedischen Netze angeordnet sind; es gewährt dies 
den Vorteil, daß benachbarte Teilchen gleiche Momente haben und 
daß die früher durch Doppelstriche bezeichneten Mittelwerte mit den 
individuellen Werten zusammenfallen. Außerdem soll angenommen 
werden, daß jedes Teilchen seine Eigenschaften und, wenn es aniso- 
trop ist, auch seine Richtung behält. 

Wir stellen nun zunächst die Frage: welche Änderung muß die 
elektrische Kraft € erleiden, damit trotz der Deformation das Mo- 
ment p jedes Teilchens ungeändert bleibe? Offenbar ist hierzu er- 
forderlich, daß d, (Nr. 36) sich nicht ändere. Da nun nach unserer 
Voraussetzung 9BP = — divg-®, so erhalten wir aus (113) 

(133) oE—=4divga-BP— H),. 
Um weiter für ein bestimmtes Teilchen A das ursprüngliche und das 
15* 


2928 V14A. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


neue d,, zu berechnen, denken wir uns sowohl um die Anfangs- wie 
auch um die Endlage die in Nr. 35 betrachtete Kugel gelegt, und 
zwar in beiden Fällen mit demselben Radius. Es lassen sich dann 
zwei Ursachen unterscheiden, die an der Variation von d,, beteiligt 
sind. Erstens kommen die ursprünglich in der Kugel liegenden Teil- 
chen in andere Lagen gegen A. Zweitens treten bei der Deformation 
neue Teilchen in den Kugelraum, während andere diesen verlassen. 
Die entsprechenden Änderungen von d,, mögen d,d,, und d,d,, heißen. 

Der Wert der zweiten Änderung ergibt sich aus der Bemerkung, 
daß die relativen Koordinaten in Bezug auf A für ein ursprünglich 
auf der Kugelfläche liegendes Teilchen die Änderungen 


0 x (7) E74 0 x 
R [cos (n, 2) ze + cos (N, ia cos (n, 38), u. 8. w. 


erleiden, und daß also die Teilchen, welche die Kugelfläche durchsetzt 
haben, in einer Schicht von der Dicke 


[7] 09, , 0 
v—_ R| cos? (n,a) en + u.8.w. + cos (n,y) cos (n,Y) (5 - 22) +u.s.w.| 


zu liegen kommen, und zwar hat dieser Ausdruck das positive oder 
das negative Vorzeichen, je nachdem die Schicht von austretenden 
oder eintretenden Teilchen gebildet wird. Denken wir uns nun, daß 
dieses v noch immer viel größer ist als die gegenseitigen Entfernungen 
der Teilchen, so dürfen wir annehmen, daß in der genannten Schicht 
die ursprüngliche, überall gleiche Polarisation PB besteht. Für die 
Komponenten von 6,d,, ergibt sich dann, wenn man unter y die 
Potentialfunktion (Nr. 11a)) versteht, welche im Inneren der Kugel 
durch die Flächendichte » hervorgerufen wird, 


0x 0°% 0°4 
= ( P.+ Day t u) EUR 
oder, nach Ausführung der Rechnung, 
2 09 


2 - d; 00x 7) 
a a 


1 /0q, , 04, 
ER, u. 8. W. 

Es erübrigt noch, Ö,d,, zu ermitteln. Es seien x, y, 2 die Koor- 
dinaten des Teilchens A im Kugelmittelpunkt, x’, y', 2’ die eines be- 
liebigen anderen Teilchens A’ in der Kugel, und % die Potential- 
funktion, welche A’ vermöge seines elektrischen Momentes an der 


Stelle (x, y,2) hervorbringt. Dann sind die Komponenten des Bei- 
trags, den A’ zu d,, für das Teilchen A liefert, 


47. Abhängigkeit d. Dielektrizitätskonstante v. Dichte u. Zusammensetzung. 229 


und die Variationen dieser Komponenten 
09 002 09, 
-[@- Det Werte] 
0 0 0° 
39 (+ ng Zu rar. 
6 z 2 6 E32 
— I )5: - + ng +@—29)5 AL u) 2R,, wie 


Diese Ausdrücke ergeben sich aus der Bemerkung, daß die Koordi- 
natendifferenzen & — x, u. s. w. diejenigen Änderungen erleiden, die 
durch die eingeklammerten Größen dargestellt werden. 

Nachdem in dieser Weise das letzte Glied in der Gleichung (133) 
bestimmt worden ist, wollen wir die Gleichung noch dahin abändern, 
daß wir uns bei der Deformation nicht p, sondern ® konstant ge- 
halten denken. Da sich ® vorher um — divg-® geändert hatte, 
haben wir jetzt (133) noch zu vermehren um die Variation von €, 
die, bei konstanter Lage der Teilchen, dem Zuwachse divgq-® der 
Polarisation entspricht. Diese Variation ist divgq- €, da € eine ho- 
mogene und lineare Funktion von ® ist. Also 


(136) I Eug=o) = divg(E+ HB) — 0,8, — 95d,.. 


47. Abhängigkeit der Dielektrizitätskonstante und des Brechungs- 
exponenten von Dichte und Zusammensetzung der Körper. Dürfte 
man die für Systeme mit kubischer Anordnung der Teilchen geltende 
Gleichung (118) allgemein auf isotrope Körper anwenden, dann wäre 
in (128) s= 0, und also, wenn bei Änderung der Dichte des Körpers 
die Eigenschaften der einzelnen Teilchen ungeändert blieben, das Ver- 
hältnis 





e—1i 
72 
der Zahl N, d. h. der Körperdichte proportional”). Indem man weiter 
die Gleichung (118) auch für eine isotrope Mischung zweier oder 
mehrerer Stoffe zu Grunde legt, erhält man für deren Dielektrizitäts- 
konstante die Formel 
e—1 as 
me Dh 
Hier sind &,, &,, u. s. w. die Konstanten, welche den Bestand- 
teilen im freien Zustande bei den Dichten D,, D,, u. s. w. zukommen, 
d;, dy, u. s. w. aber die partiellen Dichten dieser Bestandteile in der 
Mischung. 





71) Vgl. R. Clausius, Die mechanische Wärmetheorie, 2, 2. Aufl., 1879, 
p- 94. 


230 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Diesen Regeln entsprechen ähnliche Gleichungen, in welchen 
statt & das Quadrat des Brechungsexponenten » vorkommt, und zu 
welchen man nicht nur gelangt, wenn wirklich e = n? ist, sondern 
mit demselben Grade der Annäherung auch dann, wenn die Verhält- 
nisse, welche die Dispersion bedingen, eine Abweichung von dieser 
einfachen Relation herbeiführen (vgl. Nr.57). Nach diesen Gleichungen 
soll”?), wenn man sich auf Licht von einer bestimmten, jedoch beliebig 
gewählten Schwingungszahl beschränkt, für jeden isotropen Körper der 
Ausdruck 


n"—1 
n?+ 2 
der Dichte proportional variieren, und soll sich der Brechungsexponent 
einer Mischung mittels der Gleichung 
a a N ER 
FTD AIDA en 
berechnen lassen. Im großen Ganzen hat sich die letztere Formel auch 
für chemische Verbindungen bewährt, was darauf hinweist, daß in 
jedem chemischen Atom ein elektrisches Moment erregt werden kann, 
und daß die für die Größe dieses Moments maßgebenden Eigenschaften 
eines Atoms durch die Verbindung mit anderen nicht erheblich ge- 
ändert werden. Allerdings gibt es hier beträchtliche Abweichungen, 
darunter auch solche, die eine bestimmte Richtung erkennen lassen. 
Besonders merkwürdig ist der von Brühl entdeckte Einfluß einer 
doppelten Bindung der Atome”°). 





48. Elektronentheorie der Magnetisierung. a) Seit langer Zeit 
hat man für die durch ein magnetisches Feld erregte Magnetisierung 
ähnliche Gesetze angenommen, wie später für die Polarisation eines 
äußeren elektrischen Kräften ausgesetzten Dielektrikums. In einem iso- 
tropen Körper mit keinen anderen als Magnetisierungselektronen ist nach 
(114) und (121) die mittlere, auf ein Teilchen wirkende magnetische 
Kraft : 


= trM; 


macht man nun den der Beziehung (127) entsprechenden Ansatz 
(137) m—dq),, 


so gelangt man zu einer der Formel (XXXIV) analogen Relation zwischen 
M und 9, und also auch, mit Rücksicht auf (XXX), zu einer Gleichung 


72) Lorentz, I. c. (Anm. 5). Dieselben Formeln wurden auf anderem Wege 
abgeleitet von L. Lorenz, Über die Refraktionskonstante, Ann. Phys. Chem. 11 
(1880), p. 70. 

73) J. W. Brühl, Zeitschr. f. phys. Chemie, 1 (1887), p. 307. 


48. Elektronentheorie der Magnetisierung. 231 


(XXXV]) B= us, 
die für anısotrope Körper in 
(XXXVT) 8 (WS 


umzuändern ist. 

Die Theorie hat nun durch nähere Betrachtung der Art und 
Weise, wie das Moment m zu stande kommt, von der Beziehung (137) 
Rechenschaft zu geben. 

b) Voigt‘*) hat diese Frage behandelt und zwar indem er ver- 
schiedene Hypothesen auf die Probe stellte, und jedesmal sowohl die 
Wirkung des entstehenden magnetischen Feldes wie auch den Einfluß 
des bleibenden Feldes untersuchte. In allen Fällen, wo die beim Ent- 
stehen des Feldes — von Voigt als momentan vorausgesetzt — auf- 
tretende elektrische Kraft zu einer Magnetisierung führt, ist diese der 
magnetischen Kraft entgegengesetzt; dieser Teil der Theorie ist gleich- 
sam die in die Sprache der Elektronentheorie übersetzte, von W. Weber 
herrührende Erklärung des Diamagnetismus. Die paramagnetischen 
Eigenschaften können erst als eine Folge des bleibenden Feldes zum 
Vorschein kommen. 

e) Voigt nimmt zunächst an, daß in dem ursprünglichen Zustande 
Elektronen unter dem Einflusse einer elastischen Kraft (vgl. Nr. 43 a) 
in elliptischen Bahnen herumlaufen, in solcher Weise, daß die Ge- 
samtheit dieser Bewegungen völlig ungeordnet ist. Plötzliches Her- 
vorrufen des Feldes gibt in diesem Falle zu keinerlei Magnetisierung 
Anlaß. Zu einer solchen kann es indes nachher kommen, wenn die 
Elektronen ihre Bewegung nicht ungestört fortsetzen, sondern häufig 
durch regellos verteilte Anstöße in neue Bahnen gelenkt werden. 
Voigt findet, daß sich para- oder diamagnetische Erregung zeigen 
wird, je nachdem die Elektronen unmittelbar nach diesen Stößen im 
Mittel einen Überschuß an potentieller Energie ($agq? in der Bezeich- 
nung der Nr. 43a) oder an kinetischer Energie haben. 

d) Zweitens untersucht Voigt die Rotation kleiner, starrer, ge- 
ladener Körperchen, wobei er in jedem dieser Elektronen sowohl die 
Masse wie auch die Ladung gleichmäßig verteilt voraussetzt. Speziell faßt 
er Teilchen mit drei oder mit zwei gleichen Hauptträgheitsmomenten 
ins Auge (Kugeln oder Rotationskörper). Hier hat immer das Ent- 
stehen des Feldes diamagnetische Erregung zur Folge (vgl. Nr.23 ec); 
diese bleibt aber nur dann bestehen, wenn die weitere Bewegung 
ohne Dämpfung und ohne Anstöße stattfindet. Wird in dem Felde 





74) W.Voigt, Elektronenhypothese und Theorie des Magnetismus, Gött. 
Nachr., math.-phys. Kl. 1901, p. 169; Ann. Phys. 9 (1902), p. 115. 


232 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


die Rotation der Elektronen durch immer erneute Anstöße ungeordnet 
erhalten, so zeigt der Körper schließlich keine Magnetisierung. 

Eine paramagnetische Erregung kann sich herausstellen, wenn 
bei Rotationskörpern die Drehung um die ausgezeichnete Achse un- 
geschwächt fortdauert, die anderen Drehungen dagegen in irgend einer 
Weise gedämpft werden. 

e) Wir bezeichnen für einen Rotationskörper, dessen Ladung in 
beliebiger Weise symmetrisch um die Achse herum verteilt ist, mit 
a die nach einer bestimmten Seite gezogene ausgezeichnete Haupt- 
trägheitsachse, mit b und c zwei andere Hauptträgheitsachsen, mit g 
die Winkelgeschwindigkeit um a, mit Q das zugehörige Trägheits- 
moment, d. h. die Summe des materiellen und des elektromagnetischen 


Trägheitsmomentes (Nr. 22), mit %k das Integral 4 f or?dS (r Entfernung 


von a), und mit N, das Drehmoment um die Achse «. Man hat, auch 
dann wenn zu gleicher Zeit Rotationen um b und c bestehen, und der 
Mittelpunkt sich mit einer gewissen Geschwindigkeit v, bewegt, einer- 
seits nach einem bekannten Satze 


N, 
(138) er. Ser Q ’ 
andererseits nach der Formel (85) — wir lassen die x-Richtung zu- 


sammenfallen mit der Lage, die a in dem betrachteten Augenblick hat, 
und beachten, dd , = Q, =k — 


: TR k dh, 
(139) R, ee 


wo unter h, die nach der veränderlichen Richtung a genommene Kom- 
ponente zu verstehen ist. Bei der Ableitung der letzten Gleichung 
sind (IV) und (V) benutzt worden. 
Aus (138) und (139) folgt für jede Lage des Teilchens 
(140) ht, 
wenn ® den Winkel zwischen a und der Feldrichtung und g, den 
ursprünglich, vor Erregung des Feldes bestehenden Wert von g be- 
deutet. 
Werden nun schließlich die Rotationen um b und e durch Wider- 
stände vernichtet, dann nimmt a eine feste Endlage an, in der kein 
Drehmoment vorhanden ist, und zwar kommen nur solche Lagen in 
Betracht, für welche das Gleichgewicht stabil ist. In der Endlage sei 
9=G,9—= 69, und also die in die Richtung von h fallende Kom- 
ponente des magnetischen Moments, wie aus (XXII) folgt, 





1 
m, = — kG cos ©. 
c 


48. Elektronentheorie der Magnetisierung. 233 


Man kann drei Fälle unterscheiden. 
«) Das Elektron war ursprünglich in Ruhe. Dann ist schließlich 


9—=4n, G=0, md. 


ß) Vor Erregung des Feldes bestand eine Rotation, deren Ge- 
schwindigkeit g, wir das positive Vorzeichen beilegen, was sich durch 


kih| 


geeignete Wahl der Richtung von a erreichen läßt. Ist nun H<Tg: 


dann wird 





cos 9 — 


y) Wenn dagegen 9, > #lbl ‚so kann g in keiner Lage der Achse « 


eQ 
verschwinden. Man hat in diesem Fall 
0=0, nl m — (m —) 

sodaß eine paramagnetische Erregung entstanden ist, die sich aller- 
dings von der tatsächlich bestehenden in der Hinsicht unterscheidet, 
daß auch das schwächste Feld die Teilchen vollständig richten würde. 
Diesem Übelstande kann man durch weitere geeignete Hypothesen 
abzuhelfen versuchen. 

Viele ältere und neuere Arbeiten”®), in welchen das Verhalten 
drehbarer Moleküle mit permanenten magnetischen Momenten unter- 
sucht wird, ohne daß auf das Wesen der Magnetisierung näher ein- 
gegangen wird, müssen hier unberücksichtigt bleiben. 

f) Es möge auch eine Auffassung erwähnt werden, die sich 
den Anschauungen von Wilh. Weber nähert. Die Teilchen seien Ro- 
tationskörper, wie der unter e) betrachtete, die bloß eine Rotation 
um die ausgezeichnete Achse a haben. Die Achse jedes Teilchens 
möge eine feste Gleichgewichtslage haben, nach der sie immer durch 
gewisse elastische Kräfte zurückgedreht wird, und aus der das von 
einem äußeren Felde herrührende Drehmoment sie um einen gewissen 
Winkel ablenkt. Das zurückwirkende Drehmoment sei dem Ablen- 
kungswinkel © proportional; wir schreiben für dasselbe go. 

Bildet nun die Achse « eines Teilchens mit der Richtung des 
äußeren Feldes h ursprünglich (d. h. vor Erregung des Feldes) den 
Winkel 9, und später den Winkel $, so lautet die Gleichgewichts- 
bedingung (vgl. das letzte Glied von (82)) 


75) H. E.J. @. du Bois, Toupie magnetocindtique, illustrant les phenomenes 
para- et diamagnetiques, Arch. neerl. (2) 5 (1900), p. 242; Etude quantitative de 
la toupie magnetocinetique, ibid. (2) 6 (1901), p. 581; Gepolariseerde asymme- 
trische tollen, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 10 (1902), p. 415, 504. 


234 Vı4. H.A.Lorentz. Elektronentheorie. 


1 
Ik sn 9 = — 9); 


diese dient, mit (140), zur Bestimmung von g und 9. Zugleich mit 
diesen beiden Größen wird das Moment m des Teilchens bekannt. 

Auch die Energie wollen wir, behufs späterer Anwendung, be- 
trachten. Dieselbe beträgt ursprünglich 4 Qg,”, während sie sich nach 
Erregung des Feldes aus der kinetischen Energie 4 09? und der po- 
tentiellen Energie 44 (9, — #)? zusammensetzt. Der Zuwachs, den 
wir auch kurz als die Energie des Teilchens im äußeren magnetischen 
Felde bezeichnen könnten, ist also 

en) ra — N. 

Es sei nun |h| so klein, daß nach steigenden Potenzen dieser 
Größe entwickelt werden kann. Dann erhalten wir, indem wir die 
Entwicklungen so weit fortsetzen, daß das Moment bis auf Größen 


von der Ordnung |h|, die Energie aber bis auf die Glieder mit h? 
genau berechnet wird, 


k ; 
9. -— sind, +, 





k k?g i 
Be ER take 9 — 09° sin’ a 
m — I 0069" 0058, +! 





np] ind ers Ih] cos? ® 
0%q 77) 0 


und für die Energie 
k?g,* 


kg, 
— EB |] 0000, ER 





2 
h?sin?9, + 0 h? cos? 99. 


Denken wir uns jetzt sehr viele gleiche Teilchen mit denselben Werten 
von k, @, 4, 90, die nach allen möglichen Richtungen orientiert sind, 
sodaß der Mittelwert von cos 9, Null ist und der von cos?®, den 
Wert 4 hat, und nehmen wir an, jedes Teilchen befinde sich in dem- 
selben Felde 5, so erhalten wir aus den beiden letzten Formeln für 
das mittlere Moment 


(141) 454) 


und für die mittlere Energie 

(142) 3m, dj) = — (mb). 

Aus (141) geht hervor, daß die Erregung para- oder diamagnetisch 
sein wird, je nachdem 


90 > oder < 16 


ist. 
g) Es muß schließlich hervorgehoben werden, daß, wie J. J. Thomson 


49. Elektrische Ströme in magnetisierten Leitern. 235 


gezeigt hat‘), schon die Annahme freier Elektronen, die in einem 
Metall in ungeordneter Bewegung hin- und hergehen, zu einer magne- 
tischen Erregung führt, und zwar würde der Leiter infolgedessen 
diamagnetische Eigenschaften haben. Man sieht das sofort, wenn 
man den Einfluß eines äußeren Feldes auf die freien Bahnstrecken 
ins Auge faßt; diese werden dergestalt gekrümmt (Nr. 24), daß ihre 
Projektionen auf eine zu der Feldrichtung senkrechte Ebene in Kreis- 
bogen übergehen. 

Selbstverständlich würde diese Annahme einige Änderung der in 
diesem Artikel gegebenen Darstellung erfordern, man könnte ja nicht 
mehr von „magnetisierten Teilchen“ im Sinne der Nr. 15 reden. 


49. Elektrische Ströme in magnetisierten Leitern. Sehr ver- 
wickelt werden die Verhältnisse, wenn ein Körper mehr als eine der in 
Nr. 26 unterschiedenen Elektronenarten enthält. Man kann in diesem 
Falle verschiedene Hypothesen an der Erfahrung prüfen, wobei es 
sich namentlich darum handeln wird, ob die Leitungselektronen in das 
Innere der polarisierten oder magnetisierten Teilchen eindringen können, 
und wie es sich mit ihrer Bewegung in nächster Nähe dieser Teilchen 
verhält. Wir fassen hier den experimentell untersuchten Fall der Elek- 
trizitätsbewegung in einem bewegten magnetisierten Leiter ins Auge. 

a) Können die Leitungselektronen die magnetisierten Teilchen un- 
gehindert durchsetzen, so ist für die auf dieselben wirkende elek- 
trische Kraft im Mittel zu setzen (vgl. (XXXT)) 


(143) 5+ m. H]=E. 


b) Ein anderer extremer Fall ist, daß die Leitungselektronen 
ziemlich weit von den Magnetisierungselektronen entfernt bleiben. 
Wir denken uns die magnetisierten Teilchen als Kugeln X, für deren 
jede die Gesamtladung (45) Null ist und die zusammen nur einen sehr 
kleinen Bruchteil des Raumes einnehmen; zudem stellen wir uns vor, 
daß die umlaufenden Bewegungen, in welchen wir das Wesen der Magne- 
tisierung erblicken, in jeder Kugel auf die unmittelbare Nähe des 
Zentrums beschränkt sind. Den Leitungselektronen soll nur der von 
den Kugeln freigelassene Raum zur Verfügung stehen. Wir haben 
dann mit einem Mittelwert zu rechnen, der sich auf diesen Raum 
bezieht, und den wir zur Unterscheidung von (143) mit 


(144) +. m-5] 


andeuten wollen. 


76) J. J. Thomson, 1. c. (Anm. 65), p. 148. 


236 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Offenbar erhält man den neuen Mittelwert d, wenn man d ver- 
mindert um I if DAS, wo sich das Integral auf das Innere einer 


Kugel und die pro Volumeneinheit zu berechnende Summe auf sämt- 
liche Kugeln bezieht. Um h zu finden, hat man in derselben Weise 
zu verfahren. 


Die Berechnung der Summen I ir ddS und I f bdS vereinfacht 


sich nun infolge unserer Voraussetzung über die Größe der Kugeln K; 
offenbar dürfen wir uns auf diejenigen Teile von d und h beschränken, 
die über eine solche Kugel integriert einen merklichen Wert liefern. 
Wenn R der Kugelradius ist, so müssen diese Teile wenigstens von 
der Größenordnung R-? sein; sie können also nur von den Vorgängen 
in der Kugel und in ihrer unmittelbaren Nähe herrühren. 

Es ist weiter ein eigentümlicher Umstand zu berücksichtigen. Aus 
der Gleichung (63) ersieht man, daß ein magnetisiertes Teilchen mit 
konstantem Moment auf Elektronen, die dieselbe Geschwindigkeit 
haben wie das Teilchen selbst, in der Entfernung r mit einer elek- 
trischen Kraft 


(145) grad (m - rot I=}) 


wirkt. Auf Elektronen, die so weit entfernt liegen, daß für sie w 
merklich verschieden ist, wird es ebenfalls eine gewisse elektrische 
Kraft ausüben und ähnliche Wirkungen werden auch von einem Teil- 
chen mit veränderlichem Moment ausgehen. Setzt man nun die Leitungs- 
elektronen als so klein und so zahlreich voraus, daß man es in dem 
Raume zwischen den Kugeln K gleichsam mit einem kontinuierlichen 
Leiter zu tun hat, so werden jene Kräfte durch elektrische Influenz, 
d.h. durch Anhäufung von Elektronen mit bestimmtem Vorzeichen, 
eine gewisse Ladungsverteilung hervorrufen. 

Die so entstandenen Ladungen L, die man aus der Bedingung, 
daß an jeder Kugelfläche der Leitungsstrom in tangentieller Richtung 
verlaufen muß, bestimmen könnte, geben, da sie der Geschwindigkeit 
|w| proportional sind, weder zu einem merklichen Konvektionsstrome, 
noch zu einer magnetischen Kraft, die wir zu berücksichtigen hätten, 
Anlaß. Auch stören sie in keiner Weise die Gültigkeit der Grund- 
gleichung (IV”), wenn nur unter d (oder €) der bei Anwesenheit der 
Ladungen L bestehende Mittelwert verstanden wird, und bei dessen 
Berechnung nach der Gleichung (93) die Integration sich auch über 
die Kugelräume X erstreckt. Bei dem Übergange von d zu D ist 
aber darauf zu achten, daß die Ladungen L einen Beitrag zu dem 


Integral fi ddS für jede Kugel liefern. 


49. Elektrische Ströme in magnetisierten Leitern. 237 


Dieser Beitrag, für irgend eine der Kugeln, möge f heißen. Bei 
der Berechnung desselben kommt es, wie bereits gesagt, nur auf die- 
jenige Ladung L an, die in der Nähe der betrachteten Kugel liegt; 
überdies darf man, ebenfalls wegen der Kleinheit dieser letzteren, mit 
derjenigen Ladung rechnen, welche bestehen würde, wenn in einem 
unendlich ausgedehnten Leiter nur diese eine kugelförmige Höhlung 
mit einem konstanten m im Mittelpunkte vorhanden wäre und das 
ganze System eine Translation mit der Geschwindigkeit w hätte. In 
diesem Falle ist für jede Entfernung der Ausdruck (145) anwendbar; 
da dieser mit der zu einem elektrischen Momente 


— — [wm] 


gehörenden elektrischen Kraft übereinstimmt, so muß an der Ober- 
fläche von K eine Ladung mit der einer Kugelfunktion ersten Grades 
proportionalen Dichte 


(146) | = 


entstehen. Man überzeugt sich ja leicht davon, daß diese Ladung in 
allen äußeren Punkten die Kraft (145) aufhebt. 

Im Inneren der Kugel bringt sie ein homogenes Feld hervor, 
und man findet, nachdem man dessen Stärke ermittelt hat, 


1 


Auch die magnetisierten Teilchen selbst liefern einen Beitrag zu 
den in Betracht kommenden sich über die Kugelräume erstreckenden 
Integralen. Es sei, für irgend eine Kugel X, d’ der Vektor 


1 
d ee e [m ! 6] ’ 
insofern derselbe von dem in dieser Kugel liegenden magnetisierten 
Teilchen herrührt, und [ das über die Kugel ausgedehnte Integral 
Svas. Man hat dann, um (144) zu erhalten, den Vektor (143) um 
DE +0) zu vermindern. 
Um [ zu berechnen, gehen wir auf die Gleichung (IX’) zurück. 


Aus naheliegenden Gründen kommt es nur auf das letzte Glied in 
derselben an. Also wird, wenn o die Kugelfläche bedeutet, 


=. /wa) cos (n,x)do, u.s. w., 


wo wir für a’ (vgl. (XIV)) den Wert 


‚ 1 u 
= .— [Tas 
ATC r 


EZ 


238 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


einsetzen dürfen. Demzufolge wird 


=. [m, [os 2) [7745 +m, [com a)do (Yras+ 
+m, [eos m a)do | Sras), usw 


Die Werte der hier auftretenden Integrale ergeben sich sofort, wenn 
man die Reihenfolge der Integrationen umkehrt. Man erhält, wenn 
man die Koordinaten in Bezug auf den Kugelmittelpunkt mit x, y, z 
bezeichnet, und die Formeln (58) beachtet, 


fe (n, &) do (*°as— (ou,as (” de—; » [eu,xd8=0, 
fe ma)do (*ras — 2 ” [e1,xds— Sxem,, 
fe (n, x) do (*: dS= a fouzas—— Szem,, 


folglich 





(= [wm]. 
Das Resultat ist also 
t+1=0, 
und schließlich 


+ m J-5+- m HE. 


Da sich dieses Resultat für die auf die Leitungselektronen wirkende 
elektrische Kraft bei zwei sehr verschiedenen Voraussetzungen her- 
ausstellt, so dürfte es gerechtfertigt sein, mit demselben allgemein 
weiter zu rechnen. 

Man gelangt dann auch für eine geschlossene, ganz oder teilweise 
in magnetisierter Materie verlaufende Linie, wie in der Hertz’schen 
Theorie, zu der Gleichung (125), wobei zu bemerken ist, daß diese 
auch dann gilt, wenn an einigen Stellen w— 0 ist. Daselbst fällt 
dann € mit € zusammen. 

Die Erklärung der unipolaren Induktion gestaltet sich nun gerade 
so wie in Art. V 13, Nr. 18. 

Schließlich möge hervorgehoben werden, daß in der Elektronen- 
theorie der Parallelismus zwischen den elektrischen und den magne- 
tischen Erscheinungen nicht so weit geht, wie in der Theorie von 
Hertz. Der auf der rechten Seite der Gleichung (IV”’a) vorkommende 
„magnetische Strom“ ® zerfällt nämlich in die Teile ® und rot [®-w] 
(vgl. V 13, Nr. 18). Dieser letztere ist aber nicht mehr genau das 
Analogon zu dem Röntgenstrom, für welchen wir jetzt den Ausdruck 


50. Beziehungen zwischen den Zustandsgrößen. 239 


rot [B-1w] gefunden haben; diesem aber würde der Vektor rot [M-w] 
entsprechen. 


50. Allgemeine Betrachtungen betreffend die Beziehungen 
zwischen den Zustandsgrößen. Bei der Schwierigkeit, die Beziehung 
zwischen den in einem bestimmten Punkt der Materie bestehenden Zu- 
standsgrößen aus molekulartheoretischen Betrachtungen abzuleiten, 
drängt sich die Frage auf, wie weit man ohne diese, lediglich mit 
den Grundbegriffen der Elektronentheorie und gewissen allgemeinen 
Vorstellungen über die Struktur der Körper kommen könne. Indem 
man z. B. von der Annahme ausgeht, daß die Relationen, die 3, ® 
und M mit € und 9 verbinden, linear sind und daß auch nur die 
ersten Potenzen von w,, W,, w, in denselben vorkommen, kann man 
ermitteln, welche Form der Gleichungen mit den Symmetrieverhält- 
nissen verträglich ist, wobei man strenge genommen alle die ver- 
schiedenen Fälle berücksichtigen sollte, die die Kristallphysik unter- 
scheidet. Hier kann nur eine kurze Andeutung gegeben werden. 

a) Zu jedem sich in irgend einer Weise bewegenden System von 
Elektronen kann man sich ein zweites System denken, das in jedem 
Augenblick das Spiegelbild des ersten in Bezug auf eine feste Ebene 
E ist, und zwar in der Weise, daß in zwei einander entsprechenden 
Punkten der beiden Systeme o denselben Wert hat. Unterscheidet 
man die in dem zweiten System vorkommenden Größen durch den 
Index s („Spiegelbild“), und schreibt man (D) für das Spiegelbild 
eines Vektors OD, so folgt aus den Grundgleichungen 


el Ben Muinkmih)- 

Wenn man nun hinzufügt, daß auch, was die Verteilung der un- 
geladenen Materie betrifft, das eine System das Spiegelbild des anderen 
ist, und daß für die Kräfte f,, die zwischen den Teilchen dieser 
Materie oder zwischen ihr und den Elektronen wirksam sind, die 


Relation 
mM (fm) 


erfüllt ist, so erhält man zwei Körper, die sich fortwährend wie Ob- 
- jekt und Spiegelbild verhalten; jeder Bewegung des einen entspricht 
eine mögliche Bewegung des anderen. Ist nun die Struktur eines 
Körpers derart, daß die Erscheinungen in dem Spiegelbilde unter Zu- 
grundelegung derselben (d. h. nicht gespiegelten) Koordinatenachsen 
sich durch dieselben Gleichungen darstellen lassen, wie die Vorgänge 
im Körper selbst, dann soll E eine Symmetrieebene des Körpers heißen. 

b) Ein Körper habe drei zu einander senkrechte Symmetrie- 
ebenen; diese wähle man zu Koordinatenebenen. Es läßt sich dann 


240 V14A AH. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


zeigen, daß in den Formeln für 3, und ®, nur Glieder mit €,, w,9,, 
w,SD, (oder w,®,, w,®,) und in den Formeln für M, (oder ®,) nur 
solche mit 9,, w,EC,, w,E&, (oder w,B,, w,®,) auftreten können. Die 
Erscheinungen führen nun dazu, dies dahin zu spezialisieren, daß 3 
gerade durch & (Nr. 33) bestimmt ist, und also zu setzen 
Sr ea E,, 3, a. E,, 3, | E,, 
woraus man für beliebige Achsen erhält 
S=(e)E (ou, U8.W.) 
Es liegt nahe, für ® eine ähnliche Formel anzunehmen. Es sei diese 


BP=ln)E (Me Na, U. 8. W.) 
und also 


(147) D—-E+ ME. 


Daß es in den Gleichungen für M, und B, Glieder wie w,®,, w,®P, 
geben kann, geht schon aus der Formel (114) hervor. Sieht man von 
diesen Gliedern ab, so ergibt sich leicht 


B— (U) (U = Ua, US W.). 


Man kann nun in Ermangelung eines Besseren diese Formeln gleich- 
zeitig anwenden, wenn $, B und M in demselben Raum bestehen; 
jedoch betritt man dann einen ziemlich unsichern Weg. 

c) Falls elektromotorische Kräfte vorhanden sind, kann man sich, 
wenn man deren Ursprung nicht eingehender besprechen will, damit 
begnügen, den Vektor € in den Formeln für 3 und B mit € + €, 
E’—+ €” zu vertauschen. 

d) Für rasch veränderliche Zustände (Lichtschwingungen) werden 
an die Stelle obiger Formeln andere lineare Gleichungen zu setzen 
sein, die auch Differentialquotienten nach der Zeit enthalten, was bei 
einfach periodischen Änderungen auf dasselbe hinauskommt, als wenn 
man die Formel ungeändert läßt, die Koeffizienten derselben aber als 
Funktionen der Schwingungsdauer auffaßt. 

e) In der Annahme linearer Gleichungen liegt die Voraussetzung, 
daß im Ausdrucke der Kraft (VI) derjenige Anteil, der von der rela- 
tiven Geschwindigkeit der Elektronen gegen die Materie abhängt, ver- 
nachlässigt werden dürfe. Der Hall-Effekt, sowie die verschiedenen 
magneto-optischen Erscheinungen sind demnach von den Gleichungen 
dieser Nummer ausgeschlossen. 


5l. Energie und Energiefluß in ruhenden Körpern. Der Zu- 
sammenhang zwischen den elektrischen und den magnetischen Zu- 
standsgrößen wird nach Nr. 33 für ein ruhendes System durch fol- 
gende Gleichungen dargestellt: 


51. Energie und Energiefluß in rubenden Körpern. 52. Andere Bestimmung. 241 


= (EBAY, 
rt&® = — 8. 


Außerdem ist, wenn wir elektromotorische Kräfte €’, &*” voraussetzen, 


(vgl. Nr. 37 und Nr. 44c)), sowie V 13, Nr. 3), 

(XXXI”) I=()(E+H+EN, E+ = (oc), 

RRXIVN)  BP-mMErEnN), EÜ— MP. 

Ähnlich, wie wir in V 13, Nr. 22 zu der Gleichung (XII) gelangten, 


leiten wir jetzt aus diesen Formeln ab 


(E-H+E-H-AHI-HLHEOHMNPB+HB+ÄvE. 
Diese Formel, in der 

(XXXVID S=cl[E-$], 

ist offenbar die Energiegleichung, und wir schließen also, daß die 
Ausdrücke links die von den elektromotorischen Kräften pro Vo- 


lumen- und pro Zeiteinheit geleistete Arbeit darstellen und daß der 
Energiestrom durch (XXXVH), die Joulesche Wärme aber durch 


(XXXVII) IRETIM 
bestimmt wird. 
Ferner ergeben sich die Relationen 


[4 [2 R n 
Ni = N21, U.8.W., MUı2 = Ua, U.8.W., 
sodaß auch 


MEN ER U ae Bm Ye, Der Bad U: 9 WW. 


Für die elektrische Energie W, und die magnetische W,,, beide pro 
Volumeneinheit, erhält man 


RX WIE HLNP-P = LED) ++ PB), 

oder 

KR) W-I®+W,. Wo d PB ® 

und 

(XL) Ww„=3(8B). 

Diese Resultate stimmen mit den in V 13 erhaltenen überein, mit 
dem Unterschiede jedoch, daß für die Arbeit der elektromotorischen 
Kräfte €” und für W, etwas andere Ausdrücke gefunden werden. 
Es hängt dieses damit zusammen, daß von den beiden Teilen & und ®, 
aus welchen die elektrische Erregung D sich zusammensetzt, nur der 
zweite von einer elektromotorischen Kraft €” beeinflußt wird. 


52. Andere Bestimmung der Energie und des Energieflusses. 


Einen Teil der obigen Resultate wollen wir noch auf einem anderen 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 16 


242 Vı4a H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Wege ableiten, der uns tiefer in den Mechanismus der Erscheinungen 
hineinführt. 

a) Wert der Energie. Wir berechnen den Energieinhalt einer 
physikalisch unendlich kleinen Kugel und dividieren diesen durch das 
Volumen B derselben; dabei bezeichnen wir mit 1 (vgl. Nr. 35) das 
zu den inneren Teilchen gehörende Feld, mit 2 das von den äußeren 
Teilchen herrührende. Diesem letzteren Felde, das als homogen gelten 
kann, entspricht, da der Körper ruht, nach (XII), (XIV), (109) und 
(110) eine elektrische Energie 


(148) 36’ —4(E+4P)’ 
und eine magnetische Energie 
(149) 29-5. 


Zu diesen Werten sind zunächst die Energieanteile zu addieren, welche 
der gleichzeitigen Existenz der beiden Felder zu verdanken sind (Nr. 6), 
und bei deren Berechnung man sich, was das Feld 1 anbelangt, der 
in Nr. 35a) betrachteten Mittelwerte bedienen kann. Das Resultat 
lautet für die elektrische Energie (vgl. (107)) 


(150) &.9)—-—IB.(E++B), 


und für die magnetische, da das durch (108) bestimmte ®, der Mittel- 
wert von 5 ist (vgl. (XXIX)), 

(151) & EM -H+IM)). 

Schließlich ist nun noch die Energie des Kugelraumes zu berücksich- 
tigen, insofern sie von den inneren Teilchen für sich genommen her- 
rührt. 

«) Sind nur Leitungselektronen (bez. Ionen) vorhanden, und 
schließt man diejenigen Energiebeträge aus, die in allen Fällen be- 
stehen, auch bei Ruhe aller Teilchen, dann kann man zeigen, daß es 
bei kleinen Geschwindigkeiten für jedes Elektron nur auf die Summe 
der in Nr. 11b) mit 7 bezeichneten Energie und der kinetischen 
Energie im gewöhnlichen Sinne des Wortes ankommt, also auf die 
Größe }mu?, wenn m die Summe der wirklichen und der durch (79) 
bestimmten elektromagnetischen Massen bedeutet. 

ß) Wir betrachten zweitens den Fall, daß nur Polarisationselek- 
tronen in der Kugel liegen. Wegen der Kleinheit der Kugel dürfen 
wir den Zustand als einen elektrostatischen behandeln (Nr. 13); wir 
müssen aber bedenken, daß neben der durch Integration von (XII) 
zu berechnenden Energie auch für jedes polarisierte Teilchen eine ge- 
wisse elastische Energie (Nr. 43) besteht; diese rechnen wir gleich- 
falls zu der „elektrischen Energie des ponderabelen Körpers“. Wir 


52. Andere Bestimmung der Energie und des Energieflusses. 243 


bezeichnen mit pB die Summe dieser „Eigenenergien“, mit q.B aber 
die Summe derjenigen Energien, die nach (53) den verschiedenen in 
B liegenden Teilchenpaaren zukommen, und zwar berechnen wir diese 
Größen, als ob die in B liegenden Momente von dem zugehörigen, 
sich in dem Äther bis auf unendliche Entfernung hin ausdehnenden 
elektrostatischen Felde umgeben wären. Um den hierbei begangenen 
Fehler zu korrigieren, ist nachträglich die Summe pB +gB zu ver- 
mindern um die Energie, welche jenes Feld, soweit es außerhalb der 
Kugel liegt, besitzen würde. Den Betrag derselben kann man leicht 
angeben, da die Kugel bei konstanten Momenten dieselbe Wirkung 
nach außen haben würde, wie ein Moment BB in ihrem Mittelpunkte; 
das Resultat ist dem Inhalte B proportional und möge daher r B 
heißen. 

Da einem Teilchenpaare «a, b nach (53) die Energie — (pP, d,.) 
entspricht, so werden wir q richtig berechnen, wenn wir jedem Teil- 
chen des Paares die Hälfte dieser Energie zuschreiben. Kombiniert 
man in dieser Weise ein bestimmtes Teilchen der Reihe nach mit 
allen anderen in der Kugel liegenden, dann erhält man 


(152) mE (p ! d,,) i 
Andererseits ist nach (131) die Eigenenergie eines Teilchens 
3(p ; (d, * E*}). 
Da nun (Nr. 36) die Summe dieser Ausdrücke den Wert 
Ip (E+4P+E*)) 
P+rg=iP (E+IPrE*)). 


Für r aber erhält man 


(153) I + N 


hat, so wird 


y) Der Körper möge drittens nur Magnetisierungselektronen ent- 
halten. Wir wollen diese, was die diamagnetischen Substanzen be- 
trifft, als drehbare geladene Kugeln (Nr. 23 c)) betrachten und für die 
paramagnetischen die in Nr. 48 f)) geschilderte Auffassung zu Grunde 
legen. Wir folgen übrigens demselben Wege wie unter ß), und ver- 
stehen unter »',g’, r' die Größen, welche den oben mit 2, q, r bezeich- 
neten entsprechen. Statt (152) bekommen wir jetzt den Ausdruck 


(vgl. (61)) 
(mb); 


folglich, da wir (siehe (87) und (142)) für die Eigenenergie eines 
magnetisierten Teilchens 
—4+(m-b,) 


16* 


AA VıA. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


setzen dürfen, und da (vgl. 119), =, +9 +4M, 
P+9=— IM (HHIM). 
Der Formel (153) entspricht die Gleichung 


1 
SE 2 
= 4M: 


ö) Es soll angenommen werden, der Kürze halber ohne Be- 
weis, daß man bei gleichzeitiger Anwesenheit der verschiedenen Elek- 
tronenarten einfach die unter «), ß), y) betrachteten Energieanteile zu 
addieren hat. Da nun die Summe von (148), (150) und py+g—r 
den Wert (XXXIX) und ebenso die Summe von (149), (151) und 
p+d—r den Wert (XL) liefert, so fehlt an der vollständigen 
Übereinstimmung mit den in der vorigen Nummer gewonnenen Re- 
sultaten nur das Eine, daß in diesen die jetzt unter «) genannte Energie 
der Leitungselektronen nicht auftritt. Es rührt dies lediglich daher, 
daß wir in Nr. 51 die Gleichung (XXXI1IT”) benutzt haben, in welcher 
die von der Beschleunigung der Elektronen abhängigen Glieder (Nr. 37) 
vernachlässigt sind. Ebenso wie der Einfluß dieser Glieder bei den 
Strömen in Metallen weit gegen die elektrische Kraft € zurücktritt, 
verschwindet auch die Summe der Bewegungsenergien der einzelnen 
Elektronen gegen die Energie des gesamten magnetischen Feldes”). 

Zur Erläuterung füge ich hinzu, daß zwar bei einem einzigen 
bewegten Elektron der weitaus größte Teil der magnetischen Energie 
in einem äußerst kleinen Raume S, in unmittelbarer Nähe des Teil- 
 chens liegt, sodaß der weiter entlegene Raum $, nur sehr wenig 
davon enthält, daß aber, wenn in einem Leiterelement unzählig viele 
Elektronen in derselben Richtung fließen, die entsprechenden schwachen 
Felder sich in der weiteren Umgebung 5, superponieren und, kann 
man sagen, verstärken. Da nun die Energie des resultierenden Feldes 
pro Volumeneinheit dem Quadrate der magnetischen Kraft proportional 
ist, so kann sie am Ende die Summe der in den Räumen $, vor- 
handenen Energien weit übersteigen. 

b) Energiefluß. Man überzeugt sich leicht davon, daß in einem 
ruhenden System ‚an der Grenzfläche zweier Körper die normale Kom- 
ponente des Energieflusses stetig sein muß. Bilden wir nun in einem 
Nichtleiter die in Nr. 35 c) erwähnte zylindrische Höhlung, und denken 
wir uns zwei der Grundfläche parallele Ebenen 6, und o,, die eine 
in der Höhlung, die andere außerhalb derselben in unmittelbarer Nähe 
jener Fläche, so werden diese von gleichen Energiemengen durch- 


77) Siehe, was das Verhältnis der beiden Energien betrifft: A. Schuster, On 
electric inertia and the inertia of electrie convection, Phil. Mag. (6) 1 (1901), p. 227. 


53. Fiktive Spannungskomponenten in unmagnetisierten Nichtleitern. 245 


strömt. Dasselbe gilt, wenn die Höhlung nicht vorhanden ist, und 
also auch 6, in der Materie liegt. Andererseits wissen wir, daß der 
Zustand an 6, in beiden Fällen derselbe ist, da die Entfernung der 
Materie aus der Höhlung keinen hier in Betracht kommenden Ein- 
fluß auf den übrigbleibenden Teil des Körpers hat. Folglich muß 
der ursprünglich durch o, stattfindende Energiefluß dem nach Bildung 
der Höhlung bestehenden gleich sein. Letzterer ist nach (XV) c[d - H],, 
wenn d und h sich auf den Äther in der Höhlung beziehen. Da nun 
dieser Ausdruck nur von den zu 6, parallelen Komponenten von d 
und h abhängt und diese, weil das System ruht, den gleichgerichteten 
Komponenten von & und 9 in dem Körper ohne Höhlung gleich sind 
(Nr. 35 0)), so finden wir für den in diesem existierenden Energie- 
strom e[E- $], im Einklang mit (XXXVI). 


53. Fiktive Spannungskomponenten in ruhenden unmagneti- 
sierten Nichtleitern ’®). Die auf ein Volumenelement eines pondera- 
belen Körpers ausgeübte ponderomotorische Wirkung läßt sich in 
verschiedener Weise berechnen; man kann z. B. von den in Nr. 9 
bewiesenen Sätzen ausgehen. Hier soll eine direkte Berechnung, die 
zum Teil auf der zu Anfang der Nr. 46 gemachten Voraussetzung 
beruht, uns zum Ziel führen; um nicht zu weitläufig zu werden, be- 
schränken wir uns auf den in der Überschrift angezeigten Fall. Die 
Ausdehnung der Theorie auf magnetisierte Körper könnte übrigens 
ohne sonderliche Mühe geschehen. 

a) Wir zerlegen die auf ein Teilchen A wirkende ponderomoto- 
rische Kraft in zwei Teile, deren erster von denjenigen Teilchen her- 
rührt, die außerhalb einer um A beschriebenen physikalisch unendlich 
kleinen Kugel vom Radius R (Nr. 35a)) liegen. Die x&-Komponente 
dieses Teils beträgt nach (88) 


Br LE 0 ı Br 3 
Er +9,75 - +9,75 2 + P da: — 9.8) 


also, wenn man die Werte (110), (111) und Se einführt und auf 
die Volumeneinheit reduziert, 


(154) B,52+B,52+8.524+28,0,— 8,9) 
+ B, div P+- Re (+ 9. (+ 23.). 


Um den noch fehlenden Teil der pro Volumeneinheit wirkenden 











78) Eine Behandlung der Spannungen findet man auch bei Walker, Aber- 
ration etc., Part 3. 


246 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Kraft % zu erhalten, denken wir uns alle Verbindungsstrecken zwi- 
schen je zwei Teilehen A, A’ gezogen, insofern diese Strecken < R 
sind, und an die Endpunkte (x, %, 2), (x, y', 2’) jeder Strecke die Zahlen 
&,8 gesetzt, welche die von A’ auf A, bez. von A auf A’ in der 
x%-Richtung ausgeübten Kräfte darstellen. Die Summe aller Zahlen, 
die innerhalb eines physikalisch unendlich kleinen Raumes S zu ver- 
zeichnen sind, liefert uns, nachdem sie mit 5 dividiert ist, den ge- 
suchten Beitrag zu %,. Da nun jedesmal &8+&=0, so läßt sich 
hier, wenn die Dimensionen von S im Vergleich zu R sehr groß sind, 
eine Methode wie die in Nr. 28 b) geschilderte anwenden. Das Resultat 
erscheint als die mit dem negativen Vorzeichen genommene Divergenz 
eines gewissen Vektors und zwar sind die Komponenten desselben 


Ze), Su-NE Ze— NE, 
wo sich die Summation über alle in der Volumeneinheit liegenden 


Teilchenpaare erstreckt. 
Indem wir nun 


15) -3e—- = RX), -—3W—NE= (X) 
— De — )E= (X), u 8. w. 


setzen, eine Schreibweise, die sich bald rechtfertigen wird, finden wir 
für die zu (154) zu ee Größe 


aa + 2 E 


Wir wollen auch, soweit das DR den Ausdruck (154) auf dieselbe 
Gestalt bringen. Was die zweite Zeile betrifft, so gelingt dieses sofort. 
Man kann nämlich für a: a, 


—. 4 a A 








wenn 

(156) K)h=nP:r >: ap + RB), (X) = BD KR. P.- 
u. 8. w. 

Die erste Zeile von (154) aber läßt sich dadurch umformen, daß wir 

in den ersten drei Gliedern ® durch D— € und dann in — & 0 








Y 2y 
und — Bi die Differentialquotienten durch u + $, und 
a — ,, ersetzen. Zu gleicher Zeit ecke wir 

ne en ng 19 _% 9%. _1G 
6.:79.7..08 0% RT ET" oy B;- 8 


und beachten, daß dv ®=0, dvS$—= 0. Setzt man 


53. Fiktive Spannungskomponenten in unmagnetisierten Nichtleitern. 247 


X,= E,D,— +(€ ; D) For +9? + X) + (X, 2 Fr z(E ; P)], 
(157) X, EF ED, + 9 9, + X): + (X,)a) 
X —=E,28,+99+&) + Mal 


u. 8. wW., 


dann wird das Schlußresultat dieser Rechnungen 
DR 70 AL 42 

(158) . der Von er, Prinz 22 Ste DL Has Dis 0 

b) Verlegt man alle auf ein Teilchen A wirkenden Kräfte nach 
dem Mittelpunkt O (Nr. 12), so kommt ein Kräftepaar zum Vorschein; 
auch dieses, oder vielmehr die Summe W aller dieser Kräftepaare 
pro Volumeneinheit wollen wir berechnen. Insofern nun die auf ein 
bestimmtes Teilchen wirkenden Kräfte von den um mehr als R von 
demselben entfernten Teilen des Systems ausgehen, sind die Kompo- 
nenten des Drehmoments nach (82) 


&,;p, — &,P,, u. 8. w.; 





für den entsprechenden Beitrag zu X, erhält man mit Rücksicht auf (109) 
(159) ER, —-EB,=- ED, — ED. 

Andererseits dürfen wir (Nr. 46) die Momente zweier benachbarter 
Teilchen A und A’ als nach Richtung und Größe gleich und ihre 
Wechselwirkung als eine elektrostatische betrachten (Nr. 13). Ist 
nun, in Bezug auf den Mittelpunkt O von A, n,,„ das Drehmoment 
der durch A’ auf A ausgeübten Kräfte, und ist n,, das entsprechende 
Moment für das Teilchen A’, in Bezug auf den Mittelpunkt dieses 
letzteren, so läßt sich zeigen, daß 


Da ferner das gesamte Drehmoment aller zwischen A und A’ wirken- 
den elektrostatischen Kräfte in Bezug auf einen festen Punkt, z. B. O, 
verschwindet, so erhält man für die «-Komponente von ı,, 


(160) +@- An —- uw N) 
wenn n und & in Bezug auf die y- und 2-Achse dieselbe Bedeutung 
haben wie oben & für die «-Riehtung. Die Größe, um welche (159) 


zu ergänzen ist, ist durch geeignete Summation von (160) zu be- 
rechnen, und man sieht leicht, daß man setzen darf 


N, eng ED, ATS E,®, 3.5 PIE TER 2) RR, (Y IE Y) &, U.8. W., 


wenn das Zeichen & sich, ähnlich wie in (155), in der Weise auf alle 
in der Volumeneinheit liegenden Verbindungsstreeken, die <_R sind, 
bezieht, daß jede Strecke nur einmal genommen wird. 


248 V 14. H. 4A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Aus den Gleichungen (155), (156) und (157) geht hervor, daß 

(161) N,=Z,—Y, us w. 
Ob nun Z, von Y,, u.s. w. verschieden sei, und also ein von Null 
verschiedenes Drehmoment bestehe, das hängt von den speziellen 
Eigenschaften des Körpers ab. Ein in elektrischer Hinsicht aniso- 
tropes Teilchen, wie es Krystallmoleküle wahrscheinlich sind, und wie 
wir es in Nr. 43d) behandelten, würde im allgemeinen, wenn es in 
einem elektrischen Felde in bestimmter Richtung festgehalten wird, 
infolge der an jener Stelle berechneten Polarisation ein Drehmoment 
erleiden. Wäre es frei drehbar, so würde es schließlich eine solche 
Lage erhalten, daß kein Kräftepaar mehr besteht”®). Anders verhielte 
sich ein Körper, bei dem sich gewisse elastische Kräfte den Richtungs- 
änderungen der Moleküle widersetzten®®); bei einem solchen bliebe ein 
von dem elektrischen Felde herrührendes Drehmoment W bestehen, 
das eben dem elastischen Drehmomente das Gleichgewicht halten würde. 

Wir wollen indes auf diese Verhältnisse nicht weiter eingehen. 
Wir setzen vielmehr von jetzt ab voraus, daß die Teilchen isotrop 
seien, und daß für ein jedes die Gleichung (127) gelte; dann ist, da 
das Moment die Richtung des Feldes hat, kein Drehmoment vor- 
handen. Es verschwindet also auch N und es müssen sich bei näherer 
Betrachtung der Werte (157) die Gleichheiten 

Z, =], usw. 
herausstellen. 

c) An die Gleichungen (158) knüpfen sich ähnliche Bemerkungen 
wie früher an (13)—(15). Die Größen X,, X,, X,, u. s. w. können 
als fiktive Spannungskomponenten, und zwar nur als fiktive aufgefaßt 
werden. Die Angriffsstellen der von dem Äther auf die Materie eines 
Volumenelementes ausgeübten Wirkung liegen in Wirklichkeit in 
dem Elemente. 

Daß der Vektor 


1 1 
2[6.9]- 46 
als der pro Volumeneinheit des ponderabelen Körpers bestehende 


elektromagnetische Impuls aufgefaßt werden kann, und daß also all- 
gemein für diesen Impuls die Gleichung 


(XLD) G—, F Sas 
gilt, braucht kaum gesagt zu werden. 


79) Freilich wäre dann an den Betrachtungen von Nr. 43 einiges zu ändern. 
80) Vgl. Voigt, L’&tat actuel de nos connaissances sur l’elastieite des eristaux, 
Rapports du Congres de physique de 1900, Paris 1, p. 277. 


53. Fiktive Spannungskomponenten in unmagnetisierten Nichtleitern. 249 


d) Die Werte der fiktiven Spannungskomponenten lassen sich in 
einer Form darstellen, die den analogen Gleichungen der Hertz’schen 
Theorie sehr ähnlich ist. Zu diesem Zwecke hat man die bisherigen 
Resultate in Beziehung zu setzen zu der Variation, welche der früher 
(Nr. 51) mit W,, bezeichnete Teil der elektrischen Energie dann er- 
leidet, wenn bei konstant gehaltenem ® unendlich kleine Verrückungen 
q stattfinden (Nr. 46). Da W,,—= (EP), so ist 
(162) I W.r68=0 = (PB 9 Eog=0) 

Hier setzen wir zunächst für d6& das Glied — d,d,, aus der Gleichung 
(136) ein. Insofern dieser Vektor von der Wirkung herrührt, die das 


betrachtete Teilchen A von einem einzigen benachbarten Teilchen 4’ 
erleidet, sind seine ge nach (135), wenn man 


(X Seien NE +@— Da, usw. 
setzt, 
(163) ig IT 

a ar 2, d0 07° 
Wir haben jetzt über alle Teilchen A’, die um weniger als R von A 
entfernt sind, zu summieren, die drei dadurch aus (163) entstehenden 
Ausdrücke, wie in (162) angegeben, mit 4B,, u.s. w., oder 4Np,, 
u. s. w. zu multiplizieren und sie dann zueinander zu addieren. Offenbar 
sind nun 


Dr HP EEE. 


gerade die Kraftkomponenten, die wir früher mit &, n, & bezeichnet 
haben; es folgt also als erster Beitrag zu (162) 


(es I@—- + in DW—nE 
+ IND @— ni + u. s. w. 


Da die hier auftretenden Summen sich auf die rings um ein einziges 
Teilchen innerhalb der Entfernung R von demselben liegenden Nachbar- 
teilchen beziehen, die Summen in (155) aber auf alle in der Volumen- 
einheit befindlichen Teilchenpaare, so sind die Koeffizienten von 


ip 2, u, u.s. w. genau die Ausdrücke, die wir früher mit (X), 


(X,)ı, (X)ı, U. 8. w. bezeichnet haben. 
Ähnliches ergibt sich bei Untersuchung desjenigen Teils von 
(162), welcher den Gliedern 


divga(E +4®%) — d,D,, 
in (136) entspricht. Das Glied divg:& liefert nämlich den Anteil 


250 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorıe. 


divgq-J(E-®), wo der Koeffizient von = mit dem letzten Gliede 


in der ersten Gleichung (157) übereinstimmt. Was weiter den Vektor 
divga-4B — %D,, 


anbelangt, so sind seine Komponenten nach (134) 
30 1 09 1 09, 09, , 0% 
5 dx x +5 9%»t5792 Er Re ee le +52) $, 
Ö x 0 2 
+-—  (& + =) P,, u. s. w. 


In dem hieraus entspringenden Teile von (162) erscheinen 09: 09, 
prıng da’ dy’ 
3 u.s. w. mit Koeffizienten, in welchen man die Größen (X), 


(X,)a, (X,)s, u. s. w. (Gl. (156)) wieder erkennt. 
Zusammenfassend können wir sagen: Bringt man den vollstän- 


digen Wert von (162) auf die Form 
09; 092 0% 
(164) a ne +a 4437 j er Ay3 2 „ tusw., 


dann fallen die Koeffizienten a,,, 4a, ds, U. s. w. mit den in eckigen 
Klammern eingeschlossenen Gliedern der Spannungskomponenten (157) 
zusammen. Aus diesem Grunde dürfen wir statt jener Formeln 
schreiben 


(XLII) X, ig +(E,D, Eu ED, 25 €,2,) sh 49, H, FE 9,) 
oW,, 
+ ( De 39 u. 8. w., 
DW, 
(XLOI) (X, + I, Be +(E,D, + €,D,) + HD, Er Fe u.8.W., 


wo die letzten Glieder eine ähnliche Bedeutung haben wie die ent- 
sprechenden Größen in den Formeln (XVTI) und (XVII) des vorigen 
Artikels. Um (XLII) zu erhalten, beachte man, daß man, um einem 
eh: die Schiebung x, ohne Rotation zu erteilen, jeder der 


Größen gr und AL den Wert 4x, beilegen muß; folglich ist nach (164) 
oW, 
( dx, er). — 4a + 9): 


54. Energie und Energiefluß in bewegten Nichtleitern. Veri- 
filzierung der Resultate. Man wird es nicht für überflüssig halten, 
die vorhergehenden Schlüsse an dem Energiegesetze zu prüfen; dieses 
verlangt ja, daß für jedes substantielle Volumenelement des Körpers 
die Arbeit der auf dasselbe wirkenden ponderomotorischen Kraft, ver- 
mehrt um die infolge des Poynting’schen Stromes verlorene Energie, 








54. Energie und Energiefluß in bewegten Nichtleitern. 251 


der Verminderung des elektromagnetischen Energieinhaltes gleich sei. 
Bevor wir indes zu dieser Verifizierung schreiten können, bedarf das 
bereits Gefundene noch einiger Ergänzung. Zwar genügt es, da wir 
die Größen mit w? fortwährend vernachlässigen, die ponderomotori- 
schen Kräfte, eben weil sie noch mit Geschwindigkeitskomponenten 
multipliziert werden müssen, für den Ruhezustand zu kennen. Was 
aber W,, W,, und den Energiestrom betrifft, so ist vorher zu unter- 
suchen, inwiefern die Bewegung eine Modifikation herbeiführt. 

a) Es zeigt sich nun bei näherer Betrachtung der in Nr. 52a) 
mitgeteilten Berechnung von W,, daß die Formeln (148) und (150) 
noch immer richtig sind; bei der vorausgesetzten Abwesenheit von 
Magnetisierung gelten nämlich sowohl für €,, wie auch für €, die 
früher angenommenen Ausdrücke. Wir erinnern weiter daran (vgl. 
den Schluß von Nr. 11), daß die elektrische Energie eines elektro- 
statischen Systems durch eine Translation nicht geändert wird; wir 
dürfen daher noch immer mit dem Ausdrucke (152) oder, da bei 
einem elektrostatischen System d sich nur um eine Größe von der 
Ordnung mw? von d’ unterscheidet, mit 


(165) — + di) 

rechnen, während r wieder durch (153) bestimmt wird. In dem Aus- 
drucke (131) für die Eigenenergie eines Teilchens aber hat man 
unter f die elektrische Kraft zu verstehen, der es in Wirklichkeit 


unterworfen ist, d. h, wenn keine elektromotorische Kraft €” vor- 
handen ist, die Kraft (vgl. (115)) 


b-C+ Mm HIHI + EHIB + bh. 


Hier ist € die elektrische Kraft, von welcher die Polarisation nach 
der Gleichung (XXXIV’””) abhängt. Addiert man (165) zu der Eigen- 


energie des Teilchens, dann erhält man 


3 IE+H4B)), 
az r+rga=iPB (Ü+4B)) 


Das Resultat ist 
RRR) WE +HLEM-IEÜHHMB-P. 
Für die magnetische Energie bleibt die Formel 
(XL) W399 
anwendbar. Zwar ist jetzt, wie man aus (110) und (108) ersieht, 
die Feldstärke 2 


sodaß 


5+Wm-$ 


252 V 14. H. A. Lorentz. Elektronentheorie. 
und die mittlere Feldstärke 1 
1 

— 0 
die von w abhängigen Glieder verschwinden aber aus der Summe 
der Größen, die man jetzt statt (149) und (151) erhält. Außerdem 
ist zu bemerken, daß den in der Kugel B liegenden elektrischen Mo- 
menten eine magnetische Energie entspricht, die von der Ordnung w? 
ist (Schluß von Nr. 11). 

b) Etwas länger müssen wir bei der Wanderung der Energie 
verweilen. Es soll jetzt von dem Energieflusse relativ zur Materie 
die Rede sein; © soll also einen solchen Vektor bedeuten, daß für 
ein an der Bewegung w tejlnehmendes Element do die Größe ©,do 
die pro Zeiteinheit durchströmende Energiemenge darstellt. Für diesen 
Vektor ist nun die im Anfang von Nr. 52b) erwähnte Stetigkeit im 
allgemeinen nicht mehr vorhanden. 

Man denke sich bei zwei in der Fläche 6 aneinander grenzenden 
Körpern einen Zylinder konstruiert, dessen physikalisch unendlich kleine 
Grundflächen auf beiden Seiten des Elementes do liegen und dessen 
Höhe im Vergleich zu den Dimensionen der Grundfläche physikalisch 
unendlich klein höherer Ordnung ist. Auf diesen Zylinder, der sich 
mit der Materie verschieben möge (w soll stetig sein), wende man den 
zu Anfang dieser Nummer angeführten Energiesatz an, und zwar in 
der Weise, daß man Größen, die der Höhe des Zylinders proportional 
sind, vernachlässigt. Es kommt dann weder die Arbeit der dem 
letzten Gliede von (158) entsprechenden ponderomotorischen Kraft, 
noch die Änderung der in dem Zylinder enthaltenen Energiemenge 


in Betracht. Für die ponderomotorische Kraft darf man schreiben 
(siehe den Anfang von V 13, Nr. 3) 


[En Kids, 


wo 7” die fiktive Spannung für ein Flächenelement mit der Nor- 
male n bedeutet, und es ergibt sich 


(TH — T)-w)+ Sr — SH, 
also Kontinuität der Größe 
(166) &,+ (Z” m). 
Wir schließen hieraus (vgl. Nr. 52 b)), daß für ein beliebiges Flächen- 
element im ponderabelen Körper diese letztere Größe denselben Wert 
hat, als wenn es, den Spaltflächen parallel, in einer engen Spalte läge. 


Da nun für den reinen Äther der jetzt betrachtete Energiestrom offen- 


bar durch 
S—=8— (w + w,)Ww 


54. Energie und Energiefluß in bewegten Nichtleitern. 253 


bestimmt wird, so ergibt sich, mit Rücksicht auf (XIID, (XIV), (XV), 
(XVD), (XIX) und (XX), dass für dieses Medium die Größe (166) mit 
e[d- 5], 
zusammenfällt. Kür die in der Spalte liegende Ebene hängt diese 
Größe nur von den den Spaltflächen parallelen Komponenten von d’ 
und h’ ab, und diese Komponenten stimmen, wie wir bereits wissen 
(Nr. 35 c)), mit den gleichgerichteten Komponenten von ® und 9 
im ponderabelen Körper überein. Folglich dürfen wir für das Innere 

dieses Körpers den Ausdruck (166) der Komponente 


ecle- 9, 
gleichsetzen und erhalten für den Energiefluß die Formel 
(XLIV) S,=clE- 9, — (T"-w). 


c) Nach dieser Vorbereitung gelingt die beabsichtigte Verifizie- 
rung ohne Mühe. Wir fassen wie gesagt ein substantielles Volumen- 
element ins Auge, schreiben aber alle Ausdrücke für die Volumen- 
einheit, sowie auch für die Zeiteinheit hin. Bei den Transformationen 
werden, unter fortwährender Vernachlässigung von Gliedern mit w?, 
an geeigneter Stelle die Gleichungen (IIl”a), (IV”a), (XXXT), (XXX), 
(XXXIX) und (XL) herangezogen; auch bedienen wir uns verschie- 
dener in V 13, Nr. 4 erklärten Bezeichnungen. 

Die Arbeit der ponderomotorischen Kraft besteht nach (158) aus 
den beiden Teilen 


(167) — m  ZIE- 5) =— (wm [E- 91) — I w-[E-H) 
—; (w-51.& — — (w-€]:9)— (Ww-9]:& — -(m-E]- $) 
und 

(168) N re 2) +u.s. w, 

während die hinausströmende Energiemenge zerfällt in 


(169)  ediv[®.9]— — c(E. 169) + c($- rot €) 
= - (€. 9) -(9.H9)--(E.9-(€.-W—- (9-9) 


und 
(170) div &. 
Hier ist © ein solcher Vektor, daß für jede Riehtung » 


SS, = — (T”:m). 
Die Summe von (167) und (169) ist 
71) - (E:9—-(E-W- (9-9). 


254 Vı4. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Desgleichen die von (168) und (170), Gleichheit von X, und Y, 
u. 8. w. vorausgesetzt, 


(172) —| X, + usw. + X, +) + usw], 
also, wenn man zunächst von den letzten Gliedern in (XLII) und 
(XLII) absieht, 
— +(E,D,— €&,D,—E,9,)2,—u3.w,— 492 —9—99)2,— usw. 
— +(E,Dd, +E,D,)2, -—us:w — 9,92, —usW. 
— — (HE,D,+ ED, + ED) +49), +, +2) 
+ (E- (8 —-D,)+ (9- (8—9u}) 
= — (W,.+W,) divw+ (E-([E-&,)+ EB 2) 
+18) 
Indem wir dieses zu (171) addieren und den soeben fortgelassenen 
Teil von (172) hinzufügen, erhalten wir 


"ATE, (W, Fr W,) div w — (E j &) wraB (E- B,,) H422 (9 x 9) 


a,‘ A 
= 37, ie mW ( d2, Ya — U.8W, 


was offenbar die Abnahme der elektromagnetischen Energie ist. 

Wir schließen diese Betrachtungen mit der Bemerkung, daß man 
der Theorie eine Gestalt geben kann, in der die Energie mehr als 
in unserer Darstellung in den Vordergrund tritt. Faßt man die 
Energie teils als potentielle, teils als kinetische, im gewöhnlichen 
mechanischen Sinne auf, und gelingt es, aus irgend welchen Vor- 
stellungen über die Vorgänge in den Körpern geeignete Werte für 
die beiden Teile abzuleiten, dann führen die Gesetze der Dynamik zu 
den Feldgleichungen, und zwar kann man es dabei so einrichten, 
daß spezielle Hypothesen betreffend den Mechanismus der Erschei- 
nungen möglichst vermieden werden ®"). 











55. Bemerkungen zu den ponderomotorischen Kräften ®?). Ein 
ruhender, nicht magnetisierter Körper befinde sich in einem Magnet- 
feldeh. Nach der Grundgleichung (VI) wirkt auf denselben pro Vo- 
lumeneinheit eine Kraft 


— [86-9], 


81) Siehe z.B. F. Hasenöhrl, Über die Grundgleichungen der elektromagne- 
tischen Lichttheorie für bewegte Körper, Wien. Sitz.-Ber. 111, IIa (1902), p. 1525. 
82) Vgl. Poincare, Eleetrieit6 et optique, 2° edit., $ 361. 


55. Bemerkungen zu den ponder. Kräften. 56. Einfluß der Erdbewegung. 255 


(vgl. Nr. 27), also wenn man es nur mit einem Leitungsstrome zu tun 


hat (Nr. 29), 
218-9], 
und wenn der Körper ein Nichtleiter ist (Nr. 30), 
(173) -[B-Hl. 
Das erste Resultat wurde bereits in Nr. 36a) erwähnt und kommt 
auch in der Hertz’schen Theorie vor. Das zweite dagegen führt in dem 


V13,Nr.24c) betrachteten Fall nicht zu dem dort angeführten Aus- 
druck (49), sondern zu dem Werte 


1 . 
G,= Pr RP, d, Z. 
Es fehlt eben in (173) das Glied 
1 N 
[8-9], 


-B:$l 


welches den Ausdruck zu 


ergänzen würde. 

Die V 13, Nr. 24 d) besprochene Hertz’sche Kraft tritt in der 
Elektronentheorie gar nicht auf. Diese Unterschiede zwischen den beiden 
Theorien hängen damit zusammen, daß (Nr. 7) nach der Elektronen- 
theorie die ponderomotorische Kraft neben dem von den Spannungen 
herrührenden Teil noch den Teil 


4 [sas- 3 | as— II has 
enthält. 


V. Nähere Betrachtung bewegter Systeme°?). 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Er- 
scheinungen. Wir wenden uns der Frage zu, ob eine gemein- 
schaftliche Translation der miteinander in Wechselwirkung stehenden 
Körper, wie sie jedes System in Folge des jährlichen Umlaufs der 
Erde und der fortschreitenden Bewegung des Sonnensystems hat, 
einen Einfluß auf die Erscheinungen habe. Mit w bezeichnen wir 


83) Vgl. zu diesem Kapitel nebst den citierten Arbeiten von Lorentz, Larmor, 
Walker und Poincare, auch Lienard, La theorie de Lorentz, L’eclairage &lectri- 
que 14 (1898), p. 417, 456; La theorie de Lorentz et celle de Larmor, ibid. 16 
(1898), p. 320, 360; W. Wien, Über die Fragen, welche die translatorische Be- 
wegung des Lichtäthers betreffen (Referat für die 70. Naturforscherversammlung 
1898, Beilage zu Ann. Phys. Chem. 65). 


256 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


fortan die Geschwindigkeit der Translation; mit „Ruhe“ soll „relative 

Ruhe“ in Bezug auf das fortschreitende System gemeint sein. Da die 

‚Geschwindigkeit der Erde 0,0001 ce ist, so werden Größen, die in 
Im] 


Bezug auf —- zweiter Ordnung sind, sich bei fast allen elektrischen 


Erscheinungen der Beobachtung entziehen. 

a) Unsere Aufgabe wird darin bestehen, in verschiedenen Fällen 
den Einfluß der Translation zu untersuchen. Insofern nun die in 
Betracht kommenden Wirkungen elektromagnetischen Ursprungs sind, 
können wir die Frage mit Hilfe der im vorstehenden entwickelten 
Gleichungen beantworten. Was aber andere Kräfte („Molekularkräfte“), 
z. B. die in Nr. 43 angenommenen elastischen Kräfte anbelangt, so 
liegt die Sache weniger einfach, da uns der Mechanismus derselben 
unbekannt ist. Man kann indes folgendes bemerken. 

Aus den Grundgleichungen (I)—(VI) geht hervor, daß die Be- 
wegungen, welche in einem Elektronensystem unter dem Einfluß der 
elektromagnetischen Wirkungen stattfinden können, umkehrbar sind, 
sodaß die bei denselben vorkommenden Lagen auch in umgekehrter 
Folge durchlaufen werden können; es hängt dies damit zusammen, 
daß die Kräfte nur von den Quadraten und Produkten der Geschwin- 
digkeitskomponenten abhängen. Es liegt nun nahe, die Umkehrbar- 
keit auch für diejenigen Bewegungen vorauszusetzen, bei welchen 
neben den elektromagnetischen Kräften auch die Wirkungen zwischen 
Elektronen und ungeladenen Teilchen ins Spiel kommen, eine An- 
nahme, die offenbar involviert, daß ein Einfluß der Translation auf 
die elastischen Kräfte und auf die Koeffizienten 7 und & sich erst in 
den Gliedern zweiter Ordnung zeigen kann. Dasselbe wollen wir 
auch für die Leitfähigkeit eines Metalles voraussetzen. 

b) Elektrostatische Systeme. Die in Nr. 11 b«) abgeleiteten Be- 
ziehungen gelten offenbar auch für die Mittelwerte 0, 9, %, d, 
u.s.w. Also, wenn wir einem bewegten System ein ruhendes zu- 
ordnen, dessen Dimensionen in der Translationsrichtung sich in der 
durch (33) bestimmten Weise von denen des ruhenden Systems unter- 
scheiden, und in welchem 9 dieselben Werte hat wie in letzterem, 
dann gilt für korrespondierende Punkte 


(174) +1 P)y 

und nach (35) 

a) B-U-Ai, W-A-A, Led. 
Hieraus folgt, daß, wenn in einem gewissen Raum f, verschwindet, 
in dem entsprechenden Teil des bewegten Systems f = 0 sein wird. 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen. 257 


Die Anwendung hiervon auf ein System von Konduktoren ist sehr 
einfach. Da die Gleichgewichtsbedingung darin besteht, daß im Inneren 
jedes Konduktors die Kraft f verschwindet, so werden Ladungen auf 
dem bewegten System dann im Gleichgewicht sein, wenn an jeder 
Stelle g übereinstimmt mit der Dichte einer Gleichgewichtsverteilung 
auf einem System ruhender Konduktoren, welches man aus dem be- 
trachteten System durch die in (33) angezeigte Deformation erhält. 
Gleichgewicht wird ebenfalls bestehen, wenn man in dem bewegten 


System alle Werte von @ im Verhältnis von (1 — p»% zu 1 vergrößert; 
dann tragen in den beiden Systemen korrespondierende Flächenele- 
mente gleiche Ladungen. 

Die Formeln (175) gestatten auch direkt eine Folgerung in Bezug 
auf die ponderomotorischen Kräfte. Es zeigt sich, daß der Einfluß 
der Translation sich nicht nur was die Verteilung der Ladungen, 
sondern auch was die Größe jener Kräfte bei gegebenen Ladungen 
betrifft, auf Größen zweiter Ordnung beschränkt. 

Da indes nach (34) die elektrischen Ladungen in dem bewegten 
System eine magnetische Kraft erster Ordnung hervorufen, so könnte 
man eine Wirkung auf eine Magnetnadel erwarten. Diese wird aber 
von einer anderen aufgehoben (siehe unten, e). 

Zu obigen Schlüssen betreffend die Ladungsverteilung führen 
übrigens auch die Gleichungen (VII”) und (VIII”); dabei kann man 
die Anwesenheit beliebiger Dielektrika im Felde voraussetzen. 

Da für jede Größe y in einem sich verschiebenden elektro- 
statischen System die en 

0 
r —— (wm, ; = dx tn, st +1,22) 
besteht, so kann man, wenn man von vornherein von den Gliedern 
zweiter Ordnung absieht, ® und $ gleich Null setzen. S Abwesen- 


heit von 3 und M werden X und 5 von der Ordnung |" Ei (da auch 


® in (VIII”) von dieser Ordnung ist), sodaß in A ind: [w-9] das 
Geschwindigkeitsquadrat erscheint; die durch (IX”) und (XXXTY) be- 
stimmte elektrische Kraft €, auf die es jetzt ankommt, reduziert sich 
also auf — grad ®. Schließlich hat man die Formel B— (7)€ heran- 
zuziehen, wenn man, etwa bei gegebener Ladung jedes Konduktors, 
g oder die Flächendichte bestimmen will. Die Geschwindigkeit w ist 
am Ende aus den Formeln verschwunden. 

e) Ponderomotorische Wirkung auf einen Kondensator. Den vor- 
stehenden Erörterungen wollen wir die Besprechung eines interessanten 
Falles anschließen. Wir wissen bereits (Nr. 11 b)), daß bei jedem 


Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2, 17 


258 V14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


geladenen System infolge der Erdbewegung eine gewisse elektromagne- 
tische Bewegungsgröße ©“ vorhanden ist. Diese entsteht im Moment, 
wo man dem Systeme die Ladung zuführt, und verschwindet bei der 
Entladung. Aus der Bedeutung von ©“ (Nr. 7) dürfen wir daher 
folgern, daß das System im ersten Fall einen Stoß — &* und im 
zweiten einen Stoß + © erleidet. 

Wählen wir als Beispiel einen Kondensator mit Äther als Dielek- 
trikum; die z-Achse legen wir senkrecht zu den Platten, während die 
Translation w zunächst beliebige Richtung haben möge. Beschränkt 
man sich auf die Größen erster Ordnung, so kann man in der ersten 
Zeile von (17) die Glieder mit a fortlassen und unter p das Potential 
verstehen, welches im Ruhezustande bei der tatsächlich vorhandenen 
Ladung bestehen würde. In jeder Gleichung (17) verschwindet das 
letzte Glied (weil der betrachtete Zustand stationär ist) und man 
überzeugt sich leicht davon, daß man in der weiteren Rechnung unter 
y den Mittelwert @ verstehen darf. Das Resultat, welches man in 
dieser Weise für ©“ erhält, ist die elektromagnetische Bewegungs- 
größe mit Ausschluß desjenigen Teils, der auch bei unendlicher Ent- 
fernung aller Elektronen bestehen würde. Wir berechnen also den 
Zuwachs, den die Bewegungsgröße erleidet, wenn die Elektronen auf | 
die Platten gebracht werden. Gerade um diesen Zuwachs ist es uns 
zu tun. 

Da nun 


= — m tw + m, >), 


und von den Integralen 


Y 
Js: ds, Sofas, u. 8. w. 
0? 
Svf2as=— fepas 


von Null verschieden ist, so erhält man, wenn man die in gewöhn- 


licher Weise berechnete elektrische Energie 4 F; opgdS mit U be- 
zeichnet, 


nur das eine 


2U 


G.=-Zuw 


x) 


Die gesuchte Bewegungsgröße ist also 
2U 
mw, 
wenn die Richtung der Translation den Platten parallel ist. 
Den Fall eines Kondensators mit ponderabelem Dielektrikum 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen. 259 


wollen wir hier nicht behandeln. Selbstverständlich bleibt für einen 
solehen ©“ von derselben Größenordnung. 

Einer Anregung von Fitz Gerald folgend, hat Trouton®*) einen 
Stoß bei Ladung oder Entladung des Kondensators experimentell 
nachzuweisen versucht, dabei aber ein negatives Resultat erhalten. 
Wie mir scheint, liegt dies daran, daß seine Anordnung, wie empfind- 
lich sie auch gewesen sein möge, doch für den beabsichtigten Zweck 
bei weitem nicht ausreichte®°). 

Letzteres kann man nicht behaupten von einem Versuche anderer 
Art, den Trouton später, gemeinschaftlich mit Noble ausgeführt hat°®). 
Wir fanden in Nr. 21 a), daß auf ein sich verschiebendes System im 
allgemeinen ein Drehmoment [&°. w] wirkt, offenbar ein Moment 
zweiter Ordnung, das wir aber mit hinreichender Genauigkeit be- 
rechnen können, wenn wir wie oben in &“ nur bis zu den Größen 
erster Ordnung gehen. Zu bemerken ist hierbei, daß dem oben ver- 
nachlässigten von den einzelnen Elektronen herrührenden Teil von &* 
kein Drehmoment entspricht. Setzen wir demgemäß für die Kompo- 
nenten von ©“ die für den Kondensator berechneten Werte ein, dann 
erhalten wir als Komponenten des Kräftepaares 


2U 2U 
— mn, 0. 


Die Achse desselben liegt also in der Plattenebene, senkrecht zu der 
Translationsrichtung. Bildet letztere mit der Plattennormale den 


Winkel «, dann ist die Größe des Drehmomentes zw sin 2a; es 


sucht den Kondensator in eine solche Lage zu drehen, daß die Platten 
der Translationsrichtung parallel stehen. 

Die genannten Physiker haben mit einer Anordnung gearbeitet, 
bei der ein Kräftepaar von der berechneten Größenordnung ohne 
Zweifel eine beobachtbare Ablenkung bewirken mußte; trotzdem war 
das Resultat des Versuchs entschieden negativ. Auf die Erklärung 
dieses Ergebnisses komme ich weiter unten zurück (siehe Nr. 64). 

Von jetzt ab wollen wir Größen zweiter Ordnung vernachlässigen. 


84) F. T. Trouton, The results of an electrical experiment, involving the 
relative motion of the earth and ether, suggested by the late Prof. Fitz Gerald, 
Dublin Roy. Soc. Trans. (2) 7 (1902), p. 379 (auch abgedruckt in The scientific 
writings of G. F. Fitz Gerald, edited by Larmor, Dublin u. London 1902, p. 557). 

85) Lorentz, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 12 (1904) (Amster- 
dam Proceedings, 1903—1904). 

86) F. T. Trouton u. H. R. Noble, The mechanical forces acting on a charged 
electric condenser moving through space, London Trans, A 202 (1903), p. 165. 

37° 


260 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Also, wenn es heißt, daß irgend eine Wirkung nicht besteht, so be- 


deutet das nur, daß eine Wirkung von der Ordnung nn nicht vor- 


handen ist. 

d) Strom in einem vollkommenen Leiter. Kompensationsladung. 
Wir bedienen uns weiterhin der Gleichungen von Nr. 10 und wenden 
diese, indem wir zu den Mittelwerten übergehen, zunächst auf einen 
vom Äther umgebenen Leiter von unmerklichem Widerstand an, in 
dem ein konstanter Strom 3 besteht. Wir setzen zunächst go = (0), 
was im Falle der Ruhe gerechtfertigt sein würde, sodaß nach (VI) 
9=0 wird. Für das konstante Vektorpotential a’ gilt nach (VII) 


(176) = — 3 
und es wird 
(177) 7 — I grad (w- @). 


Diese Formel scheint auf den ersten Blick eine Wirkung des Stromes 
auf ruhende Elektronen außerhalb des Leiters anzuzeigen. Da aber 
die Kraft (177) auch auf den Körper selbst wirkt, so müssen wir 
unsere Voraussetzung, daß 9 = 0), fallen lassen. Man kann die Sache 
so auffassen, daß, wenn im Anfang diese Voraussetzung zutrifft, die 
Kraft (177) alsbald eine Ladung hervorbringt, die so weit anwächst, 
daß ihre Wirkung jene Kraft gerade aufhebt. Es ist nämlich die 
Dichte dieser Ladung 


Es 1 
(178) =: w), 
— wobei zu beachten, daß für den ganzen Raum, wegen der solenoi- 


dalen Verteilung von 3, f odS=0 — und ihr Potential 
BEER | * 
BR (we). 


Die Ladung (178) nennen wir die Kompensationsladung. 

Hat man es nicht mit einem Leitungsstrom, sondern mit einem 
permanenten Magneten zu tun, so besteht gleichfalls eine Kompensa- 
tionsladung. In dem Nr. 49 b) betrachteten Fall vertreten die Ver- 
teilungen (146) an der Oberfläche der Kugeln diese Ladung. Die 
Kompensationsladung hat zur Folge, daß der Magnet ebensowenig wie 
der Stromleiter auf ruhende Elektronen wirkt?”). 


87) J. Koenigsberger (Induktionswirkung im Dielektrikum und Bewegung 
des Äthers, Freiburg i. B., Berichte d. Naturf. Ges. 13 (1903), p. 95) beschreibt 
eine Anordnung, bei welcher die Platten eines Kondensators sich in geeigneter 
Lage in dem Felde eines Elektromagneten befanden; berücksichtigt man die 
Kompensationsladung nicht, so kann man in diesem Falle erwarten, daß die 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen. 261 


Bei bestimmtem Strom $ im einen und bei bestimmter unver- 
änderlicher Magnetisierung im anderen Fall ist a, und also nach (X) 
h‘, unabhängig von der Translation, wie für den Stromleiter aus (176), 
für den Magnet dagegen aus (62) erhellt. Da nun der Mittelwert des 
letzten Gliedes in (XX) zweiter Ordnung ist (wegen der Proportionalität 
von d mit |w|), so kann sich ein Einfluß der Erdbewegung auf die 
Stärke des umgebenden magnetischen Feldes nicht zeigen. 

Zu den hier gezogenen Schlüssen führen übrigens auch die Grund- 
gleichungen für die Mittelwerte, ohne daß man auf die Kompensa- 
tionsladung einzugehen brauchte. Es ist nämlich in den beiden be- 
trachteten Fällen nach (IV”a) rot € = 0; und es muß im stationären 
Zustande sowohl im Leiter (Nr. 42) wie auch im Magneten (Nr. 49) 
€’ verschwinden. Die Bedingungen für € sind also eben die, welche 
die elektrische Kraft in einem gewöhnlichen elektrostatischen Fall be- 
stimmen. Ist für jeden Stromkreis und für jeden Magnet die Ge- 
samtladung Null, dann ist überall €’= 0. 

e) Ponderomotorische Wirkungen zwischen einem widerstandslosen 
stromführenden Leiter und einem geladenen Körper. Wir bezeichnen 
mit K das System der Elektronen, welche die auf dem Körper vor- 
handene Ladung bilden, mit J das System derjenigen Elektronen, 
welche an dem Strom teilnehmen, mit A die zu letzterem gehörende 
Kompensationsladung und mit BD die durch den geladenen Körper an 
der Oberfläche des Stromleiters hervorgerufene Influenzladung. Die 
Systeme K, B und J sind genau dieselben wie bei Abwesenheit der 
Translation. Schreibt man nun (P, Q) für die Wirkung eines Elek- 
tronensystems P auf ein zweites System @, so ist die Gesamtwirkung 
auf den geladenen Körper 

(K,K)+(B,K)+(J,K)+(4,&), 
was aber, da die beiden letzten Glieder sich heben, nicht vom Strom 
abhängt. 

Für die Wirkung auf den Stromleiter gilt ein ähnlicher, zwölf- 
gliedriger Ausdruck. Aus der Eigenschaft der Kompensationsladung 
folgt aber 


Platten, wenn sie leitend verbunden sind, infolge der Erdbewegung Ladungen 
erhalten. Das Resultat der vorläufigen Versuche war ein negatives. Die Be- 
merkung von Koenigsberger, daß die Wirkung der Kompensationsladung ver- 
nichtet und also die Kompensation aufgehoben werden wird, wenn man den 
Kondensator mit einer metallischen zur Erde abgeleiteten Hülle umgibt, scheint 
mir unrichtig. Auf die Hülle wirkt nämlich nicht bloß die Kompensations- 
ladung, sondern auch die Kraft (177); da diese Wirkungen sich aufheben, so 
wird auf der Hülle gar keine Influenzladung zu Stande kommen. 


- 


262 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


(I; D)+(4, B)=0, (J, 4)+(4 A)=I, 


(die Größen in dieser letzten Gleichung sind übrigens von der zweiten 
Ordnung) und es ist 


KJ)+BN)=0, (KA)+BN—0, 


da K und B zusammengenommen im Inneren des Stromleiters kein 
elektrisches Feld und also auch (vgl. Gl. (8#4)) kein magnetisches 
Feld hervorbringen. Die gesuchte Wirkung reduziert sich somit auf 


&B)+ BB) +AN+GN. 

Hier sind die beiden ersten Glieder unabhängig von dem Strom 
und die beiden letzten von dem geladenen Körper; eine spezifische 
Wirkung zwischen diesen beiden findet also auch unter dem Einflusse 
der Erdbewegung nicht statt. 

Der gleiche Schluß gilt für einen geladenen Körper und einen 
Magneten. Röntgen hat denn auch keine Wirkung eines geladenen 
Kondensators auf eine Magnetnadel konstatieren können ®?). 

f) Elektrodynamische Wirkung zwischen zwei Stromleitern. Es 
seien .J und .J’ die strömenden Elektronensysteme, A und A’ die Kom- 
pensationsladungen. Die Wirkung des ersten Körpers auf den zweiten 


ist dann 
(I, I)+AT)+I,A)+ A A). 


Die beiden letzten Glieder sind gleich und entgegengesetzt (sie sind 
überdies von der zweiten Ordnung) und die beiden ersten hängen von 
den zu J und A gehörenden magnetischen Feldern ab. Die Summe 
derselben ist also bis auf Größen zweiter Ordnung unabhängig von 
der Translation, weil dies (oben, d) von dem zu J gehörigen Felde 
gilt und die von A herrührende Feldstärke eine Größe zweiter Ord- 
nung ist. 

g) Strom in einem Leiter von merklichem Widerstand. Wir be- 
trachten jetzt eine stationäre Strömung in einem Leiter mit Wider- 
stand unter dem Einflusse gegebener elektromotorischer Kräfte und 
zwar in der Voraussetzung, daß diese letzteren durch die Translation 
nieht modifiziert werden; dabei haben wir unsere Aufmerksamkeit 
auch auf die Ladungen zu richten, von welchen in diesem Falle ein 
Strom immer begleitet ist. Wir fassen diese in der Benennung „Strom- 
ladung“ zusammen und bezeichnen ihre Dichte mit g,. 

Für den Fall der Ruhe, und in der Voraussetzung, daß überall 
e—= 1, und daß keine Magnetisierung besteht, gelten folgende Glei- 





88) Röntgen, Ann. Phys. Chem. 35 (1888), p. 267. 


56. Einfluß der Erdbewegung auf elektromagnetische Erscheinungen. 263 


chungen, die sich aus (VII”), (VIII”), (IX”), (XXXII”), (XXXV) und 
(1”) ergeben, 


1 
AD =— 0, AU, = — 
&,—= — grad ©,, 
%=0&+ er), d=6&, 
divDd, = 0,- 
Dagegen hat man für den Fall der Translation 
1 
AB rm, AUA=— — (S+oW), 
L 0® 1 0® 
ar 350% W:grad,) — u > U.S. W., 


3-slE+-w- rt] +E), DE, 
divd=o. 


Abstrahiert man von dem Gliede — En ow in der Gleichung für AY, 
dann wird diesen Bedingungen genügt durch 


9=-D.+,Ww HM), A-h, I-i, 9-0+57W-d); 


dann ergibt sich also Unabhängigkeit des Stromes von der Trans- 
lation. Zu der Stromladung o, tritt die bereits besprochene Kompen- 
sationsladung A hinzu. 


Es fragt sich jetzt, ob das fortgelassene Glied — 4 eWw irgend 


einen Einfluß haben könne. Man darf in demselben g durch o, e- 
setzen, sodaß man es mit dem Strome zu tun hat, der von der Kon- 
vektion der Stromladung herrührt. Von der Anderung des Strom- 
laufes, welche das entsprechende magnetische Feld, nach Art des Hall- 
Effektes, zur Folge hat, können wir unbedingt absehen; schon der 
Hall-Effekt, welcher aus dem zum Strome 3 gehörenden magnetischen 
Felde entspringt, darf ja wohl immer vernachlässigt werden. Wir be- 
trachten also bloß die ponderomotorische Wirkung, welche der Leiter, 
infolge des Stromes $ von dem zum Strome g,w gehörenden magne- 
tischen Felde erfährt, d. h. wenn $ die Stromladung bedeutet, die 
Wirkung (8, J). Zu dieser gesellt sich noch die Wirkung ($, A), 
während (A, S) und (J, 5) sich kompensieren und von 


GN+AJF)t+ (AA + (AA) 


dasselbe gilt wie von der analogen oben unter f) betrachteten Wirkung. 


264 V 1A. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Auf die Existenz der Wirkung ($, J) + (8, A), die von der Ordnung 


= ist, hat Lienard®?) aufmerksam gemacht. 


Aus den oben angeführten Gleichungen erhält man für das dem 


Strome o,w entsprechende Vektorpotential Z ®,w und für die magne- 


tische Kraft — n [w grad &,l. Die Wirkung (8, J) ist also pro 
Volumeneinheit 


— 4 [8-Iw- grad @,]]. 
Für ($, A) gilt der Ausdruck 

— gr W-3) grad 94; 
folglich beträgt die Summe der beiden Wirkungen 

— z (3 grad ®,) w. 


Diese Wirkung ist indes, wie Lienard berechnet, so schwach, daß 
man wenig Aussicht hat, sie zur Beobachtung zu bringen. 

h) Induktionsströme. Wir betrachten zwei im Äther liegende 
Stromkreise, einen primären s und einen sekundären s’, und nehmen 
an, daß in einem gewissen Zeitintervall ihre Lagen, sowie der durch 
elektomotorische Kräfte in s erzeugte Strom in beliebiger Weise ge- 
ändert werden, daß aber während einiger Zeit vor und nach jenem 
Zeitintervall solche Veränderungen nicht stattfinden; i, und t, seien 
gewisse Augenblicke, der eine vor, der andere nach den Veränderungen. 
Wenn in s’ keine elektromotorischen Kräfte vorhanden sind, dann 
ist dieser Leiter zu den Zeiten #, und t, stromlos; dazwischen wird 
er aber von einem Strom i’ durchflossen. Das Integral 

tz 
e= fidt 
&ı 
hängt nach (125), wenn keine Magnetisierung besteht, von der Differenz 
der Werte ab, die /S,de’ (6’ eine von s’ begrenzte substantielle 
Fläche) für =, und t=1t, annimmt, und außerdem vom Wider- 
stand in s”. Da nun (siehe oben, d), wenn man vorläufig von dem 
(siehe g)) durch die Konvektion der Stromladung hervorgebrachten 
magnetischen Felde absieht, das im Anfangs- und Endzustande von 
s hervorgebrachte magnetische Feld unabhängig von der Erdbewegung 


89) Siehe die zweite der in Anm. 83) citierten Arbeiten von Lienard, $ 7; 
Poincare, Electrieite et optique, 2° &d., $ 419. 


57. Einfluß einer Translation auf optische Erscheinungen. 265 


ist, so gilt dasselbe von e, wenn kein Einfluß der Translation auf den 
Widerstand besteht. 

In der Tat hat Des Coudres ein negatives Resultat erhalten, als 
er nach einem Einfluß der Translation auf die Stärke der Induk- 
tionsströme suchte ®). 

Streng genommen hat man bei der Behandlung der Induktions- 
wirkungen auf die Stromladung des primären Leiters Rücksicht zu 
nehmen; dem durch diese bei einer Translation verursachten magne- 
tischen Felde wird im allgemeinen eine gewisse Änderung der Induk- 
tion entsprechen. Lienard?') hat hierauf aufmerksam gemacht, zu 
gleicher Zeit aber bemerkt, daß die betreffende Wirkung in allen 
realisierbaren Fällen äußerst schwach sein muß und bei den Ver- 
suchen von Des Coudres gar nicht im Spiel gewesen ist. 


97. Einfluß einer Translation auf optische Erscheinungen in 
durchsichtigen Körpern. Bei der Fortpflanzung des Lichtes in nicht- 
leitender Materie, die wir hier als unmagnetisierbar voraussetzen, be- 
stehen in den Körperteilchen periodisch veränderliche elektrische Mo- 
mente p. Die dafür geltenden Gesetze lassen sich ermitteln, wenn 
man sich vorstellt, daß die Elektronenbewegungen in jedem einzelnen 
Teilehen von den Kräften beherrscht werden, die von den übrigen 
Teilchen ausgehen; zur Vereinfachung darf man dabei — weil die 
Amplituden der Elektronen sehr klein gegen die Wellenlänge sind — 
in dem Ausdrucke (VI) v mit w vertauschen und also für die auf 
die Elektronen wirkende elektrische Kraft f den Vektor d’ (Nr. 10) 
setzen. Wegen der kurzen Periode der Schwingungen sind indes die 
Formeln der Nr. 43 zu modifizieren. Enthält jedes Teilchen ein ein- 
ziges bewegliches Elektron mit der Masse m, so tritt an die Stelle 
von (126) die Gleichung 

mi=ej— ag, 
und ebenso hat man es bei weniger einfachem Bau der Teilchen nicht 
mehr mit (127) oder (129) zu tun, sondern mit gewissen Gleichungen, 
die p und seine Differentialquotienten nach der Zeit linear mit f ver- 
binden. Es soll angenommen werden, daß die Koeffizienten in diesen 
Gleichungen von einer Translation nicht beeinflußt werden (vgl. 
Nr. 56 a)). 

Indem man jetzt auf die Gleichung (54) zurückgeht, gelangt man 
zu folgendem Satz: 


90) Th. Des Coudres, Über das Verhalten des Lichtäthers bei den Be- 
wegungen der Erde, Ann. Phys. Chem. 38 (1889), p. 71. 
91) In dem zweiten der in Anm. 83) citierten Artikel, $ 8. 


266 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Wenn in einem System von nichtleitenden Körpern, ohne Trans- 
lation, eine Lichtbewegung stattfinden kann, bei der die Momente p 
gewisse Funktionen der Koordinaten &, %, z und der Zeit 2 sind, so 
kann in demselben System mit Translation eine Bewegung vor sich 
gehen, bei welcher die p eben dieselben Funktionen der Koordinaten 
x’, y', 2’, in Bezug auf Achsen, die an der Translation teilnehmen, 
und der Ortszeit t’ sind. Diese Übereinstimmung zwischen den beiden 
Fällen besteht nicht nur, was die Momente p betrifft; man sieht leicht, 
wenn man neben (54) auch (55) beachtet, daß im beweglichen System 
die Größen 

yo -dh,ud-r+rP 
in derselben Weise von x’, y’, 2’, {' abhängen, wie in dem ruhenden 
System die Größen 


,5,d=E, I=g, B, D=-d+P 
von %, y, 2, t. 


Dieser Satz”?) gilt — für diejenigen dieser Größen, die dann noch 
in Betracht kommen — auch dann, wenn die Systeme nur Äther ent- 
halten, und also nur der Unterschied vorhanden ist, daß man die Er- 
scheinungen in diesem ruhenden Medium das eine Mal auf ein ruhen- 
des, das andere Mal auf ein bewegliches Koordinatensystem bezieht°?). 


58. Aberration des Lichtes”). Von einem Himmelskörper aus 
pflanze sich ein System ebener Wellen gegen die Erde hin fort; be- 
zeichnet man mit 7 die Schwingungsdauer, mit «, ß, y die Richtungs- 
kosinus der in der Fortpflanzungsrichtung gezogenen Wellennormale 
n, mit a und » Konstanten, so lassen sich die Komponenten von d 
und h durch Ausdrücke von der Form 


27 ex + ßy+ Y2 } 
es € +Ppj 


a Beh 
cos T 





darstellen. Um zu untersuchen, was aus diesen Wellen wird, wenn sie 
in irgend welche durchsichtige fest mit der Erde verbundene Körper 


92) Lorentz, Versuch u. s. w., p. 85. 

93) Eine Verallgemeinerung dieses Satzes für Systeme, in welchen Leitung 
und Magnetisierung besteht, findet man bei Walker, Aberration etec., p. 27. 

94) Eine Diskussion der mit der Aberration zusammenhängenden Erschei- 
nungen findet man, außer in bereits angeführten Abhandlungen, u. a. in 
E. Ketteler, Astronomische Undulationstheorie, 1873; W. Veltmann, Über die 
Fortpflanzung des Lichts in bewegten Medien, Ann. Phys. Chem. 150 (1873), p. 497; 
Lorentz, De l’influence du mouvement de la terre sur les phenomenes lumineux, 
Arch. neerl. 21 (1887), p. 103; O. Lodge, Aberration problems, London Trans. 
A 184 (1893), p. 727. Siehe auch die in Anm. 83) citierte Abhandlung von 
W. Wien. 


58. Aberration des Lichtes. 59. Versuche mit irdischen Lichtquellen. 267 


(Linsen, Prismen) eindringen, kann man zunächst mittels (XIX) und 
(XX) d und H aus d und 5 ableiten, und dann die beweglichen 
Koordinaten x’, y’, 2’, sowie die Ortszeit ?” als unabhängige Variabele 
einführen. Dabei kommen Ausdrücke von der Gestalt 


eathytr, y 
; +P) 





Pe 
W COS Tr 
zum Vorschein. In denselben ist 


(179) . ae 


Ii— 





mw,’ 
€ 


während «’, ß’, y’ die Richtungskosinus desjenigen Vektors sind, den man 
erhält, wenn man einen Vektor € in der Richtung » mit dem Vektor — w 
zusammensetzt. Wendet man dann weiter den Satz der vorhergehen- 
den Nummer an, so findet man, daß die Verteilung von d’ und h‘ über 
den Raum, also auch die Verteilung von Hell und Dunkel die gleiche 
ist, als ob die Erde ruhte, der Himmelskörper sich in der Richtung 
(— «', — ß’, — y”) befände und die Schwingungszeit 7’ wäre. In 
diesem Ergebnisse liegt die Erklärung der Aberration und vieler da- 
mit zusammenhängender Erscheinungen ®); die Formel (179) ist mit 
dem Doppler'schen Gesetz von der Änderung der Schwingungsdauer 
in Übereinstimmung. 


59. Versuche mit irdischen Lichtquellen. Zustände, wie die in 
Nr. 57 miteinander verglichenen, werden offenbar dann entstehen, wenn 
eine Lichtquelle vorhanden ist, in deren Teilchen durch irgend welche 
Ursachen periodisch wechselnde elektrische Momente unterhalten wer- 
den, in solcher Weise, daß für ein bestimmtes leuchtendes Teilchen 
das Moment im Fall der Ruhe in derselben Weise von der allgemeinen 
Zeit t abhängt, wie im Fall der Translation von der Ortszeit £’. Was 
nun die ausgesandte Strahlung anbelangt, so ist namentlich hervor- 
zuheben, daß, sobald an irgend einer Stelle im einen Fall fortwährend 
d—=0,h=0 (oder BP =0, D—=(, H—=0), an dieser Stelle im be- 
wegten System ’ —=0, W—=0 (ode B=0, dV’—=0, $=0) sein 
wird. Die Verteilung von Hell und Dunkel ist somit in beiden Systemen 
die gleiche. Hieraus erklärt sich unmittelbar die durch viele Be- 


95) Nur das Resultat von Fizeau (Ann. chim. phys. (3) 58 (1860), p. 129; 
Ann. Phys. Chem. 114 (1861), p. 554), nach welchem die Erdbewegung einen 
Einfluß haben würde auf die Drehung der Polarisationsebene beim schiefen 
Durchgange durch eine Glasplattensäule, ist mir völlig unerklärlich. Inwiefern 
man sich auf die Resultate dieser Beobachtungen, die uns nur aus einer kurzen 
Beschreibung bekannt sind, verlassen darf, läßt sich schwerlich sagen. Siehe 
die Diskussion in Lorentz, Versuch u, s. w., p. 125, 


268 “ V 14 H.A4A. Lorentz. Elektronentheorie. 


obachter festgestellte Tatsache, daß sich bei Anwendung irdischer 
Lichtquellen in der Richtung der gespiegelten oder gebrochenen Licht- 
büschel und der Lage optischer Bilder, sowie in dem Orte von Inter- 
ferenz- und Diffraktionsstreifen ein Einfluß der Erdbewegung nicht 
erkennen läßt. 

Indes ist hier zweierlei zu bemerken. Erstens, daß die theore- 
tische Schlußfolgerung nur statthaft ist, wenn man voraussetzt, daß 
in Wirklichkeit die Schwingungsdauern der leuchtenden Teilchen sich 
nicht ändern, wenn man diesen eine Translation erteilt. Zweitens, 
daß unsere Annahme, die Momente sollen im einen Fall in derselben 
Weise von # abhängen, wie im anderen von t, einen Unterschied 
zwischen den Phasendifferenzen involviert, welche die einzelnen Teil- 
chen gegeneinander in der ruhenden und der bewegten Quelle zeigen. 
Bekanntlich sind aber die zufällig zwischen den Teilchen eines leuch- 
tenden Körpers vorhandenen Phasendifferenzen ohne Bedeutung für 
die beobachtbaren Erscheinungen; wir können daher unseren Schluß 
auch dann noch aufrecht erhalten, wenn wir uns die Quelle ohne jede 
Änderung ihrer inneren Bewegungen in Translation versetzt denken. 

Übrigens darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß unsere 
Schlüsse betreffend die Abwesenheit eines Einflusses der Erdbewegung 
zum Teil auf gewissen Annahmen über die „Molekularkräfte“ 
(Nr. 56 a)) beruhen, demzufolge sie denn auch nicht in allen Fällen 
gleich plausibel erscheinen. Die Annahme, daß die Perioden der 
Eigenschwingungen der Teilchen nicht geändert werden, ist wohl 
kaum gewagt (Nr. 56a)), und dürfen wir daher erwarten, daß 
Absorptionsstreifen, welche in der bekannten Weise durch „Mit- 
schwingen“ entstehen, sich nicht verschieben werden, wenn dem ganzen 
der Beobachtung dienenden System eine Translation erteilt wird’). 
Dagegen liegt z. B. der Mechanismus der natürlichen Drehung der 
Polarisationsebene viel mehr im Dunkeln; hier ist schon größere Vor- 
sicht geboten ®"). 

Wir schreiten jetzt zu der Besprechung gewisser Versuche, bei 


96) H. Haga, L'experience de Klinkerfues (Versuche mit negativem Re- 
sultat), Arch. neerl. (2) 6 (1901), p. 765. 

97) Siehe Lorentz, Versuch u.s. w., p. 115—120; Larmor, Aether and matter, 
section IV; Lorentz, De draaing van het polarisatievlak in lichamen die zich 
bewegen, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 10 (1902), p. 793 (Amsterdam 
Proceedings, 1901—1902, p. 669); Rayleigh, Is rotatory polarization influenced 
by the earth’s motion? (Versuche mit negativem Ergebnis), Phil. Mag. (6) 4 (1902), 
p. 215; Larmor, On the influence of convection on optical rotatory polarization, 
Phil, Mag. (6) 4 (1902), p. 367. 


59. Versuche mit irdischen Lichtquellen. 269 


welchen es sich nicht mehr lediglich um die Verteilung von Hell und 
Dunkel: handelt. 

a) Messung der Strahlungsintensität. Wir denken uns in dem zu 
Anfang dieser Nummer betrachteten bewegten System eine ebene 
Scheibe do’, die auf der einen Seite, wo sie mit Äther in Berührung 
steht, von den Strahlen getroffen wird. Dieselbe sei „vollkommen 
schwarz“, d. h. es werden die Schwingungen weder durchgelassen 
noch reflektiert. Es sei die bestrahlte Seite die eine und ein im Äther 
liegendes Element do die andere Grundfläche eines zylindrischen 
Raumes, dessen Höhe unendlich klein gegen die Dimensionen dieser 
Flächen ist und der an der Translation von do’ teilnimmt; die Nor- 
male n zu do zeige nach der Scheibe hin. Von der Energiemenge 
(Nr. 54 b)) ©,do, welche pro Zeiteinheit die Ebene de durchströmt, 
wird ein Teil — (T” . w)do auf ponderomotorische Arbeit verwendet; 
der übrige Teil, die Energiemenge 


ı©,+(@" w)}de—=e[d -b].de, 


(Nr. 54 b)) wird also von der Scheibe absorbiert. Da nun d’ und h' 
genau mit d und 5 in dem korrespondierenden ruhenden System über- 
einstimmen, so wird sich in der Erwärmung der Scheibe ein Einfluß 
der Erdbewegung nicht erkennen lassen ®). 

b) Strahlungsdruck. Wir bezeichnen für ein bewegtes System, in 
dem rein periodische Vorgänge stattfinden, mit 6 eine beliebige, mit 
demselben verbundene, gänzlich in Äther ende geschlossene Fläche, 
mit % die resultierende auf die eingeschlossenen Elektronen wirkende 
Kraft, und mit 6’ eine feststehende Fläche, mit der 6 in dem betrach- 
teten Augenblick zusammenfällt. Nach den Sätzen von Nr. 7 ist 


1d 
FT. —/[X,do este e® di, 8,d8, 


wo der Index 0’ anzeigt, daß das Integral sich auf den von 0’ be- 
grenzten Raum bezieht. Hierfür läßt sich auch schreiben 


(180) 3,—[xdo — 5a J645+ 3 [ws.de 


Das zweite Glied verschwindet aus dem Mittelwerte für eine längere 


98) Lorentz, De intensiteit der straling in verband met de beweging der 
aarde, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 10 (1902), p. 804 (Amsterdam 
Proceedings, 1901—1902, p. 678); A. H. Bucherer, Über den Einfluß der Erd- 
bewegung auf die Intensität des Lichtes, Ann. Phys. 11 (1903), p. 270; P. Nord- 
meyer, Über den Einfluß der Erdbewegung auf die Verteilung der Intensität 
der Licht- und Wärmestrahlung (Versuche mit negativem Resultat) ibid., p. 284. 


270 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Zeit, und in der Summe der beiden übrigen Glieder erscheint jedes de 
multipliziert mit 


1 1 1 
2 [2d,D, ie cos (N, x)] + N [2 6,5, SIE h* cos (N, x)] un ee W,8,, 
oder, wenn man mittels (XIX) und (XX) d und in d’ und h’ aus- 


drückt, mit 


1 Zu ’ 1 [4 R 1 ’ ’ 
181) 9% 1w- 5, — dm 9], + [mb] cos(n, x) 
1 ’ ‚ 1 ’ ‚ 1 ’ ’ ; 
+5,10, + 16,9, ($-[w- DI) cos(n, a) 
1 voor 
X,,oy bedeutet den Wert von X,, den man aus (XVI) erhält, wenn 
man einfach d und h durch d’ und h’ ersetzt. 
Wir wenden jetzt zweimal den aus den Eigenschaften der Deter- 
minanten folgenden Satz 


d,[w 91, + w[h- 81, + 5, [9° wI, = (d- [w-57]) cos (ki, !) 
(k und I beliebig gewählte Richtungen) an, und zwar lassen wir ein- 
mal k mit der «-Richtung und / mit der Normale » zusammenfallen, 


und vertauschen dann die beiden Richtungen. Dadurch verwandelt 
sich der Ausdruck (181) in 


w 
X,0) u cr 8,» D 


und die Kraft (180), abgesehen vom zweiten Gliede, in 


w,. 
I&.ndo ED, 


wo E das Energiequantum ist, welches die Fläche o pro Zeiteinheit 
in der Richtung nach außen durchströmt. 

Vergleichen wir jetzt wieder die Fälle der Ruhe und der Be- 
wegung, in der Voraussetzung, daß an den Schwingungen in der 
Lichtquelle nichts geändert wird, und beachten wir die Übereinstim- 
mung von d und h im einen, mit d’ und 5’ im anderen Fall (Nr. 57), 
dann zeigt es sich, daß neben der im ruhenden System vorhandenen 
Kraft, infolge der Translation noch die Kraft 

2 
auftritt. Dieselbe kommt übrigens nur ins Spiel, wenn entweder in - 
dem betrachteten Teil des Systems elektromagnetische Energie aus 
anderer Energie entsteht (leuchtender Körper), oder das umgekehrte 
stattfindet (absorbierender Körper). Für einen leuchtenden Körper 


60. Mitführung der Lichtwellen durch die ponderabele Materie. 911 


besteht die Zusatzkraft in einem der Geschwindigkeit proportionalen 
Widerstand, der freilich außerordentlich klein ist. 


60. Mitführung der Lichtwellen durch die ponderabele Materie. 
Der in Nr.5% angeführte Satz ermöglicht es, von jedem Bewegungszustande 
in einem ruhenden Mittel zu einem Bewegungszustande in demselben 
Mittel, nachdem ihm eine Translation erteilt worden ist, überzugehen, 
und also, wenn die Geschwindigkeit v der Wellen im ruhenden Körper 
bekannt ist, für die Fortpflanzung derselben im bewegten Körper die 
Geschwindigkeit v’ relativ zur Materie und die Geschwindigkeit v” 
relativ zum Äther anzugeben. Für einen isotropen Körper lautet das 
Resultat, wenn n die Wellennormale im Sinne der Fortpflanzung ist, 

V-v— ZW, "—r+(l —) w,- 

Der eingeklammerte Faktor in der letzten Formel ist der von 
Fresnel eingeführte Mitführungskoeffizient”). 

Versuche über die Lichtbewegung in strömendem Wasser und 
in strömender Luft haben die Fresnel’sche Annahme bestätigt. 

Das Ergebnis für anisotrope Körper gestaltet sich am einfachsten, 
wenn man die Geschwindigheiten « und «’ der Lichtstrahlen, die 
letztere relativ zur Materie genommen, ins Auge faßt. Man denke 
sich zunächst in dem ruhenden Körper ein seitlich von einer zylin- 
drischen Fläche begrenztes Büschel homogenen Lichtes; die „Licht- 
strahlen“ haben die Richtung der Erzeugenden dieser Fläche. In allen 
Punkten eines bestimmten Strahls gelten für die Zustandsgrößen Aus- 
drücke von der Form 

ac; (t—+p), 
wo s den längs der Linie gemessenen Abstand von einem festen 
Punkte derselben bedeutet. 

Wir erteilen jetzt der ponderabelen Materie, der Zylinderfläche, 
sowie der genannten Linie die Translation w, und gehen mit Hilfe 
des Satzes von Nr. 57 von dem soeben betrachteten Zustande zu dem 
entsprechenden für das bewegte System über. Offenbar bleibt die 
Lichtbewegung auf den zylindrischen Raum beschränkt; die Linie s 
ist also noch immer ein Lichtstrahl. Für ihre Punkte gelten aber 
jetzt Ausdrücke, wie 


99) Eine Betrachtung über den Mitführungskoeffizienten findet man auch 
bei Reiff, Die Fortpflanzung des Lichtes in bewegten Medien nach der elek- 
trischen Lichttheorie, Ann. Phys. Chem. 50 (1893), p. 361. Larmor hat den 
Fresnel’schen Koeffizienten aus dem Prinzip des Temperaturgleichgewichtes bei 
Strahlung abgeleitet. Siehe London Trans. A 185 (1894), p. 775. 


279 Vı4. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


y 2 T., s 
a cos 7; (ft —-+p), 
oder mit Rücksicht auf (XVII) 


ds (lt -+p)= sm (lt-5+P), 


wenn 


Bei dieser Gleichung’) ist zu bemerken, daß « und «’ sich auf die- 
selbe Richtung s des Lichtstrahls beziehen. 

Voraussetzung bei allen obigen Formeln ist, daß in den beiden 
Fällen, Ruhe und Bewegung, die Periode in einem bestimmten Punkt 
der Materie den gleichen Wert hat. 


61. Andere Ableitung des zur Erklärung der Aberration 
führenden Satzes. Für einen ungeladenen, unmagnetisierbaren Nicht- 
leiter lassen sich die auf ruhende Koordinaten bezogenen Gleichungen 
auf folgende ‚Gestalt bringen (vgl. (I), (V”), (Ill”a), (IV’a), XXXT), 
(XXX) und (XXXIV”)): 


(182) divd—0, 

(183) divö—0, 

(184) 5 - -D-19d—rofw-D], 
(185) te=-—-d-— 54 rtm-$l, 


(186) €=€+-[m-$], 


1 
(187) $=5--m-E, 


(188) D=-E+(n)E. 

Wir betrachten hier w als unabhängig von Ort und Zeit und 
führen die Koordinaten x’, y',2’ in Bezug auf ein an der Translation 
teilnehmendes Achsenkreuz, sowie die Ortszeit ? als unabhängige 
Variabelen ein, statt D aber den Vektor 


1 
=» 7210.92 
Dann!) ergeben sich die Formeln 
divd’—0, 
100) Lorentz, Versuch u. s. w., p. 99. 
101) Eine ähnliche Umformung der Gleichungen für den Fall, daß auch ein 


Leitungsstrom und eine Magnetisierung besteht, findet sich bei Walker, Aber- 
ration etc., Part 2. 


61. Andere Ableitung. 62. Der Michelson’sche Interferenzversuch. 273 
div’ —0, 
rt 9 = = D, 
rot & = — H, 


T’-E+WE-TDE, 
(vgl. was die Bezeichnungen und die Ableitung betrifft, Nr. 10). 
Da die Form der letzten Gleichungen unabhängig von der Trans- 
lation ist, so gelangt man sofort zu dem in Nr. 57 angeführten Satze. 


62. Der Michelson’sche Interferenzversuch. Bisher wurden nur 
die Glieder erster Ordnung beibehalten; dies genügt für die Behand- 
lung der meisten Erscheinungen. Es besteht jedoch ein optischer 
Versuch, dessen Idee von Maxwell herrührt, bei dem Größen zweiter 
Ordnung sich bemerklich machen könnten. 

Es seien A, B,C Punkte, die mit der vorläufig als ruhend ge- 
dachten Erde verbunden sind, von solcher Lage, daß die Strecken AB 
und AC senkrecht zueinander stehen und die gleiche Länge / haben. 
Eine geeignete optische Vorrichtung bringt zwei Lichtstrahlen zur 
Interferenz, deren einer von A nach B hin und zurück, der andere 
dagegen von A nach Ü und dann wieder nach A gegangen ist, und 
zwar findet die Fortpflanzung im Äther statt. Die Gleichheit der 
für die beiden Wege nötigen Zeiten wird gestört, wenn die Erde sich 
in der Richtung AB bewegt, während der Äther in Ruhe verbleibt. 
Der eine Strahl braucht dann die Zeit!) 


(189) hr = (\ & =) 


um von A aus B einzuholen und dann dem ersten Punkt etwa in 
A’ zu begegnen. Für den anderen Strahl wird die Zeit 


21 mw? 

(190) . .  SÜH+tg) 

was sich daraus ergibt, daß der Ort, wo dieser © erreicht, etwa (0, 
durch die Bedingung 

AC’:CO’=e:|w| 

bestimmt wird, und daß die Rückkehr von ©’ nach dem beweglichen 
Punkte A dieselbe Zeit erfordert wie die Fortpflanzung von A nach 
0’. Die Differenz der Zeiten (189) und (190) wechselt das Vorzeichen, 


wenn man durch Drehung von BAC die Linie AC in die Richtung 
von w bringt. Michelson'”) hat nun bei einer solchen Rotation seines 


102) Eine genauere Behandlung in Lorentz, 1. c. (Anm. 94). 
103) A. A. Michelson, Amer. Journ. of Science (3) 22 (1881), p. 120. 
Enceyklop. d. math. Wissensch. V 2. 18 


274 Vı14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Apparates keine Änderung der Interferenzerscheinung beobachtet, und 
ebenso wenig gelang ihm dieses, als er mit Morley'%) den Versuch in 
größerem Maßstab wiederholte. 

Zur Erklärung dieses negativen Resultats haben Fitz Gerald'®) und 
ich selbst!) angenommen, daß die Dimensionen des festen Körpers, 
welcher den optischen Apparat trug, infolge der Erdbewegung um 
Größen zweiter Ordnung geändert worden sind. Nimmt die Ent- 
fernung zweier Punkte dieses Körpers durch eine Translation in Rich- 
tung der Verbindungslinie im Verhältnis 1 +46, und durch eine 
Translation senkrecht zu dieser Linie im Verhältnis 1 + ö’ zu, so hat 
man anzunehmen 


(191) LS 


2c? 

63. Theorie von Cohn. Um der Hypothese der Kontraktionen 
oder Dilatationen infolge der Erdbewegung zu entgehen, hat E. Cohn”) 
ein System von Feldgleichungen aufgestellt, welches für isotrope 
Körper und ruhende Koordinaten in der hier benutzten Schreibweise 
wie folgt lautet: 


(+ 2), 

rt = — —B, 
IE +), 
D—-:®— .[w-$], 


Bud +, mE. 


Diese Gleichungen, denen sich bei Cohn Erörterungen über die 
Energie und die ponderomotorischen Kräfte anschließen, mögen noch 
kurz mit der im vorhergehenden entwickelten Elektronentheorie ver- 
glichen werden, wobei Glieder von höherer als der zweiten‘ Ordnung 
vernachlässigt werden sollen. 

a) Man erhält die Cohn’schen Gleichungen für unmagnetisierbare 
Nichtleiter, wenn man in (186) und (187) [w - $] durch [w- 9] und 
[w-&] durch [w- €] ersetzt, die Gleichungen (182)—(185) und (188) 


104) A. A. Michelson u. E. W. Morley, Amer. Journ. of Science (3) 34 (1887), 
p. 333. 

105) Siehe Lodge, 1. c. (Anm. 94), p. 749, 750. 

106) Lorentz, De relatieve beweging van de aarde en den aether, Amster- 
dam Zittingsverslag Akad. v. Wet. 1 (1892), p. 74. 

107) Cohn, Über die Gleichungen des elektromagnetischen Feldes für bewegte 
Körper, Ann. Phys. 7 (1902), p. 29, 


63. Theorie von Cohn. 275 


aber ungeändert läßt, und statt $ das Zeichen ® schreibt. Die Modi- 
fikation beschränkt sich auf Größen zweiter Ordnung, sodaß, was die 
Wirkungen erster Ordnung betrifft, die beiden Theorien miteinander 
in Einklang stehen. 

b) Da nach unserer Theorie der Äther ruht, so hängen in den auf 
ruhende Koordinaten bezogenen Feldgleichungen derselben die Glieder 
mit w von der ponderabelen Materie ab; sie müssen notwendig ver- 
schwinden, wenn diese Materie hinweggedacht und also n—=0, e=1 
gesetzt wird. Wirklich ist das mit den Gleichungen (182)—(188) der 
Fall, nicht nur was die bei der Ableitung allein berücksichtigten Glieder 
erster Ordnung betrifft, sondern zufälligerweise für jeden Wert von 
Iwl. Für „—=0 erhält man nämlich aus (184)—(188) 


19 -—€, 
(192) 





1 ® 
rte=— 9. 


Machen wir die Substitution e=1 (und u=1) in den Cohn’schen 
Gleichungen für einen Nichtleiter, bedenken wir, daB dvd —= 0, 
dv®=0, und ersetzen wir D und ® durch € und 9, dann er- 


halten wir 


106 9 + rot [w- [m - 1] — €, 


(193) i n 
rot € z rot |w-[w-C | —— 9. 





Auf den reinen Äther wendet Cohn freilich diese Gleichungen 
nicht an; wenn es sich um dieses Medium handelt, setzt er immer 
w—= (0. Zur Erklärung des von Michelson erhaltenen Resultats beruft 
er sich darauf, daß die Fortpflanzung in Luft stattgefunden hat, und 
daß für dieses Mittel, wenn man von der kleinen Größe &— 1 ab- 
sieht, die Gleichungen die Form (193) annehmen könnten, während 
die Elektronentheorie bei derselben Vernachlässigung zu (192) führt. 

c) Wenn die Nr. 62 erwähnte Hypothese der Wirklichkeit ent- 
spricht, wird auch die Länge eines Maßstabes infolge der Erdbewegung 
geändert, und wird man mit demselben, falls man zur Längeneinheit 
die Distanz zweier Striche auf dem ruhenden Stabe wählt, alle Strecken, 
welche die Richtung der Erdbewegung haben, im Verhältnis 1 + 6, 
und alle senkrecht darauf stehende Strecken im Verhältnis 1 + 6° zu 
klein finden. Fällt nun die x-Achse in die Translationsrichtung, dann 
kann man die Größen 











x = 


DEU rc a En ER® 


276 V1A. A.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


die gemessenen Koordinaten nennen. Man führe nun diese statt x, y, 2 
in die Gleichungen (192) ein, und außerdem statt € und 5 zwei 
Vektoren mit den Komponenten 


S-(1+45)%, &%-8, &=-E, 


mw? 
lt) un 8-8 

Man gelangt dann zu Gleichungen, die sich in der Form nur 

dadurch von (193) unterscheiden, daß an die Stelle von c die Größe 

ea (1 — 6‘) € 

tritt. Die Beobachtungen können nicht darüber entscheiden, ob die 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit 'c oder ce ist, und es wird also ver- 
ständlich, weshalb Cohn mit seinen Gleichungen dasselbe erreichen 
kann, was die Elektronentheorie aus der Änderung der Dimensionen 
ableitet. Der Unterschied besteht darin, daß die Elektronentheorie 
behauptet, es seien die in (193) vorkommenden Koordinaten die ge- 
messenen Koordinaten, die dadurch von den wirklichen verschieden 
sind, daß die Abmessungen von festen Körpern durch eine bestimmte 
Änderung der Molekularkräfte modifiziert worden sind, während es 
nach Cohn ein Einfluß der Luftmoleküle wäre, der uns zwingt, mit 
(193) statt mit (192) zu operieren. 

d) Wenn sich in einem bewegten isotropen Dielektrikum, für 
welches u — 1, Licht in der Richtung von w fortpflanzt, dann ist 
nach den Gleichungen von Cohn die Geschwindigkeit der Wellen in 
Bezug auf ein ruhendes Koordinatensystem 
(194) 35 een ee 

Ve & Ve ..;e 

Während hier für Luft das Glied erster Ordnung einen kleinen, 
annähernd der Dichte proportionalen Wert hat, variiert das Glied 
zweiter Ordnung nur wenig bei Verdichtung oder Verdünnung. Natür- 
lich kann man ein solches Resultat acceptieren, wenn man sich, wie 
Cohn, auf die Aufstellung eines Systems geeigneter Feldgleichungen 
beschränkt. Sucht man aber diese näher zu begründen, so stellen 
sich Schwierigkeiten ein. Daß in (194) die Geschwindigkeit |w| mit 
dem Fresnel’schen Koeffizienten multipliziert ist, beweist, daß nicht 
alles, was in dem lufterfüllten Raum vorhanden ist, an der Trans- 
lation teilnimmt. Man wird daher, wie mir scheint, unvermeidlich zu 
der Unterscheidung von Äther und ponderabeler Materie geführt, und 
es ist kaum wahrscheinlich, daß man gerade zu dem Fresnel’schen 
Koeffizienten wird gelangen können, wenn man nicht den zwischen 


64. Gegenwärtiger Stand der Theorie. 277 


den Molekülen liegenden Äther vollständig in Ruhe läßt. Dann steht 
es aber zu erwarten, daß statt des letzten Gliedes in (194) ein anderes 


zum Vorschein kommen wird, das sich mit abnehmender Dichte all- 
mählich dem Wert O nähert. 


VL Sehluß. 


64. Gegenwärtiger Stand der Theorie. Die Änderung der Dimen- 
sionen eines ponderabelen Körpers, zu deren Annahme wir in Nr. 62 
unsere Zuflucht genommen haben, wird einigermaßen verständlich, 
wenn man sich vorstellt, daß die Molekularkräfte, die in letzter In- 
stanz Größe und Gestalt eines Körpers bedingen, in ähnlicher Weise 
wie die elektromagnetischen Wirkungen durch den Äther vermittelt 
werden. Dann liegt es ja nahe sich zu denken, daß Intensität und 
Richtung dieser Kräfte geändert werden, sobald die Moleküle sich 
durch den Äther verschieben. 

Zu Gunsten dieser Auffassung spricht der Umstand, daß man 
gerade zu der Beziehung (191) gelangen kann, wenn man für die Modi- 
fikation der Molekularkräfte das Gesetz einführt, welches die Theorie 
für die elektrostatischen Wirkungen liefert; wenigstens gelingt das, 
wenn man von aller Molekularbewegung abstrahiert und also den 
stationären Zustand eines festen Körpers als ein wirkliches mecha- 
nisches Gleichgewicht betrachtet. 

Man kann nämlich das in Nr. 11 b)) Gesagte folgendermaßen er- 
weitern: 

Es sei S, ein ruhendes elektrostatisches System, $ aber ein 
System, das sich in der «-Richtung mit der Geschwindigkeit w ver- 
schiebt, und das man erhält, wenn man das System S, einer Dila- 
tation d in der Richtung der Translation und einer Dilatation ö’ in 
jeder dazu senkrechten Richtung unterwirft. Die Größen Ö und 0’ 


seien beide von der Ordnung e und an die Bedingung (191) ge- 


bunden; wir vernachlässigen ihre Quadrate und ihr Produkt. Bei 
Gleichheit der Ladungen korrespondierender Volumenelemente besteht 
dann zwischen den auf diese wirkenden Kräften %, und % (der Index 
0 bezieht sich immer auf das ruhende System) die Relation 


= (120) So. 
5, N (1 = 20 en) Boy °: SE (129 — ) %o.- 


Wir wollen jetzt annehmen, daß für irgend einen bestimmten, ob- 
gleich uns unbekannten Wert von ö’ diese Beziehungen auch zutreffen 


(195) 


278 V 14. H.A. Lorentz. Elektronentheorie. 


für die Molekularkräfte in zwei Systemen, die sich, was die Verteilung 
der ponderabelen Materie betrifft, in der durch die Dilatationen Ö 
und Ö’ bedingten Weise voneinander unterscheiden. Ist dann das 
ruhende System im Gleichgewicht und verschwindet also hier für jedes 
Teilchen die Resultierende aller Kräfte, unter deren Einfluß es steht, 
so gilt dasselbe nach (195) für das bewegte System. In der Voraus- 
setzung, daß Gleichgewicht nur bei einer Konfiguration möglich ist, 
dürfen wir schließen, daß die Teilchen eines ursprünglich als ruhend 
gedachten Körpers, nachdem ihm eine Translation erteilt worden ist, 
sich unter dem Einflusse ihrer gegenseitigen Wirkungen von selbst in 
die neuen den Dilatationen d, ö’ entsprechenden Lagen stellen werden. 

In diesem Gedankengange läßt sich, wie mir scheint, auch das 
negative Ergebnis des in Nr. 56c) erwähnten Experimentes von Trouton 
und Noble deuten!®). Wäre es zulässig, die obige Hypothese auf 
alle Wirkungen in dem von dem Kondensator mit Einschluß des Auf- 
hängedrahtes gebildeten System, auch auf die Wirkungen zwischen 
Elektronen und Atomen, anzuwenden, so dürften wir behaupten, es 
seien auch jetzt die Dilatationen d und ö’ die einzigen Folgen der 
Translation. Von einer beobachtbaren Riehtungsänderung sind diese 
aber nicht begleitet. 

Freilich leidet diese Erklärung an dem Mangel, daß sie die Mole- 
kularbewegung völlig ignoriert, sodaß die Beseitigung dieses Übelstandes 
als eine dringende Aufgabe erscheint. Ein Weg, auf dem man die 
Lösung versuchen kann, ist m. E. angezeigt. Ich glaube die Ver- 
mutung aussprechen zu dürfen, daß wenn man auf die ponderabelen 
Massen überträgt, was die Theorie von den elektromagnetischen Massen 
der Elektronen aussagt!®), unsere Behauptungen betreffend die Dimen- 
sionenänderungen auch für Systeme mit Molekularbewegung aufrecht 
zu erhalten sein werden. Wahrscheinlich wird man in dieser Weise 
eine Theorie entwickeln können, die imstande ist, die elektrischen 
und optischen Vorgänge in bewegten Körpern gründlicher zu verfolgen 
als es hier geschehen ist!!®) und mit der man die z. B. von Rayleigh‘'') 


108) Auch Larmor hat die Hypothese der Dimensionenänderungen auf den 
Fall des Kondensators angewandt. Siehe das in Anm. 84) eitierte Werk, p. 566. 

109) Hierbei erhebt sich die Frage, ob vielleicht auch die Dimensionen der 
einzelnen Elektronen durch die Translation geändert werden. 

110) Vgl. die Diskussion über den Michelson’schen Versuch, wenn die Strahlen 
bei demselben einen beliebigen ponderabelen Körper durchlaufen in der zweiten 
in Anm. 83) citierten Arbeit von Lienard, $$ 16 u. 17 und in dem ersten in 
Anm. 33) eitierten Artikel von Lorentz. 

111) Rayleigh, Does motion through the aether cause double refraction ? 
Phil. Mag. (6) 4 (1902), p. 678 (Versuche mit negativem Ergebnis). 


65. Anwendung der Begriffe der Elektronentheorie auf andere Gebiete. 279 


experimentell behandelte Frage nach der Existenz einer mit den Dila- 
tationen d, 6’ zusammenhängenden Doppelbrechung wird in Angriff 
nehmen können. 

Man darf hoffen, daß mit dieser weiteren Entwicklung ein Ge- 
winn an Einheitlichkeit und Einfachheit der Darstellung verbunden 
sein wird. Mit Recht hat Poincare‘'”) der Theorie einen Vorwurf 
daraus gemacht (obgleich es zu entschuldigen sein dürfte, daß man 
auf diesem Gebiete vorsichtig tastend vorwärts gegangen ist), daß sie 
zur Erklärung des Michelson’schen Versuchs eine eigens zu diesem 
Zwecke ersonnene Hypothese eingeführt hat, und vielleicht durch 
neue experimentelle Ergebnisse zu ähnlichen Kunstgriffen gezwungen 
werden wird. Das Urteil würde günstiger lauten können, wenn es 
gelänge, mit Hilfe einiger Grundannahmen, wie der oben angedeuteten, 
manche auf der Erde sich abspielende elektromagnetische Erscheinung 
als völlig unabhängig von der Translation darzustellen. 

Ich gedenke an anderer Stelle!!?) ausführlicher auf die hier be- 
rührten Fragen einzugehen, möchte aber hier die Bemerkung hinzu- 
fügen, daß man, falls die Betrachtung der Einflüsse zweiter Ordnung 
auf unüberwindliche Schwierigkeiten stieße, wohl kaum einen anderen 
Ausweg hätte als denjenigen, welchen die in Nr. 21 des vorigen Artikels 
erwähnte, von Planck herrührende Idee uns eröffnet. Unbefriedigend 
bliebe dabei allerdings nicht nur die vorauszusetzende Kondensation 
des Äthers in der Nähe eines Himmelskörpers, sondern auch der Um- 
stand, daß der bei der Lichtbewegung im strömenden Wasser ins 
Spiel kommende Mitführungskoeffizient, der bis jetzt in der Aber- 
rationstheorie so wichtig war, schließlich für dieselbe jede Bedeutung 
verlöre. 


65. Anwendung der Begriffe der Elektronentheorie auf andere 
Gebiete. Obgleich im Äther die elektromagnetischen Zustands- 
änderungen sich im allgemeinen mit der Geschwindigkeit c fort- 
pflanzen, so zeigt sich doch bei den elektrostatischen Erscheinungen 
(Nr. 56 b)) nur ein Einfluß einer Translation, der von der zweiten 
Ordnung ist. Dies hat mich dazu veranlaßt!), für die Gravitation 
eine ähnliche Vermittlung durch den Äther, wie für die elektrischen 
Kräfte anzunehmen. Man erreicht dadurch den Vorteil, daß man den 


112) Poincare, Relations entre la physique exp6erimentale et la physique 
math&matique, Rapports du Congres de physique de 1900, Paris, 1, p. 22, 23. 

113) Lorentz, Amsterdam Zittingsverslag Akad. v. Wet 12, 1904 (Amster- 
dam Proceedings, 1903—1904). 

114) Lorentz, Beschouwingen over de zwaartekracht, Amsterdam Zittings- 
verslag Akad. v. Wet. 8 (1900), p. 603 (Amsterdam Proceedings, 1899—1900, p. 559). 


280 V 14. H. 4A. Lorentz. Elektronentheorie. 


Zustandsänderungen des Äthers, welche die Schwerkraft verursachen, 
keine größere Ausbreitungsgeschwindigkeit wie die des Lichtes zu- 
zuschreiben braucht, um im Einklang zu bleiben mit den Beobach- 
tungen, die auf diesem Gebiete einen Einfluß der Bewegung nicht 
haben erkennen lassen. Um diese Idee durchzuführen, habe ich an- 
geknüpft an die von Mossotti entwickelte Theorie der Gravitation, nach 
welcher diese Kraft den elektrischen Wirkungen nahe verwandt sein soll. 

Daß auch viele andere Erscheinungen mit den elektromagne- 
tischen im engsten Zusammenhang stehen, daß bei denselben die 
elektrischen Ladungen der kleinsten Körperteilchen eine wesentliche 
Rolle spielen, ist im Laufe der Jahre immer deutlicher zutage ge- 
treten und braucht hier nicht mit Beispielen belegt zu werden. Man 
hat darin Anlaß gefunden, geradezu in elektrischen Ladungen, in 
Elektronen, das Wesen aller Materie zu erblicken'") und die Grund- 
sätze der Mechanik als Folgerungen aus den Begriffen der Elektronen- 
theorie darzustellen). In diesem Gedankengange gibt es keine „wahre“, 
sondern nur „elektromagnetische“ Masse, eine Annahme, zu deren 
weiterer Prüfung die Versuche von Kaufmann über die .Becquerel- 
strahlen sowie die in der vorigen Nummer vorgetragenen Betrach- 
tungen ermutigen. 


115) Siehe z. B. O. Lodge, On electrons, Journal of the Institution of electr. 
engineers 32 (1902), part 6 (Eleetrie theory of matter). 

116) W. Wien, Über die Möglichkeit einer elektromagnetischen Begründung 
der Mechanik, Arch. neerl. (2) 5 (1900), p. 96; Ann. Phys. 5 (1901), p. 501. 


(Abgeschlossen im Dezember 1903.) 


v 


Tr 


8. 
9. 
10. 
11. 
12. 
13. 


14. 


15. 
16. 
17. 
18. 
19. 
20. 
21. 
22. 


Vı15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 289 


15. ELEKTROSTATIK UND MAGNETOSTATIK. 


Von 


R. GANS 


IN TÜBINGEN. 





Inhaltsübersicht. 
Einleitung. 
Elektromagnetische Theorie. 
Die Grundgleichungen der Elektrostatik und der Magnetostatik. 
Eindeutigkeit des Feldes. Vergleich mit der Fernwirkungstheorie. 
Allgemeine Eigenschaften des Feldes. 
Superposition der Felder. Die Energie. 


I. Elektrostatik. 


A. Die Dielektrizitätskonstante ist im ganzen Raume eine und 
dieselbe Konstante. 


Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. Influenzmaschine. 
Plattenkondensator. 

Kräfte eines Leitersystems. Absolutes Elektrometer. Quadrantelektrometer. 
Zweidimensionale Probleme. Abbildung. Dichte der Elektrizität an Kanten. 
Anwendung auf das Schutzgitter. 

Anwendung auf den Kondensator. 

Kugel. Ellipsoid. Zylinder. Ring. 

Elektrische Bilder. Zwei Kugeln. 


B. Die Dielektrizitätskonstante hat in verschiedenen Teilen des Raumes 
verschiedene Werte. 
Ungeladene Dielektrika im Felde. Leiter als Grenzfall des Dielektrikums. 
Kondensator mit geschichtetem Dielektrikum. 
Influenz. Wahre und freie Elektrizität. 
Influenz auf Ellipsoid und Kugel. Clausius-Mossotti’sche Theorie. 
Hohlkugel und Hohlzylinder im gleichförmigen Feld. 
Spannungen und Kräfte. 
Kräfte auf starre Körper, 
'Elektromotorische Kräfte. 
Kristalle. 
Rückstand. 
Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2. 19 


290 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


II. Magnetostatik. 


23. Unterschiede der magnetostatischen und elektrostatischen Probleme. 
24. Gibt es wahren Magnetismus? 

25. Influenz. Wahrer und freier Magnetismus. 

26. Energie und Kräfte. 

27. Kräfte auf starre Körper. 

28. Magnetisches Moment. Horizontalintensität. Kompaß. 

29. Magnetische Doppelschicht. 

30. Kristalle. 

31. Ferromagnetische Körper. 

32. Hysteresis. 


Literatur. 
Man vergleiche die Literatur der Artikel II A 7b; V 12; V 13. 


@G. Green, An essay on the application of mathematical analysis to the theories 
of electrieity and magnetism. Nottingham 1828, zitiert als „Essay‘‘ und Ost- 
walds Klassiker Nr. 61. Auch abgedruckt in Mathematical Papers of the late 
George Green, herausgeg. von N. M. Ferrers, London 1871. 

M. Faraday, Experimental researches in electrieity, 3 vol. London 1839—1855 
u. Ostwalds Klassiker. 

A. Beer, Einleitung in die Elektrostatik, die Lehre vom Magnetismus und die 
Elektrodynamik, herausgegeben von J. Plücker. Braunschweig 1865. 

W. Thomson, Reprint of papers on electrostatics and magnetism, London 1872. 
Zitiert als „Reprint“. 

J. C. Maxwell, Lehrbuch der Elektrizität und des ae (Deutsche Über- 
setzung von: A treatise on electrieity and magnetism, 2 vol. Oxford 1873), 
Berlin 1883. Zitiert als „Treatise“. 

B. Riemann, Schwere, Elektrizität und Magnetismus, Hannover 1876. 

M. E. Mascart, Traite de l’electrieit6 statique, 2 Bde. Paris 1876. 

R. Olausius, Die mechanische Wärmetheorie, 2. 2. Aufl., Braunschweig 1879. 

H. v. Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen 1, Leipzig 1882. 

@. Kirchhoff, Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1882. 

— Vorlesungen über mathematische Physik 3, Leipzig 1891. 

Mascart et Joubert, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus (deutsche 
Ausgabe: Berlin 1886). 

F. Neumann, Vorlesungen über die Theorie des Potentials und der Kugelfunk- 
tionen, Leipzig 1887. 

— Vorlesungen über die Theorie des Magnetismus, Leipzig 1881. 

@. Wiedemann, Die Lehre von der Elektrizität, 4. Aufl. Braunschweig 1889. 

H. Poincare, Electrieit6 et optique, Paris 1890 (deutsche Ausgabe: Berlin 1891). 

H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leipzig 
1892. 

P. Drude, Physik des Äthers auf elektromagnetischer Grundlage, Stuttgart 1894. 

W. Voigt, Kompendium der theoretischen Physik 2. Leipzig 1896. 

4A. Korn, Lehrbuch der Potentialtheorie. Berlin 1899. 

H. Weber, Die partiellen Differentialgleichungen der math. Physik 1, Braun- 
schweig 1900. 


1. Einleitung. 291 


E. Cohn, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900. Zitiert als „Elm. Feld‘, 

L. Graetz, Elektrostatik usw. in Winkelmann’s Handbuch der Physik 2. Aufl. 

4 Leipzig 1903. 

J. Bosscha, Leerboek der natuurkunde 5. Magneetkracht en electriciteit. 1° stuk. 
Herausgegeben von C. H. Wind, Leiden 1903. 


M. Abraham u. A. Föppl, Einführung in die Maxwell'sche Theorie der Elektri- 
zität, 2. Aufl. Leipzig 1904. 

J. Wallentin, Einleitung in die theoretische Elektrizitätslehre, Leipzig 1904. 

F. Auerbach, Magnetismus. In Winkelmann’s Handbuch der Physik. 2. Aufl., 
5!. Leipzig 1905. 


In Ostwalds „Klassikern der exakten Wissenschaften“ erschienen: 

Nr. 13. Coulomb, Vier Abhandlungen über die Elektrizität u. den Magnetismus 
(1785—86), herausgegeben von W. König. 

Nr. 53. C. F. Gauß, Die Intensität der erdmagnetischen Kraft auf absolutes 
Maß zurückgeführt (1832), herausgegeben von E. Dorn. 

Nr. 61. @. Green, Ein Versuch, die mathematische Analysis auf die Theorien 
der Elektrizität und des Magnetismus anzuwenden (1828), herausgegeben von 
4A. J.v. Oettingen u. A. Wangerin. 


Nr. 69. J. C. Maxwell, Über Faradays Kraftlinien (1855—1856), herausgegeben 
von L. Boltzmann. 


Nr. 81, 86, 87, 126, 128, 131, 134, 136, 140. M. Faraday, Experimentalunter- 
suchungen über Elektrizität (1832—1850), herausgegeben von A. .J. v. Oettingen. 


1. Einleitung. Die ursprüngliche Grundlage der Elektrostatik 
und Magnetostatik bildeten die Ooulomb’schen Gesetze'). Wegen ihrer 
Ähnlichkeit mit dem Newton’schen Gravitationsgesetze erscheinen die 
Gebiete der Elektrostatik und Magnetostatik demjenigen der Gravi- 
tation wenigstens in mathematischer Hinsicht eng verwandt. Dem- 
entsprechend ist es möglich, die Grundtatsachen aller drei Gebiete bis 
zu einem gewissen Grade der Vollständigkeit gemeinsam darzustellen, 
wie dies in Bd. II, Art. Potentialtheorie?) geschehen ist. 

Der Standpunkt der Theorie wurde ganz anders, als Faraday 
die Dielektrizitätskonstante und die Permeabilität entdeckt hatte und 
in konsequenter Weise die Ansicht vertrat, daß bei allen elektro- 
magnetischen Erscheinungen das Medium zwischen den aufeinander 
wirkenden Körpern von wesentlicher Bedeutung sei. Maxwell brachte 
die Faraday’schen Gedanken in mathematische Form und stellte in 
zwei nach ihm benannten Vektorgleichungen die elektromagnetischen 
Erscheinungen dar. In der Maxwellschen Theorie müssen also Elektro- 
statik und Magnetostatik als Spezialfälle enthalten sein. 


1) Vgl. V 12, Die Elementargesetze, Art. Reiff-Sommerfeld, Nr. 1. 
2) Vgl. IT A, 7b Potentialtheorie, Art. Burkhardt- Meyer. 
19* 


292 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Wir werden infolgedessen, entsprechend dem heutigen Stande 
der Wissenschaft, von den Maxwell’schen Gleichungen ausgehen. 

Wegen der allgemeinen, mehr mathematisch gehaltenen Unter- 
suchungen zur Potentialtheorie muß auf den genannten Artikel?) in 
Band 2 verwiesen werden; hier sollen hauptsächlich solche Arbeiten 
berücksichtigt werden, die unmittelbare Anwendung auf physikalische 
Probleme finden. 

2. Elektromagnetische Theorie. Die Maxwell’schen Gleichungen 


lauten?) 


(1) td td 
8 4 
(2) —ertE- 5.) 


Hier ist c eine universelle Konstante (Lichtgeschwindigkeit im 
Vakuum); & resp. $ elektrische resp. magnetische Feldstärke; D resp. 
9 elektrische resp. magnetische Erregung (früher Polarisation oder 
Induktion genannt), 3 die elektrische Strömung. 

Für isotrope, homogene Körper ist?) 


(3) D=:fl, 
(4) B= u, 
(5) 306. 


& heißt Dielektrizitätskonstante (für den Äther setzen wir &=1), 
u heißt Permeabilität oder Magnetisierungskonstante (für den Äther 
setzen wir u—=1). 6 heißt elektrische Leitfähigkeit‘). 
. Bilden wir von (1) und (2) die Flächenintegrale über eine ge- 
geschlossene Fläche 6, so ergibt sich, -daß 


Ö 
(6) fDnds +[3,d0 — 0, 
0 
(7) af ®nds— 0. 
Verläuft in (6) die Fläche o vollkommen in einem Isolator, so ist 
(6°) f D,do = e zeitlich ‘constant; 


für jede Fläche ist 





3) Vgl. V 18 Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, Nr. 6. 

4) Wegen der Vektorbezeichnungen und -beziehungen vgl. IV 2, 14 Geo- 
metrische Grundbegriffe Art. Abraham und V 13 Maxwellsche Theorie, Art. 
H. A. Lorentz, Nr. 3 u. 4. 

5) Vgl. V 13 Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, Nr. 8. 
6) Wegen der hier gewählten Einheiten vgl. V 13 Maxwellsche Theorie, 


Art. H. A. Lorentz, Nr. 7. 


3. Die Grundgleichungen der Elektrostatik und der Magnetostatik. 293 


(7) E B,de—=m 
zeitlich konstant. Wir nennen diese Konstanten die von der Fläche 
eingeschlossene elektrische resp. magnetische Menge. 


(8) dvd=o, 
und 
(9) div®ß=o, 


sind die elektrische resp. magnetische Dichte. Tritt auch Flächen- 
ladung auf, so ist deren Dichte 


(8) DD, — 20 =o, 
resp. 
9) Br B0- a, 


Multipliziert man (1) skalar mit €, (2) skalar mit 9, addirt 
und integriert über ein beliebiges Raumstück $ mit der Oberfläche o, 
so erhält man®) mit Berücksichtigung von (3), (4) und (5) 


(105% ‚|ıs9. = 2f (de + u8°)d8 +fo GE 


als Kaisdtnnli des Energieprinzips für homogene, isotrope Körper. 

c[|EH]= 5 ist der Poynting’sche Strahlungsvektor, fi 41:.&’dS=W, 
und / 4uS°dS=W „sind die elektrische resp. magnetische Energie°), 
e&?—= Q ist die pro Zeiteinheit in der Volumeinheit entwickelte 
Joulesche Wärme. 

3. DieGrundgleichungen der Elektrostatik und derMagnetostatik. 
Soll der betrachtete Zustand statisch sein, so muß 0/öt=(0 sein, und es 
darf ferner keine Energieumsetzung stattfinden, d. h. es muß @ ver- 
schwinden. Das bedeutet aber: in Leitern gilt 


(11) E=0. 
Aus (2) und (1) folgt dann 
3 rt &—=0, Ia rt9$=0, 
oder 
I: E=—gradpy, Ia. = — gradvy. 


In Leitern ist wegen (11) p konstant. @ und % heißen elek- 
trisches resp. magnetisches Potential. 
Aus (8) und (9) wird durch Benutzung von I’ und la’ 





7) Vgl. V 13 Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, Nr. 11. 

8) Vgl. V 13 Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, Nr. 22. In der Be- 
zeichnung weicht dieser Artikel von dem Lorentzschen insofern ab, als hier W, 
und W,, die ganze elektrische und magnetische Energie des Feldes, dort die 
Energie der Volumeinheit bedeuten. 


294 Vı15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


n: divsgradp= — 0, Ha. dvugady—= — 0 
Die elektrische resp. magnetische Energie schreibt sich 
I.  W,=[ 5 gradpaS, a W„—/% gradwaS. 


Ist &e resp. u an einer Fläche 6 mit der Normalen » unstetig, 
so folgt aus (8”) und (9°) 
SEN e9r —& = =—o,„, Wa. u — u Ze = — 09,.: 
Aus (1) und (2) ergibt sich ferner, da diese Gleichungen überall 
Beziehungen zwischen endlichen Größen darstellen sollen, daß an 
Flächen 6, in denen & und u unstetig sind, die Tangentialkomponenten 


von & und 9 stetig sind’). Ist s eine tangentiale Richtung an 6, 
so muß 


N 


0 0 0%, Orb; 
nn a Y. =. 
sein. Da — gradp und — grad y auch in der Unstetigkeitsfläche 6 
die elektrische resp. magnetische Feldstärke darstellen sollen, welche 
durchweg endliche Größen sind, so müssen g und % auch an o, also 
im ganzen Raume stetig sein, da sonst die Normalkomponente der 
Feldstärken in 6 unendlich groß würde. Von dieser Darstellung 
weicht man nur ab bei Einführung der elektrischen und magnetischen 
Doppelschichten (s. unten Nr. 29). 

Durch T und Ia’ sind g und % nur bis auf eine willkürliche 
additive Konstante definiert. Gewöhnlich setzt man im Unendlichen 
p und % gleich Null, falls dort keine Ladungen gedacht werden. 
Hiermit ist es verträglich, daß man das Potential $ der Erde, die 
man für die meisten Probleme als sich ins Unendliche erstreckend 
betrachten kann, gleich Null annimmt. Eine Ausnahme von der Be- 
stimmung: p und % gleich Null im Unendlichen pflegt man bei der 
Behandlung homogener Felder zu machen, in denen das Unendliche 
selbst geladen erscheint und das Potential im Unendlichen unendlich 
groß wird. In diesem Falle legt man einer willkürlichen Stelle im 
Endlichen das Potential Null bei. 

Tatsächlich verzichtet man bei Einführung von Doppelschichten 
und von homogenen Feldern auf die Beschreibung der wahren Verhält- 
nisse in der Doppelschicht resp. in unendlicher Entfernung. 





9) Vgl. V 13 Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, Nr. 6. Romich und 
Fajdiga haben Wien Ber. 70 II (1875), p. 367 experimentell gezeigt, daß dünne 
dielektrische Überzüge die ponderomotorischen Kräfte nicht ändern Dies folgt 
aus der Theorie unter der Annahme, daß die Gleichungen auch in den Unstetig- 
keitsflächen gültig sind. 


4. Eindeutigkeit des Feldes. Vergleich mit der Fernwirkungstheorie. 295 


Da die Energie endlich sein muß, so müssen grad p und grad Y 
stärker als R-” im Unendlichen verschwinden, wenn R die Ent- 
fernung eines Punktes im Unendlichen von einem willkürlichen Punkt 
im Endlichen ist. 

p und ı) müssen also im Unendlichen stärker als R"» verschwinden. 

I. bis V. resp. la. bis Va. bilden mit den Stetigkeitsbedingungen 
und der Unendlichkeitsbedingung die Grundgleichungen des elektro- 
statischen resp. magnetostatischen Feldes, Da die Gleichungen für @ 
und % nicht simultan sind, ergibt sich die einfache Superposition eines 
elektrostatischen und eines magnetostatischen Feldes; ebenso super- 
ponieren sich ihre Energien, wir dürfen also jedes für sich behandeln. 

Dagegen superponieren sich die Strahlungen nicht. Diese sind, 
wenn nur ein elektrostatisches Feld oder nur ein magnetostatisches 
Feld vorhanden ist, wegen Nr. 2 Null; überlagern sich aber ein elek- 
trostatisches und ein magnetostatisches Feld, so ist die Strahlung im 
Allgemeinen nicht Null, wir müssen uns also die Energie nach der 
Poyntingschen Darstellung als in Bewegung befindlich vorstellen, 
allerdings in geschlossenen Bahnen, so daß der Energieinhalt jeden 
Volumelements unverändert bleibt. Die Poyntingsche Vorstellungs- 
weise erscheint im Falle solcher zusammengesetzter statischer Felder 
also gewaltsam !P). 


4. Eindeutigkeit des Feldes. Vergleich mit der Fernwirkungs- 
theorie. Das Potential @ (oder %) ist eindeutig gegeben durch die 
Dichten og und o; auf Leitern braucht nur die gesamte Elektrizitäts- 
menge e oder das Potential gegeben zu sein; denn die Differenz 
p’=g— 9’ der beiden als möglich angenommenen Funktionen p und 
p' genügt solchen Bedingungen, daß in der durch partielle Integration 
leicht abzuleitenden identischen Gleichung (12) die rechte Seite Null wird. 


€ 7 FEN p” . „ 
Seat o af ä div z grad p’dS 


—f% (2 ni 2) de — u do. 
Das zweite Integral rechts erstreckt sich über alle Unstetigkeitsflächen 
von &, das dritte über alle Leiterflächen und eine unendlich große 
Fläche. n ist im zweiten Integral rechts die Normalenrichtung auf o, 
welche nach der mit dem Index 2 bezeichneten Seite weist, im dritten 
Integral die ins Dielektrikum hineinweisende Normalenrichtung. 





(12) 











10) Vgl. V 13 Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz Nr. 22 und An- 
merkung 42). Auf die oben genannte Unzuträglichkeit hat zuerst H. Hertz hin- 
gewiesen. Ann. Phys. Chem. (3) 40 (1890), p. 577; Ges. Werke 2, p. 234, Leipzig 1892. 


296 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Also ist 9=g’. Dasselbe gilt auch, wenn die Begrenzung des 
Raumes nicht im Unendlichen liegt, sondern wenn auf der Begrenzung 
op oder öp/ön gegeben ist, insbesondere wenn eine leitende Hülle den 
Raum begrenzt. 

Hat & im ganzen Dielektrikum einen konstanten Wert, so gilt 











wegen II. 
und wegen IV. 
09, 09, N ©, 
RI ee Se 
Ein Integral von (13) und (14) ist aber'!) 
MP ®, @, Rn 1 e, 
(15) F  ( &,a5 * erplk, Ame > r 


Dieser Ausdruck genügt allen an @ gestellten Bedingungen; wegen 
der Eindeutigkeit der Lösung ist er also das einzige Integral. Ist & 
nicht konstant, so hat man die Darstellung (15) abzuändern (vgl. 
Nr. 15 (87)). 

Durch Differentiation von (15) nach der beliebigen Richtung s 
folgt wegen T.: 
(16) E; ae 108 . = cos (7, S). 


Ame r?0s Ame: 
Da bei konstantem & die Feldstärke als „Kraft auf die Menge Eins“ 
definiert ist (vgl. Nr. 18 (94)), so ist (16) der Ausdruck des Coulomb- 
schen Gesetzes. 


5. Allgemeine Eigenschaften des Feldes. Auf Grund der 
Hauptgleichungen lassen sich über den Verlauf der einzelnen Erregungs- 
linie (D-Linie) einige allgemeine Aussagen machen: bei stetigem & ist 
die D-Linie stetig und stetig gekrümmt bis auf Flächen, auf denen 
Flächenelektrizität sitzt. Springt & an einer ungeladenen Fläche, so 
gilt wegen (8°) und V. 


(17) E90 — 5,69, 
(18) Eee, 
also len) 

g ‚” RE ©, 
9) En m 


Dies ist das Brechungsgesetz der Erregungslinien; mit seiner 
Hilfe lassen sich Dielektrizitätskonstanten bestimmen '?). 


11) Vgl. Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer II A Tb, Nr. 2. 

12) W. v. Bezold, Ann. Phys. Chem. (3) 21 (1884), p. 401; die Theorie der 
Versuchsanordnung ist falsch, hierauf hat F. Lohnstein, Ann. Phys. Chem. (3) 44 
(1891), p. 164 aufmerksam gemacht. Einwandsfrei ist die Versuchsanordnung 
von A. Perot, Paris C. R. 113 (1891), p. 415. 


5. Allgemeine Eigenschaften des Feldes. 297 


Da die Aussagen der vorigen und dieser Nummer auch für magne- 
tische Erscheinungen gelten, wenn man &, &, p mit u, 9, d vertauscht, 
so folgt aus (19) z. B., daß die magnetischen Erregungslinien aus 
Eisen (sehr großes u) fast senkrecht in die Luft austreten. 


Aus 1. folgt f E,ds = 0 für jede geschlossene Kurve, also können 


die E-Linien keine geschlossenen Kurven sein, sie entspringen (münden) 
an Stellen positiver (negativer) Elektrizität, gehen von Stellen höheren 
zu Stellen niederen Potentials und stehen senkrecht auf den Äqui- 
potentialflächen (Niveauflächen), also z. B. auch auf den Leiterober- 
flächen (vgl. T.). 

Ist das Feld von einer leitenden Hülle umschlossen, so ist, da 
im Leiter € = 0 (11), das Flächenintegral fi D,do = (0, wenn 6 voll- 
ständig in der leitenden Hülle verläuft, d. h. es ist gleichviel positive 
und negative Elektrizität im Innern der Hülle. Die innere Oberfläche 
wird ebenfalls geladen sein, sie gehört mit zum Felde. 

Trennt die leitende Hülle ein inneres Feld von einem äußeren, 
so gehört die innere (äußere) Oberfläche 6, (o,) der Hülle mit zum 
inneren (äußeren) Felde; ist die Gesamtladung der Hülle e, und ist e, 
die Elektrizitätsmenge der Körper im Innern, so befindet sich nach 
obigem Satze auf 6, die Elektrizitätsmenge — e,, also auf 6, die 
Menge e, + e. 

Nun ist das Feld im Innenraum, unabhängig von den e,, durch 
die e, gegeben. Sind diese speziell = (0, so ist, gleichviel welches 
Feld im Außenraum besteht, kein Feld im Innern vorhanden; diese 
Erscheinung nennt man die Schirmwirkung einer leitenden Hülle'?). 

Da, wie bemerkt, auf 6, keine Elektrizität vorhanden ist, wenn im 
Hohlraum des Leiters keine Elektrizität sich befindet, so befindet sich 
alle Elektrizität eines Leiters auf seiner äußeren Oberfläche. Ein elektri- 
sierter Leiter im Innern eines zweiten muß also bei der Berührung 
mit diesem seine gesamte Elektrizitätsmenge an ihn abgeben, da bei 
der Berührung das System nur einen Leiter bildet. Dieses Experi- 
ment der vollständigen Ladungsabgabe ist ein sehr genauer Beweis 
dafür, daß im Ooulomb’schen Gesetz die Potenz der Entfernung den 
Wert 2 hat!%). 


13) E. Almansi, Linc. Rend. (5) 13 [2] (1904), p. 12 behandelt den Fall hohler 
Leiter, deren Hohlraum durch Löcher mit dem Außenraume verbunden ist. Er 
findet, daß die im Innern sitzende Elektrizitätsmenge e< > ist, wo V das 


Potential des Leiters und a den Radius des kleinsten Kreises auf der Oberfläche 
bedeutet, durch den das betreffende Loch verdeckt werden kann. 
14) Maxwell, Treatise 1, Art. 74a. Das Experiment wurde zuerst von 


298 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Einige wichtige Reziprozitäts- und Minimalsätze findet man in 
dem Artikel über Mazxwellsche Theorie von H. A. Lorentz V 13, 
Nr. 27. Bis auf die über Leiter ausgesprochenen Sätze gelten alle 
mutatis mutandis auch für magnetostatische Felder. 


6. Superposition der Felder. Die Energie. Durch die Werte 
0’, © und die Werte von e’ oder @’ auf Leitern ist das Feld €’ und 
damit auch die Dichte & auf den Leitern bestimmt (Nr. 4). Aus 
den Werten 0”, ©”, e” oder @” folge das Feld €”; dann bestimmt 
sich aus 

e=e+g, oa ta”, e=ete” oder 9=gp'+Y", 
das Feld 
E=€E’+€”, 

denn dieser Wert genügt wegen der Linearität der Gleichungen allen 
Bedingungen, wegen der Eindeutigkeit ist es also der einzig mög- 
liche Wert. 

Hieraus schließt man, daß das Potential $ der Ladungen e,, &,... 
die Form hat 


(20) y-apytapt' 
wo die p, von den e, unabhängige Ortsfunktionen sind. 

Der Energieausdruck II. läßt sich auf Grund von (12), wenn 
wir dort @ statt @” setzen, auf die Form bringen 
(21) W=4Deg. 

Die Energien zweier Felder überlagern sich nicht, sondern es 
kommt noch eine wechselseitige Energie 


U=42(e"p+ eg”) 
hinzu. Für diese wechselseitige Energie gewinnt man durch partielle 
Integration von i [ze €" as noch die folgenden Darstellungen: 
(22) U= De’ —Deyp’ — [:E’E’A8. 


Aus (22) folgt: Bringt man die unendlich kleine Elektrizitätsmenge 
de zu einem Felde hinzu, so ist die Energiezunahme 


dW —=gde, 
also 
e DM. 
@3) e- 


Cavendish gemacht; es ergab sich bei einer späteren Wiederholung des Versuchs 
als Exponent 2-+5:10-°. Eine Kritik der Theorie des Versuchs findet man bei 
S. J. Barnett, Phys. Rev. 15 (1902), p. 175. 


7. Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. 299 


d. h. das Potential eines Punktes (Leiters) ist gleich der Energie- 
vermehrung, die auftritt, wenn man die unendlich kleine Menge de 
dem Punkte (Leiter) zufügt, geteilt durch eben diese Menge. 


I. Elektrostatik. 


A. Die Dielektrizitätskonstante ist im ganzen Raume eine und 
dieselbe Konstante. 


7. Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. In- 
fiuenzmaschine. Plattenkondensator. Es seien » Leiter in einer 
leitenden Hülle vom Potential Null eingeschlossen. Der »vte Leiter 
habe das Potential V, und die Hlektrizitätsmenge e,, dann ist 
wegen (20) 











(24) v, = Ip 
Auflösung nach den e, ergibt 
(25) PD LE 
’=1 
Wegen (24) und (23) ist 
ie eV, 0 /0W 0 (6W 
26) Bu — Be... De, (27) 0 (%) = Pun- 
also auch 
(27) dal, 


Die 8 heißen Potentialkoeffizienten, ein « mit verschiedenen Indizes 
heißt wechselseitiger (elektrostatischer) Induktionskoeffizient, «,,, heißt 
die Kapazität des Leiters u, sie ist gleich der Elektrizitätsmenge, 
welche auf dem Leiter sitzt, wenn sein Potential 1 ist, während die 
übrigen Leiter das Potential Null haben. 

Mit Hilfe von (21) und (24) resp. (25) wird 


(28) W. Er + I 2B.,08%, 

je 
resp. uvm 1,2, % 
(29) Wn=422«,V,V. 

u: 9 


Erteilt man den geladenen Leitern virtuelle Verschiebungen, in- 
dem man auf jedem die gesamte Elektrizitätsmenge konstant läßt, so 
wird die Arbeit gleich der Abnahme der elektrischen Energie), d.h. 


15) Damit man die Arbeit gleich der ganzen Energieabnahme setzen kann, 
muß man zeigen, daß die Joulesche Wärme bei einer Verschiebung unendlich klein 
gegen die übrige Energieänderung ist. Dieser Beweis läßt sich führen; vgl. 
Kirchhoff, Vorlesungen 3, p. 76 ff. oder Cohn, Elm. Feld, p. 59. 


300 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


(30) HA=—IM,„=— Ir 


Die ß,, enthalten die Parameter, welche die Lage der geladenen 
Körper bestimmen. 
Setzt man in (30) anstatt der e die V mit Hilfe von (25) ein, 
so folgt 
(31) IA=+5Wn = +42 DI V,V,da,, 
ur 


Die fragliche Arbeit ist also auch gleich der Zunahme der Energie 
bei konstant gehaltenen Potentialen. Natürlich betrachten wir dann 
kein vollständiges System, weil zum Konstanthalten der Potentiale 
Energie aus den zur Verfügung stehenden Reservoiren nachströmen 
muß. Die Kräfte, die sich aus (30) oder dem ganz gleichwertigen 
Ausdruck (31) ergeben, sind also quadratische Funktionen der Elek- 
trizitätsmengen oder der Potentiale. 

Da W wesentlich positiv ist, folgt, daß 


: | | &ı se en | 
| | | 
| Sı Os! | & & & 
&> | > ... | 21 22 an 
| Ggı Ka i ; 
| &1 078 re Can | 


positiv sein müssen. Die analogen Bedingungen bestehen für die £. 
Folgende Eigensehaften kommen den « und ß zu, wenn kein 
Leiter den anderen umschließt!P): 


1. Die «,, sind > 0; die «,<O0 (v+u) und PZE 27 
s Nuel 


2. Die ß sind > 0; B,,> Bß,.- 

83. Durch Einführung neuer Leiter ins Feld, also auch durch 
Vergrößerung eines Leiters werden alle ß,, verkleinert. 

4. Wachsen alle linearen Dimensionen eines Leiters v» unbegrenzt, 
so werden die ß,, und ß,, Null wie das Reziproke dieser Dimension. 
Daraus folgt z. B., daß das Erdpotential sich nieht dureh Ableitung 
von Ladungen in der Nähe der Erde ändert. 

5. Bei gleichmäßiger Vergrößerung aller Dimensionen des Feldes 
ändern sich die « in direktem, die ß in umgekehrtem Verhältnis der 
Lineardimensionen. 

6. Haben wir es mit nur zwei geladenen Leitern zu tun, und zwar 
so, daß alle Erregungslinien, die von einem ausgehen, auf dem anderen 
endigen (d. h. daß alle anderen Leiter unendlich weit entfernt sind, 


oder daß der eine Leiter den anderen vollständig umschließt), so ist 
u Auf Pralerhe . Br, 


16) Vgl. Maxwell, Treatise 1, Art. 89b und 89c. 


7. Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. 301 


und daher 
(32) = — mia —P,) 
Eine solche Anordnung heißt ein Kondensator, « ist seine Kapazität. 

Wir betrachten » Kondensatoren im Raume, die so weit von- 
einander entfernt sind, daß sie sich gegenseitig nicht beeinflussen. 
Die beiden Leiter eines Kondensators nennen wir seine Belegungen. 
Wir können die einzelnen Belegungen auf verschiedene Weise mit- 
einander verbinden. Die Kapazität sehr dünner Drähte ist gegen die 
endlicher Kondensatoren zu vernachlässigen”). 

a) Parallel geschaltete Kondensatoren. Wir verbinden je eine 
Belegung aller Kondensatoren miteinander und die anderen Bele- 
gungen auch miteinander, so daß wir zwei zusammenhängende leitende 
Flächen haben. Dann ist 

N), 


M=23 0-23, MN -P)=eln N) 
Die Kapazität ist die Summe der Einzelkapazitäten. 

b) Hintereinanderschaltung (Kaskadenbatterie). Wir verbinden die 
zweite Belegung des vten Kondensators mit der ersten des (v-+ 1)ten 
und laden die erste Belegung des ersten Kondensators aufs Potential 
V,, die zweite Belegung des letzten Kondensators aufs Potential P,, 
dann ist das Potential der ersten Belegung des v+-1ten gleich dem 
der zweiten Belegung des vten Kondensators: 


vea,=vn 


Ferner sind die absoluten Werte e der Ladungen aller Belegungen 


einander gleich, also ist 
e,(2) 
naialpeil > 


&, 


>’. € 
&, & 
v 


Die reziproken Werte der Einzelkapazitäten addieren sich also. 
zum reziproken Wert der Gesamtkapazität. 

Sind alle » Kapazitäten « einander gleich, so ist die Gesamt- 
kapazität A im Falle a) A— na; im Falle $) A= 

Will man sich höhere Potentialdifferenzen verschaffen, als die zur 
Verfügung stehende Potentialquelle der Potentialdifferenz: V liefert, 
so lade man eine Batterie in Parallelschaltung und schalte sie dann 


e 
Zu 
&, 


folglich 


17) Vgl. Kirchhoff, Vorlesungen 3, p. 24. 


302 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


in Kaskaden'?): Da zuerst ne=n«JV, wo « die Kapazität eines 
einzelnen Kondensators der Batterie ist, und nachher e = — v" ist, 


so wird V’’= nV. Solche Anordnungen heißen Potentialverstärker. 
Die Energie einer Batterie ist wegen (21) und (32) 


2 
W=-43e,V,-432, 12-43. 


Hier bedeutet V, die Potentialdifferenz der Belegungen des v*" Kon- 
densators. Beim Potentialverstärker ist also in der ersten Schaltung 
N R 1:10 ,,, anV? ; ; 
——, in der zweiten „. V’?= —,—, d.h. die Energie 
bleibt konstant, man erhält die Potentialerhöhung auf Kosten der zur 
Verfügung stehenden Elektrizitätsmenge. 

Eine Influenzmaschine kann auch als Potentialverstärker oder 
Duplikator aufgefaßt werden. Das Prinzip ist folgendes!”): 

Zwei hohle Leiter A und D 
(vgl. Fig. 1) seien metallisch mit- 
einander verbunden und auf dem 
Potential U,, B und ( seien gleich- 
falls miteinander verbunden und auf 
dem Potential V,. Die beweglichen 
Leiter E und .J können in A und © 
mit der Erde (Potential 0) und in B 
und D mit diesen verbunden werden. 
Ist E in A mit der Erde verbunden, 
so ist die Elektrizitätsmenge — «U, 
auf E (« Kapazität des Kondensators, 
bestehend aus E und A), (nach (32)). 
Diese Ladung wird in B vollständig 
an B und Ü abgegeben (vgl. Nr. 5) 


und erhöht das Potential um — — U, (e Kapazität von B und Ü zu- 
sammen). Nach einer halben Umdrehung ist also 


ao. er; U; ee DIR. 
Nach der »ten halben Umdrehung ebenso 


die Energie 





18) Über Duplikatoren siehe W. Thomson, Proc. Royal. Soc. 1867 und 
Reprint Art. 352 und Art. 401—426; Historisches, Art. 427—429. Vgl. auch 
@. Plantes „Rheostatische Maschine“, Paris C. R. 85 (1877), p. 794 oder auch 
W. Kaufmann, Gött. Nachr. (1901), p. 143 und W. Hallwachs, Ann. Phys. Chem. (3) 
29 (1886), p. 300. 

19) Vgl. Maxwell, Treatise 1, Art. 209 (hier finden sich auch historische 
Angaben) oder E. Cohn, Elm. Feld, p. 81. 


7. Systeme von Leitern. Kapazität. Potentialverstärker. 303 


— U, U, = U, 


n—1i 


en 
[4 


n—1i 


oder 
vr, - =, - U,-ı) (1 n.- =) —- (N — D,) (1 L =) 


Maxwell hat!”) auch einen Duplikator angegeben, bei dem die ganze 
geleistete Arbeit in elektrische Energie verwandelt wird, indem das 
Auftreten von Funken dadurch vermieden wird, daß nur Leiter gleichen 
Potentials miteinander in Berührung kommen. 

Stehen sich zwei Metallplatten von den Potentialen V, resp. V, 
in dem kleinen Abstande a gegenüber, und legen wir die z-Achse 
in die Richtung der Plattenormalen, so wird an Stellen zwischen den 
Platten, die vom Rande weit entfernt sind, 


n 


Die Dichte folgt aus IV. 


Our Wen 


Sehen wir von den Rändern ab, wo die Elektrizitätsverteilung 
verwickelter ist, so ist auf der ganzen Fläche 6 


(33) e = — 23 = —ı£ ut 6, 


» EDEL E60 
d. h. die Kapazität ist (vgl. (32)) « = Fa 


Zwei Kondensatoren mit verschiedenen Dielektrizis haben also 
gleiche Kapazitäten, wenn &/& = o’a/oa’ ist. So kann man Dielektri- 
zitätskonstanten vergleichen"). Die genauere Formel für die Kapazität 
eines Kreisplattenkondensators mit Berücksichtigung der Streuung der 
Erregungslinien und der Elektrizität auf den einander abgewandten 
Seiten findet sich unten (Nr. 11). 

Um bei absoluten Messungen mit einem Plattenkondensator 
möglichst unabhängig von der Randkorrektion zu sein, und um den 
Einfluß äußerer elektrischer Kräfte von den Kondensatorteilen zu 
eliminieren, hat W. Thomson?') einen sogenannten Schutzringkonden- 
sator konstruiert. Man nehme große Platten, trenne durch einen 
feinen Schnitt einen Teil der einen Platte, der weit vom Rande ent- 
fernt liegt, ab und sorge für leitende Verbindung beider Teile; dann 


ist die Kapazität des inneren Teils sehr nahe durch - ausgedrückt. 
(Die genauere Formel findet sich in Nr. 11.) 


20) L. Boltemann, Wien Ber. 67? (1873), p. 17. 
21) W. Thomson, Reprint Art. 360. 


304 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


8. Kräfte eines Leitersystems. Absolutes Elektrometer. 
Quadrantelektrometer. Die Arbeit bei einer virtuellen Verschiebung 
ist durch Nr. 7 (30) und (31) gegeben. Ist das Medium zwischen den 
Leitern homogen, so sind die 8 der Dielektrizitätskonstante umgekehrt 
(vgl. (24) u. (15)), die @ direkt proportional (vgl. (25) u. (15)); also sind 
die Kräfte bei gegebenen Elektrizitätsmengen (Potentialen) der Di- 
elektrizitätskonstanten umgekehrt (direkt) proportional ”?). 

Zur absoluten Bestimmung von Potentialen eignet sich der 
Thomsonsche Schutzringkondensator, das sogenannte absolute Elektro- 
meter (vgl. Nr. 7%). Aus (31) und (33) folgt 


oW (9, — Vı)’da (V2 —- Pr)? so 


pr ie Basar rd Ser > a? 4, 
d. h. die Kraft, welche den Plattenabstand zu verkleinern sucht, ist 
80 (V,— V,\” 6 
(35) 2% (=) srnp 2% &2, 


Wegen des genaueren Wertes siehe Nr. 11. Man hängt die eine 
Kondensatorplatte an der Wage auf und kompensiert die Kraft (35) 
durch Gewichte. 

Verzichtet man auf absolute Messung der Potentiale, so ist das 
Quadrantelektrometer von W. Thomson) als das bedeutend empfind- 
lichere Instrument vorzuziehen. Eine 
flache Metallbüchse ist durch zwei zu- 
einander senkrechte Achsenschnitte in 
4 Quadranten geteilt (Fig. 2). Je zwei 
diagonal gegenüberliegende Quadranten 
sind metallisch miteinander verbunden 
und befinden sich auf den Potentialen 
A und B, während eine biskuitförmige 
Scheibe, die „Nadel“, deren Ebene 
parallel Boden und Deckel der Büchse 
ist, und die frei um die vertikal stehende 

Fig. 2. Achse der Büchse drehbar ist, auf dem 

Potential C sich befindet. Sind A, B, 

C einander gleich, so sind die Schlitze zwischen den Quadranten 
Symmetrieebenen der Nadel. Der ganze Apparat befindet sich in 




















22) Dieser Satz wurde von H. Helmholtz zuerst ausgesprochen J.f. Math. 72 
(1870), p. 117; zur Bestimmung der Dielektrizitätskonstanten wurde er zuerst 
benutzt von P. Silow, Ann. Phys. Chem. (2) 156 (1875), p. 389. 

23) W. Thomson, Reprint Art. 358 u. Phil. Mag. (4) 8 (1854), p. 42. 

24) W. Thomson, Reprint Art. 345. 


8. Kräfte eines Leitersystems. Absolutes Elektrometer. Quadrantelektrometer. 305 


einer Metallhülle vom Potential Null. Die Elektrizitätsmengen, die 

A, B, © entsprechen, seien e,, e,, e,. Dann ist wegen (25) und (27) 
U At an Br RC; 

(36) =, At Dt %.0; ej;eu 
ee, =0.At%ıB+t 8.0: 


Wegen der unter 1. in Nr. 7 angegebenen Eigenschaften ist nun 
0,,>9&,,<0, Da, „>00. Daher kann man schreiben 
u 


Bu Yar(A 2 B) + Yac(A Bon C) F Yf, 
(36°) = Nm. B-A)+trn.B—-O)+nB; 
& = Ya(ll — A) +Y.(C DI HELE, 


wo alle y>0O und „= Yur- 
Die Energie ist wegen (21) 


a).  Weivad-Btr.A-0N +82 
r Ya? + Y,B° rk 7.0?) 
Das Drehmoment auf die Nadel wird nach (31) 
eh 
u 
wo ® der Winkel ist, um den die Nadel aus der Ruhelage abgelenkt ist. 
Die Konstruktion des Instruments läßt Schlüsse auf die Abhängig- 
keit der von ® zu. Die breite Form der Nadel und die Schmalheit 
der Schlitze bewirken, daß von den Rändern der Nadel keine Erregungs- 
linien nach den Rändern der Quadranten laufen, so daß sich bei einer 
unendlich kleinen Drehung d® die Anzahl Erregungslinien, die 
zwischen B und Ü verlaufen, um einen d® proportionalen Betrag 
vermehren. Aus Symmetriegründen ist 
Öle OVac 


BT Yo a Bann ie) 


dagegen sind Y,, I, Ya Ya, von ® unabhängig, weil die Anzahl Er- 
regungslinien, die von den Quadranten oder von der Nadel zur Hülle, 
sowie von einem Quadrantenpaar zum anderen gehen, durch die 
Drehung sich nicht verändern. 





Also ist 
88) N 4 1 B-0%-(4- kA Bl +72): 


Die verschiedenen Schaltungsweisen der Quadranten und der Nadel 
Encyklop. d. math. Wissensch., V 2. 20 


306 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


sind von Hallwachs?®) behandelt. Er berücksichtigt auch die Kontakt- 
potentialdifferenzen zwischen den Metallteilen (s. u. Nr. 20). 


9. Zweidimensionale Probleme”). Abbildung. Dichtigkeit 
der Elektrizität an Kanten. Wenn eine Verteilung der Elektrizität 
auf leitenden Zylinderflächen mit parallelen Erzeugenden vorliegt und 
die Querdimensionen klein sind gegen die Längenerstreckung der 
Zylinder, und wenn nur nach dem Zustand in den mittleren Teilen 
gefragt wird, so hängt das Problem allein von den zwei Variablen x 
und y ab, während es von der den Erzeugenden parallelen Variablen 
unabhängig ist. 

Setzen wir 

= (a? + y—d), 
P-@-0'+ 0) 


wo a, b, c die laufenden Koordinaten sind, so wird 


unendlich. Man kann g aber durch Addition einer unendlich großen 
Konstanten auf die Form 

(89) 9 Jalgeods, 

bringen. Diese Addition ist erlaubt, da p nach Nr. 3 nur bis auf 
eine additive Konstante definiert ist. ds bedeutet ein Element der 
Spur der Zylinderflächen in der xy-Ebene. 

Wegen der Form von (39) heißt p das logarithmische Potential 
zum Unterschied von dem Potential $ der Nr. 4 (15), welches das 
Newtonsche Potential heißt. 

p genügt der Gleichung 


0? 22 
, eine 





25) W. Hallwachs, Ann. Phys. Chem. (3) 29 (1886), p.1. Die Theorie ist vervoll- 
ständigt unter der Annahme, daß bei Drehungen auch die höheren Potenzen des 
Drehwinkels mit in Betracht kommen. Dann ergibt sich außer dem oben an- 
gebenen konstanten Drehmoment noch eins, das dem Ablenkungswinkel propor- 
tional ist. Gouy, J. d. phys. (2) 7 (1888), p. 97; A. B. Chauveau, J. d. phys. (3) 9 
(1900), p. 524. Die Theorie eines Bifilarquadrantelektrometers mit konstanter 
Empfindlichkeit gibt A. Hartwich, Königsberger Diss. 1888 oder Ann. Phys. 
Chem. (8) 35 (1888), p. 772. 

26) Vgl. auch C. Neumann, Untersuchungen über das logarithmische und 
Newtonsche Potential, Leipzig 1877. 


9. Zweidimensionale Probleme. Abbildung. Dichtigkeit d. Elektrizität usw. 307 


welche auch der reelle Teil jeder Funktion y= 9 iv komplexen 
Arguments z2= x + yi”") befriedigt. 

Liegen die leitenden Zylinderflächen sämtlich im Endlichen, so 
muß 9 im Unendlichen wegen (39) die Form 





E 


haben, ww E= J @ds die Gesamtelektrizitätsmenge auf der Höhen- 
einheit der Zylinder, R den Abstand von einem beliebigen festen 


Punkt im Endlichen bedeutet. + — lg R muß also im Unendlichen 
verschwinden. 
Die Grundgleichungen der Cauchy'schen Funktionentheorie sind 
NAIRER. RAPRROSERE A 
08 ;.. on’ en... 08 ’ 
wenn die zueinander senkrechten Richtungen s und » im Sinne der 
reellen und imaginären Achse aufeinander folgen. Aus der letzten 
dieser beiden Beziehungen ergibt sich, daß die Elektrizitätsmenge E 
auf der Höhe 1 zwischen zwei Punkten s, und s, einer Randkurve 
— so wollen wir kurz die Spur eines Zylinders in der xy-Ebene 


nennen — mit den Werten %, und %, sich durch die Formel 
E 

(42) B=— [222 a5 ev) 

ausdrückt. : 


Ist ein Zylinder mit beliebig gestalteter Basisfläche zum Potential 
9, geladen, so läßt sich das Potential außerhalb des Zylinders durch 
die Lösung einer Abbildungsaufgabe finden. Man braucht nämlich 
nur den Raum außerhalb der Randkurve s des Zylinders in der z-Ebene 
auf den Innenraum des Einheitskreises in einer w-Ebene abzubilden, 
indem man eine Funktion w= u vi von z sucht, welche auf der 
Randkurve s den absoluten Wert 1 hat und für 2= oo sich in der 
Form 


(43) v-i+4ä4t (a +0) 
entwickeln läßt. Durch 


2re 


(44) ae a EN 


ist dann das Problem gelöst, wenn der reelle Teil der Konstanten h 


27) z ist hier nicht mit der früher so bezeiehneten dritten Raumkoordinate 
zu verwechseln. 


20* 


308 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


gleich dem vorgeschriebenen Potentialwert @, auf s ist. Denn aus 
(44) folgt 


‚ E ; 
(44) 9=n+ ;,,18Wl- 
Wegen (41) und (43) muß 9 + 50. 1g|a,|—0 sein, d. h. die 





Kapazität der Längeneinheit des Zylinders (vgl. Nr. 7) — - - 
{) Rn 

la | 

ist durch das erste Glied der Entwicklung von w im Unendlichen 


gegeben. 

Es ist wesentlich, daß nur ein Zylinder vorhanden ist, daß also 
der Raum außerhalb der Randkurve einfach zusammenhängend ist, da 
sonst die Abbildung auf den Einheitskreis nicht möglich wäre. Das 
Gleichgewicht der Elektrizität auf mehreren Zylindern mit kreis- 
förmigem Querschnitt behandelt B. Riemann”) in einer Arbeit, die den 
ersten Anstoß zur Theorie der automorphen Funktionen gegeben hat. 

In der Nähe einer Ecke vom Winkel (1 — «a)x (im Dielektrikum 
gerechnet) erhält man das Potential durch Abbildung der z-Ebene 


auf eine w-Halbebene mittels der Formel 
1 


(47) w— (# — 2)1"°, 
so daß 
(48) i-n tea 


wird. Aus (42) berechnet sich die Elektrizitätsmenge auf der Höhe 
1 über jeder endlichen Länge s der Randkurve, und aus (48) ergibt 
sich diese Menge als endlich, auch wenn die Kante sich auf dem be- 
trachteten Stück befindet. Wegen (42) ist die Diehte der Elektrizität 

. 4 dy dy ; ce’ - 
gleich dem Faktor von i in ee Ts 
y der Winkel ist, den die Kante mit der x-Achse einschließt; die 
Dichte ist also unendlich klein (groß), wenn «>0(<0) ist, d.h. 
wenn die Kante des Zylinders ein-(aus-)springt. 

Im dreidimensionalen Felde ergibt sich die Elektrizitätsverteilung 
in der Nähe einer scharfen Kante nach A. Sommerfeld®®). Green°®) 
beschäftigt sich mit der Frage der Elektrizitätsdichte an einer Kegel- 
spitze, er findet daß die Dichte bei ein-(aus-)springenden Spitzen un- 





(.— 2,)17°,.wo 


28) B. Riemann, Ges. Werke, 2. Aufl., Leipzig 1892, p. 440. 

29) A. Sommerfeld, Proc. Lond. Math. Soc. 28 (1897), p. 395; vgl. Potential- 
theorie Art. Burkhardt-Meyer II A 7b Nr. 9, p. 476. 

30) @. Green, Essay; s. Ostw. Klassiker Nr. 61, p. 66. 


Br 


9. Zweidimensionale Probleme. Abbildung. Dichtigkeit d. Elektrizität usw. 309 


endlich klein (groß) wird, und zwar gibt er auch die Stärke des 
Null resp. Unendlichwerdens in der Nähe der Spitze an. 

Ganz allgemein läßt sich auch die Elektrizitätsverteilung auf 
einem unendlich langen Prisma von polygonaler Basis berechnen, da 
mit Hilfe der Schwarzschen Derivierten jedes Polygon sich auf den 
Einheitskreis abbilden läßt?!). Mit diesem Problem identisch ist 
das des elektrischen Gleichgewichts auf den beiden Belegungen eines 
Kondensators, wenn diese Belegungen Prismen von polygonaler Basis mit 
parallelen Erzeugenden sind und die Basis sich ins Unendliche erstreckt, 
so daß das Dielektrikum ein einfach zusammenhängender Raum ist. 

Ist das Potential auf der einen Belegung Null, auf der anderen 
konstant — 9,, s0 besteht die Aufgabe darin, das Polygon in der 
2-Ebene — und zwar den Teil, welcher dem Dielektrikum entspricht 
— auf einen Streifen in der y-Ebene abzubilden, der durch die ima- 
ginäre Achse = (0 und eine ihr Parallele = 9, begrenzt ist, so 
daß die eine Grenze des Streifens der Spur der einen Kondensator- 
platte, die andere Grenze der Spur der anderen Platte entspricht. 

Man bewerkstelligt dies?!) durch Abbildung des Polygons in der 
2-Ebene und des Streifens in der. x-Ebene auf den Teil der {-Ebene, 
der durch die reelle Achse und einen unendlich großen Halbkreis auf 
der positiv imaginären Seite der # mit 2= 0 als Zentrum begrenzt ist. 

Den n Ecken des Polygons mögen die Punkte a, <a, <-:-<a, 
auf der reellen Achse der t-Ebene der Reihe nach entsprechen. Dann 
wird durch 
(5) 2-0 fa Ya —d%...(,— )ndt+ C, 
diese Abbildung erreicht. Die « sind durch die Polygonwinkel be- 
stimmt, indem (1 — «,)® resp. («, — 1)x der »* innere Polygon- 
winkel ist, je nachdem der der v*® Ecke in der z-Ebene entsprechende 
Kreisbogen in der t-Ebene, der den Punkt a, von der Halbebene aus- 
schließt, unendlich klein oder unendlich groß ist. C und (, be- 
stimmen sich, indem man willkürlich zwei aufeinanderfolgenden Ecken 
des Polygons zwei aufeinanderfolgende a zuordnet. 

Ebenso läßt sich der Streifen in der y-Ebene auf die #-Halbebene 
abbilden, und zwar durch die Funktion 


(46) nl » ls), 
wo lg für positiv reelle Werte von £ reell zu nehmen ist. 


31) H. A. Schwarz, J. f. Math. 70 (1869), p. 105; E. B. Christoffel, Ann. di 
mat. (2) 1 (1867); 4 (1870), siehe auch Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer 
I A 7b Nr. 20. 


310 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Eliminiert man ? aus (45) und (46), so ist 2 durch y und damit 
auch x durch z ausgedrückt. Der reelle Teil g von x gibt das 
Potential, der imaginäre Teil » durch 
Anwendung von (42) die Elektrizitäts- 
mengen auf der Höheneinheit der Pris- 
menflächen. 

Beispiel. Es mögen sich zwei un- 
endlich lange, unendlich dieke und 
unendlich breite ebene Platten (zwei 
Viertelräume) im Abstande b gegen- 
überstehen, wie Fig. 3 es andeutet, die einen Schnitt senkrecht zur 
Längenerstreckung der Platten darstellt. 

Den Punkten 





b . b 
ie Tee u. cv 
mögen die Punkte 
t=—10 +1 
entsprechen. Die Polygonwinkel in diesen Punkten der z-Ebene sind 
37 37 
& 0, m. 


also ergibt (45) 





ea a EN 


oder bei richtiger ed: von Ü und (, 
4) Er u) 
(45°) und (46) stellen die Lösung des Problems dar. 

Helmholtz??) hat durch die Abbildung zweier geradlinigen Schnitte 
(also einer zweifach zusammenhängenden Fläche), deren Endpunkte 
die Ecken eines Rechtecks bilden, auf einen Kreisring das Problem 
des Plattenkondensators behandelt, dessen Länge sehr groß gegen 


Breite und Plattenabstand ist. Die Endformel ist jedoch nicht richtig; 
sie ist von H. Weber??) verbessert. 


10. Anwendung auf das Schutzgitter”). Eine geschlossene 
metallische Hülle schützt das Innere vor der Einwirkung eines äußeren 


Pr H. Helmholtz, Berl. Ber. (1868), p. 215 oder Wissensch. Abh. 1, p. 157, 
Leipz. 1882. 

33) H. Weber, Partielle Differentialgleichungen 1, p. 356. Eine eingehende 
Untersuchung dieses Falles findet sich auch bei F. Bennecke, Verh. d. Leop. 
Carol. Ak. 51 (1887), p. 253; vgl. auch Maxwell, Treatise 1, Art. 202 und die 
Fig. Tafel 13. 

34) Vgl. Maxwell, Treatise 1, Art. 203 (genauere Behandlung Art. 206) u 


10. Anwendung auf das Schutzgitter. all 


elektrischen Feldes (Nr. 5). Da das Innere dann aber der Beobach- 
tung unzugänglich ist, soll untersucht werden, inwieweit eine Hülle 
sich durch ein Gitter ersetzen läßt, welches aus leitend miteinander 
verbundenen Drähten vom Radius ce und dem Abstand a gebildet ist. 

Befindet sich im Felde ein einziger mit der Elektrizitätsmenge E 
auf der Höheneinheit geladener metallischer Kreiszylinder, so ist das 
Potential symmetrisch um den Mittelpunkt 


E 
9=— ,„_. logr 
d. h. 
E 
(50) = — 3108 2- 


Die Niveauflächen sind mit dem Drahte konzentrische Kreis- 
zylinder. x bleibt in der Nähe des Drahtes endlich, da (50) nur außer- 
halb des Leiters gilt, also |2]>c sein muß. Denken wir uns y aber 
durch (50) auch ins Innere des Drahtes analytisch fortgesetzt, so wird 
x in der Drahtachse logarithmisch unendlich. 

Es mögen sich jetzt die Achsen der Gitterdrähte in den Punkten 
2,= via (v=0,1,2,...) befinden. Wenn c sehr klein gegen a 
ist, d.h. wenn ein Draht auf seinen Nachbardrähten nicht merklich 
durch Influenz die Verteilung ändert, so wird x in der Nähe des bei 
2, befindlichen Drahtes sich durch 


(51) w=— En log (2 — z,) + funet. cont. 
darstellen lassen. 


Die Funktion e = —1 bildet den Punkt z— 0 auf die Punkte 
2, ab und einen die Stelle z—= 0 umgebenden Kreis in eine Reihe die 
Stellen z, umgebende Kurven, die um so eher als Kreise angesehen 
werden können, je kleiner der Radius des abgebildeten Kreises ist. 


2 


Da in der »* Drahtachse Fr — 1) genau ebenso unendlich wird 
wie log (2 — z,), so gilt für das Gitter 


(51’) 1=— = log pr “_ 1) —- funet. cont. 


(51’) ist die Form des Potentials, auch wenn noch beliebige 
andere geladene Körper im Felde sind, von denen nur vorausgesetzt 
wird, daß dieselben in einer gegen den Drahtradius großen Entfernung 
sich befinden. Denn in der Nähe eines Drahtes überwiegt der erste 


die Zeichnung Tafel 14; siehe auch H. Weber, Partielle Differentialgl. 1, p. 441, 
wo das Problem als Strömungsaufgabe behandelt ist. 


312 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Term von (51), und dieser ergiebt ein Potential p, welches auf den 
Drahtoberflächen annähernd konstant ist. Addieren wir zu (51) die 
konjugierte Funktion 9 — Ne so erhalten wir 


2n2 
ee 211 8e cos == 4 Y.| + füne cont. 
Lassen wir in (52) die funct. cont. fort, so wird für 
E 
= +8: 9-— 
und für 
I=— 80:9 =/(; 


d.h. wir haben den Fall, daß parallel der Gitterebene in großer Ent- 
fernung vom Gitter eine leitende Ebene steht, die mit der Dichte 


— . geladen ist, auf der also sämtliche vom Gitter ausgehenden 


Erregungslinien münden (auf dies Problem bezieht sich die Figur bei 
Mazxwell®)). 

Sollen auf beiden Seiten des Gitters, und zwar in großer Ent- 
fernung von demselben, dem Gitter parallel, geladene Ebenen stehen, 


so brauchen wir nur in (52) für funct. cont. — 0,2 + 0, zu sub- 
stituieren. Setzen wir zur Abkürzung — ei = (, so erhalten wir 


Anz 27x 


(2) 9=(bo e® +1—2e® con: — (2 + 0;. 
8 


Die Konstanten C, C,, C, lassen sich durch das Potential V, des 
Gitters, sowie durch die Potentiale V, und V, der beiden dem Gitter 
parallelen Ebenen, die in den Abständen b, und b, zu verschiedenen 
Seiten des Gitters stehen, ausdrücken. 

Da V, das Potential des Gitters sein soll, so ergibt sich, daß für 
z—=0l,y=c+va 
(53) n=20lg2in+,—— +0, 
wenn 

a . TC 
un 72 log 2 ein —u 

Sind 5b, und b, positiv und groß gegen a, so sind die Ebenen 

z=+b, und 2—= — b, Aquipotentialflächen; da sie die Potentiale 


YV, resp. V, und die Dichten ©, und ®, haben sollen, so folgt durch 
Elimination von CO, O,, G, 


(++) NIE N NE, 


5 
= (+. +) - NH) nt 


11. Anwendung auf den Kondensator. 313 


Verbindet man das Gitter leitend mit der Ebene x —=b,, so wird 
V,=I/V, und 
(+ b, +2) = Y, P;. 

Das Gitter wirkt also so, als wenn es nicht vorhanden wäre und 
dafür die Entfernung db, +b, uf, +b, + ar vergrößert wäre. 

11. Anwendung auf den Kondensator. Da Formel (33) in 
Nr. ? nur für die Kapazität eines Plattenkondensators mit ebenen 
Platten gilt, behandelt Olausius”) den Fall, daß zwei gekrümmte 
parallele Leiterflächen, deren Hauptkrümmungsradien in einem be- 
stimmten Punkte R und R’ sind, im Abstande «a sich gegenüber- 
stehen. 

Wählt man die Tangentialebene in einem Punkte der ersten Platte 
zur &y-Ebene, den Berührungspunkt zum Koordinatenursprung und 


die Richtung der Hauptkrümmungslinien zu Koordinatenrichtungen & 
und %, so ist nach dem Taylorschen Natze 


oV o®v\ 2° 
Fa etz 
Setzen wir für 2 den Abstand a der Platten, so folgt 
oV 0’ V\ a? 
Nor as weliuen CV Henn eo Faala 
Schreitet man vom Koordinatenursprung in der Schnittlinie der 


x2-Ebene und der Oberfläche der ersten Platte unendlich wenig vor- 
wärts, so ändert sich Y nicht, also ist 


5) et, 


EAN oe as 
Da aber 
(5), —0 ud de— FF gpde + ee 


wo das obere (untere) Zeichen gilt, wenn die Kurve, in der die xz- 
Ebene die Platte schneidet, vom Raume zwischen den Platten be- 
trachtet, konvex (konkav) ist, so folgt 


DI u 


Also ergibt sich ; 
8) Ge), a 2), 


35) R. Clausius, Mechanische Wärmetheorie 2, p. 39 (2. Aufl., Braun- 
schweig 1879). 


314 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 
ebenso ist 
‚ 0? V ../oR 
> (te, 
Setzt man diese Werte in die Laplace’sche Gleichung ein, so 
erhält man 


RN. ERRRE TS 
en Genre, 
Schließlich substituieren wir diesen Ausdruck für (=) in (55) 
und finden : 


ne] 
Da aber — : (52), gleich der elektrischen Dichte ist, so folgt 
für die Kapazität 
(59) He ae ab (+ Pe = ds, ®). 


Beispiel: Von zwei konzentrischen Zylinderflächen mit den Radien 
R und R-+a und der Höhe h werde durch zwei Ebenen, welche 
durch die Zylinderachse gehen und den Winkel y miteinander bilden, 
ein Teil abgeschnitten. Die Kapazität dieses Teils läßt sich nach dem 
Vorigen berechnen. Es ist nämlich, wenn wir (59) auf die kleinere 
Fläche anwenden, das obere Zeichen bei R, zu wählen und R=R 
zu setzen; ferner ist R,’= x, also finden wir 


e & E60, a 
(60) = Ry+zy-all+;5) 


a 


Denselben Wert hätten wir erhalten durch Anwendung von (59) auf 
die größere Fläche 9,=h(R-+.a)y; dann hätten wir aber das 
negative Zeichen vor R, zu nehmen gehabt. 

Der Wert, den Olausius?”) durch eine sehr umständliche Methode 
für die Kapazität eines Kondensators aus zwei unendlich dünnen 
Kreisplatten ohne Vernachlässigung der modifizierten Verteilung in 
der Nähe der Ränder findet, stimmt mit der Kirchhoffschen Formel 
(s. u.) nicht überein, er ist durch die weitläufigen numerischen Rech- 
nungen gefälscht. 

Mit Hilfe einer bedeutend einfacheren und zuverlässigeren Methode, 
nämlich durch die konforme Abbildung geradliniger Polygone auf- 


36) Maxwell, Art. 102a schließt die Kapazität eines beliebigen Systems 
auch in Grenzwerte ein, wenn der genäherte Verlauf der Erregungslinien be- 
kannt ist. Er benutzt dabei eine Methode, die von Lord Rayleigh, Theory of 
sound 2 (1878), p. 162, 170 herrührt. 

37) R. Clausius, Ann. Phys. Chem. (2) 86 (1852), p. 161. 


11. Anwendung auf den Kondensator. 315 


einander behandelt @. Kirchhoff”) denselben Fall. Da die Methode 
bei ähnlichen Problemen Anwendung finden kann, soll sie kurz 
skizziert. werden. 

Der Plattenradius R soll als unendlich groß, Plattenabstand a 
und Plattendicke b als unendlich klein gegen R angenommen werden, 
so daß höhere Potenzen von a/R und b/R vernachlässigt werden 
können. Kiürchhoff teilt den ganzen Raum in drei Teile: Raum 1 ist 
ein ringförmiger Raum, dessen Oberfläche aus Punkten besteht, deren 
Abstände von den Rändern der Platten unendlich klein gegen R, aber 
unendlich groß gegen a und b sind. Raum 2 ist der noch übrige 
Raum zwischen den Platten, Raum 3 der noch übrige Raum außer- 
halb der Platten. 

Es möge jetzt y die Koordinatenrichtung senkrecht zu den Platten- 
ebenen sein, dann ist im Raume 2 das Potential 


Br. 

=; 
wenn es auf der einen Platte (y= + a/2) gleich + 1 und auf der 
anderen Platte (y—= — a/2)»gleich —1 ist. In Raum 3 ergibt 


sich die Darstellung von p nach Nr. 29 Gl. (131) als Potential einer 
Doppelschicht, deren Begrenzung ein Kreis vom Radius R um den 
Nullpunkt der Ebene y = 0 ist. 

p und seine Differentialquotienten müssen an der Grenze des 
Raumes 1 stetig in die in den Räumen 2 resp. 3 gültigen Werte 
übergehen. Durch diese Bestimmungen, sowie durch die Bedingung, 
daß p in unendlicher Entfernung o vom Kondensator wie 1/o? ver- 
schwinden muß, ist p eindeutig gegeben. Findet man also ein Poten- 
tial, welches allen Bedingungen genügt, so ist es das durch die Auf- 
gabe verlangte. 

Da die Elektrizitätsmengen auf den Teilen der Platten, die zu 
Raum 1 und Raum 3 gehören, nur unendlich klein sind, so vernach- 
lässigt man nur Glieder höherer Ordnung, wenn man in diesen Raum- 
teilen die Bedingungen, denen p zu genügen hat, nur annähernd (mit 
Vernachlässigung von Größen erster Ordnung) erfüllt. Dies gilt nicht 
nur für die Grenzbedingungen, sondern auch für die Differential- 
gleichung selbst, der p zu genügen hat. 

Unter dieser Vernachlässigung hat z.B. in Raum 3 das Potential 
der Doppelschicht auf den rückseitigen Grenzflächen der Platten Werte, 
die nicht genau + 1 resp. — 1 sind, da der Winkel, unter dem die 


38) @. Kirchhoff, Berl. Ber. 1877, p. 144 oder Ges. Abhandl., p. 101, Leipz. 
(1882). Für den speziellen Fall b)/a=0 auch Vorlesungen 3, p. 90. 


316 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Doppelschicht von Punkten dieser Grenzflächen aus erscheint, von 
+ 27 resp. — 2x in Größen erster Ordnung abweicht. 

Unter denselben Vernachlässigungen muß @ in Raum 1 der 
Gleichung genügen 


(61) 





wo <= R—.o endlich ist (eg Abstand des betrachteten Punktes von 
der Kondensatorachse). 

Die Vernachlässigung der höheren Potenzen von a/R und b/R 
kommt also darauf hinaus, daß im Raume 1 die Krümmung der Platten- 
ränder unberücksichtigt bleibt, in Raum 2 die Werte gelten, die be- 
stehen würden, wenn die Elektrizitätsmengen mit gleichförmiger Dichte 
auf den inneren Begrenzungsebenen der Platten verteilt wären und in 
Raum 3 die beiden Belegungen zu einer Doppelschicht mit entsprechend 
unendlich großer Ladung zusammenrückten. 

Wegen (61) ist p der reelle Teil einer Funktion w=gp-+ iv 
von z=x-+yi go muß =--1 sein auf der inneren Grenzfläche der 


einen Kondensatorplatte, d.h. für >; y=+ = ‚ ferner am Rande 
dieser Platte, also für x = 0; z I rn + b, und auf der äußeren 


Grenzfläche dieser Platte, also für 2>0; y= > +. go t=-—l1l 
auf der anderen Platte, also für > 0; y= — =; ferner für 2 = 0; 
— ;—b<y<— 2, ud fra>0; y-——b. Es ist also 


das durch die soeben angegebenen geradlinigen Strecken begrenzte 
Flächenstück der z-Ebene auf den durch die Geraden g=+1 der 
w-Ebene begrenzten Streifen abzubilden. Dies gelingt durch die 
Schwarzsche Methode der konformen Abbildung geradliniger Polygone 
aufeinander (vgl. Nr. 9 und Anm. °)). % gibt ganz ähnlich wie in 
Nr. 9 (42) die Elektrizitätsverteilung auf den Platten an. 

So erhält man als Kapazität 


(62) ar |ı +18 16r(a+b)R I +2) 


_:# ui Ef 7 1) 388), 








38°) N. Bulgakow, Mem. de l’acad. de St. Petersbourg (8) 15 (1904), Nr. 3 
geht von dem Potential zweier kongruenter abgeplatteter Rotationsellipsoide mit 
gemeinsamer Achse aus, auf denen er die Elektrizitätsmenge + e resp. — e so 
verteilt annimmt, wie sie ohne Vorhandensein des anderen Ellipsoids im Gleich- 
gewicht wäre, und konstruiert hierzu die Äquipotentialflächen, von denen er sich 
dann zwei leitend denkt. 


12. Kugel. Ellipsoid. Zylinder. Ring. 317 


Um wenigstens für unendlich dünne Platten (b/a = 0) den Ein- 
fluß der Streuung der Erregungslinien an den Rändern, sowie den 
Einfluß der auf den äußeren Flächen und auf dem Rande selbst 
sitzenden Elektrizität zu veranschaulichen, ist der in (62) mit k 
bezeichnete Ausdruck für verschiedene Werte von a/R in der folgen- 
den Tabelle wiedergegeben. 





a/R | k 
0.0001 | 0.0004 
0.0005 | 0.0017 


0.0010 | 0.0031 
0.0050 | 0.0131 
0.0100 | 0.0239 
Nach demselben Prinzip wird sich auch der Einfluß der Enden 
beim Zylinderkondensator behandeln lassen. Die pro Längeneinheit 
gerechnete Kapazität eines sehr langen Zylinderkondensators ohne 
Berücksichtigung der Streuung an den Enden ergibt sich sofort aus 
der Laplace’schen Gleichung, indem man die Unabhängigkeit des Poten- 
tials von der z- und g-Koordinate benutzt (z parallel der Zylinder- 
achse, g Azimut gegen eine feste Ebene durch die Zylinderachse)°®). 
Kirchhoff?®) hat nach derselben Methode die genaue Theorie des 
Schutzringkondensators gegeben (vgl. Nr. 7). a und b bedeuten- das- 
selbe wie oben, der Radius der ausgeschnittenen Kreisscheibe sei 
R—.c, der innere Radius des Schutzringes R-+-c, also die Schlitz- 
breite 2c. Wird b/c unendlich groß angenommen (sonst wird der 
Ausdruck komplizierter), so wird 
2 
(3) «ar [15 (Btgß + Igeos ß + 4g sin? B)}, 
wo c/a=tgß und 
est) 
Auch Maxwell‘®) hat für den Schutzringkondensator eine Formel 
abgeleitet: 


(64) 











__e(R— eo)’ 2ac € 
sag ma Eee 
wo y genähert nu lg 2 ist. (63) und (64) sind praktisch gleich- 
wertig*'). 
12. Kugel. Ellipsoid. Zylinder. Ring. Die Einführung krumm- 
liniger Koordinaten in die Laplace’sche Differentialgleichung ermög- 


39) Maxwell, Treatise 1, Art. 126. 
40) Maxwell, Treatise 1, Art. 201. 
41) F. Himstedt, Ann. Phys. Chem. (3) 35 (1888), p. 126; 36 (1889), p. 759. 


318 V15. R. @ans. Elektrostatik and Magnetostatik. 


licht ohne weiteres die Lösung vieler Probleme*!*®)., So ergibt sich 
z. B. die Kapazität zweier konzentrischer Kugelschalen von den Radien 


a, und a, als 4m - und für eine einzige Kugel entsprechend 
2 


dem Grenzübergang , = ®©::.-«—=4nea.. 

Auch für Zylinder?) und Ellipsoid *”) lassen sich durch Be- 
nutzung von Zylinder- resp. elliptischen Koordinaten Potential und 
Kapazität bestimmen, durch Spezialisierung des Ellipsoids ergibt sich 
weiterhin die Kreisscheibe *). Für die Dynamik eines kugelförmigen 
Elektrons ist der Satz wichtig“), daß die elektrischen Energieen 
zweier Ellipsoide von gleicher Form, von denen das eine gleichförmig 
über sein Volumen geladen ist, während bei dem anderen die Ver- 
teilung der nämlichen Gesamtladung der Gleichgewichtsverteilung auf 
der Oberfläche des leitenden Ellipsoids entspricht, sich wie 6:5 ver- 
halten. 

Durch die Gleichung 


führe man anstatt x und y die Koordinaten A und o in die Gleichung 
Ap=0 ein. Die Kurvenschar A = const. ist ein Kreisbüschel mit 
imaginären Schnittpunkten und den Punktkreisen y=0, 2 = -IJ; 
© = const. ist der zu A= const. orthogonale Kreisbüschel. Läßt 
man diese Kurvenschar um die y-Achse rotieren, so erhält man ein 
System von Kreisringen, von denen jeder durch einen speziellen Wert 
A = const. gegeben ist. Riemann“) hat durch Benutzung dieser so- 
genannten Ringkoordinaten zuerst die Laplacesche Gleichung integriert. 


41°) Vgl. Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer IT AT b, Nr. 22. 

42) W. Thomson, Reprint, p. 38 u. Phil. Mag. (4) 9 (1855), p. 531 mit An- 
wendungen auf Kabel und Leidener Flaschen; Maxwell, Treatise 1, Art. 129 be- 
handelt ebenfalls konzentrische, unendlich lange Zylinder und das absolute 
Zylinderelektrometer. Wegen des letzteren siehe auch E. Bichat u. R. Blondlot, 
J. de phys. (2) 5 (1886), p. 325. Blavier, J. de phys. (1) 3 (1874), p. 115 u. 151 
gibt die für elektrische Leitungen wichtige Theorie der Potentialverteilung bei 
nicht koaxialen Zylindern. Wegen der Theorie der Leidener Flaschen siehe auch 
Anm. 35. F. Breisig, Elektrotechn. Zeitschr. 19 (1898), p. 772 berechnet die 
Kapazität der Kabel bei Berücksichtigung der leitenden Erde. Kabel, die aus 
mehreren Drähten bestehen, behandelt 7. Levi-Civita, Rend. R. Acc. dei Linc. (5) 
13 (1904), p. 375. 

43) Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer TA 7b, Nr. 15. 

44) Vgl. Anm. 43 und H. Weber, Partielle Differentialgl. 1, p. 326, siehe 
auch R. Gans, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 49 (1903), p. 298; 53 (1906), p- 134. 

45) Vgl. M. Abraham, Ann. Phys. (4) 10 (1903), p. 146. 

46) B. Riemann, Ges. Werke 1876, p. 407; C. Neumann, Theorie der Elek- 
trizitäts- und Wärmeverteilung in einem ahiye Halle 1864. A. Wangerin, Re- 


13. Elektrische Bilder. Zwei Kugeln. 319 


Die Methode der partikulären Lösungen der Gleichung Ip = 0 
in krummlinigen Koordinaten ergibt Entwicklungen des Potentials 
nach Kugelfunktionen bei der Kugel und dem Rotationsellipsoid, nach 
Besselschen Funktionen beim Zylinder, nach Riemannschen P-Funk- 
tionen (hypergeometrischen Funktionen) beim Ring*‘). ©. Neumann **°) 
und Wangerin haben sich weiter mit diesem Problem beschäftigt. 

Durch Entwicklung nach Kugelfunktionen findet Maxwell ‘®) das 
Potential auf einem nahezu kugelförmigen Leiter. 


13. Elektrische Bilder. Zwei Kugeln“**). Spiegelungsmethoden 
zur Befriedigung der Grenzbedingungen bei Randwertaufgaben sind 
auf allen Gebieten der mathematischen Physik für ebene Grenzflächen 
anwendbar, speziell auf dem Gebiete der optischen Erscheinungen, 
von denen der Name der Methode entlehnt ist. In der drei- bez. 
zweidimensionalen Potentialtheorie kann man aber auch an Kugel- 
bez. Zylinderflächen spiegeln, da es eine Besonderheit der Potential- 
gleichung ist, bei der Transformation durch reziproke Radien un- 
geändert zu bleiben; d. h. ist p(r, 9, %) eine Lösung der Gleichung 


Ay = 0 in Kugelkoordinaten, so ist auch = pP (<, ®, ) eine Lösung, 
die für r—= ce denselben Wert annimmt (oder ist p(r, d) eine zwei- 


dimensionale Lösung in Zylinderkoordinaten, so ist auch (& v) 
eine Lösung, die für r=c denselben Wert hat). Gibt die erste 
Lösung das Potential im Innern einer Kugel vom Radius c, so hat 
man in der zweiten Lösung das Potential für den Außenraum, und 
zwar in geschlossener Form, ohne daß man nach Kugelfunktionen 
entwickeln müßte. 

Mit Hilfe dieser Methode hat W. Thomson*”) viele auf die Kugel 
bezügliche Probleme gelöst. Befindet sich z. B. im Punkte p, im 
Innern (Äußern) einer leitenden Kugelschicht vom Radius c, die sich 








duktion der Potentialgleichung für gewisse Rotationskörper auf eine gewöhnliche 
Differentialgleichung (gekrönte Preisschrift), Leipzig 1875, behandelt das Problem 
der Elektrizitätsverteilung auf einem Rotationskörper, dessen Meridian eine Lem- 
niskate ist. Vgl. die historische Bemerkung über das Ringproblem bei H. Weber, 
Partielle Differentialgleichungen 2, p. 406. 

47) Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer, TA 7b, Nr. 14 u. 21, ebenfalls 
Kugelfunktionen Art. Wangerin, II A. 10, sowie E. Heine, Handbuch der Kugel- 
funktionen, Berlin 1878. 

48) Maxwell, Treatise 1, Art. 145 a; s. auch @. L. Dirichlet, Werke 2, 
p- 87, Berlin 1897. 

48°) Siehe auch Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer II A Tb Nr. 16. 

49) W. Thomson, Cambr. and Dubl. Math. J. 1848, 1849, 1850; siehe auch 
Reprint Art. 55 ff.; Art. 208 ff. 


320 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


auf dem Potential Null befindet, die Elektrizitätsmenge e,, so erhält 


man das Potential im Innen-(Außen-)raum der Kugel, indem man im 
harmonischen Pol p, von p, die Elektrizitätsmenge e, = — En an- 


1 
bringt und die Kugel fortdenkt. Hier bedeutet R, den Abstand des 
Punktes », vom Zentrum. In Wirklichkeit rührt das Auftreten des 


\ & 
Zusatzpotentials nen 





e Kar c 
zu -——— von der Influenzelektrizität = — 4 


E71, 4mer, R, 
auf der Oberfläche der Kugel her. In derselben Weise kann man die 


Influenzwirkung eines geladenen Systems auf eine Kugel behandeln °®), 
Wird der Kugelradius unendlich groß, handelt es sich also um 
die Influenz auf einer unendlich ausgedehnten leitenden Ebene, so 
geht die Abbildung durch harmonische Pole (Abbildung dnrch rezi- 
proke Radien, Inversion) in Spiegelung an der Ebene über. Die 
Elektrizitätsmenge im gespiegelten Punkt p, ist dann = — e&. 
Durch wiederholt angewandte Spiegelung?!) ermittelt man z. B. 
das Potential einer punktförmigen Elektrizitätsmenge 1, die sich im 
Punkte p’(z’, y', 2”) im Innern eines rechtwinklig parallelepipedischen 
leitenden Kastens befindet, der auf dem Potential Null ist; die Seiten- 


ebenen seien 
b ce 
+3; y-45 ı=+z 
Man lege senkrecht zu den drei Parallelepipedkanten drei Scharen 
von Ebenen, durch die der ganze Raum in kongruente Parallelepipeda 
eingeteilt wird, von denen eins das gegebene ist. In jedem Spiegel- 


bild von 9° bezüglich dieser Ebenen, welches die Koordinaten 


ka+ (1a; mb+(-Yry; nc+ (— ls 

hat, wo k, m, n die Werte der ganzen Zahlen von — © bis + oo an- 
nehmen, denken wir uns die Elektrizitätsmenge + 1 resp. — 1 an- 
gebracht, je nachdem k + m + n gerade oder ungerade ist. Dann ist 


mr es TI ıftmtn 
(65) 9-2 P> 2 Be)? 


k=—o m=—o n=—ıo 








wo zur Abkürzung 


z (66) R’= (ka -+ (— 1)’ — 2)? + {mb + (— 1yny —y)? 
REEL + [ne + (— 1)r2’ — 2) 2 


50) W. Thomson, Reprint Art. 113; siehe auch Maxwell, Treatise 1, Art. 159. 

51) B. Riemann, Schwere, Elektrizität und Magnetismus p. 84; F. Pockels, 
Gött. Abh. 389 (1893), p. 21 (Preisschrift) wendet dies Prinzip auf zwei Kugeln 
in einem parallelepipedischen Metallkasten an, indem er die Kerchhoffschen 
Formeln für die Attraktion zweier Kugeln benutzt, vgl. Anm. °®), 


13. Elektrische Bilder. Zwei Kugeln. 321 


gesetzt ist. Die Summe (65) ist nur bedingt, d. h. bei geeigneter 
Anordnung der positiven und negativen Glieder, konvergent. Aus 
diesem Grunde empfiehlt sich die folgende Umrechnung. Da 


P>} 
u 


Ir vi 

0 
ist, so erhalten wir mit Vertauschung der Integrations- und Summa- 
tionsfolge die absolut konvergente Darstellung 


(67) = 17 > 2 2 1Jetming-rt, 


Die dreifache Summe zerfällt in das Produkt dreier einfachen 
Summen, deren jede sich durch Thetafunktionen ausdrücken läßt. 

Thomson®**) bestimmt die Elektrizitätsverteilung auf einem kreis- 
förmigen Abschnitt einer ebenen oder sphärischen leitenden Fläche, 
die einer beliebigen Influenz ausgesetzt ist, mit Hilfe der Bildmethode. 

Die Methode der Spiegelung läßt sich erweitern für den Fall, 
daß der halbe Raum die Dielektrizitätskonstante &,, der andere halbe 
Raum die Dielektrizitätskonstante &, hat, und daß sich im ersten 
Halbraum im Punkte », die Elektrizitätsmenge e, befinde. Man 
kann sich im Spiegelbild », von », bezüglich der Grenzebene der 
beiden Halbräume die Elektrizitätsmenge — e, denken. Das Potential 


Sl 








2 F . e e 
in einem Punkte des ersten Halbraums ist —— — —°—; das Po- 
&,4rr, &, 4er, 

. . . . e . . 

tential im zweiten Halbraum ist ——- Die Grenzbedingungen er- 
s4rr, 
geben 
u—E ‚ 28 99 
eG == (, ——: e, = £. 
Ä Yankanti u? I1.+3 ) 


Diese Methode ist nicht ohne weiteres auf eine dielektrische Kugel 
übertragbar. Versucht man dies, so erhält man als Bild eines elek- 
trischen Punktes außerhalb einer Kugel erstens seinen harmonischen 
Pol und zweitens die Verbindungslinie dieses Pols mit dem Zentrum, 
die in bestimmt angebbarer Weise mit Elektrizität belegt ist. O. Neu- 
mann?) hat dies Problem ausführlich behandelt und zwar für den 


51%) W. Thomson, Reprint Art. 231; vgl. auch @. Kirchhoff, Vorlesungen 3, 
p: 57; Lipschitz, J. f. Math. 58, p. 152; 61, p. 1. 

52) Siehe z. B. M. Abraham u. A. Föppl, Theorie der Elektrizität, p. 150, 
Leipzig 1904. Durch mehrfache Spiegelung läßt sich auch die unendlich aus- 
gedehnte dielektrische Platte behandeln, vgl. Th. Lohnstein, Ann. Phys. Chem. 
(3) 44 (1891), p. 164. 

53) ©. Neumann, Hydrodynamische Untersuchungen, Leipzig 1883, p. 279. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 21 


322 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


ganz analogen Fall der magnetischen Bilder. Anstatt seines 4k ist 
durchweg & — 1 zu setzen. 

Das Problem der Elektrtzitätsverteilung auf zwei Kugeln von 
den Radien a, und a,, dem Abstande c der Zentren, die zu den 
Potentialen C, und C, geladen sind, wurde zuerst von Poisson*) 
behandelt, indem er das Potential p sowie die Dichtigkeit der Elek- 
trizität nach Kugelfunktionen entwickelt. 

Das Potential wird symmetrisch um die gemeinsame Zentrale sein, 
welche als Polarachse eingeführt wird. Kennt man das Potential auf 
der Zentralen, so ist es auch in jedem anderen Punkte des Raumes 
bekannt; denn denken wir uns das Potential auf der Zentralen nach 
Potenzen des Abstandes r, vom Zentrum der ersten Kugel entwickelt: 


R, -Iu4, 1) >40; 
vi (=)" <a) 
v—0 


so wird die allgemeine Lösung 


v, -5 . A,P, (cos ®) El 
e 24,5 A,P, (cos ®) 2), na 


v=0 


(68) 


wo P, (cos #) die Kugelfunktion v** Ordnung erster Art bedeutet. 

Der Abstand eines willkürlichen Punktes der Zentralen vom 
Zentrum der ersten Kugel sei x, der Abstand eines Punktes vom 
Zentrum der zweiten Kugel y; das Potential der auf der ersten Kugel 
befindlichen Elektrizität sei f(x), das der auf der zweiten Kugel be- 
findlichen g(y). 


2 
It «<a, und „= - >.a, der harmonische Pol von &, so ist 


fa) = f (“) ‚ wie am Anfang dieser Nr. bemerkt wurde; ebenso 


2 
ist dy) = 0)" 
Sind x und y’ derselbe Punkt innerhalb der ersten Kugel, also 
y=c—ıa, so gilt 
a,® 
(69) fa) +) = ra) + Zerl)  G 


ebenso 


54) Poisson, Mem. de l’inst. 12, 1, p. 1 (1811); 2, p. 163 (1811). 








13. Elektrische Bilder. Zwei Kugeln. 323 





(70) +) tt) % 
Gleichung (70) gilt für jeden Punkt y<a,, also z.B. für „= Fan 


— X ä 
Substituiert man diesen Wert in (70), so kann g aus (69) elimi- 
niert werden; man erhält für —a <e <+a 


fla) — a, G, r( a,°(e — %) )=-4—C “ 


®?— a,?—cx' \?—a,’—cx 











Die Lösung dieser Funktionalgleichung ergibt f(x). Aus f(x) 
erhält man die Dichtigkeit ® für «= a,, nämlich 


(72) PETER ( 2 2), 
und die gesamte Elektrizitätsmenge E, auf der ersten Kugel 
(73) E, = 4nsa,f(0). 


Berühren die beiden Kugeln einander, so verhalten sich die 
Elektrizitätsmengen E, und E, auf denselben wie 


fer) 


(74) Ar? 


fie ) mn 


0 








Ist a, sehr klein gegen a,, so wird 





* E. 2 2 

(14) Em 2 E 

oder die Dichte nach Trennung der beiden Kugeln 
N 
Sa 


Diese Resultate sind für die genaue Diskussion der Coulombschen 
Versuche zur Ermittlung des Ooulombschen Gesetzes von Wichtigkeit, 
da die Influenz der beiden Kugeln aufeinander berücksichtigt werden 
muß. Die Dichtigkeit © an den Punkten der beiden Kugeln, die 
einander am nächsten liegen, ist von Interesse, weil eine solche An- 
ordnung als Funkenmikrometer zur Bestimmung von Funkenpotentialen 
benutzt wird. Schließlich gibt das Problem der Berührung einer 


kleinen und einer großen Kugel einen Anhalt über die Theorie der 
Probekugel°**). 


54°) Eine allgemeinere Behandlung der Theorie des Probekörpers: E. Al- 
mansi, Nuov. Cim. (5) 4 (1902), p. 81, 280; 5 (1903), p. 242. 
21* 


324 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Der Poissonschen Methode schließen sich die Entwicklungen von 
Plana®®) und Kirchhoff°®) an. Die Kürchhoffschen Resultate für die 
Dichtigkeit weichen von denen Poissons und Planas für den Fall 
eines unendlich kleinen Abstandes der beiden Kugeln ab; der Grund 
liegt in unerlaubten Potenzentwicklungen bei letzteren. 

Durch die Methode der elektrischen Bilder hat W. T’homson®”) 
1853 unter Benutzung des „Prinzips der sukzessiven Influenzen“ von 
Murphy°®) das Problem gelöst. (In spezieller Form als ein Verfahren 
sukzessiver Spiegelungen bereits oben bei dem Problem des recht- 
eckigen Kastens benutzt.) 

Das Murphysche Prinzip behandelt ganz allgemein die Influenz 
zweier Leiter, von denen der eine auf dem Potential 1, der zweite 
auf dem Potential Null ist, nach folgendem konvergenten Verfahren °®). 
Man denke den zweiten Leiter fort und lade den ersten mit der Elek- 
trizitätsmenge e,, so daß auf ihm das Potential 1 entsteht. Diese 
Verteilung denke man sich nun fixiert; sie influenziere auf dem ab- 
geleiteten Leiter 2 die Ladungsverteilung e,, die man sich wiederum 
fest denkt, und berechne die durch e, hervorgerufene Influenzladung 
e, auf dem ersten Leiter, während dieser abgeleitet gedacht wird, usf.; 
dann ist 9 +&%-+ +: die Ladung des ersten, eg +&, +: - die 
des zweiten Leiters; en sie genügen allen an sie gestellten Bedin- 
gungen. Bei hinreich nnäe Entfernung der beiden Körper wird das 
Verfahren auch numerisch gut brauchbar sein. 

Da nun eine zum Potential ©, geladene Kugel nach außen so 





wirkt, als ob die Menge 0, = im Zentrum konzentriert wäre, 


so wird ihre fixiert gedachte Verteilung auf die zweite abgeleitete 
Kugel so wirken, als ob in dem Bild des Zentrums der ersten Kugel 





bezüglich der zweiten die Menge — e, = = — 4nel, ru vorhanden 


wäre, während die zweite Kugel fehlt. Von diesem Bild kann man 
wieder das Bild bezüglich der ersten Kugel konstruieren usf. Die 


55) Plana, Mem. della r. Acc. di Torino 7 (1845). 

56) @. Kirchhoff, J. f. Math. 59 (1861), p. 89 oder Ges. Abhandlungen p. 78; 
sehr konvergente Reihen gibt er Ann. Phys. Chem, (3) 27 (1887), p. 673 oder 
Ges. Abhandlungen Nachtrag, p. 131; vgl. auch R. A. Herman, Quaterly Journ. 
of Math. 22 (1887), p. 204. E.W. Barnes, ibid. 35 (1904), p. 155 löst das 
Problem mit Hilfe von I-Funktionen. 

57) W. Thomson, Reprint Art. 128 und Phil. Mag. 4, 5, p. 287 (1853). 

58) R. Murphy, Elementary principles of the theories of electricity, heat 
and molecular actions, Cambridge 1833, p. 93. Wegen Konvergenzbeweise siehe 
Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer IL A Tb Nr. 28 besonders Anm. 183; ferner 
A. Korn, Lehrbuch der Potentialtheorie, p. 354. 


14. Ungeladene Dielektrika im Felde. 325 


Summierung der Wirkung sämtlicher so konstruierten Elektrizitäts- 
mengen gibt die Verteilung, wenn die erste Kugel auf dem Potential 
C,, die zweite auf dem Potential Null sich befindet. Dazu füge man 
in derselben Weise die Wirkung hinzu, die sich durch Ladung der 
zweiten Kugel zum Potential ©, und Ableitung der ersten Kugel er- 
gibt. Bei Thomson finden sich auch numerische Tabellen über Kapa- 
zität und Anziehungskraft zweier Kugeln”). 

Die Methode der elektrischen Bilder zur Lösung des Zweikugel- 
problems wurde von F. Neumann‘) und Riemann®') aufgegriffen. 
Liowville®®) hat, angeregt durch die T’homsonsche Abbildungsmethode 
durch reziproke Radien, die Aufgabe darauf zurückgeführt, zwei sich 
ausschließende Kugeln als konzentrische abzubilden. 

Schließlich sei noch die Methode der bipolaren Koordinaten er- 
wähnt. Läßt man die in Nr. 12 erwähnte Kurvenschar um die 
%-Achse rotieren, so werden die Flächen A = const. Kugeln. Zwei 
Werten von A entsprechen die betrachteten Kugeloberflächen; diese 
Koordinaten stammen von T’homson‘®), die Methode wurde von 
©. Neumann®) weiter ausgearbeitet und z. B. auf die Influenz einer 
punktförmigen Date: auf zwei abgeleitete Kugeln an- 
gewandt ®*?). 


B. Die Dielektrizitätskonstante hat in verschiedenen Teilen des 
Raumes verschiedene Werte. 


14. Ungeladene Dielektrika im Felde. Leiter als Grenzfall 
des Dielektrikums. Kondensator mit geschichtetem Dielektrikum. 
Wir betrachteten bisher den Fall, daß das Dielektrikum zwischen den 
Leitern homogen war, also & im ganzen Raume eine und dieselbe 
Konstante war, jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie das Feld ver- 
ändert wird, wenn in ein gegebenes Feld, dessen Dielektrikum die 
Dielektrizitätskonstante 1 hat, ein ungeladener homogener Körper der 


59) W. Thomson, Reprint Art. 142. 

60) F. Neumann, Vorlesungen über die Theorie des Potentials und der 
Kugelfunktionen, p. 277, Leipzig 1887 (Vorlesungen vom Winter 1856/57). 

61) B. Riemann, Schwere, Elektrizität und Magnetismus, Hannover 1880; 
2. Ausgabe, p. 189 (Vorlesungen vom Sommer 1861). 

62) J. Liowville, in Thomson, Reprint Art. 229 ff. 

63) W. Thomson, Reprint Art. 211, 212. 

64) ©. Neumann, Stationärer Temperaturzustand, Halle 1862; Hydrodyna- 
mische Untersuchungen, Leipzig 1883, p. 283. 

64*) Eine Zusammenstellung der Resultate Poissons und eine eingehende 
Behandlung zweier sich berührender Kugeln gibt J. B. Goebel, J. f. Math. 124 
(1902), p. 157; 125 (1908), p. 267. 


326 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Dielektrizitätskonstante & gebracht wird. Dabei soll die Elektrizitäts- 
verteilung des ursprünglichen Feldes ungeändert bleiben. Im Innern 
des Körpers gilt: 


(75) dvs&E=e:dvi&—=ß(, 
an seiner Oberfläche 
(76) E,* N eG, KR) 0, 


wo die Indizes « und ö die äußere resp. innere Seite der Oberfläche 
andeuten. 

Aus (75) folgt mit Berücksichtigung von (76) 

(77) fr Eds; — [sE,'do — [&,°do 0, 
Wird & unendlich groß, so folgt aus (76) 

(77T) E—=0 

und aus (77) zusammen mit (75) (vgl. Nr. 4) 

(78) G—=0. 

(77) und (78) stimmen aber überein mit den Bedingungen, 
welchen das Feld eines an die Stelle unseres Nichtleiters gebrachten 
ungeladenen Leiters genügt. Genau das Analoge, wie bei der Be- 
stimmung des Feldes, gilt auch bei den ponderomotorischen Kräften 
(vgl. Formel (95)). Der Fall des Leiters ist also in dem allgemeineren 
des Dielektrikums rechnerisch mit enthalten, nämlich für = x. 
Dies ist jedoch nur eine Rechenregel und sagt nichts über die Dielek- 
trizitätskonstante der Leiter aus; letztere ist durch elektrostatische 
Versuche nicht zu ermitteln, da im Leiter stets das Feld Null ist. 

Die allgemeinen Bedingungen im elektrostatischen Felde ergeben 
die Kapazität eines Plattenkondensators mit » planparallelen Schichten 
der Dicke a, und der Dielektrizitätskonstante e,. 

Da das elektrische Feld aus Symmetriegründen gleichförmig und 
parallel der Plattennormale ist, so folgt aus (I) für die Potential- 
differenz der Platten 


ar #Fı _ D5,a,, 


v—i 
und da keine der dielektrischen Schichten geladen ist, folgt für die 
Dichte auf den Platten 


= —- = =, —=.--- 86€, —=.-- €, (vgl. IV und (17). 
Ist die Plattenfläche 6, so berechnet sich die Kapazität « zu 


15. Influenz. Wahre und freie Elektrizität. 327 


Man kann also durch Veränderung eines Abstandes a, eine 
gleichzeitige Änderung der Dielektrizitätskonstante einer Schicht hin- 
sichtlich ihres Einflusses auf die Kapazität kompensieren; so sind 
Dielektrizitätskonstanten bestimmt worden ®°). 

Führt man die Elektrizitätsmenge e der Belegung ein, so erhält 
man in der Formel F,, — V, = ein Analogon zum Ohmschen 
Gesetz). & nennt man deshalb auch gelegentlich dielektrische Leit- 


fähigkeit, .. dielektrischen Widerstand. 


15. Infiuenz. Wahre und freie Elektrizität. Bevor wir zur 
Lösung bestimmter Probleme übergehen, wollen wir einige allgemeine 
Fragen erledigen, die uns zeigen, wie die Vor- Maxwellsche Theorie 
diese Fälle im Sinne einer Fernwirkung behandelt hat. 

Es fragt sich, wie das Feld &, geändert wird, wenn statt Luft 
(& = 1) ein Körper aus anderem Material der Dielektrizitätskonstante & 
ins Feld gebracht wird, während die Elektrizitätsverteilung oe, o, e 
unverändert bleibt; dann ist 
(79) dvse&E —=div&, =o 
und für jede Leiteroberfläche 
(80) Se, —[&,,de. 

Für das Zusatzfeld © — € — €, folgt aus (79) 

(81) diıv=dv& — dv&, = — divr(e — I)E 


und ebenso aus (80) 


5) S®,ao —[E,as — [Ede = — fe — 1) E,do. 


Setzen wir 
(83) — div e -DE=ü, —fle — Ed =e, 
so folgt 
(84) div®= o/, f G,do = e'. 


& genügt denselben allgemeinen Bedingungen wie & und E,, ist 
also durch die 0‘, ®', e' eindeutig gegeben. Diese Werte sind wegen 
(83) zwar erst bekannt, wenn € gefunden, also die Aufgabe gelöst 
ist, aber die Form von (84) zeigt, daß © als das Feld gewisser ge- 





65) Gordon, Phil. Trans. 1879, p. 417; Donle, Ann. Phys. Chem. (3) 40 (1890), 
p- 307; Winkelmann, Ann. Phys. Chem. (3) 38 (1889), p. 161; 40 (1890), p. 732; 
E. Cohn, Ann. Phys. Chem. (3) 46 (1892), p. 135. 

66) P. Drude, Physik des Äthers, Stuttgart 1894, p. 274 und Ann. Phys. 
Chem. (3) 57 (1896), p. 223. 


328 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


dachter Elektrizitätsmengen aufgefaßt werden kann, die nur dort sich 
befinden, wo der dielektrische Körper in die Luft eingebettet ist 
(#1). 

Nach Hertz”) heißen die oe, , e die wahren, die o', @', e’ die 
induzierten, die oe +0, © + wo, e+ e die freien Dichten resp. Elek- 
trizitätsmengen. 


€, hat das Potential (vgl. Nr. 4 (15)) 


1 
@) ie 
Wegen (84) lautet das Zusatzpotential 


. 1 i 
(86) a Gr —, 
also 
1 R 
(87) Peptr-ur 


d. h. man kann bei beliebigen dielektrischen Körpern im ganzen Felde 
auf Grund der vor-Faradayschen Anschauungen das Potential nach 
dem Coulombschen Gesetz berechnen, wenn man statt der wahren 
Elektrizitätsmengen die freien wählt. Während aber die wahre Elek- 
trizität an der Materie haftet, tut dies die freie nicht, sie hängt vom 
Felde selbst ab. 


16. Infiuenz auf Ellipsoid und Kugel. Clausius-Mossottische 
Theorie. Wird ein Ellipsoid der Dielektrizitätskonstante & in ein 
gleichförmiges Feld &, der Dielektrizitätskonstante 1 gebracht, so 
wird das Zusatzpotential %) 


E,, cos nz E,,cosny E,, C8n2\ do 
(88) Frau 1 Em 7 + BEE) "NAzxr ’ 
—— +4 = +B ag +0 


e—1 € € 














das Integral über die Ellipsoidoberfläche erstreckt. Hier bedeutet r 
den Abstand des Oberflächenelements do vom Aufpunkt; es ist 


67) H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, 
Leipzig 1892, p. 225 u. 236; Ann. Phys. Chem. (3) 40 (1890), p. 577. 

68) Vgl. Poisson, M&m. de le ac. de France 5 (1824), p. 492; vgl. auch Max- 
well, Treatise 2, Art. 437 ff. F. Neumann löst das Problem für Rotations- 
ellipsoide Journ. f. Math. 37 (1848), p. 21. Die Induktion in einem unendlich 
langen Kreiszylinder behandelt @. Kirchhoff Journ. f. Math. 48 (1854), p. 348 und 
. Ges. Abhandl., p. 193. Das für den Magnetismus wichtige Problem der Induktion 
in einem endlichen Kreiszylinder durch ein gleichförmiges Feld parallel der 
Achse hat @. Green gelöst Essay, p. 66, doch ist der Gültigkeitsbereich seiner 
Formel auf paramagnetische Körper beschränkt (vgl. Maxwell, Treatise 2, Art. 439). 


16. Influenz auf Ellipsoid und Kugel. Clausius-Mossottische Theorie. 329 


© 


da 


A= Habe B= abe @-I%2’ 


di 
@+HL 
0 ö 
C=tabe | ur, L=-VaF)@HHNCH 
FA I TaryE Ä 
0 
Im Innern des Ellipsoides ist das Feld homogen, man hat nämlich 
für die Komponenten der Feldstärke die konstanten Werte 
Er Ey j &, 
8) &,— i+@e—-94’ &,=i7e-78 E, Ba BRITEN TER 
Ist das Ellipsoid eine Kugel, so wird «&=b=c der Radius 
und A=B=(-—=+4H, dann ist im Innern 








‚ 3€ 
(89') e=- Tu 
Im Außenraum lautet das Zusatzpotential 
u 
(0) FH), 


wo t der Radiusvektor vom Kugelzentrum zum Aufpunkt ist. Ist die 
Kugel leitend, so wird (vgl. Nr. 14) 


(90) * Fogan cr (E&, 2). 


Die Kugel ist durch den Einfluß des äußeren Feldes polarisiert. 
Clausius®®) nahm wie Mossotti an, daß ein Dielektrikum aus solchen 
kleinen polarisierbaren leitenden Kugeln bestände, die voneinander 
isoliert seien. Diese Kugeln denkt er sich regellos im Körper verteilt; 


sie rufen je nach Konzentration und Größe verschiedene Dielek- 


trizitätskonstanten hervor. a®(ge — 1)/(e + 1) = n v,(e — D)/(e + 2) 


ist ein Maß für die Störung, welche eine dielektrische Kugel ausübt, 
wenn v, das Volumen der Kugel ist; 2 v, ist die Störung, welche 
die leitenden Kugeln vom Gesamtvolumen »v, hervorrufen. Sollen diese 
Störungen einander gleich sein, so muß v,:v,—= (e — 1)/(e + 2) sein. 
Eine strenge Ableitung dieser Beziehung für einen beliebig geformten 
Körper aus (90) gibt Poincare.”) Da v, als Volumen der leitend 
gedachten Moleküle unveränderlich ist, so folgt 


(91) 5 7 = const., 


69) R. Clausius, Mech. Wärmetheorie 2, p. 62, Braunschweig 1879. 

70) Vgl. H. Poincare, Electrieit6 et optique 1, p. 48, Paris 1890; siehe 
auch @. Adler, Wien Ber. 99?* (1890), p. 1044 und den Art. über Elektronen- 
theorie von H. A. Lorentz V 14 Nr. 43 u. 47. 


330 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


wo d die mit Druck und Temperatur veränderliche Dichte des dielek- 
trischen Körpers bedeutet. (91) ist unter dem Namen der Lorentz- 
Lorenz’schen Gleichung bekannt‘), Bei Gasen ist & nahezu =1, 
also &+2 nahezu —=3, (91) ergibt also für Gase Proportionalität 
von &— 1 mit dem Druck "?). 


17. Hohlkugel und Hohlzylinder im gleichförmigen Feld. Von 
Wichtigkeit, wenigstens für den analogen Fall des Magnetismus (Nr. 23) 
ist das Problem der Hohlkugel im gleichförmigen Felde, weil man 
im Innern des Hohlkörpers von hoher Dielektrizitätskonstante (Per- 
meabilität) ein geschwächtes gleichförmiges Feld erhält. 

Wir unterscheiden die Potentiale 9,, 95, 95, die für r<a, 
a<r<a,,r>a, gültig sind, wo a, und a, die Radien der Hohl- 
kugel sind. 

Da die Laplacesche Differentialgleichung überall gültig ist, hat 
p überall die Form 


9— 2 P,(e0s 8) (A, + B,r-e+2). 
n=0 


Die Konstanten bestimmen sich aus den Bedingungen, daß p 
überall endlich und stetig ist, daß für r = 


en E,.% 3 &,,Y ERS &,.2 


ist, wo die Konstanten E,,, E,,, C,. die Komponenten des ungestörten 
Feldes sind, und daß für 











\ og, 09, 

Fr —— a, PER Are Dr F- — — ar 
öp PK) 

Vz Ay 2 € 1% y 


Die Durchrechnung ergibt für das Innere”): 

1 
(92) & == & F} al 
£ 143° (1-5) 


3 
A, 





Im Innern bleibt das Feld also gleichförmig. Wird = w, so 
wird E=(, wir haben die Schutzwirkung leitender Hüllen (vgl. Nr. 5). 
Für großes e wird das Feld sehr geschwächt. 

Für den unendlich langen Hohlzylinder, dessen Achse senkrecht 
zum Feld gerichtet ist, erhalten wir auf dieselbe Weise 


71) Eine optische Ableitung geben R. Lorenz, Ann. Phys. Chem. (3) 11 (1880), 
p. 77; 20 (1883), p. 19 und H. A. Lorentz, Ann. Phys. Chem. (3) 9 (1880), p 642. 

72) L. Boltzmann, Wien Ber. 69? (1874), p. 79. 

73) Maxwell, Treatise 2, Art. 431. 


18. Spannungen und Kräfte. 19. Kräfte auf .starre Körper. 331 





(93) E=E, 





Ein allgemeines Näherungsverfahren, welches bei einem beliebigen 
Körper in einem beliebigen Felde anwendbar ist, wird in Nr. 25 für 
den analogen magnetischen Fall entwickelt. 


18. Spannungen und Kräfte. Aus der Abnahme der elektrischen 
Energie bei einer virtuellen Verschiebung ergeben sich die Kräfte 
elektrischen Ursprunges; sie lassen sich durch Spannungen aus- 
drücken "*). 

Aus diesen erhält man die auf die Volumeinheit wirkende Kraft 

(94) f=o& —4C grade. 
(94) zeigt, daß die Feldstärke € nur im homogenen Medium die Kraft 
auf die Elektrizitätsmenge 1 darstellt; in inhomogenen Medien kommt 
noch eine Kraft hinzu, die die Richtung des stärksten Gefälles der 
Dielektrizitätskonstanten hat. 

An der Grenze eines Dielektrikums gegen Luft findet ein normal 
nach außen wirkender Zug statt 


(95) —elı -°T.00(E, n)), 


wo € die Feldstärke außerhalb des Körpers ist. 

Ist & nahezu —=1, so ist der Zug von der Richtung, in der die 
Erregungslinien die Oberfläche treffen, unabhängig. Durch hydro- 
statischen Druck kann man die elektrischen Druckkräfte an der 
Grenze einer Flüssigkeit gegen ein Gas kompensieren und so & be- 
stimmen ”®). Ist die Umgebung nicht Luft, sondern ein Medium der 
Dielektrizitätskonstante &,, so ist & in (95) durch e/s, zu ersetzen und 
der ganze Ausdruck mit &, zu multiplizieren. 


19. Kräfte auf starre Körper’®). Handelt es sich um die Kräfte 
auf starre Körper, so dürfen wir zu (94) die Kraft 
(96) f=0C+ 14€’ grade 
addieren, weil diese bei der Integration über den ganzen Körper keinen 
Beitrag liefert (o’ ist durch (82) definiert). Es folgt 





74) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 23; Maxwell, 
Treatise 1, Art. 105; H. Hertz, Ann. Phys. Chem. (3) 41 (1890), p. 396; Faraday, 
Experimental researches in electrieity, p. 409, London 1839. Näheres über diese 
Spannungen und die mit denselben zusammenhängenden Erscheinungen der so- 
genannten Elektrostriktion findet man in dem Art. von F\. Pockels V 16. 

75) @. Quincke, Ann. Phys. Chem. (3) 19 (1883), p. 705. 

76) Vgl. E. Cohn, Elm. Feld, p. 99. 


332 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 
(97) [=(e+ mE, 


wo 
e+o=divr®. 


€ bedeutet also die Kraft auf die freie Elektrizitätsmenge 1. In 
der Elektronentheorie ?”) ist, wie in der ursprünglichen Vor- Maxwell- 
schen Theorie, die Dielektrizitätskonstante kein Grundbegriff, sondern 
sie wird durch das Verhalten der induzierten Ladungen (verschobenen 
Elektrizitätsmengen) erklärt; dort ist die Feldstärke in der Tat die 
Kraft auf die freie Elektrizitätsmenge 1, so daß das Coulombsche 
Gesetz in der Elektrostatik der Elektronentheorie mit e=1 aus- 
nahmslos und allgemein gilt. 

Ist der starre Körper ungeladen, so folgt aus (94) 


. Te—4d gnd(e — 1); 
wir führen anstatt grad & in (94) das damit identische grad (e— 1) 
ein, weil auf der Oberfläche des Körpers, d. h. außerhalb der Grenz- 
schicht, &<— 1=0 ist, und weil daher in der durch partielle Inte- 
gration erhaltenen Gesamtkraft 


(98) So K 1 grad &A8 


das hinzutretende Öberflächenintegral verschwindet. Ebenso ist das 
Drehmoment 


e—1 
(98°) N - [5° [rt - grad E?]dS. 
Ist &— 1 sehr klein, so kann man €,? anstatt €? setzen und 


erhält 


(09) 3 (3 ma ssas. 





Ein dielektrischer Körper wird also nach Punkten größter Feld- 
stärke getrieben "®). 

Ist die Energie des Feldes W, und nennen wir W, die Energie, 
die unter gleichen Umständen vorhanden wäre, wenn der dielektrische 
Körper durch Luft ersetzt würde, so würde bei einer virtuellen Ver- 
schiebung des Körpers d6W,= 0 sein, weil in diesem Falle durch die 
Verschiebung nichts an dem Felde geändert würde; daaber dA= — $W 
ist, so gilt auch ®) 

77) Vgl. Elektronentheorie Art. H. A. Lorentz V 14, Nr. 2 u. 3. 

78) Vgl. das magnetische Analogon bei W. Thomson, Reprint Art. 670. 


79) Vgl. Cohn, Elm. Feld, p. 85. Wichtig ist, daß in (100) € nur in $ be- 
kannt zu sein braucht. 


19. Kräfte auf starre Körper. 333 





(100) 94=- —8(W—-W)— 8 |!T!(E- E)d8. 


Für das Ellipsoid vom Volumen $ im gleichförmigen Felde folgt 
hieraus (vgl. (89) 
&, E32, ). 


e—1 
(101) 0A=6 3 ler et Pay er ea 1+(.—1)C 


Ist das Ellipsoid um die vertikale c-Achse drehbar, und bildet 
die a-Achse mit der Horizontalkomponente €, den Winkel ®#, so ist 
das Drehmoment zu wachsenden # 


[4 . 1 1 
(101) N —=4E,?S sin “ n Aerig Y 











Pe PERS U 


Mit a>b wird A<B<1 (vgl. Nr. 16), d.h. das Ellipsoid stellt 
sich im gleichförmigen Felde auf jeden Fall mit seiner großen Achse in 
die Feldrichtung. Ist die Umgebung nicht Luft, sondern hat sie die 
Dielektrizitätskonstante &,, so ist (101’) mit s, zu multiplizieren und 
s durch e/s, zu ersetzen; der soeben ausgesprochene Satz gilt, gleich- 
gültig ob 2 &, ist. 

Ist e—1 klein, so folgt aus (100) die translatorische Kraft 
(vgl. (99) 








Im Falle der Kugel wird aus Ba 


= 48 -— sus = grad ©; 


ist die Kugel leitend, so hat man: 
% = 38 grad &2. 


Durch Vergleich von % und % hat Boltzmann®®) an festen Körpern 
& bestimmt. (101”) wurde von Graetz und Fomm®!) zur Bestimmung 
von Dielektrizitätskonstanten verwendet. 

Ein Feld, welches von zwei gleichen, aber entgegengesetzten 
Elektrizitätsmengen, die auf der X-Achse gleich weit vom Nullpunkt 
entfernt sind, herrührt, hat in der Nähe des Nullpunkts die Form?) 


&,? = const. + a?2? — b!(y? + 2). 


80) L. Boltzmann, Wien. Ber. 68° (1873), p. 81; 70? (1874), p. 307; 
Ann. Phys. Chem. (2) 153 (1874), p. 525. 

81) L. Graetz und L. Fomm, Ann. Phys. Chem. (3) 53 (1894), p. 85; 54 (1895), 
p- 626, ferner L. Lombardi, Nuov. Cim. (4) 2 (1895), p. 360 und Mem. d. Ace. di 
Torino (2) 45 (1895), p. 171. 

82) W. Thomson, Reprint Art. 670. 


334 Vı5. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Bringt man in dieses Feld ein dünnes Stäbchen von kleinem 
& — 1, welches um den Coordinatenursprung in der xy-Ebene drehbar 
ist, so folgt aus (98) 


—1,, 3 
(102) N— — —— (a? +9) sin29.K, 





wo K das Trägheitsmoment bezüglich der Drehungsachse ist. Das 
Stäbehen sucht sich also in Richtung des Feldes (9 = 0) zu stellen. 
Setzt man in (102) e/s, statt e und multipliziert mit &, (&, Diel. 
Const. der Umgebung), so folgt, daß es sich senkrecht zum Felde stellt, 
wenn &<(&,. Diese Tendenz ist eine Eigenschaft der bestimmten Feld- 
anordnung, nicht allgemein gültig, wie aus der Bemerkung nach (101’) 
folgt®®). Das Drehmoment läßt sich zur Bestimmung von & benutzen. 
Voraussetzung ist: & nahezu 1. | 


20. Elektromotorische Kräfte. Sind Inhomogenitäten in den 
Leitern vorhanden, z. B. in der Grenzschicht zweier aneinander 
stoßender verschiedener Leiter, oder Temperaturgefälle in einem sonst 


homogenen Leiter, so muß man eine eingeprägte elektromotorische 
Kraft &” annehmen. Es ist dann 


I. rrt&E=0 
(5°) 3=0o(E + €), 
also in der Elektrostatik 
(11’) E = — &* 
in Leitern. 


Ferner gelten (3) und (8). Damit (11’) mit I. verträglich ist, 
d. h. damit ein statischer Zustand existieren kann, muß 


(103) rot &* = 0. 
sein. Aus (103) folgt 
(104) S as = 0 


für jede geschlossene Kurve. (104) drückt das Gesetz der Voltaschen 
Spannungsreihe aus. 


Die Energie bleibt W, = F 5 E?dS, aber jetzt befindet sie sich 


zum Teil im Innern der Leiter, wo wegen (11”) € nicht mehr ver- 


schwindet. Dieser Teil der Energie beträgt 7 3 E?dS, die gesamte 
Energie lautet also 

4 sEras+ } s@as, 

S; . ; 


88) Vgl. E. Cohn, Elm. Feld, p. 118. 


21. Kristalle. 335 


wo 8, den Innenraum, 5, den Außenraum der Leiter bedeutet. Da 
wir aus der Abnahme der Energie die Kräfte erhalten, so wird elek- 
trische Arbeit bei Deformation der Leiter geleistet, und diese Kräfte 
zusammen mit den übrigen Kräften (z. B. elastischen Kräften und 
Kapillarkräften) bestimmen das Gleichgewicht. 

Auf Grund dieser Darstellung läßt sich der Voltasche Funda- 
mentalversuch behandeln, ferner die T’homsonsche Methode°*) zur 
Messung der elektrischen Differenz von Metallen. Die Resultate beider 
Methoden stimmen miteinander überein, aber sie stimmen nicht mit den 
Potentialdifferenzen aus Messungen der Peltierschen Wärme, die viel 
geringere elektrische Differenzen gibt; daher ist es wahrscheinlich, 
daß der größte Teil der elektrischen Differenz bei den Versuchen von 
Volta und Thomson in der Gasschicht an der Grenze Metall—Dielektrikum 
zu suchen ist. Von der letzteren Annahme ausgehend kann man 
die Erscheinungen darstellen, wenn man anstatt (3) 


(3) D-s(E+ «a 


einführt, also eine im inhomogenen Dielektrikum wirksame elektro- 
motorische Kraft, wie Lorentz das getan hat). 


21. Kristalle. In Kristallen bleibt die Form der Mazxwellschen 
Gleichungen erhalten; nur gilt anstatt (3) die kompliziertere Be- 
ziehung 


(8°) D — (e)E.®) 


Genau wie sich aus (1) und (2) W, = S rn E?’dS ergab (Nr. 2), 
gilt allgemein: 


(105) w—fasf Cad 
0 


Ist das System konservativ, d. h. durch den augenblicklichen 
Wert von € bestimmt, so folgt &,, = &,,°") und 


(105°) W,— [H(E-D)a8. 


Durch die & ist ein Ellipsoid bestimmt, dessen Hauptachsen zu 
Koordinatenachsen gewählt werden sollen; dann geht (3”) über in 


84) W. Thomson, Reprint Art. 400 und Phil. Mag. (6) 46 (1898), p. 82. 

85) Elektronentheorie Art. H. A. Lorentz V 14, Nr. 44. Wichtig ist die 
Erklärung der Kontaktpotentialdifferenz auf elektronentheoretischer Grundlage: 
H. A. Lorentz, Amsterdam Akad. v. Wet. (1905), p. 556. 

86) Wegen der Bezeichnungsweise siehe Maxwellsche Theorie Art. H. A. 
Lorentz V 13, Nr. 3. 

87) Vgl. Maxwell, Treatise 1, Art. 101f. 


336 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


(3”) D, N E;; D, r & E,; D, _ &; E,. 

Es existiert auch hier ein Potential 9.°”*) Anstatt (100) in 
Nr. 19 gilt 
(106) 841 = [a DEE. +E—DE,E,+&—DE,E,}08. 


Wird eine anisotrope Kugel in ein gleichförmiges Feld €, ge- 
bracht, das parallel der x-Achse gerichtet ist, so ist 


(10%) = ie rg &,. (vgl. Nr. 16 (89), 
also die Kraft 
(108) = i..5 ee We (vi :Nr. A039), 


Eine um die z-Achse drehbare Kugel erfährt in einem Felde &,, 
dessen horizontale Komponente &,, den Winkel $ mit der x-Achse 
bildet, wegen (106) und (107) das Drehmoment?®*) 


62,8 sin 2%. 





kg I FR 


22. Rückstand. Ob es dielektrischen Rückstand, der analog der 
magnetischen Hysteresis ist (Nr. 32), in reinen Materialien überhaupt 
gibt, ist nicht absolut sicher. Die Versuche widersprechen sich bei 
homogenen Körpern®®); dagegen hat Maxwell”) gezeigt, daß bei in- 
homogenen Körpern, in denen das Verhältnis der Dielektrizitäts- 
konstante zur Leitfähigkeit &/o Ortsfunktion ist, Rückstandserschei- 
nungen auftreten müssen. Nimmt man an, daß die Erregung zur 
Zeit # proportional dem Wert der Feldstärke zu einer etwas früheren 
Zeit ist, so muß bei Schwingungen eines Körpers im Felde eine 
Dämpfung infolge der dielektrischen Hysteresis auftreten”). 


87°) J. Curie, Ann. chim. phys. (6) 17 (1889), p. 385 bestimmte Dielek- 
trizitätskonstanten von Kristallen, indem er senkrecht zu den Hauptachsen ge- 
schnittene Kristallplatten zwischen die Belegungen eines Kondensators brachte. 

88) L. Boltzmann, Wien. Ber. 70°? (1874), p. 342. Romich u. Nowak, 
ibid. p. 380. 

88*) R. Fellinger, Ann. Phys. (4) 7 (1902), p. 333 bestimmt aus dem Dreh- 
moment von Kristallellipsoiden im homogenen Felde Dielektrizitätskonstanten; 
die Methode ist der in Anm. 81) erwähnten analog. Ebenso Borel, Diss. 
Geneve 1893. 

89) Siehe die Literaturzusammenstellung bei L. Graetz, Winkelmanns Hand- 
buch d. Physik 4!, p. 157. 

90) Maxwell, Treatise 1, Art. 328. 

91) W. Schaufelberger, Ann. Phys. Chem. (3) 67 (1899), p. 307; F'. Beaulard, 
Eclairage &leetrique 37 (1903), p. 404. 


23. Unterschiede der magmetostatischen und elektrostatischen Probleme. 337 


II. Magnetostatik. 


23. Unterschiede der magnetostatischen und elektrostatischen. 
Probleme. In Nr. 3 sind die Grundgleichungen der Magnetostatik 
zusammengestellt, in Nr. 4 ist der Eindeutigkeitsbeweis erbracht, in 
Nr. 5 und 6 sind einige allgemeine Eigenschaften des Feldes und der 
Energie angegeben. Es wäre alles wörtlich aus der Elektrostatik zu 
entnehmen, indem man €, 9, &, g,, ®,, W, durch 9, %, u, 0,, © 
W,, ersetzt, wenn nicht folgende wichtige Unterschiede beständen. 

a) Es gibt keine Leiter des Magnetismus, also kein in Strenge 
vollständiges Feld außer dem unendlichen Raum; doch wir sahen in 
Nr. 14, daß ungeladene Dielektrika von unendlich großer Dielektrizi- 
tätskonstante analoges Verhalten zeigen wie Leiter. So zeigt auch 
ein Körper von sehr hoher Permeabilität u (weiches Eisen) ähnliche 
Eigenschaften (Schirmwirkung) wie Leiter in der Elektrostatik. Die 
Schirmwirkung einer Hohlkugel und eines Hohlzylinders, die zum 
magnetischen Schutz von Meßinstrumenten gebraucht werden, be- 
rechnet sich genau wie in Nr. 17 (92) und (93). Näheres hierüber 
in dem Artikel von H. du bois V 17. 

b) Wahre Dichten kommen nur in ferromagnetischen Körpern, 
(Magneten) vor, aber es ist in jedem Magneten 


zm — [e„d8 = 0. 
Deshalb kann man 
(110) 0. WM 


m? 


setzen, wo der Faktor M° die (eingeprägte) wahre Magnetisierung heißt, 
die nur in Magneten von Null verschieden ist. Integriert man näm- 
lich (110) über einen ganzen Magneten, so ergibt sich Zm — 0, weil 
M° auf einer den Magneten eng umschließenden Fläche bereits 
Null ist. | 

M- ist durch eo, nicht gegeben, wanderh es können noch ge- 
schlossene M°-Linien in beliebiger Zahl und Anordnung hinzukommen, 
die aber, da sie quellenlos sind, kein o,, ergeben (110), also wegen 
der Eindeutigkeit nichts zu Ö beitragen. Jedem Anfangspunkt einer 
#S-Linie entspricht der Endpunkt einer M‘-Linie und umgekehrt. 

Die Einführung von M° ist vorteilhaft, da M° im Magneten be- 
liebig gegeben sein darf, nur daß M° stetig und differenzierbar an 
der Oberfläche in Null übergehen muß, während o,, der Bedingung 


Zm—= (0 genügen muß. 
Encyklcp. d. math. Wissensch. V 2. 22 


338 V 15. .R. Gais. Elektrostatik und. Magnetostatik. 


c) Während = immer >1 ist, ist in den paramagnetischen Kör- 
pern u>], in den diamagnetischen <1.??) Diese Tatsache wurde 
von Faraday””) durch die Drehmomente in einem Magnetfelde (der 
Form wie am Ende von Nr. 19) nachgewiesen. Es gilt auch hier die 
Bemerkung von der Nichtallgemeinheit der Erscheinung wie in 
Nr. 19. 

24. Gibt es wahren Magnetismus? Diese Frage ist gleichbe- 
deutend mit der, ob die Erregungslinien Endpunkte haben; die Ant- 
wort fällt verschieden aus, je nachdem die Erregung definiert wird”). 

In unserer Darstellung existiert wahrer Magnetismus”); er ist 
gegeben durch die Beziehungen 0, =dvB, B=ug. 

Im Gegensatz hierzu zeigen wir, daß wir zwei analoge Vektoren 
B und 9’ definieren können, derart daß 0 = div ®, B’— u wird. 


Setzen wir nämlich 
(111) Fuss M-HrN 
ein (M heißt Magnetisierung, sie setzt sich additiv zusammen aus der 


induzierten Magnetisierung (u — 1)$ und der wahren Magnetisierung 
M), so ist wegen II* und (110) 





(112) dv®’—0. 
Ferner ist wegen I* 

7 gm 

on ee? 
Setzen wir schließlich noch 

(114) ® a ud‘; ’ » =N,, 

so haben wir 

(112’) div uß = 0, 

(113°) rot (H' 


In dieser Darstellung gibt es keine magnetischen Mengen, man 
muß sich das Feld 5° durch Ampere’sche Molekularströme erzeugt 
denken. 9, ist als magnetomotorische Kraft zu deuten; diese bleibt 


92) = # — heißt Suszeptibilität; dieselbe kann also —>0 und <“0 sein. 

93) Faraday, Researches 2, p. 217. 

94) Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 19; E. Cohn, Elm. 
Feld, p. 299; R. Gans und R. H. Weber, Ann. d. Phys. (4) 16 (1905), p. 172. 

95) Diese Darstellung weicht von der Lorentzschen ab; siehe Art. Maxwell- 


sche Theorie V 13, Nr. 15. 


25. Infiuenz. Wahrer und freier Magnetismus. 339 


konstant bei Veränderungen in der Konfiguration der Magnete®*). 
Während die Felddarstellung an Einheitlichkeit gewinnt, wenn man 
9 einführt, da dann, gleichgültig, ob ein permanenter oder Elektro- 
magnet vorliegt, div uß’ = 0 und rot Ö’ gegeben ist, hat die Energie, 


in 9 ausgedrückt, die einheitliche Form 4 f uS?dS, dagegen in 9 


die Form 4 FE us °’dS oder —4 f us°as, je nachdem ein Elektro- 


magnet oder ein permanenter Magnet vorliegt. Für permanent 
magnetische Kreise gilt das Analogon des ÖOhmschen Gesetzes ”*) 
ebenso wie für elektromagnetische Kreise”), Man kann u die 


magnetische Leitfähigkeit, > den magnetischen Widerstand 


nennen‘), Nähere Ausführungen hierzu im Artikel V 17 von 
H. du Bois. 


25. Influenz. Wahrer und freier Magnetismus. Die Theorie 
der magnetischen Influenz wurde von Poisson®®) auf Grund molekularer 
Hypothesen über die Konstitution polarisierbarer Substanzen auf- 
gestellt; von diesen Hypothesen machten sich W. Thomson”), F. Neu- 
mann'®), Kirchhoff") und Duhem'’!*) frei, indem sie die Theorie auf 
einige Erfahrungstatsachen gründeten, die heute ihren Ausdruck in 
den Maxwellschen Gleichungen gefunden haben. Es gilt das Analoge 
wie in Nr. 15, die induzierte und freie Dichte drücken sich analog 
aus. Entsprechend gibt es eine induzierte Magnetisierung 


M = (u — NS. 
Ist im ganzen Raum u = 1, so ist (vgl. Nr. 15) 


\ d ta 
1) WED" -—. 4 ww s+ [ao 


oder durch partielle Integration 


96) R. Gans und R. H.Weber, Ann. d. Phys. (4) 16 (1905), p. 172; R. H. Weber, 
Ann. d. Phys. (4) (1905), p. 178 und E. Kempken, Tübinger Diss. 1906 und Ann. 
d. Phys. (4) 20 (1906) p. 1017. 

97) Vgl. Anm. 96) und H. du Bois, Magnetische Kreise, p. 186, Berlin und 
München (1894). 

98) Poisson, M&m. de l’acad. de France 5 (1826), p. 247, 488; 6 (1827), p. 441, 
vgl. auch Maxwell, Treatise 2, Art. 385. 

99) W. Thomson, Reprint Art. 604. 

100) F. Neumann, J. f. Math. 37 (1848), p. 21; Vorlesungen über die Theorie 
des Magnetismus, Leipzig 1881. 

101) @. Kirchhoff, J. f. Math. 48 (1854), p. 348; Ges. Abhandlungen, p. 193 
und p. 223. 

101°) P. Duhem, De l’aimantation par influence, Diss. Paris 1888, verwendet 
die thermodynamischen Prinzipien. 
22* 


340 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


(115) = ns (M. grad’ - .) as, 


wo der Strich am grad bedeuten soll, daß die Differentiationen nach 
den laufenden Koordinaten von S auszuführen sind. 

(115’) zeigt, daß der Magnet aufgefaßt werden kann als bestehend 
aus kleinen Elementarmagneten °). 


(116) [was m 
und 
(116) Swas— m 


heißen wahres und induziertes Moment (ersteres auch kurz: Moment; !91®) 
des Magneten. 
Ist u+1, so kommt zu s noch x, hinzu, und wir haben 


(117) vum nt, vgl. (87), 


wo 
a 2, grad’ - )dS, vgl. (86) und (116). 


Wird ein polarisierbares Ellipsoid (d.h. u+1) in ein gleich- 
förmiges Feld gebracht, so gelten die Analoga von (88) und >) 
Aus (89) folgt für die induzierte Magnetisierung 


sa) Men Win Ne 


Speziell für die Kugel ergibt sich das Analogon von (89); aus 
dieser Gleichung folgt, daß die Erregungslinien in die Kugel hinein- 
gezogen oder aus ihr herausgedrängt werden, je nachdem u 21 ist!). 

Denkt man sich in ein gegebenes Feld mit festen Magnetismus- 
mengen, das sich aus einem Potential %, ableitet, einen polarisier- 
baren Körper gebracht, so muß das Potential v = %, + x des wirk- 
lichen Feldes außer der Laplaceschen Innere noch an der Ober- 
fläche des Körpers der Gleichung " 


0%; __ da 
us) u 
genügen, d.h. das Zusatzpotential y genügt der Gleichung 
2 Chi __ OMa\ —_ 0% 
ee: Ve Jr er 


1019) Die bei magnetischen Messungen als Moment bezeichnete Größe. ist 
in Wirklichkeit nicht das wahre, sondern das freie Moment (vgl. Nr. 27 und e 
102) W. Thomson, Reprint Art. 632. 


26. Energie und Kräfte. 27. Kräfte auf starre. Körper. 341 


Bei willkürlich gegebenem %, läßt sich diese Gleichung in ge- 
schlossener Form bis jetzt nur in Spezialfällen integrieren. Poisson”®) 
führt dies für die Kugel und Hohlkugel durch Entwicklung von %, 
nach Kugelfunktionen aus, Somigliana‘"®) und gleichzeitig Boggio!*) 
kommen ohne solche Entwicklungen aus, sie erhalten das induzierte 
Potential direkt durch bestimmte Integrale. F. Neumann löst das 
Problem für das Rotationsellipsoid!%), Kürchhoff''%) für unendlich 
lange Zylinder und den Kreisring; der Kreisring sowie das dreiachsige 
Ellipsoid sind von @Göuliani!®) behandelt; C. Neumann'®) dehnt 
die Methode auf zwei Körper, speziell zwei Kugeln im Magnetfeld 
aus. Boggio'”) nimmt das Zweikugelproblem auf und behandelt auch 
den Grenzfall, daß zwei Halbräume mit parallelen Begrenzungen ein- 
ander gegenüberstehen. 

Bei einem beliebig gestalteten Körper denke man sich y nach 
Potenzen von u — 1 entwickelt, also 


(120) 4= > — Dr, 


v=1 
so folgen durch Substitution von (120) in (119) die Rekursionsformeln 
o _9i _ 29% 


an on Om’ 


a at tn _ ag 
RENT Piste Pa 
welche die Lösung haben (vgl. Nr. 4 (14) und (15)) 
N 1 f[o%, de 
© N Bel ze 1 
(122) Re); 
yet — ga, 
Art on ı 


Diese Methode der sukzessiven Induktionen stammt von Beer !'*) 
die Reihen von ©. Neumann'!®), L. Weber"), Riecke‘"!), Wassmuth"?) 


103) Somigliana, Rend. del r. Ist. Lomb. (2) 36 (1903). 

104) T. Boggio, ibid. (2) 37 (1904), p. 123; Nuovo Cim. (5) 11 (1906), p. i 

105) @. Giuliani, Nuovo Cim. (3) 11 (1882). 

106) ©. Neumann, Hydrodynamische Untersuchungen p. 282, Leipzig (1853 
vgl. auch R. A. Herman, Quaterly J. of Math. 22 (1887), p. 204. 

107) T. Boggio, Rend. del r. Ist. Lomb. (2) 37 (1904), p. 405. 

108) A. Beer, Einleitung in die Elektrostatik, die Lehre vom Magnetismus 
und die Elektrodynamik. Braunschweig 1865, p. 155. 

109) ©. Neumann, Untersuchungen über das log. und Newtonsche Potential, 
Leipzig 1877. 

110) L. Weber, Zur magnetischen Induktion, Kiel 1877; Arch. Math. Phys 
61: (1877), P. 286. | 


342 . 715. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 


Korn“'2®) sind Potenzreihen nach Potenzen von u —1, en oder 
e—1 | 
e+T 
wickeln, muß aber die Lösung für u= o, d.h. für den Fall, daß 
in ein gegebenes elektrostatisches Feld em ungeladener Leiter gebracht 
wird, vorher gefunden haben "?). 


Anstatt dessen kann man auch ı nach Potenzen von z ent- 


26. Energie und Kräfte. Die Energie drückt sich nach Nr. 6 
(21) aus als 
(21,) W=+ Dmv, 
und dies wegen (110) und la’ als 


IR.S)as. 


Die Spannungen sind Analoga der elektrischen, sie ergeben 
Kräfte analog (94). Die magnetischen Drucke an der Grenze zweier 
Körper gehorchen den (95) entsprechenden Formeln. Auf Grund 
dieser Formeln hat Quincke'!t) Permeabilitäten von Flüssigkeiten und 
Gasen bestimmt, indem er den magnetischen Druck durch hydrosta- 
tischen Druck kompensiert hat. 

Über die magnetischen Spannungen und die sogenannte Magneto- 
striktion findet sich Näheres in dem Art. von F. Pockels V 16. 


27. Kräfte auf starre Körper. Wie in Nr. 19 ergibt sich durch 
Einführung der freien Mengen das Coulombsche Gesetz. Die Arbeit 
bei einer unendlich kleinen Verschiebung eines Magneten zu Stellen 
höherer Feldstärke ist 


(123) 5A— [(M + M) - 89,)48.1%) 
Ist 9, im Magneten gleichförmig, so ist wegen (116) und (116”) 
(123) 64 = (m-+m):-09,). 


(101), (101”) und (102) gelten analog für den Magnetismus; man 
hat diese Formeln zur Bestimmung der Permeabilität benutzt!'°). 





111) E. Riecke, Ann. Phys. Chem. (3) 13 (1881), p. 465; man beachte die 
Konvergenzfragen. 

112) A. Wassmuth, Ann. Phys. Chem. (3) 51 (1894), p. 367, 

112*) A. Korn, München Ber. 31 (1902), p. 435. 

113) Vgl. @. Kirchhoff, Vorlesungen 3, p. 160. 

114) @. Quincke, Ann. Phys. Chem. (3) 24 (1885), p. 347; H. du Bois, Ann: 
Phys. Chem. (3) 35, (1888), p. 137. 

115) E. Cohn, Elm. Feld, p. 209. 

116) H. A. Rowland, Americ. Journ. of science and arts (3) 9 (1873), p. 357; 
H. A. Rowland und W. Jacques, Journ. of science and arts (3) 18 (1879), p. 360; 


28. Magnetisches Moment. Horizontalintensität. Kompaß. 343 


28. Magnetisches Moment. Horizontalintensitä. Kompaß. 
Gleichung (123) in Nr. 27 ist die Grundlage der Gauß’schen Methode'!') 
zur Bestimmung magnetischer Momente und der Horizontalkomponente 
der erdmagnetischen Kraft. Da aber die in (123°) vorkommenden 
freien Mengen nicht an der Materie haften, ist die Theorie nicht ganz 
streng. Dorn") hat Korrektionen wegen der induzierten Momente 
angebracht. 

Um das Feld eines symmetrisch um eine Achse magnetisierten 
Magneten (z. B. der Erde) außerhalb der Kugel, die ihn gerade um- 
schließt, darzustellen, wählen wir seinen Mittelpunkt zum Ursprung 
eines Kugelkoordinatensystems, seine Achse zur Achse desselben. Ist 
R die Entfernung des Aufpunktes vom Ursprung, #® der Winkel, den 
R mit der Polarachse "bildet, so ist, da d der Laplaceschen Gleichung 
im Außenraum genügt, 


1, NE | 
(124) dI=;- » CP, (6089) 441, 
R=V0 


wo P, die Kugelfunktion »‘” Ordnung erster Art bedeutet. 

Da die magnetische Verteilung in Punkten, die bezüglich der 
Ebene $—=x/2 spiegelbildlich liegen, bis aufs Vorzeichen dieselbe 
sein soll, so fallen die geraden Indizes in (124) fort, es bleibt 


} Br 1 
(124) gm 2 ars Barca (eos 9) pRe+N? 
‚0 


wo die ( gegebene Konstanten sind. 

Um zu sehen, inwieweit dieser Magnet durch zwei punktförmige 
magnetische Mengen + m auf der Magnetachse im Abstande + ! vom 
Mittelpunkt ersetzt werden kann, bereehnen wir auch das Potential 
dieser Anordnung. Es ergibt sich 
m (1 1 am II rt! 

(125) ga or. I ua er er - Ro+H) P,,;ı (608 9). 

Die beiden ersten Glieder von (125) sind immer mit denen von 
(124) durch geeignete Wahl von m und ! zur Deekung zu bringen, 
wenn man nämlich setzt 


@. Wiedemann, Ann. Phys. Chem. (2) 126 (1865), p. 8; v. Kttingshausen, Ann. Phys. 
Chem. (3) 17 (1882), p. 304; Wien Ber. (2) 96° (1887), p. 777; Eaton, Ann. 
Phys. Chem. (3) 15 (1882), p. 225; Schuhmeister, Wien Ber. (2) 83? (1881), p. 46; 
S. Henrichsen, Ann. Phys. Chem. (3) 34 (1888), p. 180. 

117) C. F. Gauß, Werke 5, Göttingen 1877, p. 79; Ostwalds Klassiker 
Nr. 53, 

118) Dorn, Ann. Phys. Chem. (3) 35 (1888), p. 270. 


344 V 15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 
2mui—=(,, 2m (,. 


Nur wenn man sich auf die beiden ersten Glieder als Näherung 
beschränkt, sind Pole von bestimmter Lage und Stärke für den 
Magneten anzugeben. Ü, = m ist das (freie) magnetische Moment des 
Magneten '"#°), 

Gauß nennt einen Punkt auf der Linie $=0 oder $®=x in 
der ersten Hauptlage befindlich, in der Ebene $ = x/2 ın der zweiten 
Hauptlage befindlich. 

‘ Bildet der um eine vertikale Achse drehbare Magnet mit hori- 
zontaler Magnetachse den Winkel p mit der Horizontalkomponente 
9, des gleichförmigen Feldes Ö, so ist nach (123°) das Drehmoment 


a2) N—— m|-9, sing 
Die Direktionskraft - und damit |m|- $,| kann man durch Be- 


obachtung der Schwingungsdauer des Magneten um seine Gleich- 
gewichtslage bestimmen. 

Durch die Ablenkungen eines kleinen Hilfsmagneten ergibt sich 
Due so daß man m und 9, einzeln kennt!!?). 

Bei der Behandlung der Theorie des Kompasses ist es notwen- 
dig, den von der Erdkraft in den Eisenteilen des Schiffes induzierten 
Magnetismus sowie den permanenten Magnetismus der Eisenmassen 
zu berücksichtigen. Nimmt man die Permeabilität des Eisens bei 
den schwachen in Betracht kommenden Feldstärken des Erdfeldes 
als konstant an, so überlagern sich die von den einzelnen Komponenten 
des Erdfeldes durch Induktion erzeugten Felder einfach. In der Theorie 
des Schiffsmagnetismus wählt man gewöhnlich die x-Achse in Richtung 
der Längsachse des Schiffes (positiv nach vorn), die y-Achse nach Steuer- 
bord (rechte Seite des Schiffes), die z-Achse kielwärts. Dann ist an 
der Stelle des Kompasses 


X=-X+aX-+IY-+cZ+P, 
(127) Y=Y+dX+eY+fZ+% 
Z = Z+9X+HhY+RKZH-R 
X’, Y',Z’ sind die Komponenten der auf den Kompaß tatsächlich 


wirkenden Feldstärke, X, Y, Z die der ungestörten Stärke des Erd- 
feldes, wie es bei Abwesenheit des Schiffes vorhanden wäre; P, Q, R 


118°) Vgl. E. Riecke, Ann. Phys. Chem. (2) 149 (1873),.p. 62; (8) 8 (1879), 
p. 299. 

119) Ausführliches über die Theorie des Erdmagnetismus findet man bei 
E. Mascart, Traite de magnedtisme terrestre, Paris 1900. 


29. Magnetische Doppelschichten. 345 


sind die durch den permanenten Magnetismus hervorgerufenen Feld- 
stärken. Die Größen a, b,...% sind in jedem Schiffe Konstanten, die 
‚durch die Verteilung und durch die physikalische Beschaffenheit des 
weichen Eisens bestimmt sind. (127) ist die von Poisson'?) auf- 
gestellte Grundgleichung der Kompaßtheorie, aus ihr folgen alle für 
die Nautik wichtigen Beziehungen für die Kompaßabweichungen '?"). 

Führt man in (127) 9, die Horizontalintensität der tatsächlich 
vorhandenen Feldstärke, ein, nennt man © resp. & den Kompaßkurs 
resp. magnetischen Kurs des Schiffes, d. h. die östliche Abweichung 
der Fahrtrichtung vom Norden der Kompaßrose resp. vom mag- 
netischen Meridian und setzt man 


Kae 4 u 6, 
so daß ö die östliche Deviation der Nadel aus dem Meridian be- 
deutet, so gilt, wenn die Koeffizienten « bis k unendlich klein sind, 


(128) 9 = AU+Bsin! +Ccsd +Dsin2g + € cos 2%. 


B sin & und E cos £ wechseln, wenn der Kompaßkurs & zwischen 
0 und 2x variiert, je einmal das Zeichen, deshalb nennt man diese 
Glieder die semizirkulare Abweichung; Dsin 25° und &cos2 5 wechseln 
dagegen zweimal das Zeichen, sie heißen die quadrantale Abweichung. 

A, D, E sind auf einem Schiffe Konstanten, während B und E 
mit dem Ort des Schiffes auf der Erde variieren, da sie Funktionen 
der magnetischen Inklination und Horizontalintensität sind. 

P, @& und R werden durch permanente Magnete, a bis k durch 
weiche Eisenstäbe in der Nähe des Kompasses kompensiert'??). 


29. Magnetische Doppelschichten'”). Für die Theorie der elek- 
trischen Ströme ist eine besondere Art von Magneten wichtig: eine 
sehr dünne Schale, deren Flächenelemente da heißen, von der Dicke 
h und der Permeabilität u, sei normal zur Schale magnetisiert. Die 
‚Magnetisierung sei M° 


120) Poisson, M&m. de l’inst. 5 (1824), p. 533; 16 (1838), p. 479. 

121) Eingehend behandelt von F\. J. Evans und A. Smith, Admiralty manual 
for the deviations of the compass (7. Aufl.), London 1901; s. auch ©. H. Wind, 
Magneetkracht en electriciteit, Leiden 1903, p. 3831—396 und Anm. 119; E. Rottok, 
Die Deviationstheorie und ihre Anwendung in der Praxis (2. Aufl.), Berlin 1903, 
p. 43; Der Kompaß an Bord, herausgeg. v. d. deutschen Seewarte (2. Aufl.), Ham- 
burg 1906; Lehrbuch der Navigation, herausgeg. vom Reichsmarineamt (2. Aufl.) 
4, Berlin 1906, p. 53. 

122) Wegen der Lage der Eisenstäbe vgl. die Rechnungen bei Maxwell, 
Treatise 2, Art, 441 und die Abbildungen bei Wind (Anm. 121). 

123) Vgl. Potentialtheorie Art. Burkhardt-Meyer, U AT b, Nr. 6. 


346 V15. R. Gans. Elektrostatik und Magnetostatik. 
(129) o— = e 
‘heißt die Stärke der Schale. Im folgenden nehmen wir den für die 
Theorie der elektrischen Ströme einzig interessierenden Fall an, daß 
-® für die ganze Fläche konstant ist. 

Für die wechselseitige Energie der Doppelschicht (Stärke ®,, 
Fläche 6,) und eines beliebigen Feldes (Stärke 9,) folgt 


(130) U- — 9, /8;,.do,. 
9 ist dureh (111) definiert. 

Dieser Ausdruck ist nur von der Randkurve abhängig. Führt 
man die freie Magnetisierung M°/u der Doppelschicht ein, so folgt 
wegen (115) und (117) 


n} 

(131) U Be fi a 

/ Art. on 4n? 
wenn «& der körperliche Winkel ist, unter dem die Doppelschicht vom 
Aufpunkte aus erscheint. 

Aus (131) ergibt sich der konstante Sprung ® des Potentials 
beim Durchschreiten der Doppelschicht. 

Hat man zwei Doppelschichten ®, und ®,, so ist 
(132) U= — ®, 0,91 = — 9, 9,95; 
wo 4, die Anzahl Erregungslinien sind, die die erste Doppelschicht, 
wenn ®, = 1 ist, durch 6, schickt. Eine für die Theorie der Ströme 
(wechselseitiger Induktionskoeffizient) wichtige Formel von F\ Neu- 
mann ist 


B3 u (d8, : d$,) 
(133) Yıa == dor | 2 en 


99 


wo 5, und s, die Kandkurven der Doppelschichten sind'*). 


30. Kristalle. Die Anfänge einer theoretischen Behandlung 
rühren von Poisson'””) her; als dann Plücker'?*) die experimentelle 
Grundlage geschaffen hatte, arbeitete W. Thomson”) eine Theorie 
aus, die der in Nr. 21 gegebenen entspricht. 


124) Vgl. Fernwirkung Art. R. Reiff und A. Sommerfeld, V 12, Nr. 5. 
125) Poisson, Mem. de l’acad. 5 (1821), p. 247, 488; 6 (1823), p. 441; Ann. 
Phys. Chem, (2) 1 (1824), p. 301; 3 (1825), p. 429. 

126) J. Plücker, Ann. Phys. Chem. (2) 72 (1847), p. 315. 

127) W. Thomson, Phil. Mag. (4) 1 (1851), p. 177; Reprint Art. 604. Man 
vgl. auch A. Beer, Einleitung in die Elektrostatik, Braunschweig 1865, p. 221; 
P. Duhem, Anm. 101%); W. Voigt, Die fundamentalen physikalischen Eigen- 
schaften der Krystalle, Leipzig 1898. 





30. Kristalle. 31. Ferromagnetische Körper. 347 


Nach der (109) entsprechenden Formel hat Stenger‘”®) die Diffe- 
renz der Permeabilitäten von Kristallen in verschiedenen Richtungen 
bestimmt. - 

Sehr viel komplizierter wird das Problem, wenn die Permeabilität 
a nieht mehr konstant, sondern von der Feldstärke abhängig ist, in 
«en sogenannten ferromagnetischen Kristallen. Für die induzierte 
Magnetisierung macht Voigt?) den Ansatz 

N, = 9, [&ı lt + hl; 

We i+n] 
wo die f Funktionen der Komponenten von Ö$ sind und zwar bei 
zentrisch-symmetrischen Kristallen gerade Funktionen; von diesen 
nehmen wir an, daß sie sich als Reihen darstellen lassen, die sich 


z.B. für das reguläre System wesentlich: vereinfachen. 
Es wird dann nämlich 


Mu kA — 9 INH), 
134) 0, —9, u 1 kH— 9), 
N 9.159), 

Bei Berücksichtigung höherer Glieder findet also keine Isotropie 
mehr statt. 

Auf Grund dieser Theorie, die Voigt auch auf nicht zentrisch-sym- 
metrische Kristalle mit drei einander gleichwertigen aufeinander senk- 
rechten zweizähligen Achsen erweitert, wird die Influenz in Ellip- 
soiden berechnet zur Diskussion der Versuche von Weiß '?°*), 


31. Ferromagnetische Körper. Bei ferromagnetischen Körpern 
ist # Funktion von |$ . Von diesem Ansatz aus hat Cohn") die 
Theorie entwickelt. Aus den Grundgleichungen der Maxwell’schen 


Theorie folgt, daß 
us 


g} £ D 
a) Was fo-au0)— [as |uß° — [ws a9) 


128) F. Stenger, Ann. Phys. Chem. (3) 20 (1885), p. 304; 35 (1888), p. 331. 

129) W.Voigt, Gött. Nachr. 1900, p. 381; 1905, p. 17; Phys. Zeitschr. 4 (1903), 
p. 136; siehe auch $. Sano, Phys. Zeitschr. 4 (1903), p. 8; Wallerant, Paris 
©. R. 183 (1901), p. 630. 

129°) P. Weiß, Paris C. R. 138 (1904), p. 35; 140 (1905), p. 1532 und p. 1587; 
-J. de phys. (3) 5 (1895), p. 435; (4) 3 (1904), p. 194; 4 (1905), p. 469). In diesen 
Arbeiten finden sich auch thermodynamische Betrachtungen über die Magneti- 
‚sierung von Kristallen. 

130) E. Cohn, Elm. Feld, p. 510. 


348 V15. R. Gans.: Elektrostatik und Magnetostatik. 


Für das magnetostatische Feld bleiben I” und II® bestehen. Da 
aber u=f(|$|) ist, so sind die Gleichungen nicht mehr linear, die 
Superposition zweier Felder findet nicht mehr statt. Aus (135) 
folgt für die Spannungen 


; $3) 
136) Ku — [(ud-d6), = Y,—ud,H,, 
1] 
9 
Y,— us — [(ud-d48), == uB,S. 
1) 


9 
Z,= ud? — [(ud-d48), Z=X,=ud.H,, 
0 


IR a eine zu Ö senkrechte Fläche wirkt der normale Zug 
ug 


fe (ud: dS) = mh (H.duS), und auf jede zu 9 parallele Fläche 


ein normaler Druck _ fü (u$ -d9). Die Hauptspannungen sind also 
ö 


nicht mehr numerisch gleich. 
Die Kraft auf die Volumeinheit ist 


ö 
(94) 1— 0. — (049) grad u 


Hier sind die Differentiationen von u bei örtlich konstant ge- 
dachtem 9 vorzunehmen. 


32. Hysterese. Ist die Induktion ® nicht durch den augenblick- 
lichen Wert von $ gegeben, sondern sind frühere Werte von 9 mit 
maßgebend, so wird, wenn 5 und ® einen Zyklus von Werten an- 
genommen haben, die Energiemenge"®") 


(137) (NM - —(f)®- 49) 


pro Volumeneinheit als Hysteresewärme abgegeben. Hier bedeutet 


( d. 3 wie in der Thermodynamik üblich, das über den durchlaufenen 


Zyklus erstreckte Integral. Diese Größe ist immer positiv, da wach- 
senden 9 kleinere ® entsprechen als abnehmenden. Eingehend können 
wir die Hysterese nicht behandeln, einerseits da sie aus dem Rahmen 
der Statik, dann aber auch, weil sie aus dem der Maxwell’schen Theorie 
herausfällt. (137) ist die einzige allgemein gültige Beziehung. 


131) Warburg, Ann. Phys. Chem. (3) 13 (1881), p. 140. 


32. Hysterese. | ; 349 


Man unterscheidet statische Hysterese, Wechselstromhysterese 
und Rotationshysterese; bei ersterer ändert sich die Feldstärke nur 
sehr langsam, bei den beiden letzteren im allgemeinen schnell, und 
zwar bleibt bei der Wechselstromhysterese die Feldrichtung konstant, 
es variiert nur die Amplitude, während bei der rotierenden Hyste- 
rese die Stärke des Feldes konstant bleibt und nur die Rich- 
tung sich ändert. Literaturangaben und Kritisches findet man bei 
M. Wien‘), ein Referat über den Stand der Frage bei Warburg '”?). 

Weitere Ausführungen über Hysterese bringt der Art. V 17 von 
H. du Bois. 





132) M. Wien, Ann. Phys. Chem. (3) 66 (1898), p. 859. 
133) E. Warburg, Rapports Congres internat. de phys. 2, (Paris 1900), 
p. 509 und Phys. Zeitschr. 2 (1901), p. 367. 


(Abgeschlossen im Oktober 1906.) 


350 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u, Piezoelektrizität usw... 


V 16. BEZIEHUNGEN ZWISCHEN ELEKTRO- 


STATISCHEN UND MAGNETOSTATISCHEN 


ZUSTANDSÄNDERUNGEN EINERSEITS UND 


Ww. 


ELASTISCHEN UND THERMISCHEN 
ANDERERSEITS. 


Von 
F. POCKELS 


IN HEIDELBERG. 


Inhaltsübersicht. 


Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum. 

Bedeutung der Maxwellschen Spannungen für die Elektrostriktion. 
Spannungen, welche durch den Einfluß von Deformationen auf die dielek- 
trischen Konstanten bedingt werden. 

Elektrostriktion von Flüssigkeiten. 

Elektrostriktion isotroper fester Körper. Behandlung nach den Methoden 
der Elastizitätstheorie. 

Fortsetzung. Energetische Behandlung. 

Magnetostriktion. 

Piözoelektrizität und Elektrostriktion azentrischer Kristalle. Allgemeiner- 
Ansatz. 

Spezialisierung für die einzelnen Kristallgruppen. 

Anwendung auf besondere Fälle. 

Polare Pyroölektrizität und reziproker Wärmeeffekt. 

Molekulartheorien der Pyro- und Pi£zoelektrizität. 

Zentrische Pyro- und Piözoelektrizität. 

Pyro- und Piözomagnetismus. 


Literatur. 


Voigt, Kompendium der theoretischen Physik (Leipzig 1896), 2. Bd., 4. Teil, 
88 11—15 u. 20. 


W, Voigt, Die fundamentalen physikalischen Eigenschaften der Krystalle (Leipzig 


1898), $$ 3 u. 6 und Zusätze V—VII u. IX. 


Winkelmanns Handbuch der Physik, 2. Aufl. (1905), Bd. 4, p. 162—168 (Elektro- 


striktion von L. Graetz) u. p. 766—793 (Pyro- u. Piözoelektrizität von 
F. Pockels); Bd. 5, p. 301—338 (Beziehungen des Magnetismus zur Mechanik 
von F. Auerbach). 


1. Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum. 351 


6. Wiedemann, Die Lehre von der Elektrizität, 2. Aufl. (Leipzig 1894), Bd. 2 I 
Kap. 3, III Kap. 3, Bd. 3 B Kap. 7. 

Ih. Liebisch, Physikalische Krystallograpbie (Leipzig 1891), Kap. 7 und 10. 

F. Pockels, Über die durch dielektrische und magnetische Polarisation hervor- 
gerufenen Volum- und Formänderungen (Elektrostriktion u. Magnetostriktion), 
Arch. Math. Phys. (2) 12 (1895), p. 57-95. (Historisch-kritische Übersicht.) 

Wichtigste grössere Monographien über Teilgebiete : 

P. Sacerdote, Recherches theoriques sur les deformations electriques des dielec- 
triques solides isotropes. Paris, Theses Nr. 1012. 1899. [Zitiert als Sacerdote, 
Thöse. | 

W. Voigt, Allgemeine Theorie der piezo- und pyroelektrischen Erscheinungen 
an Kristallen, Göttingen, Abh. Ges. d. Wiss. 36, 1890. [ Yoigt, Allg. Theorie.} 


l. Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum. Der zu- 
erst von Faraday ausgesprochenen Vorstellung, daß die scheinbaren 
Fernwirkungen zwischen elektrisch geladenen Körpern auf einen 
Spannungszustand im dielektrischen Zwischenmedium zurückzuführen 
seien, hat Maxwell!) einen exakten mathematischen Ausdruck ge- 
geben, indem er zeigte, daß sich in der Tat ein Spannungssystem an- 
geben läßt, welches die dem Coulombschen Gesetze entsprechenden 
ponderomotorischen Kräfte liefert und zugleich der Bedingung genügt, 
daß sich die Spannungen an jedem von elektrischer Ladung freien 
Volumelement eines homogenen Dielektrikums das Gleichgewicht 
halten, — einer Bedingung, ohne welche ein solcher Spannungs- 
zustand in einem flüssigen oder gasförmigen Medium gar nicht 
denkbar wäre. Jenes Spannungssystem besteht in einem {sotropen 
Medium aus einem Zug parallel den elektrischen Kraftlinien und 
einem gleich grossen Druck in allen zu letzteren senkrechten Rich- 
tungen; das Maß für diesen Zug bezw. Druck ist 42€°, wenn z die 
Dielektrizitätskonstante, & die elektrische Feldstärke in absolutem 
elektrostatischem Maße bezeichnet. (Vgl. H. A. Lorentz, Maxwellsche 
Theorie, V 13, Nr. 22.) Ein ganz analoges Spannungssystem ist den 
ponderomotorischen Kräften in einem magnetischen Felde äquivalent, 
soweit dieses nur isotrope, nicht ferromagnetische Körper ohne per- 
manenten Magnetismus enthält. 

Das allgemeinere Spannungssystem, welches in einem kristallini- 
schen Medium (und mit Berücksichtigung der etwaigen Änderung der 
Dielektrizitätskonstante bezw. magnetischen Permeabilität dureh De- 
formation des Mediums) anzunehmen ist, hat zuerst H. Hertz?) (für: 


1) Maxwell, Treatise 1, $ 105—111. 
2) H. Hertz, Ann. Phys. Chem. 41 (1890), p. 389. 


352 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


den Fall des magnetischen Feldes) aufgestellt; seine Ableitung ist in 
etwas modifizierter Weise in dem genannten Artikel Lorentz V 13, 
Nr. 23 wiedergegeben. Ein anderer Weg, den zuerst Helmholtz°), 
dann Kärchhoff*) und Lorberg?) zur Berechnung der Spannungen in 
isotropen Körpern mit durch Deformationen veränderlicher Dielektri- 
zitätskonstante eingeschlagen haben, führt in folgender Weise zu dem 
Spannungssystem in einem kristallinischen Dielektrikum. 

Man berechne die durch beliebige, aber stetig verteilte virtuelle 
Verrückungen Öv,, öv,, Öv, der materiellen Punkte des Dielektrikums 
erzeugte Variation der elektrischen Energie. Die letztere kann 
man, indem man zunächst alle etwa vorhandenen Unstetigkeitsflächen 
des Mediums durch stetige Übergangsschichten und alle flächenhaften 
Ladungen durch dünne Schichten mit stetig variierender Raumdichte o 
ersetzt denkt, durch ein Raumintegral über den ganzen unendlichen 
Raum darstellen. Eine solche Form ist (vgl. Art. Gans über Elektro- 


statik und Magnetostatik V 15,Nr.6) 4/opdS, eine andere 1/(E-D)dS, 
gu ö e 


wo (gemäß den im Art. Lorentz V 13 eingeführten Bezeichnungen) g das 
elektrische Potenial, D —= (2)E die elektrische Erregung ist. Für den 
vorliegenden Zweck ist es nun bequemer, nach dem Vorgange von 
Helmholtz (l. ec.) den durch Kombination der beiden vorstehenden 
gebildeten Ausdruck 


@) [w:as=f (eg -1@-D) as 


zu benutzen, weil derselbe infolge der für p geltenden Differential- 
gleichung 
div (@)gradp = — 0 

die Eigenschaft besitzt, bei einer beliebigen Variation des Potentials 
allein wungeändert zu bleiben, wenn man von einem elektro- 
statischen Gleichgewichtszustande ausgeht. Man kann daher ohne 
Beeinträchtigung der Allgemeinheit bei der Berechnung von dW/ 
das Potential $ von der Variation ausschließen, oder, mit 
anderen Worten, das Feld bei der Vornahme der virtuellen Ver- 
rückungen öv als ungeändert bleibend ansehen. Die Variation von 
W, wird sich demgemäß aus drei Teilen zusammensetzen, die her- 
rühren: 1) von der Veränderung der elektrischen Raumdichte, die ge- 


3) Helmholtz, Ann. Phys. Chem. 13 (1881), p. 385; Berlin ‘Sitzungsber. 1881, 
p. 191. ie 
4) Kirchhoff, Berlin Sitzungsber. 1884, p. 137; Ann. Phys. Chem. 24 
(1885), p. 52. | 
5) H. Lorberg, Ann. Phys. Chem. 21 (1884), p. 300. 


1. Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum. 353 


‚geben ist durch dog = — divodv; 2) davon, daß an eine bestimmte 
Stelle x, y, z des Raumes und somit des als unverändert ange- 
nommenen Feldes ein anderes Massenelement gelangt, nämlich das- 
jenige, welches sich vorher am Orte & — öv,, y— öb,, 2— öv, be- 
fand; 3) von den Veränderungen, welche die dielektrischen Konstanten e,, 
(vgl. Art. Lorentz V 13, Nr. 8 und 22b) infolge der Verrückungen Öv,, 

öv,, Öv, erleiden. Diese Änderungen Öe,, sind selbst von zweierlei fe: 
Wiens ändern sich nämlich die e,, durch die Drehung ör = 4 rot (öv), 
welche das Massenelement infolge des Verrückungssystems erfährt, 
weil sie abhängig sind von der Orientierung des Koordinatensystems 
gegen die elektrischen Symmetrieachsen des Dielektrikums, d. h. gegen 
diejenigen Richtungen, in bezug auf welche sich die Koeffizienten :,, 
der symmetrischen linearen Vektorfunktion D— (e)E auf &,,, &, &sz 
reduzieren (vgl. Art. Abraham: Geometrische Grundbegriffe IV 14 
Nr. 22); zweitens werden sie im allgemeinen auch durch die 
Deformation des Massenelements, welche mit dem Verrückungs- 
system verbunden ist, geändert werden. Diesen etwaigen Einfluss 
einer Deformation auf die Dielektrizitätskonstanten wollen wir 
jedoch vorerst von der Betrachtung ausschließen, und die Anteile 
der gesamten Spannungen, welche dadurch zunächst vernachlässigt 
werden, nachträglich (in Nr. 3) gesondert untersuchen. Dann sind 
die d&,, also lediglich die durch unendlich kleine Drehungen Ör,, Ö t,, ör, 
des Massenelements gegen die festen Koordinatenachsen ER 
Änderungen der &,,, für welche man aus deren Transformations- 


formeln (cf. Art. Abraham IV 14, p. 42, 28) leicht findet: 
her = 2(enÖt, — 50 2 


den == (in — wer, — tt, + eur, 


Dabei Bote sich die rennen aus den Ver- 
rückungen gemäß den Formeln (vgl. Art. Abraham IV 14, Nr. 16): 


edv, 060, 06 edv 
nl le), 


080,  06dv, 
or, = + ss =): 
’ a FE 0y 
Man erhält nun durch Zusammenfassung der genannten drei 
Variationen zunächst: 


ofw.as -[\ — p div (göv) + 4 (grad (E- Dia: 2% 
(2) — [EHE dt, — dt) + 2 
E, E, (leg — g)dr, — &507, + &0T,)+---]} 48, Sr 


Sl d. math. Wissensch. V 2. 23 


354 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


wo der Index p = const. bedeutet, daß sich die Differentiation nur 
auf die z,, erstrecken soll. Indem man nun die Glieder, welche 
Differentialquotienten der Verrückungen als Faktoren enthalten, durch 
partielle Integration umformt, kann man die rechte Seite auf die 


Form —& 3,00, + Re 00, + 8.00,}dS bringen, wobei sich ergibt: 


3. er oE, RE: nn (E- D),- const. 


m +48, 6,2) — 26,9, 6,9) 

Nach dem Energieprinzip und dem Prinzip der virtuellen Ver- 
rückungen sind dann %,, %,, 3, die Komponenten der auf die 
Volumeinheit des Dielektrikums wirkenden Kraft. Ersetzt man hierin 
noch g durch div D (gemäß Gl. VI’ in V 13, Nr. 11), so kann man nach 
einfacher Umformung (wobei die ipichenie rot E=0 zu benutzen 
ist) schreiben 


und die ee der auf die Volumeinheit des Dielektrikums 
wirkenden ponderomotorischen Kraft sind somit in der Form ge- 
wonnen: 





oA, 04 04 
3, 2 
0, = r22 #7 ur = l 
oB 22, 
4 RE 
(4) Be 0x +5 Er nn, 
0C, oc oc, 
Be 4 2 u 


wobei gilt 

4,= 4{E,D, — ED, — ED,), 
B,= +ED, — ED, — ED,)), 
ce, =4(E,D, — E,D, — E,D,), 
B,=(0,=$(ED, + €2,), 
DAHER, + ED), 
A,—=B,— ED, + &,2,) 





\ 


Diese Darstellung gestattet aber die Deutung, daß die resul- 
tierende ponderomotorische Kraft von einem Spannungszustand des 
Dielektrikums herrühre, dessen 6 Komponenten — in der nach 


1. Maxwellsches Spannungssystem im Dielektrikum. 355 


Kirchhoff üblichen Weise bezeichnet®) (vgl. IV 14, Nr. 19) — 
die vorstehenden Größen A,,... B,,... sind, welche nur von dem 
Felde und den dielektrischen Konstanten des Mediums an der be- 
trachteten Stelle abhängen, wie es der Vorstellung der Feldwirkuug 


entspricht. — Für isotrope Medien, wo D— :€ wird, gehen obige 
Ausdrücke über in 
‚ 4,=-E—- Ei €E,..., 
(5) ze y :) 
„=. €, ..;; 


das sind aber (wie man sofort erkennt, wenn man eine Koordinaten- 
achse parallel der Feldrichtung legt) in der Tat die Komponenten 


eines Zuges - €? parallel den Kraftlinien und eines gleichgroßen 


Druckes senkrecht zu denselben, also des für diesen Fall von Maxwell 
abgeleiteten Spannungssystems”). Die Gleichung (3) reduziert sich 
hier auf 

(3) 3=0o&C — IC grade, 

woraus ersichtlich ist, daß auf das Innere eines homogenen isotropen 
Dielektrikums, sofern es keine wahre Ladung trägt, keine pondero- 
motorische Kraft wirkt. 

Es möge noch hervorgehoben werden, daß die vorstehende vollstän- 
dige Zurückführung der ponderomotorischen Kräfte auf ein System von 
Spannungen keineswegs notwendig ist, um die Erscheinungen der Elektro- 
striktion, d. h. der Deformation dielektrischer Körper im elektrischen 
Felde, zu erklären, und daß also auch nicht aus diesen Erscheinungen 
auf die Existenz der Maxwellschen Spannungen geschlossen werden 
kann. Nach der Fernewirkungstheorie würden die ponderomotorischen 
Kräfte (3) zum einen Teil herrühren von den nach dem Coulombschen 
Gesetz auf die wahren und die influenzierten oder scheinbaren elek- 
trischen Ladungen ausgeübten Fernewirkungen, zum anderen Teil 
aber ebenfalls von Spannungen, die jedoch nur im ponderabeln Dielel:- 


6) Wir weichen hier, um mit der Lorentzschen Darstellung in V 13 Nr. 23 
und V 15 Nr. 39 in Übereinstimmung zu bleiben, von der Kirchhoffschen Be- 
zeichnung allerdings hinsichtlich des Vorzeichens ab, indem wir einen Zug, nicht 
einen Druck, positiv rechnen. 

7) Für den allgemeinen Fall, daß die Erregung nicht in die Feldrichtung 
fällt, hat Maxwell ein Spannungssystem angegeben (Treatise 2, $ 641, 642), 
welches von dem obigen darin abweicht, daß nicht B, = C,, 0,=4, A,=B, 
ist. Diese Abweichung kommt daher, daß Maxwell diejenigen Anteile der 
"Spannungen nicht berücksichtigt hat, welche infolge des Zusammenhanges des 
Mediums aus den auf die Volumelemente ausgeübten Drehungsmomenten [D- E]dS 
resultieren. (Vgl. auch V 13, Nr. 23, S. 110.) 

25* 


356 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


trikum vorhanden wären®). Diese letzteren Spannungen werden aus 
den unter (5) angegebenen erhalten, indem man von denselben die- 
jenigen Spannungen subtrahiert, welche nach der Feldwirkungstheorie 
in dem gleichen Felde im freien Äther anzunehmen wären und aus 
den Ausdrücken (5) durch Gleichsetzung von ® mit © hervorgehen. 
Speziell in isotropen Medien sind also die auch nach der Ferne- 
wirkungstheorie im ponderabelen Dielektrikum wirkenden Spannungen 
gegeben durch 


6) E69), B=0,/— (le VE, E,. 
Beispielsweise folgt aus (4) und (5), daß auf die zu den Kraft- 


linien senkrechte Grenzfläche zweier verschiedener Dielektrika (unter- 
schieden durch die Indizes , und ,) der Druck 


ı € 
Beet (& E,? — & &,?) oder — ( Er ) &? 
2 2 , 


wirkt. Derselbe ist nach der Feldwirkungstheorie die Differenz der 


€ € R Fi 
Drucke — - &°? und — =-6&,?, nach der Fernewirkungstheorie da- 
2 1 2 29 g 


gegen setzt er sich zusammen aus der Differenz der Drucke — 7 
und me -&,? und aus der durch 4(&, + &,)(C, — €,) gegebenen 
Coulombschen Fernwirkung auf die an der Grenzfläche influenzierte Be- 
legung von der Dichte (&, — &,). Ist die Grenzfläche der Dielektrika da- 
gegen den Kraftlinien parallel, so trägt sie keine influenzierte Ladung, 
und in der Tat wird dann die Differenz der beiderseitigen Drucke die- 
selbe, sei es, daß man diese nach (5’) oder (6) berechnet, weil das 
Feld dann auf beiden Seiten der Grenzfläche übereinstimmt. 


2. Die Bedeutung der Maxwellschen Spannungen für die 
Elektrostriktion. Wenn es nun auch für die Wirkungen der pon- 
deromotorischen Kräfte gleichgültig ist, ob man dieselben ganz oder 
nur teilweise auf Spannungen der Dielektrika zurückführt, so hat die 
erstere Auffassung doch den Vorzug der Einheitlichkeit und grösseren 
Einfachheit und soll daher im folgenden zugrunde gelegt werden. 

Die Einführung des den ponderomotorischen Kräften äquivalenten 
Spannungssystems erweist sich besonders zweckmäßig zur Berechnung 
der Öberflächendrucke, welche sich ergeben, wenn man die bisher 
vorausgesetzten stetigen Übergangsschichten unendlich dünn werden, 


8) Es ist wohl zu beachten, daß man durch Einführung der scheinbaren 
elektrischen Ladungen wohl dem Einfluß des Dielektrikums auf das Feld voll- 
ständig Rechnung tragen kann, aber die ponderomotorischen Kräfte nur insoweit 
richtig erhält, als es sich um ihre Gesamtwirkungen auf starre Körper handelt. 


2. Die Bedeutung der Maxwellschen Spannungen für die Elektrostriktion. 357 


also in Diskontinuitätsflächen (Trennungsflächen verschiedener Dielek- 
trika oder eines Dielektrikums und eines Konduktors) übergehen 
läßt. Denn die Komponenten der auf die Flächeneinheit der Grenze 
zwischen einem Medium (1) und einem anderen (2) wirkenden Kraft 
Fu. sind einfach gegeben durch 


(7) Va. RER A, — A, Gym FE a FR PR ER Zee ‚a3 0 

wo N,,n, die äußeren Normalen für die beiden Medien bedeuten, und 
A, usw. sich in bekannter Weise durch die A,,... A, ausdrücken, 
z.B. A, = A, cos (n, x) + A, cos (n,y) + A, cos (n, 2) ist. Bei der Be- 
rechnung der A,,... ist zu berücksichtigen, daß die tangentialen 
Komponenten der elektrischen Feldstärke, und für Grenzflächen, die 
keine wahre Ladung besitzen, auch die normalen der elektrischen Er- 
regung beiderseits übereinstimmen. Ist das angrenzende Medium ein 
Konduktor, so sind dort A,,... A, sämtlich Null zu setzen, und da 
die Kraftlinien die Konduktoroberfläche senkrecht treffen, so wirkt auf 
dieselbe die volle Spannung parallel den Kraftlinien, d. i. in einem 


ng? 


isotropen Dielektrikum - €?, als normaler Zug. Aber auch an Grenz- 


flächen zweier isotroper Dielektrika, die keine wahre Flächenladung 
besitzen, ist der resultierende Oberflächendruck stets normal gerichtet, 
auch wenn die Kraftlinien die Grenzfläche schiefwinklig treffen. 
Denn legt man die x-Achse in die Normale n, der Oberfläche des 
Mediums (1), und berücksichtigt, daß dann €, = „€, und 
E,—=€,,€&,—=€, ist, so erhält man aus (5): 


a N a Er 4 y (€: z; a €;) 


7 ee 
(7) (2), 
ee ao 


d. h. es wirkt auf die Grenzfläiche ein normaler Druck von vor- 
stehendem Betrage, und zwar ist derselbe von (1) gegen (2) hin ge- 
richtet, wenn &, > :, ist. 

Aus diesem Oberflächendruck erklären sich die bekannten Bewegungs- 
tendenzen ungeladener dielektrischer Körper im elektrischen Felde (vgl. 
Art. Gans über Elektrostatik V 15, Nr. 18,19). Außer diesen resultieren- 
den Kräften und Drehungsmomenten wird aber ein solcher Körper im all- 
gemeinen Deformationen erleiden, und diese sind es, mit denen wir es im 
vorliegenden Abschnitt allein zu tun haben. Um dieselben zu bestimmen, 
hat man die durch (4) und (7) gegebenen Volum- und Öberflächen- 
kräfte % bezw. %,, elektrischen Ursprungs als äußere Einwirkungen 


358 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw, 


in die Bedingungen des elastischen Gleichgewichts einzusetzen; dies 
ergibt, falls andere äußere Kräfte fehlen, für jeden Punkt im Innern 
die Gleichungen: 
oX eX eX 
= Y ER ER 
(8) er 2 era 


3 


und für jede Stelle der Grenzfläche zweier Medien (1), (2): 
@ ee 


worin die X,,... X,,... die elastischen Spannungen bedeuten (über 
das Vorzeichen vgl. Anm. 6, S. 355). 
Man könnte versucht sein, diese Gleichungen einfach durch die 
Annahme 
X=—4, 


ei nie, ern; - 
zu lösen, also die Deformationen, die wir nach Körchhoff mit 
% ++. Ye)... bezeichnen, aus den durch (5) gegebenen A,,...,B.,... 


gemäß den Formeln 


- 2%, = 514,4 $2B, F3,06, +3,23 +30, + 564, 


x) 


zu berechnen, wo die s,, die bei Auflösung der Grundgleichungen der 
Elastizitätstheorie (Gl. (49) in dem Art. Abraham IV 14) nach den Defor- 
mationskomponenten auftretenden Koeffizienten sind. Diese Annahme, 
welche bedeuten würde, daß die Maxwellschen Spannungen in jedem 
Volumelement des Dielektrikums durch entgegengesetzt gleiche elastische 
Spannungen kompensiert würden, ist aber, von ganz speziellen Fällen 
abgesehen, deshalb nicht zulässig, weil die so berechneten Deformations- 
komponenten %,, ...%,, . ... im allgemeinen nicht denjenigen 6 Bedingungs- 
gleichungen (Gl. (33) im Abrahamschen Art. IV 14, Nr. 18) genügen 
würden, welche zwischen ihnen zufolge ihrer Definition (ebenda 
IV 14 (32)) durch die ersten Differentialguotienten der Verrückungen 
v,‚v,,v, nach ©, y, z stets bestehen müssen; auch würden die ihnen 
entsprechenden v,, d,, d, meist mit gewissen für die Oberfläche des 
Dielektrikums zu stellenden Bedingungen (Befestigungsbedingungen) 
unvereinbar sein. Für Flüssigkeiten ist die Unzulässigkeit der An- 
nahme X, = — A, usw. ohne weiteres klar, da in solchen im Gleich- 
gewichtszustande keine anderen Spannungen elastischen Ursprungs, 
als ein allseitig gleicher Druck, bestehen können, insbesondere also 
nicht solche, die das Maxwellsche Spannungssystem kompensieren 
würden. 


3. Spaunungen infolge veränderlicher Dielektrizitätskonstanten. 359 


Noch verkehrter wäre es, die Deformationen gemäß den linearen 
Grundgleichungen der Elastizitätstheorie aus den Maxwellschen 
Spannungen A,,... selbst (statt aus — A,,...) zu berechnen. Ob- 
gleich dies selbstverständlich ist, da ja die Maxwellschen Spannungen 
nicht elastischen, sondern elektrischen Ursprungs sind, so scheint ein 
Hinweis auf dieses mögliche Mißverständnis doch angebracht, da das- 
selbe bisweilen zu Einwänden gegen die Zulässigkeit der Maxwell- 
schen Anschauung von der Feldwirkung Anlaß gegeben hat”). 

3. Spannungen, welche durch die Veränderlichkeit der di- 
elektrischen Konstanten bedingt werden. Wie zuerst Helmholtz") 
für Flüssigkeiten, dann Kürchhofj"') für isotrope feste Körper gezeigt 
hat, bedürfen die Maxweilschen Spannungen einer Ergänzung, wenn 
die dielektrischen Konstanten des Mediums sich durch Deformationen 
desselben ändern würden. Daß eine solche Veränderlichkeit des 
dielektrischen Verhaltens bei allen ponderabeln Körpern existieren 
wird, ist in hohem Grade wahrscheinlich; für einige Substanzen ist 
sie auch durch direkte Versuche nachgewiesen worden '?). 

Man kann nun die Änderungen der dielektrischen Konstanten 
jedenfalls in erster Annäherung den Deformationskomponenten pro- 
portional setzen und demgemäß die 36 Differentialquotienten 


——— —A _9 — 
0x, O1; oY, O19; N OR, Öre ? 


(10) dz, = 02; A rer dr, eng %, 
GE: 8 08 
2 = Os ; ernennen dn, aeg Öse 


als neue individuelle Konstanten des Dielektrikums einführen. Bei 
einem asymmetrischen Kristall sind dieselben sämtlich voneinander 
unabhängig (insbesondere brauchen, im Gegensatz zum System der Elasti- 
zitätskonstanten, die Konstanten mit vertauschten Indizes nicht einander 
gleich zu sein). Besitzt das Medium Symmetrieeigenschaften, so ver- 
ringert sich die Zahl der unabhängigen d,,, und zwar ordnen sich 


9) So z. B. ancheinend bei H. Poincare, Electrieite et optique, 1, chap. IV. 
Maxwell selbst warnte ausdrücklich vor diesem Mißverständnis (Treatise 1, $ 110). 

10) Berlin Sitzungsber. 1881, p. 191. 

11) Berlin Sitzungsber. 1884, p. 137. 

12) So für Kautschuk von O. M.Corbino und F'. Cannizzo (Rom Linc. Rend.. (5) 
7? (1898), p. 286) und A. Lampa (Wiener Anz. 1902, p. 223), für Glas von Corbino 
(N. Cim. (4) 4 (1896), p. 240)-und A. Wüllner u. M. Wien (Ann. Phys. 11) 
(1903), p. 619), für Ebonit von U. Panichi (N. Cim. (4) 8 (1898), p. 89). 


360 YV 16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


die 32 kristallographischen Symmetrieklassen nach dem System dieser 
Konstanten in 9 verschiedene Gruppen'?). Für isotrope Körper wird 


tt, dt dd, 
dd lb — ©), 

während alle übrigen d,, verschwinden; von den beiden übrigbleiben- 
den Konstanten d,,d, bestimmt die erstere die Änderung der Di- 
elektrizitätskonstante durch eine Dilatation parallel den Kraftlinien, 
die letztere diejenige durch eine Dilatation senkrecht zu den Kraft- 
linien. 

Berücksichtigt man nun unter Benutzung von (10) bei der in 
Nr. 1 angegebenen Berechnung von öW, die Veränderung der e,, 
durch die mit den virtuellen Verrückungen dvd verbundenen Defor- 
mationen Dur formt die dadurch neu auftretenden Glieder, wie 
— 46, ee re — &, €, a e= ee) usw., durch partielle Inte- 
gration um, so en zu den ponderomotorischen Kräften %,, 3,,; 8; 
Anteile hinzu, welche von vornherein die Form haben 


d4, 4, 04, OB, , OB, or, 
er ar an: 508 en ee, 


also als von Spannungen a erscheinen. Für diese die 
Mazwellschen ergänzenden Spannungen ergeben sich dabei nach- 
stehende Werte'%): 


A=—} (91€ ni 0, €? +6,€C?’+ 206,8, + 26,6, C, 
+ 206,8), 








(11) A 
a a H [0,62 HEIL O,E + 20, 5,6 


+ 29, €E,€,+ 29,,€,€,) r 


v . « . . . ” D . . . ” 


sie sind also, wie die Maxwellschen Spannungen, homogene quadra- 
tische Funktionen der Feldkomponenten. Für isotrope feste Körper 


13) Die Spezialisierung des Konstantensystems ö,, für die einzelnen Kristall- 
klassen findet sich z. B. in Voigts Kompendium d. theoret. Physik 1, p. 143—144. 
Sie ist genau dieselbe, wie für die Konstanten der inneren Reibung (vgl. ibid. 2, 
p: 136) oder für dasjenige Konstantensystem, welches die Änderungen des opti- 
schen Verhaltens durch Deformationen charakterisiert (vgl. F. Pockels, Ann. Phys. 
Chem. 39 (1889), p. 152, 158). 

14) Die allgemeinen Ergänzungsspannungen, jedoch für das magnetische 
Feld und ausgedrückt durch die Komponenten der Erregung statt durch diejenigen 
des Feldes, hat zuerst H. Hertz aufgestellt (Ann. Phys. Chem. 41 (1890), p. 393.) 


4, Elektrostriktion von Flüssigkeiten. 361 


nehmen sie nach dem oben über die Ö,, gesagten die einfachere 
Form an: 


FR 1 — 14, 
(11) in 


a 966, 


bestehen also aus einem Druck $6,&? in der Richtung der Kraft- 
linien und einem solchen 46,€? senkrecht zu diesen, oder anders 
ausgedrückt, in einem allseitig gleichen Druck 40,&? und einem Zug 
parallel den Kraftlinien von der Größe 4(d, — d,)E?. Im Gegensatz 
zu dem Mazxwellschen ergibt dieses Spannungssystem auch für das 
Innere eines homogenen isotropen Dielektrikums eine resultierende 
Volumkraft, nämlich 


(2) d — — 4(d, + 9) grad (E*) 
und liefert zu den Oberflächendrucken Beiträge, welche im allgemeinen 
nicht senkrecht zur Oberfläche stehen, und deren X-Komponente ist: 


(13) 5,= 30, % cos (n, X) 5 +(6, Be Ö,) E,E€, n 


4. Elektrostriktion von Flüssigkeiten. Da in Flüssigkeiten 
irgendwelche Verrückungen der Teilchen die physikalischen Eigen- 


schaften nur vermöge der mit ihnen verbundenen Dichteänderung 


beeinflussen können, so wird d, = 6), = 2 ‚w®=2,+94,+ 2, die 


kubische Dilatation bezeichnet; somit erhält man statt der Gl. (11”), 
wenn der Index an d, = d, fortgelassen wird, 


(11”) 4,=B,=T,=—- 2, B=-1N-4,—0. 


Die Ergänzungsspannungen bestehen hier also einfach in einem 
allseitig gleichen Drucke p= 46€?. Mit dieser, dem Quadrat der 
Feldstärke proportionalen Kraft strebt also die Flüssigkeit sich aus- 
zudehnen, bezw. falls ö negativ ist"), sich zu kontrahieren. Ist nun 
das Gesamtvolum der Flüssigkeit keiner Beschränkung durch ein- 
schließende Wände unterworfen, so wird tatsächlich an jeder Stelle 
der Flüssigkeit die jenem Expansions- bezw. Kontraktionsbestreben 
entsprechende Volumänderung, nämlich 


14 Fe 
(14) = Tel, 

15) Dieser Fall ist der wahrscheinlichere, sowohl aus theoretischen Gründen, 
als nach Analogie mit der z.B. von W. Cassie (Phil. Trans. 1890, p. 1), D. Negreano 
(Paris ©.R.114 (1892), p.345), F. Ratz (Zeitschr.phys. Chem, 19 (1896), p. 94), R. Abegg 


(Ann. Phys. Chem. 60, p. 54; 62, p. 256 (1897)) beobachteten Abnahme der Di- 
elektrizitätskonstante durch Temperaturerhöhung. 


362 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro-u. Piezoelektrizität usw. 


wo C der Kompressionsmodul ist, eintreten. Diese Volumänderung 
ist dann die einzige Wirkung der Ergänzungsspannungen, insbesondere 
liefern dieselben keinen Beitrag zu den Oberflächendrucken, da sie eben 
an jeder Stelle durch die obiger Dilatation entsprechende elastische 
Spannung kompensiert werden. 

Die Versuche, welche angestellt worden sind, um die in Rede 
stehende Volumänderung von Flüssigkeiten im elektrischen Felde 
nachzuweisen, haben infolge störender Nebenwirkungen bisher nicht 
zu sicheren Resultaten geführt!%). Für Gase läßt sich die zu er- 
wartende Druck- bezw. Volumänderung im voraus nach Sinn und 
Größe angeben !”); denn bei ihnen ist erfahrungsmäßig & — 1 proportional 
der Dichte'®), woraus für dö der Wert — (e—1) folgt. Ist das Gas 
in einem Gefäß eingeschlossen, so muß also im elektrischen Felde 
sein Druck eine Verminderung vom Betrage 4(e — 1)C? erfahren. 
Eine solche Druckverminderung, welche mit der so berechneten der 
Größenordnung nach übereinstimmt, ist an Luft und Kohlensäure auch 
experimentell nachgewiesen worden !?). 


5. Elektrostriktion isotroper fester Körper. Ihre Behand- 
lung nach den Methoden der Elastizitätstheorie. Für die Ver- 
gleichung der Theorie mit Beobachtungen bezw. die Bestimmung der 
Konstanten Ö,, d, kommen praktisch nur solche Fälle in Betracht, wo 
das Dielektrikum die (relativ zu ihrer Flächenausdehnung dünne) 
isolierende Zwischenschicht eines Kondensators bildet, da nur bei 
dieser Anordnung die Feldstärke im Dielektrikum groß genug ge- 
macht werden kann, um meßbare Deformationen hervorzubringen. 
Der weitaus größte Teil der Oberfläche des Dielektrikums wird dann 
von den Kraftlinien des elektrischen Feldes senkrecht durchsetzt, er- 
leidet also — auch bei Berücksichtigung der Ergänzungsspannungen 
— nur einen senkrechten Druck oder Zug. Dabei sind die Fälle zu 
unterscheiden, ob die leitenden „Belegungen“ des Kondensators dem 


16) Dagegen will D. Hurmuzeseu (Arch. sc. phys. nat. Gendve 4 (1897), p. 431) 
an Eisensalzlösungen im magnetischen Felde eine Kontraktion beobachtet haben. 

17) D. J. Korteweg, Ann. Phys. Chem. 9 (1880), p. 59; @. Lippmann, Ann. 
chim. phys. (5) 24 (1881), p. 159. 

18) Die analoge Annahme macht @. T. Walker (Aberration and other 
problems connected with the electromagnetic field, Cambridge 1900) für die 
magnetische Permeabilität von Flüssigkeiten auf Grund molekulartheoretischer 
Überlegungen. Er meint eine Bestätigung derselben in gewissen Beobachtungen 
Quinckes zu finden, welche aber in Wirklichkeit nur die Wirkung des Öber- 
flächendruckes zeigen, also nach dem oben gesagten keinen Schluß auf die 
Konstante ö gestatten. 

19) R. Gans, Habilitationsschrift Tübingen 1903. 


5. Elektrostriktion isotroper fester Körper, 365 


festen Dielektrikum direkt anliegen oder von demselben durch Luft- 
oder Flüssigkeitsschichten getrennt sind. Im ersten Falle erleiden 
die in Rede stehenden Oberflächen des Dielektrikums den Druck 


.Z. 91.88, im zweiten, wenn € die Dielektrizitätskonstante der flüssigen 


oder gasförmigen em senschicht ist, zufolge Gl. (7’) und dem in Nr. 4 
&(E 


Gesagten den Zug u +6 ‚)® wo beidemal € die Feldstärke 
innerhalb des festen Dielektrikums unmittelbar an seiner Oberfläche be- 
deutet. Dazu kommt noch die durch (12) gegebene Kraft auf das Innere 
des Dielektrikums, die nur im Falle eines ebenflächigen Kondensators 
(wo das Feld homogen ist) verschwindet. Es entsteht nun die Auf- 
gabe, aus den so gegebenen ÖOberflächen- und Volumkräften die 
Spannungen und Deformationen im Innern des Dielektrikums zu be- 
rechnen, eine Aufgabe, welche rein elastizitätstheoretischer Natur ist. 
Streng gelöst ist dieselbe nur für den Hohlkugel- und unendlich langen 
Zylinderkondensator”®). Für ersteren möge die Lösung hier für den 
Fall unmittelbar anliegender Belegungen mitgeteilt werden. 

Sind r,, r, die Radien der inneren und äußeren Belegung, g,, p, 
deren Pobenkiale so ist die Feldstärke 


"Ser TIER TER EN 


folglich nach (12) die auf das Innere der dielektrischen Kugelschale 
wirkende Volumkraft: 


e \ ER Ip 
(15) Doakss; 
außerdem wirkt, wie aus (5) und (11’) folgt, auf die innere bezw. 


äußere Begrenzung der normale, gegen das Dielektrikum hin gerichtete 
Druck: 


(16) ie), .eie-9%- 


Aus den allgemeinen elastischen Gleichgewichtsbedingungen eines 
isotropen Körpers: 


0X 0X oX, PR 
SEN ERSEIR, EL, Re En 
ct tt tn, 


folgt im vorliegenden Falle, wo nach en nur radiale Ver- 


rückungen dv, —= 9 vorhanden sind, welche gleich @ ei ) gesetzt werden 


20) @. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 24 (1885), p. 70; P. Sacerdote, Journ. de 
phys, (3) 8 (1899), p. 464; Thöse, p. 14. 


364 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


können, 
— [8,0 - us U + @ +8 
Ä BR ı 20 AU 00, 
oder, da hier®= + und somit JU= 3377,72 "di 


0 ar far 


Durch nochmalige Integration ergibt sich nun: 


Abrufs 3,174 Harafı rdr für) 


oder nach Einsetzen von ie aus (15): 


an rate 


r 3 r; 


worin A, B an 0 in bezeichnen, die aus der Ober- 
flächenbedingung für r = r, 


u DE 7 Ge). 3 24(°). en °: = 4( — 0,) nz 


und der analogen für r—=r, zu bestimmen sind. Diese Berechnung 
vereinfacht sich erheblich in dem (wie oben gesagt) praktisch allein 
wichtigen Falle, daß r_ — r, sehr klein gegen vr, ist. Dann kann 
man in genügender Näherung setzen 


= wer er 


de 1 (1 r; 2. 
lan ea EB N ” 
und erhält: 
»+2u 1 
en re + 8, + 20,), 
»+2u 0°, 


Führt man statt der Konstanten A und u den Elastizitätsmodul 
E= „eu und das Verhältnis der Querkontraktion zur Längs- 


dilatation v — ein, und berücksichtigt, daß in der 


2(u+ 
Ü 9; EN 


jetzt eingehaltenen Annäherung ; = 7 se. wird, wo d die Dicke 


der Kugelschale bezeichnet, so findet man für die relative Zunahme 


5. Elektrostriktion isotroper fester Körper. 365 


des inneren Radius schießlich *'): 
; 9; MN 1 2 i 
(17T) a ea ler +) 
und für die Dilatation des Dielektrikums in radialer Richtung: 


(18) (ee) a Pe ee +2) 6, + 23, |; 


in allen tangentialen Richtungen ist die Dilatation durch : gegeben. 


Aus der der Beobachtung??) leicht zugänglichen Vergrößerung des 
inneren Volumens: 4rr,o, könnte man hiernach eine Kombination 
der Konstanten d, und d, berechnen; indessen sind die vorliegenden 
Messungen an Kugelkondensatoren zu einer solchen Berechnung nicht 
verwertbar, teils weil sie durch Nebenwirkungen (wie Leitfähigkeit 
des als Dielektrikum verwendeten Glases) zu stark beeinflußt sind, 
teils wegen der Unsicherheit der Kenntnis vom elastischen Verhalten 
der benutzten Glaskugeln. 

Es ist hervorzuheben, daß die Näherungsausdrücke (17’) und (18) 
die tangentiale und transversale Dilatation des Dielektrikums nicht 
nur im Falle eines Kugelkondensators geben, sondern überhaupt für 
jeden geschlossenen Kondensator von sehr geringer, konstanter Dicke 
mit direkt anliegenden Belegungen Gültigkeit besitzen”). In der 
Tat ergeben sich jene Ausdrücke (18) und (17’) für die Dilatationen 
direkt aus dem auf ein scheibenförmiges Element des Dielektrikums 





21) Diese Näherungsformel ist schon vor Kirchhoffs Arbeit durch eine 
speziellere Betrachtung von D. .J. Korteweg abgeleitet (Ann. Phys. Chem. 9 (1880), 
p- 48). 

22) Derartige Beobachtungen sind zuerst von E. Duter angestellt worden (Paris 
C.R. 87 (1878), p. 828, 960, 1036; 88 (1879), p. 1260), sodann in großer Zahl von 
@. Quwincke (Ann. Phys. Chem. 10 (1880), p. 165; 19 (1883), p. 573) und neuerdings 
mit noch sorgfältigerer Vermeidung der Fehlerquellen von A. Wüllner und 
M. Wien (Ann. Phys. 9 (1902), p. 1217). 

23) Ohne allgemeine Begründung ist dieser Satz ausgesprochen von P. Sacer- 
dote, J. d. phys. (3) 8 (1899), p. 468; These p. 30. Wenn die Belegungen von 
der festen dielektrischen Schale durch eine Flüssigkeitsschicht von gleicher 
Dielektrizitätskonstante getrennt sind, wie es bei gewissen Versuchen von L. T. More 
(Phil. Mag. (5) 50 (1900), p. 198; (6) 6 (1903), p. 1; (6) 10 (1905), p- 676) der Fall 
war, so sind die Deformationen in entsprechender Weise aus den Ergänzungs- 
spannungen allein zu berechnen. Es ist also ein Irrtum, wenn More aus den 
negativen Resultaten jener Versuche schließen will, daß die Maxwellschen Span- 
nungen überhaupt nicht auf die ponderabele Materie wirkten. Abgesehen davon, 
scheinen seine Beobachtungen übrigens infolge der angewandten Messungs- ” 


methode auch an sich nicht zuverlässig zu sein (vgl. M. Cantone, N. Cim. (5) 7 
(1904), p. 126). 


366 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


wirkenden Druck $(e— ö,)€? parallel und Zug 4(e + d,)€? senkrecht 
zu den Kraftlinien, sofern sich jedes solche Element unabhängig von 
den angrenzenden entsprechend deformieren kann; das ist aber bei 
konstanter Dicke der dielektrischen Schale ersichtlich der Fall, da 
dann die angegebene Dilatation in tangentialer Richtung überall die 
gleiche ist. Demnach wird die Formel (17’) auch angewendet werden 
dürfen, um die relative Änderung des Durchmessers und der Länge 
eines sehr dünnwandigen, an den Enden irgendwie geschlossenen 
Zylinderkondensators zu berechnen, dessen innere und äußere Ober- 
tläche in ihrer ganzen Ausdehnung mit Belegungen versehen sind. 
Für einen solchen Kondensator muß demnach zwischen den relativen 
Änderungen der Länge ! und des inneren Volumens v die Beziehung 
bestehen 


woraus ersichtlich ist, daß die Messungen der Volum- und Längen- 
änderung zur gesonderten Bestimmung der Konstanten d, und ö, nicht 
ausreichen, da sie beide nur die Kombination (1 — v)d, — vö, liefern, 
welche die Änderung der Dielektrizitätskonstante durch einseitigen Zug 
senkrecht zu den Kraftlinien bestimmt. Zur Ermittelung von d, und 
ö, selbst müßte etwa noch die (durch Gl. (18) bestimmte) Dicken- 
änderung gemessen werden, wie es von Üantone versucht worden ist?*). 
Fraglich kann es erscheinen, ob vorstehendes Resultat auch noch 
für Zylinderkondensatoren gilt, deren Belegungen nicht die ganze 
Oberfläche bedecken, und die an einem oder beiden Enden offen sind, 
wie sie bei vielen Beobachtungen angewandt wurden. Hier würde 
die strenge Berücksichtigung der Verhältnisse an den Rändern der 
Belegungen auf große analytische Schwierigkeiten führen. 


6. Fortsetzung. Energetische Behandlung. In Fällen wie der 
zuletzt erwähnte verdient die zuerst von Lippmann und Korteweg®), neuer- 
dings systematisch von Sacerdote (in seiner These) auf Probleme der 
Elektrostriktion angewandte energetische Behandlungsmethode den Vor- 
zug, welche auf die vollständige Lösung des elastischen Problems 
verzichtet und nur auf die angenäherte Berechnung gewisser direkt 
beobachtbarer Gesamtänderungen (z. B. derjenigen des inneren oder 


24) M.Cantone und Fr. Sozzani, Milano Rend.Istit. Lomb. (2) 33 (1900), p. 1059; 
34 (1901),p. 251. An Platten aus einer Harz- und Schellackmischung hat L. 7. More 
die Dickenänderung allein, und zwar bei nicht anliegenden Belegungen, zu 
messen versucht, jedoch mit negativem Resultat (Phil. Mag. (6) 10 (1905), p. 676). 

25) D. J. Korteweg, Ann. Phys. Chem. 12 (1881), p. 647; @. Lippmann, 
Ann. chim. phys. (5) 24 (1881), p. 144. 


6. Fortsetzung. Energetische Behandlung. 367 


äußeren Volumens oder der Länge des Kondensators) ausgeht. Als 
Beispiel für diese Methode sei hier die Berechnung der Längen- 
änderung eines Zylinderkondensators mit anhaftenden Belegungen mit- 
geteilt. 

Es sei e die Ladung, @ das Potential der einen Belegung, 
während die andere auf dem Potential Null erhalten wird; ferner q 
der auf den Zylinderkondensator ausgeübte äußere longitudinale Zug, 
dl dessen ganze Längenänderung. Unter Voraussetzung konstant ge- 
haltener Temperatur kann der Zustand des Kondensators als eine 
Funktion der beiden unabhängigen Variabeln und g angesehen 
werden. Die zur Erzielung einer Ladungs- und Längenänderung auf- 
zuwendende Arbeit ist 


dA — pde + galt = p(55dp + 5,da) + 05, dp + 7,40) 


- (pi +9; ap + (p; Se +az.)dg 


0 


Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik muß die rechte 
Seite ein vollständiges Differential sein; die Bedingung hierfür ist: 


(20) u 


oder, wenn man die Kapazität X = r einführt: 


ol oK 
20° FREE 
(20) op 95 

In erster Annäherung kann . jedenfalls als unabhängig von 
angesehen werden; dann ergibt sich die durch die Ladung des Kon- 
densators auf die Potentialdifferenz p hervorgebrachte Längenänderung: 


1 s0oK 
(21) = g Fr 


Nun ist, wenn / die Länge des belegten Teiles des Kondensators be- 
zeichnet, in großer Annäherung (nämlich bei Vernachlässigung der 


„Streuung“ der Kraftlinien); X = at und da ’* bei der Dehnung 
€ F 7 


a 





des Hohlzylinders durch einseitigen Zug ungeändert bleibt, so folgt 
hieraus 
10K 1 ot Er] 
Kuatraten 
oder bei Einführung des Elastizitätsmodulus E und der 8. 360 defi- 
nierten Konstanten Ö,, 5: 


368 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


ee) 


Bei sehr geringer Wanddicke r,—n=d de an 
ist nun KÄ= ni ‚ somit nach (22): 


(22) 


oK E 
dq = 5 E — 0, (1 —») — d,v), 


und durch Einsetzen dieses Wertes in (21) erhält man 
ig 
(23) =) ze than — an). 


Man sieht, daß in dem Falle, wo die Belegungen des Kondensators 
sich nahezu über die ganze Länge des Zylinders erstrecken, dieses 
Resultat mit demjenigen übereinstimmt, welches nach dem $. 365 be- 
sprochenen Sacerdoteschen Satze aus Gl. (17’) für einen beliebig ge- 
stalteten, geschlossenen, dünnwandigen Kondensator folgt. Die vor- 
stehende Ableitung läßt aber erkennen, daß es für die Gültigkeit 
dieses Resultates bei nicht geschlossenen Zylinderkondensatoren wesent- 
lich ist, daß die Belegungen an der Dilatation der dielektrischen 
/Zwischenschicht teilnehmen, also auch für tangentiale Inanspruch- 
nahme an derselben haften. Diese Bedingung war nun bei den 
meisten Beobachtungen an offenen Zylinderkondensatoren in der Tat 
erfüllt, und daher wurde auch, wenn die Volum- und Längenänderung 
gleichzeitig gemessen wurden, die Relation (19) gut bestätigt ge- 
funden ®). 

Für eine weitergehende Prüfung der Theorie kommen nur die 
Beobachtungen von Wüllner und M. Wien in Betracht, welche an 
einer Reihe zylindrischer Glaskondensatoren sowohl die Volumände- 
rung durch Elektrostriktion, als auch die Kapazitätsänderung durch 
longitudinalen Zug bestimmt haben?‘)., Aus beiden Bestimmungen 
läßt sich nach dem S. 366 und 368 gesagten, wenn noch E und & durch 
besondere Beobachtungen ermittelt sind, die Konstantenkombination 
ö,(1— v) — d,v ableiten, und es wurden für dieselbe auf beiden 
Wegen negative Werte von der gleichen Größenordnung gefunden, 
wodurch also die Theorie der Elektrostriktion bis zu einem gewissen 
Grade bestätigt wird. Die entgegengesetzten Resultate von Cantone 
und Sozzani”®), welche aus Messungen der Längenänderung von Glas- 


(22) 


26) Z.B. @. Quincke, Ann. Phys. Chem. 10 (1880), p. 515. 

27) A. Wüllner und M. Wien, Ann. Phys. 9 (1902), p. 1217; 11 (1903), p. 619. 

28) M. Cantone, Rom Rend. Acc. Line. (4) 4! (1888), p. 344, 471; M. Cantone 
und Fr. Sozzani, Rend. Istit. Lomb. (2) 33 (1900), p. 1059; 34 (1901), p. 251; 
M. Cantone, ibid. 37 (1904), p. 164; Nuovo Cim. (5) 7 (1904), p. 126. 


7. Magnetostriktion. 36% 


Zylinderkondensatoren für obige Größe positive Werte (entsprechend 
einer Zunahme der Dielektrizitätskonstante durch Zug senkrecht zu 
den Kraftlinien) fanden, dürften sich durch tatsächlich verschiedenes 
Verhalten verschiedener Glassorten erklären, welches auch schon aus 


den sehr verschiedenen numerischen Werten von (d,(1 — v) — dv) 


hervorgeht, die Wüllner und Wien für verschiedene Glassorten er- 
hielten. 


7. Magnetostriktion. Die ponderomotorischen Kräfte, welche im 
magnetischen Felde 5 auftreten, lassen sich für Körper, deren mag- 
netische Permeabilität u als unabhängig von der Feldstärke angesehen 
werden kann, in völlig analoger Weise ableiten und auf Spannungen 
zurückführen, wie es für die Kräfte im elektrischen Felde oben in 
Nr.:1 und 3 durchgeführt worden ist. In einem homogenen isotropen 
Körper liefern jene Spannungen die zu (12) analoge Volumkraft 
—4(m, +7,) grad (5°), wo m,4 und mA die Men von 1 
durch die Dilatation A parallel bezw. senkrecht zu den Kraftlinien 
bestimmen. Ferner erleidet die Oberfläche des Körpers, wenn er von 
Luft oder einer isotropen Flüssigkeit umgeben ist, deren Permea- 
bilität gleich 1 gesetzt werden kann, zufolge (7’) und (13) pro Flächen- 
einheit die Kraftkomponenten: 


(24) 3,79 + (u — 16°) cos (n, X) 
+ 35° cos (n, X) + "9,8, 


wo 5 die Feldstärke innerhalb des betrachteten Körpers an seiner 
Oberfläche, » deren äußere Normale bedeutet. 

Die Bestimmung der Deformation, welche diese Kräfte hervor- 
bringen, hat Kürchhoff”) für den Fall einer Kugel, die in ein homo- 
genes Magnetfeld gebracht wird, vollständig durchgeführt. Dieser 
Fall ist deshalb besonders einfach zu behandeln, weil das Magnetfeld 
innerhalb der Kugel homogen ist, nämlich 

3 HD 

wire 2+u’ 
wenn H° die Intensität des ursprünglichen homogenen Feldes ist, in 
welches die Kugel hineingebracht wurde. Daher fallen die Volum- 
kräfte fort, und bei Zugrundelegung eines Koordinatensystems, dessen 


29) Kirchhoff, Berlin Sitzungsber. 1884, p. 1155 Ann. Phys. Chem. 25 (1885), 
p- 601; Ges. Abh. Nachtrag, p. 124. 
Encyklop. d. math. Wissensch, V 2. 24 


370 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion. Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


X-Achse parallel der Feldrichtung und dessen Nullpunkt der Kugel- 
mittelpunkt ist, werden die Oberflächenkräfte nach (24): 


z, - (6) I (3) we 5)» 


(25) — 3H° 2 9277 
BR [w—1) En a—-1l+m %\ 
3, () es 7 2 ER 
R bedeutet den Kugelradius. %, ist analog zu 5, gebildet. Nach 
den Gleichungen der Elastizitätstheorie ergeben sich hieraus für die 
Verrückungen irgend eines in der X Y-Ebene liegenden Punktes der 
Kugel Ausdrücke von der Form 


D, = () [% . 2a la,2® + b,y?x + ec, R®x] 

+ on EEE Eine, z 4 a2}, 
‚= () [% an Taya®y + by’ +0 R®y] 
een =, ey), 


wo 4, by, &, &% 5, di, €, Ag, Ag, d; gewisse Verbindungen der Elasti- 
zitätskonstanten bezeichnen. Kirchhoff wendet diese Ausdrücke an, 
um die Deformation einer Eisenkugel im homogenen Magnetfelde zu 
berechnen, wobei er annimmt, daß die beiden letzten Glieder in der 
Klammer gegen das erste, mit (u — 1)? proportionale, zu vernach- 
lässigen seien. Abgesehen von der Bedenklichkeit dieser Vernach- 
lässigung (da direkte Beobachtungen beim Eisen auf sehr große Werte 
von x, und x, schließen lassen) ist aber diese Anwendung der vorstehenden 
Formeln schon deshalb nicht statthaft, weil die bei ihrer Ableitung (ana- 
log zu der inNr. 1 und 3 gegebenen für die Elektrostriktion) voraus- 
gesetzte Darstellung der Energie bei „ferromagnetischen“ Körpern 
nicht gilt?®). Denn bei solchen ist die magnetische Energie der 
Volumeinheit nach der Maxwellschen Theorie wegen der Abhängig- 
keit der Permeabilität u von Ö$ nicht durch 445? gegeben, sondern 
durch’): 























30) Aus demselben Grunde können die Formeln, welche Cantone für die 
Magnetostriktion eines Rotationsellipsoids in einem zu seiner Rotationsachse 
parallelen Felde durch Übertragung der Kirchhofjschen Behandlungsweise ent- 
wickelt hat [Rom Mem. Accad. Line. (4) 6 (1890), p. 485], auf dessen Beobach- 
tungen an Ellipsoiden aus Eisen und Nickel nicht angewendet werden. Übrigens 
sind diese Formeln auch an sich unrichtig wegen eines Fehlers in der Lösung 
des elastischen Problems. 

31) Vgl. E. Cohn, Das elektromagnetische Feld, p. 512. Siehe auch Art. 15, 
Nr. 31. 


7. Magnetostriktion. al 


M . . 
m JH48) — (8%) - [@as), 


Daraus folgen für die Maxwellschen Spannungen in einem ferro- 
magnetischen Medium ohne Hysteresis an Stelle der analog zu (5’) 
gebildeten die nachstehenden Ausdrücke®): 


b 
(An = Bd. a (BA$), 
(27) 





(B,)n = (Cm = 48,8, + 8,9,) 


und für die durch die Abhängigkeit des magnetischen Verhaltens 
von Deformationen bedingten Spannungen °?): 


| ? 
(28) (An — zu; f BAH),.. (Bm — (D)n— — 55;,) 848)) 


wo die Differentiationen bei konstant gehaltenem 9 auszuführen sind. 
— Im Falle eines isotropen Mediums nehmen diese Ausdrücke die 
Form*) an: 


us 


ß) 
@7) — +, [8.408 — [ulß,48, + 8.49), 





(B,)m = (O,)m = u9,8., 


9 


| Am ur 2,949, +9,49, + 9.49); 


ee 
BD SET". + 8,48), 


0 





K;® 


wo au und z,, x, Funktionen von |$| sind. 


32) S. Sano, Phys. Ztschr. 3 (1902), p. 401; F. Kolatek, Ann. Phys. 13 (1904), 
p: 1; R. Gans, ibid. p. 634. 

*) Ebenso wie wir statt (HH) kürzer 9° schreiben, werden wir Hd statt 
(949) schreiben. 
24* 


372 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


Insgesamt wirkt hiernach parallel den Kraftlinien der Zug: 


us 
(29) q = dad) — mdah 


und senkrecht zu den Kraftlinien der Druck: 


9 P) 
(30) p er usa +,/ 548. 


Der mit Rücksicht auf die Beobachtungen wichtigste Spezialfall 
der Magnetostriktion ist die Längen- und Volumänderung eines dünnen 
Stabes oder Drahtes, der in ein homogenes Magnetfeld mit seiner 
Längsrichtung parallel zu dessen Kraftlinien hineingebracht wird. 
(Dieser Fall kann am einfachsten dadurch realisiert werden, daß man 
den Stab in der Achse eines langen Solenoids aufstellt, durch das 
man einen galvanischen Strom leitet.) 

Die strenge Lösung dieses Problems, bei welcher auf die Gestalt 
der Stabenden und den davon mit abhängigen Kraftlinienverlauf da- 
selbst Rücksicht zu nehmen wäre, ist noch nicht gegeben. Eine an- 
nähernde Behandlung hat Koläcek??) in der Weise durchgeführt, daß 
er dem Stabe die Gestalt eines sehr gestreckten Rotationsellipsoids 
zuschreibt. Will man nur die, der Beobachtung allein zugängliche, 
gesamte Längen- und Volumänderung berechnen, — worauf sich 
schließlich auch Kolasek beschränkt —, so braucht man indessen gar 
keine spezielle Annahme über die Gestalt der Stabenden zu machen, 
sofern nur die Querdimensionen des Stabes sehr klein gegen seine 
Länge sind. Dann wird nämlich das Magnetfeld durch die Anwesen- 
heit des Stabes nur auf einem relativ kleinen Teil seiner Länge 
merklich modifiziert und zwar in der Weise, als wenn bei unver- 
änderter Permeabilität des von dem Stabe eingenommenen Raumes 
an den Stabenden zwei Pole von der Stärke (u — 1)H°f angebracht 
wären, wo H, die ursprüngliche Feldstärke und f der Stabquerschnitt ist. 
Daraus folgt, daß die Dilatation des Stabes sich bestimmt aus einem 
ursprünglichen Feldstärke berechneten Werte von q im Luftraum und im 
Stabe, vermehrt um die vom Felde H° auf die fingierten magnetischen 
Pole ausgeübten Kraft pro Querschnittseinheit, sowie aus einem radialen 
Zug, auf dieMantelfläche gleich der Differenz der Werte von p innerhalb 
und außerhalb des Stabes. Man findet in dieser Weise 


3) = all 1+m)öd, 5 [a—1+m)da$; 


ohne den Einfluß von Deformationen auf u würde also eine allseitig 


s 


7. Magnetostriktion. 373 


gleiche Dilatation des Stabes resultieren und 2 =B3. = sein. Die 
Beobachtungen haben gezeigt, daß diese Beziehung keineswegs besteht, 
und daß die Glieder mit =,, x, sogar von überwiegendem Einfluß sind. 
Die Ausdrücke für die relative Längen- und Volumänderung, die sich 
aus obigem %, und %, nach der Elastizitätstheorie berechnen, kann 


man folgendermaßen schreiben: 


2° a 
ıi 9-5 1-2 6 
5 17” (1809 + [Zt Hap, 

0 0 
(32) 1 Pr a 
dv 3(1 — 2») ou ou 
0 (a nHan+ (de + 228) 98, 
0 


0 





wobei q,, q, einen longitudinalen bezw. radialen äußeren Zug bedeutet, 
und vorausgesetzt ist, daß die Elastizitätskonstanten nicht merklich 
von 9 abhängen (andernfalls müßte Zr mit unter das Integral- 
zeichen gesetzt werden). Diese Formeln sind identisch mit denen, 
die Koläcek a. a. O. für einen Stab von sehr gestreckt ellipsoidischer 
Form gefunden hat. Sie lassen sich übrigens auch durch eine rein 
energetische Behandlungsweise des Problems ableiten®®). Dieselbe er- 
gibt z. B. zwischen der gesamten Längenänderung eines beliebig ge- 
stalteten Stabes im Magnetfelde einerseits und der Änderung seines 
gesamten longitudinalen magnetischen Momentes M durch einen gleich- 
gerichteten Zug vom Gesamtbetrage Q andererseits die Beziehung: 
ol oM 

(88) 90° 
woraus dann für einen dünnen zylindrischen Stab als Näherung die 
erste Gleichung (32) folgt. Ebenso ergibt diese Methode für die 
Anderung des Gesamtvolums durch die Magnetisierung und des magne- 
tischen Moments durch allseitigen Druck P unmittelbar die Relation: 

dv oM 
ve. nl > 
welche auf (32?) führt. Auch die Torsion eines longitudinal magne- 
tisierten Drahtes läßt sich analog behandeln; es gilt, wenn 7’ das 
Torsionsmoment, r der Torsionswinkel ist: 


33) F. Koldtek, Ann. Phys. 14 (1904), p. 177. Zuerst ist diese Betrachtungs- 
weise wohl von J. J. Thomson angewendet worden in seinen Vorlesungen über 
„Anwendungen der Dynamik auf Physik und Chemie'‘ Cambridge 1888 (Übers. 
Leipzig 1890), Kap. 4. 


374 V16. F. Pockels. Elektro-u Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


(85) a = gr 

Der experimentellen Prüfung?) sind diese Formeln, welche die beobacht- 
baren Gesamtwirkungen zueinander in Beziehung setzen, natürlich 
leichter zugänglich, als diejenigen der vollständigen Theorie. 

Auf die überaus zahlreichen Beobachtungen über Magnetostriktion 
ferromagnetischer Metalle und über den Einfluß elastischer Defor- 
mationen auf die Magnetisierung kann hier nicht eingegangen werden; 
es sei dafür z. B. auf die Darstellung von F. Auerbach in Winkel- 
manns Handbuch der Physik, 2. Aufl., Bd. V, p. 301, verwiesen. 


8. Piözoelektrizität und Elektrostriktion azentrischer Kristalle. 
Allgemeiner Ansatz. An Turmalin, Quarz und einer Anzahl anderer 
Substanzen, deren Kristalle durch das Fehlen eines Zentrums der 
Symmetrie ausgezeichnet sind, wurde zuerst von J. und P. Curie?) 
die Erscheinung der sog. Piözoelektrizität, d. h. der Erregung elek- 
trischer Momente durch äußeren Druck, beobachtet. Eine allgemeine 
mathematische Theorie dieser Erscheinungen entwickelte W. Voigt in 
der eingangs zitierten Abhandlung, indem er die Annahme zu Grunde 
legte, daß die an irgend einer Stelle des Kristalles erregten elektrischen 
Momente lineare Funktionen der Deformationskomponenten sind), 
deren Form der krystallographischen Symmetrie entspricht. Lippmann 
zeigte für einen speziellen Fall auf Grund des Energieprinzips, daß 
die Piözoelektrizität das Auftreten von Deformationen im elektrischen 
Felde zur Folge haben muß, welche sich mit der Feldrichtung um- 
kehren®”). Die allgemeinen Gesetze dieser Deformationen wurden 
dann von F. Pockels?®) unter Zugrundelegung der Voigtschen Theorie 
abgeleitet. 


Winnie 


34) Eine solche ist neuerdings in weitem Umfange ausgeführt worden von 
K. Honda und T. Terada (Phys. Zeitschr. 7 (1906), p. 465). 

35) J. und P. Curie, Paris C. R. 91 (1880), p. 294, 383. Die Bezeichnung 
Pi&zoelektrizität stammt von W. Hankel (Abh. d. k. sächs. Ges. d. Wiss. 12 (1881), 
p- 462). 

36) Die Proportionalität der elektrischen Momente mit dem Druck wurde 
am Quarz und Turmalin von F. Nachtikal (Gött. Nachr. 1899, p. 109) in weiten 
Grenzen geprüft und sehr annähernd bestätigt gefunden. 

37) @. Lippmann, Ann. chim. phys. (5) 24 (1881), p. 164; Journ. phys. (1) 10 
(1881), p. 391. Beobachtet und gemessen wurden solche umkehrbare Defor- 
mationen zuerst an Quarz von J. und P. Ourie, Paris C. R. 93 (1881), p. 1137, 
95 (1882), p. 914, wobei sich sehr gute Übereinstimmung mit den theoretischen 
‘Werten ergab. Aus den von Kundt (Ann. Phys. Chem. 18 (1883), p. 228) und 
Röntgen (Ann. Phys. Chem, 18, p. 213, 534) entdeckten Änderungen des optischen 
Verhaltens im elektrischen Felde kann hingegen nicht mit Sicherheit auf die 


8. Piözoelektrizität und Elektrostriktion azentrischer Kristalle. 375 


Beide Arten von Erscheinungen, die piözoelektrischen und die 
eben erwähnten reziproken, lassen sich in ihrem Zusammenhange am 
besten darstellen, indem man die freie Energie der Volumeinheit (®) eines 
gleichzeitig homogenen Drucken und einem homogenen elektrischen 
Felde ausgesetzten, nichtleitenden Kristalles bei konstanter Temperatur 
als Funktion der sechs Deformationskomponenten &,,...%,,.. . und der 
elektrischen Feldkomponenten &,, €,, €, betrachtet?”). Die Entwicklung 
von & nach Potenzen dieser Größen beginnt mit Gliedern, welche in 
den &,,...%,,... quadratisch sind und zusammen die elastische poten- 
tielle Energie y darstellen, und solchen, die in den &,, &,, €, quadra- 
tisch sind und der zur Hervorbringung der elektrischen Momente 
der Volumeinheit (oder Polarisationen, vgl. den Art. H. A. Lorentz 
über Maxwellsche Theorie V 13 Nr. 13) ®,, ®,, ®, bei verschwindender 
Deformation aufzuwendenden Arbeit % entsprechen. Zufolge der Grund- 
annahme der Blastizitätstheorie ist 


A 401% + Cat,Y, 1 ref! + O6 %,%, 
(36) er &0999," en < 6 Yy%, 


Ferner gilt 
EM) 9=-— len DE+ ea DE’+ (le NE 
+ 2:5, €, FH 2:,8,€, + 2:,8,€,}, 


da die bei Influenzierung der ®,, ®,, ®, geleistete Arbeit allgemein 
durch — /®. dE, + P,dE, + P,dE,) gegeben ist*) und folglich 


PR 
(Br), =, )E,+ 6, + 35€ = — ee: 


sein muß; hierin bedeuten die &,, die Dielektrizitätskonstanten bei 
verschwindender Deformation und sind mit den gewöhnlichen z,, also 


Deformationen geschlossen werden, da erstere den letzteren zwar qualitativ, aber 
nicht quantitativ entsprechen; vgl. F. Pockels, Göttingen Abh. Ges. d. Wiss. 39 
(1894). 

38) F. Pockels, N. Jahrb. f. Min., Beil.-Bd. 7 (1890), p. 224. 

39) Diese Art der Behandlung findet sich zuerst, jedoch z. T. fehlerhaft, 
bei P. Duhem (Legons sur l’electrieite et le magnetisme 2 (1892), p. 467), dann bei 
E. Riecke, Gött. Nachr. 1893, p. 3—13, und W. Voigt, Gött. Nachr. 1894, Nr, 4, 
oder Ann. Phys. Chem. 55 (1894), p. 701, sowie in dessen Kompendium der theore- 
tischen Physik 2, p. 104. 

*) Daß diese Arbeit negativ ist, hängt mit der Tatsache zusammen, daß 
ein dielektrischer Körper nach dem Gebiete größter Feldstärke hingezogen wird. 
Vgl. Art, Gans V 15 Nr. 19. 


376 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


nur dann identisch, wenn die elektrische Erregung nicht von Defor- 
mationen begleitet ist. 

Bei Kristallen ohne Symmetriezentrum, bei denen eine Um- 
kehrung aller drei Koordinatenrichtungen mit einer Änderung des 
Ausdruckes für die Energie verbunden sein kann, wird der letztere 
nun auch Produkte der &,,...9,... und &,, €, €, enthalten 
können. Indem man die höheren Glieder der Entwicklung, z. B. die- 
jenigen von der Form 


—+{E (612,4 ee 1a Ö,6%,) F SEHE + EEE, bar, + BR Ö,5%,) + ), 
welche die in Nr. 3 d. Art. behandelten Erscheinungen geben würden, 


vernachlässigt, um die für azentrische Kristalle charakteristischen Vor- 
gänge für sich zu betrachten, erhält man demnach folgenden Ansatz: 


 ; = % ag E,(&1%, En 12%, + 613%, + 6149; A &52, + &6%,) 


(38) Et er r) 

la, Fer) 

Da allgemein —_®  _2®  __2@ 4:6 gesamten elektrischen Mo- 
5 Le a Rica 

mente ®,, ®,, P,, ferner r een a -+ die gesamten inneren 

Spannungen #,,..., H,,... sind, so folgt, wenn man noch die bei 


verschwindenden Deformationen influenzierten Momente mit (B,),, 
(Bla; (B.). und die bei verschwindendem elektrischen Feld auftreten- 
den (rein elastischen) Spannungen mit X,,..., Y,,... bezeichnet, 


PB. = Pla t Arte + e&3Y, + 6132; 4 49, 4 95% + e6%yr 

(39) PB, = P)at art re ee Eee 

Pt mit ä Be: Fast" + ng 
= X, — (u&,+ & €, + 8), 


(40) ER 
HA,=J, — (,E&,+ 0, + ,E,), 

Das erste Gleichungssystem bildet die Grundlage der Voigtschen Theorie 
der Piözoelektrizität. Es ist dazu zu bemerken, daß die ersten Glieder 
der rechten Seite, welche die influenzierten Momente darstellen, im 
allgemeinen auch dann nicht verschwinden, wenn auf den Kristall nur 
mechanisch eingewirkt wird; denn im allgemeinen erfährt jedes Volum- 
element dann elektrische Einwirkungen von allen übrigen (Selbst- 
influenzierung des Kristalls), welche sich erst berechnen lassen, wenn 
die Form des Kristallstückes und die ganze Versuchsanordnung ge- 
geben ist. 


8. Piözoelektrizität und Elektrostriktion azentrischer Kristalle. 377 


Bezeichnet man, wie in der Elastizitätstheorie üblich, mit c,, bzw. 
s,; die elastischen Konstanten, welche als Koöffizienten in den linearen 
Ausdrücken der elastischen Spannungen durch die Deformationen bzw. 
in den Ausdrücken der Deformationen durch die Spannungen auf- 


treten, wobei 
6 6 


Y 
Do ey 54 1, Pos) 
2 


;: 


ist, so folgt aus den Gleichungen (40) 
,=8,+41&,+ dy,E, + 4,8, 


41 
er nt 4E+4,E+d,E,, 
= a en Ba a BE 
6 
(42) dr — Deus: 
1 
gesetzt ist, und &,,..., 9,5... ebenso aus den gesamten Spannungen 
#,,... abgeleitet sind, wie &,,..., Y,,... aus den rein elastischen 
Re 
(43) = #5sut Hs t'°° + A,S16- 
Es bedeuten &,,..., N,,.. . mithin die Deformationen, welche durch die 


Spannungen #,, ... bei fehlender elektrischer Einwirkung hervorgerufen 
würden, 2,— &,,--, Y,—,,... dagegen diejenigen, welche bei fehlender 
mechanischer Einwirkung lediglich durch ein elektrisches Feld er- 
zeugt werden, vorausgesetzt, daß sich die so bestimmten Deforma- 
tionen jedes Volumelementes ungehindert durch die benachbarten her- 
stellen können (was freilich nur in besonderen Fällen, z. B. bei homo- 
genem elektrischen Felde, zutrifft). 


Ferner erhält man aus den Formeln (39) durch Einsetzen von 
. (41) und Berücksichtigung von (43): 
|? une (PB): a (dd, nn d;,H, m d,3Z, a d,,H, Ei d.;Z, 7 ds, 
ee ea RN re N, 
P.= B)t du. + ER ET +d,H,+ beta ei een ); 


darın ist 


N — (Pat &&drcn + Ed, 1% + &, der 
= (a, 1 Zdıan)t €, (ei: + Zdı nen) 
+E, (2; + Id, 
=, (1 —-1)+ E83 + &,: 


(45) 


378 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


und bedeutet das bei verschwindenden Spannungen influenzierte Mo- 
ment parallel der X-Achse. Aus vorstehender Gleichung und den 
analogen für (P,),, (P.), ist zugleich der Unterschied zwischen den 
‚Dielektrizitätskonstanten &,; bei verschwindender Deformation und 
denjenigen &,, bei verschwindenden Spannungen (den Dielektrizitäts- 
konstanten im gewöhnlichen Sinne) ersichtlich; praktisch kommt dieser 
Unterschied wegen der Kleinheit der Produkte der Größen d und e 
in den bisher bekannten Fällen allerdings nicht in Betracht. 


9. Spezialisierung für die einzelnen Kristallgruppen. Die all- 
gemeinen Ausdrücke (39) oder (44) für die Komponenten des elek- 
trischen Moments, welche 18 .dem Kristall eigentümliche Konstanten *°) 
(die „piezoelektrischen Konstanten“ e,, bzw. „piözoelektrischen Mo- 
duln“ d,, nach Voigts Bezeichnung) enthalten, erfahren eine mehr 
oder weniger beträchtliche Vereinfachung, wenn der Kristall Sym- 
metrieeigenschaften besitzt und das Koordinatensystem diesen ent- 
sprechend gewählt wird; denn es ergeben sich dann aus der Forde- 
rung, daß die skalare Funktion » beim Übergang zu einem kristallo- 
graphisch gleichwertigen Koordinatensystem gleiche Koeffizienten 
behalten muß, eine Anzahl von Bedingungsgleichungen zwischen den 
Konstanten e,, bzw. d,,.“) Das Vorhandensein eines Zentrums der 
Symmetrie schließt die hier betrachtete piözoelektrische Erregung 
überhaupt aus, da ® als polarer Vektor (vgl. Artikel Abraham 
über geometrische Grundbegriffe IV 14, Nr. 21) bei Umkehrung 
aller Koordinatenachsen sein Vorzeichen wechselt, die Deformations- 
oder Spannungskomponenten aber dabei unverändert bleiben. 
Nachstehende Zusammenstellung gibt für die azentrischen Kristall- 
gruppen die spezielle Form der linearen Ausdrücke, welche nach 
dem Ansatz (44) die durch mechanische Einwirkung primär er- 
regten elektrischen Momente ®, —= ®, — (P,), usw. als Funktionen 
der Spannungen darstellen. (Letztere werden in diesem Falle, näm- 
lich bei verschwindendem elektrischen Feld, nach (40) mit den X,,.. ., 
Y,,.. . identisch.) Jeder Kristallgruppe sind die Symbole der für sie 
wesentlichen Symmetrieelemente hinzugefügt, wobei A," bzw. 8,” eine 
in die X-Richtung fallende n:zählige Symmetrieachse bzw. eine eben- 
solche Spiegeldrehungsachse, E, eine zur X-Achse senkrechte Sym- 








40) Eine Untersuchung von Voigt (Göttinger Nachr. 1900, p. 364) über 
den Charakter dieser Konstanten zeigt, daß sich dieselben durch Kombination 
eines Vektors, eines Tensors und einer gerichteten Größe 3. Ordnung darstellen 
lassen. (Siehe auch IV 14, Nr. 28 c.) 

41) Über die allgemeinen Prinzipien dieser Symmetriebetrachtungen vgl. 
IV 14. I 


9. Spezialisierung für die einzelnen Kristallgruppen. 379 


metrieebene bezeichnet; aus diesen Symbolen ist zugleich die spezielle 
Wahl des Koordinatensystems in den einzelnen Fällen ersichtlich. 


1. Triklines System, Hemiedrie. Allgemeine Gleichungen (44). 
2. Monoklines System, Hemiedrie. E.. 


P, u d,,X, + de Y, + d.5Z, fF ds X,, 
» ee dl, X, 2% Ay 2, Fr d,; Z, + Ay; E; 
P; a d;; z, + dy; Z,- 
3. Monoklines System, Hemimorphie. A,?. 
m; = dut, + ds, B, =d,Y.+ dy Zu 
RB; ie dyı X, * Ay: z, + d,Z, FF dk, 
4. Rhombisches System, Hemiödrie. AA. 
B; ar dis T., PB, a ds; Zu; B, BCE Az X, 
5. Desgl., Hemimorphie A?E,. 
RB, Ka dsZ,; B, Fe dyy m 
B; E dz, %; fr Ass F, "4 dy; Z,. 


Tetragonales System. 

6. Enantiomorphe Hemiedrie. A?A,?. 

B, ge dis Y,, R, ee d.,2, ? B; —=(. 
7. Hemimorphe Hemiedrie. AE,. 
S, EN dsZ,; B, sg di; Ku MM FE, di, (X, er 2 + daZ,. 
8. Hemimorphe Tetartoedrie. A. Superposition der Ausdrücke 

6. und 7. 

9. Sphenoidische Hemiedrie. SA. 

PB; —d,u 2 P, Zade dis x B; —d,, X,- 

' 10. Sphenoidische Tetartoedrie. S?. 
» =d,Y. + dsZ,, R, = — d,Y,+ dufrr 
PB, ASER: d,,(X, Rs Y,) + AggX,. 


Rhomboödrisches System. 
11. Enantiomorphe Hemiedrie. AA. 
»; st (X, SEN Y,) 2 duY,, RB, SORE dy4Lr er 2d,X,, B, =( 
12. Hemimorphe Hemiedrie. APE,. 
B, Er 12: ER 2d,X,, P, ve des (Y, SEE X,) ’ 
R; Iaae d;, (X, + Y,) gr d,Z,. 
13. Tetartoödrie. A,’. Superposition der Ausdrücke 11. und 12. 


380 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


Hexagonales System. 

14. Enantiomorphe Hemiedrie. AA,?. — Wie Gruppe 6. 
15. Hemimorphe Hemiedrie. A,E,. — Wie Gruppe 7. 
16. Hemimorphe Tetartoödrie. A,. — Wie Gruppe 8. 
17. Hemiödrie mit dreizähliger Achse. APEA?. 

B, Sr d,, (X, gr Y,) ’ R, m 2duX,; R, =(. 
18. Tetartoödrie mit dreizähliger Achse. AE,. 

Pu, — TV) — 2dgk,, Py— da (X, — F,) + 24,8, 
=ß,. 


Reguläres System. 
19. Hemimorphe Hemiedrie. 8,’—= 8,’ —= 8, und 
20. Tetartoädrie. AP=A’= 4}. 
$, = dt, ®, = 442, R; = du‘, - 

Für die enantiomorphe Hemiödrie verschwinden hier trotz Fehlens 
eines Zentrums der. Symmetrie sämtliche piezoelektrische Moduln. 

Die linearen Ausdrücke, welche nach (39) die durch gegebene 
Deformationen erregten Momente ®, — (P,), usw. darstellen, speziali- 
sieren sich für die einzelnen Kristallgruppen in derselben Weise, wie 
die Ausdrücke (44), mit dem einzigen Unterschied, daß in den Fällen, 
wo die Z-Achse eine dreizählige Symmetrieachse ist, an Stelle von X, 
nicht &,, sondern $x, zu setzen ist. 


10. Anwendung auf besondere Fälle. Die für die Beobachtung 
wichtigste Art piözoelektrischer Erregung ist diejenige durch die 
homogene d. h. im ganzen Kristall konstante Deformation, welche 
durch einseitigen Druck (ausgeübt auf die Endflächen eines prisma- 
tischen Kristallstücks) hervorgebracht wird. Hierauf können die 
Formeln (44) direkt Anwendung finden; denn hier sind &,, -:- 
H,,... unmittelbar gegeben, nämlich, wenn P die Größe des Druckes, 
Vi, Ve, v, Seine Richtungskosinus sind: 

(46) u,=—-vP,... H=—-uyFP. 

Um das piezoelektrische Verhalten eines Kristalls zu veranschau- 
lichen, kann man die aus (44) und (46) für P=1 und alle mög- 
lichen Druckrichtungen erhaltenen Momente als Vektoren von einem 
Punkte aus auftragen und die von deren Endpunkten erfüllte Ober- 
fläche konstruieren. Diese „piözoelektrische Fläche“ ist für spezielle 
Kristallgruppen (die hemimorphe Hemiädrie des rhomboö@drischen und 
des ARE Systems) von E. Riecke‘?) und W. Voigt*?), sodann 


42) E, Riecke, Göttinger Nachr. 1891, p. 223. 





10. Anwendung auf besondere Fälle. 381 


allgemein von F. Bidlingmaier**) untersucht worden. Letzterer zeigte, 
daß dieselbe in den meisten Fällen einem besonderen Typus der 
Steinerschen Fläche angehört. Sie ist vom 4. Grade und besitzt 
3 Doppelgerade, die einen Punkt gemeinsam haben; sie verläuft ganz 
innerhalb des durch die Endpunkte der letzteren bestimmten Tetra- 
öders, dessen Seitenflächen sie in Ellipsen berührt, und kann mit 
Hilfe des Doppelgeradenkreuzes in einfacher Weise konstruiert werden 
(vgl. $ 12 der Bidlingmaierschen Dissertation). Das Doppelgeraden- 
kreuz und das zugehörige Tetraäder muß der Symmetrie der Kristall- 
gruppe entsprechen, und hierdurch ist die piözoelektrische Fläche für 
jede Gruppe (abgesehen von den noch willkürlich bleibenden Para- 
metern) ihrer Natur nach angebbar. In den Gruppen des tetragonalen 
Systems mit Ausnahme derjenigen mit Spiegelachse, sowie in allen 
Gruppen des hexagonalen Systems, wo ein solches mit der Symmetrie 
verträgliches Tetraöder nicht möglich ist, entartet die pizoelektrische 
Fläche zu einem (in Bezug auf den Ausgangspunkt der Konstruktion 
exzentrischen) Rotationsellipsoid oder (wie z. B. bei der Gruppe 11, 
welcher der Quarz angehört) zu einer Kreisscheibe. In allen übrigen 
Fällen kann sie aus der regulären Steinerschen Fläche durch Dehnung, 
Drehung, Parallelverschiebung und Kollineation abgeleitet werden. 

Es ist jedoch zu bemerken, daß die pizoelektrische Fläche für sich 
allein zur Charakteristik des piezoelektrischen Verhaltens bei ein- 
seitigem Druck nicht ausreicht, sondern daß noch die Zuordnung 
ihrer Punkte zu den die Druckrichtung repräsentierenden Punkten 
der Halbkugel hinzugefügt werden muß. In der Tat besitzt auch die 
allgemeinste, den symmetrielosen Kristallen zukommende piözoelek- 
trische Fläche nur 15 Parameter, während die Anzahl der „pi&zo- 
elektrischen Moduln“ d,, in diesem Falle 18 beträgt. Nur in höher 
symmetrischen Gruppen wird die Anzahl der Flächenkonstanten gleich 
derjenigen der Moduln. 

Für die hemimorph-hemiedrische und tetartoödrische Gruppe des 
regulären Systems ist die Gleichung der Fläche, bezogen auf die hier 
den Würfelnormalen parallelen Doppelgeraden als Koordinatenachsen: 


yz 2% sy, 
(47) Fat 
und die Zuordnung ihrer Punkte zu den Richtungskosinus von P ist 


durch die Proportion gegeben: 


43) W. Voigt, Vers. d. Naturf. u. Ä. 1891, II. Teil, p. 36—39. 
44) F. Bidlingmaier, Diss. Göttingen 1900 (Geometrischer Beitrag zur Piözo- 
elektrizität der Kristalle)., 


382 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


ES Ba! 
(48) ziy:2=—:—:—, 


VE Y de 


woraus folgt, daß die beiden Ebenen, welche durch die Richtung von 
P einerseits, durch diejenige von ® andererseits und durch eine der 
Koordinatenachsen hindurch gelegt werden, mit einer der durch die 
letztere hindurchgehenden Koordinatenebenen komplementäre Winkel 
bilden. Liegt die Druckrichtung in einer Koordinatenebene, so fällt 
B in die zu dieser senkrechte Symmetrieachse. 

Eine andere geometrische Darstellung der piözoelektrischen Er- 
regung durch einseitigen Druck hat W. Voigt angegeben®”). Sie be- 
ruht auf dem aus den Grundformeln (44) in Verbindung mit (46) 
leieht ersichtlichen Satze, daß der Druck P, welcher in beliebigen 
Richtungen wirken muß, um ein vorgeschriebenes Moment nach einer 
der 3 Koordinatenachsen zu erzeugen, durch das Quadrat des der 
Druckriehtung parallelen Radiusvektors je einer zentrischen Fläche 
2. Grades gegeben wird, deren Gestalt und Lage durch die piezo- 
elektrischen Moduln vollständig bestimmt ist, während ihre absoluten 
Lineardimensionen der Quadratwurzel aus dem vorgeschriebenen Mo- 
ment PB, — (B,), bzw. B, — (P,), oder B, — (P,), proportional sind. 
Diese 3 Flächen zweiten Grades, deren jede durch 6 Parameter be- 
stimmt ist, sind ausreichend zur vollständigen Charakterisierung 
des piözoelektrischen Verhaltens. Man kann z. B. durch Aufsuchung 
der Schnittpunkte dreier solcher Flächen diejenigen Drucke nach Größe 
und Richtung bestimmen, welche ein vorgeschriebenes Gesamtmoment 
erzeugen. 

Dieselben Flächen 2. Grades können auch zur Veranschaulichung 
des reziproken Phänomens dienen; die reziproken Quadrate ihrer 
Radienvektoren geben nämlich die in deren Richtung durch ein be- 
stimmtes, je einer Koordinatenachse paralleles elektrisches Feld er-- 
zeugte lineare Dilatation *°). 

Da der Beobachtung an einseitig gepreßten rechtwinkligen Prismen 
nieht das Gesamtmoment, sondern die Komponenten nach den Prismen- 
kanten, welche zugleich die auf den Prismenflächen auftretende freie- 
elektrische Flächendichte messen, unmittelbar zugänglich sind, so hat 
auch die geometrische Darstellung dieser Komponenten Interesse, ins- 
besondere der Komponente ®/ nach der Druckrichtung. Die Ober- 
flächen, deren Radiusvektor r dieses longitudinale Moment ®,/ für kon- 
stante Größe und alle möglichen Richtungen des Druckes repräsen- 


45) W. Voigt, Ann. Phys. Chem. 63 (1897), p. 376; Kristallphysik, p. 105#. 
46) W. Voigt, Ann. Phys. Chem. 63 (1897), p. 380, 


ak 


10. Anwendung auf besondere Fälle. 383 


tiert, sind von Voigt für die besonders interessanten Gruppen 11., 12. 
und 19. (oder 20) der obigen Aufzählung untersucht und durch 
Modelle dargestellt worden‘). Im Falle der regulären Gruppe 19. 
hat diese Fläche die Gleichung: 


(49) PB, = — 3d,,Pvvv, oder = — 3d,,Payz; 


sie besteht aus vier geschlossenen Flächenstücken, die nur im Null- 
punkt zusammenhängen, in den abwechselnden Oktanten liegen und 
natürlich symmetrisch in bezug auf die in dem betreffenden Oktanten 
liegende dreizählige Symmetrieachse (Oktaödernormale) sind. Von ähn- 
lichem Typus, und ebenfalls nur der absoluten Größe nach von der 
Substanz des Kristalls abhängig, ist die ®,-Fläche bei der Gruppe 11., 
deren bekanntester Repräsentant der Quarz ist; hier gilt: 


(50) B=d,Pr, (vn? — 31) oder rt d,Px(a® — 39), 


und die Fläche besteht aus drei geschlossenen, nur im Nullpunkt zu- 
sammenhängenden Stücken, welche in bezug auf die XY-Ebene und 
je eine der drei durch die Hauptachse (Z-Achse) und die zweizähligen 
Symmetrieachsen gehenden Ebenen symmetrisch sind. Bei der Gruppe 12. 
endlich, welcher der Zurmalin angehört, erhält man 


51) W—=— Pldyy ww? — 3) + (du + d,)v, (Lv) + dsvz?) 
und wird dieFlächker = ®%, also aus derjenigen für 11. dadurch er- 
halten, daß man dem durch (50) gegebenen Radiusvektor noch eine 
vom Neigungswinkel gegen die Hauptachse allein abhängige Strecke 
hinzufügt; die Gestalt der Fläche ist hier von der Substanz des Kri- 
stalls abhängig. Für einen Vertreter der monoklinen Gruppe 53., 
die Weinsäure, hat 7. Tamaru“®) die sämtlichen acht piezoelektrischen 
Moduln bestimmt und die Fläche des longitudinalen Moments diskutiert. 

Die experimentelle Bestätigung der vorstehenden Formeln der 
Voigtschen Theorie ist durch elektrometrische Messungen der auf den 
Flächen einseitig gepreßter Prismen auftretenden freien Ladungen von 
J. und P. Ourie*”) und von Riecke und Voigt?”) an Quarz und Turmalin, 
sowie von Pockels®') an dem regulär tetartoödrischen Natriumchlorat 
erbracht worden. 


47) W. Voigt, Vers. d. Naturf. u. Ä. 1891, II, p. 36. — Katalog math. Modelle 
usw., München 1892, p. 385. 

48) T. Tamaru, Physik. Ztschr. 6 (1905), p. 379. 

49) J. u. P. Curie, Paris C. R. 92 (1881), p. 186; 93 (1882), p. 204; Journ. 
de phys. (2) 1 (1882), p. 245. 

50) W. Voigt, Ann. Phys. Chem. 45 (1892), p. 523. 

51) F. Pockels, Göttingen Abh. Ges. d. Wiss. 39 (1894), II. $ 4. 


384 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


Außer für den Fall der homogenen Deformation durch einseitigen 
Druck ist die primäre piezoelektrische Erregung noch für gewisse 
Fälle ungleichförmiger Deformation untersucht werden, so für die 
Biegung und Torsion eines Zylinders’?) und für die Deformation eines 
solchen durch gewisse auf die Mantelfläche ausgeübte Drucke’). Da 
in diesen Fällen die elektrischen Momente nicht mit einer Oberflächen- 
belegung allein äquivalent sind, so muß, um die beobachtbaren elek- 
trischen Wirkungen des deformierten Kristallzylinders zu finden, das 
Potential der erregten elektrischen Verteilung berechnet werden. Voigt 
hat gezeigt°*), wie diese Aufgabe für einen unendlich langen Kreiszylinder 
auch mit Berücksichtigung der sekundären Wirkungen (Selbstinfluenz 
und Elektrostriktion) streng gelöst werden kann, und hat. u. a. den für die 
Erklärung gewisser Beobachtungen?) wichtigen Satz gefunden, daß ein 
solcher Zylinder von beliebiger kristallographischer Orientierung, wenn 
überhaupt, durch longitudinalen Druck oder Zug stets so erregt wird, 
daß sich seine Peripherie in zwei Hälften, und durch gleichförmige 
Biegung oder Drillung so, daß sie sich in vier gleiche Teile von ent- 
gegengesetzt gleichem elektrischen Verhalten teilt. 


li. Polare Pyroelektrizität und reziproker Wärme - Effekt. 
Schon lange vor Entdeckung der Piözoelektrizität war die Erschei- 
nung bekannt, daß gewisse Kristalle (wie der Turmalin) infolge von 
Temperaturänderung elektrisch erregt werden, welche Eigenschaft man 
Pyroelektrizität nennt°®). Als eigentlich pyroelektrisch sind aber nach 
Voigt nur diejenigen Kristalle zu bezeichnen, welche bei gleichför- 
miger, d. h. im ganzen Kristall konstanter Temperaturänderung elek- 
trisch erregt werden. Sofern diese Erregung eine polare ist, wie in 
diesem Abschnitt vorausgesetzt werden soll, kann sie nur bei gewissen 
azentrischen Kristallgruppen auftreten, nämlich bei den Gruppen 1. 
und 2. der in Nr.9 gegebenen Aufzählung und bei denjenigen mit 
einer ausgezeichneten polaren Symmetrieachse. Ungleichförmige Tem- 
peraturänderung kann hingegen dadurch, daß sie Spannungen verur- 
sacht, bei allen piözoelektrischen Kristallen elektrische Erregung hervor- 
rufen, und es ist die unter solehen Umständen beobachtete Elektri- 
zitätsentwicklung vielfach auch als Pyroelektrizität bezeichnet worden. 


52) W. Voigt, Allg. Theorie usw. $ 6—9. 

53) ©. Somigliana, Ann. di mat. (2) 20 (1892). 

54) W. Voigt, Göttinger Nachr. 1894, Nr. 4. 

55) W. C. Röntgen, Ann. Phys. Chem. 39 (1890), p. 16. 

56) W. Hankel, dem man ausgedehnte Beobachtungen auf diesem Gebiete ver- 
dankt, gebrauchte die Bezeichnung Thermoelektrizität, welche aber wegen ihrer 
anderweitig schon festgelegten Bedeutung nicht zur Annahme gelangte. 


11. Polare Pyroelektrizität und reziproker Wärmeeffekt. 335 


Theoretisch behandelt ist diese scheinbare pyroelektrische Erregung 
von Voigt”) für den Fall oberflächlicher Erwärmung oder Abkühlung 
einer Kristallkugel, für welchen Beobachtungen an Quarz nach dem 
Kundtschen’®) Bestäubungsverfahren von Röntgen”) vorlagen. 

Die primären wahren pyroelektrischen Momente, d.h. diejenigen, 
welche nicht von den die Temperaturänderung begleitenden Deforma- 
tionen herrühren, sondern rein thermischen Ursprungs sind‘), lassen 
sich im allgemeinsten Falle für hinreichend kleine Temperaturände- 
rungen r durch die Formeln 


(52) PB, = 17, P,= nt, PB, = 1,7 
darstellen. Die Konstanten r reduzieren sich in der Gruppe 2. auf 
zwei und in allen hemimorphen Gruppen auf eine einzige. 

Im allgemeinen werden sich solche wahre pyroelektrische Mo- 
mente mit scheinbaren, durch Deformationen hervorgerufenen, über- 
lagern. Um dies zu berücksichtigen, stelle man die Momente in 
Erweiterung des Ansatzes (44) als Funktionen der Spannungen und 
der Temperaturänderung dar; dabei tritt letztere mit anderen Koeffi- 
zienten P,, Pa, P, multipliziert auf, welche mit den r, durch die 
Relationen 


(53) 2, Dr ayey +n 


verbunden sind, worin die a, die thermischen Deformationen des 
Kristalls (a,, a,, a, die Ausdehnungskoeffizienten parallel den Koordi- 
natenachsen, a,,a,, a, die Änderungen der Winkel zwischen letzteren 
für 1° Temperaturerhöhung) bedeuten. Die Konstanten p, (die für 
dieselben Kristallgruppen verschwinden, bzw. sich auf eine oder zwei 
“ reduzieren, wie die r,) werden als die „pyroelektrischen Konstanten“ 


57) W. Voigt, Allg. Theorie usw. $ 11 und 12; Göttinger Nachr. 1894, 
Nr. 4, p. 26. 

58) A. Kundt, Ann. Phys. Chem. 20 (1883), p. 592. Diese Methode ist sehr 
geeignet zur qualitativen Untersuchung der Pyroelektrizität. 

59) W. C. Röntgen, Ann. Phys. Chem. 19 (1883), p. 513. 

60) Das Vorhandensein wahrer Pyroelektrizität ist durch Messungen von 
W. Voigt am Turmalin nachgewiesen (Göttinger Nachr. 1898, Nr. 2; Ann. Phys. 
Chem. 66 (1898), p. 1030), wobei sich ergab, daß 20°, der ganzen beobachteten 
Erregung „wahre“, 80°, „falsche“ Pyroelektrizität waren. Es ist übrigens be- 
merkenswert, daß bei allen bisher daraufhin untersuchten pyroelektrischen 
Kristallen das Vorzeichen der Erregung mit demjenigen übereinstimmt, welches 
sich gemäß dem piözoelektrischen Verhalten aus der thermischen Deformation 
bestimmt (vgl. J. u. P. Curie, Paris C. R. 91 (1880), p. 294; W. CO. Röntgen, Aun. 
Phys. Chem. 19 (1883), p. 513); daraus folgt, daß jedenfalls immer die „falsche‘ 
Pyroelektrizität überwiegt. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 25 


386 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


schlechthin bezeichnet, weil sie die unter gewöhnlichen Umständen 
(nämlich bei verschwindenden Spannungen) auftretende pyroelektrische 
Erregung bestimmen. 

Mit. Hilfe des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik läßt 
sich zeigen®'), daß mit ihrem Vorhandensein ein umkehrbarer 
Wärmeeffekt verknüpft ist, nämlich eine Temperaturänderung des bei 
ausgeschlossenem Wärmeaustausch in ein elektrisches Feld ge- 
brachten Kristalles vom Betrage 


T 
(54) na: 7° mE, +n8,+»8), 


falls 7 die absolute Temperatur, 3 das mechanische Wärmeäquiva- 
lent, ce die spezifische Wärme, s die Dichte des Kristalls ist. Diesen 
„elektrokalorischen Effekt“ haben Straubel®) und Fr. Lange‘) am 
Turmalin experimentell nachgewiesen und ihn nach Vorzeichen und 
absoluter Größe in Übereinstimmung mit vorstehendem theoretischen 
Resultat gefunden. 

Es sei hier noch erwähnt, daß auch für isobrope oder zentrisch- 
symmetrische kristallinische Dielektrika nach dem 2. Hauptsatz der 
Thermodynamik eine Wärmewirkung der elektrischen Erregung zu 
folgern ist“), sofern die Dielektrizitätskonstanten sich mit der Tem- 
peratur ändern; diese Wirkung ist aber dem Quadrate der Feldstärke 
proportional, kehrt sich also nicht mit der Richtung des Feldes um. 


12. Molekulartheorien der Piözo- und Pyroelektrizität. Zur 
Erklärung der Pyroelektrizität des Turmalins nahm Lord Kelvin®) 
an, daß die Moleküle desselben ein mit der Temperatur veränderliches, 
permanentes elektrisches Moment besitzen, daß also ein solcher Kri- 
stall das elektrische Analogon zu einem permanenten Magneten sei. 
Diese Vorstellung hat Riecke®®) auf alle piezo- und pyroelektrisch 
erregbaren Kristalle ausgedehnt, indem er jedes Molekül von einem 
System positiver und negativer elektrischer Pole umgeben annimmt, 
welche in den (als isotrope Kugeln behandelten) Molekülen selbst 
‚elektrische Momente influenzieren. Durch die mit elastischen oder 
thermischen Deformationen verbundenen gegenseitigen Lagenände- 
rungen der Moleküle ändern sich auch die influenzierten Momente, 


61) Lord Kelvin, Math. phys. papers 1, p. 316, 1877. 

62) R. Straubel, Göttinger Nachr. 1902, Heft 2. 

63) Fr. Lange, Diss. Jena 1905. 

64) @. Lippmann, Ann. chim. phys. (5) 24 (1881), p. 171. 

65) Lord KelWwin, Nichols Cyelopaedia of Phys. Sc. 1860; Math. phys. 
papers 1, p. 315. 

66) E. Riecke, Göttingen Abhandl. d. Ges. d. Wiss. 38, 1892. 


12. Molekulartheorien der Piözo- und Pyroelektrizität. 387 


und diese den Deformationen proportional zu setzenden Änderungen 
sind es nach der Rieckeschen Theorie, welche die beobachtbaren piezo- 
oder pyroelektrischen Wirkungen verursachen; denn die etwa schon 
im Normalzustande vorhandenen permanenten Momente selbst wären 
durch eine kompensierende elektrische Oberflächenbelegung des Kristalls 
der Wahrnehmung entzogen. Riecke hat gezeigt, daß man auf Grund 
dieser Hypothese zu den allgemeinen Grundgleichungen der Voigtschen 
Theorie gelangt, wenn man den einzelnen azentrischen Kristallgruppen 
je nach ihrer Symmetrie eins der folgenden fünf Polsysteme oder ge- 
wisse Kombinationen derselben zuschreibt: 

I. Das einachsige Polsystem, aus zwei entgegengesetzt gleichen 
Polen bestehend (für sich allein ausreichend in den Gruppen 1, 2, 5, 
5, 7 und 15). 

II. Das trigonale Polsystem: abwechselnd entgegengesetzte Pole 
in den Eeken eines regulären Sechsecks, dessen Mittelpunkt mit dem 
des Moleküls zusammenfällt (allein ausreichend für Gruppe 17). 

III. Das dihexagonale Polsystem: abwechselnd + und — Pole in 
den Ecken zweier regulärer Zwölfecke, die in zwei parallelen Ebenen 
liegen und um 30° gegeneinander gedreht sind. 

IV. Das ditetragonale Polsystem, analog dem vorigen, nur mit 
Achtecken statt Zwölfecken gebildet. 

V. Das tetraödrische Polsystem, vier + und vier — Pole in den 
Ecken eines Würfels, die gleichnamigen die Ecken je eines regulären 
Tetraöders bildend (in den Gruppen 4, 9, 19, 20 allein auftretend). 

Da diese Polsysteme zum Teil höhere Symmetrie besitzen, als 
die Kristalle der betreffenden Gruppe, und da ihre Wahl überhaupt 
einigermaßen willkürlich erscheint, so hat Voigt die Molekulartheorie 
der Piözoelektrizität in der Weise abgeändert, daß er über die Pol- 
systeme selbst zunächst keine spezielle Annahme macht, aber ihnen 
Potentiale zuschreibt, welche die Symmetrie der Kristallgruppe besitzen®”). 
Spezielle solche Potentiale erhält man nach dem Bildungsgesetz °?) 

en 
“ RT 


d. h. durch wiederholte Differentiation des Newtonschen Elementar- 
potentials nach bestimmten Richtungen I,, l,, ... Entsprechende Pol- 
systeme lassen sich leicht angeben; außerdem, daß sie der krystallo- 
are Symmetrie vollständig enlirechen: erscheint es als ein 


67) W. Voigt, Göttinger Nachr. 1893, p. 649. 
68) Vgl. Art. Meyer-Burkhardt über Potentialtheorie II A Tb Nr. 4, p. 470. 
25* 


wi 


388 V16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


Vorzug, daß sie selbst kein permanentes elektrisches Moment besitzen 
(sofern v > 2, was immer der Fall ist). Denn durch gewisse Beobach- 
tungen‘) ist wahrscheinlich gemacht, daß ein solches selbst bei dem 
stark pyroelektrischen Turmalin nicht in merklicher Intensität existiert, 
bzw. nur von solcher Größenordnung ist, daß es bei einer von der ge- 
wöhnlichen nicht sehr verschiedenen Temperatur verschwinden würde. 

Voigt hat (l. ec. p. 669) noch eine von der vorstehenden etwas 
abweichende molekulartheoretische Erklärung der Pyro- und Piözo- 
elektrizität gegeben, welche sich der Vorstellung der Elektronentheorie 
von der Konstitution der Atome besser einfügt, indem sie die ganze 
elektrische Wirkung der Moleküle ihren „Polsystemen“ zuschreibt und 
annimmt, daß sich die einzelnen „elektrischen Pole“ (Elektronen) des- 
selben Moleküls infolge einer 'Temperaturänderung oder elastischen 
Deformation des Kristalls gegeneinander verschieben, und zwar ver- 
schieden gelagerte Pole in verschiedener Weise. Auch nach dieser 
Vorstellung können also durch Deformationen elektrische Momente 
erregt werden, wenn im Normalzustande des Kristalls keine solchen 
vorhanden sind, und sie führt ebenfalls zu den von der allgemeinen 
Voigtschen Theorie (vgl. Nr. 8) vorausgesetzten und durch die Er- 
fahrung bestätigten linearen Beziehungen zwischen diesen Momenten 
und den sie erzeugenden Deformationen oder Spannungen. 


13. Zentrische Pyro- und Piözoelektrizität‘).. Nach der zu- 
letzt erörterten Molekularvorstellung ist zu erwarten, daß auch zen- 
trisch symmetrische Kristalle einer pyro- und pi@zoelektrischen Er- 
regung fähig sein können, da ja auch ihre Moleküle mit Polsystemen 
behaftet sein werden, die durch Temperaturänderung und Deformation 
verändert werden können. Nur müssen hier die Polsysteme, der 
Kristallsymmetrie entsprechend, bei jeder Temperatur selbst zentrisch 
symmetrisch sein und dies auch im deformierten Kristall bleiben, da 
ja die Deformation eines Volumelements ein zentrisch symmetrischer 
Vorgang ist. 

Die Moleküle werden hier also niemals elektrische Momente ge- 
wöhnlicher Art besitzen, und ihre elektrische Wirkung im Außenraum 
wird demnach ganz anderen Gesetzen folgen, als bei polar erregten 
Körpern. Das Potential eines solchen Polsystems ist allgemein durch 
eine Reihe von Gliedern von der Form (55) mit gerader Anzahl v der 
Differentiationen darstellbar und reduziert sich in hinreichend großer 


69) W. Voigt, Göttinger Nachr. 1896, Heft 3; Ann. Phys. Chem. 60 (1896), 
p- 368. 
70) W. Voigt, Göttinger Nachr. 1905, p. 394. 


‚a ee 


13. Zentrische Pyro- und Piözoelektrizität. 389 


Entfernung — also jedenfalls außerhalb des Kristalls — auf die Glieder 
mit v—2. Diese kann man auf die Form bringen: 


1 1 1 
? ar 92 - | 


r r r 
(86) ,—_,, |M PIAI + my 21° + Mm; 1: | D 


wo 4,l,, I, drei zueinander senkrechte Richtungen, und m,, m;, m, 
Konstanten sind, welche die Natur eines Tensortripels mit den Achsen- 
richtungen 1,, l,, l, besitzen. Man kann obiges Potential deuten als 
dasjenige eines Polsystems aus je vier gleichstarken, paarweise ent- 
gegengesetzten Polen, die in der Reihenfolge + — — + oder — + + — 
auf den Geraden /,, l,, I, angeordnet sind; die m,, my, m;, welche 
Voigt als Momente 2. Ordnung bezeichnet, sind dann die Produkte 
aus der Ladung des einzelnen Pols und den beiden Abständen eines 
der äußeren Pole von den beiden mittleren (welche letzteren man 
übrigens auch in einen Doppelpol vereinigt denken kann). Drückt 


man die Differentialquotienten von — nach den /, durch diejenigen 


nach den Koordinaten aus, so erhält man 


geil jet 


(56) day, = m, 33 DE RE Duos TR AR 

woraus ersichtlich ist, daß ein zentrisches Polsystem hinsichtlich seiner 
Wirkung in großer Entfernung durch sechs Parameter charakterisiert 
wird. — Das Potential eines Kristallstücks, dessen Moleküle derartige 
Polsysteme enthalten, ist also gegeben durch das Raumintegral 


zei at 
1 e r y 
(57) Be anbauen gi. ds, 


wo die M,, die „Momente 2. Ordnung“ bezogen auf die Volumeinheit 
sind. Durch zweimalige partielle Integration kann man dasselbe um- 
gestalten in 


Ef ku fl [M,,cos(n,x) +M;ge0s(n,y) + M cos (n,2)] u: cin ar ‚| do 
Ben af el. A 
45 = I (ge 0M;; a) RT ER kr 


0Y 
Das zweite Oberflächen- und das Raumintegral stellen gewöhnliche 
Newtonsche Potentiale einer Oberflächenbelegung und einer räumlich ver- 
teilten Ladung dar, die aber im Falle homogener Erregung (wie sie 
durch gleichförmige Temperaturänderung bzw. homogene Deformation 








390 YV 16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


erzeugt würde) verschwinden; das erste Oberflächenintegral hingegen 
bedeutet das Potential einer die Oberfläche des Kristalls bedeckenden 
elektrischen Doppelschicht, die analog ist den in der Magnetostatik be- 
trachteten magnetischen Doppelflächen (vgl. Art. Gans V 15, Nr. 29), von 
denen sie sich aber dadurch unterscheidet, daß die Richtung ihres elektri- 
schen Moments nicht senkrecht zur Oberfläche ist, da dessen Komponenten: 

Ln [M,. cos (n, x) + M,, cos (n,y) + M,, cos (n,2)} usw. 
nicht proportional mit cos (n, x), cos (n, y), cos (n, 2) sind. 

Temperaturänderungen werden nun eine für die Beobachtung be- 
merkbare Erregung der betrachteten Art hervorbringen, sobald die 
Momente 2. Ordnung M,,,-.. M,; Funktionen der Temperatur sind. 
Die Richtungen /,, !,, !, sind in diesem Falle bei Kristallen von rhom- 
bischer oder höherer Symmetrie als kristallographisch ausgezeichnete 
Richtungen von vornherein bekannt. Wählt man dieselben als Ko- 
ordinatenachsen, so wird aus (57): 


Tu oe ot 
(58) Mat Mr N: Pa 2a | 8 


Man erkennt hieraus, daß bei regulären Kristallen, wo nach Symmetrie bei 
gleichförmiger Erwärmung stets M, = M,;, = M, sein muß, %, im 
Außenraum verschwindet, so daß also bei regulären Kristallen (wie bei 
isotropen Körpern) eigentliche zentrische Pyroelektrizität nicht vor- 
kommen kann. Bei allen Kristallen des rhomboedrischen, hexagonalen 
und tetragonalen Systems erfordert die Symmetrie, wenn man die 
Z-Achse in die ausgezeichnete Symmetrieachse legt, die Gleichheit 
von M, und M,, und es wird bei homogener Erregung (d. h. im 
ganzen Kristall gleicher Temperaturänderung): 


„1 


| 1 Er 
(89) v=,, M; —M,) ji as 


1 

2. 

1 . 
=, M; — 4) fi cos (n, 2) de. 


Bei einem von lauter gleichartigen Flächen begrenzten Kristall- 
polyeder (z. B. einem Rhomboöder) tragen danach alle Flächen eine 
gleiche Doppelbelegung. Führt man in jeder Kristallfläche ein Achsen- 
system &, 7 ein, dessen &-Achse in deren Hauptschnitt (der Ebene 
(N, 2)) liegt, so ist 

ER) 3. 
zu 2) + gg 08 (&, 2), 


13. Zentrische Pyro- und Piözoelektrizität. 391 


und man erhält aus (59) 


(60) #, — ee [cos® (n, 2) a "de 


+ cos (n, 2) cos ($, 2) fa # "dsan|, 


wo die Summe über alle Flächen zu erstrecken ist. Der erste Teil 
der Summe ist das Potential einer den ganzen Kristall umgeben- 
den, überall gleichen gewöhnlichen Doppelbelegung, welches im Außen- 
raum Null ist; der zweite Teil läßt sich aber durch partielle Inte- 
gration in Randintegrale überführen und stellt also das Potential 
linearer Ladungen der Kanten dar. Man hat hier also einen 
Fall, wo Iinienförmig verteilte elektrische Ladungen in der Natur 
vorkommen können. Ähnliches ergibt sich auch für Prismen rhom- 
bischer Kristalle, deren Prismenkanten einer Symmetrieachse parallel 
sind; außer linearen Ladungen dieser Kanten, die bei den zur X-, Y-, 
Z-Achse parallelen Prismen mit M, — M,, M, — M,, M, — M, pro- 
portional (und für die vier Kanten desselben Prismas abwechselnd 
entgegengesetzt) sind, treten hier allerdings noch Doppelbelegungen 
der Endflächen auf. 

Deobachtungen über zentrisch symmetrische pyroelektrische Er- 
regung sind in großer Zahl beschrieben worden, doch handelt es sich 
dabei in den meisten Fällen um Kristalle, die nachweislich aus azen- 
trisch erregbaren Teilen in zentrischer Gruppierung zusammengesetzt 
sind, wodurch das elektrische Verhalten des ganzen Kristalls schein- 
bar zentrisch symmetrisch wird. Eigentliche zentrische Pyroelektrizität 
ist jedoch durch Beobachtungen von Voigt, die an passend geschliffenen 
Präparaten angestellt wurden, für Kalkspat, Dolomit, Topas, Baryt 
und Cölestin wahrscheinlich gemacht ’®). 

Es ist danach zu erwarten, daß auch zentrische Piözoelektrizität 
existiert. Die Gesetze derselben erhält man nach Analogie 
derjenigen der azentrischen Piözoelektrizität, indem man die auf ein 
beliebiges Koordinatensystem bezogenen elektrischen Momente 2. Ord- 
nung M;,,-:. M,, linearen Funktionen der Deformations- oder Span- 
nungskomponenten gleichsetzt, also entweder 


(61) = (4%, + %2Y, + 932,4 %ıY, + %2, + Kısky, 
oder 
(61') se FE BııX, ar Bis X, ns 2 B1s£, a5 BF, an m Bi: r Bis X,» 


Die Zahl der konstanten Parameter dieser Ansätze, welche im 


392 V 16. F. Pockels. Elektro- u. Magnetostriktion, Pyro- u. Piezoelektrizität usw. 


allgemeinen 36 beträgt, reduziert sich wegen der Tensornatur der 
M,, durch Einführung der Symmetrieeigenschaften in analoger Weise, 
wie die der Konstanten der inneren Reibung oder der in Nr. 3 ein- 
geführten Konstanten Öd,, (vgl. Anm. 13). Es folgt daraus unter 
anderem, daß zentrische Piözoelektrizität auch bei regulären Kristallen 
und isotropen Körpern möglich sein würde. Die Anwendung des 
obigen Ansatzes (61’) auf Prismen rhombischer Kristalle, deren Längs- 
richtung einer kristallographischen Symmetrieachse parallel ist, ergibt, 
daß durch longitudinalen Druck deren Längskanten abwechselnd ent- 
gegengesetzte Ladungen annehmen (analog wie bei der pyroelektrischen 
Erregung). Die Existenz dieser zentrischen pi@zoelektrischen Erregung 
hat Voigt durch Versuche an Topas, Baryt und Cölestin, sowie an 
Kalkspat, wahrscheinlich gemacht. 


14. Pyro- und Piözomagnetismus. Magnetische Erscheinungen, 
welche der Pyro- und Piözoelektrizität analog wären, sind mit Sicher- 
heit bisher nicht nachgewiesen. Wenn sie überhaupt existieren, so 
sind sie zum Teil bei anderen Symmetriegruppen zu erwarten, als 
die analogen elektrischen Erscheinungen, weil das magnetische Feld 
die Natur eines axialen Vektors (vgl. Art. Abraham IV C 14, Nr. 3) besitzt, 
und sich daher bei der magnetischen Erregung den kristallographischen 
Symmetrieelementen ein Zentrum der Symmetrie superponiert. Pyromag- 
netismus, d.h. ein von der Temperatur abhängiges permanentes magneti- 
sches Moment, könnten nach Symmetrie außer den triklinen und mono- 
klinen Kristallen nur diejenigen rhombo&drischen, hexagonalen und tetra- 
gonalen besitzen, bei welchen sowohl zur ausgezeichneten Symmetrieachse 
paralleleSymmetrieebenen, als zu ihr senkrechte zweizählige Achsen fehlen 
(also z. B. die Kristalle der paramorph-hemiödrischen Gruppen). Piezo- 
magnelismus hingegen könnte bei allen Gruppen, mit Ausnahme der 
Holoödrie, enantiomorphen und hemimorphen Hemiödrie des regulären 
Systems, vorkommen. Es sind hinsichtlich des piözomagnetischen 
Verhaltens aber nur acht verschiedene Gruppen zu unterscheiden. 
Die entsprechenden Konstantensysteme sind von W. Voigt aufgestellt 
worden). Durch die von demselben an verschiedenen Kristallen 
angestellten Versuche konnten bisher mit Sicherheit nur obere Grenz- 
werte für die etwa vorhandenen pyro- und piezomagnetischen Momente 
nachgewiesen werden. 


71) W. Voigt, Göttinger Nachr. 1901, p. 1—19; Ann. Phys. 9 (1902), p. 9. 


(Abgeschlossen im Oktober 1906.) 





13. 
14. 
15. 
16. 


17. 
18. 
19. 


V 17. STATIONÄRE 
UND QUASISTATIONÄRE FELDER. 


Von 


P. DEBYE 
IN MÜNCHEN. 


Inhaltsübersicht. 


I. Stationäres Feld. 
A. Allgemeine Formulierung der Probleme. 
Grundgleichungen. 
Das innere elektrische Feld. 
Das äußere elektrische Feld. 
Das magnetische Feld; allgemeiner Fall. 
Das magnetische Feld; spezieller Fall u = const. 


B. Spezielle Behandlung körperlicher Leiter. 
Die übliche Fragestellung. 
Die Greensche Funktion. 
Elektroden endlicher Abmessungen. Halbraum. Kugel. 


Kirchhoffs Methode zur Bestimmung der Leitfähigkeit. Parallelopiped. Kreis- 
zylinder. 


Nobilische Ringe. 

Inhomogene Leiter. 

Näherungsweise Berechnung des Widerstandes. Draht von variabelem Quer- 
schnitt. Übergangswiderstand. 


C. Flächenleiter. 
Grundgleichungen. Übliche Fragestellung. 
Zusammenhang mit der Theorie der Flächen. 
Ebene Platten. 
Gekrümmte Platten. 


D. Lineare Leiter. 
Grundgleichungen. 
Das äußere Feld. 


Spezielle Fälle der Stromverzweigung: Wheatstonesche Brücke, usw. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2 26 


394 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


20. Das magnetische Feld in speziellen Fällen: Einzelner gerader Draht, zwei 
oder mehrere parallele gerade Drähte. 

21. Das magnetische Feld eines Kreisstroms. 

22. Das magnetische Feld einer Spule. 


II. Quasistationäres Feld. 
A. Allgemeines. 


23. Grundgleichungen und Potentiale. 
24. Die Energiegleichung. 


B. Spezielles über Körper- und Flächenleiter. 


25. Körperliche Leiter. 
a) Ruhende Körper. 
b) Bewegte Körper. 
26. Flächenleiter. 


C. Lineare Leiter. 


27. Die gewöhnlichen Differentialgleichungen für Stromkreise ohne Kapazität. 
Definition der Induktionskoeffizienten. 
28. Die Differentialgleichungen für Stromkreise mit Kapazität. 
29. Die Energiegleichung. 
30. Induktionskoeffizienten für geradlinige Leiter. Der mittlere geometrische 
Abstand R. 
31. Werte für R in speziellen Fällen. 
32. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 
a) Geradlinige Leiter. 
b) Kreisförmige Leiter. 
33. Spezielle Fälle von Stromkreisen mit zeitlich veränderlicher elektromotorischer 
Kraft. Der Widerstandsoperator. 
34. Wheatstonesche Brücke für Wechselstrom. 


III. Ponderomotorische Wirkungen. 


35. Berechnung der Kräfte zwischen Strömen. 
36. Galvanometer. 
37. Das ballistische Galvanometer. 


Literatur. 


J. C. Maxwell, Treatise on electrieity and magnetism 2 Vol., Oxford 1 (1873); 2 
(1881); 3 (1892). 

0. Neumann, Die elektrischen Kräfte, Leipzig 1873. 

G. Wiedemann, Die Lehre von der Elektrizität, Braunschweig, 1. Aufl., 3 Bde, 
1872; 2. Aufl, 4 Bde, 1893. 

E. Mascart et J. Joubert, Legons sur l’@leetrieite et le magnetisme, 2 Vol., Paris 
1882. 

F. Neumann, Vorlesungen über die Theorie des Potentials, Leipzig 1887. 

H. Poincare, Eleetrieit6 et optique, Paris, 1 (1890/91); 2 (1901). 








1. Grundgleichungen. 395 


O. Heawiside, Electrical papers 2 Vol., London 1892. 

— Electromagnetic theory 2 Vol., London 1893, 1899. 

A. Heydweiller, Hilfsbuch für die Ausführung elektrischer Messungen, Leipzig 1892. 

F. Bedell and A. ©. Crehore, Alternating currents, Ithaca N.Y., 1 (1892); 4 (1904). 

P. Drude, Physik des Äthers, Stuttgart 1894. 

W. Voigt, Kompendium der theoretischen Physik, Leipzig 1895. 

E. Cohm, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900. 

H. Weber, Die partiellen Differentialgleichungen der mathematischen Physik nach 
Riemanns Vorlesungen in vierter Auflage neu bearbeitet, Braunschweig 1900. 

4A. Russell, A Treatise on the theory of alternating currents, 2 Vol., Cambridge 
1904—06. 

M. Abraham und A. Föppl, Theorie der Elektrizität, Leipzig, 2 Bde; 1. Band, 
1. Aufl. 1894, 2. Aufl. 1904, 3. Aufl. 1907. 

H. Burkhardt, Oscillierende Funktionen, Jahresber.d. deutsch. Math.-Ver. Bd. 10,1909. 

E. Orlich, Kapazität und Induktivität, Braunschweig 1909. 


Bezeichnungen. 


Die Bezeichnungen allgemeiner Größen, wie bei 7. A. Lorentz, Enc. d. math. 
Wiss. V 13. 


I. Stationäres Feld. 


A. Allgemeine Formulierung der Probleme. 

1. Grundgleichungen. Wenn in Leitern zeitlich unveränderliche 
eingeprägte elektrische Kräfte &° vorhanden sind, so ist im allgemeinen 
eine stationäre Strömung der Elektrizität möglich. Das zugehörige 
elektromagnetische Feld, definiert durch die elektrischen, resp. magne- 
tischen Feldstärken €, resp. $, wird für isotrope Körper, auf die wir uns 
hier beschränken, beschrieben durch die Maxwellschen Gleichungen’): 


D 0= ro, 

(HM) (€ + €) = rot 9. 
Die eingeprägten elektrischen Kräfte sind die Energiequellen, aus 
denen die mit dem (spezifischen) Strom 

(II) S=c(E + €) = ol 

verbundene Wärmeentwicklung gedeckt wird. Letztere hat pro Zeit- 
und Volumenelement den Wert 


WW g— IE — o(E + €. 


1) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V13, Nr. 6 und Nr.9. Wir 
erinnern daran, daß hier wie im Artikel von H. A. Lorentz der Index e die 
„eingeprägte“, der Index t die „totale“ elektrische Kraft andeutet und bemerken, 
daß auch wir die dort erklärten rationellen Einheiten (V 13, Nr. 7) benutzen. 

26* 


396 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Da nach (I) ein skalares Potential existiert, können wir schreiben?) 


(1) — — grad 9; 
nach (II) gilt dann für @ die Bedingungsgleichung 
(2) div o grad g = div oE“, 


oder bei räumlich konstanter Leitfähigkeit 
(2) Ag = div €. 

Nur in dem besonderen Fall, daß die eingeprägten elektrischen 
Kräfte wirbelfrei verteilt sind, ist keine Strömung möglich. Betrachtet 
man nämlich einen Körper, der ganz in einem Nichtleiter eingebettet 
ist, so daß ihm durch seine Begrenzung hindurch kein Strom zu- 


geführt werden kann, so liefern die beiden nach der obigen Voraus- 
setzung gültigen Gleichungen: 


(3) dive(E+E)=rit(E+E)=0, 
zusammen mit der Grenzbedingung’) 
(4) E, + E as 0, 


auf Grund des Greenschen Satzes, unmittelbar überall im Innern des 
Körpers: 


(5) EC+&®—0. 


Der Fall der rotationslosen Verteilung der &° tritt ein bei jedem aus 
solchen gleichtemperierten Körpern bestehenden Kreis, in denen ein 
eventueller Strom keine chemischen Änderungen hervorbringt (Metalle). 
Die eingeprägten Kräfte & und damit auch nach (5) die Feld- 
stärken E verschwinden im Innern eines solchen Kreises überall 
mit Ausnahme der Übergangsschichten zwischen den verschiedenen 
Metallen. Hier nehmen sie so große Werte an, daß das durch eine 


Übergangsschicht hindurch erstreckte Linienintegral: fi Eds einen end- 
lichen Wert erhält. Die Tatsache, daß nach Gleichung (I) das be- 
trachtete Linienintegral nur von der Wahl der Endpunkte des In- 
tegrationsweges abhängt, ist gleichbedeutend mit dem Voltaschen 
Spannungsgesetz?). 

2. Das innere elektrische Feld. Wir denken uns zunächst einen 
Körper mit stetig veränderlicher Leitfähigkeit eingebettet in einen 
Nichtleiter und betrachten die eingeprägten elektrischen Kräfte als 
gegebene Größen. Um das elektrische Feld (und damit zu gleicher 


2) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 14. 
3) Vgl. Nr. 2 dieses Artikels. 
4) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gans V 15, Nr. 20. 





2. Das innere elektrische Feld. 397 


Zeit die Stromlinien), im Innern dieses Körpers zu bestimmen, haben 
wir zunächst Gleichung (2): 

divo grad p = div 06°; 
hierzu treten noch die Grenzbedingungen an der Oberfläche. Über 
diese sagt Gleichung (IT) aus, daß die tangentiellen Komponenten 
der elektrischen Kraft € stetig übergehen, Gleichung (II), daß die 
Normalkomponente der totalen elektrischen Kraft ® — & + & ver- 
schwindet’). In Formeln: 
(6) E,; Aug &,. 
(7) E,, 0, 


oder durch das Potential ausgedrückt 


© (0), (). 
(7) =: 


Hierbei bedeutet h eine in die Oberfläche fallende, » die zur Ober- 
fläche senkrechte Richtung; ö bezieht sich auf das Innere, a auf das 
Äußere des betrachteten Körpers. 

Man zeigt leicht mittels des Greenschen Satzes, angewandt auf 
die Differenz zweier verschiedenen, als möglich vorausgesetzten, 
Lösungen, daß durch (2) und (7’) das Potential bis auf eine additive 
Konstante bestimmt ist. Diese ist für die Strömung im Innern des 
Körpers belanglos und hat ebenso wie (6) resp. (6) nur Bedeutung 
für die Berechnung des äußeren elektrischen Feldes (vgl. Nr. 3). 

Besteht der betrachtete Stromleiter aus verschiedenen Körpern, 
so daß also @ sich unstetig ändert, so treten zur Grenzbedingung (7) 
resp. (7) noch die Übergangsbedingungen zwischen den verschiedenen 
Leitern. So gilt z. B. an der Übergangsschicht zwischen Leiter (1) 
und Leiter (2) 

(8) CE, a. E,, ’ 
(9) 6% = ,C;:, 


oder durch das Potential ausgedrückt: 
® 0, 
@) ee, 


Ng? 


5). Vgl. Maxwellsche Theorie Art H. A. Lorentz V 13, Nr. 6. 


398 V17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Ändern sich beim Durchgang durch die Übergangsschieht die tangen- 
tiellen Komponenten der eingeprägten elektrischen Kräfte stetig oder 
sind diese sogar vollends Null, wie das z.B. bei aneinander grenzenden 
Metallen der Fall ist, so können wir statt (8) auch schreiben 


(8”) + -&+E, 


‚Die Gleichungen (8”) und (9) liefern dann für die Stromkomponenten 
nach (II): 


EN 
(10) re, 
(11) 3,= 3; 


In (10) und (11) ist das Gesetz der Brechung der Stromlinien®) ent- 


halten. Bezeichnet man nämlich mit «, bzw. «, die Winkel (< 3) 


die 3, bzw. $, mit der Normalen der Übergangsschieht machen, so 
erhält man aus diesen Gleichungen 
(12) ER 


tg, 0, 





Auch liegen „einfallender“ und „gebrochener“ Strom in einer Ebene. 
Es sei noch bemerkt, daß beim Übergang von einem Metall auf ein 
anderes das Potential p sich nach den Bemerkungen am Schluß von 
Nr. 1 unstetig ändert; der Sprung ist aber nur abhängig von der Art 
der sich berührenden Metalle, so daß auch jetzt noch das Potential 
des ganzen Körpers bis auf eine willkürliche Konstante vollständig 
bestimmt ist. 


3. Das äußere elektrische Feld. Denken wir uns den in Nr. 2 


betrachteten Körper nur vom freien Äther umgeben, so gilt hier für 
das Potential”) 


(13) Ay=0. 
Die Grenzbedingung (6) resp. (6’) liefert an der Oberfläche 
(14) 9, gi + vonst., 


wobei g, den Wert bedeutet, den das im Innern des Körpers gültige 
Potential an seiner Oberfläche annimmt und der bekannt ist, sobald 
das innere elektrische Feld bestimmt ist; @, bedeutet den Oberflächen- 
wert des im Außenraum geltenden Potentials. 

Wegen der in (14) vorkommenden unbekannten Konstante bleibt 


6) @. Kirchhoff, Über den Durchgang eines elektrischen Stromes durch eine 
Ebene, insbesondere durch eine kreisförmige, Ges. Abh., p. 1. Siehe auch Ann. 
Phys. Chem. 64 (1845), p. 497. 

7) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gans V 15, Nr. 3. 


4. Das magnetische Feld. Allgemeiner Fall. 399 


(auch unter Hinzunahme der Bedingungen im Unendlichen) in p ein 
Bestandteil unbestimmt, der einer statischen Ladung des ganzen 
stromführenden Systems entspricht. Auch letzterer ist bekannt, so- 
bald man noch die Gesamtladung des ganzen Systems kennt oder der 
Potentialwert für irgend einen Punkt des Körpers angenommen wird. 
Alsdann ist das Potential p vollständig bestimmt und man erkennt, 
daß jeder elektrische Strom notwendig verknüpft ist mit ganz be- 
stimmten Oberflächenladungen®) des durchströmten Körpers. 

Die Bedingungen des Problems sind leicht zu verallgemeinern 
für den Fall, daß außer dem stromführenden Körper noch andere 
Leiter oder Dielektrika sich in seiner Umgebung befinden’). 


4. Das magnetische Feld. Allgemeiner Fall. Unter der An- 
nahme, daß die magnetische Erregung ® der magnetischen Feld- 
stärke $ einfach proportional ist, so daß wir schreiben können’) 


(15) Bd= us, 


ist durch (II) zusammen mit der Aussage, daß die magnetische Er- 
regung quellenfrei verteilt ist: 


(16) div®—0 


das magnetische Feld bestimmt, sobald die Strömung bekannt ist. 
Letztere kann nach Nr. 2 ohne Rücksicht auf das Vorhandensein eines 
magnetischen Feldes für sich bestimmt werden. Durch die Annahmen 
(15) und (16) haben wir sowohl permanente Magnete, wie die Er- 
scheinungen der Hysteresis von unsern Betrachtungen ausgeschlossen !P). 
Nach (16) können wir setzen'!): 


(17) B—= rot, 
wo A das sogenannte Vektorpotential bedeutet. Für W gilt dann 
nach (I) und (15) unter Berücksichtigung von (II): 


1 1 
(18) rot rob I— I, 
oder wenn u abteilungsweise konstant ist, wie wir voraussetzen wollen: 
(18) rot rt U = 3 
Nach (17) ist zwar ® eindeutig durch W, aber nicht umgekehrt A 


8) Vgl. die Beispiele in Nr. 8 und Nr. 20. 

9) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 8. 

10) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 15 u. Nr. 19; 
Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gans V 15, Nr. 23, Nr. 24, Nr. 31 u. 
Nr. 32. 

11) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 28. 


400 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


eindeutig durch ® bestimmt. Wir können und wollen deshalb noch 
voraussetzen, daß A quellenfrei verteilt ist, in Formel: 


(19) divA—0. 
Mit Berücksichtigung von (19) kann man dann auch für jede der 


drei rechtwinkligen Koordinatenrichtungen x, y, 2 die Gleichung (18°) 
in der Form schreiben: 


(18) AU,=- —- 3, AL=-—3, AL—-— #3, 


€ 


Zu (18’), resp. (18°) und (19) treten zur vollständigen Bestimmung 

des magnetischen Feldes außer den Bedingungen im Unendlichen noch 

die Grenzbedingungen beim Übergang von einem Medium (1) auf ein 

Medium (2) hinzu"). Sie lauten nach (II) und (16) unter Berück- 

siehtigung von (15): 

(20) 9, RR 9, 

(21) udn, = On 

Die Gleichungen (20) und (21) enthalten das Gesetz der Brechung der 

magnetischen Kraftlinien analog wie (10) und (11) für die Stromlinien. 
Ist speziell u, >> u, und weiß man, daß ® im Innern des stark 

magnetischen Körpers auch bei unendlich wachsendem u endlich 


bleibt"?), so kann man die Bedingung (20) näherungsweise ersetzen 
durch 

2 1’) 9, =0, 

mit andern Worten, die magnetischen Kraftlinien stehen im Körper 1 
senkrecht zur Trennungsfläche 1 — 2, ebenso wie die Kraftlinien 
eines elektrostatischen Feldes senkrecht zur Oberfläche leitender 
Körper endigen. 

Schließt man die stromführenden Körper derart durch Flächen 
aus, daß ohne diese zu durchdringen eine Umkreisung eines endlichen 
Stromes nicht mehr möglich ist, so kann man nach (II) in dem übrig 
bleibenden, nunmehr einfach zusammenhängenden Raum, an Stelle des 
Vektorpotentials X ein eindeutiges, skalares Potential » einführen, so 
daß gesetzt werden kann: 


(22) —= — grad y. 
Für dieses gilt dann nach (16) wieder die Gleichung '*) 
(23) divugrady —0. 


12) Vgl. Maxwellsche Theorie Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 6. 

13) Das entgegengesetzte Verhalten zeigt ® z. B. im Innern eines strom- 
durchflossenen, magnetisierbaren Drahtes, wo die der Oberfläche parallele Kom- 
ponente von ® mit unendlich wachsendem u unendlich wird. 

14) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gans V 13, Nr. 3. 


5. Das magnetische Feld. 6. Körperliche Leiter. 401 


mit den Grenzbedingungen 


(23°) dv, =V, 


(23°) %, (>), = (2), 


für die Trennungsfläche zwischen den Körpern 1 und 2. Im all- 
gemeinen ist y zur Beschreibung des magnetischen Feldes konstanter 
Ströme nicht geeignet. Eine Ausnahme macht jedoch der Fall der 
linearen Leiter, wo die oben betrachteten allgemeinen Flächen in 
berandete, doppelt überdeckte übergehen, an denen das Potential % 
einfache Unstetigkeiten besitzt'?). 


5. Das magnetische Feld. Spezieller Fall u = const. Wenn die 
Permeabilität überall denselben Wert hat, geht die durch (18”), (20) 
und (21) definierte Randwertaufgabe in eine einfache Integrations- 
aufgabe über. Kombiniert man nämlich mittels des Greenschen 
Satzes die drei Komponenten der Elementarlösung von (18”) für den 
Fall $ = 0: 


1 3 1 
(24) =, m —, U, — 


Y 


mit den entsprechenden Komponenten des gesuchten Vektorpotentials, 
so erhält man ohne weiteres 


(25) Kmse, of; S as, 


wobei das Integral über alle stromführenden Körper zu erstrecken ist. 


Nach (15) und (17) erhält man aus (25) für die magnetische 
Feldstärke den Ausdruck 





t bedeutet dabei den Vektor vom Betrage r in der von dS nach 
dem Aufpunkte hinzeigenden Richtung. 
Gleichung (26) entspricht dem Biot-Savartschen Gesetz'®). 


B. Spezielle Behandlung körperlicher Leiter. 


6. Die übliche Fragestellung. In den in der Praxis vorkommen- 
den Fällen liegen gewöhnlich die den Strom erzeugenden eingeprägten 
elektrischen Kräfte außerhalb des Körpers’”), in dem man die Strö- 


15) Für die nähere Ausführung sehe man Nr. 18 dieses Artikels. 

16) Vgl. Standpunkt der Fernwirkung. Die Elementargesetze Art. R. Reiff 
und A. Sommerfeld V 12, Nr. 2, 

17) Vgl. indessen Teil II dieses Artikels, wo die durch Bewegung in einem 
magnetischen Feld erzeugten elektrischen Kräfte zur Sprache kommen, welche 


402 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


mung bestimmen will. Diesem wird der Strom zugeführt durch 
die Elektroden. Nur dann wenn letztere aus viel besser leitendem 
Material wie der Körper (streng genommen aus unendlich gut leiten- 
dem Material) bestehen, ist das Problem der Bestimmung der Strom- 
linien für den betrachteten Leiter ein in sich abgeschlossenes. Wir 
wollen die Voraussetzungen 6 —= & für die Elektroden und ® —= 0 
machen; das physikalische Problem deckt sich dann unter Berück- 
sichtigung von (2), resp. (2”) und sinngemäßer Anwendung von (8) 
und (9) mit dem folgenden mathematischen: 

a) Innerhalb des betrachteten Körpers ist eine Funktion p zu be- 
stimmen, die überall der Gleichung 


(2) divo gradp = 0 

resp. 

(2) A9—0 

genügt, an den Elektroden A, B, C,... konstante vorgeschriebene Werte 
Pr Ppr Por; mnimmt und an den übrigen Teilen der Begrenzung 
0 ; 

2: —= (0 liefert. 


Ist p bestimmt, so folgt & und $ nach (1) und (II). Besteht 
der Leiter aus mehreren Teilen verschiedener Leitfähigkeit, so sind 
an den Übergangsschichten noch die Grenzbedingungen (10) und (11), 
sowie der Voltasche Potentialsprung zu beachten. 

Nennt man die durch die einzelnen Elektroden A, B, 0, .... gehen- 
den Ströme J,, J2, Sg, : -, so daß 


(27) J—/3.ds, I,— [3,d0,..., 
A B 


so erhält man aus (2) durch Multiplikation mit 9 und Integration 
über das Volumen des Leiters nach dem Greenschen Satz die Energie- 
gleichung: 

(28) tt = SEAS = Q, 


wo Q nach (IV) die ganze im Körper entwickelte Joulesche Wärme 
bedeutet. 

Andererseits ergibt sich durch direkte Integration von (2) über 
das Volumen des Leiters die „Inkompressibilitätsbedingung“: 


(29) tt It=0. 


bei genügend kleinen Geschwindigkeiten als eingeprägte elektrische Kräfte be- 
handelt werden können. 


6. Körperliche Leiter. Die übliche Fragestellung. 403 


Sind nur zwei Elektroden A und B vorhanden, so wird nach (29) 


30) I,=-,=J 
und 
(31) = Ip, — 9), 


und man erhält, wenn man noch den Widerstand R des Körpers 
einführt, durch den Ansatz 


(32) PETE? RJ, 
aus (31) die Formel: 
(31) = RI. 


Für den Fall, daß mehr Elektroden vorhanden sind, kann von einem 
Widerstande des Körpers nicht mehr die Rede sein. 

Das unter a) definierte Problem kann noch erheblich vereinfacht 
werden durch die Annahme sehr kleiner kugelförmiger Elektroden ’®), 
welche in manchen Fällen vollkommen für die physikalischen Bedürfnisse 
ausreicht. Liegen nämlich die einzelnen Elektroden weit auseinander 
und sind bei Oberflächenelektroden die Krümmungsradien der be- 
nachbarten Oberfläche groß gegen ihre Dimensionen, so kann man 
dieselben als punktförmig betrachten, soweit nur Potentialwerte in 
einigem Abstand der Elektroden in Betracht gezogen werden. Man 
erhält dann die Fragestellung: 

b) Innerhalb des Leiters eine Funktion p zu bestimmen, die überall 
der Gleichung 


(2) divogradp—(, 
resp. 
2) Apy—V0 
genügt mit Ausnahme gewisser Punkte a, b,...,a,b,..., wog un- 
5 , a D 
endlich wird wie —, —,"",Z, —,.'": 
r r r B 
Bedeuten «’, b',... Pole im Inneren, a, b,... solche auf der Be- 


grenzung des Körpers, so gilt analog zu (29) die Inkompressibilitäts- 
bedingung in der Form: 
(29) 4s(A+D+.:-)+227(A+B+:.)=0. 
Für die Berechnung der Jouleschen Wärme, sowie des Widerstandes 
muß man den Elektroden wieder endliche Dimensionen zuschreiben 
(vgl. z.B. Nr. 8). 

Zieht man nur Oberflächenelektroden in Betracht, so ist es 
natürlicher, sie als (kreisrunde) Scheibchen (Radius «a) statt wie 


18) Einige auf der Hand liegende Fälle, wo auch bei ausgedehnten Elek- 
troden die Rechnung einfach wird, finden Erwähnung in Nr. 8. 


404 V 17T. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


oben als kleine Halbkugeln zu behandeln. Die Fragestellung a) läßt 
sich jetzt nach anderer Richtung vereinfachen. Wenn nämlich die 
früheren Voraussetzungen über die Kleinheit der Elektroden erfüllt 
sind, so kann man in ihrer Nähe die Oberfläche des Körpers als eben 
voraussetzen. Dann kommt das Problem a) in der Umgebung irgend 
einer Elektrode auf die Bestimmung des Potentials einer geladenen 
kreisförmigen leitenden Scheibe hinaus. Unter Benutzung der be- 
kannten Lösung für diesen Fall!”) wird jetzt die Fragestellung: 

c) Innerhalb des Leiters eine Funktion p zu bestimmen, die überall 
der Gleichung 


(2) divogradp=0, 

resp. 

(2) Ay—=0 

genügt und für die auf der Begrenzung die Bedingungen gelten: 
= = ß) außerhalb der Elektroden, 
op Jy 





—_ — RN innerhalb der Elektroden. 


Hierbei bedeutet J, den ganzen durch die Elektrode M hindurch- 
gehenden Strom, go, den Abstand des betrachteten Punktes der Elek- 
trode von ihrem Mittelpunkte, @«, ihren Radius. Das Problem ist ein- 
facher wie das unter a) genannte, da im Falle c) die Oberflächen- 


bedingung sich nur auf . bezieht. 


t. Die Greensche Funktion. Wenn die Aufgabe der Bestimmung 
der Stromlinien in der Form ec) vorliegt, ist es möglich sie zurück- 
zuführen auf die Berechnung einer Greenschen Funktion G@, die nur 
von der Form des betrachteten Leiters abhängt. Hierzu bestimme 
man @ — G,, 50°), als Funktion der beiden Punkte p, qg und des 
variabelen Aufpunktes u, daß sie im Innern des Körpers der Differential- 


19) Vgl. Potentialtheorie Art. H. Burkhardt und W. F. Meyer TTIATb, Nr. 15 
sowie Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gaus V 15, Nr. 12. 

20) F. Klein, Vorlesung über Potentialtheorie II. Teil Sommersemester 1888 
oder auch F. Pockels, Über die partielle Differenzialgleichung Au + k’u = 0, 
Leipzig 1891, p. 249, wo u. a. über die Vertauschbarkeit von Pol und Aufpunkt 
berichtet wird. Vgl. auch Potentialtheorie Art. H. Burkhardt und W. F. Meyer 
HA7C, Nr. 18. Vgl. für allgemeine Differentialgleichungen: Randwertaufgaben 
in der Theorie der partiellen Differentialgleichungen Art. A. Sommerfeld ITATe. 
Eine experimentelle Bestätigung des Vertauschbarkeitssatzes (V. Volterra, Nuovo 
Cim. (8) 11 (1882), p. 188) lieferte @ Poloni, Rend. Lomb. 15 (1882), p. 535. 


7. Die Greensche Funktion. 405 


gleichung (2) resp. (2) genügt, auf dessen Oberfläche ze — 0 liefert 


und in den beiden Punkten p bzw. g unendlich wird, wie = bzw. 
p 


— _ ‚ unter r,, r, die Abstände von den Punkten p bzw. q verstan- 
q 


den. Die Funktion G,, ist demnach (vgl. Fragestellung b, Nr. 6) das 
Potential eines elektrischen Stromes der durch unendlich kleine Elek- 
troden in den beliebig gewählten Punkten p, resp. q zu-, resp. ab- 
geführt wird. Durch Anwendung des Greenschen Satzes erhält man 
dann für das gesuchte Potential n 


0 
(33) iS 832A0, 


wobei das Integral über die Oberfläche des Leiters zu erstrecken ist; 
man sieht, daß das Potential nur bis auf eine beliebige Konstante 9, 
bestimmt ist. 

Statt der oben definierten Greenschen Funktion @ kann man 
auch eine andere?!) N — N,“, die F. Neumannsche Funktion, einführen. 
Sie genügt auch der Gleichung (2) bzw. (2), hat aber nur einen Pol p, 


indem sie sich verhält wie ı und liefert auf der Oberfläche des Leiters 


p 
N ce = const. Sie ist demnach das Potential eines durch die un- 


endlich kleine Elektrode bei p zugeführten Stromes, von der Stärke 
4x6, welcher den Körper in gleichmäßiger Verteilung über die Ober- 
fläche verläßt. Die Konstante c, die ersichtlich ein Maß für den 
Gesamtstrom ist, kann also nicht beliebig gewählt werden; sie liefert 
mit der Körperoberfläche multipliziert den Wert 4x (vgl. (29) und 
(29)). Durch diese Funktion ist @ auf Grund des Greenschen Satzes 
darstellbar in der Form *?): 


(34) 9,= an: ? 16 — 8, [pdo. 


Die Integrationen sind wieder über die Oberfläche des Leiters zu er- 


strecken, das zweite Integral repräsentiert die beliebige additive Kon- 
stante. 


Bestimmt man die in N vorkommende beliebige Konstante so, 








21) Fr. Neumann, Vorlesungen über die Theorie des Potentials, herausge- 


geben von C. Neumann, Leipzig 1887, p. 270. Fr. Neumann nennt N die cha- 
rakteristische Funktion. 


22) Nennt man die Körperoberfläche &, so kann statt dem zweiten Integral 


von (34) auch geschrieben werden > es: pdo, wonach dieses also den Mittelwert 
des Potentials auf der Oberfläche darstellt. 


406 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


daß das über die Oberfläche des Leiters erstreckte Integral 


[Nas = 0 


wird, so gilt, wie man mittels des Greenschen Satzes nachweist, der 
Vertauschungssatz: 
(35) Ne=N,P. 

Unter Benutzung von (35) zeigt man leicht, daß, wenn man nach 
(34) das Potential in den Elektroden A, B,... mittels der durch 
diese Elektroden gehenden Ströme J4, Js, Jc ausdrückt in der Form: 


9m dat Ads + %JSct:: 
(36) | 9 spe Ada == Ayo JB -- Ay Jc — a 


die Koeffizienten a,,„ nicht voneinander unabhängig sind. Vielmehr 
besteht die Beziehung: 
(87) An = Anm 


so daß bei » Elektroden die betreffenden Potentiale sich mittels 7? 


voneinander unabhängigen Koeffizienten in den durch sie hindurch- 
gehenden Strömen ausdrücken lassen ?°). 





8. Elektroden endlicher Abmessungen. Halbraum, Kugel. Das 
in Nr. 6 unter a) angeführte Problem fällt mit dem entsprechenden 
elektrostatischen zusammen, wenn man die Begrenzung des strom- 
durchflossenen Körpers so wählt, daß diese, wo sie nicht von Teilen 
der Oberfläche der geladenen Körper gebildet wird, aus Kraftlinien 
besteht. Stehen nur zwei auf die Potentialdifferenz V geladene Körper 
einander gegenüber in einem Medium mit der Dielektrizitätskonstante s, 
so hat der, dem später vom Strom durchflossen zu denkende Teil der 
Anordnung eine Kapazität K von der Größe 


& Op 
= i® do, 


wo das Integral über den später als eine Elektrode fungierenden Ober- 
flächenteil des betreffenden Körpers zu erstrecken ist. Andererseits 
ist der Widerstand des stromdurchflossenen Raumteiles 


2:58 ep 

w a on 09, 
wo 6 die Leitfähigkeit dieses Raumes ist und das Integral dieselben 
Grenzen hat wie das obige. Allgemein hat man demnach zwischen 


23) @. Kirchhoff, Über die Messung elektrischer Leitfähigkeiten, Monatsber. 
der Akademie der Wiss. Berlin, Juli 1880 oder auch Ges. Werke, p. 66. 


8. Elektroden endlicher Abmessungen. Halbraum, Kugel. 407 


‚W und K den Zusammenhang *): 

K 1 
(88) 7 
Als einfache hierzu gehörige Anordnung sei z. B. der Fall zweier 
konzentrischer Zylinderstücke als Elektroden erwähnt, deren Krüm- 
mungsradien r, und », sind, während die seitliche Begrenzung von 


den zugehörigen Radien gebildet wird. Hier ist 
K=-—“- und W=-— log”, 
r. [4 r; 


wenn die Radien den Winkel « miteinander machen. 

Befindet sich inner- 
halb eines Halbraumes 
I von der Leitfähigkeit 
6 eine kleine unendlich 
gut leitende kugelför- 
mige Elektrode, durch 
die dem Körper der 
Strom J zugeführt wird 
und ist die zweite Elek- 
trode unendlich großund 
unendlich weit entfernt, 
so läßt sich das Problem 
der Stromverteilung in 
der Form b) ohne weite- Fig. 1. 
res mittels eines Spiege- 
lungsverfahrens®®) lösen. Für das Potential erhält man innerhalb des 
Leiters den Wert: 

J 4 1 

(39) N. be er E pe r) 


’ 
7, 














wenn r, den Abstand vom Mittelpunkt der Elektrode, r, den Abstand 
von ihrem Spiegelbild in bezug auf die Grenzebene des Leiters be- 


deutet. Hieraus ergibt sich für den Widerstand des Halbraumes nach 
(32) der Wert: 


1 1 1 1 
(40) ren, 


24) Vgl. hierzu E. Oohn, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900, p. 155. 

25) Vgl. hierzu Potentialtheorie, Art. Burkhardt-Meyer, IA 7b, Nr.16 und 
Elektrostatik und Magnetostatik, Art. R. Gans, V 15, Nr.18. Es tritt jetzt in- 
sofern eine Abweichung auf, als beide Bildpunkte mit demselben Zeichen ge- 
nommen werden müssen. 


408 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


wobei a den Radius und A den Abstand der Elektrode von der Be- 
grenzung bedeutet. Sowohl (39) wie (40) gelten nur näherungsweise, 
so lange a << h ist. 

Für den Fall, daß letztere Bedingung nicht zutrifft, daß man 
aber an der Kugelform der Elektrode festhält, kann das Problem ge- 
löst werden durch Benutzung der bekannten Potentialverteilung *) 
zweier gleich großen gleich stark geladenen Kugeln. Die Symmetrie- 
ebene entspricht der Begrenzung des Leiters, an der die Elektrode 
also gespiegelt erscheint. 

Das (39) entsprechende Potential im Außenraum II ist nach Nr. 2 
einfach dargestellt durch 


r nA 
(39) Ve— ann 


Auf Grund von (39) und (41) wurde in Fig. 1 der Verlauf der 
elektrischen Kraftlinien gezeichnet. Die gestrichelte Kurve stellt die 
mit dem Strom verbundene statische Ladung der Oberfläche dar. 

Liegt die Elektrode an der Oberfläche und kann man sie als 
Halbkugel betrachten, so wird der Widerstand 

r 1 
(40) euer 

Faßt man sie dagegen als Kreisscheibe vom Radius a auf, so 
erscheint das Problem in der Form ec) und fällt dann nicht nur 
näherungsweise, sondern streng zusammen mit der Bestimmung des 
Potentials einer leitenden Kreisscheibe. Aus der bekannten Lösung ?”) 
für diesen Fall erhält man jetzt 

„ 1 

Das Spiegelungsverfahren läßt sich auch anwenden, wenn beide 
Halbräume (I und II) leiten®®), Sind die Leitfähigkeiten o, bzw. 6,, 
so erhält man in I: 

le — 1 
(41) 1 ( are | ) 


r, s+%r 


26) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik Art. R. Gans, V 15, Nr. 13. 

27) Das Potential der Kreisscheibe ergibt sich in elementarer Form durch 
Spezialisierung der betreffenden Lösung für das Ellipsoid, vgl. Potentialtheorie, 
Art. H. Burkhardt-W. F. Meyer, IIA 7b, Nr.15. Man sehe auch Elektrostatik 
und Magnetostatik, Art. R. Gans, V 15, Nr. 12. 

28) Für den analogen Fall der Elektrostatik (verschiedene Dielektrizitäts- 
konstanten) vgl. Elektrostatik und Magnetostatik, Art. R. Gans, V 15, Nr. 13. 
Das theoretische Resultat wurde experimentell geprüft von Joubin, Paris C. R. 
110 (1890), p. 37. 


8. Elektroden endlicher Abmessungen. Halbraum, Kugel. 409 


in II: 
J 1 
= note n 
und für den Widerstand 
2 —6 1 
(42) Bench zem) 


Auch für mehrere Elektroden bleibt natürlich das Verfahren an- 
wendbar. So erhält man z. B. für den Widerstand zwischen zwei 
Elektroden mit den Radien a bzw. b, wenn durch jede der ganze 
Strom hindurchgeht, den Wert: 

> 1,43 1 1 1 2 2 
(42‘) en ea, 
ein Resultat, das in der Telegraphie Anwendung finden kann. Es 
bedeutet hierin /, den Abstand der Elektroden voneinander und /, den 
Abstand einer Elektrode vom Bild der anderen, während h, und h, 
die Tiefen der Elektroden unter der Oberfläche des Halbraums sind. 

Bei der Kugel ist im Ei ya zur Elektrostatik wegen der hier 

9 


vorliegenden Grenzbedingung er = 0) die Thomsonsche Spiegelungs- 


methode nicht ohne weiteres anwendbar. Die Grundlage dieses Ver- 
fahrens wird bekanntlich gebildet von der Tatsache, daß man aus 
dem äußeren Potential p,, in der Form 


neh 


geschrieben, wobei eo, #, ® Polarkoordinaten bedeuten, das innere 
Potential erhält zu 


= —rF(t, ”, 0) 


wenn noch a den Kugelradius bedeutet?”). Diese Transformation 
läßt sich nun, wie H. Helmholtz?°) bemerkt, dennoch im vorliegenden 
Falle verwenden, um in recht eleganter Weise das Strömungsproblem 
(in der Form b) Nr. 6) für die Kugel zu lösen. Wird der Strom J 
2. B. zu- resp. abgeführt durch zwei Elektroden im Innern, so kann 
man als ersten Teil des Potentials im Innern die (für den unend- 
lichen Raum gültige) Funktion 


(43) (+) 


betrachten, wenn r, resp. r, die Abstände von den Elektroden be- 
deuten. Den bei diesem Ansatz durch die Oberfläche der Kugel hin- 


29) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik, Art. R Gans, V 15, Nr. 18. 
30) H. Helmholtz, Ann. Phys. Chem. 89 (1853), p. 211 und p. 253; Wis- 
sensch. Abh., Leipzig 1888, p. 494, 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 27 


410 V17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


durchgehenden Strom kann man nun, was den Außenraum anbelangt, 
kompensieren durch den entgegengesetzten, von einer „elektromoto- 
rischen Oberflächenbelegung“ der Kugel erzeugten, welche als elek- 
trische Doppelschicht aufgefaßt werden kann. Setzt man für das 
Potential dieser Doppelschicht im Außenraum, entsprechend ihrer Ent- 
stehung durch Zusammenrücken zweier einfacher Belegungen: 


0-%f 2, v, 0), 


so kann, da für r>a überall O=g? sein soll, f aus (43) durch 
Integration ohne weiteres bestimmt werden. Die einer Doppelschicht 
angepaßten Transformationsformeln, welche aus den oben angegebenen 
für eine einfache elektrische Belegung geltenden durch Differentiation 
hervorgehen, ergeben dann ohne weiteres für den Zusatz p!, den man 


zu p° im Innern der Kugel hinzufügen muß, damit die Grenzbedingung 


(ie)... ) erfüllt wird, die Formel: 


(43) ı—f(£, ®, 0) +2r(&, ®, 0): 


Liegen die beiden Elektroden z. B. auf der Oberfläche der Kugel in 
den Punkten 9 = 9, o—=0 udd#®—=%,, @—=(, so ergibt sich für 


op! die Formel: 
J a+r,—ocos« 
RR BR 2 2 
(44) 7. log a+r —eocosa,’ 





wenn noch «, resp. «, die Winkel bedeuten, die der nach dem 
Aufpunkt gezogene Strahl mit den beiden durch die Elektroden 
gehenden Strahlen bildet. Die Lösung des vorliegenden Problems 
kann man auch durch Entwicklung nach Kugelfunktionen erhalten. 
Die betreffenden Reihen können nachher durch elementare Funktionen 
summiert werden. Die Aufgabe wurde in der Form b) gelöst von 
W. M. Hicks®') und R. Felici??); die Neumannsche charakteristische 
Funktion ist angegeben bei ©. Neumann®”). (Man beachte die verschie- 
denen Werte für den Widerstand, die sich ergeben, je nachdem das 
Problem in der Form b) oder c) angesetzt wird.) 


31) W. M. Hicks, Messenger of mathematics 12 (1883), p. 183. 

32) R. Feliei, Tortolini Ann. 1854, p. 270. Vgl auch Fortschritte der Phys. 
10 (1854), p. 548. 

33) C. Neumann, Vorles. über die Theorie des Potentials von F. Neumann, 
Leipzig 1887, p. 273. Vgl. auch A. Beer, Einleitung in die Elektrostatik usw., 
Braunschweig 1865, p. 356 und Riemann- Weber, Die partiellen Differentialglei- 
chungen der mathematischen Physik, 4. Aufl.. Braunschweig 1900, 1, p. 457. 


9. Kirchhoffs Methode zur Bestimmung der Leitfähigkeit. 411 


9. Kirchhoffs Methode zur Bestimmung der Leitfähigkeit. 
Parallelopiped. Kreiszylinder. Um die Leitfähigkeit zu bestimmen, 
benutzt Kirchhoff“) die durch nebenstehende Figur veranschaulichte 
Methode K ist der zu unter- 
suchende Körper, P ein bekannter F 
Widerstand, @ ein Differential- 
galvanometer, E eine Stromquelle. 
Der Strom wird dem Körper bei 
1 zugeführt, von 2 führt eine = 
Leitung durch P zum Element IT 2 er @ 
zurück; an zwei Punkten 3 und 
4 des Körpers und an den Enden F 
des Vergleichswiderstandes P sind P RIRY 
die beiden Zweige des Differen- u ) 
tialgalvanometers angelegt. Die Fig. 2. 
Widerstände in diesen Zweigen 
werden zweimal so abgeglichen, daß die Nadel des Galvanometers 
keinen Ausschlag zeigt. Bezeichnet man die hierzu nötigen Wider- 
stände mit r und R bzw. r’ und R’ und nennt o die Potentialdifferenz 
zwischen 3 und 4, dividiert durch den durch 1 und 2 hindurchgehen- 
den Strom, für den Fall, daß zwischen 3 und 4 kein äußerer Strom 
kreist, so hat man zur Berechnung von o auf Grund von Nr. 7 die 
Beziehung 


) s-Fr 





2 
































Um die Leitfähigkeit zu bestimmen, muß noch o durch die Di- 
mensionen des Körpers ausgedrückt werden. @. Körchhoff führte diese 
Rechnung zuerst aus®?) für ein rechtwinkliges Parallelopiped auf Grund 
der von Grenhili?®) angegebenen Lösung des betreffenden Strömungs- 


34) @. Kirchhoff, Berlin Monatsber. der Akad. d. Wiss. 1. Juli 1880 oder 
auch Ges. Werke, Leipzig 1882, p. 66. Angewandt wurde die Methode von 
@. Kirchhof und @. Hansemann, Ann. Phys. Chem. 13 (1881), p. 406; vgl. auch 
@. Kirchhoff, Ges. Werke, Nachtrag, Leipzig 1891, p. 1. Die Methode wurde in 
etwas abgeänderter Form benutzt von K. Strecker, Ann. Phys. Chem. 25 (1885), 
p. 456, zur Auswertung der Siemensschen Quecksilbereinheit des Widerstandes. 

35) @. Kirchhoff, Berlin Monatsber. der Akad. der Wiss. 1. Juli 1880 und 
Ges. Werke, Leipzig 1882, p. 71. 

36) Grenhill, Proc. of the Cambr. Phil. Soc. 1879, p.293 und auch H. Niebour, 
Diss. Leipzig 1886; Grunerts Archiv (2) 4 (1886), p. 337, sowie Appel und A. 
Chervet, C. R. 98 (1884), p. 98 und A. Chervet, Ann. de chim. et phys. (6) (1884), 
p. 259. Vgl. für den analogen Fall der Elektrostatik: Elektrostatik und Magneto- 
statik, Art. R. Gans, V 15, Nr. 13. 


27° 


412 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


problems, welche durch fortgesetzte Spiegelung der Pole an den Seiten- 
flächen erhalten und in ®©-Reihen umgerechnet werden kann. Er fand 
die Näherungsformel: 


(46) e =. (1 0,7272) 


ca aA 
für den Fall, daß zwei Seiten dieselbe Länge « haben und die dritte 
Seite c, an deren Enden die Elektroden angelegt werden, groß gegen 
a ist und zeigt, daß selbst, wenn — — 2 wird, (46) noch eine sehr 
gute Näherung ist. 

Auch für den Kreiszylinder, bei dem der Strom an den Enden 
seiner Mittellinie zugeführt wird und die beiden anderen Elektroden 
an den Endpunkten einer Erzeugenden liegen, führte er später die 
Rechnung durch?”). Er setzt das Problem in der Form c) an und 
erhält dann mittels der Formeln für die Entwicklung einer willkür- 
lichen Funktion nach Besselschen Funktionen, indem er noch die 
Größe der Elektroden nur in erster Näherung berücksichtigt, für- das 
Potential den Ausdruck: 
sin A, £, J, (2 2) 

a 


J 2 a 
(47) cd 
no |a > coBl, — J®h) 


Q 





Hierin bedeutet 2 eine Koordinate in Richtung der Zylinderachse 
von der Mittelebene aus gemessen, r den senkrechten Abstand von 
dieser Achse, a den Radius, c die Höhe des Zylinders, J, die Bessel- 
sche Funktion nullter Ordnung, während unter A, die unendlich vielen 
Wurzeln der Gleichung 


(48) J,()) = 0 

zu verstehen sind. Aus (47) erhält er dann für eo die Näherung: 
1 

(49) 0; (1 - 4: 0,76958), 


die ebenso wie (46) schon einen sehr genauen Wert ergibt, wenn c 
nur ein mäßiges vielfaches von a ist. 


10. Nobilische Ringe®®). Läßt man in gewissen über einer gut 
gereinigten Metallplatte aufgeschichteten Elektrolyten den Strom durch 


37) @. Kirchhoff, Berlin Monatsber. d. Akad. d. Wiss. 26. April 1883, p. 519, 
und Ges. Werke, Nachtrag, Leipzig 1891, p. 54. Die Strömung in einem Zylinder 
wurde schon vorher behandelt von B. Riemann in seiner Abhandlung über die 
Nobilischen Ringe, Ann. Phys. Chem. 95 (1855), p. 130; Ges. Werke, Leipzig 1876, 
p. 54 und von H. Weber, J. f. Math. 75 (1872), p. 75 und 76 (1873), p. 1. 

38) Nobili, Memorie et osservazione edite et inedite, Firenze 1 (1834), p. 56; 
Bibliotheque universelle de Gen®ve, Anc. Ser. sciences et arts 59 (1835), p. 263 
und p. 416. 


10. Nobilische Ringe. 413 


eine Spitze ein- und durch die Platte austreten, so entsteht auf dieser 
ein Niederschlag, dessen Dicke mit zunehmendem Abstande von der 
positiven Elektrode abnimmt. Dieser zeigt bei auffallendem Lichte 
die Newtonschen Farbenringe und scheint daher sehr geeignet, die 
Gesetze der Stromverteilung experimentell zu prüfen. Dieses wurde 
ausgeführt von E. Beequerel®®), du Bois-Reymond und P. Beetz*), 
die sich aber bei dem Vergleich zwischen Theorie und Erfahrung auf 
unrichtige Formeln stützten. BD. Riemann*') war der erste, der eine 
mathematisch einwandfreie Berechnung gab. Er betrachtet die Metall- 
platte als vollkommen leitend und die Elektrode als punktförmig; 
durch das Spiegelungsverfahren erhält er dann das Potential in der 
Form: 














+® 
= ar EN 1 _— > l. 
hi 92 » era Vr’+(@+2mh+ a?) 


Hierbei bedeutet z eine Koordinate senkrecht zur Platte, r den 
senkrechten Abstand von der durch die Elektrode hindurchgehenden 
2-Achse, h die Dicke der Flüssigkeitsschicht und « die Höhe der 
Elektrode oberhalb der Platte. 

Für die Dicke der Ringe ist nach dem Faradayschen Gesetz die 
Stromdichte an der Platte maßgebend, die, wenn a sowohl wie die 
betrachteten Entfernungen von der z-Achse klein gegen h sind, durch 
die Formel: y F 
(61) 5 2% (a? 4,2? 
dargestellt wird, da man in diesem Falle nur die zwei ersten Glieder 
der Reihe (50) zu berücksichtigen braucht. Liegt dagegen die Elek- 
trode in der Oberfläche der Flüssigkeit und will man die Stromdichte 
in größerer Entfernung von der z-Achse kennen, so ist es vorteilhaft 


p in eine Reihe zu entwickeln, die nach sin Un; fortschreitet. Die 
Koeffizienten dieser Reihe werden Besselsche Funktionen, die man im 
vorliegenden Fall (+ >> 1) durch ihre semikonvergenten Entwick- 


lungen ersetzen kann. Die Vernachlässigung der höheren Glieder der 
Fourierschen Reihe liefert schließlich für © den Wert??): 
zır 
(52) ara ER, 
2 hyrh 

39) E. Becquerel, Ann. chim. phys. (3) 13 (1845), p. 342. 

40) E. du Bois-Reymond und W. Beetz, Ann. Phys. Chem. 71 (1847), p. 71. 

41) B. Riemann, Ann. Phys. Chem. 95 (1855), p. 130 und Ges. Werke, Leipzig 
1876, p. 54. 

42) Vgl. auch Riemann- Weber, Die partiellen Differentialgleichungen der 








414 Vı7. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Durch spätere Versuche von A. Guebhard*?) wurde das Interesse 
für diesen Gegenstand wieder neu erweckt. Dieser erzeugte Nobilische 
Kurvensysteme in der oben angegebenen Art unter Zuhilfenahme 
mehrerer Elektroden, sah die so erhaltenen Figuren aber als identisch 
an mit den Äquipotentialkurven der Flächenströmung“*). Diese offenbar 
irrige Annahme wurde dann sowohl theoretisch wie experimentell 
widerlegt, u.a. von W. Voigt*). 

Bei den Versuchen zeigte sich, wie übrigens schon Riemann ver- 
mutet hatte, daß die Resultate getrübt wurden durch die bei wach- 
sender Dicke der niedergeschlagenen Schicht wachsende Polarisation 
der Metallplatte, die bei der Rechnung nicht berücksichtigt war. In 
dieser Hinsicht wurde die Theorie vervollständigt von H. Weber*®), 
der versuchsweise eine Polarisation proportional der erzeugenden 
Stromdichte einführte, so daß die Grenzbedingung an der Platte von 
p = const. in 


(53) hat 9 — 


übergeht, in der h eine durch den Versuch zu bestimmende Konstante 
bedeutet. Roiti?”) dagegen macht die Annahme, daß die Gegenpola- 
risation nur bis zu einem gewissen Maximum ansteigen kann. Im 
stationären Zustand kann dann nur durch diejenigen Teile der Platte 
ein Strom hindurchgehen, in denen dieses Maximum erreicht ist; in 
den übrigen Teilen der Platte hebt die Gegenpolarisation das Poten- 
tial der Stromverteilung auf, ohne dabei ihren Maximalwert zu er- 
reichen. Die Begrenzung dieses Teiles bestimmt sich erst durch die 


math. Physik, Braunschweig 1900, p. 460. Die Formel (52) wurde geprüft von 
W. Beetz in einer zweiten experimentellen Arbeit, Ann. Phys. Chem. 97 (1856), 
p- 22. 

43) A. Guebhard, Paris C. R. 90 (1880), p. 984; 93 (1881), p. 582; 93 (1881), 
p. 792; 94 (1882), p. 437; 94 (1882), p. 851; 96 (1883), p. 1424; Journal de phy- 
sique (2) 1 (1882), p. 205; 2 (1883), p. 87; 2 (1883), p. 335. 

44) Vgl. für die Strömung in Flächenleitern, dieser Art. C, Nr. 13 u. £f. 

45) W. Voigt, Ann. Phys. Chem. 17 (1882), p. 257 und 19 (1883), p. 183, wo 
auch über (zum Teil unter Mitwirkung von Werner) ausgeführte Versuche be- 
richtet wird. Vgl. auch H. Meyer, Diss. Göttingen 1880; Gött. Nachr. 1882, 
p- 666; Ann. Phys. Chem. 18 (1883), p. 136; E. Mach, Wien Ber. (2) 86 (1882), 
p. 8; Ann. Phys. Chem. 17 (1882), p. 858. A. Elsas bespricht die den Gueb- 
hardschen Versuchen genau entsprechende Formulierung des mathematischen 
Problems, ohne es aber zu lösen, Ann. Phys. Chem. 29 (1886), p. 331 und 30 
(1887), p. 620. 

46) H. Weber, Journ. f. Math. 75 (1872), p. 75 und 76 (1873), p. 1. 

47) Vgl. Riemann-Weber, Die partielle Differentialgleichung der mathe- 
matischen Physik, Braunschweig 1900, p. 468 ff. 


11. Inhomogene Leiter. 415 


vollständige Lösung des mathematischen Problems. Ausgeführt wurde 
die Berechnung für den Fall einer unendlich hohen Flüssigkeitsschicht 
und einer punktförmigen Elektrode von R. Gans“). Der Teil der 
Platte, durch den der Strom im stationären Zustand hindurchgeht, ist 
ein Kreis, dessen Radius a sich bestimmt aus der Gleichung: 


(54) — = cotg —, 


wobei c den Abstand der Elektrode von der Platte, @, den Unter- 
schied der Potentiale innerhalb des betrachteten Kreises und dem- 
jenigen eines unendlich weit entfernten Punktes der Platte bedeutet 
und ./ der ganze durch die Elektrode hindurchgehende Strom ist. 

Eine Verbesserung des Riemannschen Resultates durch Mitbe 
rücksichtigung der endlichen Leitfähigkeit der Platte erzielten Wild *) 
und Ditscheiner°"). 


11. Inhomogene Leiter. Bringt man innerhalb eines unendlich 
ausgedehnten Leiters von der Leitfähigkeit 6,, der in der positiven 
x-Richtung von einem konstanten (spezifischen) Strom © durchflossen 
wird, eine Kugel von der Leitfähigkeit 6, und dem Radius a an, so 
bekommt man das resultierende Stromfeld, indem man zu dem ur- 
sprünglichen Potential 


(55) 9=—ıi 


6, 


noch ein Zusatzpotential p, addiert. Dieses ist im Innern der Kugel 
durch die Gleichung: 


,—6 i 


(56) euch > Ferelrn Ayprapn “® 





dargestellt; außerhalb der Kugel gilt: 
‚ a: —0 ia® 

(56) Ya 9 ee 

Der Nullpunkt der x-Achse ist hierbei im Mittelpunkt der Kugel 
gedacht, während r den Abstand von diesem Mittelpunkt bedeutet. 

Allgemeinere Fälle kann man behandeln durch Entwicklung nach 
Kugelfunktionen’"). 

Sind mehrere Kugeln unregelmäßig in den Leiter verteilt in sol- 
chem Abstande, daß sie sich gegenseitig nicht mehr merklich beein- 





48) R. Gans, Zeitschr. Math. Phys. 49 (1903), p. 298 und 53 (1906), p. 434. 

49) Wild, Neue Denkschr. d. Schweiz. Nat. Ges. 15 (1857), p. 1. 

50) L. Ditscheiner, Wien Ber. 78 (1878), p. 93. 

51) Vgl. J.C. Maxwell, Treatise on electrieity and magnetism, Oxford 1881, 
Bd. 1 p. 398, Art. 10 u. £. 


416 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


flussen, so wird dieser sich verhalten, als ob seine Leitfähigkeit von 
dem Werte 6, in 

’ 26, 6 6, — 6 
Dr 
verändert ist??), wenn unter » das Verhältnis der Summe der Kugel- 
volumina zum Inhalt des ganzen Körpers verstanden wird. 

Das einfache obige Resultat reicht nicht mehr aus, wenn der 
Leiter ein Elektrolyt ist, da dann an der Oberfläche der eingebetteten 
Körper durch den Strom Ablagerungen zustande kommen, die eine 
Gegenpolarisation verursachen. Auf Grund der Roitischen Annahme 
(vgl. das Ende von Nr. 10) wurde dieser Fall für einen im Elektro- 
lyten eingebetteten Zylinder theoretisch untersucht von Volterra°?). 
Eine qualitative Untersuchung über die verschiedenen eigenartigen, 
durch die Polarisation verursachten Erscheinungen gibt J. Stark°*). 

Maxwell?) untersucht auch noch den Fall eines geschichteten 
Leiters. Er zeigt, daß, wenn das Verhältnis von Dielektrizitätskon- 
stante und Leitfähigkeit für die verschiedenen Schichten nicht kon- 
stant ist, ein solches Dielektrikum Rückstandserscheinungen zeigen 
wird, analog den bei Kondensatoren beobachteten. 





12. Näherungsweise Berechnung des Widerstandes. Draht 
von variabelem Querschnitt. Übergangswiderstand. Hat man einen 
Leiter, dem der Strom durch zwei vollkommen leitende Elektroden 
zugeführt wird (Formulierung a) Nr. 6), so gelingt die strenge Be- 
stimmung von und damit die Berechnung des Widerstandes nur in 
den wenigsten Fällen. Eine oft sehr nützliche Methode zur nähe- 
rungsweisen Berechnung gibt Rayleigh°®). Das Prinzip der Methode 
beruht auf der plausibelen Tatsache, daß der Widerstand eines solchen 
Leiters zu- bzw. abnimmt, wenn die Leitfähigkeit stellenweise erniedrigt 
bzw. erhöht wird. Man kann dies beweisen, indem man zu einer 
Variation do von o und der zugehörigen dp von @ die entsprechende 
Variation öQ der Jouleschen Wärmeentwicklung berechnet in der 


52) J. C. Maxwell, 1. c. p. 403, Art. 314. 

53) V. Volterra, Torino Atti 18 (1882), p. 133 und p. 147. 

54) J. Stark, Ann. Phys. Chem. 66 (1898), p. 246, wo auch die auf diesen 
Gegenstand sich beziehende Literatur zusammengestellt ist. 

55) J. C. Maxwell, Treatise on electrieity and magnetism, Oxford 1881, 
Bd. 1, p. 407, Art. 319. Vgl. über die Leitfähigkeit von Dielectrica und die ver- 
schiedenen vorgeschlagenen Theorien E. v. Schweidler, Ann. Phys. Chem. 24 (1907), 
p. 711 (am Schluß der Arbeit findet sich eine ausgedehnte Literaturangabe). 

56) Lord Rayleigh, Phil. Trans. 161 (1870), p. 77. Vgl. auch J. C. Maxwell, 
Treatise on electrieity and magnetism, Oxford 1881, Bd. 1, p. 390, Art. 306. 


12. Näherungsweise Berechnung des Widerstandes. 417 


Form: 

(57) 898 /ograd’pdS— [dograd?pdS + 2/6 (grad pgrad ög)dß. 
Der Greensche Satz angewandt auf p und dp zeigt dann, daß das 
letztere Integral verschwindet, so daß aus (57’) die Behauptung ohne 
weiteres folgt. Indem man also die Stromlinien in berechenbare 
Bahnen zwingt durch Anbringung eines Systems vollkommen leitender 
resp. vollkommen isolierender Flächen, kann man den Widerstand 
zwischen zwei Grenzen einschließen. 

Um die Methode auf einen langen Draht von variabelem Quer- 
schnitt und der Leitfähigkeit 6 anzuwenden, denke man sich diesen 
entstanden durch Rotation einer Kurve a—=f(z) um die z-Achse, so 
daß a also den jeweiligen Radius des Drahtes bedeute. Nimmt man 
jetzt als unendlich gut leitende Flächen Ebenen senkrecht zur z-Achse 
an, so erhält man für den Widerstand eines Stückes von der Länge I 
den zu kleinen Wert: 

(58) ne 
6 
wobei A durch die Gleichung: 


(58) 41% 


definiert ist. 

Nimmt man andererseits als vollkommen isolierende Flächen die 
der seitlichen Begrenzung ähnlichen Rotationsflächen an, oe = ®f(z), 
wobei 0<@<1 und o den senkrechten Abstand von der Mittellinie 
bedeutet, so erhält man den zu hohen Wert: 


ir 1 B 
(89) R=-,7(1+453J) 
wobei B durch die Gleichung 
v 
r da\?d 
69) 3-2) 7 


definiert ist. 

Gleichung (58) entspricht dem gewöhnlich angewandten Verfahren, 
das also immer einen zu kleinen Wert ergibt. Je langsamer sich der 
Querschnitt in der z-Richtung ändert, desto geringer ist nach (59) 
die obere Grenze für den Fehlbetrag. 

Eine zweite Anwendung gestattet das Prinzip bei der Berechnung 
des Übergangswiderstandes, d. h. des Zusatzwiderstandes, den man be- 
rücksichtigen muß, wenn ein kreisförmiger Draht von der Länge I 
und dem Radius a in eine größere Metallmasse endet. 

Den ersten zu kleinen Wert R, für den Widerstand erhält man, 


418 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


wenn der Draht an seiner Ansatzstelle durch eine vollkommen leitende 
Kreisscheibe abgeschlossen wird. Betrachtet man die Metallmasse als 
unendlich groß, so ist das Potential p hier so zu bestimmen, daß es 
innerhalb der Scheibe einen konstanten Wert annimmt und auf dem 


Rest der horizontal gedachten Begrenzung 2 —=( liefert. Es ist 


also dasselbe, wie das elektrostatische Potential einer geladenen leiten- 
den Kreisscheibe. Aus der bekannten Lösung für diesen Fall erhält 
man nach (32) für den Widerstand den ersten zu kleinen Wert: 


1. 11 1 7 

(60) Rest urmmltie) 

Den zweiten zu großen Wert R, erhält man, indem der Strom 
im Innern des Drahtes durch isolierende Zylinderflächen gezwungen 
wird, bis zur Ansatzstelle parallel zur Achse zu fließen. Das Potential 
in der Metallmasse bestimmt sich jetzt aus der Bedingung, daß inner- 
halb der Kreisscheibe vom Radius a 
(61) 2 


pe a pe — const. 





(J = Gesamtstrom) und auf dem Rest der Begrenzung “ = ( ist. 
Es ist nunmehr nicht nötig, das Potential wirklich zu bestimmen. 


Bedeutet nämlich AR, den Widerstand des Halbraumes, so gilt 
nach (31’) 


0 J 
(62) ARSP= [923 00= 2, [pas, 


wobei das Integral über die Kreisscheibe zu erstrecken ist. Dieses 
läßt sich ohne Mühe ausführen und liefert für den ganzen Widerstand 
den Wert: 


3 . 1 8 
(63) a were des ): 
Nach (60) und (63) erhält man also die Widerstandskorrektion, 


indem man den Draht um den Bruchteil « seines Halbmessers ver- 
längert denkt, wobei « liegt zwischen”) 


8 
37 SRIEE 0,849. 





(64) 7 = 0,785 und 


57) Lord Rayleigh erhielt London Math. Soc. Proc. 7 (1876), p. 70 durch 
weitere Näherung als obere Grenze 0,824 statt 0,849. Vgl. auch Scientific Papers, 
Cambridge 1899, I, p. 272. Experimentelle Bestimmungen gaben F. Kohlrausch, 
Ann, Phys. Chem. 35 (1888), p. 718 und W. Schrader, Ann. Phys. Chem. 44 (1891), 
p: 222 sowie Diss. Straßburg 1891. 


REN 


13. Grundgleichungen für Flächenleiter. Übliche Fragestellung. 419 


C. Flächenleiter. 


13. Grundgleichungen. Übliche Fragestellung. In diesem Ab- 
schnitt haben wir solche Leiter zu betrachten, bei denen eine Dimen- 
sion klein gegen die übrigen ist. Wir denken uns die begrenzenden 
Flächen dieser Körper beschrieben durch die Endpunkte eines kurzen 
Linienstückehens von der Länge A, das sich mit einem seiner Punkte 
über eine gewisse geometrische Fläche nach allen Richtungen bewegt 
hat, wobei es stets senkrecht zu dieser gerichtet war. In Überein- 
stimmung mit unserer Annahme über die Größenverhältnisse inter- 
essieren wir uns nur für die Mittelwerte der elektrischen Größen auf 
dem betreffenden Linienstückehen. Bezeichnen wir diese Mittelbildung 
vorübergehend durch einen horizontalen Strich, so folgt aus (2) mit 
Berücksichtigung der Grenzbedingung (7): 

(65) divo gradAp — div 61 &, 

wobei die Operationen div und grad zweidimensional in der zu grunde 
gelegten geometrischen Fläche aufzufassen sind. Eine Strömungs- 
komponente senkrecht zur Fläche kann nach (7) und (III) nicht auf- 
treten, so lange die Komponente von &* in der Dickenrichtung der 
Platte als unveränderlich betrachtet werden kann. 

Gewöhnlich sieht man von dem Vorhandensein eingeprägter elek- 
trischer Kräfte ganz ab und nimmt sowohl 6 wie A für die Platte 
als konstant an; in diesem Falle hat man statt (65): 

(66) divgradp — 0. 

Wo zwei Platten mit verschiedenen Leitfähigkeiten aneinander 
stoßen, gelten die Grenzbedingungen (10) und (11) in leicht ersicht- 
licher Spezialisierung. 

Indem man von einer genauen Beschreibung des Strömungsfeldes 
in der Nähe der Elektroden a, b, ... absieht, kann man diese als 
punktförmig annehmen. An diesen Stellen muß sich das Potential 
dann verhalten wie Alogr,, Blogr,, ..., unter r den auf der Fläche 
gemessenen Abstand vom betreffenden Punkt verstanden. Die Kon- 
stanten A, B,.... müssen bei einer endlichen Platte in der Summe 
Null ergeben (vgl (29)). Auch linienförmige Elektroden hat man in 
Betracht gezogen; an diesen muß das Potential konstante Werte an- 
nehmen, wenn sie aus unendlich gut leitendem Material bestehen. 


14. Zusammenhang mit der Theorie der Flächen”). Denkt 
man sich auf einer Fläche die Lage eines beliebigen Punktes definiert 


58) Die hier gewählte Darstellung entspricht den Ausführungen von F'. Klein, 
Über Riemanns Theorie der algebraischen Funktionen und ihrer Integrale, Leipzig 


420 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


durch zwei stetig veränderliche Parameter p und g, so daß das Linien- 
element in der Form 








(67) ds®= Edp?+ 2Fdpdqg + Gdq? 
dargestellt werden kann, so nimmt (66) die Gestalt an: 
09 709 op op 
el wer 
(68) 0 op R öq 0 oq op _ 


öp VEG-F? Tog YVEG-F? 


Definiert man eine Funktion 9’ durch die Gleichung 








09 _ 709 09 _5,%9 
7 ‚ 6 0» | op 04 
69 d tra ser ur SEE aan en Teen d 
(69) ; VRREN VRR 


was nach (68) möglich ist, so nennt man diese Funktion das zu 
„konjugierte Potential“ und bezeichnet ®= gig’ als „komplexe 
Funktion auf der Fläche“. Man zeigt leicht, daß @’ derselben Diffe- 
rentialgleichung (68) wie g genügt. Von größter Wichtigkeit für 
die Theorie ist nun die Bemerkung, daß, wenn man die unabhängigen 
Variablen p und q so wählt, daß p + iq selbst eine komplexe Funk- 
tion der Fläche ist, die Differentialgleichung die einfache Form 


(70) tz 


annimmt. Zu gleicher Zeit wird E=@G und F=(, so daß zwischen 
p und g’ die Beziehungen 





op __2dgy 
(71) cp u 
’ PK) PEIRIE, op 
(71) rer 
bestehen; das Quadrat des Linienelements wird einfach 
(72) ds?—= E(dp? + daq?). 


Die Linien p = const., resp. qg= const. bilden also ein isometrisches 
Kurvensystem auf der Fläche. 

(71) und (71”) zeigen, daß die Funktionen der Fläche analytische 
Funktionen voneinander sind; (72) zeigt, daß, wenn man 


p»+iq=aıtiy 
setzt, die Fläche konform auf die Ebene abgebildet wird. Man kann 
also einerseits, wenn eine konforme Abbildung der Fläche auf die 


1881 und Vorlesung über „Riemannsche Flächen‘, Sommersemester 1891—92, der 
seinerseits an E. Beltrami, Sulla theoria generale di parametri differenziali, 
Bologna Mem. (2) 8 (1868), p. 549 anknüpft. Vgl. übrigens Enc. IHID 6a, Art. 
4A. Voß, Abbildung und Abwicklung zweier Flächen aufeinander. 


15. Ebene Platten. 421 


Ebene bekannt ist, die Differentialgleichung für $ in die einfache 
Form (70) schreiben; andererseits wird durch die experimentelle Be- 
stimmung irgend einer zu einer Strömung gehörigen Potentialvertei- 


lung die konforme Abbildung der Fläche auf die Ebene geleistet°?). 


15. Ebene Platten. Da 2—=x-+iy eine „Funktion der Ebene“ 
ist, erscheint die Differentialgleichung für ebene Platten in der ein- 
fachen Form °®) 


‚ 0° 0° 
(10) en, 


die Differentialgleichung des logarithmischen Potentials. Betrachtet 
man wieder die Kombination + igp’= ®, so ist die einfachste 
Lösung 


(73) 0- — 


’ 


Er 


sie entspricht einer einfachen Stromquelle im Punkte x = %,, Y = Yı, 
durch die der Strom J in die Platte eintritt. Sind mehrere Elek- 
troden vorhanden, so besteht ® aus einer Summe von Gliedern der 
Form (73). 

Natürlich kann man sich die unendliche Ebene längs einer Strom- 
linie (9’= const.) durchgeschnitten denken und damit zu dem Fall 
einer begrenzten ebenen Platte übergehen®'., Im Prinzip hiervon 
nicht verschieden aber direkter ist die Konstruktion der Lösung für 
eine begrenzte Platte mittels der Abbildungsmethode®). Der ein- 
fachste Fall ist der der Halbebene, dessen Lösung als Grundlage 
dienen kann. Denkt man sich diese begrenzt durch die &-Achse, so 
erhält man die Lösung für zwei Elektroden in den Punkten x,, % 
und &,, 4,, durch die der Strom J in die Platte ein- bzw. austritt, 
indem man in der unteren Halbebene die durch Spiegelung an der 
x-Achse entstehenden Elektroden in den Punkten x,, — Yy, und &,, 
— y, zu den gegebenen hinzufügt. Die Funktion ® erhält dann die 





59) Auf diesen Zusammenhang wurde wohl zuerst von @. Kirchhoff hin- 
gewiesen, Monatsber. d. Akad. d. Wiss. Berlin (1875); Ges. Abh., Leipzig 1882, 
p-. 56. 

60) Die Differentialgleichung (70) findet sich zuerst bei @. Kirchhoff, Ann. 
Phys. Chem. 64 (1845), p. 497. Man vgl. auch W. Smaasen, Ann. Phys. Chem. 
69 (1846), p. 161. 

61) Eingehend werden die Verhältnisse bei mehreren Polen in der unend- 
lichen Ebene untersucht von C. C. Foster und O. J. Lodge, Phil. Mag. (49) 4 (1875), 
p. 385; (50) 4 (1875), p. 475; O. J. Lodge (1) 5 (1876), p. 373. 

62) Auf zahlreiche Beispiele wurde die Methode angewandt von Holzmüller, 
Einführung in die Theorie der isogonalen Verwandtschaften, Leipzig 1882. 


492 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Form ®) 


(74) 0-—_. 


2 
a weis Hueich) 
wobei der horizontale Strich bedeutet, daß in der betreffenden Größe 
i mit — i zu vertauschen ist. 

Da auf der Begrenzung (y == 0) der imaginäre Teil von ® kon- 
stant ist, erhält man die Lösung für eine Platte, die durch irgend 
eine andere Kurve begrenzt wird, indem man die Halbebene auf das 
Innere des von der betrachteten Kurve begrenzten Gebietes abbildet, 
so daß die reelle Achse der neuen Begrenzung entspricht. Für den 
Kreis mit dem Radius «a geschieht das z.B. durch die gebrochene 
lineare Transformation): 


a 
(75) -5tin—ait, bw. z— ren 


Aus (74) erhält man dann, unter Weglassung einer belanglosen 
Konstante, für ® den Wert: 


PER g$— & I— 
(76) = — ;7,, (log BE Hase) 


wenn &, &; &0, & die Punkte bedeuten, die bei der Transformation 
aus 2y, 215 Zu, Zı hervorgehen. Aus (75) folgt, daß &, und &, bzw. 
&, und £&,” harmonische Punkte in bezug auf den Kreis mit dem Ra- 
dius a sind. Sie liegen also auf einem vom Mittelpunkt ausgehenden 
Strahl, während das Produkt ihrer Abstände vom Mittelpunkt gleich 


a? ist. 








63) Vgl. z.B. F. Auerbach, Ann. Phys. Chem. 3 (1878), p. 498. 

64) Die Lösung für den Kreis wurde zuerst angegeben und experimentell 
geprüft für den Fall, daß die Elektroden auf der Begrenzung liegen, von @. Kirch- 
hoff, Ges. Abh. Leipzig 1882, p. 1 und Ann. Phys. Chem. 64 (1845), p. 497. In 
einer zweiten Abhandlung Ann. Phys. Chem. 67 (1846), p. 344 gibt er statt der 
in der vorher genannten Arbeit gebrauchten Methode der direkten Potential- 
bestimmung ein zweites Verfahren an, beruhend auf der magnetischen Wirkung 
der Strömung auf eine kleine in der Nähe der Platte aufgehängte Magnetnadel. 

Das Resultat für einen Kreisring erhält L. Ditscheiner, Ann. Phys. Chem. 5 
(1878), p. 282, durch fortgesetzte Spiegelung. 

Die von zwei exzentrischen Kreisen begrenzte Platte wird behandelt von 
E. Jochmann, Zeitschr. Math. Phys. 1865, p. 48 und 1865, p. 89. 

Der Fall einer aus zwei gleichen Hälften verschiedener Materialien be- 
stehenden Kreisplatte wird theoretisch und experimentell untersucht von @. Quincke, 
Ann. Phys. Chem. 7 (1856), p. 382. (Vgl. für das angewandte abgeänderte Spie- 
gelungsverfahren den analogen Fall in Nr. 8.) 

Die Strömung in einer unendlichen Platte mit einem von einer Ellipse be- 
grenzten anders leitenden Teil behandelt J. Haubner, Wien Ber. (2) 87 (1883), 
p- 412. 


15. Ebene Platten. 423 


Die Lösung für einen unendlich langen Streifen von der Breite a, 
in dem zwei Elektroden vorhanden sind, durch die der Strom ein- 
bzw. ausgeführt wird, erhält man, indem man die schon betrachtete 
Halbebene mittels der Transformation °°) 


(77) ng 2 —=logz bzw = Er 

auf den Streifen in der &-Ebene abbildet. Hiernach wird: 
ee 

(78) 0m log — a Ba e 
e « —e e «—e * 


wobei nach (77) 2 z 
(79) 6 und Geh 


in Worten: &, und £&,’ entstehen durch Spiegelung der wirklichen 
Elektroden an einer der Begrenzungslinien des Streifens. Man kann 
natürlich (78) auch dadurch erhalten, daß man die Wirkung der durch 
fortgesetzte Spiegelung an den Begrenzungslinien entstehenden Pole 
in geeigneter Weise summiert. 

Will man die Strömung in einer rechteckigen Platte mit zwei 
Einströmungspunkten berechnen, so kann man die obere z-Halbebene 
mittels des elliptischen Integrals erster Gattung auf das Innere des 
vorgelegten Rechtecks in der $-Ebene abbilden. Bedenkt man, daß 
durch diese Abbildung oder auch direkt nach dem Spiegelungsver- 
fahren e® eine doppeltperiodische Funktion wird mit den Perioden 
2a und 2:b (a bzw. b bedeuten die Seiten des Rechtecks in der &- 
bzw. n-Richtung), die in den Punkten = &, = &, {= — 


>17 


&= — £, einfache Pole hat, so wird man ohne weiteres auf die Dar- 
stellung geführt ‘®) 2 ; 
(80) 8 — _ _I_ 100 E-ICHME-DIEHE), 








200, 9 s— E)o+&)o(—E)ek+ä) 


65) Das Resultat für den Streifen wurde zuerst angegeben von J. Stefan 
und experimentell geprüft von v. Obermayer, Wien Ber. (60) 2 (1869), p. 245. 
Eine angenäherte Lösung durch Berücksichtigung nur zweier Spiegelpunkte gibt 
F‘. Auerbach, Ann. Phys. Chem. 3 (1878), p. 498. Das genaue Resultat wird dar- 
aufhin nochmals (in Produktform) angegeben von L. Ditscheiner, Ann. Phys. Chem. 
5 (1878), p. 282. 

66) Die Strömung in einer rechteckigen Platte wurde zuerst behandelt von 
E. Jochmann, Zeitschr. Math. Phys. 1865, p. 48 und 1865, p. 89, später wurde 
das Resultat auf anderem Wege abgeleitet von E. Heine, Berlin Ber. 1874, 
p- 186, und ausführlicher J. f. Math. 1875, p.1. Für den Fall, daß die Elek- 
troden in der Nähe einer Plattenecke liegen, daß also die Platte näherungsweise 
durch einen Quadranten der unendlichen Ebene ersetzt werden kann, wird das 


424 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Die Funktion 6 ist die bekannte von Weierstraß eingeführte Modi- 
fikation der #-Funktion. 

Ebenso kann man beliebige Polygone behandeln, da auch hier 
die Abbildung auf die Halbebene nach H. A. Schwarz mittels bestimmter 
Integrale bewerkstelligt werden kann. 

Sind nur zwei Elektroden A und B vorhanden, so kann man 
von einem Widerstand R der betrachteten Platte reden. Dieser be- 
trägt nach (32) allgemein 








Pa— PB 
(81) R= Fa 
Hieraus findet man z.B. für die unendliche Ebene 
1 d> 
(82) R= „108 A 


wenn d der Abstand und o, bezw. oz die Radien der kleinen kreis- 
förmigen Elektroden bedeuten. 

Für einen Kreis®”) vom Radius a erhält man aus (76) 

1 AB’ AB AB 

83 en ( ee) 
(83) 2 ? 0405 AA BB)’ 
wobei A’ bzw. B’ die oben erklärten Bildpunkte von A und B be- 
deuten und unter AB, usw. der Abstand der Punkte A und B, usw. 
zu verstehen ist. 

16. Gekrümmte Platten. Wie in Nr. 14 gezeigt wurde, erhält 


die Differentialgleichung des Potentials auf einer Fläche die einfache 
Form 





Pr 0? 0? 
(70) tan 
wenn durch den Ansatz 
(84) erty=ıtr y=z 


die Fläche konform auf die Ebene abgebildet wird. Ist die Fläche 
geschlossen und einfach zusammenhängend, so kann man sie konform 
auf die unbegrenzte Ebene beziehen. Daraus folgt als Lösung für 
zwei punktförmige Elektroden, durch die der Strom J der Fläche zu- 
bzw. abgeführt wird: 

85 -y+rg=— er log —e — — u log 


2—2, 2n0h 








wenn wir wieder statt p allein die komplexe Funktion der Fläche ® 


Resultat angegeben und experimentell geprüft von @. Quwincke, Ann. Phys. Chem. 
7 (1856), p. 382. 
67) Vgl. @. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 64 (1845), p. 497. 


16. Gekrümmte Platten. 425 


betrachten. Ebenso wie für ebene Platten sind p = const. die Niveau- 
linien des Potentials und 9 = const. die Strömungslinien. 

Für die Kugel erhält man eine konforme Abbildung durch stereo- 
graphische Projektion. Hat die Kugel den Radius a und fällt ihr 
Mittelpunkt mit dem Nullpunkt der z-Ebene zusammen, so lautet 
diese Abbildung in Formeln 

2 
(86) u. 
mit der Nebenbedingung 
(87) + +2, 
wenn &, n, Z die Cartesischen Koordinaten der Kugelpunkte bedeuten 
und &=&-in ist. Führt man auf der Kugel Poldistanz 0 und 
geographische Länge ® ein, so kann man statt (86) auch schreiben 





ww 























‚ 2 e 
(86) ri 
so daß man für zwei Elektroden die Lösung erhält?”): 
g® E e®o 
g & 0 9% 
(88) @— I a2 a—2 _ I] ws; 8; 
ENT id LE 5 een 
a—Z a—Z 8 ) 
“0% 


Beliebige Zylinderflächen‘®) lassen sich durch bloßes Abrollen 
auf die Ebene abbilden; die Lösung erscheint hier als einfachperio- 
dische Funktion. 

Als Beispiel einer Fläche, die sich nicht auf die ganze Ebene 
abbilden läßt, weil sie nicht einfach zusammenhängend ist, sei die 
von Kirchhoff behandelte Ringfläche°®®) erwähnt. Ihr Bild erscheint 


in der Ebene als Rechteck, so daß die Lösung auf doppeltperiodische 
Funktionen führt. 


D. Lineare Leiter. 


17. Grundgleichungen. Betrachtet man ein System, bestehend 
aus p linearen Leitern, so interessieren uns zunächst die unter Ein- 
wirkung der gegebenen eingeprägten elektrischen Kräfte €, in jedem 


68) Das Resultat wurde zuerst (durch direkte Lösung der Potentialgleichung) 
erhalten von L. Boltzmann, Wien Ber. (52) 2 (1865), p. 214. Vom Standpunkt 
der Abbildung aus wird es später beleuchtet von @. Kirchhoff, Berlin Ber. Juli 
1875; Ges. Werke, Leipzig 1882, p. 56 und von A. Töpler, Ann. Phys. Chem. 10 
(1877), p. 375. 

69) Vgl. L. Boltzmann, Wien Ber. (52) 2 (1865), p. 214. 


70) Vgl. @. Kirchhoff, Berlin Ber. Juli 1875 und Ges. Werke, Leipzig 1882, 
p- 56. 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 28 


426 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Drahte fließenden Gesamtströme J,. Diese lassen sich durch Auf- 
lösung eines Systems linearer Gleichungen bestimmen auf Grund der 
beiden Kirchhoffschen Relationen"): 


(89) — J,—= 0 für jeden Knotenpunkt; 
(90) DJ, uw, =DE, für jeden geschlossenen Umgang. 


In (90) ist , der Widerstand des p'”® Drahtes, gemessen zwischen 
zwei Knotenpunkten und definiert durch die Formel ”®): 
ı 


ds 
(91) W, men 
0 


wobei g, der betreffende Querschnitt und s die auf der Leitlinie des 
Drahtes von der Länge ! gemessene Entfernung bedeutet. E, ist die 
sogenannte im Draht wirkende elektromotorische Kraft, dargestellt durch 
das Integral: 


z 
(92) E,— hä G,.ds. 


Ist Querschnitt und Leitfähigkeit längs des Drahtes unveränder- 
lich, so gilt statt (91) einfach: ; 
(91) w,— og, 

Die Gleichungen (89) und (90) sind nur eine andere Ausdrucks- 
weise für die (geeignet spezialisierten) Fundamentalgleichungen (I) 
und (II) Nr. 1. Gleichung (89) ist äquivalent mit der aus (II) für 
eine beliebige geschlossene Fläche folgenden Beziehung: 


(89) [3.40 = 0, 
während die auf eine geschlossene Linie s bezogene Integralform 
von (]): 


(90) % Gds—0 


71) @. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 72 (1847), p. 497 und 75 (1848), p. 189, - 
sowie Ges. Abh. Leipzig 1882, p. 22 und p. 32. Bemerkungen, welche zur Ver- 
einfachung der Rechnung bei komplizierteren Systemen dienen können, finden 
sich außer bei @. Kirchhoff, loc. eit., bei J. A. Fleming, Phil. Mag. (5) 20 (1885), 
p. 221; S. Kalischer, Ann. d. Phys. 46 (1892), p. 113; W. Feussner, Ann. d. Phys. 9 
(1902), p. 1304 und 15 (1904), p. 385; von mehr mathematischem Standpunkt 
aus werden die Gleichungen untersucht von W. Ahrens, Math. Ann. 49 (1897), 
p. 311. Die Elektrotechnik, die die Kirchhoffschen Regeln bei der Projektierung 
von Leitungsnetzen in großem Maßstab anzuwenden hat, entwickelt ihre eigenen, 
zum Teil mit denen der Graphostatik identischen Methoden (vgl. Art. V 19). 

72) Vgl. auch Nr. 12. 


18. Das äußere Feld. 427 


auf Grund von (II) mit (90) identisch wird, wenn man w, und E, 
durch (91) und (92) definiert. 

Zu den vorher betrachteten Strömen gehört ebenso wie im all- 
gemeinen Falle ein Potential 9, im Innern der Leiter bestimmt durch 
die aus (2) durch Spezialisierung hervorgehende Gleichung: 

d d 
(93) 2 04 5 = 15°4 E,. 
Für g=9, im Punkte s des Drahtes . hieraus: 


(94) nn [6 ds — ds, 


wobei @, das Potential am Anfange des Drahtes und Ü eine von s 
unabhängige Konstante bedeutet. Nach (1) und (III) ist C mit dem 


Gesamtstrome J identisch, während $ E,ds = E, die im betreffenden 


0 
Seitenstück wirkende elektromotorische Kraft darstellt. Unter Be- 
rücksiehtigung der Definitionsgleiehung (91) geht also (94) über in 


(94°) 9, —-p=E—wT. 


Für die in dem betreffenden Drahtstück erzeugte Wärme @, gilt 
nach (IV), (1) und (94): 
(95) Q,=wd”. 


Nur dann, wenn in dem Drahte die eingeprägten elektrischen Kräfte 
fehlen, kann man statt (95) auch schreiben: 

2 2 
(95) = Ir) 


w; 
18. Das äußere Feld. Das magnetische Feld ergibt sich (vgl. 
Nr. 4 und Nr. 5) entweder aus einem Vektorpotential A oder einem 
skalaren Potential y. Für solche Abstände von den Drähten, gegen 
welche die Querschnittsdimensionen zu vernachlässigen sind, gilt die 
Spezialform von (25) 


J, d 
ee =2 > ID 


wenn wir uns auf den Fall cn Permeabilität im ganzen Raum 
beschränken und unter J, resp. d®, Strom resp. Längenelement des 
p“” Drahtes verstehen, während r den Abstand des Aufpunktes vom 
betreffenden Linienelement d3, bedeutet. Ist w nicht konstant, so 
führt die Bestimmung von AV auf die Lösung einer Randwertaufgabe 
(vgl. Nr. 4). Aus X folgen die magnetischen Feldkomponenten nach 
(17) und (15). In der Nähe der Drähte würde (96) für A ein loga- 
28* 


428 Vı?7. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


rithmisches Unendlichwerden ergeben; in Wirklichkeit muß man hier 
die endliche Drahtdicke unter Anwendung von (25) berücksichtigen, 
wodurch dieses singuläre Verhalten verschwindet. 

Beschränkt man sich durchweg auf größere Entfernungen von 
den Stromleitern, so ist das Potential y» wegen seines skalaren 
Charakters einfacher wie W. Unter der Annahme u = const. im 
ganzen Raume gilt für % nach (23) durchweg außerhalb der strom- 
führenden Leiter: 

(97) Av—=(0. 


Das Potential & ist indessen nicht eindeutig, da nach (II) und (22) 
die Beziehung gilt: 


(98) [ss--4-w=-]! 


für jeden geschlossenen Weg mit den Anfangspunkten O und 1, der 
den Strom J umkreist. 

Haben wir einen einfachen Stromkreis”®), dessen Öffnung wir 
verschließen durch eine gedachte Fläche, an der wir für %y nach (98) 


. ” J i : . 
einen Sprung von der Größe —- vorschreiben, so ist hierdurch zu- 


sammen mit (97) und den Bedingungen im Unendlichen % bis auf 
eine belanglose Konstante bestimmt. Die Vergleichung der gesuchten 


Funktion mit der Grundlösung e von (97) (r = Abstand vom ge- 


wählten Aufpunkt) mittels des Greenschen Satzes, liefert ohne weiteres 
J 9% 

(99) Pe rlier 

wobei n resp. do Normale resp. Flächenelement der angenommenen 

vom Strome berandeten Unstetigkeitsfläche bedeutet‘), während die 


Integration sich über diese ganze Fläche erstreckt. Man kann noch 
bemerken, daß der Ausdruck 


01 do ö d 

5,06 --577,,- 7m, r) 
den räumlichen Winkel d2 darstellt, unter dem das Flächenelement 
ds vom Aufpunkte aus gesehen wird und daraufhin Yy nach (99) in 





73) Der Fall einer Stromverzweigung läßt sich durch die stets mögliche 
Zerlegung in einfache Stromkreise auf den oben behandelten Fall zurückführen. 

74) In (99) ist die positive Normale n so zu bestimmen, daß sie mit dem 
Strom ein Rechtssystem bildet; unter % ist dann stets der absolute Betrag des 
Stromes zu verstehen. 


19. Spezielle Fälle der Stromverzweigung: Wheatstonesche Brücke usw. 429 


die äußerst einfache Form schreiben: 

(100) v-,;8 

& ist dabei der Winkel, unter dem der ganze Stromkreis vom Auf- 
punkte aus erscheint”). Die Formeln (99) und (100) sind sofort 
einleuchtend, wenn man die Unstetigkeitsfläche als magnetische Doppel- 
schicht deutet. 

In der Nähe der Drähte muß man natürlich auf die wirklich 
vorhandene Stromverteilung Rücksicht nehmen; im Stromgebiet selbst 
existiert kein skalares Potential mehr. 

Ist u nicht im ganzen Raume konstant, so führt die Bestimmung 
von % auf die Lösung einer Randwertaufgabe (vgl. Nr. 4), ähnlich 
wie dasselbe oben für A bemerkt wurde. 

Die Bestimmung des äußeren elektrischen Feldes führt unter 
allen Umständen auf eine Randwertaufgabe, wie sie in Nr. 3 näher 
definiert wurde. 


19. Spezielle Fälle der Stromverzweigung: Wheatstonesche 
Brücke usw. Die in Fig. 3 skizzierte, von Wheatstone‘®) und später 
von Kirchhoff“) angegebene Drahtkombination 
wird ganz allgemein benutzt zum Vergleichen von 
Widerständen. Die Leitung ASB besteht gewöhn- 
lich ganz oder in ihrem mittleren Teil aus einem 
über eine Teilung gespannten Draht, auf dem der 
Kontakt S gleitet, R, und R, sind die zu ver- 
gleichenden Widerstände, E eine Stromquelle, @ Fig. 3. 
ein Galvanometer. Der Kontakt $ wird so ge- 
stellt, daß das Galvanometer keinen Strom zeigt. Dann ist der Brücken- 
strom i, = (0) und die Beziehungen (89) und (90) liefern die Relation: 


(101) yR=nR,- 
Für die Beurteilung der Empfindlichkeit ist noch die Größe von i, 
von Interesse, für den Fall, daß der Kontakt 8 nicht gerade die oben 








75) Für die Darstellung des räumlichen Winkels durch Oberflächen- oder 
Linienintegrale vgl. man J. ©. Maxwell, Treatise on electr. a. magn., Oxford 
1881, 2, p. 36ff., Art. 417 ff. 

76) ©. Wheatstone, Phil. Trans. 2 (1843), p. 323 und Ann. Phys. Chem. 62 
(1844), p. 535. Für die verschiedenen üblichen Methoden zur Widerstands- 
bestimmung vgl. man F. Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik, Leipzig 
1905, p. 413ff. 

77) @. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 64 (1845), p. 512; Ges. Abh. Leipzig 
1882, p. 14. 


430 V17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


angenommene Stellung einnimmt‘®). Die erste Kirchhoffsche Glei- 
chung (89), angewandt auf die drei Knotenpunkte A, B, C, liefert 
dann: 

A A a=0, 
(102) % hi), 

—h-ıu=0, 


während die zweite Gleichung (90), angewandt auf die drei Strom- 
kreise SAB, SBC und SCA unter Benutzung von (102) die Be- 
ziehungen gibt 
R+n+r)4 rn h—nda=E, 
BR+tn+tn)A—nAa— rd =, 
Btntrn).—nd nA). 
Aus (102°) folgen J,,J,, J,, nachher liefert (102) die Werte i,, is, ,- 
So erhält man z. B. für i, den Wert: 
(103) ee en 
wobei A die Determinante des Gleichungssystems (102”) bedeutet und 
durch die verschiedenen Widerstände ausgedrückt werden kann in 
der Form 
(103°) A=RRR+ RR, tr)+ RRB(rs +5) 

+ RR +rn)+R+R+R)nrtnn tn) 

Unter Benutzung der obigen Resultate findet sich, daß man bei 
gegebenen Apparaten und Widerständen die empfindlichste Anordnung 
erhält, wenn man den Knotenpunkt zwischen den beiden größten 
Widerständen (R,, R,) mit demjenigen zwischen den beiden kleinsten 
(r3, 73) durch diejenige Leitung von den zwei noch übrig gebliebenen 
(Galvanometer- resp. Elementleitung) verbindet, welche den größeren 
Widerstand hat. 

Handelt es sich um die Vergleichung sehr kleiner Widerstände 
(dieke Stäbe), so ist die Wheatstonesche Brücke in gewöhnlicher An- 
ordnung ungeeignet. Es zeigen nämlich erstens alle Verbindungen 
der Widerstände miteinander einen Übergangswiderstand, der im vor- 
liegenden Falle nicht mehr zu vernachlässigen ist, während man es 
zweitens praktisch nicht so einrichten kann, daß bei dieken Stäben 
der Strom schon in unmittelbarer Nähe der Verbindungsstelle über 
den ganzen Querschnitt gleichmäßig verteilt wird (Ausbreitungswider- 


(102%) 








78) Vgl. z.B. J.C. Maxwell, Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, 1, 
p. 436, Art. 347; man sehe auch H. Weber, Verein f. Naturwissensch. zu Braun- 
schweig 5 (1886), p. 19. 


20. Das magnetische Feld in speziellen Fällen. 431 


stand). Man benutzt in diesem Falle entweder eine kompliziertere, 
von W. Thomson"”) angegebene Drahtverzweigung, oder eliminiert die 
oben besprochenen Widerstände nach A. Matthiessen und Hockin®®) 
durch Kombination von vier Beobachtungen in einer der Wheatstone- 
schen Brücke im Prinzip gleichen Stromverzweigung. 


20. Das magnetische Feld in speziellen Fällen: Einzelner 
gerader Draht, zwei oder mehrere parallele gerade Drähte. Er- 
streckt sich der einzelne Draht in der z-Richtung von z—= — oo bis 
z=+ ©, so ergibt (96) für die z-Komponente U, des Vektor- 
potentials für den Fall eines positiven Stromes J: 





+» 
de rk SA og 9 + const., 


a re er re 


wenn noch g den senkrechten Abstand des Aufpunktes vom Drahte 
bedeutet und von einer (unendlich großen) Integrationskonstante ab- 
gesehen wird, während für das äußere Medium u — 1 gesetzt wird. 
Das zu demselben Strom gehörige skalare (magnetische) Potential ist 
(105) bein 
wenn ® den um die z-Achse gemessenen Winkel bedeutet. 

Nach (104) oder (105) ergibt (17) oder (22) 

er, 

(106) u 7 IE 0 rabe, 
Gleichung (106) gilt für beliebige Querschnittsform des stromführenden 
Drahtes, so lange die Entfernung o groß ist. Beim kreisförmigen 
Draht gilt (104) und (106) durchweg bis in unmittelbare Nähe der 
Drahtoberfläche. 

Im Innern dieses Drahtes existiert kein Potential », wohl aber 
das Vektorpotential W, für dessen z-Komponente man nach (18”) 
und (20) erhält: 

‚ Ju e° 
(104°) Vi—= — 7, + const., 


wenn das Drahtmaterial die Permeabilität u hat und der Drahtradius 
gleich a gesetzt wird. Aus (107) folgt nach (17) und (15) 


’ J 
(106) 998), Geiz 


79) W. Thomson, Phil. Mag. (4) 24 (1862), p. 149. Vgl. auch zur prak- 
tischen Ausführung W. Jaeger, St. Lindeck u. H. Diesselhorst, Zeitschr. f. Instr. 
23 (1903), p. 33 u. 65, sowie Wiss. Abh. d. P. T. Reichsanstalt 4 (1903), p. 118. 

80) Vgl. F. Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik, Leipzig 1910, 
p. 451. 


432 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Der unendlich lange, gerade Draht ist eine recht unphysikalische Ab- 
straktion, da der Energiegehalt zwischen zwei Ebenen 2 = const. in 
endlichem Abstande voneinander sich als unendlich groß erweist (vgl. 
auch Nr. 32a). 

Sind mehrere unendlich lange parallele Drähte 1,...,p,...,n vor- 
handen, welche von den Strömen J,,...,Jy...,J, in der z-Richtung 
durchflossen werden, so hat das dazu gehörige Vektorpotential wieder 
nur eine 2-Komponente und es gilt einfach: 


4 
(107) AW,—= — > 55108 0, + eonst. 
I 


0, bedeutet dabei den senkrechten Abstand des Aufpunktes vom 
p'® Drahte. Gleichung (107) ist genau richtig bis in unmittelbarer 
Nähe der Drahtoberflächen, wenn die Querschnitte kreisförmig sind 
und das Drahtmaterial dieselbe Permeabilität (z. B u=1) wie die 
des Außenraums hat. Das innere Feld des p® Drahtes bekommt man, 
indem man über sein eigenes nach (104’) gebildetes Vektorpotential 
noch die äußeren Potentiale der sonstigen Drähte ee so daß 


(107) ur Fr a, a: log 9% an 20C log Op: 

p+1 
Ist das Drahtmaterial magnetisierbar (u==1), so führt die Bestimmung 
des Feldes auch bei kreisförmigem Querschnitt auf die Lösung einer 
Randwertaufgabe, näher definiert durch (18”), (20) und (21). 

Als Beispiel sei erwähnt der Fall zweier paralleler Drähte von 
kreisförmigem Querschnitt (Radius = «), die in entgegengesetzter 
Richtung vom Strome J durchflossen werden. Für diese gilt, so 
lange u durchweg const., z. B. gleich 1 ist, im Außenraum: 





N @ 
im Innern des ersten resp. zweiten Drahtes hat man"): 
3% J (1 9,°—a? E 
een. 
(108’) resp. 
J (/19°—a? E 
Ma ug), 


Ist für die Drähte v1, so kann VW in Strenge unter Ein- 
führung von Bipolarkoordinaten bestimmt werden. So lange indessen 





81) In (108°) wurden zu den Formeln solche im übrigen belanglose Kon- 
stanten hinzugefügt, daß das Vektorpotential an der Oberfläche der Drähte 
stetig ist. 


20. Das magnetische Feld in speziellen Fällen. 433 


der Abstand der beiden Drahtmittellinien d nicht zu klein im Ver- 
gleich mit @ ist, genügt die Näherung, die man erhält, wenn man 
über das nach (107) und (107”) gebildete Feld noch die durch die 
beiden Drähte einzeln verursachte Strömung überlagert. Hierbei kann 
man das ursprüngliche Feld des einen Drahtes in der Nähe des anderen 
als homogen ansehen und erhält dann ohne weiteres im Außenraume: 


28 Dh AR hlS ar 
(1090) 4, = 35108 ei +5 ar F sind, + E sin ®,) |, 
und im Innern des ersten resp. zweiten Drahtes: 
ER, Je. /i6- 2 G .; 
U letae) 
(109) resp. 
N Ba 2 9. 
m enge), 


wenn unter ®, resp. 9, die um die Achsen des ersten resp. zweiten 
Drahtes gemessenen Polarwinkel bedeuten, von der Verbindungslinie 
der Mittelpunkte der Drahtquerschnitte als Nullinie aus gemessen, 
wobei letztere vom ersten nach dem zweiten Draht hinzeigt. 

Unter Benutzung von Bipolarkoordinaten läßt sich auch das 
elektrische Feld zweier paralleler Drähte leicht angeben. Man führe 
die neuen Koordinaten « und ß ein durch den Ansatz: 

.  @+in+2 
(110) et, 
@+iy)—-7Z 
wobei x, y rechtwinklige Koordinaten in der Ebene senkrecht zu den 
Drahtachsen bedeuten, während der Nullpunkt —=y=0 in der 
Mitte zwischen den beiden Drähten liegt. Die Drahtoberflächen 
bilden dann Kurven « = const. mit 


BEN BR d+D 
= Fn—- Fit, 





wenn noch D = 3yey- a? die Länge derjenigen Linien bedeutet, 
die man durch den Punkt =y=0 als Tangente an die beiden 
Kreisquerschnitte ziehen kann, gemessen zwischen den beiden Be- 
rührungspunkten. Führt man um die Punkte = + = der x-Achse 
Polarkoordinaten g,, ®, resp. Q,, 9, ein®?), so ist allgemein 


e 
«= log.» B=H—%. 


82) Die Nullpunkte dieser Koordinatensysteme sind also. verschieden von 
den vorher (bei der Besprechung des magnetischen Feldes) als Nullpunkte be- 
nutzten Mittelpunkten der Drahtquerschnitte. 


434 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Durchfließt nun wieder der Strom J beide Drähte in entgegengesetzten 
Richtungen, so gilt für das Potential im Innern des ersten resp. zweiten 
Drahtes einfach: 


J J 
(111) DREI EEE ET) 


wobei 9, eine von dem Widerstand der sehr weit weg gedachten 
Verbindung der beiden Drähte abhängige Konstante bedeutet. 

Das äußere Potential bestimmt sich nun nach Nr. 3 als Lösung 
der Potentialgleichung 


0° 0? 9° 
(112) Ao—0, dh getie team 
mit 

DR 
P Eoja — cos ß 
zu Ä 
A %%t% 

(113) (PiFF -- Fan zn BR = Br) 


woraus man für die elektrischen Feldstärken erhält: 





Fa Le b J Po 
ur gar 3) 
179: 
(114) ,--,9=0 
Br 34% 
€ PT 7 





Der Wert von €, für «= «, stellt die Oberflächenladung des Drahtes 
pro Flächeneinheit dar. Sind die Drähte weit genug entfernt, so ist 
diese um den Umfang gleichmäßig verteilt und ergibt sich aus der 
Formel: 


a 
(114) a - 4 a 


21. Das magnetische Feld eines Kreisstroms. Führt man in 
der Ebene des (linearen) Kreisstromes vom Radius a Polarkoordi- 
naten 0, $ ein und nennt die Koordinate senkrecht zu dieser Ebene z, 
so erhält man für die einzig vorhandene Komponente WA, des Vektor- 
potentials A nach (96) ohne weiteres: 








9=nN 
Ja cos#.d® 
115 kn ZI i 
el, N, m) vr +0?+ a? — 2ao cos®# 
=0 
Durch die Substitution 
Di} 
cs. = & 


wird (115) in die übliche Form der vollständigen elliptischen Inte- 


21. Das magnetische Feld eines Kreisstroms. 435 


grale erster und zweiter Gattung F und E übergeführt. Man erhält: 


i “3 k 
(115) = -,-VHl- Z) Fr) — Eh), 
wobei der Modul k durch die Formel: 
1 4ao 
6 Fuarera 


zu definieren ist?®). 

Auf der Achse des Kreises (2-Achse) und in unendlicher Ent- 
fernung wird k=0, auf dem Drahte selbst ist k—= 1. Für Werte 
von k<<.1 ergibt (110°) die Entwicklung: 

gr J 
(115”) =; “e[ı+4 et +...) 
Aus A, folgen, gemäß (17), die Komponenten der magnetischen 
Feldstärke nach den Formeln: 
0 0 
OD, 589, =0, 9 - ErBuR: 
die Kraftlinien werden gebildet von den Linien A, — const. 

Beschreibt man das Feld statt durch das Vektorpotential A durch 
das skalare Potential », so erhält man für letzteres am bequemsten 
einen Ausdruck in Form einer Kugelfunktionenreihe®). Nach (99) 
gilt zunächst auf der Achse: 


v=-W- (lose), 


wobei « der Winkel ist, den die vom Aufpunkt nach einem Punkt 
des Stromes gezogene Gerade mit der Achse macht. Legt man nun 
durch den Stromkreis eine Kugel vom beliebigen Radius R und führt 
um ihren Mittelpunkt Kugelkoordinaten r, 0 ein (0 = const. sind 





83) G@. M. Minchin, Phil. Mag. (5) 35 (1893), p. 354. In der Hydrodynamik 
treten diese Formeln wohl zuerst auf bei der Beschreibung der Flüssigkeits- 
bewegung in Wirbelringen; vgl. W. Thomson, Trans. Roy. Soc. Edinburgh 25 (1) 
(1869), p. 217 und W. M. Hicks, Phil. Trans. 171 (1881), p. 628. 

84) J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, 2, p. 303; 
vgl. auch H. Weber, Dedekind Festschr., Braunschweig 1901, p. 89, sowie 
H. Diesselhorst, Diss. Berlin 1896. Durch elliptische Integrale dritter Gattung 
wurde der räumliche Winkel dargestellt von @. M. Minchin, Phil. Mag. (5) 35 
(1893), p. 354; das Verhalten des magnetischen Potentials ® in der Nähe des 
Drahtes, welcher jetzt nicht mehr als unendlich dünn angenommen wird, unter- 
sucht derselbe Autor: Phil. Mag. (5) 36 (1893), p. 201. Eine für die Rechnung 
bequemere Darstellung mittels Jacobischer 0-Funktionen, wobei der Gebrauch von 
Tafeln unnötig wird, gibt H. Nagaoka, Phil. Mag. (6) 6 (1903), p. 19. 

Das Potential eines rechteckigen Stromes wird behandelt von W. Kind, 
Diss. Göttingen 1878 und @. M. Minchin, Electrieian 903 (1895), p. 603 und 
906 (1895), p. 706. 


436 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Breitenkreise), so erhält das Potential % —= Yy, auf der Achse (9 — 0 
resp. O=r) die Form: 


J r— Rcos9, 
N Fri Bed, en on 


wobei 9, der Winkel ist, den die vom Mittelpunkte dieser Kugel nach 
einem Punkte des Stromes gezogene Linie mit der Achse bildet, so daß 


(118) sin— 


Statt (117) kann man auch, je nachdem r<R oder r>R ist, 
schreiben ®°): 


(119) = [a + c0s 0,) — sin? 0 + (z ) P/ (cos 0) 
resp. x 
(119) %— 5, sin? 9 > (#)""P; (080) 

n=1 


Mit Rücksicht darauf, daß % der Potentialgleichung genügt, folgt 
dann aus (119) und (119) ohne weiteres: 








(120) y= 2 [a + cos 0,) — sin? 6, Es (3) P (cos 0,) P, (cos )| 
n=1 


resp. 


(120) y=;, 7 sin? 0 Dirk -) "pP. (cos 0,) P„ (cos 0), 


wobei (120) innerhalb und (120°) außerhalb unsrer Kugel vom Radius R 
gilt. Die beiden magnetischen Feldkomponenten folgen nach (22) 
durch Anwendung der Formeln: 
6 10 
a eh ma BR 

Von Interesse für die Theorie der Tangentenboussole z. B. ist 
das Feld in der Nähe des Mittelpunktes des Kreisstromes. Man er- 
hält aus (120), indem man, wie das für die Umgebung dieses Punktes 
am einfachsten ist, noch den Radius unserer Kugel zu R= a annimmt: 


(121) 9, = Er ae - [Br (cos 0) — — (2) P, "(cos 6) 
+37 (& )” (cos 0) + 


.2n—1l 


ne ey" Pjnr1(080)+ |, 


85) Das Resultat folgt aus der bekannten Entwicklung der Quadratwurzel 
unter Benutzung der Relationen zwischen P,’ und P,. 


22. Das magnetische Feld einer Spule. 437 


oder auch ausgerechnet: 


121) 9-—-Z®fı-358@+502)+---)- 


Bei der Anwendung dieses Resultats auf die Tangentenbussole ist zu 
bedenken, daß 0 das Komplement des gewöhnlich benutzten, von der 
Ebene des Stromkreises aus gemessenen Winkels ist. 


22. Das magnetische Feld einer Spule. Befindet man sich 
nieht in unmittelbarer Nähe der Wicklung, so wird man für die 
Rechnung den Wicklungsraum als A 
gleichmäßig vom Strome erfüllt an- :|; 
sehen können. Wird der Draht vom 
Strome $ durchflossen und ist die 
Anzahl Windungen n, so wird der 
in Rechnung zu ziehende Strom pro h 
Flächeneinheit (vgl. Fig. 4) EN. a8 

nJ 
(122) = ae 
Verschließt man die Spule durch zwei 
Ebenen z=-+I! und z=—|, so 
gilt nach (99) für das skalare Poten- 


tial y=Yy, zn äußeren AP: 
z=+1 0 


Pen ins, fü füs feaofari,l)- afafenf in 


z=—I 
wobei r ee Abstand er iheknspaukien vom kuluih bedentet®®). 
Schreibt man 
(123) v,=- u —W, 


mit 
a0 mL füe foaof(* Jar and Ye ae fea fi) Jap 


so kann P, resp. %, gedeutet rel als das Potential je einer ge- 
eignet mit magnetischen Massen belegter Kreisscheiben; im Grenzfall 
A—a<<oa ist die Belegung gleichförmig. Im Innenraum gilt die 
Formel 

(125) y-y- Mn — n — I (A--a)s, 

da das Potential entstanden gedacht Rn kann durch Differenzwir- 
kung einer unendlich langen Spule mit zwei aufgesetzten bis ins Un- 


endliche reichenden Stücken, welche vom entgegengesetzt gerichteten 
Strome durchflossen werden. 








% 




















Fig. 4. 








86) Spulen mit Eisenkern werden behandelt von W. Rogowski, Diss. Danzig 1908. 


438 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Die Potentiale #, und %#, können nur auf der Mittellinie in end- 
licher Form angegeben werden. Dort gilt, so lange A—a<<a ist: 


16) 9-1 (Ya H@-D — Ve—)) 


und im allgemeinen Falle: 
12) = WB —- S [Ave Fe — aya® + (2—D*} 
— 2(A-a)Ve—D 
A+YV4+ =] 
a 1121 RER PR 
3 Mr A rn 
3, folgt aus #,° durch Vertauschung von ! mit —!; die Wurzeln 
sind in den beiden Ausdrücken stets positiv zu wählen. Für prak- 
tische Anwendungen interessiert hauptsächlich das Feld in der Um- 
gebung der Achse e= 0°"). Macht man den Ansatz 
(127) v—I0,(e)e, 
so folgt aus der Differentialgleichung für X, daß man die ©, sukzessive 
durch Differentiation findet nach der Formel: 
1 d? 
O4) = — (nf 2: dz: 0,2). 
Im vorliegenden Falle, wo (,(2) = ?'— # — %° und 
() —=(, erhält man demnach 
9 /g=0 


(128) ea it u ee]: TY 


Für die Anwendung sowie für die Substitution in (128) bequemer 
wie die Formeln (126) und (126’) sind Entwicklungen von %#, nach 
Potenzen von 2 — z,, wenn 2, denjenigen Punkt bedeutet, in dessen 
Umgebung man das Feld berechnen will. Die betreffende Entwick- 
lung lautet in der Nähe des Mittelpunktes (2, —= 0) für die dünne 
Spule (A—a<<a): 


a tet 


wenn d?’—= a? + I? gesetzt wird. 











87) Einen allgemeinen Ausdruck für das Potential einer gleichmäßig mit 
Masse belegten Scheibe und damit zugleich für das Potential einer unendlich 
dünnen Spule (A—a<“<{a) erhält man leicht (analog wie im vorigen Para- 
graphen für die Doppelschicht) in Form einer Kugelfunktionenreihe; vgl. 
J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, 2, p. 284 Art. 676, 
sowie W. Thomson and Tait, Natural Philosophy, Art. 546. In Form elliptischer 
Integrale wird das Potential der Kreisscheibe erhalten von @. M. Minchin, Phil. 
Mag. (5) 37 (1894), p. 204; eine Integraldarstellung mit Besselschen Funktionen 
findet sich bei H. Weber, J. f. Math. 75 (1872), p. 89. 





22. Das magnetische Feld einer Spule. 459 


Hieraus oder auch direkt aus (126’) folgt für den allgemeinen 
Fall die Entwicklung: 


; $,.ffA-—a A+D) 2 1 ! 
(129) m — >| 17108 = er S|DaFD) aaa 


5 (ame) rn. ] l 


wenn analog wie oben D?— A? -+ 1? gesetzt wird. Für die ver- 
schiedenen Grenzfälle (lange, resp. flache Spulen z. B.) kann man 
natürlich auch wieder noch die geschweiften Klammern durch ge- 
eignete Entwicklungen ersetzen®®). Ist z. B. die Spule nicht nur dünn 
im Vergleich mit ihrem Durchmesser, sondern dieser auch klein im 
Vergleich mit der Länge, so ergibt (129): 

1 nJa? 2? 
zarlitrt) 

so daß nach (125) und (128) mit Rücksicht auf (122): 


(130) u A et 4; u 








a — 


Der Betrag der Inhomogenität des Feldes wird durch den zweiten 
Term der eckigen Klammer zum Ausdruck gebracht. 
Innerhalb der Spule ist also in der Nähe der Mitte die in Rich- 
tung der Achse gerichtete Feldstärke in erster Näherung: 
1nJ 
9= ce 2’ 
außerhalb der Spule wird dieselbe: 


also im Verhältnis a?/2l? geringer. Die Kraftlinienverteilung im 
ganzen Raume wird veranschaulicht durch Fig. 5°). Dieselbe ist so 
eingerichtet, daß der Kraftfluß konstant ist zwischen zwei Rotations- 
flächen, welche durch Umdrehung aufeinander folgender Kraftlinien 
um die Spulenachse entstehen. Die Wicklung ist bei der Ausrechnung 
als unendlich dünn angenommen, während = 2a gesetzt ist. 

Die Homogenität wird verbessert, indem man an den Enden der 
Zylinderspule zwei Spulen in Form abgestumpfter Kegel aufsetzt”). 


88) Solche Entwicklungen, auch für z,=+0, finden sich bei J. C. Maxwell, 
Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, 2, p. 324ff. Art. 709 ff., sowie be- 
sonders ausführlich bei E. Mascart et J. Joubert, Legons sur l’electrieite et le 
magnetisme, Paris 1886, p. S1ff. 

89) Diese Figur wurde mir freundlichst zur Verfügung gestellt von Herrn 
Prof. R. Emden. 

90) L. Houllevigue, Journ. de phys. (3) 7 (1898), p. 466. 


440 V 17. P.Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Eine solche Konstruktion bildet die Annäherung an ein der Länge 
nach gleichmäßig bewickeltes Ellipsoid, das ebenso wie die gleichmäßig 
bewickelte Kugel im Innern ein absolut homogenes Feld erzeugt”). 

Ist die Spule flach, d. h. ist sowohl (A— a) wie lI<<a, so 
ergibt (125) für %° die Näherungsformel: 


(131) wo —,[(1- 2442) +.3(1-42) +], 


a 


wobei die Faktoren der einzelnen Glieder richtig sind bis auf Größen 


NZ 
Bi 
N 


: 
ER 















von der Ordnung /?/a? und zur Abkürzung A—a=b gesetzt wurde. 
Nach (125) und (128) wird wieder: 


am) u - 1%)" lt-39)+.] 


eine Formel, die bei der Berechnung des Kraftfeldes einer mit meh- 
reren Windungen versehenen Tangentenbussole Anwendung findet. 

Neben dem magnetischen Felde wäre es für manche Zwecke 
wichtig, auch das elektrische Feld von Spulen zu kennen. Dieses ist 
indessen als Randwertaufgabe (vgl. Nr. 3) ein schwierigeres Problem 
wie das oben behandelte und wurde wohl deshalb in der Literatur 
nur gestreift??). 








91) Vgl. hierzu J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, 
2, p. 279ff., Art. 670 ff. 
92) M. Brillowin, Ann. chim. phys. 26 (1902), p. 460, betrachtet den Fall 


23. Grundgleichungen und Potentiale. 441 


II. Quasistationäres Feld. 


A. Allgemeines. 


23. Grundgleichungen und Potentiale. Im folgenden sollen 
solche Vorgänge betrachtet werden, die zeitlich so langsam verlaufen, 
daß der Raum, welcher von dem ausgesandten elektromagnetischen 
Felde in einer Zeit überstrichen wird, während welcher sich der Zu- 
stand des Systems nicht merklich ändert, als unendlich groß zu be- 
trachten ist im Vergleich mit den Dimensionen des Systems, wenigstens 
soweit die Ausbreitung im freien Äther in Frage kommt. 

a) Ruhende Körper. Für ruhende Systeme kommt man dann oft 
zu einer befriedigenden Beschreibung, indem man den Verschiebungs- 
strom s& durchweg vernachlässigt und demgemäß die Grundgleichungen 
in der Form schreibt”): 


(W) d=-td-—rtE, 
1 
5 


(IT) I--(C+ &)=r0t9, 

wenn wir uns von vornherein auf isotrope Körper beschränken und 
B—= ußS setzen. Der einzige Unterschied gegen den stationären Fall 
besteht also darin, daß die elektrische Feldstärke jetzt nicht mehr 
wirbelfrei verteilt ist. Dementsprechend sind das elektrische und 
magnetische Feld nicht mehr wie im Teil I in Strenge jedes für sich 
zu bestimmen; man kann aber das ganze Feld aus einem Vektor ® ab- 
leiten‘). Mit Rücksicht auf (16) und (I) kann man nämlich zunächst 
unter Einführung eines skalaren Potentials p schreiben: 


1 
9-7, 16%, 


(132) R 
e=— 7 — gradp. 


Aus der nach (II) für B und p folgenden Gleichung fällt dann 9 


einer Zylinderspule, die längs einer Erzeugenden einen Potentialsprung (als 
Stromquelle) besitzt, es hat indessen das sich ergebende elektrische Feld nur 
sehr entfernte Ähnlichkeit mit dem einer gewöhnlichen Spule. P. Drude, Ann. 
d. Phys. 9 (1902), p. 324, berechnet die Kapazität einer Spule (für seine Theorie 
des Tesla-transformators), indem er dieselbe durch zwei auf entgegengesetzt 
gleiche Potentiale geladene Kreisringe in einem Abstande gleich der Länge der 
Spule ersetzt. 

93) Vgl. Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 6 und Nr. 9. 

94) Vgl. das über den ähnlich gebauten Hertizschen Vektor Gesagte in 
Elektromagnetische Wellen, Art. M. Abraham V 18, Nr. 5. 

Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2. 29 


442 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


heraus, wenn man die zulässige Annahme 


(133) divß = — 
macht, wodurch diese Gleichung die Form annimmt 
(134) grad div ® — rt t BR BR — — E76, 
oder 

Boch __ u6 
(134) AR-FR-— MG, 


während € und Ö$ nach (132) unter Berücksichtigung von (133) jetzt 
allein durch ® ausgedrückt sind. Hat man z. B. einen Körper, in 
dem zeitlich veränderliche, eingeprägte elektrische Kräfte wirken, und 
will man das zugehörige elektromagnetische Feld berechnen, so ist 
der Gang der Rechnung folgender: Zunächst bestimmt man die zwei 
zum Innern, resp. zum Äußeren des Körpers gehörigen Funktionen ® 
so als Lösungen von (134°), daß die Bedingungen im Unendlichen 
und die Grenzbedingungen an der Oberfläche erfüllt sind, wobei letz- 
tere besagen, daß die Tangentialkomponenten von $ und die Normal- 
komponenten von B —= u) stetig übergehen. Diese Feldstärken leiten 
sich nach der ersten Gleichung von (132) ab. Aus ®, das jetzt voll- 
ständig bestimmt ist, folgt dann im Innern des Körpers der Wert von 
& ohne weiteres mit Rücksicht auf (133) aus der zweiten Gleichung 
von (132) durch Differentiation. Für den den Körper umgebenden 
Nichtleiter (6=0) versagt indessen diese Berechnungsweise, weil dort 
Gleichung (133) ihre Bedeutung als Verbindungsglied von B® mit 9 
verliert. Die Aussage, daß außer den Ladungen auf der Oberfläche 
des Körpers keine anderen mehr im Nichtleiter vorhanden sind, 


dive—=0 
führt dann aber für das Potential p, mit Rücksicht auf (132) und 
(133) mit 6= 0 zu der Bestimmungsgleichung 


(134”) Ap—=-— -dvrß—0 


Da nach dem Obigen einerseits ® im ganzen Raum und andererseits 
E an der Oberflüche des Körpers bekannt ist, folgt aus (134”) das 
Potential p bis auf eine belanglose additive Konstante. Sind noch 
fremde Ladungen im Nichtleiter zerstreut, so braucht man dem eben 
erhaltenen p nur noch das elektrostatische Potential dieser Ladungen 
zu überlagern. 

Ist die Strömung schon bekannt, so verwendet man mit Vorteil 
das Vektorpotential A zur Beschreibung des magnetischen Feldes, wie 
es in Nr. 4 definiert wurde und dessen Wert man aus den bekannten 





23. Grundgleichungen und Potentiale. 443 


Strömen durch Integration nach (25) findet. Der Unterschied in der 
Definition von A und ® besteht darin, daß statt Gleichung (133) 
durchweg div A—=0 gilt. Im freien Äther sind also ® und X durch 
dieselbe Gleichung definiert. Auch das skalare magnetische Potential 
% (vgl. Nr. 4) ist außerhalb der Leiter ebenso wie im stationären Fall 
ohne weiteres zu verwenden. Ein skalares elektrisches Potential o, aus 
dem € ableitbar, existiert indessen nicht mehr. Statt dessen kann man 
mit Rücksicht auf die Gleichung div & — 0 dort, wo keine Ladungen 
vorhanden sind, E aus einem Vektor © ableiten nach der Gleichung: 
(135) E=r06, 

welcher z. B. gelegentlich von Maxwell (Current-Funktion) benutzt 
wurde®). Die frühere Bestimmung von © aus einem Potential wird 
näherungsweise richtig, wenn man die vom veränderlichen Magnetfeld 
im Äther erzeugten elektrischen Kräfte vernachlässigt. Nur im Inneren 
der Leiter werden dann bei dieser Annahme die Gleichungen gegen- 
über dem stationären Fall abgeändert. 

b) Bewegte Körper. Für bewegte Körper (Geschwindigkeit eines 
beliebigen Punktes gleich v) genügt es in den meisten praktischen 
Fällen, nur die linke Seite der Gleichung (I‘) zu vervollständigen durch 
das der „Induktion durch Bewegung“ entsprechende Glied E rot [Hp]. 
Die Grundgleichungen lauten dann): 


(1”) -9+ r0t[$0] = — rot €, 
(11”) (C+E)= ro. 


Streng genommen wäre auch die linke Seite von (II’) durch Glieder zu 
vervollständigen, die dem Verschiebungsstrom, dem Konvektionsstrom 
und dem „Röntgen“strom entsprechen; dieselben können aber öfters 
außer Betracht gelassen werden. Die verschiedenen Theorien für be- 
wegte Körper (von Hertz, Lorentz, Cohn, Minkowski usw.) sind bei 
Zulassung dieser Vernachlässigungen alle gleichlautend. Statt rot[Hv] 
in Gleichung (I”) kann man für starre Körper auch schreiben: 


(d grad) 9 + [9, $ rot v]. 


Diesen beiden Glieder entsprechen dann die von der Translations- 





95) J. C. Maxwell, Treatise on electr. a. magn., Oxford 1881, 2, p. 263, 
Art. 647 ff. 

96) Vgl. Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, Nr.6. Die dortigen 
Hauptgleichungen gehen mit den weiter unten angegebenen Vernachlässigungen 
in (I”) und (IF’”) über auf Grund der dortigen Relation (14) und der in Nr. 17 
angegebenen Stromzerlegung. 


29* 


444 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


bewegung, resp. Drehbewegung an der betreffenden Stelle erzeugten 
Wirbel der elektrischen Kraft. 

Die Grenzbedingungen an der Oberfläche bewegter Körper nehmen 
nach (I”) und (II”) eine andere Gestalt an, wie bisher. Nach (II”) 
gehen zwar noch immer die Tangentialkomponenten von Ö an der 
Trennungsfläche der Körper 1 und 2 stetig ineinander über, die Tan- 


gentialkomponenten €, von E indessen zeigen dort einen Sprung von 
der Größe 


(136) A — [®v],, — = [dos 


m. a. W. die elektrische Feldstärke hat an der Oberfläche bewegter 
Körper einen Flächenwirbel von der Größe: 


(137) n,&,— &]—[r[80] —  [n[®0]], 


wobei n die von 1 nach 2 positiv gerechnete Einheitsnormale be- 
deutet. Da die Normalkomponente von B die Trennungsfläche stetig 
durchsetzt, kann man den Flächenwirbel von & auch darstellen in 
der Form: 


3) U RE B)-n-ne 


Bewegt sich der Körper im freien Raum, so kann man den Flächen- 
wirbel für unmagnetische Körper noch einfacher ausdrücken durch 
die Formel: 


‚ BD, 
(137°) In, &, — &] 2 TEE 


wobei v die Geschwindigkeit der Oberfläche des betreffenden Körpers ist. 


Ebenso wie oben kann man auch hier einen Vektor ® einführen, 
definiert durch: 


(138) grad div B — rot rot BP — Sr (B — [brot BJ) = — GE, 
oder 
(138) AB — EB [pro PB) = — HE, 


aus dem Ö$ und © folgen nach den Gleichungen: 
(139) 


Für Nichtleiter versagt die letzte Gleichung von (139), weil auch hier 
wieder die zu grunde gelegte Zusammenhangsformel zwischen B und 
p als solche ihren Sinn verliert. Man kann aber immer noch wie 
oben & bestimmen aus 


(139) = — ii + E rot 4 — grad go. 


2 2 ee a ee 
PEm. 


24. Die Energiegleichung. 445 


Das Potential p erhält man dann im Außenraum für sich aus der 
Gleichung 


(139”%) Ap— — 1 div (B — [brot BJ) — — (rot B, rot d), 


deren Lösung an der Oberfläche der Körper den vorher besprochenen 
Grenzbedingungen anzupassen ist. 

Das über die verschiedenen anderen Potentiale oben für ruhende 
Körper Gesagte überträgt sich ohne weiteres. 

24. Die Energiegleichung. Aus (I”) und (IT') folgt die Energie- 
gleichung in der Form’): 


(140) W„+Q+Ä4drS—=IE, 


wobei W)— 55° die magnetische Energie, Q=o(C+ E,’—J(C+ E,) 
die Joulesche Wärme, S—=c[ES] den Poyntingschen Strahlungsvektor 
und IE, die von den eingeprägten elektrischen Kräften geleistete 
Arbeit, alles pro Volumeneinheit gerechnet, bedeutet. Infolge der Ver- 
nachlässigung des Verschiebungsstroms tritt die elektrische Energie 
„= ,& nicht in der Energiegleichung auf, die Grundgleichungen 
(T) und (IT) beschreiben also nur solche Zustände, bei denen dieselbe 
praktisch neben der magnetischen Energie zu vernachlässigen ist. 
Sind die stromführenden Systeme auf einen endlichen Bereich be- 
schränkt, so ergibt (133) durch eine Integration über den Raum: 


(141) SWat+9das— [IE,a8, 
da das über eine unendlich entfernte Fläche erstreckte Integral / Sa 6 


verschwindet, wie sich aus der expliziten Darstellung (25) des Vektor- 
potentials, spezialisiert für große Abstände von den Strömen, ohne 
weiteres ergibt. Soweit (I) und (II) ausreichen, findet also Energie- 
verlust durch Strahlung nicht statt. 

Für bewegte Körper erhält man aus (I”) und (II”) die Energie- 
gleichung, bezogen auf ein ruhendes Raumteilchen, in der Form: 


(142) W„+Q+ [38] + dv (S+S)- IE, 
wenn man noch neben dem gewöhnlichen Strahlungsvektor © den 


Vektor 
(143) = [Hp] 





97) Für die allgemeine Form der Energiegleichung sei verwiesen auf Max- 
wellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 22 und Nr. 23. Man vgl. auch 
@. Nordström, Die Energiegleichung für das elektromagnetische Feld bewegter 
Körper. Diss. Helsingfors 1908. 


446 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


einführt, welcher dem absoluten Betrag nach gleich |$]|B]| |v| sin (v, ®) 
ist und in der vd, B-Ebene senkrecht auf B steht. Das Auftreten 
dieses neuen Strahlungsvektors © neben $ wird sofort verständlich, 


wenn man bedenkt, daß — [®v] nach (T’) die durch die Bewegung 


erzeugte elektrische Kraft darstellt. Die Rechnung ergibt ursprünglich 
ein Glied von der Form (H rot [Bv]), wofür man dann auch schreiben 
kann ([Bv] rot H) — div [H[®v]], was mit Rücksicht auf (II”) die 


Energiegleichung in der Form (142) ergibt. Das Glied = [33] ist 


als Arbeitsleistung der .Biot- Savartschen Kraft [8 3] aufzufassen. 


Statt in der Form (142) kann man die Energiegleichung ersichtlich 
auch schreiben: 


(142) m +9+!IB) + Ur (S+S—-WW)—-IE, 


wenn Sn die Änderungsgeschwindigkeit der in dem betreffenden 


bewegten Element enthaltenen magnetischen Energie bedeutet. 
Führt man noch den Tensor der Maxwellschen Spannungen r* 
ein”), so kann man (142’) die einfache Form geben °”): 


(142”) mn + Q+dvS+ (dev) — IE, 


Im allgemeinen ist übrigens (142) resp. (142”) noch zu vervoll- 
ständigen durch die Arbeit der Kräfte nicht elektromagnetischen Ur- 
sprungs. 


B. Spezielles über Körper- und Flächenleiter. 


25. Körperliche Leiter. a) Ruhende Körper. Der wichtigste 
Fall, bei dem die durch ein veränderliches magnetisches Feld erzeugten 
Wechselströme zur Messung verwandt werden, ist der der Induktions- 
wage!®), Im Innern einer wechselstromdurchflossenen Spule befindet 
sich ein Kern aus irgend einem Metall, in dem die Wirbelströme 
entstehen; gemessen wird die dadurch hervorgerufene scheinbare Än- 
derung des Widerstandes und der Selbstinduktion (vgl. Nr. 27 u. £.) 
der umgebenden Spule. Will man aus diesen Messungen Rückschlüsse 


98) Vgl. Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 23. 

99) Für die Definition der Tensoroperationen def v und (r* def v) vgl. man 
R. Gans, Einführung in die Vektoranalysis, Leipzig 1969, p. 80. 

100) Dieselbe wurde zuerst angegeben von D. E. Hughes, Phil. Mag. (5) 8 
(1879), p. 50; eine orientierende Rechnung über ihr Verhalten gaben O..J. Lodge, 
Phil. Mag. (5) 9 (1830), p. 123 und Lord Rayleigh, Rep. Brit. Assoc. 1880, indem 
sie den Kern durch eine Drahtwindung ersetzt dachten. 


25. Körperliche Leiter. 447 


auf den absoluten Wert der Leitfähigkeit machen, so muß natürlich 
die Stromverteilung im Kern berechnet sein. Eine erste Näherung 
für nicht zu schnelle Wechsel erhält man, indem die vom magne- 
tischen Wechselfeld induzierte elektrische Kraft als eingeprägte behan- 
delt wird, während dem das Feld der so erzeugten Ströme als so klein 
angesehen wird, daß das zugehörige magnetische Feld nicht mehr der 
Grund für neue Induktionen sein kann. 

Ist z. B. in einer (unendlich) langen Spule, die in ihrem Innern 
das in der z-Richtung gerichtete homogene magnetische Wechselfeld 


(143) 9.— Her’ 
erzeugt, ein langer zylindrischer Kern vom Radius « und mit der 


Leitfähigkeit 6 angebracht, so werden in demselben Kreisströme Je’ 
erzeugt, die sich nach (I) bestimmen aus 


I Eh iv wo 
FERN 0 En 
70% 
} ivu6o 
(144) 3-— Her, 


wenn r der Abstand von der Mittellinie des Kernes ist. Die Werte 9 
und 3 aus (143) und (144) erfüllen indessen nicht die zweite Grund- 
gleichung (I); eine zweite Näherung erhält man, indem jetzt aus 
dieser Gleichung das zum Werte 3 aus (144) zugehörige magnetische 
Feld berechnet wird, welches dann wieder in Gleichung (T‘) als Ur- 
sache eines Induktionsstroms höherer Ordnung auftreten kann. Durch 
fortgesetzte Näherung ist es möglich, den genannten Ausdruck für 
die Induktionsströme zu gewinnen. Kann und will man sich auf eine 
erste Näherung beschränken, so ist es in allgemeineren Fällen vor- 
teilhaft, das induzierende Magnetfeld nach (17) aus einem Vektor- 
potential X, abzuleiten; man erhält dann aus (T’) 


(145) = —  — grad p, 
so daß man nach (II) das skalare Potential $ zu bestimmen hat aus 
(146) —dr&=A9+ div —0, 


wenn noch &,— 0 gesetzt wird. Die Größe ai spielt dieselbe Rolle, 


wie eine gewöhnliche eingeprägte elektrische Kraft (vgl. Gleichung (2))). 
Gleichung (146) ist dann weiter zu behandeln, wie im ersten Abschnitt 
angegeben. 

Manchmal ist es indessen weitaus vorzuziehen, das Problem auf 


448 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Grund von (T) und (I) sofort ins strenge zu stellen!"). Man kann 
dann im allgemeinen von den Gleichungen (134) oder (138) für ® aus- 
gehen. In dem schon oben betrachteten besonderen Fall kann man 
ebenso gut aus (I) und (II) gleich für die Größe H, definiert durch 
den Ansatz: 











(147) Ser, 

die Gleichung gewinnen: 

(148) AH — PH—0 
mit der Grenzbedingung 

(148°) H=-H M'r-o, 
Setzt man noch 

(149) MB — 7, 

so wird demnach Ei 
(150) H=JH, En , 


wo J, die gewöhnliche Besselsche Funktion nullter Ordnung bedeutet. 
Der Strom 3 folgt nach (II’) durch Differentiation von (150). Für 
kleine Werte von ka und damit auch von kr hat man statt (150) 


101) Der Fall einer Kreisscheibe, der der ursprünglichen Hughesschen An- 
ordnung entspricht, wird behandelt von H. Lamb, Proc. Roy. Soc. London 42 
(1887), p. 289, sowie von A. Oberbeck, Ann. d. Phys. 31 (1887), p. 812; für die zur 
Anwendung kommende spezielle Methode vgl. Nr. 26 dieses Artikels. Der hier 
näher ins Auge gefaßte Fall eines zylindrischen Kernes wird behandelt von 
4A. Oberbeck, Ann. d. Phys. 21 (1884), p. 672, und von H. Lamb, Proc. London 
math. soc. (1884), p. 139, sowie von W. v. Ignatowski, Journ. d. russ. phys. chem. 
Ges. 34 (1902), p.49. Experimentelle Untersuchungen wurden mit der Induktions- 
wage u. a. ausgeführt von A. Oberbeck u. J. Bergmann, Ann. d. Phys. 31 (1887), 
p. 792; J. Bergmann, Ann. d. Phys. 42 (1891), p. 90; M. Wien, Ann. d. Phys. 49 
(1893), p. 306, der eine allgemeine Methode zur Messung der Leitfähigkeit im 
obigen Sinne ausarbeitet. Zur Bestimmung der Leitfähigkeit von Na. wurde 
die Wiensche Methode benutzt von E. Lohr, Wien Ber. 113 (1904), p. 911. Eine 
genauere Untersuchung des Einflusses der endlichen Länge der Kerne, sowie eine 
vollständige Theorie der Induktionswage für Kerne mit kreisförmigem, resp. recht- 
eckigem Querschnitt gibt J. W. Grover, Diss. München 1908. Für die Technik ist 
der Fall eines Kernes aus Blech von Wichtigkeit, vgl. J. J. Thomson, Elektrician 
28 (1892), p. 599 und P. Debye, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 54 (1906), p. 418, der 
u. a. experimentell untersucht wird von A. Kühns, Elektrot. Zeitschr. 27 (1906), 
p. 901. Der Fall einer Kugel in einem magnetischen Wechselfeld wird behandelt 
von A. Oberbeck, Ann. d. Phys. 31 (1887), p. 812; H. Lamb, Proc. London math. 
soc. (1884), p. 139; C. Niven, Philos. Trans. 172 (1882), p. 307 und von (©. 8. White- 
head, Phil. Mag. 48 (1899), p.165. Einige Folgerungen der Hertzschen Theorie (vgl. 
Anm. 83) für eine Kugel im Drehfeld werden experimentell geprüft von O0. M. 
Corbino, Phys. Zeitschr. 6 (1905), p. 227 und Nuovo Cim. (5) 9 (1905), p. 204. 


25. Körperlicae Leiter. 449 


in erster Näherung: 


(150) H=B(1— 15 (@— N). 


Das Zusatzglied entspricht dem magnetischen Felde des durch (144) 
dargestellten spezifischen Stromes. Für große Werte von ka und kr 
kann (150) ersetzt werden durch den Näherungswert 

ae nor a—r) —i nar ar 
(150”) H=HyY“e Vare 3 Vize 


’ 





der entsprechend dem nach dem Innern des Kernes hin sehr stark 
abfallenden Exponentialfaktor den „Skin“effekt zum Ausdruck bringt. 
Die Wirkung der Wirbelströme im Kern verkleinert im Innern der 
Spule das ursprüngliche Magnetfeld; neben einer scheinbaren Ver- 
größerung des Widerstandes erzeugt derselbe also im Anschluß an 
die energetische Definition (Nr. 29) des Selbstinduktionskoeffizienten 
noch eine Verringerung des Selbstinduktionskoeffizienten der um- 
gebenden Spule. 

b) Bewegte Körper. Sind die Geschwindigkeiten der Bewegung 
klein, so genügt in manchen Fällen eine Näherung, welche der in 
dieser Nummer zuerst behandelten ganz analog ist. Sei nämlich W, 
wieder das Vektorpotential des ursprünglich vorhandenen magnetischen 
Feldes, dann ergibt sich & nach (I”) näherungsweise aus: 


(151) [= — en + z [v, rot WU,] — grad p, 


wenn wir noch mit Rücksicht darauf, daß keine Ladungen im Raum 
vorhanden sind, p bestimmen aus: 


(182) —dvre=-Ap+ div U, — rot W) = 0. 


Das Potential g genügt also derselben Gleichung wie im stationären 
Fall, wenn wir die Größe: 
U v 


als eingeprägte elektrische Kraft auffassen. Bei dieser Näherung ist, 
wie leicht ersichtlich, die Rückwirkung der „induzierten Ströme erster 
Ordnung“ auf das Feld unberücksichtigt geblieben. Durch sukzessive 
Übereinanderlagerung der Wirkungen der Felder erster, zweiter usw. 
Ordnung kann man das Induktionsproblem wieder in Strenge lösen. 
Wenn ausführbar, so ist die direkte Integration indessen vorzuziehen; 
wie diese zu erfolgen hat, möge an dem folgenden einfachen Beispiel 
erläutert werden !?). 


102) Die zuerst von Arago, Ann. de chim. et phys. 27 (1824), p. 363 und 28 


450 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Ein um seine Achse mit der Winkelgeschwindigkeit & rotierender 
Zylinder von der Leitfähigkeit 6 und der Permeabilität u=1 (Ra- 
dius— a) befindet sich in einem homogenen Magnetfeld der Stärke H,, 
dessen Kraftlinien senkrecht zur Zylinderachse verlaufen. Fällt die 
Zylinderachse mit der z-Achse des Koordinatensystems und die Rich- 
tung der Feldstärke H, mit der «-Achse zusammen, so kann das ur- 
sprüngliche Feld nach (139) abgeleitet werden aus einem Vektor 
PB = BP. = u,, dessen einzig vorhandene 2-Komponente den Wert hat: 


(152) % = H,y= H,e sin 9 = S[H,oe'?], 
wobei noch in der & — y-Ebene Polarkoordinaten 0, g eingeführt 
wurden. Auch der Vektor ® des induzierten Zusatzfeldes hat nur 


2-Komponenten, die im Innern des Zylinders u; und im Außenraum u, 
heißen mögen. Dann gilt nach (138) mir 0,— 0, d,—= go, d,— 0: 


(153) 10 _6%u u 10u  cooum _ 0 


ed de Frag rn 
und im Außenraum 0, =, =b, =): 
t 10 u |, 10% _ 
(153°) Fa 7 Be at: 


Rechnet man mit komplexen Größen, von denen man später den 
imaginären Teil nimmt, so folgt aus (153) und (153’)19): 





(1825), p. 325 beschriebenen Einwirkungen rotierender Leiter auf beweglich auf- 
gehängte Magnetnadeln, welche dann von M. Faraday, Exp. Res. Ser. 1, $81 u. f. 
(1831) auf die vorhandenen induzierten Ströme zurückgeführt wurden, sind in 
der angegebenen Art zuerst näherungsweise berechnet von ‚Jochmann, Crelles 
Journ. 63 (1863), p. 1; Ann. Phys. Chem. 122 (1864), p. 214. Die Wirkung einer 
leitenden Kugel auf die Schwingungen eines Magneten wird untersucht von 
Riecke, Gött. Abhadl. 21 (1876), p.1. Die strenge Berechnung der in Kugeln durch 
bewegte Magnete erzeugten Ströme rührt her von H. Hertz, Diss. Berlin 1880 
oder Ges. Werke Bd. I, p. 37. Die Induktionsströme erster Ordnung in Ellipsoide 
werden berechnet von R. Gans, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 48 (1902), p. 1; eine 
allgemeine Untersuchung über die bei diesen Problemen auftretenden harmoni- 
schen Funktionen wird angedeutet von A. Tauber, Ber. d. Deutsch. Math.-Ver. 
7 (1899), p.14. Der für die Technik wichtige Fall der Wirbelstrombremsen wird 
behandelt von R. Rüdenberg, Samml. elektrot. Vortr. Nr. 8, Bd. X, Stuttgart 1906. 
Zu diesen Erscheinungen gehören auch die der sogenannten Unipolar-Induktion 
Genaueres in Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, Nr. 18. Kritisches 
über die oft aufgeworfene Frage nach dem Mitrotieren der Kraftlinien findet 
sich bei H. Poincare, Eelair. electr. 23 (1900), p. 41. Eine historische Dar- 
stellung der ausgedehnten Literatur findet sich bei $. Valentiner, Die elektro- 
magn. Rotationen und die Unipolarinduktion. Karlsruhe 1904. 

103) J,(ka) bedeutet die Besselsche Funktion erster Ordnung mit dem Ar- 
gument ka. 


25. Körperliche Leiter. 451 








1 
# U; = 2H,a7 ka) ka J, (ka) J,(ko)e®, PR BET 
(154) A 
N Peer ku else. .. er, 


I (ka) + kadı'(ka) g 
wobei die ursprünglich verfügbaren konstanten Faktoren dadurch be- 
stimmt werden, daß an der Oberfläche des Zylinders (og = a) sowohl 
die Tangential- wie die Normalkomponenten von 9 stetig übergehen, 
letzteres, weil u für den ganzen Raum denselben Wert hat. Bei Be- 
nutzung der Differentiationsvorschrift (139) ist jetzt $ im ganzen 
Raum, € indessen nur im Innern des Zylinders aus (154) zu be- 
stimmen. Im Außenraum müssen wir (vgl. das Ende von Nr. 23) 
zunächst ein Potential 9 bestimmen, so beschaffen, daß die aus p ab- 
geleitete tangentiale elektrische Feldstärke gegen die innere entspre- 
chende einen Sprung zeigt von der Größe 


—[HV]. 
Dieses ist hier, wie man sich sofort überzeugt, der Fall, wenn die 
äußere tangentiale elektrische Feldstärke verschwindet. Demnach wird 
überall im Außenraum 9 = (), ein äußeres elektrisches Feld ist nicht 
vorhanden. Man versteht dieses Resultat wohl am besten, wenn man 
sich die Entstehung der Ströme überlegt, während dem der Zylinder 
in Rotation versetzt wird. Man sieht dann, daß keine normal zur 
Oberfläche gerichtete Strömung vorhanden ist, also auch keine La- 
dungen erzeugt werden können. Die Sachlage würde indessen sofort 
eine andere, wenn wir dem Zylinder eine endliche Länge erteilen 
würden. Die Formeln (154) vereinfachen sich im Grenzfall ka <<1 zu 


u, — Heer (1— i55(g? — 20°) 


(154) 
a Fr Han e®, 
woraus z. B. nach (139) in erster Näherung: 
oa ou T@ ; 
errang ee Fer 





(154”) = S s-yV% 
v2 R sc 
we Batlı- 2 ') 
und demnach 
rt “ 
ee yE nel inen) 
EIER E 


452 V17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Bei kleinen Geschwindigkeiten ist also der ganze Zylinder von Strö- 
men erfüllt, die gegen das erzeugende magnetische Feld eine Phasen- 
verschiebung von x haben. Bei großen Geschwindigkeiten bildet sich 
wieder ein „Skin“-Effekt aus, die Ströme sind auf eine Schicht in 
der Nähe der Oberfläche beschränkt und haben in der Grenze in un- 
mittelbarer Nähe der Oberfläche eine Phasenverschiebung von 3/4 
gegen das erzeugende Feld. 


26. Flächenleiter. Für Flächenleiter, deren Dicke so klein ist, 
daß bei dem in Betracht kommenden Tempo der Änderungen des magne- 
tischen Feldes der Strom noch als in der Dickenrichtung gleichförmig 
über den Querschnitt verteilt angenommen werden kann, wird es 
möglich, die Bestimmung der Induktionswirkungen in sehr einfacher 
Weise auszuführen !"%). Berechnet man Ö aus einem Vektorpotential X, 
so gilt (vgl. Nr. 3) im Raume außerhalb der Stromschicht: 


(18) AU—=O. 
Beschränken wir uns nun auf eine ebene Schicht in der x, y-Ebene 
von der Dicke d, so sind auf beiden Seiten z=-+ a die magne- 


tischen Feldstärken parallel zur Schicht, soweit sie vom Strome 
herrühren, einander gleich. Nennt man dieselben in unmittelbarer 
Nachbarschaft der Schicht H, und H,, so gibt Gleichung (II) die 
Beziehung: 
1 1 

(155) Hg Brida 

wenn .J der Strom in der Schicht bedeutet. In diese Grenzbedingungen 
wollen wir nun statt 7 und J die Komponenten A, und A, des 


Vektorpotentials X für z = E einführen. Es hat einerseits das vom 


Strome herrührende Vektorpotential A keine z-Komponente, so daß 
man erhält 


(156) ee 
Andererseits folgt allgemein aus (T): 
(157) 3 — AH U) — grad 9, 


wenn noch Ä, das Vektorpotential des äußeren erregenden magne- 
tischen Feldes bedeutet. Sieht man von einer von eingeprägten Kräften 
gewöhnlicher Art herrührenden Strömung ab, so kann = 0 gesetzt 


104) Die Methode rührt her von J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. 
Oxford 1881, Bd. 2, p. 263, Art. 647f., sowie Proc. Roy. Soc. 20, p. 160. 


26. Flächenleiter. 453 


werden, dann wird nach (157): 
d.: . 
(158) —— Z(Ä+Ä,). 


Die Kombination von (156) und (158) mit (155) liefert also die an 
der Schicht (z = 0) zu erfüllende Bedingung: 
. 0A 00 dA 08 9A, 

GERB) Eric TI Ye Tr a 
Die Gleichung (18), die ja von vornherein im ganzen Raum erfüllt 
sein muß, zusammen mit der Randbedingung (159) definiert das 
Problem vollständig. 

Sind z. B. in der Schicht Ströme erzeugt, deren Vektorpotential 
zur Zeit = 0 gegeben ist durch 


(160) 4,= fe, Y, 2), 4, =hl, Y, 2), 

so ist, da (18) die Zeit nicht enthält, auch 

(160°) A,= hl, y,2-+-ut), A, = hla,y,2+ ut) 

eine Lösung. Denken wir uns nun die Ursache der Induktion zur 
Zeit = 0 plötzlich verschwunden, so werden die Gleichungen (160) 
das Magnetfeld für alle folgenden Zeiten richtig darstellen, wenn wir 
noch, damit die Grenzbedingung (160) mit A,=0 erfüllt ist, die 
Geschwindigkeit u bestimmen zu 

(161) nn: 


BT) 


Ist die Leitfähigkeit unendlich groß, so wird u=0, so daß das 
Feld (160°) und damit die Ströme in der Platte für alle Zeiten er- 
halten bleiben. Denken wir uns andererseits auf der positiven Seite 
der Schicht zur Zeit 2=0 plötzlich ein System erzeugt, dem das 
Vektorpotential WA, zukommt, so folgt aus (150) für den Oberflächen- 
wert A des von den Strömen herrührenden Vektorpotentials A 


AA Mir 10. 


Man kann nun den Wert A= — A, gemäß (18) in den oberen 
Raum (2> 0) fortsetzen, indem man für {= 0 das Vektorpotential 
— A(z,y,2) berechnet als zugehörig zu einem dem erregenden System 
ganz gleichen, das in bezug auf die Ebene 2 = 0 spiegelbildlich zum 
erregenden Systeme liegt. Im unteren Raum 2<0 ist die Wirkung 
zur Zeit =(0 Null; das Vektorpotential der Strömung entspricht 
also für z<O und {=( einem mit dem erregenden zusammen- 
fallenden System, bei dem alle Ströme im Vergleich mit dem ur- 
sprünglichen die umgekehrte Richtung erhielten. Bleibt das erregende 
Feld weiterhin konstant, so wird der zeitliche Verlauf der Vorgänge 


454 Vı?7. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


(für £> 0) ohne weiteres durch (160°) bestimmt, so daß z. B. für 2>0 
das Vektorpotential der Ströme in der Schicht dem sich mit der Ge- 
schwindigkeit « nach z= — 00 bewegenden Spiegelbild des ursprüng- 
lichen Systems entspricht. 

Durch geeignete Übereinanderlagerung solcher den unendlich 
kleinen Änderungen des erregenden Systems entsprechenden bewegten 
Bilder erhält man ohne weiteres auch die Lösung für die Wirkung 
der von irgend einem beliebig veränderlichen System erzeugten Ströme 
in sehr anschaulicher Form. 

Zur Lösung kann man ganz ähnlich wie oben auch von dem 
skalaren magnetischen Potential ausgehen. Unter Benutzung der in 
diesem Falle geltenden Formeln fand z. B. Maxwell'”), daß die Kraft- 
wirkung, welche von einer leitenden Ebene auf einen parallel mit 
derselben im Abstande z=h gleichförmig mit der Geschwindigkeit v 
in der x-Richtung bewegten magnetischen Pol von der Stärke 1 aus- 
geübt wird, sich zusammensetzt aus einer verzögernden Kraft 

lg 1 vu 
42 (u+ Var + oi)yur+ov® 


und einer abstoßenden Kraft 








1 v 
ah (u+Yur+os)Yur+o%? 
wobei die Geschwindigkeit « durch (161) definiert wird. 

In analoger Weise gelang es von den von Arago entdeckten 
Kräften einer rotierenden Kreisscheibe auf einen Magnetpol Rechen- 
schaft zu geben '''®). 


7 








C. Lineare Leiter. 


27. Die gewöhnlichen Differentialgleichungen für Stromkreise 
ohne Kapazität. Definition der Induktionskoeffizienten. Für lineare 


105) J.C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. Oxford 1881, Bd. 2, p. 273, 
Art. 664 f. 

106) J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. Oxford 1881, Bd. 2, p. 275, 
Art. 668f. Der Fall der Induktion in einer unendlich großen rotierenden Ebene wird 
behandelt von A. B. Basset, Phil. Mag. (5) 22 (1886), p.140. Die Berechnung der 
Induktion in ellipsoidischen Flächen findet sich bei H. Lamb, Proc. Roy. Soc. 
London 42 (1887), p. 196. Eine ausgedehnte Behandlung der Induktion in ebenen, 
zylindrischen und sphärischen Flächen rührt her von @. H. Bryan, Phil. Mag. 38 
(1894), p. 198 und 45 (1898), p. 381. Vgl. auch J. Larmor, Proc. Math. Soc. London 
(2) 8 (1909), p.1. Die Wirkung endlicher Stromschichten behandelt J. H. Jeans, 
Proc. Math. Soc. London 31 (1899) p. 151. Eine genaue Behandlung, ohne Ver- 
nachlässigung der Verschiebungsströme, der in einer Platte von einem parallelen 
wechselstromdurchflossenen Drahte induzierten Ströme gibt 7. Levi-Oivita, Rend. 
R. Ace. dei Lincei (5) 11 (1902), p. 163, 191 u. 228; Nuovo Cim. (5) 3 (1902), p.442. 


27. Die gewöhnlichen Differentialgl. f. Stromkreise ohne Kapazität. 455 


Leiter lassen sich die allgemeinen Beziehungen (I) und (IT) ähnlich 
spezialisieren, wie das in Nr. 17 für die Ableitung der Küörchhoffschen 
Relationen geschah. 

Nach (I) ist 
(162) div3=0, 


so daß genau wie in Nr. 17 für jeden Knotenpunkt gilt: 
(162') SI, =0, 


wobei unter J, der Gesamtstrom im p" Drahte verstanden wird. So 
lange wir (II’) zugrunde legen und keine Verschiebungsströme be- 
rücksichtigen, ist also in einem Einzeldrahte die Stromstärke für alle 
Querschnitte dieselbe. 

Gleichung (T)) ergibt für jeden geschlossenen Umgang mit dem 
Längenelement ds 


v4 T. ä 
(163) fo -14[8.0--, 


wenn do resp. n Flächenelement resp. Normale der eingeschlossenen 
Fläche bedeuten und zur Abkürzung der durch diese Fläche pulsierende 
Kraftfluß 


(164) [Bd — 2 


gesetzt wird. Mit Rücksicht auf die Definitionsgleichung (III) kann 
statt (163) auch geschrieben werden: 


(163) ra f&.a- 2 
C 


Nach (163”) ist eine gleichmäßige Verteilung des Stromes über die 
Drahtquerschnitte außer bei ganz spezieller Verteilung der eingeprägten 
elektromotorischen Kräfte im allgemeinen ausgeschlossen. Für nicht 
zu schnell veränderliche Zustände wird es indessen in erster Näherung 
gestattet sein, mit einer gleichmäßigen Stromverteilung zu rechnen, 
bei der zugleich die Ströme 3 der einzelnen Stromfäden noch keine 
Phasenverschiebung gegeneinander zeigen. Dazu ist vor allen Dingen 
nötig, daß es gestattet sei unter Z einen Mittelwert für die verschie- 
denen Stromfäden zu verstehen. Dann geht unter Berücksichtigung 
der Definitionen (91) und (92) für den Widerstand w und die elektro- 
motorische Kraft E Gleichung (163”) über in 


’ Z 
(163”) DR DE,— 5: 

It 8B=u9 und u von $ unabhängig, so ist B und damit auch 
Z eine lineare Funktion aller Ströme. Die Kombination von (163”) 


456 Vı7. P.Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


und (162) liefert also eine genügende Anzahl (Differential-) Gleichungen 
zur Bestimmung der Ströme in einem Netz!”). Sind die Stromkreise 
1...p...n getrennt und setzt man nach dem eben Gesagten: 


ne rc 
dB ELTERN DZ, ae rind 
= else erde 

ÜrG ni np NN In 
so nennt man Lu, ..., Zyp +, Zu„n den Selbstinduktionskoeffizient 
des ersten usw. Stromkreises, während allgemein Z,, der gegenseitige 
Induktionskoeffizient des u® und »*® Stromkreises ist. Unter dem 
Kraftfluß Z ist hier natürlich der im obigen Sinne genommene Mittel- 
wert verstanden. 

Eine vollständige Bestimmung des magnetischen Feldes, wie oben 
vorgesehen, wird unnötig, wenn im ganzen Raume die Permeabilität u 
konstant, z. B. gleich 1 ist. Bedeutet nämlich dq resp. q Querschnitts- 
element resp. Querschnitt eines der Drähte, so ist in diesem Falle 
der Teil X, des Vektorpotentials A, der vom »*”® Stromkreise her- 
rührt, nach (25) gegeben durch: 


(166) 4ncH, 7, [a Bi j 
q,r 


oder bei konstantem Querschnitt 


(166) 4ncN, = " (ag, 


wenn noch d&®, das (gerichtete) Längenelement eines Stromfadens 
und r den Abstand des Integrationspunktes vom Aufpunkt bedeutet. 
Der aus (164) folgende Ausdruck für den Kraftfluß Z,,, den der eben 
betrachtete »* Stromkreis durch den u‘ hindurchschickt, ist, wie 
oben hervorgehoben, nicht unabhängig von der Wahl der Leitlinie 
dieses Stromes. Für eine erste Näherung wird es gestattet sein, mit 
dem oben schon gebrauchten Mittelwerte des betreffenden Kraftflusses, 


genommen über alle möglichen Stromlinien, zu rechnen, dann erhält 





107) Um Z ohne Mühe in den später als Unbekannte auftretenden Strömen 
ausdrücken zu können, ist es vorteilhaft nicht die Gesamtströme als solche zu 
benutzen, sondern das Netz, mit Rücksicht auf (162), zunächst aufzulösen in ge- 
schlossene Kreisströme, welche auf ihrer ganzen Länge von nur einem Strome 
durchflossen werden. Vgl. H. Helmholtz, Ann. Phys. Chem. 83 (1851) p. 505 oder 
Wiss. Abh. Bd. I, p. 429, Leipzig 1882. 


27. Die gewöhnlichen Differentialgl. f. Stromkreise ohne Kapazität. 457 


man, indem noch mit Rücksicht auf (17) das Oberflächenintegral in 
ein Linienintegral umgewandelt wird: 


2 ef; J, ? (43, d3,) 
(167) 4xcZ,,= fan, f®, d3,) — Sau. dgq, . 


Hiernach ist also mit Rücksicht auf (156) der gegenseitige In- 
duktionskoeffizient zu berechnen nach der Formel: 


ds d3 
as) Are, Sau fa, 
B 444, 


während sich für den Selbstinduktionskoeffizient ergibt!%®): 


A (d3, et 
(169) 4a®L.= ches nz 
$ Gue 


wobei die Integration zweimal über den betreffenden Draht zu er- 
strecken ist. Unter der Voraussetzung, daß die Drahtquerschnitte 
klein gegen die Entfernungen der Drähte sind, läßt sich (168) ver- 
einfachen zu 


d3,d 
(168) izeL, JS ar 


Nach (168) oder (168°) folgt noch die Beziehung: 
(170) L,;,=L 


uv vu’ 

Die zuletzt erhaltene Beziehung (170) ist nicht auf den voraus- 
gesetzten Fall konstanter räumlicher Permeabilität beschränkt, sie gilt 
allgemein, auch wenn ferromagnetische Körper sich im Felde befinden, 
so lange nur u als von der Feldstärke unabhängig angesehen werden 
kann. Zerlegt man nämlich die Feldstärke 9 sowie das Vektorpoten- 
tial A, entsprechend dem Vorhandensein von » Strömen J, bis J,, in 
n Teilfelder 9, bis 9, resp. n Teilpotentiale A, bis A, so ist der in 
(165) auftretende über den u” Stromkreis gemittelte Kraftfluß Z, 
zusammengesetzt aus n Bestandteilen, so daß z. B. 


Zu Sehr Zu: 

Allgemein bedeutet dabei also Z,, den Kraftfluß, den der »* Strom- 
kreis für sich allein genommen durch den u‘® hindurchschickt, ge- 
mittelt für alle Stromfäden des letzteren. Nun ist also zunächst 
der Definition nach: 


Ju Zur 3 u faqu [8..as, — (ia f Bar döu, 


108) Die hier benutzte Definition des Selbst- und gegenseitigen Induktions- 
koeffizienten unterscheidet sich von der üblichen durch den Faktor T x so daß 


0: 
hier 4”°c? L dem Zahlenwert nach mit der sonst gebräuchlichen Definition über- 
einstimmt. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 30 











458 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


wobei ®,, die auf der vom Strome umrandeten Fläche mit dem Ele- 
ment do, senkrecht stehende Komponente des Teilfeldes ®, bedeutet. 
Weiterhin ist nach (18): 


[3.aa. F 8.,d0. — [3.4 [U.ds = fa.a.as, 


wobei letztere Integration über den ganzen unendlichen Raum er- 
streckt werden kann, oder auch mit Rücksicht auf (IM): 


En f (U, rot 8.)8. 
Schließlich können wir dann unter Benutzung der Beziehung: 
div [AH] = H rot A— Arot 9, 


und unter Berücksichtigung von (18) auch schreiben: 


am) I 7,,— [Su rot 428 = | (8.8,)48. 
Ebenso folgt natürlich: 


177) "zu [6:8 48, 


so daß, so lange die Permeabilität von der Feldstärke unabhängig ist: 
(172) SE age Zum 


c 
was mit Rücksicht auf die Definition (165) der Induktionskoeffizienten 
gleichbedeutend mit (170) ist. 
Die alle unter sich gleichen Größen: 


F u. 
= Zur RER ea ru 
en f.8, 15 - [6.8 a8 


resp. 
du dr = ud du 
bedeuten die wechselseitige Energie der Stromkreise u und v (vgl. 
Nr. 29). Diese Größe trat historisch zuerst auf als F. Neumannsches 
Potential, aus dem zugleich auch die Kraftwirkung zweier Ströme 
aufeinander ohne weiteres berechnet werden kann (vgl. Nr. 35). Die 
obigen Überlegungen sind, wie schon hervorgehoben, nur so lange 
ausreichend als die Stromverteilung noch nicht merklich von der sta- 
tionären abweicht. So lange diese Bedingung erfüllt ist, kann man 
demnach durch Bildung des oben definierten Begriffes des Induktions- 
koeffizienten die Integration der ursprünglichen Maxwellschen Glei- 
chungen von vornherein ersetzen durch die viel einfachere Behand- 
lung einer endlichen Zahl totaler Differentialgleichungen. Sobald in- 


28. Die Differentialgleichungen für Stromkreise mit Kapazität. 459 


dessen die zeitliche Änderungsgeschwindigkeit so groß wird, daß bei 
periodischen Vorgängen z. B. die Wellenlänge im Innern der Leiter 
von der Größenordnung der Querschnittsdimensionen derselben wird, 
so ist eine Integration der Grundgleichungen nicht mehr zu umgehen. 
Hat man diese (vielleicht auch nur annähernd) ausgeführt und so die 
Stromverteilung über die Drahtquerschnitte bestimmt, dann kann man 
freilich wieder unter Benutzung dieses Resultats Widerstände und 
Induktionskoeffizienten definieren, mit deren Hilfe die Aufgabe dann 
nachträglich auf totale Differentialgleichungen zurückgeführt werden 
kann. Die Definition dieser Begriffe erfolgt dann wohl am besten 
energetisch in der in Nr. 29 angegebenen Art. 

Sind die Stromkreise in Bewegung begriffen, so hat man nach 
(II”) auf der rechten Seite von (163) noch die Größe 


ach f rot, [80] de 


zu addieren. Nach einem bekannten Satze!) ist dann die ganze rechte 
Seite gleich der totalen Änderungsgeschwindigkeit = des Kraftflusses. 


Mit Rücksicht darauf, daß die Induktionskoeffizienten noch Parameter 
enthalten, welche die gegenseitige Lage der Stromkreise bestimmen 
und weil zugleich für die Berechnung des magnetischen Feldes nur 
die augenblickliche Lage der Ströme maßgebend ist, sind auch jetzt 
nach (165) die Erscheinungen mittels dieser Koeffizienten darstellbar. 


28. Die Differentialgleichungen für Stromkreise mit Kapazität. 
Sind in einem Stromkreis größere Kondensatoren enthalten, so verliert 
die ausnahmslose Vernachlässigung der Verschiebungsströme ihre Be- 
rechtigung, dieselben müssen dann wenigstens im Innern der Konden- 
satoren als Fortsetzung des Leitungsstromes in Betracht gezogen 
werden. Setzt man für den spezifischen Verschiebungsstrom 


(173) B— eG, 
so erhält man nach (I’) zunächst statt (162) 
(174) div (SB) —=0. 


Gleichung (163) dagegen bleibt unverändert. Betrachtet man z. B. 
den Fall eines einzelnen Stromkreises mit eingeschalteter Kapazität, 
so besteht das Linienintegral in (163) aus einem Teil (1), der dem 
Leitungsstrom entlang geht, wo = 0 angenommen werden kann, 
und einem Teil (2), der dem Verschiebungsstrom im Innern des Kon- 


109) Vgl. Maxwells elektromagnetische Theorie, Art. H. A. Lorentz V 13, 
Nr. 4, Gleichung (14). 
30* 


460 Vı17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


densators entlang geführt wird, wo 3 = 0 ist. Differenziert man nun 
(163) nach ?, so kann für den Teil (1) des betreffenden Integrals 
geschrieben werden: 


Sa [8.0 wi E, 


A) (1) 
während sich für den zweiten Teil unter Berücksichtigung von (173) 


ergibt: 
3 J 
F 5 ds = u -J = K' 
(2) (2) 


wobei g den für den Verschiebungsstrom im Innern des Kondensators 

verfügbaren Querschnitt und Z den Abstand der Kondensatorplatten 

bedeutet. Die Größe K ist demnach die Kapazität des Kondensators. 
Mit Rücksicht auf (174) und (165) lautet also jetzt die Differential- 

gleichung für den Strom in einem Kreis mit Selbstinduktion und 

Kapazität 

(175) Li+ws+j—E. 


Sind mehrere Kreise oder ein Stromnetz vorhanden, so liefert wieder 
(163) und (174) in der oben angegebenen Art die genügende Anzahl 
Gleichungen zur Bestimmung der Ströme). Streng genommen geht 
indessen von jeder Stelle der Drähte ein Verschiebungsstrom in das 
Diölektrikum, so daß nach (174) der Strom J längs der Drähte nicht 
konstant sein kann. Man kann diesen Umstand näherungsweise in 
Rechnung ziehen, indem man jedem Element des Stromleiters eine 
spezifische Kapazität und Selbstinduktion zuschreibt. Der Strom ergibt 
sich dann als Funktion der Stelle im Draht und der Zeit durch die 
Lösung der mit der Wärmleitungsgleichung formal identischen ne 
graphengleichung'""). 


29. Die Energiegleichung. Vernachlässigt man die Verschiebungs- 
ströme, so ist nach (133) neben der von den eingeprägten elektrischen 
Kräften herrührenden Energie nur noch die Wärmeenergie Q und die 
magnetische Energie W,, zu berücksichtigen. Unter den spezielleren 
Voraussetzungen der Nr. 27 gilt für ein Stromnetz, wie ohne weiteres 
ersichtlich: 


(176) Q = Du, Jon 


110) Dabei wird man dann noch auf den Begriff der gegenseitigen Kapazität 
geführt, welche indessen in den allermeisten Fällen unberücksichtigt bleiben 
kann. Vgl. hierzu M. Wien, Ann. Phys. Chem. 61 (1897), p. 151. 

111) Vgl. Elektromagnetische Wellen, Art. M. Abraham V 18, Nr. 11. 


29. Die Energiegleichung. 461 


Andererseits kann auch die magnetische Energie durch die Induktions- 
koeffizienten ausgedrückt werden. 
Zunächst ist nämlich definitionsgemäß: 


(177) vw 4/98, 


wo die Integration über den ganzen Raum zu erstrecken ist. Ersetzt 
man nun Ö durch rot A und berücksichtigt, daß 


div [AS| = (A rot 9) — (Hr W, 


so wird mit Rücksicht auf (II) und der Bestimmungsgleichung (25) 
für U: 


’ 1 3% 
(177) w= hl asus, 


wobei die Integration zweimal über den ganzen Raum zu erstrecken 
ist. Nach den Definitionsgleiehungen (168) und (169) für die In- 
duktionskoeffizienten erhält man also W,, als quadratische Funktion 
der n Ströme J,...J,...J, in der Form: 


2" 


(178) 2W, = Id #4 Bi 1: ” 





a + u, u + on * "Se 


+ Luc ya ne nr we nr Ar 
welche noch mit Rücksicht auf die Beziehung 
Li IT ER 


etwas vereinfacht werden kann. Ebenso wie diese Beziehung bleibt 
auch die durch (178) dargestellte Berechnungsweise der magnetischen 
Energie auch dann noch gültig, wenn magnetisierbare Körper vor- 
handen sind, vorausgesetzt, daß u von $) unabhängig ist. 

Für einen einzelnen Stromkreis wird hiernach die Differential- 
gleichung (163”) mit der Energiegleichung identisch. Hält man an 
den Zusammenhängen (176) und (178) fest, so geben diese Formeln 
die Möglichkeit, Induktionskoeffizient und Widerstand auch für solche 
Zustände in einfacher Weise zu definieren, bei denen der Strom nicht 
mehr als gleichmäßig über den Drahtquerschnitt verteilt angesehen 
werden kann. Im allgemeinen würde dann w und L zeitlich variabel 
werden. Um dieses zu vermeiden, kann man bei periodischen Vor- 
gängen zur Definition von w und L die über eine Periode gemittelten 
Energieausdrücke benutzen. 

Sind in den Stromkreisen noch Kondensatoren vorhanden, so ist 


462 V 17T. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


in erster Näherung die Energiegleichung noch zu vervollständigen 
durch die hauptsächlich in Betracht kommende in denselben auf- 
gespeicherte Energie, welche sich noch durch die Kapazitäten und 
Elektrizitätsmengen der Kondensatoren ausdrücken läßt!!2). 


30. Induktionskoeffizienten für geradlinige Leiter. Der mittlere 
geometrische Abstand. Die Induktionskoeffizienten sind streng ge- 
nommen nur definiert für geschlossene Stromkreise, die Formeln (168) 
und (169) legen es indessen nahe, den Induktionskoeffizienten zusam- 
menzusetzen aus Bruchteilen, die einzelnen ungeschlossenen Stücken der 
Leitung entsprechen. In diesem Sinne wollen wir die folgenden For- 
meln für den Induktionskoeffizient eines endlichen geraden Drahtes 
auffassen. Die allgemeinen Formeln (168) und (169) lassen nämlich 
in diesem Falle nach Maxwell!!?) eine sehr einfache Interpretation zu. 
Das innere Doppelintegral in (168) entspricht dem 4c*-fachen des 
gegenseitigen Induktionskoeffizienten m zweier paralleler Linien. Haben 
diese die Länge 7 und den gegenseitigen Abstand &, so wird 

n (d3, d8,) ?+E&+1 35 
(179) Axc’m Hl) er — 1log a — 2VE LP + 2%, 
oder entwickelt nach Potenzen von &/l 
(19) Anm Allg! —1+3— 354...) 
SE l 4% J 

Sind nun die Querschnitte der Drähte klein gegen ihre Länge, 
so kann man für die Ausführung der noch erforderlichen Integration 
in (168) für das innere Integral nach (179”) Näherungswerte einsetzen. 
Benutzt man zwei Glieder dieser Reihe, so erhält man: 


ie 3 DE - ARE Ay 
(180) 4ndL,= 21[10g 21 . log $dq,dg, 1) 
Setzt man schließlich 
(181) Sf}og &da,dq, — 9,9, 10g R, 


so ist AR der mittlere geometrische Abstand der beiden Querschnitte 
voneinander. Mit dieser Abkürzung wird dann: 


21 
(182) 4aeL,—2llg;—1), 


d. h. ebenso groß wie der gegenseitige Induktionskoeffizient zweier 
Linien im Abstande R voneinander. Nach (181) ist klar, daB R 


112) Vgl. Elektrostatik und Magnetostatik, Art. R. Gans V 15, Nr. 7. 
113) J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. Oxford 1881, 2 p. 298, 
Art. 691, sowie Scientific Papers, Cambridge 1890, p. 280. 


81. Werte für R in speziellen Fällen. 463 


zwischen dem kleinsten und dem größten Abstand zweier Punkte der 
Querschnitte liegt. Für einen einzelnen Draht hat man die Inte- 
gration (181) zweimal über den betreffenden Querschnitt zu erstrecken 
und erhält dann in R den mittleren geometrischen Abstand des Quer- 
schnitts von sich selbst. Gleichung (182) ergibt dann mit diesem 
Wert von R den Selbstinduktionskoeffizienten. Hat man R für kom- 
pliziertere Figuren zu bestimmen, so kann man mit Vorteil den fol- 
genden sofort aus (181) folgenden Satz benutzen. 

Sind R,, Rz, ... die mittleren geometrischen Abstände verschie- 
dener Teile mit den Flächeninhalten A, B,... einer Figur von einer 
anderen Figur N, so ist der mittlere geometrische Abstand R der 
ganzen aus A, B, ... zusammengesetzten Figur von N gegeben 
durch: 

(188) (A+B+--JlgR=AlogR,+BblgR,-+:::. 


Sind die Leiter im Gegensatz zu den obigen Voraussetzungen kurz 
gegen ihren Abstand 7<<&, so kann man, indem (179) jetzt nach 
Potenzen von //& entwickelt wird, für Z,, in erster Näherung den 
Wert erhalten: 


(182) ER RA 


5 


31. Werte für R in speziellen Fällen''). Nach (181) ist der 
mittlere geometrische Abstand R, eines Punktes von einem Quer- 
schnitt q, gegeben durch 


q, log R, — [log &dq,, 


sein Logarithmus ist also gleich dem logarithmischen Potential des 
gleichförmig mit Elektrizität von der Dichte 2x7 bedeckt gedachten 
Querschnitts dividiert durch dessen Flächeninhalt. Die Größe g, log R, 
genügt also der Potentialgleichung, so daß es in manchen Fällen ohne 
direkte Ausführung der Integration in (181) möglich ist, R, in ein- 
facher Weise zu finden. So ist z. B. das Potential 9 einer Kreisscheibe 
vom Radius «a in einem Punkt im Abstande r>a vom Mittelpunkt 


= za? logr 


114) Die mittleren geometrischen Abstände von Kreisen und Linien von- 
einander finden sich bei J. ©. Maxwell, Scientific Papers, Cambridge 1890, p. 280. 
Für eine Rechtecksfläche wird R berechnet von B. Rosa, Bull. of the Bur. of 
Stand. 3 (1907), p. 1, eine bequeme Näherungsformel gibt Sumec, Elektrot. Zeitschr. 
27 (1906), p. 1175. Für Kombinationen mehrerer Kreisflächen (in Kabeln) wird 
R berechnet von Ch. E. @uye, Arch. des Sciences phys. et natur. 32 (1894), p. 480 
u. p. 574, C.R. 118 (1894), p. 1329. Eine Zusammenstellung vieler Resultate 
findet sich bei E. B. Rosa und L. Cohen, Bull. of the Bur. of Stand. 5 (1909) p. 1. 


EI 


464 P. Debye. 


und damit 
(184) 


Ist r <a, so wird 


a 


log R,=logr odr R,=r. 


so daß 
(184°) 


Stationäre und Quasistationäre Felder. 


a—r 


log R, = une +loga odr R=ae °*. 


Ebenso ergibt sich für einen kreisringförmigen Querschnitt mit den 


Radien a und b (b>a): 








(log R, = logr für r>b, 
b*logb — atlog Kurt 
(185) Jlog R, — Ar EN — 5 map für a<r<b, 
log A, = u — ® | - für r <a. 





Aus den angegebenen Formeln folgt sofort für den mittleren geo- 
metrischen Abstand R zweier sich nicht überdeckender Kreisringe 
(186) R=d, 
wo d der Abstand ihrer Mittelpunkte ist. 

Der Logarithmus des mittleren geometrischen Abstandes eines 
Kreisringes von sich selbst mit den Radien b und a folgt aus (185) 
durch einfache Integration zu: 


(187) 


Als Spezialfall dieser Formel ergibt sich für eine Kreisfläche vom 
Radius b(a—=0): 


b 1: 3a? — b? 


logR= logb — I ar a ur 


a 
(b? — a)? 


(187) R=be': 
und für eine Kreislinie (b = a): 
(187°) R=b. 


Der mittlere geometrische Abstand eines Kreisringes von mehreren 
anderen folgt sofort unter Benutzung des Satzes (183) am Ende der 
Nr. 30. 

32. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 

a) Gerade Leiter. Nach den Ausführungen der Nr. 30 ist der 
Selbstinduktionskoeffizient L eines langen geraden Drahtes (Länge = !) 
gleich dem gegenseitigen Induktionskoeffizienten zweier Linien von 
der Länge Z in einem dem mittleren geometrischen Abstande des 
Querschnitts von sich selbst gleichen Abstand!"). Für einen kreis- 





115) Über die Bedeutung des Ausdrucks „Induktionskoeffizient eines end- 
lichen geraden Drahtes“ vgl. Nr. 30. 





82. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 465 


förmigen Querschnitt erhält man also nach (182) und (187) 


21 3 
(188) 4zeL=21(lg - —-); 


während der gegenseitige Induktionskoeffizient zweier gerader Leiter 
1 und 2 mit kreisförmigem Querschnitt sich ergibt zu 


‚ 21 
(188°) Areal, 2l (1og 7 = 1), 


wenn d der Abstand der Kreismittelpunkte ist. 

Setzt man R aus (187) in (182) ein, so folgt L für einen ge- 
raden Leiter mit kreisringförmigem Querschnitt. 

Für zwei parallele Drähte (Länge = I, Radius = «a resp. b), die 
im selben Sinne vom Strome durchflossen werden, ergibt sich der 
mittlere geometrische Abstand R dieses Querschnittsystems von sich 
selbst durch zweimalige Anwendung der Regel (183) zu: 


(189) (FA+ F,% logR= F/*logR, + 2F,F,logR,-+ Fy? log R,. 


Hierin sind F, resp. F, die Flächeninhalte des ersten resp. zweiten 
Querschnittes, während R, resp. R, den mittleren geometrischen Ab- 
stand des ersten resp. zweiten Querschnittes von sich selbst und 
R,, den mittleren geometrischen Abstand der beiden Querschnitte 
voneinander bedeutet. In dem speziellen Falle zweier Kreisquer- 
schnitte wird: 


a? + b°)? log R = (at loga + 2a?b? logd + b* logb) — 4 (at + bt 
8 8 g = 4 

und damit nach (182): 

(190) iraL=|Iogaı tee Tre et ten? ee 





: (a? + 59° BER 
wenn noch d der Abstand der beiden Drahtachsen bedeutet, der 
übrigens ebenso wie a und b klein gegen / sein muß. 

Werden die beiden Drähte in entgegengesetzter Richtung von 
demselben Strom durchflossen, so daß sie die Hin- und Rückleitung 
für denselben Strom bilden, so hat man darauf Rücksicht zu nehmen, 
daß in der Definitionsgleichung (169) die beiden Längenelemente d3 
und d$®’ in entgegengesetzten Richtungen positiv zu rechnen sind. 
Dann erhält man aus (169) zunächst für den Fall beliebiger, aber 
gleicher Querschnitte in derselben Näherung wie in Nr. 30: 


(191) Arne L = 2llog = 


Man kann sich überzeugen, daß (191) auch dann noch gilt, wenn die 
beiden Querschnitte ungleichen Flächeninhalt und dementsprechend 
ungleiche spezifische Ströme aufweisen. In unserem speziellen Falle 


466 V 17T. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


erhält man*!) aus (191) mit Rücksicht auf (186) und (187°) 
(192) 4reL—=21(lg 5; +4): 


Der Selbstinduktionskoeffizient wird also nicht mehr wie in (176) 
und (178) mit wachsender Drahtlänge unendlich groß (vgl. dazu noch 
Nr. 20). 

Um z. B. den Selbstinduktionskoeffizienten L eines Rechtecks aus 
Draht von kreisförmigem Querschnitt zu berechnen, dessen Seiten- 
längen / resp. d und dessen zugehörige Drahtradien « resp. b sind, 
kann man die Formeln (188) und (188°) folgendermaßen verwenden. 
Deutet man die vier aufeinander folgenden Seiten, mit einer von der 
Länge / anfangend, mit 1,2,3,4 an und bedeuten Z,,, Las; - . . Selbst- 
induktionskoeffizienten der Seiten 1,2,..., während L,., Zus,... in 
analoger Weise die gegenseitigen Induktionskoeffizienten sind, so er- 
hellt aus der Definitionsformel (169) unmittelbar, daß: 


MIR: (Zu 4.24% Ls+ L,) En; (La u Pre m L,, == L,,) 

+: +, +Lı+Lle)+(lutlut+tLlet L3)- 
Mit Rücksicht darauf, daß einerseits 

Les = Lu = 1a = La, =l,=1,=1l,=1,=0 


und andererseits der Wert für den gegenseitigen Induktionskoeffizienten 
bei den Größen L,,, Ls,, Zy, und Z,, mit dem negativen Zeichen zu 
versehen ist, da in den entsprechenden Leitern die Ströme entgegen- 
gesetzt fließen, erhält man schließlich: 
(19) 4reL—=4lllg +4) + 4a FT) 
Die Selbstinduktionskoeffizienten wurden dabei berechnet nach (188), 
die Größe L,, nach (188) und die Größe Z,, nach (182”). Formel 
(195) gilt also nur für langgestreckte Rechtecke, bei denen d <<! 
ist IN), 

Die andere nach Nr. 29 für L mögliche Berechnungsweise aus 


116) Die entsprechende Formel für magnetisierbare Drähte wird angegeben 
von H. M. Macdonald, Proc. Cambr. Phil. Soc. 7 (1891), p. 259 u. 15 (1892), p. 303. 

117) Der Selbstinduktionskoeffizient eines zu einem Quadrate gebogenen 
Drahtes vom Kreisquerschnitt wurde berechnet von @. Kirchhoff, Ann. d. Phys. 
121 (1864), p. 551, Ges. Abh. Leipzig 1882, p. 176. Für ein Rechteck wird die- 
selbe Größe berechnet von M. Wien, Ann. d. Phys. 53 (1894), p. 989 und von 
M. E. Mascart, C. R. 118 (1894), p. 277. Eine Zusammenstellung der hierher 
gehörigen Ergebnisse, sowie Formeln für den Selbstinduktionskoeffizienten bei 
quadratischem Drahtquerschnitt wird gegeben von E. B. Rosa u. L. Cohen, Bull. 
of the Bur. of Stand. 5 (1909), p. 50 ff. 


32. Werte für die Induktionskoefäzienten in speziellen Fällen. 467 


der magnetischen Energie versagt im Falle eines oder mehrerer par- 
alleler Drähte, welche in gleicher Richtung vom Strome durchflossen 
werden. Es liegt dieses daran, daß der Strom von vornherein als 
unendlich lang gegen alle auch noch so großen Entfernungen voraus- 


gesetzt wird, wodurch dann die magnetische Feldstärke wie rn 


(o = Abstand vom Drahte) abnimmt und somit die magnetische Energie 
pro Längeneinheit wie logo unendlich wird. Die Schwierigkeit ver- 
schwindet sofort, sobald der Gesamtstrom durch eine Ebene senk- 
recht zu den Drähten Null ist, wie z. B. im obigen Falle zweier par- 
alleler Drähte mit entgegengesetzt gleichem Strom. Die Berechnung 
der magnetischen Energie, welche am einfachsten auf Grund von 
(177) durch Integration über den durchflossenen Raum erfolgt, liefert 
für L den oben schon in (192) angegebenen Wert. Diese Art der 
Rechnung legt es dann nahe, ebenso wie die Energie in einen Teil 
im Innern und einen Teil für das Äußere der Stromleiter auseinander- 
fällt, auch den Induktionskoeffizienten Z in einen inneren Z, und 
einen äußeren L, zu zerlegen. Bei schnellem Wechselstrom'!?) hat 
dann hauptsächlich L, seinen Wert gegen den für langsamen Wechsel- 
strom geändert, während die Änderung in ZL, nur sehr unbedeutend 
oder auch genau Null ist. Da im Tran der Drähte meistens nur 
ein geringer Teil der ganzen magnetischen Energie aufgespeichert ist, 
so ist die prozentuale Änderung von L bei Erhöhung der Wechsel- 
zahl gewöhnlich sehr klein. Im Falle des in (188) z.B. zugrunde 
gelegten geraden Drahtes wird für sehr schnelle Schwingungen an- 
genähert: 

(188”) 4a L = 21 (log — 1), 


da dann der Strom nur in einer dünnen Schicht an der Drahtober- 
fläche fließt. In sehr schnelle Schwingungen ist also Z prozentual 


nur um 1/4 log? gegen seinen Wert für langsamen Wechselstrom 


geändert. 
b) Kreisförmige Leiter. Haben die zu betrachtenden kreisförmigen 
Leiter Durchmesser, welche groß sind im Vergleich mit ihren Quer- 


118) Die Stromverteilung usw. im Innern eines geraden, wechselstromdurch- 
flossenen Drahtes mit Kreisquerschnitt wird berechnet von W. Thomson, Elec- 
trician, Febr. 1889 und Lum. &lectr. 31 (1889), p. 288; man vgl. auch E. Bry- 
linski, Eel. electr. 12 (1897), p. 9”. Eine numerische Diskussion der Formeln 
wird ausgeführt von E. Merrit, Phys. Rev. 5 (1897), p. 47; der Fall gedämpfter 
Schwingungen wird behandelt von E. H. Barton, Proc. Phys. Soc. London 16 
(1899), p. 409. 


468 Vı7. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


schnittsdimensionen resp. ihrem gegenseitigen Abstand, wie das in den 
allermeisten Fällen zutrifft, so ist eine ähnliche Vereinfachung möglich 
wie in Nr. 30. Bei der Berechnung der Induktionskoeffizienten wird 
zunächst wieder das innere Integral in (168) für zwei koaxiale Kreise 
näherungsweise ausgeführt, mit Rücksicht darauf, daß der Abstand der 
beiden Ringe klein gegen ihren Durchmesser ist. Der betreffende 
Ausdruck, der also gleich dem 4xc?-fachen des gegenseitigen In- 
duktionskoeffizienten m zweier Kreislinien ist, ergibt: 
(194) Arc!m —= 4nA log 1 -1- 57 aan .. | 
ERST, Br B 
$S (2 T ar ar + a a 
wobei A der Radius des ersten und A-+-x der Radius des zweiten 
Kreises ist, während der Abstand der Kreisebenen y und der kürzeste 
Abstand der Kreisebenen & ist, so dB ®?—= x? + 
Die weiteren Glieder kann man erhalten durch Entwicklung der 
elliptischen Integrale in dem in Strenge für m gültigen Ausdruck"): 


(195) 4aem —4rVAA+ (FH) FW ER), 
wobei zur Abkürzung gesetzt ist: 














(195) ee, 
Vv@eA+n’+y? 
Die Näherungsformel: 
(194) 4rcm — 4x A(log° —2), 


welche der in Nr. 30 wirklich benutzten Näherung entspricht, ergibt 
sich auch direkt, indem man m nach (165) durch den Kraftfluß defi- 
niert, den der größere Kreis durch den kleineren hindurchschickt. 

Benutzt man diese Näherung, so erhält man nach (168) und (181) 
für den gegenseitigen Induktionskoeffizient L,, zweier benachbarten 
parallelen Kreisströme u und v: 

* 8 
(196) 4aeL,—=4nA (lg 7 — 2), 

119) J. ©. Maxwell, Treatise on electr. and magn. 2, Oxford 1881, p. 306, 
Art. 696 ff., die höheren Glieder im Ausdruck (194) wurden berechnet von J. @. 
Coffin, Bull. Bur. of Stand. 2 (1906), p. 113, vgl. auch .J. @. Ooffin u. E. B. Rosa, 
Bull. Bur. of Stand. 2 (1906), p. 359. Eine Darstellung von (195) mittels $-Reiben 
gibt H. Nagaoka, Phil. Mag. 6 (1903), p. 19; eine Zusammenstellung der Resul- 
tate bei E. B. Rosa u. L. Cohen, Bull. Bur. of Stand. 5 (1909), p.1ff. Der gegen- 
seitige Induktionskoeffizient zweier Windungen auf einem Eisenring wird be- 
rechnet von L. Boltzmann, Wien Anz. 15 (1878), p. 203, Wiss. Abh., Leipzig 
1909, p. 394. 


32. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 469 


wobei R wieder den mittleren geometrischen Abstand der Quer- 
schnitte voneinander bedeutet. Für den Selbstinduktionskoeffizienten 
eines Kreisringes vom Radius A mit kreisförmigem Querschnitt vom 
Radius a erhält man so z.B. nach Es 


(197) ine L— 474 (leg — -) 


und für den gegenseitigen Induktionskoeffizienten zweier Kreisdrähte 
1 und 2 vom gleichen Querschnittsradius « im Abstande & —= d: 


(198) 4r0 1, —4nA (log "7 — 2)- 


Will man genauer rechnen, so muß man für die folgenden Glieder 
in (194) die Integration über die Querschnitte wirklich ausführen. 
Die Methode, welche z. B. den Selbstinduktionskoeffizienten eines 
Kreisdrahtes dadurch genauer auswertet, daß die beiden Kreislinien, 
auf die es in (194) ankommt, in einer Ebene angenommen werden 
(y=0) und dann für x der mittlere geometrische Abstand des Quer- 
schnittes von sich selbst auch in die höheren Glieder eingesetzt wird, 
ist streng genommen inkonsequent und unrichtig. Indessen kann man 
zeigen, daß der so erhaltene Wert näher an die Wahrheit heran- 
kommt, wie der ohne Berücksichtigung der höheren Glieder erhaltene !?P), 
Für Spulen wird die genaue Rechnung recht umständlich. Für 
eine unendlich lange Spule mit dem Radius A und » Windungen 
pro Längeneinheit erhält man für den Selbstinduktionskoeffizienten 
pro Längeneinheit das einfache Resultat: 
(199) 4nc®L = An? A?vR, 
wenn der vom Isolationsmaterial eingenommene Raum als verschwin- 
dend angenommen wird. Kann man den vom Strome durchflossenen 
Raum als unendlich dünn und als gleichmäßig vom Strom erfüllt 
betrachten, so kann man für den Selbstinduktionskoeffizienten durch 
Integration von (195) einen strengen Ausdruck ableiten von der Form: 


(200) 4a L— — An’ Feny)+tg?Y— DEliny) _ tg? r). 





sin y 


120) Vgl. M. Wien, Ann. d. Phys. 53 (1894), p. 928. Die einfache Formel 
(197) wurde zuerst angegeben von @. Kirchhoff, Ann. Phys. Chem. 121 (1864), p. 551, 
Ges. Abh. Leipzig 1882, p.176. Von @. M. Minchin, Electrieian 32 (1893), p. 169 
und Phil. Mag. (5) 37 (1894), p. 300, W. M. Hicks, Phil. Mag. (5) 38 (1894), p. 456 
und Blathy, London Electrician 24 (1890), p. 630 wurden ebenfalls Formeln für 
den Selbstinduktionskoeffizienten angegeben, die sich indessen als fehlerhaft 
herausgestellt haben. Hat der Draht elliptischen Querschnitt, so gilt eine von 
J. J. Thomson im Phil. Mag. 23 (1886), p. 384 angegebene Formel. Eine Zusam- 
menstellung der Resultate findet sich bei E. B. Rosa u. L. Cohen, Bull. Bur. of 
Stand. 5 (1909), p. 1. 


470 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Hierbei bedeutet n die Gesamtzahl der Windungen, während y» der 
durch 


(200) tgy—% (21 Länge der Spule) 


definierte, für die Spule charakteristische Winkel ist!?'). Eine kleine 
Spule vom Radius «<A und der Länge ! hat bei » Windungen 
gegen die oben betrachtete unendlich lange Spule in erster Näherung 
einen gegenseitigen Induktionskoeffizienten 


(201) Arc L, — Antatnv, 


wenn sie koaxial mit derselben liegt!??). 

Für kurze weite Spulen mit einer Windungslage (von n Win- 
dungen) kann man wohl am einfachsten den Selbstinduktionskoeffi- 
zienten finden durch geeignete Summation der Selbstinduktionskoeffi- 
zienten und der gegenseitigen Induktionskoeffizienten der einzelnen 
Windungen, wie diese in erster Näherung durch (197) und (198) dar- 
gestellt werden. Man erhält dann '??) 

7 


(202) dr L=42A|n(n —1) (log —2) + (log = — 4) — 0], 


121) Die obige exakte Formel (200) wurde zuerst angegeben von L. Lorenz, 
Ann. d. Phys. 7 (1879) p. 16, Oeuvres Scientifiques, Kopenhagen 1899, Tome 2, 
p. 196. Eine Reihenformel für den betreffenden Selbstinduktionskoeffizienten 
wird abgeleitet von Lord Rayleigh u. M. Niven, Proc. Roy. Soc. 32 (1881) p. 104 
oder auch Lord Rayleigh, Scientific Papers, Cambridge 1900, 2, p. 15; die für 
nicht zu große Werte von !/a gut konvergierende Formel wird durch weitere 
Glieder der Entwicklung vervollständigt von J. @. Coffin, Bull. Bur. of Stand. 2 
(1906), p. 113. 

122) Der gegenseitige Induktionskoeffizient zwischen einem Kreis und einem 
koaxialen Solenoid, über das dieselben Voraussetzungen wie oben gemacht wer- 
den, wird berechnet von L. Lorenz, Ann. d. Phys. 25 (1885), p.1, Oeuvres Scient. 
Kopenhagen 1899, 2, p. 1. Derselbe kann durch elliptische Integrale ausgedrückt 
werden. Dieses ist auch dann noch der Fall, wenn der Strom in der äußeren 
Spule in Schraubenwindungen fließt, vgl. J. V. Jones, Proc. Roy. Soc. 63 (1898), 
p. 198; Reihenentwicklungen wurden für den betreffenden Ausdruck von demselben 
Autor schon Phil Mag. 27 (1889), p. 61 abgeleitet. Eine andere Art der Ent- 
wicklung hat E. B. Rosa, Bull. Bur. of Stand. 3 (1907), p. 1ff. Für zwei Spulen 
mit dünnen Stromschichten wird der gegenseitige Induktionskoeffizient berechnet 
von Gray, Absolute Measurements 2, part I, p. 274, vgl. auch Himstedt, Ann. d. 
Phys. 26 (1885), p. 551, L. Cohen, Bull. Bur. of Stand. 3 (1907), p. 301, sowie 
G. F. C. Searle und J. R. Airey, Eleetrieian 56 (1905), p. 318 und A. Russell, 
Phil. Mag. (6) 13 (1907), p. 420. Eine Zusammenstellung der Resultate findet sich 
bei E. B. Rosa u. L. Cohen, Bull. Bur. of Stand. 5 (1909), p. 1ff. 

123) Vgl. B. Strasser, Ann. d. Phys. 17 (1905), p. 763 und 24 (1907), p. 960, 
die Größen C sind dort tabelliert; ein anderer Ausdruck wird abgeleitet von 
E. B. Rosa, Bull. Bur. of Stand. 2 (1906), p. 161. 


32. Werte für die Induktionskoeffizienten in speziellen Fällen. 471 


wobei die Konstante © sich ergibt aus 

(202°) C=2log{1!2!3!... nr —1)!} 

und A der mittlere Radius der Spule, « der Drahtradius und d der 
Abstand zweier Mittelpunkte benachbarter Drahtquerschnitte ist. In 
zweiter Näherung kommt ein Glied hinzu von der Ordnung 


n* - log 2 . 
Für kurze weite Spulen mit mehreren Windungslagen wurde der 
Selbstinduktionskoeffizient berechnet von Stefan'*). Das ursprünglich 
von Mazwell!”) herrührende Verfahren bestand in einer Berechnung 
von L für einen gleichmäßig mit Strom erfüllt gedachten Querschnitt?) 
unter Hinzunahme einer nachherigen Korrektion für die endliche Aus- 
dehnung des Isolationsmaterials und der Abweichung des voraus- 
gesetzten rechteckigen Drahtquerschnitts vom wirklich vorhandenen 
Kreisquerschnitt. Für den Spezialfall eines quadratischen Wicklungs- 
querschnittes vereinfacht sich die Stefansche Formel ohne Korrektion zu: 


(203) 4reL — 
4a Am [log — 0,84834 + 443 (1o 08 7 - Br 1,2242), 


wenn A der mittlere Spulenradius, b eine Seite des Wicklungsquer- 
schnitts und n die Anzahl Windungen bedeutet. Die Korrektion AL 
wegen des kreisförmigen Drahtquerschnittes, welche zu dem in (203) 
angegebenen Wert zu addieren ist, beträgt: 


(203) 4x0 AL— 47An (log + 0,15494), 


wenn der Querschnittsradius gleich «@ und der Abstand der Mittel- 
ag zweier benachbarter Drahtquerschnitte gleich d gesetzt wird ?”). 


124) I J. - Stephan, Ann. d. Phys. 22 (1884), p. 107; vgl. auch B. Weinstein, 
ebenda 21 (1884), p. 329. 

125) J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. 2, Oxford 1881, p. 301, 
Art. 693. 

126) Außer von J. Stephan und B. Weinstein loc. eit. wird der Selbstinduk- 
tionskoeffizient eines Ringes von rechteckigem Querschnitt noch berechnet von 
N. Garbasso, Nuovo Cim. (5) 2 (1901), p. 97. Vgl. auch noch J. O©. Maxwell, 
Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, Appendix III, p. 321. Für eine Spule 
mit mehreren gleichmäßig vom Strom durchflossenen Schichten wird dieselbe 
Größe ausgewertet von L. Cohen, Bull. Bur. of Stand. 4 (1907), p. 398. 

127) Der Koeffizient 0,15494 der Formel (203°) wurde von J. ©. Maxwell 
zuerst zu 0,11835 angegeben (Treatise on electr. and magn., Oxford 1881, p. 302, 
Art. 693), J. Stephan gab statt dessen in Ann. d. Phys. 22 (1884), p. 116 den 
obigen Wert an. Eine Neuberechnung von E. B. Rosa, Bull. Bur. of Stand. 3 
(1907), p. 1 zeigt, daß die betreffende Zahl, welche teilweise den Einfluß, der die 


472 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


Formel (203) ist besonders deshalb von Interesse, weil die von M. Wien 
eingeführten Selbstinduktionsnormalien, welche durch geeignete Wahl 
der Dimensionen möglichst große Selbstinduktion mit möglichst geringem 
Widerstand verbinden, den Voraussetzungen derselben entsprechen!®). 

Die in dieser Nummer angegebenen Werte für die Induktions- 
koeffizienten beruhen wesentlich auf der Annahme einer gleichmäßigen 
Stromverteilung in den Drähten. Für schneller veränderliche Felder 
ist diese Annahme nicht mehr richtig, wodurch dann z. B. bei Spulen 
eine Verkleinerung des Selbstinduktionskoeffizienten und zu gleicher 
Zeit eine Vergrößerung des Widerstandes bedingt ist. Es ist indessen 
erstere Wirkung prozentual sehr viel geringer wie die zweite, weil 
die hauptsächliche Änderung des magnetischen Feldes im Innern der 
Drähte stattfindet, welche für sich nur einen kleinen Beitrag zur 
ganzen magnetischen Energie und damit zum Selbstinduktionskoeffi- 
zienten liefern, wie auch schon unter a) dieser Nr. bemerkt wurde!?”). 


33. Spezielle Fälle von Stromkreisen mit zeitlich veränder- 
licher elektromotorischer Kraft. Der Widerstandsoperator'?°). Wird 


einzelne Windung umgebenden Drähte mißt, eben deshalb von der Lage der ge- 
rade betrachteten Windung in der Spule abhängt. Sie schwankt indessen nur 
zwischen 0,15497 (statt 0,15494 bei Stephan) und 0,15612, je nachdem nur die 
nächsten acht oder unendlich viele Windungen die gerade betrachtete beeinflussen. 

128) Außer den obigen theoretischen Formeln existiert für den Selbstinduk- 
tionskoeffizienten noch eine empirische Formel von J. Perry, Phil. Mag. 30 (1890), 
p. 223. Der gegenseitige Induktionskoeffizient zweier Spulen kann aus den Ta- 
bellen bei J. ©. Maxwell, Treatise on elektr. and magn., Oxford 1881, 2, p. 317, 
App. I entnommen werden nach einer Bemerkung von Lord Rayleigh, ebenda, 
p. 321, App. U. Außerdem finden sich Formeln für die betreffende Größe bei 
B. Weinstein, Ann. d. Phys. 21 (1884), p. 350 und J. Stephan, Ann. d. Phys. 22 
(1884), p. 107, vgl. hierzu auch E. B. Rosa, Bull. Bur. of Stand. 4 (1908), p. 342 
u. p. 348. Andere Entwicklungen werden angegeben von Lyle, Phil. Mag. 3 (1902), 
p- 310; eine kritische Zusammenstellung der Resultate bei E. B. Rosa u. L. Cohen, 
Rull. Bur. of Stand. 5 (1909), p. 1 ff. 

129) Die Abhängigkeit des Widerstandes und der Selbstinduktion von der 
Frequenz wird berechnet von M. Wien, Ann. d. Phys. 14 (1904), p. 1, sowie von 
4A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 15 (1904), p. 673 und 24 (1907), p. 609. Auf die 
Selbstinduktion wird die erste Sommerfeldsche Methode übertragen von J.@.Coffin, 
Bull. Bur. of Stand. 2 (1906), p. 275, Phys. Rev. 125 (1906), p. 193. Vgl. auch 
@. Picciati, Nuovo Cimento (5) 11 (1906), p. 351 und L. Cohen, Bull. Bur. of Stand. 
4 (1907—8) Nr. 76. Durch Unterteilung des Drahtes in mehrere von kleinerem 
Querschnitt wird die Widerstandserhöhung vermieden nach F'. Dolezalek, Ann. d. 
Phys. 12 (1903), p. 1142. 

130) Sehr viele hierher gehörige Fälle werden ausführlich behandelt in der 
Monographie von F'. Bedell und A. Crehore, Alternating Currents, Ithaca, N. Y. 
1904. Die Stromverteilung in Leiternetze wird näher ins Auge gefaßt von 
M. Brillowin, Journ. de Phys. 10 (1881), p. 24, Ann. de l’&cole norm. 10 (1881), p. 9. 


33. Spezielle Fälle von Stromkreisen mit zeitlich veränderlicher Kraft. 473 


in einen Stromkreis mit Selbstinduktion Z plötzlich eine elektro- 
motorische Kraft E zur Zeit {= 0 eingeführt, bis zu welcher der 
Strom J=(0 war, so erhält man nach der aus (163”) und (165) 
folgenden allgemein gültigen Differentialgleichung: 


(204) Lj+wJ=E 
für den Strom: 
(205) J-# erg! 


d.h. ein allmähliches Ansteigen. 

Ein zweiter wichtiger Spezialfall ist die Entladung eines Kon- 
densators (Kapazität = K) durch einen Stromkreis mit Selbstinduk- 
tion und Widerstand, der auf Grund von (175) mit £Z=0 behandelt 
werden kann. Für die physikalische Meßtechnik ist der Fall einer 
zeitlich periodischen elektromotorischen Kraft wichtig. Setzen wir in 
komplexer Schreibweise: 


(206) E= Ber, 


so daß die Schwingungszahl in 27 Sekunden v ist, so erhalten wir 
aus (163) für J den Wert: 








(207) Ju ma 

[er] [0] 
mit 

\ 1 
(208) o=uw+WbwL+,z 
oder anders geschrieben: 
3) 

(207) ER E, " vi—arctg n 








Verticä) 


Der Nenner von E,, der in (207) an Stelle des Gleichstromwider- 
standes w tritt, ist stets größer als w, außer in dem Falle vollkom- 
mener Resonanz (v—=v,), für den das Zusatzglied zu w? verschwindet, 
und also '®!) 


(209) y-f. 
In diesem besonderen Falle sind nach (207) Strom und Spannung 
in Phase. Für die an Stelle des Widerstandes in Kreisen ohne Kapa- 
zität auftretende Größe Yw? + v?L? ist der Name Impedanz üblich 
geworden, für die beim Vorhandensein einer Kapazität zu benützende 





131) Für die Diskussion der entsprechenden Eigenschwingungen vgl. man 
Elektromagnetische Wellen, Art. M. Abraham, V 18, Nr. 8. 
Enoyklop. d. math. Wissensch, V 2, 31 


474 V17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 





Größe Vu: = (vZ — a) wurde der Name Impediment vorgeschla- 


gen. Die Größe (vZ — =) wurde mit dem Namen Reaktanz belegt, 


vL allein heißt auch oft Induktiver Widerstand im Gegensatz zum 
Ohmschen Widerstand w. 

Der Ausdruck (207) für J zeigt, daß man die Erscheinungen für 
Wechselstrom genau so wie bei Gleichstrom rechnen kann, wenn 
nur an Stelle des Gleichstromwiderstandes w der Widerstandsoperator o, 
wie er durch (208) definiert ist, eingeführt wird. Zugleich legt diese 
Darstellung eine graphische Behandlung des Zusammenhangs zwischen 
E und J nahe, E erscheint dabei als ebener Vektor in einer kom- 
plexen Ebene, während J entsteht durch Division mit der komplexen 
Größe ®, eine Operation, die bekanntlich dadurch graphisch ausgeführt 


werden kann, daß der Vektor E im Verhältnis rs verkürzt und um 


1 Er ;R 
den Winkel -- log vs — arctg — zurückgedreht wird. Fehlt 


die Kapazität im Stromkreis, so hat man in (208) K—= w zu setzen 
und hat dann also: 


(208’) o=w-ivL. 


Als Beispiel für diese Rechenmethode sei der Fall erwähnt zweier 
parallel geschalteter Stromführungen mit den Widerständen w,, %, 
und den Selbstinduktionen L,, Z,, welche so weit voneinander ent- 
fernt sind, daß ihre gegenseitige Induktion vernachlässigt werden kann. 
Dieser Kombination entspricht der Widerstandsoperator o=w-+-ivL, 
numerisch oder auch graphisch zu berechnen aus 

1 1 1 1 1 
9) iu wat tego rn 
Die nicht empfehlenswerte Trennung in Reelles und Imaginäres ergibt: 
(w, + ws) (w, ww — "LL)+rb+io)wb+wL ) 











210) w= (w, + w,)°+ v*(L, + L,)* 
r _?’Wwtw)w%,+WwL)—v(L, +L)(ww—»r2LL). 
Si em: (FF Hp 


34. Wheatstonesche Brücke für Wechselstrom. Die Gleich- 
gewichtsbedingung für die mit Wechselstrom beschickte W heatstone- 
sche Brücke ohne Kapazität lautet unter Einführung der Widerstands- 
operatoren 

,=uw tiv, wm +ivk, -.;, 


2,=W, tiırlL, = MWM,#tivL, ..: 
an Stelle der Gleichstromwiderstände r,,79,...,.Ry, Ra, ... der Nr. 19 





34. Wheatstonesche Brücke für Wechselstrom. 475 


(vgl. auch die dortige Fig. 3): 
(211) 9,2, = 0,2;. 


Da ® und 2& komplex sind, zerfällt (211) in zwei voneinander un- 
abhängige Bedingungen, welche im allgemeinen Falle, in dem alle 
Zweige Selbstinduktion enthalten, lauten: 
@11) HayR — #2 =wW,— vlL,, 
wl, +,W =wlL, + MW;l. 

Sind die Zweige AS und BS induktionsfrei (,=0, 1, = 0), 80 
kommt statt (211): 

wl; = w;L;,, 


so daß man eine solche Anordnung der Wheatstoneschen Brücke nach 
Maxwell unmittelbar zum Vergleich von Selbstinduktionen benutzen 
kann"?). Als Stromzeiger benutzt man in der Wechselstrombrücke 
das gewöhnliche Telephon oder nach M. Wien ein optisches Telephon 
oder ein Vibrationsgalvanometer. Solange in dem zuletzt betrach- 
teten Falle erstens die Leitung ASB als induktionsfrei angesehen 
werden kann und zweitens die zu vergleichenden Widerstände und 
Selbstinduktionen sich noch nicht merklich mit der Schwingungszahl 
ändern oder merkliche Kapazität besitzen, kann die Einstellung der 
Brücke mit dem gewöhnlichen Telephon vorgenommen werden. Die 
Obertöne der Stromquelle kommen dann eben nicht in Betracht, da 
nach (212) die Gleichgewichtsbedingungen die Schwingungszahl » 
nicht enthalten. Ist eine der obigen Bedingungen nicht erfüllt, so 
benutzt man am besten ein optisches Telephon oder Vibrations- 
galvanometer als Nullinstrument, welche beide hauptsächlich nur auf 
eine bestimmte Schwingungszahl ansprechen. Die erstgenannte Fehler- 
quelle, welche nach (211’) die erste Gleichung von (198) in 
w, W, — wW, = v*(l,L, — 1,L,) 

überführt und demnach sich mit steigender Frequenz immer mehr 
bemerkbar macht, wird von Giebe'??) zur Grundlage einer Methode 
zur Bestimmung kleiner Selbstinduktionen mit großem Widerstand 
gemacht. 


Ebenso wie zum Vergleich von Selbstinduktionen kann die 
Brücke zum Vergleich von Kapazitäten benutzt werden. Man legt 


132) Die Empfindlichkeit der Wechselstrombrücke wird untersucht von Lord 
Rayleigh, Proc. Roy. Soc. London 49 (1891), p. 208. 
133) E. Giebe, Ann. d. Phys. 24 (1907), p. 941. 
31” 


476 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


dazu in die Zweige AS und AC die beiden zu vergleichenden Kapa- 
zitäten k, und X, und wählt die Zweige SB und CB induktionsfrei 
mit den Widerständen w, und W,. Mit Rücksicht auf (211) und 
(208) wird dann die Gleichgewichtsbedingung: 

Ww, k 
(213) = - 
Außer für Vergleichsmessungen, die sich übrigens auch noch auf 
gegenseitige Induktionskoeffizienten unter sich oder kombiniert mit 
Selbstinduktionskoeffizienten oder auf Kapazitäten kombiniert mit 
Selbstinduktionen usw. beziehen können, dient die Brücke zur abso- 
luten Bestimmung von Selbstinduktionen und Kapazitäten. Für die ver- 
schiedenen Methoden sei auf das Lehrbuch von E. Orlich!**) verwiesen. 


III. Ponderomotorische Wirkungen. 


35. Berechnung der Kräfte zwischen Strömen. Die pondero- 
motorische Kraft, die auf einen Leiter ausgeübt wird, ergibt sich am 
einfachsten durch die Berechnung der Variation der Energie, die bei 
konstant gehaltenen Strömen durch die virtuelle Bewegung des be- 
treffenden Stromkreises bedingt wird. Sind z.B. zwei Stromkreise 1 
und 2 vorhanden, so ist nach (178) die im Raume aufgespeicherte 
magnetische Energie: 


(214) W„=3%Lıd? + Ladıda + 31a”. 
Ist die Lage und Form vom Stromkreis 2 bestimmt durch die Para- 


meter 9), Pa,... und bedingt die Lagenänderung z. B. nur die Ände- 
rung des Parameters p, in 2, + Öp,, so ist 


oW, 3L, 
er) Wr hl de op, 
und somit die (verallgemeinerte) „Kraft in der Richtung p,“: 
OL;s 
(216) I aan. 


Allgemein sind also die Kräfte ableitbar als negativer Gradient eines 
elektrodynamischen Potentials (F. Neumann 1847), das z. B. im obigen 
Falle zweier Stromkreise nichts anderes ist wie die wechselseitige 
Energie 

Ile 


Ist die Form der Einzelstromkreise veränderlich, so müssen bei 


134) E. Orlich, Kapazität und Induktivität, Braunschweig 1909, p. 226 ff. 


85. Berechnung der Kräfte zwischen Strömen. 477 


der Differentiation natürlich auch die Glieder 
Zr , resp. nr 
berücksichtigt werden. 

Außer der in vielen Fällen sehr bequemen obigen Berechnung 
der Kräfte aus den Induktionskoeffizienten kann man auch mit Rück- 
sicht auf (Nr. 24) die Kraftwirkung zwischen den Strömen zurück- 
führen auf die an jedem Stromelement angreifende Elementarkraft 


(217) {= 1898]. 


Eine dritte Berechnungsart knüpft an die Maxwellschen Spannungen 
an. Die Gesamtkraft erhält man dann durch eine Oberflächenintegra- 
tion, im Gegensatz zur vorher genannten Berechnungsart, die eine 
Volumintegration nötig macht. 

Von praktischem Interesse sind die Kräfte auf weiches aan 
(Permeabilität von der Feldstärke unabhängig), welche sich unter Be- 
nutzung der Darstellung durch die Maxwellschen Spannungen beson- 
ders leicht überblicken lassen. Bedenkt man, daß die vom Magnet- 
feld herrührenden Spannungen T,, für ein Flächenelement mit der 
gerichteten Normalen n berechnet, den Wert haben '®®) 


98. — 198), 


so erhält man für die Differenz der Spannungen an den beiden Seiten 
einer Begrenzungsfläche Luft—Eisen den Wert: 


(218) Enı — Ins — (HıBnı — HrBu) — 5 (98) — (HB): 


Diese Differenz, welche die wirklich beobachtbare Spannung T dar- 
stellt, ist, wie man leicht sieht, senkrecht zur Eisenoberfläche gerichtet 
und hat den Wert: 

1 
(218) 1-3) t+7 am). 


u 


Die Größen ®B,, resp. 9, bedeuten senkrecht, resp. parallel zur Be- 
grenzungsfläche gerichtete Feldstärken und gehen beide stetig durch 
diese hindurch. 

Für die Wirkung auf Magnete ist der Definition nach die magne- 
tische Feldstärke maßgebend. 

Außer den magnetischen Kräften treten auch noch elektrische 
Kräfte zwischen Stromleitern auf, welche ihre Angriffspunkte in den 
auf den Leiteroberflächen angesammelten Ladungen finden. Dieselben 


135) Vgl. Maxwellsche Theorie, Art. H. A. Lorentz, V 13, Nr. 23 ff. 


478 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


sind indessen meistens gegen die magnetischen Wirkungen zu ver- 
nachlässigen. 


36. Galvanometer. Die Instrumente zur Messung oder Kon- 
statierung von Strömen beruhen zum allergrößten Teil auf der 
mechanischen Wirkung zwischen Stromkreisen und Magneten oder 
auch zwischen Stromkreisen unter sich. 

Erstere Wirkung wird benutzt in der Tangentenboussole, einem 
Stromkreis, welcher in den magnetischen Meridian gestellt wird und in 
dessen Mittelpunkt eine kurze Magnetnadel durch die Einwirkung des 
Stromes meßbare Ablenkungen aus ihrer Gleichgewichtslage erfährt. 
Ist der Ausschlagswinkel «, so ist nach (121’) das Moment des Stromes 


in erster Näherung proportional cos « (« = > — 0) ‚ während das 


vom Erdfeld herrührende zurücktreibende Moment sin « proportional 
ist. Man erhält also: 


ai 


wenn noch H die Horizontalintensität des erdmagnetischen Feldes, 
a der Radius des Stromkreises und .JJ der zu messende Strom be- 
deutet. Nach (121’) oder (131’) kann man die Abweichung von der 
Homogenität des Feldes in der Nähe des Kreismittelpunktes noch in 
Rechnung ziehen; diese Korrektion wird übrigens dann besonders 
wichtig, wenn der Stromleiter aus einer Spule mit mehreren Windungen 
besteht. Wird der Stromkreis der Nadel nachgedreht, bis beide in einer 
Ebene liegen, so entsteht die Sinusboussole, bei welcher der Strom 
dem Sinus des Ablenkungswinkels proportional ist. Handelt es sich 
nicht um die absolute Strommessung, so kann man die Windungen 
der Nadel sehr viel näher rücken und damit eine viel größere Emp- 
findlichkeit erreichen'®*), Es wird dann für kleine Ausschläge «: 
(220) «= (0J, 

wo der Reduktionsfaktor C jetzt durch den Versuch zu bestimmen ist. 
Eine noch größere Empfindlichkeit erreicht man durch Benutzung 
eines nahezu astatischen Nadelsystems oder indem man von außen 
her durch einen Richtmagneten die Wirkung des Erdfeldes zum 
größten Teile kompensiert. Damit die Nadel nicht zu viele Schwin- 


J 
ee?’ 


136) Der vorteilhafteste Querschnitt der Wicklung wird berechnet von 
J. C. Maxwell, Treatise on electr. and magn. 2, Oxford 1881, p. 331. Die Kon- 
struktionsgrundsätze und die Theorie der Spiegelgalvanometer werden behandelt 
von T'h. des Coudres, Zeitschr. f. Elektrochemie 3 (1897), p. 417, 441, 465, 489 
und 513. Über die Anordnungen von Helmholtz, Gaugain usw. zur Erzeugung 
eines möglichst homogenen Feldes vgl. man J. C. Maxwell, Treatise on electr. 
a. magn. Oxford 1881, 2, p. 322, Art. 707 ff. 


87. Das ballistische Galvanometer. 479 


gungen ausführt, ehe sie wieder in ihrer Gleichgewichtslage in Ruhe 
ist, wird dieselbe von Metallmassen (Kupfer) möglichst nahe umgeben, 
in welchen dann die entstehenden Wirbelströme für eine wirksame 
Dämpfung sorgen. Diese sehr empfindlichen Instrumente werden stark 
durch kleine von zufälligen Ursachen (Trambahnen) herrührende 
Schwankungen des erdmagnetischen Feldes beeinflußt. Einen wirk- 
samen Schutz gegen die äußeren Einflüsse liefert eine mehrfache 
Panzerung mit Stahlmänteln hoher Permeabilität'?”). Von äußeren 
magnetischen Störungen fast ganz unabhängig sind auch die nach 
dem Deprez-d’Arsonval-Prinzip gebauten Galvanometer!”®), bei denen 
eine vom Strom durchflossene Spule in einem starken Magnetfeld 
hängt und durch ihren Ausschlag den Strom anzeigt. Dieser Typus 
ist im Gebrauche bequemer wie die Panzergalvanometer, welche sich 
indessen durch geringeren inneren Widerstand auszeichnen. Ebenfalls 
von Störungen unabhängig ist das Einthoven-Galvanometer, welches 
zur Strommessung den Ausschlag eines sehr dünnen vom Strom durch- 
flossenen Drahtes benutzt, der in einem starken Magnetfeld senkrecht 
zu den Kraftlinien ausgespannt ist'?®). Auf der Wirkung von Strömen 
auf Ströme beruht das Elektrodynamometer, bei welchem eine be- 
wegliche und eine feste Drahtrolle mit ihren Mittelpunkten zusammen- 
fallend und mit ihren Achsen senkrecht zueinander angeordnet sind. 
Dieselben werden hintereinander vom Strome durchflossen, so daß der 
Ausschlag der beweglichen Rolle dem Quadrate des Stromes propor- 
tional wird. Letzterem Umstand verdankt das Instrument auch seine 
Anwendbarkeit für Wechselstrom. 


37. Das ballistische Galvanometer'“°). Außer zur Messung von 
konstanten Strömen können diejenigen Galvanometer, welche eine ge- 
nügend lange Schwingungsdauer besitzen, auch zur Messung kurz- 
dauernder Ströme verwendet werden. Solange kein Strom durch das 
Instrument fließt, kann der Ausschlag « als Funktion der Zeit £ be- 
stimmt werden aus der Differentialgleichung '*'): 


137) Vgl. H. du Bois und H. Rubens, Ann. d. Phys. 2 (1900), p. 84. 

138) Deprez und d’Arsonval, Paris ©. R. 102 (1886), p. 504. Vgl. zur Theorie 
u.a. W.P. White, Phys. Rev. 19 (1904), p. 305 und 23 (1906), p. 382. 

139) W. Einthoven, Arch. Neerl. (2) 6 (1901), p. 625; eine eingehende 
theoretische Behandlung rührt her von P. Hertz, Zeitschr. Math. Phys. 58 
(1910), p- 1. 

140) Vgl. H. Diesselhorst, Ann. d. Phys. 9 (1902), p. 458 und 712, sowie 
H. A. Wilson, Proc. Phys. Soc. 20 (1906), p. 264, Phil. Mag. (6) 12 (1906), p. 269, 
Eleetrician 55 (1906), p. 860, und Ledeboer, Paris C. R. 102 (1886), p. 504. 

141) Die Verhältnisse bei großen Amplituden werden diskutiert von 
O. Chwolson, M&m. de l’acad. de St.-Petersbourg 5 (1879), p. 26. 


480 V 17. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 


(221) tet N.—0, 


in der Ö und v zwei dem Instrumente eigentümliche Konstanten be- 
deuten. Einen orientierenden Überblick über die Abhängigkeit von v 
und ö von den verschiedenen Umständen erhält man durch folgende 
schematische Überlegung. Hat z.B. die Spule eines Deprez-Galvano- 
meters » Windungen und ist H die Stärke des Magnetfeldes, so ist 
die bei einer Bewegung in derselben nach (I”) induzierte elektromoto- 
rische Kraft 


(222) vw 2nlaH da 


e dt’ 


wenn a der Abstand des dem Magnetfeld ausgesetzten Stückes / einer 
Einzelwindung bedeutet. Ist noch w der Widerstand, durch den E 
einen Strom erzeugt, und ist dieser Strom die einzige Ursache der 
Dämpfung, so ist die in der Zeit di in Wärme umgesetzte Energie 


1 /2nla H\?2 /de\2 
(223) +) 5) 9 
wenn keine Rücksicht auf einen eventuellen Phasenunterschied zwi- 


schen dem Strom und der elektromotorischen Kraft E genommen 
wird. Andererseits ist die Variation der kinetischen Energie: 


‚ oe 
(223) [4 (&) ]= 9 48 d« 
und die Variation der potentiellen Energie der Aufhängung 


(223”) ö E «] = Made, 





wenn noch ® das Trägheitsmoment und M das zurücktreibende Mo- 
ment der Aufhängung ist. Der Energiesatz liefert jetzt Gl. (221), 
wobei mit Rücksicht auf (223), (223°) und (223”) 





1 /2nlaH\? 
224) ee ren, 
und 
(224) "+-=-- 


Wird durch ein solches Galvanometer ein kurz dauernder Strom 
geschickt, während dessen Verlauf die Nadel sich noch nicht wesent- 
lich von ihrer Ruhelage entfernt hat, so wirkt dieser wie = Stoß, 
der der Aufhängung eine plötzliche Winkelgeschwindigkeit S€ =0o, 


erteilt!#®), welche proportional mit der gesamten nen 


142) Für den Einfluß der endlichen Zeitdauer eines Stromstoßes vgl. man 
Dorn, Ann. d. Phys. 17 (1882), p. 654, sowie Diesselhorst, ebenda 9 (1902), p. 458 
u. p. 712. 


837. Das ballistische Galvanometer. 481 


Elektrizitätsmenge ist. Diesem Anfangszustand entspricht dann nach 
(221) die Lösung 
(225) «= —e-°tsin vt. 


Der erste maximale Ausschlag wird erreicht zur Zeit 4,, definiert durch 


(226) go, = 

und hat also den Wert 
_L arctg 
e 

(227) «U = &y = [07 yore 


Ob nach diesem Ausschlag das Galvanometer aperiodisch in seine 
Ruhelage zurückkehrt oder noch um diese Schwingungen ausführt, 
hängt nach dem obigen Überschlag z. B. davon ab, ob sich » aus 
(224) und (224”) als imaginäre oder reelle Größe ergibt. Der Grenz- 
fall der Aperiodizität wird erreicht für v— 0, dann ist nach (225) 


(225’) = a,te-!' 
und der maximale Ausschlag 

1 o, 
(227) = ge Fy s 


Die Bedingung v» —= 0 lautet nach den orientierenden Gleichungen 
(224) und (224), ausgedrückt in den Bestimmungsstücken des Gal- 
vanometers: 


(228) w("#) = 2yMe. 


e 





Soll das ballistische Galvanometer zu absoluten Messungen gebraucht 
werden, so muß noch ®, mit der durchgegangenen Elektrizitätsmenge 


E=/Jdt 


verknüpft werden. Fließt durch das Instrument ein konstanter Strom J, 
und ist das von demselben ausgeübte Drehmoment GL, so bewirkt 
er eine statische Ablenkung 


G J 
(229) el 


J 
= (7, 


wo also C der „statische Reduktionsfaktor“ ist. Andererseits liefert 
(221), wenn noch die rechte Seite durch die Stromwirkung vervoll- 
ständigt wird, durch direkte Integration mit Rücksicht auf die kurze 
Stromdauer für die anfängliche Winkelgeschwindigkeit: 


(230) ET 
wenn jetzt & der „dynamische Reduktionsfaktor“ ist. Aus (229) und 


482 Vı7T. P. Debye. Stationäre und Quasistationäre Felder. 
(230) folgt jetzt mit Rücksicht auf (224”) 
& M 
(231) DezeritN, 
so daß wir aus (227) für den maximalen Ausschlag erhalten: 


Ö v 
(232) a0. Vater "7. 


Als Spezialfälle seien hervorgehoben der Fall geringer Dämpfung 
für den 


(232) w=v0:.— 
und der aperiodische Grenzfall für den 

Z ö E 
(232 ) Aa (e = 2,118...). 


Ist im allgemeinen der statische Reduktionsfaktor C, die auf 2x sec 
bezogene Schwingungszahl » und die Dämpfung ö bestimmt, so können 
unter Zugrundelegung von (232) absolute ballistische Messungen aus- 
geführt werden. Relative Vergleichsmessungen sind ohne Bestimmung 
von v und Ö möglich, da ja nach (232) der maximale Ausschlag pro- 
portional E ist. 

Sind die Ausschläge von vornherein klein, so kann man eventuell 
die Stromstöße im Instrument im Takte seiner Eigenschwingungs- 
dauer folgen lassen und dadurch einen größeren Ausschlag erreichen. !) 


143) Spezielleres über diese und ähnliche unter den Namen Multiplikations- 
und Zurückwerfungsmethode bekannten Verfahren findet sich bei W. Weber, Abh. 
d. Sächs. Ges. d. Wiss. I (1846), p. 341, Ges. Werke, Berlin 1893, 3, p. 438 ff. 
Vgl. auch F'. Kohlrausch, Lehrbuch d. prakt. Physik, Leipzig 1905, p. 484. 


(Abgeschlossen Ende 1909.) 


V18. ELEKTROMAGNETISCHE WELLEN. 


Von 
M. ABRAHAM 


IN MAILAND. 





Inhaltsübersicht. 


I. Einleitung. 


1. Die Feldgleichungen und die Grenzbedingungen. 
2. Geschichte und Begrenzung des Gebietes. 


II. Entstehung und Ausbreitung elektrischer Wellen. 


3. Theorie der Entladung eines Kondensators. 
4. Die Hertzsche Lösung der Feldgleichungen. 
5. Superposition Hertzscher Lösungen. 
6. Elektrische Eigenschwingungen. 

a) Allgemeine Sätze. 

b) Orthogonale Koordinaten. 

c) Spezielle Fälle. 
7. Sendeantennen der drahtlosen Telegraphie. 
8. Elektrische Resonanz. 
9. Zerstreuung elektrischer Wellen. 


III. Fortleitung elektrischer Wellen durch Drähte, 


10. Eindringen des Feldes in zylindrische Leiter; Skin-Effekt. 
11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. 
12. Drahtwellen; strenge Theorie. 
a) Einzeldraht. 
b) Kabel und Paralleldrähte. 
13. Reflexion am Ende der Leitung. 


Literatur. 


M. Abraham, Theorie der Elektrizität, 2 Teile, Leipzig 1904/5 bezw. 1907/8. 

M. Brillowin, Propagation de l’electrieite, Paris 1904. 

E. Cohn, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900. 

P. Drude, Physik des Äthers auf elektromagnetischer Grundlage, Stuttgart 1894. 


484 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


J. A. Fleming, The principles of electric wave telegraphy, London 1906. 

O. Heaviside, Electrical papers, 2 vol., London 1892. 

O. Heaviside, Electromagnetie theory, 2 vol., London 1893, 1899. 

H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, Leip- 
zig 1892 = Ges. Werke 2. 

H. Poincare, Les oscillatious @lectriques, Paris 1894. 

J. J. Thomson, Notes on recent researches in electricity and magnetism, Ox- 
ford 1893. 

J. Zenneck, Elektromagnetische Schwingungen und drahtlose Telegraphie, Stutt- 
gart 1905. 


I. Einleitung. 


1. Die Feldgleichungen und die Grenzbedingungen. Die mathe- 
matische Grundlage der Theorie rasch veränderlicher elektromagnetischer 
Felder sind die Hauptgleichungen für ruhende Körper (vgl. Art. V 13, 
Nr. 6): 


Ü) 109 = (+ D), 
(I) rt = — IE. 


Hierzu treten die Beziehungen, welche einerseits die elektrische 
Erregung ® und den Leitungsstrom 3 mit der elektrischen Feld- 
stärke €, andererseits die magnetische Erregung ® mit der magne- 
tischen Feldstärke 59 verknüpfen. Für isotrope Körper, auf welche 
wir uns im folgenden beschränken, lauten diese Beziehungen (vgl. 
Art. V 13, Nr. 81; dort ist auch erwähnt, daß die dritte dieser Be- 


ziehungen nicht allgemein gilt): 
(IT) D=:l, S=ol, Bu. 


Ihre Einführung in (I) und (II) ergibt die Feldgleichungen für ruhende 
isotrope Körper: 


Ü) reg, 
(2) er BETT 


Aus (2) folgt 
0 x 
Fr div us = () y 
d. h. die Dichte des wahren Magnetismus (Art. V 13, Nr. 15) an einem 


gegebenen Orte ändert sich zeitlich nicht. Wir setzen sie im folgenden 
durchweg gleich Null: 


(3) divus — 0. 


2. Geschichte und Begrenzung des Gebietes. 485 


Auch setzen wir in Nichtleitern die Dichte der wahren Elektrizität 
(V 13, Nr. 11) gleich Null: 
(4) dvs&E=0, 


obwohl aus (1) nur folgt, daß für 6—=(0 deren zeitliche Änderung 
verschwindet. 

Es würde sich nämlich, wenn wir jenen Dichten in Isolatoren 
einen von Null verschiedenen Wert zuschreiben würden, ihr zeit- 
lich konstantes Feld dem veränderlichen Felde, welches uns angeht, 
superponieren. Für periodische und gedämpft periodische Schwingungen, 
auch in Leitern, befriedigt übrigens jede Lösung von (1) und (2) gleich- 
zeitig auch (3) und (4). 

Zu den Feldgleichungen treten an Trennungsflächen zweier Körper 
die Grenzbedingungen (Art. V 13, Nr. 6): 


8) Hr Hm; 
(6) &r = Cm, 


für jede in die Tangentialebene der Trennungsfläche fallende Richtung A. 
In einem idealen Grenzfalle jedoch, nämlich wenn einer der an- 
einander grenzenden Körper ein „vollkommener Leiter“, von der Leit- 
fähigkeit 6 —= ©, ist, fällt die Grenzbedingung (5) weg. Hier kann 
nämlich die Flächendichte j des tangentiellen Leitungsstromes einen 
von Null verschiedenen Wert annehmen; mit ihr sind die tangentiellen 
Komponenten der magnetischen Feldstärke in dem angrenzenden Körper 
verknüpft durch: 
@) j— c[nS]. 
(n ist der Einheitsvektor, der die äußere Normalenrichtung der Ober- 
fläche des vollkommenen Leiters anzeigt.) 

In das Innere eines solchen idealen Leiters dringt das elektro- 
magnetische Feld nicht ein. Dementsprechend folgt aus (6), daß die 
zu seiner Oberfläche tangentiellen Komponenten von € in dem an- 
grenzenden Körper gleich Null sind: 


(8) [n&] = 0. 


Bei schnellen elektrischen Schwingungen ist es bisweilen gestattet, 
die metallischen Leiter durch vollkommene zu ersetzen, und an ihrer 
Oberfläche die Grenzbedingung (8) vorzuschreiben. 


2. Geschichte und Begrenzung des Gebietes. Ihre wichtigste 
Anwendung finden die Feldgleichungen für ruhende Körper in der 
Theorie der schnellen elektrischen Schwingungen. Heinrich Hertz, der 
Entdecker dieser Schwingungen, berichtet in der einleitenden Über- 
sicht, die er seinen „Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen 


486 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Kraft") voranschickt, selbst über die Geschichte seiner Versuche. Wie 
er erzählt, war es ein Zufall, der ihn im Jahre 1886 erkennen ließ, 
daß der elektrische Funke unter gewissen Umständen sehr schnelle 
elektrische Schwingungen auszulösen vermag. Der Wichtigkeit dieser 
Entdeckung für die damals noch strittigen Grundlagen der Elektro- 
dynamik sich wohl bewußt, nahm er sofort die experimentelle Prüfung 
der Faraday-Mazxwellschen Theorie in Angriff. Das erst nach manchem 
Irrwege erreichte Ziel war die Bestätigung dieser Theorie. Durch 
seine Hohlspiegelversuche konnte Hertz die Analogie der elektro- 
magnetischen und der Lichtwellen unmittelbar veranschaulichen, und 
so auch diejenigen Physiker, welche damals noch auf dem Boden der 
Fernwirkungstheorie standen, von der Fruchtbarkeit der elektromagne- 
tischen Lichttheorie überzeugen. 

Die Entstehung der elektrischen Schwingungen, ihre Ausbreitung 
im Raume, ihre Fortleitung durch Drähte, das sind die Probleme, 
über deren mathematische Behandlung in diesem Artikel berichtet 
werden soll. Diese Probleme sind insbesondere auch für die drahtlose 
Telegraphie von Bedeutung, um deren Betrieb mittelst Hertzscher 
Wellen sich @. Marconi, F. Braun und A. Slaby verdient gemacht 
haben. 

Es ist einigermaßen schwierig, unser Gebiet einerseits gegen die 
Elektrodynamik langsam veränderlicher Felder, andererseits gegen die 
Optik abzugrenzen. Der prinzipielle Gegensatz der langsamen und 
der schnellen Schwingungen ist darin begründet, daß die Theorie der 
quasistationären Strömung, welche dort gilt, hier meist versagt, daß 
mithin die Integration der Feldgleichungen unumgänglich wird. In- 
dessen werden in der Literatur der schnellen Schwingungen, insbeson- 
dere der drahtlosen Telegraphie, Begriffe wie „Kapazität“ und „Selbst- 
induktion“ vielfach verwandt, ohne daß die Berechtigung zu ihrer 
Anwendung aus den Feldgleichungen abgeleitet wird. 

Während von den schnellsten Hertzschen Schwingungen zu den 
langsamsten Wechselströmen eine kontinuierliche Reihe herstellbarer 
Frequenzen führt, ist es bisher nicht gelungen, die Kluft zu über- 
brücken, welche die Wellen rein elektrischen Ursprungs von denen 
der strahlenden Wärme trennt. Dadurch ist eine Abgrenzung gegen 
das Gebiet der Optik zwar für den Experimentator gegeben, aber 
nicht für den Theoretiker. Dieser braucht, um das elektrodynamische 
Problem zu einem optischen zu machen, nur die Wellenlängen und 


1) H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, 
Leipzig 1892 — Ges. Werke 2. 


8. Theorie der Entladung eines Kondensators. 487 


gleichzeitig die Abmessungen der Körper zu verkleinern. So werden 
wir denn gelegentlich (vgl. Nr.9) auch optische Probleme in den 
Kreis der Erörterungen ziehen. 


II, Entstehung und Ausbreitung elektrischer Wellen. 


3. Theorie der Entladung eines Kondensators. Die von 
W. Thomson?) herrührende Theorie der Entladung eines Kondensators 
durch einen Schließungsdraht beruht auf den folgenden Voraussetzungen: 
a) Das elektrische Feld kann durch das elektrostatische Feld der 


Kondensatorbelegungen ersetzt werden, dessen Energie ist: 
(9) U=-——=-Kg? 


(+ e Ladung der Belegungen des Kondensators, $ Spannung, K Kapa- 
zität des Kondensators). 

b) Die Kapazität des Schließungskreises ist gegen diejenige des 
Kondensators zu vernachlässigen, so daß die Stromstärke 


de dp 
(10) J-—- 4 Kl 


für alle Querschnitte des Schließungsdrahtes die gleiche ist. 

c) Das magnetische Feld ist dasjenige eines stationären Stromes, 
von der magnetischen Energie: 
(11) en 


ZI? 
2 c 
(L Selbstinduktionskoeffizient des Schließungskreises). 

d) Der Strom J verteilt sich gleichförmig über den Querschnitt, 
so daß die Joulesche Wärmeentwickelung durch den Gleichstrom- 


widerstand R bestimmt ist: 


(12) Q= RJ®. 
Auf Grund dieser Voraussetzungen ergibt die Energiegleichung: 
d 
(13) Gerz FE 


für den zeitlichen Verlauf der Kondensatorentladung die Differential- 
gleichung: 

1l,. . gi 

4L5 + RE +20 
oder 


(14) +25 + +0, 


2) W. Thomson, Phil. Mag. (4) 5 (1853), p. 393 = Math. and phys. papers 1, 
p. 540. 


488 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


wobei abkürzungsweise gesetzt ist: 


; c? 1 R?’ct Re? 
(14a) y? a ARE TE ES I? , e= IT: 
Man erhält zwei partikuläre Integrale von (14): 
(15) | 9, = chf, 9%= ehat, 
k=—-I+ri, kh=—ds—oi, 
und hat demgemäß folgende Fälle zu unterscheiden: 
(A) R>2VZ, »<0, AK,undk, reell; 


in diesem Falle stellt das allgemeine Integral 
(15a) gyo= a, ehıt - a,eh! 


eine aperiodische Entladung dar. 
@  R<2VZ, »*>0, A, und A, konjugiert komplex; 


der reelle Teil des allgemeinen Integrals: 
(15b) p= ae°'sin(vt + «) 


stellt hier eine periodische Entladung dar, von der Frequenz v/2 
und der Dämpfungskonstanten 6. Liegt insbesondere der Widerstand 
R soweit unter dem kritischen Werte, daß es zulässig ist, R? gegen 


FE zu vernachlässigen, so gilt nach (14a) für die Schwingungsdauer 


t der oszillatorischen Entladung die „ BE Formel“: 
(156) = —""YVLK. 


Vv 

Eine Lücke der Thomsonschen Theorie gibt sich dadurch kund, 
daß diese Theorie nur die Grundschwingung des Systems liefert. 
Diese Lücke hat @. Körchhoff?) auszufüllen gesucht; indem er die Kapa- 
zität des Schließungskreises berücksichtigte, berechnete er nicht nur 
die Frequenz der Grundschwingung genauer, sondern auch die Frequenzen 
der Oberschwingungen. Seine auf der Fernwirkungstheorie fußenden 
Entwiekelungen beanspruchten für beliebige Form des Schließungs- 
drahtes Gültigkeit; vom Standpunkte der Maxwellschen Theorie aus 
jedoch können wir ihre Gültigkeit nur für gewisse spezielle Formen 
der Drahtleitung als erwiesen betrachten (vgl. Nr. 13). — Über die 
Gültigkeit der Voraussetzung (d) der Thomsonschen Theorie vgl. man 
Nr. 10. 

Die Thomson-Kirchhoffsche Theorie gibt zwar eine Vorstellung 





3) @. Kirchhoff, Ann. d. Phys. 121 (1864), p. 551 = Ges. Abh., p. 168. 


4. Die Hertzsche Lösung der Feldgleichungen. 489 


von dem Verlaufe der elektrischen Schwingung im Entladungskreise, 
sie erklärt jedoch nicht die Ausbreitung der elektromagnetischen Wellen 


in dem umgebenden Raum und die hiermit verknüpfte Dämpfung 
durch Strahlung (vgl. Nr. 5). 


4. Die Hertzsche Lösung der Feldgleichungen. In dem von 
wägbarer Materie leeren Raume lauten die Feidgleichungen (1—4): 


19€ 
(16a) FE 
1 09 h 
(16b) un FE THE —=.rot E, 
(16e) dive—=ß0, 
(16d) divH—=0. 


Eine Lösung dieser Gleichungen, welche die Ausbreitung elektro- 
magnetischer Wellen von einem Schwingungszentrum aus darstellt, ist 
von H. Hertz‘) angegeben worden. Er befriedigt (16a, ce, d) durch 
den Ansatz 


HM oT Mm , &®m 
A) Eee Gene bet) 
1:9 CH 
1b) am Ann 9° 


Durch diesen Ansatz wird auch (16b) genügt, wenn IT, die so- 
genannte „Hertzsche Funktion“, ein Integral der partiellen Differential- 
gleichung ist: 

10m 0°II ol 0°II 
(17e) a mat mtr 

Ein überall, ausgenommen den Koordinatenursprung, endliches 

Integral dieser Differentialgleichung ist 


ve Sn: 


dr 
Es stellt Wellen dar, die sich vom Koordinatenursprung aus nach allen 
Seiten hin in den Raum ausbreiten. Aus der zunächst willkürlichen 


Funktion f (t — 2) leitet sich das elektromagnetische Feld, gemäß 
(17a, D) folgendermaßen ab: 


$, fl — 2) 3 af (t— =) Tr 4m c® at 5)» 
no) 10, url + rl) 4 are) 
ne re) Tr el), 


4) H. Hertz, Ann. d. Phys. 36 (1888), p. 1 = Ges. Werke 2, p. 147. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 32 

















490 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


9.27 ion (€ =) Ben ren I 
aBb) 18, te ET)» 
8,—=0. 


Bei der Annäherung an den Koordinatenursprung wird das elek- 
trische Feld mit demjenigen eines der z-Achse parallelen Dipoles, vom 
Moment f(t), identisch, das magnetische Feld mit demjenigen eines 
Stromelementes, welches der zeitlichen Änderung des Momentes jenes 
elektrischen Dipoles entspricht. Ist das Moment eines solchen Dipoles 
als Funktion der Zeit gegeben, so bestimmen (18a, b) sein elektro- 
magnetisches Feld. Dasselbe besitzt Rotationssymmetrie um die z- 
Achse; die elektrische Feldstärke liegt in den Meridianebenen, während 
die magnetische Feldstärke senkrecht zu ihnen gerichtet ist. In großen 
Entfernungen r vom Erregungszentrum, wo die letzten Terme in 
(18a, b) maßgebend sind, stehen beide Vektoren senkrecht zum Radius- 
vektor, und sind dem Betrage nach einander gleich; es ist hier: 


(18e) E-191- er “]: 


In dieser Kugelwelle sind demnach die Feldstärken dem Sinus der 
Poldistanz ® proportional; sie nehmen bei der Ausbreitung der Kugel- 
welle im umgekehrten Verhältnis des Kugelradius ab, so daß die 
Welle durch zwei konzentrische Kugeln die gleiche Energiemenge 
hindurchführt. Nach dem Poyntingschen Satze (Art. V 13, Nr. 22) be- 
rechnet sich die in der Sekunde in den Raum hinausgesandte Energie- 
menge zu 


(184) Fe}: 


Betrachtet man II als Funktion von g=Ya?+ y?, 2 und i, 
und setzt 


1) 0 ler) +32); 


so kann man die allgemeinen Ausdrücke (18a) der elektrischen Kom- 
ponenten einfacher schreiben‘®): 


189 BE, 
(19a) g, = < de’ A 


Hieraus folgt, daß für einen gegebenen Zeitpunkt it, die Gleichung 
der elektrischen Kraftlinien ist: 


(19b) Q(e, 2, t,) = constans. 











4. Die Hertzsche Lösung der Feldgleichungen. 491 


Unter Annahme eines periodisch wechselnden Momentes f(?) sind 
von Hertz selbst die Kraftlinienbilder gezeichnet und diskutiert*)?) 
worden. Da aber die Schwingungsamplituden, falls keine Energie 
nachgeliefert wird, infolge der Strahlung abnehmen müssen, so wird 
eher der Ansatz zutreffen 


fe) = a-e°'sin(vi); 


diesen Ansatz haben K. Pearson und A. Lee®) der Zeichnung der 
Kraftlinien zugrunde gelegt. Nimmt man jedoch, entsprechend der 
Auslösung der Schwingungen des Hertzschen Erregers durch den 
elektrischen Funken, an, daß zur Zeit = (0 die gedämpfte Schwingung 
beginnt, so hat man zu setzen 


(20) lane rö=f0%), r$d=9, 

t>0: fl) = a-e”°'sin(vt + eo). 
Bis zur Zeit = 0 besteht dann im ganzen Raume ein elektrostatisches 
Feld. Dann geht vom Erregungszentrum eine elektromagnetische 
Störung aus, die zur Zeit £ in eine Kugel vom Radius (ct) eingeschlossen 
ist. Auf dieser Kugel dürfen die — durch (18a, b) bestimmten — 
Feldstärken nicht unendlich werden; daher müssen f(t) und f’(t) so 
gewählt werden, daß sie für = stetig sind, d. h. gemäß den Be- 
dingungen’): 
(20a) a-sine=f(0), cotg « —°. 


Es bleibt jedoch f”(t) für = 0 unstetig, das gestörte Feld ist dem- 
nach von dem ungestörten durch eine Unstetigkeitsfläche der Feld- 
komponenten getrennt, die mit Lichtgeschwindigkeit in den Raum 
hinauseilt’?). 

Kann man in diesem Sinne behaupten, daß die elektromagnetische 
Störung sich mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzt, so gilt für die 
Phasen der hier betrachteten Kugelwellen nicht das Gleiche. Die 
Geschwindigkeit, mit der eine Phase der Schwingung sich fortpflanzt, 
kann sehr wohl größer als c, ja sogar unendlich werden. Sind doch 
nach (18a, b) die Wellenphasen in der Nachbarschaft des Schwingungs- 
zentrums durch f(t) bzw. f’(t), in großen Entfernungen dagegen durch 


f 


ii (t — 2) bestimmt. Durch die im Vergleiche mit ebenen Wellen 


c 
anomale Art der Fortpflanzung gewinnt die Phase der elektrischen 


Kraft im ganzen x, diejenige der magnetischen Kraft 5; bei Versuchen 


5) Siehe auch M. Brillouin, Propagation de l’Electricite, p. 294. 
6) K. Pearson und A. Lee, Phil. Trans. A. 193 (1900), p. 159. 
7) A. E. H. Love, Roy. Soc. Proc. 74 (1904), p. 73. 

32* 


492 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


über die Interferenz von Luftwellen und Drahtwellen ist dieser Um- 
stand zu beachten '®). 

HA. Hertzbeabsichtigtedurch diegegebene Lösung der Feldgleichungen 
das Feld seines „Erregers“ darzustellen. Dieser bestand aus einem 
geraden, in der Mitte durch die Funkenstrecke unterbrochenen Draht 
von 150 cm Länge, der in zwei Kugeln von je 30 cm Durchmesser 
mündete. Wenngleich die Hertzsche Lösung manche Seite des Vor- 
ganges zutreffend beschreibt, so sind doch die Voraussetzungen der 
Theorie bei diesem Erreger keineswegs erfüllt. Nach der Theorie 
müßte sich in Entfernungen, die klein gegen die Wellenlänge sind, 
der Erreger als elektrischer Dipol darstellen. Der Abstand der jeweils 
entgegengesetzt geladenen Kugeln des Erregers voneinander müßte 
demnach klein gegen die Entfernung r eines Aufpunktes sein, die selbst 
wieder klein gegen die Wellenlänge ist. In Wirklichkeit aber war 
die gemessene Wellenlänge der Eigenschwingungen gleich 750 cm, 
also nur gleich der fünffachen Drahtlänge. 

Die Hertzsche Theorie des Erregers ist auch insofern unbefriedigend, 
als sie die Wellenlänge der Eigenschwingung unbestimmt läßt, während 
diese in Wirklichkeit durch die Abmessungen des Erregers bestimmt 
ist. Von einer vollständigen Theorie des Erregers wird zu verlangen 
sein, daß sie ebensowohl Frequenzen und Dämpfungsdekremente der 
Eigenschwingungen bestimmt, wie ihr elektromagnetisches Feld. 


5. Superposition Hertzscher Lösungen. Dennoch ist die Hertz- 
sche Lösung für die Theorie der elektrischen Wellen von ebenso 
grundlegender Bedeutung, wie es die Lösung e/4xr der Laplaceschen 
Gleichung für die Potentialtheorie ist. Durch Superposition Hertz- 
scher Dipole kann man nämlich allgemeinere Lösungen der Feld- 
gleichungen erhalten, mit deren Hilfe man das von veränderlichen 
Leitungsströmen erregte Feld darzustellen vermag. 

Zunächst kann man die Beschränkung hinsichtlich der Richtung 
der Achse des Dipols fallen lassen, indem man das Formelsystem 
(17 a—c) vektoriell verallgemeinert?). Die Hertzsche Funktion IT 


7®) Lösungen der Feldgleichungen, welche periodischen, von n-fachen Polen 
ausgehenden Störungen entsprechen, sonst aber der Hertzschen Lösung analog 
sind, hat H. A. Rowland schon vor Hertz aufgestellt und namentlich auf 
optische Phänomene angewandt. Vgl. Amer. J. of math. 6, p. 3569 und Phil. 
Mag. 17 (1884), p. 423. 

8) Vgl. M. Abraham, Theorie der Elektrizität 2, p. 56, 62. Man beachte, 
daß dieser Vektor die beiden Potentiale der Elektronentheorie (vgl. Art. Lorentz 
V14, Nr. 4), das skalare p und das vektorielle a, passend zusammenfaßt. Die 
zwischen ihnen bestehende Relation (V 14 Gl. (2) diva=—-g/e wird identisch 


5. Superposition Hertzscher Lösungen. 493 


erscheint dann als z-Komponente des „Hertzschen Vektors“ 3, aus dem 
die Feldstärken €, 9 sich folgendermaßen ableiten: 





ZE 1 0°8 
1 dr0tß 
(21b) 9-18. 


Dies ist ein Lösungssystem der Feldgleichungen (16 a—d), falls 
der Hertzsche Vektor der partiellen Differentialgleichung genügt 
“@le) FB — Ag — grad div 3— rot rot 3. 


Ihr als Verallgemeinerung von (18) anzusprechendes Integral 


(214) ET 


entspricht einem im Koordinatensprung befindlichen Dipol von dem 
jeweils beliebig gerichteten Momente p(t). Die zeitliche Anderung 
dieses Vektors 


(21e) v()—= I)ds 


ist einem Stromelemente äquivalent. 

Hat man es mit zeitlich rasch veränderlichen Strömen zu tun, 
die in linearen Leitern fließen, so kann man, falls die Stromstärke 
J(t) in den Elementen ds$ der Leitungsdrähte bekannt ist, das im 
Raume erregte elektromagnetische Feld durch Superposition der 
Felder der einzelnen Stromelemente berechnen?). Herrscht bis zur 
Zeit t=0, wo die elektrischen Ströme zu fließen beginnen, das 
elektrostatische Feld &,, so setze man 


(22) 3= I Iyat. 


In Entfernungen von den Leitern, die groß gegen ihre Quer- 
schnittsabmessungen sind, erhält man als Feldstärken der elektro- 
magnetischen Störung: 





s 10°8 
(22a) E — &, = grad div 3 — Fan 
__. 19108 
es ern 
befriedigt, wenn man setzt 9 —div$, a—=}/e, und es erweisen sich darauf- 


hin die Felddarstellungen (IX), (X) der Elektronentheorie (V 14, p. 157) als gleich- 
lautend mit den obigen Gl. (21a), (21b). 
9) M. Abraham, Theorie der Elektrizität 2, p. 286— 296. 


494 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Für einen einzelnen Schwingungskreis, dessen Abmessnngen klein 
sind, sowohl gegen die Wellenlänge, als auch gegen die Entfernung 
des Aufpunktes, und dessen Stromstärke J für alle Querschnitte des 
Lsitungsdrahtes jeweils die gleiche ist, geht der allgemeine Ausdruck 
(22) des Hertzschen Vektors wiederum in den spezielleren (21d) über, 
wobei aber statt (21e) 


(22) v() = At)fas 


zu setzen ist; es geht mithin hier die Vektorsumme aller Leiterele- 
mente ein. 

Die Formeln (22c, 21d) kann man auf die Theorie der Ent- 
ladung eines ebenen Kondensators anwenden, falls die Voraussetzung 
(b) der Thomsonschen Theorie (vgl. Nr. 3) erfüllt ist. Der Vektor p 
ist dann mit dem elektrischen Momente der Kondensatorbelegungen 
identisch’). Das elektromagnetische Feld ist dasjenige eines Hertz- 
schen Dipols, wenigstens in Entfernungen, die groß gegen die Ab- 
messungen des Schwingungskreises sind. 

Dieses Ergebnis, im Verein mit dem für die Strahlung eines 
Hertzschen Dipols geltenden Ausdruck (18d), gestatten es, die Thom- 
sonsche Theorie der Kondensatorentladung mit Rücksicht auf die 
Strahlungsdämpfung zu korrigieren. Betrachtet man, was in erster 
Annäherung erlaubt ist, die Schwingungen der oszillatorischen Ent- 
ladung als rein periodische, so wird der Mittelwert ihrer Energie 


— I; _ 1-73 
u ha Fr 
(d ist der Abstand der Kondensatorbelegungen). 
Aus (18d) ergibt sich der relative Energieverlust in der Sekunde, 
nfolge der Strahlung: 
"8 d? f@* = d!»? : 
29 — 6zcL FÜ! G6ucL’ 





dabei hat ö die Bedeutung der Dämpfungskonstanten der Schwingungs- 
amplituden; das logarithmische Dekrement der Strahlungsdämpfung''°) 
wird mit Rücksicht auf (15c) 

2n _d’v SE 


(224) hiende. Bee damert; 2 ee 





10) M. Planck, Berlin Ber. 1896, p. 151; Physik. Zeitschr. 2 (1901), p. 530, 
leitet für einen, als Hertzschen Dipol aufzufassenden Oszillator eine Schwingungs- 
gleichung ab. Vgl. auch M. Planck, Vorlesungen über die Theorie der Wärme- 
strahlung, Leipzig 1906, p. 100 ff. Die Schwingungen zweier strahlender Dipole 
behandelt, unter Berücksichtigung ihrer Wechselwirkung, V. W. Ekman, Archiv 
f. Mat., Astr. och Fysik 3 (1907). 


5. Superposition Hertzscher Lösungen. 495 


Im Grenzfalle eines vollkommen geschlossenen Kreises ver- 
schwindet die in (22c) eingehende Vektorsumme aller Stromelemente. 
Es ist demnach die Strahlung eines geschlossenen Kreises gleich null, 
wofern die jener Formel zugrunde liegenden Voraussetzungen zu- 
treffen; dieselben verlangen in allen Querschnitten jeweils gleiche 
Stromstärke und Abmessungen des Kreises, die klein gegen die 
Wellenlänge sind. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, so kann 
auch der geschlossene Kreis Wellen von endlicher Energie entsenden. 
Das Feld dieser Wellen ist durch den Ausdruck (22) für den Hertz- 
schen Vektor bestimmt; dieser Ausdruck zieht in den einzelnen Leiter- 
elementen verschiedene Stromstärken in Betracht, sowie auch die 
verschiedenen Phasen, mit denen die von ihnen entsandten Beiträge 
im Aufpunkte eintreffen können. Ein Beispiel für die Anwendung 
von (22) auf ungeschlossene Ströme bieten die Antennen der draht- 
losen Telegraphie dar!*) (vgl. Nr. 7). 

Streng genommen ist allerdings die Stromverteilung längs linearer 
Leiter nicht als bekannt zu betrachten, sondern es ist eben die Auf- 
gabe der Theorie, sie aus den Feldgleichungen und den Grenzbe- 
dingungen (vgl. Nr. 1) zu ermitteln. Von H. €. Pocklington‘”) ist ge- 
zeigt worden, daß es für gewisse Formen vollkommen leitender 
Drähte (den zum Kreisring gebogenen und den schraubenförmig ge- 
wundenen) möglich ist, durch Aneinanderreihung Hertzscher Dipole 
auf der Drahtachse der Grenzbedingung (8) auf der Drahtoberfläche 
Genüge zu leisten und ihr die Stromverteilung bzw. die Schwingungs- 
frequenz anzupassen. 

Man kann auch daran denken"), die Stromverteilung an der 
Oberfläche räumlich ausgedehnter vollkommener Leiter zu ermitteln, 
indem man Hertzsche Dipole längs ihrer Oberfläche zunächst will- 
kürlich verteilt und dann nachträglich ihre Verteilung der Grenz- 
bedingung (8) anzupassen sucht. Doch wird nur selten dieses 
Verfahren zum Ziele führen. Wie bei dem analogen elektrostatischen 
Probleme der Elektrizitätsverteilung auf einem Leiter, wird es sich 
in den meisten Fällen als erfolgreicher erweisen, auf die Feldglei- 
chungen zurückzugehen, und ihre Integration, mit Rücksicht auf die 
gestellten Grenzbedingungen, direkt in Angriff zu nehmen. 


6. Elektrische Eigenschwingungen. Im Innern eines homogenen 
isotropen Isolators gelten die Feldgleichungen (1, 2): 


11) M. Abraham, Physik. Zeitschr. 2 (1901), p. 329; Theorie der Elektrizität 
2, p. 297—307. 

12) H. C. Pocklington, Cambr. Phil. Soc. Proc. 9 (1897), p. 324. 

13) H. Poincare, Paris C. R. 113 (1891), p. 515.; Osecill. @l. p. 79. 


496 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


soeE vos 
(23) wor rot 9, SR Dt = rot &. 


Ist der Isolator in eine vollkommen leitende Hülle eingeschlossen, 
so gilt an seiner Oberfläche die Grenzbedingung (8): 


(23a) [n&] = 0. 


Die Eigenschwingungen eines solchen abgeschlossenen Systems 
müssen, wegen der fehlenden Wärmeentwicklung, ungedämpft sein. 
Es zeigt sich bei jeder Eigenschwingung eines solchen Systems, daß 
die elektrische Feldstärke € im ganzen Felde in derselben Phase 
schwingt, und daß 9 gegen € überall die Phasendifferenz =/2 besitzt!?). 
Diese elektromagnetischen Eigenschwingungen lassen sich, ebenso wie 
die analogen akustischen, mit einem Minimaltheorem in Verbindung 
bringen !%). 

Größeres Interesse als die Schwingungen eines abgeschlossenen 
Bereiches besitzen die Eigenschwingungen eines Raumes, der nach 
außen hin unbegrenzt ist, nach innen aber an die Oberfläche eines 
vollkommenen Leiters grenzt. Die Eigenschwingungen eines solchen 
offenen Systems — eines idealisierten Hertzschen Erregers — sind 
trotz der fehlenden Wärmeentwicklung stets gedämpft, weil die in den 
Raum hinauseilenden Wellen elektromagnetische Energie fortführen. 
Die entsprechenden Lösungen von (23, 23a) sind gleichfalls mit einem 
Minimaltheorem verknüpft®?). 


6a. Allgemeine Sätze. Wir wollen das gegebene System & mit 
einem ihm geometrisch ähnlichen Systeme &” vergleichen. Die Ko- 
ordinaten einander zugeordneter Punkte in & und 2%’, insbesondere 
der Leiteroberflächen, mögen sich folgendermaßen entsprechen: 

(24) week. y hy, se kei. 

An Stelle des durch die Konstanten e, u gekennzeichneten Isolators 
in 2 soll in 2” der von wägbarer Materie leere Raum treten. Die 
hier geltenden Feldgleichungen schreiben wir: 

(25) Er, — Er €. 

Man nehme ein Lösungssystem €, 5° dieser Feldgleichungen, 
welches «°, y', 2’, zu Unabhängigen hat, als bekannt an; dasselbe 
mag an der Leiteroberfläche der (234) entsprechenden Grenzbedingung 
genügen: 

(25a) [n’&] = 0. 


14) H. Poincare, Arch. de Geneve 25 (1891), p. 5; El. et optique 1. &d., p. 235. 
15) F. Hasenöhrl, Physik. Zeitschr. 7 (1906), p. 87. 


2 Aa 


6a. Allgemeine Sätze 497 


Ihm ordnet sich ein Lösungssystem von (23, 23a) zu: 
(25b) E=-M-Eyu, = M-&V;:, 


wofern man entsprechende Zeiten t, ? in Z, 2” aufeinander folgen- 
dermaßen bezieht: 


(25e) t—= kt Veu. 


Ist &’ ein offenes System, so ist auch & ein solches. Besitzt 
das Feld &, $ in großen Entfernungen vom Leiter den Charakter 
einer nach außen hin eilenden Welle, so gilt das Gleiche für das 
durch (25b) bestimmte Feld €, 9. Es hat M die Bedeutung eines 
von den Erregungsbedingungen abhängigen Faktors. 

Entsprechende Zeiten sind insbesondere die Schwingungsperioden 
t, 7 zweier einander entsprechender Eigenschwingungen in & und 2”. 
Gemäß (25e) ist: 

(25) 7— kr'Yeu. 


Die Schwingungsdauer jeder der Eigenschwingungen ist demnach 
proportional den Längsabmessungen von 2, ferner der Wurzel aus 
der Dielektrizitätskonstante und aus der magnetischen Permeabilität 
des Isolators!®). Da die Geschwindigkeiten ebener Wellen in & und 
&’ in dem Verhältnis 1:Yeu stehen, so ergibt (25d) für die Wellen- 
längen A, A’ die Beziehung 

(25e) Kehl. 


Die Wellenlänge der Eigenschwingungen ist den Längsabmessungen 
des Systems proportional; sie ist, wenn sie in demselben Medium 
gemessen wird, in welchem die Schwingungen entstehen, von dessen 
Konstanten &, u unabhängig"). 

Aus (25b) leitet man ferner ab, daß die logarithmischen Dekre- 
mente zweier einander entsprechender Eigenschwingungen in & und &’ 
die gleichen sind’). 

Der in (25d) enthaltene Satz über die Schwingungsperioden 
zweier geometrisch ähnlicher Systeme ermöglicht es, die Eigenschwin- 
gungen eines Systemes an einem im verkleinerten Maßstabe ausge- 
führten Modell zu studieren. So hat P. Drude!") experimentell die Ab- 
hängigkeit der Eigenschwingungen kleiner Spulen von deren Parametern 
untersucht. Mit Hilfe des obigen Satzes kann man auf Grund dieser 
Messungen auch die Schwingungsperioden größerer Spulen angeben. 


16) M. Abraham, Ann. d. Phys. 66 (1898), p. 435. 
17) P. Drude, Ann. d. Phys. 9 (1902), p. 2983. 


498 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


6b. Orthogonale Koordinaten. Um wenigstens für einige Leiter- 
formen die elektrischen Eigenschwingungen zu berechnen, wendet man 
allgemeine orthogonale Koordinaten an (Art. IV 14, Nr. 20); durch 
diese drückt sich das Quadrat der Länge eines Linienelementes fol- 
gendermaßen aus: 
(26) ES Re RL RE A 

Auf Grund der Darstellung der Rotation (des curl) durch allge- 
meine orthogonale Koordinaten (Art. IV 14, G1. 41) kann man die 
Feldgleichungen für den leeren Raum schreiben '®): 











El ). 
taten); 
ai): 
ee) 

(26b) Tee 
re 109] 


Gelingt es, die Parameter («, ß, y) der drei orthogonalen Flächen- 
scharen so zu wählen, daß die Leiteroberfläche einer der drei Scharen 
angehört, etwa durch «= «, dargestellt wird, so verlangt die Grenz- 
bedingung (23a): 

(26) ,=0,€&,=0 für ao, 


Ist eine Lösung von (26a—c) gefunden, so ist es leicht, sie auf 
Grund der oben abgeleiteten Sätze auf den Fall zu übertragen, daß 
der vollkommene Leiter in einen beliebigen, homogenen, isotropen 
Isolator eingebettet ist. 

Die Gleichungen (26a—c) vereinfachen sich beträchtlich, wenn 
der Leiter und sein Feld Rotationssymmetrie besitzen. Man kann 
dann unter y den Parameter von Halbebenen verstehen, die durch die 
Symmetrieachse gelegt sind, etwa den Winkel, den eine solche Halb- 
ebene mit einer anderen, festen, einschließt. Dann erhält (26) die 
Form 


(27) a + + ar 


2 Ja a Du 


6b. Orthogonale Koordinaten. 499 


h,, h,, und , = n der reziproke Abstand von der Symmetrieachse, 


hängen jetzt, ebenso wie die Feldkomponenten, nur noch von («, ß) 
ab. Infolge dessen zerfallen die Differentialgleichungen (26a, b) für 
das axial-symmetrische Feld in zwei voneinander unabhängige Gruppen, 
einerseits E,, E,, Ö,, andererseits $,, Ö,, E,. Die Gleichungen der 
ersten Gruppe sind: 


ı0&, 12 
a7) a u 9): 

N SCH AR, 

a he 

1 08, g, 0 (& 
(27b) re ee, bass el 
(27e) E,=0 für. 


Diese Gruppe, bei welcher die elektrischen Kraftlinien in den 
Ebenen y = const. liegen, besitzt wegen ihrer Anwendung auf den 
Hertzschen Erreger ein größeres Interesse, als die zweite Gruppe. Es 
ist zweckmäßig, der weiteren Behandlung eine Hilfsfunktion Q(«, ß, £) 
zugrunde zu legen, aus der sich die Feldstärken folgendermaßen ab- 
leiten: 


_ 09 ur 380 
(28) en 
.,3.0Q0 
(28a) go H 


Hierdurch sind die Gl. (27a) identisch erfüllt; (27b) nimmt die 


Form an: 


120 8 /h, 0Q E73 
a) hl (ya leiae) + 28 len) 
während die Grenzbedingung (27e) verlangt: 

0 
(28e) ().-. =(0. 


Die Funktion @ ist eine Verallgemeinerung der von H. Hertz 
zur Darstellung der elektrischen Kraftlinien angewandten (vgl. Nr. 4); 
es gehen in der Tat die Gleichungen (19a) aus (28) durch Einfüh- 
rung von Zylinderkoordinaten hervor. Die Gleichung der elektrischen 
Kraftlinien, die dort durch (19b) gegeben war, lautet in dem hier 
betrachteten allgemeineren Falle gemäß (28) für eine gegebene Zeit £,: 


(28d) Q(«, ß, t,) = constans. 
Aus der Grenzbedingung (28c) kann man ableiten‘), daß von 


18) M. Abraham, Ann. d. Phys. 67 (1899), p. 834. 


500 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


der Oberfläche des vollkommenen Leiters aus die Phasen der ge- 
dämpft periodischen Eigenschwingungen mit unendlicher Geschwindig- 
keit ihren Weg in den Raum beginnen. Mit wachsender Entfernung 
von dem Leiter muß sich ihre Geschwindigkeit asymptotisch der 
Lichtgeschwindigkeit nähern. 

Wir gehen jetzt dazu über, für spezielle Formen der Leiterober- 
fläche die Eigenschwingungen zu berechnen. 


6c. Spezielle Fälle. Die Eigenschwingungen des Außenraumes 
einer vollkommen leitenden Kugel hat J. J. Thomson'”) untersucht. 
Bei Einführung räumlicher Polarkoordinaten (r, ®, y) wird 
1 H 1 
hl, ne; he 


e rsin®? 
und es nimmt die partielle Differentialgleichung (28b) die Form an: 
190 980, sn#d/ı10 
(29) et le) 

Die durch (28, 28a) bestimmten Feldstärken dürfen auf der 
Symmetrieachse (oe = 0) des Feldes nicht unendlich werden. Dieser 
Bedingung entsprechende komplexe Partikularlösungen von (29) er- 
hält man, wenn man setzt: 

(29a) Q,= e ”*.8,(p,r)- sin?® - P, (cos 9). 


Hier ist unter P,(cos 9) die zonale Kugelfunktion n‘® Ordnung 
zu verstehen, während S, als Funktion seines Argumentes 2 = p,r 
der mit der Besselschen verwandten Differentialgleichung zu genügen 
hat: 


(29%) 8,147) =0. 


Die gesuchte Lösung soll für große Werte von r nach außen hin 
forteilenden Kugelwellen entsprechen. Um dieser Bedingung zu ge- 
nügen, wählt man das folgende Integral von (29b) aus: 


(29e) S,= ar (l u (—): 


Die Grenzbedingung (28c), angewandt auf eine Kugel vom 
Radius a, ergibt 





(29d) S5,(@)= 0 für z=p,a. 
Hieraus bestimmen sich die „Eigenwerte“ p, der komplexen Konstanten 
FR 


19) J. J. Thomson, Lond. math. soc. Proc. 15 (1884), p. 197; Rec. res. p. 361. 


6c. Spezielle Fälle. 501 


und damit die Wellenlängen A, und die Strahlungsdekremente 6, der 
Eigensehwingungen. 
Für n=1 folgt aus (29e, d): 


, : 1 1 4 
(29f) S,.(&)= ed BEZUE =) —=(0 für pa: 


Hieraus resultiert für p, eine quadratische Gleiehung, aus deren kon- 
jugiert komplexen Wurzeln man nach (29e) findet 
(29g) Am, un 

In ganz entsprechender Weise ergibt sich für p, eine Gleichung 
(n + 1)” Grades. Diese Gleichung besitzt für gerade n, außer den 
konjugiert. komplexen Wurzeln, mindestens eine reelle. Obwohl diese 
letztere einen aperiodisch gedämpften Vorgang darstellt, so ist sie 
doch mit heranzuziehen, wenn man das Abklingen eines mit der 
Kugelfunktion »'* Ordnung verknüpften elektrostatischen Anfangszu- 
standes verfolgt). 

Den Fall einer vollkommen leitenden, von einer konzentrischen 
dielektrischen Schicht umhüllten Kugel hat A. Lampa°*) erledigt. 
F. Kolagek??) hat allgemein die Eigenschwingungen einer isolierenden, 
oder auch leitenden, Kugel untersucht. Die Eigenschwingungen der 
dielektrischen Schicht eines Kugelkondensators behandeln J. J. Thom- 
son”) und J. Larmor*). Der letztere geht auch auf die Eigen- 
schwingungen des ebenen und des zylindrischen Kondensators ein*). 

Die Untersuchung der Eigenschwingungen vollkommen leitender 
Zylinder führt auf Zylinderfunktionen, und zwar auf solche erster 
oder zweiter Art, je nachdem es sich um den Innenraum) oder um 
den Außenraum®®) handelt. Die Eigenschwingungen des Innenraumes 
haben J. J. Thomson”), Lord Rayleigh?") und R. H. Weber?) behandelt. 
In der letztgenannten Arbeit kommt eine von H. Weber?”) her- 
rührende Methode zur Verwendung, welche die beiden Feldgleichungen 
in eine einzige, für einen komplexen Vektor geltende Feldgleichung 





20) A. E. H. Love, Lond. math. soc. Proc. (2) 2 (1904), p. 88. 

21) A. Lampa, Wien Ber. 112 (1903), p. 37. 

22) F. Kolagek, Ann. d. Phys. 58 (1896), p. 271. 

23) J. J. Thomson, Rec. res., p. 373 ff. 

24) J. Larmor, Lond. math. Soc. Proc. 26 (1894), p. 119. 

25) J. J. Thomson, Rec. res., p. 344. 

26) J. J. Thomson, Rec. res., p. 347. 

27) Rayleigh, Phil. Mag. 43 (1897), p. 125. 

28) R. H. Weber, Ann. d. Phys. 8 (1902), p. 721. 

29) Riemann- Weber, D. part. Diffgl. d. math. Physik. 2 (1901), p. 348. 


502 Vı18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


zusammenzieht. Mit Hilfe derselben Methode erledigt A. Kalähne®®) 
den Fall einer zum Kreisring gebogenen Röhre von rechteckigem 
Querschnitt, der gleichfalls auf Besselsche Funktionen führt. 

Die Theorie der Eigenschwingungen eines gestreckten, vollkommen 
leitenden Rotationsellipsoids ist von M. Abraham?) entwickelt worden. 
Wählt man als Längeneinheit den halben Abstand der Brennpunkte 
und versteht unter «, ß die Parameter konfokaler Rotationsellipsoide 
bzw. Hyperboloide, so hat man zu setzen 


re TIER 
e=Ve@—1)1—P), = VE: = Ve: 
so daß (28b) die Form erhält 





I ENTRY N 











Man kann auch in diesem Falle komplexe Partikularlösungen in 
Form von Produkten ansetzen: 
nSa<o, 


8)  Q=ere. He), |_% <B<+1, 


deren Faktoren H,(«e), E,(ß) dann Integrale der gewöhnlichen Diffe- 


rentialgleichungen sein müssen: 
k 


(30b) H,'(@) + H,(e) (— 92 + 4) = 0, 





& 


(306) Ed) + EB) (+ 7) 0. 


k, und p, sind noch zu bestimmende Konstanten; p, ist durch 
(29e) mit den Wellenlängen und Dämpfungsdekrementen der Eigen- 
schwingungen verknüpft. Gemäß (28, 28a) werden die Felder der 
Eigenschwingungen dargestellt durch die reellen Teile der komplexen 
Ausdrücke: 





& —- ePnet, _H.(e): E,(M)_ 
e Vei—i)@— N)’ 
H, (@) 5 E, (P) 

















E, = — met, 
. 1.27... Vale’ 
RER GEN —Pnet, H,(e)- E,(ß) 3 
er en 


Da die Feldkomponenten auf den durch ß=-+1 gegebenen 
Stücken der Symmetrieachse nicht unendlich werden dürfen, so muß 
E,(ß) für $—= + 1 verschwinden, und in diesen beiden singulären 


30) A. Kalähne, Ann. d. Phys. 18 (1905), p. 92; 19 (1906), p. 80. 


6c. Spezielle Fälle. 503 


Punkten der Differentialgleichung (30c) auch endliche erste Ableitungen 
besitzen. 

Hieraus gewinnt man folgende, die Konstanten p,, %, verknüpfende 
Beziehung: 


+1 





(P) E„(P) 
funpzp 
Be a 
(306) hr 
BELZAGRAG 
RT 
wo gesetzt ist: 
unfP\ 2. 
cos (——-) für ungerade n 
2 ? 
sin (58) für gerade n. 


Die gesuchte Funktion E,(ß) genügt der Integralgleichung?®!) 


+1 
(81) eu Eu(e) — (1 — 02) [aBE,(Byer«? 


(e, ist eine Konstante). 

Falls es sich um die Eigenschwingungen des Außenraumes 
handelt, hat man als Integral von (30b) dasjenige auszuwählen, 
welches für große Werte von « nach außen hin fortschreitenden 
Kugelwellen entspricht. Dasselbe läßt sich in der Form darstellen 


1 
(318) He = (1 — ef aBE,(Byer“r. 


Die gemäß (28c) an der Oberfläche des ellipsoidischen Leiters 
vorzuschreibende Grenzbedingung 


(31b) H, (%) = 0 


liefert eine zweite Beziehung zwischen den Konstanten p, und k,. 

Diese einigermaßen verwickelten Beziehungen lassen sich in ver- 
hältnismäßig einfacher Weise durch sukzessive Approximationen 
lösen!®), wenn der Leiter ein sehr gestrecktes Rotationsellipsoid ist; 
für einen solchen „stabförmigen“ oder „nadelförmigen“ Leiter ist «, 
nur wenig größer als 1. In diesem Falle erhält man aus (31b) als 
erste, verschwindender Dicke des Leiters entsprechende Näherung'®): 
k„= 0, mithin aus (30e, f) 


(32) +44, 





31) M. Abraham, Math. Ann, 52 (1899), p. 81. 


504 V18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


daher 
(32a) =—,,-(. 


In diesem Grenzfalle des geradlinigen Leiters sind die Eigen- 
schwingungen ungedämpft; die Wellenlänge der Grundschwingung 
(n = 1) ist gleich der doppelten Länge des Leiters (diese war gleich 2 
gesetzt); die Oberschwingungen sind harmonisch. Man erhält für Q,: 


(32b) 9, — erfuet. H,(a)  E,(P) = 709 .2,(B). 


Der reelle Teil hiervon liefert gemäß (28d) die Gleichung der 
elektrischen Kraftlinien zu verschiedenen Zeiten; dieser ersten An- 
näherung entsprechende Kraftlinienbilder hat F. Hack®?) gezeichnet. 
Für ungerade n ist die Mittelebene (ß = 0) eine Knotenebene für die 
tangentielle elektrische Komponente &,, für gerade n dagegen für die 
magnetische Feldstärke 9,'°). Allgemein findet man, für beliebiges », 
n — 1 Knotenflächen der magnetischen Feldstärke, von der Form konfo- 
kaler Rotationshyperboloide Für einen geradlinigen, in der Mitte 
durch eine Funkenstrecke unterbrochenen Erreger hat F. Kiebitz??) 
das Vorhandensein der Eigenschwingungen ungerader Ordnung bis 
n = 17 experimentell festgestellt, und speziell für a=3 den theo- 
retischen Verlauf der Knoten- und Bauchflächen des magnetischen 
Feldes bestätigt gefunden. 

Treibt man die Approximation einen Schritt weiter, so findet 
man für die Eigenwerte »,: 


(32) + +2=n- +4 +20, 
wo gesetzt ist 
1 
(32d) se ———, 
ie) 


(b ist der Radius des Mittelquerschnitts des Leiters, bezogen auf die 
halbe Länge als Einheit), 





2ın 
1— cosx 1 3! 
(32) (,— HL da "IE —Jog 2un + OB 4 gan 
5! 

20 Tag 

mithin 
4 4e 

(32%) nut, 0-0, 


32) F. Hack, Ann. d. Phys. (4) 14 (1904), p. 539. 
33) F. Kiebitz, Ann. d. Phys. (4) 5 (1901), p. 872. 


EEE ELITE 


7. Sendeantennen der drahtlosen Telegraphie. 505 


Die Wellenlänge A, bleibt somit ungeändert; doch tritt ein mit 
zunehmender Dicke des Leiterquerschnitts wachsendes Strahlungs- 
dekrement o, auf. Die Korrektion, welche die Funktion Q, durch 
Berücksichtigung der Glieder von der Ordnung & erfährt, ist nur 
gering, wie auch aus der Zeichnung der entsprechenden Kraftlinien- 
bilder der gedämpften Schwingung”) hervorgeht. Auch die Strom- 
und Ladungsverteilung längs des Leiters erfährt durch Berücksich- 
tigung der Glieder von der Ordnung & bzw. &? eine in praktischen 
Fällen zu vernachlässigende Änderung"®). 

Handelt es sich um ein nahezu kugelförmiges Rotationsellipsoid, 
so wird man, von der Lösung für die Kugel als erster Annäherung 
ausgehend, Reihenentwicklungen nach Potenzen der Exzentrizität zur 
Darstellung der Eigenschwingungen verwenden°?). Für sehr gestreckte 
Ellipsoide jedoch erweist sich die Konvergenz dieser Reihen, wenigstens 
was die Eigenschwingungen der Ordnung » > 3 anbelangt, als unzu- 
länglich®®). 

7. Sendeantennen der drahtlosen Telegraphie. Die ursprüng- 
liche Senderanordnung Marconis besteht aus einem geraden Drahte, 
der sogenannten „Antenne“, der von dem einen Pole einer Funken- 
strecke aus senkrecht in die Höhe geführt ist, während der andere 
Pol geerdet ist. Dieser Sender ist dem geradlinigen Leiter ähnlich, 
dessen Eigenschwingungen oben (Nr. 6) behandelt worden sind. Er 
schwingt indessen nicht, wie jener, frei im Raume; vielmehr kommt 
der Einfluß der Erde in Betracht. Diesem Einfluß kann man nun in 
sehr einfacher Weise Rechnung tragen'!), wofern die Erde sich diesen 
schnellen Schwingungen gegenüber wie ein vollkommener Leiter ver- 
hält. Es sei A die Länge der vertikalen Antenne, gerechnet von der 
Erde bis zur Spitze; spiegelt man sie an der Erdoberfläche, so bilden 
die Antenne und ihr Spiegelbild zusammen einen geraden Draht von 
der Länge 2%, dessen ungeradzahlige Eigenschwingungen an der Erd- 
oberfläche (soweit dieselbe als eben zu betrachten ist) der Grenz- 
bedingung (8) Genüge leisten. Das Feld jener ungeradzahligen Eigen- 
schwingungen stimmt somit oberhalb der Erdoberfläche mit demjenigen 
des Marconi-Senders überein. Dieser Auffassung zufolge ist die 
Wellenlänge der Grundschwingung des Sendedrahtes der vierfachen 
Höhe desselben gleich; die Stromverteilung ist angenähert diejenige 





34) F. Hack, Ann. d. Phys. 18 (1905), p. 634. 
35) F\ Ehrenhaft, Wien Ber. 113 (1904), p. 273; M. Brillowin, Propagation 
de l’electricite, Paris 1904, p. 326 ff. 
36) M. Brillouin, 1. ce. „Corrections et &claireissements‘‘, p. VILff. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 33 


506 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


stehender Drahtwellen, mit einem Stromknoten an der Spitze, einem 
Strombauche am Erdungspunktee Nimmt man die Stromverteilung 
als gegeben an, so kann man die Amplituden der von der Antenne 
entsandten Wellen auch nach der in Nr. 5 dargelegten Methode be- 
rechnen!!). Man findet, daß nach allen Seiten hin in den Luftraum 
hinaus Wellen entsandt werden, daß aber deren Amplituden für die 
zur Antenne senkrechten Richtungen die stärksten sind. Die Wellen- 
amplituden sind umgekehrt proportional der Entfernung von der An- 
tenne; in einer gegebenen Entfernung hängen sie nur von der maxi- 
malen Stromstärke in der Antenne ab, nicht aber von deren Länge. 

Für das Strahlungsdekrement der Grundschwingung geben die 
Formeln (32d, e, f) den Wert!!) 

2,44 


(33) u, =4U —= 18 (2) 
b 


(b Radius des äquatorialen Querschnitts). 

Obwohl dieser Ausdruck zunächst nur auf ein sehr gestrecktes 
Rotationsellipsoid Bezug hat, dessen Querschnitt nach der Spitze hin 
abnimmt, so wendet man sie auch auf geradlinige Antennen von 
konstantem Querschnitte, die man strenge bisher nicht zu behandeln 
vermag, mit Erfolg an. In praxi ist übrigens h so groß gegen b, 
daß es auf den genauen Zahlwert des als Argument des Logarithmus 
eingehenden Quotienten kaum ankommt. 

Daß die soeben skizzierte Theorie des Marconi-Senders in ihren 
Grundzügen die bei der drahtlosen Telegraphie stattfindenden Vor- 
gänge zutreffend beschreibt, haben die ausgedehnten Untersuchungen 
von C. Tissot?") dargetan; die Energie der Wellen nimmt wirklich 
mit dem reziproken Quadrate der Entfernung ab; die Wellenlänge ist 
nur wenig größer, als die vierfache Länge des Sendedrahtes; die 
Dämpfungsdekremente finden sich in guter Übereinstimmung mit der 
Formel (33), wenigstens dann, wenn auf offener See telegraphiert 
wird, und wenn für gute Erdung gesorgt ist. Das Meerwasser ist 
demnach hier mit genügender Annäherung als vollkommen leitend zu 
betrachten, so daß der Seespiegel ein vollkommener Spiegel für die 
elektromagnetischen Wellen von diesen Frequenzen ist. Das stimmt 
auch mit dem Ergebnisse theoretischer Betrachtungen von K. Uller®®) 


37) CO. Tissot, Etude de la r6sonance des systömes d’antennes, These Paris 
1905; Journal de phys. (4) 5 (1906), p. 326. 

38) K. Uller, Beiträge zur Theorie der elektromagnetischen Strahlung, Diss. 
Rostock 1903; J. Zenneck, Ann. d. Phys. (4) 23 (1907) p. 836 bringt eine genauere 
Durchrechnung der praktischen Verhältnisse für verschiedene Bodenarten und 


7. Sendeantennen der drahtlosen Telegraphie. 507 


und J. Zenneck®®) überein, welche die Fortpflanzung ebener Wellen 
längs der Meeresoberfläche betreffen. Befindet sich dagegen der 
Sender auf dem Festlande, so ist nach ©. Tissot seine Dämpfung be- 
trächtlich größer; das Erdreich kann demnach nicht als vollkommen 
leitend gelten, es läßt vielmehr die Wellen eindringen und absorbiert 
einen Teil ihrer Energie; gleichzeitig stehen die elektrischen Kraft- 
linien nicht mehr senkrecht auf der Erdoberfläche und können nach 
den Rechnungen von Zenneck®®) bis 35° gegen die Vertikale ge- 
neigt sein. 

Über den Einfluß, welchen die Krümmung der Erdoberfläche auf 
die Fortpflanzung der vom Sender ausgehenden Wellen hat, liegen 
befriedigende theoretische Untersuchungen bisher nicht vor. 

Bei der einfachen Senderanordnung Marconis ist die Dämpfung 
der Senderschwingungen ziemlich groß; es ist ihr logarithmisches 
Dekrement!!)®"): 

02<0,<03, 

so daß die Bedingungen für die scharfe Abstimmung des Empfängers 
auf den Sender nicht günstig sind. Auch ist der Steigerung der für 
die Intensität der entsandten Wellen maßgebenden Amplituden von 
Strom und Spannung in der Antenne dadurch eine Grenze gesetzt, 
daß das Funkenpotential nicht beliebig groß gemacht werden kann. 
Daher ist auch die Reichweite der Wellen bei der ursprünglichen 
Marconi-Schaltung eine beschränkte. 

Einen größeren Spielraum, sowohl hinsichtlich der Abstimmbar- 
keit, wie der Reichweite, bieten die gekoppelten Sender dar, zu deren 
Verwendung F. Braun, A. Slaby und auch @. Marconi selbst über- 
gegangen sind. Die Schwingungen werden in einem geschlossenen, 
nicht strahlenden, Kondensatorkreis erregt; auf die Antenne werden 
sie übertragen, indem diese entweder direkt an jenen Primärkreis an- 
gelegt (galvanische Koppelung), oder durch Induktion mit ihm ver- 
koppelt wird (magnetische Koppelung). Für die Amplituden der ent- 
sandten Wellen ist wiederum die maximale Stromamplitude in der 
Antenne maßgebend. 

Einige Gesichtspunkte für die Beurteilung solcher Senderanord- 
nungen sind, auf Grund der allgemeinen Theorie der gekoppelten 
elektromagnetischen Systeme®®), von M. Wien‘’) dargelegt worden. 


Feuchtigkeitsgrade. Über die Fortpflanzung elektromagnetischer Wellen lüngs 
der ebenen Grenzfläche eines Isolators und eines Leiters vgl. man übrigens 
E. Cohn, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900, p. 449. 
39) A. Oberbeck, Ann. d. Phys. 55 (1895), p. 623 und R. Domalip u. F. Kolagek, 
33” 


508 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Diese zunächst für langsame Schwingungen ausgearbeitete Theorie 
setzt den Strom in jedem der beiden Teilsysteme als quasistationär 
voraus, eine Voraussetzung, die bei der Antenne auch nicht ange- 
nähert zutrifft. Dennoch werden gewisse, im Anschluß an jene Theorie 
gewonnene Eigenschaften der Schwingungen gekoppelter Systeme auch 
von einer strengeren Theorie anzuerkennen sein. 

Zwei ursprünglich getrennte Systeme von gleicher Eigenperiode 
ergeben, miteinander gekoppelt, ein System mit zwei Eigenschwin- 
gungen verschiedener Frequenz. Je nachdem die Koppelung „lose“ 
oder „eng“ ist, ist die „Schwingungsdifferenz“ der Frequenzen der 
beiden Eigenschwingungen klein oder groß. Die aus dem Zusammen- 
wirken der beiden Eigenschwingungen resultierenden Schwebungen 
sind es, welche den Übergang der Energie aus dem Primärkreis in 
die Antenne mit sich bringen. Hiernach erscheinen zwei Grenzfälle 
als möglich %): 

a) Große Schwingungsdifferenz (kleine Schwebungsdauer). Dieser 
Fall wird durch starke Koppelung erzielt; hier kann man, durch 
Vermehrung der Antennenkapazität (Käfigantennen) die Stromampli- 
tuden in der Antenne steigern, und so die Reichweite der entsandten 
Wellen vergrößern. Dadurch vergrößert man selbstverständlich auch 
die Strahlungsdämpfung und verschlechtert die Abstimmbarkeit. 

b) Kleine Schwingungsdifferenz (große Schwebungsdauer). Dieser 
Fall wird durch lose Koppelung der Antenne erzielt; dementsprechend 
sind die Amplituden der in der Antenne erregten Schwingungen nur 
gering und die Reichweite daher nicht groß. Im Verlaufe der Schwe- 
bung steigert sich die Amplitude der Antennenschwingungen allmäh- 
lich und bleibt eine Zeitlang stationär, indem der Primärkreis die aus- 
gestrahlte Energie nachliefert. Die Bedingungen sind günstig für 
die Abstimmung auf einen schwach gedämpften Empfänger. 

Eine exakte Behandlung des keineswegs als quasistationär zu 
betrachtenden Stromes in der Antenne wird in den Arbeiten von 


Ann. d. Phys. 57 (1896), p. 731. haben die magnetische Koppelung behandelt, 
J.v. Geitler, Ann. d. Phys. 55 (1895), p. 513; 57 (1896), p. 412; 66 (1898), p. 999 die 
elektrostatische Koppelung. Den allgemeinen Fall, wo magnetische, elektrische und 
galvanische Koppelung gleichzeitig vorliegen, behandelt M. Wien, Ann. d. Phys. 
61 (1897), p. 651. Es werden für die Eigenschwingungen des gekoppelten Systemes 
2 simultane gewöhnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung mit konstanten 
Koeffizienten aufgestellt, so daß sich die Eigenwerte als Wurzeln einer Gleichung 
4! Grades ergeben. P. Drude, Ann d. Phys. 13 (1904), p. 512 führt die Theorie 
der magnetischen Koppelung genauer durch. 
40) M. Wien, Ann. d. Phys. 8 (1902), p. 686. 


8. Elektrische Resonanz. 509 


@G. Seibt*"), M. Abraham?) und L. Mandelstamm‘?) angestrebt. Der 
Strom im Primärkreis wird auch hier als quasistationär angenommen. 
Die Verteilung von Strom und Spannung, die sich in der Antenne 
ausbildet, wird dagegen als übereinstimmend mit der bei stehenden 
elektrischen Drahtwellen herrschenden betrachtet. Es kann, z. B. bei 
galvanischer Koppelung, der Anschlußpunkt der Antenne kein Span- 
nungsknoten, und daher die Wellenlänge A der Grundschwingung des 
gekoppelten Systems nicht gleich der vierfachen Antennenlänge sein. 
Vielmehr ergibt sich eine transzendente Gleichung von der Form 


(34) tga—fla) für a; 

dabei ist f(x) eine rationale Funktion von x, in welche die elektro- 
magnetischen Konstanten des gekoppelten Systemes eingehen; die 
Gleichung (34) kann zur rechnerischen oder graphischen Ermittelung 
der sämtlichen Eigenfrequenzen des gekoppelten Senders dienen (über 
die numerische Berechnung der Wurzeln vgl. Art. IV 26, Nr. 2 von 
H. Lamb). Der Fall der magnetischen Koppelung führt auf dieselben 
Gleichungen, wie derjenige der galvanischen Koppelung**) %3). 

8. Elektrische Resonanz. Zur Untersuchung des Feldes elektri- 
scher Luft- oder Drahtwellen bediente sich H. Hertz eines Reso- 
nators*?); derselbe bestand aus einem zum Kreise oder zum Rechteck 
gebogenen Drahte, der in zwei einander gegenüberstehende Kugeln 
mündete. Wird der Resonator von dem auffallenden Wellenzuge in 
so starke Schwingungen versetzt, daß die Spannung zwischen den 
Kugeln eine gewisse Grenze überschreitet, so springt ein Funke über; 
diese Fünkchen im Resonator verwandte H. Hertz*°) zur Analyse des 
elektromagnetischen Feldes. 

Als E. Sarasin und L. de la Rive*') das Feld stehender Draht- 
wellen mit solchen Resonatoren untersuchten, bemerkten sie, daß die 
gemessene Wellenlänge wesentlich von den Abmessungen des Reso- 
nators abhängt. Sie bezeichneten diese Erscheinung als „multiple 
Resonanz“, und deuteten sie dahin, daß der Erreger keine bestimmte 
Frequenz besitze, sondern daß er alle innerhalb eines gewissen Intervalles 


41) G. Seibt, Elektrische Drahtwellen mit Berücksichtigung der Marconi- 
schen Wellentelegraphie, Diss. Rostock 1902. 

42) M. Abraham, Physik. Zeitschrift 5 (1904), p. 174. 

43) L. Mandelstamm, Physik. Zeitschrift 5 (1904), p. 245. 

44) J. Zenneck, Physik. Zeitschrift 4 (1903), 8. 656. 

45) H. Hertz, Ausbr. d. el. Kraft, Ges. Werke 2, p. 87 ff. 

46) H. Hertz, Ausbr. d. el. Kraft, Ges. Werke 2, p. 115 ff., 133 ff. 

47) E. Sarasin u. L. de la Rive, Arch. de Gentve (3) 28 (1890), p. 113. 


510 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


liegende Schwingungen gleichzeitig ausführe. AH. Hertz‘?) dagegen, 
und ebenso H. Poincare*”) und V. Bjerknes°®), faßten jene Erscheinung 
als eine Folge der beträchtlichen Strahlungsdämpfung der Erreger- 
schwingungen auf. Nach der von V. Bjerknes ausgearbeiteten Theorie°®) 
ist der Resonator als System von einem Grade der Freiheit anzu- 
sehen, welches der Differentialgleichung der gedämpften Schwingung 
gehorcht. Sind »,, d, Frequenz und Dämpfungskonstante der Eigen- 
schwingungen des Resonators, »,, Ö, diejenigen der Erregerschwin- 
gungen, so gelten für die erzwungenen Schwingungen des Resonators 
die Differentialgleichung: 


(35) +2,99 + (+ N)p= A et'-sin(nt-+ «) 
und die Anfangsbedingungen: 
(35a) el: 2-0, 0—=N, 


A ist ein von der Amplitude der einfallenden Welle abhängiger 
„Intensitätsfaktor“. Bekanntlich setzt sich die Lösung von (35) und 
(35a) aus zwei Bestandteilen zusammen, nämlich aus einem partiku- 
lären Integrale dieser inhomogenen Differentialgleichung (d. h. einer 
gedämpften Schwingung mit den Konstanten v,, d,), und aus einem 
Integrale der homogenen Differentialgleichung der Eigenschwingungen 
(einer gedämpften Schwingung der Frequenz v, und der Dämpfungs- 
konstanten d,). Je nachdem die Dämpfungskonstante des Erregers (Ö,) 
oder diejenige des Resonators (d,) geringer ist, wird der erste oder der 
zweite Bestandteil länger andauern, und der erzwungenen Resonator- 
schwingung ihr Gepräge geben. Der von Hertz verwandte Resonator 
besitzt nun eine weit geringere Dämpfung, als der Erreger. In der 
erzwungenen Schwingung des Resonators tritt daher dessen eigene 
Frequenz hervor; so erklärt sich die Erscheinung der multiplen 
Resonanz. 

Im allgemeinen ist, nach der Theorie von V. Bjerknes, die er- 
zwungene Schwingung des Resonators von den vier Konstanten beider 
Leiter abhängig. Ist einer der beiden Leiter verstellbar, und trägt 
man etwa seine Periode als Abszisse, die entsprechende Erregung des 
Resonators als Ordinate auf, so erhält man die sogenannte „Aesonanz- 
kurve“, die ein Maximum in der Nähe des Isochronismus besitzt. 
V. Bjerlmes hat gelehrt‘®), aus dieser Kurve die Werte jener vier 
Konstanten zu ermitteln, wobei er hauptsächlich den elektrometrisch 


48) H. Hertz, Ausbr. d. el. Kraft, Ges. Werke 2, p. 18. 
49) H. Poincare, Electrieits et optique 2 (1890), p. 249. 
50) V. Bjerknes, Ann. d. Phys. 44 (1891), p. 74, 92, 513; 55 (1895), p. 121. 


9. Zerstreuung elektrischer Wellen. 511 


oder bolometrisch bestimmten Integraleffekt als Maß der Resonator- 
erregung in Betracht gezogen hat. Die Resonanzkurve der Maximal- 
amplitude hat P. Drude°!) diskutiert; er faßt dabei Erreger und 
Resonator als ein gekoppeltes System von zwei Freiheitsgraden auf; 
der Grenzfall, wo die Rückwirkung des Resonators auf den Erreger 
verschwindet, ist es, auf den die Theorie von Bjerknes sich bezieht. 

In Wirklichkeit ist der Resonator wohl kaum als System von 
nur einem Freiheitsgrade zu betrachten. Schon H. Hertz fand es 
notwendig, das Integral der in seinem Funkenresonator induzierten 
elektromotorischen Kraft in seine von den einzelnen Elementen des 
Leiters beigesteuerten Bestandteile zu zerlegen®°). Seine Andeutungen 
führten H. Poincare®?) und P. Drude°?) genauer durch, indem sie der 
Theorie des Hertzschen Resonators die partielle Differentialgleichung 
der erzwungenen Saitenschwingungen zugrunde legten. 

Obgleich die Theorie von Bjerknes die Oberschwingungen des 
Erregers und des Resonators außer acht läßt, stellt sie doch die Er- 
scheinungen der elektrischen Resonanz in ihren Grundzügen befrie- 
digend dar. Sie erweist sich insbesondere auch in der-drahtlosen 
Telegraphie als anwendbar?”), wenigstens auf die ursprüngliche Mar- 
conische Anordnung, welche der einfachen Sendeantenne (Nr. 7) eine 
gleiche Empfangsantenne gegenüberstellt. Bei den neueren Anord- 
nungen, bei denen der Empfänger, ebenso wie der Sender, ein ge- 
koppeltes System mit zwei Grundschwingungen darstellt, gestaltet sich 
der Resonanzvorgang weit verwickelter. Man kann hier noch weniger 
als bei der einfachen Empfangsantenne hoffen, die Integration der 
Feldgleichungen strenge durchzuführen. 

Was die mathematische Formulierung des Problems der elektri- 
schen Resonanz anbelangt, so stimmt sie ganz mit derjenigen des 
Zerstreuungsproblems überein, zu dem wir jetzt übergehen (Nr. 9). 
Nur kommt es beim Resonanzproblem mehr auf den Vorgang im 
Sekundärleiter, beim Zerstreuungsproblem mehr auf die von diesem 
ausgehenden sekundären Wellen an. 


9. Zerstreuung elektrischer Wellen. In einem isotropen — 
und im allgemeinen homogenen — Isolator mit den Konstanten (2, &,) 
schreite ein Wellenzug &,, $, (etwa ebener Wellen) fort. Irgendwo 
sei die Homogenität durch die Anwesenheit eines Körpers mit den 
Konstanten (&,, 4,, 0,) gestört. Es wird dann, um die Feldgleichungen 
im Innern dieses Körpers und den an seiner Oberfläche geltenden 


51) P. Drude, Ann. d. Phys. 13 (1904), p. 512. 
52) H. Poincare, Oscillations &lectriques, Paris 1893, p. 220 ff. 
53) P. Drude, Gött. Nachr. 1894, p. 189; Ann. d. Phys. 53 (1894), p. 721. 


512 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen 


Grenzbedingungen (vgl. Nr. 1) zu genügen, no',wendig sein, zu dem 
ersten Felde (E,, Ö,) ein zweites (E,, $,) hinzuzufügen, derart, daß 
E= €, +6, 9= 9, + 5, Lösungen der Feldgleichungen in beiden 
Körpern, und der Grenzbedingungen an ihrer Trennungsfläche sind. 
In dem ersten Körper erfüllt dann (E,, $,) für sich die Feldgleichungen; 
es entspricht Wellen, die von dem zweiten Körper ausgehen, und die 
man, im Gegensatze zu den einfallenden „primären“ Wellen, als 
„sekundäre“ Wellen bezeichnen kann; diese Wellen bringen eine Zer- 
streuung der Strahlungsenergie mit sich. Wenn die Welle (€, 9), 
welche sich durch Superposition der primären und der sekundären 
Welle ergibt, sich nicht den Vorstellungen der geometrischen Optik 
gemäß verhält, spricht man wohl auch von einer „Beugung“ der 
Wellen durch den störenden Körper. Die Beugung spielt im Gebiete 
der langen elektrischen Wellen eine noch größere Rolle als bei den 
kurzen Lichtwellen; nicht nur die geometrische Optik, sondern auch 
die klassische Beugungstheorie (vgl. Art. V 25) stellen hier eine unzu- 
reichende Annäherung dar. Aber auch beim Lichte versagen die 
Methoden.der klassischen Beugungstheorie, wenn die Abmessungen 
der beugenden Teilcher von der Ordnung der Wellenlänge, oder gar 
kleiner werden. 

Probleme der meteorologischen Optik — die Farbe und die 
Polarisation des Himmelslichtes — waren es, welche Rayleigh°*) ver- 
anlaßten, die Zerstreuung des Lichtes durch kleine Teilchen zu be- 
handeln. In seinen ersten Arbeiten steht er noch auf dem Stand- 
punkte der mechanischen Theorie des Lichtes, und erst später über- 
trägt er seine Ergebnisse in die Sprache der elektromagnetischen 
Theorie®®); dabei handelt es sich um isolierende Teilchen, die klein 
gegen die Wellenlänge sind, und ihrer Dielektrizitätskonstanten nach 
nur wenig von der Umgebung abweichen. Die Intensität des zer- 
streuten Lichtes findet Rayleigh der vierten Potenz der Wellenlänge 
umgekehrt proportional, und erklärt so das Überwiegen der blauen 
Farbe im Himmelslichte; auch die Polarisation des zerstreuten Lichtes 
ergibt sich in Übereinstimmung mit den Erfahrungen der meteoro- 
logischen Optik. Dabei haben wohl die Luftmoleküle selbst an der 
Zerstreuung des Sonnenlichtes Anteil, so daß man versuchen kann, aus 
den vorliegenden Beobachtungen die Zahl der Luftmoleküle in der 
Volumeinheit zu berechnen °*®). 


54) J. W. Strutt- Lord Rayleigh, Phil. Mag. (4) 41 (1871), p. 107, 274, 447. 

55) Rayleigh, Phil. Mag. (5) 12 (1881), p. 81. 

56) Rayleigh, Phil. Mag. (5) 47 (1899), p. 375; Lord Kelvin, Baltimore 
Leetures (1904), p. 301 ff. 





9. Zerstreuung elektrischer Wellen. 513 


Nimmt man an, daß die isolierenden Teilchen, welche das Licht 
zerstreuen, die Form dreiachsiger Ellipsoide haben, so braucht man 
über ihre Dielektrizitätskonstante keine einschränkende Voraussetzung 
zu machen. Wenn nur die Abmessungen der Ellipsoide klein gegen 
die Wellenlänge sind, so kann man ihre Erregung durch die primäre 
Welle mit genügender Annäherung nach den Methoden der Potential- 
theorie bestimmen, und alsdann die entsandten sekundären Wellen 
berechnen?”). Auch vollkommen leitende Ellipsoide lassen sich so be- 
handeln °”). 

Die Zerstreuung elektrischer Wellen durch eine vollkommen 
leitende Kugel kann man exakt behandeln, indem man die Lösung 
nach Kugelflächenfunktionen entwickelt°®)°)., Dabei ergeben sich 
Resonanzerscheinungen, indem die Erregung der Kugel, und daher 
auch der Druck des Lichtes, für einen gewissen Wert des (auf die Wellen- 
länge als Einheit bezogenen) Kugelradius ein Maximum besitzt?’). In 
entsprechender Weise läßt sich der Fall dielektrischer Kugeln er- 
ledigen‘®); für gewisse, den Eigenschwingungen benachbarte Wellen- 
längen wird die Intensität des zerstreuten Lichtes abnorm groß, was 
ebenfalls als Resonanzerscheinung zu deuten ist°!)®?). 

Das Problem wird ein ebenes, wenn es Kreiszylinder, mit zur 
Wellenebene paralleler Achse, sind, welche das auffallende Licht zer- 
streuen; man zerlegt dann die einfallende Welle in zwei parallel bzw. 
senkrecht zur Zylinderachse polarisierte Komponenten, und wendet 
in jedem der beiden Fälle eine Reihenentwicklung nach Besselschen 
Funktionen an?) 6%) )#5). Die Näherungsmethode von Rayleigh ist auch 
auf elliptische Zylinder°”) anwendbar, deren Querschnittsabmessungen 
klein gegen die Wellenlänge sind. Die strenge Behandlung des Zer- 
streuungsproblemes führt in diesem Falle auf Funktionen des ellipti- 
schen Zylinders. 

H. Hertz hat bei seinen Versuchen ein Gitter) verwandt, be- 
stehend aus parallelen, äquidistanten Metalldrähten, deren Abstand 





57) Rayleigh, Phil. Mag. (5) 44 (1893), p. 28. 

58) J. J. Thomson, Rec. res. 1893, p. 437. 

59) K. Schwarzschild, München Ber. 1901, p. 293. 

60) A. E. H. Love, Lond. math. soc. Proc. 30 (1899), p. 308. 

61) H. Lamb, Cambr. Phil. Trans. 18 (1900), p. 348. 

62) F. Hasenöhrl, Wien Ber. 111 (1902), p. 1229. Eine Anwendung auf 
die Ultramikroskopie macht F. Ehrenhaft, Wien Ber. 114 (1905), p. 1115. 

63) J. J. Thomson, Rec. res. 1893, p. 428. 

64) W. Seitz, Ann. d. Phys. 16 (1905), p. 747; 19 (1906), p. 554. 

65) W. v. Ignatowski, Ann. d. Phys. 18 (1906), p. 495. 

66) H. Hertz Ausbr. d. el. Kraft, Ges. W. 2, p. 190. 


514 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


klein gegen die Wellenlänge ist; ein solches Gitter läßt von der 
senkrecht auffallenden ebenen Welle nur diejenige Komponente durch, 
in welcher die elektrische Kraft senkrecht zur Längsrichtung der 
Drähte schwingt; die andere Komponente wird reflektiert. Die Theorie 
eines solchen Gitters hat J. J. Thomson®”) gegeben. H. Lamb) hat 
den Fall behandelt, daß das Gitter, statt aus Drähten, aus Metall- 
streifen besteht. Vgl. Art. H. Lamb IV 26, Nr. 7b. 


III. Fortleitung elektrischer Wellen durch Drähte. 


10. Eindringen des Feldes in zylindrische Leiter. Skin-Effekt. 
Wir berichten zunächst über Untersuchungen, die sich mit dem Ein- 
dringen des elektromagnetischen Wechselfeldes in zylindrische Leiter 
beschäftigen. Die einschlägigen Arbeiten von Maxwell®), Rayleigh"°), 
Heaviside"') und Stefan?) geben auch einen gewissen Einblick in die 
Rolle, welche solchen Leitern bei der Fortleitung elektrischer Wellen 
zukommt. 

Im Innern eines metallischen Leiters darf man den Verschiebungs- 
strom D gegen den Leitungsstrom 9 vernachlässigen und demgemäß 
die Feldgleichungen (1, 2) schreiben: 


—€ =r06$, 
(86) | 
= - = = rot ®. 


Hat, wie wir annehmen, der Leiter die Form eines unendlichen 
Zylinders von kreisförmigem Querschnitt, so empfiehlt sich die Ein- 
führung von Zylinderkoordinaten (2, e, %); der Ausdruck (26) für das 
Quadrat des Linienelementes lautet dann 


(37) ds? = dz? + do? + o?dy“. 
Substituiert man dementsprechend 


1 
e=2,ß=,y=1; hl, ,„=1, er 


in die rechten Seiten von (26a), so erhält man die auf Zylinderkoor- 

67) J. J. Thomson, Rec. res. 1893, p. 425. 

68) H. Lamb, Lond. math. soc. Proc. 29 (1898), p. 523. Die Theorie von 
Lamb wird durch neuere experimentelle Untersuchungen von Ol. Schaefer und 
J. Langwitz, Ann. d. Phys. 21 (1906), p. 587, sowie von @. H. Thomson, Ann. d. 
Phys. 22 (1907), p. 365, im ganzen bestätigt. 

69) J. Cl. Maxwell, Treatise 2, art. 689. 

70) Rayleigh, Phil. Mag. (5) 21 (1886), p. 381. 

71) O. Heaviside, El. papers 2, p: 39 ff. u. 168 ff. (1886—87). 

72) J. Stefan, Wien Ber. 95. 1887, p. 917; Ann. d. Phys. 41 (1890), p. 400. 


10. Eindringen des Feldes in zylindrische Leiter. Skin-Effekt. 515 


dinaten bezogenen engen von rot 9: 





a, 108 
| rot, = ) 50 od) 0 N) ’ 
et: 1 09, 09 
(37 a) rot, hi) == rurr ce er y 
906.26 
deze 








Diese Ausdrücke, und die entsprechenden der Komponenten von 
rot &, sind in die Feldgleichungen (36) einzuführen. Beschränkt 
man sich auf axialsymmetrische und gleichzeitig von z unabhängige 
Felder, so gelten die partiellen Differentialgleichungen 


6 "RD: 12 
jr ze r 8): TE Fern 
en 0: md _ 06, 

ce v de’ e 6t 0 


Diese vier Gleichungen zerfallen in zwei voneinander unabhängige 
Paare, welche einerseits €,, $,,, andererseits $,, E,, miteinander ver- 
knüpfen. Das erste Paar bezieht sich auf ein Wechselfeld, dessen 
elektrische Feldstärke der Drahtachse parallel ist, während die magne- 
tischen Krafilinien die Achse umkreisen. Das zweite Paar dagegen 
bezieht sich auf ein longitudinales magnetisches Wechselfeld, welches 
die Drahtachse umkreisende elektrische Ströme hervorruft. In mathe- 
matischer Hinsicht besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen 
diesen beiden Fällen; wir verfolgen den ersten weiter und erhalten 
nach Elimination von 9, 





(384) ern 
Eine partikuläre Lösung dieser partiellen Differentialgleichung ist 
(39) &, = C-er.J,(), 
wo gesetzt ist 
(39a) z=ke, P=-— "5, 





und wo J,(x) der Besselschen Differentialgleichung genügt: 
” 1 ’ 
(39) KOHET@) + Re) 0. 


Da die Lösung auf der Zylinderachse nicht unendlich werden 
darf, so hat man unter J,(kg) die Besselsche Funktion erster Art 


(39e) I) = + fer“ da 
0 


516 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


zu verstehen. Sie bestimmt die Verteilung des durch (39) gegebenen 
Wechselfeldes der Frequenz v über den Querschnitt des zylindrischen 
Leiters. Um dieses Feld im Innern des Leiters zu erregen, muß längs 
seiner Mantelfläche die longitudinale Feldstärke wirken: 


(40) E,— 0. ert. I, (kb), 


wo b den Querschnittsradius bezeichnet. 
Der gesamte Strom, welcher den Leiterquerschnitt durchfließt, 
ist gemäß (38a) 








oder nach (39) : 
(40a) J= 0.ert. De (I, gr 


Stellt man den Zusammenhang der komplexen Ausdrücke für J 
und €, folgendermaßen dar 








iv 
(41) &—=-RJ+- IR A - JIR+ZL), 
so folgt aus (40) und Ada): 
iv J,(&) 
(41a) R+% L=- le a) a 


Aus diesem komplexen Ausdrucke kann man die beiden reellen 
Größen R und Z, berechnen. 

Die physikalische Bedeutung dieser beiden Größen ergibt sich 
aus dem Poyntingschen Satze. Versteht man unter €, $,, J an 
Stelle der obigen komplexen Ausdrücke jetzt deren reelle Teile, welche 
den wirklichen physikalischen Vorgang darstellen, so ist der Energie- 
strom, der in die Längeneinheit des zylindrischen Leiters tritt: 


232 2x(08,),=» er 2nc(E, OHy)e=d Zee &,-J. 
Nach (41) aber wird dies 
(42) EJ=-RP+;5 le LP). 


Integriert man über die Zeit einer ganzen Schwingung, so muß 
die in das Innere des Leiters tretende Energie den Verlust durch 
Joulesche Wärmeentwicklung decken; diese letztere wird durch das 
erste Glied der rechten Seite von (42) angegeben, während das zweite 
Glied, das bei der Integration über eine ganze Schwingung hinaus- 
fällt, den zeitlichen Zuwachs der magnetischen Energie des Draht- 
innern anzeigt (vgl. Nr. 12). Dieser Bedeutung gemäß bezeichnet 
man R als „effektiven Widerstand“, L, als „effektive innere Selbst- 
induktion“ (der Längeneinheit) des Leiters. 


10. Eindringen des Feldes in zylindrische Leiter. Skin-Effekt. 517 


Je nachdem einer der .. Fälle PORERS 





(43) 





sind für J,(x), die Besselsche Funktion erster Art, die nach auf- 
steigenden oder fallenden Potenzen des Argumentes fortschreitenden 
Reihenentwicklungen anzuwenden. Im ersten Falle — d.h. bei hin- 
reichend kleinen Werten der Frequenz v, der Leitfähigkeit 6, der 
magnetischen Permeabilität u und des Drahtradius b — nehmen, 
wenn man von der Mantelfläche des Zylinders aus in das Innere fort- 
schreitet, Amplitude und Phase von E, nur ein wenig ab. In diesem 
Falle ergibt (41a): 





9 b?)? #b?)? 
(43a) B-Alı Her er.) 
er (#09:  13.(9d9* 
(43b) L=|1- Tan er >7) ls 


so daß der effektive Widerstand nur wenig den Gleichstromwiderstand 


EL RL ER, 
(43«) Li Yassarrer 7 Auer Yb® 





übersteigt, während die effektive Selbstinduktion des Drahtinnern ein 
wenig kleiner ist als bei gleichförmiger Stromverteilung l}. 


Im zweiten Falle jedoch, d. h. bei hinreichend großen Werten 
von Frequenz v, Leitfähigkeit o, Permeabilität u und Querschnitts- 
radius b), wo die asymptotische Darstellung der Besselschen Funk- 
tionen durch semikonvergente Reihen anzuwenden ist, ergeben sich 
aus (41a) die sogenannten ee Formeln: 








1 
(434) Ro ri 
an Ben ie \ 
(43e) L,; 5 260% 


In diesem Grenzfalle dringt das Feld und der Strom nur sehr 
wenig in das Innere des Leiters ein; nur unmittelbar an der Ober- 
fläche befindet sich eine dünne Stromhaut; bei Hertzschen Schwin- 
gungen ist die Dicke dieser Haut nur von der Ordnung eines Hun- 
dertelmillimeters. Die Bildung einer Stromhaut an der Oberfläche 
wird von den Engländern als „skin-effect“ bezeichnet. 

Handelt es sich nicht, wie soeben angenommen worden ist, um 
periodische, sondern um gedämpfte Schwingungen, so gelten für R 
und L, etwas abweichende Formeln ’>). 


73) E. H. Barton, Phil. Mag. 47 (1899), p. 433. 


518 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Ein weit größeres Anwachsen des effektiven Widerstandes mit 
der Frequenz, als es die obigen Formeln für gerade Drähte von kreis- 
förmigem Querschnitt anzeigen, fanden Battelli und Magri'*) sowie 
F. Dolezalek”*) bei Spulen und erklärten dasselbe zutreffend durch 
einen einseitigen Skin-Effekt am inneren Umfang der Spule. Eine 
elementare, für geringe Frequenzen gültige Theorie des Skin-Effectes 
in Spulen hat M. Wien"®) gegeben. Die von A. Sommerfeld’) auf 
Grund der Feldgleichungen durchgeführte Behandlung des Problemes 
bezieht sich auf Spulen und Rollen, die aus dicht neben- bzw. über- 
einander gewickelten Lagen eines Drahtes von rechteckigem Quer- 
schnitte bestehen. Später’”) behandelt derselbe auch den Widerstand 
in Solenoiden von kreisförmigem Querschnitt des Drahtes und end- 
licher Ganghöhe im Anschluß an eine Vorarbeit von @. Picciati””) 
und kommt dabei zu qualitativ denselben Resultaten wie in der vor- 
genannten einfacheren Theorie. 

In der Thomsonschen Theorie der Entladung eines Kondensators 
(Nr. 3) wird die Stromverteilung über den Querschnitt als gleich- 
förmig angenommen (Vorauss. d.. Daß diese Voraussetzung nicht 
genau zutrifft, und R sowie L, nicht als Konstanten, sondern als 
Funktionen der Frequenz anzusehen sind, kompliziert das Problem der 
Kondensatorentladung; insbesondere was die Grenze zwischen aperio- 
discher und oszillatorischer Entladung, und was den zeitlichen Ver- 
lauf des beginnenden Entladungsvorganges anbelangt, bedarf die 
Thomsonsche Theorie einer Korrektur ”®). 

Das Problem des Eindringens eines longitudinalen magnetischen 
Wechselfeldes in einen Kreiszylinder ist von O. Heaviside, A. Oberbeck 
und H. Lamb behandelt worden”). Die Untersuchung fußt auf dem 


74) A. Battelli und L. Magri Phil. Mag. (6) 5 (1908), p. 1; F. Dolezalek, 
Ann. d. Phys. 12 (1903), p. 1142. 

75) M. Wien, Ann. d. Phys. 14 (1904), p. 1. 

76) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 15 (1904), p. 673. Qualitativ bestätigt 
durch die Messungen von Th. Black, Diss. Straßburg 1905 und Ann. d. Phys. 19 
(1906), p. 157. 

77) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 24 (1907), p. 609; @. Picciati, Nuovo 
Cimento (5) 11 (1906), p. 351. 

78) Vgl. hierzu: J. Stefan, Ann. d. Phys. 41 (1890), p. 421; J. J. Thom- 
son, Rec. res., 1893, p. 335; E. H. Barton u. W. B. Morton, Phil. Mag. 48 
(1899), p. 143, 148. 

79) O. Heaviside, El. papers 1 (1884—85), p. 353 ff; A. Oberbeck, Ann. d. 
Phys. 21 (1884), p. 672; H. Lamb, Lond. Math. Soc. Proc. 15 (1884), p. 138; 
ebenda 15, p. 270 behandelt er den Fall eines transversalen magnetischen 
Wechselfeldes. 


11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. 519 


Paare der Gleichungen (38), welche $, und €,, miteinander ver- 
knüpfen, und geht der oben angegebenen ganz parallel. Die so- 
genannten „ Wirbelströme“, welche durch zeitlich wechselnde magnetische 
Felder in Leitern erregt werden, sind wegen des durch sie bedingten 
Energieverlustes auch für die Elektrotechnik von Interesse. Der Fall 
der planparallelen Platte ist von J. J. Thomson®”), der Fall eines 
Zylinders von rechteckiger Basis — insbesondere sehr schmales Recht- 
eck, Blechstreifen, mit longitudinalem Magnetfeld ist von P. Debye®°) 
erledigt worden. Eine Reihe anderer technisch wichtiger Fälle der 
Wirbelstromverteilung hat R. Rüdenberg®!) bearbeitet. 


Die Analogie®?) des elektrischen und des magnetischen Problems 
erstreckt sich auch auf den Fall, wo die longitudinale elektrische 
bzw. magnetische Feldstärke nicht längs des Kreiszylinders konstant 
ist, sondern eine gedämpft periodische Veränderung zeigt. Das von 
J. J. Thomson®?) untersuchte magnetische Problem, dessen Lösung 
die Fortpflanzung von Wellen magnetischer Erregung längs eines 
magnetisierbaren Drahtes darstellt, entspricht durchaus dem elektri- 
schen Probleme der Fortpflanzung elektrischer Wellen längs eines 
einzelnen Drahtes, über das wir in Nr. 12 berichten. 


11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. Die Anfänge 
der Theorie der elektrischen Wellen, die sich in Kabeln und längs 
Drähten fortpflanzen, liegen in der Vor-Maxwellschen Epoche. W. Thom- 
son®) war es, der für Kabelwellen eine mit der Wärmeleitungsglei- 
chung formal identische partielle Differentialgleichung aufstellte; er 
berücksichtigte nur die Kapazität und den Widerstand des Kabels. 
Von @. Kirchhoff”) wurde die Selbstinduktion der Leitung in die 
Theorie eingeführt und die Telegraphengleichung abgeleitet. Die Be- 
deutung der Selbstinduktion, insbesondere für die Fragen der Tele- 


80) J. J. Thomson, Electrician 28 (1892), p. 597; P. Debye, Zeitschr. 
Math. Phys. 54 (1906), p. 418. 

81) R. Rüdenberg, Energie der Wirbelströme in elektrischen Bremsen und 
Dynamomaschinen (Sammlung elektrotechnischer Vorträge X), Stuttgart 1906. 

82) Vgl. hierzu J. Zenneck, Ann. d. Phys. 9 (1902), p. 497; 10, p. 845; 11 
(1903), p. 867, 1121, 1135. 

83) J. J. Thomson, Rec. res., p. 302 ff. 

84) W. Thomson, Lond. Roy. Soc. Proc. 1855 = Math. and phys. papers 
2, p. 61. 

85) G. Kirchhoff, Ann. d. Phys. 100 (1857), p. 193; 102 (1857), p. 529. = Ges. 
Abh., p. 131, 154; Berlin Ber. 1877, p. 598 = Ges. Abh., p. 182. Über die Betrach- 
tung der Drahtwellen vom Standpunkte der Fernwirkung vgl. auch: A. Elsaß, 
Ann. d. Phys. 49 (1893), p. 487. 


520 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


phonie, richtig erkannt zu haben, ist das Verdienst von O. Heavi- 
side®®). 

Die ältere Theorie definierte die Kapazität und die Selbstinduktion 
einer Leitung durch die elektrostatischen und die elektrodynamischen 
Fernwirkungen der Leiterelementee Die Feldwirkungstheorie hin- 
gegen betrachtet diese Begriffe nicht als von vornherein gegebene; 
sie stellt vielmehr die Aufgabe, auf Grund der Feldgleichungen zu 
untersuchen, ob bzw. in welchen Fällen sich jene Begriffe präzise 
definieren lassen, wofern sie es nicht vorzieht, ohne Heranziehung 
dieser Hilfsbegriffe die Fortpflanzung der Wellen direkt durch Inte- 
gration der Feldgleichungen zu ermitteln. 

Was das Drahtinnere anbelangt, so sind die Feldgleichungen der 
Fernwirkungstheorie und diejenigen der Maxwellschen Theorie formal 
miteinander identisch, wenigstens dann, wenn man den hypothetischen 
Verschiebungsstrom im Leiter vernachlässigt. Doch sieht die Fern- 
wirkungstheorie die Ladungen der Leiterelemente als das Wesentliche 
an, und betrachtet dementsprechend den Draht, welcher die Elektrizität 
leitet, als den eigentlichen Sitz des Vorgangs. Die Feldwirkungs- 
theorie dagegen richtet ihr Augenmerk auf die Vorgänge in dem 
Dielektrikum, in dem sich die elektromagnetischen Kräfte fortpflanzen; 
dem Draht schreibt sie nur eine sekundäre Bedeutung zu, da ja in 
ihn das Feld hochfrequenter Schwingungen kaum eindringt®”). Dennoch 
geben die Drähte, indem sie die Endpunkte der elektrischen Kraft- 
linien zwingen, an ihrer Oberfläche entlang zu gleiten, der elektro- 
magnetischen Welle die Richtung; in diesem Sinne sind die Drähte 
auch vom Standpunkte der Feldwirkung aus als Leiter der Wellen 
zu bezeichnen. 

Im Innern eines homogenen, isotropen Dielektrikums gelten, nach 
Nr. 1, die Feldgleichungen (1—4): 


(448) rt, 
(44b) ER ob, 
(44) divH—=0, 
(444) div&—0. 


Die soeben hervorgehobene Tatsache, daß hochfrequente Schwin- 
gungen in metallische Leiter nur sehr wenig eindringen, legt es nahe, 


86) O. Heaviside, El. papers 2, p. 119 ff., 307 ff. 
87) Vgl. H. Hertz, Ges. Werke 2, p. 171. 


11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. 521 


das Problem der Drahtwellen zu idealisieren, indem man die Leiter als 
vollkommene betrachtet. In solche Leiter dringt das Feld überhaupt 
nicht ein, und es gilt an ihrer Oberfläche die Grenzbedingung (8), 
welche verlangt, daß die elektrische Feldstärke senkrecht zur Leiter- 
oberfläche gerichtet ist. Sind, wie wir weiterhin voraussetzen, die 
Leiteroberflächen Zylinder mit zur z-Achse parallelen Erzeugenden, 
so kann man jener Grenzbedingung entsprechende Lösungen des 
Problems folgendermaßen finden®®): Man setze 


(45) e,=0, 9,0, 
08 00 
(Me) eigen 
dw 0% 
(45b) rd BIT HE 


Dabei sind ® und % Funktionen von (x,Y, 2,t), welche in 
jeder Querschnittsebene der Leitung der Laplaceschen Gleichung ge- 
nügen: PR = 

® 0°® ed ak 2 
(45) 9x: Hr öy 0, Fr m day: 7 0. 
Dieser Ansatz erfüllt das System (44a—d) der Feldgleichungen, 
wofern zwischen ® und %# die Beziehungen bestehen: 
e 0® 1:0 10% 08 
nr ame en 
Hieraus resultiert die partielle Differentialgleichung der schwingen- 
den Saite: 
2 2 








die in bekannter Weise gelöst wird durch 


(4öf) 9 = da, y) fe — wi), ua 
Diese partikuläre Lösung entspricht einer Welle, die sich parallel der 
positiven z-Achse ungedämpft und unverzerrt fortpflanzt. Sie erfüllt 
(45d), wenn man setzt: 


(45 g) | V— Veu-®. 


Nach (45) ist die betrachtete Welle eine transversale, d. h. die 
elektromagnetischen Vektoren liegen in der Querschnittsebene. Die 
Welle pflanzt sich mit derselben Geschwindigkeit längs der Leitung 
fort, wie ebene homogene Wellen in dem betreffenden Dielektrikum. 


88) Rayleigh, Phil. Mag. 44 (1897), p. 199. Vgl. auch Abraham-Föppl, Theorie 
der Elektrizität 1, Aufl. 2 (1904), p. 331 ff; Aufl. 3 (1907), p. 340 ft. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 34 


522 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Was das Feld in einer beliebigen Querschnittsebene anbelangt, so 
leitet sich, nach (45a), das elektrische Feld aus dem ebenen Potentiale 
®, das magnetische aus der Stromfunktion (vgl. Art. IV 14, Nr. 7) 
% ab. Aus (45g) folgt, daß die elektrischen Äquipotentialkurven 
® — const. mit den magnetischen Erregungslinien & — const. zu- 
sammenfallen. Für jede Querschnittsebene aber ist ® bestimmt durch 
die Laplacesche Gleichung, und die Forderung, entsprechend der Grenz- 
bedingung (8) auf jedem der Leiterquerschnitte einen konstanten Wert 
anzunehmen. Diese Bedingungen sind durchaus identisch mit denen, 
welchen das elektrostatische Potential der leitenden unendlichen Zylinder 
zu genügen hat; nur ist bei dem elektrostatischen Probleme die Ladung 
der Längeneinheit des betreffenden «'” Zylinders: 


08 
(45h) 0—— ef ds, 


(s; Umfangslinie des Querschnitts, n, äußere Normale) 
für alle Querschnitte des Zylinders die gleiche, während sie hier von 
Querschnitt zu Querschnitt variieren kann. Für die Stromstärke 
durch denselben Leiterquerschnitt 


; € o% 
(451) = — 2 fay zn 
folgt aus (45g, h, i): 

€ 
(45k) ee 


In den Gültigkeitsbereich der soeben dargelegten Methode fallen 
folgende Anordnungen: Ein Kabel mit vollkommen leitenden, zylin- 
drischen Belegungen; zwei jeweils in gegenüberliegenden Querschnitten 
entgegengesetzt geladene Paralleldrähte, wie sie nach dem Vorgange 
von J. Lecher®?) vielfach zur Fortleitung Hertzscher Schwingungen 
verwandt werden. Auch eine beliebige Zahl paralleler Drähte kann 
unter Vernachlässigung ihres Leitungswiderstandes nach dieser Methode 
behandelt werden, falls 


(451) Da 0 


’=ı 
ist; dabei ist die Summe über alle in einer Ebene liegenden Querschnitts- 
elemente der n Leiter zu erstrecken. Würde diese Summe nicht 
gleich null sein, so würden in unendlichem Abstande von der Leitung 
®, %, und ebenso die elektrische und magnetische Energie der Welle, 
logarithmisch unendlich werden. Dieser Umstand läßt es, wie schon 


89) J. Lecher, Ann. d. Phys. 41 (1890). p. 850. 


11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. 5923 


H. Hertz bemerkte”), nicht zu, z. B. Wellen längs eines einzelnen 
Drahtes nach dieser Methode zu behandeln. In diesem Falle muß 
man die endliche Leitfähigkeit des Drahtes berücksichtigen, wenn man 
eine physikalisch zulässige Lösung zu erhalten wünscht (vgl. Nr. 12). 
Für zwei Paralleldrähte ist bei der Lecherschen Anordnung, 


(46) 2, Ks 

und gemäß (45k) 

(46a) = —J.: 

Wie bei dem analogen elektrostatischen Probleme kann man durch 
(46% 1-4 


die auf die Längeneinheit bezogene „Kapazität der Leitung“ definieren; 
ım Falle zweier Drähte von gleichem kreisförmigen Querschnitt ist 
ihr Wert: 


(46e) K= 





TE 
ae “ — ) 


(2a Abstand der Drahtachsen, b Radius des Querschnitts). 

Auf der linken Seite von (46b) steht die Differenz der Werte 
von © für zwei Punkte der beiden Leiter, welche in derselben Quer- 
schnittsebene liegen. Die durch diese Differenz bestimmte „Spannung“ 
ist gleich dem Linienintegral der elektrischen Feldstärke, erstreckt 
von einem Punkte des ersten bis zu einem Punkte des zweiten Leiters, 
und zwar längs einer ganz in der Querschnittsebene verlaufenden 
Kurve (Für eine aus der Querschnittsebene heraustretende Kurve 
wäre, in dem Felde der Drahtwellen, jenes Linienintegral vom Wege 
abhängig.) 

In entsprechender Weise ist durch die linke Seite der Gleichung 


(46d) 2. See pl], 


der auf die Längeneinheit der Leitung bezogene „Induktionsfluß“ de- 
finiert, und durch die Gleichung selbst die auf die Längeneinheit be- 
zogene (äußere) „Selbstinduktion der Leitung“. 
Aus (4ög, k) folgt 
(46) KL,= eu, 
(u, Permeabilität des Dielektrikums), 


so daß z. B. für zwei Paralleldrähte von gleichem, kreisförmigem Quer- 


90) H. Hertz, Ausbr. d. el. Kraft, Ges. Werke 2, p. 11. 
34* 


524 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 
schnitt sich aus (46c) ergibt 

_ ta] [a + Ve 
(46f) L,= log ni 


Eine dem Gedankengange der Fernwirkungstheorie näher stehende 
Behandlungsweise”) des Problemes geht von dem Induktionsgesetz 
aus. Wendet man dieses auf ein Band an, welches von zwei benach- 
barten Querschnittsebenen und von den beiden Leiteroberflächen be- 
grenzt ist, so folgt 


Ta» we Dee 
(47) BFLCERRL FT m ur ni 





Nimmt man hierzu die aus der Konstanz der Elektrizität fol- 
gende Beziehung 


de, 0J, 

(47 a) BY Napa R.04 ur 
und definiert X und Z, den Gleichungen (46b, d) gemäß, so erhält man 
xt. 8 
erh) re 
Hieraus ergibt sich als Geschwindigkeit der Drahtwelle 
(47 c) w== VEE: y 
was mit (45f) übereinstimmt, falls (46e) gilt. 

Doch ist wohl zu beachten, daß auf Grund der Feldgleichungen 
Kapazität und Selbstinduktion der Leitung nur für zylindrische Leiter 
definiert worden sind, und auch für solche nur dann, wenn das magne- 


tische Feld rein transversal ist. Würde nicht überall die Beziehung 
gelten 


(48) 9, kat 0, 


die infolge der Feldgleichungen (44b, c) die Relationen mit sich 
bringt: 


a 

(488) RER Tasse, 
09, , 9 

(48b) +0, 


so wäre es nicht mehr möglich, aus D das elektrische, aus % das 
magnetische Feld so abzuleiten, wie es die Gleichungen (45a, b) 
fordern. Dann würden die Begriffe der Spannung und des Induktions- 
flusses, und damit auch die der Kapazität und der Selbstinduktion in 
der Luft schweben. Die durch (45) noch hinzugenommene Speziali- 


91) P. Drude, Physik d. Äthers, p. 374 ff; Ann. d. Phys. 60 (1897), p. 1. 


11. Elektrische Drahtwellen; elementare Theorie. 525 


sierung dagegen, welche besagt, daß auch €, verschwindet, ist für die 
Existenz dieser Begriffe nicht wesentlich; würden wir sie fallen lassen, 
so würden für ® und ® eben nicht mehr die Differentialgleichungen 
(45ec) logarithmischer Potentiale, sondern andere partielle Differential- 
gleichungen gelten (Nr. 12), so daß X und Z, nicht mehr mit Hilfe 
der Potentialtheorie berechnet werden könnten. 

Die obige, auf den Gleichungen (47), (47a) fußende Ableitung 
der für die Fortpflanzung der Wellen längs der beiden Leiter maß- 
gebenden Gleichungen läßt sich so verallgemeinern, daß dem Einfluß. 
des Leitermateriales, wenigstens unter gewissen vereinfachenden Vor- 
aussetzungen, Rechnung getragen wird®?). Der endliche Leitungswider- 
stand bedingt es, daß an der Oberfläche der beiden Leiter die longi- 
tudinale elektrische Komponente nicht verschwindet, wenn auch ihre 
Werte (&,),, (E,), gegen die transversalen Komponenten von € sehr 
klein sind. Macht man die 

Annahme A: (E,), und (E,), haben längs der Umfangslinie des 
betreffenden Leiterquerschnitts jeweils einen konstanten Wert, so ergibt 
das Induktionsgesetz als Verallgemeinerung von (47) 


(49) [a MW) 4 (E), — (€). 
Wenn man hier für die Spannung und den Induktionsfluß die Be- 
ziehungen (46b, d) und die oben erhaltenen Werte von K und L, 
einführt, so involviert das die 

Annahme B: Das transversale elektromagnetische Feld im Di- 
elektrikum erfährt durch das Hinzutreten der longitudinalen elektrischen 
Komponente eine zu vernachlässigende Änderung. 

Für die Stromstärken J, und J,, welche von den Wechselfeldern 
(E,),, (E,), in den Leiterquerschnitten erregt werden, setzt man, 
ebenso wie in Nr. 10, Gl. (41): 


E,=RhAt+ zu: ie Lu), 
&, = Rh+asL i2 &% = her +5 -Lal. 


So sind die effektiven Werte der Widerstände und der inneren 

Selbstinduktionen, für Schwingungen einer gegebenen Frequenz, durch 

Querschnittsform und Material der zylindrischen Leiter bestimmt. 
Aus (49, 49a) im or mit (46a, b, d) erhält man 


0J, 10 
(496) SE ln MINE Rn + Rdı, 


(49a) 





92) Vgl. E. Cohn, Das elektromagnetische Feld, p. 475 ft. 


526 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 

wo abkürzungsweise gesetzt ist 

(49) R=-R+%, Ll=L,+Lı+%s- 

Aus (49b) und der auch hier streng gültigen Gleichung (47a) folgt 





(50) Bas DR PA 222 
Das ist die sogenannte „Telegraphengleichung“, welche die Fortpflan- 
zung der Elektrizität längs der Leitung bestimmt. Es ist indessen zu 
beachten, daß R und L nur für eine gegebene Frequenz v als Kon- 
stanten zu betrachten sind. Die Fortpflanzung solcher Schwingungen 
wird dargestellt durch e, = (- e”'-2:, wobei die komplexe Konstante g, 
und damit Geschwindigkeit und räumliche Dämpfung der Welle, sich 
bestimmt aus 


(50a) ?—2-LK—ivRK. 


Was die Annahme (A) anbelangt, so trifft sie bei axial-symme- 
trischer Anordnung, z. B. für das Kabel, zu. Für Paralleldrähte je- 
doch gilt sie nur dann, wenn deren Abstand groß gegen ihren Quer- 
schnittsradius ist. Andererseits darf der Abstand der beiden Leiter 
nicht zu groß werden, sonst würde die Annahme (.B) nicht mehr er- 
füllt sein, indem die longitudinalen Verschiebungsströme das Feld in 
der Querschnittsebene beeinflussen würden. In den meisten prak- 
tischen Fällen ist der Fehler, der durch Einführung der Annahmen 
(A) und (B) entsteht, nur gering, so daß die soeben skizzierte Theorie 
mit genügender Annäherung gilt”?). Der Grad der Annäherung läßt 
sich natürlich nur für solche Fälle genau beurteilen, in denen man 
über eine exakte Lösung des Problems verfügt (vgl. Nr. 12). 


12. Drahtwellen; strenge Theorie. a) Einzeldraht. Die elek- 
tromagnetischen Wellen, die an einem einzelnen, geraden, unendlichen 
Drahte von kreisförmigem Querschnitt entlang fortschreiten, sind von 
J. J. Thomson®?) und besonders eingehend von A. Sommerfeld”*) unter- 
sucht worden. Führt man in die Feldgleichungen (1,2) den Formeln 
(37a) gemäß Zylinderkoordinaten (z, e, %) ein, so ergeben sich, unter 
Annahme axialer Symmetrie, zwischen den Komponenten &,, &,, 9, 
die Verknüpfungsgleichungen 


93) J. J. Thomson, Lond. Math. Soc. Proc. 17 (1886), p. 310. 

94) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 67 (1899), p. 233. Die in den folgenden 
Gleichungen (54) bis (55d) enthaltenen Folgerungen finden sich noch nicht in 
der zitierten Arbeit. 


12. Drahtwellen; strenge Theorie. 527 





e 0€, 6 1:2 
ed rer (ed), 
& 08, 6 ER 09 
er re 
u 60 A 





e dt PR) 
Dieselben werden erfüllt durch den a 


nl 
TR er &,— 
9 m Bu "som 
Y ce ötöe ce ode’ 


falls II(z, eo, t) der partiellen Differentialgleichung genügt 
su0 I , ouol I 1 2 ou 
Ar») wre et) 


II ist eine verallgemeinerte Hertzsche en wie der Vergleich mit 
Nr. 4, insbesondere (19, 19a), lehrt. Die Gleichung der elektrischen 
Kraftlinien wird jeweils gegeben durch 


(öle) %,2.,)=— eo. — constans. 


Die im Innern des Drahtes geltenden Gleichungen erhält man 
unter Vernachlässigung des hypothetischen Verschiebungsstromes, in- 
dem man setzt 


vu, 8=/(, für o<b. 
Im Außenraum dagegen, der von dem Dielektrikum erfüllt ist, gilt 
u—_u, 6=0 für o>b. 


An der Oberfläche des Drahtes gelten die Grenzbedingungen 
(5, 6); sie verlangen die Stetigkeit der tangentiellen Komponenten 
von & und 9: 


(51 d) E,; pr E,. Di Ks Hvar für , lbs b. 


Die Fortpflanzung einfach periodischer Schwingungen parallel der 
z-Achse wird dargestellt durch den Ansatz 


(62) = er-n.u(g); 


q ist eine zu bestimmende, komplexe Konstante, von welcher Ge- 
schwindigkeit und räumliche Dämpfung der Wellen abhängen. Aus 
(51b) resultiert für u je Besselsche Differentialgleichung: 


1d 
(52a) ss “+ gt, 
wobei die Unabhängige x die Bedeutungen hat: 


528 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 
(520) == VG, W=— "Ei, für o<b, 
(52) ne VE, le, für o>b. 


Im Drahtinnern hat man für u(o) die auf der Drahtachse (g = 0) 
endliche Besselsche Funktion erster Art zu setzen: 


(524) u-1—0.ha), Aa) fer" eda. 
0 


Im Außenraum dagegen sind Besselsche Funktionen zweiter Art an- 
zuwenden: 





(52e) u=u = D-K,(%,), 
A 1 Fr c0o8 & Zur 
(52f) Bd) = + J reg — Hl e 


Dieser Ansatz genügt der Differentialgleichung (52a) und erfüllt die 
zu stellende Bedingung, daß in großer Entfernung von der Drahtachse 
der gesamte zur Drahtachse senkrechte Energiefluß verschwindet, wo- 
fern das in (52c) noch willkürliche Vorzeichen der Wurzel so gewählt 
wird, daß in der komplexen Größe 


Ve—gQ=a+tBßi, B>0 
ist. Für große x wird 
(628) Ka) = Vauel*7), 
während für kleine Werte von x (unter Vernachl. von x? gegen 1) gilt 
(52h) K,(a) = log (*?*), 705618. — gr 
Aus (5la, b), in Verbindung mit (52, 52d,e), folgt für das 
elektromagnetische Feld im Drahtinnern: 
E= 0. IP) la) ern, 
5) |, 0 B-N- Na) er) o<. 
0 Ka er nen, 
Im Außenraume dagegen wird das Feld dargestellt durch 
= DW’) Ka) et, 
(532) 1%, — — D-ig- (ke Rla)-ere,\o>b. 
DE Blair 


[4 


12. Drahtwellen; strenge Theorie. 529 


Aus den Grenzbedingungen (5ld) ergibt sich demgemäß, nach 
Elimination der Konstanten C und D: 
Kg), ( Io@) (ka — 9°) 
(53) FE. ( ( 


) War; Ka) 
I, (8%) /a=ryRR—g ive 


RK, ). Vka—? 
eine transzendente Gleichung, welche zur Berechnung der für die 
Fortpflanzung der Welle maßgebenden Konstanten q dient. 

Es ist nicht ohne Interesse, die gegebene Lösung der Feld- 
gleichungen den Ansätzen der beiden vorigen Abschnitte gegenüber- 
zustellen. In Nr. 10 wurde nur das Drahtinnere betrachtet, und zwar 
unter Annahme eines von 2 unabhängigen Feldes. In dem hier be- 
handelten allgemeineren Falle, wo die Komponenten mit z nach einer 
Exponentialfunktion variieren, ergibt (41): 











ar ER Ak Kr) ( ®) 
(54) R+ ec? L— 276 Fa (x) 0 f 
Wird hier q? gegen %k,? gestrichen — die numerische Berechnung er- 


weist das in allen praktischen Fällen als zulässig — so geht (54), 
mit Rücksicht auf (52b), in (41a) über, so daß die letztgenannte 
Gleichung mit genügender Annäherung zur Berechnung von R und Z, 
dienen kann. 

In Nr. 11, wo wir die Drähte als vollkommen leitend betrach- 
teten, mußten wir den Einzeldraht von der Behandlung ausschließen, 
weil die logarithmischen Potentiale, aus welchen dort das Feld ab- 
geleitet wurde, im Unendlichen ein unzulässiges Verhalten der Kom- 
ponenten ergeben würden. Die hier dargelegte Theorie beseitigt jene 
Schwierigkeit, indem sie die endliche Leitfähigkeit des Drahtes in 
Betracht zieht. Nur in der Nachbarschaft des Drahtes, wo für K,(«) 
die Näherungsformel (52h) gilt, reichen die logarithmischen Potentiale 
zur Darstellung des Feldes aus. In großer Entfernung von der Draht- 
achse dagegen ist die Formel (52g) zu verwenden, die ein ganz 
anderes Verhalten der Komponenten ergibt. 

Wie im Anschluß an Gl. (48) bemerkt wurde, ist das Ver- 
schwinden der longitudinalen magnetischen Feldstärke die Bedingung 
für die Existenz eines elektrischen Potentiales ® und einer magne- 
tischen Stromfunktion # in der Querschnittsebene. Diese Bedingung 
ist auch in dem hier diskutierten Falle erfüllt. In der Tat kann man, 
gemäß (la), im Außenraume setzen: 


0 or 
(55) I ne FL udy—— 


wofern man ® und % folgendermaßen aus der Funktion IT ableitet: 
(55a) DE EN. 


530 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


An der Drahtoberfläche wird, mit Rücksicht auf (52), (52e): 
[9 = Dia Ka) re, 


(55b) |, — n. en K,(«) eirt—igs, 


z=byk?—Q. 

Während die in Nr. 11 behandelten Fälle dadurch gekennzeichnet 
sind, daß die vom Drahte ausgehenden elektrischen Kraftlinien ganz 
in der Querschnittsebene verlaufen, und auf einem zweiten, parallelen 
Leiter endigen, spielt im Falle des Einzeldrahtes die longitudinale 
Komponente der Feldstärke eine wesentliche Rolle; die Verschiebungs- 
ströme, welche deren zeitliche Schwankungen begleiten, besorgen ge- 
wissermaßen die Rückleitung und ersetzen so den anderen Leitungs- 
draht. Die „Spannung“ und den „magnetischen Induktionsfluß“ kann 
man auch hier eindeutig definieren, indem man unter Spannung das 
Linienintegral der elektrischen Feldstärke versteht, erstreckt längs 
einer ganz in der Querschnittsebene verlaufenden Kurve, die auf der 
Drahtoberfläche beginnt und bis in unendliche Entfernung reicht, und 
andererseits den magnetischen Induktionsfluß durch eine Kurve der- 
selben Art bestimmt. Aus (55) folgt, da ® und # im Unendlichen 
verschwinden, daß die in (55b) angegebenen Werte ®,, #, Spannung 
und magnetischen Induktionsfluß des Einzeldrahtes darstellen. Defi- 
niert man weiter die „Kapazität“ und die „äußere Selbstinduktion“ 
durch 


A 1 
(550) o—&, w-!L4, 


und berechnet die Ladung e, der Längeneinheit und den Gesamt- 
strom J, aus den in (53a) angegebenen Werten von E, und $9,,, 
so folgt 


ame % 
(55d) he I 2, tb, 
in Übereinstimmung mit der Relation (46), wobei unter & die kom- 
plexe Größe zu verstehen ist: 
K,@) 

ee Zu ZB 

Führt man die so erhaltenen Werte von K und L,, und die in 
(54) angegebenen von R und Z, in (50a) ein, so erhält man zur 
Bestimmung von g eine Gleichung, die mit (53b) identisch ist. 

Um g aus dieser Gleichung zu ermitteln, macht man die nach- 
träglich durch die numerische Berechnung zu rechtfertigende An- 
nahme, daß 


Fr b°’(k,? BE 4°) 
(56) _ ir 





12. Drahtwellen; strenge Theorie. 531 


dem Betrage nach klein gegen 1 ist. Alsdann kann man zur Be- 
rechnung von & aus (Ö5e) die Näherungsformel (52h) verwenden und 
erhält so: 


(56a) &—= log Be — —_ 1 jogy 


Vereinfacht man in entsprechender Weise die rechte Seite von (3b) 
und setzt links, was gleichfalls die nachträgliche numerische Aus- 
wertung rechtfertigt, q? klein gegen %?, so folgt, mit Rücksicht auf 
(52), (52b), (52e): 

5 = un, nl en 

(57) 7( log n) EL RYTOR de 1 

Die abkürzungsweise mit m bezeichnete rechte Seite dieser Gleichung 
ist als bekannt anzusehen. Die Auflösung geschieht durch eine Reihe 
sukzessiver Approximationen, die nach dem kettenbruch-ähnlichen 
Schema fortschreiten ®%): 


(57a) BER 


Die gute Konvergenz dieses Verfahrens ist durch die Kleinheit 
der Beträge des gegebenen m bzw. des erhaltenen n bedingt. Durch 
n bestimmen sich gemäß (55d) und (56a) K und L, und andererseits 
aus (96) die komplexe Konstante g, welche Geschwindigkeit und 
räumliche Dämpfung der längs des Einzeldrahtes fortschreitenden 
Welle angibt. Es sind, ähnlich wie in Nr. 10, zwei Grenzfälle zu 
unterscheiden, je nachdem das Argument von J,(z) in (57) groß oder 
klein ist. In dem ersten Falle, der starkem Skin-Effekt entspricht, 
ist die räumliche Dämpfung gering, die Geschwindigkeit ist nur wenig 
kleiner als die Lichtgeschwindigkeit. Im zweiten Falle dagegen, wo 
das Feld merklich in den Draht eindringt, ist die Dämpfung beträcht- 
licher, auch ist die Verzögerung der Welle durch den Draht größer **). 
In praxi liegt bei Hertzschen Schwingungen fast stets der erste 
Fall vor. 


b) Kabel und Paralleldrähte. Wellen in Kabeln sind auf Grund 
der Feldgleichungen von J. J. Thomson”) untersucht worden. Der 
Isolator ist hier von zwei konzentrischen Kreiszylindern begrenzt, die 
ihn von dem inneren und äußeren Leiter trennen. In dem inneren 
Leiter kommen wiederum Besselsche Funktionen erster Art zur Ver- 
wendung, in dem äußeren solche zweiter Art, während die Lösung 


95) J.J. Thomson, London Roy. Soc. Proc. 46 (1889), p.1; Rec. res., p. 262 ff. 





532 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


in dem Isolator aus beiden Partikulärintegralen der Besselschen Difte- 
rentialgleichung sich zusammensetzt. Die vier an den Trennungs- 
flächen geltenden Grenzbedingungen ergeben nach Elimination der 
drei Quotienten der eingehenden multiplikativen Konstanten eine 
transzendente Gleichung, aus der sich die für die Fortpflanzung der 
Welle maßgebende Konstante q bestimmt. In allen praktischen Fällen 
gibt die elementare Theorie (Nr. 11) eine ausreichende Annäherung. 
Den Fall, wo der äußere Leiter des Kabels durch Luft ersetzt ist 
(also Draht mit dielektrischem Mantel in Luft) behandelt F. Harms”*); 
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit hängt in eigentümlich sprungartiger 
Weise von der Dicke des Mantels ab. 

Auf Wellen, die längs zweier Paralleldrähte von kreisförmigem 
Querschnitt fortschreiten, bezieht sich eine sehr ausführliche Unter- 
suchung von @. Mie”*). Er führt Bipolarkoordinaten in die Feld- 
gleichungen ein und löst sie durch Reihen, die nach Produkten aus 
trigonometrischen Funktionen und Besselschen Funktionen zweiter Art 
fortschreiten. Glücklicherweise lassen sich die zunächst recht ver- 
wickelten Formeln vereinfachen, wenn einer der beiden folgenden 
Fälle vorliegt: 

A) 2a groß gegen b. (2a Abstand der Drahtachsen, b Quer- 

schnittsradius.) 

B) | —k?|-4a? klein gegen 1. 

Im Falle B), d.h. bei hinreichend kleinem Abstande der Drähte, 
kann man die longitudinale elektrische Komponente und damit den 
zur Leitung parallelen Verschiebungsstrom vernachlässigen. Es ist 
jedoch die durch die Anwesenheit des anderen Drahtes bedingte 
Störung der Symmetrie zu berücksichtigen; es zeigt sich, daß sie das 
Auftreten einer longitudinalen magnetischen Komponente und damit 
die Drahtachse umkreisender Leitungsströme und merkwürdiger Skin- 
Effekte im Gefolge hat°®). 

Im Falle A) dagegen kann das Feld in jedem der beiden Drähte 
als axial-symmetrisches gelten; es kommt hier zwar nicht die longi- 
tudinale magnetische, wohl aber die longitudinale elektrische Kompo- 
nente in Betracht. Dieser Fall, den man auch direkt in Angriff 
nehmen kann”), ist demjenigen des Einzeldrahtes nahe verwandt. 
Spannung und Induktionsfluß der Leitung sind eindeutig zu defi- 
nieren und finden sich, wenn die gegenüberliegenden Elemente der 


95°) F. Harms, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 44. 

96) @. Mie, Ann. d. Phys. 2 (1900), p. 201. 

97) W. B. Morton, Phil. Mag. 50 (1900), p. 605. Derselbe Autor disku- 
tiert den Verlauf der Kraftlinien: Phil. Mag. 4 (1902), p. 302. 


12. Drahtwellen; strenge Theorie. 533 


beiden Paralleldrähte jeweils entgegengesetzt geladen sind, gleich: 
9, — D,—=D.2ig er. (K,la,) — K@)}, 


58 
9 mm: u ert—ia?.(K,la) — K@)}; 


(680) ey IP, = aaa. 
Man kann, wie bei dem Einzeldrahte, x,? klein gegen 1 an- 
nehmen, im allgemeinen aber nicht #,°. Dementsprechend erhält man 


hier für X und Z, Ausdrücke von der Form (55d), wo aber für & 
statt des Wertes (56a) zu setzen ist: 


Be — Eve): 


Im allgemeinen ist & komplex; daher sind es auch Kapazität und 
äußere Selbstinduktion der Leitung. 

Gelten jedoch beide Bedingungen A) und B) gleichzeitig, so liegt 
der von der elementaren Theorie behandelte Fall vor (vgl. Nr. 11, 
Annahme A) und B)). Dann ist auch auf K,(2,) die Näherungs- 
formel (52h) anzuwenden, so daß man erhält: 


(58e) — 2 log (7) 


In diesem Falle ergeben sich aus (5öd) für X und L, reelle Werte, 
die auch als Grenzwerte aus (46c), (46f) abgeleitet werden können. 
Indem die Theorie von Mie die Bedingungen A) und B) voneinander 
trennt, gestattet sie es, den Grad der Näherung, welchen die elemen- 
tare Theorie erreicht, nach jeder der beiden Richtungen hin genauer 
zu beurteilen. 

Eine beliebige Anzahl (n) paralleler Drähte, welche in die Ecken 
eines regelmäßigen Polygons eingespannt sind, hat W. B. Morton”) 
untersucht für den Fall, daß die Abstände je zweier Drähte groß 
gegen die Querschnittsradien sind und dennoch der Bedingung B) ge- 
nügen. Das ist der Fall der elementaren Theorie, wenn die Be- 


n 


ziehung (451) erfüllt ist, d.h. wenn Da 0 ist. Dann ergeben 


sich für die Kapazitäts- und Beibeiinduktichäkösfiifenten reelle, von 
den geometrischen Abmessungen des Querschnittes der Leitung ab- 
hängige Werte, und durch diese ist g? explizit bestimmt. Ist jedoch 
jene Beziehung (451) nicht erfüllt, so kommt, ähnlich wie beim Einzel- 
draht, die Rückleitung durch die Verschiebungsströme in Betracht, 
und es ergibt sich für q eine transzendente Gleichung. 


98) W. B. Morton, Phil. Mag. (6) 1 (1901), p. 563. 


534 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen 


In allen Fällen®*) %), wo die dielektrische Rückleitung in Frage 
kommt, bestimmen sich K und L, durch Gleichungen von der Form (55d), 
wobei die komplexe Größe & zu schreiben ist: 

(59) ee > 

Das bedeutet, daß für einen bestimmten Leiterquerschnitt die Spannung 
der Ladung, der Induktionsfluß dem Strome der Phase nach etwas 
voreilt; der Phasenwinkel « ist meist klein; nur dann, wenn « null 
und daher & reell wird, liegt der Fall der elementaren Theorie 
(Nr. 11) vor. Es entsteht nun die Frage, ob und wie die komplexen 
Größen K und L, mit der elektrischen und der magnetischen Energie 
der Welle zusammenhängen. Definiert man die „effektive Kapazität“ K’ 
und die „effektive äußere Selbstinduktion“ L,' durch 





ara le, 2] Air 1 157 
(59a) Dil, en I? 


[die horizontalen Striche deuten die Mittelwertsbildung über die Zeit 
einer Schwingung an. Elektrische Energie U und magnetische Energie 
T sind auf die Längeneinheit der Leitung zu beziehen], so gilt es, 
diese reellen Größen mit den komplexen Ausdrücken von K und L, 
in Verbindung zu bringen. Zur Lösung dieser Aufgabe zieht M. Abra- 
ham°”) einen Satz heran, welcher dem Poyntingschen Satze in gewisser 
Weise verwandt ist. Der Poyntingsche Satz ergibt bei Mittelwerts- 
bildung über eine ganze Schwingung und bei Integration über eine 
geschlossene Fläche (Flächenelement de, äußere Normale n): 


(59%) [Sa Q, S- «[E$]. 


Der erwähnte Satz jedoch, der sich ebenfalls aus den Feldglei- 

chungen und Grenzbedingungen (Nr. 1) ergibt, besagt: 

(59) s/[%,d-T—T, T- [AS]. 

Dabei stellt der Vektor A eine Art Vektorpotential dar, aus dem sich 
die Feldstärken des Wechselfeldes folgendermaßen ableiten: 

(594) E-—F, uH—rotl. 

Der Satz (59e) gilt für eine beliebige geschlossene Fläche, 
welche beliebige homogene isotrope Körper, Leiter, Halbleiter oder 
Isolatoren, einschließt; dieselben können mit irgend welchen Trennungs- 
flächen aneinander grenzen. 

Auf das Drahtinnere angewandt, ergibt der Poyntingsche Satz (59b) 
den Zusammenhang des effektiven Widerstandes R mit der Jouleschen 


99) M. Abraham, Ann. d. Phys. 6 (1901), p. 217. 


13. Reflexion am Ende der Leitung. 535 


Wärme (vgl. Nr. 10). In ähnlicher Weise folgt aus (59e), daß die 
effektive Selbstinduktion L, des Drahtinnern in der Tat die magnetische 
Energie des Drahtinnern bestimmt. 

Beide Sätze gemeinsam, auf den Isolator angewandt, bestimmen 


die durch (59a) definierten Größen K und L, folgendermaßen"): 
(12-9), 
(60) 1,5, 
I re P). 
Dabei ist & ein kleiner Winkel, der mit dem Phasenwinkel « von & 
(vgl. (59)) verknüpft ist durch 


(60a) = ep 


Bei starkem Skin-Effekt, wo in (41a) für J,(x) sein asymptotischer 
Wert zu setzen ist, wird R=vL,je, daher ß=.«. Dann und nur 
dann, wenn « gleich null, d.h. wenn K und L, reell sind, sind sie 
mit den für die Energie maßgebenden Größen X’ und Z,’ identisch. 

Selbstverständlich ist der Gültigkeitsbereich der Relationen (60) 
durch die Bedingung eingeschränkt, daß in der Querschnittsebene ein 
elektrisches Potential und eine magnetische Stromfunktion existieren 
müssen, da anderenfalls K und L, nicht definiert wären. 

Die vorstehenden Entwicklungen beruhen selbstverständlich auf 
der Voraussetzung, daß außer den zur Stromleitung verwandten Drähten 
sich keine Leiter im Felde befinden; in der Nähe befindliche Leiter 
würden das Feld wesentlich verändern. Ein hierauf bezügliches Problem 
hat T. Levi-Oiwvita') behandelt: längs eines Drahtes, dem parallel 
ein ebener, dünner, leitender Schirm aufgestellt ist, pflanzt sich eine 
elektromagnetische Welle fort; es gelingt auf Grund der erhaltenen 
Formeln, für diesen Fall den Einfluß des Schirmes auf das elektrische 
und magnetische Feld zu diskutieren. 


13. Reflexion am Ende der Leitung. Wir setzen fest, daß die 
— etwa aus zwei Paralleldrähten bestehende — Leitung sich von der 
Ebene (2 0) aus nach der Seite der negativen 2 hin erstrecken soll. 
Unter Vernachlässigung des Widerstandes und der inneren Selbst- 
induktion der Leitungsdrähte ist die Geschwindigkeit der Drahtwellen: 
61 RENTEN 
nn I DEE 
Zwischen Spannung V’ und Strom J’ besteht für die einfallende 
Welle der elementaren Theorie zufolge (Gl. (45k), (46b)) der Zu- 





100) T. Levi-Oivita, Acc. Line Rend. XI! (1902), p. 163, 191, 228. 


536 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


sammenhang: 
(61a) J’=we=wKV'; 
für die am Ende (2=0) reflektierte und nun nach der Seite der 
negativen z hin fortschreitende Welle hingegen sind Strom J” und 
Spannung V” verknüpft durch 
(61b) J’=—we—=—wKV”. 

Die Aufgabe, aus den am Ende der Leitung vorgeschriebenen 
Bedingungen, welche sich auf den resultierenden Strom: 


(61e) A=J7+J"=wK(V’’— v7” 
und die resultierende Spannung: 
(61d) n=#r+7" 


beziehen, die Amplitude und Phase der reflektierten Welle zu er- 
mitteln, ist in umfassendster Weise von O. Heaviside®®) behandelt 
worden, und zwar vom Standpunkte der elementaren Theorie aus. 
Wir unterscheiden drei Fälle: 


A) Kondensator von der Kapazität K, am Ende. Man hat für 
z2=( die Bedingung: 


(62) = KÜ=ivk,V, 

Hieraus, in Verbindung mit den Gleichungen (61a) bis (61d), folgt: 
Se RER KM 

(62) mtr gy- =. R 

und daher: A 

(62b) Get, 


Es wird demnach die Welle am Ende der Leitung ohne Ampli- 
tudenverlust, aber mit einer Phasenverzögerung 2y reflektiert. Die 
gleiche Phasenverzögerung erhält man, wenn man sich die Endkapazi- 
tät beseitigt denkt und sich statt dessen vorstellt, daß die Welle 
eine weitere Strecke der Leitung von der Länge y4/2x in Hinweg 
und Rückweg durchlaufen hätte, ohne an dem offenen Ende einen 
Phasenverlust zu erleiden. Bei z2= 74/2 ist dann ein Stromknoten 
zu denken; liegt bei z2= — ! ein Spannungsknoten, so hat man: 


1 1 h 
Be a a 7er ae sale 3 (ke1,28,...). 
Hieraus ergibt sich, mit Rücksicht auf (62a), für 


(62e) = 2 


die transzendente Gleichung: 
(62.d) sg. 


13. Reflexion am Ende der Leitung. 537 


Rechts steht hier der Quotient aus der Kapazität ÄXl der Leitung 
(von der Länge /) und der Endkapazität X,. Man kann aus (62c), (62 d) 
bei gegebener Wellenlänge A die Lage der Spannungsknoten er- 
mitteln'®). Man kann jene Gleichungen aber auch verwenden, wenn 
man die Eigenschwingungen eines Systems berechnen will, bestehend 
aus einem Kondensator und zwei parallelen Drähten von der Länge |], 
die einerseits in den Kondensator münden, andererseits durch eine 
kurze Brücke leitend miteinander verbunden sind. Die Gleichung (62d) 
stimmt dann mit derjenigen überein, auf welche die Kirchhoffsche 
Theorie der Kondensatorentladung?) führt (vgl. Nr. 3). 

B) Widerstand R, am Ende. Sind die Drähte am Ende durch 
eine induktionsfreie Brücke vom Widerstand R, verbunden, so gilt 
bei z2—= 0 die Bedingung: 

(63) V,= RJo. 

Hieraus, in Verbindung mit den Gleichungen (61a) bis (61d), folgt: 
7 uwKR,—1 

(632) PR TER IT 

Es findet demnach eine Amplitudenverringerung der Welle bei 
der Reflexion statt. Die Spannung wird am Ende mit gleicher oder 
mit entgegengesetzter Phase reflektiert, je nachdem R 2 1/wK. ist. 
Im Grenzfalle R, = YwK wird die einfallende Welle durch den End- 
widerstand vollständig absorbiert, so daß sich überhaupt keine rück- 
laufende Welle ausbildet. 


C) Selbstinduktion L, am Ende. Sind die beiden Drähte der 
Leitung am Ende durch eine widerstandsfreie Selbstinduktion Z, 
überbrückt, so gilt bei z = 0 die Bedingung: 


ed 

(64) n=- bh =Glh. 

Hieraus, in Verbindung mit (61a) bis (61d), folgt: 
r-v : ; 

(64a) yrw——ign, gr — mE 


Berücksichtigt man (61) und die Beziehung 


ag 
=uT, 
so wird 
3% L 
(64b) tg zur a ra 


101) E. Cohn und F. Heerwagen, Ann. d. Phys. 43 (1891), p. 343. Es wird 
in dieser Arbeit auch berücksichtigt, daß der statische Wert der Kapazität K, 
eines ebenen Kondensators bei schnellen Schwingungen zu korrigieren ist. 
Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2. 35 


538 V 18. M. Abraham. Elektromagnetische Wellen. 


Somit folgt aus (64a): 
a 


(64c) pen 


Es wird demnach die Spannungswelle am Ende der Leitung mit 
einer Phasenvoreilung 2y reflektiert. Eine Brücke mit Selbstinduktion 
ist äquivalent einer Verkürzung der Leitung!”?), und zwar um die 
Strecke yA/2z. 

Die Eigenschwingungen eines Systems, bestehend aus zwei 
Paralleldrähten von der Länge !, die einerseits durch die Selbst- 
induktion Z,, andererseits durch eine kurze Brücke von verschwin- 
dender Selbstinduktion verbunden sind, bestimmen sich ähnlich, wie 
im Falle A). Für die in (62e) definierte Größe x, und somit für die 
Wellenlängen der Eigenschwingungen, erhält man die transzendente 
Gleichung: 


(64d) xtgx -7, ; 


deren rechte Seite der Quotient aus der Selbstinduktion der Leitung 
und derjenigen des Endes ist. 

Eine strenge, auf den Feldgleichungen beruhende Theorie von 
den Vorgängen am Ende einer Leitung zu geben, ist sehr schwierig; 
nicht einmal für den Fall eines einzelnen Drahtes von kreisförmigem 
konstanten Querschnitt ist dieses Problem gelöst. Für einen Leiter, 
dessen Querschnitt nach dem freien Ende hin wie derjenige eines ge- 
streckten Rotationsparaboloides abnimmt, hat M. Abraham!) versucht, 
die stehenden Wellen zu behandeln, welche sich in der Nähe des 
freien Endes ausbilden. Die Vorgänge stehen in einer gewissen 
Analogie zu den Luftschwingungen am offenen Ende einer Röhre, mit 
dem Unterschiede jedoch, daß die Strahlung nicht, wie dort, vom 
Ende aus, sondern von allen Elementen der Leitung aus seitlich in 
den Raum gesandt wird. 


102) P. Drude, Ann. d. Phys. 60 (1897), p. 1. 
103) M. Abraham, Ann. d. Phys. 2 (1900), p. 32. 


(Abgeschlossen im Juli 1906; spätere Literatur konnte nur teilweise berück- 
sichtigt werden.) 


Inhaltsübersicht. 


I. Grundlage der speziellen Relativitätstheorie.*) 

1. Historisches (Lorentz, Poincare, Einstein). 

2. Das Relativitätspostulat. 

3. Das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die Theorie von 
Ritz und verwandte Theorien. 

4. Relativität der Gleichzeitigkeit. Ableitung der Lorentz-Transformation aus 
den beiden Postulaten. 

5. Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation. 

6. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten und seine Anwendung 
auf Aberration und Mitführungskoefizient. Dopplereffekt. 


II. Mathematische Hilfsmittel. 
7. Die vierdimensionale Raum-Zeitwelt (Minkowsk:). 
8. Übergang zu allgemeineren Transformationsgruppen. 
9. Tensorrechnung bei affinen Koordinatentransformationen. 
10. Die geometrische Bedeutung der kontra- und kovarianten Komponenten eines 
Vektors. 
11. Flächen- und Raumtensoren. Vierdimensionales Volumen. 
12. Duale Ergänzung zu Flächen- und Raumtensoren. 
18. Übergang zur allgemeinen Geometrie Riemanns. 
14. Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors. 
15. Geodätische Linien. 
16. Raumkrümmung. 
17. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen. 
18. Die Spezialfälle der euklidischen Geometrie und der konstanten Krümmung. 
19. Die Integralsätze von Gauß und Stokes im vierdimensionalen Riemannschen 
Raum. 
20. Herleitung von invarianten Differentialoperationen mit Benutzung der geo- 
dätischen Komponenten. 
21. Affintensoren und freie Vektoren. 
22. Realitätsverhältnisse. 
23. Infinitesimale Koordinatentransformation und Variationssätze. 


*, Ich möchte auch an dieser Stelle Herrn Geheimrat Klein für das große 
Interesse, das er diesem Referat entgegengebracht hat, seine tatkräftige Hilfe bei 
der Durchsicht der Korrektur und seine vielen wertvollen Ratschläge meinen 
wärmsten Dank aussprechen. Auch Herrn Bessel-Hagen bin ich für sorgfältige 
Durchsicht eines Teiles der Korrekturbogen zu Dank verpflichtet. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 36 


540 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


24. 
25. 
26. 


27. 
28. 
29. 
50. 


31. 
82. 


88. 
84. 
55. 


36. 


47. 


IIi. Weiterer Ausbau der speziellen Belativitätstheorie. 
a) Kinematik. 
Vierdimensionale Darstellung der Lorentz-Transformation. 
Das Additionstheorem der Geschwindigkeiten. 
Transformation der Beschleunigung. Hyperbelbewegung. 


b) Elektrodynamik. 
Invarianz der Ladung. Viererstrom. 
Die Kovarianz der Grundgleichungen der Elektronentheorie. 
Ponderomotorische Kraft und Dynamik des Elektrons. 
Impuls und Energie des elektromagnetischen Feldes. Differential- und Inte- 
gralform der Erhaltungssätze. 
Das invariante Wirkungsprinzip der Elektrodynamik. 
Anwendungen auf spezielle Fälle. 
«) Die Integration der Potentialgleichungen. 
ß) Das Feld der gleichförmig bewegten Punktladung. 
y) Das Feld der Hyperbelbewegung. 
d) Invarianz der Lichtphase. Reflexion am bewegten Spiegel. Strahlungs- 
druck. 
e) Das Strahlungsfeld eines bewegten Dipols. 
&) Die Reaktionskraft der Strahlung. 
Minkowskis phänomenologische Elektrodynamik bewegter Körper. 
Elektronentheoretische Ableitungen. 
Impuls-Energietensor und ponderomotorische Kraft der phänomenologischen 
Elektrodynamik. Joulesche Wärme. 
Anwendungen der Theorie. 
«) Die Versuche von Rowland, Röntgen, Eichenwald und Wilson. 
ß) Widerstand und Induktion in bewegten Leitern. 
y) Die Ausbreitung des Lichtes in bewegten Medien. Mitführungskoeffizient. 
Versuch von Airy. 
ö) Signalgeschwindigkeit und Phasengeschwindigkeit in dispergierenden 
Medien. 
c) Mechanik und allgemeine Dynamik. 
Die Bewegungsgleichungen. Impuls und kinetische Energie. 
Von der Elektrodynamik unabhängige Begründung der relativistischen Me- 
chanik. 
Das Hamiltonsche Prinzip der relativistischen Mechanik. 
Generalisierte Koordinaten. Kanonische Form der Bewegungsgleichungen. 
Die Trägheit der Energie. 
Allgemeine Dynamik. 
Transformation von Energie und Bewegungsgröße eines Systems bei Vor- 
handensein von äußeren Kräften. 
Anwendung auf spezielle Fälle. Versuch von Trouton und Noble. 
Hydrodynamik und Elastizitätstheorie. 


d) Thermodynamik und Statistik. 
Das Verhalten der thermodynamischen Zustandsgrößen bei einer Lorentz- 
Transformation. 
Prinzip der kleinsten Wirkung. 


Inhaltsübersicht. 541 


48. Die Anwendung der relativistischen Mechanik auf die Statistik. 
49. Spezialfälle. 

«) Die Strahlung im bewegten Hohlraum. 

ß) Das ideale Gas. 


IV. Allgemeine Relativitätstheorie. 


50. Historisches bis zu Einsteins Arbeit von 1916. 
51. Allgemeine Formulierung des Äquivalenzprinzip.. Zusammenhang zwischen 
Gravitation und Metrik. 
52. Das Postulat der allgemeinen Kovarianz der Naturgesetze. 
53. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. 
&) Die Bewegungsgleichungen des Massenpunktes bei langsamen Geschwin- 
digkeiten und schwachen Gravitationsfeldern. 
b) Die Rotverschiebung der Spektrallinien. 
c) Fermats Prinzip der kürzesten Lichtzeit in statischen Gravitationsfeldern. 
54. Der Einfluß des Schwerefeldes auf materielle Vorgänge. 
55. Die Wirkungsprinzipien für materielle Vorgänge bei Vorhandensein von 
Gravitationsfeldern. 
56. Die Feldgleichungen der Gravitation. 
57. Herleitung der Gravitationsgleichungen aus einem Variationsprinzip. 
58. Vergleich mit der Erfahrung. 
a) Newtons Theorie als erste Näherung. 
b) Strenge Lösung für das Gravitationsfeld eines Massenpunktes. 
c) Perihelbewegung des Merkur und Krümmung der Lichtstrahlen. 
59. Andere spezielle, strenge Lösungen im statischen Fall. 
60. Einsteins allgemeine Näherungslösung und ihre Anwendungen. 
61. Die Energie des Gravitationsfeldes. 
62. Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Trägheit und räumlich- 
geschlossene Welt. 
a) Das Machsche Prinzip. 
b) Betrachtungen über das statistische Gleichgewicht des Fixsternsystems. 
Das 4-Glied. 
c) Die Energie der geschlossenen Welt. 


V. Theorien über die Natur der elektrischen Elementarteilchen. 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. 
64. Die Theorie von Mie. 
65. Die Theorie von Weyl. 
a) Reine Infinitesimalgeometrie. Eichinvarianz. 
b) Elektromagnetisches Feld und Weltmetrik. 
c) Der Tensorkalkül in Weyls Geometrie. 
d) Feldgesetze und Wirkungsprinzip. Physikalische Folgerungen. 
66. Die Theorie von Einstein. 
67. Allgemeines über den gegenwärtigen Stand des Problems der Materie. 


36 * 


542 Vı19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Literatur. 


1. Grundlegende Schriften. 

E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, 
Leipzig 1883. 

B. Riemann, Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen. Neu 
herausgegeben und erläutert von H. Weyl, Berlin 1920 [abgedruckt aus Gött. 
Nachr. 13 (1868), p. 133]. 

Lorentz- Einstein-Minkowski, Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Ab- 
handlungen, Leipzig 1913, 3. erweiterte Aufl. 1920. 

H. Minkowski, Zwei Abhandlungen über die Grundgleichungen der Elektro- 
dynamik, Leipzig 1910 [erste Abhandl. abgedruckt aus Gött. Nachr. 1908, p. 53; 
zweite Abhandl. abgedruckt aus Math. Ann. 68 (1910), p. 526]. 

A. Einstein und M. Großmann, Entwurf einer verallgemeinerten Relativitäts- 
theorie und einer Theorie der Gravitation, Leipzig 1913 [abgedruckt aus der 
Ztschr. Math. Phys. 63 (1914), p. 215]. 

A. Einstein, Die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie, Leipzig 1916 
[abgedruckt aus Ann. d. Phys. 49 (1916), p. 769). 


2. Lehrbücher. 


M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1911; 3. Aufl. 1919, 1. Band, Das 
Relativitätsprinzip der Lorentz-Transformation; 4. Aufl. 1921. 

H. Weyl, Raum —Zeit— Materie, Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie, 
Berlin 1918; 3. Aufl 1920, 4. Aufl. 1921 (zitiert nach der 1. und 3. Aufl.). 

A. S. Eddington, Space, Time and Gravitation. Cambridge 1920. 

A. Kopff, Grundzüge der Einsteinschen Relativitätstheorie, Leipzig 1921. 


E. Freundlich, Die Grundlagen der Einsteinschen Gravitationstheorie, Berlin 1916. 

4A. Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie (gemein- 
verständlich), Braunschweig 1917. 

M. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen 
(gemeinverständlich dargestellt), Berlin 1920. 


3. Schriften, besondere Fragen betreffend. 

H. Poincare, Sechs Vorträge gehalten zu Göttingen vom 22.—28. April 1909; 
6. Vortrag: La mecanique nouvelle, Leipzig 1910. 

P. Ehrenfest, Zur Krise der Lichtäther-Hypothese. Rede, gehalten beim Antritt 
des Lehramts an der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin 1913. 

H. A. Lorentz, Das Relativitätsprinzip, drei Vorlesungen gehalten in Teylers 
Stiftung zu Haarlem, Leipzig 1914. 

A. Einstein, Äther und Relativitätstheorie. Rede, gehalten am 5. Mai 1920 an 
der Reichs-Universität zu Leiden, Berlin 1920. 

F. Klein, Gesammelte mathematische Abhandlungen, 1. Band, herausgegeben 
von R. Fricke und A. Ostrowski, Berlin 1921 (insbesondere das Kap. Zum 
Erlanger Programm [1872]). 


A. Brill, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1912; 4. Aufl. 1920. 

E. Cohn, Physikalisches über Raum und Zeit, Leipzig 1913. 

H. Witte, Raum und Zeit im Lichte der neueren Physik, Braunschweig 1914; 
3. Aufl. 1920. 


1. Historisches (Lorentz, Poincare, Einstein). 543 


4. Schriften philosophischen Inhalts. 

M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik, zur Einführung in das 
Verständnis der allgemeinen Relativitätstheorie, Berlin 1917; 3. Aufl. 1920. 

H. Holst, Vort fysiske Verdensbillede og Einsteins Relativitetstheori, Kopenhagen 
1920. 

H. Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori, Berlin 1920. 

E. Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, Berlin 1921. 

J. Petzold, Die Stellung der Relativitätstheorie in der geistigen Entwicklung der 
Menschheit, Dresden 1921. 


Eine Ergänzung zu vorliegendem Artikel bilden nach der astronomischen 
Seite der Artikel F. Kottler, Gravitation und Relativitätstheorie (Beitrag zum Ar- 
tikel VI2, 22 von $. Oppenheim) und nach der mathematischen Seite die Artikel 
von R.Weitzenböck, Neuere Arbeiten über algebraische Invariantentheorie, Diffe- 
rentialinvarianten und L. Berwald, Differentialinvarianten der Geometrie (mit be- 
sonderer Berücksichtigung der mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten), Bd. III 4 
dieser Encyklopädie. 


I. Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie. 


1. Historisches (Lorentz, Poincare, Einstein). Die Umwandlung 
der physikalischen Begriffe, welche die Relativitätstheorie bewirkt hat, 
war seit langer Zeit vorbereitet. Bereits im Jahre 1887 bemerkte 
Voigt!) in einer Arbeit, die noch auf dem Standpunkt der elastischen 
Lichttheorie steht, daß es mathematisch bequem ist, in einem bewegten 
Bezugssystem eine Ortszeit 2’ einzuführen, deren Anfangspunkt eine 
lineare Funktion der räumlichen Koordinaten ist, während jedoch die 
Zeiteinheit als unveränderlich angenommen wird. Man kann nämlich 
auf diese Weise erreichen, daß die Wellengleichung 

2 
Ay — 5 2 = () 
auch im bewegten System gültig bleibt. Diese Bemerkung blieb je- 
doch vollständig unbeachtet, und erst in den grundlegenden Arbeiten, 
die H. A. Lorentz?) 1892 und 1895 veröffentlichte, tritt eine derartige 
Transformation wieder auf. Zu der formalen Erkenntnis, daß die Ein- 
führung einer Ortszeit ’ im bewegten System mathematisch bequem 
ist, kamen hier wesentlich physikalische Ergebnisse hinzu. Es wurde 
der Nachweis erbracht, daß bei Berücksichtigung der Bewegungen der 
in den Äther eingelagerten Elektronen alle Effekte 1. Ordnung in 


1) W. Voigt, Über das Dopplersche Prinzip, Gött. Nachr. 1887, p. 41. Man 
erhält die Voigtschen Formeln, wenn man in den weiter unten angeschriebenen 
Gleichungen (1) x = Y1 — ß? setzt. 

2) H.A. Lorentz, La theorie Eel&ctromagnetique de Maxwell et son applica- 
tion aux corps mouvants, Arch. Ne&erl. 25 (1892), p. 363; Versuch einer Theorie der 
elektrischen und magnetischen Erscheinungen in bewegten Körpern, Leiden 1895. 





544 V 19. W. Pauly jr. Relativitätstheorie. 


dem Quotienten — aus Translationsgeschwindigkeit der Materie und 


Lichtgeschwindigkeit, welche die Beobachtungen kennen gelehrt hatten, 
quantitativ theoretisch erklärt werden können. Insbesondere ergab die 
Theorie eine Erklärung dafür, daß eine gemeinsame Geschwindigkeit 
von Materie und Beobachter gegen den Äther, was die Größen 1. Ord- 
nung anlangt, auf die Erscheinungen keinen Einfluß hat.?) 

Das negative Ergebnis des Michelsonschen Interferenzversuches‘), 


bei dem es sich um einen Effekt zweiter Ordnung in n handelt, 


machte jedoch der Theorie große Schwierigkeiten. Um diese zu be- 
seitigen, verfielen Lorentz®) und unabhängig von ihm Fitzgerald auf 
die Hypothese, daß alle Körper bei einer Translationsbewegung mit 
der Geschwindigkeit v ihre Dimensionen verändern. Und zwar müßte 


die Veränderung der Längsdimensionen durch den Faktor «Y 1 — 
bestimmt sein, wenn « die Veränderung der Querdimensionen angibt; 
* selbst bleibt unbestimmt. Zur Begründung dieser Hypothese führt 
Lorentz an, daß es sehr wohl möglich sei, daß die Molekularkräfte 
bei der Translationsbewegung geändert würden. Nehme man überdies 
an, daß die Moleküle in Gleichgewichtslagen ruhen und rein elektrostatisch 
aufeinander wirken, so folge aus der Theorie von selbst, daß im be- 
wegten System Gleichgewicht vorhanden sei, wenn alle Abstände in 
der Translationsrichtung sich bei ungeänderten Querdimensionen um 





v® ” . ö 
V\! — „; verkürzen. Nun galt es, diese „Lorentz-Kontraktion“ orga- 


3) Das von Fizeau gefundene, sowohl dem Relativitätsprinzip als auch der 
Theorie von Lorentz widersprechende Resultat bezüglich der Beeinflussung der 
Azimutänderung der Polarisationsebene des Lichtes beim schiefen Durchgang 
durch eine Glasplatte durch die Erdbewegung wurde hernach von D. B. Brace 
[Phil. Mag 10 (1908), p. 591] und B. Straßer [Ann. d. Phys. 24 (1907), p. 137] 
als irrtümlich nachgewiesen. — Ferner ist zu erwähnen, daß die Theorie von 
Lorentz die Möglichkeit offeu ließ, mit Hilfe der Gravitation auch Effekte erster 
Ordnung des „Ätherwindes“ zu konstatieren. So müßte, wie Maxwell bemerkt 
hat, die Translation des Sonnensystems gegen den Äther eine Ungleichheit von 
erster Ordnung in den Verfinsterungszeiten der Jupitermonde zur Folge haben; 
©. V. Burton [Phil. Mag. 19 (1910), p. 417; vgl. auch H. A. Lorentz, Das Relati- 
vitätsprinzip, 3 Haarlemer Vorträge, Leipzig 1914, p. 21] fand jedoch die zu 
gewärtigenden Fehlerquellen ebenso groß wie den zu erwartenden Effekt, so daß die 
Beobachtungen der Jupitermonde zur Entscheidung für oder gegen die alte Äther- 
theorie nicht herangezogen werden können. 

4) Eine Beschreibung desselben gibt H. A. Lorentz im Artikel V 14 dieser 
Encyklopädie. 

5) H. A. Lorentz, De relative beweging van de aarde en dem aether, Amst. 
Versl. 1 (1892), p. 74. 


1. Historisches (Lorentz, Poincare, Einstein). 545 


nisch in die Theorie einzuarbeiten und auch die anderen negativen 
Versuche‘), einen Einfluß der Erdbewegung auf die Erscheinungen 
festzustellen, zu deuten. Da ist zunächst Larmor zu nennen, der be- 
reits 1900 die heute allgemein als Lorentz-Transformation bekannten 
Formeln aufgestellt, also auch die Veränderung des Zeitmaßstabes bei 
der Bewegung ins Auge gefaßt hat.”) Lorentz’ zusammenfassender 
Artikel®), der Ende 1903 abgeschlossen wurde, brachte einige kurze 
Andeutungen, die sich hernach als sehr fruchtbar erwiesen. Er ver- 
mutet, daß bei Übertragung der Veränderlichkeit der Masse von der 
elektromagnetischen auf alle ponderablen Massen die Theorie darüber 
werde Rechenschaft geben können, daß auch bei Vorhandensein der 
Molekularbewegung die Translation keine anderen Folgen hat als die 
erwähnte Kontraktion. Hiermit wäre auch der Versuch von Trouton 
und Noble erklärt. Nebenbei wird die bedeutungsvolle Frage auf- 
geworfen, ob vielleicht auch die Dimensionen der Elektronen durch 
die Translation geändert werden®). Doch stellt sich Lorentz in der 
Einleitung zu seinem Artikel noch prinzipiell auf den Standpunkt, daß 
die Erscheinungen nicht nur von der relativen Bewegung der betrach- 
teten Körper, sondern auch von der Bewegung zum Äther abhängen°®). 

Wir kommen nun zur Besprechung der drei Arbeiten von Lo- 
rentz'°), Poincare') und Einstein“), welche diejenigen Überlegungen 
und Entwicklungen enthalten, die den Grundstock der Relativitäts- 
theorie bilden. Zeitlich voran geht die Arbeit von Lorentz. Es wird 
vor allem der Nachweis erbracht, daß die Maxwellschen Gleichungen 


gegenüber der Koordinatentransformation " 


t— ——;< 
x — vi „ N 6 ec? o\13 
(1) et yz=xry, 2x2, =. (7) ) 

6) F. T. Trouton u. H. R. Noble, London Phil. Trans. A 202 (1903), p. 165; 
Lord Rayleigh, Phil. Mag. 4 (1902), p. 678. 

7) J. J. Larmor, aether and matter, Cambridge 1900, p. 167—177. 

8) Artikel V 14 dieser Encyklopädie, Schlußabsatz Nr. 64 und 65. 

9) 1. c. Anm. 8), p. 278. 

9a) l.c. p. 154. 

10) H. A. Lorentz, Amst. Proc. 6 (1904), p. 809 [Versl. 12 (1904), p. 986]: 
Electromagnetic phenomena in a system moving with any velocity smaller-than 
that of light. 

11) H. Poincare, Paris C. R. 140 (1905), p. 1504, Rend. Pal. 21 (1906), p. 129 
sur la dynamique de l’el&ctron. 

12) A. Einstein, Ann. d. Phys. 17 (1905), p. 891: Zur Elektrodynamik be- 
wegter Körper. 

13) Um aus den Formeln bei Larmor und Lorentz (1) zu erhalten, muß man 
in jenen noch x durch x — vt ersetzen, weil dort zuerst der gewöhnliche Über- 
gang zum bewegten System gemacht wird. 


546 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


invariant sind, sofern man gleichzeitig die Feldstärken im gestrichenen 
System passend wählt. Dies wird jedoch nur für die Gleichungen im 
ladungsfreien Raum exakt nachgewiesen. Die Terme, welche Ladungs- 
dichte und Geschwindigkeit enthalten, sind bei Lorentz im gestriche- 
nen System nicht dieselben wie im ruhenden System, da er diese 
Größen nicht ganz richtig transformiert. Er sieht deshalb auch die 
beiden Systeme nicht als völlig, sondern nur sehr angenähert als 
gleichwertig an. Unter der Voraussetzung, daß auch die Elektronen 
bei der Translation die oben erwähnte Deformation erfahren, sowie 
daß alle Massen und Kräfte genau so von der Geschwindigkeit ab- 
hängen wie rein elektromagnetische Massen und Kräfte, kann Lorentz 
das Auftreten der Kontraktion bei allen Körpern (auch bei Vorhanden- 
sein von Molekularbewegung) sowie das negative Ergebnis aller be- 
kannten Versuche, einen Einfluß der Erdbewegung auf die optischen 
Erscheinungen festzustellen, erklären. Als entfernte Folgerung ergibt 
sich übrigens, daß «= 1 gesetzt werden muß, d.h. daß die Quer- 
dimensionen bei der Translation ungeändert bleiben, wenn anders 
diese Erklärung überhaupt möglich ist. Wir möchten noch ausdrück- 
lich betonen, daß auch in dieser Arbeit Lorentz das Relativitätsprinzip 
keineswegs evident war. Ferner ist für ihn im Gegensatz zu Einstein 
charakteristisch, daß er die Kontraktion kausal zu verstehen sucht. 


Die formalen Lücken, die die Arbeit von Lorentz übrig ließ, wur- 
den von Poincard ausgefüllt. Das Relativitätsprinzip wird von ihm 
als allgemein und streng gültig ausgesprochen. Da er die Maxwell- 
schen Gleichungen für das Vakuum wie die übrigen bisher genannten 
Autoren als gültig annimmt, so kommt das auf die Forderung hinaus, 
daß alle Naturgesetze gegenüber der „Lorentz-Transformation“!*) ko- 
variant sein müssen. Die Unveränderlichkeit der Querdimensionen 
bei der Translation wird ganz naturgemäß aus dem Postulat her- 
geleitet, daß die Transformationen, die den Übergang von einen ruhen- 
den zu einem gleichförmig bewegten System vermitteln, eine Gruppe 
bilden müssen, welche die gewöhnlichen Verlagerungen des Koordi- 
natensystems als Untergruppe enthält. Ferner werden die Lorentzschen 
Transformationsformeln für Ladungsdichte und Geschwindigkeit kor- 
rigiertt und damit die völlige Kovarianz der Feldgleichungen der 
Elektronentheorie hergestellt. Auf die Behandlung des Gravitations- 
problems und die Verwendung der imaginären Koordinate öci in dieser 
Arbeit werden wir noch zu sprechen kommen (vgl. Nr. 50 und 7). 


14) Die Bezeichnungen „Lorentztransformation* und „Lorentzgruppe“ finden 
sich in dieser Arbeit Poincares zum erstenmal. 


2. Das Relativitätspostulat. | 547 


Durch Einstein wurde endlich die Grundlegung der neuen Diszi- 
plin zu einem gewissen Abschluß gebracht. Seine Arbeit von 1905 
wurde fast gleichzeitig mit Poincares Abhandlung eingesendet und ist 
ohne Kenntnis der Lorentzschen Abhandlung von 1904 verfaßt worden. 
Sie enthält nicht nur alle wesentlichen Resultate der beiden genann- 
ten Arbeiten, sondern vor allem auch eine völlig neue, viel tiefere 
Auffassung des ganzen Problems. Im folgenden wird dies im ein- 
zelnen dargelegt. 


2. Das Relativitätspostulat. Die vielen negativen Versuche"°), 
einen Einfluß der Erdbewegung auf die Erscheinungen durch Messun- 
gen auf der Erde selbst festzustellen, lassen mit aller Wahrscheinlich- 
keit, man kann wohl sagen mit Sicherheit, den Schluß zu, daß prin- 
zipiell die Erscheinungen in einem System unabhängig von der 
Translationsbewegung sind, die es als Ganzes hat. Präziser gesagt: 
Es gibt eine dreifach unendliche Schar’®) von geradlinig und gleich- 
förmig gegeneinander bewegten Bezugssystemen, in denen sich die 
Phänomene in vollkommen gleicher Weise abwickeln. Wir werden 
sie im folgenden mit Einstein Galileische Bezugssysteme nennen, weil 
in ihnen das Galileische Trägheitsgesetz gilt. Es ist unbefriedigend, 
daß nicht alle Systeme als gleichwertig angesehen werden oder wenig- 
stens eine kausale Begründung für die Auszeichnung einer gewissen 
Schar von Systemen gegeben wird. Diesem Mangel hilft die allgemeine 
Relativitätstheorie ab (vgl. Abschnitt IV). Vorläufig müssen wir uns 
auf die Galileischen Bezugssysteme, also auf die Relativität bei gleich- 
förmigen Translationsbewegungen beschränken. 

Durch das Postulat der Relativität wird der Äther als Substanz 
aus den physikalischen Theorien entfernt, da es keinen Sinn mehr hat, 
von Ruhe oder Bewegung relativ zum Äther zu sprechen, wenn diese 


15) Neben der unter °) genannten Literatur ist anzuführen : Die Wiederho- 
lung des Michelsonschen Versuches von E. W. Morley und D.C. Miller, Phil. 
Mag. 8 (1904), p. 753 und 9 (1905), p. 680. [Man vgl auch die Diskussion bei 
J. Lüroth, München Ber. 7 (1909); E. Kohl, Ann.d. Phys. 28 (1909), p. 259 u. 662; 
M.v. Laue, Ann. d. Phys. 33 (1910), p. 156.] Weitere Versuche, eine durch die Erd- 
bewegung verursachte Doppelbrechung zu finden D. B. Brace, Phil. Mag. 7 (1904), 
p. 8317; 10 (1905), p. 71; Boltzmann-Festschrift 1907, p. 576 und einen Versuch von 
F. 1. Trouton und A. O. Rankine, Proc. Roy. Soc. 8 (1908), p. 420, eine Änderung 
des elektrischen Widerstandes eines Drahtes je nach seiner Orientierung zur 
Richtung der Erdbewegung festzustellen. Man vgl. dazu auch den zusammen- 
fassenden Bericht von J. Laub, Jahrb. f. Rad. u. El.7 (1910), p. 405 über die experi- 
mentellen Grundlagen des Relativitätsprinzips. 

16) Von den trivialen Verschiebungen des Koordinatenursprungs und den Ver- 
lagerungen der Achsen ist hier abgesehen. 


548 Vı19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


durch Beobachtungen prinzipiell nicht konstatiert werden können. Es 
wird uns dies heute um so weniger befremden, als man nunmehr bereits 
mit Erfolg begonnen hat, die elastischen Eigenschaften der Materie 
auf elektrische Kräfte zurückzuführen und es ganz widersinnig wäre, 
wollte man hernach wieder versuchen, die elektromagnetischen Er- 
scheinungen durch die elastischen Eigenschaften eines hypothetischen 
Mediums zu erklären'”). Die mechanische Äthervorstellung war eigent- 
lich bereits überflüssig und hemmend geworden, als die elastische 
Lichttheorie durch die elektromagnetische ersetzt wurde. In dieser 
war die Äthersubstanz immer ein Fremdkörper geblieben. Neuerdings 
hat Einstein?) vorgeschlagen, den Begriff Äther weiter zu fassen und 
darunter keine Substanz zu verstehen, sondern einfach den Inbegriff 
derjenigen physikalischen Zustandsgrößen, die dem von gewöhnlicher Ma- 
terie freien Raume zugeordnet werden müssen. In diesem weiteren Sinne 
gibt es natürlich einen Äther, man hat nur zu beachten, daß er keine 
mechanischen Eigenschaften hat, d. h. daß zu den physikalischen Zu- 
standsgrößen des materiefreien Raumes keine Lagenkoordinaten und 
Geschwindigkeiten gehören. 

Es könnte scheinen, daß das Relativitätspostulat, nachdem 
man die Äthervorstellung aufgegeben hat, unmittelbar evident ist. 
Eine genauere Überlegung zeigt jedoch, daß dies nicht zutrifft”). 
Wir können selbstverständlich nicht dem ganzen Weltall eine Trans- 
lation erteilen und dann prüfen, ob die Erscheinungen sich dadurch 
ändern. Einen heuristischen und physikalischen Wert hat also unser 
Satz nur dann, wenn man ihn für jedes abgeschlossene System als 
gültig ansieht. Wann aber ist ein System abgeschlossen? Genügt es, 
daß alle Massen hinreichend entfernt sind??®) Die Antwort lautet 
erfahrungsgemäß: Bei gleichförmigen Translationsbewegungen genügt 
es, bei anderen Bewegungen genügt es nicht. Für diese Vorzugs- 
stellung der ersteren muß noch eine Erklärung gegeben werden 
(s. Abschn. IV, Nr. 62). Zusammenfassend können wir sagen: Das Re- 
lativitätspostulat besagt implizite, daß eine gleichförmige Translation 
des Schwerpunktes des Weltalls relativ zu einem abgeschlossenen 
System auf die Erscheinungen in diesem ohne Einfluß ist. 

17) Diesen naheliegenden Gedanken hat gelegentlich M. Born vorgebracht 
[Naturw. 7 (1919), p. 136]. 

18) A. Einstein, Äther und Relativitätstheorie, Berlin 1920, Rede gehalten 
in Leiden. 

19) Vgl. dazu A. Einstein, Ann. d. Phys. 38 (1912), p. 1059. 

20) Auf die Notwendigkeit, auch in der speziellen Relativitätstheorie die 


fernen Massen mit in Betracht zu ziehen, hat in anderem Zusammenhang H. Holst 
hingewiesen (vgl. unten Anm. 43). 


3. Das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. 549 


3. Das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. 
Die Theorie von Ritz und verwandte Theorien. Die Forderung der 
Relativität genügt noch nicht, um die Kovarianz aller Naturgesetze 
gegenüber der Lorentz-Transformation zu folgern. So ist z. B. die 
klassische Mechanik mit dem Relativitätsprinzip durchaus im Einklang, 
obwohl die Lorentz-Transformation auf ihre Gleichungen nicht anwend- 
bar ist. Lorentz und Poincare hatten nun, wie wir gesehen haben, die 
Mazxwellschen Gleichungen ihren Betrachtungen zugrunde gelegt. Es 
ist aber durchaus zu verlangen, einen so fundamentalen Satz wie die 
Kovarianz aller Naturgesetze gegenüber der Lorentz-Gruppe aus mög- 
lichst einfachen Grundannahmen herzuleiten. Dies geleistet zu haben, 
ist das Verdienst Einsteins. Er hat gezeigt, daß bloß folgender Satz 
der Elektrodynamik vorausgesetzt werden muß: Die Lichtgeschwindig- 
keit ist unabhängig vom Bewegungszustand der Lichtquelle. Ist diese 
punktförmig, so sind die Wellenflächen also auf jeden Fall Kugeln 
mit ruhendem Mittelpunkt. Wir wollen diesen Sachverhalt wie üblich 
der Kürze wegen mit dem Schlagwort „Konstanz der Lichtgeschwin- 
digkeit“ bezeichnen, obwohl diese Bezeichnung zu Mißverständnissen 
Anlaß geben kann. Von einer universellen Konstanz der Vakuum- 
Lichtgeschwindigkeit kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil 
diese nur in den Galileischen Bezugssystemen stets denselben Wert c 
hat. Ihre Unabhängigkeit vom Bewegungszustand der Lichtquelle be- 
steht jedoch auch in der allgemeinen Relativitätstheorie zu recht. Sie 
erweist sich als der wahre Kern der alten Ätherauffassung. (Über die 
Gleichheit der numerischen Werte der Lichtgeschwindigkeit in allen 
Galileischen Bezugssystemen vgl. Nr. 5.) 

Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, führt die Konstanz der 
Lichtgeschwindigkeit im Verein mit dem Relativitätspostulat zu einer 
Neuerung des Zeitbegriffes. Es ist deshalb von W. Ritz") und un- 
abhängig von ihm von Tolman??), Kunz?) und Comstock”) die Frage 
aufgeworfen worden, ob man nicht diesen radikalen Folgerungen ent- 
gehen und dennoch in Übereinstimmung mit der Erfahrung bleiben 


21) W. Ritz, Recherches critiques sur l’6l&ctrodynamique generale. Ann. de 
chim. et phys. 13 (1908), p. 145 [Ges. Werke p. 317]; Sur les theories El&ctro- 
magnetiques des Maxwell-Lorentz, Arch. de Geneve 16 (1908), p.209 [Ges. Werke, 
p. 427]; Du röle de l’&ther en physique, Scientia 3 (1908), p. 260 [Ges. Werke, 
p. 447]; vgl. auch P. Ehrenfest, Zur Frage nach der Entbehrlichkeit des Licht- 
äthers, Phys. Ztschr. 13 (1912), p. 317; Zur Krise der Lichtätherhypothese, Rede 
gehalten in Leiden 1912, Berlin 1913. 

22) ©. Tolman, Phys. Rev. 30 (1910), p. 291 und 31 (1910), p. 26. 
23) J. Kunz, Am. J. of Science 30 (1910), p. 1313. 
24) D. F. Comstock, Phys. Rev. 30 (1910), p. 267. 


550 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


kann, wenn man die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit leugnet und 
bloß das erste Postulat beibehält. Es ist klar, daß damit nicht nur 
die Existenz des Äthers, sondern auch die Maxwellschen Gleichungen 
für das Vakuum verworfen werden, so daß die ganze Elektrodynamik 
neu aufgebaut werden muß. Dies hat in einer systematischen Theorie 
nur W. Ritz getan. Er behält die Gleichungen 


(2) EC + 29-0, divrHg—0 


bei, so daß die Feldstärken sich in der gewöhnlichen Elektrodynamik 
aus einem skalaren und einem Vektorpotential herleiten lassen: 


(2a) E= — gradp — u, H = rot W. 
Die Gleichungen PS = evdV,, 
(3) p(P,t)= UPrN)- I ac 


Be ER as: 
a PREARR er minz 


der gewöhnlichen Elektrodynamik werden jedoch ersetzt durch 


Bf En a -/ a 


c+%. c+?v;. 

entsprechend dem Prinzip, daß nur die Geschwindigkeit einer Licht- 
welle relativ zur Quelle, von der sie ausgeht, sowie die Geschwindig- 
keit einer elektromagnetischen Störung relativ zum Elektron, das sie 
verursacht, gleich c ist. Wir wollen alle Theorien, welche diese An- 
nahme machen, kurz Emissionstheorien nennen. Da das Relativitäts- 
postulat bei ihnen von selbst erfüllt ist, erklären sie alle den Michel- 
sonschen Interferenzversuch, und wir haben nun zu prüfen, ob sie mit 
den sonstigen optischen Erfahrungen verträglich sind. 

Da ist zunächst zu bemerken, daß sie mit der elektronentheoretischen 
Erklärung der Reflexion und Brechung unvereinbar sind, für welche die 
Interferenz der von den Dipolen der Substanz ausgehenden Kugelwellen 
mit der einfallenden Welle wesentlich ist. Denken wir uns nämlich die 
Substanz ruhend und die Lichtquelle gegen sie bewegt, so haben nach 
Ritz die von den Dipolen ausgehenden Wellen eine andere Geschwin- 
digkeit (nämlich c) als die einfallende Welle, Interferenz ist also nicht 
möglich. Die Emissionstheorien sind ferner nur durch künstliche 
Zusatzhypothesen imstande, von dem für die Optik bewegter Medien 
fundamentalen Fizeauschen Strömungsversuch (vgl. Nr. 6) Rechenschaft 
zu geben, was sehr schwer ins Gewicht fällt. Wir wollen noch .ge- 
nauer betrachten, was sie über den Dopplereffekt aussagen. Eine ein- 
fache Überlegung lehrt, daß die Frequenz sich genau so ändern muß, 
wie es die Äthertheorie verlangt, die Wellenlänge dagegen wegen der 











8. Das Postulat von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. 55l 


veränderten Geschwindigkeit dieselbe bleibt wie bei ruhender Quelle.?*) 
Es fragt sich also, ob bei den gewöhnlichen, astronomischen Beob- 
achtungen des Dopplereffektes die Änderung der Wellenlänge oder die 
der Frequenz konstatiert wird. Man kann zugunsten der Emissions- 
theorien annehmen, daß es sich bei Beobachtungen mit Prismen um 
die Frequenz handelt. Bei den Beobachtungen mit Beugungsgittern 
ist die Frage viel schwieriger zu entscheiden. Tolman ist der An- 
sicht, daß hier die Wellenlänge in Betracht kommt, die Emissions- 
theorien also dadurch widerlegt seien, Stewart?) dagegen vertritt die 
entgegengesetzte Anschauung. Es läßt sich hier nicht ohne weiteres 
eine Entscheidung treffen, da die Auffassung der Beugung bei den 
Emissionstheorien schon an sich sehr unklar ist. In den Aussagen 
über den Dopplereffekt am bewegten Spiegel gehen die verschiedenen 
Emissionstheorien auseinander. Nach J. J. Thomson?®) und Stewart?°) 
ist der bewegte Spiegel, was die Geschwindigkeit des reflektierten 
Strahles anlangt, äquivalent mit dem Spiegelbild der Lichtquelle, nach 
Tolman wirkt er wie eine neue Lichtquelle an seiner Oberfläche, nach 
Ritz?”'®) endlich ist die Geschwindigkeit des reflektierten Strahles 
gleich der eines parallelen, von der ursprünglichen Lichtquelle aus- 
gehenden Strahles. Bei ruhender Quelle und bewegtem Spiegel ist 
also nach Thomson-Stewart kein Dopplereffekt der Wellenlänge zu er- 
warten, nach Tolman ist er halb so groß wie der der gewöhnlichen 
Optik, nach Ritz stimmt er mit diesem überein. Nun ist der Doppler- 
effekt der Wellenlänge des von einem bewegten Spiegel reflektierten 
Lichtes neuerdings wiederholt mit dem Interferometer bestimmt wor- 
den?) mit dem unzweifelhaften Ergebnis, daß er mit dem von der 
klassischen Optik geforderten übereinstimmt. Die Annahmen von 
Thomson-Stewart und Tolman sind damit widerlegt. Weiter hat 
Q. Majorana?®) auch den Dopplereffekt bei einer bewegten Lichtquelle 
mit dem Interferometer bestimmt und hat gefunden, daß er ebenfalls 
dem nach der klassischen Optik zu erwartenden entspricht. Sein Ver- 





22a) Dies wurde zuerst von Tolman (Phys. Rev., l.c. Anm. 22) hervorgehoben. 

25) O. M. Stewart, Phys. Rev. 32 (1911), p. 418. 

26) J. J. Thomson, Phil. Mag. 19 (1910), p. 301. 

21a) W. Ritzu. P. Ehrenfest, 1. c., Anm. 21); s. auch C. Tolman, Phys. Rev. 35 
(1912), p. 136. Wenn im folgenden von „Ritzscher Theorie‘ gesprochen wird, so 
ist dabei die hier erwähnte, von Willkür nicht freie Vorschrift mitinbegriffen 
zu denken. 

27) A. A. Michelson, Astroph. J. 37 (1913), p. 190; Ch. Fabry u. H. Buisson, 
Paris C. R. 158 (1914), p. 1498; Q. Majorana, Paris C. R. 165 (1917), p. 424, Phil. 
Mag. 35 (1918), p. 163 und Phys. Rev. 11 (1918), p. 411. 

28) Q. Majorana, Phil. Mag. 37 (1919), p. 190. 


552 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


such ist jedoch gegen Ritz nicht entscheidend, worauf besonders 
Michaud?®) hingewiesen hat. Sei nämlich Z eine mit der Geschwin- 
digkeit v vom ruhenden Spiegel $ sich entfernende Lichtquelle, A ein 
g fester Punkt vor dem Spiegel, 
so kommt es in Majoranas 
EURERE LER. —__., | Versuch in letzter Linie auf 
L 4 die Veränderung des Gang- 





unterschiedes an, der beim 
Hin- und Zurücklaufen des 
Fig. 1. Lichtes auf der Strecke AS =] 
entsteht, wenn die Geschwin- 
digkeit der Lichtquelle von Null auf v anwächst. Auf dem Hinweg 





haben wir nun: Geschwindigkeit gleich c— v, Frequenz v, = v(l —2), 


GIEN 





also 4, = —= 4. Bei der Reflexion am (ruhenden) Spiegel $ 


ge 
bleibt zwar die Frequenz die gleiche, die Geschwindigkeit wird aber 


hernach c + v, also die Wellenlänge A, = ac dans A( 1+ =), wenn 


r 
wir uns auf Größen 1. Ordnung beschränken. Die gesuchte Änderung 
des gesamten Gangunterschiedes ist also 


in RL TA 
c c 





genau wie in der klassischen Theorie. Man kann überhaupt allgemein 
zeigen, daß in den Größen 1. Ordnung, solange es sich um geschlossene 
Lichtwege handelt, zwischen der Ritzschen und der gewöhnlichen oder 
der relativistischen Optik kein Unterschied besteht. Terrestrische 
Versuche können also nur dann zwischen beiden Anschauungen ent- 
scheiden, wenn sie sich auf Effekte 2. Ordnung erstrecken.) Als der- 
artiges experimentum crucis könnte nach La Rosa®!) uud Tolman??) 
der Michelsonsche Interferenzversuch dienen, wenn man ihn nicht mit 
irdischen Lichtquellen, sondern mit Sonnenlicht ausführt. Die Ritzsche 
Theorie würde im Gegensatz zur Relativitätstheorie verlangen, daß 
sich dann eine Streifenverschiebung bei Drehung des Apparates zeigt. 

Effekte 1. Ordnung, die gegen Ritz entscheiden können, gibt es 
jedoch sehr wohl, wenn man es nicht mit geschlossenen, sondern mit 
offenen Lichtwegen zu tun hat. Diese Möglichkeit ist zwar nicht 


29) P. Michaud, Paris C. R. 168 (1919), p. 507. 

30) Dies wird gelegentlich von Ehrenfest bemerkt (Phys. Ztschr., 1. c. Anm. 21). 

31) M. La Rosa, Nuovo Cimento (6) 3 (1912), p. 345 und Phys. Ztschr. 13 
(1912), p. 1129. 

32) C. Tolman, Phys. Rev. 35 (1912), p. 136. 








4. Relativität der Gleichzeitigkeit. Ableit. der Lorentz-Transformation usw. 553 


bei terrestrischen, wohl aber bei astronomischen Messungen vorhanden. 
Schon Comstock”) hat auf mögliche Effekte bei Doppelsternen hin- 
gewiesen. De Sitter®) hat dann die Verhältnisse quantitativ diskutiert 
und kam zu folgendem Ergebnis: Bei in Wirklichkeit kreisförmigen 
Bahnen spektroskopischer Doppelsterne müßte bei Inkonstanz der 
Lichtgeschwindigkeit der tatsächlich zur Beobachtung kommende 
zeitliche Verlauf des Dopplereffektes dem einer exzentrischen Bahn 
entsprechen. Aus den vorhandenen Bahnen mit sehr kleiner Exzen- 
trizität läßt sich entnehmen, daß die Lichtgeschwindigkeit von der 
Geschwindigkeit v des Doppelsternes weitgehend unabhängig ist. Setzt 
man sie in der Form c-+ kv an, so muß k << 0,002 sein. Hält man 
dieses Ergebnis mit den erwähnten Schwierigkeiten der Emissions- 
theorien bei der Erklärung des Fizeauschen Versuches und bei der 
atomistischen Deutung der Brechung zusammen, so kann man wohl mit 
Sicherheit sagen, daß sich das Postulat von der Konstanz der Licht- 
geschwindigkeit alsrichtig, der von Ritz und anderen eingeschlagene Weg, 
den Michelsonschen Versuch zu erklären, als ungangbar erwiesen hat. 

4. Relativität der Gleichzeitigkeite Ableitung der Lorentz- 
Transformation aus den beiden Postulaten. Axiomatik der Lorentz- 
Transformation. Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen die beiden 
Postulate unvereinbar. Denken wir uns nämlich eine Lichtquelle Z, 
die sich relativ zum Beobachter A mit der Geschwindigkeit v bewegt, 
während der Beobachter B relativ zu ZL ruhen möge. Beide Beob- 
achter müssen dann als Wellenflächen Kugeln sehen, deren Mittel- 
punkte relativ zu ihnen ruhen, also verschiedene Kugeln. Der Wider- 
spruch verschwindet jedoch, wenn man zuläßt, daß Raumpunkte, die 
für A gleichzeitig vom Licht durchlaufen werden, für B nicht gleich- 
zeitig durchlaufen werden. Wir sind damit unmittelbar zur Relativi- 
tät der Gleichzeitigkeit gelangt. Damit hängt zusammen, daß über- 
haupt erst eine Definition des Synchronismus zweier Uhren an 
verschiedenen Orten gegeben werden muß. Als solche wählt Einstein 
folgende. Vom Punkt P gehe ein Lichtstrahl zur Zeit t> aus, werde 
zur Zeit tg in Q reflektiert und gelange zur Zeit ip wieder nach P 
zurück. Die Uhr in @ läuft synchron mit der Uhr in P, wenn 


iz . er ist. Das Licht verwendet Einstein deshalb zur Zeit- 


24a) D. F. Comstock, Phys. Rev., l. c., Anm. 24). 

33) W. de Sitter, Amst. Proc. 15 (1913), p. 1297 u. 16 (1913), p. 3895; Phys. 
Ztschr 14 (1913), p. 429 u. 1267; vgl. auch die Diskussion bei P. Guthnik, Astr. 
Nachr. 195 (1913), Nr. 4670, sowie den durch De Sitters zweite Note widerlegten 
Einwand von E Freundlich, Phys. Ztschr. 14 (1913), p. 835. Vgl. auch W. Zur- 
hellen, Astr. Nachr. 198 (1914), p. 1. 





= 


554 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


regulierung, weil wir über den Vorgang der Lichtausbreitung auf Grund 
unserer Postulate bestimmte Aussagen machen können. Es sind natür- 
lich auch andere Möglichkeiten der Uhrenvergleichung denkbar wie 
Transport von Uhren, mechanische oder elastische Koppelungen u. dgl. 
Wir müssen verlangen, daß sich bei diesen kein unlösbarer Wider- 
spruch zur optischen Uhreneinstellung ergibt. 

Wir sind nun imstande, die Transformationsformeln, welche die 
Koordinaten z,y,2,t und x’,y’,2’,t’ zweier gleichförmig gegenein- 
ander bewegter Bezugssysteme X und K’ verknüpfen, herzuleiten. 
Die z-Achse legen wir in die Bewegungsrichtung derart, daß K’ 
gegen K sich in der positiven x-Richtung mit der Geschwindigkeit v 
bewegt. Von sämtlichen Autoren wird davon ausgegangen, daß die 
Transformationsformeln linear sein müssen. Man kann dies damit 
begründen, daß gleichförmige, geradlinige Bewegungen in K auch in 
K’ gleichförmig und geradlinig sein sollen (wobei überdies noch als 
selbstverständlich angenommen wird, daß endliche Koordinatenwerte 
in K auch in K’ endlich bleiben. Es steckt darin auch die Annahme 
der Gültigkeit der euklidischen Geometrie und der Homogenität von 
Raum und Zeit). Gemäß den beiden Postulaten muß nun die Gleichung 


(2) + yV+?—’—=0 
die entsprechende Gleichung 
(2’) ++ — —0 


nach sich ziehen, was wegen der Linearität der Transformation nur 
möglich ist, wenn 
ty erietytR— ch) 

ist, wo x eine von v abhängige Konstante bedeutet. Berücksichtigt 
man noch, daß jede Bewegung parallel der z-Achse nach der Trans- 
formation wieder parallel der x-Achse sein muß, so folgen daraus 
durch ganz elementare Überlegungen die Formeln (1) der Nr.1. Es 
ist jetzt noch eine besondere Betrachtung nötig, um zu zeigen, daß 
x= 1 zu setzen ist. Einstein geht so vor, daß er auf X’ noch einmal 
die Transformation (1) mit entgegengesetzter Geschwindigkeit anwendet. 





„ f $ ”„ ’ „ ’ 
ee Vo, ne‘ 
"+ ® 
U” x(— v) via ß? 


Man findet 


"= x)a(— a, v’— xl) o)y, #’— l)r(- v2, 
ti" — „(W)a(— v)E. 


4. Relativität der Gleichzeitigkeit. Ableit. der Lorentz-Transformation usw. 555 


Da nun X” relativ zu X ruht, muß es mit diesem identisch sein, 
d. h. es muß gelten «Wu o)—1. 


Nun bedeutet aber x(v), wie wir bereits in Nr. 1 bemerkt haben, die 
Veränderung der Querdimension eines Stabes, und diese muß aus 
Symmetriegründen von der Richtung der Geschwindigkeit unabhängig 
sein: x(v) =x#(— v), woraus im Verein mit obiger Relation wegen 
des positiven Vorzeichens von x, x(v) = 1 folgt. In ähnlicher Weise 
schließt Poincare. Er betrachtet die Gesamtheit aller linearen Trans- 
formationen, welche die Gleichung (2) in sich überführen (diese Ge- 
samtheit bildet natürlich eine Gruppe), und fordert, daß sie als Unter- 
gruppe enthält: 

a) die einparametrige Gruppe der Translationen parallel der 
x-Achse (als Gruppenparameter fungiert die Geschwindigkeit v), 

b) die gewöhnlichen Verlagerungen der Koordinatenachsen. Hier- 
aus folgt wieder x = 1. Einsteins Symmetrieforderung x(v) = #x(— v) 
ist nämlich in b) mitenthalten. Wir sind also zu dem definitiven 
Resultat gekommen: 





t— 7% 
(D [ y=y, =, rer 
(D) + y? +.’ — et! =? +28 — eR. 


Die zu (I) inverse Transformation erhält man, wenn man v durch 
— v ersetzt: 





(Ia) POEN- ieh y=y, 2=., t= —— .#) 
Der einfache Bau der Formeln (I) legt die Frage nahe, ob sie nicht 


34) Es ist für manche Anwendungen von Wert, auch die Formeln für die 
Koordinatentransformation in dem allgemeinen Fall zu kennen, wo die &-Achse 
nicht die Richtung der Translationsgeschwindigkeit hat. Man erhält sie, indem 
t in eine Komponente r,, in der Richtung der Translationsgeschwindigkeit v des 
Systems K gegen K’ und eine zu v senkrechte Komponente r, spaltet. Aus (I) 
folgt zunächst 











ee 
N Lı EERRR vi N ce? di 
Ts 9 V=t, en 3 
V!ı — ß? V!ı — P? 
wegen 
(tv)v td)b ‚ ‚ ‚ 
u FE) tn or, ST, 
kann dies aber auch geschrieben werden 1 
vi t— = (Ed) 








, 1 1 
1 r=r+-—([— — 1) td) y — ——, dt -—— 
Rs tal) © yi=p vi-ß 
Diese Formeln finden sich bei @. Herglotz, Ann. d. Phys. 36 (1911), p. 497 Gl. (9). 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 37 


556 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


schon aus allgemeinen gruppentheoretischen Gesichtspunkten gefolgert 
werden können, ohne daß die Invarianz von (2) vorausgesetzt werden 
muß. Inwiefern dies der Fall ist, zeigen die Arbeiten von Ignatowsky 
und von Frank und Rothe.) Setzt man bloß voraus: 

1. daß die Transformationen eine einparametrige homogene line- 

are Gruppe bilden, 

2. daß die Geschwindigkeit X gegen K’ entgegengesetzt gleich 

der von K’ gegen K ist, und 

3. daß die Kontraktion der von K gesehenen, in X’ ruhenden 

Längen gleich ist der Kontraktion der von K’ gesehenen in X 

ruhenden Längen, 
so folgt bereits, daß die Transformationsformeln die Gestalt haben müssen 
(3) Pr 2 — vi PS t—avı | 

yi— ar: Vi — av? 

Über das Vorzeichen, die Größe und die physikalische Bedeutung von 
« folgt natürlich nichts. Aus den gruppentheoretischen Forderungen 
läßt sich also bloß die äußere Form der Transformationsformeln ab- 
leiten, nicht ihr physikalischer Inhalı. Man bemerkt übrigens, daß 
aus (3) die Transformationsformeln 
(4) «ei —vr, th 
der gewöhnlichen Mechanik hervorgehen, wenn man « = ( setzt. Sie 
werden jetzt allgemein nach dem Vorgang von Ph. Frank „Galilei- 
Transformation“ genannt. Man erhält sie natürlich ebenso, wenn man 
in (I) c= 0 setzt. 

5. Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation. Die Lorentz-Kon- 
traktion ergibt sich als einfachste Folge der Transformationsformeln 
(I) und damit auch der beiden Grundannahmen. Betrachten wir einen 
in der x-Achse liegenden Stab, der im Bezugssystem K’ ruht. Die 
Koordinaten seiner Enden z,' und z,' sind also von t’ unabhängig, 
und es ist 
(5) y—ı =h 
gleich der Ruhlänge des Stabes. Wir denken uns andererseits im 
System K die Länge des Stabes folgendermaßen bestimmt. Wir er- 
mitteln x, und x, als Funktion von £. Den Abstand zweier Lagen, 
die vom Anfangs- und Endpunkt des Stabes im System X gleichzeitig 
eingenommen werden, nennen wir die Länge ! des Stabes im be- 
wegten System: 

(6) () — lt) =1. 
35) W.v. Ignatowsky, Arch. Math. Phys. 17 (1910), p. 1 und 18 (1911), p. 17; 


Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 972 und 12 (1911), p. 779; Ph. Frank u. H. Rothe, 
Ann. d. Phys. 34 (1911), p. 825 und Phys. Ztschr. 13 (1912), p. 750. 


5. Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation. 557 


Da diese Lagen in K’ nicht gleichzeitig sind, haben wir auch nicht 
zu erwarten, daß } gleich /, wird. In der Tat folgt aus (1): 

x, (t) — vi ‚ sh) — vi 
Ne ee 
(7) h, 7 I == WV1— PP, 
der Stab ist im Verhältnis Y1 — ß?:1 kontrahiert, wie bereits Lo- 
rentz angenommen hatte. Da die Querdimensionen eines Körpers 
unverändert bleiben, kontrahiert sich auch sein Volumen nach der 
gleichen Formel 
(Ta) V=-V,y1— PR. 

Wir haben gesehen, daß diese Kontraktion mit der Relativität der 
Gleichzeitigkeit zusammenhängt, und es ist deshalb die Ansicht ge- 
äußert worden®), daß sie nur „scheinbar“, von unserer Raum-Zeit- 
messung vorgetäuscht ist. Nennt man nur dann einen Tatbestand 
wirklich, wenn er von allen Galileischen Bezugssystemen aus in der- 
selben Weise konstatiert wird, so ist die Lorentz-Kontraktion allerdings 
nur scheinbar, denn der relativ zu X’ ruhende Beobachter sieht den 
Stab unverkürzt. Wir halten das aber nicht für zweckmäßig, jeden- 
falls ist die Lorentz-Kontraktion prinzipiell beobachtbar. Zur Beurteilung 
dieser Frage ist ferner ein von Einstein?”) angegebenes Gedanken- 
experiment lehrreich, welches zeigt, daß die zur Beobachtung der 
Lorentz-Kontraktion nötige Konstatierung der Gleichzeitigkeit räum- 
lich entfernter Ereignisse durch Maßstäbe allein, ohne daß Uhren ver- 
wendet werden, vorgenommen werden kann. Verwenden wir nämlich 
zwei Maßstäbe A,B, und A,B, von der gleichen Ruhlänge ?,, die sich 
relativ zu X mit absolut genommen gleicher, aber entgegengesetzt 
gerichteter Geschwindigkeit v bewegen, und markieren den Punkt A*, 
in dem sich A, und A,, und den Punkt 5*, in dem sich B, und B, 
überdecken. (Aus Symmetriegründen folgt, daß diese Ereignisse in K 
gleichzeitig stattfinden.) Der Abstand A* B*, mit in K ruhenden Stäben 
ausgemessen, hat dann den Betrag 


=|, yı N ie 
Man muß also sagen: Die Lorentz-Kontraktion ist nicht eine Eigen- 
schaft eines Maßstabes allein, sondern eine prinzipiell beobachtbare, 
reziproke Beziehung zweier relativ zueinander bewegten Maßstäbe. 
Eine analoge Veränderung wie die Längeneinheit erfährt die Zeit- 
einheit bei Bewegung. Betrachten wir wieder eine in K’ ruhende Uhr. 








36) V. Varicak, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 169. 
37) A. Einstein, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 509. 
37* 


558 V19. W Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Die Zeit ?’, welche sie in K’ anzeigt, ist ihre Normalzeit r, ihre Ko- 
ordinate x’ können wir gleich O setzen. Aus (I) folgt dann 





(8) i= er = Yy1— Pt. 


Gemessen in der Zeiteinheit von K geht also die mit der Geschwindig- 


keit v bewegte Uhr im Verhältnisse Yl— ß?:1 langsamer, als wenn 
sie ruhte. Diese Folgerung aus der Lorentz-Transformation ist zwar 
in den Ergebnissen von Lorentz und Poincare bereits implizite ent- 
halten, wurde jedoch erst von Einstein klar ausgesprochen. 

Die Zeitdilatation gibt Anlaß zu einer scheinbar paradoxen Fol- 
gerung, die bereits in Einsteins erster Arbeit erwähnt und später 
von Langevin®), Laue?) und Lorentz“) genauer diskutiert wurde. 
Im Punkt P mögen sich zwei synchron gehende Uhren U,, U, be- 
finden. Bewegt man dann zur Zeit {= (0 eine von ihnen U, mit der 
konstanten Geschwindigkeit v während der Zeit # auf irgendeiner 
Kurve nach P’, so geht sie hernach nieht mehr synchron mit U,. Sie 


zeigt bei ihrer Ankunft in P’ die Zeit tY1— ß? statt t an. Ins- 
besondere gilt das auch noch, wenn der Endpunkt P’ der Bahn mit 
dem Anfangspunkt zusammenfällt. Der Einfluß der Beschleunigung 
auf den Gang der Uhr kann vernachlässigt werden, so lange wir uns 
in einem Galileischen Bezugssytem befinden. Betrachten wir ins- 
besondere den Fall, daß U, auf der x-Achse bis zu einem Punkt © 
und dann wieder zurück nach P bewegt wird — wobei die Geschwin- 
digkeitsänderungen in P und Q ruckweise erfolgen sollen —, so wird 
dieser Einfluß jedenfalls unabhängig von # und leicht zu eliminieren 
sein. Das Paradoxon liegt im Folgenden: Beschreiben wir den Vor- 
gang von einem Bezugssystem K*, welches relativ zu U, dauernd ruht. 
Die Uhr U, bewegt sich dann relativ zu X* genau so wie U, relativ 
zu K. Dennoch geht am Ende der Bewegung U, gegenüber der Uhr 
U, nach, U, also gegenüber der Uhr U, vor. Die Auflösung des 
Paradoxons besteht in der Bemerkung, daß das Koordinatensystem K* 
kein Galileisches ist und in einem solchen der Einfluß der Beschleu- 
nigung auf eine Uhr nicht vernachlässigt werden kann, weil hier die 
Beschleunigung nicht durch eine äußere Kraft, sondern, wie man in 
der Newtonschen Mechanik sagt, durch eine Trägheitskraft erzeugt wird. 
Die volle Aufklärung des Problems kann naturgemäß erst im Rahmen 








38) P. Langevin, L'&volution de l’espace et du temps, Scientia 10 (1911), p. 31. 

39) M.v. Laue, Phys. Ztschr. 13 (1912), p. 118. 

40) H. A. Lorentz, Das Relativitätsprinzip, 3 Haarlemer Vorlesungen, Leipzig 
1914, p. 31 u. 47. 


5. Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation. 559 


der allgemeinen Relativitätstheorie gegeben werden (vgl. Abschn. IV, 
Nr.53b); über die vierdimensionale Formulierung des Uhrenparadoxons 
siehe Abschn. III, Nr. 24). Wir bemerken ferner, daß die Zeitregulierung 
durch Uhrentransport, die wir in der vorigen Nummer ins Auge gefaßt 
haben, nicht ohne weiteres möglich ist, sondern erst richtige Resultate 
liefert, wenn man die Zeitangaben der Uhren auf die Transport- 
seihwihdigkeit Null extrapoliert. 

Daß Versuche, einen Einfluß der Gesamttranslation eines Ko- 
ordinatensystems auf die Erscheinungen innerhalb dieses Systems fest- 
zustellen, gemäß der Relativitätstheorie ein negatives Ergebnis haben 
müssen, ist evident. Dennoch ist es lehrreich nachzusehen, wie die 
Versuche von einem nicht mitbewegten System K aus gesehen werden. 
Wir wollen hier eine derartige Betrachtung für den Michelsonschen 
Interferenzversuch durchführen. Ist !, die in K gemessene Länge des 
zur Bewegungsrichtung parallelen, !, die Länge des zur Bewegungs- 
richtung senkrechten Apparatarmes, so sind die Lichtzeiten {,, t,, die 
zum Durchlaufen der Arme gebraucht werden, bekanntlich bestimmt 
durch 21, 27, 

ct, = 1) cl, = yi® = m 
Nun ist wegen der Lorentz-Kontraktion 


„=hLV1—Bß,, daggn L=h, 





also 2], 
ec =ch = Freu 
Es scheint also, daß der mitbewegte Peghachler in K’ eine andere 
Lichtgeschwindigkeit 
(9) ce = .cV1— ßR. 


beobachtet als der Beobachter in K. Dies ist eine Auffassung, die 
Abraham") vertritt. Nach Einstein ist dagegen noch die Zeitdilatation 


r-ıyizß 
cd =ch —= 2], 

wird und die Lichtgeschwindigkeit in X’ dieselbe ist wie in X. Nach 
Abraham gibt es keine Zeitdilatation. Die Abrahamsche Auffassung 
ist zwar mit dem Michelsonschen Versuch im Einklang, steht aber im 
Widerspruch mit dem Relativitätspostulat, da sie prinzipiell Versuche 


zuläßt, welche die „absolute“ Bewegung eines Systems zu bestimmen 
gestatten.*?) 


zu berücksichtigen, so daß 


41) M. Abraham, Theorie d. Elektrizität 2, 2. Aufl, Leipzig 1908, p. 367. 
42) Es mögen an dieser Stelle auch die Gedankenexperimente von W. Wien 
[Würzb. phys. med. Ges. 1908, p. 29 und Taschenb. f. Math. u. Phys. 2 (1911), 


560 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Gehen wir nun noch genauer auf den Unterschied zwischen dem 
Einsteinschen und dem Lorentzschen Standpunkt ein. Vor allem hat 
Einstein gezeigt, daß bei einer tiefer gehenden Fassung des Zeitbe- 
griffes der Unterschied zwischen „Ortszeit“ und wahrer Zeit ver- 
schwindet. Die Lorentzsche Ortszeit erweist sich als die Zeit im be- 
wegten System K’ schlechtweg. Es gibt ebenso viele Zeiten und 
ebenso viele Räume, als es Galileische Bezugssysteme gibt. Sehr wert- 
voll ist es weiterhin, daß Einstein die Theorie unabhängig gemacht 
hat von speziellen Annahmen über die Konstitution der Materie. 

Ist aber deshalb das Bestreben, die Lorentz-Kontraktion atomistisch 
zu deuten, vollkommen zu verwerfen? Wir glauben diese Frage ver- 
neinen zu müssen. Die Kontraktion eines Maßstabes ist kein elemen- 
tarer, sondern ein sehr verwickelter Prozeß. Sie würde nicht eintreten, 
wenn nicht schon die Grundgleichungen der Elektronentheorie sowie 
die uns noch unbekannten Gesetze, welche den Zusammenhalt des 
Elektrons selbst bestimmen, gegenüber der Lorentz-Gruppe kovariant 
wären. Wir müssen eben postulieren, daß dies der Fall ist, wissen 
aber auch, daß dann, wenn dies zutrifft, die Theorie imstande sein 
wird, das Verhalten von bewegten Maßstäben und Uhren atomistisch 
zu erklären. Nur muß man sich dabei stets der Gleichwertigkeit 
der beiden relativ zueinander bewegten Koordinatensysteme bewußt 
bleiben. 

Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Relativitätstheorie 
sind neuerdings auch von philosophischer Seite einer eingehenden 
Prüfung unterzogen worden.“?) Dabei ist auch die Meinung vertreten 
worden, daß die Relativitätstheorie den Ursachbegriff über Bord wirft. 
Wir sind der Ansicht, daß es erkenntnistheoretisch vollkommen be- 
friedigt, zu sagen, die Relativbewegung ist die Ursache der Kontrak- 
tion, da diese nicht die Eigenschaft eines Maßstabes, sondern eine 
Relation zwischen zwei Maßstäben ist, und daß man, um der Kausa- 
lität zu genügen, sich nicht wie Holst auf die Massen des Weltalls 
berufen muß. 





p. 287] und von @. N. Lewis und O©. Tolman [Phil. Mag. 18 (1909), p. 516, Fußnote] 
© 
ge 
yi- 2 

die Zeit veranschaulichen. p 

43) S. insbesondere J. Petzold, Ztschr. f. pos. Phil. 2 (1914), p 40; Verh. 
d. deutsch. phys. Ges. 20 (1918), p. 189 und 21 (1918), p 495; Ztschr. f. Phye. 1 
(1920), p. 467; M. Jakob, Verh.d.d.phys Ges. 21 (1919), p. 159 und 501; H. Holst, 
Kgl. danske Vid. Selsk. Math.-fys. Meddelelser II (1919), p.11; Ztschr. f. Phys. 1 
(1920), p. 32 und 3 (1920), p. 108. 





erwähnt werden, welche den Term — in der Transformationsformel für 


6. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten usw. Dopplereffekt. 561 


6. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten und seine 
Anwendung auf Aberration und Mitführungskoeffizient. Doppler- 
effekt. Es ist ohne weiteres zu sehen, daß die Art, wie man in der 
alten Kinematik Geschwindigkeiten zusammengesetzt hat, in der rela- 
tivistischen Kinematik nicht mehr zu richtigen Resultaten führt. Z.B. 
ist klar, daß eine Geschwindigkeit v <c mit c zusammengesetzt, wie- 
der ce geben muß und nicht e+v. Die Transformationsformeln (I) 
enthalten vollständig die Regeln, wie man hier zu verfahren hat. Es 
sei in K’ irgendeine Bewegung 

“= rl), yyl), Zell) 
gegeben. Durch (I) wird ihr eine Bewegung 
z=e(), y-ybd, 2=:f) 
in K zugeordnet. Es ist gefragt nach dem Zusammenhang der Ge- 
schwindigkeitskomponenten 
Zu, —= u’ cos«', Y- u), = =u,, W=Yu,?+u/:+u? 





in K’ mit den entsprechenden Größen 


dz dy dz y 
=u,—uon, Kal un ua=yu:+u°+ u 





dt 
in K. Aus (la) erhält man 
' an 1 
dx’ +vdt ‚ ‚ c? 
% yYı—#° , Y Y, 2 2, vi 


und daraus mittels Division durch die letzte Gleichung 


Ver Dash, 
BER N I 
u, +v Poren 4 2.08 
(10) N nah De ® 


vu,’ y ee , vu, 
er 














Diese Relationen finden sich auch in der eingangs zitierten Arbeit 
von Poincare. Aus ihnen folgt sogleich 


; ; } wvsin «\® 
Y* +? + 2u rose — ( ; “) 
Wv Cosa ? 
+ 
was man auch schreiben kann 


c* 
DE w* 
(11a) ET. V:-5V:-5 
und V Na 
a2) 1-;w sin « 


tga —= 5 ; 
g uw cos«@ tv 








(11) u= 




















562 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Die inversen Formeln resultieren daraus, wenn man v durch — v er- 
setzt. Für die absoluten Beträge gilt also das kommutative Gesetz, 
nicht aber für die Geschwindigkeitsrichtungen. Die Regeln für die 
Spezialfälle, daß die zusammenzusetzenden Geschwindigkeiten parallel 
bzw. senkrecht zueinander stehen, können aus den Formeln (10) so- 
fort abgelesen werden. 

Ferner entnimmt man aus (11a), daß Unterlichtgeschwindigkeit 
zu Unterlichtgeschwindigkeit hinzugefügt, immer wieder nur Unter- 
lichtgeschwindigkeit gibt. Daß überdies materielle Körper sich nicht 
relativ zueinander mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen können, folgt 
schon daraus, daß die Transformation (I) in diesem Fall imaginäre 
Werte für die Koordinaten liefert. Man kann aber noch mehr be- 
haupten: Pflanzte sich eine Wirkung in einem System K mit Über- 
lichtgeschwindigkeit fort, so gäbe es ein (gegen X mit Unterlicht- 
geschwindigkeit bewegtes) System K’, in dem ein Ereignis, das in 
K ein zweites, zeitlich nachfolgendes verursacht, erst nach dem letz- 
teren eintrifft. Setzten wir nämlich an uu=u—= 0, u>c, so wird 
nach der Umkehrung von (10) 


17 U —VÜ 
u —= u 
Bam lep 
c 


sobald man — a — <1 wählt. Die Begriffe Ursache und Wirkung 


wären umgestoßen, so daß man auf die Unmöglichkeit, mit Überlicht- 
geschwindigkeit Signale zu senden, schließen kann.‘‘) Die Lichtge- 
schwindigkeit spielt also in der Relativitätstheorie in vieler Hinsicht 
die Rolle einer unendlich großen Geschwindigkeit. Um gelegentlich 
aufgetauchten Mißverständnissen vorzubeugen, möchten wir jedoch 
noch besonders betonen, daß der Satz von der Unmöglichkeit der 
Überlichtgeschwindigkeit seiner Herleitung nach nur in den Gaiilei- 
schen Bezugssystemen gilt. 

Wir wollen nun den Fall genauer betrachten, daß die eine der 
Geschwindigkeiten, die zusammengesetzt werden, gleich der Lichtge- 
schwindigkeit wird, wobei wir aber die Richtung des Lichtstrahles 
beliebig lassen; wir haben also «= c. Dann folgt zunächst aus (11) 
w= c, d.h. Lichtgeschwindigkeit —+ Unterlichtgeschwindigkeit gibt 
wieder Lichtgeschwindigkeit. Die Beziehung (12) ergibt sodann in 
unserem Fall 

1 — ß?sin«’ 
(13) tige — et . 


Dies ist die relativistische Aberrationsformel, die bereits Einstein in 





44) A. Einstein, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 371. 


6. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten usw. Dopplereffekt. 563 


seiner ersten Arbeit hergeleitet hat. Eine strengere Begründung für 
dieselbe werden wir weiter unten geben. In Größen 1. Ordnung 
stimmt sie mit der klassischen Formel überein. Die Relativitätstheorie 
bringt hier insofern eine prinzipielle Vereinfachung, als die Fälle be- 
wegte Lichtquelle — ruhender Beobachter und ruhende Lichtquelle — 
bewegter Beobachter völlig identisch werden. 

Eine zweite wichtige Anwendung des Einsteinschen Additions- 
theorems der Geschwindigkeiten, auf die nach einem unvollkommenen 
Versuch von J. Laub?) zuerst Laue“®) hingewiesen hat, besteht in 
der Erklärung des Fresnelschen Mitführungskoeffizienten. Gegenüber 
der elektronentheoretischen Erklärung von H. A. Lorentz“) kann die 
Relativitätstheorie ebensowenig wie bei der Aberration im Ergebnis 
etwas Neues liefern, wenigstens was die der Beobachtung allein zu- 
gänglichen Größen 1. Ordnung anlangt. Die relativistische Ableitung 
hat jedoch den großen Vorzug, daß sie einfacher ist als die elek- 
tronentheoretische und vor allem, daß sie die Unabhängigkeit des 
Endresultates von speziellen Annahmen über den Mechanismus der 
Lichtbrechung in Evidenz setzt. Auch ist die Auffassung eine andere. 
Man hat früher den Fizeauschen Versuch geradezu als einen Beweis 
für die Existenz eines ruhenden Äthers angesehen, indem man ihn 
dahin interpretierte“®), daß die Lichtwellen sich relativ zum bewegten 


Medium nicht mit der Geschwindigkeit - sondern mit der Geschwin- 


’ 
digkeit — — er ausbreiten. Es liegt hier eine vom relativistischen 


Standpunkt unberechtigte Anwendung der gewöhnlichen Kinematik 
vor. Man hat die Sache vielmehr so aufzufassen, daß für einen mit dem 
Medium mitbewegten Beobachter das Licht sich normal mit der Ge- 


schwindigkeit = nach allen Richtungen fortpflanzt. Gerade deshalb 


breitet es sich jedoch relativ zu einem mit der Geschwindigkeit ® 
gegen das Medium bewegten Beobachter nicht mit der Geschwindig- 


keit — + v aus, sondern mit einer anderen Y, die sich aus (10) be- 
N 


stimmt. Wir wollen uns hier auf den Fall beschränken, daß die 
Strahlrichtung mit der Bewegungsrichtung des Beobachters gegen das 


45) J. Laub, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 738. 

46) M.v. Laue, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 989. 

47) Vgl die Darstellung im Artikel V 14, Nr. 60 dieser Encyklopädie. Eine 
vereinfachte Ableitung des Mitführungskoeffizienten vom elektronentheoretischen 
Standpunkt gibt H. A. Lorentz in der Naturw. Rundsch. 21 (1906), p. 487. 

48) Siehe z. B. den Artikel V 13, Nr. 21, p. 103 dieser Encyklopädie von 
H. A. Lorentz. 


564 Vı19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Medium übereinstimmt. Im allgemeinen Fall, .auf den wir im Ab- 

schnitt III, Nr. 367) zurückkommen werden, ist das Additionstheorem 

der Geschwindigkeiten mit Vorsicht zu handhaben. Es ist also zu 

setzen u, =u = — ‚“w,=u=J, und die erste Gleichung (10) liefert 
c 


we 1 
(19 I erereion) 

1+ u 
wenn wir nur die Glieder 1. Ordnung beibehalten. Für dispergierende 
Medien ist, wie bereits A. A. Lorentz”) bemerkt hat, auf der rechten 
Seite noch eine Korrektur anzubringen. Wie aus der Ableitung her- 
vorgeht, bedeutet dann nämlich n den Brechungsindex derjenigen 
Wellenlänge 4’, welche im mitbewegten System K’ wahrgenommen 
wird. Wegen des Dopplereffektes, dessen Theorie wir sogleich dar- 
legen werden, bestimmt sie sich aus der für das System K gültigen 
Wellenlänge A zu 


re RD ie 

(Wir beschränken uns wieder auf Größen 1. Ordnung.) Also wird 

A aut et 

n() na) n? da er 
und wenn wir noch » statt n(A) schreiben, erhalten wir endlich 

1 

(144) ie re 
Zeeman®”) ist es gelungen, das Vorhandensein dieses Zusatzgliedes 
auch experimentell sicherzustellen. 

Die Versuchsanordnung wurde neuerdings mehrfach modifiziert,. 
indem man das Licht nicht an festen, sondern an bewegten Flächen 
austreten ließ, und zwar auch senkrecht auf der Bewegungsrichtung 
des Körpers, in dem die Mitführung bestimmt wird. Es wurden da- 
bei bewegte Glas- oder Quarzkörper statt der Flüssigkeit bei Fizeau 
verwendet. Die Theorie bedarf dann gewisser Modifikationen gegen- 


über der des Fizeauschen Versuchs, und es resultieren andere End- 
formeln.5!) Auch ersetzte man die translatorische Bewegung durch 





49) H. A. Lorentz, Versuch einer Theorie d. elektrischen und optischen Er- 
scheinungen in bewegten Körpern, Leiden 1895, p. 101. 

50) P. Zeeman, Amst. Versl. 23 (1914), p. 245; 24 (1915), p. 18. 

51) Solche Experimente wurden ausgeführt von @. Sagnac, Paris C. R. 157 
(1913), p. 708 u. 1410; J. de Phys. (5) 4 (1914), p. 177 [Theorie bei M.v. Laue, 
München Ber. 1911, p. 404 und Das Relativitätsprinzip, 3. Aufl. 1919]; F. Harreß, 
Diss. Jena 1911 und Bericht von O. Knopf, Ann. d. Phys. 62 (1920), p. 389 [Zur 
theoretischen Deutung vgl.: P. Harzer, Astron. Nachr. 198 (1914), p. 378 und 199 


6. Einsteins Additionstheorem der Geschwindigkeiten usw. Dopplereffekt. 565 


eine Drehung. Besonders bemerkenswert ist der Versuch von Sagnac°!), 
bei dem alle Apparatteile mitrotiert werden, weil er zeigt, daß die 
Rotation eines Bezugssystems relativ zu einem Galileischen System 
durch optische Experimente innerhalb des Systems selbst festgestellt 
werden kann. Das Ergebnis des Experiments ist mit der Relativitäts- 
theorie völlig im Einklang. Schon früher hatte Michelson?!*) einen 
ähnlichen Versuch vorgeschlagen, um die Drehung der Erde optisch 
nachzuweisen, und Laue°!*) hat diesen Vorschlag vom theoretischen 
Standpunkt aus eingehend besprochen. Wir haben es hier mit einem 
optischen Gegenstück zum Foucaultschen Pendelversuch zu tun. 

Als letzte der drei für die Optik bewegter Körper fundamentalen 
Erscheinungen besprechen wir hier gleich den Dopplereffekt, obwohl 
er nichts mit dem Additionstheorem der Geschwindigkeiten zu tun hat. 
Betrachten wir eine sehr weit entfernte Lichtquelle Z, die im Sy- 
stem K ruht. Mit einem zweiten System KÄ’ bewege sich ein Be- 
obachter in der positiven x-Richtung mit der Geschwindigkeit v rela- 
tiv zu K. Die Verbindungslinie Lichtquelle-Beobachter schließe in A 
gemessen einen Winkel « mit der z-Achse ein, und die z-Achse liege 
überdies senkrecht auf der durch diese beiden Richtungen bestimmten 
Ebene. Dann ist in K die Lichtphase bestimmt durch 

sul er, 
wo v die Normalfrequenz der Lichtquelle bedeutet. Wie wir im Ab- 
schnitt III, Nr. 325) noch genauer ausführen werden, muß die Phase 
eine Invariante sein. Es gilt also 


amiv|p Zee en amin|-Aeatvemel, 
== e Be | 





e 
Mittels (I) folgt daraus sofort 

(15) u 

(16) cos — a sine’ — = MR, 
woraus man weiter entnimmt 

(16a) tg a = uf 





(1914), p. 10; A. Einstein, Astron. Nachr. 199 (1914), p. 9 und 47]; endlich P. Zee- 
man, Amst. Versl. 28 (1919), p. 1451 und P. Zeeman u. A. Snethlage, Amst. Versl. 
23 (1919), p. 1462; Amst. Proc. 22 (1920), p. 462 u. 512; Die Theorie aller dieser 
Versuche wird ausführlich entwickelt durch M.v. Laue, Ann. d. Phys. 62 (1920), 
p. 448. 

51a) A. A. Michelson, Phil. Mag. 8 (1904), p. 716; M.v. Laue, München Ber., 
math.-phys. Kl. 1911, p. 405. 


566 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


und 


14 1 
(16b) tg - a 


Wir fügen noch die Transformationsformel für den räumlichen Winkel 
dR eines Strahlenbündels hinzu. Da 


daR’ __ deos « 

AR  deose’ 
folgt aus 

r 1— p? 

(16) 1+ Beos« ern 
durch Differenzieren sofort 

ET 
(17) En 


Formel (15) bringt den Dopplereffekt zum Ausdruck, (16a) ist 
die Umkehrung unserer früheren Gleichung (13). Wir haben also 
zugleich eine neue, strengere Ableitung der relativistischen Aberra- 
tionsformel gewonnen. Wie zu erwarten war, stimmt auch der Aus- 
druck für den Dopplereffekt mit dem klassischen in den Größen 1. Ord- 
nung, die allein der Beobachtung zugänglich sind, überein. Wie bei 
der Aberration bringt hier die Relativitätstheorie insofern eine prin- 
zipielle Vereinfachung, als die in der alten Theorie und beim Schall 
auch tatsächlich verschiedenen Fälle: ruhende Lichtquelle — bewegter 
Beobachter und bewegte Lichtquelle -—— ruhender Beobachter voll- 
kommen identisch werden. 

Für die Relativitätstheorie charakteristisch ist der Umstand, daß 
auch dann, wenn die Geschwindigkeit der Lichtquelle senkrecht zur 
Blickrichtung gelegen ist (cos« = 0), der Dopplereffekt nicht ver- 
schwindet. Vielmehr wird nach (15) in diesem Fall 

‚ v 

(17a) = in 

Diese transversale Dopplerverschiebung nach Rot ist vollkommen im 
Einklang mit der für jede bewegte Uhr postulierten Zeitdilatation 
(Nr 5). Bald nachdem Stark den Dopplereffekt in dem von den Kanal- 
strahlteilchen emittierten Licht beobachtet hatte, wurde von Einstein®?) 
auf die Möglichkeit hingewiesen, diesen transversalen Dopplereffekt 
durch Beobachtungen an Kanalstrahlen zu verifizieren. Bisher ist es 
jedoch nicht gelungen das Experiment durchzuführen, da es äußerst 
schwierig ist, « genau gleich 90° zu machen und den relativistischen 
transversalen Dopplereffekt vom gewöhnlichen longitudinalen zu trennen. 





52) A. Einstein, Ann. d. Phys. 33 (1907), p. 197. 


7. Die vierdimensionale Raum-Zeitwelt (Minkowski). 567 


II. Mathematische Hilfsmittel. 


7. Die vierdimensionale Raum-Zeitwelt (Minkowski). Wie im 
vorausgehenden Abschnitt dargelegt wurde, lassen sich die Postulate 
der Relativität und der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in die 
eine Forderung der Invarianz aller Naturgesetze gegenüber der Lorentz- 
Gruppe zusammenfassen Unter Lorentz-Gruppe wollen wir von nun 
an die Gesamtheit aller oo! linearen Transformationen verstehen, welche 
die Identität (II) befriedigen. Jede derartige Transformation kann aus 
Drehungen des Koordinatensystems (zu denen eventuell auch noch 
Spiegelungen hinzutreten können) und aus der speziellen Lorentz- 
Transformation vom Typus (I) zusammengesetzt werden.) Mathe- 
matisch gesprochen ist also die spezielle Relativitätstheorie die In- 
variantentheorie der Lorentz-Gruppe. 

Für ihre Entwicklung sind die Arbeiten Minkowskis®) grund- 
legend geworden. Durch konsequente Ausnutzung von zwei Umstän- 
den gelang es ihm, die Theorie in eine außerordentlich elegante mathe- 
matische Form zu bringen. 

1. Führt man statt der gewöhnlichen Zeit t die imaginäre Größe 
u=ict ein, so verhalten sich in der Lorentz-Gruppe, also auch in den 
gegenüber dieser Gruppe invarianten Naturgesetzen, Raum und Zeitkoor- 
dinaten formal völlig gleich. In der Tat geht dann die für die Lorentz- 
Gruppe charakteristische Invariante 


2+tpP+2— eR 


55) Sobald man von den Transformationen der Koordinaten selbst zu denen 
ihrer Differentiale übergeht, entspricht den Verschiebungen des Koordinaten- 
ursprunges keine Transformation mehr (vgl. die folgende Nr.). Über die Ein. 
schränkung der in der Lorentz-Gruppe zulässigen Transformationen, welche von 
den Realitätsverhältnissen gefordert wird, und über die Umkehr der Zeit vgl. Nr. 22. 

54) H. Minkowski: 1. Das Relativiıätsprinzip, Vortrag gehalten in der math. 
Gesellsch. zu Göttingen am 5. Nov. 1907, abgedruckt im Jahresber. d. Deutsch. 
Math. Ver. 24 (1915), p. 372 und in den Ann. d. Phys. 47 (1915), p. 927. 2. Die 
Grundgleichungen für die elektromagnetischen Vorgänge in bewegten Körpern, 
Gött. Nachr. 1908, p. 53 und Math. Ann. 68 (1910), p. 472, auch separat, Leipzig 
1911. 3. Raum und Zeit, Vortrag gehalten auf der Naturforscherversammlung 
in Köln am 21. Sept. 1908, abgedruckt in der Phys. Ztschr. 10 (1909), p 104, 
auch in der Sammlung, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1913. Im folgenden 
zitiert als Minkowski I, II und III. 

Als Vorläufer Minkowskis muß Poincare (Rend. Pal. l. c. Anm. 11) genannt 
werden, der bereits die imaginäre Koordinate «= ct gelegentlich einführt und 
öfters schon diejenigen Größen zusammenfaßt und als Koordinaten eines Punk- 
tes im R, deutet, die man heute als Komponenten eines Vektors bezeichnet 
Auch der invariante Abstand spielt in seinen Überlegungen eine Rolle. 


568 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


über in 
(18) 2+y+2+u. 
Es ist deshalb zweckmäßig, nicht von vornherein Raum und Zeit zu 
trennen, sondern die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit an 
sich zu betrachten, die wir mit Minkowski kurz Welt nennen wollen. 

2. Da der Ausdruck (18) gegenüber Lorentz-Transformationen in- 
variant und außerdem eine quadratische Form der Koordinaten ist, liegt 
es nahe, ihn als Quadrat der Entfernung des Weltpunktes P(x, y, 2, u) 
vom Koordinatenursprung zu definieren in Analogie zum entsprechen- 
den Entfernungsquadrat x? + y?-+ 2? im gewöhnlichen Raum. Dadurch 
wird in der Welt eine Geometrie (Metrik) festgelegt, die eine weitgehende 
Verwandischaft mit der Euklidischen Geometrie hat. Eine volle Identität 
beider Geometrien ist wegen des imaginären Charakters der einen 
Koordinate nicht vorhanden, der zum Beispiel zur Folge hat, daß zwei 
Weltpunkte mit dem Abstand Null nicht notwendig zusanımenfallen 
müssen; in Nr. 22 werden diese Verhältnisse näher erläutert. Unge- 
achtet dieser Unterschiede in den geometrischen Verhältnissen können 
jedoch die Lorentz-Transformationen in Analogie zu den Drehungen 
des Koordinatensystems im R, als orthogonale lineare Transformatio- 
nen der Weltkoordinaten und als (imaginäre) Drehungen der Welt- 
achsen angesehen werden. Und ebenso wie der gewöhnliche Vektor- 
und Tensorkalkül aufgefaßt werden kann als Invariantentheorie der 
orthogonalen linearen Koordinatentransformationen des K,, nimmt die 
Invariantentheorie der Lorentz-Gruppe die Form eines vierdimensio- 
nalen Vektor- und Tensorkalküls an.®) Zusammenfassend können wir 
also das zweite für die Minkowskische Darstellung der Theorie wesent- 
liche Moment so formulieren: Infolge des Umstandes, daß die Lorentz- 
Gruppe eine quadratische Form der vier Welikoordinaten invariant läßt, 
kann die Invariantentheorie dieser Gruppe geometrisch eingekleidet werden 
und erscheint dann als naturgemäße Verallgemeinernng des gewöhnlichen 
Vektor- und Tensorkalküls für eine vierdimensionale Mannigfaltigkeit. 

8. Übergang zu allgemeineren Transformationsgruppen. Um 
hier gleich auch die für die allgemeine Relativitätstheorie nötigen 
mathematischen Hilfsmittel entwickeln zu können, wollen wir schon 
hier einige formale Ergebnisse derselben vorwegnehmen. 

Es ist dort nicht mehr möglich, den Abstand zweier in endlicher 
Entfernung voneinander befindlicher Weltpunkte in so einfacher Weise 


55) Die entscheidenden Ansätze für denselben finden sich in den zitierten 
Arbeiten Minkowskis. Eine systematische Darstellung wurde zuerst von Sommer- 
feld gegeben: A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 749 und 33 (1910), p. 649. 


8. Übergang zu allgemeineren Transformationsgruppen. 569 


zu definieren, wie es durch die Relation (18) geschehen ist. Doch 
läßt sich auch hier das Quadrat des Abstandes ds zweier unendlich 
benachbarter Punkte darstellen als quadratische Form der Koordinaten- 
differentiale. Wir bezeichnen die Koordinaten statt mit z,y,2,u4 mit 
x!,a?, x°, x’, kurz mit a°, die Koeffizienten dieser Form entsprechend 
mit g,, und lassen mit Einstein die Summenzeichen fort, indem wir 
ein für allemal festsetzen, daß über jeden Index, der zweimal vor- 
kommt, zu summieren ist, wobei er die Werte 1, 2, 3, 4 durchläuft. 
Dann können wir schreiben 


(19) ds’ — g,dı'da* (= A)- 


Die Summen auf der rechten Seite sind so auszuführen, daß © und 
k unabhängig voneinander je die Werte 1, 2, 3, 4 durchlaufen. Die 
Kombinationen ik, in welchen i=+% ist, kommen deshalb insgesamt 
je zweimal, die Kombinationen ‘@ nur einmal in (19) vor. Dies hat 


zum Beispiel die Konsequenz, daß bei Differentiation der quadratischen 
Form 


J=g,Wu 
nach «° sich ergibt 

dJ 
(20) a 2 I 


was auch im Einklang ist mit dem Eulerschen Satz 


ar 

Im Linienelement (19) werden die g,, im allgemeinen beliebige 
Funktionen der Koordinaten sein können. Dementsprechend hat es 
die allgemeine Relativitätstheorie, nachdem die Größen g,, explizite 


eingeführt sind, mit der Invariantentheorie der Gruppe aller Punkt- 
transformationen a 2%) 
zu tun. 

Wir geben noch mit teilweiser Ergänzung des bisher Gesagten 
die folgende Zusammenstellung der für die Physik wichtigsten Trans- 
formationsgruppen, indem wir dem Erlanger Programm von F' Klein®®®) 


folgen. Jede der angeführten Gruppen enthält die vorangehenden als 
Untergruppen (B’ ausgenommen). 


56a) F\. Klein, Programm zum Eintritt in die philosophische Fakultät, Er- 
langen 1872; wiederabgedruckt in den Math. Ann. 43 (1893), pn. 63. Vgl. auch 
Kleins Vortrag: Über die geometrischen Grundlagen der Lorentz-Gruppe, Jahres- 
ber. d. Deutsch. Math.-Ver. 19 (1910), p. 281 und Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 17. 
Siehe auch die Bemerkungen in F. Kleins Gesammelten mathematischen Ab- 
handlungen, 1. Band, Berlin 1921, p. 565—567. 


570 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie, 


A. Die Gruppe der orthogonalen linearen Transformationen (Lorentz- 

Gruppe), welche das Quadrat der Distanz 
2-2’ +’+n°+2/ 

invariant läßt. Dabei können die inhomogenen Transformationen nach 
Belieben mitgezählt werden oder nicht. Definiert man die Lorentz- 
Gruppe jedoch als die Gruppe der linearen Transformationen der Ko- 
ordinatendifferentiale, welche das infinitesimale Abstandsquadrat 

ds’ —= da? + dx? + da,’ + dx? 
invariant lassen, so bestehi sie nur aus o0® homogenen Transforma- 
tionen. Für manche Anwendungen sind jedoch gerade die Verschie- 
bungen des Koordinatenursprunges wichtig. Außerdem hat man noch zu 
unterscheiden zwischen den eigentlichen orthogonalen Transformationen 
mit der Funktionaldeterminante + 1, welche sich stetig in die iden- 
tische Transformation überführen lassen, und der umfassenderen Gruppe, 
die auch die gemischt orthogonalen Transformationen mit der Funk- 
tionaldeterminante — 1 enthält, welche mit einer Umklappung ver- 
bunden sind. 

B. Die affine Gruppe, die alle linearen Transformationen enthält. 

B’. Die Gruppe der konformen Abbildungen, welche die Gleichung 

tt tr, 0 
des Lichtkegels in sich überführt, so daß 
taten +) 
wird, wo og eine beliebige Funktion der Koordinaten ist. Über ihre 
Anwendbarkeit auf die Maxwellschen Gleichungen und ihre Rolle in 
der Nordströmschen Gravitationstheorie vgl. Nr. 28 und 65.d). 

C. Die projektive Gruppe der linear gebrochenen Transformatio- 
nen. Auf diese beziehen sich hauptsächlich die älteren Untersuchun- 
gen der Mathematiker über nichteuklidische Geometrie. Für die Phy- 
sik ist sie bisher von geringerer Wichtigkeit (vgl. jedoch Nr. 18). 

D. Die Gruppe aller Punkttransformationen, der die invariante 
Differentialform (19) adjungiert ist. Ihre Invariantentheorie ist die 
Tensorrechnung der allgemeinen Relativitätstheorie. 

E. Über die noch umfassendere Gruppe von Weyl siehe Abschn. V, 
Nr. 65. 

9. Tensorrechnung bei affinen Koordinatentransformationen.’®) 
Um den Übelstand zu vermeiden, daß ein und dieselben Formeln in 


56) Außer der in Nr. 7 zitierten Literatur kommt hier in Betracht: H. Graßmann, 
Ausdehnungslehre von 1862, Berlin; M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, Braun- 
schweig,1. Aufl.1911,3. Aufl.1919; H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, Berlin, 1. Aufl.1918, 


9. Tensorrechnung bei affinen Koordinatentransformationen. 571 


der speziellen und in der allgemeinen Relativitätstheorie in verschie- 
dener Weise geschrieben werden, wollen wir gleich die affine Gruppe 
unseren Betrachtungen zugrunde legen und uns nicht auf orthogonale 
Transformationen beschränken. Geometrisch bedeutet dies, daß wir 
auch schiefwinklige (nicht aber krummlinige) Koordinatensysteme zu- 
lassen. Die g,, sind Konstante, haben aber nicht immer die Normal- 
werte 9, = wie in den orthogonalen Systemen. Dabei ist das 
Größensystem d* definiert durch 
‚__j9 für ik 

e1) us; v „ ik. 

Der Tensorkalkül kann nun in verschiedener Weise begründet 
werden. Entweder man deutet die Tensorkomponenten als Projek- 
tionen gewisser geometrischer Gebilde, oder man charakterisiert sie 
rein algebraisch durch ihr Verhalten bei Koordinatentransformationen. 
Minkowski faßt bloß den Vierervektor geometrisch auf, während er 
zu dem von ihm zuerst eingeführten Begriffe des Flächentensors (oder 
wie er sagt, des Vektors II. Art) auf rein algebraischem Wege ge- 
langt. Durch Sommerfelds Arbeiten°°®) wurde jedoch die geometrische 
Methode die herrschende und blieb sie, bis die Lorentz-Gruppe durch 
allgemeinere Transformationsgruppen ersetzt wurde. In der für den 
Tensorkalkül der allgemeinen Punkttransformationsgruppe grundlegen- 
den Abhandlung von Ricei und Levi-Civita°), an die Einstein®®) an- 
knüpfte, findet sich nämlich außer einem Ansatz für die Interpretation 
der kontra- und kovarianten Vektorkomponenten keine geometrische 
Betrachtung. Erst durch spätere Arbeiten von Hessenberg, Levi-Civita 
und Weyl?') wurde das geometrische Moment wieder mehr betont. 


2. Aufl. 1919, 3. Aufl. 1920; @. Ricci u. T. Levi-Civita, Möth. de calcul differentiel 
absolu et leurs application, Math. Ann. 54 (1901), p. 135; A. Einstein, Die for- 
male Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, Berl. Ber. 1914, p. 1030 und: 
Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, Ann. d. Phys. 49 (1916), p. 769, 
auch separat als Broschüre, Leipzig 1916. Eine abweichende Terminologie ver- 
wenden G.N. Lewis, Proc. Am. Acad. 46 (1910), p. 165 und E. B. Wilson und @. N. 
Lewis, Proc. Am. Acad. 48 (1912), p. 387, vgl. auch den Bericht von @. N. Lewis, 
Jahrb. f. Rad. u. El. 7 (1910), p. 321. Ferner: H. Kafka, Ann. d. Phys. 58 (1919), 
p.1; H. Lang, Diss. München 1919 und Ann. d. Phys. 61 (1920), p. 32. Über die rezi- 
proken Vektorsysteme vgl. man auch C. Runge, Vektoranalysis, Leipzig 1919, 
dessen Darlegung sich aber auf den R, beschränkt. Man vgl. zu den folgenden 
Darlegungen dieses Abschnittes auch R. Weitzenböck, Art. IIIE7 dieser Enzykl., 
zweiter Teil, Abschn. C. — Es sei noch bemerkt, daß die hier dargelegte Tensor- 
rechnung bei affinen Koordinatentransformationen nur der Terminologie nach 
von der in der Algebra üblichen Invariantentheorie der Formen verschieden ist. 

55a) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 1. c. 

57) Vgl. Literaturangabe in Nr. 10, 14 u. 16, Anm. 58a), 65), 66), 67) u. 77). 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 38 


572 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Voll zur Geltung kommt es auch in der Dissertation von Lang.) 
Die rein algebraische Darstellung hat den Vorzug der Einfachheit 
und Übersichtlichkeit, die geometrische den der Anschaulichkeit. Wir 
folgen hier zunächst der ersteren, um dann für spezielle Fälle der 
hier entwickelten Begriffe und Sätze auch geometrische Interpreta- 
tionen zu geben. 

Die Größen a,;,„...””'", in denen die Indizes unabhängig vonein- 


ander die Werte 1,2,3,4 annehmen können, heißen Tensorkompo- 
nenten, und zwar in den Indizes iklm ... kovariante, in den Indizes 


rst... kontravariante Komponenten, wenn sie sich bei der affinen 
Koordinatentransformation 

(22) A Ad zi 

mit der Umkehrung 

(23) +, 

(worin die Koeffizienten «* die Bedingungen 

(24) öl 

erfüllen), wie folgt transformieren : 

(25) FAN ra ARE RR ar Sun lg Ir ug 


Hierin ist der allgemeinen Vorschrift gemäß über die doppelt vor- 
kommenden Indizes zu summieren. (Über die Verallgemeinerung die- 
ser Definition für beliebige Koordinatentransformationen siehe Nr. 14.) 
Die Zahl der Indizes der Komponenten eines Tensors heißt sein Rang. 
Die Tensoren 1. Ranges heißen auch Vektoren. Das einfachste Bei- 
spiel für solche sind die (kontravarianten) Koordinaten x° eines Punk- 
tes. Auch die durch (21) definierten Größen d,* bilden zufolge (24) 
die Komponenten eines Tensors, und zwar im Index i kovariante und 
im Index k kontravariante. Dieser Tensor ö* hat überdies die Eigen- 
tümlichkeit, daß seine Komponenten in allen Koordinatensystemen die 
gleichen Werte annehmen. 

Durch Addition zweier Tensoren erhält man einen neuen Tensor 
gleichen Ranges, durch Multiplikation einen Tensor höheren Ranges, 


z. B. ,+b=6, 
abe ac. 
Durch Verjüngung, d.h. Summation über korrespondierende Indizes 


57a) Wir hielten es für richtiger, die Benennungen „kontravariant‘“ und 
„Kovariant“ entsprechend der historisch älteren Bezeichnung „kogredient“ und 
„Kontragredient“ zu vertauschen, so daß dann die Größen, die sich so wie die 
Koordinaten transformieren, kovariant genannt würden. Doch fügen wir uns 
hier der jetzt allgemein üblichen, von Ricei u. Levi-Civita herrührenden, auch 
von Einstein und Weyl (l. c. Anm. 56) angewandten Bezeichnung. 


9. Tensorrechnung bei affınen Koordinatentransformationen. 573 


der oberen und unteren Reihe, erhält man einen Tensor niedrigeren 
Ranges. So z.B. aus dem Tensor 2. Ranges {* die Invariante != t; 
(wobei unserer Vorschrift entsprechend das Summenzeichen wegge- 
lassen ist). Man kann auch Multiplikation und Verjüngung kombi- 
nieren. Man bilde z. B. zuerst durch Multiplikation aus a, und b 


den Tensor s}= a,b 


und dann durch Verjüngung die Invariante 
s=s/. 


Diese erhält man aber auch direkt aus den Vektoren a, und b’ mittels 


der Operation s- a,b. 


Ebenso erhält man aus dem Tensor 2. Ranges a,, und dem Vektor & 


den Vektor ya, 


und die Invariante = a, 


Die hier angewandte Regel läßt auch eine Umkehrung zu: Ist a,«‘ 
bei beliebigem Vektor «° eine Invariante, so sind die a, kovariante 
Komponenten eines Vektors; ist a* = a*' und a’*x,x, bei beliebigem 
Vektor x, eine Invariante, so sind die «’* kontravariante Komponen- 
ten eines Tensors 2. Ranges usf. Die Verallgemeinerung dieser Sätze 
für Tensoren beliebigen Ranges erhellt unmittelbar. 

Ein Tensor heift in den Indizes i und % symmetrisch bzw. schief- 
symmetrisch, wenn seine Komponenten bei Vertauschung der Indizes 
i und k sich nicht ändern, bzw. bloß ihr Vorzeichen wechseln (z. B. 
4, = Q,,, bzw. a, = — a,,). Wie leicht zu verifizieren ist, sind diese 
Relationen vom zufällig gewählten Koordinatensystem unabhängig. 
Dabei ist aber wesentlich, daß die beiden Indizes 5 und %k derselben 
Indexreihe (entweder beide der oberen oder beide der unteren) an- 
gehören. 

Die in (19) eingeführten Größen g,, bilden ebenfalls einen Ten- 
sor, wie aus der Invarianz von g,,x°a*5®) folgt. Er ist sowohl für 
die Geometrie als auch für die Physik von der größten Bedeutung 
und heißt der metrische Fundamentaltensor. Man kann aus den g,, 
auf folgende Weise neue Tensorkomponenten gewinnen. Man bilde 
zuerst die Determinante g der g,, 


(26) 9—=|9|; 


58) Im Gültigkeitsbereich der affinen Gruppe brauchen die beiden Punkte, 
deren Entfernungsquadrat durch g,,x'x* bestimmt ist, nicht als unendlich be- 
nachbart angenommen werden, vgl. die folgende Nr. 

38* 


574 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


und dividiere dann die zu einem bestimmten Glied g,, konjugierte 
Unterdeterminante durch g. Man erhält auf diese Weise 10 Größen 
9'* (g’* = g*‘), welche die Relationen 


(27) ug N ö, 
erfüllen. (Es sei auch gleich die Beziehung 
(263) "= 


angemerkt.) Wir behaupten, daß sie kontravariante Tensorkomponen- 
ten 2. Ranges sind. Beweis: Aus den kontravarianten Komponenten 
a* eines Vektors erhält man durch Multiplikation mit g,, und Ver- 
jüngung kovariante Komponenten: 


(28) a, = 9;,0f. 
Da die Umkehrung dieses Gleichungssystems 
(28a) a = g'*a, 


lautet und die Komponenten a, ganz beliebig sein können, folgt nach 
dem früher erwähnten Satz der Tensorcharakter der g"*. 

Wir bezeichnen die Größen a, und a’ als kovariante und kontra- 
variante Komponenten desselben Vektors. Analog definiert man an 
Tensoren höheren Ranges das Herauf- und Heruntersetzen der Indizes 
und betrachtet die betreffenden Größensysteme als zum gleichen Ten- 
sor gehörig, z. B. 


(28b) I, — Ir Is W* yo Ir at — ga, N gra,. 
Durch das Herauf- und Heruntersetzen von Indizes wird die Richtig- 
keit einer Relation zwischen Tensoren nicht gestört, nur muß beim 


Verjüngen stets über korrespondierende Indizes der oberen und der 
unteren Reihe summiert werden, z. B. 


J=ab = ab, 


er ab =alb, d=atb = ad. 


Hiermit sind die Regeln der Tensoralgebra erschöpft. Die Ten- 
soranalysis, d. h. die Vorschriften, wie man durch Differentiation von 
Tensoren nach den Koordinaten neue Tensoren ableitet, folgt für die 
affine Gruppe sofort aus der Tensoralgebra durch die Bemerkung, daß 

0 

duk 
Komponenten eines Vektors verhält. Die naturgemäße Ordnung und 
geometrische Deutung dieser Operationen kann erst bei der Be- 
sprechung des Tensorkalküls der allgemeinen Transformationsgruppe 
gegeben werden. 


sich die Operation formal in jeder Hinsicht wie die kovarianten 


10. Geom. Bedeutung der kontra- u. kovarianten Komponenten eines Vektors. 575 


10. Die geometrische Bedeutung der kontra- und kovarianten 
Komponenten eines Vektors.’®*) Den Vektor können wir geometrisch 
darstellen als Strecke und nennen ihn deshalb auch Linientensor. 
Seine kontravarianten Komponenten sind dann durch deren Parallel- 
projektionen auf die Koordinatenachsen gegeben. Wenn wir den An- 
fangspunkt des Vektors in den Koordinatenursprung legen, so sind 
sie zugleich identisch mit den Koordinaten des Endpunktes, und diese 
transformieren sich in der Tat beim Übergang zu einem neuen Ko- 
ordinatensystem nach der vorigen Nr. genau so, wie es von den 
kontravarianten Komponenten eines Vektors definitionsgemäß verlangt 
wird. Analog wie im AR, läßt sich ferner die Summe zweier Vek- 
toren als Diagonale des Parallelogramms darstellen. 

Wir müssen nun Entfernungen und Winkel einführen und gehen 
zu diesem Zweck von einem Cartesischen (orthogonalen) System 
(X,, X,, X,, X,) aus. In diesem ist das Längenquadrat eines Vektors £ 
mit den Komponenten X, gegeben durch 


(30) r > X, ”) ’ 
und zwei Vektoren heißen aufeinander senkrecht stehend, wenn 
(31) (29) -=3 X,Y, 


verschwindet. Im allgemeinen heißt (ry) das skalare Produkt der 
Vektoren x,y. Die Invarianz dieser Definition gegenüber orthogonalen 
Transformationen folgt aus der Invarianz von (30) mittels der Relation 


QE+ay’— Ar + 2iuley) + u’yP. 
Da diese Form in A und u definit ist?®), folgt auch noch 
ey <0, 
(worin überdies das Gleichheitszeichen nur gilt, wenn x und y par- 
allel sind: = ah). Wir können also durch 


9 9) 
den von zwei Richtungen eingeschlossenen Winkel definieren. Die 
geometrische Bedeutung des skalaren Produktes ist dieselbe wie im 
gewöhnlichen Raum: es ist gleich dem Produkt aus der Orthogonal- 
projektion des Vektors r auf die Richtung von 4) und der Länge von }. 


58a) In den Darlegungen dieser Nr. schließen wir uns an @. Hessenberg au 
[Math. Ann. 78 (1917), p. 187]. 

59) Wir nehmen hier an, daß in (30) alle Quadrate das positive Zeichen 
haben und die Koordinaten reell sind. Auf die abweichenden Verhältnisse in 
der wirklichen Raum-Zeitwelt kommen wir in Nr. 22 zurück. 


576 V19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Man erkennt das sofort, wenn man das orthogonale Koordinaten- 
system speziell so wählt, daß eine Koordinatenachse die Richtung 
von 4 hat, was immer möglich ist. 

Um nun auch die Ausdrücke für Länge und skalares Produkt in 
einem beliebigen schiefwinkligen Koordinatensystem zu finden, cha- 
rakterisieren wir zunächst ein solches System durch seine vier Achsen- 
vektoren e, k=1,2,3 4, deren kontravariante Komponenten in die- 


sem System &=(1,0,0,0) 

& = (0,1,0,0) 

= (0,0,1, 0) 

& = (0, 0,0, 1) 

lauten. Ihre Längen sind im allgemeinen von 1 verschieden. Es wird 
also zwar die Länge eines Vektors selbst mit einem für alle Koordi- 
natensysteme gleichen Maßstab gemessen, die Projektionen auf die 
Achsen dagegen mit Maßstäben, die sogar für die Achsen desselben 
Koordinatensystems im allgemeinen verschieden sind. Es kann dann 
jeder Vektor x in der Form geschrieben werden 


(33) 


(34) re. 

Für Entfernung und skalares Produkt folgt daraus sofort 
(35) = (de). (de) lege, 
(86) ay) = (eye = ey = gay 

mit 

(37) I = (a). 


Wir haben also zugleich die geometrische Bedeutung der Größen 9,, 
ermittelt. 

Nun führen wir das zum Vektorquadrupel e, reziproke Vektor- 
quadrupel e&,* ein. Es ist definiert durch die Relationen 


(38) (e,0,F) = df, 


d.h. die Vektoren e,* stehen auf den von je drei Vektoren e, gebildeten 
Räumen senkrecht, und ihre Längen sind außerdem geeignet normiert. 
Bezeichnen wir nun mit x, die Parallelprojektionen von x auf die re- 
ziproken Achsen gemessen mit den zugehörigen Einheitsmaßstäben, 
so gilt 

(39) en. 


Um den Zusammenhang zwischen den x, und den 2° zu finden, mul- 
tiplizieren wir nun die Gleichung 


10. Geom. Bedeutung der kontra- u. kovarianten Komponenten eines Vektors. 577 


skalar mit e,. Mit Rücksicht auf (37) und (38) erhalten wir 
(40) u Üozerp Ir, 
das heißt: Die Parallelprojektionen des Vektors x auf die reziproken 
Achsen, gemessen mit den reziproken Einheitsmaßstäben sind seine ko- 
varianten Komponenten.®) Multiplizieren wir andererseits (39a) skalar 
mit e,*, so folgt 
= (rer) 
also wegen x’ = g'*x;: 
(41) "= (ir). 
Indem man die Ausdrücke (34) und (39) für x einerseits einzeln qua- 
driert, andererseits miteinander multipliziert, erhält man noch 
(35a) a Eu 7 7 
und ebenso ergibt sich für das skalare Produkt aus 
weht, Yayfsmyeh: 

(36a) (62 Pe el EEE 27 

Es bleibt noch zu untersuchen, wie sich die Achsenvektoren e, 
bei einer Koordinatentransformation verhalten. Sind e, die Achsen- 
vektoren des neuen (gestrichenen) Koordinatensystems, dann gilt für 
einen beliebigen Vektor x 

were. 

Mit Rücksicht auf (22) und (23) folgt daraus 


(42) = 
und 
(43) uf. 


Die «* sind also die Komponenten der neuen Achsenvektoren im alten 
System, die «,' die der alten Achsenvektoren im neuen System. Man be- 
stätigt überdies die aus (25) folgenden Transformationsformeln für 
den Fundamentaltensor g,, auf Grund von (37) und (42). 


60) Bei Ricci und Levi-Civita sowie bei Lang, 1. c. Anm. 56), werden die 
kovarianten Vektorkomponenten als Orthogonalprojektionen auf die ursprünglichen 
Achsen gedeutet. Dann muß aber noch ein Faktor hinzugefügt werden, der die 
Eivfachheit und Symmetrie der Formeln stört. Aus (39) folgt nämlich durch 
skalare Multiplikation mit e,:2;= (e;r). Die Orthogonalprojektion von x auf e; 
ist also gleich 

x; %; x; 


el yo D Vi 
(Über ö ist hierin nicht zu summieren.) Es sei noch bemerkt, daß im Carte- 
sischen System, in dem die g;, die Werte d# annehmen, der Unterschied zwi- 
schen kontra- und kovarianten Komponenten verschwindet und auch die Achsen- 
vektoren e, dieses Koordinatensystems mit ihrem reziproken Vektorquadrupel 
identisch werden. 











zufolge von (37). 


573 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


11. Flächen- und Raumtensoren. Vierdimensionales Volumen. 
Nach der Strecke ist das nächsthöhere geometrische Gebilde die 
Fläche, dementsprechend folgt auf den Linientensor der Flächentensor. 
Zu diesem gelangt man auf folgendem Weg. Zwei Vektoren x, y 
spannen ein zweidimensionales Parallelepiped auf. Dessen achsen- 
parallele Projektionen auf die sechs zweidimensionalen Koordinaten- 
ebenen, gemessen in den sechs Parallelepipeden der Achsenvektoren e,, 
sind gegeben durch 
(44) ey. 

Sie bilden also die kontravarianten Komponenten eines Tensors 2. Ranges, 
und zwar eines schiefsymmetrischen: es bestehen die Relationen 
(45) gr in A B#, 

Läßt man die reziproken Achsen und die aus den e,* gebildeten Ein- 
heitsflächen an die Stelle der oben verwendeten treten, so erhält man 
die kovarianten Komponenten 

(44a) 5 N — hi: 

Man nennt nun jeden schiefsymmetrischen Tensor 2. Ranges, d. h. 
jeden Tensor 2. Ranges, dessen Komponenten die Relationen (45) er- 
füllen, einen Flächentensor. Zwar läßt sich nicht jeder solche Tensor 
in der Form (44) darstellen, — denn die &'* dieser speziellen Form er- 
füllen die Identität 

(46) gi2 584 1 gisga2 I gig _ 0 

— wohl aber als die Summe zweier einfacher Flächentensoren der 
Form (44). Die Invariante 

(47) T—E,g8 

stellt den Inhalt des Parallelogramms dar. Sind allgemeiner &,, und 
1;, zwei Flächentensoren der speziellen Form (44), so gibt die In- 
variante 

(48) 45,7 

das Produkt aus der Orthogonalprojektion des Parallelepipedes &,, 
auf n,, und der Größe von n,, an. Die analogen Invarianten für all- 
gemeine Flächentensoren sind die Summe von Produkten derartiger 
Flächengrößen.°0) Über die invariantentheoretische Bedeutung der 
linken Seite von (46) beim allgemeinen Flächentensor siehe Nr. 12. 


60a) Wir möchten in diesem Zusammenhang auf die Plückerschen Linien- 
koordinaten hinweisen. Sind x, ... x, und Y, ... y, die homogenen Koordinaten 
zweier Punkte einer Geraden des dreidimensionalen Raumes (so daß m ... = 
4 4 


und es ... n deren gewöhnliche Koordinaten sind), so läßt sich die Gerade 
4 4 


11. Flächen- und Raumtensoren. Vierdimensionales Volumen. 579 


Der Raumtensor wird dargestellt durch ein dreidimensionales 
Raumstück, welches von drei Vektoren x, 4, 3 aufgespannt wird. Seine 
Komponenten sind gegeben durch die Determinanten 


uf 5 $; 
(49) a Ra u EEE 
Ew. | 5, 


Sie erfüllen die Symmetriebedingungen, daß sie beim Vertauschen 
zweier Indizes das Vorzeichen wechseln. Die Zahl der unabhängigen 
Komponenten ist 4. Zum Unterschied vom Flächentensor ist (49) 
schon der allgemeinste Raumtensor, d. h. jeder Tensor 3. Ranges, 
dessen Komponenten die erwähnten Symmetriebedingungen erfüllen, 
läßt sich in der Form (49) darstellen. 

Vier Vektoren x®, x9, x®, x® spannen ein vierdimensionales 
Volumelement auf. Im cartesischen System ist dessen Größe einfach 
gleich der Determinante der 4><4 Komponenten der Vektoren r. Nach 
(34) und (39) drückt sich diese durch die Komponenten im schief- 
winkligen System wie folgt aus: 


(50) s-|#.|,j=1|2,|:|e*], 


wie man durch Anwendung des Multiplikationssatzes der Determinan- 
ten findet. |e,| und |e;*| bedeuten darin die Determinanten der 4><4 
Komponenten der Vektoren e, bzw. e,* im cartesischen System. Man 
erhält ihren Wert durch Quadrieren und nochmalige Anwendung des 


definieren durch die sechsGrößen p;, = 2,y, — xz;y;, deren Verhältnisse von der spe- 
ziellen Wahl der zwei Punkte auf der Geraden unabhängig sind. Diese Größen 
P;, genügen der Relation (46). Die formale Analogie zum Flächentensor in der 
vierdimensionalen Welt ist eine vollkommene. 

Ist ferner &,, zunächst ein spezieller Flächentensor vom Typus (44a), so 
wird durch da® = &ikx, einem jeden Vektor x? eine infinitesimale Verschiebung 
zugeordnet. Da dx’ in der Ebene des Flächentensors &i* liegt und auf x, senk- 
recht steht, hat man es mit einer infinitesimalen Drehung des R, vom Betrag 
und Umlaufssinn von &,, zu tun. Ist &,, ein Flächentensor von allgemeiner Art, 
so entsteht die betreffende Verschiebung durch Addition zweier zueinander ortho- 
gonaler Drehungen und kann als Schraubung bezeichnet werden. Minkowski 
selbst (III, 1. c. Anm. 54) hebt die Analogie des Flächentensors zur Kraftschraube 
hervor. Die entsprechende Analogie im dreidimensionalen Raum findet eine 
weitgehende Anwendung auf die Mechanik in der Schraubentheorie von Sir 
Robert Ball (A Treatise on the Theory of Screws, Cambridge 1900). Vgl. auch 
den zugehörigen Aufsatz von F'. Klein, Ztschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 237 und 
Math. Ann. 62 (1906), p. 419. 

Es sei auch bemerkt, daß die selbständige Bedeutung der Flächentensoren 
gegenüber den Vektoren in mehrdimensionalen Mannigfaltigkeiten schon von 
H. Graßmann, l. c. Anm. 56), erkannt und näher ausgeführt wurde. 


580 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Multiplikationssatzes der Determinanten mit Rücksicht auf (37), (41) 
und (26a) zu 


1 
ar’ en een 
Also ergibt sich endlich für das invariante Volumen: 
» 1 
(51) 3-1#1.49- al 
Da sich das vierfache Integral 
Sax‘ dx? da? dat, 
welches wir der Kürze wegen einfach fi dx schreiben wollen, beim 
Übergang zu einem neuen Koordinatensystem wie die Determinante 


|£*| transformiert, ist das Volumen eines beliebigen Gebietes nach 
(51) gegeben durch 


(52) = e; Vode. 
Ist das Integral 7 WB dx 


eine Invariante, so nennen wir mit Weyl®!) W eine skalare Dichte. 
Eine solche entsteht aus einem gewöhnlichen Skalar durch Multipli- 


kation mit Yg. 

Analoges gilt von der Vektordichte mit den Komponenten w', 
die durch die Bedingung definiert ist, daß die (über ein unendlich 
kleines Gebiet erstreckten) Integrale 


Sw dx 


einen Vektor bilden. Allgemein sprechen wir in einem analogen Sinn 
von einer Tensordichte. Man erhält sie ebenfalls aus gewöhnlichen 
Tensoren durch Multiplikation mit Yg. 

Bei der in Nr. 9 besprochenen Systematik der Tensoren wurde 
auf die Symmetriebeziehungen der Komponenten keine Rücksicht ge- 
nommen. Wir haben jedoch gesehen, daß z. B. die schiefsymmetri- 
schen von den symmetrischen Tensoren 2. Ranges in geometrischer 
Hinsicht vollständig verschieden sind. Bei der Tensoranalysis wird diese 
Verschiedenheit von neuem hervortreten (s. Nr. 19 u. 20). Es empfiehlt 
sich infolgedessen nach dem Vorgang von Weyl®?) und in Anlehnung 
an die Terminologie in Graßmanns Ausdehnungslehre neben der früher 
verwendeten auch eine neue Systematik der Tensoren einzuführen. 
Man bilde wie in (44) und (49) die Größenreihe &, &'*, &%,... Die 
Tensoren 1. Stufe (Linientensoren) 1., 2., 3., ... Ranges entstehen 
dann aus den linearen, quadratischen, kubischen, ... Formen der einen 


61) H. Weyl, Ztschr. f. Math. 2 (1918), p. 384; Raum — Zeit — Materie, 


3. Aufl., Berlin 1920, p. 92 ff. 
62) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., Berlin 1918, p. 45—51. 


12. Duale Ergänzung zu Flächen- und Raumtensoren. 581 


Verschiebung &' a, ee ee. 


Ebenso bei den Tensoren 2. Stufe (Flächentensoren): 

bir, Drmb 5", ... 
Damit die Koeffizienten durch die Formen eindeutig bestimmt sind, 
müssen sie gewissen Normierungsbedingungen genügen. Die a,,, @,,, :.- 
z.B. müssen bei Vertauschung zweier beliebiger Indizes unverändert 
bleiben, die b,, müssen schiefsymmetrisch sein, endlich muß für die 
Komponenten Db,,,„ des Flächentensors 2. Ranges gelten: 
(53a) Das = — drsm = — Dam = Omas 
(53b) bizım + dirma # Pimaı = 0; 
letzteres folgt aus den Relationen (46). Ein derartiger Flächentensor 
2. Ranges ist der Krümmungstensor (s. Nr. 16). Die Zahl der unab- 
hängigen Komponenten eines solchen Tensors reduziert sich im n-di- 


mensionalen Raum auf Grund von (53a) und (53b) auf a Die 


hier dargelegte Systematik umfaßt bei weitem nicht alle Größen, die 
unter die in Nr. 9 formulierte Definition des Tensors fallen. Doch 
spielen nur diejenigen Tensoren, die sich ihr einordnen lassen, in den 
physikalischen Anwendungen eine Rolle. 

12. Duale Ergänzung zu Flächen- und Raumtensoren. In einer 
vierdimensionalen Mannigfaltigkeit kann jedem Flächenstück 
(54) Ei ai 
ein normales zugeordnet werden von der Eigenschaft, daß alle Ge- 
raden des letzteren auf allen Geraden des ersteren senkrecht stehen. 
Wir nennen es zu &'* dual, wenn es außerdem dieselbe Größe hat. Es 
ist zunächst bestimmt durch 

EriR — gkigpen _ ar kpki 
worin die Vektoren x*', y*' auf x, y’ normal sind: 
wait, et, int, Yy=t. 
Eine einfache Rechnung zeigt dann, daß die Komponenten &*'* aus 
den Komponenten von &,, einfach durch eine gerade Permutation 
hervorgehen, wobei aber noch ein Faktor Yg bzw. 75 hinzuzufügen ist: 
9 


1 1 1 
ad — Ep, gen RE SER e- are —$ 
(54a) vo vs Kan) 
ee _ I: rs _ I u 
v9 147 K / 247 12 34 


Analog durch Vertauschung von &* und en 
= Vs En, u — v9 er we — v9 EN 


(54b 
E95” hart Ve“, in Ru VvgE*, 12 t— v9 5; 


582 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Durch die gleichen Relationen ordnet man dem Flächentensor &* auch 
dann den dualen zu, wenn dieser nicht von der speziellen Form (44) 
ist. Durch skalare Multiplikation des Flächentensors &,, mit seinem 
dualen Tensor &*‘* nach (48) erhält man eine Invariante von beson- 
ders einfachem Bau: 


(462) nen mu er 75 6 Et Eısdun + 514). 


In genau entsprechender Weise läßt sich einem Raumtensor &* 
ein dualer Vektor &*° zuordnen. Es ist dies diejenige Strecke, die auf 
allen Geraden des Raumstückes senkrecht steht und deren Länge 
gleich ist dem Voluminhalt desselben. Es ergibt sich wieder für 
irgendeine gerade Permutation iklm: 


(85) Er 7, un Dig mn Vo Er, 


13. Übergang zur allgemeinen Geometrie Riemanns. Wir gehen 
nun dazu über, die Invariantentheorie der Gruppe aller Punkttransforma- 
tionen zu besprechen. Hierzu ist erforderlich, zunächst auf die Maß- 
bestimmung und die Sätze der allgemeinen Riemannschen Geometrie 
einzugehen. Die älteren Geometrien von Bolyai und Lobatschewsky, 
welche das Euklidische Parallelenaxiom aufgegeben haben, behalten alle 
das Axiom der freien Beweglichkeit starrer Punktsysteme (Kongruenz- 
axiom) bei und gelangen deshalb bloß zu den speziellen Fällen der 
Räume konstanter Krümmung. Auch von der projektiven Geometrie 
ausgehend kommt man zu keiner allgemeineren Metrik. Die Möglich- 
keit einer solehen wurde zuerst von Riemann®?) ins Auge gefaßt. 
Die Modifikation des Begriffes vom starren Körper in der speziellen 
und allgemeinen Relativitätstheorie hat es mit sich gebracht, daß man 
heute die so lange als evident angesehenen Kongruenzaxiome aufgeben 
und demnach die allgemeine Riemannsche Geometrie den Betrach- 
tungen über Raum und Zeit zugrunde legen muß. 

Wir nehmen an, daß sich eine gewisse endliche Umgebung eines 
jeden Punktes der Mannigfaltigkeit, die wir betrachten wollen (wir 
wollen der Kürze wegen bisweilen einfach von „Raum“ sprechen) ein- 
eindeutig und stetig durch Koordinaten x!,x°,... x” kennzeichnen 
läßt. Von der ganzen Mannigfaltigkeit braucht dies keineswegs vor- 








68) B Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde 
liegen. Habilitationsvortrag, gehalten im Jahr 1854. Aus dem Nachlaß Rie- 
manns herausgegeben von Dedekind in den Gött. Nachr. 18 (1868), p. 133. [.Rie- 
männs Ges. Werke, p. 254.] Neuerdings separat als Broschüre erschienen, her- 
ausgegeben von H. Weyl, Berlin 1920. 


13. Axiomatik der Riemannschen Geometrie. . 583 


ausgesetzt zu werden. Die Zahl » der Dimensionen der Mannigfaltig- 
keit lassen wir zunächst beliebig. Der Grundbegriff der Metrik ist 
dann die Länge s einer gegebenen Kurve 
+ lt), (k=1,2,...n) 
wo { einen beliebigen Parameter bedeutet. Erst nachdem sie irgend- 
wie physikalisch definiert ist, können die Ergebnisse der mathemati- 
schen Untersuchung auf die in der Wirklichkeit vorhandene Mannig- 
faltigkeit angewendet werden. Im R, müssen wir uns jedenfalls den 
starren Maßstab durch einen beliebig biegsamen Maßfaden ersetzt denken. 
Es handelt sich nun darum, über die Funktion s(?) plausible An- 
nahmen zu machen. Indem solche Annahmen bloß über den Differen- 
tialquotienten z gemacht werden, kennzeichnet sich die Riemannsche 
Geometrie als Nahegeometrie, im Gegensatz zur Euklidischen Ferngeo- 
metrie. Als erstes Axiom stellen wir folgendes auf. 


Azxiom I. Der Differentialquotient = in einem bestimmien Kurven- 


punkt soll bloß abhängen von den Differentialquotienten = in diesem 
Punkt, nicht von den höheren Differentialguotienten und vom sonstigen 
Verlauf der Kurve. 

Da die Bogenlänge s von der Wahl des Parameters i unabhängig 


ist, folgt daraus, daß en eine homogene Funktion ersten Grades der 


Größen a sein muß. Als Abstand zweier Punkte wird man die 


Bogenlänge der kürzesten sie verbindenden Linie bezeichnen. Eine 
solche Linie heißt auf einer zweiten senkrecht stehend, wenn die Di- 
stanz von irgendeinem Punkt P der Linie 1 vom Schnittpunkt $ 
beider Linien kleiner ist als die Distanz von P von irgendeinem an- 
deren Punkte Q der Linie 2. Gemäß dem Axiom I. kommt es dabei 
auf die Lage’ des Punktes P auf der Linie 1 nicht an, sondern nur 


auf die Differentialquotienten (3), und (7), in 8. Man kann da- 


her auch sagen, die Richtung 1 ist orthogonal zur Richtung 2. Im 
allgemeinen wird daraus nicht folgen, daß auch 2 orthogonal auf 1 


ist. Wir wollen jedoch die Art der Funktion Sn durch ein zweites 
Axiom festlegen: 


Axiom- 11. ei soll die Quadratwurzel aus einer quadratischen Form 


der dx; sein: ds dxi dak 
dt : ITIARTTTO 


wofür wir kürzer schreiben können: 
(19) ds? — 9,,.da' dat. 


584 V 19. W. Pauli jr. BRelativitätstheorie. 


Dies ist die in Nr. 8 angeschriebene Gleichung. Das Axiom II. kann 
als Pythagoreischer Lehrsatz für unendlich benachbarte Punkte be- 
zeichnet werden. Gerade diese Einschränkung seines Gültigkeitsbe- 
reiches charakterisiert den Übergang von der Fern- zur Nahegeometrie. 
Infolge des Axioms II. ist die Orthogonalität zweier Richtungen’ eine 
reziproke Beziehung. Umgekehrt, wenn dies immer eine reziproke 
Beziehung ist, muß das Linienelement von der Form (19) sein.) Man 
kann deshalb das Axiom II. auch durch das folgende ersetzen: 

Axiom II’. Wenn die Richtung 1 in P orthogonal ist auf der 
Richtung 2, so ist auch 2 orthogonal auf 1. 

Legt man das Axiom II zugrunde, so kommt man fürn =2 
auf die Gaußsche Geometrie auf beliebig gekrümmten Flächen zurück. 
Sowie man sich jede derartige Fläche in einem euklidischen R, denken 
kann, kann auch jeder Riemannsche Raum R, in einem euklidischen 


Runn+n, eingebettet werden er entspricht dabei der Zahl der 


Komponenten g;,,). Doch lassen sich alle für die Relativitätstheorie 
wichtigen geometrischen Sätze auch herleiten, ohne daß von dieser 
Möglichkeit Gebrauch gemacht wird. Der Winkel (1, 2) zwischen 
zwei Richtungen da’ und da’ in einem Punkt P kann genau so defi- 
niert werden wie im euklidischen Raum, nur müßten die geraden 
Strecken durch unendlich kleine kürzeste Linien ersetzt werden. Man 
findet analog zu (32) 








/ ER g;,da dxk ; 
(6) gr V9;,.datdar : Vg, „da dk 
Durch Bestimmung des Linienelementes in a unabhängigen Rich- 


tungen (d. h. in on Richtungen, für welche die Eh reihige 


Determinante der zugehörigen Größen dx’dx* nicht verschwindet) 
können die g,, in jedem Punkt ermittelt werden. 
Bei einer beliebigen Punkttransformation 


(57) A (= 1,2,...0) 
transformieren sich die Differentiale dx* homogen linear 
(58) da = ade, 
 dafi 
(59) er You Fi ’ 


mit den entsprechenden inversen Relationen, 








64) D. Hilbert, Grundlagen der Physik, 2. Mitt., Gött. Nachr. 1917, p. 53; 
W. Blaschke, Leipz. Ber., math.-phys. Kl. 68 (1916), p. 50. 


14. Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors. 585 


(60) dat ade, 
A Oxk 
(61) Ar, 


genau wie in (22) die Koordinaten. Dies ist der Zusammenhang der 
allgemeinen Transformationsgruppe mit der affinen Gruppe. Wesent- 
lich ist jedoch der Umstand, daß die «,‘ nicht beliebige Funktionen 
der Koordinaten sein können, sondern den Integrabilitätsbedingungen 


daf of 

Ya erh 

die man auch durch die inversen Bedingungen 
CH 04 

int da di 


ersetzen kann, genügen müssen. An einem bestimmten Punkt P, 
können die «a; jedoch beliebige Werte annehmen. Solange es sich 
also um Relationen zwischen Tensoren in einem und demselben Punkt, 
also nicht um Differentiation und Integration eines Tensorfeldes han- 
delt, können alle Tensoroperationen der affinen Gruppe unmittelbar 
übertragen werden. Man kann diesen Sachverhalt auch so ausdrücken: 
In der Tensoralgebra ist der Riemannsche Raum in dem ins Auge 
gefaßten Punkt P, ersetzbar durch den „Tangentialraum“, den man 
erhält, indem man den g;,, überall dieselben konstanten Werte g,,(P,) 
erteilt, welche sie im Riemannschen Raume bloß im Punkt P, an- 
nehmen. Die Form ds? ist ihrer Bedeutung nach invariant, die 9;, 
bilden die kovarianten Komponenten eines Tensors zweiten Ranges. 
Auch die Regeln für den Übergang zu den kontravarianten Kompo- 
nenten g’* und für die Bildung des Volumelementes d& können aus 
der Tensoralgebra übernommen werden. 


14. Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors. Für die 
geometrische Begründung des Tensorkalküls im Riemannschen Raum 
hat sich der Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors immer 
mehr als fundamental erwiesen. Zuerst aufgestellt von Levi-Civita ®) 
auf Grund des Einlagerns des Riemannschen Raumes R, in einen 
euklidischen Raum R,„,., (vgl. vorige Nr.), wurde er hernach von 


2 

Weyl®®) direkt hergeleitet. Später hat ihn Weyl auch für Mannig- 
faltigkeiten, in denen das Linienelement noch gar nicht definiert ist, 
axiomatisch festgelegt (vgl. Abschn. V').”) | 


65) T. Levi-Civita, Notione di parallelismo etc., Rend. Pal. 42 (1917), p. 173. 

66) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., Berlin 1918, p. 97—101. 

67) H. Weyl, Math. Ztschr. 2 (1918), p. 384; Raum — Zeit— Materie, 3. Aufl., 
Berlin 1920, p. 100—102, 


586 V 19. W. Pauli jr. Relativitätsthoorie. 


Wir betrachten wieder die Kurve 
u it) 


und in jedem Pun’:t P derselben die Gesamtheit aller von ihm aus- 
gehenden Vektoren. Es handelt sich dann darum, von allen Abbil- 


sr (6) 


der Vektorgesamtheit von P,(t,) auf die Vektorgesamtheit von Pf) 
eine spezielle Gruppe in invarianter Weise herauszuheben und als Par- 
allelverschiebungen oder Translationen zu kennzeichnen. Es ist nun 
nicht möglich einfach zu postulieren, daß zwei parallele Vektoren in 
Punkten von endlichem Abstand dieselben Komponenten haben sollen. 
Denn wenn das in einem Koordinatensystem der Fall ist, wird es 
in einem anderen im allgemeinen nicht zutreffen. Die betreffende 
Eigenschaft der Translationen muß vielmehr so formuliert werden: 


1. Es gibt in jedem Punkt P ein solches Koordinatensystem, daß 
die Änderung der Komponenten eines Vektors bei infinitesimaler Trans- 
lation längs aller von P ausgehenden Kurven verschwindet, d.h. daß 
in P dei 

fg 
ist. ® 

Indem das Wegtransformieren der infinitesimalen Anderung der 
Vektorkomponenten für alle von P ausgehenden Kurven gleichzeitig 
verlangt wird, werden erst die Parallelverschiebungen längs verschie- 
denen Kurven miteinander verknüpft. Eine einfache Betrachtung zeigt, 
daß die Änderung = der Vektorkomponenten infolge der Forderung 1 
in einem beliebigen Koordinatensystem 


dEi ; da ,, 
(64) =--N5 


beträgt, wo die I“, bloß von den Koordinaten, nicht von den = ab- 


hängen. Sie erfüllen die Symmetriebedingung 

(65) K a I" ai x 

Umgekehrt zeigt man, daß die Forderung 1 erfüllt ist, wenn (64) 
und (65) zu Recht bestehen. Gegenüber linearen Koordinatentrans- 
formationen verhalten sich die I“, wie die Komponenten eines Ten- 
sors, nicht aber gegenüber der allgemeinen Transformationsgruppe. 
Letzteres ergibt sich schon daraus, daß die I”, immer zum Verschwin- 
den gebracht werden können, während die Komponenten eines Ten- 
sors in jedem Koordinatensystem sämtlich verschwinden, wenn es in 
einem System der Fall ist, da sie sich homogen linear transformieren. 


14. Begriff der Parallelverschiebung eines Vektors. 587 


Wir definieren gleich noch die Größenreihe TI, ,, durch 
(66) er In m GT ,rs- 

Die Definition der Parallelverschiebung wird vervollständigt durch 
die zweite Forderung. 

2. Die Translation ist eine kongruente Abbildung, das heißt sie 


läßt die Länge der Vektoren unverändert: 
d ; d i 
(67) 20) — de. 

Dadurch werden die geodätischen Komponenten mit dem metrischen 
Fundamentaltensor verknüpft. Daß auch die Winkel bei der Parallel- 
verschiebung unverändert bleiben, ist eine einfache Folge der Forde- 
rung 2. Da die Relationen (64) und (67) bei beliebigen &' gelten 
müssen, ergibt sich sofort 


= 9,,T, 


r3) 


0 ir ar 
(68) De an EN + Aus 
1 09;- 09.5 09,5 PERS 
(69) ie te ln 





Die Größen I”, folgen dann aus (66). Christoffel, in dessen Arbeit ‘®) 
die durch (69) und (66) definierten Größen zum erstenmal in der Lite- 


ratur gedruckt vorkommen, schrieb 1 und an Stelle von I, ,, 
und I“,. Sie werden auch vielfach Ohristoffelsche Dreiindizessymbole 
genannt. Weyl®) bezeichnet sie als Komponenten des affinen Zusammen- 
hangs, da die infinitesimale Translation gemäß (64) eine affıne Abbildung 
der Vektoren ist. Hier sollen sie einfach die geodätischen Komponenten 
des betreffenden Bezugssystems genannt werden. Ein Koordinatensystem, 
in welchem sie im Punkt P verschwinden, heißt selbst in P geodätisch. 

Aus der Invarianz von &,n° bei beliebigem 7‘ ergibt sich ferner 
mit Rücksicht auf (64) die Transformationsformel für die kovarianten 
Komponenten &, zu: 





dE, Ba dx da’ FR 
(70) 7 Hr ER BR 22 
; d 
endlich folgt aus n (g’r&,6,) = 0 
die Identität 
dgik \ 2 un 
a) HET HET =0. 


68) E. B. Christoffel, Crelles J. 70 (1869), p.46. Vgl. auch R. Lipschitz, 
Crelles J. 70 (1869), p. 71. Die betreffenden Entwicklungen von Riemann wur- 
den 1861 in einer Pariser Preisarbeit niedergelegt und erst 1876 in der ersten 
Ausgabe von Riemanns gesammelten Werken veröffentlicht (vgl. Ges. Werke, 
1. Aufl., p. 370). 

69) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 3. Aufl., Berlin 1920, p. 101. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 39 


5883 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Wir merken noch die aus (26) und (27) durch Differentiation folgen- 
den Gleichungen an: 


(72) d—=— grdg,, da—— 9,949, 
oge* ir gks 0 rs 2 Ü ög”* 
(72a) rg, Mm, 
und 
(73) dg = gg'dg,, = — 99,49", 
ö IR ögik 
(738) I II 


Aus (69) erhält man noch durch Verjüngung 











BREI Ei 2a LEE vs ödr: _ 1 0Vg _ dlogyg 
(74) I, I lu 39.78 ee ee 
und sodann aus (71): 
: ET N 
(75) Tr AT, ER 


15. Geodätische Linien. Die Richtung der Kurve «* = a#*(f) in 
irgendeinem ihrer Punkte P ist charakterisiert durch den Vektor u’ 
(76) "= = ) (s = Bogenlänge) 
der die Richtung der Tangente an die Kurve in P und die Länge 1 
hat. In der Tat ist 


(77) a ne 


EEE 


I 


Die geodätische Linie ist nun eine Kurve, die ihre Richtung stets bei- 
behält.'°) Dies soll besagen: Konstruiert man in irgendeinem Punkt P, 
der geodätischen Linie den zugehörigen Richtungsvektor u‘, so erhält 
man die Richtungsvektoren in den anderen Punkten durch Parallel- 
verschieben von u‘ längs der geodätischen Linie. Nach (64) und (70) 
drückt sich das analytisch aus durch die einander völlig äquivalenten 
Relationen 





du; PR r HE 1 09,; ! a8 
(78) Era Ar 9 eh 
und 
(79) SE = — Tl; ww; 
letztere kann man auch schreiben: 
d?x’ a di 
(80) zart ds 7 Pe 


70) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., Berlin 1918, p. 102. 


15. Geodätische Linien. 589 


Dies sind die Differentialgleichungen der geodätischen Linie. Aus 
(80) folgt rückwärts wegen der Invarianz der Länge eines Vektors 
bei der Parallelverschiebung 


da: da* 
ig In de As 


d.h. (80) gilt nur für einen solchen Kurvenparameter s, der bis auf 
einen konstanten Faktor gleich der Bogenlänge ist. | 
Die geodätischen Linien können auch durch ein Variationsprinzip 
charakterisiert werden. Sie sind nämlich zugleich die in Nr. 13 er- 
wähnten kürzesten Linien, oder genauer gesagt die „Extremalen“?0e), 
für welche die Variation der Kurvenlänge verschwindet (letztere braucht 
nicht notwendig ein Minimum zu sein). Seien A und B die festen 
Anfangs- und Endpunkte, s die Bogenlänge, A ein beliebiger Para- 
meter; dann ist also zu zeigen, daß für die geodätischen Linien 


B B 
b da! dak 
(81) ofas=: | Vr 3; 9 
A 4A 


wird. Die g,, sind dabei gegebene Funktionen der Koordinaten «‘, 
variiert werden die Funktionen a* = a*(A). 

An der Relation (81) wollen wir nun eine aus der Mechanik be- 
kannte Umformung”®) vornehmen. Zu diesem Zwecke wählen wir 
den Parameter A speziell so, daß er auf der Extremalen mit der 
Bogenlänge s zusammenfällt und stets denselben Wertebereich durch- 
läuft. In den resultierenden Differentialgleichungen kann dann A durch 
s ersetzt werden. Setzen wir nun 


1 de! dk 
(82) I-;h% Gr 


oLdi 
ds = ; 
er Sy dei dar 
Ir ar 


und da die Wurzel für die Extremale gleich 1 wird, kann statt (81) 
einfach geschrieben werden 


B B 
(83) Sra=ofra=0. 
4A A 


70a) Vgl. A. Kneser, Art. 118 dieser Encykl., p. 597 u. 600. 
70b) Es handelt sich dort um den Übergang von der Jacobischen Form des 


Prinzips der kleinsten Wirkung zum Hamiltonschen Prinzip. Vgl. A. Voß, Art 
IV 1 dieser Encykl., p. 96. 


= const., 


so wird 





39* 


590 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Damit ist die vollständige Analogie mit dem Hamiltonschen Prinzip 
der Mechanik hergestellt, wenn L als Lagrangesche en aufge- 


faßt wird. Schreiben wir also für den Moment noch @ statt GE ir, 


so lauten die aus (83) resultierenden a 


d oL ER 
(84) be N) 


Da nach (20) ? Er = = u ee = ist, ergibt dies in der Tat 


( =) 1 99, da’ da’ 


nA ERF Try hans ar Mer 7" er Pre FE 


was mit (78) übereinstimmt. (In einer Mannigfaltigkeit, in welcher 
die Form ds? nicht definit ist, versagt die hier gegebene Ableitung 
für diejenigen Kurven, auf denen durchweg ds—= 0 ist. Über die 
Ausnahmsstellung dieser „Nulllinien“ vgl. Nr. 22.) 


16. Raumkrümmung. Der Begriff der Raumkrümmung wurde 
zuerst von Riemann"') aufgestellt, und zwar als eine Verallgemeine- 
rung des Gaußschen Flächenkrümmungsmaßes für n-dimensionale Man- 
nigfaltigkeiten (siehe darüber Nr. 17). Seine zugehörigen analytischen 
Entwicklungen blieben aber bis zur Publikation der Pariser Preis- 
arbeit’?) unbekannt; hier finden sie sich sowohl nach der Elimina- 
tionsmethode, als auch nach der Variationsmethode fertig ausgeführt. 
Vorher waren jedoch Christoffel?) und Lipschite"*) bereits zu den glei- 
chen Ergebnissen gelangt, indem sie die Bedingung dafür aufstellten, 
daß eine vorgegebene quadratische Form 


I, darda* (9;, Funktionen der x) 
(de) 


transformiert werden kann. Dies ist seinerseits wieder ein spezieller 
Fall des gleichfalls von Christoffel in Angriff genommenen Aquivalenz- 


in die Form 


70e) Während in der gewöhnlichen Mechanik die Lagrangeschen Gleichungen 
entstehen, wenn man für die Raumkoordinaten alle möglichen Punkttransforma- 
tionen zuläßt, zeigt das Obige, daß dieselbe Form erhalten bleibt, wenn auch 
die Zeit beliebig mittransformiert wird; die unabhängige Variable ist jetzt natür- 
lich nicht £, sondern s. Vgl. T. Levi-Civita, l’enseignement mathem. 21 (1920), p.5. 

71) B Riemann, Habilitationsvortrag 1. c. Anm. 63). 

72) 1. c. Anm. 68). 

73) E. B. Christoffel, Crelles J. 1. c. Anm. 68). 

74) R. Lipschitz, Crelles J. 70 (1869), p. 71; 71 (1870), p. 244 u. 288 und 
72 (1870), p. 1, ferner ebenda 82 (1877), p. 316. Letztere Arbeit ist bereits nach 
der Veröffentlichung von Riemanns Preisarbeit erschienen. 


16. Raumkrümmung. 591 


problems der quadratischen Differentialformen, der Frage, wann zwei 
Formen g,dcda: und y,,da'da' 


ineinander transformiert werden können. Dieses allgemeine Äquivalenz- 
problem ist jedoch bisher für die Physik nicht von Bedeutung ge- 
worden. Auf einem zwar rein formalen, aber verglichen mit Christoffels 
weitläufigen Rechnungen sehr kurzen Weg haben Ricci und Levi- 
Civita”), deren Darstellung sich Einstein’®) angeschlossen hat, den 
Krümmungstensor abgeleitet. Endlich fanden Hessenberg’”) und Levi- 
Civita”®) im Anschluß an den Begriff der Parallelverschiebung eines 
Vektors eine anschauliche geometrische Deutung für denselben. 


Es war in Nr. 14 immer nur die Rede von der Parallelverschie- 
bung eines Vektors längs einer gegebenen Kurve, niemals von der 
Parallelverschiebung vom Punkt P nach P’ schlechtweg. Diese ist 
in der Tat bloß bei euklidischer Geometrie vom Zwischenweg unab- 
hängig. Verschiebt man dagegen im allgemeinen Fall einen Vektor 
.& längs einer geschlossenen Kurve parallel, so erhält man am Ende 
einen vom Ausgangsvektor &' verschiedenen Vektor &*‘, Durch Be- 
nützung dieses Sachverhaltes kann man den Krümmungstensor defi- 
nieren. Es sei nämlich eine zweiparametrige Kurvenschar 


+ —= (u, v) 


gegeben. Nun verschieben wir den beliebigen Vektor &* vom Punkt 
Pro, v) über P,(u + Au, v), Pı(u+ Au, v+ Av) Pu(wv+ Av) 
wieder zurück nach P,,(u, v), abwechselnd auf Kurven mit konstantem 
v und Kurven mit konstantem u. Die Differenz &** — & — At* muß 
offensichtlich von der Ordnung Au Av sein, da sie Null wird, sobald 


eine der Größen Au oder Av verschwindet. Der lim wer: ‚ auf den 
Au>0 


Av>0 
es hier allein ankommt, kann mit Hilfe von (94) ohne weiteres er- 
mittelt werden und ergibt sich zu 


r N ‚dei dek 
(85) lim Auf Riy& du ns 
worin i \ 
ARLN AT 
U 


75) @. Ricei und T. Levi-Oivita, Math. Ann. 1. ce. Anm. 56). 

76) A. Einstein, Ann. d. Phys. 1. c. Anm. 56). 

77) @. Hessenberg, Math. Ann. 78 (1917), p. 187, 1. c. Anm. 58a). 

78) T. Levi-Civita, Rend. Pal., 1. c. Aum. 65). Vgl. auch die Darstellung 
von Weyl in der 1. und 3. Aufl. von Raum — Zeit— Materie. 


592 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Wegen des Vektorcharakters der linken Seite von (85) — es ist zu 
beachten, daß in A$* die Differenz von zwei Vektoren im selben Punkt 
gebildet wird — folgt, daß auch die rechte Seite Vektorcharakter hat. 
Demnach sind die Größen R};; die Komponenten eines Tensors. Es 
ist der Krümmungstensor, der nach seinen Entdeckern auch der Rie- 
mann-Christoffelsche Tensor heißt. Der Sinn der Formel (85) wird 
noch etwas anschaulicher, wenn man von den Differentialquotienten 


zu den Differentialen übergeht. Schreibt man dx’ für “= du und 


da* für = dv, und führt unter Ausnutzung der Antisymmetrie von 
R};, in j und %k den Flächenvektor 
dot — duiöa: — ddr 
ein, so nimmt sie die Gestalt an 
(87) A — 1.Rt,,5do’* '8e) 
Durch die gleiche Überlegung, die zu (86) führt, erhält man für die 


Änderung der kovarianten Komponenten bei der Parallelverschiebung 
längs des genannten geschlossenen Weges aus (70): 











(88) Ab = 3 Ru;.$do?* 
mit er, ar, ,, 
Ru ei 3 er + FAT, Tgir Bea T 1 T9,45) 
(89) REHE. Bat 0°9;, 0° 9,4 0°g,; ) 
yet de Va ya 


+ PT Ts, RR T ls.) 
Es ist ferner leicht zu zeigen, daß 
AE, ac InadE* 


ist; infolgedessen sind auch R,,,, die zu Ri,, kovarianten Kompo- 
nenten: 


(91) Russ = 9a Rise. 
Aus (89) folgt, daß die R,,,, die Symmetriebedingrngen 
(92) Ra — Ray = ua Rası 43 Reno Ruiz rh Ryyki + Rus =(0 


erfüllen, nach Nr. 14 ist also der Krümmungstensor als Flächentensor 
2. Ranges anzusprechen. Das Bestehen der Relationen (92) kann auch, 
wie Hessenberg'”) gezeigt hat, direkt aus der Definition (87) des Krüm- 


78a) Bei einer zweidimensionalen Mannigfaltigkeit führt das hier bespro- 
chene Verfahren zum bekannten Zusammenhang des Gaußschen Krüämmungs- 
maßes mit dem Exzeß bzw..Defekt der Winkelsumme eines geodätischen Drei- 
eckes,; den bereits Gauß dargelegt hat. 

79) @. Hessenberg, 1. c. Anm. 77). 


17. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen. 593 


mungstensors gefolgert werden. Da Riemann an Stelle von R,,,‚(hijk) 
schreibt, werden diese Größen manchmal auch Vierindizessymbole ge- 
nannt. Im euklidischen Raum verschwinden sie, denn sie verschwinden 
zunächst sicher in den Koordinatensystemen, in welchen die g,, kon- 
stant sind, und aus ihrem Tensorcharakter folgt dann, daß sie in jedem 
Koordinatensystem verschwinden. Dieses Verschwinden: ist also eine 
notwendige Bedingung dafür, daß die Form g,,dx’da* in die Form 
D(dx'')? transformiert werden kann. 

Aus dem Flächentensor 2. Ranges R},, erhält man durch Verjün- 
gung einen Linientensor 2. Ranges R,;: 


(93) Rı= Ra: = PPRgipr m PORarp 
Die Symmetrie desselben folgt aus 
PPRyisr z. PP Rorai a PPRyrp:- 

Seine Komponenten sind nach (86) gegeben durch: 

ot 1% or H k 
7 Da? 
Durch abermalige Verjüngung ergibt sich aus ihm die Krümmungs- 
invariante 


(95) R= g"R..”*) 


Es möge noch bemerkt werden, daß bei Herglotz®®) und in den neueren 
Arbeiten von Weyl®!) die Krümmungstensoren definitionsgemäß das 
entgegengesetzte Vorzeichen haben wie hier und bei den anderen 
Autoren. 


(94) R, 





+ T,12,— Ta 


ik aß" 


17. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen, Für 
viele Zwecke erweist sich die Einführung des folgenden, von Riemann 
in seinem Habilitationsvortrag erwähnten Koordinatensystems als nütz- 
lich. Es sei ein beliebiges Koordinatensystem x’ gegeben. Man ziehe 
nun von irgendeinem Punkt P, aus alle geodätischen Linien. Ihre Rich- 
tungen sind charackterisiert durch die Tangentialvektoren in P, mit 


den Komponenten 2), In einer gewissen Umgebung von P, wird 


es nur eine geodätische Linie geben, welche durch einen gegebenen 
Punkt P und durch P, geht. Ist s die geodätische Bogenlänge PP,, 
so kann also der Punkt P in eineindeutiger Weise charakterisiert 
werden durch die Werte 


d.ak 
Se vll 
79a) Sie tritt zuerst bei R. Lipschitz, Crelles J. 72 (1870), 1. c. Anm. 74) auf. 


80) Vgl. nächste Nr. Anm. 82). 
81) H. Weyl, 1. c. Anm. 67). 


594 V 19. W. Pauli jr. BRelativitätstheorie. 


Diese % sind die ‚Riemannschen Normalkoordinaten. Offensichtlich 
tangiert das Koordinatensystem der y das Koordinatensystem der x in 
P,, so daß dort die g,, und überhaupt die Komponenten eines belie- 
bigen Tensors in beiden Systemen übereinstimmen. Wir kennzeichnen 
sie durch eine übergeschriebene 0, z.B. 4,,., Einer beliebigen Trans- 
formation des x-Systems entspricht eine affine Transformation des y- 
Systems. Wir lassen nun das x-System ganz außer Betracht und 
fragen nach der Gestalt des Linienelementes im Normalsystem. Zu- 
nächst müssen in P, nach (80) die I, verschwinden, da alle von P, 
ausgehenden geodätischen Linien lineare Gleichungen haben. 


(97) Di = 0, 

d.h. das Normalsystem ist in P° geodätisch. Im beliebigen Punkt 
P sind nicht die Gleichungen aller von ihm ausgehenden geodätischen 
Linien linear, sondern bloß die der einen geodätischen Linie, welche 
auch durch P, geht. Dies wird ausgedrückt durch 


(98) N, 

worin I},(y) die Werte der geodätischen Komponenten im Punkt mit 
den Koordinaten y bedeuten. Diese Gleichung muß für alle y gelten. 
Sind umgekehrt die Relationen (97) und (98) für ein vorgegebenes 
Koordinatensystem erfüllt, so ist dieses ein Normalsystem. Man kann 
beweisen®!®), daß infolge dieser Relationen das Linienelement ds? die 
Form haben muß: 


99) ds — d,dyay! a) (way! — yay!) (yiay! — Yay). 
In der Summe muß man die Indexpaare (hi) und (jk) unabhängig 
voneinander alle (2) möglichen Kombinationen durchlaufen lassen. 


Aus (99) kann auch rückwärts auf (97) und (98) geschlossen werden, 
so daß diese Form des Linienelementes die notwendige und hinrei- 
chende Bedingung dafür bildet, daß das Koordinatensystem der y* ein 
Normalsystem ist. Die p,,,, sind reguläre Funktionen der y und ver- 
halten sich gegenüber linearen Transformationen der y wie die Kom- 
ponenten eines Flächentensors 2. Ranges, können auch stets so be- 
stimmt werden®!P), daß sie dessen Symmetriebedingungen erfüllen (vgl. 
Nr. 11). Der Krümmungstensor im Nullpunkt hängt in überaus ein- 
facher Weise mit den Werten der p,,,, daselbst zusammen: Es ist 
(100) Bas = 3Duin- 


81a) Vgl. dazu die Erläuterungen von H. Weber in Riemanns Ges. Werken, 
2. Aufl., p. 405 sowie F'. Schur, Math. Ann. 27 (1886), p. 587. 
81b) H. Vermeil, Math. Ann. 79 (1918), p. 289. 


17. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen. 595 


Die R,,,, messen also in dieser Darstellung direkt die Abweichung 
der Geometrie von der euklidischen. Riemann bemerkt weiter, daß 
für den Fall einer zweidimensionalen Mannigfaltigkeit — ihr Linien- 
element sei gegeben durch 


ds? = y,du? + 2y,,dudv + Yadv? — 


die einzige unabhängige Komponente R,,,, des Krümmungstensors ge- 
mäß der Formel 


(101) BE Rısıs 


Yır Ya — ir 

das Gaußsche Krümmungsmaß K der Fläche bestimmt. Dies wird 
durch direkten Vergleich von (89) mit den Gaußschen Formeln für 
K gezeigt. Sind w, v speziell Normalkoordinaten der Fläche, so daß 
das Linienelement die Form 


(102) ds? = 7,du? + 27,5dudv + dv? + z(u, v) (udv — vd, 


annimmt, so kann das Gaußsche Krümmungsmaß in P, wegen (100), 
(101) auch geschrieben werden 
(103) ea ILERESR 

Yıı Yaa — Yie 
Das Vorzeichen von K ist historisch begründet durch das Verhältnis 
der Fläche zum euklidischen R,, in dem sie eingebettet ist, und hat 
nichts zu tun mit den Maßverhältnissen der Fläche selbst. Es schiene 
im Hinblick auf die Entwicklung (99) des Linienelementes natürlicher 
das Vorzeichen entgegengesetzt zu wählen, z. B. die Krümmung der 
Kugel negativ zu nennen. 

Mit Hilfe der Normalkoordinaten kann nun der Begriff der Krüm- 
mung des R, auf den der Flächenkrümmung zurückgeführt werden. 
Auf diese Weise ist Riemann überhaupt zuerst zu jenem Begriff ge- 
langt. Es seien zunächst zwei Richtungen gegeben, welche durch die 
Vektoren & und 7? charakterisiert seien. Die Länge dieser Vektoren 
ist gleichgültig. Sie bestimmen das lineare Richtungsbüschel 


ut nv 
Ei Ei — Ef, 
Längs jeder Richtung des Büschels konstruieren wir die von P® aus- 
gehende geodätische Linie. Die Gesamtheit dieser geodätischen Linien 
bildet eine Fläche, auf deren Krümmungsmaß es uns ankommt. Das 


Linienelement der Fläche ergibt sich, indem man in (99) die Substi- 
tutionen macht: y-E&u-t ne. 


und die Flächenrichtung 


Es wird von der Form (102), worin die Größen 7,, und x die Werte 


596 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


annehmen: 
Pu TER IE !- 8 ’ Ya 39.(& 7‘ + N) = jagesr En, Ya = — nA, 
n= Pu EE* 


Für das Krümmungsmaß iii man daraus mit Rücksicht auf (100) 
und (103) sofort 





a EhiEjk Run ERÜEIK 

104 a (Ai) Gk Sue. hi)(jk : 

Sir, DT D(9n59x — Inngi Er EI« 
(Ri) (k) 


(Der Index O0 ist fortgelassen worden.) 


Mit den Normalkoordinaten hat dieses Resultat nichts mehr zu tun, 
es wird einfach jeder Flächenrichtung (die Größe von &'* hebt sich 
offensichtlich weg) ein invariantes Gaußsches Krümmungsmaß zuge- 
ordnet, welches nach Riemann das Krümmungsmaß des Raumes R, 
in der betreffenden Flächenrichtung heißt (nachdem man ihm noch 
das entgegengesetzte Vorzeichen gegeben hat). Dabei tritt auch klar 
zutage, daß die Größen R,,,, die Komponenten eines Flächentensors 
2. Ranges bilden. 

Im Anschluß an die von Riemann herrührende Formel (104) hat 
Herglotz®?) gezeigt, wie man auch den verjüngten Krümmungstensor 
und die Krümmungsinvariante geometrisch interpretieren kann. Seine 
Ergebnisse sind diese: Es seien » orthogonale Richtungen gegeben, 


welche (2) Flächenrichtungen bestimmen. Ist X(rs) die Raumkrüm- 


mung in der durch den r“* und s'® Vektor bestimmten Flächenrich- 
tung, so wird zunächst die Krümmungsinvariante R gleich der dop- 
pelten Summe: 


(105) R=2IKrs), 


(rs) 
die über alle Indexkombinationen (rs) zu erstrecken ist. Sie ist un- 
abhängig von der Wahl der » Richtungen 1,2,...n und kann als 
die mittlere Krümmung des R, in dem betreffenden Punkt bezeichnet 
werden. Ist durch den Vektor &' eine weitere Richtung 0 bestimmt, 
so bestimmt die Summe 


» Butt 
(106) SE sin? (0, )— Er, 


welche sich gleichfalls von der Wahl der » Ausgangsrichtungen als 








82) @. Herglotz, Zur Einsteinschen Gravitationstheorie, Leipzig Ber., math.- 
phys. Kl., 68 (1916), p. 199. Die Deutung der Krümmungsinvariante findet sich 
schon vor Herglotz bei H. A. Lorentz, Amst. Versl. 24 (1916), p. 1389. 


17. Riemanns Normalkoordinaten und ihre Anwendungen. 597 


unabhängig erweist, den verjüngten Krümmungstensor. Hiermit ist 
auch der geometrische Beweis für den Tensorcharakter von R,, und 
die Invarianz von R, die beide früher bloß arithmetisch begründet 
wurden, nachgeliefert. Läßt man insbesondere eine der » orthogonalen 
Ausgangsrichtungen, etwa 1, mit der Richtung 0 zusammenfallen, so 
wird 


RE = 
(107) 7 — DK), 
r=2 
Aus (105) und (107) folgt endlich für das mittlere Krümmungsmaß 


des auf der Richtung 1, welche durch den Vektor &' charakterisiert 
ist, senkrecht stehenden R,_, der Ausdruck 





— I ER Rus _ BER ET 
(108) ZU) Ru r 
r#1,s#1 
worin 
(109) G,= R,— 1IaR 


gesetzt ist. Dieser Tensor spielt in der allgemeinen Relativitätstheorie 
eine wichtige Rolle. 

Es möge hier noch ein einfaches Theorem von Vermeil®®?) er- 
wähnt werden, welches auf der Entwicklung (99) des Linienelementes 
beruht. Das Volumen Y, einer Kugel mit dem Radius r im eukli- 
dischen R, hat den einfachen Wert 

v= (ur, 
wo CO, ein Zahlenfaktor ist, auf dessen Wert es hier nicht ankommt. 
In einem beliebigen Riemannschen Raum wird V, eine komplizierte 
Funktion von r. Denkt man sie sich in eine Potenzreihe nach r ent- 
wickelt und behält nur das auf C,r" nächstfolgende Glied bei, so er- 
gibt sich 


r Er a \ 
(110) r= 0, ae 


wo R die Krümmungsinvariante im Kugelmittelpunkt ist. Durch 
Differentiieren erhält man daraus die Formel für die Oberfläche O, 
der Kugel: 


(111) nett...) 


Man kann diese Relationen zu einer neuen geometrischen Definition 
der Krümmungsinvariante benutzen: 


(13). Bm lim (a 0) CHR nl ai). 


n 1 
r>o\Chr r> 0 nl.” 








83) H. Vermeil, Notiz über das mittlere Krümmungsmaß einer n-fach ausge- 
dehnten Riemannschen Mannigfaltigkeit. Gött. Nachr., math.-phys. Kl., 1917, p. 334. 


598 Vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie 


Die Einführung der Normalkoordinaten führt die Frage nach den 
Invarianten gegenüber beliebigen Transformationen auf die Frage nach 
den Invarianten bei linearen Transformationen zurück.) So kann be- 
wiesen werden, daß A (abgesehen von einem belanglosen, konstanten 
Faktor) die einzige Invariante ist, welche bloß die g,, selbst sowie 
deren erste und zweite Differentialquotienten enthält und in den letz- 
teren linear ist.%*) Und alle Linientensoren zweiten Ranges, welche 
diese Eigenschaften haben, sind in der Form 
(113) GR; +GRg: + 94 (C > €, € Konstante) 
enthalten.®) 

18. Die Spezialfälle der euklidischen Geometrie und der kon- 
stanten Krümmung. Daß im euklidischen Raum der Krümmungstensor 
R,;;, verschwindet, ist ohne weiteres einzusehen (vgl. Nr. 16). Doch 
hat bereits Riemann in seinem Habilitationsvortrag darauf hingewiesen, 
daß sich dieser Satz umkehren läßt: Verschwindet der Krümmungs- 
tensor, so ist der Raum euklidisch, d.h. es kann dann stets ein Koor- 
dinatensystem gefunden werden, in welchem die g,, Konstante sind. 
Einen allerdings sehr umständlichen Beweis für diese Behauptung hat 
zuerst Lipschitz®®) gegeben. Am durchsichtigsten und anschaulichsten 
ist der Gedankengang, den Weyl®®) angedeutet hat. Im allgemeinen 
Fall ist das Ergebnis der Parallelverschiebung eines Vektors wesent- 
lich abhängig von dem Weg, auf welchem sie erfolgt. Dies wird nur 
dann nicht zutreffen, wenn sich die Vektorkomponenten nicht bloß 
als Funktionen von s, sondern auch als Funktionen der Koordinaten 
x* so bestimmen lassen, daß überall und für alle Kurvenrichtungen 
(64) befriedigt ist. Das heißt aber, die & müssen die Differential- 
gleichungen 


(114) ex 


0x° 
befriedigen. Stellt man nun ihre Integrabilitätsbedingungen auf, so 
zeigt sich, daß sie gleichlautend werden mit R,,,, = 0. Verschwindet 
also der Krümmungstensor, so läßt sich das Gleichungssystem (114) 
stets lösen, die Richtungsübertragung ist vom Zwischenweg unabhängig, 
man kann auch sagen, sie ist integrabel. Jetzt braucht man nur noch 


=-- nF 


84) Vgl. die allgemeinen Angaben bei E. Noether, Invarianten beliebiger 
Differentialausdrücke, Gött. Nachr., math.-phys. Kl., 1918, p. 37 und die Aus- 
führungen bei H. Vermeil, 1. c. Anm. 81b). 

84a) Vgl. H. Vermeil, 1. c. Anm. 83) und H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 
4. Aufl. 1921, Anhang. 

85) R. Lipschitz, Crelles J. 70 (1869), p. 71, 1. c. Anm. 74). 

86) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., Berlin 1918, p. 111. 


18. Die Spezialfälle der euklid. Geometrie und der konstanten Krümmung. 599 


statt des gegebenen Koordinatensystems K mit den Achsenvektoren 
e, ein neues Koordinatensystem K’ mit den Achsenvektoren e, von 
folgender Eigenschaft einzuführen. Die e, im beliebigen Punkt P, 
sollen zu den e, im beliebigen zweiten Punkt P, parallel sein. Ihre 
Komponenten &* im System K (vgl. Nr. 10) müssen deshalb nach 
(114) die Gleichungen PR 
(115) PER N 


Pr rs 
befriedigen. Eine solche Koordinatenwahl wird dadurch möglich, daß 


zufolge von (115) die Integrabilitätsbedingungen (63) von selbst er- 
füllt sind. In der Tat ist 


in © und / symmetrisch. Es gibt nun in jedem Punkt n Vektoren, 
nämlich die n Achsenvektoren e,', deren Komponenten in K’ bei jeder 
infinitesimalen Translation konstant bleiben. Da ein beliebiger Vektor 
r sich aus den e, linear zusammensetzen läßt und die infinitesimale 
Translation nach Nr. 14 affın ist, werden auch die Komponenten von 
r in X’ bei derselben nicht geändert. Das ist aber nur möglich, wenn 
die geodätischen Komponenten von K’ überall verschwinden, d.h. die 
9';, Konstante sind. Man bestätigt dies auch leicht durch direkte Be- 
Ogsr, 
0x! 

Eine umfassendere Klasse von Riemannschen Räumen sind die- 
jenigen, deren Krümmungsmaß sowohl von der Flächenrichtung als 
auch vom Ort unabhängig ist, welche also nach (104) charakterisiert 
sind durch die Relation 


(116) Ruin + &(9n,;9: — 99) =); 
- wo « eine (positive oder negative) Konstante bedeutet. Durch Ver- 
jüngung folgt daraus noch 


Hiermit ist der Beweis vollendet. 





rechnung von 


(11%) Ru+R— Dag, —0 
und 
(118) R=—n(n — 1)e. 


Für spätere Anwendungen merken wir auch noch den Ausdruck für 
den durch (109) definierten Tensor G,, an: 


(119) Ge eg, 





Für «&—=0 kommt man auf den Fall verschwindender Krümmung zurück. 

Ein Beispiel für einen Raum konstanter Krümmung ist eine n- 
dimensionale Kugel, die wir uns in einem euklidischen R,,, einge- 
bettet denken können. Wenn man bloß auf ihre inneren Maßverhält- 


600 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


nisse achtet, spricht man besser von einem sphärischen Raum R,. 
Wir haben dann 


(120) ds? = (ie) + (dar+1) 
(121) Se) + (art)? a8. 


Die Indizes in den Summen laufen immer von 1 bis n. Führen wir 
zunächst als Koordinaten auf der Kugel die «° (in 1,...n) ein, was 
der Parallelprojektion auf die Äquatorebene «*+!— 0) entspricht, so 
ergibt sich durch Elimination von x”*! aus (120) mittels (121): 


(122) -_ Sa + en (20) 


Der ; x"+1=() ist eine singuläre Linie des Koordinatensystems, 
und zu jedem Wertesystem für die Koordinaten gehören zwei Punkte 
des sphärischen Raumes R,. Man kann auch die Kugelpunkte vom 
Zentrum aus auf die Ebene @”+*!— — a projizieren, was der Koor- 
dinatentransformation 

123 .=- ER RR a 

Se a AN er, Bere, 
entspricht. Lassen wir im Endresultat die Akzente wieder fort, so 
nimmt das Linienelement die Gestalt an: 


(14) ds— a) [@ +7) Ia® — (aaa). 


Das Koordinatensystem umfaßt überhaupt nur die eine Halbkugel, der 
Äquator rückt ins Unendliche (r = oo). 
Ebenso erhält man durch stereographische Projektion: 











2 Ny r a— anti 1 
(125) ER P e RR "de 
ar, 
SI (de)? 
(126) dt ——— 


wobei im Endresultat die Akzente gleichfalls weggelassen wurden. 
Singulär wird dieses Koordinatensystem bloß im Pol @”+'!= a, dort 
wird nämlich r = oo. 

Eine vierte Form des Linienelementes erhält man durch Einfüh- 
rung der Normalkoordinaten, was durch die Substitution von 


a2) #- !y(e- IW), 


r a . 
-—-Zsnt, Mti=acıt 
oO eo a a 


18. Die Spezialfälle der euklid. Geometrie und der konstanten Krümmung. 601 
in (122) bewirkt wird. Es ergibt sich 


(128) ds Geint Ian + 5 (T— 2 sin? 2) (yayı). 
Wegen 
1) Zwar ante Zlay? — Way) 


(in der Summe der linken Seite ist jede Kombination (ik) bloß ein- 
mal zu zählen) kann dies auch geschrieben werden 


(1282) ds’ — Iay — (1 — a sin? 2) Zway — yayı) 


Die y’ sind also in der Tat Normalkoordinaten. Man kann diese Aus- 
drücke auch auf dem Umweg über Polarkoordinaten ableiten. Dem 
Ursprung des Systems der y entspricht der Pol «"*!=a; bio=an 
wird es singulär, weil allen Werten von y', welche die Bedingung 
o= az erfüllen, derselbe Punkt nämlich der Pol x"+!—= — a entspricht. 
Man erhält bereits alle Kugelpunkte, wenn man o an die beschrän- 
kende Bedingung e < ar knüpft. 

Aus (128a) folgt zunächst mit Rücksicht auf (99) und (100), 
daß im Punkt Y = 0 das Krümmungsmaß des Raumes von der Flächen- 
richtung unabhängig ist, daß also dort eine Relation von der Form 
(116) gilt. Der Koeffizient « nimmt wegen 

2 
r (1 u a sin? ar = = 
nach (100) den Wert an: 


(130) AU. 


as 

Daß die Relationen (116) mit demselben Wert von « in allen Punkten 

des sphärischen Raumes gelten, folgt aus der Existenz einer Bewegungs- 

gruppe G„n+1), welche gestattet, einen vorgegebenen Punkt und ein 
.etN 


zugehöriges „n-Bein“ gleichzeitig in irgendeinen anderen Punkt und 
ein anderes n-Bein überzuführen und zwar, was wesentlich ist, in der 
Weise, daß die Längen aller Kurven bei der Bewegung unverändert 
bleiben. Bezeichnen wir nämlich mit $ den Übergang (135) vom 
System ',... 2"*1 des euklidischen R,,, zum Normalkoordinaten- 


system im sphärischen R, mit 7’ die nn parametrige Gruppe der 
orthogonalen Transformationen des erstgenannten Systems, so ist 


Garn m SITE 


— 


die gesuchte Bewegungsgruppe. Sie zeigt, daß das Linienelement in 
allen Normalkoordinatensystemen dieselbe Form hat, wo auch immer 


602 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


im sphärischen Raum R, ihr Nullpunkt liegen mag. Daraus folgt so- 
gleich die Allgemeingültigkeit der Relationen (116) und (130) im 
sphärischen Raum. Man kann das natürlich auch durch direkte Rech- 
nung bestätigen. 

Die Konstanz des Krümmungsmaßes ist offenbar immer dann 
vorhanden, wenn der R, folgende Eigenschaft hat: In einer gewissen 
(endlichen) Umgebung eines jeden Punktes des R, läßt sich ein Ko- 
ordinatensystem so bestimmen, daß das Linienelement dort eine der 
vier äquivalenten Formen (120), (122), (124) und (128) annimmt; 
& braucht nicht notwendig positiv zu sein. Ist « negativ, so hat man 
in den betreffenden Formeln überall a® durch — a? zu ersetzen, und 
es gilt dann 

1 


(130a) u — 


Riemann hat nun in seinem Habilitationsvortrag darauf hingewiesen, 
und Lipschitz®®) hat zuerst bewiesen, daß auch umgekehrt aus der 
Gültigkeit von (116) immer die genannte Eigenschaft des R, folgt. 
Vermeil®?) gab mittels Potenzreihenansatzes für das Linienelement in 
den Normalkoordinaten einen einfacheren Beweis des allgemeinen 
Satzes, daß bei gegebenem Krümmungstensor auch schon die Form 
des Linienelementes in Normalkoordinaten eindeutig bestimmt ist. 
Dies wurde gleichfalls schon von Riemann angedeutet. In der Physik 
hat dieser Umkehrsatz bisher keine Anwendung gefunden. 

Für kosmologische Fragen (vgl. Abschn. IV) von Bedeutung ist 
jedoch folgender Umstand. Durch die Form des Linienelementes sind 
die Zusammenhangsverhältnisse des R, im Großen keineswegs eindeutig 
bestimmt. Dies ist derjenige Punkt, wo die projektive Auffassung 
die differentialgeometrische zu ergänzen hat. Erstere gestattet für 
die Räume konstanter Krümmung ohne weiteres die Frage nach 
dem Zusammenhang des ganzen Raumes zu beantworten. So ergeben 
sich, wie zuerst Klein®®) gezeigt hat, für die Räume mit konstanter 
positiver Krümmung zwei Möglichkeiten. Entweder entsprechen im 
Koordinatensystem der Darstellung (122) jedem Wertesystem der Koor- 
dinaten zwei oder nur ein Raumpunkt. Im ersteren Fall heißt der 
Raum sphärisch, im zweiten in Anlehnung an die projektive Auf- 
fassung elliptisch. Beide Arten von Räumen sind, obwohl unbegrenzt, 

88) R. Lipschitz, Crelles J. 1. c. Anm. 74). 

89) H. Vermeil, Math. Ann. 79 (1918), p. 289, 1. c. Anm. 81b). 

90) F. Klein, Math. Ann. 4 (1871), p. 573; 6 (1872), p. 112 und insbeson- 
dere Math. Ann. 37 (1890), p. 544, wo das Problem in seiner ganzen Allgemein- 


heit gelöst wird. Ferner Programm zum Eintritt in die philosophische Fakultät 
in Erlangen 1872, wiederabgedruckt in den Math. Ann. 43 (1893), p. 63. 


19. Integralsätze von Gauß u. Stokes im vierdimens. Riemannschen Raum. 603 


dennoch endlich im Riemannschen Sinn. Das Gesamtvolumen des 
elliptischen Raumes ist offenbar halb so groß wie das Gesamtvolumen 
des sphärischen Raumes gleicher Krümmung. Gleiches gilt vom Ver- 
hältnis der gesamten Längen der (geschlossenen) geodätischen Linien 
in beiden Räumen. Bei den Räumen mit konstanter negativer Krüm- 
mung ist die Zahl der Möglichkeiten viel größer. Besonders bemer- 
kenswert ist die Oliffordsche Fläche, welche die Möglichkeit einer 
endlichen Mannigfaltigkeit mit der Krümmung Null zeigt. Die ganze 
Frage nach den Zusammenhangsverhältnissen der Mannigfaltigkeiten 
konstanter Krümmung im Großen wurde von Killing als Problem der 
COlifford-Kleinschen Raumformen bezeichnet. 


19. Die Integralsätze von Gauß und Stokes im vierdimensionalen 
Riemannschen Raum. Die Komplikation der Tensoranalysis der all- 
gemeinen Transformationsgruppe gegenüber der der affinen Gruppe 
rührt daher, daß es jetzt nicht mehr gestattet ist, die Komponenten 
von zwei Tensoren, welche an verschiedene Punkte geknüpft sind, ein- 
fach zu addieren. Um aus Tensoren durch Differentiation neue Ten- 
soren abzuleiten, muß man deshalb im allgemeinen den in Nr. 14 ent- 
wickelten Begriff der Parallelverschiebung zu’ Hilfe nehmen. Die be- 
treffenden Regeln wurden zuerst rein formal von Christoffel?‘) abge- 
leitet und später von Ricei und Levi-Civita°‘®) in ein System gebracht. 
Vereinfachungen und geometrische Interpretationen brachten die Ar- 
beiten von Weyl®?), Hessenberg”’) und Lang°®®). 

Bei gewissen Operationen, die zunächst betrachtet werden sollen 
und sich auf Tensoren ersten Ranges im Sinne der Nr. 11 beziehen, 
gehen jedoch die geodätischen Komponenten in das Schlußresultat 
nicht ein. Es ist deshalb eine naturgemäße Forderung, bei ihrer Her- 
leitung den Begriff der Parallelverschiebung nicht zu benützen. Zu- 
nächst kann aus einem Skalar g durch Differentiation ein Vektor 
grad p abgeleitet werden, wie unmittelbar aus der Invarianz von 


ER 
folgt. Dabei ist zu beachten, daß die 53 kovariante Komponente sind: 


0 
(131) grad, = Fa 
Um weitere Relationen zu finden, müssen wir die Integralsätze von 


91) 1. c. Anm. 68). 
56a) l. c. Anm. 56). 
92) H. Weyl, Raum —Zeit— Materie, 1. Aufl. 1918, p. 108—107 
93) 1. c. Anm. 77). 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2, 40 


604 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Gauß und Stokes auf unseren Fall anwenden, wobei wir uns aber auf 
vierdimensionale Mannigfaltigkeiten beschränken wollen. Die betref- 
fende Verallgemeinerung des Gaußschen und Stokesschen Satzes für 
Räume beliebiger Dimension findet sich in allgemeinster Weise bei 
Poincare?®*) und Goursat”°®). Für den Fall der speziellen Relativitäts- 
theorie (euklidische Geometrie und orthogonale Koordinaten) wurden 
die Formeln auch von Somsmerfeld??*) entwickelt. 


Es seien 
(132) N a 
die Komponenten eines Linien-, Flächen- und Raumtensors, 
(133) ds’, do*, aS'*, dZ 


die eines Kurven-, Flächen, Raum- und Weltelementes, mit den abso- 
luten Beträgen 
(133a) ds, de, a8, |d2\. 

Die Komponenten (133) drücken sich durch die Koordinaten so 
aus: Die ds’ sind direkt gleich den Koordinatendifferentialen 


(134a) ds — des; 
sind ferner da’, öx’ resp. da*, Öx', dx die Komponenten zweier bzw. 


dreier Linienelemente in unabhängigen Richtungen auf dem Flächen- 
bzw. Raumelement, so ist 





Ida‘, dx 

(134b) de ug 
: dx, da, da’ 
(134e) as dat, dt, dar 
da, da, da 


Setzt man diese Ausdrücke in irgendein Flächen- bzw. Raumintegral 
f p(z)do‘* bzw. f p(xz)dS'* ein, so entspricht dies derjenigen Schreib- 
weise der mehrfachen Integrale, die Klein”) gelegentlich eingeführt 
und die Graßmannsche genannt hat. Sie ist die naturgemäße, da sie 
sofort das Verhalten mehrfacher Integrale bei Koordinatentransfor- 
mationen abzulesen gestattet, und Klein) zieht sie deshalb der ge- 
wöhnlichen Schreibweise vor. Jedoch hat die letztere den Vorzug 


93a) H. Poincare, Acta Math. 9 (1887), p. 321. 

93b) E. Goursat, Liouvilles J. (6) 4 (1908), p. 331. 

55a) A. Sommerfeld, 1. c. Anm. 55). Die Divergenz des Flächentensors wird 
dort in anderer Weise hergeleitet, als es hier geschieht. 

94) F. Klein, Über die Integralform der Erhaltungssätze usw., Gött. Nachr , 
math.-phys. Kl., 1918, p. 394. 


19. Integralsätze von Gauß u. Stokee im vierdimens. Riemannschen Raum. 605 


größerer Einfachheit, obzwar sie wieder den Nachteil mit sich bringt, 
das Verhalten des Integranden gegenüber Koordinatentransformationen 
nicht unmittelbar in Evidenz zu setzen. Man gelangt zu ihr, wenn 
man die unabhängigen Richtungen d, ö (d, 6, d) bei den einzelnen 
Komponenten des Flächen (Raum-)elementes parallel den zugehörigen 
Koordinaten annimmt. Dann wird nämlich 


de’: — dad, AS" — ddrder, 
wofür man noch einfacher schreibt 
(135) do* — ddr, AS — daidde. 


Es ist aber wohl zu beachten, daß sich diese Ausdrücke bei Koordi- 
natentransformationen wie die Komponenten eines Flächen- bzw. 
Raumtensors verhalten. 

Wir können nun aus den Tensoren (132) und (133) zweierlei 
Arten von Invarianten bilden. 

1. Die Orthogonalprojektionen von f, F, A auf ds, de, d$ multi- 
pliziert mit dem Betrag der letzteren Tensoren: 


(136) f,ds = f,da' 
(136b) F,de = F,,do* 
(136e) AsdS = Ads. 


2. Die Orthogonalprojektion des Vektors f auf die Normalrichtung 
zu ds, des Flächentensors F auf die zu do normale Flächenrichtung, 
des Raumtensors A auf die zu s normale Raumrichtung, immer mul- 
tipliziert mit dem Betrag der letzteren Tensoren. Man findet den 
Wert dieser Ausdrücke mit Hilfe der dualen Ergänzungen zu ds, de, 
dS (nach Nr. 12 (54b), (55) zu: 

(137) f.aS = ffdS* = DVgf' ds" — <t dSt!m 


(ikim) (ikim) 


(1376)  Frde — Fidot, = I yg Frdoe'n — IFrdo'm 


(km) (ikim) 


(137 e) A,ds = Altldst aVs Aiklqgm — ID Yikıggm, 


(ikim) (ikim) 


Die Summen I sind darin über gerade Permutationen zu erstrecken, 
(ikim) 


und f, 3,4 sind die zu f, F, A gehörigen Tensordichten (Nr. 11). 
Die Verallgemeinerung der Integralsätze von Gauß und Stokes 
läßt sich nun so formulieren. Wir integrieren (136a) über eine ge- 
schlossene Kurve, (136b) und (137b) über eine geschlossene Fläche 
und (1372) über ein geschlossenes Raumstück. [Die analogen Sätze 
für (136c) und (137c) lassen wir beiseite, da sie in der Physik bisher 
40* 


606 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


keine Anwendung gefunden haben.] Diese Integrale lassen sich in 
Integrale über das von ihnen eingeschlossene Flächen-, Raum- bzw. 
Weltgebiet verwandeln: 


(138) [r.as = f Rotsf- de — [Rot ,‚f- do'* 
(138b) [F,40—[Rot,F.dS —[Rot,,F- ds’ 
(139 a) Sr.as =[Divf-42—/[Div fdr 

(139b) [Fsds =[ Div, F-dS = = Bin‘ F. dSt'm 


Dabei ist gesetzt: 
(140a) Rot „f= of _ Of 

















öxt Oak 

_ IF or or: 
(140 b) Rot ,.,F gg Fahr 7 fr Er 
und 

SER 2 1 oyaf' 
(141 a) Divf= De (Divr- vo dx ) 
ORik 1 a Var" 

(141b) Div 7 — IE (Div er er): 


Das Wichtige dabei ist, daß die Invarianz der Ausgangsintegrale 
auch die Invarianz der Endintegrale nach sich zieht. Diese kann aber 
nur dann vorhanden sein, wenn schon der Integrand an jeder Stelle 
invariant ist, da das Integrationsgebiet beliebig klein gewählt werden 
kann. Daraus folgt nun weiter, daß Rot,,f und Rot ,‚F' die kovari- 
anten Komponenten eines Flächen- bzw. Raumtensors, Div F' eine ska- 
lare Dichte und Div’ F' die kontravarianten Komponenten einer Vektor- 
dichte sind. Diese Eigenschaften der Operationen Rot und Div können 
in die Regel zusammengefaßt werden: 

1. Die Operation Rot erhöht die Stufe des Tensors (vgl. Nr. 11), 
die Operation Div erniedrigt sie. 

2. Bei der Operation Rot werden die kovarianten Komponenten 
des Tensors, bei der Operation Div die kontravarianten Komponenten 
der Tensordichte differenziert. Wir fügen noch hinzu: 

3. Die Operationen Rot und Div entsprechen einander dual. Es 
folgt dies aus den Relationen (137). In der Tat ist z.B. 


(142) Rot ,„F= Div” F*, 
wie man leicht nachrechnet. 


Wie in der gewöhnlichen Vektorrechnung können die Operationen 
Grad, Rot, Div miteinander kombiniert werden. Es ergibt sich 


(143) Rot Grad g = Div Div F= Rot Rot f—= 0. 


20. Herleit. v. invar. Differentialoperat. mit Benutz. d. geod. Komponenten. 607 


Wendet man hintereinander die Operation Div und Grad auf einen 
Skalar p an, 'so gelangt man zur Verallgemeinerung der Laplaceschen 
Operation 1. Man bezeichnet sie nach einem Vorschlag von Cauchy 
mit OD. In die Invariantentheorie n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten 
wurde sie bereits von Beltrami”**) eingeführt; ihre erste Anwendung 
im Fall der speziellen Relativitätstheorie kommt bei Poincare vor. Es 
ist dabei zu beachten, daß man nach der Grad-Bildung zufolge (141a) 
zu den kontravarianten Komponenten der Vektordichte übergehen muß: 


. 1 0 — 0 
(144) Op=DivGradp = Yg Dak (V3 gr 2) . 
Für konstante g,, wird daraus 
0? 
(144 a) DO = re R 


In diesem Spezialfall kann man auch mittels der Operation U) aus 
einem Vektor f, einen neuen Vektor ableiten. Es gilt dann nämlich 
wie in der gewöhnlichen Vektorrechnung 


(145) Div,Rot f= Grad, Divf — Df.. 
Diese Relation läßt jedoch für nicht konstante 9g,, keine Verallgemei- 
nerung zu. 


Es sei noch bemerkt, daß sich hier die in Nr. 11 aus geo- 
metrischen Gründen eingeführte Systematik der Tensoren auch rech- 
nerisch aufs beste bewährt. Die Tensoren 1. Ranges sind vor denen 
höheren Ranges analytisch dadurch ausgezeichnet, daß sich aus ihnen 
ohne Zuhilfenahme der geodätischen Komponenten des Bezugssystems 
durch Differentiation neue Tensoren bilden lassen. 


20. Herleitung von invarianten Differentialoperationen mit Be- 
nutzung der geodätischen Komponenten. Wir kommen nun zur 
zweiten Gruppe von Differentialoperationen, bei welcher der Begriff 
der Parallelverschiebung eine wesentliche Rolle spielt. Für die phy- 
sikalischen Anwendungen sind nur zwei von diesen Operationen von 
Bedeutung, nämlich diejenigen, welche den Operationen 

a 
ik Oak 
und 
= KL (Div des Tensors zweiten Ranges) 
der affinen Gruppe entsprechen. Um ihren Ausdruck in der all- 


gemeinen Transformationsgruppe zu finden, machen wir folgende Kon- 
struktion. Es sei zunächst in jedem Punkt der Kurve a —= x*(f) ein 


94a) E. Beltrami, Sulla teorica generale dei parametri differenziale, Me- 
morie Acc. di Bologna (2) 8 (1869), p. 549. 


608 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Vektor mit den Komponenten a’ gegeben. Ist P ein beliebig heraus- 
gegriffener Kurvenpunkt, so konstruieren wir durch Pärallelverschie- 
bung des Vektors a’(P) längs der Kurve eine zweite Vektorgesamtheit 
@(P’), P’ beliebig, wobei also in P @ und a‘ übereinstimmt: 


“(P)= a‘(P). 


a: P'))— @(P‘) 
At 


Nunmehr kann durch 





4' = lim 
P—>P 
in invarianter Weise ein Vektor definiert werden, da im Zähler die 
Differenz zweier Vektoren im selben Punkt gebildet ist. Aus (64) 
und (70) folgt sofort 


(146 a) 4—=# 10402 und 
da Ak 
(146 b) 4,= dt — Ijıa kr dt 


Wird an Stelle von t die Bogenlänge s und an Stelle von a’ der 
Tangentialvektor « — z gesetzt, so erhält man auf diese Weise den 


Vektor der „Beschleunigung“, dessen Komponenten B‘ mit den linken 
Seiten von (80) übereinstimmen: 

d’xi ; aa” de! 
(147) De AS 


Ist a’ nicht nur längs einer Kurve, sondern als Vektorfeld gegeben, 
ui - da da* 





so ist 75 = 328 gp , ud durch (146) wird jeder Richtung ae ein 
Take 
dk ax 
A4,= 4; 2  „ d-d, dt 
zugeordnet. Daraus folgt, Bari 
(148 a) a’, 25 2 ie ar 
(148b) = 25 — Ine 


die Komponenten eines Tensors bilden. Er ist die gesuchte Ver- 
allgemeinerung des Tensors BE der affinen Gruppe. 


Ein Vektorfeld a‘, für welches der zugehörige Tensor a,, in einem 
Punkt P verschwindet, heißt in diesem Punkt stationär. Nach Nr. 16 
und 18 gibt es im euklidischen Raum und nur in diesem Vektor- 
felder, die in allen Punkten eines endlichen Gebietes stationär sind. 

Da das Größensystem a,, weder symmetrisch noch schiefsymme- 
trisch ist, haben wir es hier nicht mit einem Tensor im geometrischen 
Sinne der Nr. Il, sondern bloß mit einem Tensor im weiteren Sinne 


20. Herleit. v. invar. Differentialoperat. mit Benutz. d. geod. Komponenten. 609 


der Nr.9 zu tun. Wir können a,, spalten in einen schiefsymmetri- 





schen Teil da, 0a; 
aaa — 22) 
und einen symmetrischen Teil 
u 0 
0 Ci 1652 +32) — In4, 


Mit Hilfe der stationären Vektorfelder können wir nun nach dem 
Vorgang von Weyl®) die Divergenz eines Tensors 2. Ranges T’* ab- 
leiten. Es sei & ein in P stationäres Vektorfeld, so daß in diesem Punkt 

08 


Oak ER 1,6 
und 08, Tr, 
Er" Aue 


ist. Dann bilden wir nach (141a) die Divergenz des Vektors 
f= T"&,— TE. 
Setzen wir die angeschriebenen Werte für die Ableitungen der &, ein, 
so kommt 
(149) Din f— ZH — Div, Td— Div'T- 5, 
mit 


(1508) Bin, IH 





-(150b) Dt HTer/ 


T ist dabei die zu 7’ gehörige Tensordichte, und aus der Invarianz 
von (149) folgt, daß (150a) und (150b) die ko- bzw. kontravarianten 
Komponenten einer Vektordichte bilden. 

Im euklidischen Raum kann die Divergenz eines Tensors zweiten 
Ranges auch noch anders interpretiert werden. Sind r’ und s’ zwei 
Einheitsvektoren, so möge 7,., = T;,r's* die Komponente des Tensors 
nach diesen zwei Richtungen heißen. Ist »‘ in P beliebig vorgegeben, 
so kann man im euklidischen Raum dieser Richtung in jedem Punkt 
P’ eine parallele Richtung 7’ in eindeutiger und invarianter Weise 
zuordnen. Das Vektorfeld 7’ ist offenbar überall stationär und kann 
in (149) für & genommen werden, so daß gilt 


Div (Tr) = Div; -T. 
Setzt man nun in (139a) f= (Tr), so folgt sofort 


(151) STends — [Div Tdr — [Div;Tar, 
(1513) Div; T— lim Tnd8 
ERST am faz 


95) H. Weyl, Raum —Zeit— Materie, 3. Aufl., 1920, p. 104. 


610 V 19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


eine Formel, die von Lang®) abgeleitet wurde. Man kann für vor- 
liegenden Zweck jeden nichteuklidischen Raum durch einen euklidi- 
schen Tangentialraum ersetzen, da die zweiten Differentialquotienten 
der g,, in das Schlußresultat (150) nicht eingehen und die ersten Ab- 
leitungen der g,, durch geeignete Wahl der Koordinaten in beiden 
Räumen immer zur Übereinstimmung gebracht werden können. Des- 
wegen kann das Ergebnis des Grenzüberganges in (151a), der Vektor- 
charakter von Div,T, allgemeine Gültigkeit beanspruchen, obwohl das 
Integral der rechten Seite nur im euklidischen Raume einen Sinn hat. 

Der Vollständigkeit halber sei hier noch die folgende allgemeine 
Formel angeführt, die in der Physik jedoch keine weitere Rolle spielt. 
Aus dem Tensor a'*"-,,,... folgt durch Differentiation der Tensor 
höheren Ranges 

ikt...» 
(159) SELL. ne Dat 4 Die... + 
- ren. ET er ER Di. rd 
Die durch (152) dargestellte Operation, die sich schon bei Christoffel 
findet, nennen Ricci und Levi-Civita kovariante Differentiation. 

Man hat sie früher wie folgt benutzt, um die Divergenz des 
Tensors 2. Ranges abzuleiten. Man bildete zuerst gemäß (152) den 
Tensor 7* durch Differentiation von 7”* und verjüngte dann: 

Div‘T = T/*. 

Es möge noch erwähnt werden, wie Ricci und Levi-Oiwita°®®) zu 
dem Ausdruck für den Krümmungstensor gelangt sind. Man gehe 
aus vom beliebigen Vektor a, und bilde zuerst nach (148b) a,,, dann 
nach (152) a,,,. Auf der rechten Seite stehen dann sowohl Glieder, 
welche nur die a, selbst, als auch Glieder, welche die ersten und 
zweiten Ableitungen der a, enthalten. Letztere heben sich aber fort, 
wenn man die Differenz a, 31 %,,„ bildet, und es bleibt einfach stehen 


u: 9 Wenige. 19 Meran R';410;: 
Damit ist dann der Tensorcharakter des Größensystems R’”,,, bewiesen. 


Diese Methode verschafft aber keine Einsicht in seine natürliche geo- 
metrische Bedeutung. 


21. Affintensoren und freie Vektoren. Obwohl die allgemeine 
Relativitätstheorie es nur mit Gleichungen zu tun hat, die gegenüber 
beliebigen Transformationen der Koordinaten kovariant sind, spielen 
dennoch in ihr auch Größensysteme eine Rolle, die sich nur gegenüber 


96) Lang, Diss. München, 1. c. Anm. 56). 
56b) Ricei und T'. Levi-Civita, 1. c. Anm. 56), vgl. auch die Darstellung bei 
Einstein, Ann. d. Phys. 49, 1. c. Anm. 56). 


21. Affintensoren und freie Vektoren. 611 


linearen (affinen) Koordinatentransformationen wie Tensoren verhalten. 
Wir nennen sie Affintensoren. ‘Solche Affintensoren sind z. B. die 
geodätischen Komponenten. Insbesondere kommen aber auch Affin- 
tensoren U vor, deren zugehörige Tensordichten U: = Uf V9 in 
jedem Bezugssystem den Gleichungen 

(153) Sr 
genügen. Es ist klar, daß sich die U;* bei allgemeinen Koordinaten- 
transformationen nicht linear-homogen transformieren können. Man 
kann jedoch aus den U durch Integration ein Größensystem J, ab- 
leiten, das sich gegenüber einer viel allgemeineren Gruppe von Trans- 
formationen als der affinen wie ein Vektor verhält. 

Um dies zu zeigen, stellen wir zuerst eine vorbereitende Hilfs- 
betrachtung an. Es sei ein Vierervektor s® mit der zugehörigen Vektor- 
dichte j* gegeben, dessen Div überall verschwindet. 

(154) 0. 

Es habe ferner |* nur innerhalb einer „Weltröhre“ von Null ver- 
schiedene Werte oder nehme jedenfalls nach außen so rasch ab, daß 
die über außerhalb der Weltröhre gelegene Gebiete erstreckten Inte- 
grale, die im folgenden vorkommen, verschwinden, wenn man das 
Integrationsgebiet hinreichend weit entfernt. Wir betrachten ferner 
nur solehe Koordinatensysteme, in denen die Räume konstanter Zeit 
x* —= const. die Weltröhre nur in einfach zusammenhängenden Be- 
reichen schneiden. Nun benutzen wir den Umstand, daß nach (139 a) 
und (154), das Integral N s„dS stets verschwindet, wenn es über ein 
geschlossenes Raumstück integriert wird. Als Integrationsgebiet wählen 
wir zuerst zwei Querschnitte «*— const., die wir uns durch außerhalb 
der Weltröhre gelegene Raumteile inkhunden denken. Dann folgt 
mit Rücksicht auf (137a), daß das Integral 

(155) JI—= [Yar'darda? 

für beide Querschnitte den gleichen Wert hat, d.h. von a* unab- 
hängig ist. Nun führen wir ein zweites Koordinatensystem K’ ein, 
das innerhalb der Weltröhre nur der Bedingung zu genügen hat, daß 
die Räume x’* = const. die Weltröhre in einfach-zusammenhängenden 
Bereichen schneidet, außerhalb der Weltröhre aber konstante g,, ha- 
ben soll. Indem wir nun als Integrationsgebiet einen Querschnitt 
a* = const. und einen Querschnitt x’*= const. nehmen, die wir immer 
so wählen können, daß sie sich gegenseitig nicht schneiden, ergibt sich 


Saztdrda? — [Tdr"de"rde”, 


612 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


d.h. das Integraı J ist gegenüber allen hier zugelassenen Koordinaten- 
transformationen invariant. 

Auf diesen Fall kann man nun den des Integrais über die Kom- 
ponenten eines Affintensors zurückführen. Man multipliziere diesen 
Affintensor mit einem Vektor p*, dessen Komponenten innerhalb der 
Weltröhre konstant sind, 

U: — Up). 
U* verhält sich gegenüber allen linearen Transformationen wie ein 
Vektor. In allen Koordinatensystemen X’, die aus dem ursprünglichen 
System K durch eine solche Transformation hervorgehen, sind die 
Komponenten »p’’ ebenfalls innerhalb der Weltröhre konstant, und es 
gilt deshalb in ihnen auch die Gleichung 


Nach (155) ist deshalb das Integral 
J == IUMtdz!darda’ 
gegenüber linearen Transformationen invariant und hat auch für 
jeden Querschnitt denselben Wert. Da aber 
J= Ip", 
worin 


(156) I, [Utdatdarda? 


und der Vektor »* ganz beliebig war, haben die Größen J, Vektor- 
charakter gegenüber linearen Transformationen.’”) 

Wir zeigen nun nach dem Vorgang von Einstein”), daß sie 
diesen Vektorcharakter auch behalten, wenn man vom Koordinaten- 
system K zu irgendeinem Koordinatensystem X’ übergeht, welches 
außerhalb der Weltröhre mit K übereinstimmt. Zu diesem Zweck 
brauchen wir nur ein Koordinatensystem zu konstruieren, welches auf 
einem Querschnitt x” = c, mit K, auf einem anderen Querschnitt 
x”*— c, mit K’ übereinstimmt. Da schon bewiesen ist, daß für zwei 
verschiedene Querschnitte x? = const. desselben Koordinatensystems 
die J, die gleichen Werte haben, ist hiermit auch gezeigt, daß die 
J, in K und K’ dieselben Werte haben. Sie sind von der Koordinaten- 
wahl innerhalb der Weltröhre überhaupt nicht abhängig. Es ist inter- 


essant, daB man ausgehend von dem Affintensor U, der sich nur 


97) Es wurde dies zuerst bewiesen von F'. Klein, Über die Integralform der 
Erhaltungssätze usw., Gött. Nachr., math.-phys. Kl, 1918, p. 394, wo die freien 
Vektoren ausführlich behandelt werden. Die hier gegebene Ableitung rührt von 
H. Weyl her, Raum — Zeit— Materie, 3. Aufl 1920, p. 234. 

98) A. Einstein, Berl. Ber. 1918, p. 448. 


22. Realitätsverhältnisse. 613 


bei linearen Koordinatentransformationen kovariant verhält, durch 
Integration zu einem Größensystem J, gelangt, das sich gegenüber 
einer viel allgemeineren Transformationsgruppe wie ein Vektor verhält. 
Der Vektor J, unterscheidet sich von den gewöhnlichen Vektoren da- 
durch, daß er nicht an einen bestimmten Punkt gebunden ist. Wir 
nennen ihn im Anschluß an die Terminologie der Mechanik mit Klein 
einen freien Vektor. 

22. Realitätsverhältnisse. Es wurde in diesem Abschnitt stets 
so gerechnet, als ob die Form ds? definit wäre. In der wirklichen 
 Raum-Zeitwelt ist das jedoch keineswegs der Fall, vielmehr hat ds? 
in der Normalform drei positive und ein negatives Zeichen. Formal 
bleiben alle bisherigen Ergebnisse auch für diesen Fall bestehen, da 
man durch Einführung einer imaginären Koordinate den einen Fall 
auf den anderen zurückführen kann (vgl. Nr. 7). Geometrisch müssen 
die Formeln jedoch etwas anders gedeutet werden. 

Bleibt man zunächst im Gültigkeitsbereich der speziellen Rela- 
tivitätstheorie und führt als vierte Koordinate x? = ct ein, so läßt 
sich bei gegebenem Anfangspunkt des Koordinatensystems die Welt 
in gegenüber Lorentz-Transformationen invarianter Weise in zwei Teile 
zerfällen, die charakterisiert sind durch 


(A) 2° + 224%? — 2% <0O (Vor- und Nachkegel) 
und 

(B) zZ + 2° + 2° — 22 >0 (Zwischengebiet;). 
Getrennt werden sie durch den Kegelmantel 

(€) tt et, 


auf dem die Weltlinien der Lichtstrahlen verlaufen. 

Läßt man den Anfangspunkt eines Vektors mit dem Ursprung O 
des Koordinatensystems zusammenfallen, so heißt der Vektor raum- 
artig, falls sein Endpunkt in das Weltstück (B), zeitartig, falls er in 
das Weltstück (A), und ein Nullvektor (Vektor vom Betrag Null) falls 
er auf den Kegel (C) fällt. Die Lorentz-Transformation stellt sich 
wegen des veränderten Vorzeichens der vierten Dimension eigentlich 
nicht dar als Drehung des Koordinatensystems, sondern als Übergang 
von einem System konjugierter Durchmesser des Hyperboloids 

tet el 
zu einem anderen. (Diese Interpretation der Lorentz-Transformation 
sowie auch die übrigen hier gebrauchten Bezeichnungen kommen zuerst 
bei Minkowski vor.) Durch eine einfache geometrische Betrachtung oder 
auch durch eine einfache Anwendung der Formel (I) für die Lorentz- 
Transformation kann gezeigt werden, daß durch geeignete Koordinaten- 


614 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


wahl für die Punkte des Weltstückes (A) stets räumliche, für die 
Punkte des Weltstückes (B) stets zeitliche Koinzidenz (Gleichzeitig- 
keit) mit dem Ursprung erzielt werden kann. Und was im wesent- 
lichen das gleiche ist: Durch geeignete Koordinatenwahl können stets 
die zeitliche Komponente eines raumartigen oder alle räumlichen 
Komponenten eines zeitartigen Vektors zum Verschwinden gebracht 
werden. Nach den Ergebnissen der Nr. 6 können überdies nur die 
Weltpunkte (A) mit dem Ursprung kausal verknüpft sein. Für die 
durch das Linienelement 
ds? = (dx?)? + (dad)? + (da)? — (dat)? 

bestimmte Geometrie, die hier besprochen wurde, möge mit Klein und 
Hilbert der Terminus pseudoeuklidisch eingeführt werden. 

Ganz analoge Unterschiede zwischen der Geometrie des positiv 
definiten und des indefiniten Linienelementes gelten im Fall der all- 
gemeinen Riemannschen Geometrie. Man konstruiere alle vom Punkt 
P, ausgehenden geodätischen Linien, welche in P, den Bedingungen 


enügen: 
e da’ dk 


(A) Ir gr ar < 
oder je 

dx! d 
(B) Ir ee 
oder . 

da! d 
(0) Ir gr 0 


(= Kurvenparameter). Sie füllen gewisse Weltstücke bzw. den diese 
trennenden Kegelmantel (C) stetig aus. Die entsprechenden Richtungen 
(Vektoren) in P, heißen wieder zeitartig, raumartig bzw. Nullrich- 
tungen (Nullvektoren). | 

Diese Einteilung der Raum-Zeitwelt hat, wie Hilbert”) betont 
hat, eine Einschränkung der zulässigen Punkttransformationen zur 
Folge. Es müssen nämlich in zulässigen Koordinatensystemen die 
drei ersten Koordinatenachsen stets raumartige, die vierte stets zeit- 
artige Richtung haben. Dies ist erfüllt, wenn erstens die aus ds? 
durch Nullsetzen von dx* entstehende quadratische Form positiv definit 
ist, wofür die Bedingungen lauten: 


- I» Jıs | pi 0 Iıı Iı2 9ıs 
u | Is Isa | ; Is Ia2 95 |>0 
Ipı Ina Is | 





99) D. Hilbert, Grundlagen d. Phys., 2. Mitt., Gött. Nachr., math.-phys. Kl., 
1917, p. 58. 


22. Realitätsverhältnisse. 615 


und wenn zweitens gilt ne 


Diese Ungleichungen dürfen durch zulässige Koordinatentransformationen 
nicht verletzt werden. Da die Determinante g der g,, zufolge dieser 
Ungleichungen stets negativ ist, muß in den für den definiten Fall 
entwickelten Tensorformeln stets .Yg durch Y— g ersetzt werden.®®) 

Nach (B) kann die Bogenlänge einer Weltlinie auch imaginär 
werden, und zwar ist dies immer der Fall bei der Weltlinie eines 
materiellen Körpers. Es ist deshalb in diesem Falle praktisch, statt 
der Bogenlänge s die Eigenzeit r einzuführen, die bestimmt ist durch 


(157) s= icrt. 
Sie gibt die Zeit an, die eine auf dieser Weltlinie bewegte Uhr an- 


zeigt. Denn in einem Koordinatensystem, in welchem die Uhr mo- 
mentan ruht, wird dr = dt. Auch führen wir statt 


dx 
ee 99 
den Vektor 
ı__dE 
ein, für welchen 
(159) un — el 


gilt. 

Unter den geodätischen Linien spielen die geodätischen Nullinien, 
die auf dem Kegelmantel (C) liegen, eine Ausnahmerolle. Für sie gilt 
nämlich zwar das Variationsprinzip (83) und die Differentialgleichungen 
(80), aber nicht das Variationsprinzip (81). Denn erstens können die 
Koordinaten hier nicht als Funktionen der Bogenlänge dargestellt werden, 
weil diese verschwindet, so daß auch in (80) ein anderer Kurvenparameter, 
der nur bis auf eine willkürliche multiplikative Konstante bestimmt 


ist, stehen muß. Und zweitens kann wegen des Verschwindens der 
FR m a ‚ die bei der Ableitung von (83) aus (81) in den Nenner 


998) Minkowski (l. c. Anm. 55), Abh. II) und Klein (Phys. Ztschr., 1. c. 
Anm. 56a) stellen an die zulässigen Punkttransformationen noch eine weitere 


einschränkende Bedingung: Es soll stets ur >, Vertauschung von Vergangen- 


heit und Zukunft also ausgeschlossen sein, damit man es mit einer wirklich 
kontinuierlichen Gruppe zu tun hat. Es folgt jedoch aus der Kovarianz gegen- 
über dieser engeren Gruppe schon rein formal bereits die Kovarianz gegenüber 
der Umkehr der Zeit, sofern die Gleichungen nicht ganz künstliche Irrationali- 
täten enthalten (über diesen letzteren Punkt vgl. Abschn. V). Außerdem scheint 
die Kovarianz aller Naturgesetze gegenüber der Umkehr der Zeit nach unserer 
heutigen Auffassung auch aus physikalischen Gründen geboten. Wir werden 
deshalb die hier erwähnte Einschränkung nicht annehmen. 





616 vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


kommt, der Schluß von (81) auf (83) nicht mehr gezogen werden. 
Man muß die geodätischen Nullinien vielmehr so definieren: Die geo- 
dätischen Nullinien sind vor den anderen auf dem durch (C) be- 
stimmten Kegel liegenden Kurven dadurch ausgezeichnet, daß ein 
Kurvenparameter A N für welchen die Differentialgleichungen 
dx” d«® 
ns FT: ne 

und somit auch das Variationsprinzip (83) befriedigt sind. Für die 
geodätischen Linien, welche keine Nullinien sind, bleiben dagegen die 
Entwicklungen der Nr. 15 bestehen. 

Auch das Ergebnis von Vermeil betreffend den Zusammenhang 
des Volumens einer Kugel im Riemannschen Raum mit der Krüm- 
mungsinvariante (Nr. 17) läßt sich nicht unmittelbar auf den inde- 
finiten Fall übertragen, weil hier der Kugel das unendlich ausgedehnte 
Hyperboloid entspricht. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß gewöhnlich in der speziellen 
Relativitätstheorie die Normalform des Linienelementes definitions- 
gemäß mit drei positiven und einem negativen Vorzeichen angenom- 
men wird, während in der allgemeinen Relativitätstheorie drei nega- 
tive und ein positives Vorzeichen angenommen werden. Hier soll 
einheitlich an der ersten Bezeichnungsart festgehalten werden. 


23. Infinitesimale Koordinatentransformation und Variations- 
sätze. Ist eine Größe invariant gegenüber Koordinatentransforma- 
tionen überhaupt, so ist sie insbesondere auch invariant gegenüber 
infinitesimalen Koordinatentransformationen. Der Nutzen, den die Be- 
trachtung der letzteren gewährt, rührt daher, daß aus der Invarianz 
einer Größe ihnen gegenüber gewisse Differentialgleichungen herge- 
leitet werden können, denen die Größe genügen muß. Wir definieren 
nun eine solche infinitesimale Koordinatentransformation durch 
(160) = a-+ elle), 
wo & eine unendlich kleine Größe ist. Die &° können in ganz be- 
liebiger Weise von den Koordinaten abhängen. Alle Differenzen zwi- 
schen gestrichenen und ungestrichenen Funktionen hat man sich im 
folgenden nach Potenzen von s entwickelt zu denken. Dabei kommt 
es uns schließlich allein auf das Glied erster Ordnung an, welches 
die Variation der betreffenden Funktion heißt. Um die Variation 
irgendeines Tensors beim Übergang vom ungestrichenen zum gestrichenen 
Koordinatensystem zu erhalten, hat man in die allgemeine Transfor- 


mationsformel (25) die ig 


PERS di ach o5* 
(161) geht: 25; ee Si 


98. Infinitesimale Koordinatentransformation und Variationssätze. 617 


IE n 
einzusetzen. Letztere folgen aus „ z3« — ö,‘ und sind natürlich nur 


bis auf Größen höherer Ordnung in & richtig. Wir merken noch den 
Wert für die Transformationsdeterminante an: 





z [23 BP 1 ö8 
(162) it Ei, 5 -1-:5 
Auf diese ae erhält man für die Variation des Vektors 
0 0 WEL... X 
(163) dd=e;,,W, da, 85% 


und für die des Tensors zweiten Ranges: 


da'* =$ (5 ak vea0), 


ö N) r h 
(164) da = (Say a; 5 a,‘) } 
f) r rn) P 
da,——E (a 0, 2 a,,)' 


Entsprechende Formeln gelten insbesondere für die Variation von 9;;. 
Es sei noch angemerkt, daß aus (72) für ein beliebiges symmetrisches 
System i,, von Zahlen 

(165) 0 — 1, 

folgt. (Hierin ist wie üblich *— g’g*Pt,, gesetzt.) Ebenso folgt 
aus (73): 

(73b) 8yg =4V— 998g, — — 41V 99,99. 

In (163) und (164) handelt es sich immer um die Varation 

(166) dd—=Hlk) — ale), ... dat— arlz) — a’*(a), .... usw. 


Wesentlich hiervon verschieden ist die Variation 


(167) Had=iale) — ala), .... Hat are) — ale), ... usw. 
Sie hängt mit jener offenbar zusammen durch die symbolische Relation 
(168) ee, 


woraus sich unmittelbar die Ausdrücke ö*a‘, ö*a,, usw. ergeben. Aus 
(164) und (167) folgt die wichtige Formel 


1 h ER 08 1 09,, ; 
3 (Trorg,dr- fe TE Ze Sal WE pe dx 
oder nach (150a): 


1 ; 
(169) 1 [rd & [ fBiv.® Edz les (TEE) da |. 
Schließlich betrachten wir noch die Variation des Integrals 


T-[Bla)da. 





618 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Es ist 
07 [Wee)az _ fin - [30% „|d2 La 


also mit Rücksicht auf (162) und wegen Rz) = We) s: Nr Sk 


(170) 0 (War [or War + ER ar. 


Hierin ist FW — W(x) — W(x). Wenn & an der Grenze des In- 
tegrationsgebietes verschwindet, liefert der zweite Term der rechten 


Seite von (170) keinen Beitrag zu Ö fe Wdzx, da er nach (139a) in 


ein Integral über die Grenze verwandelt werden kann. Ist nun J eine 
Invariante, also W eine skalare Dichte, so muß die Variation (170) 
für beliebige &' verschwinden. Indem man zuerst den allgemeinen Aus- 
druck für 8 bei irgendeiner Variation der Feldtensoren, aus denen 
sich W aufbaut, aufstellt und dann die letztere Variation speziell nach 
(164) durch eine infinitesimale Änderung des Koordinatensystems er- 
zeugt, erhält man aus (170) gewisse Identitäten. Dabei kann in ge- 
wissen Fällen noch &‘ als an der Grenze des Integrationsgebietes ver- 
schwindend angenommen werden, was die Rechnungen vereinfacht. 
Dies wird durch die folgenden Beispiele erläutert, die mit Rücksicht 
auf die späteren physikalischen Anwendungen durchgerechnet werden. 
a) Aus dem Vektor p, werde durch Rot der Flächentensor 





Run 09% 09; 
, Fa a Da 
und aus diesem die Invariante 
(172) L= # FF" 
abgeleitet. Ist X die zu ZL gehörige skalare Dichte 
t=L V-9, 


so kann aus der Integralinvariante 


SRaz 


eine für die ponderomotorische Kraft der Elektrodynamik wichtige 
Transformation abgeleitet werden. Wir beschränken uns dabei auf 
solche Variationen der Felder und Koordinaten, die an der Grenze 
des Integrationsgebietes verschwinden. Zunächst seien p, und g,, als 
unabhängige Variable betrachtet. Bei einer Variation derselben (von 
der genannten Art) wird zunächst nach einfacher Rechnung mit Rück-. 


sicht auf (165): 
98 = Wr, — S'rög,,, 


23. Infinitesimale Koordinatentransformation und Variationssätze.. 619 


wo zur Abkürzung gesetzt ist: 





1 
(173) I, = Ve Su = FuFag" — GE 9: 
Durch partielle Integration folgt dann: 
(174) [Sir — ff öp,— Sr ög,)dz, 
mit Be 
woraus noch folgt: je 
(175a) ET ag 


Nun erzeugen wir speziell die Variationen d, und ög,, durch eine 
infinitesimale Koordinatentransformation, was infolge des Verschwin- 
dens derselben an der Gebietsgrenze nach (170) erzielt wird, wenn 
man in (174) für dp, und dg,,, ö*y, und ö*g,, substituiert. Mit 
Rücksicht auf (163), (168) erhält man zunächst: 


\ 0 ’ eo 
A (f Fra? 2) 
und nach partieller Integration wegen (169) und (175a): 


0 Sfr, — Srörg,) —— 2e/ (Fit + Div,S)Eda. 
Da der letzte Ausdruck für beliebige &' verschwinden muß, folgt 
Fr = — Div, 6 
oder ausgeschrieben 


9& 10 rs rs 
29) ee). 


Diese Identität werden wir in Nr. 30 und 54 benützen. 
b) Durch die Untersuchungen von Loreniz!), Hilbert!"), Ein- 
stein!®), Weyl'”®) und Klein!) über das Hamiltonsche Prinzip in 





100) H. A. Lorentz, Amst. Versl. 23 (1915), p. 1073; 24 (1916), p. 1389 u. 
1759; 25 (1916), p. 468 u. 1380. 

101) D. Hilbert, Grundlagen d. Physik, 1. Mitt., Gött. Nachr., math.-phys. 
Kl., 1915, p. 395. 

102) A. Einstein, Berl. Ber. 1916, p. 1115 (auch abgedruckt in der Samm- 
lung, Lorentz, Einstein, Minkowski „Das Relativitätsprinzip‘, 3. Aufl., Leipzig 1920). 

103) H. Weyl, Ann. d. Phys. 54 (1917), p. 117; Raum—Zeit— Materie, 1. Aufl. 
1918, 3. Aufl. 1920. 

104) F. Klein, Zu Helberts erster Note über die Grundlagen der Physik, 
Gött. Nachr., math.-phys. Kl., 1917, p. 469; Über die Differentialgesetze von Im- 
puls und Energie in der Einsteinschen Gravitationstheorie, ebenda 1918, p. 235. 
— Die von Klein gegenüber Hilbert erzielte Vereinfachung wird dadurch ermög- 
licht, daß er auch solche Variationen der Koordinaten benützt, die am Rand 
des Integrationsgebietes nicht verschwinden (wie es übrigens in der klassischen 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 41 


620 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


der allgemeinen Relativitätstheorie, deren physikalische Bedeutung im 
Abschnitt IV besprochen werden soll, gewinnt die Variation der zur 
Krümmungsinvariante R gehörigen Integralinvariante 


SRadx 


Man zerlegt zunächst diese Invariante u NRdx in ein Voluminte- 


ein besonderes Interesse. 


gral, welches nur die ersten Ableitungen der g,, enthält und ein Ober- 
flächenintegral: 
(177) [Rare — [Gar + fe. ), 


Oberfläche 
worın 


(178) 6—-Vy-s8, =, — Tal, 
@ ist offensichtlich nur gegenüber linearen Transformationen eine In- 


variante (Affinskalar). Das Integral 7 ®dx ist aber nach (177) 
darüber hinausgehend invariant gegenüber allen Transformationen, 
welche sich nur auf das Innere des Integrationsgebietes erstrecken 
und die Randwerte der Koordinaten sowie der g,, und ihrer Ablei- 
tungen unverändert lassen. Diese beiden Invarianzeigenschaften des 
fs dx werden nun dazu benutzt, um einige für die Theorie wichtige 
mathematische Identitäten nachzuweisen. Der Umstand, daß im Inte- 
grand des zu variierenden Integrals die zweiten Ableitungen der 9,, 
nun nicht mehr auftreten, wirkt dabei sehr vereinfachend, obzwar er 
für die Möglichkeit, das im folgenden eingeschlagene Verfahren an- 
zuwenden, nicht grundsätzlich erforderlich ist. 

Wir erhalten zunächst bei einer beliebigen Variation des g;;- 


ögtk 


Feldes, wenn wir zur Abkürzung g9,*—= 5.0 Setzen: 
aa er es 


2 e 08 gr 9") 
- (a3 2)? au — Sa (or (Dur? * 


Die Ausrechnung zeigt nun!®), daß 


0 06 26 a 
02° ÖgiE ge G,=V—-96 


wird, wo @,, der in (109) definierte Tensor ist. Also ergibt sich 
— (66a — [&, oa — (2, 
(179) f x 9 (Du ds i) dx. 


Mechanik seit Lagrange vielfach geschieht). Hierdurch werden manche Bezie- 
hungen übersichtlicher. Ein ähnliches, wenn auch nicht so systematisch durch- 
geführtes Rechenverfahren findet sich schon bei Lorentz (l. c. Anm. 100). 














238. Infinitesimale Koordinatentransformation und Variationssätze. 621 


Da das letztere Integral offensichtlich als Oberflächenintegral ge- 
schrieben werden kann, gilt nach (177) auch 
(180) 3 [Raz— [O,ögtdr+[(...). 
Oberfläche 
Wir erzeugen jetzt speziell die Variation der g,, durch eine Va- 


riation ö* des Koordinatensystems. Dann ergibt sich aus (179) zu- 
folge (169) und (170): 


(181) 0* f Bde 2: [ Div,®- Far + 
2 ae, 
Ir (auir 09" — 288 + GE) dr 
Nun spezialisieren wir weiter die infinitesimale Koordinatentransfor- 


mation so, daß sie f dx invariant läßt. 
1. Die &' sollen am Rand verschwinden. Dann De 











of _ 1 Odys 18 — 
(1824) Div,G — u 
(182b) Dvd — oe. +8" Ti, =0. 


Hätten wir bloß diese Identität ableiten wollen, so hätte sich die 
Rechnung sehr abkürzen lassen. Herglotz®?*) hat darauf aufmerksam 
gemacht, daß sich als einfache Konsequenz dieser Identität ein inter- 
essanter Satz ergibt, der schon früher auf anderem Wege von Schur!®®) 
bewiesen worden war. Ist analog zu (116) 

Riss 0 &(9,:9;x — 9,9) 
wobei aber «@ zunächst noch eine Funktion der Koordinaten sein kann, 


so folgt durch Substitution von (119) in (182a) für n> 2 sofort 
0a 

PY  Yasas 0, & = konst. 

Das heißt: Ist das Krümmungsmaß eines Riemannschen Raumes R, 

(n>2) in jedem seiner Punkte von der Flächenrichtung unabhängig, 

so ist es auch vom Ort unabhängig. 

2. Die & sollen konstant sein. Wir könnten sogar die & allge- 
meiner als lineare Funktionen der Koordinaten ansetzen, jedoch sind 
die weiteren Identitäten, die daraus resultieren, für uns nicht von 
Wichtigkeit. Da nunmehr das erste Integral in (181) zufolge (182) 
fortgelassen werden kann, muß für konstante &' das zweite Integral 


105) Wegen ihrer Durchführung vgl. man H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 


1. Aufl. 1918, p. 191, 3. Aufl. 1920, p. 205, 206, sowie auch A. Palatini, Rend. 
Pal. 43 (1919), p. 208. 


82°) @. Herglotz, 1. c. Anm. 82). 
105a) F. Schur, Math. Ann. 27 (1886), p. 537. 
41* 


622 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


ebenfalls identisch verschwinden. Dies ist aber nur möglich, wenn 
für diesen Fall der Integrand identisch verschwindet, da das Integra- 
tionsgebiet beliebig klein angenommen werden kann. Da nun nach 
(164), (168) bei konstanten & ö*g”"’— — 9,"’E zu setzen ist, nimmt 
der Integrand die Form an: 


0 6 
pe (-- ge: 4" — 26° + 8). 


Setzen wir also noch 


(183) = (Fr 9 — 68,), 
so folgt: 

SU +E _ 
(184) urn oo: 


Die Auswertung des Ausdruckes (183) für U} aus dem Wert (178) 
von © liefert HER, 
(185) W=4Ir, UND 0), 
i ar gi rs DES 
wofür man im Fall Y—g = const. auch schreiben kann 
(185) W-Y-gU4, UE=T%,TL,g'— 16849) 
Wir haben es hier offenbar mit einem Affintensor zu tun, wie er 


in Nr. 21 betrachtet wurde. Über seine physikalische Bedeutung vgl. 
Abschnitt IV, Nr. 57 und 61. 


III. Weiterer Ausbau der speziellen Relativitätstheorie. 


a) Kinematik. 
24. Vierdimensionale Darstellung der Lorentz-Transformation. 

Die im Abschnitt I besprochenen kinematischen Folgerungen der 
Relativitätstheorie lassen sich viel übersichtlicher darstellen, wenn man 
die vierdimensionale Raum—Zeitwelt den Betrachtungen zugrunde 
legt. Man kann zwei verschiedene Darstellungen nebeneinander ver- 
wenden. Erstens die imaginäre: 

ur, day, Par, Mmict, 
und zweitens die reelle 

en, day, Pan, Act. 
Die erste ist die historisch ältere, schon von Poincare') verwendete, 
die zweite wird von Minkowski in seinem Vortrag „Raum und Zeit“ 
benutzt. Die spezielle Lorentz-Transformation (I), bei der x? und x? 


106) Über die Durchführung der Rechnung vgl. A. Einstein, Ann. d. Phys. 
49 (1916), p. 806, Gl. (50) im Fall YV— g= konst.; W. Pauli jr., Phys. Ztschr. 
20 (1919), p. 25, im allgemeinen Fall. 

107) H. Poincare, Rend. Pal. 1. c. Anm. 11), p. 168. 


24. Vierdimensionale Darstellung der Lorentz-Transformation. 623 


unverändert bleiben, ist in vollständiger Analogie zur Drehung des 
Koordinatensystems im R, gegeben durch die Formeln 


z!—= rlcosp + «sing Xt—= xIchyp — Ashy 
(186) bzw. = — z!shy-+ #chv 
«= — «sing + xatcosp (g=iy). 


Erstere finden sich zuerst explizite bei Minkowski II, Gl. (1); (er 
schreibt iv an Stelle von 9). Da für «!=0, = vt sein muß, sind 
p und Y bestimmt durch 

tgp=iß, thy=ß, 

woraus folgt 























87 ac 
Ve Pi 
% 
z 

t x 

P7 4 

t * 

ee 
. T 

Fig. 2. u 





Im imaginären Koordinatensystem ist die spezielle Lorentz-Transfor- 
mation eine Drehung, im reellen ein Übergang zu einem anderen Paar 
von konjugierten Durchmessern der invarianten Hyperbel 
(2)? — (Al. 

In jenem gibt es keinen Unterschied zwischen kovarianten und kontra- 
varianten Komponenten eines Vektors. In diesem ist a, = — «at, all- 
gemein zieht bei einem beliebigen Tensor das Hinauf- oder Hinunter- 
setzen eines Index 4 einen Vorzeichenwechsel nach sich. 

Die Lorentz-Kontraktion wird durch den rechten Teil der oben- 
stehenden Figur 2, in der 2!=x als Abszisse und «= ict als Or- 


dinate aufgetragen ist, unmittelbar in Evidenz gesetzt. Sie ist so ge- 
zeichnet, als ob x* reell wäre. 


624 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


L, und L, sind die Weltlinien des im System X’ ruhenden Sta- 
bes; ihr Abstand /, ist gleich seiner Ruhlänge. Im bewegten System 
K ist als Länge } des Stabes die auf einer zur x!-Achse parallelen 
Geraden durch Z, und Z, abgeschnittene Strecke PQ auszusprechen. 
Offenbar ist 


(188) ie 


cosp’ 
was nach (187) mit (7) übereinstimmt.!%) In analoger Weise ver- 
anschaulicht der linke Teil der Figur 2 die Einsteinsche Zeitdilatation. 
Als Uhr, die im System X’ ruhend angenommen werde, fungiere 
irgendein periodischer Vorgang. Die Weltpunkte des Ablaufs der 


Perioden liegen auf einer zur x’*-Achse parallelen Geraden. Ihr Ab- 
7, 











B 

. L 

L, 

Z, ; 
74 A 

L, 

Ze zT, 
Fig. 3. 





stand 7 ist die normal gemessene Periodendauer. (Die Zeiteinheit ist 
hier der Einfachheit halber so angenommen, daß die Lichtgeschwin- 
digkeit gleich eins wird.) Die in K gemessene Periodendauer # ist 
dann gegeben durch die Projektionen der Strecken r auf die z*-Achse. 
Folglich wird 


(189) m _ 


cosp’ 
was infolge von (187) mit (8) identisch ist. 

Eine einfache Verallgemeinerung dieser Betrachtung führt zu 
einer Veranschaulichung des Uhrenparadoxons (vgl. Nr. 5).1°) In Fi- 
gur 3 sind Z, und ZL, die Weltlinien der Uhren U, und Ü,, von 
denen in Nr. 5 die Rede war. 

Die Zeit r, welche die Uhr U, im Weltpunkt Q@ (der vom Sy- 
stem K betrachtet mit P räumlich zusammenfällt) anzeigt, ist bis 


108) Die analoge Figur für das reelle Koordinatensystem findet sich in 
Minkowskis Vortrag „Raum und Zeit“. 

109) Man vgl. hierzu Anm. 4) zu Minkowskis Vortrag „Raum und Zeit“ in 
der Sammlung, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1913, sowie’ M. v. Laue, Phys. 
Ztschr: 13 (1912), p. 118. 


25. Das Additionstheorem der Geschwindigkeiten. 625 


auf den Faktor - gleich der Länge s des gebrochenen Linienzuges L. 


Verallgemeinernd wird man für beliebig bewegte Uhren, wenn die 
Beschleunigung nicht allzu stark ist, annehmen dürfen, daß die Zeit z, 
die sie anzeigen, gleich ist 

(157) -—- [Vi Ra, 
wo s wieder die Länge der zugehörigen Weltlinie bedeutet. r ist 
offenbar die dureh (157) definierte Eigenzeit der betreffenden Uhr, das 
ist also die Zeit, wie sie von einem jeweils mit der Uhr mitbewegten 
Beobachter konstatiert wird. Von zwei Uhren, die vom Weltpunkt A 
zum Weltpunkt B bewegt werden, gibt also die gleichförmig bewegte 
die kleinste Zeit an (vgl. Fig. 3). 


25. Das Additionstheorem der Geschwindigkeiten. Die Transfor- 
mationsformeln der Geschwindigkeit beim Übergang zu einem bewegten 
Koordinatensystem K’ lassen sich einfach und übersichtlich schreiben, 
wenn man statt des dreidimensionalen Vektors u den in (158), (159) 
definierten vierdimensionalen Vektor w einführt, dessen Komponenten 
in unserem Fall die Werte haben: 


(190) ut, il. 
u u? 
V ar V ae 


Die Transformationsformeln beim Übergang zum System K’ lau- 
ten dann nach (186) und (187): 





utilur 
ri [4 
(7 BRUT 
DE 
V'-5 
(191) 5 $ gg ut 
ra 
U eu 





(Wu W„"=u, 
aus denen man leicht die Formeln (10) bis (12) der Nr. 6 gewinnt, 
insbesondere ist (11a) identisch mit der Transformationsformel für u‘. 
Die entsprechenden Formeln für reelle Koordinaten ergeben sich aus 
der Vorschrift vom Anfang der Nr. 24. 

Eine andere Deutung für die Zusammensetzung der Geschwindig- 
keiten, die zuerst Sommerfeld'!®) gegeben hat, folgt aus der Bemer- 
kung, daß sich die Winkel p,, 9, bei zwei aufeinanderfolgeriden Dre- 


110) A. Sommerfeld, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 826. 


626 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


hungen einfach addieren, wenn man zunächst das Additionstheorem 
zweier gleichgerichteter Geschwindigkeiten ins Auge faßt. Dieses er- 
gibt sich dann aus (187) als eine Folge des Additionstheorems der 
Tangensfunktion: 

tgp, +tg9p . 


tgp=tg(p, + 9) = 1-tgp,tgp 


Analoge Deutungen lassen sich für den allgemeineren Fall der Zu- 
sammensetzung beliebig gegeneinander geneigter Geschwindigkeiten 
aufstellen, insbesondere läßt sich die Formel (11a), die den Betrag 
der resultierenden Geschwindigkeit angibt und die Ungültigkeit des 
kommutativen Gesetzes für die Geschwindigkeitsrichtungen durch die 
sphtrische Geometrie auf einer Kugel vom Radius ö veranschaulichen.!!P) 
V. Varicak'!!) weist auf die Analogie der Zusammensetzung der Ge- 
schwindigkeiten in der Relativitätstheorie mit der Streckenaddition in 
der .Bolyai-Lobatschefskyschen Ebene hin. 


26. Transformation der Beschleunigung. Hyperbelbewegung. 
Ähnlich wie bei der Geschwindigkeit führt man in der Relativitäts- 
theorie statt des dreidimensionalen Vektors ü den durch (147) defi- 
nierten, jetzt für das Linienelement der speziellen Relativitätstheorie 
zu spezialisierenden vierdimensionalen Vektor B mit den Komponenten 





’ 2 pi 
(147a) YA = w a 
ein. In der speziellen Relativitätstheorie ist 
du „du, 
Re de’ 
so daß aus wu’ = —c? durch Differentiation folgt: 
(192) „But —0. 


111) Auch die Lorentz-Transformation sowie die relativistischen Formeln 
für Dopplereffekt, Aberration und Reflexion am bewegten Spiegel werden von 
Varicak mit der Bolyai-Lobatschefskyschen Geometrie in formalen Zusammen- 
hang gebracht. Man vgl. die Noten: V. Varitak, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 93, 
287, 586; Belgrader Akademieber. 88 (1911); das zusammenfassende Referat im 
Jahresber. d. Deutsch. Math.-Ver. 21 (1912), p. 103; sowie Agramer Akademieber. 
(1914), p. 46; (1915), p. 86 und 101; (1916), p. 79; (1918), p. 1; (1919), p. 100. 

Der in Rede stehende Zusammenhang mit der Bolyai- Lobatschefskyschen 
Geometrie läßt sich (was von Varicak nicht bemerkt wird) kurz so charakteri- 
sieren: Deutet man dx!, dx?, dx’, dx‘ als homogene Koordinaten in einem 
projektiven dreidimensionalen Raum, so bedeutet die Invarianz der Gleichung 
(42)? + (dx®)? + (dx)? — (dx)? —= 0 die Einführung einer Cayleyschen Maßbe- 
stimmung und zwar unter Zugrundelegung eines reellen Kegelschnitts. Das 
weitere folgt auf Grund der bekannteu Überlegungen von Klein [Math. Ann. 4 
(1871), p. 112] von selbst. 


26. Transformation der Beschleunigung. Hyperbelbewegung. 627 


Der Zusammenhang von B mit dem Vektor ü des dreidimensionalen 
Raumes ist gegeben durch 

u Ger wi) 1 
BB tra ame 

. 

er 3 
Von besonderem Interesse sind die Transformationsformeln . der 

Beschleunigung aus einem momentan mit der Materie mitbewegten 
System K’ auf ein System X, relativ zu dem sich die Materie mit 
der Geschwindigkeit u bewegt. Legen wir die x-Achse in die Ge- 
schwindigkeitsrichtung, so wird in diesem Fall 


(BY,B’,B)=i, B'=0, 





(193) 








u, ß DR... DE GR eheee RER 

de yerer ı: Ba Bes En 
Aus den Transformationsformeln für die Komponenten von B: 
B‘ A BR 


die man aus den zu (186). inversen Relationen erhält, folgt dann weiter 
19) wei, Pr, won, —P), went P)). 
Diese Relationen finden sich schon in der ersten Arbeit Einsteins.!'?) 

Als gleichförmig beschleunigt wird man in der relativistischen 
Kinematik naturgemäß eine solche Bewegung bezeichnen, für die in 
dem jeweils mit der Materie bzw dem Massenpunkt mitbewegten Sy- 
stem K’ die Beschleunigung stets denselben Wert b hat. Das System 
K’ ist für jeden Augenblick ein anderes; für ein und dasselbe Gali- 
leische System K ist die Beschleunigung einer solchen Bewegung 
zeitlich nicht konstant. So liegen die Verhältnisse bei der geradlini- 
gen gleichförmig beschleunigten Bewegung. Da der allgemeinere Fall 
auf diesen durch eine Lorentz-Transformation zurückgeführt werden 
kann, können wir uns auf ihn beschränken. Aus (194) gewinnt man 
dann leicht durch Integration 


(2 — 0) — lt — I) = 5 — konst. — a? 


und wenn man noch den Koordinaten- und Zeitanfangspunkt so wählt, 
daß für t=(0, z=(, Öl 


wird, nimmt die Gleichung der Bahn die Form an 


4 
(195a) R— = jr = konst. = a’. 

112) Eine sehr einfache, elementare Ableitung derselben findet sich bei 
A. Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien, Braunschweig, 1. Aufl. 1919, p. 320 
u. 321, 2. Aufl. 1920, p. 317 u. 318. 


628 V 19. W. Pauli jr. Belativitätstheorie. 


Die Geschwindigkeit wächst nicht unbegrenzt, sondern nähert sich 
asymptotisch der Lichtgeschwindigkeit. Die zugehörige Weltlinie ist 
eine Hyperbel, weshalb die gleichförmig beschleunigte Bewegung der 
Relativitätstheorie auch Hyperbelbewegung genannt wird, im Gegen- 
satz zur „Parabelbewegung“ der alten Mechanik. Im imaginären Ko- 
ordinatensystem ist die Weltlinie ein Kreis mit dem Radius a: 
(195b) (2)? + (29)? = a°. 

Durch die imaginäre Bogenlänge s der Weltlinie drücken sich die 
Koordinaten x!, x* so aus: 


(196a) = acos—, xt = asin z 

bzw. im reellen Koordinatensystem 

(196b) t=ah“, A=anh“. 

Daraus geht hervor, daß der Vektor B die Richtung des Radius 


und den Betrag e —=b hat. Da man in der x, ict-Ebene zu einer 


beliebigen Bahnkurve in jedem ihrer Punkte einen Krümmungskreis 
konstruieren kann, gibt es zu jeder Bewegung eines Massenpunktes in 
jedem Augenblick eine oskulierende Hyperbelbewegung. 

Die Hyperbelbewegung ist zuerst von Minkowski"?) als beson- 
ders einfache Bewegung erkannt und hernach von Born!) und Sommer- 
feld‘!5) genauer diskutiert worden. Über ihre dynamische und elektro- 
dynamische Bedeutung vgl. Nr. 37, 32 y). 


b) Elektrodynamik. 


27. Invarianz der Ladung. Viererstrom. In der Lorentzschen 
Elektronentheorie genügen Dichte eg und Geschwindigkeit u einer 
elektrischen Ladung der Kontinuitätsgleichung 


denn i 
(A) = + divou = 0.'®) 
Es liegt nahe, diese Gleichung als vierdimensionale Div zu schreiben: 
08 ; 
(197) 7 0 (Divs = 0), 
worin die Größen s’ definiert sind durch 
(198) (8, 8°, 8°) = -. *=ig 


113) H. Minkowski, III, 1. c. Anm. 54). 

114) M. Born, Ann. d. Phys. 30 (1909), p. 1. 

115) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 33 (1910), p. 670, l. c. Anm. 55). 
115a) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl. Nr. 2, Gl. (M. 


27. Invarianz der Ladung. Viererstrom. 629 


Wir müssen nun verlangen, daß (A) und somit auch (197) für jedes 
Galileische Bezugssystem gelten soll, und daraus kann man schließen, 
daß die s® die Komponenten eines Vierervektors sind. Man nennt ihn 
den Viererstrom. Er findet sich im wesentlichen schon bei Poincare. 
Zwar bleibt in den Transformationsformeln für die Größen s’, die aus 
der Invarianz von (197) entnommen werden können, zunächst ein 
Faktor unbestimmt, der noch irgendwie von der iu die Lorentz-Trans- 
formation eingehenden Geschwindigkeit abhängen könnte; man kann 
aber durch eine Betrachtung, die zu der in Nr.5 beim Faktor x der 
Transformationsformeln für die Koordinaten verwendeten völlig ana- 
log ist, zeigen, daß er gleich Eins sein muß. Der Vektorcharakter 
von $ liefert außer den mehrfach erwähnten Transformationsformeln 
für die Geschwindigkeit folgende Transformationsformel für die La- 





dungsdichte: ( Ph 
@ er ce? U, 
. 1 DE 
ce? 


Ihre physikalische Bedeutung erhellt, wenn man das Koordinaten- 
system K’ speziell so wählt, daß die Ladungsdichte in X’ ruht. Dann 
ist yu=u=v und indem wir für diesen Fall noch og, statt 0’ schrei- 
ben, ergibt sich 


(1992) ne re 





Umgekehrt folgt (199) mit Rücksicht auf das Additionstheorem der 
Geschwindigkeiten aus (199a) zurück. Nun gilt aber wegen der 
Lorentz-Kontraktion für ein materielles Volumelement @V nach (Ta): 


av=-anyı-H, 


also wird 

(2008) edVr —gdV,, 
das heißt 

(200b) de = de. 


Die in einem’ bestimmten materiellen Volumelement enthaltene Ladung 
ist eine Invariante. Daß der Betrag der Gesamiladung eines Teilchens 
sich nicht ändert, wenn man ihm eine Bewegung erteilt, folgt natür- 
lich direkt aus (A) und kann erfahrungsgemäß als weitgehend ge- 
sichert bezeichnet werden, da sonst die elektrische Neutralität eines 
Atoms durch bloße Änderung der Bewegung der in ihm enthaltenen 
Elektronen aufgehoben werden könnte. Die Relation (200b) besagt 
darüber hinausgehend, daß die Ladung eines jeden materiellen Volum- 
elementes invariant bleibt. 


630 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Sommerfeld *!%) geht umgekehrt aus von (2002) und schließt 
daraus in folgender Weise auf den Vektorcharakter von s. Das vom 
räumlichen Volumelement dV während der Zeit dt überstrichene 
vierdimensionale Volumen 

av. da* . . @=iet) 
ist als solches eine Invariante. Das gleiche gilt nach Voraussetzung 
(200a) vom Produkt iodV. 
Der gleichfalls invariante Quotient an dieser Größen liefert aber mit 
den Vektorkomponenten d:!,...dz* multipliziert, das in (198) ange- 
gebene System der Größen s’, welches folglich ebenfalls einen Vierer- 
vektor bildet. 

Mit Hilfe des Vektors «* läßt sich zufolge (190), (199a) s® ein- 
fach schreiben: 


(201) = 
und die Kontinuitätsgleichung wird 
(197) u 0. 


Über den Beweis für den Vektorcharakter von s’ aus den Max- 
wellschen Gleichungen siehe die folgende Nummer, über die Deutung, 
welche der Erhaltungssatz (197) in der Theorie von Weyl erfährt, 
vgl. Abschn. V, Nr. 65d). 


28. Die Kovarianz der Grundgleichungen der Elektronentheorie. 
In Nr. 1 wurde bereits hervorgehoben, daß die Nichtkovarianz der 
Lorentzschen Grundgleichungen für das elektromagnetische Feld gegen- 
über der Galilei-Transformation einer der Hauptantriebe zur Begrün- 
dung der Relativitätstheorie geworden ist. In seiner Arbeit von 
190417) war Lorentg sehr nahe daran, die Kovarianz dieser Glei- 
chungen gegenüber der Gruppe der Relativitätstheorie zu beweisen. 
Vollständig erbracht wurde der Beweis von Poincare'"?) und Ein- 
stein‘'?) unabhängig voneinander. Die vierdimensionale Formulierung 
rührt von Minkowski"?°) her, der hierzu den Begriff des Flächenten- 
sors, wie wir heute sagen, zuerst aufgestellt hat. 

Um die Feldgleichungen in. vierdimensional-invarianter Weise 
darzustellen, wird man zuerst diejenigen vier Gleichungen zusammen- 


116) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 752, l.c. Anm. 55). 
117) H. A. Lorentz, 1. c. Anm. 10). 

118) H. Poincare, 1. c. Anm. 11). 

119) A. Einstein, 1. c. Anm. 12). 

120) H. Minkowski, I, 1. c. Anm. 54). 


28. Die Kovarianz der Grundgleichungen der Elektronentheorie. 631 
fassen, welche die Ladungsdichte nicht enthalten, das sind die Glei- 


chungen 


5.2 — 01208), 
(B) rtE+—9 ) 


divH—=0. 
Setzt man 
| (Fa, Fs, F;s) a ‚€, (Pas, Fa; Fi3) RR 9 
292) bzw. im reellen System (F,,—= — F,,): » 


so kann man (B) schreiben 
(203) OF,;;, OF, OF; 


dx! oxk 32 0x 
[vgl. (140b)]. 

Aus der Invarianz von (203) gegenüber Lorentz-Transformationen 
folgt dann, daß das Größensystem F,,, einen Flächentensor bildet. Der 
in den Transformationsformeln zunächst unbestimmt bleibende Faktor 
wird wieder in der bereits mehrfach erwähnten Weise eliminiert. 
Führt man statt F',, den durch (461) definierten dualen Tensor F'*'* ein: 


(2022) (Fru, Fra, Fr) — — 9, (F*2, Fr9, pri) — — EC, 


so kann nach (142), (141b) das Gleichungssystem (203) auch ge- 
schrieben werden 


(2033) wi ER (DivP* —0). 





—o0 (Rot F= 0) 


Es ist jedoch bekannt, daß im gewöhnlichen Raum € ein polarer 
(eigentlicher), $ ein axialer Vektor (Flächentensor) ist und nicht 
umgekehrt. Wir halten deshalb den Flächentensor (202) für die natur- 
gemäße Darstellung des elektromagnetischen Feldes, den zu ihm dualen 
Flächentensor (202a) für eine künstliche Bildung. Bei Minkowsii'?') 
finden sich beide Schreibweisen der Feldgleichungen. Die erstere, die 
in vielen Fällen, insbesondere in der allgemeinen Relativitätstheorie, 
übersichtlicher und bequemer ist, geriet jedoch später in Vergessen- 
heit, insbesondere wird sie von Sommerfeld'*) nicht erwähnt. Erst 
im Jahr 1916 hat Einstein!®) wieder die Aufmerksamkeit auf sie 
gelenkt. 

Aus dem Tensorcharakter von F', folgen die Transformations- 
formeln für die Feldstärken beim Übergang zu einem bewegten Be- 
zugssystem. Es möge hier die Geschwindigkeit v der Lorentz-Trans- 


120a) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl. Gl. (IV), (V). 

121) H. Minkowski, I, 1. c. Anm. 54). 

122) A. Sommerfeld, 1. c. Aum. 55). 

123) A. Einstein, Eine neue formale Deutung der Maxwellschen Gleichun- 
gen, Berl. Ber. (1916), p. 184. 


632 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


formation beliebig gegen die x-Achse des Koordinatensystems orien- 
tiert sein. Dann ergibt sich 











1 
Er re E, €,’ nn ar oe 
= 
(209) Ei 
9- Pe) 
\ 9 =d | ; =), 
Br 


Die Aufspaltung des Feldes in elektrisches und magnetisches hat 
also nur relative Bedeutung. Ist z. B. im System K bloß ein elektri- 
sches Feld vorhanden, so ist in einem relativ zu K bewegten System 
K’ auch ein magnetisches Feld vorhanden. Diese Bemerkung beseitigt 
gewisse Härten der Auffassung der Vorgänge bei der Induktion durch 
Bewegung eines Magneten einerseits, durch Bewegung des Leiters, in 
dem der Strom induziert wird, andrerseits.!?=) 

Auch die elektromagnetischen Potentiale: skalares Potential p, 
Vektorpotential X der Lorentzschen Theorie gestatten eine einfache 
vierdimensionale Deutung. Wie zuerst Minkowski’**) bemerkt hat, 
lassen sie sich zu einem Vektor der vierdimensionalen Welt, dem 
Viererpotential, zusammenfassen: 


(205) (9, 9; pP) U pr =ip. 
Die Ausdrücke 1 SRRRENR, 0" NERRIERRN SBR GIRER 2 gm) 
für die Feldstärken lauten dann 
ep 69, 
(206) en er daR (F = Rotg) 


[vgl. (140a)]. 

Das Viererpotential ist eine mathematische Hilfsgröße, die sich 
in vielen Fällen als nützlich erweist. unmittelbare physikalische Be- 
deutung hat es in der Lorentzschen Theorie keine. Das erste System 
(203) der Feldgleichungen ist eine Folge von (206) und umgekehrt, 
wenn (203) gilt, kann das Vektorfeld @, immer so bestimmt werden, 
daß (206) befriedigt ist. Durch diese Relation ist aber @, nicht ein- 
deutig bestimmt; ist vielmehr @, eine Lösung von (206) bei gegebenem 


F,,, so wird durch 9, + AR (% beliebige skalare Funktion der Raum- 


Oxi 


Zeit-Koordinaten) (206) gleichfalls befriedigt. Zur eindeutigen Defi- 


12a) A. Einstein, 1. c. Anm. 12). 
54a) H. Minkowski, I, l.c. Anm. 54). 
124) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 4, Gl. (IX), (X). 


28 Die Kovarianz der Grundgleichungen der Elektronentheorie. 633 


nition von @, wird deshalb in der Lorentzschen Theorie die Bedingung 


div + 122 — 01) 





e 6 
hinzugefügt, welche sich vierdimensional übersichtlich in der Form 
(207) —0 (Divp—0) 


schreiben läßt. Eine vierdimensionale Deutung des Hertzschen Vek- 
tors % ist bisher nicht gegeben worden. 
In analoger Weise wie (B) läßt sich das zweite System 


(©) 79 — &—g" divre=o 
der Lorentzschen Gleichungen'*®), welches die Ladungsdichte enthält, 
behandeln. Aus (198) und (202) folgt sofort 
ik 
(208) BR (DivF=s) 


Oxk 
[vgl. (141b)]. Definiert man die Ladungsdichte durch (C), so folgt 
unmittelbar der Vektorcharakter des Größensystems s’, der früher 
schon auf andere Weise begründet wurde. Drückt man in (208) die 
Feldstärken gemäß (206) durch das Vektorpotential aus, so kommt 


(rel. 145): Div, Rotgp = Grad, Dvp — 09, =, 
und infolge (207) 
(209) 09g,=— 5. 


U 


Die Kovarianz der elektromagnetischen Feldgleichungen gegen- 
über der Lorentz-Gruppe legt die Frage nahe, ob es noch umfassen- 
dere Gruppen gibt, bei denen diese Kovarianz stattfindet. Diese Frage 
wird durch Cunningham und Bateman'?°) beantwortet. Die allgemeinste 
derartige Gruppe ist die der konformen Abbildungen (Nr. 8, B’), welche 
die Gleichung des Lichtkegels » _o 


in sich überführt. Neben den Transformationen der Lorentz-Gruppe 
enthält sie noch Transformationen durch reziproke Radien an einer 
vierdimensionalen Kugel bzw. einem Hyperboloid im reellen Koordi- 
natensystem. Durch die Theorie von Weyl erscheint Batemans 
Theorem in einem neuen Licht (vgl. darüber Abschn. V). Einen ein- 
fachen Beweis dafür, daß die Lorentz-Gruppe verknüpft mit der 
Gruppe der gewöhnlichen Ähnlichkeitstransformationen die einzige 


125) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 4, Gl. (2). 

125a) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 2, Gl. (I), (Ia) und (IV). 

126) E. Cunningham, Proc. London math. Soc. 8 (1910), p. 77; H. Bateman, 
Proc. London math. Soc. 8 (1910), p. 223 


634 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


lineare Gruppe ist, gegenüber der die Lorentzschen Differentialgleichun- 
gen kovariant sind, gibt Ph. Frank.'?”) 


29. Ponderomotorische Kraft und Dynamik des Elektrons. Schon 
in seiner ersten Arbeit hat Einstein gezeigt, daß die Relativitätstheorie 
es ermöglicht, über die Bewegungsgesetze einer beliebig rasch sich be- 
wegenden Punktladung im elektromagnetischen Feld völlig bestimmte 
Aussagen zu machen, wenn diese für unendlich kleine Geschwindig- 
keiten derselben bekannt sind. Unter Punktladung ist hier irgendeine 
Ladung verstanden, deren Dimensionen so klein sind, daß das äußere 
Feld in dem Gebiet, das die Ladung erfüllt, als homogen angesehen 
werden kann. Die „Punktladung“ braucht also nicht ein Elektron zu 
sein. Ist & die Feldstärke des äußeren elektrischen Feldes, e, m La- 
dung und Masse unserer „Punktladung“ in einem Koordinatensystem 
K', in dem die Punktladung in dem betreffenden Augenblick ruht, so 
gilt in diesem System: 


(210) me. 


Mit Hilfe der Formeln (197) und (207) läßt sich daraus sofort das 
Bewegungsgesetz in einem System K ableiten, relativ zu welchem 
sich die Ladung (und das System X’) mit der Geschwindigkeit u in 
der positiven x-Richtung bewegt. Es ergibt sich 


My, d’x 1 
! — FE e&,—e[lE+ tus] 
(211) at (E+z1asl], 
Mm Ay: » Dr | di 

ie elet: ul), an Er ul], 
Zunächst sieht man, daß auf der rechten Seite genau die Lorentzsche 
Kraft!) steht. Während sie in den älteren Darstellungen als neues 
Azxiom eingeführt wird, ist sie hier eine Folge des Relativitätsprinzips. 
Hierzu ist allerdings zu bemerken, daß in dieser Aussage, was Glieder 








von zweiter und höherer Ordnung in = anlangt, kein physikalisches 


Gesetz, sondern eine Definition der Kraft enthalten ist. In der Tat 
scheint es zunächst willkürlich zu sein, was man auf die linken und 
was man auf die rechten Seiten der Gleichungen (211) bringt. Man 


könnte z. B. auch mit (1 — B9* bzw. mit (1 — B»)} herübermulti- 
plizieren und dann die auf der rechten Seite stehenden Ausdrücke als 
Komponenten der Kraft bezeichnen. Einstein hat anfangs e®’ auch 
im bewegten System K als Kraft bezeichnet. In der relativistischen 


127) Ph. Frank, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 599. 
128) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 3, Gl. (V]). 


29. Ponderomotorische Kraft und Dynamik des Elektrons. 635 


Mechanik wird jedoch gezeigt, daß die oben formulierte von Planck'*®) 
herrührende Definition der Kraft, nämlich den Lorentzschen Ausdruck 


(212) 8=elE+-[uS]) 


bei einer beliebig bewegten Ladung als Kraft zu bezeichnen, die 
zweckmäßigste, ja ‚einzig naturgemäße ist. Es zeigt sich nämlich, daß 
nur bei dieser Kraftdefinition die Kraft sich als zeitliche Änderung 
eines Impulses auffassen läßt, der in abgeschlossenen Systemen kon- 
stant bleibt (vgl. Nr. 37). Aus (212) und (207) folgen für die Kraft 
die Transformationsformeln 


eye FR IRRAEYı— 
wobei angenommen ist, daß im Koordinatensystem X’ die Materie, 


auf welche die Kraft wirkt, im betreffenden Moment ruht. 


In der älteren Literatur hat man vielfach auf Grund von (211) 


als longitudinale, — "0 __ als transversale Masse bezeichnet; 


0 
a— m} a pyt 
es ist jedoch zweckmäßiger, (211) in der Form 

d . 

(214) am) 8, 
zu schreiben, wobei jetzt durchweg 
215 _— 
an a, 
als Masse erscheint.!?) Dieser Ausdruck für die Abhängigkeit der 
Masse von der Geschwindigkeit wurde speziell für die Masse des 
Elektrons zum erstenmal von Lorentz'?!) abgeleitet, unter der An- 
nahme, daß auch die Elektronen bei der Bewegung die „Lorentz-Kon- 
traktion“ erleiden. Die Theorie des starren Elektrons von Abraham 
hatte eine kompliziertere Formel für die Massenveränderlichikeit er- 
geben.!??) Es bedeutete einen Fortschritt, daß die Relativitätstheorie 
das Lorentzsche Gesetz der Massenveränderlichkeit ohne eine beson- 
dere Annahme über Gestalt und Ladungsverteilung des Elektrons be- 





129) M. Planck, Verhandl. d. deutschen phys. Ges. 4 (1906), p. 136. 

130) Dieses Ergebnis ist bereits in den Entwicklungen von Planck [l. ce. 
Anm. 129)] implizite enthalten und, wurde hernach insbesondere von ©. Tolman, 
Phil. Mag. 21 (1911), p. 296 betont. 

181) H. A. Lorentz, Amst. Proc., l. c. Anm. 10). 

132) Siehe darüber H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 21, Gl. (77), 
(78). Das (deformierbare) Elektron konstanten Volumens von Bucherer sei seines 
historischen Interesses noch erwähnt: A. H. Bucherer, Mathemätische Einleitung 
in die Elektronentheorie 1904, p. 58. Siehe auch M. Abraham, Theorie d. Elek- 
trizität, 2, 3. Aufl., Leipzig 1914, p. 188. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 42 


636 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


gründen konnte. Auch braucht über die Natur der Masse nichts vor- 
ausgesetzt zu werden, vielmehr gilt (215), wie hier für elektromagne- 
tische Kräfte gezeigt wurde und wie in der relativistischen Mechanik 
für beliebige Kräfte verallgemeinert wird (vgl. Nr. 37), für jede pon- 
derable Masse. Die alte Auffassung, man könne durch Ablenkungs- 
versuche an Kathodenstrahlen die konstante „wahre“ von der „schein- 
baren“ elektromagnetischen Masse unterscheiden!??), läßt sich also 
nicht aufrechterhalten. 

Die Formel (215) für die Massenveränderlichkeit oder richtiger 
das Bewegungsgesetz (211) bietet die Möglichkeit, die Relativitätstheorie 
durch Versuche über die Ablenkung von raschen Kathodenstrahlen oder 
ß-Strahlen in elektrischen und magnetischen Feldern zu prüfen. Die 
älteren Messungen von Kaufmann!) schienen für die Abrahamsche For- 
mel zu sprechen, doch hat Kaufmann die Genauigkeit seiner Messungen 
überschätzt. Durch die Versuche von Bucherer‘®), Hupka'®) und Rat- 
nowski*??) neigte sich die Entscheidung bereits mehr der relativistischen 
Formel zu, und die neueren Messungen von Neumann'!??) [mit einer 
Ergänzung von Schäfer'?°)] sowie von Guye und Lavanchy"*®) sprechen 
eindeutig für die letztere. Die Theorie der Spektren gibt uns jedoch 
heute in der Feinstruktur der Wasserstofflinien ein viel genaueres 
Mittel, die Art der Abhängigkeit der Masse des Elektrons von seiner 
Geschwindigkeit zu finden“), und führte zu einer vollen Bestätigung 


133) Siehe z. B. H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 65. 

134) W. Kaufmann, Gött. Nachr., math -nat. Kl. 1901, p. 143; 1902, p, 291; 
1903, p. 90. Ann. d. Phys. 19 (1906), p. 487 und 20 (1906), p. 639. 

135) A. H. Bucherer, Verh. d. deutschen phys. Ges. 6 (1908), p. 688. Phys. 
Ztschr. 9 (1908), p. 755. Ann.d. Phys. 28 (1909), p. 513 und 29 (1909), p. 1063. 
Siehe auch die anschließenden Versuche von K. Wolz, Ann. d. Phys. 30 (1909), 
p. 373; sowie die Diskussion zwischen Bucherer und Bestelmeyer: A. Bestelmeyer, 
Ann. d. Phys. 30 (1909), p. 166; A. H. Bucherer, Ann. d. Phys. 30 (1909), p. 974; 
A. Bestelmeyer, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 231. 

136) E. Hupka, Ann. d. Phys. 31 (1910), p. 169; vgl. dazu auch die Dis- 
kussion von W. Heil, Ann. d. Phys. 31 (1910), p. 519. 

137) S. Ratnowsky, Dissertation Genf 1911. 

138) @. Neumann, Breslauer Dissertation 1914. Auszug in den Ann.d. Phys. 
45 (1914), p. 529; Referat von C. Schäfer über diese Neumannschen Versuche in 
Verh.d. deutschen phys. Ges. 15 (1913), p. 935; Phys. Ztschr. 14 (1913), p. 1117. 

139) C. Schäfer, Ann. d. Phys. 49 (1916), p. 934. 

140) Ch. E. Guye u. Ch. Lavanchy, Arch. de Geneve 41 (1916), p. 286, 
353, 441. 

141) K. @litscher, Dissertation München 1917, Auszug in den Ann. d. Phys. 
52 (1917), p. 608. Vgl. auch A. Sommerfeld, Atombau und Spektrallinien, Braun- 
schweig, 1. Aufl. 1919, p. 373ff., 2. Aufl. 1920, p. 870, der auf W. Lenz als ersten 
Urheber dieser Prüfung der Massenveränderlichkeit hinweist. 


29. Ponderomotorische Kraft und Dynamik des Elektrons. 637 


der relativistischen Formel, die deshalb jetzt als empirisch vollständig 
gesichert betrachtet werden kann. Die Massenveränderlichkeit bei 
anderen Massen als dem Elektron experimentell zu konstatieren, ist 
bisher wegen der Kleinheit der Effekte nicht gelungen, nicht einmal 
bei den schnellen «-Strahlen. 

Die Gleichung (211) läßt sich in eine vierdimensional invariante 
Form bringen, wenn man von der Kraft auf die Gesamtladung zur Kraft 


(215) = olE+-[uS]] 


auf die Volumeneinheit (Kraftdichte) übergeht. Dieser Ausdruck legt 
nämlich nahe, das Produkt des Flächentensors F,, mit dem Vierer- 
strom-Vektor s® zu bilden 


(216) = Fus. 
Der resultierende Vektor f, hat die Komponenten 
(217) ht Ariel) 


Die Kraft auf die Volumeneinheit (Kraftdichte) liefert die drei räum- 
lichen Komponenten eines Vierervektors, dessen zeitliche Komponente 
die (durch c dividierte) pro Zeit- und Volumeneinheit geleistete Arbeit 
(Leistungsdichte) ist. Dieser wichtige Umstand wurde im wesentlichen 
schon von Poincare!!*) erkannt und hernach von Minkowski?*®) klar 
formuliert. Aus (201) und (216) geht hervor, daß der Vierervektor f, 
der elektromagnetischen Kraftdichte auf dem Geschwindigkeitsvektor 
u senkrecht steht: 

(218) WW 0. 


Nun kann auch das Bewegungsgesetz (214) in vierdimensional 
invarianter Schreibweise formuliert werden, und zwar kann dies auf 
zweierlei Weise geschehen. Einmal können wir den Vierervektor K, 
mit den Komponenten 


(219) (RK, K, K)—- 


vi—p 
einführen. Daß diese Größen tatsächlich einen Vierervektor bilden, 
folgt aus den Transformationsformeln (213) für die Kraft. Man nennt 


ne die Minkowskische Kraft im Gegensatz zur Newtonschen Kraft 


8. Die Bewegungsgleichungen lauten dann einfach 


(220) mar — KR! oder m —K.. 


Kl‘) 





dr? 


11a) H. Poincare, 1. c. Anm. 11). 
54a) H. Minkowski, I, 1. c. Anm. 54). 
42* 


638 V 19. W. Pauli jr Relativitätstheorie. 


Zweitens kann man die Bewegungsgleichungen auf die Volumenein- 
heit beziehen. Bedeutet u, die Ruhmassendichte =, so wird 

d’zi du, ; 
(221) Krheieh 
Es muß jedoch bemerkt werden, daß der physikalische Sinn dieser 
letzteren Gleichungen, wenn sie auf das Elektron angewandt werden, 
nicht ganz durchsichtig ist (vgl. Abschn. V, Nr. 63), wenigstens so- 
lange man auch hier dem Vektor f, die durch (216) angegebene Be- 
deutung beilegt; sie gelten dann zunächst nur, wenn das Eigenfeld 
des betreffenden Teilchens auf der rechten Seite nicht miteinbezogen 
wird. 

Für © = 4 liefern die Gleichungen (220), (221) den Energiesatz, 
der eine Folge der Bewegungsgleichungen ist. In der Tat sind die 
4 Gleichungen (219) bzw. (221) nicht unabhängig voneinander, denn 
durch skalare Multiplikation mit w‘ erhält man nach (192) und (218) 
die Identität 0 = 0. 

Über die Verallgemeinerung der Definition des Kraftvektors und 
der Bewegungsgleichungen siehe Nr. 37. 


30. Impuls und Energie des elektromagnetischen Feldes. Diffe- 
rential- und Integralform der Erhaltungssätze. In der Elektrodynamik 
wird gezeigt, daß sich die Zorentzsche Kraftdichte f darstellen läßt 
als Resultierende der durch die Maxrwellschen Spannungen erzeugten 
Flächenkräfte und der (negativ genommenen) zeitlichen Änderung der 
Impulsdichte des Äthers.““) Jene sind definiert durch 


T,;; ag (E,E, Be 3€°6,,) IE (Hd Kr: PL) (i, k= 1, 2, 5) 


diese durch u - SS, S=.[EH]'%) 
und es gilt dann 
(D) j=dvr7—0. 


Es zeigt sich nun, daß sich diese Vektorgleichung mit der (skalaren) 
Energiegleichung 


OD) +irs-—(), WL@H4 HN) 


zu einer vierdimensionalen Vektorgleichung zusammenfassen läßt. Man 
bilde zunächst aus dem Flächentensor F',, den symmetrischen Tensor 
2. Ranges 


(222) 8— „(FF — FaFte) = PP — RP 08 


142) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 7. 
143) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 6. 


30. Impuls und Energie des elektromagnetischen Feldes usw. 639 


Es sei gleich hier bemerkt, daß sein Skalar verschwindet 


(225) S=(0. 
Seine Komponenten sind 
S:=—T,fürük=1,2,3 
(224) (SS) (Sr Sieg 
St=8,=84=—W. 


Die räumlichen Komponenten des Tensors S sind also (im wesent- 
lichen) gleich den Maxwelischen Spannungskomponenten, die räum- 
lich-zeitlichen gleich dem Poyntingschen Vektor und der Impulsdichte, 
die zeitliche gleich der Energiedichte. Die Gleichungen (D) und (E) 
lassen sich dann, wie zuerst von Minkowski'*) bemerkt wurde, durch 
Einführung des durch (216) definierten Vierervektors f zusammen- 
fassen in das Gleichungssystem: 


(225) 5 f=— Dir 9). 


Für <=1,2,3 stellt es den Impulssatz, für = 4 den Energie- 
satz dar. Man pflegt es deshalb als Impuls-Energiesatz und den Ten- 
sor S als Impuls-Energietensor des elektromagnetischen Feldes zu be- 
zeichnen. 

Es zeigt sich ferner, daß sich die Ableitung der Gleichung (C), 
(D) aus den Feldgleichungen (A), (B) durch die vierdimensionale 
Schreibweise erheblich vereinfacht: Die Formel (176) ist identisch mit 
(225), wenn man 9, mit dem Viererpotential, 7, mit dem Flächen- 
tensor der Feldstärken und s® mit dem Viererstrom identifiziert. Man 
braucht deshalb nur die in Nr. 23 unter a) gegebene Ableitung für 
den Fall konstanter g,, zu spezialisieren, wobei sie sich noch erheb- 
lich vereinfacht, um (225) zu erhalten. Doch ist auch die direkte 
Rechnung leicht auszuführen. 

Nicht nur in formaler, sondern auch in physikalischer Hinsicht 
bringt die relativistische Deutung des Impuls-Energiesatzes neue Ge- 
sichtspunkte. Wenn in jedem Koordinatensystem der Energiesatz 
[4. Komponente von (225)] gilt, folgt der Impulssatz von selbst. 
Beide Sätze gehen vollständig gleichwertig in die Beschreibung der 
Naturvorgänge ein. Entsprechend der Deutung des Vektors © in (E) 
als Energiestrom sind konsequenterweise die Größen T7,, als Kompo- 
nenten des Impulsstromes anzusprechen. Da der Impuls selbst schon 
ein Vektor ist, bilden sie (im gewöhnlichen Raum) einen Tensor, im 
Gegensatz zum Vektor & der Energieströmung. Die Mazxwellschen 


144) H. Minkowski, II, 1. c. Anm. 54). 


640 Vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Spannungen, die früher als reine Rechengrößen betrachtet wurden '#), 
erhalten hierdurch eine greifbare physikalische Deutung. Sie rührt von 
Planck‘) her. (Über die Verallgemeinerung dieser Deutung und der 
Gleichungen (225) für nicht elektromagnetischen Impuls vgl. Nr. 42.) 
An den Stellen, wo ponderomotorische Kräfte auf die Materie wirken, 
wird nach (225) elektromagnetischer Impuls aus mechanischem erzeugt 
oder in solchen verwandelt, und Analoges gilt von der Energie. (Über 
die Versuche, jeden Impuls und jede Energie als elektromagnetisch 
aufzufassen, vgl. Abschn. V.) An allen anderen Stellen strömen jedoch 
der Impuls und die Energie des elektromagnetischen Feldes wie eine 
im allgemeinen kompressible, im Spezialfall stationärer Felder sogar 
inkompressible Flüssigkeit mit unzerstörbarer Substanzmenge. 

Der Tensor $,, bezieht sich auf die Impuls- und Energiedichte, 
und es fragt sich, wie sich Gesamtenergie und Gesamtimpuls eines 
Systems beim Übergang zu einem bewegten Koordinatensystem ver- 
halten. Indem wir die Besprechung des allgemeinen Falles der Nr. 42 
vorbehalten, möge hier nur der Fall behandelt werden, wo Impuls und 
Energie rein elektromagnetisch sind, wo also die Kraftdichte f, und 
die elektrische Ladungsdichte überall verschwinden, so daß hier nach 


(225) 
k 
(225 a) AR, (Div S= 0) 


öak 





gilt. Dies trifft zu für das Feld einer beliebig gestalteten Lichtwelle, 
die frei durch den Raum hineilt. Sie mögc einen endlichen Raum er- 
füllen, damit auch ihre Gesamtenergie und ihr Gesamtimpuls endlich 
sind. In der Welt entspricht ihm eine Röhre von endlichem Quer- 
schnitt. Es sind hier also genau diejenigen Verhältnisse vorhanden, 
die in Nr. 21 vorausgesetzt wurden, und aus den dortigen Entwick- 
lungen folgt, daß aus den Größen $,* durch Integration über das Vo- 
lumen die Komponenten eines Vierervektors hervorgehen: 


(226) 4 [[s2aV. 


Nach (224) hängen sie in einfachster Weise mit dem Gesamtimpuls 


145) H. A. Loventz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 7, p. 163. 

146) M. Planck, Verh. d. deutschen phys. Ges. 6 (1908), p. 728; Phys. Ztschr 
9 (1908), p. 828. 

Akzeptiert man diese Deutung, so darf man sich allerdings nicht an dem 
paradoxen Umstand stoßen, daß eine Impulsströmung auch dann vorhanden sein 
kann, wenn die Impulsdichte überall verschwindet (wie es z. B. im rein elektro- 
statischen Feld der Fall ist). Bei der Energieströmung besteht keine derartige 
Möglichkeit. 


30. Impuls und Energie des elektromagnetischen Feldes usw. 641 


G und der Gesamtenergie E des Systems (der Lichtwelle) zusammen: 
(227) (AA, =, N-iE. 
Wir können also sagen: Gesamtenergie und Gesamtimpuls bilden in . 


unserem Fall einen Vierervektor. Daraus folgen nach (186), (187) so- 
fort die Transformationsformeln 





0,— = E 
G, = ———, @ =6, € =4@. 
j x wi Y y’ sin, 2) 
(228) an 
E = ——& 
\ yı—P 





Wir bemerken noch, daß der Vektor J, nicht raumartig sein kann. 
Wäre dem so, so gäbe es nämlich ein Koordinatensystem, in welchem 
@G=0, aber E=0 wäre Dies ist aber unmöglich, da E nur ver- 
schwinden kann, wenn überhaupt kein Feld vorhanden ist. Man hat 
also 


(229) I7I<0, @s®. 


G kann also nur ein Nullvektor oder zeitartig sein. Ein Beispiel für 
die erste Möglichkeit ist ein seitlich begrenzter ebener Wellenzug von 


endlicher Länge. Denn für diesen ist bekanntlich G = a Da man 


diese Beziehung J,J'=0 schreiben kann, muß sie für jedes Bezugs- 
system gültig sein. Ist « der in X gemessene Winkel zwischen Strabl- 
richtung und Geschwindigkeit des Systems X’ relativ zu K, so folgt 
ferner aus (228) die Einsteinsche Transformationsformel für die Energie 
einer endlichen ebenen Welle); 

‚ 1—Pcos« 
(228a) E'= IR E 
Ist dagegen J zeitartig, so gibt es stets ein Koordinatensystem K,, 
in welchem der Gesamtimpuls verschwindet. Ist E, der Wert der 
Gesamtenergie in diesem System, so folgt aus (228) für ein System 
K, relativ zu dem sich X, mit der Geschwindigkeit vd bewegt: 


(228b) Ai Bam 5: 
yragenit Syn 


Ein Beispiel dafür ist die Kugelwelle von endlicher Breite oder ein 
System von zwei entgegengesetzt gerichteten, sonst vollkommen gleichen 
ebenen Wellenzügen. Wegen der Verallgemeinerung dieser Relationen 
für nicht elektromagnetischen Impuls (bzw. Energie) siehe Nr. 42. 


147) A. Einstein, ]. c. Anm. 12), $ 8. 


642 Y 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


31. Das invariante Wirkungsprinzip der Elektrodynamik. Nach- 
dem bereits Poincare‘#) sich von der Invarianz des Schwarzschildschen 
Wirkungsintegrals'#?) gegenüber der Lorentzgruppe überzeugt hat, hat 
Born®“°) die vierdimensionale Vektorschreibweise auf das Wirkungs- 
prinzip angewandt und dasselbe auf diese Weise sehr übersichtlich 
gestaltet. 

Schwarzschild') bildet zuerst durch Integration über den drei- 
dimensionalen Raum die Lagrangesche Funktion 


for art fe(p— ! aum)ar 
nd erhält hiernach durch Integration über die Zeit die Wirkungs- 
funktion. Naturgemäß wird man die Integration über Raum und Zeit 


in ein vierfaches Integral vereinen.!*) Bezeichnen wir mit Z die In- 
variante 


(230) L=1F, Fr — 5: — 
so läßt sich die (doppelte) Wirkungsfunktion einfach schreiben 
(231) W—= /(L- 29,8) dz. 


Das in Frage kommende Wirkungsprinzip besagt nun, daß die Variation 
von W unter gewissen Bedingungen verschwindet: 

(232) oW =. 

Diese Bedingungen sind: 

1. Das Integral W werde über ein bestimmtes Weltstück integriert, 
unabhängige Variable seien die Komponenten 9, des Viererpotentials, 
die an der Grenze des Integrationsgebietes vorgegebene Werte haben 
sollen. Der Viererstrom s‘, d. h. die Weltlinien der elektrischen La- 
dungen und ihr Betrag werde nicht variiert. Nach Nr. 23, (174), 
(175) ist dann 
R oFik s‘) 

(233) oW = fee gr — 9p; 

und (232) liefert das zweite System der LAG 6 Gleichungen 
(208). Das erste System ist schon durch die Existenz des Vierer- 
potentials erfüllt und wurde von vornherein vorausgesetzt. 

2. Das Feld p‘ ist eine bestimmte Funktion der Weltkoordinaten 
und wird nicht variiert; dagegen sollen die Weltlinien der Materie 
variiert werden. Das Integral über L liefert dann keinen Beitrag zur 
Variation, das zweite muß erst umgeformt werden. Ist de das Ladungs- 


148) H. Poincare, Rend. Pal., l.c. Anm. 11). 

149) K. Schwarzschild, Gött. Nachr, math.-naturw. Kl., 1903, p. 125. Siehe 
auch H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 9. 

150) M. Born, Ann. d. Phys. 28 (1909), p. 571. 


31. Das invariante Wirkungsprinzip der Elektrodynamik. 643 


element, welches einem bestimmten Substanzelement zugeordnet ist, 
und x die Eigenzeit der zugehörigen Weltlinie (von einem irgendwie 
fixierten Nullpunkt an gerechnet), so kann man nach der Bedeutung 
(201) von s schreiben 


[na - iofae dr, [psaz- ifaef pl ar. 


Wir integrieren über den Weltzylinder, der erhalten wird, wenn man 
auf jeder Weltlinie der Substanz die gleiche Länge abträgt. Anfangs- 
und Endpunkte der Weltlinien sollen nicht variiert werden. Dann 
ergibt sich durch partielle Integration zunächst 


KR: dp; ni 09, ; Axk 
+ W=i ae ((&8 da’ — 50T) dr 





= — ifae F,,wdatdt, 
oder auch 


(234) 0W= — [F,80#4 3 — [föwdR. 


Born verfährt so, daß er der Variation der Substanz-Weltlinien noch 
die Nebenbedingung 


(235) 3 fas— 0 


hinzufügt. Nach Nr. 15 ist für eine Weltlinie mit stets zeitartiger 
Richtung, wie sie hier vorliegt, bei fixen Endpunkten und konstanten g,;: 


(236) of de; fi EM Satdr, 
also folgt aus (232) diesmal 
Mr fi 


wo u, ein konstanter Lagrangescher Multiplikator ist. Diese Rela- 
tionen stimmen mit (221) überein, wenn man u, als Ruhmassendichte 
deutet. Wie in Nr.29 ist hier vom Eigenfeld des betreffenden Teil- 
chens abgesehen. 


Weyl'') dagegen legt der Variation die Nebenbedingung (235) 
nicht auf, fügt aber zur Wirkungsfunktion noch ein Glied 


2fmedI — 2iefam- far 
hinzu: 
(231) w—=2/wedS+W, 8-0. 
Zufolge (234) und (236) folgt daraus ebenfalls (221). 


151) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., $ 32, p. 215. 


644 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


32. Anwendungen auf spezielle Fälle. «) Die Integration der 
Potentialgleichungen. Bekanntlich werden die Differentialgleichungen 
(207) und (209), wenn s’ als Funktion von Ort und Zeit gegeben ist, 
integriert durch 


u 
a a era 
’ a ’ c 52 
237) u TER Anm, Arrpg u) 


In diesen Ausdrücken für die Potentiale wird die Symmetrie der 
Differentialgleichungen in Raum und Zeit nicht voll ausgenutzt. Dies 
geschieht dagegen bei einem von Herglotz!°°) schon vor Aufstellung 
der Relativitätstheorie gefundenen Verfahren, welches von der parti- 


kularen Lösung 1 
Rpg 











der Gleichungen (209) ausgeht, in der jetzt PQ zwei Weltpunkte 
und R ihren vierdimensionalen Abstand bedeuten. Durch Multiplika- 
tion mit einer passenden Funktion s(Q) und Integration über eine den 
Strahl i>...oo positiv umfahrende Schleife in der komplexen tg-Ebene 
erhält Herglotz daraus den üblichen Ausdruck für das Potential. Der 
Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, daß man bei der Berechnung 
der Feldstärke erst differenzieren und hernach erst die komplexe 
Integration ausführen kann, wodurch die Rechnung übersichtlicher 
wird. Unter dem Einfluß der Relativitätstheorie hat später Sommer- 
feld’°*) das Herylotzsche Verfahren modifiziert und ergänzt. 

Für Punktladungen geht (237) über in das Wiechertsche Elemen- 





targesetz wc 
’ e c 
(238) inp,,— Buch! ae And,, Br Ba N 79) = 
Te Ense 
e 1-2 lie 


t> bedeutet den von dem Ort der Ladung zur Zeit t — z zum Auf- 


punkt gezogenen Vektor. Es gestattet nach Minkowski!®) eine ein- 
fache vierdimensional-vektorielle Deutung. Es sei 


(239) & = £(r) 


152) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 5, Gl. (XI), (XI). Von der 
seit Ritz [l. c. Anm. 21)] vielfach diskutierten Möglichkeit der Lösung durch 


vorauseilende Potentiale (in den Formeln t +2 statt E— 2) ist hier abgesehen. 
158) @. Herglotz, Gött. Nachr., math.-naturw. Kl., 1904, p. 549 
154) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 33 (1910), l. ce. Anm. 55), $ 7, p. 665 ff. 


155) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 17, Gl. (70). 
156) H. Minkowski, II, 1. c. Anm. 54). 


32. Anwendungen auf spezielle Fälle. 645 


die Weltlinie der Ladung als Funktion ihrer Eigenzeit, P wie oben 
der Auf-Weltpunkt. Durch diesen lege man einen „Nullkegel“ in die 
Vergangenheit. Er schneidet die Weltlinie der Ladung in einem be- 
stimmten Punkt @, und zwar in einem einzigen Punkt, wenn die 
Richtung der Weltlinie stets zeitartig ist. Sind x’ die Koordinaten 
des Aufpunktes P und 


(240) Xeli—h, 
so wird also durch die Forderung 
(241) XXt—=0 


der Punkt Q, und somit auch der zugehörige Wert von r als ein- 
deutige Funktion der x° bestimmt: 

(242) = fe). 

Die Ausdrücke (238) für die Potentiale lassen sich nun auf Grund 
von (205) und (190) sofort zusammenfassen zu 


(2382) NR fl 20 


Die Berechnung der Feldstärken wird durch Einführung der Eigen- 
zeit erheblich vereinfacht. Aus (241) findet man zunächst für die 
Ableitungen der Funktion (242) nach den Koordinaten z* von P: 


4 PE% 
Or et 2.0 
(243) 873) 


Die weitere Rechnung ist ganz elementar und ergibt für die Feld- 
stärken: 


° e g 
(244) 4a — — ur |e + (X, =) RX) 
e i au 

+ (TER). 
Setzt man in den Aufpunkt eine zweite Ladung @ mit dem Geschwin- 
digkeitsvektor @‘, so ergibt sich aus (216) die von der ersten auf die 
zweite Ladung ausgeübte Kraft 8: Für den durch (219) definierten 
Vierervektor K, der Minkowskischen Kraft folgt 


en et ee len 


— (Xu) ( =)] X, 


(245) s & 
SS araı [®+ (X, =) (X,@)u, 





646 V 19. W. Pauli jr. BRelativitätstheorie. 


Sommerfeld leitet sowohl das Wiechertsche Elementargesetz (238a) 
als auch die Ausdrücke (244), (245) durch komplexe Integration 
mittels des oben erwähnten Verfahrens ab. (245) ist in Überein- 
stimmung mit der von Schwarzschild'”) angegebenen „elementaren 
elektrodynamischen Kraft“. 


8) Das Feld der gleichförmig bewegten Punktladung. Da die Elek- 
tronentheorie mit der Relativitätstheorie im Einklang ist, kann letztere, 
was die Ermittlung des elektromagnetischen Feldes bei gegebener 
Elektronenbewegung anlangt, zu keinen anderen Ergebnissen führen 
als denen, welche bereits die vorrelativistische Lorentzsche Theorie 
erhalten hatte. Die Regeln für die Transformation der Feldstärken 
ersparen einem aber oft, auf die Differentialgleichungen oder auf die 
allgemeine Formel (244) zurückzugreifen, wenn das Feld für ein be- 
stimmtes Koordinatensystem bekannt ist. Handelt es sich z. B. darum, 
das Feld einer im System K gleichförmig bewegten Punktladung zu 
finden, so ermittle man zuerst das Feld im System K’, in welchem 
die Ladung ruht: ä 

€ — re r. 


2 


Aus (207) folgt dann sofort 








x y 
Be 
Tr — 
BER. 
Be ;, 


Bezeichnet r = (z, y, 2) den Vektor, dessen Endpunkt der Aufpunkt, 
dessen Anfangspunkt der mit jenem in K gemessen gleichzeitige Ort 
der Ladung ist, so wird 





(246) | [ 








Die elektrische Feldstärke ist also auch hier radial gerichtet, die 
magnetische steht senkrecht auf dem Radiusvektor und auf der Be- 
wegungsrichtung. Der Fläche gleicher absoluter Größe der elektri- 
schen Feldstärke ist im bewegten System nicht die Kugel, sondern 


157) K. Schwarzschild, Gött. Nachr., math.-phys. Kl. 1903, p. 132; vgl. auch 
H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Enceykl., Nr. 25. 

158) Diese Ableitung findet sich zuerst bei Poincare, Rend. Pal., l.c 
Anm. 11), $ 5. 


32. Anwendungen auf spezielle Fälle. 647 


das Heaviside-Ellipsoid, welches schon 1889 von Heaviside"”°) in die 
Elektrodynamik eingeführt wurde. Es erweist sich einfach als das 
Gebilde, in welches die Kugel durch eine Lorentz-Transformation über- 
geführt wird. 

Das Feld (246) kann auch durch Spezialisieren aus der all- 
gemeinen Formel (244) gewonnen werden. Man führe den Vektor X’ 
ein, der von der in unserem Fall geraden Weltlinie der Ladung aus- 
geht, auf ihr normal steht und im Auf-Weltpunkt endet. Im Ruh- 
system X’ sind seine Komponenten (r’,0). Man findet leicht 


Keui+ a ee ee a DZ = (X,u”), 


IXI-—4(&) 
also 
(246 a) 4nF, = 


° 


ET (X, — yX,). 

y) Das Feld der Hyperbelbewegung. Nach der gleichförmigen Be- 
wegung ist der einfachste Fall die „gleichförmig“ beschleunigte, das 
ist in der Relativitätstheorie die Hyperbelbewegung (s. Nr. 26). Das 
Feld einer Punktladung, welche eine Hyperbelbewegung beschreibt, 
wurde zum erstenmal von Born!) ermittelt. Sommerfeld‘°‘) bedient 
sich bei dessen Berechnung der Integration in der komplexen Ebene. 
Eine elementare Darstellung gibt auch Zaue.!®) Legt man den Ur- 
sprung des Koordinatensystems in den Mittelpunkt der Hyperbel und 
läßt die x!x*-Ebene mit der Ebene der Hyperbel zusammenfallen, so 
ist der Punkt 


Ss . $ 
g=aca_, S=-asn., !=i—0 


der Weltlinie (196) der Ladung, welcher durch (241) dem Aufpunkt 
z!,...x* zugeordnet ist, bestimmt durch 


R? 2 
(247) wen 9-. 
Hierin ist gesetzt 
(248) R=Yae, M=oc0p, H=osing. 
Die Komponenten des Viererpotentials werden 
SEE Hl RR ae FINE Rn 
(249) ee gen 4re sin (y— 9)’ 9=9—=0, x, Vera 


Ang sin (y — Q) 





159) Vgl. H.A.Lorentz, Art.V14 dieserEncykl.,Nr.11b, daselbstältereLiteratur. 

160) M. Born, 1. c. Anm. 114). 

161) A. Sommerfeld, 1. c. Anm. 115): 

162) M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig 1911, 
p. 108, $ 18d). 


648 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


In dem Koordinatensystem, in welchem die Ladung zur Zeit 
ı— — gerade ruht, verschwindet p, im Zeitmoment i. Im System, in 


welchem der Aufpunkt mit dem Mittelpunkt der Hyperbel gleichzeitig 
ist, ergibt sich für die Feldstärken 


E. = — ie 0% _ __iela ca $w—Y)—e] 
x 4resin’(!—9_) de 4mag" sin’ (d — 9) 
e_ a[R’+a°— 20} 
TR Hay Gare 














Re ie Ba 2 
2e a?o 





FÜR H a? — Late] 
(worin jetzt y statt x9 geschrieben ist). 


H=0. 
Die Hyperbelbewegung ist also auch dadurch ausgezeichnet, daß sie 
nicht mit Bildung einer Wellenzone und entsprechender Ausstrahlung 
verknüpft ist. (Dagegen ist Ausstrahlung vorhanden, wenn zwei ge- 
radlinig-gleichförmige Bewegungen durch ein Stück Hyperbelbewegung 
in einander übergeführt werden.) 

Es liegt nahe, zur Berechnung des Feldes der Hyperbelbewegung 
ein mit der Ladung mitbewegtes, also nicht Galileisches Bezugssystem 
einzuführen. Als x-Koordinate kann in demselben die oben mit go be- 
zeichnete Größe, als Zeit am besten der Winkel eingeführt werden, 
der bis auf einen Faktor mit der Eigenzeit der bewegten Ladung 
übereinstimmt. Das Linienelement in diesem Koordinatensystem wird 
(251) ds? — (dä)? + (A) + (a3)? + (EA) 

Go, Mei, ME Mg). 

Die Feldgleichungen in diesen Koordinaten können mit Hilfe der 
in Abschnitt II aufgestellten Hilfsmittel sofort hingeschrieben werden. 
Das Problem wird dann statisch, aber nicht eindimensional, die Rech- 
nungen vereinfachen sich nicht wesentlich. Es ist historisch inter- 
essant, daß schon Born!®°) das Problem durch Einführung eines mit- 
bewegten Systems behandelt hat. Der von ihm verwendete Zeitpara- 
meter ist ein anderer als der oben benutzte, die Differentialgleichungen 
erhielt er durch Zurückgreifen auf das von ihm bereits früher in in- 
varianter Weise formulierte Variationsprinzip (Nr. 31). 

ö) Invarianz der Lichtphase. Reflexion am bewegten Spiegel. 
Strahlungsdruck. In Nr. 6 wurden die relativistischen Formeln für 


168) M. Born, l.c. Anm. 114). 


32. Anwendungen auf spezielle Fälle. 649 


Dopplereffekt und Aberration aus der Invarianz der Lichtphase her- 
geleitet. Die Begründung für die letztere ergibt sich unmittelbar aus 
den Transformationsformeln für die Feldstärken. Da die Phase einer 
ebenen Welle überdies eine lineare Funktion der Raum-Zeitkoordinaten 
ist, kann sie als skalares Produkt aus dem Koordinatenvektor und aus 
einem Wellen-Vierervektor /, geschrieben werden 


(252) — ve + (lat. 
f ist der dreidimensionale Ausbreitungsvektor, dessen Richtung mit 
der der Wellennormale übereinstimmt und dessen Betrag gleich der 
reziproken Wellenlänge (Wellenzahl) ist. Ist speziell die Wellennor- 
male parallel der zy-Ebene, so wird 

(2523) = (7 eose, * sine, 0, =). 


c 

Im Vakuum ist /, ein Nullvektor. Die Transformationsformeln 
(15), (16) der Nr. 6 folgen unmittelbar. Auf Grund von (204) lassen 
sie sich leicht durch die Transformationsformeln für die Amplitude 
A ergänzen. Es ergibt sich 

‚ _ g1t—Pecose ig 

(253) 4 EN, ya ) 
Nimmt man noch die Transformation des Volumens V eines seitlich 
begrenzten, endlichen Wellenzuges hinzu: 


(254) RUN ER A 


1—Pßcos« 





so folgt für die Gesamtenergie E —= 4_4?V desselben wieder die For- 
mel (229a).1%) Der Vergleich mit (15) lehrt, daß sich Energie und 
Amplitude genau so transformieren wie die Frequenz, das Volumen 
dagegen umgekehrt: 

(255) Zi, 5 


v 


Die erste dieser Relationen hebt Einstein!®) als besonders bemerkens- 
wert hervor; das Wiensche Verschiebungsgesetz ist damit verknüpft. 

In engem Zusammenhange mit den Transformationsformeln für 
Frequenz und Richtung einer ebenen Welle beim Übergang zu einem 
bewegten Bezugssystem stehen die Gesetze der Reflexion am bewegten 
Spiegel (der als vollkommen leitend und eben vorausgesetzt werden 
möge). Diese Gesetze lassen sich nämlich offensichtlich durch Ein- 
führung eines mit dem Spiegel mitbewegten Koordinatensystems K’ 
auf die für einen ruhenden Spiegel gültigen zurückführen.!®) Die 


164) A. Einstein, 1. c. Anm. 12), $ 8. 
165) A. Einstein, ]. c. Anm. 12), $ 7. 


650 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Relativitätstheorie kann auch hier nur in der Form der Herleitung, 
nicht im Ergebnis etwas Neues bringen.!®) Die Formeln der älteren 
Theorie sind hier sogar exakt richtig, da alle vorkommenden Größen 
mit den Maßstäben und Uhren desselben Systems gemessen werden, 
Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation das Ergebnis somit nicht be- 
einflussen können. 

Seien &,«, die in X gemessenen Winkel der Normale der ein- 
fallenden und reflektierten Welle mit der Richtung der Geschwindig- 
keit des Spiegels, a,', «&, die entsprechenden Winkel in X’,v,,v, die 
Frequenzen der einfallenden und reflektierten Welle in X», =»;=v’ 
die entsprechenden Frequenzen in K’. Bewegt sich der Spiegel 
parallel seiner eigenen Ebene, so wird 02 =2x — «,', und aus (15), 
(16) folgt daraus auch „=22 —«,v;=v,. D.h. das Reflexions- 
gesetz unterscheidet sich in diesem Fall nicht von dem des ruhenden 
Spiegels. Daraus ergibt sich weiter, daß es immer nur auf die Ge- 
schwindigkeitskomponente in der Richtung der Spiegelnormale an- 
kommt. Wir können deshalb annehmen, daß der Spiegel sich normal 
zu seiner eigenen Ebene bewegt; seine Geschwindigkeit v sei positiv 
gezählt in der Richtung der Normale nach innen, «,,«&, sowie «’, & 
sind jetzt Einfalls- und Reflexionswinkel und es gilt 


G 


B=r—ı. 
Aus (15), (16) folgt dann 





(255) v,(1— ß cos «,) = v,(1 — ß cos «,) 
(256) v, Sind, = v, sin a, 
BER 1 . 
en) tg. 
Ferner 
cn —ß _ _ com, —P 
1-fcoac, 1— Pc’ 


woraus sich ergibt 
(257 a) (1+ PP) cos a, — 2P 


DEN. . Loc SElen 





und 
(258) =» 1— ae + ß 2 

Eine sehr elegante Methode, um diese Formeln abzuleiten, gibt 
Bateman.”) Um in K’ die Phase der reflektierten aus der der ein- 





166) Vgl. die vor Aufstellung der Relativitätstheorie erschienenen, ausführ- 
lichen Diskussionen der Reflexionsgesetze am bewegten Spiegel bei W. Hicks, 
Phil. Mag. 3 (1902), p. 9; M. Abraham, Boltzmann-Festschrift 1904, p. 85; Ann. 
d. Phys 14 (1904), p. 236; Theorie der Elektrizität (2), 1. Aufl, Leipzig 1905, 
p. 343, $ 40; ferner auch E. Kohl, Ann. d. Phys. 28 (1909), p. 28. 

167) H. Bateman, Phil. Mag. 18 (1909), p. 890. 


32. Anwendungen auf spezielle Fälle. 651 


fallenden Welle zu erhalten, hat man einfach x’ durch — x’ zu ersetzen. 
Dies ist zugleich der Übergang zum Spiegelbild. Um die entsprechende 
Transformation in X zu erhalten, hat man zuerst durch eine imaginäre 
Drehung um den Winkel + 9, der bestimmt ist durch (187), zu K’ 
überzugehen, dann die x-Achse umzuklappen und dann durch Drehung 
um — p wieder zu K überzugehen. Diese Operationen sind aber üquiva- 
lent mit einer Drehung um 2p und nachfolgender Umklappung der x- Achse. 

Setzt man also 

















U 
so wird nach (187): 
(259) 4 I 2c*v 
ar 
cos 29-15, sin2py=i . 

und die Transformationen 

[2 — Üt “ # 2 

I I nett 

V:-= 

(260) { VS 

Be ee e®+ vi 2v 

Er KAT TR ce? — v? c? v? 
L V: 





vermitteln den Übergang zwischen Gegenstand (z,?) und Bild (z,?) 
im bewegten Spiegel. Ein Punkt des bewegten Spiegels, für den 
x = vt ist, wird in sich selbst transformiert (= x, # = t), bewegt 
sich der Gegenstand mit derselben Geschwindigkeit wie der Spiegel 
(x«=vt-+.a), so gilt das gleiche vom Bild (#—=vt +ü), wie es sein 
muß. Das Bild eines in X ruhenden Punktes bewegt sich mit der 
Geschwindigkeit U, die man auch aus dem Additionstheorem der Ge- 
schwindigkeiten durch Zusammensetzen von v mit v erhält. Die Phase 
der am bewegten Spiegel reflektierten Welle geht aus der der ein- 
fallenden unmittelbar durch die Substitution (260) hervor, und die 
Relationen (257), (257a), (258) können, wenn man noch wegen der 
Umklappung der x-Achse überall x — «, statt «, einführt, völlig 
analog zu (16a), (16) und (15) geschrieben werden: 


(257) 





(257’a) cos (7 — ,) = —— 


1— —cose, 
c 


Enoyklop. d. math. Wissensch. V 2. 43 


652 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


U 
a 1— Yan a 
(258 ) Ve = v, TE 
ge 
Varicak!®) interpretiert diese Formeln durch die Bolyai-Lobatschewsky- 
sche Geometrie. 
Die Relationen (255) gestatten sofort, auch die Änderung der 


Amplitude bei Reflexion am bewegten Spiegel anzugeben.'®#®) 





ö DEE | ER 1—2Bßcoa,+P* 
(261) tar Areale 1— p? 


Die Differenz der pro Zeit- und Flächeneinheit austretenden Energie 
1 Ay’ (ccosa, — v) 
und der eintretenden 
+4,°(— ccos«, + v) 
muß gleich sein der pro Zeiteinheit vom Strahlungsdruck p geleisteten 
Arbeit pv.!%®) Daraus bestimmt sich p in Übereinstimmung mit dem 
Ergebnis der vorrelativistischen Theorie zu: 


(262) p—= 4’ ne — 4,” con?! a’ == p”. 


Der Lichtdruck ist eine Invariante. In Nr. 45 wird gezeigt, daß dies 
von jedem Druck gilt. 

&) Das Strahlungsfeld eines bewegten Dipols. Das Feld des Hertz- 
schen Resonators ist in (243) als Spezialfall enthalten. Handelt es 
sich überdies nur um das Feld in der Wellenzone (große Entfernung), 
so kann nicht nur X, vom Mittelpunkt des Dipols gezählt werden, son- 
dern auch für u, statt des Geschwingkeitsvektors der Einzelladungen 
der des Doppelmittelpunktes genommen werden. Bedeuteten v, dv 
Geschwindigkeit des Dipols, Beschleunigung der schwingenden La- 


dung zur Zeit t——, tr den von der retardierten, Rmrt—r— 
den von der gleichzeitigen Lage des Dipols zum Aufpunkt gezogenen 


Vektor, r, den Einheitsvektor - ‚„ ®%, den entsprechenden Vektor 


2 


a -, ® den Winkel zwischen vd und r, so erhält man 
mit Rücksicht auf (241): 


€ . {CHR — HR) 


Er 4nc’r(1— cos)?’ 





(269: 7: Pe (1— Fossör Rd] 


(9 rer S ß cos#)® (@& d) 2 7 [ö1,]} = [ne]. 


168) V. Varicak, 1.c. Anm. 111). 
1688) A. Einstein, l.c. Anm. 12), 8 7. 














32. Anwendungen auf spezielle Fälle. 653 


Die Relativitätstheorie gestattet ohne weiteres diese zuerst von 
Heaviside'®”) und dann genauer von Abraham!”®) abgeleiteten Ausdrücke 
aus den Hertzschen Formeln für das Feld des ruhenden Dipols ab- 
zuleiten. Das einfachste Verfahren besteht darin, daß man sich zu- 
nächst nach dem Vorgang von Poincare!”!) davon überzeugt, daß auch 
im bewegten System € und Ö aufeinander und auf r, senkrecht stehen 
und den gleichen Betrag haben. Man kann nämlich diesen Sachverhalt 
durch die invarianten Vektorgleichungen 


F,X=0, Fr, X=0 
ausdrücken. Sodann braucht man nur noch die Energiedichte aus 
der Transformationsformel für den Tensor S,, zu berechnen. 

Mit der vom bewegten Dipol ausgestrahlten Impuls- und Energie- 
menge beschäftigt sich vom Standpunkt der Relativitätstheorie 
M. v. Laue.''?) Die Gleichungen (228b) müssen hier zu recht be- 
stehen, da die Existenz des Wellenfeldes vom Vorhandensein der elek- 
trischen Ladungen unabhängig ist. Mit Rücksicht auf die Zeitdilatation 
folgt daraus für die pro Zeiteinheit ausgestrahlte Energie 


ar ©: Ar 
Br Te 0 
Im Ruhsystem ist aber 
dE' 0,5 
Pas Tall Try 


und die Transformationsformeln (193) für die Beschleunigung er- 
geben daraus sofort 








dE dy’ +0,’ e? 1 R (vo)? 

a er lee aaa liher) 
a6 _ vdE 
Dr ra er 


in Übereinstimmung mit der Abrahamschen Berechnung aus dem 
Feld (263). Die ausgestrahlte Energie setzt sich additiv zusammen 
aus den Anteilen, die von der longitudinalen und der transversalen 
Komponente von vd allein hervorgebracht würden. 

Betrachtet man den Vorgang vom System K’ aus, so erhellt, daß 
die Geschwindigkeit des Dipols durch die Ausstrahlung nicht geändert 


169) O. Heaviside, Nature 67 (1902), p 6; vgl. auch H. A. Lorentz, Art. V 14 
dieser Encykl., Nr. 14, p. 180 und die dort zitierte Literatur. 

170) M. Abraham, Ann. d. Phys. 14 (1904), p. 236; Theorie der Elektrizität 
2, 1. Aufl. (1905), $ 13—16. 

171) H. Poincare, Rend. Pal., l. c. Anm. 11), $ 5. 

172) M.v. Laue, Verh. d. deutschen phys. Ges. 10 (1908), p. 888; Ann. d. 
Phys. 28 (1909), p. 436. 

43* 


654 V 19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


wird (in X’ gleich Null bleibt). Infolge der Trägheit der Energie 
ist jedoch der Satz von der Erhaltung des Impulses trotz der Im- 
pulsausstrahlung (264) nicht verletzt (vgl. Nr. 41). 

&) Die Reaktionskraft der Strahlung. Wenn in dem betreffenden 
Moment vu = 0 ist, so ist die Größe der Reaktionskraft der Strahlung 
bestimmt durch 2. Kr 


Hieraus haben unabhängig voneinander Laue!*) und Abraham") 
durch eine Lorentz-Transformation den Ausdruck für die Reaktions- 
kraft auf eine bewegte Ladung abgeleitet. Hierzu genügt es nach 
(219) einen Vektor K, zu finden, dessen 3 räumliche Komponenten 
für v=0 mit obigem Ausdruck für X übereinstimmen und dessen 
zeitliche Komponente in diesem Fall verschwindet. Zu diesem Zweck 
mache man den Ansatz 


e? (d’u, 
(265) B— alte) 


und bestimme « aus der Bedingung X,wW“=0. Mit Rücksicht auf 
(159) und (192) findet man 


1 ‚du, 1 du, du* 
2 


(266) u zu 








und für £ Ka sich: 

dv Um: 3(00%) 
(265 a) 8 Fere gie Frei. # er — ß?) + el— Alu rem: ß*) )- 
Abraham'”°) bringt auch den SEEN daß das Zeitintegral von $, 
erstreckt über die Dauer der Ausstrahlung, gleich dem ausgestrahlten 
Impuls, und ebenso das Zeitintegral von (vS) gleich der ausgestrahl- 
ten Energie ist. Bei der Hyperbelbewegung verschwindet 8, wie es 
sein muß, da hier keine Ausstrahlung erfolgt (s. oben unter y). 





33. Minkowskis phänomenologische Elektrodynamik bewegter 
Körper. Durch die Feldgleichungen (203) und (208) der Elektronen- 
theorie sind alle Fragen der Elektrodynamik bewegter Körper prin- 
zipiell beantwortet. Wegen unserer noch unvollständigen Kenntnis 
des Aufbaues der Materie ist es jedoch berechtigt, die Frage zu stellen, 
was das Relativitätsprinzip über die (makroskopischen) Vorgänge in 
bewegten Körpern auszusagen gestattet, wenn man die Vorgänge in 
ruhenden Körpern als durch die Erfahrung gegeben annimmt. Diese 


173) Vgl. H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 20, p. 190, Gl. (74). 
174) M.v. Laue, l.c. Anm 172). 
175) M. Abraham, Theorie d. Elektrizität 2, 2. Aufl. (1908), p. 387. 


33. Minkowskis phänomenologische Elektrodynamik bewegter Körper. 655 


Frage hat Minkowski'*) beantwortet, indem er zeigte, daß aus den 
Maxwellschen Gleichungen 


(F) +0, divB—0 
(6) 9-19 I, dvd—g 
(H) D=:C, Bud, I=o6 


für ruhende Körper und dem Relativitätsprinzip die Gleichungen für 
bewegte Körper eindeutig folgen. Analog wie bei der vierdimensio- 
nalen Formulierung der Gleichungen der Elektronentheorie faßt man 
zuerst die Gleichungen, welche Ladungsdichte und Strom nicht ent- 
halten, zusammen und dann die übrigen. Dies gibt Anlaß zur Ein- 
führung der beiden Flächentensoren 


(267) (Fir Fir Fa) VE, (Fon Fan Fir) = ® 
(268) (Hy, Hi, H,) =iD, (By Hy, H,) =Ö 
und des Vierervektors 

(269) (IE 


mit den zugehörigen Transformationsformeln 




















> Sarg (+ 18)), 
(267 a) | tel 
Be feat) 
[21 gg DB, er yı —p® 
ei en (® + -18)), 
(268 a) a ce ln 
9 Bapı 9 9, un e Rn 1 
vol 
RL e—- wg) 
Ba) um LI, ei 


Wenn in K’ die Materie ruht, ist vd die Geschwindigkeit der Ma- 
terie in X (im Gegensatz zur Geschwindigkeit u der Elektronen) 


und = —. Die Gleichungen (F), (G) bleiben auch für bewegte 





176) H. Minkowski, II, 1.c. Anm. 54; siehe auch die Ableitung von A. Ein- 
sten und J. Laub, Ann. d. Phys. 26 (1908), p. 532, in der vom Tensorkalkül 
kein. Gebrauch gemacht wird. 


656 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Körper .. und schreiben sich 








OF, oF*ik 
er) er et (p—0). 
(271) el 


Streng gelten sie nur für gleichförmig bewegte Körper und wegen 
der Additivität der Felder auch bei Vorhandensein von mehreren 
Körpern, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten gleichförmig 
bewegen und durch Vakuumzwischenräume getrennt sind. Die An- 
näherung, mit der die Gleichungen (270), (271) gelten, wird allge- 
mein um so größer sein, je kleiner die Beschleunigung der Materie ist. 

Über die physikalische Bedeutung der in ihnen vorkommenden 
Größen ist zu sagen, daß &, D bzw. B, 9 im Vakuum die Kraft auf 
einen in K ruhenden elektrischen bzw. magnetischen Einheitspol sind; 
in ponderablen Körpern haben sie keine unmittelbar anschauliche Be- 
deutung. Ferner ist $, o auch im System X als Strom und Ladungs- 
dichte zu bezeichnen. Die Berechtigung hierzu ergibt sich im Nicht- 


leiter, wo $ = 0 ist, direkt aus indes denn hier wird e = En 


also de= odV invariant, und $= de ® stimmt mit dem Konvektions- 
strom überein. Ferner befriedigt J’ A die Kontinuitätsgleichung 


(272) ER) 





Deshalb ist $ allgemein Leitungs- + Konvektionsstrom und go die 
Ladungsdichte. 

Es ist ferner von Vorteil, statt &, 9 die in K gemessenen Kräfte 
E*, $* auf einen mit der Materie mitbewegten elektrischen bzw. magne- 
tischen Einheitspol einzuführen. Nach (213) und (267a), (268a) ist 


(273) ®-€+2p8, -H—--[12]. 


Im Gegensatz zu €, $ haben diese Vektoren auch im Innern der pon- 
derablen Körper eine unmittelbare physikalische Bedeutung. Auch die 
Feldgleichungen (270), (271) nehmen durch Einführung von €*, H* 
an Stelle von €, $ eine einfache und anschauliche Form an. Ist U 
ein beliebiger Vektor, so möge die Operation X definiert werden durch 


% nf Y,de— fi H,do"), 


wobei über eine mit der Materie mitbewegte Fläche zu integrieren 
ist. Dann wird 


2 = +odivr — rot [PA] 1”) 


177) Vgl. H. A. Lorentz, Art. V 13 dieser Encykl., Nr. 4, p. 78, Gl. (12), (13). 





33. Minkowskis phänomenologische Elektrodynamik bewegter Körper. 657 


und die Feldgleichungen lassen sich schreiben 


re ——B, divö=0 


(274) n 
rt DS, drd—o. 


3; bedeutet den Leitungsstrom: 
; v 


Die Gleichungen (274) gestatten auch ohne weiteres den Übergang 
zur Integralform.'”®) Aus den Transformationsformeln (269a) folgt, 
daß die Trennung des Stromes in Leitungs- und Konvektionsstrom nicht 
vom Bezugssystem unabhängig ist. Auch wenn in K’ keine Ladungs- 
dichte und bloß Leitungsstrom vorhanden ist, tritt in K eine Ladungs- 
dichte und somit auch Komvektionsstrom auf.“'*) Die betreffenden 
Transformationsformeln erhält man aus (269a) und (275): 





19) re TE ee 

u v 

—$ e+ —&$ 
(277) 0=o a _& ) _ ka ) 


a a 
(Über die elektronentheoretische Begründung dafür siehe die fol- 
gende Nr.) 

Die Gleichungen (F), (6) bzw. (274) bilden nur ein inhaltsloses 
Schema, solange nicht die Verknüpfungsgleichungen, die den Zusam- 
menhang zwischen €*, 5* und ®, B angeben, hinzugefügt werden. 
Man findet sie, indem man die bisher noch nicht verwendeten Glei- 
chungen (H) heranzieht. Aus (267a), (268a), (273) folgt sofort: 


D+ HI [E+ 8} =: C*, 


(278) h u 
B8 — — [vE] —uld Ay [v2]} = us”. 

178) Vgl. H. A. Lorentz, Art. V 13, Nr. 6 und Art. V14, Nr. 83. Die dort 
verwendeten Größen €, $’ sind mit unseren &*, $* identisch, und die Gleichungen 
(IT’a), (IV’a) 1. c. stimmen mit (274) überein. Die Gleichungen (III), (1V”) sind 
zwar ebenfalls gleichlautend mit (F), (G), doch ist der Zusammenhang zwischen 
9 und 9’ bei Lorentz ein anderer als der durch die zweite Beziehung (273) ge- 
gebene. Dagegen ist seine Größe € mit der unseren identisch [vgl. (106) 1. c. 
mit der ersten Gl. (273)]. Siehe auch Minkowskis eigenen Vergleich seiner For- 
meln mit denen von Lorentz [H. Minkowski, II, 1. c. Anm. 54), $ 9]. 

178a) H. A. Lorentz, Alte und neue Fragen der Physik, Phys. Ztschr. 11 
(1910), p. 1234; insbesondere p. 1242. M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 
1. Aufl., Braunschweig 1911, p. 119. 


658 Vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Nach ® und ® aufgelöst geben diese Gleichungen bei Elimination von 

















SL -mere-n[[20]-2(t0)) 
(278) ® ae 
a 
"a9 - (ne (29)} 
ae 1— ef? i 
und bei Elimination von &, 9 mittels (273): 
[e-t@e)] ine 
(278) Sa a 
[e-2@o)|+i0en 
Sees 1— 





Für unmagnetisierbare Körper (u = 1) stimmen diese Gleichungen in 
den Gliedern erster Ordnung mit dem von Lorentz angegebenen Zu- 
sammenhang von ®, ® mit seinen Größen €’, 5, die unserm €*, 9* 
entsprechen, überein!) 

Analog wie (278) aus den zwei ersten Relationen (H), geht die 
Differentialform des Ohmschen Gesetzes für bewegte Körper aus der 
letzten Gleichung (H) hervor. Nach (276), (267a), (273) ergibt sich 





(279) RR, u 
was man auch schreiben kann 

6 ® v /v 
ae) ee) 


Die Transformationsformel (277) für die Ladungsdichte kann jetzt 
auch geschrieben werden 


277 lee re) 

a = = ———. 

(277a) E a 

Für die Gleichungen (278), (279) hat Minkowski auch eine vier- 
dimensional-invariante Schreibweise angegeben: 


H,v’=&F,, v, 
(280) Fa=u HE vV oder 
Fu + Fu + F,uy=u(H,u+ H,0%+ H4v)"”) 


179) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 45, p. 227, Gl. (XXXIV”). 
Für unmagnetisierbare Körper ist nach Lorentz 


8-9-0+- mE] 


vgl. 1. c. (XXX’), sowie Nr. 42. 
180) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl. 1918, p. 158, Gl]. (46). 





34. Elektronentheoretische Ableitungen. 659 


und 

(281) + Wu — — 6 Far. 

Hierbei bedeuten v* die Komponenten der Vierergeschwindigkeit der 
Materie. Um die Richtigkeit dieser Gleichungen darzutun, braucht 
offenbar bloß der Nachweis erbracht zu werden, daß sie für das mit 
der Materie mitbewegte Koordinatensystem K’ in die Beziehungen 
(H) übergehen; von letzterem kann man sich unmittelbar überzeugen. 

Jede der drei Relationen (280), (282) stellt ein System von vier 
Gleichungen dar. Die vierte Gleichung ist jedoch eine Folge der 
übrigen, denn wenn man (280), (281) skalar mit v* multipliziert, so 
verschwinden beide Seiten identisch. 

Die Grenzbedingungen ergeben sich durch Lorentz-Transformation 
aus den Grenzbedingungen für ruhende Körper. An den Grenzflächen 
bewegter Körper müssen die Tangentialkomponenten von &* und $*, 
sowie die Normalkomponenten von ® stetig sein. Dabei ist jedoch 
angenommen, daß v stetig ist. Bei einem an das Vakuum grenzen- 
den Körper gelten die gleichen Bedingungen, wenn man in dem Aus- 
druck (273) für €*, 5*, v auf beiden Seiten der Geschwindigkeit des 
Körpers gleichsetzt. Es gilt auch für die Flächendichte » der elek- 
trischen Ladung D,, — D®,, = 4ro. Diese Bedingungen folgen auch 
direkt aus (274), wenn man verlangt, daß die zeitlichen Änderungen 
der Feldgrößen für einen mit der Materie mitbewegten Punkt, die 
man durch Anwendung des Operators 2 —+ (vgrad) erhält, stets end- 
lich bleiben müssen.'?") 

Ebenso wie die Minkowskischen Feld- und Verknüpfungsglei- 
chungen aus den entsprechenden Gesetzen für ruhende Körper durch 
eine Lorentz-Transformation hervorgehen, führt nach Ph. Frank'??) 


eine Galilei-Transformation zu den Gleichungen der Hertzschen 
Theorie.'#) 


34. Elektronentheoretische Ableitungen. Da die Feldgleichungen 
der Elektronentheorie gegenüber der Lorentz-Gruppe kovariant sind 
und für ruhende Körper durch Mittelwertsbildung die Maxwellschen 
Gleichungen ergeben, müssen sie für bewegte Körper notwendig auf 


181) Die Grenzbedingungen in der Minkowskischen Elektrodynamik werden ® 
diskutiert bei A. Einstein und J. Laub, Ann. d. Phys. 28 (1909), p. 445 und 
M. v. Laue, Das Relativitäteprinzip, 1. Aufl. 1911, p. 128 und 129. 

182) Ph. Frank, Ann. d. Phys. 27 (1908), p. 897. 

183) E. Henschke, Berl. Dissert. 1912; Ann. d. Phys. 40 (1913), p. 887 und 
I. Ishiwara, Jahrbuch f. Rad. u. Elektr. 9 (1912), p. 560; Ann. d. Phys. 42 (1918), 
p- 986 leiten die Feldgleichungen aus einer Verallgemeinerung des Variations- 
prinzips (232) her. 


660 V 19. W. Pauli jr. Belativitätstheorie. 


die Minkowskischen Feldgleichungen führen. Born!**) konnte dies nach 
hinterlassenen Aufzeichnungen von Minkowski in der Tat zeigen, indem 
er die Bewegung der Elektronen als eine variierte Bewegung der 
Materie auffaßte. Aus der ersten Variatior. argibt sich die elektrische 
Polarisation, aus der zweiten ein weiterer Anteil derselben sowie die 
Magnetisierung. 

Es blieb ferner aufzuklären, wieso Lorentz'®°) auf Grund der Elek- 
tronentheorie zu Gleichungen gelangt ist, welche von den Minkowski- 
schen verschieden sind. Für unmagnetisierbare Körper konnte bereits 
Ph. Frank'?®) nachweisen, daß dies an der Nichtberücksichtigung von 
Lorentz-Kontraktion und Zeitdilatation lag. Die naturgemäße Über- 
tragung des Lorentzschen Gedankenganges ins Vierdimensionale und 
zwar für beliebig beschaffene bewegte Körper gibt Dällenbach'®”). Der 
Tensor F,, wird definiert als der Mittelwert des mikroskopischen 
Feldtensors F\,, der Stromvektor J* als der Mittelwert des Anteiles 





Er “+ 50 u, der Leitungselektronen und der konvektiven La- 


dungen. Die Mittelwerte sind zu erstrecken über „physikalisch un- 
endlich kleine“ Weltgebiete. Nach (208) handelt es sich nun wesent- 
lich darum, den Mittelwert des Stromvektors g,u} der Polarisations- 
elektronen zu finden. Durch eine der Lorentzschen völlig analoge 
Betrachtung, wobei nur an die Stelle der Raumgebiete überall Welt- 
gebiete treten, ergibt sich 





(282) Yu, = 9 
wobei M'* zunächst definiert ist durch 
Mt — od. 


Da aber der Mittelwert von 
: * 
TE EA ek Tr FE 


verschwindet, kann man setzen 





(283) M+— 0 @W— En), 
Definiert man dann H‘* durch 
(284) H'* —= Fit __ M'*, 


so folgt (271) aus (208) durch Mittelwertsbildung. Ist die Geschwin- 


184) Minkowski-Born, Math. Ann. 68 (1910), p. 526; auch separat, Leipzig 
1910; siehe dazu auch A. D. Fokker, Phil. Mag. 39 (1920), p. 404. 

185) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Kap. IV. 

186) Ph. Frank, Ann. d. Phys. 27 (1908), p. 1059. 

187) W. Dällenbach, Dissert. Zürich 1918; Ann. d. Phys. 58 (1919), p. 523. 


34. Elektronentheoretische Ableitungen. 661 


digkeit der Polarisationselektronen relativ zum Molekülschwerpunkt 
klein gegen die Lichtgeschwindigkeit, so hängt der Flächentensor M,, 
mit der in üblicher Weise definierten elektrischen Polarisation 


B-NDIe 
und der Magnetisierung 
1 —— 
M—Nt Dels ul 


(zeitliche Mittelwerte, N — Zahl der Moleküle pro Volumeneinheit, 
u — Elektronengeschwindigkeit, & erstreckt über alle Elektronen eines 
Moleküls) in einfacher Weise zusammen: 


(as, me = 
LAN. 
(285) ! ; 
(M®, MM, M®) — M 
, , y° 
\ c? 





(v = Geschwindigkeit der Materie). 

Die Definition (284) von H‘* wird dann mit Rücksicht auf 
(267), (268): 
(284a) D-cC+B, H=-d—M 


Aus (285) folgen die Transformationsformeln: 


Bı N. PB, B; ug var) 








(2852) 








Ist ein im System K’ elektrisch unpolarisiertes Teilchen magnelisiert, so 
ist es in K auch elektrisch polarisiert; ist ein in K’ unmagnetisches Teil- 
chen elektrisch polarisiert, so ist es in K auch magnetisch."?®) Aus diesem 
Grunde ist es nicht sachgemäß, Magnetisierungselektronen von (elektri- 
schen) Polarisationselektronen zu unterscheiden, und wir haben deshalb 
oben beiden denselben Namen Polarisationselektronen gegeben, wobei 
an elektrische und magnetische Polarisation zu denken ist. Man kann 
sich von den Formeln (285a) natürlich auch ohne Benützung des 
Tensorkalküls auf Grund der Definition von ® und M Rechenschaft 
geben. Ist die Substanz speziell so beschaffen, daß im mitbewegten 


System K’ Pc —)E, Melk — VG, 


187a) H. A. Lorentz, 1. c. Anm. 178a). 


662 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


so folgen wegen der Kovarianz dieser Beziehungen gegenüber Lorentz- 
Transformationen unmittelbar die Tensorrelationen 


(286) | M„”=—(e—1)F,,v 

M,.%+ Mu + Mu = (u— 1) {H3u + Huv+ Hy}; 
die mit Hilfe von (284) in (280) übergehen. Man kann (286) auch 
schreiben | ER 1 pM] wer 


(286 a) ; 
M+ IP] — (u — 1%. 

Es bleibt noch übrig, die Transformationsformeln für Ladungs- 
dichte und Leitungsstrom theoretisch zu begründen. Sind N}, N_, 
u}, u_ die Anzahl der positiven bzw. negativen Teilchen pro Vo- 
lumeneinheit und ihre Geschwindigkeiten, so gilt definitionsgemäß 

o=e; N} —elN_ 

3% =e;N}u; —elN_ul und im System K: 
o=e, N, —e_N_, 

S=e N (u —dD)—e_N_ (u—D). 


Durch intermediäre Einführung der Koordinatensysteme X} und K?, 
in denen positive bzw. negative Teilchen ruhen, findet man nun aus 
dem Additionstheoren der Geschwindigkeiten die Beziehungen 


v 
1+(— uw 
vı— p* 
(u Pos 0), nm ww ),-,- Hr, 
+ (ar) 14 (Gi) 
(wobei die Indizes -- und — weggelassen wurden, weil die Formeln 


für beide Indizes vollkommen gleichlautend sind). Hieraus und aus 
der Invarianz der Ladung (e= e’) folgt dann sogleich (276) und (277). 
Insbesondere ist also eine elektronentheoretische Erklärung für das merk- 
würdige Auftreten von Ladung in bewegten, stromdurchflossenen Lei- 
tern gewonnen.'??b) 


35. Impuls-Energietensor und ponderomotorische Kraft der 
phänomenologischen Elektrodynamik. Joulesche Wärme. Das Re- 
lativitätsprinzip gestattet, aus den Ausdrücken für den Impuls-Ener- 
gietensor und die ponderomotorische Kraft bei ruhenden Körpern ein- 
deutig auf die in bewegten Körpern zu schließen. Für die ersteren 
wurden jedoch von verschiedenen Autoren verschiedene Ansätze ge- 


187b) H. A. Lorentz, 1. c. Ann. 187a). 


35. Impuls-Energietensor u. ponderom. Kraft der phänomenol. Elektrodyn. 663 


macht, und die Frage, welcher von ihnen vorzuziehen ist, kann noch 
nicht als endgültig geklärt gelten. Es mögen zuerst diejenigen Er- 
gebnisse der Relativitätstheorie besprochen werden, die von der spe- 
ziellen Wahl des Ansatzes für den Energietensor unabhängig sind. 

Energiedichte W, Energiestrom ©, Impulsdichte g und die Span- 
nungskomponenten 7‘, (, k=1, 2, 3) wird man wie für die Felder 
im Vakuum zu einen Tensor S,, zusammenfassen: 


S, = —T, fri,k=1,23,3 
(287) (Sy Spar Sg) = 09, (Su, Sa, Su) = — S 
Su=— MW. 


Über die Symmetrieverhältnisse dieses Tensors ist zunächst noch nichts 
ausgesagt. Die Gleichungen 


(288) (dv t— 
(289) F+dvS+Q+4=0 


geben die ponderomotorische Kraft und den Energiesatz ähnlich wie 
in (D), (E), Nr. 30. In letzterem bedeutet Q die pro Zeit- und Vo- 
lumeneinheit entwickelte Joulesche Wärme, A die pro Zeit- und Vo- 
lumeneinheit geleistete Arbeit 

(289a) A= (fp). 


Im Koordinatensystem X‘, in welchem die Materie im betreffenden 
Augenblick gerade ruht, verschwindet A. Naturgemäß wird man (288), 
(289) zur vierdimensionalen Vektorgleichung 





05, 
(290) = — 78 
zusammenfassen. Die Komponenten f, haben dann die Bedeutung: 
(291) ad)eh h=-(Q+A). 
Daraus folgt, daß f, hier nicht auf v* senkrecht steht, vielmehr ist 
(292 RER 0 
a vi=R 


Da die rechte Seite von (292) ebenso wie die linke invariant sein 
muß, folgt die Transformationsformel 


(293) a-gvI=R. 


Sie gilt wegen der Invarianz des vierdimensionalen Volumens auch 
für die gesamte bei einem bestimmten Vorgang entwickelte Wärme 
in Übereinstimmung mit der relativistischen Thermodynamik (vgl. 
Nr. 46) und erscheint hier als eine Konsequenz der Forderung, daß 
die Kraftdichte in der durch (288) angegebenen Weise aus Spannungs- 


664 Vı19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


tensor und Impulsdichte abgeleitet werden kann, im Verein mit dem 
Tensorcharakter von $,;,- 

Die Tatsache, daß /,v‘ von Null verschieden ist, führt zu einem 
eigentümlichen Dilemma. Die Bewegungsgleichungen können nämlich 
nur dann die Form (221) haben: 

dv, 


Mo az -[, 
wenn (f;v') = 0 ist, da die linke Seite, skalar mit v* multipliziert, 
identisch verschwindet. Man steht also vor der Alternative, entweder 
die Gleichungen (290) für die Viererkraft oder die Bewegungsglei- 
chungen (221) fallen zu lassen. Minkowski'?®) beschritt den erstge- 
nannten Weg. Er führt jedoch zu einer von (293) verschiedenen 
Transformationsformel für die Joulesche Wärme und somit zu einem 
Widerspruch mit den Forderungen der relativistischen Thermodynamik. 
Die richtige, von Abraham'®°) herrührende Formulierung ist folgende: 
In der allgemeinen relativistischen Dynamik wird gezeigt, daß jeder 
Energie träge Masse zugeschrieben werden muß (siehe Nr. 41 u. 42). 
Wird also Wärme entwickelt, so bleibt die Ruhmassendichte nicht 
konstant und die Bewegungsgleichungen müssen geschrieben werden 


(294) wu) =h. 


Hieraus folgt mit Rücksicht auf (292) durch skalare Multiplikation 
mit v, 


Ale _ 3 N 
nn ur Aura 
also 

du, __ Q 
(295 a) ee 


im Einklang mit dem Satz von der Trägheit der Energie (Nr. 41). 
Aus (294) ergibt sich die bemerkenswerte Tatsache, daß die Ge- 
schwindigkeit eines Körpers sich nicht immer zu ändern braucht, wenn 
auf ihn eine Kraft wirkt.!%) Betrachten wir z.B. einen in K’ ruhenden, 
stromdurchflossenen Leiter. Da der stationäre Strom (vom System K’ 
beurteilt) im ganzen auf ihn keine Kraft ausübt, bleibt er in Ruhe. 


188) H. Minkowski, I, 1. c. Anm. 54). 

189) M. Abraham, Rend. Pal. 28 (1909), p.1; vgl. auch die Diskussion zwi- 
schen Abraham und Nordström:, @. Nordström, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 681; 
M. Abraham, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 737; @. Nordström, Phys. Ztschr. 11 
(1910), p. 440; M. Abraham, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 527. Die Nordströmschen 
Einwände lassen sich nicht aufrechthalten. 

190) M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig 1911, p. 142. 


85. Impuls-Energietensor u. ponderom. Kraft der phänomenol. Elektrodyn. 665 


Dennoch wirkt nach (294) im System K eine Kraft auf ihn. Ein 
analoger Fall begegnete uns bereits in Nr. 32). 

Wir kommen nun dazu, die verschiedenen Ansätze für den Im- 
pulsenergietensor S;, zu diskutieren. Was zunächst ruhende Körper 
betrifft, so stimmen alle Autoren darin überein, daß für hysteresefreie 
Medien Energiedichte W und Energiestrom © gegeben sind durch 


(296) W=t/(ED)+ (HB) und S=c[EH). 


Während aber Maxwell und Heaviside'*‘) für den Spannungstensor 7 
(des dreidimensionalen Raumes) den Ansatz machten: 


(297) T,= Ed, —z(EDIH+ HB: HDI, Bk—1,2,3) 
akzeptiert Hertz'”') den in © und k symmetrischen Ausdruck 
298) T,—3(&D,+ &2,) — 3 (ED) + 39:8, + 9:28;) 
— (98) 9%, 
der sich in anisotropen Medien (Kristallen) von (297) unterscheidet. 


Ebenso sind auch für die Impulsdichte g zwei Ansätze möglich. Ent- 
weder 


(299) 9-- [88], 
was in homogenen, isotropen Medien nach (296) auch 
(299a) 9-46 


geschrieben werden kann. Oder 
' 1 
(300) 9= [EHI =. 


Sind die Ausdrücke für W, ©, T, g in ruhenden Körpern vor- 
gegeben, so sind die entsprechenden Ausdrücke für bewegte Körper 
eindeutig bestimmt, da die Komponenten eines Tensors in irgend- 
einem Koordinatensystem aus den Werten derselben in einem Ko- 
ordinatensystem ableitbar sind. Entsprechend der vorangestellten 
Zweideutigkeit im Ansatz von 7;,, und g hat man bisher für den 
Tensor $,, hauptsächlich die folgenden Ansätze diskutiert. 

1. Der Ansatz von Minkowski.'”) Er stützt sich auf die Aus- 
drücke (297), (299) für ruhende Körper. Wie leicht nachzuweisen 
ist, wird dann 


(301) SH PER 7,B ia 4BH,,F"* Ö5, 


191) Wegen der Literatur vgl. man H. A. Lorentz, Art. V 13 dieser 
Encykl., Nr. 23. 

192) H. Minkowski, Abb. II, 1.c. Anm. 54). Zu den gleichen Ausdrücken 
für $,, gelangten auch G@. Nordström, Dissert. Helsingfors 1908 und auf Grund 
eines Variationsprinzips J. Ishiwara, Ann. d. Phys. 42 (1918), p. 986. 


666 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


und die Ausdrücke (296), (297), (299) bleiben auch in bewegten Körpern 
gültig. Auch bleibt die im Vakuum gültige Relation (223) 

(223) 8 0 

bestehen. 

Die Viererkraft f, ergibt sich aus S} gemäß (290). Im Ruh- 
system K’ haben ihre Komponenten die Werte 
(302) ud erEHHSD, Ai ©. 

Es muß noch erwähnt werden, daß Dällenbach'??) auf Grund einer 
allerdings nicht zwingenden elektronentheoretischen Überlegung gleich- 
falls den Minkowskischen Impulsenergietensor abgeleitet hat, und zwar 
gibt er ihn in einer auch für beliebig inhomogene und anisotrope 
Medien gültigen Form an. Auf eine zweite Weise leitet er ihn aus 
einem Wirkungsprinzip ab, das ihm auch die Feldgleichungen ergibt.!?®) 

2. Der Ansatz von Abraham.!®) Die Unsymmetrie des Min- 
kowskischen Ausdruckes (301) für den Impulsenergietensor führt zu 
sehr merkwürdigen, der Erfahrung allerdings nicht direkt wider- 
sprechenden Folgerungen. Z.B. treten Drehmomente auf, welche nicht 
durch eine Änderung des elektromagnetischen Drehimpulses kompen- 
siert werden. Abraham'”) hat deshalb einen symmetrischen Impuls- 
energietensor konstruiert, indem er für ruhende Körper die Ausdrücke 
(298), (300) annimmt. Dies führt in homogenen, isotropen Medien auf 
[8% Sr EEE ua an 3,2” ER ER Ah 

— 3(u -YDwat+ u) 
Bea FH“ Be 2.80, RES (eu TER 1) Av 
te HR IE HF (en — 1), 
Der schon bei Minkowski vorkommende „Ruhstrahlvektor“ 2’ ist 
dabei definiert durch 


(304) B—F,%, H-H,% A—oF {HR + Huv+ His), 
In dem mit der Materie mitbewegten Koordinatensystem K’ haben 
die Komponenten der hier vorkommenden Vektoren die Werte 
u EI RATS 
AR) wei, —d. 
Die Identität der drei Ausdrücke (303) folgt aus ihrer Übereinstim- 
mung im Ruhsystem X’. Die Relation (223) ist hier gleichfalls gültig. 


(308) 





193) W. Dällenbach, 1. c. Anm. 187). 

194) W. Dällenbach, Ann. d. Phys. 59 (1919), p. 28. 

195) M. Abraham, Rend. Pal. 28 (1909), 1. c. Anm. 189) und ebenda 30 (1910), 
p. 33, Theorie d. Elektrizität 2, 3. Aufl., Leipzig 1914, p. 298 ff., $ 38, 89. 


35. Impuls-Energietensor u. ponderom. Kraft der phänomenol. Elektrodyn. 667 


Für bewegte Körper gelten hier die Ausdrücke (296), (298), (300) für 
W, ©, T,,, 9 nicht mehr, Abraham”) hat die betreffenden Ausdrücke 
sowie auch den für die ponderomotorische Kraft explizite ausgerechnet. 
Die hier verwendete vierdimensional invariante Formulierung rührt 
von Grammel'”) her. In der ponderomotorischen Kraft in ruhenden 
Körpern tritt beim Abrahamschen Impulsenergietensor zu (303) noch 
der Zusatzterm su—106 

le ı 
hinzu. Wegen der Kleinheit dieses Terms dürfte es kaum gelingen, ein 
praktisch ausführbares experimentum crucis zwischen den beiden An- 
sätzen anzugeben. Es sei noch erwähnt, daß Laue!””) sich den Abra- 
hamschen Annahmen anschließt. 

Ein sehr gewichtiges Argument für die Symmetrie des phäno- 
menologischen Impulsenergietensors scheinen uns folgende, gleichfalls 
von Abraham!) herrührende elektronentheoretischen Erwägungen zu 
sein. Die Viererkraft ist als Mittelwert der mikroskopischen Vierer- 
kraft aufzufassen, also nach (290) auch der Impulsenergietensor als 
Mittelwert des mikroskopischen.!”) Bei der Mittelwertsbildung geht aber 
die Symmetrieeigenschaft eines Tensors nicht verloren [ebensowenig wie 
das Bestehen der Relation (223)]. 

3. Der Ansatz von Einstein und Laub.?®) Zu einem sowohl 
von dem Minkowskischen als auch von dem Abrahamschen Ansatz 
für die ponderomotorische Kraft in ruhenden Körpern (und somit 
auch für den Impulsenergietensor) vollkommen verschiedenen Ergebnis 
kommen Einstein und Laub. Sie finden nämlich, daß sich die be- 
obachtete Kraftdichte = [3,9] 





auf einen ruhenden, stromdurchflossenen Leiter zusammensetzt aus 


einer Oberflächenkraft (1 — —) [9.] (9, > magnetische Feldstärke 
des äußeren Feldes) und der Kraft 

f Su [8, 9, ’ 
die als die eigentliche Volumkraft anzusprechen ist, im Gegensatz zur 


Gleichung (303), nach der die Volumkraft [3,8] ist. Der Impuls- 
energietensor, den die genannten Autoren angeben, ist ebenfalls dem- 





196) R. Grammel, Ann. d. Phys. 41 (1913), p. 570. 

197) M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig 1911, 
8 22, p. 135ff. 

198) M. Abraham, Ann. d. Phys. 44 (1914), p. 537. 

199) Die Einwendungen, die Dällenbach [l. c. Anm. 187)] dagegen erhebt, 
scheinen nicht stichhaltig. 

200) A. Einstein und J. Laub, Ann. d. Phys. 26 (1908), p. 541. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2, 44 


668 Vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


entsprechend zu modifizieren. Die Überlegungen von Einstein und 
Laub wurden jedoch von Gans?!) angefochten.??) 


36. Anwendungen der Theorie. «) Die Versuche von Rowland, 
Röntgen, Eichenwald und Wilson. Die Erklärung der genannten Ver- 
suche kann die Relativitätstheorie aus der Elektronentheorie?®) voll- 
kommen übernehmen, soweit es sich um unmagnetisierbare Körper 


"handelt und soweit Größen höherer Ordnung in e vernachlässigt 


werden können.?%) Die letztere Vernachlässigung möge zunächst auch 
hier beibehalten werden, dagegen sollen beliebige Werte für die Per- 
meabilität u zugelassen werden. In der Ausdehnung der Theorie auf 
magnetisierbare Körper ist ein wesentlicher Fortschritt zu erblicken, 
den die Elektrodynamik von Minkowski hier gebracht hat. 

Der Versuch von Rowland weist nach, daß der Konvektionsstrom 
dasselbe magnetische Feld erzeugt wie ein Leitungsstrom von der 


Stärke o a Seine Erklärung folgt unmittelbar aus den Feldglei- 


chungen (G) und den Transformationsformeln (269a) für den Strom 3. 
Wenn er früher als ein Argument für die Existenz des Äthers heran- 
gezogen wurde, so muß dem vom relativistischen Standpunkt entgegen- 
gehalten werden, daß er bloß die von der Relativitätstheorie geforderte 
Abhängigkeit der Zerlegung des elektromagnetischen Feldes in einen 
elektrischen und einen magnetischen Teil vom Bezugssystem beweist. 

Röntgens?®®) Versuch besteht in dem Nachweis, daß bei der Be- 
wegung eines Dielektrikums in einem elektrischen Feld an dessen Be- 
grenzung ein Flächenstrom auftritt, der ein magnetisches Feld erzeugt. 
Eichenwald zeigte hernach, daß seine Größe 


(305 a) I" BR Pe IE 


beträgt, wo ® die Polarisation des Dielektrikums bedeutet. Bei der 
praktischen Ausführung des Versuches rotiert das Dielektrikum zwischen 
den Platten eines Kondensators. Doch ist es jedenfalls mit weit- 
gehender Näherung zulässig, die Theorie für gleichförmig bewegte 
Körper auf diesen Fall zu übertragen. Sei also ein Dielektrikum 


201) R. Gans, Über das Biot-Savartsche Gesetz, Phys. Ztschr 12 (1911), p. 806. 

202) Die Angabe von Grammel [l. ce. Anm. 196)], die Ausdrücke von Ein- 
stein und Laub für die ponderomotorische Kraft widersprächen dem Relativitäts- 
prinzip, ist unrichtig, da diese Ausdrücke nur für das Ruhsystem K’ Gültigkeit 
beanspruchen. 

203) Vgl. H. A. Lorentz, Art. V 13 dieser Encykl., Nr. 17 und Art.V 14, 
Nr. 84. Daselbst ältere Literatur. 

204) Vgl. dazu auch A. Weber, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 134. 


36. Anwendungen der Theorie. 669 


parallel den Kondensatorplatten bewegt, E, = » die Flächendichte der 
(freien) Ladung auf denselben. Da ® quellenfrei ist und im Außenraum 
mit 5 übereinstimmt, genügt es, die Wirbel von B zu untersuchen. 
Da wir es hier ferner mit einem stationären Feld zu tun haben, sind 
nach (F), (G), & und 9 wirbelfrei. Wir wollen nun Größen von 


höherer Ordnung in -- konsequent vernachlässigen. Mit Rücksicht 


darauf, daß 5 und ® selbst Größen erster Ordnung sind, folgt dann aus 
(278a) Da es 


Bud — (an — DE: 
Der Wirbel von B ist also bestimmt durch den Wirbel von (eu — 1) - €] ; 


der sich hier auf einen Flächenwirbel j reduziert vom Betrag 
(305b) il= ler — DIE], 

wo |&| der Wert von & im Innern des Dielektrikums ist, und von 
der Richtung von vd. Für u—=1 reduziert sich dies auf den Wert 
(3052) der Elektronentheorie. Für magnetisierbare Körper wurde der 
Effekt nicht untersucht. 

Das Gegenstück zum Versuch von Eichenwald ist der von H. A. Wil- 
son.?®) Zwischen den Platten eines kurzgeschlossenen Kondensators 
rotierte ein dielektrischer Zylinder in einem parallel zu den Konden- 
satorplatten gerichteten Magnetfeld. Es zeigte sich eine Aufladung 
der Platten. Wir ersetzen wieder die Rotation durch eine geradlinige 
Bewegung, und zwar möge sie parallel zu den Platten, aber senkrecht 
auf dem Magnetfeld erfolgen. Nach (F') läßt sich € zunächst aus 
einem Potential p ableiten. Da nun die Platten kurzgeschlossen waren, 
folgt 9, — 9 = 0 und somit auch E = 0, und D gibt direkt die ge- 
suchte Ladungsdichte &. Die Grenzbedingungen verlangen in diesem 
Fall, daß $ keinen Sprung erfährt. Nach (278a) wird also 


— 1)BH 

(3062) Be re (eu — 1)BH. 

Für unmagnetisierbare Körper folgt das Ergebnis der Elektronentheorie 
(306b) o=(e— 1)$H. 


205) H. A. Wilson, Phil. Trans. (A) 204 (1904), p. 121. Über einen älteren 
negativ verlaufenen Versuch von Blondlot mit Luft als Dielektrikum sowie über 
den Standpunkt der älteren Elektronentheorie vgl. II. A. Loren’z, Art. V 13 
dieser Encykl., Nr.20; Art. V 14, Nr. 45. Über die Diskussion des Wilsonschen 
Versuches vom Standpunkt der Relativitätgtheorie siehe A. Einstein und J. Laub, 
l. c. Anm. 176); M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig 1911, 
p. 129f.: H Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl., Berlin 1918, p. 155. 

44* 


670 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


- H. A. und M. Wüson?®) ist es gelungen, den Effekt auch an einem 
magnetisierbaren Isolator, den sie sich durch Einbetten von Stahl- 
kugeln in Siegellack künstlich herstellten, zu messen. Das Ergebnis 
bestätigt den relativistischen Wert (306a) für die Ladungsdichte. 

Die ältere Hertzsche Theorie gibt statt (3052) und (306a) die 
mit der Erfahrung unverträglichen Werte 


il=BlE| und o— PH. 


ß) Widerstand und Induktion in bewegten Leitern.?) Auf Grund 
von (279) findet man, daß für ein endliches bewegtes Leiterstück 


(307) R,J — [(€*d8), 


wo R, den Ruhwiderstand des Leiters und J=|{$| q bedeutet. Die 
durch (280) gegebene Veränderung der Leitfähigkeit wird nämlich 
durch die Veränderung der Drahtlänge und des Drahtquerschnittes 
infolge der Lorentz-Kontraktion bei der Berechnung des Widerstandes 
gerade kompensiert. So stellt sich der Versuch von Trouton und 
Rankine?®) von einem bewegten System K aus gesehen dar. Das In- 
duktionsgesetz für bewegte Leiter folgt aus der ersten Gleichung (274) zu 


i d 
(308) Seas) — ;,S®.d45, 
dagegen ist 


Seas + 5, fß,do. 


Aber (308) ist auch durchaus in Übereinstimmung mit der Erfahrung, 
da nach (279) nicht &, sondern €* den Leitungsstrom bestimmt. 

y) Die Ausbreitung des Lichtes in bewegten Medien. Mitführungs- 
koeffizient. Versuch von Airy. Um die Gesetze der Lichtausbreitung 
in bewegten Medien zu finden, ist es nicht nötig, auf die Feld- 
gleichungen zurückzugreifen. Vielmehr müssen sie sich direkt aus 
den Gesetzen für ruhende Körper durch Lorentz-Transformation er- 
geben. Wir betrachten zunächst ein nicht absorbierendes Medium. 
Die invariante Lichtphase ist wieder durch (252) gegeben, wobei jetzt 
I, die Komponenten hat: 

(309) „= (Zcose, 4 sine, 0, 7), 


c 


wenn die z-Achse senkrecht zur Körpergeschwindigkeit und zur 

206) H. A. u. M. Wilson, Proc. Roy. Soc. (A), 89 (1913), p. 99. 

207) Man vgl. hierzu M. Abraham, Theorie d, Elektrizität 2, 3. Aufl., Leipzig 
(1914), p 388; M. v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig (1911), 
p. 126f.; H. Weyl, Raum—Zeit—Materie, 1. Aufl., Berlin (1918), $ 22. 

208) F.T. Trouton und A.O. Rankine, l. c. Anm. 15). 


36. Anwendungen der Theorie. 671 


Wellennormale gelegt wird. Im mitbewegten System K’ ist speziell 
(310) uw. 
Daraus folgen die Transformationsformeln 


® 
1+— cos«’ 
I. 











3lla vn ya 
. yızp 
1 ; x 
— c08& c . v . ’ 
I cs —=v'w + Pl " sine—= sin« 
w , w w 
yı— ß® 
1 3 1 day se 
1 7 cos a + ß/e 1 zeinayı—P 
„ce a= - l „ine= i 
Ef ’ 1 Get o ’ 
IR co8s« * cos« 
sin«@’yVi — ß? 
(311b) ge Ze 





RE 7 
cosc + N 


(311e) wc ER Pamen — 
Vin cos @’+ P)’+ n? sin? «(1 — P?) 

Die Relation (311a) gibt den Dopplereffekt, (311b) die Aberration, 
(311c) den Mitführungskoeffizient. Sie stimmen in Gliedern erster 
Ordnung mit den Ausdrücken der älteren Theorie überein. Letztere gibt 
(311d) u-—+ (1 — „.) cos «'. 

(Über den Einfluß der Abhängigkeit des Brechungsindex von der 
Wellenlänge siehe Nr. 6.) Das Brechungsgesetz an bewegten Grenz- 
flächen läßt sich ebenfalls durch Lorentz-Transformation aus dem für 
ruhende Grenzflächen gewinnen, führt aber zu verwickelten Formeln. 

Es ist hier auch das experimentelle Ergebnis von Airy?®) zu be- 
sprechen, wonach der Aberratiouswinkel sich nicht ändert, wenn man 
das Fernrohr mit Wasser füllt. Die ältere Theorie?) mußte, um ihn 
zu erklären, ziemlich umständliche Betrachtungen anstellen, da sie den 
Vorgang von einem Bezugssystem aus beschreiben mußte, relativ zu 
dem sich der Beobachter (die Erde) bewegt. Betrachtet man ihn je- 
doch von einem mitbewegten System aus, so ist das Airysche Resultat 
vom relativistischen Standpunkt aus selbstverständlich. Richtet man 
nämlich das Fernrohr auf den scheinbaren Ort des Fixsterns, so fallen 
die von diesem entsandten Lichtwellen senkrecht auf dieses auf. Füllt 
man es nun mit Wasser, so müssen sich dann auch die Lichtwellen 








208) @. B. Airy, Proc. Roy. Soc. 20 (1871), p. 35; 21 (1873), p. 121; Phil. 
Mag. 43 (1872), p. 310. 

209) Vgl. H. A. Lorentz, Arch. neerl. 21 (1887), p. 103 [Ges. Abh. XIV, 
p. 341], daselbst ältere Literatur. 


672 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


im Wasser senkrecht zur Grenzfläche ausbreiten. Der Aörysche Ver- 
such vom mitbewegten System (Erde) aus gesehen, zeigt also vom 
relativistischen Standpunkt aus nur die triviale Tatsache, daß beim 
Einfallswinkel O (senkrechte Inzidenz) auch der Brechungswinkel 0 ist. 

Man bemerkt, daß die Relationen (311b, ce) dem Additionstheorem 
der Geschwindigkeiten nicht entsprechen. Bloß für « = 0 ergibt sich 
Übereinstimmung mit demselben (vgl. Nr. 6a). Laue*!%) führt dies 
auf die Verschiedenheit der Richtung des Strahles und der Wellen- 
normale zurück. Definiert man die Strahlgeschwindigkeit der Rich- 
tung und Größe nach durch 
(212) vw = 

(S = Poyntingscher Vektor, W = Energiedichte), 

so sollen die Transformationsformeln für die Komponenten von Ww, 
dem Additionstheorem der Geschwindigkeit streng genügen. Aus der 
Rechnung von Scheye®"') geht hervor, daß dies in der Tat der Fall 
ist, wenn man den Minkowskischen unsymmetrischen Impuls-Energie- 
tensor zugrunde legt. Aus dem Energiesatz folgt überdies in diesem 
Fall, daß die Phasengeschwindigkeit w gleich wird der Komponente 
der Strahlgeschwindigkeit in der Richtung der Wellennormale. Legt 
man jedoch den Abrahamschen Tensor (304) zugrunde, so werden 
die Verhältnisse komplizierter und das Additionstheorem der Ge- 
schwindigkeiten gilt auch nicht für die Strahlgeschwindigkeit. 

Die Verallgemeinerung für absorbierende (leitende) Medien bietet 
prinzipiell nichts Neues. Es mag nur erwähnt werden, daß nach 
(277a) eine im bewegten Leiter fortschreitende Lichtwelle mit einer 
periodisch veränderlichen Ladungsdichte verbunden ist. 

ö) Signalgeschwindigkeit und Phasengeschwindigkeit in dispergieren- 
den Medien. In dispergierenden Medien kommt der Fall vor, daß die 
Phasengeschwindigkeit einer Lichtwelle >c ist. Dies scheint der 
Forderung der Relativitätstheorie zu widersprechen, daß keine Wirkung 
sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten kann (vgl. Nr. 6). Diese 
Schwierigkeit wurde durch eine Untersuchung von Sommerfeld?'?) be- 
seitigt, in der auf Grund der Elektronentheorie nachgewiesen wird, 
daß der Wellenkopf sich immer mit der Vakuumlichtgeschwindigkeit 
c ausbreitet, die Möglichkeit, mit Überlichtgeschwindigkeit Signale zu 
geben also in Wirklichkeit nicht vorliegt. Vervollständigt wurde 


210) M.v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl. (1911), p. 134. 

211) A. Scheye, Über die Fortpflanzung des Lichtes in einem bewegten Di- 
elektrikum, Ann. d Phys. 30 (1909), p 805. 

212) A. Sommerfeld, Heinr -Weber-Festschrift: Phys. Ztschr. 8 (1907), p. 841; 
Ann. d. Phys. 44 (1914), p 177. 


37. Die Bewegungsgleichungen. Impuls und kinetische Energie. 673 


dieses Ergebnis noch durch Brillouin!?), der zeigte, daß abgesehen 
vom Absorptionsgebiet der Hauptteil des Signals sich mit der 
Gruppengeschwindigkeit ausbreitet. 


c) Mechanik und allgemeine Dynamik. 


37. Die Bewegungsgleichungen. Impuls und kinetische Energie. 
Die relativistische Mechanik?'?*) geht von der Annahme aus, daß in 
einem Koordinatensystem X’, in welchem ein Massenpunkt im be- 
treffenden Zeitmoment ruht, die Bewegungsgleichungen 


(313) m = f 


der alten Mechanik zu Recht bestehen. Das Relativitätsprinzip ge- 
stattet dann in eindeutiger Weise auf die Bewegungsgesetze in irgend- 
einem anderen Koordinatensystem K zu schließen, indem man einfach 
auf (313) eine Lorentz-Transformation ausübt. Damit ist aber noch 
nicht bestimmt, was man als Kraft im System X definieren soll, da 
in den drei Bewegungsgleichungen ein gemeinsamer Faktor, der in 
beliebiger Weise von der Geschwindigkeit abhängen kann, zunächst 
willkürlich bleibt. Hier gibt es zwei wesentlich verschiedene Wege, 
um diese Unbestimmtheit zu beseitigen. 

Entweder man macht eine Anleihe bei der Elektrodynamik. Ak- 
zeptiertt man nämlich den Lorentzschen Ausdruck für die pondero- 
motorische Kraft für beliebig schnell bewegte Ladungen, so ist damit 
auch ein Transformationsgesetz für die Kraft gegeben (vgl. Nr. 29). 
Daß sich alle Kräfte in derselben Weise transformieren, folgt daraus, 
daß zwei Kräfte, die sich im System X aufheben, sich auch in jedem 
anderen System X aufheben müssen. Die Formeln (213), (214), (215) 
lassen sich sofort für beliebige Kräfte verallgemeinern. An Stelle von 
(217) tritt der Vierervektor Kraftdichte— Leistungsdichte: 


(314) Khamd-h A=ili-), 
der auf der Vierergeschwindigkeit senkrecht steht: 
(315) put = 0. 


213) L. Brillouin, Ann. d. Phys. 44 (1914), p. 203. 

213a) Wenn im folgenden von relativistischer Mechanik die Rede ist, so 
ist damit stets die Mechanik der speziellen Relativitätstheorie, also die Mechanik 
der Lorentzgruppe gemeint. Gegen die Verwendung des Wortes „relativistische 
Mechanik“ in diesem Sinne ließe sich einwenden, daß die klassische Mechanik 
auch relativistisch ist, da sie ja dem Relativitätspostulat genügt. Es hat jedoch 
das Wort relativistisch bereits vielfach die spezifische Bedeutung „relativ gegen- 
über der Lorentzgruppe“ bekommen, wie dies ja auch im Terminus spezielle 
Relativitätstheorie selbst der Fall ist. 


674 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Dann gelten wieder die Bewegungsgleichungen 
dei du; 
(316) went oder ng, 
in der u, die (invariante) Ruhmassendichte bedeutet. Man kann auch 
die durch (219) definierte Minkowskische Kraft K, einführen und die 
Bewegungsgleichungen in der Form (220) schreiben. 
Aus den Gleichungen 


d 
dt (mu) == R 
(317) und a 
di me — (Ku) 
folgt, daß der Impuls gegeben ist durch 
318a G— mu = — _ 24 
(8183) u) 





und die kinetische Energie durch 
Exin = mc? + konst = 


m, ec? 
vi 
Man könnte daran denken, die Konstante so zu bestimmen, daß Exin 
für einen ruhenden Massenpunkt verschwindet. Es erweist sich jedoch 
als praktischer, die Konstante gleich Null zu setzen. Die Energie 
des ruhenden Massenpunktes wird dann m,c? und allgemein 

REN RE a 
(318b) E=mn®= ri 
Für kleines 8 folgt daraus durch Potenzentwicklung 
E=m*1+3P)=E + 3m 
in Übereinstimmung mit der alten Mechanik. Die Zweckmäßigkeit 
der hier getroffenen Festsetzung wird durch die Bemerkung ersicht- 
lich, daß dann die Größen 








—+ konst. 


(319) (Ju, J, J)=.c6, J=iE 
die Komponenten eines Vierervektors bilden. Es ist nämlich 
(320) J, = mMChr- 


Daraus folgt weiter, daß für unsere Größen ©, E genau die gleichen 
Transformationsformeln gelten, wie für Impuls und Energie eines ab- 
geschlossenen, kräftefreien, elektromagnetischen Systems (Lichtwelle), 











vgl. (228): PAST, 
le; VE < ’ has G,, G, ae G, 
(321) vi —P 
| Br E—v@,, 
vi —p® 


mit den entsprechenden inversen Formeln. Sie gelten auch für Im- 
puls und Energie eines Systems von kräftefrei bewegten Massenpunkten. 


214) M. Planck, 1. c. Anm. 129). 


38. Von der Elektrodynamik unabhängige Begründung der relat. Mechanik. 675 


Die Bewegungsgleichungen sowie die Ausdrücke für Impuls und 
Energie .der relativistischen Mechanik gehen für kleine Geschwindig- 
keiten in die der alten Mechanik über, wie das von vornherein zu 
erwarten ist. Es gilt aber noch mehr: Die Abweichungen der rela- 
tivistischen Mechanik von der gewöhnlichen sind von zweiter Ordnung 


in Darin müssen wir mit Laue?\*®) den Grund dafür erblicken, 


daß die ältere Elektronentheorie, die auf der gewöhnlichen Mechanik 
fußt, alle Effekte erster Ordnung richtig erklären konnte. 

Minkowski?'?) hat auch noch eine andere wichtige Darstellung 
der Bewegungsgleichungen (316) gegeben. Wir führen den kinetischen 
‚Impulsenergietensor ®,, ein durch die Relation 


(322) 0, Mol 
Seine räumlichen Komponenten stellen den Tensor des Impulsstromes, 


die gemischten (bis auf den Faktor öc) die Impulsdichte, die zeitliche 
die Energiedichte dar. Zufolge der Kontinuitätsbedingung 





(323) ni—0 

schreiben sich dann die Bewegungsgleichungen in der Form 
60% 

(324) Fr 


Es sei hier auch hervorgehoben, daß aus den Bewegungsglei- 
chungen (317) sich für die Bewegung eines Massenpunktes unter dem 
Einfluß einer konstanten Kraft die in Nr. 26 besprochene Hyperbel- 
bewegung ergibt. 

38. Von der Elektrodynamik unabhängige Begründung der 
relativistischen Mechanik. Das Unbefriedigende an der vorstehenden 
Ableitung ist, daß sie eine Anleihe bei der Elektrodynamik nötig hat. 
Es ist deshalb von Wichtigkeit, daß Lewis und Tolman?"?*) noch eine 
andere Ableitung gegeben haben, die von der Elektrodynamik keinen 
Gebrauch macht. Bei ihr erscheint nicht der Kraftbegriff, sondern 
der Impulsbegriff als das primäre. Es wird postuliert, daß jedem 
bewegten Massenpunkt ein zu seiner Geschwindigkeit paralleler 
Impulsvektor und eine skalare kinetische Energie in solcher Weise 
zugeordnet werden kann, daß Erhaltungssätze bestehen. Das heißt, 


214a) M.v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 1. Aufl. 1911, p. 88. 

215) H. Minkowski, II, 1. c. Anm. 54). 

215a) @. N. Lewis u. C. Tolman, Phil. Mag. 18 (1909), p. 510. Einwendungen 
von N. Campbell, Phil. Mag. 21 (1911), p. 626 gegen die Schlußweise dieser Au- 
toren treffen mehr die Ausdrucksweise als das Wesen der Sache. Wie nämlich 
P. Epstein, Ann. d. Phys. 36 (1911), p. 729 gezeigt hat, lassen sich die Schlüsse 
von Lewis und Tolman vollkommen streng gestalten. 


676 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


bei einer Wechselwirkung zwischen Massen eines Systems, bei der 
weder Impuls und Energie ausgestrahlt noch Wärme entwickelt wird, 
sollen die Summe der Impulse und Energien der einzelnen Massen 
konstant bleiben. Speziell soll dies vom elastischen Stoß gelten. 
Lewis und Tolman haben nun ein Gedankenexperiment ersonnen, welches 
zeigt, daß die Form der Abbängigkeit von Impuls und kinetischer 
Energie von der Geschwindigkeit durch die Forderung der Invarianz 
dieser Erhaltungssätze gegenüber Lorentz-Transformationen eindeutig 
bestimmt ist. 

Die beiden Beobachter A und B seien relativ zueinander in der 
x-Riehtung mit der Geschwindigkeit v bewegt. Sie mögen Kugeln 
gleicher Masse mit der gleichen Geschwindigkeit « in der y- bzw. 
in der entgegengesetzten Richtung - einander zuwerfen, derart, daß 
der Stoßdurchmesser die Richtung y hat. Dann bleiben zunächst die 
x-Komponenten der Geschwindigkeiten beider Kugeln erhalten. Ferner 
muß aus Symmetriegründen der Beobachter A an seiner Kugel den 
gleichen Bewegungsvorgang sehen wie der Beobachter B an der 
anderen Kugel. Auf Grund des Additionstheorems (10) der Geschwin- 
digkeiten folgt daraus für die Geschwindigkeitskomponenten W,, w, 
und w,', w,' der beiden stoßenden Körper in K und K': 


Vor dem Stoß A 


a ’ ‚ / vo: 
w,=(, w,=u vun, = -—ı, vyv=uyı-5 
Vor dem Stoß B 
"| y ? 
w,=v, DE er w.=(, er 
Nach dem Stoß A 
f ' ‚ ‚L/ v: 
vw,=0, DETEM w=—, w=—-wVı-5 
Nach dem Stoß B 
’ v° ’ ’ ’ 
we: We ln w.=0(0, w=-+u. 





Ist |w| der absolute Betrag der Geschwindigkeit, so können wir den 
Impuls schreiben ®—m(w|)-w, 


wo m definitionsgemäß als Masse bezeichnet wird und nur vom ab- 
soluten Betrag der Geschwindigkeit abhängen kann. Aus der Erhaltung 
des Impulses in der x-Richtung folgt zunächst 


uw, 
und aus der Erhaltung des Impulses in der y-Richtung 


(«) n(Vo+ w(1 _ 3)) Vi -% — m(u) - u. 





39. Das Hamiltonsche Prinzip der relativistischen Mechanik. 677 


Gehen wir nach Division durch v zum lim u— O0 über, so kommt, 
wenn wir für m(0) = m, schreiben: 


u, m a 
m(v) yı _—— FE — Mo; n= 48 Wu'2.D2:W, 


Es ist leicht zu sehen, daß die Relation («) durch diesen Ansatz 
auch für beliebiges « erfüllt wird. Hat man ferner den Impuls er- 
mittelt, so folgt auch der Ausdruck (318b) für die kinetische Energie 
unschwer durch Lorentz-Transformation. Die Kraft wird nun definiert 
als zeitliche Änderung des Impulses, und die Transformationsgesetze 
für dieselbe folgen unmittelbar. Hiermit ist die Möglichkeit nach- 
gewiesen, die relativistische Mechanik unabhängig von der Elektro- 
dynamik zu begründen. 

Es möge noch erwähnt werden, daß die Gesetze des elastischen 
Stoßes, zu denen die relativistische Mechanik führt, für den allgemeinen 
Fall von Jütiner?'‘) hergeleitet und diskutiert wurden. 


39. Das Hamiltonsche Prinzip der relativistischen Mechanik. 
Wie bereits Planck®!?) bemerkte, lassen sich die Bewegungsgleichungen 
(317) aus einem Variationsprinzip herleiten. Führt man die Lagrange- 
sche Funktion 


. / u? 
(325) L=-—-meV1i—5 
ein, so gilt nämlich 

dı 
(326) SL + Kör)dt= 0, 
do 


wie man leicht nachrechnet. Wie beim Hamiltonschen Prinzip der 
gewöhnlichen Mechanik sind die Werte {,,t, und die Endpunkte des 
Integrationsweges vorgegeben. Man kann die Bewegungsgleichungen 
auch in der Hamiltonschen Form schreiben. Führt man statt der Ge- 
schwindigkeitskomponenten &, %, 2 die Impulse 

L L ö 
(327) ,—%, ,-5%) o,— 


02 
ein und bildet die Hamiltonsche Funktion: 


s .öL :0L ‚OL . 
823) H-iytiy tig - I=- — - En 











Ama ET 


m3.c? 


216) F. Jüttner, Ztschr. Math. Phys. 62 (1914), p. 410. 
217) M. Planck, \. c. Anm. 129). 


678 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


so wird nämlich 


ji = a re U, 
(329) 3 si 
| dt Nm... USW. 





Das Wirkungsintegral fr Ldt muß eine Invariante gegenüber 
Lorentz-Transformationen sein. In der Tat ist es einfach 


(330) [Lat = — me far, 


wo r die Eigenzeit bedeutet. Das Wirkungsprinzip (323) schreibt sich 
dann einfach 


(331) m,d [ar + [R,öa' — 0%) 

oder sogar 

(332) ö fd = 0 

wenn man noch für die Variationen öx‘ die Nebenbedingung 
Ku“=0 


hinzufügt. Diese Formulierung des Variationsprinzips rührt von 
Minkowski?'?) her. 

Die Bewegungsgleichungen (317) lassen auch eine Umformung 
zu, die dem Virialsatz der gewöhnlichen Mechanik entspricht: 


(333) L + Exn + 5, (mu) = (Mr). 
Bleibt r bei der Bewegung stets innerhalb endlicher Grenzen und 


kommt die Geschwindigkeit u der Lichtgeschwindigkeit nicht beliebig 
nahe, so folgt durch Bildung des zeitlichen Mittelwertes 
(333) L-+ Exn = (Rt). 

40. Generalisierte Koordinaten. Kanonische Form der Be- 
wegungsgleichungen. In der relativistischen Mechanik kann eine 
bloß von den Lagenkoordinaten abhängige potentielle Energie im all- 
gemeinen nicht eingeführt werden, weil sich Wirkungen nach den 
Gründpostulaten dieser Theorie nicht mit Überlichtgeschwindigkeit 
ausbreiten können. Es gibt jedoch gewisse Sonderfälle, wo es dennoch 
nützlich ist, eine solche potentielle Energie einzuführen, z. B. dann, 
wenn sich ein Massenpunkt in einem zeitlich unveränderlichen Kraft- 
feld bewegt. Gerade dieser Fall spielt in der Theorie der Feinstruktur 
der Balmerlinien eine wesentliche Rolle. Man kann schreiben 


(334) K— — grad Eyot, 
(335) L=-—-meV1-%— Ey, ofLdt=0 


218) An den Integrationsgrenzen sollen die dx’ verschwinden. 
219) H. Minkowski, II, Anhang, 1. c. Anm. 54). 


41. Die Trägheit der Energie. 679 








.öL 
(336) H(®,...,2..)= Em + Ba-&5 + —L 
PORN. 
(337) e. 
RC 2: 
a 7 


womit die Gleichungen auf eine kanonische Form gebracht sind. Man 
kann auch generalisierte Koordinaten q, ...q, einführen. Die kano- 
nisch konjugierten Impulse sind dann gegeben durch 

; öL 

pP, = PFR ’ 


und es wird 





(288) H(p,gq)= 2u7, Be 
dp _2H dm ___0H, 
at 0m’ ai Od 


Ferner gilt genau wie in der gewöhnlichen Mechanik die partielle 
Differentialgleichung von Hamilton-Jacobi. Die vorstehenden Formeln 
gelten ihrer Herleitung nach nur in einem, durch das Problem aus- 
gezeichneten Koordinatensystem. 


41. Die Trägheit der Energie. Der einfache Zusammenhang (318b) 
zwischen kinetischer Energie und Masse legt bereits die Vermutung 


nahe, daß einfach einer jeden Energie E eine Masse m — 5 zukommt.??®) 


Die Trägheit eines Körpers müßte dann beim Erhitzen desselben zu- 
nehmen, ferner müßte die Strahlung Trägheit zwischen den absorbie- 
renden und emittierenden Körpern übertragen. Was zunächst den zwei- 
ten Umstand betrifft, so läßt er sich durch folgende Betrachtung veri- 
fizieren. Ein in X’ ruhender Körper emittiere die Strahlungsenergie 
E/, und zwar derart, daß im ganzen kein Impuls ausgestrahlt wird, 
der Körper also in X’ in Ruhe bleibt. In einem relativ zu X’ mit 
der Geschwindigkeit v bewegten Koordinatensystem X wird dann nach 
(228) ein Impuls 


220) A. Einstein, Ann. d. Phys. 18 (1905), p. 639 (auch in der Sammlung 
„BKelativitätsprinzip“). Hier wird der Satz von der Trägheit der Energie zum ersten- 
mal ausgesprochen; vgl. auch Ann.d. Phys. 20 (1906), p. 627. — @. N. Lewis, Phil. 
Mag. 16 (1908), p. 705, geht umgekehrt von der Forderung E=mc* aus und 

dE 


leitet daraus vermittels der Gleichung us, mu) mog7 die Abhängigkeit der 


M, 


vi—® 





Masse von der Geschwindigkeit ab: m = 


680 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


ausgestrahlt. Da sich die Geschwindigkeit d des Körpers nicht ändert, 
ist dies nur möglich, wenn seine Ruhmasse m, um 


Am = =E 
abnimmt. Durch eine ähnliche Impulsbilanz beim unelastischen Stoß 
kann man zeigen, daß auch der Wärmenergie Trägheit zugeschrieben 
werden muß. Dies wird auch durch folgende Betrachtung nahegelegt. 
Für den Gesamtimpuls und die Gesamtenergie eines Systems von Massen- 
punkten gelten, wie bereits erwähnt, dieselben Transformationsformeln 
(321) wie für einen einzelnen Massenpunkt. Ist das Koordinatensystem 
K, so gewählt, daß dort der Gesamtimpuls © verschwindet, so gilt 


im System K wieder 
zu ni Es ee 1 — E, 


Das System verhält sich also wie ein einzelner Massenpunkt mit der 





Ruhmasse m, = 4.) Offenbar ist ein ideales Gas ein solches Sy- 


stem von Massenpunkten. E, wird hier &m,c?+ U, wo U die Wärme- 
energie bedeutet. Ihre Trägheit ist dadurch also erwiesen. 

Einen noch allgemeineren Fall behandelt H. A. Lorentz.2??) Wir 
betrachten ein beliebiges, abgeschlossenes physikalisches System, be- 
stehend aus Massen, gespannten Federn, Lichtstrahlen usw. In einem 
Koordinatensystem X, ruhe das System, d. h. es habe dort keinen 
Gesamtimpuls. In irgendeinem anderen Koordinatensystem KX werden 
wir dann dem System diejenige Geschwindigkeit u zusprechen, mit 
der sich X, relativ zu K bewegt. Es ist eine äußerst plausible physi- 
kalische Annahme, daß der Impuls ©, des Systems in K gegeben sein 


wird durch m, 


; u 
U 
Vi 


wie beim Massenpunkt.??®) Dann gilt für & die Transformationsformel 
G, — mv 


6, SE AR’ ®, 2 ©, ’ G, je G, R 


221) A. Einstein, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 371. 

222) H. A. Lorentz, Das Relativitätsprinzip, 3 Haarlemer Vorträge vgl. auch 
H. A. Lorentz, Over de massa der energie, Amst. Versl. 20 (1911), p. 87. 

223) Nimmt man an, daß das System bloß der Einwirkung elektromagne- 
tischer Kräfte ausgesetzt ist, so lüßt sich diese Annahme umgehen. Vgl. A. Ein- 
stein, Jahrb. f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 440. — Ein abgegrenzter, ebener Lichtwellen- 
zug bildet insofern einen Ausnahmefall, als sein Impuls in keinem Koordinaten- 
system verschwindet (vgl. Nr. 30). Da in der angegebenen Formel in diesem Fall 
u= c zu setzen ist, muß man ihm die Ruhmasse Null zuordnen (vgl. H. A. Lo- 
rentz, 1. c. Anm. 222). 








41. Die Trägheit der Energie. 681 


Nun lassen wir unser System 1 mit einem System 2, das nur aus 
Strahlung bestehe, in Wechselwirkung treten. Sind A®, und A®, 
die Impulsänderungen AE,, AE, die Energieänderungen der beiden 
Systeme, so muß gelten 


AB, +AG,=0, A’+AG,—-0, AB + AB—0 








und da wegen (228) Au ar 
a, = ———, 
u 
folgt daraus sofort r 
(339) Am— td. 


Diese Überlegung zeigt, daß es gar nicht darauf ankommt, welcher 
Art die Energien sind. 

Es kann somit als erwiesen betrachtet werden, daß das Relativi- 
tätsprinzip im Verein mit den Sätzen der Erhaltung von Impuls und 
Energie zum fundamentalen Prinzip von der Trägheit aller Energie 
führt. Wir können dieses Prinzip mit Einstein als das wichtigste Er- 
gebnis der speziellen Relativitätstheorie bezeichnen. Eine quantitative 
experimentelle Prüfung ist bisher noch nicht möglich gewesen. Schon 
in seiner ersten Publikation über diesen Gegenstand hat Einstein ?**) 
auf die Möglichkeit einer Prüfung der Theorie bei radioaktiven Pro- 
zessen hingewiesen. Doch sind die zu erwartenden Defekte in den 
Atomgewichten der radioaktiven Elemente?) zu gering, um empirisch 
festgestellt werden zu können. Die Möglichkeit, die Abweichungen 
der (auf H = 1 bezogenen) Atomgewichte der Elemente von der Ganz- 
zahligkeit, soweit sie nicht durch Isotopie bedingt sind, durch die 
Wechselwirkungsenergie der Kernbestandteile und ihre Trägheit zu 
erklären, auf die zuerst Langevin??°) hingewiesen hat, wurde neuer- 
dings vielfach diskutiert.??”) Vielleicht wird sich der Satz der Träg- 
heit der Energie in Zukunft durch Beobachtungen über die Stabilität 
der Kerne prüfen lassen. Anzeichen für eine qualitative Übereinstim- 
mung sind vorhanden. ??”) 


224) A. Einstein, Ann. d. Phys. 18, l. c. Anm. 220). 

225) M. Planck, Berl. Ber. 1907, p. 542; Ann. d. Phys. 76 (1908), p.1; A. Ein- 
stein, Jahrb. f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 443. 

226) P. Langevin, J. de Phys. (5),3 (1913), p. 553. Langevin wollte damals 
alle Abweichungen der Atomgewichte von der Ganzzahligkeit auf die Trägheit 
der inneren Energie der Atomkerne zurückführen. Die Notwendigkeit, dabei auch 
eventuellen Isotopien zu berücksichtigen, wie sie heute durch die Astonschen 
Versuche als in den meisten Fällen tatsächlich vorhanden nachgewiesen sind, 
wurde bald darauf von R. Swinne, Phys. Ztschr. 14 (1913), p. 145 betont. 

227) W.D. Harkins u. E. D. Wilson, Ztschr. f. anorg. Chem. 95 (1916), p. 1 u. 20; 
W. Lenz, Münch. Ber. 1918, p. 35; Naturw. 8 (1920), p. 181; O. Stern u. M. Vollmer, 


682 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


42. Allgemeine Dynamik. Die Verhältnisse werden noch einfacher 
und übersichtlicher, wenn man von Totalenergie und Totalimpuls zu 
Energiedichte und Impulsdichte übergeht. In Nr. 30, Gl. (225) haben 
wir gesehen, daß sich die elektromagnetische Viererkraft aus der Di- 
vergenz eines Spannungstensors S;* herleiten läßt. Dies führt natur- 
gemäß auf die Verallgemeinerung, daß dies für jede Art von Kräften 
gelten müsse. Nach dem heutigen Stand unserer Kenntnisse können 
wir dies beweisen, denn wir wissen, daß sich alle (elastischen, chemi- 
schen usw.) Kräfte auf elektromagnetische zurückführen lassen (von 
der Gravitation sehen wir hier ab).??’®) Davon machen indessen die 
Kräfte, welche die Elektronen und H-Kerne bei ihrer Bewegung auf 
sich selbst ausüben, eine Ausnahme (vgl. Abschn. V). Man wird des- 
halb so vorgehen: Man zerlege im Ausdruck (222) für den Impuls- 
Energietensor den Feldtensor F', in seine von den einzelnen geladenen 
Teilchen herrührenden Teile. Der Tensor S} zerfällt dann in zwei 
Teile, von denen der eine aus Produkten von Feldtensorkomponenten 
verschiedener Teilchen, der andere aus den Produkten der Feldten- 
sorkomponenten, die von je einem und demselben Teilchen stammen, 
besteht. Nur ersteren, der die Wechselwirkung zwischen den Teil- 
chen beschreibt, behalte man bei. Bildet man nun die Divergenz, so 
erhält man bloß die Kräfte, welche die Teilchen wechselseitig auf- 
einander ausüben. Man kann dann schreiben: 


de: AR 

Mr de 

und nach (322), (324) (+8) _yg 
0.* Pe: 


Die Materie läßt sich also charakterisieren durch einen Impulsenergie- 
tensor 7*, dessen Divergenz verschwindet: 


(340) Ta = 9:4 Si, 
oT; 


Wie in (224) stellen die räumlichen Komponenten von T,, die 
Spannungen dar, die man auch als Komponenten des Impulsstromes 
deuten kann, während die übrigen Komponenten, die Impulsdichte g, 
Energiestrom © und Energiedichte W bestimmen: 


(342) T,,— eg, 11:6, DW: 


Ann. d. Phys. 59 (1919), p. 225; A. Smekal, Naturw. 8 (1920), p. 206; Wien. Ber. 
1920, math.-nat. Kl. 

227a) Inwiefern die hier besprochene Dynamik durch die Quantentheorie 
modifiziert werden wird, läßt sich zurzeit noch nicht sagen. 


42. Allgemeine Dynamik. 683 


Wir haben den Impulsenergietensor hier dargestellt als Summe aus 
einem mechanischen und elektromagnetischen. Über die Versuche, den 
mechanischen Teil gleichfalls auf einen elektromagnetischen zurück- 
zuführen, vgl. Abschn. V. Für die folgenden rein phänomenologischen 
Betrachtungen kommt es auf die Natur des Impulsenergietensors nicht 
an, sondern bloß auf seine Existenz. In historischer Hinsicht muß 
bemerkt werden, daß die Existenz eines derartigen Tensors für die 
mechanische (elastische) Energie zum erstenmal von Abraham???) aus- 
gesprochen und von Laue?®) endgültig formuliert wurde. Die Sym- 
metrie des Impulsenergietensors ist durch seine Zurückführung auf den 
mechanischen und elektromagnetischen Tensor gewährleistet; früher 
hat man sie auch durch ein besonderes Postulat eingeführt. Es läßt 
sich aus ihr eine wichtige Folgerung herleiten. Aus 7, =[,, folgt 
nämlich nach (342): 

(343) u 


c 


Es ist dies der zuerst von Planck*”°) ausgesprochene Satz vom Impuls 
des Energiestromes, demzufolge jeder Energiestrom mit Impuls ver- 
bunden ist. Man kann diesen Satz als eine erweiterte Fassung des 
Prinzips von der Trägheit der Energie bezeichnen. Während sich dieses 
nur auf die gesamte Energie bezieht, sagt jener auch etwas über die 
Lokalisation von Impuls und Energie aus. 

Ebenso wie in Nr. 30 schließt man aus (341), daß Gesamtenergie 
und Gesamtimpuls eines abgeschlossenen Systems einen Vierervektor 
bilden: 

(227) (uda)meb, AmiE. 


Auch gelten wieder die Formeln (228). Die Trägheit einer jeden 
Energieform, also insbesondere auch der potentiellen Energie, folgt aus 
ihnen unmittelbar. Wir bemerken nochmals, daß wir die additive Kon- 
stante der Energie so festgesetzt haben, daß die Energie eines ruhen- 
den Elektrons gleich m,c? wird. Nur dann gilt allgemein E —= me. 

Aus (341) folgt auch in der bekannten Weise®®°) die Erhaltung 
des Drehimpulses 


(344) 8 — [Irglav. 
Für die Gültigkeit des Satzes von der Erhaltung des Drehimpulses 


228) M. Abraham, Phys. Ztschr 10 (1909), p 739; M.v. Laue, Das Relativi- 
tätsprinzip, 1. Aufl., Braunschweig 1911, und Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 524; 
vgl. auch W. Schottky, Berl Diss. 1912. 

229) M. Planck, Phys. Ztschr. 9 (1908), p. 828. 

230) Vgl. H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 7. 

Encyklop. d math. Wissensch. V 32. 45 


684 V 19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


ist die Symmetrie der räumlichen Komponenten von T,, wesentlich. 
Fordert man diese Symmetrie für jedes Bezugssystem, so folgt daraus 
aber auch die Symmetrie der gemischten Komponenten, die den Satz 
vom Impuls des Energiestroms bedingt. ??°®) 

43. Transformation von Energie und Bewegungsgröße eines 
Systems bei Vorhandensein von äußeren Kräften. Die Formeln (228) 
gelten nur, wenn unter E und © alle in Betracht kommenden Energie- 
und Impulsarten inbegriffen sind. Steht ein Gas unter einem äußeren 
Druck oder haben wir es mit einem System von ruhenden elektrischen 
Ladungen zu tun, so müßten wir auch die elastische Energie der Hülle, 
resp. der geladenen Materie berücksichtigen. Es wäre dies sehr un- 
bequem. Wir wollen deshalb folgendes allgemeine Problem lösen. Die 
Energiearten, die wir allein berücksichtigen wollen, mögen eine Kraft 
f; hervorbringen, so daß gilt 


5 
(345). eu 


dat =—f, 


wenn S,, der den genannten Energiearten entsprechende Tensor ist 
Es ist gefragt nach den Transformationsformeln für Totalenergie und 
Totalimpuls. Im Koordinatensystem K’ ruhe das System, d.h. es sei 
hier der Gesamtimpuls Null (6 = 0), ferner seien hier alle Zustands- 
größen von der Zeit unabhängig. 

Man kann nun zwei Methoden befolgen. Entweder man transfor- 
miert erst die Energie- und Impulsdichte auf das bewegte System, 
was nach den Transformationsformeln für die Komponenten eines sym- 
metrischen Tensors leicht geschehen kann, und integriert dann über 
das Volumen. In ae Weise geht Laue?®!) vor. Es ergibt sich 


4. 2 ale rar, 6-5 fr 


E=- ZZ |E + [8477] 


Sind speziell die Spannungen ein räumlich konstanter, skalarer Druck », 
so kommt 





(346) 








&,=- -——4(E+p7), ,-6,-0 
(3468) Eu 
E= GE +arV'), 


230a) Im Zusammenhang mit dem Drehimpulssatz möge darauf hingewiesen 
werden, daß P. Epstein, Ann. d. Phys. 36, 1 c. Anm. 2153) das Drehmoment als 
Flächentensor N,, = x,K, — x,K, (K,= Minkowskische Viererkraft) in die 
Theorie einführt. 

231) M.v. Laue, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 524 und Das Relativitätsprinzip, 
1. Aufl. 1911, p. 87, G1.(102), p. 153, Gl. (XXVID. 


44. Anwendung auf spezielle Fälle. Versuch von Trouton-Noble. 685 


wie zuerst Planck””?) in seiner grundlegenden Arbeit über die Dyna- 
mik bewegter Systeme gefunden hat. 

Zweitens kann man eine Betrachtung anstellen ähnlich derjenigen 
in Nr. 21 bei der Herleitung des Vektorcharakters von J,. Nur ist 
wesentlich zu berücksichtigen, daß hier das Integral über den Quer- 
schnitt x’*—= konst. nieht ohne weiteres ersetzt werden kann durch 
das Integral über den Querschnitt x* = konst. Vielmehr unterscheiden 
sich die beiden Integrale um das Integral 


her, 
welches über das zwischen den beiden Querstücken befindliche Welt- 
stück zu erstrecken ist. Legt man die x-Achse in die Richtung der 
Relativgeschwindigkeit von K gegen K’, so folgt leicht 
Sra2= Bft xav, 
und nach einigen Zwischenrechnungen findet man 
1 








BEN rar), 
(347) I6,—-% fh Pa VER RE 
a irrefier] 


Diese Formeln rühren von Einstein®®) her. Man kann sie durch par- 
tielle Integration in die Laueschen überführen. 


44. Anwendung auf spezielle Fälle. Versuch von Trouton-Noble. 
Eine einfache Überlegung zeigt, daß nach den Transformationsformeln 
der relativistischen Mechank ein bewegter starrer Körper nicht dann 
im Gleichgewicht ist, wenn das resultierende Drehmoment der auf ihn 
ausgeübten Kräfte verschwindet. Betrachten wir zum Beispiel einen 
Stab, der sich im Koordinatensystem X mit der Geschwindigkeit u in 
der Richtung der x-Achse bewegt.?®). Im mitbewegten System K’ 
mögen an den beiden Enden entgegengesetzt gleiche Kräfte in der 
Richtung des Stabes wirken. Der in X’ gemessene Winkel zwischen 
Stab und Relativgeschwindigkeit u (x’-Achse) von K’ gegen K sei a. 
Sind x’, y’ die Koordinatendifferenzen der beiden Stabenden in X’, x, y 
die entsprechenden Werte in K, so ist 


%—|R|eose, 8/—|K| sine 
232) M. Planck, 1. c. Anm. 225), vgl. auch A. Einstein, Jahrb. f. Rad. u. 


El. 4 (1907), p. 411. 


233) A. Einstein, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 371 und allgemeiner im Jahrb. 
f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 446 u. 447. 
234) P. Epstein, Ann. d. Phys. 36 (1911), p. 779. 
45* 


686 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Kr, RR, VI PB, 
im Gegensatz zu z=«y1—ß, y=y. 
In K hat also die Kraft nicht die Stabrichtung. Es wirkt ein Dreh- 
moment 
(348) N (1— NER, —yR/ = — ek) = — PL, | sine cos a. 
Es ist nun die Frage, wieso trotz Vorhandensein dieses Drehmomen- 
tes keine Drehung eintritt. Man wird zunächst bemerken, daß die elasti- 
schen Kräfte, die in X’ den äußeren Kräften $} das Gleichgewicht 
halten, sich genau so transformieren wie diese. Es existiert also im Sy- 
stem K ein Drehmoment der elastischen Kräfte, welches das äußere 
Drehmoment X aufhebt. Der tiefere Grund dafür, daß die elastischen 
Kräfte hier nicht die Richtung des Stabes haben, ist der, daß sie sich 
nicht ausschließlich als Divergenz eines Spannungstensors darstellen 
lassen, sondern daß noch ein Term, der von der zeitlichen Änderung 
der Impulsdichte herrührt, hinzukommt (vgl. Nr. 42). Daß sich dadurch 
das Drehmoment auch quantitativ richtig ergibt, zeigt folgende Über- 
legung. Das von den elastischen Kräften herrührende Drehmoment W 
ist gleich der negativen zeitlichen Änderung des gesamten elastischen 
Drehimpulses %, also nach (344) 


(3448) - 5 —— 4, fIr]ar. 


Man leitet dies genau analog ab, wie es von H. 4. Lorente?**) bei 
elektromagnetischen Kräften geschehen ist. Da in K’ alle Zustands- 
größen von der Zeit unabhängig sind, folgert man leicht ?**) 

(344 b) N —= — [1]. 

Die Bestimmung des Drehmomentes ist hierdurch auf die des elasti- 
schen Gesamtimpulses it fe dv 


und nach (216) 


zurückgeführt. Nun ist in unserem Fall der Energiestrom stets der 
Stabrichtung parallel, und das über den Stabquerschnitt erstreckte 


Integral f S,do = S |S|de ist nach dem Energiesatz gleich der Ar- 
beit (Su). Also wird G— 4 (Ru) r 


wo r der Vektor mit den Komponenten x, y ist. In (344b) eingesetzt, 
gibt das 


IN Zr) [ur] = BR/Y = 8% |R/| sin cose, 
was tatsächlich das Drehmoment (378) gerade aufhebt. 
2343) H. A. Lorentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr.7 u. 21a). 


44. Anwendung auf spezielle Fälle. Versuch von Trouton-Noble 687 


Eine analoge Überlegung läßt sich über den Fall des rechtwink- 
ligen Hebels anstellen, für den die Existenz des Drehmomentes von 
Lewis und Tolman?®°) bemerkt und von Laue?”®) auf Grund des Satzes 
vom Impuls des Energiestromes geklärt wurde. 

Denkt man sich die äußeren Kräfte, die auf den oben betrach- 
teten Stab wirken, dadurch hervorgebracht, daß er an den Enden 
zwei kleine kugelförmige Ladungen trägt, so ist nur noch ein kleiner 
Schritt nötig, um zur Trouton-Nobleschen Versuchsanordnung””) zu 
gelangen. Diese Physiker untersuchten, ob ein geladener Kondensator 
sich senkrecht zur Richtung der Erdbewegung einstellt. In einem 
Koordinatensystem, in welchem sich der Kondensator mit einer Ge- 
schwindigkeit u in der Richtung der x-Achse bewegt, übt nämlich 
das elektromagnetische Feld im allgemeinen ein Drehmoment auf den- 
selben aus.®”®) Es sei «’ der Winkel der Plattennormale mit der Ge- 
schwindigkeit u, W’ die Energiedichte, E’ die elektrostatische Energie 
im mitbewegten System K’. Der Impuls im bewegten System be- 
rechnet sich nach (346). Da nun das Feld in X’ bloß aus einem ho- 
mogenen elektrostatischen Feld zwischen den Platten besteht, welches 
auf diesen senkrecht steht, so wird 


E’—= |E|cosc, € = |E|sin« 
und für S,/, und S,, ergibt ich 
s.— W—€&°=W'(1—2 cos «), 
8, EEE) —= 2W’ sine’ cos’. 
Setzt man dies in on as so folgt 





6-5 2 — 2 cos? «” -25 -sin? «, 
(349) äh Gr TPp-p 
6,—-—25E sind cos —— ;E sin 2«‘. 


Abgesehen von Gliedern höherer Ordnung ist also der Impuls zu den 
Platten parallel. Daraus folgt nach (344b) ein Drehmoment vom Betrag 


(350) IN| = u, = P’E’sin 2«. 
Dennoch zeigt sich keine Drehung, wie nach dem Relativitäts- 
prinzip von vornherein zu erwarten ist. Schon 1904 gab H. A. Lo- 


235) @. N. Lewis und (©. Toolman, Phil. Mag. 18 (1909), p. 510. 

236) M.v. Laue, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 1008. 

237) F. T. Trouton u. H. R. Noble, 1. c. Anm. 6); siehe auch H. A. Lorente, 
Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 56c). 

238) Vgl. für die folgende Ableitung M.v. Laue, Das Relativitätsprinzip, 
1. Aufl, Braunschweig 1911, p. 99. 


688 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


rentz?°°) dafür die richtige Erklärung, daß die elastischen Kräfte sich 
genau in derselben Weise transformieren wie die elektromotorischen. 
Tiefer geht die Auffassung von Laue®*%), wonach der Impuls des 
elastischen Energiestromes ein Drehmoment bewirkt, welches das 
elektromagnetische gerade aufhebt. Zaue”*!) hat auch untersucht, wie 
das Drehmoment (350) im einzelnen zustande kommt. Dabei ist 


wesentlich, daß in Ä’ neben den Kräften |8,’| = = senkrecht zu den 


Platten noch auf jede Platte Kräfte senkrecht auf jeder Kante in 
Richtung der Plattenebene wirken. Sind die Platten Rechtecke mit 


8; 


ge 


8, ——>y 





den Seiten a, b, so wirkt noch senkrecht auf die Kante 5 die Kraft 


8] = En, senkrecht auf die Kante a die Kraft |8, | = i I 
Sind die Kanten b senkrecht zur Geschwindigkeit u, so braucht 8, 
nicht berücksichtigt zu werden. Die in den Systemen X’ und K an- 
greifenden Kräfte 8,', 8, bzw. 8,, 8, werden durch Fig. 4 veran- 
schaulicht. 

Durch Transformation der Kräfte auf das System K folgt sofort 
das Drehmoment. Das Kräftepaar $, liefert die eine Hälfte des Dreh- 
momentes, die beiden Kräftepaare fl, die andere. Man verifiziert auch 
leicht die Ausdrücke (347) für den Impuls. Es ergibt sich 


Si. 4V’ — E'(sin?a — cos? «‘) 
Siyzd V'=2Esin«’cos«, 
woraus wieder (349) folgt. 
239) Art. V 14, Nr. 64, ferner Amst. Versl. l.c. Anm. 9). 


240) M. v. Laue, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 524. 
241) M.v. Laue, Ann. d. Phys. 38 (1912), p. 370. 


45. Hydrodynamik und Elastizitätstheorie. 689 


Auch bei anderen Ladungsverteilungen als beim Kondensator oder 
bei zwei durch einen Stab verbundenen Punktladungen tritt ein Dreh- 
moment auf, wenn sie sich gleichförmig bewegen, z. B. auch bei 
einem Ellipsoid.”?) Eine Drehung kann dennoch nach dem Relati- 
vitätsprinzip niemals eintreten. Ist jedoch im mitbewegten System K’ 
das Feld kugelsymmetrisch, dann ist in X der Impuls parallel u, und 
das Drehmoment verschwindet nach (344b). Es ist hier nämlich 

[SsaV =0, [Sea V = [SnaV =[SaV', 
und aus + 85,+ 8: = W folgt dann noch, daß jedes der drei 
letzten Integrale gleich 4 E’ ist. Also ist hier nach (346) 
Bi E 1 u? 
zE E (1 +3 =) 


| 








(351) G- 


er y 
Über die Anwendungen dieser Beziehungen auf das einzelne Elektron 


vgl. Abschn. V. 


45. Hydrodynamik und Elastizitätstheorie. Die relativistische 
Elastizitätstheorie ist historisch aus dem Bestreben entstanden, den 
Begriff des starren Körpers auch in der Relativitätstheorie nutzbar 
zu machen. Naturgemäß mußte man zuerst nach einer Definition des 
starren Körpers suchen, die gegenüber Lorentz-Transformationen in- 
variant ist. Eine solche Definition wurde zuerst von Born?) aufge- 
stellt. Ein Körper soll dann als starr gelten, wenn in dem Koordi- 
natensystem K,, in dem ein bestimmtes Volumelement des Körpers 
in dem betreffenden Augenblick ruht, das Volumelement undefor- 
miert ist. Analytisch formuliert sich dies so: Wir charakterisieren 
die Strömung eines deformierbaren Mediums in der Lagrangeschen 
Weise, indem wir die Koordinaten x!...x* als Funktionen der An- 
fangskoordinaten &!...&° und der Eigenzeit r, oder besser der Sym- 
metrie halber der Koordinate & = icr angeben: 

(352) en Et. 


Das Weltlinienelement 


c 


ds? = dar 
zweier benachbarter Raumzeitpunkte wird dann eine quadratische Form 
in den Differentialen d&: 
(353) ds? — A,dEdE.. 
Betrachten wir insbesondere diejenigen Weltpunkte, die für einen 





242) M. Abraham, Ann. d. Phys. 10 (1903), p. 174 sowie Theorie der Elek- 
trizität, 2, 1. Aufl. 1905, p. 170. 
243) M. Born, Ann. d. Phys. 30 (1909), p. 1. 


690 V 19. W. Pauli jr. BRelativitätstheorie. 


im betreffenden Moment mit dem Volumenelement mitbewegten Be- 
obachter gleichzeitig sind — sie genügen der Gleichung 

(354) ud = u de = 0 

(u, = Vierergeschwindigkeit) —, so kann d$* aus (353) eliminiert 
werden, und das Linienelement ds? schreibt sich als quadratische Form 
der drei räumlichen Differentiale: 


3 
(355) a Dp.dfdk. 
i,k=1 


Die Abweichung der p»,, von ihren Anfangswerten charakterisiert die 
Deformation des Volumelementes. Für den starren Körper sollen 
diese Abweichungen stets verschwinden, also 


(356) Zu = 0 





sein. 
Eine einfache Betrachtung von Ehrenfest”“) zeigte jedoch, daß 


ein derartiger Körper nicht in Rotation versetzt werden kann. Wäre 
dies nämlich möglich, so müßte sich bei diesem Vorgange einerseits 
wegen der Lorentz-Kontraktion der Umfang der Kreise, welche die 
Punkte des Körpers beschreiben, verkleinern, andererseits müßten ihre 
Radien, die stets auf der Geschwindigkeit senkrecht stehen, unver- 
ändert bleiben. Weiter haben unabhängig voneinander Herglotz”*) 
und Noether*®) bewiesen, daß ein im Bornschen Sinne starrer Körper 
nur drei Freiheitsgrade hat im Gegensatz zu den sechs Freiheits- 
graden des starren Körpers der alten Mechanik. Abgesehen von Aus- 
nahmefällen ist die Bewegung des Körpers vollständig bestimmt, wenn 
die Bewegung eines einzigen seiner Punkte vorgegeben ist. Dies er- 
weckte bereits starke Zweifel an der Möglichkeit, in die relativistische 
Mechanik einen starren Körper einzuführen.) Die endgültige Klä- 
rung brachte eine Arbeit von Laue*‘®), der durch eine ganz elemen- 
tare Betrachtung bewies, daß die Zahl der kinematischen Freiheits- 
grade eines Körpers nach der Relativitätstheorie keine beschränkte 
sein kann. Da nämlich keine Wirkung sich mit Überlichtgeschwindig- 
keit ausbreiten kann, hat ein Anstoß, der einem Körper gleichzeitig 


244) P. Ehrenfest, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 918. 

245) @. Herglotz, Ann. d. Phys. 31 (1910), p. 393. 

246) F. Noether, Ann. d. Phys. 31 (1910), p. 919. 

247) Man vgl. dazu: M. Born, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 233; M. Planck, 
Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 294; W. v. Ignatowsky, Ann. d. Phys. 33 (1910), p. 607; 
P. Ehrenfest, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 1127; M. Born, Gött. Nachr. 1910, p. 161. 

248) M. v. Laue, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 85. 


45. Hydrodynamik und Elastizitätstheorie. 691 


an » verschiedenen Stellen erteilt wird, stets zunächst eine Bewegung 
zur Folge, der mindestens » Freiheitsgrade zukommen. 

Wenn also auch der Begriff des starren Körpers in der relativi- 
stischen Mechanik keinen Platz hat, so ist es doch nützlich und 
naturgemäß, den Begriff der starren Bewegung eines Körpers ein- 
zuführen. Man wird naturgemäß diejenigen Bewegungen starr nennen, 
bei denen die Bornsche Bedingung (356) erfüllt ist. Herglotz”"?) hat 
dann eine relativistische Elastizitätstheorie entwickelt, die auf dem 
Gedanken beruht, daß immer dann Spannungen auftreten, wenn die 
Bornsche Bedingung (356) verletzt ist. Die Bewegungsgleichungen 
werden zus einem Wirkungsprinzip 


(357) sfddt,...di,— 0 


abgeleitet, wo ® eine Funktion der Deformationsgrößen A,, ist. Sie 
ist so gewählt, daß ® für den Fall der Ruhe genau so von den p,, 
abhängt wie die Lagrangesche Funktion der gewöhnlichen Elastizitäts- 
theorie. Die hieraus resultierenden Bewegungsgleichungen ordnen sich 
dem Laueschen Schema (340), (341) ein. 

Es möge hier noch erwähnt werden, daß Laue®®) zum Unter- 
schied von den absoluten auch relative Spannungen einführt. Aus 
(341) folgt S 
(8584) es 


k=1 
Da hier auf der linken Seite die lokale und nicht die substantielle 
Änderung der Impulsdichte steht, geben die räumlichen Komponenten 
von 7 nicht die elastischen Spannungen an. Die substantielle Ände- 
rung 4, der Impulsdichte ist nun bestimmt durch 


s 

} : ö 

.— 5 + Da (8:4), 
ı 





G=1,2,3) 


also wird 


RR 
j oTk 
(358 b) a Dak? 
1 
mit 
(359) Ta = Tr — 4% (,k=1,2,3) 


Es ist zu beachten, daß die relativen Spannungen 7,, nicht symme- 


249) @. Herglotz, Ann. d. Phys. 36 (1911), p. 493. 

250) M.v. Laue, 1. c. Anm. 228), ferner: Das Relativitätsprinzip, Braunschweig 
1911, $ 26. — In der Elektrodynamik bewegter Korper hatte schon früher 
M. Abraham in genau analoger Weise relative Spannungen eingeführt [Rend. 
Pal. 28 (1909), p. 1]. 


692 V19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


trisch sind. Die Transformationsgesetze für dieselben lauten einfach 








Tu T., T,, == T},, De IR, 
] Tz u In: Ti 
(360) Ey bel ap ze = vi? 1 y£ 205 Tys, 


Tyz ER vı—PT},, En =) 1— Ten, Ty m Tiy- 
Zum Unterschied von den entsprechenden Relationen für die abso- 
luten Spannungen kommt hier die Energiedichte W, nicht vor. Ist 
speziell im Ruhsystem der (dreidimensionale) Spannungstensor ein 
ind T, =D0h, (k = 1,2, 3) 
so gilt auch TO. 
Der skalare Druck ist eine Invariante: 
(361) pP =@.Po- 
Es folgt dies auch schon direkt aus den Transformationsformeln für 
Kraft und Flächengröße, wenn man den Druck als Kraft pro Flächen- 
einheit definiert.?°!) [Vgl. auch das in Nr. 37d) über die Invarianz 
des Lichtdruckes Gesagte.] 

Eine verhältnismäßig einfache Form nehmen die Bewegungsglei- 
chungen bei Flüssigkeiten an, wo der dreidimensionale Spannungs- 
tensor zu einem Skalar degeneriert. Mit diesem Spezialfall beschäf- 
tigten sich außer Herglotz??) Ignatowsky®®°) und Lamla®®); die Re- 
sultate dieser Autoren stimmen überein. Bedeutet u, die Ruhmassen- 
dichte, p den Druck, P wie in der Hydrodynamik üblich das Integral 


: “2 und beschränken wir uns auf adiabatische Vorgänge, so ist der 
0 


Impuls-Energietensor gegeben durch 


(362) T—=% (1 ge =) u,uf + pö5. 
Aus den Gleichungen 
ER 


En Aa 0 
folgt dann zunächst durch skalare Multiplikation mit w die Kontinui- 
tätsgleichung 


(363) Im — 0 





251) A. Einstein, Jahrb. f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 441, $ 13; A. Sommerfeld, 
Ann.d. Phys. 32 (1910), p. 775. Zum erstenmal ausgesprochen bei M. Planck, 
l. c. Anm. 225). 

252) @. Herglotz, 1. c. Anm. 249). 

253) W. v. Ignatowsky, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 441. 

254) E. Lamla, Berl. Diss. 1911; Ann. d. Phys. 37 (1912), p. 772. 


46. Verhalten d. thermodyn. Zustandsgrößen bei einer Lorentz-Transformation. 693 


und hernach die Bewegungsgleichung 

(864) te erne) 

Im Fall der Ruhe gibt 7,’ den gewöhnlichen Ausdruck für die Energie- 
dichte. 

Die besprochenen Überlegungen haben nur den Wert, daß sie 
die Möglichkeit einer widerspruchsfreien relativistischen Hydrodynamik 
und Elastizitätstheorie zeigen. In physikalischer Hinsicht bringen sie 
nichts Neues. Denn für Substanzen, in denen die Geschwindigkeit der 
elastischen Wellen klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit ist, unter- 
scheiden sich die Gleichungen der relativistischen Elastizitätstheorie 
praktisch nicht von denen der gewöhnlichen. 

Sowohl Herglotz wie Lamla folgern aus ihren Gleichungen, daß 
es für die Kompressibilität eine untere Grenze geben muß, weil sonst 
die elastischen Wellen sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten 
würden. Es scheint uns jedoch, daß das Relativitätsprinzip über die 
Größe der Kohäsionskräfte gar nichts aussagen kann. Rückt die sta- 
tische Kompressibilität in die Nähe der von Herglotz und Lamla an- 
gegebenen Grenze, so werden wohl die phänomenologischen Glei- 
chungen unrichtig werden. Es wird dann zu einer Dispersion der 
elastischen Wellen kommen, und die Verhältnisse werden sich ähn- 
lich gestalten wie es in Nr. 36d) für die Lichtwellen besprochen wurde. 


d) Thermodynamik und Statistik. 


46. Das Verhalten der thermodynamischen Zustandsgrößen bei 
einer Lorentz-Transformation. Wie sich die thermodynamischen Zu- 
standsgrößen beim-Übergang zu einem bewegten Koordinatensystem 
transformieren, wurde von Planck?) in seiner grundlegenden Arbeit 
über die Dynamik bewegter Systeme hergeleitet. Er geht dabei aus 
von einem Variationsprinzip. Man kann aber, wie Einstein?®) gezeigt 
hat, die Transformationsformeln auch direkt herleiten; das Variations- 
prinzip ergibt sich dann als Folgerung. 

Wir stellen zuerst die Relationen für Volumen, Druck, Energie 
und Bewegungsgröße nochmals zusammen, wobei wir annehmen, daß 
die elastischen Spannungen bloß aus einem skalaren Druck bestehen: 


(Ta) Earth, 


255) M. Planck, l. c. Anm. 225). Vgl. auch die Arbeit von F. Hasenöhrl, 
Wien. Ber. 116 (1907), p. 1391, der unabhängig von Planck auf anderem Wege 
zu ähnlichen Resultaten gelangte. 

256) A. Einstein, Jahrb. f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 411, $ 15, 16. 


694 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


(361) Ir =p 
En u 


C, 








Es, + 2, V}) 


(3462) ” 
E+ Po r,) R 


n 1 
2 
Daraus folgt noch 

(46) B+ry—-Atph 8-L(E4prP) 

Wir müssen nun noch die entsprechenden Relationen für Wärme- 
menge, Temperatur und Entropie ableiten. Ist dQ die zugeführte 
Wärme, dA die von äußeren Kräften am System geleistete Arbeit, 


ER [4Q—dE— dA, 

(999) |\dAa=—pdaV + udG. 

Der zweite Term ist wesentlich, er verschwindet nach (346) auch 
dann nicht, wenn die Geschwindigkeit des Systems bei der Zustands- 


änderung konstant bleibt, was im folgenden angenommen werden soll. 
Man erhält w 





- du + dl v, em ldE, o + dm, Po)] 
+vV1— PpnaP, 

„VITR@E +naV) = VI=RaQ, 

also 


(366) = % as ß?. 
Diese Bestimmung stimmt überein mit der früher abgeleiteten Trans- 
formation für die Joulesche Wärme [vgl. (293)]. 

Erteilt man einem System eine Geschwindigkeit u, so kann dies 
als ein adiabatischer Vorgang aufgefaßt werden. Die Entropie bleibt 
dabei also unverändert, sie ist für ein bewegtes System ebenso groß 
wie für ein ruhendes: daß heißt aber, sie ist eine Invarianle gegen- 
über Lorentz-Transformationen. 


(367) SS, 
Wird eine Wärmemenge d@ unendlich langsam zugeführt, so ist 
dQ= TaS. 


Aus (366) und (367) folgt daraus sofort 
(368) T= T,y1l — P?. 
Die angegebenen Relationen gestatten, zu jeder Beziehung zwi- 


schen den Zustandsgrößen 9), Yo, Es; Gu, 7, im ruhenden System 
die entsprechende Beziehung zwischen den Zustandsgrößen im be- 


48. Prinzip der kleinsten Wirkung. 695 


wegten System anzugeben. Insbesondere kann die Abhängigkeit der 
Zustandsgleichung einer Substanz von ihrer Geschwindigkeit ermittelt 
werden. 

47. Prinzip der kleinsten Wirkung. In der alten Thermodyna- 
mik kann man die Zustandsgleichung aus dem Wirkungsprinzip ®”) 


F + Exin.) + 9A} dt=0 


bestimmen, wo F' die freie Energie bedeutet: 

F=E-—TS. 
Unabhängige Variable sind die Lagenkoordinaten des Systems, Vo- 
lumen und Temperatur. dA bedeutet dabei die bei der Variation 
dieser Parameter geleistete Arbeit. Bei Änderung der unabhängigen 
Variablen ändert sich die zu variierende Funktion in bekannter Weise. 
Die Wirkungsfunkion „_ _rF EU OR 


zerfällt hier in zwei Teile, von denen der eine bloß von der Ge- 
schwindigkeit, der andere nur vom inneren Zustand (Y, 7) des Kör- 
pers’ abhängt. Auch in der relativistischen Mechanik existiert eine 
solche Wirkungsfunktion. Sie läßt sich jedoch nicht in dieser Weise 
in zwei Teile zerlegen. In der Tat wird für 


(369) L=—-E+TS+ (u®) 
Su—R, 5 = gl, ER, 
Say oL aL 
sk 
Aus dE = (Rdr) — pdV + TdS = (ud®) — pdV + Tas folgt näm- 
lich dL= (Gau) + pdV + SäT. 


(370) sind aber gerade die aus dem Wirkungsprinzip folgenden Glei- 
chungen. Wir bemerken auch noch, daß nach (318a, b) und (325) 
für den materiellen Punkt 

L = — Erin. + (u®) 
zu setzen ist, was als Spezialfall von (369) betrachtet werden kann. 
Im mitbewegten Koordinatensystem K, wird L mit der (negativen) 


freien Energie identisch „= — E,+ 7,5. Nach (346), (367), 
(368) gilt ferner für Z die Transformationsformel 
(871) L=y1— PL, 


das Wirkungsintegral S Ldt ist also eine Invariante, wie es sein muß. 


257) H.v. Helmholtz, Crelles J. 100 (1886), p. 137 und 213 [Ges. Abh. 3 
(1895), p. 225]. 


696 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


48. Die Anwendung der relativistischen Mechanik auf die 
Statistik. Im Raum der kanonischen Variablen p,, q, (vgl. Nr. 40) 
gilt der Liouvillesche Satz 


(372) dp, ...dgqy = dp®...dgw, 
da er eine unmittelbare Folge der Hamiltonschen Gleichungen ist. Er 
gilt natürlich auch in einem Raum von anderen Variablen x, ... Xev, 


die aus den kanonischen durch eine Substitution von der Funktional- 
determinante 1 hervorgehen: 


(372a) dx, N dxanx no da! Be dan. 


Die allgemeinen Theoreme der Statistik haben keine andere Voraus- 
setzung als den Liouvilleschen Satz, bleiben also in der auf der rela- 
tivistischen Mechanik basierenden Statistik unverändert bestehen.?2?®\ 
Wir formulieren sie so: 

1. Die Energie sei als Funktion‘ der Variablen x, ...2 — 
von denen im folgenden stets vorausgesetzt wird, daß sie die Bedin- 
gung (372a) befriedigen — gegeben durch 


(373) Hia,..&s)=E 
Dann ist die Entropie gegeben durch 
(374) S= klogV, 


wo V das von der Energiefläcke ZH = E oder auch das von der 
Energieschale E< H< E-+ dE eingeschlossene Volumen bedeutet: 
(375) V-/[dz,...dzey oder auch V—/da,...dasn. 
H<ZE E<H<ZE+dE 
2. Die freie Energie F= E— TS$ ist gegeben durch 
F=—kTlogZ 


(376) L 
Zz—[eirdz, ... dxex- 


3. Gleichverteilungssatz: Es sind die zeitlichen Mittelwerte 


(377) %5 „n— kT, für alle < von 1,...2N; 2 = 0 füri=#j, 
insbesondere für kanonische wen 
(377a) 2,4, =KT, 02 = kT. 


Hier ist gegenüber der gewöhnlichen Mut ein Unterschied vor- 
handen. In dieser ist nämlich Exin. = } 3. p,9,, so daß die erste Glei- 
chung (377a) einfach aussagt, daß die zeitlichen Mittelwerte der- 


258) Von denjenigen Modifikationen der statistischen Theoreme, die durch 
die Quantentheorie gefordert werden, sehen wir ab. 


49. Spezialfälle. 697 


jenigen Anteile der kinetischen Energie, die den einzelnen Freiheits- 
graden entsprechen, untereinander gleich und gleich 3%7 sind. In 
der relativistischen Mechanik geht der Zusammenhang des Gleichvertei- 
lungssatzes mit der mittleren kinetischen Energie verloren. 

4. Maxwell- Boltzmannsches Verteilungsgesetz: Die Energiefunktion 
H unseres Systems zerfalle in zwei Teile 


(378) H— H;(a ..-%) + Ha(Xı . - - Xan), 


die von verschiedenen Variablen abhängen. Die Zahl 2% der Vari- 
ablen des ersten Teiles sei viel kleiner als die Zahl 2N der Variablen 
des zweiten Teiles. Ferner sollen beide Variablengruppen unabhängig 
voneinander aus verschiedenen kanonischen Variablen durch eine Sub- 
stitution der Funktionaldeterminante 1 hervorgehen. Dann ist die 
Wahrscheinlichkeit dafür, daß die ersten Variablen ungeachtet der 
Werte der zweiten Variablen innerhalb des durch da, ...dx,, be- 
zeichneten Spielraums bestimmte vorgegebene Werte 2,...%,, an- 


nehmen, gegeben durch 
ah («) 


(379) WR, ..-Ze)drı...dm, = Ae *7 da,...dR,- 
Die von den x unabhängige Größe A ist aus der Bedingung 
(379a) Swc, ed. el 


zu bestimmen. Voraussetzung des Verteilungsgesetzes (379) ist, daß 
der Wert H, klein ist gegenüber dem (konstanten) Wert von H. 


49. Spezialfälle. «) Die Strahlung im bewegten Hohlraum. Dieser 
Fall hat ein historisches Interesse, da er allein auf Grund der Elektro- 
dynamik, auch ohne Relativitätstheorie, behandelt werden kann. Man 
kommt dann notwendig dazu, der bewegten Strahlungsenergie Impuls, 
also auch träge Masse zuzuschreiben. Es ist interessant, daß dieses 
Resultat schon vor Aufstellung der Relativitätstheorie von Hasen- 
öhrl®®) gefunden wurde. Seine Schlüsse waren allerdings in einigen 
Punkten verbesserungsbedürftig. Eine vollständige Lösung des Pro- 
blems gab zuerst K.v. Mosengeil?®). Planck?!) leitet seine Formeln 
für die Dynamik bewegter Systeme mehrfach durch Verallgemeine- 
rung der Mosengeilschen Ergebnisse her. 

Die Relativitätstheorie gestattet, die Abhängigkeit von Strahlungs- 
druck, Bewegungsgröße, Energie und Entropie von der Temperatur 





259) F. Hasenöhrl, Wien. Ber. 113 (1904), p. 1039; Ann. d. Phys. 15 (1904), 
p. 344 und 16 (1905), p. 589. 

260) K. v. Mosengeil, Berl. Diss. 1906; Ann. d. Phys. 22 (1907), p. 867; vgl. 
auch die Darstellung bei M. Abraham, Theorie der Elektrizität, 2, 2. Aufl., p. 44. 

261) M. Planck, l. c. Anm. 225). 


698 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


sowie die Abhängigkeit der spektralen Verteilung von Temperatur 
und Richtung sofort anzugeben, indem sie den Fall des bewegten Hohl- 
raumes auf den des ruhenden zurückführt. Für letzteren gilt 
(3808) E, =aTlyV, m—taTt, = %aT,V, 
und nach (369): 

L=4aT%V,, 


endlich für die Intensität der Strahlung im Frequenzbereich dv und 
im Kegel d2: 


(3812) Rndv dr, = En AN. 
en —1 


Nach den Formeln der Nr. 46 folgt daraus zunächst 
E E, 1+34P' -arıy HE 














oyi—p: (1 — 9?’ 
1 1 
en, S=S, nz aT’V pr 
(380b) 
-VI-PL- eV = 
1 A u 
Ga 3b TV om mr 


Um auch noch die spektrale Verteilung im bewegten Hohlraum zu 
ermitteln, bedienen wir uns der aus (15), (17) und (253) leicht ab- 
zuleitenden Beziehungen 

FRE Bed Kaishn dh a ER 











vie’ Vi— 
’ 1—p? 
a2 — 1 Bcosa)! a2, 
KV —=R, LEE i 


Letztere Größe muß sich nämlich wie das Quadrat der Amplitude A 
transformieren. Es folgt daraus weiter 


KR Se Besrhu 





"ap 

also 
(381b) TE nn Er 

€ gr Ron) 
Weiter gilt wegen 

K,dv' = K,dv Br 
ac 1 

(382) K=,.,.T' ag nr 


Diese Formel gibt die me der gesamten (über alle Fre- 


49. Spezialfälle. 699 


quenzen integrierten) Strahlungsintensität von der Richtung an. Man 
erhält sie natürlich auch aus (381b) durch Integration über dv. Die 
Gesamtenergie ergibt sich aus (382) vermöge der Beziehung 


g=v|,Kas 


in Übereinstimmung mit der ersten Gl. (380b). 

Eine Möglichkeit, die Trägheit der Strahlungsenergie- experimen- 
tell nachzuweisen, scheint wegen des äußerst kleinen Betrages der zu 
erwartenden Effekte nicht zu bestehen. 

ß) Das ideale Gas. Eine Abweichung des Verhaltens des idealen 
Gases von dem nach der alten Mechanik berechneten infolge von 
relativistischen Effekten (Massenveränderlichkeit) ist naturgemäß erst 
zu erwarten, wenn die mittlere Geschwindigkeit der Moleküle mit der 
Lichtgeschwindigkeit vergleichbar wird. Maßgebend dafür ist die Größe 


2 
a T 


(383) dr 





Bei normalen Temperaturen ist sie enorm groß, erst bei ca. 1 Billion 
Grad wird sie von mäßiger Größenordnung. Die Frage nach den von 
der relativistischen Mechanik geforderten Abweichungen des idealen 
Gases von seinem klassischen Verhalten hat deshalb nicht praktisches, 
sondern bloß theoretisches Interesse. Sie wurde von Jütiner?‘®) be- 
antwortet. Am einfachsten gelangt man durch Berechnung der freien 
Energie nach Theorem 2, Nr. 48 zum Ziel. Da die Energie eines 
Massenpunktes durch die Impulse ausgedrückt 


1 DI 
E=mey 1 +n,a(#+P+P) 
—= — RTlogZ, 


4 _.moe® I n8 a 
Din sen Ka (ff: Vet gaiteiten dp,dp,dp,. 


Dabei ist angenommen, daß die vorhandene Gasmenge gleich 1 Mol 
ist; Z bedeutet die Loschmidtsche Zahl für das Mol, Y das Mol- 
volumen. Die Ausrechnung ergibt 


Z=Vmd.22°(— i) 





lautet, folgt 








HY (io) 
Page 





(384) 





F=— RT {1089 + log(— 7-9) 4 konst.) 


[H% bedeutet die Hankelsche Zylinderfunktion :“" Art von der n' 
Ordnung mit i=1,2.] 


262) F. Jüttner, Ann. d. Phys. 34 (1911), p. 856. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 46 


700 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Alle anderen thermodynamischen Größen folgen aus der freien 
Energie in bekannter Weise, z.B. 


oF oF 0 F 
Bus 1 2 Ave Su Ft 1 5 
(unabhängige Variable V, 7). Aus der ersten Gleichung folgt 
- RT 
(385) AT 


Die Zustandsgleichung des idealen Gases bleibt in der relativistischen 
Mechanik unverändert bestehen. Es hängt dies damit zusammen, daß 
die Abhängigkeit der freien Energie und des Zustandsintegrals Z vom 
Volumen durch die relativistische Mechanik nicht modifiziert wird, 
was man auch a priori sofort einsehen kann. Anders ist es mit der 
Abhängigkeit der Energie von der Temperatur. Es ergibt sich 

iH}/®(io) 
(386) E=RT (1 og }- 
Für großes 6 kann man die Hankelsche Zylinderfunktion durch ihre 
asymptotische Darstellung 


— iH®(io) = —— 





Y}4ro 
ersetzen. Durch logaärithmisches Differenzieren folgt daraus 
id; 1 
er PCIE eu + 26’ 


was in (386) eingesetzt, gibt: 
(3862) E=KRT(+?)=Lme +3 RT, 


in Übereinstimmung mit der alten Theorie, wie es sein muß. Man 
hätte den Ausdruck (386) für die Energie auch aus dem Maxwell- 
schen Geschwindigkeitsverteilungsgesetz entnehmen können. Nach 
Theorem 4, Nr. 48 unterscheidet sich dieses nur durch die Art der 
Abhängigkeit des Faktors A von der Temperatur von dem Verteilungs- 
gesetz der alten Mechanik. 

Jütiner”°®) hat auch den Einfluß der Bewegung eines idealen 
Gases auf seine thermodynamischen Eigenschaften vom Standpunkt 
der relativistischen Dynamik aus untersucht. Die entsprechenden Be- 
ziehungen lassen sich auf Grund der Transformationsformeln der 
Nr. 46 sofort anschreiben. Das ideale Gas erweist sich als noch viel 
ungünstiger zur experimentellen Prüfung des Satzes von der Trägheit 
der Energie als der mit schwarzer Strahlung erfüllte Hohlraum. 


263) F. Jüttner, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 145. 


50. Historisches bis zu Einsteins Arbeit von 1916. 701 


IV. Allgemeine Relativitätstheorie. 


50. Historisches bis zu Einsteins Arbeit von 1916.°%) Das 
Newtonsche Gravitationsgesetz, das eine momentan in die Ferne wir- 
kende Kraft fordert, ist mit der speziellen Relativitätstheorie unver- 
einbar. Diese fordert eine Ausbreitung, die höchstens mit Licht- 
geschwindigkeit erfolgt?®), und Kovarianz der Gravitationsgesetze 
gegenüber Lorentz-Transformationen. Schon Poincare?®) befaßte sich 
mit der Aufgabe, das Newtonsche Gravitationsgesetz so abzuändern, 
daß diese Forderungen erfüllt sind. Es kann dies auf mehrere Weisen 
geschehen. Allen Ansätzen ist gemeinsam, daß die Kraft zweier 
Massenpunkte aufeinander nicht von ihren gleichzeitigen, sondern von 


. . 7 . . . 
den um die Zeit = verschiedener Lagen sowie von ihren Ge- 


schwindigkeiten (evtl. auch Beschleunigungen) abhängen. Die Ab- 
weichungen vom Newtonschen Gesetz sind immer von 2. Ordnung in 


—, bleiben also stets sehr klein und widersprechen der Erfahrung 


nicht.2662) Minkowski?®) und Sommerfeld?®®) haben die Poincareschen 
Ansätze auf eine dem vierdimensionalen Vektorkalkül entsprechende 
Form gebracht; ein spezielles Gesetz diskutiert 4. A. Lorentz?°®*®). 
Gegen alle diese Betrachtungen ist einzuwenden, daß sie vom 
Elementargesetz für die Kraft ausgehen statt von der Poissonschen 
Differentialgleichung. Ist einmal die endliche Ausbreitung einer Wir- 
kung erwiesen, so darf man nur dann erwarten, auf einfache allge- 
meingültige Gesetze zu kommen, wenn man sie durch kontinuierlich 
in Ort und Zeit variierende Zustandsgrößen (ein F'eld) beschreibt und 
die Differentialgleichungen dieses Feldes aufsucht. Das Problem be- 


264) Über die älteren Versuche, das Newtonsche Gravitationsgesetz abzu- 
ändern, vgl. man die Artikel von J. Zenneck, V 2, und $. Oppenheim, VI, 22, 
insbes. Abschn. V. Wir geben die historische Entwicklung nur in großen Um- 
rissen; wegen mancher Einzelheiten sei auch auf den Artikel von F. Kottler, 
VI 2, 22 verwiesen. 

265) Nimmt man an, daß die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitations- 
wirkungen vom Bewegungszustand der Körper, von denen diese Wirkungen aus- 
gehen, unabhängig ist, so folgt sogar, daß sie exakt gleich der Vakuumlicht- 
geschwindigkeit sein muß. 

266) H. Poincare, Rend. Pal., l.c. Anm. 11). 

2663) Genauere Diskussion bei W. de Sitter, Monthly Not. 71 (1911), p. 388. 

267) H. Minkowski, III, 1, c. Anm. 54). 

268) A. Sommerfeld, Ann. d. Phys. 33, l. c. Anm. 55). 

2682) H. A. Lorentz, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 1234; sowie Das Relati- 
vitätsprinzip, 3 Haarlemer Vorträge, p. 19. 

46* 


102 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


stand also darin, die Poissonsche Gleichung 


Ad—=4nku, 
und die Bewegungsgleichung des Massenpunktes 
— — grad ® 


so abzuändern, daß sie gegenüber Lorentz-Transformationen invariant 
werden. 

Bevor dieses Problem gelöst wurde, schlug die Entwicklung je- 
doch bereits einen anderen Weg ein. Als die physikalischen Folge- 
rungen der speziellen Relativitätstheorie bis zu einem gewissen Ab- 
schluß gelangt waren, machte Einstein?) sofort den Versuch, das 
Relativitätsprinzip auch auf anders als gleichförmig translatorisch be- 
wegte Bezugssysteme auszudehnen. Auch in anderen Systemen als den 
Galileischen (Nr. 2) sollten die allgemeinen Naturgesetze ihre Form be- 
halten. Die Möglichkeit hierzu bietet das sogenannte Äquivaleneprinzip. 
In der Newtonschen Theorie ist ein in einem homogenen Schwere- 
feld befindliches System in mechanischer Hinsicht vollständig gleich- 
wertig einem gleichförmig beschleunigten Bezugssystem.?®®) Die For- 
derung, daß auch alle anderen Vorgänge sich in beiden Systemen in 
gleicher Weise abspielen sollen, bildet den Inhalt des Einsteinschen 
Äquivalenzprinzips, das einen Grundpfeiler der von ihm später ent- 
worfenen allgemeinen Relativitätstheorie bildet (vgl. Nr. 51). Da man 
den Ablauf der Vorgänge in einem beschleunigten System durch Rech- 
nung ermitteln kann, gibt es zugleich die Möglichkeit, den Einfluß 
eines homogenen Schwerefeldes auf irgendeinen Vorgang zu ermitteln. 
Dies ist die heuristische Kraft des Äquivalenzprinzips. Auf diese 
Weise leitete Einstein das Resultat ab, daß Uhren an Orten niedri- 
geren Gravitationspotentials langsamer gehen als an Orten höheren 
Gravitationspotentials, und wies bereits darauf hin, daß dies eine Ver- 
schiebung der auf der Sonne emittierten Spektrallinien gegenüber den 
irdischen nach Rot zur Folge hat (vgl. Nr.53b). Ferner ergab sich, 
daß die Lichtgeschwindigkeit im Schwerefeld veränderlich ist, die 
Lichtstrahlen infolgedessen gekrümmt sein müssen, sowie daß jeder 
Energie E nicht nur eine träge, sondern auch eine schwere Masse 


m= z zugeschrieben werden müsse. In einer folgenden Arbeit zeigte 


269) A. Einstein, Jahrb. f. Rad. u. El. 4 (1907), p. 411, Kap. V. 

2692) Streng genommen ist die gleichförmig beschleunigte Bewegung durch 
eine Hyperbelbewegung (Nr. 26) zu ersetzen, weshalb die Transformationsformeln 
für die Koordinaten komplizierter werden. Siehe darüber H. A. Lorentz, Haar- 
lemer Vorträge, p. 36 und P. Ehrenfest, Amst. Proe, 15 (1913), p. 1187. 


50. Historisches bis zu Einsteins Arbeit von 1916. 1703 


Einstein?"®), daß die Krümmung der Lichtstrahlen eine Verschiebung 
der am Sonnenrande gesehenen Fixsterne zur Folge hat, die einer 
Prüfung durch die Erfahrung zugänglich ist. Den Betrag der Ver- 
schiebung berechnete er damals zu 0,83 Bogensekunden. 

Diese Theorie des homogenen Gravitationsfeldes bedeutete eine 
Durchbrechung des Rahmens der speziellen Relativitätstheorie. Wegen 
der Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit und der Ganggeschwindig- 
keit einer Uhr vom Gravitationspotential ist hier die in Nr. 4 einge- 
führte Definition der Gleichzeitigkeit nicht mehr durchführbar, und 
die Lorentz-Transformation verliert ihren Sinn. Von diesem Stand- 
punkt aus kann also die spezielle Relativitätstheorie nur bei Abwesen- 
heit von Gravitationsfeldern richtig sein. Nach Einführung des Gra- 
vitationspotentials als physikalische Zustandsgröße wird man dann die 
Naturgesetze vielmehr als Beziehungen zwischen den übrigen physika- 
lischen Größen und dem Gravitationspotential auffassen und ihre Ko- 
varianz fordern gegenüber einer umfassenderen Gruppe von Transfor- 
mationen, bei der das Gravitationspotential in geeigneter Weise mit- 
transformiert wird. Es ‚war nun die Aufgabe, eine solche auf dem 
Äquivalenzprinzip fußende Theorie auch für nicht homogene Gravita- 
tionsfelder aufzustellen. Einstein und Abraham") versuchten, das all- 
gemeine statische Gravitationsfeld zu ceharakterisieren durch den Wert 
der Lichtgeschwindigkeit c in jedem Raum-Zeitpunkt, die zugleich 
die Rolle des Gravitationspotentials spielt, und suchten Differential- 
gleichungen zu finden, denen c genügen muß.‘ Abgesehen davon, daß 
diese Theorien nur spezielle Gravitationsfelder in Betracht ziehen, 
führten sie auch sonst auf Schwierigkeiten. 

Es wurde deshalb von Nordström?'?) der Versuch gemacht, an 
der strengen Gültigkeit des speziellen Relativitätsprinzips konsequent 
festzulialten: In seiner Theorie ist die Liehtgeschwindigkeit konstant, 
eine Strahlenablenkung im Schwerefeld findet nicht statt. Sie löst 
das früher skizzierte Problem, die Poissonsche Gleichung und die Be- 


270) A. Einstein, Über den Einfluß der Schwerkraft auf die Ausbreitung 
des Lichtes, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 898; auch in der Sammlung „Das Rela- 
tivitätsprinzip“, 3. Aufl. 1920, enthalten. 

271) A. Einstein, Ann. d. Phys. 38 (1912), p. 355, 443; M. Abraham, Phys. 
Ztschr. 13 (1912), p. 1, 4, 798; Diskussion zwischen Einstein und Abraham, Ann. 
d. Phys. 38 (1912), 1056, 1059; 39 (1912), p. 444, 704. 

272) @. Nordström, Phys. Ztschr. 13 (1912), p 1126; Ann. d. Phys. 40 (1913) 
p. 856; 42 (1913), p. 533; 43 (1914), p. 1101; Finska Vetensk. Verh. 57 (1914 u. 
1915); ferner M. Behacker, Phys. Ztschr. 14 (1918), p. 989; A. Einstein u. A. D. 
Fokker, Ann. d. Phys. 44 (1914), p. 321. Zusammenfassende Darstellung bei 
M. v. Laue, Jahrb. f. Rad. u. El. 14 (1917), p. 263, sowie das Referat über alle 
älteren Gravitationstheorien bei M. Abraham, Jahrb. f. Rad. u. El. 11 (1914), p. 470. 


704 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


wegungsgleichung des Massenpunktes auf eine gegenüber Lorentz- 
Transformationen kovariante Form zu bringen, in logisch vollkommen 
einwandfreier Weise. Auch wird dem Impuls-Energiesatz sowie dem 
Satz von der Gleichheit der schweren und trägen Masse genügt. Wenn 
sie dennoch nicht akzeptiert wird, so geschieht dies erstens deshalb, 
weil sie dem allgemeinen Relativitätsprinzip nicht genügt (oder jeden- 
falls nicht in einfacher und natürlicher Weise genügt, vgl. Nr. 56), 
und zweitens, weil sie der Erfahrung widerspricht: sie liefert keine 
Krümmung der Lichtstrahlen und eine Perihelbewegung des Merkur 
mit verkehrtem Vorzeichen. (Hinsichtlich der Rotverschiebung stimmt 
sie mit der Einsteinschen Theorie überein.) Auch Mie?"®) hat eine 
Gravitationstheorie aufgestellt, die auf dem speziellen Relativitäts- 
prinzip fußt. Da sie aber dem Satz von der Gleichheit der trägen 
und schweren Masse nicht streng genügt, hatte sie immer nur eine 
sehr geringe Wahrscheinlichkeit für sich. 

Einstein ließ sich jedoch in seinem Bestreben, den Naturgesetzen- 
eine solche Gestalt zu geben, daß sie gegenüber. einer möglichst um- 
fassenden Gruppe von Transformationen kovariant werden, durch die 
Schwierigkeiten des Problems nicht irre machen. In einer gemeinsam mit 
Großmann ausgeführten Arbeit?) gelang es ihm, in dieser Richtung einen 
wesentlichen Fortschritt zu erzielen. Wenn man das Quadrat des Linien- 
elements auf beliebige krummlinige Raum-Zeitkoordinaten transformiert, 
so wird es eine quadratische Form der Koordinatendifferentiale mit 
10 Koeffizienten g,, (vgl. Nr. 51). Das Gravitationsfeld wird jetzt durch 
diesen Zehnertensor der g,,, nicht mehr durch die skalare Lichtge- 
schwindigkeit bestimmt. Zugleich wurden die Bewegungsgleichung des 
materiellen Punktes, der Impuls-Energiesatz und die elektromagne- 
tischen Feldgleichungen für das Vakuum durch Einführung der g,, 
auf die endgültige, allgemein kovariante Form gebracht?) Nur die 
damals aufgestellten Differentialgleichungen der g,, selbst waren nicht 
allgemein kovariant. In einer folgenden Arbeit?®) suchte Einstein 


273) G. Mie, Ann. d. Phys. 40 (1913), p. 1, V. Kap. Gravitation; Elster- 
Geitel-Festschr. 1915, p. 251. 

274) A. Einstein u. M. Großmann, Ztschr. Math. Phys. 63 (1914), p. 215. 
Zusammenfassender Vortrag: A. Einstein, Zum gegenwärtigen Stand des Gravi- 
tationsproblems, Phys. Ztschr. 14 (1913), p. 1249; anschließende Diskussion Mie, 
Einstein, Nordström: Phys. Ztschr. 15 (1914), p. 115, 169, 176, 375. 

275) Es ist interessant, daß ohne Zusammenhang mit der Gravitationstheorie 
die betreffenden formalen Entwickelungen sowie die Schreibweise der elektro- 
magnetischen Feldgleichungen in allgemein kovarianter Form schon vorher von 
F. Kottler, Wien. Ber. 121 (1912), p. 1659, angegeben wurden. 

276) A. Einstein, Die formale Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, 
Berl. Ber. 1914, p. 1030. 





51. Allg. Formul. des Äquivalenzprinzips. Zusammenh. zw. Gravit. u. Metrik. 705 


diese Differentialgleichungen eingehender zu begründen und glaubte 
sogar einen Beweis dafür gefunden zu haben, daß die Gleichungen, 
welche die g;, selbst bestimmen, nicht allgemein kovariant sein können. 
Im Jahre 1915 erkannte er jedoch, daß die invariantentheoretischen 
Forderungen, die er früher an seine Feldgleichungen der Gravitation 
stellte, diese gar nicht eindeutig festlegen. Um die Möglichkeiten ein- 
zuschränken, kam er auf die Forderung der allgemeinen Kovarianz 
zurück, die er früher „nur schweren Herzens verlassen hatte“. Im An- 
schluß an die Riemannsche Krümmungstheorie gelang es ihm nun in 
der Tat, auch für die g,, selbst allgemein kovariante Gleichungen auf- 
zustellen, die allen physikalischen Anforderungen entsprechen?) (vgl. 
Nr. 56). In einer weiteren Mitteilung?”®) konnte er zeigen, daß seine 
Theorie die Perihelbewegung des Merkur quantitativ richtig erklärt 
und eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld der Sonne 
fordert, die doppelt so groß ist, wie er sie früher auf Grund des 
Äquivalenzprinzips für homogene Felder abgeleitet hatte. Bald darauf 
erschien Einsteins abschließende Arbeit „Die Grundlagen der allge- 
meinen Relativitätstheorie“.?”®) Im folgenden sollen nun die Prinzipien 
und der weitere Ausbau dieser Theorie dargelegt werden. 

5l. Allgemeine Formulierung des Äquivalenzprinzips. Zu-- 
sammenhang zwischen Gravitation und Metrik. Das Äquivalenz- 
prinzip wurde ursprünglich nur für homogene Schwerefelder aufgestellt. 
Im allgemeinen Fall läßt es sich so formulieren: Es gibt für ein un- 
endlich kleines Weltgebiet (d. h. ein so kleines Weltgebiet, daß die ört- 
liche und zeitliche Variation der Schwere in ihm vernachlässigt werden 
kann) stets ein solches Koordinatensystem K,(X,, Xg, Xz, X,), in wel- 
chem ein Einfluß der Schwere weder auf die Bewegung von Massen- 
punkten noch auf irgendwelche anderen physikalischen Vorgänge vor- 
handen ist. Kurz gesagt, in einem unendlich kleinen Weltgebiet läßt sich 
jedes Schwerefeld wegtransformieren. Das lokale Koordinatensystem 

277) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, p. 778, 799, 844. — Gleichzeitig wie Ein- 
stein und unabhängig davon hat auch Hilbert die allgemein kovarianten Feld- 
gleichungen aufgestellt [D. Hilbert, Grundlagen der Physik, 1. Mitt.; Gött. Nachr. 
1915, math.-nat. Kl., p. 395]. Seine Darstellung dürfte jedoch aus zwei Gründen 
bei den Physikern wenig Anklang finden. Erstens wird die Existenz eines Va- 
riationsprinzips als Axiom eingeführt und zweitens, was noch schwerwiegender 
ist, werden die Feldgleichungen nicht für ein beliebiges materielles System ab. 
geleitet, sondern speziell unter Zugrundelegung der (im Abschn. V näher bespro- 
chenen) Mieschen Theorie der Materie. Auf die anderen Ergebnisse der Hilbert- 
schen Arbeit kommen wir noch in Nr. 56 und 57 zurück. 

278) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, p. 831. 


279) A. Einstein, Ann. d. Phys. 49 (1916), p. 769. Auch separat als Bro- 
schüre erschienen und in der Sammlung „Das Relativitätsprinzip“. 


1706 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


K, kann man sich realisiert denken durch einen frei schwebenden, 
hinreichend kleinen Kasten, der keinen äußeren Kräften außer der 
Schwere unterworfen ist- und dieser folgend frei fällt. 

Es ist klar, daß dieses Wegtransformieren nur deshalb möglich ist, 
weil das Schwerefeld die fundamentale Eigenschaft hat, allen Körpern 
dieselbe Beschleunigung zu erteilen; oder, was nur ein anderer Aus- 
druck dafür ist, weil die schwere und die träge Masse stets gleich sind. 
Diese Aussage ruht nun auf sehr sicheren experimentellen Grundlagen. 
Eötvös”®) wies bei einer Untersuchung der Frage, ob die Richtung 
der Resultierenden aus Erdanziehung und Zentrifugalkraft der Erd- 
rotation vom Material abhängt, nach, daß schwere und träge Masse 
mit einem Genauigkeitsgrade von „, gleich sind. Im Hinblick auf 
den Satz von der Trägheit der Energie ist ferner eine Untersuchung 
von Southerns?®‘) von Interesse, in der gezeigt wird, daß das Ver- 
hältnis zwischen Masse und Gewicht bei Uranoxyd von dem entspre- 
chenden Verhältnis bei Bleioxyd höchstens um „', verschieden ist. 
Aus dem Äquivalenzprinzip folgt nämlich im Verein mit dem Satz 
von der Trägheit der Energie, daß jeder Energieform auch ein Ge- 
wicht zuzuschreiben ist. Hätte nun die beim radioaktiven Zerfall von 
Uran freiwerdende innere Energie zwar Trägheit aber kein Gewicht, so 
müßte das genannte Verhältnis einen Unterschied von ;;45 aufweisen. 
Eötvös*®) fand dies bestätigt, wobei sich die Genauigkeit noch erheb- 
lich steigern ließ. 

Es ist offenbar naturgemäß anzunehmen, daß in X, die spezielle 
Relativitätstheorie gilt. Alle Sätze dieser Theorie sollen also bestehen 
bleiben, nur muß an Stelle des Galileischen Koordinatensystems der 
Nr. 2 das für einen unendlich kleinen Bereich definierte System K, 
treten. Alle Systeme K,, die durch Lorentz-Transformationen aus- 
einander hervorgehen, sind gleichberechtigt. In diesem Sinne kann 
man also sagen, daß die Invarianz der physikalischen Gesetze gegen- 
über Lorentz-Transformationen im Unendlichkleinen fortbesteht. Wir 
können nun zwei unendlich benachbarten Punktereignissen eine be- 
stimmte durch Messungen ermittelbare Zahl, ihren Abstand ds, zu- 
ordnen. Hierzu brauchen wir nur das Schwerefeld wegzutransformieren 
und dann in Ä, die Größe 


(387) ds? = dX? + dX2+dX?— dX? 


280) R. Eötvös, Math. u. naturw. Ber. aus Ungarn 8 (1890), p. 65; R. Eötvös, 
D. Pekär u. E. Fekete, Abh. der XVI. allgemeinen Konferenz der internat. Erd- 
messung 1909; vgl. auch Gött. Nachr. 1909, geschäftliche Mitteilungen p. 37 und 
D. Pekar, Naturw. 7 (1919), p. 327. 

281) L. Southerns, Proc. Roy. Soc. A 84 (1910), p 325. 


51. Allg. Formul. des Äquivalenzprinzips. Zusammenh. zw. Gravit. u. Metrik. 707 


zu bilden.?%) Die Koordinalendifferentiale dx, ... dx, sind dabei un- 
mittelbar mit dem Einheitsmaßstab und der Einheitsuhr zu bestimmen. 
Wir betrachten nun irgendein anderes Koordinatensystem X, in wel- 
chem die Zuordnung der Koordinatenwerte z!...x* zu den Welt- 
punkten — abgesehen von der Bedingung der Eindeutigkeit und 
Stetigkeit — eine ganz beliebige sei. Dann werden an jeder Raum- 
zeitstelle die zugehörigen Differentiale d X, linear-homogene Ausdrücke 
in den da* sein, und das Linienelement ds? geht über in eine quadra- 
tische Form 
(388) ds? — 9,,.da’ dat, 
deren Koeffizienten g,, Funktionen der Koordinaten sind. Es ist ferner 
klar, daß beim Übergang zu neuen Koordinaten die g,, sich so trans- 
formieren, daß ds? invariant bleibt. Die Verhältnisse sind also völlig 
analog zu denjenigen, die in der Geometrie nichteuklidischer, mehr- 
dimensionaler Mannigfaltigkeiten auftreten (Nr. 15). Das System K, 
im frei schwebenden Kasten übernimmt die Rolle des geodätischen 
Systems der Nr. 16; in ihm sind die g,, konstant, solange ihre zweiten 
Differentiale vernachlässigt werden können und das Linienelement hat 
bis auf Größen zweiter Ordnung die Form (387). Die Gesamtheit der 
Werte der g,, in allen Weltpunkten wollen wir das @-Feld nennen. 
Das Bewegungsgesetz eines Massenpunktes, der keinen anderen 
Kräften als der Gravitation ausgesetzt ist, läßt sich nun einfach so 
formulieren. Die Weltlinie eines solchen Massenpunktes ist eine geo- 
dätische Linie (Nr. 17), und es gilt nach (81) und (80): 


(81) fas=0, 
dezi da’ dx’ 
(80) A a 
wo I“, durch (66) und (69) definiert ist. Im System K, bewegt sich 
nämlich der Massenpunkt im betreffenden Augenblick geradlinig-gleich- 


Xi 
förmig, 0, was zugleich das Gleichungssystem der geodätischen 


Linie in K, ist. Die Aussage, die Weltlinie des Massenpunktes ist eine 
geodätische Linie, ist aber invariant, also gilt sie allgemein. (Dabei 
ist allerdings angenommen, daß im Bewegungsgesetz für den Massen- 
punkt die zweiten Ableitungen der g,, nach den Koordinaten nicht 
auftreten.) Die Gültigkeit dieses einfachen Satzes ist nicht verwunder- 


282) Zum Unterschied von den anderen Autoren geber wir auch in der 
allgemeinen Relativitätstheorie dem Linienelement 3 positive und eine negative 
Dimension, nicht umgekehrt. Dies ist auch beim Vergleich der im folgenden 
vorkommenden Formeln mit den üblichen zu berücksichtigen. 


708 Vı19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


lich. Wir haben eben das Linienelement schon so definiert, daß die 
Weltlinie eines Massenpunktes eine geodätische wird. Wir sehen also: 
Die 10 Tensorkomponenten 9,, übernehmen in der Einsteinschen Theorie 
die Rolle des skalaren Newtonschen Potentials ©; die aus ihren Ablei- 
tungen gebildeten Komponenten I“, bestimmen die Größe der Schwerkraft. 

Eine genau analoge Betrachtung läßt sich für die Lichtstrahlen 
durchführen. Im System X, sind die Lichtstrahlen gerade Linien #?*) 
und erfüllen außerdem die Relation 


a2 +aR rat —di!=0. 
Also sind die Weltlinien der Lichtstrahlen allgemein geodätische Null- 
linien (Nr. 22): 


d’xi . da” da® 
(80a) ar re Er see 
(812) dt re 0. 


Kretschmann???) und Weyl’®*) haben überdies gezeigt, daß schon die 
Beobachtung der Ankunft von Lichtsignalen genügt, um das G-Feld 
in einem bestimmten Koordinatensystem zu ermitteln, auch ohne daß 
die Bewegung von Massenpunkten herangezogen wird. 

Es gibt jedoch noch eine dritte Art, das G@-Feld zu messen. Man kann 
mit Hilfe von Maßstäben (oder besser von Maßfäden) und Uhren bei einem 
bestimmten gegebenen Koordinatensystem die Abhängigkeit der Größe 
ds des Linienelementes von den Koordinatendifferentialen dx* auf allen 
von einem beliebig herausgegriffenen Punkte ausgehenden Weltlinien 
bestimmen. Das @-Feld folgt daraus unmittelbar, Es charakterisiert 
also nicht nur das Gravitationsfeld, sondern auch das Verhalten von Maß- 
stäben und Uhren, die Maßverhältnisse (Metrik) der vierdimensionalen 
Welt, welche die Geometrie des gewöhnlichen dreidimensionalen Raumes 
als Spezialfall enthält. Diese Verschmelzung zweier vorher vollständig 
getrennter Gebiete — Metrik und Gravitation — muß als die schönste 
Leistung der allgemeinen Relativitätstheorie bezeichnet werden. Wie 
wir gesehen haben und wie auch an einfachen Beispielen erläutert 
werden kann, ist sie eine zwingende Konsequenz des Äquivalenz- 
prinzips und der Gültigkeit der speziellen Relativitätstheorie im Un- 
endlichkleinen. Es kann jetzt die Bewegung eines Massenpunktes 
unter dem alleinigen Einfluß eines Gravitationsfeldes auch so aufgefaßt 





282a) Dabei ist natürlich angenommen, daß wir uns im Gültigkeitsbereich 
der geometrischen Optik befinden. Sobald Beugung vorhanden ist, trifft dies 
nicht zu. Vgl. dazu‘auch Anm. 310a) unten. 

283) E. Kretschmann, Ann. d. Phys. 53 (1917), p. 575. 

284) H. Weyl, Raum — Zeit — Materie, 1. Aufl. (1918), p. 182; 3. Aufl. 
(1919), p. 194. 


51. Allg. Formul. des Äquivalenzprinzips. Zusammenh. zw. Gravit. u. Metrik. 709 


werden: Die Bewegung des Massenpunktes ist kräftefrei. Sie ist des- 
halb nicht geradlinig-gleichförmig, weil das vierdimensionale Raum- 
Zeit-Kontinuum nichteuklidisch ist und in einem solchen die gerad- 
linig-gleichförmge Bewegung keinen Sinn hat und durch die Bewegung 
auf der geodätischen Linie zu ersetzen ist. Entsprechend ist das 
Galileische Trägheitsgesetz durch 


sfas—0 


zu ersetzen. Dieses hat vor jenem den großen Vorzug, daß es all- 
gemein kovariant ist. Die Gravitation ist in der Einsteinschen Theorie 
genau so eine Scheinkraft wie die Coriolis- und Zentrifugalkraft in der 
Newtonschen Theorie. (Man kann die Sache allerdings mit dem gleichen 
Recht auch so auffassen, daß in der Einsteinschen Theorie keine von 
beiden Kräften als Scheinkraft zu bezeichnen ist.) Daß sich erstere im 
allgemeinen nicht in endlichen Bereichen wegtransformieren läßt, diese 
aber wohl, tut nichts zur Sache. In unendlich kleinen Bereichen läßt 
sich die Gravitation stets wegtransformieren, und das allein ist ent- 
scheidend. Daß der nichteuklidische Charakter der Raum-Zeitwelt 
sich im Verhalten der Maßstäbe und Uhren nur äußerst wenig, in der 
Abweichung der Bewegung der Massenpunkte von der geradlinig-gleich- 
förmigen, das ist in der Gravitation, sehr stark äußert, liegt an der 
Größe der Lichtgeschwindigkeit, wie wir in Nr. 53 sehen werden. 
Durch die Verschmelzung von Gravitation und Metrik findet nicht 
nur das Gravitationsproblem, sondern auch das Problem der Geometrie 
eine befriedigende Lösung. Die Fragen nach der Wahrheit der geo- 
metrischen Sätze und nach der tatsächlich im Raum herrschenden 
Geometrie sind sinnlos, solange sich die Geometrie nur mit Gedanken- 
dingen und nicht mit den Gegenständen der Erfahrungswelt beschäftigt. 
Fügt man jedoch den Sätzen der Geometrie die Definition hinzu, daß 
als Länge einer (unendlich kleinen) Strecke, die mit einem starren 
Stab oder Maßfaden in bekannter Weise ermittelte Zahl gelten soll, 
so wird die Geometrie zu einem Zweig der Physik, und die genannten 
Fragen bekommen einen bestimmten Sinn.?**) Hier gestattet nun die 
allgemeine Relativitätstheorie sofort eine allgemeine Aussage zu machen: 
Da die Gravitation von der Materie bestimmt wird, müssen wir das- 
selbe auch für die Geometrie postulieren. Die Geometrie des Raumes 
ist nicht a priori gegeben, sondern wird erst durch die Materie bestimmt. 
(Wie dies im einzelnen geschieht, wird in Nr. 56 dargelegt.) Eine 


284a) A. Einstein, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, 
1. Aufl, Braunschweig 1917, p. 2. 


710 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


ähnliche Auffassung hatte schon Riemann.°®) Sie konnte jedoch da- 
mals nur ein kühnes Projekt bleiben, denn die Ermittelung des Zu- 
sammenhanges zwischen Geometrie und Gravitation ist nur möglich, 
wenn die metrische Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit bereits 
erkannt ist. 

52. Das Postulat der allgemeinen Kovarianz der Naturgesetze. 
Dieses Postulat ist es, welches den eigentlichen Antrieb zur allgemeinen 
Relativitätstheorie gegeben hat und welchem diese ihren Namen ver- 
dankt. Es hat verschiedene Wurzeln. Erstens sind beliebig bewegte 
Bezugssysteme kinematisch vollkommen gleichwertig, und dies legt die 
Vermutung nahe, daß die Gleichwertigkeit auch in dynamischer und 
physikalischer Hinsicht zutreffe. A priori ist das natürlich nicht be- 
weisbar, nur der Erfolg kann lehren, ob die Vermutung richtig ist. 

Es ist jedoch leicht einzusehen, daß man sich nicht damit be- 
gnügen kann, beliebig bewegte Bezugssysteme einzuführen. Wie Ein- 
stein?®°) am Beispiel des rotierenden Bezugssystems zeigt, können in 
den nicht Galileischen Systemen Zeit und räumliche Entfernungen 
nicht einfach mit der Uhr und dem starren Einheitsmaßstab bestimmt 
werden; die euklidische Geometrie muß aufgegeben werden. Es bleibt 
also nichts übrig, als alle denkbaren Koordinatensysteme zuzulassen- 
Die Koordinaten sind als völlig willkürliche Parameter aufzufassen, 
die den Weltpunkten irgendwie in eindeutiger und stetiger Weise zu- 
geordnet werden (Gaußsches Koordinatensystem). Daß eine solche 
Beschreibung der Welt ausreichend ist, geht aus folgender Überlegung 
Einsteins®®) hervor. Alle physikalischen Messungen laufen auf die 
Konstatierung von raum—zeitlichen Koinzidenzen hinaus; außer diesen 
Koinzidenzen ist nichts beobachtbar. Entsprechen aber in einem Gauß- 
schen Koordinatensystem zwei Punktereignissen dieselben Koordinaten, 
so ist dies auch in jedem anderen Gaußschen Koordinatensystem der 
Fall. Wir müssen also das Relativitätspostulat erweitern: Die all- 
gemeinen Naturgesetze sollen auf eine solche Form gebracht werden, daß 
sie in jedem Gaußschen Koordinatensystem gleichlauten, d. h. gegenüber 
beliebigen Transformationen der Koordinaten kovariant sind.?®'*) 


285) Riemann, Habilitationsvortrag, 1. c. Anm. 65). 

286) A. Einstein, Ann. d. Phys. 49 l. c. Anm. 279). 

287) A. Einstein, 1. c. Anm. 286) und 279). Vgl. dazu auch E. Kretsch- 
mann, Ann. d. Phys. 48 (1915), 907 und 943. 

287a) P. Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation, Leipzig 
1918; 2. Aufl. 1920. Siehe auch die Nauheimer Diskussion, Phys. Ztschr. 21 
(1920), p. 666) erhebt Bedenken gegen die Benützung so allgemeiner Koordinaten- 
systeme und gegen die Realität von Gravitationsfeldern, die nach Einsteins Theorie 
in ihnen auftreten würden. Ref. kann sich diesen Bedenken nicht anschließen. 


53. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. 711 


Diese Kovarianz wird dadurch ermöglicht, daß die g,, in die 
physikalischen Gesetze eingefügt werden. (Mathematisch gesprochen: 
Die allgemeinen Naturgesetze gestatten nach Adjunktion der invarıanten 
quadratischen Form ds? — g,,da’ dar 


beliebige Punkttransformationen.) In der Tat kann jedes Gesetz der 
speziellen Relativitätstheorie nach dem im Abschnitt Il angegebenen 
Schema durch formale Einführung der 9,, allgemein kovariant gemacht 
werden, wie in Nr. 54 noch an einzelnen Beispielen gezeigt werden 
wird. Es ist deshalb von Kretschmann°®®) die Ansicht vertreten worden, 
daß das Postulat der allgemeinen Kovarianz überhaupt nichts über 
den physikalischen Inhalt der Naturgesetze aussagt, sondern bloß etwas 
über ihre mathematische Formulierung; und Einstein®®®) stimmte dieser 
Ansicht durchaus zu. Einen physikalischen Inhalt bekommt die all- 
gemein kovariante Formulierung der Naturgesetze erst durch das Äqui- 
valenzprinzip, welches zur Folge hat, daß die Gravitation durch die 
9,;, allein beschrieben wird, und daß diese nicht unabhängig von der 
Materie gegeben, sondern selbst durch Feldgleichungen bestimmt sind. 
Erst deshalb können die g,, als physikalische Zustandsgrößen bezeichnet 
werden.?2®) Das Postulat der allgemeinen Kovarianz hat jedoch, wie 
Einstein?®®) betont hat, auch noch eine andere Bedeutung. Die Dif- 
ferentialgleichungen des @-Feldes selbst werden so zu bestimmen sein, 
daß sie vom Standpunkt der allgemeinen Kovariantentheorie möglichst 
einfach und durchsichtig sind. Diese heuristische Seite des Kovarianz- 
postulates hat sich aufs beste bewährt (Nr. 56). 

Es ist versucht worden, trotz der allgemeinen Kovarianz das Ko- 
ordinatensystem in gewisser Weise zu normieren. Insbesondere be- 
schäftigen sich Untersuchungen von Kreischmann®®®) und Mie?”) mit 
dieser Frage. Es scheinen jedoch alle vorgeschlagenen Normierungen 
nur in Spezialfällen möglich bzw. von praktischer Bedeutung zu sein. 
Im allgemeinen Falle und bei prinzipiellen Fragen ist die allgemeine 
Kovarianz unentbehrlich. 


53. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. a) Die 
Bewegungsgleichungen des Massenpunktes bei langsamen Geschwindig- 
keiten?”?) und schwachen Gravitationsfeldern. Die Bewegungsgleichung 


288) E. Kretschmann, Ann. d. Phys. 53, ]. c. Anm. 283). 

289) A. Einstein, Ann. d. Phys. 55 (1918), p. 241. 

290) H. Weyl, Raum — Zeit — Materie, 1. Aufl. 1918, p. 180, 181; 3. Aufl. 
1919, p. 192, 193. 

294) G. Mie, Ann. d. Phys. 62 (1920), p. 46. 

292) Vgl. dazu A. Einstein, Aun. d. Phys. 49, 1. c. Anm. 279), $ 21. 


7112 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


(80) für den Massenpunkt läßt eine beträchtliche Vereinfachung zu, 
wenn die Geschwindigkeit des Massenpunktes klein gegenüber der Licht- 
‚geschwindigkeit ist, so daß Größen von der Ordnung = vernachlässigt 
werden können. Es werde überdies vorausgesetzt, daß das Gravita- 
tionsfeld schwach ist. Das heißt, die g,, sollen nur äußerst wenig von 
ihren Normalwerten 

:H=tr1, füi=-k-=123, y=—1 

Iı=0 für ik 
abweichen, so daß die Quadrate dieser Abweichungen vernachlässigt wer- 
den können. Es wird dann 
(389) E—=—eT, fü i=-1,2,3,#=ct. 
Außerdem sei das Feld statisch oder quasistatisch, so daß auch die 
zeitlichen Ableitungen der g,, vernachlässigt werden können. Dann 





kann für TI, gesetzt werden I,,, oder auch — + ein, und die Be- 
wegungsgleichungen (389) gehen in die Newtonschen über: 
d?’xi 0® 
(399) 2° 7 Wehe 7° 2. 
wenn man setzt 
1 20 
(391) 0—-— le+D, w-—ı1-. 


Die zunächst unbestimmte additive Konstante im Potential ® ist hier 
so festgelegt, daß ® verschwindet, wenn g,, seinen Normalwert — 1 
annimmt. 

Es ist interessant, daß bei der hier angewandten Näherung in die 
Bewegungsgleichungen nur g,, eingeht, obwohl die Abweichungen der 
übrigen g,, von ihren Normalwerten von derselben Größenordnung sein 
können wie die von 9,,. Anf diesem Umstand beruht die Möglich- 
keit, das Gravitationsfeld näherungsweise durch ein skalares Potential 
zu beschreiben. 

b) Die Rotverschiebung der Spektrallinien. Der eben erwähnte Um- 
stand hat auch zur Folge, daß über den Einfluß des Gravitationsfeldes 
auf Uhren eine allgemeine Aussage gemacht werden kann, auch wenn 
die Gesetze des G-Feldes noch nicht gegeben sind, denn dieser Ein- 
fluß ist durch g,, bestimmt. Über das Verhalten der Maßstäbe kann 
dagegen eine derartige Aussage erst gemacht werden, wenn die übrigen 
9;, bekannt sind. 

Man denke sich ein relativ zum Galileischen System X, mit der 
Winkelgeschwindigkeit » rotierendes Bezugssystem K. Eine in K ruhende 
Uhr geht dann wegen des transversalen Dopplereffektes um so lang- 
samer, je weiter sie von der Drehungsachse entfernt ist, wie sofort 


58. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. 7113 


erhellt, wenn man den Vorgang vom System K, aus betrachtet. Die 
Zeitdilatation ist gegeben durch 


ya var 


Der mitrotierende Beobachter in K wird diese Zeitverkürzung nicht. 
als transversalen Dopplereffekt deuten, da ja die Uhr relativ zu ihm 
ruht. Aber es herrscht in K ein Gravitationsfeld (Zentrifugalkraft- 
feld) vom Potential a 





— 4 o?r?. 

Der Beobachter in K wird also zu dem Schluß kommen, daß die 

Uhren um so langsamer gehen, je kleiner das Gravitationspotential 

an der betreffenden Stelle ist. Und zwar ist die Zeitdilatation A? 

in erster Näherung gegeben durch 
i= wrT (1 — 


IB SEE 

2® 
Einstein”) führte eine analoge Betrachtung für gleichförmig be- 
schleunigte System durch. Transversaler Dopplereffekt und Zeitdila- 


tation durch Gravitation erscheinen demnach als zwei verschiedene 
Ausdrucksweisen desselben Sachverhalts, daß nämlich eine Uhr stets 


die Eigenzeit 1 
T=— f ds 
; ic 
anzeigt. 





er A 


ce?) ?’ ER OE ae 


Allgemein unterscheidet sich die Zeit = nd von der normalen 


Eigenheit r einer ruhenden Uhr. Denn das Weltlinienelement einer 
ruhenden Uhr ist dt gu (dat)*, 


also nach (39e): 
T T d At RUE 
892) = ——- = In: (1-5), 2-5 








Die Gleichung (392) hat folgenden physikalischen Inhalt: Versetzt 
man eine von zwei ruhenden, gleich beschaffenen, ursprünglich synchron 
gehenden Uhren eine Zeitlang in ein Gravitationsfeld, so gehen sie 
nachher nicht mehr synchron, sondern die Uhr, die im Gravitations- 
feld war, geht nach. Hierauf beruht auch, wie Einstein”) bemerkt 
bat, die Aufklärung des in Nr. 5 erwähnten Uhrenparadoxons. Im Ko- 
ordinatensystem K*, in welchem die Uhr U, dauernd ruht, herrscht 


293) A. Einstein, Ann. d. Phys. 35, 1. c. Anm. 270). 
294) A. Einstein, Naturw. 6 (1918), p. 697. 


714 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


während der Bremsungsperiode ein Gravitätsfeld, welches der Be- 
obachter in X* für das Nachgehen der ruhenden Uhr U, verantwort- 
lich machen kann. 

Die Beziehung (392) hat eine wichtige Konsequenz, die sich durch 
die Erfahrung prüfen läßt. Man kann den Uhrentransport auch durch 
einen Lichtstrahl besorgen lassen, indem man als Uhr den Schwin- 
gungsvorgang des Lichtes annimmt. Ist nämlich das Gravitationsfeld 
. statisch, so kann man immer die Zeitkoordinate so festlegen, dab 
die 9,, von ihr nicht abhängen. Dann muß die Zahl der Wellen 
eines Lichtstrahles zwischen zwei Punkten P, und P, ebenfalls von 
der Zeit unabhängig sein, und daher ist dann die Frequenz des Licht- 
strahles mit der angegebenen Zeitskala gemessen in P, und P, die- 
selbe, also vom Ort unabhängig.) Dagegen ist die in Eigenzeit ge- 
messene Frequenz vom Ort abhängig. Beobachtet man also eine auf 
der Sonne erzeugte Spektrallinie auf der Erde, so muß ihre Frequenz 
zufolge 392) gegenüber den entsprechenden terrestrischen nach Rot 
verschoben sein, und zwar um den Betrag 


(393) Eugen u” Se 


worin ®; den Wert des Gravitätspotentials auf der Erde, ®; den auf 
der Sonnenoberfläche bedeutet. Die numerische Ausrechnung gibt 


(393 a) 2? — 2,12 .10-° 





entsprechend einem Dopplerefiekt von 0,0, u 


sec 

Es sind sehr zahlreiche Versuche gemacht worden, diese Beziehung 
experimentell zu prüfen. Schon Jewell?%®) fand Verschiebungen von Spek- 
trallinien der Sonne nach Rot, deutete sie jedoch als Druckeffekte. Als 
Evershed”?') später nachwies, daß die Verschiebung mit der experimentell 
bestimmten Druckverschiebung nicht übereinstimmt, lag es nahe, den 
Einsteineffekt zur Erklärung heranzuziehen.”®) Es zeigt sich jedoch 
bei genauerer Prüfung, daß die verschiedenen Linien um verschiedene 
Beträge verschoben erscheinen, so daß der Einsteineffekt jedenfalls 
nicht ausreicht, um alle Einzelheiten der Erscheinung zu erklären. Viel 
besser geeignet zur Prüfung der Einsteinschen Theorie sind die neueren 
Beobachtungen an der Stickstoffbande 4 = 3883 Ä (sogenannte Cyan- 


295) M.v. Laue, Phys. Ztschr. 21 (1920), p. 659, hat dies durch direktes Aus- 
rechnen auf Grund der Wellengleichung des Lichtes bestätigt. 

296) L. E Jewell, Astroph. J. 3 (1896), p. 89. 

297) J. Evershed, Kodaik. Obs. Bull. 36, 1914. 

298) A. Einstein, Ann. d. Phys. 35, l.c. Anm. 270); E. hack, Phys. 
Ztschr. 15 (1914), p. 369. 


53. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. 715 


bande). Diese zeichnet sich nämlich dadurch aus, daß sie keinen merk- 
lichen Druckeffekt zeigt. Der Vergleich der Absorptionslinien dieser 
Bande im Sonnenspektrum mit den entsprechenden terrestrischen Emis- 
sionslinien wurde zuerst von Schwarzschild?”°) und hernach mit größerer 
Genauigkeit von St. John”) am Mount-Wilson-Observatorium sowie 
von Evershed und Royds®') vorgenommen. Diese Autoren fanden alle 
eine wesentlich kleinere Verschiebung der Linien, als von der Theorie ge- 
fordert wird, St. John stellte sogar fast überhaupt keine Verschiebung 
fest. Es schien deshalb eine Zeit lang die Theorie durch das Experiment 
widerlegt zu sein.°®) In einer Reihe von neueren Untersuchungen 
haben jedoch Grebe und Bachem®”®) darauf hingewiesen, daß die ge- 
messenen Verschiebungen bei verschiedenen Linien ganz verschiedene 
Werte haben und sodann durch Ausmessen der Linien mit dem regi- 
strierenden Kochschen Mikrophotometer bewiesen, daß die Überein- 
anderlagerung verschiedenen Linien im Sonnenspektrum die Ursache 
dieses zunächst sehr merkwürdig erscheinenden Umstandes ist. Bei 
den ungestörten Linien ergaben sich nun Verschiebungen, die innerhalb 
der Beobachtungsfehler mit dem theoretischen Wert (393a) übereinstimmen. 
Allerdings sind nur verhältnismäßig wenige Linien ungestört. Kürz- 
lich fand jedoch Grebe®®*), daß auch der Mittelwert der Verschiebungen 
aus 100 gestörten und ungestörten Linien der genannten Stickstoff- 
bande der Theorie entspricht. Perot?%4®) untersuchte ebenfalls diese 
Bande auf Rotverschiebung und fand ein positives Resultat. Doch 
kann man diesem keine große Beweiskraft zuerkennen, da auf eine 
eventuelle Überlagerung der Linien keine Rücksicht genommen wurde. 

Freundlich?®) versuchte, auch bei den Fixsternen die Gravitations- 
verschiebung der Spektrallinien nachzuweisen. Es ist jedoch bei Fix- 
sternen nur auf Grund ziemlich unsicherer Hypothesen möglich, den 


299) K. Schwarzschild, Berl. Ber. (1914), p. 120. 

300) Ch. E. St. John, Astroph. J. 46 (1917), p. 249. 

301) J. Evershed und Royds, Kodaik. Obs. Bull. 39. 

302) Wiechert ersaun, durch diese Diskrepanz der Einsteinschen Theorie 
mit den genannten Beobachtungen veranlaßt, eine Theorie der Gravitation, die 
so viele unbestimmte Konstante enthält, daß sie beliebigen empirischen Werten 
für Rotverschiebung, Lichtstrahlkrümmung und Perihelbewegung des Merkur an- 
gepaßt werden kann: E. Wiechert, Gött. Nachr , math.-naturw. Klasse 1910, 
p- 101; Astr. Nachr., Nr. 5054, 211, Spalte 275; Ann. d. Phys. 63 (1920), p. 301. 

803) L. Grebe und A. Bachem, Verh. d. deutsch. phys. Ges. 21 (1919), p. 454; 
Ztschr. f. Phys. 1 (1920), p. 51 und 2 (1920), p. 415. 

304) L. Grebe, Phys. Ztschr. 21 (1920), p. 662 und Ztschr. f. Phys. 4 (1921), 
p. 105. 

8044) A. Perot, Paris C. R. 171 (1920), p. 229. 

305) E. Freundlich, Phys. Ztschr. 16 (1915), p. 115; 20 (1919), p. 561. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 47 


716 ...V7 19. W. Pauli jr. Relativitätstheortie. 


Gravitationseffekt vom Dopplereffekt zu trennen. Freundlichs erste 
Resultate haben überdies eine Zurückweisung durch Seeliger®®) erfahren. 

Zusammenfassend kann man also sagen, daß die experimentellen 
Ergebnisse über die Rotverschiebung jetzt für die Theorie günstig 
stehen, diese aber noch keine endgültige Bestätigung erfahren hat. 

ce) Fermats Prinzip der kürzesten Lichtzeit in statischen Gravitations- 
feldern. Wir nehmen an, daß wir es mit einem statischen Gravitations- 
feld zu tun haben, d. h. das Koordinatensystem soll so wählbar sein, 
daß alle g,, von der Zeit unabhängig werden und das vierdimensionale 
Linienelement die Form annimmt 


(394) | ds? = do? — ftdtt, 


worin do eine positiv definite quadratische Form der drei räumlichen 
Koordinatendifferentiale und f die vom Ort abhängige Lichtgeschwin- 
digkeit bedeute. Es ist dann also 


(394 a) usa Iıu=0, Mm 


Das Bestehen der ersten drei angeschriebenen Relationen in allen sta- 
tischen G@-Feldern ist eine besondere Hypothese, die sich nur durch 
die Differentialgleichung des @-Feldes selbst rechtfertigen läßt. Im 
Spezialfall der kugelsymmetrischen, statischen Felder kann man aller- 
dings a priori einsenen, daß das Verschwinden der Komponenten g9,, 
(= 1,2, 3) durch passende Normierung der Zeit stets erzielt werden 
kann.?0%e) | 

Wir wollen speziell die Bahn der Lichtstrahlen in einem solchen 
Feld untersuchen. Nach Nr. 51 ist sie durch die Bedingung bestimmt, 
daß sie eine geodätische Nullinie sein muß. Diese läßt sich in dem 
hier betrachteten Spezialfall auf die Form des Fermatschen Prinzips 
bringen, wie Levi-Civita®”) und Weyl’®) gezeigt haben. Um dies 


306) H. v. Seeliger, Astr. Nachr. 202, Spalte 83, 1916; vgl. dazu auch 
E. Freundlich, ebenda Spalte 147. 

8068) Die italienischen Mathematiker unterscheiden den statischen Fall, in 
welchem g,,=0 für i=1, 2, 3, vom allgemeineren stationären Fall, in welchem 
die g,, bloß von der Zeit unabhängig sind, aber 9,,$+0 ist. Vgl. dazu ins- 
besondere A. Palatini, Atti del reale instituto Vineto di science, lettere ed arti, 
78, 2. Teil (1919), p. 589, wo die Bahnen von Massenpunkten und Lichtstrahlen 
im stationären Fall allgemein diskutiert werden und A. De-Zuani, Nuovo Ci- 
mento (6) 18 (1919), p. 5. 

307) T. Levi-Civita, Statica Einsteiniana, Rend. Acc. Linc. (5) 26 (1917), p. 458; 
Nuovo Cimento (6) 16 (1918), p. 105. 

808) H. Weyl, Ann. d. Phys. 54 (1917), p. 117; Raum — Zeit — Materie, 1. Aufl. 
1918, p. 195,196; 3. Aufl. 1920, p. 209, 210. 


58. Einfache Folgerungen aus dem Äquivalenzprinzip. 717 


nachzuweisen, gehen wir aus von dem Variationsprinzip (83) der Nr. 15. 


1 dx! da* 
Le Ur Tr 370 s [rar —0. 


Dabei sind die Koordinaten in den Endpunkten des Integrationsweges 


nicht mitzuvariieren. Setzen wir nun für die g,, die aus (394) fol- 
genden Werte ein, so wird 


1 /do\? dt\? 
1-7) - Pa): 
und das Variationsprinzip liefert speziell beim Variieren von # die 
Gleichun d dt dt 
8 art f’ 7; > sonst, 
und bei geeigneter Normierung des Parameters A kann man setzen 
(395) a 


Wir ändern nun die Bedingung für die Variation folgendermaßen ab. 
1. Nur die räumlichen Endpunkte der Bahn sollen fix bleiben, 

die Zeitkoordinate soll im Anfangs- und Endpunkt variiert werden. 
2. Die variierte Bahn soll ebenfalls eine Nullinie sein (aber nicht 

notwendig geodätisch). Infolge der letzteren Bedingung wird natürlich 

L=0 und öL=0 
in allen Bahnpunkten. Andererseits ist aber beim Variieren der 
Zeitkoordinate 


n dt 
(Taf 





t, d dt 
ae: (5) dtaa, 
welcher Ausdruck somit ebenfalls identisch verschwinden muß, wenn 


die variierte Bahn eine Nullinie ist. Die Bedingung (395) dafür, daß 
die Nullinie eine geodätische ist, kann deshalb ersetzt werden durch 


dt 





farm 0 
I 


oder auch durch Elimination der Zeit vermöge der Beziehung L=0 durch 


(396) N — 0. 


Es ist dies nichts anderes als das Fermatsche Prinzip der kürzesten 
Lichtzeit. Es geht daraus hervor, daß selbst, wenn das Gravitations- 
feld statisch ist, der Lichtstrahl im dreidimensionalen Raum keine geo- 
dätische Linie ist. Denn diese wäre ja durch 


ö f do = ( 
charakterisiert. Nur die Weltlinie des Lichtstrahls in der vierdimen- 


sionalen Welt ist geodätisch. Der Lichtstrahl wird also im Gravita- 
47° 


718 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


tionsfeld gekrümmt. Der Betrag der Krümmung hängt jedoch auch 
von der Gestalt von de ab und kann zum Unterschied vom Betrag 
der Rotverschiebung erst ermittelt werden, wenn die Feldgleichungen 
des @-Feldes selbst bekannt sind (Nr. 58ec). 

Auch für die Bahn des Massenpunktes im statischen Gravitations- 
feld läßt sich in analoger Weise ein Variationsprinzip finden, das die 
Zeitkoordinate nicht mehr enthält.) Es entbehrt jedoch der an- 
schaulichen Bedeutung. 

54. Der Einfluß des Schwerefeldes auf materielle Vorgänge.?!) 
Es ist bequem, mit Einstein alles außer dem @-Feld als Materie zu 
bezeichnen. Die Aufgabe besteht dann darin, die Naturgesetze der 
materiellen Vorgänge auf eine allgemein kovariante Form zu bringen. 
Sie wird im Prinzip durch folgende Betrachtung gelöst. Es sei zunächst 
ein Koordinatensystem Ä, gegeben, in welchem in einem endlichen Welt- 
gebiet die g,, ihre Normalwerte haben. Dann haben hier die Natur- 
gesetze die Form, welche in der speziellen Relativitätstheorie als gültig 
angenommen wird. Nun führt man irgendein anderes beliebig bewegtes 
Gaußsches Koordinatensystem X ein und ermittelt durch bloße Rech- 
nung die Form der Naturgesetze in X. Auf Grund des Äquivalenz- 
prinzips ist klar, daß auf diese Weise zugleich der Einfluß von Gravi- 
tationsfeldern auf die materiellen Vorgänge gefunden ist. Das Ergebnis 
überträgt man dann auch auf den Fall, daß sich kein Koordinaten- 
system X, finden läßt, in welchem in endlichen Gebieten das Gravi- 
tationsfeld wegtransformiert ist. Diese Übertragung ist nur auf Grund 
der allerdings bis zu einem gewissen Grade willkürlichen Hypothese 
möglich, daß die zweiten Ableitungen der g,, in die betreffenden Natur- 
gesetze nicht eingehen. 

In mathematischer Hinsicht entspricht die Situation vollkommen 
derjenigen beim Übergang vom Tensorkalkül der euklidischen zu dem 
der Riemannschen Geometrie (Nr. 13,20). Wir können also auf Grund 
der im Abschnitt II angegebenen Methoden zu einem jeden Gesetz der 
speziellen Relativitätstheorie seine allgemein kovariante Form sofort 
angeben, indem wir die dort vorkommenden Tensoroperationen durch 
die entsprechenden verallgemeinerten Operationen der Riemannschen 
Geometrie ersetzen. Es ist hier natürlich der Unterschied von kontra- 
und kovarianten Komponenten eines Tensors sowie der zwischen Ten- 
soren und Tensordichten zu beachten. 








309) Vgl. die in Anm. 307) und 308) zitierten Arbeiten. 

310) Vgl. dazu A. Einstein und M. Großmann, 1. c. Anm. 274), I. Teil $ 6; 
A. Einstein, Berl. Ber. 1914, 1. c. Anm. 276), Abschn. C; Ann. d. Phys. l. c. Anm. 
279), Abschn. D. 


54. Der Einfluß des Schwerefeldes auf materielle Vorgänge. 719 


Diese allgemeinen Vorschriften sollen nun am Beispiel der Max- 
well-Lorentzschen Feldgleichungen für das Vakuum erläutert werden. 
Wir definieren wieder den Feldvektor F,, durch (202). Dann bleiben 
nach Nr. 19 (140b) die Gleichungen (203) bestehen: 

F' OF, OF, 
8) Ze T dar R EEE Ns: 
Das zweite System (208) der Maxwellschen Gleichungen muß aber 
nach (141b) etwas anders geschrieben werden. Wir führen die kontra- 
varianten En der zu F;, a Tensordichte ein: 


(397) —= V— gg gt Fyn 


ebenso die zum 2 a gehörige Tensordichte 


(398) = YVgs. 








Dann gilt 

(208 a) Ef, 
woraus noch die Verallgemeinerung 
(197 a) a -_ 0 





der Kontinuitätsgleichung (197) folgt.?!%*) 

Die ponderomotorische Kraft berechnet sich genau wie früher 
nach (216): = Fus 
und die zugehörige Tensordichte nach 
(216) h=V—-9%h= Fu. 
Die gemischten Komponenten der Energie-Impuls-Tensordichte sind 
nach (222) gegeben durch 
(2223) 3 FB — 4F,g7788 
Wichtig ist die Verallgemeinerung von (225). Auf Grund der Regel 
(150a) der allgemeinen Tensoranalysis folgt 


96 


dx* 





Inf 
(225 a) {oder auch 





2% _ 1 __r 
i dat 2 2a i 


Das zweite Glied der linken Seite ist für den Einfluß des Gravitations- 
feldes charakteristisch. Daß wirklich auch im allgemeinen Fall (225a) 


3103) Eine Anwendung dieser Gleichungen gibt M.v. Laue, Phys. Ztschr 
21 (1920), p. 659. Er zeigt, daß für die Weltlinien der Lichtstrahlen im leeren 
Raum innerhalb des Gültigkeitsbereiches der geometrischen Optik aus ihnen die 
Gleichungen (80), (81) der geodätischen Nullinie in der Tat folgen. 


720 V 19. W. Pauli jr, Relativitätstheorie. 


eine Folge von (203), (208a) und (216) ist, geht aus der in Nr. 23 a) 
ausgeführten Rechnung hervor. 

In analoger Weise lassen sich auch die Bewegungsgleichungen 
für Flüssigkeiten allgemein kovariant schreiben.°!!) Die allgemeinen 
Gleichungen von Herglotz für elastische Medien behandelt @. Nord- 
ström.?1?) So wie (225a) aus dem Ausdruck (225) für die pondero- 
mötorische Kraft hervorgeht, geht aus dem allgemeinen Impuls-Energie- 
satz (341) der Impuls- Energiesatz der Materie bei Vorhandensein von 
Gravitationsfeldern hervor: | 
BE 07,‘ 1Grs Ogrs En 
(341 a) 3 —4+7 ee 
Er unterscheidet sich in physikalischer Hinsicht sehr wesentlich von 
der früheren Form des Impuls-Energiesatzes.. Während nämlich aus 
dieser durch Integration für Gesamtenergie und Gesamtimpuls ein Er- 
haltungssatz abgeleitet werden konnte, ist dies bei der neuen Form 
(341a) wegen des zweiten Gliedes der linken Seite nicht mehr mög- 
lich. Es kann eben Impuls und Energie von der Materie auf das 
Gravitationsfeld übergehen und umgekehrt (Näheres vgl. Nr. 61). 
Wirken keine äußeren Kräfte, so kann speziell für 7,, der durch 
(322) gegebene kinetische Tnpulli -Energietensor ®,, eingeführt werden, 


also für T* der Ausdruck u V— 9; Mi e Die Gleichungen (341a) 


reduzieren sich dann auf die der geodätischen Linie. 

55. Die Wirkungsprinzipien für materielle Vorgänge bei Vor- 
handensein von Gravitationsfeldern. Wie zuerst von Hilbert®'?) ge- 
zeigt wurde, hängt der Impuls- Energietensor 7',, mit der Wirkungs- 
funktion in einer einfachen Weise zusammen, die erst in der allge- 
meinen Relativitätstheorie deutlich zutage tritt. Wir zeigen dies am 
Beispiel des mechanisch -elektrodynamischen Wirkungsprinzips der 
Nr. 31, welches wir in der Weylschen Form (231a) schreiben: 


W=[{4F4FR — 298 + 2ue}dE 
— fi F,Fra2— [ae [2p:da + 2wefV—guWuWdz; 
Wo. 


Dieses Wirkungsprinzip bleibt auch im Schwerefeld gültig®"®), wenn 
die g,, nicht mitvariiert werden. (Zu variieren sind wieder unabhängig 





(231b) 


311) A. Einstein, 1. c. Anm. 310). 

312) @. Nordström, Amst. Versl. 25 (1916), p. 836. 

813) D. Hilbert, Grundlagen der Physik, 1. Mitt., 1. e. Anm. 101). Vgl. auch 
H. A. Lorentz, ]. c. Anm. 100) und HM. Weyl, Ann. d. Phys. 54, l. c. Anm. 308); 
Raum -Zeit— Materie, 1. Aufl. 1918, p. 21öff., $ 32; 3. Aufl. 1920, p. 197. 


56. Die Feldgleichungen der Gravitation. 121 


voneinander die Weltlinien der materiellen Teilchen und die Feld- 
potentiale 9,.) 

Etwas Neues tritt jedoch auf, wenn die g,, variiert werden. Die 
Weltlinien der Substanz und die Potentiale p, können wir jetzt kon- 
stant lassen. Dann liefert das erste Integral nach Nr. 23a) den Beitrag 


— [&:39,d2 — — [Stög,dE, 
das zweite liefert den Beitrag Null und das dritte 
— [wwWwWög,d2 = — [E*ög,dE. 
Also wird insgesamt 
(309) 3W —— [Tr ög,de— + [Ruögde. 


Man erhält also den Energietensor der Materie durch Variieren des 
@G-Feldes im Wirkungsintegral."?) Diese Regel gilt allgemein, nicht nur 
in dem hier betrachteten Fall. Für den elastischen Energietensor 
wurde sie von Nordström®*) nachgewiesen, über die Theorie von Mie 
siehe Abschn. V, Nr. 64. 

Der Zusammenhang zwischen dem materiellen Impuls- Energie- 
tensor und der Wirkungsfunktion, der hier zutage tritt, erweist sich 
als äußerst wichtig für die Anwendung des Hamiltonschen Prinzips 
in der allgemeinen Relativitätstheorie (s. Nr. 57). Setzt man ferner 
für ög,, eine bloß durch Variation des Koordinatensystems erzeugte 
Variation d*g,,, für die dW identisch verschwindet (Nr. 23), so kann 
man auf Grund von (169) folgende allgemeine Aussage machen. Immer, 
wenn sich die Feldgesetze der materiellen Vorgänge aus einem Wirkungs- 
prinzip ableiten lassen und sich gleichzeitig der Eneryietensor durch Va- 
riieren des @-Feldes in der angegebenen Weise aus dem Wirkungsintegral 
ergibt, ist der Impuls-Energiesatz (341a) eine Folge dieser Feldgesetze. 
Für diesen Schluß ist wesentlich, daß die von der Variation 6* der 
materiellen Zustandsgrößen herrührenden Anteile zufolge des Hamilton- 
schen Prinzips verschwinden. 


56. Die Feldgleichungen der Gravitation. Die eigentliche und 
wichtigste Aufgabe der allgemeinen Relativitätstheorie besteht darin, 
die Gesetze des @-Feldes selbst aufzustellen. Von diesen Gesetzen 
muß natürlich verlangt werden, daß sie allgemein kovariant sein sollen. 
Um jedoch zu einer eindeutigen Festlegung dieser Gesetze zu gelangen, 
müssen noch weitere Forderungen gestellt werden. Die leitenden Ge- 
sichtspunkte sind hierbei folgende: 


314) @. Nordström, 1. c. Anm. 312). 


1722 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


1. Nach dem Äquivalenzprinzip ist die schwere Masse gleich der 
trägen Masse, also proportional der Gesamtenergie. Das gleiche gilt 
daher auch von der Kraft, die im Schwerefeld auf ein materielles Sy- 
stem wirkt. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß umgekehrt auch 
nur die Gesamtenergie für das von einem materiellen System erzeugte 
Gravitationsfeld maßgebend ist. Nach der speziellen Relativitätstheorie 
läßt sich jedoch die Energiedichte nicht durch einen Skalar charakteri- 
sieren, sondern nur als 44-Komponente eines Tensors 7,,, indem zur 
Energie Impuls und Spannungen als gleichberechtigt hinzutreten. 
Wir formulieren deshalb unsere Annahme so: 

In die Feldgleichungen der Gravitation sollen keine anderen mate- 
riellen Zustandsgrößen eingehen als der totale Impuls-Energietensor T,,. 


2. Darüber hinausgehend macht Einstein in Analogie zur Poisson- 
schen Gleichung sis, 


den Ansatz, daß der Energietensor T,, proportional sein soll einem aus 
den 9;, allein gebildeten Differentialausdruck zweiter Ordnung. Da dieser 
offenbar wegen der allgemeinen Kovarianz ein Tensor sein muß, folgt 
daraus nach Nr. 17, (113) für die Differentialgleichungen des G@-Feldes 
die Form 

(400) Rt &Rg,+ 69: — KT 

R,, ist hierin der durch (94) definierte (verjüngte) Krümmungstensor, 
R die zugehörige Invariante (95). Über ihre geometrische Bedeutung 
vgl. Nr. 17. 

Das Wesentliche der hier gemachten Annahmen tritt deutlich 
hervor beim Vergleich mit der Nordströmschen Theorie, die nach 
Einstein und Fokker®“®) ebenfalls auf eine allgemeine koyariante 
Form gebracht werden kann. In dieser geht bloß der Skalar 7’= T'; 
in die Gravitationsgleichungen ein, und zwar ist er proportional der 
Krümmungsinvariante R. Die übrigen Gleichungen, die bisher noch 
nicht explizite aufgestellt wurden, müssen die Aussage enthalten, daß 
das Linienelement bei geeigneter Koordinatenwahl stets auf die Form 


ds? —= DL(dx‘)! 


gebracht werden kann, wo also die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit 
gilt. Man sieht, daß diese Feldgleichungen vom Standpunkt des ab- 
soluten Differentialkalküls ganz künstlich und verwickelt erscheinen 
gegenüber den Gleichungen der Einsteinschen Theorie, in denen alle 
Komponenten von 7‘, in gleichberechtigter Weise auftreten. 


314a) A. Einstein und A. D. Fokker, ]. ce. Anm. 272). 


56. Die Feldgleichungen der Gravitation. 723 


3. Um in (400) die zunächst noch unbestimmt gebliebenen Kon- 
stanten c,, a, C, festzulegen, bedarf es einer Überlegung über das Ver- 
hältnis einer allgemein relativistischen Theorie zur Kausalität. Haben 
wir irgendwelche Lösungen der allgemein kovarianten Feldgleichungen 
gefunden, so können wir durch andere Koordinatenwahl daraus beliebig 
viele andere Lösungen finden. Die allgemeine Lösung der Feldglei- 
chungen muß deshalb 4 willkürliche Funktionen enthalten. Zwischen den 
10 Feldgleichungen (400) für die 10 Unbekannten g,, müssen demnach 
4 Identitäten bestehen. Allgemein dürfen in einer relativistischen Theorie 
für m Unbekannte nur m — 4 unabhängige Gleichungen vorhanden sein. 
Der Widerspruch mit dem Kausalitätsprinzip ist nur scheinbar. Denn 
die vielen möglichen Lösungen der Feldgleichungen sind nur formal 
verschieden, physikalisch sind alle vollkommen gleichwertig. Die hier 
dargelegten Verhältnisse wurden zuerst von Hälbert®'°) erkannt. 


Wir sind also zu der Forderung gelangt, daß zwischen den 10 Glei- 
chungen (400) 4 Identitäten bestehen müssen. Nun wissen wir, daß 
der Tensor 7',, den Impuls-Energiesatz (341a) der Nr. 54 befriedigt. 
Dieser besteht gerade aus 4 Gleichungen. Es ist deshalb äußerst 
einleuchtend, über den Inhalt der 4 verlangten Identitäten die folgende 
Annahme zu machen: Der Impuls-Energiesatz (341), p. 720, soll zufolge 
der Feldgleichungen der Gravitation identisch erfüllt sein. Er ist dann 
also sowohl eine Folge der Gravitationsgleichungen als auch eine Folge 
der materiellen Feldgesetze. Dieses Postulat kommt offenbar darauf 
hinaus, daß die (im Sinne des Tensorkalküls für den Riemannschen 
Raum nach (150) verallgemeinerte) Divergenz der linken Seite von (400) 
identisch verschwinden soll. Wendet man diese Operation auf sie an, 
so erhält man nun nach (182), (109) und (75): 


Ga+V-9 


Es muß also = — $e sein, so daß außer dem Glied c,g,, in (400) 


315) D. Hilbert, Grundlagen der Physik I, Gött. Nachr., math.-naturw. Kl., 
1915, p. 395. In historischer Hinsicht muß bemerkt werden, daß schon E. Mach 
auf Grund relativistischer Betrachtungen zum Resultat kam, die Zahl der Glei- 
chungen, welche die physikalischen Gesetze ausdrücken, müsse in Wirklichkeit 
geringer sein als die Zahl der Unbekannten. (Die Geschichte und die Wurzel 
des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Prag 1877, p. 36, 37; Mechanik, Leip- 
zig 1883.) 

Ferner verdient bemerkt zu werden, daß Einstein eine Zeit lang irrtümlich 
die Ansicht vertrat, aus der erwähnten Nichteindeutigkeit der Lösung könne ge- 
folgert werden, daß die Gravitationsgleichungen nicht allgemein kovariant sein 
können (siehe Berl. Ber. 1914, 1. c. Anm. 276). 


124 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


bloß der durch (124) definierte Tensor 

(124) G4= Br — 39u4R 

vorkommt. Über die physikalische Bedeutung des letzten Gliedes in 
(400) wird in Nr. 62 gesprochen werden; wir wollen es zunächst fort- 
lassen, was sich nachträglich dadurch wird rechtfertigen lassen, daß 
sein Einfluß in den zunächst zu besprechenden Fällen äußerst gering 
ist. Mit diesem Vorbehalt können wir also die Gravitationsglei- 
chungen jezt schreiben 

(401) G„=-ıT,- 

Über den Grund des negativen Vorzeichens der rechten Seite siehe 
Nr. 58a). Durch Verjüngung folgt daraus noch 


(402) R=-+,T 
und 
(401) R,=— x(T,— 3947) . 


Dies ist die allgemein kovariante Form der Feldgleichungen der Gravi- 
tation, die Einstein nach langen Irrwegen im Jahr 1915 endlich ge- 
funden hat. °49) 

Wie bereits in Nr. 50, Anm. 277) erwähnt wurde, sind dieselben 
Gleichungen gleichzeitig auch von Hilbert hergeleitet worden. Wäh- 
rend dort den Ausgangspunkt das Variationsprinzip bildet, erscheint 
dieses bei Einstein und in unserer Darstellung als mathematische Folge- 
rung, wie in der folgenden Nr. dargelegt wird. 

57. Herleitung der Gravitationsgleichungen aus einem Varia- 
tionsprinzip.’'‘) Daß der Tensor @,, der Divergenzgleichung (182) 
genügt, hängt nach Nr. 23 damit zusammen, daß er durch Variieren 
des @-Feldes aus einer Integralinvariante hervorgeht: 


(180) Radar — [O,ög*dz, 
wenn am Rande die Variation der Feldgrößen verschwindet. Ferner 


haben wir in Nr. 55 gesehen, daß diejenige Integralinvariante f Max, 
welche beim Variieren der materiellen Feldgrößen die Differential- 
gleichungen der mechanischen (elastischen) und elektromagnetischen 
Felder liefert, beim Variieren des @-Feldes auf den materiellen Impuls- 
Energietensor führt 


(399 a) [Max — [T,,ög*dz. 
Diese zwei Beziehungen führen dazu, alle physikalischen Gesetze in 
316) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, p. 844. — Vorher hatte Einstein auch den 


Ansatz R,,—=xT,;; gemacht: Berl. Ber. 1915, p. 778. 
317) Vgl. dazu die in Nr. 23, Anm. 100) bis 104) zitierten Arbeiten. 


57. Herleitung der Gravitationsgleichungen aus einem Variationsprinzip. 725 


das eine Wirkungsprinzip 

(403) fBar—0, 

(404) B—-R+ıM 

zusammenzufassen. An der Grenze des Integrationsgebietes müssen 
dabei die Variationen der Feldgrößen verschwinden. Es ist eine Be- 
sonderheit dieser Wirkungsfunktion, daß sie in zwei Teile zerlegt 
werden kann, von denen der eine von den materiellen Zustandsgrößen, 
der andere von den Ableitungen der g,, unabhängig ist. (Über allge- 
meinere Wirkungsfunktionen, welche diese Eigenschaft nicht zeigen, 
siehe Abschn. V.) 

Das Wirkungsprinzip (403) liefert nach Nr. 55, 56 zugleich eine 
übersichtliche Zusammenfassung der Beziehungen zwischen den Feld- 
gleichungen der materiellen Vorgänge und der Gravitation: Aus beiden 
folgt der Impuls-Energiesatz (341a), Nr. 54. Nach Nr. 23, Gl. (184), 
folgt jedoch der Impuls-Energiesatz auch noch in einer anderen Form. 
Setzt man 


(405) Ur, 
worin U die durch (183), (185) definierten Größen bedeuten, so gilt 
nämlich wegen (184) und (401): 
(406) | MEN, 
Diese Gleichungen sind gemäß ihrer Herleitung allgemein kova- 
riant, obwohl die Größen #* sich nur gegenüber linearen Transfor- 
ınationen wie die Komponenten eines Tensors transformieren. Im 
Gegensatz zur Form (341a) des Impuls-Energiesatzes lassen sich aus 
(406) Erhaltungyssätze für Energie und Impuls in Integralform her- 
leiten. Einstein®'®) nennt deshalb die Größen £ Energie- Impulskom- 
ponenten des Gravitationsfeldes und stellt sie den Energie-Impulskom- 
ponenten 7’* der Materie als in gewisser Hinsicht gleichwertig an die 
‚ Seite. Über die weiteren physikalischen Konsequenzen dieser Auffas- 
sung siehe Nr. 61. 

Das Wirkungsprinzip (403) hat endlich noch einen praktischen 
Wert bei der Integration der Feldgleichunrgen in speziellen Fällen. 
Indem es einem erspart, auf die allgemeinen Differentialgleichungen 


zurückzugreifen, gestattet es bisweilen die Rechnungen bedeutend ab- 
zukürzen. Näheres siehe Nr. 58b). 





318) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, p. 778, 1. c. Anm. 277); Ann. d. Phys. l.c. 
Anm, 279), Abschn. C, $ 15ff.; Berl. Ber. 1916, l.c. Anm. 100), $ 3. 


726 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


58. Vergleich mit der Erfahrung. a) Newtons Theorie als erste 
Näherung.°'?) In Nr. 53a) haben wir gesehen, daß in schwachen, quasi- 
statischen Gravitationsfeldern die Bewegungsgleichungen in die Newton- 
schen übergehen. Um den Nachweis, daß die Newtonsche Theorie in 
der relativistischen als Grenzfall enthalten ist, vollständig zu machen, 
muß noch gezeigt werden, daß in dem genannten Spezialfall das durch 
(391) gegebene skalare Potential der Poissonsschen Gleichung 


(407a) Ad —=4Anku, 
genügt. Zu diesem Zweck bilden wir die 44-Komponente der Glei- 


chung (401a). Für 7,, können wir den kinetischen Impuls-Energie- 
tensor u,u,u4, einführen. Bei Vernachlässigung von Größen der Ord- 


nung = sind offensichtlich außer 7',, alle Komponenten von 7,, gleich 
Null zu setzen. Erstere wird 


Ta= We 
und daraus T= g"T, = Tu — we. 
Die Gleichung (401a) gibt also zunächst 
(4083) Ru=— tan. 


Der Wert von R,, ist aus (94) zu entnehmen. Da zeitliche Ablei- 
tungen und Produkte der I‘ vernachlässigt werden, kommt einfach 








arm 
a 
Und wegen IT, I, ur — nn 
OÖ’ gg J® 
RB) But 32 Ge 1 
letzteres nach (391). In (408) eingesetzt gibt dies 
(4070) a 


Es gilt also in der Tat die Poissonsche Gleichung. Es ist eine große 
Leistung des allgemeinen Relativitätsprinzips, daß es auf Grund der 
ganz allgemeinen Postulate der Nr. 56 ohne weitere Hypothesen zum 
Newtonschen Gravitationsgesetz führt. Wir sind aber jetzt überdies 
imstande, über die Bedeutung und den Zahlenwert der Konstante x 
etwas auszusagen. Durch Vergleich von (407 a) und (407 b) folgt nämlich 


(49) ze #8 876,7. 10-9 1,87. 1079 emgr=". 


Zugleich .ergibt sich, daß x positiv ist, womit das negative Vorzeichen 
der rechten Seite von (401) gerechtfertigt ist. Die allgemeine Relativi- 


319) A. Einstein, Berl. Ber 1915, p. 831 l. c. Anm. 278); Ann. d. Phys. 1. c 
Anm. 279), Abschn. E, $ 21. 


58. Vergleich mit der Erfahrung. 127 


tätstheorie gibt also keine physikalische Interpretation für das Vor- 
zeichen (Gravitationsanziehung und nicht Abstoßung) und den Zahlen- 
wert der Gravitationskonstanten, sondern sie entnimmt diese Daten 
der Erfahrung.??°) 

b) Strenge Lösung für das Gravitationsfeld eines Massenpunktes. 
Um die Perihelbewegung des Merkur und die Krümmung der Licht- 
strahlen zu ermitteln, ist es nötig, für das Feld eines Massenpunktes 
nicht nur g,,, sondern auch die übrigen g,, und außerdem g,, um eine 
Größenordnung genauer zu berechnen. Schon im Jahr 1915 hat Ein- 
stein?!) dieses Problem durch sukzessive Approximationen gelöst. Als 
erster gab Schwarzschild®??) und hernach unabhängig davon Droste®*?) 
eine strenge Lösung für das @-Feld des Massenpunktes. Perihelbewe- 
gung und Strahlenablenkung folgen praktisch genau so wie bei Ein- 
stein. Große mathematische Vereinfachungen brachte eine Arbeit vou 
Weyl’*), der statt Polarkoordinaten cartesische einführte und statt 
auf die allgemeinen Differentialgleichungen des @-Feldes auf das 
Wirkungsprinzip zurückgriff. 

Da das Feld eines Massenpunktes statisch und kugelsymmetrisch 
ist, kann das Quadrat des Linienelements auf die Form gebracht werden: 


(410) dst—yl(dm)+ (da)? + (da9)] 

+ lKatde! + da? + dar)? + 9,(dat)?, 
worin y, I und 9,, Funktionen von r = Y(x})? + (2°)? + (2°)? allein 
sind. Dadurch ist aber das Koordinatensystem noch nicht eindeutig 
festgelegt. Denn bei der Transformation 


(11) Ma [und somit r- Va + @N HEN], 


welche die willkürliche Funktion f(r) enthält, behält das Quadrat des 
Linienelements die Form (410) bei. Man kann also die Koordinaten 
noch weiter normieren. Besonders zwei Arten von Normierungen er- 
weisen sich oft als bequem: 

a)y=|1: 

(410a) ds? = (dat)? + (dx)? + (da?)? 
+ Knlda! + arda? + z’da?)’ + 9,,(dat)?; 

320) Daß bei uns in (409) »c? an Stelle von x wie bei den meisten anderen 
Autoren steht, liegt daran, daß hier 7,, definitionsgemäß die Dimension einer 
Energiedichte, dort aber die einer Mässendichte hat. 

321) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, l. c. Anm. 278). 

322) K. Schwarzschild, Berl. Ber. 1916, p. 189. 

323) J. Droste, Amst. Versl. 25 (1916), p. 163. 


324) H. Weyl, Ann.d. Phys. 54 (1917), p. 117; Raum—Zeit--Materie, 1. Aufl. 
1918, p. 199, 3. Aufl. 1920, p. 217. 








7128 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 

b) 2=0: 
(410b) ds’— ylldz')’+ (da?)’ + (da) + gulazt). 
Wir führen die Integration der Feldgleichungen in demjenigen Koordi- 
natensystem aus, in welchem das Quadrat des Linienelements die 
Form (410a) annimmt. Im Raum außerhalb der Masse, den wir hier 
allein in Betracht zu ziehen haben, lauten diese nach (401a) einfach 
(412) Rı=. 
Die Komponenten R,, des Krümmungstensors drücken sich nun in un- 


serem Fall, wie man durch Rechnung aus (410a) findet, nach Ein- 
führung der Abkürzungen 


(413) Beltit I=Y-gely— gu 
folgendermaßen aus: 


(44) By [Bald + RR) E für ik 1,2,3, 





a Feel 2 
1 dig 1 
15) ai ran 
Rn Ba, BRD 
in: rd 2dr 4 


Ersichtlich sind [R,,] und [R,] die Werte von R,, bzw. von R,, und 

R;; im Punkt @!=r, 2?= 2?= 0. Diese Werte für R,, sind in (412) 

einzutragen. Es folgt aus der ersten und dritten Gleichung (415) zunächst 
A=0, 4A= konst. 

Wenn wir noch die Bedingung hinzunehmen, daß im Unendlichen die 


9; Ihre Normalwerte annehmen, wodurch das Problem überhaupt erst 
bestimmt wird (vgl. Nr. 62), folgt weiter 


(416) Aml, 

und aus der zweiten Gleichung (415) ergibt sich sodann 
| 2 

(417) u—-—1+T, 


wo m eine Integrationskonstante ist. Durch Vergleich mit dem Newton- 
schen Potential ® nach (391) erhellt, daß diese Konstante m mit der 
Masse M des felderzeugenden Massenpunktes gemäß der Formel 


(418) EN ie... 


zusammenhängt. Da m die Dimension einer Länge hat, nennen wir diese 
Größe den Gravitationsradius der Masse. Man überzeugt sich leicht 
davon, daß durch (416) und (417) tatsächlich alle Feldgleichungen 
befriedigt werden. 


58. Vergleich mit der Erfahrung. 129 


Nach Weyl kann man sich die Berechnung der Krümmungskom- 
ponenten (415) ersparen, wenn man das Variationsprinzip (403) ver- 
wendet. Nach (177) können wir es für den materiefreien Raum auch 
schreiben 
(419) [Bar —0. 

Wir brauchen hier aber in unserem Fall weder die Zeit noch die 
Koordinaten x!, x?, x° einzeln einzuführen, sondern können & als Funk- 
tion von r allein betrachten. Die Ausrechnung gibt 
2lr 1 24 
s--74-W-1)7: 


also liefert (419) wegen dx = 4nr?dr: 
(420) l( (17 _ )rA dr=0. 


Variieren vn hgbtt 2=0, J= Me Variieren von 1 


( BD Ir —=(, (ir e l)r — konst,, 


woraus gemäß der Definition (413) von 4 wieder das Feld (416), (417) 
folgt. 


Das Quadrat des Linienelements nimmt nach (413) die Form an 
(421a) ds? = (dx!)? + (da?)? + (da?)’ 
E= a et de + a? dx? + a?’ da?)? — (1 _ =) (dat)? 
Den ersten Teil dieses Ausdruckes, der sich auf den dreidimensio- 
nalen Raum bezieht, kann man mit Flamm?") anschaulich in fol- 
gender Weise deuten. Auf jeder durch das Zentrum gehenden Ebene 


(etwa 2° = 0) ist die Geometrie dieselbe wie im euklidischen Raum 
auf der Fläche 4. Ordnung 
2=YV8m(r — 2m), 
die durch Rotation der Parabel 
2? — 8m(a2! — 2m), = 0 
um die z-Achse entsteht. In der Tat ist auf dieser Ebene 


= (dx)? + (dax?)’ + meta + a?dx?) 
—= (da?)? + (de?) + d2?. 


Für r—= 2m wird das Koordinatensystem singulär. 
Die zweite Normalform (410b) erhält man nach (411) durch die 
Transformation 


(422) = (14) 7, ln. (—1,2,3) 





325) L. Flamm, Phys. Ztschr. 17 (1916), p. 448. 


7130 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Es wird dann nämlich 


m 
; SD er 


(421b) dt — (1 + 5%) [(dad? + (dat)? + (da’)) — —H (dt). 
1+ = 





Dieses Koordinatensystem reicht bis r = -_ 


c) Perihelbewegung des Merkur und Krümmung der Lichtstrahlen. 
Wir kommen nun zur Berechnung der Bahnen der Massenpunkte und 
Lichtstrahlen im Gravitationsfeld (421). Diese sind in der vierdimen- 
sionalen Welt geodätische Linien, bestimmt durch das Variations- 
prinzip 


(81) 8 [ds — 0 


oder die Differentialgleichungen (80). Aus letzteren folgt durch ein- 
fache Rechnung 


(423) 


2p1 2 m? 273 
ei: 
z bedeutet für die Bahn des Massenpunktes die Eigenzeit, für die des 
Lichtstrahles einen beliebigen Parameter, bei welchem die Differential- 
gleichung (105) befriedigt ist. Daraus kann man zunächst schließen, 
daß die Bahnkurve von Massenpunkt und Lichtstrahl eben ist und 

weiter, wenn man x2° senkrecht zu dieser Ebene legt und Polarkoor- 
_ dinaten 
(424) z!=rcosp, =rsinp 


einführt, das Bestehen des Flächensatzes 


(425) er = konst. = B. 
Andererseits folgt aus (81) durch Variieren der Zeit ebenso wie in 
Nr. 53c d 


4 
9 — — konst. 


Quadriert man diese Gleichung und eliminiert — mittels der Re- 


‘ ; t 
lationen 9 ee = — c? für den Massenpunkt und g,, = er —=( 


für den Lichtstrahl, so kommt für ersteren 


(4268) (3) + 732) — "7 — 2mr(g2) — konst. = 2 E 





und 


(426b) (+ r? (32) — 2 mr (2) - konst. 


für den letzteren. Es ist klar, daß (4262) den Energiesatz enthält. 
Beide Gleichungen unterscheiden sich von den Newtonschen nur durch 
den letzten Term. Führt man noch gemäß (425) p statt r als unab- 


58. Vergleich mit der Erfahrung 731 


hängige Variable ein, so kommt 





nn 2m B*? 
(427) rl () ei a] — —!# 7 _3E, 
, dr\? 1 2m 1 


Durch diese Gleichungen sind die gesuchten Bahnkurven vollständig 
bestimmt. Das letzte Glied der linken Seite von (427a) bewirkt eine 
Perihelbewegung der Planetenbahnen im Sinne der Umlaufsriehtung 
des Planeten und vom Betrag 





i 2... 60m (a = große Halbachse) 
ER in ag a(l —e?) (e = Exzentrizität) 
pro Bahnumlauf, was nach (418) und dem 3. Keplerschen Gesetz 
a =kM= me: (T = Umlaufszeit) 
auch geschrieben werden kann 
24n°a? 
(428 b) An= eT?ı—e) 


Es bleibt noch die Gleichung (427b) für den Lichtstrahl zu dis- 
kutieren. Wäre das letzte Glied der linken Seite nicht vorhanden, so 
wäre der Lichtstrahl eine Gerade im Abstand 4 vom Zentrum. Das 
Störungsglied bewirkt eine nach dem Massenzentrum konkave Krüm- 
mung des Lichtstrahls, die eine gesamte Ablenkung um den Winkel 


(429) in 


zur Folge hat, wo 4 jetzt den Abstand des Zentrums von den Asym- 
ptotenrichtungen der Bahn bedeutet. Die hier verwendete Methode 
der Berechnung der Strahlenkrümmung rührt von Flamm®*?) her. 
Die Berechnung von Einstein®?') nach dem Huyghensschen Prinzip 
führt zum gleichen Resultat, wie es nach Nr. 53c) sein muß. 

Die beiden hier entwickelten Konsequenzen der Einsteinschen 
Gravitationstheorie sind einer Prüfuug durch die Erfahrung zugäng- 
lich. Was zunächst die durch (428) gegebene Perihelbewegung an- 
langt, so ist sie nur beim Merkur, wo die Verhältnisse wegen seiner 
geringen Distanz von der Sonne und der großen Exzentrizität seiner 
Bahn besonders günstig liegen, von meßbarem Betrage. Ihr theore- 
tischer Wert ist 


An —= 4289, ed” = 8,82” pro Jahrhundert’). 


326) L. Flamm, 1. c. Anm. 325). 
327) A. Einstein, Berl. Ber. 1915, 1. ce. Anm. 278); Ann. d. Phys., 1. e. 
Anm. 279), 8 22. 


328) Vgl. dazu die Zahlentabelle im Art. VI 2, 17 (.J. Bauschinger), p. 887. 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 48 


132 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Nun ist den Astronomen seit Leverrier®?”) bekannt, daß in der Perihel- 
bewegung des Merkur ein Restbetrag vorhanden ist, der durch die 
Störungen von seiten der übrigen Planeten nicht verursacht sein kann. 
Nach der erneuten Durchrechnung von Newcomb®°®) hat er die Größe 


Az —= 41,24” + 2,09”, edx = 8,48’ + 0,43”. 


Der theoretische Wert fällt also innerhalb die Fehlergrenzen von New- 
comb. Wie weit der Newcombsche Wert selbst gesichert (evtl, wie von 
astronomischer Seite geäußert wurde, durch Rechenfehler entstellt) 
ist, wird in dem Art. VI 2,22 dieser Enzyklopädie von F. Kottler zu 
diskutieren sein. Ebendort wird auf die Einflüsse nicht relativisti- 
schen Ursprunges auf das Merkurperihel einzugehen sein, z. B. Ab- 
plattung der Sonne, Drehung des empirischen gegen das Inertial- 
system, nicht planetarische störende Massen, namentlich die des Zo- 
diakallichtes (Seeliger??®»)). Von der Seeligerschen Erklärung unter- 
scheidet sich die Einsteinsche jedenfalls dadurch zu ihrem Vorteil, 
daß sie keine unbestimmten Parameter nötig hat. Wenn also auch 
der Grad der numerischen Übereinstimmung zurzeit vielleicht noch 
nicht sicher beurteilt werden kann, so bedeutet jedenfalls die Über- 
einstimmung des Einsteinschen und Newcombschen Wertes einen 
großen Erfolg. 

Neuerdings wurde wiederholt ein älterer Versuch von P. Gerber ??*) 
diskutiert, die Perihelbewegung des Merkur durch die endliche Aus- 
breitungsgeschwindigkeit der Gravitation zu erklären, der jedoch als 
theoretisch völlig mißglückt bezeichnet werden muß. Er führte näm- 
lich — aber auf Grund von falschen Schlüssen — zwar zur rich- 
tigen Formel (428), jedoch ist zu betonen, daß auch damals an dieser 
nur der Zahlenfaktor neu war. 

Eine noch endgültigere Bestätigung wie beim Merkurperihel hat 
die Relativitätstheorie neuerdings bei der Strahlenablenkung erfahren. 
Nach (429) erfährt nämlich ein am Sonnenrand vorbeigehender Licht- 
strahl eine Ablenkung von 


„ 


== 1,15. 





329) U. J. Leverrier, Ann. de l’Obs. Paris, vol. V, 1859. 

330) $. Newcomb, Wash. Astr. pap. 6 (1898), p. 108. 

3308) H.v. Seeliger, Münch. Ber. 36 (1906), p. 595. 

331) P. Gerber, Ztschr. Math. Phys. 43 (1898), p. 93; Jahresb. Real-Progymn. 
Stargard 1902. Wieder abgedruckt in Ann. d. Phys. 52 (1917), p. 415; Diskus- 
sion: H. v. Seeliger, Ann. d. Phys. 53 (1917), p. 31; 54 (1917), p. 38; S. Oppen- 
heim, Ann. d. Phys. 53 (1917), p. 163; M. v. Laue, Ann. d. Phys. 53 (1917), p. 214; 
Naturw. 8 (1920), p. 736. Vgl. dazu auch J. Zenneck, Art. V 2, Nr. 24 und 
S. Oppenheim, Art. VI 2, 22, Nr. 31b) dieser Encyklopädie. 


59. Andere spezielle, strenge Lösungen im statischen Fall. 7133 


Dies läßt sich prüfen durch Beobachtung von Fixsternen in der Nähe 
der Sonne bei totalen Sonnenfinsternissen. Die anläßlich der totalen 
Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 ausgerüsteten Expeditionen in Bra- 
silien und auf der Insel Principe fanden nun in der Tat, daß der von 
Einstein vorausgesagte Effekt vorhanden ist.) Auch quantitativ ist 
die Übereinstimmung eine gute. Die erstgenannte Expedition fand 
nämlich im Mittel für die auf den Sonnenrand reduzierte Sternablen- 
kung 1,98” + 0,12”, die zweite Expedition 1,61” + 0,30”. Über die 
Reduktionsmethoden, durch welche diese Zahlen gewonnen wurden, 
vgl. den Art. VI2,22 von Kotiler. 

Der ursprünglich von Einstein berechnete halbe Wert (vgl. Nr. 50), 
der sich auch auf Grund der Newtonschen Theorie für einen mit 
Lichtgeschwindigkeit bewegten Massenpunkt ergibt, erwies sich als 
mit den Beobachtungen unvereinbar. 


59. Andere spezielle, strenge Lösungen im statischen Fall. 
Das Feld (421) für den Massenpunkt wird singulär für r = 2m bzw. 
. 
wie sich das @-Feld in das Innere der Masse fortsetzt. Hierzu ist 
nötig, bestimmte Annahmen über die physikalische Beschaffenheit der 
felderzeugenden Masse zu machen, da der Energietensor 7,, sonst 
nicht bestimmt ist. Die einfachste Annahme ist die einer inkompres- 
siblen Flüssigkeitskugel. Für diesen Fall hat Schwarzschild?®?) die Feld- 
gleichungen integriert, von Weyl?®*) wurde die Rechnung vereinfacht. 
Der Energietensor ist hier nach (362) gegeben durch 


I ("0 r 3) u + PIr 


da u, = konst, P= . wird. Die Grenzbedingungen der Elastizitäts- 


ya 


und es ist deshalb von theoretischem Interesse zu untersuchen, 


0 
theorie verlangen die Stetigkeit aller g,, und das Verschwinden des 
Druckes p» auf der Kugeloberfläche. Mit Rücksicht hierauf ist das 
Feld eindeutig bestimmt. Im Außenraum (r >r,, r, = Kugelradius), 
ergibt sich das nämliche Feld wie beim Massenpunkt. Der Gravita- 
tionsradius m ist dabei 


ku, Azr} 
(430) Nn= 2 R aue 











332) F. W. Dyson, A. S. Eddington u. ©. Davidson, A determination of the 
deflection of light by the sun’s gravitational field, from observations made ad 
the total eclipse of may 29, 1919, Phil. Trans. Roy. Soc. A 220 (1920), p. 291. 

333) K. Schwarzschild, Berl. Ber. 1916, p. 424. 

834) H. Weyl, Raum —Zeit— Materie, 1. Aufl. 1918, p. 208; 3. Aufl. 1920, 
p- 225. 


48” 


734 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie., 


Im Innern der Kugel dagegen gilt, wenn wir das Quadrat des Linien- 
elements in der Normalform (410a) schreiben und h dieselbe Bedeu- 
tung hat wie in (413): 


1 2m 3h—h, Bas 
len ld EI A ar 
(h, = Wert von h an der Öbertläche). 





Das Quadrat des Linienelements wird hiernach im Innern der Kugel 


ds? — (da?) + (dad? + (dev)? + de taidet +atany) 








j 
(432) Sh—h,\2 Ar a, 
Br ( 2hh, ) (da‘)’ 
mit 
(433) ar ER 


Damit das Linienelement außerhalb der Kugel regulär bleibt, muß 
r, > 2m sein. Wie der Vergleich mit (132a) zeigt, ist die Geometrie 
des dreidimensionalen Raumes innerhalb der Flüssigkeitskugel von 
konstanter positiver Krümmung (sphärisch oder elliptisch); a hat die 
Bedeutung des Krümmungsradius. Mit der Berechnung des G-Feldes 
von kompressiblen Flüssigkeitskugeln beschäftigt sich Bauer°’*). 

Ein weiteres Problern, welches eine strenge Lösung zuläßt, ist 
das Feld einer elektrisch geladenen Kugel.- Es ist für die Frage nach 
der Natur des Elektrons (s. Abschn. V) von Interesse zu untersuchen, 
inwiefern das elektrostatische Feld einer geladenen Kugel durch ihr 
Gravitationsfeld beeinflußt und umgekehrt durch die elektrostatische 
Energie ein Gravitationsfeld erzeugt wird. Diese Aufgabe ist zuerst 
von Reißner??°), hernach, ausgehend vom Wirkungsprinzip, von Weyl?®®) 
gelöst worden. Es zeigt sich, daß das elektrostatische Potential 
exakt dem Coulombschen gleich ist: 
wenn wir hier nicht Heavisidesche, sondern gewöhnliche 0.@.8.-Ein- 
heiten verwenden. Das @-Feld in der Normalform (410a) ist jedoch 
nicht mehr durch (416), (417) bestimmt, sondern durch 


1 2 : 
(435) 4-1, -mepr-i-rr5 
Das letzte Glied ist das von der elektrostatischen Energie erzeugte 


334) H. Bauer, Wien. Ber., math.-nat. Kl., Abt. IIa, 127 (1918), p. 2141. 


335) H. Reißner, Ann. d. Phys. 50 (1916), p. 106. 
336) H. Weyl, Ann. d. Phys. 54, 1. c. Anm. 324); Raum — Zeit— Materie, 


1. Aufl. 1918, p. 207; 3. Aufl. 1920, p. 223. 


59. Andere spezielle, strenge Lösungen im statischen Fall. 735 


Gravitationsfeld. Es wird erst in Entfernungeu von der Größenord- 
2 

nung 4 = = = #3 mit dem Newtonschen Glied ” vergleichbar. 
Beim Elektron ist a die in den älteren Theorien als „Elektronen- 
radius“ auftretende Größe o 10-!?cm. Die von einem Elektron auf 
ein zweites oder auf ein eigenes Ladungselement ausgeübte Gravita- 
tionsanziehung ist jedoch immer viel kleiner als die elektrostatische 
Coulombsche Abstoßung — das Verhältnis beider ist 


EM? 10-0 _ 
RE 





so daß durch das Gravitationsfeld (435) das Elektron gegenüber sei- 
nen eigenen Abstoßungskräften durchaus nicht im Gleichgewicht ge- 
halten wird. 

Levi-Civita®®”) untersuchte auch das von einem homogenen elek- 
trischen oder magnetischen Feld erzeugte Gravitationsfeld. Ist x? in 
der Richtung des ersteren Feldes gezählt, F' dessen Stärke, so nimmt 
das Quadrat des Linienelements die Form an 











ds? — (dz?)? + (dad)? + (dam): + Ir 
x(3) 3\ 2 
(436) ar (& ea + Ge cz, (da*)”, 
n2 
mit r—=YV(z')?+ (2°), c,% Konstanten, u. = VER F 


Der Raum ist zylindersymmetrisch um die Feldrichtung, und auf jeder 
Ebene senkrecht zur Feldrichtung herrscht dieselbe Geometrie wie im 
euklidischen Raum auf einer Kugel vom Radius «. Der Krümmungs- 
radius a ist bei Feldern von normaler Größe außerordentlich groß, 
z. B. ist bei F = 25000 Gauß, a = 1,5. 10'° km. 

Weyl®®) und in einer Reihe von Abhandlungen Levi- Oivita??®) 
haben auch allgemeine Lösungen für beliebige zylindersymmetrische 
Verteilungen von geladenen und ungeladenen Massen gegeben. Das 
G-Feld ist dann selbst zylindersymmetrisch und statisch. Entspre- 
chend dem nicht linearen Charakter der Differentialgleichungen ver- 
hält sich g,, nicht additiv in den Massen. 


337) T. Levi-Civita, Realtä fisica di aleuni spazi normali del Bianchi, Rend. 
Acc. Linc. (5) 26 (1917), 1. Hälfte, p. 458. 

338) H. Weyl, Ann. d. Phys. 54, l.c. Anm. 324) und die Ergänzung Ann. 
d. Phys. 59 (1919), p. 185. 

339) T. Levi-Civita, ds? einsteiniani in campi newtoniani I—IX, Rend. Acc. 
Linc. (5) 26 (1917); (5) 27 (1918); (5) 28 (1919). Die allgemeine Form der Diffe- 
rentialgleichungen des @-Feldes für den statischen Fall gibt Levwi-Cirita in der 
Anm. 307) zitierten Abhandlung Statica Einsteiniana. 


1736 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


60. Einsteins allgemeine Näherungslösung und ihre Anwen- 
dungen. Nur im statischen Fall ist es bisher gelungen, strenge Lö- 
sungen der Feldgleichungen der Gravitation zu finden. Es ist des- 
halb von großer Wichtigkeit, daß Einstein®) ein Verfahren ange- 
geben hat, welches gestattet, bei beliebig schnell bewegten Massen 
das @ Feld näherungsweise zu ermitteln, wenn nur die Massen hin- 
reichend klein sind. Die g,, weichen dann nämlich nur wenig von 
ihren Normalwerten ab, so daß die Quadrate dieser Abweichungen 
vernachlässigt werden können, und von den Differentialgleichungen 
(401) des Gravitationsfeldes braucht nur der lineare Teil beibehalten 
zu werden, so daß die Integration leicht vollzogen werden kann. 

Führen wir hier wieder die imaginäre Zeitkoordinate x* = ict 
ein, so können wir setzen 


(437) a9; + Yin 
woraus wegen 9,,9'° = d;* bis auf Größen höherer Ordnung 
(4373) ehr 


folgt. Es sei gleich bemerkt, daß die Größen y;, nur gegenüber 
Lorentz-Transformationen Tensorcharakter haben. Gemäß dem Aus- 
druck (94) für den verjüngten Krümmungstensor nehmen dann die 
nn (401) in der gewünschten Näherung die Form an: 


0° Y Yin Ö’ Yra 
(438) rn +2 E ey Dakdat Ouidx“ 


0" OYap \ 38] —_ 
- 2 - 1) = — 2xT,,. 








Darin ist die Abkürzung eingeführt 


(439) viren 
Zur Vereinfachung führen wir zunächst die Größen 
(440) Ya Yan 3 Y 


ein und fügen gleich noch die inversen, nach den ungestrichenen 
Größen aufgelösten Gleichungen 











(4408) 2 I 0 
(4392) Y=-lya=—r 
hinzu. Dann ergibt sich aus (438) 
O’yir ya OÖ’ Yo u: 1 29 
(4Bbe) Page dar mid“ es ara real 


8340) A. Einstein, Berl. Ber. 1916, p. 688. 


60. Einsteins allgemeine Näherungslösung und ihre Anwendungen. 737 


Diese Gleichungen lassen sich noch wesentlich weiter vereinfachen, 
wenn wir das Koordinatensystem in geeigneter Weise normieren. 
Durch die Forderung, daß sich die g,, nur wenig von ihren Normal- 
werten unterscheiden, ist nämlich das Koordinatensystem selbst nur 
bis auf Größen von der Ordnung der y,, festgelegt. Man kann nun 
speziell die Koordinatenwahl so treffen, daß im normierten System 
die Gleichungen 


(441) NE 


gelten. Hilbert?) hat den mathematischen Beweis dafür erbracht, daß 
bei beliebig vorgegebenen Werten der y/, im ursprünglichen System 
stets ein solches Koordinatensystem gefunden werden kann, daß sich 
die neuen Koordinatenwerte von den alten nur um Größen von der 
Ordnung der y/, unterscheiden und zugleich die Forderung (441) be- 
friedigt wird. Man hat gerade vier Funktionen zur Verfügung, um 
die vier Gleichungen (441) zu erfüllen. 

Offensichtlich werden die Differentialgleichungen (438a) dann 
einfach 
(442) Dya—=— 2%Tu, 





} 6, ' ray i N 6’%; 
worin, wie in der speziellen Relativitätstheorie, O y,, für ge- 
’ z ik 0 fe} 


schrieben ist. Die Integration erfolgt in bekannter Weise durch re- 
tardierte Potentiale: 


43) aaa) — 


Wegen des Energiesatzes (341a), p. 720, ist hierdurch auch (441) mit 
der hier erstrebten Genauigkeit befriedigt. 

Aus (443) geht hervor, daß sich die Gravitationswirkungen ebenso 
wie elektromagnetische Störungen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. 
Die Form der Gravitationswellen im leeren Raum folgt aus (441), 
(442), wenn man 7,,= 0 setzt. Speziell für eine ebene in der &,- 
Achse fortschreitende Welle 





dä di di. 


m = u — r 
Eee) 


2% r 


(444) 2° Sragn ne I ) 
folgt aus (441): 
(445) a, = — id, 


(442) ist identisch erfüllt. Einstein®*?) zeigt überdies, daß durch ge- 


341) D. Hilbert, Gött. Nachr., math.-phys. Kl. 1917, p. 53, 1. c. Anm. 98). 
342) A. Einstein, Über Gravitationswellen, Berl. Ber. 1918, p. 154. 


138 vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


eignete Koordinatenwahl erzielt werden kann, daß außerdem noch gilt: 
(446) gl; —t), Ay —— Ay: 
Über die Emission und Absorption von Gravitationswellen siehe die 
folgende Nr. 
Für das Feld eines ruhenden Massenpunktes ergibt (443) 
4m 


G .. . ’ 
Ya = — 7, alle übrigen y,,—= 0, 


2 2 

somit are ——, Ya Ya —- 

Man erkennt darin die Größen erster Ordnung des Feldes (421b) 
wieder. Auch die Berechnung des Feldes von n» bewegten Punkten 
läßt sich ohne weiteres ausführen.) Es ergibt sich vor allem, daß 
die Abweichungen ihrer Bewegung von den Gesetzen der Newton- 


schen Mechanik nur von zweiter Ordnung in = sind, wie es von der 
Erfahrung verlangt wird. 

Auch der folgende Umstand bewirkt eine Abweichung von der 
Newtonschen Mechanik. Die relativistische Gravitationstheorie stimmt 
mit der Newtonschen darin überein, daß das Gravitationsfeld einer 
ruhenden Kugel dasselbe ist wie das Feld eines Massenpunktes. Dies 
gilt jedoch nicht für eine rotierende Kugel. Auf diesen Fall haben 
Thirring und Lense’*) die Einsteinschen Formeln angewandt und die 
zugehörigen durch die Eigenrotation der Zentralkörper verursachten 
Störungen der Planeten- und Mondbahnen berechnet. Sie sind wohl 
alle zu klein, um beobachtet werden zu können. Eine allgemeine 
Diskussion der nach der Einsteinschen Theorie zu erwartenden Ab- 
weichungen in den Störungen der Planeten- und Mondbahnen von 
denen der klassischen Mechanik gibt De Sitter®®). Außer der Perıhel- 
bewegung des Merkur gibt es keine Abweichung, die der Beobach- 
tung zugänglich ist. 

Die wichtigste Anwendung der Einsteinschen Näherungslösung 
(443) stellt jedoch die Untersuchung von Thirring®*®) über die Rela- 
tivität der Zentrifugalkraft dar. Da in der allgemeinen Relativitäts- 
theorie die Vorgänge auch auf ein relativ zu einem Galileischen Be- 


343) Sie wird nach einer von der Einsteinschen etwas abweichenden Inte- 
grationsmethode von J. Droste gegeben: Amst. Proc. 19 (1916), p. 447. 

344) H. Thirring u. J. Lense, Phys. Ztschr. 19 (1918), p. 156. 

345) W. De Sitter, Monthly Not. Roy. Ast. Soc. 76 (1916), p. 699 u. 77 (1916), 
p. 155. Vgl. auch De Sitters Abhandluny Planetary motion and the motion of 
the moon according to Einsteins theory, Amst. Proc. 19 (1916), p. 367. 

346) H. Thirring, Phys. Ztschr. 19 (1918), p 33. Vgl. auch den Nachtrag 
Phys. Ztschr. 22 (1921), p. 29. 


60. Einsteins allgemeine Näherungslösung und ihre Anwendungen. 739 


zugssystem rotierendes System bezogen werden können, muß sich die 
Zentrifugalkraft auch als eine von der relativen Rotation der Fix- 
sternmassen herrührende Gravitationswirkung auffassen lassen. Man 
könnte nun meinen, die Möglichkeit einer solchen Auffassung sei in 
der allgemeinen Relativitätstheorie bereits durch die allgemeine Ko- 
varianz der Feldgleichungen gewährleistet. Wie in Nr. 62 noch aus- 
führlich erörtert werden wird, ist dies jedoch nicht der Fall, weil die 
Grenzbedingungen im Unendlichen dabei wesentlich mitspielen. T’hir- 
ring stellte sich deshalb nicht die Aufgabe, die volle Äquivalenz der 
relativen Rotation des Fixsternhimmels mit einer Rotation des Be- 
zugssystems gegenüber einem Galileiischen System nachzuweisen, son- 
dern modifizierte die Fragestellung so, daß die Schwierigkeit der Fest- 
legung der Grenzbedingungen eliminiert wird. 

Wir denken uns in einem Inertialsystem der Newtonschen Gra- 
vitationstheorie außer den weit entfernten, ruhenden (bzw. mit sehr 
kleiner Geschwindigkeit geradlinig gleichförmig bewegten) Fixsternen 
eine rotierende Hohlkugel. Vom relativistischen Standpunkt aus ist 
es klar, daß im Iunern der Hohlkugel Zentrifugal- und Corioliskräfte 
auftreter werden, wenn die Masse der Hohlkugel mit der Masse des 
Fixsternsystems vergleichbar wird. Dem Prinzip der Kontinuität ge- 
mäß wird man anzunehmen haben, daß solche Kräfte, wenn sie auch 
sehr klein sein werden, auch dann vorhanden sind, wenn die Masse 
der Hohlkugel klein ist. In diesem letzteren Fall dürfen wir aber 
ohne weiteres die Formeln (443) anwenden, weil dann die g,, offen- 
sichtlich nur wenig von ihren Normalwerten abweichen. Die Aus- 
rechnung zeigt nun, daß in der Tat ein Massenpunkt im Innern der 
Hohlkugel Beschleunigungen erfährt, die den Coriolis- und Zentri- 
fugalbeschleunigungen der klassischen Mechanik vollständig analog 
sind. Ist © der Vektor der Winkelgeschwindigkeit, r das Lot von 
der Drehachse auf den Massenpunkt, vd dessen Geschwindigkeit; so 
sind diese Beschleunigungen natürlich nicht direkt gleich 

2[ov] + o?r, | 
wie es nach der klassischen Mechanik in einem relativ zum Inertial- 
system mit der Winkelgeschwindigkeit & rotierenden Bezugssystem der 
Fall wäre; sondern diese zwei Terme sind noch mit Faktoren multipli- 
ziert, 2 von der Größenordnung des Verhältnisses des Gravitationsradius 


m—= —- M der Hohlkugel zu ihrem Radius a sind. Da dieses Verhält- 


nis für alle verfügbaren Massen winzig klein ist, besteht keine Aus- 
sicht, dieses prinzipiell wichtige Ergebnis experimentell zu prüfen; und 
man versteht auch, warum der primitive Newtonsche Versuch mit 


740 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


dem rotierenden Wassergefäß sowie auch der verfeinerte Versuch von 
B. und T. Friedländer®“"), innerhalb eines schweren rotierenden Schwung- 
rades Zentrifugalkräfte nachzuweisen, negativ ausfallen mußten. 


61. Die Energie des Gravitationsfeldes. Bereits in Nr. 54 haben 
wir gesehen, daß bei Vorhandensein eines Gravitationsfeldes die Diffe- 
rentialgesetze für den materiellen Energietensor nicht wie in der spe- 
ziellen Relativitätstheorie die Form annehmen 








(341) 0, 
sondern 

ö oT ER) SR 
(8412) Eee Val med, 


so daß aus ihnen für ein abgeschlossenes System nicht die Erhal- 
tungssätze 
ST dat aa dx? = konst. 

gefolgert werden können. In Nr. 57 zeigten wir jedoch, daß auf 
Grund der Feldgleichungen der Gravitation (401) der Impuls-Energie- 
satz (341a) das Gleichungssystem 


+ _ 
(406) 0 


zur Folge hat, wo 4* die durch (405), (183), (185) definierten 
Größen sind. Aus diesem Gleichungssystem resultieren nunmehr für 
ein abgeschlossenes System wieder Erhaltungssätze 


(447) I, (It + 1) dr!dr?da® = konst. 


Aus diesem Grunde nennt Einstein das Größensystem t* die Energie- 
komponenten des Gravitationsfeldes und J, Gesamtimpuls und Ge- 
samtenergie des abgeschlossenen Systems (vgl. Nr. 57). 

Bei näherer Prüfung wurden jedoch große Schwierigkeiten offen- 
bar, die dieser Auffassung zunächst entgegenstehen. Sie rühren letzten 
Endes daher, daß die {,, keinen Tensor bilden. Da diese Größen von 
höheren Ableitungen der g,, als den ersten nicht abhängen, kann man 
sofort schließen, daß sie durch geeignete Koordinatenwahl (geodäti- 
sches Bezugssystem) in einem beliebig vorgegebenen Weltpunkt zum 
Verschwinden gebracht werden können. 

Es gilt aber noch mehr: Schrödinger **) fand, daß für das Feld 
(421a) eines Massenpunktes, welches zugleich das Feld im Außen- 
raum einer Flüssigkeitskugel darstellt, alle Energiekomponenten iden- 
tisch verschwinden. Das Resultat läßt sich auch auf das Feld (435) 


347) B. u. T. Friedländer, Absolute und relative Bewegung, Berlin 1896. 
348) E. Schrödinger, Pbys. Ztschr. 19 (1918), p. 4. 


61. Die Energie des Gravitationsfeldes. 741 


einer geladenen Kugel ausdehnen. Andererseits zeigte Bauer”), daß 
durch bloße Einführung von Polarkoordinaten in das euklidische 
Linienelement der speziellen Relativitätstheorie die Energiekompo- 
nenten von Null verschiedene Werte annehmen, es wird dann sogar 
die Gesamtenergie unendlich! Auch sind die i,, keineswegs symme- 
trisch, und die Energiedichte — 4 ist nicht überall positiv. Das Vor- 
zeichen der Energiedichte des Gravitationsfeldes hatte ja schon bei 
den älteren Feldtheorien der Gravitation immer Schwierigkeiten ge- 
macht.?#®) 

Trotz dieser Schwierigkeiten ist aus physikalischen Gründen die 
Forderung nach einem Analogon zu den Energie- und Schwerpunkts- 
integralen der Newtonschen Theorie kaum abzuweisen. Lorentz°°®) 
und Levi-Civita®!) haben deshalb vorgeschlagen nicht die Größen {,,, 


sondern 4 G,, als die Energiekomponenten des Gravitationsfeldes zu 


bezeichnen. Denn nach (401) gilt 
1 
u 2 G,=0, 
0 1 
also auch (8 + 6;) = (. 


Einstein®?) hat jedoch dagegen mit Recht eingewendet, daß bei dieser 
Definition der Gravitationsenergie die Gesamtenergie eines abgeschlos- 
senen Systems stets Null wäre, und die Erhaltung dieses Energie- 
wertes verlangt nicht die Fortexistenz des Systems in irgendeiner 
Form. Man könnte dann also aus den Erhaltungssätzen nicht solche 
Folgerungen ziehen, wie wir sie sonst zu ziehen gewohnt sind. In 
einer Erwiderung auf Schrödingers Arbeit konnte Einstein?) ferner 
zeigen, daß bei Wechselwirkung von mehreren Massen die i,, sicher 
nicht überall verschwinden. 

Die endgültige Klärung des Sachverhaltes brachte schließlich 
Einsteins Arbeit „Der Energiesatz in der allgemeinen Relativitäts- 
theorie“?%). Es wird hier der Beweis erbracht, daß die Werte (447) 


349) H. Bauer, Phys. Ztschr. 19 (1918), p. 163. 

349a) Vgl. darüber z.B. M. Abraham, Jahrb. f. Rad. u. El. 11 (1914), p. 570, 
l. c. Anm. 272). 

350) H. A. Lorentz, Amst. Versl. 25 (1916), p. 468, l. c. Anm. 100). 

351) T. Levi-Civita, Rend. Acc. Linc. (5) 26 (1917), 1. Hälfte, p. 381. 

352) A. Einstein, Berl. Ber. 1918, p. 154, l. c. Anm. 342), $ 6. 

353) A. Einstein, Phys. Ztschr. 19 (1918), p. 115. 

354) A. Einstein, Berl. Ber. 1918, p. 448; siehe auch F'. Klein, Über die Inte- 
gralform der Erhaltungssätze und die Theorie der räumlich geschlossenen Welt, 
Gött. Nachr., math.-phys. Kl., 1918, p. 394. 


1742 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


für Gesamtenergie und Gesamtimpuls eines abgeschlossenen Systems 
in ziemlich weitgehendem Maße vom Koordinatensystem unabhängig 
sind, obwohl die Lokalisation der Energie in den verschiedenen Ko- 
ordinatensystemen im allgemeinen völlig verschieden ausfällt. Dieser 
Beweis wurde hernach von Klein®*) vervollständigt (vgl. Nr. 21). Man 
muß hiernach zwar den Werten der i selbst jede physikalische Be- 
deutung absprechen, d. h. es gelingt nicht, die Lokalisation von 
Energie und Impuls im Gravitationsfeld in allgemein kovarianter und 
physikalisch befriedigender Weise durchzuführen. Aber die Integral- 
werte (447) haben einen bestimmten physikalischen Sinn Die Be- 
deutung der Gleichung (406) liegt nur darin, daß sie die Änderung 
der materiellen Energie eines abgeschlossenen Systems in einfacher 
Weise zu berechnen gestattet. 

Der Beweis der Invarianz der durch (447) definierten Größen J, bei 
gewissen, weiter unten angegebenen Koordinatentranstormationen ist 
sehr einfach zu führen. Es sei ein begrenztes abgeschlossenes System 
gegeben. Außerhalb eines gewissen Bereiches B desselben sei das 
Linienelement das der speziellen Relativitätstheorie (Galileisches Ko- 
ordinatensystem). Wir betrachten zunächst nur solche Koordinaten K, 
die außerhalb B mit einem Galileıschen Koordinatensystem überein- 
stimmen. Polarkoordinaten sind dadurch z. B. ausgeschlossen. Dann 
verschwindet der Integrand von (447) außerhalb der Weltröhre B und 
alle Voraussetzungen der Nr. 21 sind erfüllt. Aus dem dort Gesagten 
folgt: Erstens: Die Integralwerte von Impuls und Energie sind unab- 
hängig von der Koordinatenwahl innerhalb B, wenn sich die Koordi- 
naten nur stetig an ein Galileisches System außerhalb B anschließen. 
Und zweitens: Die Größen J, verhalten sich gegenüber linearen Ko- 
ordinatentransformationen — wobei jetzt also auch außerhalb D die 
Koordinatenwerte veräudert werden — wie die kovarianten Kompo- 
uenten eines Vektors. Über einen analogen Invarianzsatz für die räum- 
lich geschlossene Welt siehe die folgende Nr. 

Es bleibt noch die Frage zu erörtern, ob die Größen Z* durch 
die Gleichungen (406) eindeutig bestimmt sind, d. h. ob es nicht noch 
andere Größen w; als die durch (405), (183), (185) gegebenen Größen 
t£} gibt, welche das Gleichungssystem (406) zufolge der Feldglei- 
chungen (401) identisch befriedigen. Wie zuerst Lorentz ®°®*) gezeigt 
hat und wie auch Klein®®°) hervorhebt, ist letzteres in der Tat der 
Fall, sobald man zugibt, daß die w* auch die zweiten Ableitungen der 


350a) H. A. Lorentz, 1. c. Anm. 350). 
355) F. Klein, Gött. Nachr. 1918, p. 235, l. c. Anm. 103). 


62. Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Trägheit usw. 743 


9;, enthalten dürfen. Physikalische Gründe lassen sich gegen diese 
Möglichkeit nicht beibringen. Man erhält dann natürlich verschiedene 
Werte für die Gesamtenergie eines Systems, je nachdem ob die Ein- 
steinschen t,‘ oder die Lorentzschen w* zugrunde gelegt werden. 

Von der Gleiehung (406) macht Einstein?®®) eine wichtige An- 
wendung auf die Emission und Absorption der Gravitationswellen, 
deren Feld in Nr. 60 erörtert wurde. Wenn in einem materiellen 
System Schwingungen oder auch sonstige Bewegungen vor sich gehen, 
so folgt aus der Theorie, daß das System Wellen ausstrahlt, und zwar 
ist die Ausstrahlung bestimmt durch die dritten Ableitungen seiner 
Trägheitsmomente 
(448) Du —| werdatdatda? EL 2 
nach der Zeit. Der Energiestrom der ausgestrahlten Welle längs der 
x!-Achse ist mi. 

(449) See) + DB] 


(k = gewöhnliche Gravitationskonstante) 





und die gesamte pro Zeiteinheit nach allen Richtungen ausgestrahlte 
Energie 


m I HID) 


Letztere ist nach (449) stets positiv. Die ausgestrahlte Energie ist 
so klein, daß sie zu keinen astronomischen Effekten Veranlassung gibt, 
die innerhalb der hierbei in Betracht kommenden Zeiträume bemerk- 
bar wären. Sie ist jedoch von prinzipieller Bedeutung für die Atom- 
physik. Einstein vertritt die Ansicht, daß die Quantentheorie auch 
die Gravitationstheorie wird modifizieren müssen. 

Ähnlich berechnet sich die absorbierte Energie. Es falle eine 
Gravitationswelle vom Typus (444), (445), (446) längs der x!- Achse 
auf ein materielles System, dessen Dimensionen klein seien gegenüber 
der Wellenlänge der einfallenden Welle. Dann ist die pro Zeiteinheit 
absorbierte Energie gegeben durch 
a A Wet) 2 )] 

dt a ot ae ot N 
wobei sich die Größen 733, Pag, Y3; auf das Wellenfeld beziehen. 


62. Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Träg- 
heit und räumlich-geschlossene Welt.?°’) a) Das Machsche Prinzip. 





356) A. Einstein, 1. c. Anm. 342). 
357) Die in diesem Abschnitt dargelegten Gedanken sind in A. Einsteins 
Arbeit „Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie‘“ (Berl. 


744 V1ı9 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


In Nr. 58 war von der Perihelbewegung des Merkur schlechtweg die 
Rede, ohne daß eine nähere Angabe gemacht wurde, wodurch das dort 
verwendete Koordinatensystem K,, relativ zu welchem diese Perihel- 
bewegung gemessen werden soll, physikalısch bestimmt ist. Dieses 
ist vor allen anderen relativ zu K, gleichförmig rotierenden Bezugs- 
systemen K durch die Kugelsymmetrie des @-Feldes und vor allem 
durch das Verhalten der g,, im räumlich Unendlichen ausgezeichnet; 
die g,, nehmen nämlich dort ihre Normalwerte an. Die Grenzbedin- 
gungen für das räumlich Unendliche, die zur vollständigen Bestimmung 
der g,, aus den Lagen und Geschwindigkeiten der Massen, allgemeiner 
aus dem materiellen Energietensor 7‘;,,, den Differentialgleichungen des 
@G-Feldes noch hinzugefügt werden, zeichnen gewisse Koordinaten- 
systeme K, vor anderen aus. Bei der Frage der Relativität der 
Zentrifugalkräfte (Nr. 60) hatte sich diese Schwierigkeit besonders 
stark fühlbar gemacht. Diese Auszeichnung von gewissen Koordinaten- 
systemen durch die Grenzbedingungen ist zwar mit dem Postulat 
der allgemeinen Kovarianz nicht logisch unvereinbar, widerspricht 
aber dem Geist einer relativistischen Theorie und muß als schwerer 
erkenntnistheoretischer Mangel bezeichnet werden. Einstein®®) be- 
leuchtet ihn drastisch durch ein Gedankenexperiment mit zwei relativ 
zueinander um ihre Verbindungslinie rotierenden Flüssigkeitsmassen. 
Er haftet nicht nur der klassischen Mechanik und der speziellen Re- 
lativitätstheorie an, sondern auch der im vorhergehenden entwickelten, 
auf den Gleichungen (401) basierenden Gravitationstheorie. Er wird 
erst behoben, wenn die Grenzbedingungen in allgemein kovarianter 
Weise festgelegt sind. 

Wir stellen also die Forderung auf: Das G-Feld soll durch die 
Werte des Energietensors (T',,) allein in eindeutiger, allgemein kovarianter 
Weise bestimmt sein. Da Mach°®°) bereits den hier erwähnten Mangel 
der Newtonschen Mechanik klar erkannt und die absolute Beschleu- 
nigung durch eine Relativbeschleunigung gegen die übrigen Massen 
des Weltalls ersetzt hat, nannte Einstein ?*®) dieses Postulat gelegent- 
lich Machsches Prinzip. Insbesondere ist zw fordern, daß die Träg- 
heit der Materie durch die umgebenden Massen allein bestimmt ist, 
also verschwinden soll, wenn alle übrigen Massen entfernt werden, 


Ber. 1917, p. 142) entwickelt. (Auch abgedruckt in der Sammlung „Das Relati- 
vitätsprinzip“.) 

358) A. Einstein, Ann d. Phys. 49, l. c. Anm. 279), $ 2. 

359) E. Mach, Mechanik, Kap. II, Nr. 6; Die Geschichte und die Wurzel 
des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, Zusatznote 1. 

360) A. Einstein, Ann. d. Phys. 55 (1918), p. 241. 


62. Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Trägheit usw. 745 


weil es vom relativistischen Standpunkt aus keinen Sinn hat, von 
einem Widerstand gegen absolute Beschleunigungen zu sprechen (Re- 
lativität der Trägheit). 

b) Betrachtungen über das statistische Gleichgewicht des Fixstern- 
systems. Das A-Glied. Auch abgesehen von der Frage der Grenz- 
bedingungen im räumlich Unendlichen stößt man noch auf eine wei- 
tere Schwierigkeit, wenn man die bisher verwendeten Feldgleichungen 
auf das Fixsternsystem als Ganzes anwendet. Die Überwindung der- 
selben wird dann auch die Erfüllung der unter a) gestellten Forde- 
rungen mit sich bringen. 

Schon C. Neumann®®!) und Seeliger?®) haben darauf hingewiesen, 
daß das Newtonsche Gravitationsgesetz nur dann strenge gültig sein 
kann, wenn die Massendichte des Weltalls für r— 00 schneller als 
n zu Null konvergiert. Sonst würde nämlich die von allen Massen 
des Weltalls auf einen Massenpunkt ausgeübte Kraft unbestimmt sein 
In einer folgenden Abhandlung°®°) diskutiert Seeliger weiter die Mög- 
lichkeit, daß die Massendichte zwar in beliebigen Entfernungen von 
Null verschieden bleibt, das Newtonsche Potential dagegen durch das 
mit der Entfernung rascher abklingende Potential 

eVAr 


r 


o6=A 





zu ersetzen sei. Dieses Potential war bereits in anderem Zusammen- 
hange von (©. Neumann°?*) mathematisch untersucht worden. Es 
kommt darauf hinaus, die Poissonsche Gleichung 


(A) AD —=Anku, 
durch 
(B) AD — Id = Ark 


zu ersetzen. Die Schwierigkeit, die bei der Newtonschen Theorie auf- 
tritt, verschwindet dann. 

Gegen die erste Möglichkeit — strenge Gültigkeit des Newton- 
schen Gesetzes und hinreichend schnelles Abnehmen der Massendichte 
im Unendlichen — lassen sich nun nach Einstein gewichtige Gründe 
vorbringen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß sich das 


361) C. Neumann, Abh. d. Kgl. süchs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, math.-nat. 
Kl. 26 (1874), p. 97. 

362) H. v. Seeliger, Astr. Nachr. 137 (1895), p. 129. 

363) H.v Seeliger, Münch. Ber. 26 (1896), p. 373. 

364) C. Neumann, Allgemeine Untersuchungen über das Newtonsche Prin- 
zip der Fernwirkungen, Leipzig 1896, vgl. insbesondere p. 1. 


746 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


ganze Sternsystem im statistischen Gleichgewicht befinden muß. Wäre 
das Potential in großen Entfernungen endlich (also die Massendichte 
hinreichend stark abnehmend), so müßte es vorkommen, daß ganze 
Himmelskörper das Fixsternsystem verlassen, dieses müßte also „ver- 
öden“, und zwar nach den Gesetzen der statistischen Mechanik so 
lange, als die gesamte Energie des Sternsystems größer ist als die 
Arbeit, die erforderlich ist, um einen einzigen Himmelskörper ins Un- 
endliche zu entfernen. Auch der schon durch ©. Neumanns und See- 
ligers Untersuchungen ausgeschlossene Fall eines unendlich hohen Po- 
tentialwertes in sehr großen Entfernungen (also die Massendichte bis 
ins Unendliche reichend oder nicht genügend schnell abnehmend) ver- 
bietet sich nach Einstein, weil dies mit der Tatsache im Widerspruch 
stünde, daß die beobachteten Sterngeschwindigkeiten verhältnismäßig 
klein sind. Bei Gültigkeit von (B) verschwinden jedoch alle diese 
Schwierigkeiten. Denn es ist dann eine gleichmäßige Massenverteilung 
der Materie von der Dichte u, und dem (räumlich konstanten) Potential 


dynamisch möglich. 

Genau analog wie in der Newtonschen stellt sich in der relati- 
vistischen Theorie die Sachlage dar. Hält man an den Gleichungen 
(401) fest, so erweist es sich nach Einstein als unmöglich, die Grenz- 
bedingungen so aufzustellen, daß zugleich dem „Verödungseinwand“ 
begegnet und der Tatsache der geringen Sterngeschwindigkeiten Rech- 
nung getragen wird. Man kann jedoch die Feldgleichungen in einer 
Weise modifizieren, die dem Übergang von (A) zu (B) völlig analog 
ist. In der Tat haben wir bei der Aufstellung der Feldgleichungen 
in Nr. 56 das zu g,, proportionale Glied c,g,, in (400) einfach fort- 
gelassen, was weder durch die allgemeine Kovarianz noch durch den 
Impuls-Energiesatz der Materie geboten war, und können es jetzt in 
die linke Seite von (401) aufnehmen, wobei wir im Anschluß an 
Einstein — 4 für c, schreiben: 


(452) Gr — 19, = — %T;. 
Durch Verjüngung ergibt sich daraus noch 

(453) R+44=-+,T 

und 

(4522) Ry +19 = — (Ta — 3947). 


Es folgt sofort, daß bei Zugrundelegung der so modifizierten Feld- 
gleichungen eine mit konstanter Massendichte angefüllte Welt im 
Gleichgewicht ist. Und zwar erweist sie sich als elliptisch oder sphä- 


62. Modifikation der Feldgleichungen. Relativität der Trägheit usw. 747 


risch, also räumlich geschlossen. Macht man nämlich den besonderen 
Ansatz 
at ck 


ee a’ — [(c')’ + (29) + 89)?’ Ia—0, a —=—1, (ük=1,2,3) 
so wird nach Nr. 18, (117), (118), (119), (130): 








2 6 1 Be 
R.= A — aan GI (für ,k=1,2,3) 
$ Rı=Ru= 
Ferner wird 
T,=We, die übrigen 7,=0, T= — we: 
die Gleichungen (452) sind also erfüllt, wenn 
(455) zu 


Aus den Feldgleichungen (401) würde dagegen wegen »—=0 auch 
1 


== mw folgen. 

Da die Welt sich in diesem Beispiel und voraussichtlich auch 
bei allgemeineren Massenverteilungen räumlich geschlossen ergibt, so 
sind Grenzbedingungen im Unendlichen nicht weiter erforderlich. Die 
Feldgleichungen (452) beseitigen also nicht nur den Konflikt der kleinen 
Sterngeschwindigkeiten mit der statistischen Mechanik, sondern auch den 
oben erwähnten erkenntnistheoretischen Mangel, welcher der früheren 
Fassung der Theorie anhafte. Man hat sich vorzustellen, daß die 
Lösung (454) der Feldgleichungen das mittlere Verhalten der Welt- 
metrik wiedergibt. Nur in der Nähe von einzelnen Massen werden 
die g,, merklich von den Werten (434) abweichen. Bei Massen- 
systemen, deren Dimensionen klein gegen diesen jedenfalls außer- 
ordentlich großen Krümmungsradius sind, wie z. B. beim Planeten- 
system, wird man das A-Glied vernachlässigen können, und die Lö- 
sungen der Feldgleichungen (401) werden ihre Gültigkeit behalten. 
Auch das Machsche Prinzip scheint durch die Feldgleichungen (452) 
erfüllt zu sein, obzwar ein allgemeiner Beweis dafür noch nicht er- 
bracht ist. Während nämlich die früheren Gleichungen (401) bei ver- 
schwindender Materie die allgemeine Lösung g,, — konst. besitzen ?%), 
ist dies bei den Gleichungen (452) nicht der Fall, sondern es muß 
dann 9,=0 sein. In einem völlig leeren Raum gäbe es überhaupt 
kein G-Feld; weder eine Lichtfortpflanzung, noch die Existenz von 

365) Daß dies die einzige Lösung der früheren Gleichungen (401) für den 
völlig materiefreien Raum ist, ist bisher noch nicht im allgemeinen Fall be- 
wiesen. Für den statischen Fall hat jedoch R. Serini, Rend. Acc. Linc. (5) 27 
(1918), 1. Hälfte, p. 235, einen Beweis des Satzes gegeben. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 49 


748 Vı9. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Maßstäben und Uhren wären dann möglich. Damit hängt zusammen, 
daß auch das Postulat der Relativität der Trägheit befriedigt ist. 
Allerdings hat de Sitter?*) auch für den völlig leeren Raum eine von 
9;, — 0 verschiedene Lösung der Feldgleichungen (452) gegeben, näm- 
lich eine vierdimensional-pseudosphärische Welt 


(456) BA mich) 
at — Dian)! 
1 
. 3 
(457) u a Sa 


im Gegensatz zur „Zylinderwelt“ Einsteins, die durch (454) gegeben 
ist. Jedoch vertrat Einstein?) die Anschauung, daß erstere Lösung 
nicht überall regulär ist, so daß sie eigentlich nicht das G-Feld einer 
leeren Welt, sondern einer Welt mit flächenhaft verteilter Masse dar- 
stellt. Zu einem übereinstimmenden Resultat kam Weyl®®). Die 
Frage ist jedoch noch nicht endgültig geklärt. 

Die astronomischen Konsequenzen der Feldgleichungen (452) wer- 
den diskutiert von de Sitter®®) und Lense®”"). Man vgl. dazu auch 
den Art. VI2,22 von Kotiler. 


c) Die Energie der geschlossenen Welt. Ebenso wie die Glei- 
chungen (401) lassen sich auch die Gleichungen (452) aus einem 
Variationsprinzip ableiten. Man braucht nur zur Wirkungsfunktion 
(404) noch den Term 24Y— g hinzuzufügen: 


(458) [Hd = 0, 

(459) H-R+2MUYV-gH+xM. 

Auch gilt wieder der Energiesatz in der Form (406): 

(460) hd Tech 

wenn man von den früheren Größen 4* noch 20% subtrahiert: 
(461) Br — Lot. 


366) W. de Sitter, Amst. Proc. 19 (1917), p. 1217 u. 20 (1917), p. 229. 

367) A. Einstein, Berl.'Ber. 1918, p. 270; De Sitters Erwiderung: Amst. Proc. 
20 (1918), p. 1309. : 

368) H. Weyl, Phys. Ztschr. 20 (1919), p. 31; vgl. auch F‘. Klein, Gött. 
Nachr. 1918, l.c. Anm. 354), insbes. $ 9. Es werden hier die geometrischen Ver- 
hältnisse eingehend diskutiert. 

369) W. de Sitter, Monthly Not. Roy. Astr. Soc. 78 (1917), p. 3. 

370) J. Lense, Wien. Ber. 126 (1917), p. 1037. 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. 749 


Diese Überlegung findet sich in der eingangs [Anm. 357)] zitierten 
Einsteinschen Arbeit angedeutet und bei Klein®”') näher ausgeführt. 

Es fragt sich nun, ob der in Nr. 61 bewiesene Satz der Unab- 
hängigkeit des Integralwertes der Energie vom Koordinatensystem 
auch für die Gesamtenergie der geschlossenen Welt gilt. Hierzu ist 
deshalb eine neue Überlegung nötig, weil früher der Satz unter der 
Voraussetzung bewiesen wurde, daß außerhalb des betrachteten abge- 
schlossenen Systems die g;, gleich + d,* werden, was hier offenbar 
nicht der Fall ist. Mit dieser Frage beschäftigten sich Einstein”) 
und Klein?”®). Es muß gezeigt werden, daß gewisse Oberflächeninte- 
grale verschwinden. Bei speziellen Koordinatensystemen wurde bereits 
von Einstein nachgewiesen, daß dies in der Tat zutrifft, einen allge- 
meinen Beweis gibt Grommer®?"?). Es zeigt sich überdies, daß sowohl 
der Gesamtimpuls als auch die Gesamtenergie der geschlossenen Welt, 
soweit sie vom Gravitationsfeld herrühren, verschwinden: 


(462) Si: azt dar = 0. 


Setzt man jedoch an Stelle der Einsteinschen Energiekomponenten 
die in Nr. 61 erwähnten Lorentzschen, die auch die zweiten Ableitungen 
der g,, enthalten, so würde, wie Klein gezeigt hat, die Gesamtenergie 
des Gravitationsfeldes nicht mehr verschwinden. 


V. Theorien über die Natur der elektrischen Elementar- 
teilchen. 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. Schon seit langer 
Zeit war man bemüht, alle mechanischen Eigenschaften des Elektrons 
auf elektromagnetische Prinzipien zurückzuführen. Die Bewegungs- 
gleichung 


(463) er 


(& = Impuls des Elektrons, 8 —= äußere Kraft) 
wird hierbei so gedeutet?”*): Man stellt die Postulate auf, daß erstens 
alle auf das Elektron wirkenden Kräfte elektromagnetischer Art sind, 
also durch den Lorentzschen Ausdruck (215) gegeben sind, und zwei- 
tens die auf das Elektron wirkende Gesamtkraft stets verschwinden sol: 


a) Se |E+ ml} ar —0. 


371) F. Klein, Gött. Nachr. 1918, p. 235, l. c. Anm. 103), Zusatz am Schluß. 
372) A. Einstein, Berl. Ber. 1918; F. Klein, Gött. Nachr. 1918, p. 394, 1. c. 
Anm. 854). 
373) J. Grommer, Berl. Ber. 1919, p. 860. 
374) Man vgl. hierzu Art. V 14 dieser Encykl. von H. A. Lorentz, Nr. 21. 
49* 


750 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Die Integration ist hierin über ein Elektron zu erstrecken. Diese Ge- 
samtkraft kann man nun in zwei Teile teilen. Eine vom äußeren 
Feld herrührende Kraft 

fe|® + 092} ar=8, 
die auf der rechten Seite von (463) steht, und eine vom Elektron auf 
sich selbst ausgeübte Kraft, die nach dem Impulssatz gleichgesetzt 
werden kann ’ 

See 3ER a 
& bedeutet darin den elektromagnetischen Impuls des Eigenfeldes des 
Elektrons. Bei nicht allzu großen Beschleunigungen (quasistationärer 
Bewegung) kann dafür derjenige Impuls genommen werden, welcher 
der gleichförmigen Translationsbewegung des Elektrons mit der be- 
treffenden Momentangeschwindigkeit entspricht. Er ist natürlich ab- 
hängig von der Ladungsverteilung im Elektron. 

Die naheliegendste Annahme war die, daß das Elektron vollkommen 
starr sei. Die Theorie für diesen Fall wurde vollstindig von Abra- 
ham?) durchgeführt. Im Jahre 1904 zeigte jedoch H. A. Lorentz?"®), 
daß nur dann der Impuls des Elektrons in einer solchen Weise von 
der Geschwindigkeit abhängt, daß die Folgerungen mit dem Relati- 
vitätsprinzip im Einklang stehen, wenn eine Kontraktion des Elek- 
trons in der Bewegungsrichtung im Verhältnis Y1 — ß?:1 ange- 
nommen wird. Und Einstein®”) zeigte hierauf, daß die Abhängigkeit 
von Energie, Masse und Impuls von der Geschwindigkeit aus dem 
Relativitätsprinzip allein folgt, ohne daß irgendeine Annahme über 
die Natur des Elektrons gemacht werden muß (vgl. Nr. 29). Man 
kann deshalb auch umgekehrt aus den Beobachtungen über die Massen- 
veränderlichkeit keinen Aufschluß über die Natur des Elektrons er- 
halten. 

Es ist jedoch leicht zu sehen, daß das Relativitätsprinzip die 
Existenz einer Energie nicht elektromagnetischer Art beim Elektron 
zur zwingenden Konsequenz hat, wenigstens solange man auf dem 
Boden der Maxwell-Lorentzschen Theorie bleibt. Es wurde dies zu- 
erst von Abraham?"®) hervorgehoben. Nehmen wir zunächst an, daß 
die Ladungsverteilung im ruhenden Elektron kugelsymmetrisch ist. 


3756) M. Abraham, Ann. d. Phys. 10 (1903), p. 105. Siehe auch H. A. Lo- 
rentz, Art. V 14 dieser Encykl., Nr. 21. 

376) H. A. Lorentz, Amst. Versl. 1904, l.c. Apm. 9). 

377) A. Einstein, Ann. d. Phys. 17 (1905), p. 891, l.c. Anm. 11), $ 10. 

378) M. Abraham, Phys. Ztschr. 5 (1904), p. 676; Theorie d. Elektrizität 2, 
p. 205, Leipzig 1905, 1. Aufl. 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. 751 


Dann gilt für Energie und Impuls des bewegten Elektrons, soweit 
sie elektromagnetischer Art und durch die Maxwell-Lorentzschen Aus- 
drücke gegeben sind, nach (351): 








4 E 1 u? 

Bel AL 

3 ce A| >) 
351 G= u ...E ————: 
er vi=p vi=p 


Wären diese Ausdrücke zugleich Gesamtenergie und Gesamtimpuls, 
so müßte nach (317), (318) gelten 


2 _ m IE\ 2, _ (fd 
E-/((uF)dt-| (ugz)aB. 
Dies ist jedoch nicht der Fall, vielmehr hat das Integral der rechten 
Seite den Wert 4 


Nimmt man den Impuls im Gegensatz zur Energie als rein elektro- 
magnetisch an, so folgt für die gesamte Energie E, bzw. E des 
ruhenden bzw. bewegten Elektrons, sowie für die Ruhmasse 





| . E a a N 
(465) ee E,nÄ=7z# My 2 be Se 
Die Ruhmasse m, ist dabei definiert durch 

zuauz> un ei . 
vi—p 


Diese Relationen sind mit dem Satz von der Trägheit der Energie 
im Einklang, wie es sein muß (die additive Konstante in Z wurde 
bereits diesem Satz entsprechend festgelegt). Die Gesamtenergie des 
ruhenden Elektrons ist gleich % der Lorentzschen elektromagnetischen 
Energie desselben. 

Es hat nach den bisherigen Betrachtungen den Anschein, als ob 
das starre Elektron der Absoluttheorie mit einem rein elektromagne- 
tischen Weltbild — oder besser gesagt, mit dem speziellen elektro- 
magnetischen Weltbild, das auf der Maxwell-Lorentzschen Theorie 
basiert — vereinbar wäre im Gegensatz zu dem Elektron, wie es von 
der Relativitätstheorie gefordert wird. Dies ist jedoch aus folgendem 
Grunde nicht richtig. Die Starrheitshypothese ist ein der Elektro- 
dynamik vollständig fremdes Element. Hätten wir sie nicht einge- 
führt, so hätten wir verlangen müssen, daß nicht nur die an dem 
Elektron angreifende Gesamtkraft verschwindet [Gl. (464)], sondern 
sogar die an jeder einzelnen Stelle angreifende Kraft: 


1 
e[E+ RS) = 0. 
Es ist klar, daß mit dieser Forderung eine ruhende Ladung (vd — 0) 


152 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


unvereinbar ist, es folgt oe = 0 (man beachte die Beziehung div€@ =). 
Wir sehen also: Die Maxwell-Lorentzsche Elektrodynamik ist mit der 
Existenz von Ladungen überhaupt unvereinbar, sofern sie nicht durch 
ihr wesensfremde theoretische Elemente ergängt wird. Das Elektron der 
Absoluttheorie hat also in Wirklichkeit, was die rein elektromagne- 
tische Auffassung anlangt, vor dem Elektron der Relativitätstheorie 
nichts voraus. Es ist auf jeden Fall nötig, Kräfte einzuführen, welche 
. den Coulombschen Abstoßungskräften der Ladung des Elektrons auf 
sich selbst das Gleichgewicht halten, und diese Kräfte resultieren nicht 
aus der Maxwell Lorentzschen Elektrodynamik. Schon Poincare®”°) 
erkannte diese Notwendigkeit und führte rein formal einen skalaren 
Kohäsionsdruck p ein, über dessen Natur er keine Aussagen machen 
konnte. Allgemein ist das Problem des Elektrons so zu formulieren: 
Der Impuls-Energietensor S,, der Maxwell-Lorentzschen Elektrodyna- 
mik ist durch solche Terme zu ergänzen, daß die Erhaltungssätze 
(341) 0 

für den gesamten Impuls-Energietensor mit der Existenz von Ladungen 
vereinbar werden. Die Zusatzterme müssen jedenfalls von physika- 
lischen Zustandsgrößen abhängen, die durch Differentialgleichungen 
kausal bestimmt sind. (In Nr. 42 hatten wir für den Energietensor 
eines isolierten Elektrons den phänomenologischen Ansatz u,u,u, 
gemacht.) Inwiefern diese Formulierung vom Standpunkt der allge- 
meinen Relativitätstheorie zu modifizieren ist, wird in Nr. 65 und 66 
erörtert werden. 

Wir können jetzt auch die von Ehrenfest?®) aufgeworfene Streit- 
frage beantworten, ob für ein schon in der Ruhe nicht kugelsymme- 
trisches Elektron eine gleichförmige Translationsbewegung nach jeder 
Richtung hin kräftefrei möglich ist. Es wird nämlich in diesem Fall 
der elektromagnetische Impuls des bewegten Elektrons nicht immer 
die Richtung der Geschwindigkeit haben, so daß die elektromagne- 
tischen Kräfte ein Drehmoment auf das Elektron ausüben werden. 
Die Verhältnisse sind jedoch, wie Laue®®!) betont hat, völlig analog 
denjenigen beim T’routon-Nobleschen Versuch. So wie dort das elektro- 
magnetische Drehmoment durch das vom elastischen Energiestrom 
hervorgerufene kompensiert wird, erfolgt die Kompensation hier durch 
den Energiestrom, der durch die oben erwähnten Zusatzterme im Im- 


379) H. Poincare, Rend. Pal. 21 (1906), p. 129, l.c. Anm. 40). 

380) P. Ehrenfest, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 204; Bemerkung hierzu von 
A. Einstein, Ann. d. Phys. 23 (1907), p. 206. 

381) M.v. Laue, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 524, l. c. Anm. 240). 


63. Elektron und spezielle Relativitätstheorie. 753 


puls-Energietensor dargestellt wird. Die Einführung dieser Zusatz- 
terme erweist sich nicht erst beim bewegten, sondern schon beim 
ruhenden Elektron als notwendig. Die Ehrenfestsche Frage ist also 
zu bejahen. 

Es bleibt noch die Frage zu erörtern, was von diesem theore- 
tischen Standpunkt aus und was erfahrungsgemäß über die Dimen 
sionen des Elektrons ausgesagt werden kamn. Erfahrungsgemäß wissen 
wir heute mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit, daß alle Materie 
letzten Endes aus Wasserstoffkernen und Elektronen besteht. Alles 
was wir bisher über das Elektron sagten, gilt natürlich auch für den 
Wasserstoffkern. Die Erfahrung hat über die Dimension dieser Teil- 
chen nur gelehrt, daß sie sicher nicht größer als 10='° cm sind, d. h. 
daß sich zwei solche Teilchen in dieser Entfernung in bezug auf die 
Kräfte, die sie aufeinander ausüben, praktisch noch wie Punktladungen 
verhalten. Daß die Dimensionen der Teilchen noch viel kleiner sind 
als 10-1 cm, wird durch die bisherigen Erfahrungen nicht ausge- 
schlossen. Theoretisch kann man nur vom Standpunkte der Lorente- 
schen Anschauungen aus bestimmte Aussagen machen, nämlich fol- 
gende: Eine mit gleichmäßiger Oberflächenladung belegte Kugel vom 


Radius a hat die Energie 
e? 
Be rLTı 


E 


wenn e die in Heavisideschen Einheiten gemessene Gesamtladung be- 
deutet. Aus (465) folgt dann 
e? e? 

(466) MT ac 97T amd 
Eine Veränderung der Annahme über die Ladungsverteilung würde 
nur den Zahlenfaktor modifizieren, nicht die Größenordnung des a- 
Wertes. Dieser ergibt sich aus den bekannten Ruhmassen für Elektron 
und Wasserstoffkern, für ersteres von der Größenordnung 10-"? cm, 
für diesen entsprechend seiner größeren Masse ca. 1800 mal kleiner. 
Es muß jedoch bemerkt werden, daß diese Betrachtung auf sehr 
schwachen theoretischen Grundlagen steht. Sie beruht nämlich, wie 
wir gesehen haben, auf folgenden Hypothesen: 

1. Die Ladungsverteilung des ruhenden Elektrons (H-Kerns) ist 
kugelsymmetrisch. 

2. Der gesamte Impuls des bewegten Elektrons (H-Kerns) ist durch 


den Ausdruck © — - f [EH]4V der Mazxwell- Lorentzschen Theorie 


gegeben; diese wird also auch bei äußerster Konzentration der La- 
dungen und Felder noch als gültig angenommen. 


754 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Besonders die zweite Hypothese erscheint bedenklich. Eine em- 
pirische Stütze für die so berechneten Dimensionen, insbesondere für 
die theoretische Forderung, daß der Radius des Wasserstoffkerns 
wesentlich kleiner sein muß als der des Elektrons, läßt sich aus dem 
bis jetzt gesammelten Erfahrungsmaterial in keiner Weise finden.3®!#) 


64. Die Theorie von Mie. Den ersten Versuch, eine Theorie 
aufzustellen, welche von der Existenz der elektrischen Elementarteil- 
chen Rechenschaft gibt, hat Mie®®?) unternommen. Er stellte sich die 
Aufgabe, die Feldgleichungen und den Impuls-Energietensor der Max- 
well-Lorentzschen Theorie so zu verallgemeinern, daß im Innern der 
elektrischen Elementarteilchen den Coulombschen Abstoßungskräften 
durch andere Kräfte, die ebenfalls elektrischer Natur sind, das Gleich- 
gewicht gehalten wird, außerhalb der Teilchen jedoch die Abwei- 
chungen von der gewöhnlichen Elektrodynamik unmerklich bleiben. 

Das erste System der Maxwellschen Gleichungen 

oF;r | 0Fu | Fa 








(203) ad Dark ex dxi (0, 

aus dem die Existenz eines Viererpotentials folgt, 
_dIp __ IP 

06) 34-35 


(vgl. Nr. 28), behält Mie bei. Ferner wird der Viererstrom jedenfalls 
die Kontinuitätsgleichung 


(197) 0 
erfüllen müssen. Daraus folgt die Existenz eines Flächentensors 
H'* — — H*', welcher der Gleichung 
N oHi* 
(467) g—= ar 3 


genügt. Dabei faßt A,, die Vektoren D und Ö) zusammen, ebenso 
wie F,, die Vektoren & und ®. Man sieht, daß für H'*— F'* die 
Gleichungen in die der gewöhnlichen Elektrodynamik übergehen und 
daß sie formal mit denen der phänomenologischen Elektrodynamik in 
ponderablen Körpern übereinstimmen. 


3812) Wir können in diesem Punkte der Darstellung in M. Borns Buch, Die 
Relativitätstheorie Einsteins, Berlin 1920, p. 192 nicht beistimmen. 

382) @. Mie, Grundlagen einer Theorie der Materie, Ann. d. Phys. 37 (1912), 
p. 511; 39 (1912), p. 1; 40 (1913), p. 1. Vgl. auch die Darstellung bei M. Born, 
Gött. Nachr., math.-pbys. Kl. 1914, p. 23, wo die Analogie der Ableitung des 
Impuls-Energiesatzes aus dem Wirkungsprinzip der Mieschen Theorie zur Ab- 
leitung des Energiesatzes aus dem Hamiltonschen Prinzip in der gewöhnlichen 
Mechanik herausgearbeitet wird. Ferner H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl. 
1918, $ 25, p. 165; 3. Aufl, 1920, $ 25, p. 175. 


64. Die Theorie von Mie. 755 


Nun bekommen aber diese Feldgesetze einen neuen physikalischen 
Inhalt durch folgenden entscheidenden Ansatz: Die Vektoren H'* und 
s* sollen universelle Funktionen von F,, und , sein: 


(467) H*=u,(F,y), *=v(F,p). 


Die ersten sechs Beziehungen unterscheiden sich von denen der phä- 
nomenologischen Elektrodynamik wesentlich dadurch, daß H‘* auch 
explizite von , abhängt. In der Mieschen Theorie haben nicht nur 
Potentialdifferenzen, sondern auch der Absolutwert des Potentials eine 
reale Bedeutung. Die Gleichungen bleiben nicht unverändert, wenn 
man @ durch p + konst. ersetzt. Wir werden später sehen, daß aus 
diesem Umstand der Mieschen Theorie eine ernstliche Schwierigkeit 
erwächst. Die letzten vier Gleichungen (467a) sind für die Existenz 
und die Bewegungsgesetze der materiellen Teilchen (Elektron und 
H-Kern) wesentlich. In mehr oder weniger willkürlicher Weise nennt 
Mie p, und F,, Intensitätsgrößen, * und H'* Quantitätsgrößen. 

Durch (467a) werden nicht weniger als zehn universelle Funk- 
tionen in die Theorie eingeführt. Hier bringt jedoch das Energie- 
prinzip, wie Mie gefunden hat, eine große Vereinfachung mit sich, 
indem es gestattet, die zehn unbekannten universellen Funktionen auf 
eine einzige zu reduzieren. Es zeigt sich nämlich, daß aus (206) und 
(467) nur dann eine Gleichung von der Form 


a +dvS=0 (W = Energiedichte, $ = Energiestrom) 
gefolgert werden kann, wenn eine Invariante L(F,g) (zunächst rela- 


tiv zur Lorentz-Gruppe) existiert, aus der H°* und s’ durch Differen- 
tiation abgeleitet werden können: 


| & 
N 


} Saaee OL gel 
(468) HYaan, Se 30 


so daß also gilt: 
(468) öL= H“*öF,,— 28'dp.. 


Eine einfache Rechnung zeigt dann, daß die Gleichungen (467) aus 
dem Wirkungsprinzip 
(469) s/Laz= 0 


folgen, wenn die Variation die Bedingung erfüllt, daß die Beziehungen 
(206) auch für das variierte Feld gültig bleiben. 

Über die Invariante Z, die oft auch Weltfunktion genannt wird, 
lassen sich einige allgemeine Aussagen machen. Zunächst sind die 
einzigen voneinander unabhängigen Invarianten, die sich aus dem 
Flächentensor F\, und dem Vektor g, bilden lassen, diese: 


756 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


1. Das Quadrat des Flächentensors F,,: + F,,F'*. 

2. Das Quadrat des Vektors 9;: 9,p". 

3. Das Quadrat des Vektors F,,p*: F,p,F''gp”. 

4. Das Quadrat des Vektors F'%p* oder, was dasselbe ist, des 

Raumtensors F,,9, + Fu9; + F9- 

L muß also eine Funktion dieser vier Invarianten sein. Wird L gleich 
der ersten der genannten Invarianten, so degenerieren die Feldglei- 
chungen der Mieschen Theorie in die gewöhnlichen Gleichungen der 
Elektronentheorie für den ladungsfreien Raum. Es wird also L nur 
innerhalb der materiellen Teilchen von 3 F,,F'* merklich verschieden 
sein können. Weitere Aussagen lassen sich über die Weltfunktion L 
nicht machen. Es gelingt nicht, die Möglichkeiten so weit einzu- 
schränken, daß man mit Notwendigkeit auf eine ganz bestimmte 
Weltfunktion geführt wird, vielmehr bleibt noch eine unendliche 
Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten übrig. 

Wir müssen nun noch den Impuls-Energietensor 7‘, als Funktion 
der Feldgrößen ermitteln. Die zugehörigen Rechnungen vereinfachen 
sich nach Hilbert?®?) und Weyl?%) außerordentlich, wenn man die 
Mieschen Feldgleichungen in einer der allgemeinen Relativitätstheorie 
angepaßten Form schreibt und dann die in Nr.55 eingeführte Methode 
des Variierens der g,, anwendet. Erst dann treten die formalen Zu- 
sammenhänge klar hervor. Wir haben dies durch die Schreibweise 
der vorangehenden Formeln schon vorbereitet und sind darin formal 
von Mie abgewichen, der sich in seinen Arbeiten von 1912 und 1913 
natürlich auf den Boden der speziellen Relativitätstheorie stellte. Zu- 
nächst bleibt genau wie bei der gewöhnlichen Elektrodynamik in Nr. 54 
das Gleichungssystem (203), (208) auch in einem beliebigen @-Feld be- 
stehen, dagegen sind (197), (467) zu ersetzen durch 

Cal 


(197a) =, 
;__ 09% 
(467b) (5 


Wir bemerken mit Weyl, daß die „Quantitätsgrößen“ jetzt als Tensor- 
dichten (d.h. mit Y— g multipliziert) auftreten, während die „Intensitäts- 
größen“ gewöhnliche Tensoren bleiben. Die Beziehungen (468), (468a) 
und das Hamiltonsche Prinzip (469) bleiben ebenfalls bestehen, letzteres 
kann natürlich auch geschrieben werden 


(4692) sfRar—0. 


383) D. Hilbert, Grundlagen der Physik I, l. c. Anm. 99). 
884) H. Weyl, Raum — Zeit— Materie, 1. Aufl. 1918, p. 184f.; 3. Aufl. 
(1920), p. 199. 


64. Die Theorie von Mie. 757 


Um den Energietensor 7',, zu finden, brauchen wir nur die Variation 
der Wirkungsfunktion bei Variation des @-Feldes zu bestimmen. Da 
hier ZL von den Ableitungen der g,, unabhängig ist, muß bei konstant 
gehaltenem elektromagnetischen Feld einfach gelten 


LT ,c*, 











Iren e oL 
A, ee 
(470) rs 7 LIRBAT L9; Ti; Fe Lö}. 
Setzt man andererseits in den aus (468a) resultierenden allgemeinen 
Ausdruck BER = 
9L— 77309 + H' OF, — 280g, 


speziell eine solche Variation der Feldgrößen, die einer infinitesimalen 
Koordinatentransformation entspringt, so wie sie durch (163), (164) ge- 
geben wird, so muß ÖL identisch verschwinden. D.h. es muß gelten 
6 & oL rk Kr = 

Er ER In ER F,+s9)=0, 
was nur möglich ist, wenn die Klammer selbst identisch verschwindet. 
Setzt man endlich den hieraus folgenden Wert für I g’* in (470) 
ein, so erhält man 
(470) TE = HF" F,— sp, — + Lö}. 
Aus der Ableitung geht hervor, daß die zughörigen kovarianten Kom- 
ponenten 7,, symmetrisch sind. Ferner können wir auf Grund der 
Ergebnisse der Nr. 55 ohne weiteres sagen, daß der Impulsenergiesatz, 
der bei Abwesenheit von Gravitationsfeldern die Form 











i dT% 
(341) rk 0 
und in Gravitationsfeldern die Form 

BE iger ag; 
u ri 


annimmt, eine Folge der Feldgleichungen ist. Der Ausdruck (470) 
für den Impuls-Energietensor ist identisch mit demjenigen, zu dem be- 
reits Mie durch direkte Ausrechnung gelangt war. 

Wir wenden uns nun wieder zur Frage nach dem Bewegungs- 
gesetz und der Existenzmöglichkeit von materiellen Teilchen. In der 
gewöhnlichen Elektrodynamik ist die elektrische Feldstärke definiert 
als die auf die (ruhende) Ladung wirkende Kraft. Diese einfache Be- 
deutung der Feldstärke ist in der Mieschen Theorie im Innern der 
materiellen Teilchen nicht mehr vorhanden, vielmehr ist ja die pondero- 
motorische Kraft überall stets gleich Null- Dennoch bleibt die prak- 
tische Bedeutung der Gesamtladung des Teilchens bestehen. Betrachten 


758 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


wir nämlich ein elektrisches Elementarteilchen, das sich in einem 
äußeren Feld befindet. Für diesen Fall folgt aus (341) für «= 1,2,3: 


au | Trdz'astar = — [iTin)ao = 123, 
(n, = Einheitsvektor in Richtung der Flächennormale.) 


Hierin erstrecken wir das zweite Integral über eine hinreichend vom 
materiellen Teilchen entfernte Fläche. Da auf ihr die gewöhnliche 
Elektrodynamik gilt, hat das Oberflächenintegral den gleichen Wert 
wie in dieser, d.h. es stellt die Lorentzsche Kraft dar. Wir haben 
hiermit nach dem Vorgang von Mie eine elektrodynamische Begrün- 
dung des Bewegungsgesetzes (210) für das Elektron gegeben. Zugleich 
sehen wir, daß die Ruhmasse », des materiellen Teilchens gemäß dem 
. Satz der Trägheit der Energie sich bestimmt aus 


(471) mi — f T:dx!da?dar. 
Für 7, ist der aus (470) resultierende Ausdruck einzusetzen. 

Mie setzt das Feld des ruhenden Elektrons statisch und kugel- 
symmetrisch an. Letztere Annahme ist zwar, wie in der vorigen Nr. 
erläutert wurde, durch unser tatsächliches Wissen allein nicht ge- 
rechtfertigt, empfiehlt sich aber doch wegen ihrer Einfachheit. Man 
hat dann diejenigen Lösungen der Feldgleichungen aufzusuchen, die 
überall — sowohl für r=0, als auch für r= oo — regulär sind. 
Von derjenigen Weltfunktion, die der Wirklichkeit entspricht, hat 
man zu fordern, daß sie für jede Elektrizitätsart eine und nur eine 
solche Lösung ergibt. Es ist bisher nicht gelungen, eine Weltfunktion 
zu finden, die diese Forderung erfüllt. Die bisher diskutierten Ansätze 
für Z führen vielmehr zu der der Erfahrung widersprechenden Folge- 
rung, daß Elementarteilchen mit beliebigen Werten der Gesamtladung 
möglich sind. Man darf aber deshalb die Miesche Elektrodynamik 
noch nicht verwerfen, weil durchaus nicht nachgewiesen ist, ob es nicht 
doch eine Weltfunktion gibt, die mit der Existenz bestimmter Elementar- 
teilchen im Einklang ist. 

Eine viel ernstere Schwierigkeit scheint uns in folgendem bereits 
von Mie bemerkten Umstand zu liegen. Wenn wir eine Lösung für 
das elektrostatische Potential p eines materiellen Teilchens von der 
verlangten Art gefunden haben, so wird g + konst. nicht wieder eine 
Lösung sein, weil in die Feldgesetze der Mieschen Theorie der Absolut- 
wert des Potentiales eingeht. Das materielle Teilchen wird also in 
einem konstanten äußeren Potentialfeld nicht existenzfähig sein. Es 
scheint uns dies ein sehr schwerwiegender Einwand gegen die Miesche 


65. Die Theorie von Weyl. 159 


Theorie zu sein. Bei den in den folgenden Nrn. zu besprechenden 
Theorien tritt eine derartige Schwierigkeit nicht auf. 

Es muß noch ein Versuch von Weyl erwähnt werden, die Asyın- 
metrie der beiden Elektrizitätsarten auf Grund der Mieschen Theorie 
verständlich zu machen. Ist die Weltfunktion L keine rationale Funk- 
tion von YY,p', so kann man 


für 99>0, L=}F,F*+w(4YVp,P) 


für pg<0, L=$Fur*+w(l-Vp9) 
setzen. w bedeutet darin irgendeine nicht gerade Funktion. Die 
Feldgleichungen bleiben dann im statischen Fall bei Vertauschung 
von g mit — 9 (positiver und negativer Elektrizität) nicht invariant. 
Allgemein ist die Möglichkeit vorhanden, wenn L eine mehrdeutige 
Funktion der 4 oben erwähnten Fundamentalinvarianten ist, für die 
positive Elektrizität den einen, für die negative den anderen eindeutigen 


Zweig dieser Funktion als Weltfunktion zu wählen. Wir kommen in 
Nr. 67 auf diese Möglichkeit zurück. 


65. Die Theorie von Weyl. In einer Reihe von Arbeiten®®) 
hat Weyl eine überaus tiefgehende, auf einer Verallgemeinerung der 
Riemannschen Geometrie basierende Theorie entwickelt, die beansprucht, 
alles physikalische Geschehen auf Gravitation und Elektromagnetismus 
und diese Erscheinungen selbst wieder auf die Weltmetrik zurück- 
zuführen. Ihre Grundlagen und bisherigen Ergebnisse mögen an dieser 
Stelle besprochen werden, weil die Theorie auch über die Natur der 
materiellen Teilchen bestimmte Aussagen macht. 

a) Reine Infinitesimalgeometrie. Eichinvarianz. Der Übergang 
der euklidischen Geometrie zur Riemannschen wird nach Abschn. II 
dadurch vollzogen, daß die Übertragung der Richtung eines Vektors 
vom Punkt P zum Punkt P’ nicht mehr als vom Zwischenweg un- 
abhängig angenommen wird. Weyl geht nun noch einen Schritt weiter, 
indem er auch eine entsprechende Abhängigkeit der Längenübertragung 
zuläßt. Es ist dann nur mehr möglich, an einem und demselben Welt- 
punkt gemessene Längen miteinander zu vergleichen, nicht aber solche 
in verschiedenen Weltpunkten. Dem entspricht es, daß nur mehr die 
Verhältnisse der 9,, zu einander durch Messungen ermittelbar sind, 
nicht diese Größen selbst. Legen wir zunächst die Absolutwerte der 
9;, irgendwie willkürlich (in stetiger Weise) fest und definieren 

885) H. Weyl, Berl. Ber. 1918, p. 465; Math. Ztschr. 2 (1918), p.384; Ann, 


d. Phys. 659 (1919), p. 101; Raum —Zeit— Materie, 3. Aufl. (1920), II. Kap. und 
IV. Kap. $ 34 u. 35, p. 242ff.; Phys. Ztschr. 


rom 


und 


760 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


als das Längenquadrat eines Maßstabes, wenn dx’ die Koordinaten- 
differenzen seiner Enden sind. (Wir sprechen hier und im folgenden 
der Kürze halber von der Länge eines Maßstabes, natürlich gilt aber 
im Fall eines zeitartigen Linienelementes das gleiche für die Periode 
einer Uhr.) Verschiebt man dann den Maßstab längs einer be- 
stimmten Kurve = x°(t) vom Punkt P’(f) zum ‘Punkt P’(t + dt), 
so wird sich das Längenquadrat ds = dabei verändern, und zwar 
wollen wir axiomatisch annehmen, daß es sich immer um einen be- 
bestimmten Bruchteil von 7 ändern wird: 

(472) E12, 

wo 9 eine bestimmte Funktion von £ ist, die Fe mehr von / ab- 


hängt. Als zweites Axiom führen wir ein, da ® 7, „ur von den ersten 


Differentialquotienten = der Koordinaten a Da ferner die 


Gleichung (472) für eine beliebige Wahl des Parameters t gültig sein 


d ’ x . 
muß, muß TE eine homogene Funktion ersten Grades der = sein. 


Wir können diese Funktion weiter spezialisieren, wenn wir den in 
Nr. 14 erläuterten Begriff der Parallelverschiebung in unsere Betrach- 
tungen mit einbeziehen. Dieser Begriff wurde dort durch zwei Forde- 
rungen festgelegt, von denen die eine die Unveränderlichkeit der Kom- 
ponenten eines Vektors bei infinitesimaler Parallelverschiebung in einem 
passend gewählten Bezugssystem ausspricht, während die zweite die Un- 
veränderlichkeit der Länge eines Vektors bei der Parallelverschiebung 
zum Ausdruck bringt. Die erste Annahme können wir unverändert 
beibehalten; sie führt zum Ausdruck (64) für die Änderung der 
Verkerkomponkakn: 


dei dee. 
(64) PT Ta 
mit 
(65) RE 


Die zweite Annahme aber verliert hier offenbar ihren Sinn, weil zwei 
Vektoren in verschiedenen Punkten der Länge nach nicht mehr ver- 
glichen werden können. Sie ist vielmehr zu ersetzen durch die Forde- 
rung, daß sich bei Parallelverschiebung die Länge gemäß (472) ver- 
ändern soll: 


(473) EDEN 


Setzt man (64) ein, so folgt zunächst, daß 24 eine Linearform der er 


sein muß: 
(474) dp = g,dk'. 


65. Die Theorie von Weyl. 761 


Nur dann ist also eine Parallelverschiebung möglich. Weiter ergibt 
sich mit 
(66) T,, rs = 0 2 17, =y'T, 


Ogır 
(475) er + Iir 1 2 + £, 


Die geodätischen en der Weylschen Geometrie sind also 
von denen der Riemannschen verschieden. Wir wollen immer die 
Ausdrücke der letzteren, die im Fall p, = 0 aus ersteren hervorgehen, 
durch einen Stern kennzeichnen. Sind also I'f,, die Größen (69), so ist 


(476) 2, I 22, Tr (gr 9, + Is Pr 9,:9:) h 


Wir hatten die Absolutwerte der g,, vollständig willkürlich fest- 
gelegt. Statt des Wertesystems g,, hätten wir ebenso gut ein Werte- 
system Ag,, verwenden können, wo A eine beliebige Ortsfunktion ist. 
Alle Längenelemente wären dann mit A zu multiplizieren, und nach 


(472) hätten wir statt p, das Wertesystem p, — Ve a 


dx i k daö 
gefunden. Das Festlegen des Faktors A, der Eichung, in der Geo- 
metrie von Weyl ist nun der Wahl der Koordinaten in der Riemann- 
schen Geometrie durchaus an die Seite zu stellen. So wie wir dort die 
Invarianz aller geometrischen Beziehungen und physikalischen Gesetze 
gegenüber beliebigen Koordinatentransformationen gefordert haben, müssen 
wir hier außerdem noch ihre Invarianz ‘gegenüber den Substitutionen 

” Hr - 1 04 
(477) DA RM TTZ 
d.i. Abänderungen der Eichung fordern (Eichinvariang). 


b) Elektromagnetisches Feld und Weltmetrik. Aus (472) folgt 
durch Integration 


87 





EN p 
log} = — (par, 
ee 


p 

Sp 4x 
(478) = le 
Ist die Linearform p,dx’ ein vollständiges Differential, so ist die Länge 
eines Vektors, vom Weg, auf dem er transportiert wird, unabhängig, 
und wir kommen auf den Riemannschen Fall zurück. Die notwendige 
und hinreichende Bedingung dafür ist das Verschwinden der Ausdrücke 
| O9 29; 
(479) A Far $ 


In der Tat läßt sich in diesem Fall nach (477) der Vektor 9, durch 
passende Wahl der Eichung stets vollständig zum Verschwinden bringen. 


762 Vı19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Im allgemeinen Fall werden jedoch die Größen F,, von Null ver- 
' schieden sein. Sie bilden dann die kovarianten Komponenten eines 
Flächentensors, die überdies bei Änderungen der Eichung nach (477) 
unverändert bleiben. Sie genügen ferner den Sara 
> 

il Di ee a 

die eine Folge von (479) sind. Man sieht, daß die _.. (479), 
(480) vollständig gleichlauten mit den Gleichungen (206), (203) der 
Elektronentheorie. Die Analogie geht aber noch weiter. Wenn man 
(entgegen den Annahmen der Mieschen Theorie) der Ansicht ist, daß 
die elektromagnetischen Erscheinungen primär nur durch den örtlichen 
und zeitlichen Wechsel der Feldstärken bedingt werden, die Potentiale 
dagegen nur die Bedeutung von mathematischen Hilfsgrößen haben, 
so sind alle Potentialwerte @,, die zu den gleichen Feldstärken F',, 
führen, physikalisch vollkommen gleichwertig, so daß in ersteren ein 








Gradient a unbestimmt bleibt. Genau das gleiche gilt aber, wie wir 


gesehen haben, für den metrischen Vektor p,. Dies führt dazu, mit 
Weyl beide Größenreihen ,, F/, zu identifizieren: Der metrische Vek- 
tor g,, der nach (4718) das Verhalten der Längen bestimmt, soll (bis auf 
einen numerischen Faktor) mit dem elektromagnetischen Viererpotential 
identisch sein. So wie in der Einsteinschen Theorie die Gravitations- 
wirkungen mit dem Verhalten von Maßstäben und Uhren innig ver- 
knüpft sind, derart, daß jene aus diesem eindeutig folgen, gilt in der 
Weylschen Theorie für die elektromagnetischen Wirkungen das gleiche. 
In dem angegebenen Sinne erscheinen Gravitation und Elektrizität in 
dieser Theorie beide als Ausfluß der Weltmetrik. 

Diese Auffassung muß Weyl jedoch nachträglich modifizieren. 
Die Grundannahmen der Theorie führen nämlich in dieser Gestalt, 
wie Einstein®®®) betont hat, zunächst zu Folgerungen, welche der Er- 
fahrung zu widersprechen scheinen. Denken wir uns ein elektrostatisches 
Feld verbunden mit einem statischen G-Feld. Die räumlichen Kom- 
ponenten 9, (i=1,2,3) verschwinden dann, und die zeitliche Kom- 
ponente 9, =» sowie die g,, sind von der Zeit unabhängig. Die 
Eichung ist dadurch bis auf einen konstanten Faktor festgelegt. Wenden 
wir die Beziehung (478) auf die Periode r von ruhenden Uhren an, 
so folgt sofort 
(481) enet, 


wo « ein Proportionalitätsfaktor ist. Der Sinn dieser Gleichung ist 


386) A. Einstein, Berl. Ber. 1918, p. 478, mit der nachfolgenden Erwide- 
rung Weyls. 





65. Die Theorie von Weyl 763 


dieser. Es mögen sich zuerst zwei gleich beschaffene Uhren U,, U, mit 
gleicher Ganggeschwindigkeit an der Stelle P, mit dem elektrostatischen 
Potential p, befinden. Die Uhr U, möge dann ? sec. lang an eine 
Stelle P, mit dem Potential 9, und dann wieder nach P, zurück- 
gebracht werden. Das Resultat wird sein, daß die Ganggeschwindig- 
keit der Uhr U, gegenüber der von U, um den Faktor e"*"%-9)} ver- 
größert bzw. verkleinert sein wird (je nach dem Vorzeichen von « 
und von 9, — 9,). Insbesondere müßte sich dieser Effekt bei den 
Spektrallinien einer bestimmten Substanz zeigen, und es könnte über- 
haupt nicht Spektrallinien von bestimmter Frequenz geben. Denn 
wenn auch « noch so klein ist, so würden nach (481) die Unterschiede 
im Laufe der Zeit beliebig anwachsen. Demgegenüber nimmt Weyl 
jetzt folgenden Standpunkt ein. Der ideelle Prozeß der kongruenten 
Verpflanzung von Weltstrecken, wie er durch (412) festgelegt wird, hat 
nichts zu tun mit dem realen Verhalten von Maßstäben und Uhren; das 
metrische Feld darf nicht direkt durch die diesen Meßinstrumenten entnom- 
menen Angaben definiert werden. Die Größen g,, und p, sind dann im Gegen- 
satz zum Linienelement ds? der Einsteinschen Theorie prinzipiell nicht 
mehr durch direkte Beobachtungen ermittelbar. Dieser Verzicht er- 
scheint sehr schwerwiegend. Wenn jetzt auch kein direkter Wider- 
spruch zur Erfahrung vorhanden ist, so scheint die Theorie dadurch 
doch vom physikalischen Standpunkt aus ihrer inneren Überzeugungs- 
kraft beraubt.°®”) So ist jetzt z. B. der Zusammenhang zwischen Elektro- 
magnetismus und Weltmetrik kein eigentlich physikalischer, sondern 
ein rein formaler. Denn es besteht gar kein unmittelbarer Zusammen- 
hang mehr zwischen den elektromagnetischen Erscheinungen und dem 
Verhalten von Maßstäben und Uhren, sondern nur mehr ein Zusammen- 
hang zwischen jenen und dem durch mathematische Definition als kon- 
gruente Vektorverpflanzung bezeichneten ideellen Prozeß. Übrigens 
lassen sich ja für einen Zusammenhang zwischen Weltmetrik und 
Elektrizität nur formale, keine physikalischen Gründe geltend machen, 
ganz im Gegensatz zu dem Zusammenhang zwischen Weltmetrik und 
Gravitation, welcher in der Gleichheit von schwerer und träger Masse 
eine kräftige empirische Stütze findet und eine zwingende Konsequenz 
des Äquivalenzprinzips und der speziellen Relativitätstheorie ist. 

c) Der Tensorkalkül in Weyls Geometrie. Bevor wir zur Auf- 
stellung der Feldgesetze schreiten, müssen wir noch die formalen 
Regeln zur Aufstellung eichinvarianter Gleichungen kurz darlegen. 


387) A. Einstein glaubt, daß die Theorie auch in dieser Fassung der Wirk- 
lichkeit gegenüber nicht standhalten wird (Phys. Ztschr. 21 (1920), p. 651, ferner 
„Äther und Relativitätstheorie*, Berlin 1920; Rede gehalten in Leiden.) 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 50 


764 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Es ist klar, daß in der Weylschen Theorie der Tensorbegriff so modi- 
fiziert werden muß, daß ein Gleichungssystem, welches das Verschwinden 
aller Komponenten eines Tensors ausdrückt, nicht nur bei beliebiger 
Änderung der Koordinaten, sondern auch bei beliebiger Änderung der 
Eichung nach (417) invariant bleibt. Und zwar erweist es sich als 
zweckmäßig, nur diejenigen Größen Tensoren zu nennen, die sich bei 
einer Transformation (477) bloß mit einer Potenz 4° von A multi- 
plizieren; e heißt das Gewicht des Tensors. So ist g,, vom Gewicht 1, 
g’* vom Gewicht — 1, Y—g in einer vierdimensionalen Welt vom 
Gewicht 2, I, ist nach (64) oder (476) absolut eichinvariant, d.h. vom 
Gewicht 0. 

Alle diejenigen Operationen, die allein auf dem Begriff der Parallel- 
verschiebung fußen, lassen sich naturgemäß sofort auf die Weylsche 
Geometrie übertragen, nur muß man für die I”, statt der Ausdrücke 
(66), (69) die Ausdrücke (66), (476) setzen. So lassen sich auch hier 
geodätische Linien definieren durch die Forderung, daß ihre Tangenten 
stets sich selbst parallel bleiben sollen; sie genügen wieder den Glei- 
chungen (80). Die Gleichungen (77a) [u,w = konst.] sind jedoch nach 
(472), (474) zu ersetzen durch 


z (u) = — (wu) (Pr). 


Ist speziell an einer Stelle der geodätischen Linie u,u* = 0, so bleibt 
diese Beziehung dauernd bestehen. Hierauf beruht die Möglichkeit, 
geodätische Nullinien festzulegen. Die Eigenschaft der geodätischen 
Linien, zugleich die kürzesten zu sein, fällt in der Weylschen Geo- 
metrie weg, weil der Begriff der Kurvenlänge hier sinnlos wird. Wie 
in Nr. 16 gelangt man ferner durch Parallelverschieben eines Vektors 
längs einer geschlossenen Kurve zum Krümmungstensor 





oerk 9ra 
(86) RBa=— 4-5 + TRIS—IATE. 


Die hier angeschriebenen Komponenten sind vom Gewicht 0, die Kom- 
ponenten R,,,, infolgedessen vom Gewicht 1. Die Symmetrieverhält- 
nisse bei diesem Krümmungstensor sind jedoch andere als die beim 
Riemannschen, die durch (92) bestimmt sind. Weyl hat dies noch 
näher ausgeführt und auch den Ausdruck (86) für den Krümmungs- 
tensor durch Einsetzen von (476) explizite ausgerechnet. Ebenso wie 
in Nr. 17 ergibt sich auch der verjüngte Krümmungstensor R,, (94), 
dessen kovariante Komponenten das Gewicht Null haben, sowie die In- 
variante R (95) vom Gewicht — 1. Schließlich bleiben alle Operationen 
der Nr. 19 und 20 auch in der Tensoranalysis der Weylschen Theorie 


65. Die Theorie von Weyl. 165 


bestehen, wenn erstens die differenzierten Komponenten von Tensoren 
oder Tensordichten von Gewicht O0 sind und zweitens für die Größen 
Tr, wie oben die durch (66) und (476) bestimmten Ausdrücke ge- 
nommen werden. Man wird bemerken, daß es zum Beweis der meisten 
angeführten Sätze vollständig ausreicht zu wissen, daß mit Hilfe der 
Größen I’, der Begriff der Parallelverschiebung gemäß (64) in in- 
varianter Weise festgelegt wird, ohne daß der Zusammenhang mit den 
metrischen Größen g;,,, p, bekannt zu sein braucht. In den letzten Dar- 
stellungen seiner Theorie hat Weyl diesen Umstand stark betont, indem 
er den Aufbau der Geometrie in drei Stufen vollzieht. In der ersten 
werden diejenigen Sätze entwickelt, die in einer beliebigen Mannig- 
faltigkeit gelten, in der zweiten die auf dem Begriff der Parallel- 
verschiebung („affiner Zusammenhang“ nach Weyl) fußenden Be- 
ziehungen und endlich in der dritten die Folgerungen aus der Existenz 
der beiden metrischen Fundamentalformen: der quadratischen g,, dx’ d.a* 
(Gravitation) und der linearen g,da’ (Elektrizität). Die Verknüpfung 
dieser beiden in den früheren Theorien getrennten Erscheinungsgebiete 
kommt auch formal dadurch zum Ausdruck, daß die g,, und 9, in den 
geodätischen Komponenten I”, und somit auch in den meisten anderen 
eichinvarianten Gleichungen beide gleichzeitig vorkommen. 


Von besonderer Wichtigkeit für die physikalischen Anwendungen 
sind die Modifikationen und Erweiterungen, welche die in Nr. 23 an- 
gestellten Überlegungen über infinitesimale Koordinatentransformationen 
und Integralinvarianten in der Weylschen Theorie erfahren. Zunächst 
treten neben die infinitesimalen Koordinatentransformationen als gleich- 
berechtigt die infinitesimalen Änderungen der Eichung. Für diese gilt 
nach (477) mt A=1-+ ex(2): 


(482) 69, = 879, (d*—= — sag), dy— — a Re 


Sodann führen in der Weylschen Theorie offensichtlich nur skalare 
Dichten W vom Gewicht Null zu Integralinvarianten }: Wdx. Die 


zugehörigen Skalare sind dann wegen des Faktors Y—g in einer 
vierdimensionalen Welt vom Gewicht — 2. Skalare von dieser Art 
werden deshalb im folgenden eine wichtige Rolle spielen. Unter ihnen 
gibt es vier, die rational aus den Komponenten des Krümmungstensors 
gebildet sind: 


(483) FE”, RuaR, RR, RM) 


388) Daß die angegebenen Invarianten die einzigen dieser Art sind, beweist 
R. Weitzenböck, Wien. Ber. math.-nat. Kl., IIa, 129 (1920). 
50* 


1766 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Die im Wirkungsprinzip der Einsteinschen Theorie auftretende In- 
variante R ist dagegen vom Gewicht — 1. Weyl hebt hervor, daß 
durch den Umstand, daß die zu (483) gehörenden skalaren Dichten 
das Gewicht 0 haben, eine vierdimensionale Welt vor einer metrischen 
Mannigfaltigkeit von anderer Dimensionszahl ausgezeichnet ist. In 
der Tat ließen sich in letzteren keine skalaren Dichten mit dem Ge- 
wicht O0 von so einfachem Bau konstruieren. 


d) Feldgesetze und Wirkungsprinzip. Physikalische Folgerungen. 
Wir müssen nun die eichinvarianten Naturgesetze aufsuchen. Nach 
Weyl müssen sich alle Vorgänge auf elektromagnetische und Gravi- 
tationswirkungen zurückführen lassen. Es sind also die 14 unab- 
hängigen Zustandsgrößen 9@,, 9,, vorhanden. Da aber zur Invarianz 
gegenüber Koordinatentransformationen noch die Eichinvarianz hinzu- 
kommt, müssen in der allgemeinen Lösung der Feldgleichungen jetzt 
5 statt 4 willkürliche Funktionen vorkommen, weshalb auch zwischen 
den 14 Feldgleichungen 5 Identitäten bestehen müssen. Wir werden 
sehen, daß analog wie in der Einsteinschen Theorie die 4 Identitäten 
den Impuls-Energiesatz aussprechen, hier die 5. Identität den Satz von 
der Erhaltung der Ladung ausspricht. 

Man wird zunächst versuchen, die Maxwell-Lorentzschen Glei- 
chungen beizubehalten und auch den Energietensor der Materie mit 
dem Maxwellschen zu identifizieren und in den Einsteinschen Glei- 
chungen bloß den Krümmungstensor der Riemannschen Geometrie 
durch den der Weylschen Theorie zu ersetzen. Es zeigt sich jedoch, 
daß nur ersteres, nicht aber letzteres möglich ist. Untersuchen wir 
zuerst die Maxwellsche Theorie. Das erste System der Maxwellschen 
Gleichungen ist, wie schon bemerkt wurde, von Haus aus erfüllt. Da 
aber die Feldstärken F', vom Gewicht Null sind, gilt in einer vier- 
dimensionalen Welt dasselbe von den kontravarianten Komponenten %5'* 
der zugehörigen Tensordichte. Die Gleichungen 


sind deshalb eichinvariant: Die Maxwellschen Gleichungen bleiben in- 
variant, wenn man g,, durch Ag;,, ersetzt. Der Satz von Bateman, daß 
die Maxwellschen Gleichungen gegenüber konformen Transformationen 
invariant sind (Nr. 28), ist hierin als Spezialfall enthalten. In der 
Tat führt eine solche Transformation die Normalwerte ö der g,,, die 
in der speziellen Relativitätstheorie Geltung haben, in Ad,, über Die 
Eichinvarianz der Maxwellschen Gleichungen hängt damit zusammen 


daß das Wirkungsintegral J — 4 1 F,$*da, aus dem sie hervorgehen, 


65. Die Theorie von Weyl. 167 


selbst eichinvariant ist. — Wir wollen hier noch die Bemerkung ein- 
fügen, daß das in Nr. 30, Gl. (223) als scheinbar zufällig erwähnte 
Verschwinden des Skalars des Maxwellschen Energietensors ebenfalls 
in der Eichinvarianz dieses Wirkungsintegrals seinen Grund hat. Die 
Variation desselben liefert nämlich nach Nr. 55 bei konstant gehal- 


te Hs > 
ne 81 — [S,gtaz. 


Sucht man nun die Bedingung dafür, daß J bei der infinitesimalen 
Eichänderung A —= 1 -+ ex(x) unverändert bleibt, so folgt nach (482) 
direkt &!= 0, w. z. b. w.°®°). 

Ganz anders wie mit der Maxwellschen verhält es sich mit der 
Einsteinschen Theorie. Schon das Gesetz, daß die Weltlinien von 
Massenpunkten und Lichtstrahlen geodätisch sind, gilt in der Weyl- 
schen Theorie nicht allgemein. Der Massenpunkt bewegt sich nur bei 
Abwesenheit von elektromagnetischen Feldern auf einer geodätischen 
Weltlinie, und für den Lichtstrahl verliert die Gleichung der geodäti- 
schen Linie ihren Sinn, weil schon bei Abwesenheit von Gravitations- 
feldern die Glieder, welche das Viererpotential p, enthalten, oszillie- 
rende Funktionen von der Periode des Lichtes in die Gleichung der 
geodätischen Linie hineinbringen. Nur die eichinvariante Gleichung 

dd = 0 
des Nullkegels bleibt für die Weltlinien der Lichtstrahlen zu Recht 
bestehen. Der Versuch, die Feldgleichungen der Einsteinschen Theorie 
für die Theorie von Weyl dadurch nutzbar zu machen, daß man an 
Stelle der Riemannschen Krümmungsgrößen die allgemeineren Weyl- 
schen setzt, scheitert endlich daran, daß in der Gleichung 
BER, 





389) Da nämlich J die g, nur in Gestalt der eichinvarianten F',, enthält, 
brauchen wir hier die 9, nicht zu variieren. — Dieser Zusammenhang läßt eine 
interessante Anwendung auf die Nordströmsche Gravitationstheorie zu. Da hier 
das Linienelement, wie in Nr. 56 erwähnt wurde, die Form 

ds?’ = Bau 

annimmt, folgt zunächst aus der Eichinvarianz der Maxwellschen Gleichungen, 
daß diese in der Nordströmschen Theorie auch in Gravitationsfeldern unver- 
ändert gültig bleiben, daß somit Gravitationsfelder elektromagnetische Vorgänge 
nicht beeinflussen (z. B. keine Krümmung der Lichtstrahlen). Umgekehrt erzeugt 
wegen des Verschwindens des Maxwellschen Energieskalars in der Nordström- 
schen Theorie die elektromagnetische Energie keine Gravitationsfelder, da in die 
Feidgleichungen der Gravitation nur der Energieskalar eingeht. Nach Obigem 
hat auch dieser Umstand seinen formalen Grund in der Eichinvarianz der Max- 
wellschen Gleichungen. 


7168 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


die linke Seite vom Gewicht 0, die rechte vom Gewicht — 1 wäre; 
letzteres sieht man leicht am Beispiel des Maxwellschen Energieten- 
surs. Es liegt dies daran, daß das Wirkungsintegral f Ndx, aus dem 
die Einsteinschen Feldgleichungen hervorgehen, nicht eichinvariant ist, 
da der Integrand das Gewicht 1 statt O hat. Wenn man also am 
Prinzip der Eichinvarianz festhält, muß man die Einsteinschen Feld- 
gleichungen verlassen. Die letzte Bemerkung deutet aber bereits auf 
den Weg hin, wie man zu eichinvarianten Feldgleichungen gelangen 
kann. Man hat ein Wirkungsprinzip 


(484) [War — 0 


aufzustellen, in dem das Integral auch gegenüber Abweichungen der 
Eichung invariant ist. Ist allgemein bei Variieren von 9, und 9,,, 
falls die Variationen am Rand verschwinden: 


(485) [Bar — [(wög, + Wrön)de, 
so sind 
(486) v0, WO 


die Naturgesetze. Indem man die Bedingungen dafür aufsucht, daß 
das fi Wdx gegenüber infinitesimalen Koordinatentransformationen und 


infinitesimalen Änderungen der Eichung invariant ist, erhält man 
5 Identitäten zwischen diesen 14 Gleichungen, sowie es oben aus 
Gründen der Kausalität gefordert wurde, nämlich: 


(487) mL =0 
i 0x 
oW ; 
(488) E35 —r 136 0 + 4 F,,w* ==D,; 


Ferner folgt aus der Betrachtung von solchen Variationen des Wir- 
kungsintegrals, die am Rande nicht verschwinden, die Möglichkeit, 
aus der Wirkungsinvariante in bestimmter Weise eine Vektordichte |’ 
und die Dichte eines Affintensors ©* zu konstruieren, welche die 
Beziehungen i 
(489) or om 05, oB, 








identisch erfüllen, ohne selbst zufolge der Naturgesetze zu verschwin- 
den. Weyl bezeichnet deshalb f' als den Viererstrom, © als Energie- 
komponenten. Wir sehen daraus: Der Satz von der Erhaltung der La- 
dung tritt dem Satz von der Erhaltung der Energie in der Weylschen 
Theorie als formal durchaus gleichberechtigt an die Seite. Beide Sätze 
folgen auf doppelte Weise aus den Naturgesetzen, was die notwendigen 


65. Die Theorie von Weyl. 169 


5 Identitäten zwischen denselben liefert. Die Komponenten der Total- 
energie, die auch schon in der Einsteinschen Theorie nur einen Affin- 
tensor bilden, d. h. nur gegenüber linearen Transformationen kovariant 
sind, können jetzt nicht mehr in einen von der Gravitation und einen 
von der eigentlichen Materie herrührenden Anteil zerlegt werden; einen’ 
Impuls-Energietensor T,* der Materie gibt es hier also überhaupt nicht 
mehr. Man muß zugeben, daß das Wirkungsprinzip diese Zusammen- 
hänge in überaus einfacher und übersichtlicher Weise erkennen läßt. 
Wir möchten jedoch hinzufügen, daß es vom physikalischen Stand- 
punkt durchaus nicht selbstverständlich ist, daß sich die Naturgesetze 
aus einem Variationsprinzip ableiten lassen. Vielmehr scheint es na- 
turgemäßer, die Naturgesetze aus rein physikalischen Forderungen ab- 
zuleiten, so wie es für die Einsteinsche Theorie in Nr. 56 geschehen ist. 

Um weitere Folgerungen ziehen zu können, muß man nun spe- 
zielle Ansätze für die Wirkungsfunktion machen. Die Zahl der Mög- 
lichkeiten ist hier zwar nicht so groß wie in der Theorie von Mie. 
Während dort nämlich aus irgendwelchen Invarianten J,, J,,... 
durch eine beliebige Funktion f(J,,J,,...) eine neue Invariante ab- 
geleitet werden konnte, ist dies hier nicht mehr der Fall, weil die 
Invarianten vom Gewicht — 2 sein müssen, damit die zugehörigen 
skalaren Dichten das Gewicht 0 haben. Es führt deshalb höchstens 
eine homogene Funktion ersten Grades dieser Invarianten zu einer 
neuen zulässigen Wirkungsfunktion. Immerhin bleibt die Mannigfaltig- 
keit der zulässigen Wirkungsfunktionen noch ziemlich beträchtlich. 
Die nächstliegende Annahme ist die, daß die Wirkungsinvariante ra- 
tional aus den Krümmungskomponenten gebildet sein soll. Nach dem, 
was unter c) gesagt wurde, muß sich dann die Wirkungsfunktion 
linear aus den Invarianten (483) zusammensetzen.?®) Die Ausrech- 
nung ergibt dann zunächst die Gültigkeit der Maxwellschen Gleichungen 


ik 
aır) al 
sodann den Ausdruck 
(490) PR (6; ae R9,) 


für den Viererstrom (R bedeutet die Krümmungsinvariante der Weyl- 

schen Geometrie, k eine Konstante). Für den statischen Fall folgt daraus 

(491) R = konst. 

Ist überhaupt Ladung vorhanden, so kann die const. nicht verschwin- 
390) H. Weyl (Ann. d. Phys. 59 und Raum — Zeit— Materie, 3. Aufl, 


l. ce. Anm. 228) hält es für wahrscheinlich, daß speziell die Arinahans 
IE E a +cR, a" * der Wirklichkeit entspricht. 


770 V 19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


den. Nimmt man überdies an, daß sie positiv ist, so folgt die positive 
Krümmung des Raumes und somit die Geschlossenheit der Welt von 
selbst, ohne daß es nötig ist, ein besonderes A-Glied zu den Gravita- 
tionsgleichungen hinzuzunehmen. Es ist dies ein wesentlicher Vorzug 
der Weylschen Theorie. Was endlich die Gravitationsgleichungen an- 
langt, so sind sie auch für den Fall der Abwesenheit eines elektro- 
magnetischen Feldes (p,—= 0) mit den Einsteinschen Gleichungen nicht 
identisch, wie es nach den früheren Überlegungen zu erwarten war, 
auch sind sie von höherer als zweiter Ordnung. Es läßt sich jedoch 
zeigen, daß für den praktisch allein wichtigen Fall des statischen, 
kugelsymmetrischen Feldes im Außenraum eines „Massenpunktes“, der 
für die Perihelbewegung des Merkur und die Krümmung der Licht- 
strahlen maßgebend ist, das Gravitationsfeld (421) der Einsteinschen 
Theorie zugleich eine Lösung der Gravitationsgleichungen der Theorie 
von Weyl ist. Diese ist daher ebensogut wie jene imstande, die Perihel- 
bewegung des Merkur und die Krümmung der Lichtstrahlen im Schwere- 
feld zu erklären.®®') 

Es bleiben noch die Folgerungen für das Problem der Materie 
zu besprechen. Die Aufgabe ist wieder, diejenigen statischen, kugel- 
symmetrischen Lösungen der Feldgleichungen zu ermitteln, die nirgends 
singulär sind. Von derjenigen Wirkungsfunktion, die der Wirklichkeit 
entspricht, muß man wieder verlangen, daß sie nur je eine solche Lö- 
sung für jede der beiden Elektrizitätsarten zuläßt. Als wesentlich 
neues Moment gegenüber der Theorie von Mie kommt hinzu, daß 
wegen der Geschlossenheit der Welt nicht Regularität im Unendlichen, 
sondern auf dem „Äquator“ der Welt zu fordern ist. So kommt man 
dazu, einen Zusammenhang zwischen der Größe der Welt und der des 
Elektrons zu vermuten, was immerhin etwas phantastisch erscheinen 
mag. Die Kräfte, die das Elektron zusammenhalten, sind hier nur teil- 
weise elektrischer Natur, teilweise aber Gravitationskräfte. Schon bei 
den hier speziell näher diskutierten Ansätzen für die Wirkungsfunk- 
tion werden jedoch die Differentialgleichungen so kompliziert, daß die 
Integration bisher nicht ausgeführt werden konnte. Außerdem sind 
die Differentialgleichungen die gleichen für positive und negative Elek- 
trizität (vgl. dazu Nr. 67), so daß die tatsächlich völlig asymmetrischen 
Verhältnisse jedenfalls nicht richtig wiedergegeben werden. Zusummen- 
fassend kann man also sagen, daß es der Theorie von Weyl bisher 
nicht gelungen ist, das Problem der Materie der Lösung näher zu bringen. 


391) Man vgl. dazu außer den in der Anm. 385) zitierten Arbeiten von 
Weyl auch W. Pauli jr., Verh. d. deutschen phys. Ges. 21 (1919) p. 742, wo spe- 
ziell das in Anm. 390) erwähnte Wirkungsprinzip zugrunde gelegt wird. 


66. Die Theorie von Einstein. 771 


Wie in Nr. 67 noch näher erörtert werden wird, spricht im Gegen- 
teil manches dafür, daß eine Lösung des Problems auf diesem Wege 
überhaupt nicht gefunden werden kann. 


66. Die Theorie von Einstein. Von einem ganz verschiedenen 
Gesichtspunkt aus suchte Einstein®®?) die Frage nach dem Bau der 
materiellen Teilchen in Angriff zu nehmen. Die Feldgleichungen (401) 
resp. (452) fußten auf der Annahme eines materiellen Impuls-Energie- 
tensors X, welcher die Gleichung 

nn Dr N 7 
41T —ue 
(8412) 0% 
erfüllt. An dieser Annahme wollen wir hier festhalten. Da der Maxwell- 
sche Einergietensor 


(222) u ea er BTL 


(vgl. Nr. 54) nur im ladungsfreien Raum dieser Bedingung genügt, 
müssen noch weitere Glieder zu © hinzugenommen werden. Mie 
nahm nun an, daß diese Glieder elektrischer Natur, d. h. Funktionen 
der elektrischen Zustandsgrößen F',,, p, seien. Dagegen nimmt Einstein 
an, daß die materiellen Teilchen allein durch Gravitationskräfte zusam- 
mengehalten werden, also die Zusatzglieder von den g,, und ihren Ab- 
leitungen abhängen sollen. Obwohl der Maxwellsche Tensor S jetzt 
nicht als der totale Energietensor der Materie bezeichnet werden kann 
und der Gleichung (341a) nicht genügt, geht Einstein auch hier analog 
wie in Nr. 56 von dem Ansatz aus, daß dieser Maxwellsche Energie- 
tensor © * proportional sein soll einem aus den g,, allein gebildeten Diffe- 
rentialausdruck zweiter Ordnung. Dieser einfache Ansatz ist für die 
Einsteinsche Theorie ausschlaggebend. Man schließt daraus, im Verein 
mit der Forderung der allgemeinen Kovarianz wie in Nr. 56, daß die 
Feldgleichungen die Form haben müssen: 


R,+ ERg, = — xS;;- 


Hier noch ein zu g,, proportionales Glied hinzuzufügen, wird sich als 
überflüssig erweisen. Da aber die Gleichung (341a) für $,, nicht gilt, 
haben wir kein Recht mehr, so wie früher ©=— + zu setzen, viel- 
mehr ist für die Bestimmung von © ein anderer Umstand maßgebend. 
Nach (223) verschwindet der Skalar S‘; damit auch der Skalar der 
linken Seite der Feldgleichungen identisch verschwindet, muß @=-- i 
gesetzt werden, so daß die Feldgleichungen lauten: 


(492) BEI Hm aD, 





=U 


392) A. Einstein, Berl. Ber. 1919, p. 349; auch in der Sammlung Lorentz- 
Einstein-Minkowski, Das Relativitätsprinzip, 5. Aufl., Berlin 1920. 


772 Vı19. W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


Außerdem sollen die Bee 





(203) r Fr En 

und = 

(208) LE 
dat 


der Elektronentheorie ihre Gültigkeit behalten. Eine einfache Abzählung 
lehrt, daß (203) und (492) gerade 4 unabhängige Gleichungen weniger 
als Unbekannte enthalten, wie es in einer allgemein relativistischen 
Theorie verlangt werden muß. Es sei noch bemerkt, daß sich die Feld- 
gleichungen in diesem Fall, wie es scheint, nicht aus einem Wirkungs- 
prinzip herleiten lassen. Da ferner nach Nr. 54 die Divergenz von $,;, 
auf Grund von (203) und (208) den Wert 
mist ) 

des negativen Lorentzschen Kraftvektors annimmt und die Divergenz 
von R,— 39,,R verschwindet, liefert die Divergenz der Feldglei- 
chungen (492) die Beziehung 


(493) FF, —_— —_— (0 


Sie zeigt, daß bei den zugrunde gelegten Feldgleichungen in der Tat den 
Coulombschen Abstoßungskräften durch einen Gravitationsdruck das Gleich- 
gewicht gehalten wird. Setzt man = g,u*, so folgt überdies 
AR; @R 

d.h. R bleibt auf der Weltlinie eines und desselben Materieelementes 
konstant. Im ladungsfreien Raum wird nach (493) 

on 

0x 





also 

(495) R = konst. = R,. 

Im Innern der materiellen Teilchen sinkt R vom Wert R, ständig zu 
immer kleineren Werten bis zum Mittelpunkt des Teilchens. zR stellt 


nach (493) direkt die potentielle Energie der das Teilchen zusammen- 
haltenden Gravitationskräfte dar. 

Wir müssen nun den Impuls- Koordiekensse T,, der Materie auf- 
suchen. Für diesen soll die das A-Glied enthaltende Gleichung (452) 
besiehen bleiben. Nach (453) wird hier für den materiefreien Raum 
R=— 44. Der Vergleich mit (495) zeigt, daß 

B 


(496) =—4, I1=-— 7 


zu setzen ist. Es ist ein Hauptvorzug der neuen Formulierung, daß 


67. Allgemeines über den gegenwärtigen Stand des Problems der Materie. 773 


die Konstante A hier nicht dem Grundgesetz an sich eigentümlich 
ist, sondern die Bedeutung einer Integrationskonstante hat. Die Glei- 
chung (453) schreibt sich dann 


Gat+ 4Ro 9a = — #T,,, 
Gx+ 4R9a = — #8;, 

ergibt. Durch Vergleich folgt 

(497) Tat iu (R—R)gr- 


während (492) 


Dieser Tensor erfüllt also zufolge von (492) von selbst die frühere 
Gleichung (452) und somit auch die Gleichung (341a), außerdem ver- 
schwindet er im materiefreien Raum. Es ist deshalb auch vom physi- 
kalischen Standpunkt durchaus berechtigt, ihn als Energietensor der 
Materie zu bezeichnen. Die materielle Energiedichte — T,? setzt sich 
aus zwei Teilen, einem elektromagnetischen und einem vom Gravita- 
tionsfeld herrührenden Teil zusammen, von denen beide positiv sind. 
Es ist leicht zu sehen, daß die räumlich geschlossene Welt mit kon- 
stanter ruhender Massendichte (7,!= T?—= 7°—=0, T!= — u,e?) 
eine Lösung der neuen Feldgleichungen ist. Alle Beziehungen der 
Nr. 62b) bleiben unverändert bestehen. Der elektromagnetische Tensor 
S} berechnet sich allgemein aus (497) zu 


(498) St= T}— TB}, 
also in unserem Fall 
(499) = 8, =S'= un, Se — T Uc® 


Die Energie der räumlich geschlossenen Welt rührt zu $ vom _ elektro- 
magnetischen, zu } vom Gravitationsfeld her. Dieser Anteil der elektro- 
magnetischen an der Gesamtenergie ist genau der gleiche, wie er in 
Nr. 63 auf Grund spezieller (nicht notwendig zutreffender) Annahmen 
für das Elektron hergeleitet wurde. 

Versucht man nun auf Grund der Differentialgleichungen (203) 
bzw. (206), (208) und (492) das Feld eines materiellen Teilchens zu 
ermitteln, so findet man, daß zur Bestimmung der Unbekannten im 
statischen kugelsymmetrischen Fall eine Gleichung zu wenig vorhanden 
ist. Nach der hier entwickelten Einsteinschen Theorie ist jede statische, 
kugelsymmetrische Verteilung der Elektrizität im Gleichgewicht. So be- 
friedigend also auch die Grundlagen dieser Theorie sind, auch sie ist 
nicht imstande, das Problem der Materie zu lösen. 


67. Allgemeines über den gegenwärtigen Stand des Problems 
der Materie. Jede der besprochenen Theorien hat ihre besonderen 
Vorzüge und Nachteile. Ihr gemeinsamer Mißerfolg veranlaßt uns 


174 V 19 W. Pauli jr. Relativitätstheorie. 


jedoch, diejenigen Mängel und Schwierigkeiten besonders zusammen- 
zufassen, die ihnen allen gemeinsam sind. 

Das Ziel aller Kontinuumstheorien ist, den Atomismus der Elek- 
trizität darauf zurückzuführen, daß die Differentialgleichungen, welche 
die Naturgesetze ausdrücken, nur eine diskrete Zahl von überall regu- 
lären, statischen und kugelsymmetrischen Lösungen haben, und zwar 
speziell je eine solche Lösung für die positive und die negative Elek- 
trizitätsart. Es ist klar, daß Differentialgleichungen, welche diese Eigen- 
schaft haben, äußerst kompliziert gebaut sein müssen. Es scheint uns, 
daß diese Verwickeltheit der Naturgesetze schon an sich gegen die 
Kontinuumstheorien spricht, denn man wird vom physikalischen Stand- 
punkt wohl verlangen müssen, daß die an sich so einfache und grund- 
legende Tatsache des Atomismus auch einfach und elementar von der 
Theorie zu deuten ist und nicht sozusagen als ein Kunststück der 
Analysis erscheint. 

Ferner haben wir gesehen, daß die Kontinuumstheorien gezwungen 
sind, besondere Kräfte einzuführen, welche den Coulombschen Absto- 
Bungskräften im Innern der elektrischen Elementarteilchen das Gleich- 
gewicht halten. Nimmt man an, daß diese Kräfte elektrischer Natur 
sind, so muß man dem elektromagnetischen Viererpotential eine ab- 
solute Bedeutung zusprechen, was zu den in Nr. 64 erörterten Schwie- 
rigkeiten führt. Gegen die andere Möglichkeit, daß die elektrischen 
Elementarteilchen durch Gravitationskräfte zusammengehalten werden, 
spricht aber ein sehr gewichtiges empirisches Argument. Man würde 
nämlich in diesem Fall erwarten, daß die schwere Masse des Elek- 
trons zu seiner Ladung in einer einfachen Zahlenbeziehung steht. In 


Wirklichkeit ist aber die betreffende dimensionslose Zahl Vi (k= 
myk 


gewöhnliche Gravitationskonstante) von der Größenordnung 10°°! (s. 
auch Nr. 59). 

Von den Feldgleichungen ist überdies zu verlangen, daß sie von 
der Asymmetrie (Verschiedenheit der Massen) der beiden Elektrizitäts- 
arten Rechenschaft geben. Es ist jedoch leicht zu sehen, daß dies 
mit ihrer allgemeinen Kovarianz in formaler Hinsicht im Widerspruch 
steht.°”®) Für den statischen Fall enthalten die Feldgleichungen neben 
den 9, (,k=1,2,3 oder i=k=4) nur das elektrostatische Po- 
tential @ als Variable. Als ein spezieller Fall der allgemeinen Kova- 
rianz müssen nun die Differentialgleiehungen insbesondere auch bei 
Umkehrung der Zeit x’*—= — a* kovariant sein. Dabei geht aber 
in — p über, während die g,, unverändert bleiben (es ist in unserem 





393) W. Pauli jr., Phys. Ztschr. 20 (1919), p. 457. 


67. Allgemeines über den gegenwärtigen Stand des Problems der Materie. 775 


Fall g,= 0 für i=1,2,3). Ist also 9, 9,,(9,, = 0) eine Lösung der 
Feldgleichungen, so ist auch — 9, 9,,(9,, = 0) eine Lösung, im Wider- 
spruch zur Asymmetrie der beiden Elektrizitätsarten. Man könnte ver- 
suchen, dieser Konsequenz dadurch zu entgehen, daß man nicht ratio- 
nale Wirkungsinvarianten einführt, so wie es am Ende der Nr. 64 
angegeben wurde. Aber erstens werden dann die Feldgleichungen noch 
komplizierter, und zweitens geschieht die Auswahl des eindeutigen 
Zweiges der Wirkungsfunktion nicht in allgemein kovarianter Weise, 
indem z.B. gegenüber einer Umkehr der Zeit = — x? jetzt keine 
Kovarianz mehr vorhanden ist. 

Endlich ist auch noch ein begriffliches Bedenken zu erwähnen.?®) 
Die Kontinuumstheorien operieren ohne weiteres mit dem gewöhnlichen 
Begriff der elektrischen Feldstärke auch für die innerelektronischen 
Felder. Diese Feldstärke ist jedoch definiert als die Kraft auf einen 
Probekörper, und da es keine kleineren Probekörper gibt als Elektron 
und Wasserstoffkern, scheint die Feldstärke in einem bestimmten 
Punkt im Innern eines solchen Teilchens prinzipiell nicht beobachtbar, 
also eine physikalisch inhaltslose Fiktion zu sein. 

Wie immer man sich im Einzelnen zu diesen Argumenten stellen 
mag, so viel scheint sicher zu sein, daß zu den Grundlagen der bisher 
aufgestellten Theorien erst neue, der Kontinuumsauffassung des Feldes 
fremde Elemente hinzukommen müssen, damit man zu einer befriedi- 
genden Lösung des Problems der Materie gelangt. 


394) Vgl. dazu W. Pauli jr., Verh. d. phys. Ges., l. c. Anm. 391) und die 
Nauheimer Diskussion, Phys. Ztschr. 21 (1920), p. 650. 


(Abgeschlossen im Dezember 1920.) 


(Die später erschienene Literatur konnte nachträglich nur teilweise 
berücksichtigt werden.) 








V %. ELEKTRONENTHEORIE DER METALLE. 


Von 
RUDOLF SEELIGER 


IN GREIFSWALD. 


Inhaltsübersicht. _ 
1. Einleitung; historische Übersicht; Abgrenzung des Gebietes. 


I. Die gaskinetischen Theorien der Wärme- und Elektrizitätsleitung. 
2. Allgemeine Grundlagen der Theorien von .Riecke und Drude. 
3. Theorie von Riecke. 
4. Theorie von Drude. 
5. Vervollkommnung der Theorie durch Lorentz. 
6. Allgemeine Statistik von .Debye. 
7. Theorie von Bohr. 
8. Ergänzungen und Erweiterungen. 


II. Anwendungen und Folgerungen der gaskinetischen Theorien. 
9. Das Gesetz von Wiedemann und Franz; Temperaturkoeffizient des elek- 
trischen Leitvermögens. - 
10. Thermoelektrische Effekte und Voltaeffekt. 
11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 
12. Legierungen, Halbleiter. 
13. Optik der Metalle. 


III. Das Elektronengas. 
14. Freie Elektronen im Innern des Metalls; die Elektronenkonstanten. 
15. Thermoionische Untersuchungen. 
16. Thermodynamische Arbeiten von v. Laue und Schottky. 


IV. Semigaskinetische und quantentheoretische Ansätze. 
17. Kritik der gaskinetischen Theorien. 
18. Theorie von Thomson. 
19. Die Gittertheorien. 
20. Die phoretische Elektronentheorie von Benedicks. 
21. Quantentheoretische Ansätze. 
22. Theorie von Wien. 
23. Beziehungen zur Atomphysik. Ausblick. 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 51 


ui en V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


1. Einleitung; historische Übersicht; Abgrenzung des Gebietes. 
Die Fähigkeit der Metalle, elektrische Ströme fortzuleiten, mußte nicht 
nur wegen des hohen Wertes dieser elektrischen Leitfähigkeit an sich 
und der dadurch bedingten außerordentlichen praktischen Bedeutung 
schon frühzeitig die Aufmerksamkeit auf sich lenken und zu aus- 
gedehnten, zunächst experimentellen Untersuchungen Veranlassung 
geben, sondern sie forderte auch bald die theoretische Spekulation 
durch physikalisch überraschende Ergebnisse heraus. Erwähnt seien 
hier nur der augenscheinlich innige Zusammenhang mit dem Wärmeleit- 
vermögen, das Fehlen jeglichen gleichzeitigen Transports von Materie 
und der ganze Komplex der thermoelektrischen Erscheinungen, an 
welche sich bis in die letzte Zeit die Auffindung stets neuer und 
verhältnismäßig einfacher Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge an- 
geschlossen hat; demgemäß ist die experimentelle Literatur eine un- 
gemein reichhaltige, und es ist nicht leicht, aus der Menge namentlich 
der älteren Einzeldaten das für die Theorie Brauchbare und Wesent- 
liche herauszusuchen. Zudem hat sich der Schwerpunkt des Inter- 
esses im Laufe der Zeit verschoben und liegt heute in Fragen wie 
etwa den Messungen bei tiefsten Temperaturen und der Untersuchung 
der Legierungen und der sogenannten Halbleiter. 

Anfangs konnte man sich mit primitiven etwa an hydrodyna- 
mische Analoga anschließenden Vorstellungen zufrieden geben oder 
im Geist der herrschenden Kontinuitätstheorien phänomenologisch- 
formal einen Teil der beobachteten Erscheinungen mathematisch zu 
beschreiben versuchen, wohl auch thermodynamische integrale Be- 
trachtungen mit Nutzen heranziehen. Erst der Ausbau des atomisti- 
schen physikalischen Weltbildes forderte auch hier die Ausarbeitung 
eines detaillierten Modells für den Mechanismus der beobachteten 
elektrischen und thermischen Erscheinungen. Merkwürdig früh schon 
setzten dahingehende Bestrebungen mit einer Arbeit von W. Weber‘) 
ein, der in erstaunlicher Weise nicht nur den Grundgedanken der 
neuen Theorien vorwegnimmt — nämlich die Zurückführung der 
Elektrizitäts- und im gewissen Umfang auch der Wärmeleitung auf 
den Transport elektrisch geladener, von den Metallatomen abdisso- 
ziierter Teilchen — sondern auch .im einzelnen schon vielerlei Be- 
rührungspunkte mit den modernen Anschauungen aufweist; zugleich 
gibt sie einen Mechanismus für die kurz vorher von Kohlrausch’?) 
entwickelte phänomenologische Mitführungstheorie speziell der thermo- 
elektrischen Erscheinungen, der ebenfalls eine beachtenswerte Stellung 


1) W. Weber, Pogg. Ann. 156 (1876), p. 1. 
2) F. Kohlrausch, Gött. Nachr. 1874, p. 65. 


1. Einleitung; historische Übersicht; Abgrenzung des Gebietes. 179 


in der Geschichte der fraglichen Probleme zukommt. Die Theorie 
von Riecke (1898), die schon früher von Giese?) in ihren Grund- 
lagen skizziert worden war, bringt aber erst eine eingehende und ge- 
schlossene Durcharbeitung und Erweiterung der Weberschen Ideen 
und schließt einerseits so die erste Periode der theoretischen For- 
schung ab, während sie andererseits die zweite Periode, die der gas- 
kinetischen Theorien, eröffnet, sofern man als deren wesentliches Merk- 
mal die Annahme von frei zwischen den Metallatomen beweglichen 
Ladungsträgern, die zugleich Träger der Energie sind, ansieht; den 
vollständigen physikalischen Anschluß an die kinetische Theorie der 
Gase liefern dann endlich die grundlegenden Arbeiten von Drude 
(1900). Die nun folgenden theoretischen Arbeiten*), beginnend mit 
H. A. Lorentz’ Untersuchung (1905), bringen bezüglich der physika- 
lischen Grundanschauung mit einer Ausnahme zwar nicht allzuviel 
Neues, leisten aber die exakte mathematische und statistische Durch- 
führung; man könnte etwa die Entwicklung von der ersten Unter- 
suchung Drudes zu diesen letzteren Arbeiten vergleichen mit der der 
kinetischen Gastheorie von den einfachen Ansätzen von Clausius zu 
den Arbeiten von Maxwell, Boltzmann und ihren Nachfolgern. Eine 
Reihe kritischer und allgemein statistischer, wesentlich mathematisch 
orientierter Untersuchungen haben nun auch diesen Teil der Entwick- 
lung zu einem gewissen Abschluß gebracht (Bohr 1911, Livens 1915). 
Die genannte Ausnahme wird man in dem kühnen Gedanken sehen 
müssen (den Lorentz zwar nicht zuerst ausgesprochen‘), aber doch 
zuerst bis in alle seine Folgerungen konsequent durchgeführt hat), 
nur eine Art von Leitungsträgern anzunehmen und diese mit den be- 
reits anderwärts bekannten und studierten Elektronen gleichzusetzen; 
auch im Sinne einer erstrebenswerten Vereinfachung und Vereinheit- 
lichung des gesamten physikalischen Weltbildes wird man darin einen 
allgemeinen großen Fortschritt sehen müssen. 

Inzwischen erfuhr die Theorie der Leitung von Wärme und Elek- 
trizität in Metallen eine wesentliche Förderung und Klärung der 
Grundlagen noch von anderer Seite her, nämlich durch die eingehende 








3) W.Giese, Wied. Ann. 37 (1889), p. 576. 

4) Eine kurze Besprechung der hierher gehörigen Arbeiten gibt N. Bohr 
in seiner Dissertation, Kopenhagen 1911 (dänisch). Eine Übersicht über alle 
Elektronentheorien hat kürzlich P, Sutter in den beiden ersten Abschnitten seiner 
Schrift: Die Elektronentheorie der Metalle... (Bern 1920) gegeben. 

5) Die Gleichsetzung der negativen Ladungsträger mit den Elektronen findet 
sich bereits bei Riecke, der aber daneben noch die positiven, mit den Kanal- 
strahlenteilchen von ihm gleichgesetzten, annabm. Vgl. auch J. J. Thomson, 
Rapports Congr. Phys. (Paris 1900), d. d. III, p. 150. 

51* 


780 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Betrachtung der sogenannten thermoionischen Effekte. Man kann die 
hierher gehörenden Untersuchungen etwa bezeichnen als die Physik 
des Elektronengases in den Metallen, deren Zusammenhang mit den 
an Drude anschließenden Vorstellungen zwar klarliegt, die aber in- 
sofern noch einen Schritt weitergingen, als sie die Loslösung von 
allen speziellen Vorstellungen über die Verhältnisse im Metall ge- 
wissermaßen auf die Spitze treiben und die statistische Gesamtheit 
der freien Elektronen, eben das hypothetische Elektronengas, als sol- 
ches betrachten. Teils im Anschluß an gaskinetische Vorstellungen, 
teils mehr thermodynamisch orientiert, versuchten die in dieser Rich- 
tung arbeitenden Forscher neben der Deutung der thermoionischen 
Effekte selbst das Verständnis namentlich der thermoelektrischen Pro- 
bleme zu fördern (Krüger, Baedeker, Richardson, Wilson), vor allem 
aber die Prinzipienfrage nach der Existenz und Berechtigung eines 
solchen Elektronengases kritisch zu studieren; die Arbeiten von v. Laue 
und Schottky (1919) scheinen auch hier einen gewissen Abschluß er- 
zielt zu haben. 

Trotz der vielen schönen Erfolge der gaskinetischen Theorie 
mußte man derselben aber bei objektiver physikalischer Überlegung 
skeptisch gegenüberstehen; die Zweifel mehrten sich, als namentlich 
die experimentellen Arbeiten bei tiefsten Temperaturen Erscheinungen 
kennen lehrten, deren Deutung diese Theorien machtlos gegenüber- 
stehen. Damit beginnt die Abkehr von der gaskinetischen Theorie 
und die dritte Periode der Entwicklung, die eben erst begonnen, 
allerdings noch weit von einem befriedigenden Abschluß entfernt ist. 
Neben quantentheoretischen Überlegungen (z. B. W. Wien und tasten- 
den Versuchen in verschiedenster Richtung) steht eine Klasse von 
Theorien, die man als Gittertheorie bezeichnen könnte, und die allen 
Anzeichen nach auf den richtigen Weg führen (Siark, Haber). Sie 
schließen eng an die neuesten Ergebnisse der metallographischen, 
namentlich der röntgenographischen Forschung an und betrachten im 
wesentlichen das Metall als ein Elektronengitter im Gitter der Atome; 
von der Vorstellung der frei nach Art der Moleküle eines Gases be- 
weglichen Elektronen, von Gleichverteilung der Energie u. dgl. ist 
wenig übrig geblieben, und vollkommen neue Bilder sind an Stelle 
der alten getreten. 

Was nun die Abgrenzung des Stoffes in dem vorliegenden Ar- 
tikel anlangt, ist folgendes zu bemerken. Da es sich in erster Linie 
um eine Darstellung der theoretischen Forschung auf dem Gebiete 
der Wärme- und Elektrizitätsleitung handeln soll, sind die Ergebnisse 
der experimentellen Forschung nur so weit gegeben, als sie zur Be- 


2. Grundlagen der Theorien von Riecke und Drude. 781 


urteilung der einzelnen Theorien notwendig sind; auf die experimen- 
tellen Methoden ist dagegen überhaupt nicht eingegangen, und ebenso 
ist das sehr ausgedehnte experimentelle Zahlenmaterial nicht im ein- 
zelnen mitgeteilt. Eine wesentliche Einengung hat der behandelte 
Stoff ferner durch die Beschränkung auf stationäre Zustände erfahren, 
die jUntersuchungen über zeitlich 'veränderliche Felder in Metallen 
wurden nur verhältnismäßig kurz erwähnt, da sie in das Gebiet der 
Optik der Metalle und der Strahlungstheorie gehören. Dagegen wurde 
andererseits das Gebiet der eigentlichen Elektronentheorie der Metalle 
überschritten durch einige Bemerkungen über die analogen Erschei- 
nungen in Halbleitern und Legierungen, die sachlich hierher gehören. 
Eine gewisse Schwierigkeit liegt endlich in der Abgrenzung des 
‚Stoffes gegen manche Nachbargebiete, z. B. gegen die Thermoionik 
und die rein thermodynamischen Arbeiten über das Elektronengas. 
Da diese an anderen Stellen bereits in voller Ausführlichkeit mono- 
graphisch dargestellt sind, schien ein kurzer Auszug lediglich unter 
Betonung des hier unmittelbar Interessierenden geboten. 


I. Die gaskinetischen Theorien der Wärme- und 
Elektrizitätsleitung. 


2. Grundlagen der Theorien von Riecke und Drude. Wie be- 
reits in der Einleitung erwähnt, hat Riecke die erste wirklich durch- 
geführte Theorie der Elektrizitäts- und Wärmeleitung in Metallen und 
daran anschließend der thermoelektrischen, der kontaktelektrischen 
Effekte, des Halleffekts usw. gegeben. Die Ansätze Rieckes hat dann 
Drude in seinen schon zwei Jahre später veröffentlichten grundlegen- 
den Untersuchungen im wesentlichen übernommen und weiter aus- 
gebaut, vor allem aber durch den glücklichen Gedanken einer uni- 
versellen Temperaturabhängigkeit der kinetischen Energie der im 
elektrischen und im Wärmestrom bewegten Teilchen den unmittel- 
baren Anschluß an die kinetische Theorie der Gase hergestellt. Bei- 
den Theorien gemeinsam ist die Vorstellung‘), daß die Elektrizität 
im Innern der Metalle zum Teil an freibewegliche Träger in be- 
stimmten Quanten gebunden ist, deren absolute Größe gleich ist dem 
elektrischen Elementarquantum 4,77 . 10-!9 statische Einheiten. Die 
verschiedenen Träger unterscheiden sich voneinander durch das Vor- 
zeichen der Ladung und durch das Verhältnis der Ladung zur Masse, 


6) E. Riecke, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 3 (1906), p. 24; Phys. Ztschr. 10 
(1909), p. 508. Namentlich der letztere Bericht enthält eine sehr schöne Über- 
sicht über die Grundlagen der Tbeorie. 


182 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


ihre räumliche Dichte ist in verschiedenen Metallen verschieden und 
charakteristisch für das betreffende Metall, sie hängt außerdem ab 
von der Temperatur. Riecke nimmt nur zwei verschiedene Arten von 
Trägern an, die positiven und die negativen, während Drude allge- 
meiner beliebig viele Trägerarten zuläßt und in seine Rechnungen 
einführt. Diese Träger bewegen sich nun vollkommen frei zwischen 
den Atomen des Metalls, ähnlich den Molekülen eines Gases in der 
Auffassung der kinetischen Theorie der Gase, es kommt ihnen eine 
der dort eingeführten analoge mittlere Geschwindigkeit und mittlere 
freie Weglänge, die beide Funktionen der Temperatur sind, zu. Ist das 
Metall homogen, und zwar homogen im weiteren Sinne, d. h. bezüg- 
lich der thermischen und physikalischen Eigenschaften (z. B. also auch 
der Temperatur), so ist der Lage- und Geschwindigkeitsraum jener 
Teilchen isotrop und die Statistik des Ensembles der Teilchen prin- 
zipiell verhältnismäßig einfach. Beide Forscher umgehen aber hier 
eine eigentliche statistische Untersuchung überhaupt, indem sie von 
vornherein für alle ein Teilchen charakterisierenden Größen Mittel- 
werte einführen; doch geschieht dies in verschiedener Weise, welche 
die beiden Theorien prinzipiell unterscheidet.”) Physikalisch ist diese 
Verschiedenheit letzten Endes darin begründet, daß Riecke die Teil- 
chendichte als sehr klein gegen die Dichte der Metallatome voraus- 
setzt und demgemäß nur Zusammenstöße der Teilchen mit den Ato- 
men, nicht aber Zusammenstöße der Teilchen untereinander in Rech- 
nung zieht, während Drude gerade umgekehrt nur die Zusammenstöße 
der Teilchen untereinander berücksichtigt. Diese verschiedene Auf- 
fassung hat zur Folge, daß Riecke beim Ausbau seiner Theorie im 
einzelnen sozusagen Geometrie der Teilchenbahnen treiben muß, wäh- 
rend Drude seine Überlegungen unmittelbar an die entsprechenden 
der kinetischen Gastheorie anschließt, da er mit dem Begriff eines 
den gewöhnlichen Gasen weitgehend analogen HElektronengases ope- 
rieren kann. Diese Analogie kommt insbesondere auch dadurch zum 
Ausdruck, daß Drude das Gleichverteilungsprinzip quantitativ auf sein 
Elektronengas überträgt und die mittlere kinetische Energie der Teil- 
chen gleich «7 setzt mit derselben universellen Konstanten « wie in 
der Gastheorie.?) Riecke hingegen nimmt zwar auch die Proportiona- 


7) Vgl. die in Anm. 6) genannten Ausführungen von .Riecke. 
8) Da in der Literatur die Bezeichnungen schwanken, sei darauf hinge- 


wiesen, daß die Konstante « eingeführt ist durch zu = «T; die Boltzmannsche 


Konstante % ist eingeführt durch mv? —=3%KkT, so daß also k= A zu setzen ist 
(@ gleich 2,02 . 101° erggrad"). 


2. Grundlagen der Theorien von Riecke und Drude. 783 


lität mit der Temperatur an, macht aber über den Proportionalitäts- 
faktor a priori keinerlei einschränkende Voraussetzungen (er weist 
hier übrigens mit Recht darauf hin, daß in Strenge die Energie der 
geladenen Teilehen nicht nur vom Quadrat, sondern auch von höheren 
Potenzen der Geschwindigkeit abhängt). Aus diesen Verschiedenheiten 
der Grundlagen ergibt sich bereits eine generelle Bewertung der bei- 
den Theorien: Die Theorie von Riecke muß sich wegen der größeren 
Zahl der verfügbaren Konstanten auszeichnen durch größere An- 
schmiegsamkeit?) ihrer Resultate au die Erfahrung, die Theorie von 
Drude hat den großen Vorteil des universellen Standpunktes. 

Ist nun das Metall nicht, wie bisher angenommen, homogen, so 
sind der Lage- und Geschwindigkeitsraum anisotrop, sei es, daß die 
Dichte, ‘die mittlere Weglänge, die mittlere Energie der Teilchen mit 
dem Ort sich ändert, und zwar explizite oder implizite (z. B. durch 
Abhängigkeit von der; Temperatur). Es lagert sich dann über die 
ungeordnete Bewegung der Teilchen eine gerichtete Strömung, die 
z. B. im chemisch-inhomogenen gleichtemperierten Metall zu Poten- 
tialdifferenzen, im homogenen Metall mit Temperaturgefälle zu einem 
Energietransport, d. h. zur Wärmeleitung führt. Ist endlich das Me- 
tall physikalisch inhomogen infolge eines in ihm ausgebreiteten elek- 
trischen Feldes, so lagert sich über die ungeordnete Bewegung der 
Teilchen eine gerichtete Strömung infolge der auf die Teilchen wir- 
kenden elektrischen Feldkräfte; es resultiert ein elektrischer Konvek- 
tionsstrom. 

Eine Modifikation dieser Grundlage. unter, weitgehender , Vermei- 
dung statistischer Betrachtungen, die @. Jäger”) durchgeführt hat, sei 
nur anhangsweise erwähnt, da neue Resultate dabei nicht zum Vor- 
schein gekommen sind. Jäger ‚berücksichtigt nur die Zusammenstöße 
der Elektronen untereinander und nimmt an, daß sich die Elektronen 
im Metall gewissermaßen wie in den Hohlräumen eines Schwammes 
bewegen; beachtenswert ist, daß die Endformeln weitgehend mit der 
Theorie von. Lorentz. übereinstimmen, weil dies die (für die Kritik 





9) Es zeigt sich diese Anschmiegungsfähigkeit deutlich in den erfolgreichen 
späteren Bemühungen von Röiecke, seine Theorie zu vervollkommnen und an die 
inzwischen entwickelte Theorie von H. A. Lorentz anzuschließen. In seiner letzten 
Arbeit, Eister-Geitel-Festschrift 1915, p. 71, hat Riecke in vollendeter Form 
diese Entwicklung zum Abschluß gebracht. (Ausführliches Referat darüber bei 
W. Schotiky, Beibl. 39 (1915), p. 639.) Die Darstellung in der folgenden Nr. gibt 
schon des historischen Interesses wegen die 1. Fassung der Theorie von 1898 
bzw. eine Anlehnnng an die mit. beliebig vielen Trügerarten operierende Theorie 
von Drude. 

10) @. Jäger, Wien. Ber. 117 (1908), p. 843, 869. 


184 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


aller gaskinetischen Theorien wichtige) erlaubte Unbestimmtheit der 
Grundlagen aufzeigt. (Weiteres dazu vgl. Nr. 17.) 


3. Die Theorie von Riecke.!!) Die ladungstragenden Teilchen, 
als welche in den ursprünglichen Arbeiten nur positive und negative, 
später im Anschluß an Drude beliebig viele Arten in Betracht kom- 
men, bewegen sich zwischen den Metallatomen in geradlinigen Bahnen 
von der mittleren Weglänge !,, sie werden aber, wenn sie in die 
Nähe, eines Metallatoms kommen, von diesem abgelenkt und um- 
kreisen es in einem größeren oder kleineren Bogen. Das Wegstück 
zwischen dem Beginn zweier aufeinanderfolgender geradliniger Weg- 
stücke ist demnach größer als !,, es wird gemessen durch die Zeit 
kr,, in der es durchlaufen wird, wenn r, die Zeit zum Durchlaufen 
von !, und %k ein Zahlenfaktor größer als 1 ist. Für /, und die mitt- 
lere Geschwindigkeit u, setzt Riecke von vornherein an 


worin 7 die absolute, # die Temperatur in Celsiusgraden ist. Ebenso 
wird für die Teilchenanzahl postuliert 
(2) N,—N,(1 + ob). 

Die Wärmeleitfähigkeit ergibt sich nach dem Muster der gas- 
kinetischen Transportgleichung aus dem Verhältnis der transportierten 
Energie zum Temperaturgradienten. Riecke'!*) findet dafür nach ziemlich 
langwierigen Rechnungen (A gleich mechanisches Wärmeäquivalent) 
(8) = zu. >, m, N,610).VTL+ (0 —B+38)t+3(0,+39)T]. 
Dieser Wärmestrom ist begleitet von einem galvanischen Strom, dessen 
Stärke proportional der Stärke des Wärmestroms ist; der Proportio- 
nalitätsfaktor ®, die sogenannte Mitführungszahl für Elektrizität, ist 
natürlich ebenfalls durch die Teilchenkonstanten auszudrücken. 

Wesentlich komplizierter verläuft die Berechnung der elektrischen 
Leitfähigkeit, da die vordem geradlinigen Teilchenbahnen im elektri- 
schen Feld nun zu Parabeln gekrümmt sind. Gewisse Unstimmig- 
keiten und Vernachlässigungen bei den einschlägigen Rechnungen ver- 
anlaßten hier Riecke'?), einen unbestimmten Korrektionsfaktor x ein- 
zuführen; die elektrische Leitfähigkeit schreibt sich dann im elektro- 
magnetischen Maßsystem (v = Lichtgeschwindigkeit): 

z1 e? NpL 1+(@,—ß—d)t 
(4) aD ee Tr rb 

11) E. Riecke, Ann.d. Phys. 66 (1898), p. 353, 545; vgl. auch Fußn. 6), p. 781, 

11a) Ein Rechenfehler ist hier nach Fußn. 12) bereits berücksichtigt. 


12) Man vgl. jedoch eine Verbesserung, Ann. d. Phys. 66 (1898), p. 1199, 
wo für x ein fester Wert berechnet ist. 





4. Theorie von Drude. 185 


Mit dem elektrischen Strom ist auch hier ein Wärmestrom verbunden, 
der jenem wiederum proportional ist. Der Proportionalitätsfaktor 7 
heißt analog dem früheren die Mitführungszahl für Wärme. Hat man 
es mit einem Metallzylinder zu tun, dessen Enden isoliert sind, so 
werden sich diese, wenn ein Wärmestrom fließt, aufladen, bis der 
elektrische Strom verschwindet. Die Wärmeleitfähigkeit in diesem 
stationären Endzustand, also die Wärmeleitfähigkeit ohne elektrischen 
Strom, ist dann kleiner als die oben berechnete Wärmeleitfähigkeit 
mit Strom und zwar im Verhältnis (1 — on):1, und Analoges müßte 
für den experimentell allerdings kaum zu realisierenden Fall der elek- 
trischen Leitfähigkeit ohne Wärmestrom gelten. 

In dem p. 781 in Fußn. 6) zitierten Bericht hat Riecke die End- 
formeln durch formalen Anschluß an die Drudesche Theorie etwas 
übersichtlicher gestaltet. Es interessiert daran besonders die For- 
mulierung des Wiedemann-Franzschen Gesetzes, weil sie deutlich 
zeigt, wie und wieweit die recht allgemeinen Ansätze durch Spezia- 
lisierung der eingehenden Konstanten zu einer Anschmiegung an die 
Erfahrung zu bringen sind.'?) Für das Verhältnis der Leitfähigkeiten 


ergibt sich nun, wenn man von Anfang and —=ß= (0 und u 


2 
setzt, e, für alle Teilchen gleich annimmt, und x geeignet wählt, 
3 Tv?a® 2 
(5) 7-1 ea llt5oR): 


vorausgesetzt, daß die Änderung der Teilchendichte mit der Tempe- 
ratur für alle Teilchen dieselbe ist. Benutzt man das Wärmeleitver- 
mögen ohne Strom, so kommt dazu auf der rechten Seite der Faktor 
1:(1-+ on). Unbekannt ist auf der rechten Seite der Gleichung (5) 
also nur die Größe «, (und eigentlich auch x), die durch Vergleich 
mit der Erfahrung zu bestimmen ist. 


4. Theorie von Drude.) Drude hat seine Theorien in drei 
Arbeiten mitgeteilt und in großer Vollendung entwickelt, von denen 
hier zunächst die erste Arbeit in Betracht kommt. Wie bereits in 
Nr. 2 betont wurde, steht an der Spitze der Überlegungen der uni- 
verselle Ansatz für die kinetische Energie der Teilchen: 

(6) Zar. 





13) Die Bezeichnungen in beiden Arbeiten weichen zum Teil voneinander 
ab und sind hier in einheitlicher Weise an die Annalen-Arbeit angeschlossen. 
Ein Fehler in dem dort stehenden Ausdruck für — ist von Riecke selbst ver- 
bessert, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 514. 


14) P. Drude, Ann. d. Phys. 1 (1900), p. 566; 3 (1900), p. 370; 7 (1902), 
p. 687; man vgl. dazu auch den in Fußn. 6) genannten Bericht von E. Riecke. 


1786 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


(Drude sucht diesen Ansatz zu rechtfertigen durch die Überlegung, 
daß für ein in einen Elektrolyten eingetauchtes Metall die freien Teil- 
chen im Metall für den Fall des Temperaturgleichgewichtes dieselbe 
kinetische Energie besitzen müssen wie die freien Ionen im Elektro- 
lyten, für diese aber, hinreichende Verdünnung vorausgesetzt, die 
Gasgesetze gelten.'°)) 

Betrachten wir zuerst mit Tiüde die Folgerung aus der ein- 
facheren Annahme, daß die Teilchenzahl N pro Volumeinheit unab- 
hängig von der Tomehaken sei, so folgt aus der Transportgleichung 
der Gastheorie 


(Ta) FERIDEn 


sofort der Wärmefluß durch die auf der X-Richtung senkrecht ste- 
hende Flächeneinheit und daraus die Wärmeleitfähigkeit x zu 


(7) “— e DA u,l,N,. 


Ein elektrischer Strom, d. h. gerichteter Transport elektrischer 
Ladung, ist mit dem Wärmestrom in diesem Fall nicht verbunden. 

Die elektrische Leitfähigkeit folgt in analoger Weise, wenn man 
annimmt, auf die Teilchen wirke die elektrische Kraft E pro Ladungs- 
einheit. Die Integration der Bewegungsgleichung eines im Felde frei- 
fliegenden Teilchens ergibt, daß zu der ungeordneten Geschwindigkeit 
eine in der Richtung der Kraft liegende gerichtete Geschwindigkeits- 
komponente u, kommt: 


’ 1 T. 
(8a) W=7,6E = 


worin z, die mittlere Stoßzeit, d. h. die Zeit zwischen zwei Zusammen- 
stößen, ist. Da nun u,r, = |, ist, so wird dies 


E 
(8b) u, = e,u,l, 4 


Der Strom, welcher von allen Kernen getragen wird, ist dann 


(8e) Jr Delu,N, 
und die elektrische Leitfähigkeit also 


(8) = .,7D @l,u,N,' 





15) Wegen einer Vertiefung dieses Gedankenganges vgl. Nr. 14. 

16) Es ist dieser Ausdruck nach einer Bemerkung von v. Everdingen, die 
Riecke (Fußn. 12) mitgeteilt hat, nicht streng; der Faktor 1/4& 7 muß vielmehr 
bei Berücksichtigung des Umstandes, daß z, für die mit dem Feld und gegen 
dasselbe laufenden Elektronen verschieden ist, umgeändert werden in 1/6«@T', d.h. 
es fehlt der Faktor $, wie dies neuerdings auch E. Kretschmann in Ann.d. Phys. 65 


4. Theorie von Drude. 187 


Das Verhältnis der beiden Leitfähigkeiten ist aus (7) und (8) sofort 
zu bilden. Ist die Ladung e, aller Teilchen dieselbe, nämlich gleich 
der Elementarladung e, so folgt das Gesetz von Wiedemann-Franz 
und von Lorenz in der Form 

% 4 /@\2 
® sl) ?- 

Etwas komplizierter werden die Verhältnisse, wenn man nun die 
Teilchendichte als Funktion der Temperatur ansieht. In einem Metall 
mit Temperaturgefälle strömt dann nicht nur wie bisher Energie von 
Stellen höherer Temperatur ab, sondern es findet auch ein Transport 
von Teilchen in einem dem gaskinetischen ganz analogen Diffusions- 
strom statt. Die Folge ist, daß mit dem Wärmestrom wie in der 
Theorie Rieckes stets ein elektrischer Strom verbunden ist. Drude 
betrachtet nun nur die Wärmeleitung ohne elektrischen Strom, also 
die Vorgänge in einem nicht geschlossenen, beiderseits isolierten 
Metallstück und findet für zwei Arten von Teilchen die Wärmeleit- 
fähigkeit in der Form: 


EIER | N, +%N 20% ; (N, N;) 
a he 





worin allgemein ist 
dit l,u, 

(10a) U 2 
Für die elektrische Leitfähigkeit gilt dieselbe Ableitung wie früher, 
so daß für das Leitfähigkeitsverhältnis folgt: 

“mu La‘ 2v,%T o(N, N,) 
al) a EA an ara 
das natürlich für Unabhängigkeit der Teilchendichte von der Tempe- 
ratur in den früheren Ausdruck übergeht. Drude knüpft an Gleichung 
(11) einige interessante allgemeine Bemerkungen, auf die wir später 
(in Nr. 10) noch zurückkommen. Hier ist die eine von Wichtigkeit, 
daß nun Ausnahmen vom universellen Wiedemann-Franzschen Gesetz 
und von der Lorenzschen Regel möglich sind, daß aber solche nur 
(1921), p. 720 ausführlich begründet hat. Dadurch wird auch in Gleichung (9) 
der Faktor $ statt #$, was mit Lorentz übereinstimmt. Eine ähnliche Korrektion 
hat: später F. $. Swann angebracht [Phil. Mag. 27 (1914), p. 441] und mit Recht 
darauf hingewiesen, daß bereits eine Dimensionsbetrachtung für o als Funktion 
von N,u,2,e,&T' Proportionalität mit e® N!w/« T ergibt und daß also der Zahlen- 
wert des Proportionalitätsfaktors durchaus nicht unwesentlich, sondern im Gegen- 
teil beweisend für die Richtigkeit der Theorie ist. Ein ausführlicher Bericht von 
H. F. Mayer über die Theorie der Wanderung kraftgetriebener Partikel unter 


besonderer Berücksichtigung der Arbeiten von P. Lenard im Jahrb. d, Rad. u. 
Elektr. 18 (1921) geht ebenfalls auf diese Fragen ein. 











188 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


auftreten können in Metallen, welche mindestens zwei verschiedene 
Teilchenarten enthalten; denn ist N, oder N, Null, so fällt das Kor- 
rektionsglied zum universellen Gesetz fort. 


5. Vervollkommnung der Theorie durch H. A. Lorentz.!”) Eine 
Vervollkommnung und Verfeinerung der Theorie unter Beibehaltung 
des wesentlichen physikalischen Inhalts verdanken wir den Unter- 
suchungen von H. A. Lorentz. Zugleich ist in der Zorentzschen Theorie 
zuerst, wie dies bereits in der Einleitung zu diesem Artikel betont 
wurde, der Versuch unternommen, nur eine Art von Trägern zu Hilfe 
zu nehmen und diese mit den Elektronen zu identifizieren.) Wenn 
sich auch nachträglich die Theorien von Drude und Riecke ebenfalls 
daraufhin spezialisieren lassen, darf man den Fortschritt, der in dieser 
Vereinfachung liegt, doch nicht gering schätzen, da sie den Übergang 
zu der heute allgemein anerkannten unitarischen Auffassung bedeutet. 
Im übrigen liegt die eingangs genannte Verfeinerung wesentlich auf 
statistischem Gebiet und zwar im folgenden. Während Drude von 
vornherein Mittelwerte für die gaskinetischen Größen, insbesondere 
für die Geschwindigkeit der Ladung tragenden Teilchen einführt, 
geht Lorentz aus von einem allgemeinen statistischen Verteilungs- 
gesetz für dieselben; im physikalisch isotropen homogenen Metall soll 
dies Verteilungsgesetz das Muxwellsche der Gastheorie sein. Lorentz 
untersucht dann, wie die Maxwellsche Verteilung zu modifizieren ist 
bei Gegenwart von elektrischen Feldern und Temperaturgradienten 
und erhält unter der Annahme nur kleiner Änderungen der Geschwin- 
digkeiten additive Korrektionsglieder und endlich aus dem modifizier- 
ten Verteilungsgesetz durch Integration den Ladungs- bzw. Wärme- 
transport. Methodisch ist der Gang der Untersuchung den entspre- 
chenden Teilen der Gastheorie (z. B. Gas im Schwerefeld) nachge- 


17) H. A. Lorentz, Arch. Nerl. (2) 10 (1905), p. 336; Proc. Acad. Amsterdam 
7 (1905), p. 438, 585, 684; Theory of Elektrons (Teubner 1909), Note 29; Wolfs- 
kehl-Vortrag, Göttingen 1914, p. 167. 

18) Es ist bemerkenswert, daß diese an sich sehr kühne Annahme neben 
den aus der konsequenten Durchführung fließenden und an der Erfahrung mittel- 
bar prüfbaren Folgerungen auch eine unmittelbare experimentelle Bestätigung 
erfahren hat. R.C. Tolman und T.D. Stewart scheint es durch ihre merkwür- 
digerweise wenig beachteten Versuche gelungen zu sein [J. Am. Chem. Soc. 36 
(1914), p. 466; Phys. Rev. 8 (1916), p. 97; Proc. Am. Nat. Acad. 3 (1917), p. 58] 
die Masse der Ladungsträger zu bestimmen und in guter Übereinstimmung mit 
dem auf anderem Weg gefundenen Wert zu 1:1900 bis 1:1940 des Wasserstoff- 
atoms festzulegen. Der Grundgedanke dieser Versuche ist, die Masse zu be- 
stimmen aus der Trägheitswirkung, und zwar mit Hilfe der zwischen den Enden 
eines beschleunigt bewegten Metalldrahtes sich ausbildenden Potentialdifferenz. 


5. Vervollkommnung der Theorie durch H. A. Lorentz. 7189 


bildet und läuft darauf hinaus, das Verteilungsgesetz aus den Bedin- 
gungen für den stationären Zustand zu gewinnen. 

Es führt also Lorentz den Anschluß an die Gastheorie bis ins 
einzelne durch und leistet damit für die Elektronenstatistik dasselbe 
wie seinerzeit etwa Boltzmann und Maxwell in ihrem Ausbau der 
ursprünglichen Ansätze von Clausius. Aus dieser Analogie, die sich 
übrigens auch auf die recht erheblichen Komplikationen und mathe- 
matischen Schwierigkeiten erstreckt, läßt sich der Erfolg der Lorentz- 
schen Untersuchung voraussehen; er besteht lediglich in einer Ände- 
rung der Zahlenfaktoren in den Endformeln gegenüber den aus der 
elementaren Theorie sich ergebenden und läßt sich vorerst noch nicht 
durch die Erfahrung nachprüfen. Demgegenüber ist auch physikalisch 
von prinzipieller Bedeutung ein Punkt, von dem in Nr. 1 kurz die 
Rede war, nämlich die von Lorentz vorgenommene Reinigung der 
Elektronentheorie der Metalle von allem fremden Beiwerk!?) und die 
exakte Fassung der physikalischen Voraussetzungen der Theorie, die 
namentlich in dem Wolfskehl-Vortrag klar herausgearbeitet ist. In der 
allgemeinsten Form lassen sie noch Raum für die Einbeziehung der 
Dissoziation und Assoziation der Elektronen von und an den Metall- 
atomen, reichen aber nicht zu einer vollständigen Beschreibung des 
Ladungs- und Energietransports aus. 

Der mathematische Teil der Untersuchung kommt darauf hinaus, 
die Verteilungsfunktion f(&,n,6,2%,9,2) im Lage-Geschwindigkeitsraum 
aus der auch in der Gastheorie bekannten Differentialgleichung 


0 0 [7 0) 0 0) 
122) Barrett ent 
in der Form 
(12b) f=A:eteHHH9 4 0‘) 


zu bestimmen.‘ Dabei sind m X, m Y, mZ die Komponenten der elek- 
trischen auf die Elektronen wirkenden Triebkraft, adS di dt ist die Zahl 
der Elektronen, welche im Zeitelement durch Zusammenstöße ihre 
Geschwindigkeit so ändern, daß sie aus dem Element dA des Ver- 
teilungsraumes herausgeworfen werden, bdSd4öt ebenso die Zahl der 


Elektronen, welche in dA hineingelangen, A und h sind die Konstanten 
3m 


nV und „7, der Maxwellschen Verteilung. Die beiden Größen «a 


und b sind aus der Geometrie der Stöße zwischen Elektronen und 
Metallatomen, die allein berücksichtigt werden, unter der Annahme 
derselben Stoßgesetze wie für vollkommen harte und elastische Ku- 


19) Vgl. auch Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 4 (1907), p. 125. 


7190 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


geln in bekannter Weise anzugeben. Beschränkt man sich auf das 
lineare Problem, in dem alles nur von einer Koordinate x abhängt, 
so erhält man als Ergebnis der Rechnung 


(12) f=4- ee rerr+) 
dä dh rm 
N Se Tr m 
worin die Größe / der reziproke Wert des Produktes aus der Anzahl 
der Atome in der Volumeneinheit und der Wirkungssphäre ist, also 
_ physikalisch die Bedeutung der üblichen mittleren freien Weglänge hat. 
Damit ist der Weg zur Berechnung des Ladungs- und Energietrans- 
portes » und w frei, und es ergibt sich 


vage (2RAX — 55) d- 25 
(13) ae Fl 
-3zmil:, ‚(eRaxX —% )+ se, 





\ 


woraus die elektrische und thermische Leitfähigkeit nun sofort ab- 


zuleiten sind. Für ein homogenes, gleich temperiertes Metall ist 


dA au BTL. OR RR), GTSLIT. ‚wo E die elektrische Kraft ist; da- 
x dz ” 


mit wird 


4nlA 
(14a) van, 
und somit die elektrische Leitfähigkeit 
ve AnlAe: 
(4 es 


In derselben Weise folgt aus w die thermische Leitfähigkeit ohne 
Strom, wenn man die Potentialdifferenz zwischen den Enden des 
Metallstabes so bestimmt, daß v» = 0 ist, zu 


ii 8n1A 
(15) ep na h? =, 
und endlich aus beiden für das Verhältnis der Leitfähigkeiten 
% 8 /a@\2 
(16) se). 


r’ P 3m 
wenn man für h wiederum Fe benutzt. 


Die Theorie von Lorentz wurde, wie anhangsweise gleich bemerkt 
sei, von Richardson?®) erweitert auf beliebige Zentralkräfte umgekehrt 
proportional der s!® Potenz der Entfernung. Da sich Richardsons 


20) ©. W. Richardson, Phil. Mag. 23 (1912), p. 594. 


6. Allgemeine Statistik von Debye. 791 


Arbeit durchaus in der Methode und dem Gang der Rechnung an 
Lorentz anschließt, die Resultate zudem mit den entsprechenden der 
auf wesentlich breiterer Basis aufgebauten Theorie von Bohr überein- 
stimmen, bietet sie kein prinzipielles Interesse, und die Diskussion der 
Ergebnisse kann mit der von Bohrs Theorie zusammen erfolgen. Be- 


merkenswert ist der Versuch, die Konstante K des Kraftgesetzes 


3 durch die elektrische Leitfähigkeit auszudrücken, wofür sich für 


s=3, welcher Wert durch das Gesetz von Wiedemann- Franz nahe- 
gelegt ist?!), ergibt A 
(16a) man eh 0,396, 


PR; n \m 





worin N die Zahl der freien Elektronen, » die Zahl der Kraftzentra 
in der Volumeneinheit und R die Gaskonstante ist. Setzt man etwa 
N=y-.pundn=6-p, wo p die Zahl der Metallatome pro Vo- 
lumeneinheit ist, so erhält man z. B. für Silber 


(16b) = .K=85.10-%. 


Aus der Strahlungstheorie hatten Thomson und Jeans die Werte 
2. 10-2” bzw. 3 - 10-2” erhalten *!), was mit dem Obigen der Größen- 
ordnung nach gut übereinstimmt bei durchaus plausiblen Annahmen 
für ö und y. Quantitativ allerdings würde für y = +, wie dies nach 
anderweitigen Daten für die Elektronendichte anzunehmen ist, für Ö 
die Größenordnung 10 sich ergeben, es würden also im Atom mehrere 


Kraftzentren sitzen müssen. 


6. Allgemeine Statistik von Debye.??) Die bisher allgemeinste 
Behandlung elektronen-statistischer Probleme hat Debye geliefert. Er 
benutzt nicht, wie FH. A. Lorentz, die Boltzmannsche, sondern die Gibb- 
sche Betrachtungsweise und damit deren Vorteile insofern, als er un- 
mittelbar Energie und Entropie des Systems aus der Wahrscheinlich- 
keit erhält und spezielle Annahmen erst zur Ableitung der statisti- 
schen Verteilungsfunktion selbst notwendig werden; außerdem ist auch 
physikalisch insofern größere Allgemeinheit erreicht, als die Zahl der 
freien Elektronen nicht von vornherein gegeben wird, sondern durch 
den Prozeß der Dissoziation bestimmt wird. In dieser Nummer sollen 
nur die Grundlagen und die Theorie der Wärme- und Elektrizitäts- 








21) Zu diesem Kraftgesetz wird man auch geführt in der Theorie der 
Metallstrahlung. Vgl. J.J. Thomson, Phil. Mag. 14 (1907), p. 217; 20 (1910), 
p. 238; Jeans, ebd. 20 (1910), p. 642. 

22) P. Debye, Ann. d. Phys. 33 (1910), p. 441. 


192 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


leitung gegeben werden, deren Endresultate übrigens vollkommen mit 
den von Lorentz erhaltenen übereinstimmen. 

Allgemeine statistische Betrachtungen geben für die Verteilungs- 
funktion, die maßgebend ist für die Verteilung der Systempunkte im 
2»v-dimensionalen Raum der Lagenparameter q,...g, und der dazu 
gehörigen Impulse 9, ....p, den Ausdruck 


v 


ferrTad, 1. »@g,ap,,....0p, 


17a f=n 
m fe ?"ag, ...dg,-dp,...dp, 





’ 


worin » die Zahl der Teilchen des Systems, U die Energie, B die 
Konstante 17 ist unddo —=dq,...dq,-dp,...dp, das Volumelement 


ist, auf das sich die Verteilungsfunktion f bezieht. Um die spezielle 
Verteilungsfunktion zu erhalten, sind naturgemäß auch spezielle An- 
nahmen notwendig, von denen Debye zwei betrachtet; Endziel ist, aus 
derartigen Annahmen mit Hilfe von (17a) das Dissoziationsgleich- 
gewicht zwischen freien (für den Ladungs- bzw. Energietransport al- 
lein in Betracht kommenden) und gebundenen Elektronen zu berechnen. 
Das Metall bestehe aus Atomen, die fähig sind, unter Arbeitsleistung 
ein oder mehrere Elektronen abzuspalten, welche also die abgespal- 
tenen Elektronen anziehen. Die erste Annahme setzt nun die an- 
ziehende Kraft unabhängig von dem lonisationsgrad des Atoms und 
beschreibt dieses als bestehend aus einem inneren undurchdringlichen 
Kern, um den herum nach außen der Bereich der anziehenden Kräfte 
sich ausdehnt. Sind v» das mittlere ein Atom enthaltende Volumen, 
v, und v, die Volumina zweier mit den Radien a, bzw. a, um den 
Atommittelpunkt geschlagenen Kugeln, die so gewählt sind, daß a, 
etwa zusammenfällt mit dem Radius des undurchdringlichen Kerns 
und der Bereich zwischen a, und a, in treppenförmiger Näherung 
als der Bereich der anziehenden Kräfte angesprochen werden kann, 
so läßt sich die Zahl der Elektronen berechnen, die außerhalb a, und 
derer, die zwischen a, und a, liegen. Jene als freie, diese als gebun- 
dene Elektronen zu definieren, führt zu Unzuträglichkeiten, da die 
genannten Definitionen naturgemäß von der Temperatur abhängen. 
Debye zählt deshalb zu den freien Elektronen auch noch die Elek- 
tronen, die zwar im Bereich zwischen a, und a, liegen, deren Ge- 
schwindigkeiten aber so groß sind, daß sie dort nur kurze Zeit ver- 
weilen, d. h. analytisch gefaßt, welche Impulse in der Richtung des 
Radius besitzen, die größer sind als ein durch die potentielle Energie 
& in dem Bereich (a, — a,) zu messender Impuls. Die rechnerische 
Durehführung dieser Überlegung ergibt für das Verhältnis der An- 


6. Allgemeine Statistik von Debye. 193 


zahl der freien bzw. der gebundenen Elektronen zur Anzahl aller die 











Ausdrücke T, 
Ira, 1+0:07%(7) 
IT "ge A ? 
(am) re 
| N, 1-7) ” 
FAHNEN NEN | 
1+0e? 
worin 6 —= u el, IT, = z und die Transzendente d gegeben ist 
a 
durch . A. j 
De Jer’MTAU. 
(17b) )-,,fe Tran 
7, 


Ki; 


Die zweite Annahme setzt voraus, daß die anziehenden Kräfte wesent- 
lich vom lonisationszustand des Atoms abhängen. Vereinfacht man 
die Annahme dahin, daß ein Atom nur ein Elektron verlieren kann 
und daß das Restatom sich genau verhalten soll wie die bisher be- 
trachteten Atome, das neutrale Atom wie die bisher betrachteten un- 
durchdringlichen Kerne vom Volumen v, und Radius a,, so kann man 
wiederum?) das Dissoziationsgleichgewicht bestimmen, das jetzt außer 
der Anzahl n, der freien Elektronen (bzw. der dissoziierten Atome) 
noch die Anzahl »n, der undissoziierten Moleküle enthält. Die Ver- 


a . N N . Kite . 
hältnisse und — sind zu entnehmen aus der trivialen Beziehung 


(18a) “+-t—l 
und aus der aus der Durchrechnung sich. ergebenden Beziebung 
(m) ae 
n we 8 
ER 2 rer 
n 


Nachdem so die Berechnung der Anzahl der freien Elektronen ge- 
leistet ist, läßt sich unter den vereinfachenden auch von Lorentz, wie 
wir sahen gezwungenermaßen, gemachten Voraussetzungen, daß die Ver- 
teilungsfunktion gegenüber der für den stationären Zustand geltenden 
nur wenig geändert ist (was mathematisch bei einem linearen Leiter 
in Richtung x auf eine Entwicklung bis zu Gliedern erster Ordnung 








23) Debye geht hier einen etwas anderen Weg als bei der Dürchrechnung 
der ersten Annahme und benutzt eine aus der allgemeinen ' Statistik folgende 
Formel für die freie Energie. 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 52 


194 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


in x hinauskommt), die Berechnung der elektrischen und thermischen 
Leitfähigkeit mit Hilfe der Transportgleichung durchführen und er- 
gibt für den Koeffizienten der elektrischen und thermischen Leitfähig- 
keit und also auch für den Zahlkoeffizienten des Wiedemann-Frang- 
schen Gesetzes genau dieselben Formeln wie Lorentz (Nr. 5), wenn für 
die Elektronenzahlen nur die der freien Elektronen genommen werden. 
Physikalisch wesentlich ist nun aber eine Erweiterung aller dieser 
Betrachtungen; während nämlich bisher nur die Zusammenstöße der 
Elektronen mit den Atomen berücksichtigt, die der Elektronen unter- 
einander als unwesentlich vernachläßigt wurden, weist eine Betrach- 
tung der numerischen Verhältnisse darauf hin, daß diese Annahme 
den wirklichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Es zeigt dies be- 
reits eine einfache Überschlagsrechnung aus Gleichung (19); für v 
ergibt sich die Größenordnung von u, d.h. etwa 10°, also für den 
mittleren Abstand der freien Elektronen Y10-® = 2,1.10-°. Die 
Kraft zweier Elektronen aufeinander in diesem Abstand ist 0,5 - 10-3 
Dynen, so daß z. B. bei 7 = 300° abs. die kinetische Energie der 
Elektronen bei zentralem Stoß den obigen Abstand gegen die ab- 
stoßende Kraft nur um etwa ein Prozent verkleinern könnte, daß also 
die Elektronen sich beim gegenseitigen Zusammenstoß verhalten 
müßten wie starre Kugeln von etwa 10-® cm Radius. Die Berück- 
siehtigung dieser Elektronenstöße hat zur Folge, daß sich nun für 
die elektrische und die thermische Leitfähigkeit einzeln (nicht aber 
im Wiedemann-Franzschen Gesetz) eine andere Temperaturabhängig- 
keit ergibt als bei der obigen einfachen Theorie. Während nach 
dieser die Endformeln sind 





(19) 


erhält man nun die folgenden Ausdrücke für die beiden Leitfähigkeiten 





AST ya » 1 
3 x nza’u + Ava} (mk 7% 


nu. “De „ .E. (mkTy%. 


3V/ nz na?utAvzai m 


(20) 





Es bedeuten darin v» die Anzahl der im Sinn der Theorie freien Elek- 
tronen, u die der Atome in 1 cem, %k die Boltzmannsche Konstante 
der Gastheorie, a bzw. a, die Radien der für die Stöße Elektron-Atom 
bzw. Elektron-Elektron maßgebenden Wirkungssphären. 


7. Theorie von Bohr. 195 


7. Theorie von Bohr.*) Die Untersuchung Bohrs über die 
Theorie der Elektronen in Metallen wird man in vielen Beziehungen 
als den vorläufigen Abschluß der gaskinetischen Theorie überhaupt 
bezeichnen können, und zwar sowohl was die Allgemeinheit der physi- 
kalischen und statistischen Voraussetzungen, wie auch was die Durch- 
führung im einzelnen anlangt. Allerdings muß diese Allgemeinheit 
aufgegeben werden, es müssen auch hier namentlich bezüglich des 
Mechanismus des Zusammenstoßes zwischen den Elektronen und den 
Metallatomen spezielle Annahmen gemacht werden, wenn greifbare 
quantitative Resultate abgeleitet werden sollen. Neben der Voraus- 
setzung eines durch äußere Kräfte unbeeinflußten Wärmegleichgewichts 
zwischen den freien Elektronen im Metall und den Metallatomen und 
der Isotropie der einzelnen Metallatome ebenfalls unabhängig von 
äußeren Kräften?®), decken sich die Annahmen der Theorie durchaus 
mit dem bisher Besprochenen, sie gehen aber über diese hinaus durch 
die Berücksichtigung nicht nur der Zusammenstöße der Elektronen 
mit den Metallatomen, sondern auch der Elektronen untereinander und 
vor allem durch die Betrachtung nicht nur des Falles, daß die Elek- 
tronen zwischen je zwei Zusammenstößen größtenteils freie Bahnen 
durchlaufen, sondern auch des Falls, daß die Elektronen wegen der 
dichten Packung der Metallatome den größten Teil ihres Lebens sich 
in der Wirkungssphäre derselben befinden. Naturgemäß bietet die Be- 
handlung dieses letzteren Falles insofern erheblich größere Schwierig- 
keiten, als die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes und alle 
statistisch daraus fließenden Folgen dann nicht mehr allein abhängen 
von der momentanen Geschwindigkeit der Elektronen, sondern auch 
von ihrem Weg; statistisch gesprochen sind die genannten Schwierig- 
keiten in der Hauptsache dadurch bedingt, daß eine Anhäufung der 
Elektronen vor den Metallatomen stattfindet, d. h. daß die Elektronen 
während ihrer Bewegung sich in größerer Zahl an Orten befinden, 
wo die Kräfte der Metallatome der Bewegung entgegengerichtet sind 
als an Orten, wo sie in derselben Richtung wirken. Demgemäß lassen 
sich die Betrachtungen für diesen zweiten Fall auch nicht in der 
vollen Allgemeinheit wie vorher durchführen, sondern nur auf Grund 
von vereinfachten Annahmen.?®) Statistisch benutzt Bohr im wesent- 


24) N. Bohr, Diss. Kopenhagen 1911 (dänisch). Eine englische Übersetzung, 
die der Verf. im Manuskript freundlichst zur Verfügung stellte, soll demnächst 
erscheinen; eine eingehende Darstellung findet man in der in Anm. 4) genannten 
Schrift von P. Sutter. 

25) In Übereinstimmung mit Lorentz und Debye, im Gegensatz zum Bei- 
spiel zu Thomson (Nr. 18). 

26) Stationäres Feld der Metallatome; Zusammenstöße der Elektronen unter- 

52* 


796 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


lichen denselben Weg wie Debye, geht also aus von der Gibbsschen 
Verteilungsfunktion f,, ergänzt diese aber für den Fall äußerer Kräfte 
durch ein additives Zusatzglied f=f, + v und wählt als Grundlage 
der Rechnung abweichend von seinen Vorgängern den Ausdruck für 
das gesamte Bewegungsmoment der Elektronen bzw. seiner zeitlichen 
Änderung. Wie bereits bemerkt, erfordert die Durchrechnung im ein- 
zelnen spezielle Annahmen über den Mechanismus der Stöße, von 
denen der rein elastische Stoß, der Stoß unter Wirkung einer allge- 
meinen Zentralkraft und eine Spezialisierung in Richtung der von 
Gruner (vgl. Nr. 8) vorgeschlagenen zu erwähnen sind. Die allge- 
meinen Formeln für die Verteilungsfunktion, das Moment und den 
Ladungs- sowie den Energietransport lassen sich ohne weitläufige Er- 
klärung der eingehenden vielerlei Beziehungen und Hilfsfunktionen 
nicht in Kürze angeben. Bezeichnet man das Moment in der Rich- 
tung x aller Elektronen im Volumelement dv, deren Geschwindigkeits- 
punkte zwischen zwei Kugeln mit den Radien r und r +.dr liegen, 
mit G,(r)drdv, so drückt sich der Ladungsfluß ©, und der Energie- 
fluß w, durch die zur X-Achse senkrecht stehende Flächeneinheit 
aus durch 
1 


(21a) „= — | G,()ar, w—z Ir G,(n)ar, 

ö ®, 
worin für @ die genannten allgemeinen Ausdrücke oder speziellen For- 
men einzusetzen sind, die durch eine Integralgleichung vom Fredholm- 
schen Typus bestimmt sind. Die allgemeinen Endformeln nehmen dann 


die Gestalt an: 


i op kTok oT 

(21) | u Algeter 3) Are 
6: 09 , kToK oT 
w——AllgE + em 02) Are 


Die physikalische Bedeutung dieser Formeln wird verständlich 
durch die Angaben, daß K eine in der Verteilungsfunktion f multi- 
plikativ auftretende Konstante ist, welche den Zustand des Metalls 
thermisch und chemisch charakterisiert, g das Potential der äußeren 
Kräfte ist und die Größen A,, A,, A, sehr komplizierte, die Natur 
des Metalls an dem betreffenden Punkt beschreibende Funktionen 
(Konstanten) bedeuten. Der Umstand, daß A, sowohl in :, wie in 
w, auftritt, deutet in dieser allgemeinen Formulierung bereits darauf 
hin, daß zwischen der elektrischen und der thermischen Leitfähigkeit 


einander selten im Vergleich zu den Zusammenstößen zwischen Elektronen und 
Metallatomen. 


7. Theorie von Bohr. 197 


ein Zusammenhang besteht. Die Formeln (21b) gelten für den ein- 
facheren Fall großer freier Wege der Elektronen; im zweiten Fall 
dichter Packung der Metallatome lassen sich analoge Ausdrücke nur 
unter der obengenannten Vereinfachung ableiten. Es ist bemerkens- 
wert, daß diese Ausdrücke mit den Ausdrücken (21b) formal überein- 
stimmen, sich aber in der Form der Größen A von diesen unter- 
scheiden, da naturgemäß @ sich bezieht auf die gesamte, d.h. die 
kinetische + potentielle Energie der Elektronen. Für die elektrische 
Leitfähigkeit 6 ergibt sich nun sofort bei chemischer und thermi- 
scher Homogenität des Metalls = A, (22a), woraus z. B. für den 
ersten der genannten beiden Fälle und für Zentralkräfte umgekehrt 
der n‘® Potenz der Abstände zwischen Elektronen und Metallatomen 
explizite folgt: 


KR) En Ar 0 (GEr)aR TG); 





welcher Ausdruck für n= oo, d.h. für elastische Zusammenstöße 
harter Kugeln, in den von Lorentz übergeht. 
Die Wärmeleitfähigkeit läßt sich nur explizite angeben, wenn man 


die Nebenbedingung i, = 0 ansetzt; dann nämlich kann man 2 aus 
i,=0 und dem Ausdruck für w, eliminieren und erhält: 

4,4— TA 
(23a) A imD de mr 


oder wiederum im speziellen Fall der Zentralkräfte 


8z Nk®T m n—5 2n 
(23) "Tyan _ımo %T 3m) r ı) 


was für an = oo ebenfalls mit der Formel von Lorentz übereinstimmt. 
Das Verhältnis — ist aus (22a) und (23a) bzw. aus (22) und (23) 


dann unmittelbar gegeben; es enthält die zunächst unbekannten Größen 
N und C?”) nicht mehr, hängt aber ab von der Form des Gesetzes 
der Zentralkräfte Wesentlich komplizierter liegen die Verhältnisse 
bezüglich der beiden Leitfähigkeiten im einzelnen; ein quantitativer 
Vergleich mit der Erfahrung ist nieht möglich, und auch ein qualita- 
tiver Vergleich bezüglich der Temperaturabhängigkeit ist erst durch- 
führbar auf Grund bestimmter Annahmen über die Temperaturab- 
hängigkeit von N und (. 

Wie sich die Verhältnisse gestalten, wenn die Dimensionen der 





27) Die Konstante C, welche von der Natur und Temperatur des Metalls 
abhängt, setzt Bohr gleich der reziproken freien Weglänge der Elektronen; 
k gleich Boltzmannsche Konstante. 


798 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Metallatome nicht mehr klein sind gegen ihre gegenseitigen Abstände, 
läßt sich bei Vernachlässigung der Zusammenstöße der Elektronen 


untereinander leicht übersehen ‚bezüglich des Quotienten r Verhalten 


sich die Metallatome bei den Stößen wie harte, vollkommen elastische 
Kugeln, so resultiert wieder der Lorentzsche Wert, während in allen 
anderen Fällen ein größerer Wert für diesen Quotienten herauskommt; 
umgekehrt resultiert im allgemeinen ein kleinerer Wert, wenn die 
gegenseitigen Zusammenstöße der Elektronen eine wesentliche Rolle 
spielen. 

8. Ergänzungen und Erweiterungen. Die bisher besprochenen 
Untersuchungen haben in der Folge verschiedentlich eine Weiter- 
bildung erfahren, die teils den mathematisch-statistischen, teils den 
physikalischen Teil ihrer Grundlagen und ihrer Durchführung be- 
treffen. Wie nämlich die Ableitung spezieller Resultate und deren 
Prüfung an der Erfahrung zeigte, treten neben vielen unzweifelhaften 
schönen Erfolgen auch manche recht bedenkliche Unstimmigkeiten 
auf, die gebieterisch nach Abhilfe verlangen. Soweit man nicht ver- 
suchte, durch eine radikale Änderung der Grundlagen weiterzukommen 
(vgl. hierüber Abschnitt IV), sondern sich im wesentlichen immer noch 
an das gaskinetische Bild der Vorgänge im Innern des Metalls hielt, 
sollen nun die dahin zielenden Arbeiten in dieser Nummer zusammen- 
gefaßt werden. Doch soll es sich dabei nur handeln um die Bespre- 
chung der Untersuchungen, die wenigstens einigermaßen durchgeführt 
sind; gelegentliche Bemerkungen, wie sie sich vielfach in der Lite- 
ratur finden, werden besser später von Fall zu Fall untergebracht 
werden. Auch eine große Klasse von Arbeiten, welche die Erweite- 
rung der Theorie auf zeitlich veränderliche Felder, d. h. die elek- 
tronentheoretische Erfassung der Optik der Metalle zum Ziel haben, 
soll hier nicht besprochen werden. 

Man kann Mängel der Theorie in zweierlei Richtungen aufzu- 
decken hoffen, nämlich in dem statistischen Teil oder in den eigent- 
lich physikalischen Grundlagen. Was zunächst den mehr statisti- 
schen Teil anlangt, so sind hier zu erwähnen eine Reihe von Ar- 
beiten von Livens”®), eine Untersuchung von Reinganum?”) und eine 
von Enskog®), wenngleich das Hauptziel der letzteren die später zu 
besprechende Erweiterung auf zeitlich veränderliche Felder ist, und 
in gewissem Sinne auch eine Arbeit von Lorentz?'), die bereits er- 

28) S. H. Livens, Phil. Mag. 29 (1915), p. 173, 425; 30 (1915), p. 112, 287, 549. 

29) M. Reinganum, Heidelberger Akad. 1911, Nr. 10. 


50) D. Enskog, Ann. d. Phys. 38 (1912), p. 731. 
31) H. A. Lorentz, Wolfskehl-Vorträge, Göttingen 1914, p. 167. 


8. Ergänzungen und Erweiterungen. 199 


wähnt wurde, in diesem Zusammenhang aber nochmals herangezogen 
werden muß. Livens kommt zwar in seinen Arbeiten im wesentlichen 
nicht über die Ergebnisse der Lorentzschen Theorie hinaus; er disku- 
tiert hauptsächlich die Frage, unter welchen Voraussetzungen allge- 
meinster Natur über den Mechanismus der Stöße man zu einem wohl 
definierten Verteilungsgesetz der Lage und Geschwindigkeitskoordi- 
naten überhaupt kommen kann, wie dieses bei bestimmten Annahmen 
sowohl energetischer wie rein statistischer Art über die Wirkung 
der Stöße lautet und daraus die Berechtigung der Maxwellschen Ver- 
teilung und der Abweichungen von derselben statistisch zu ver- 
stehen ist. 

Auch bei Enskog steht im Mittelpunkt des Interesses die Frage 
nach dem Verteilungsgesetz der Geschwindigkeit. Unter der allge- 
meinen Annahme beliebiger Zentralkräfte zwischen Elektronen und 
Metallatomen, jedoch mit der Einschränkung, daß die Abstände der 
‘ letzteren im Mittel so groß sind, daß die Zeit, in welcher ein Elek- 
tron merklicher Kraftwirkung ausgesetzt ist, zu vernachlässigen ist, 
und daß ferner die Wechselwirkungen zwischen den Elektronen und 
die Geschwindigkeiten der Metallatome ebenfalls zu vernachlässigen 
sind — die beiden ersteren Einschränkungen sind sicher als erheb- 
licher Mangel der Theorie zu bezeichnen —, läßt sich im unmittel- 
baren Anschluß an die entsprechenden Entwicklungen Boltzmanns für 
das gaskinetische Problem die partielle Differentialgleichung für die 
Verteilungsfunktion f anschreiben. Abweichend von der Methode von 
Lorentz ist nur die mathematische Behandlung dieser Gleiehung, die 
von Enskog zunächst allgemein, später in Spezialisierung auf einige 
Kraftgesetze gegeben wird. Wenn nämlich in der üblichen Weise f 
im Falle des Gleichgewichts die Form hat 


(243) fu et F=-Ve+n+9) 
so wird nun f entwickelt nach Potenzen der Geschwindigkeitskompo- 
nenten &,n, &: 


24) fehlte) + tv +- +, -+:-) 


und es werden die Funktionen g und % so bestimmt, daß der Diffe- 
rentialgleichung für f genügt wird. Ist auf diese Weise f bestimmt, 
so ist die elektrische und thermische Leitfähigkeit in der üblichen 
Weise durch Berechnung des mittleren Ladungs- bzw. Energieflusses 
zu finden, wofür die Endformeln je nach der Form des Kraftgesetzes 
zwischen den Elektronen und Metallatomen verschieden ausfallen, für 
den Fall elastischer Stöße jedoch mit den von Lorentz übereinstimmen. 
Bemerkenswert ist, daß im allgemeinen der Temperaturkoeffizient im 


800 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Gesetz von Wiedemann und Franz®?) keine absolute Konstante ist, 
sondern individuelle Eigenschaften des betreffenden Metalls und im- 
plizite die Temperatur enthält. 

In mancher Beziehung tiefer geht noch die Untersuchung von 
Lorentz; sie gibt eine Darstellung der notwendigen Voraussetzungen 
einer kinetischen Theorie und zeigt, unter welchen sehr allgemeinen 
Annahmen die thermoelektrischen Größen den bekannten thermodyna- 
mischen Beziehungen genügen. 

Endlich sei hier noch auf die Untersuchung von Reinganum hin- 
gewiesen, die nach verschiedenen Richtungen hin die statistische Seite 
des Problems klärt. Das von Lorentz gefundene Verteilungsgesetz 
vergleicht Reinganum mit dem Verteilungsgesetz, wie es aus einer 
direkten Übertragung der Stefanschen Diffusionstheorie auf die Elek- 
tronen in einem Metall folgt. Man kann nämlich die Bewegung der- 
selben auffassen als die Bewegung eines Gases aus Molekülen von 
sehr kleiner Masse durch ein Gas aus Molekülen von relativ dazu 
sehr großer Masse und die hierfür aus der Gastheorie folgenden For- 
meln in hypothetischer Weise übertragen auf die Verhältnisse im 
Metall. Die Resultate, z. B. die Formeln für die elektrische Leitfähig- 
keit, weichen im Zahlenfaktor etwas von den Resultaten der Lorentz- 
schen Theorie ab und führen auch zu einem anderen Verteilungs- 
gesetz, obwohl die Mechanik der Stöße (elastische Reflexion an den 
Metallatomen ohne direkte Energieübertragung) in beiden genau die- 
selbe ist. Ein prinzipieller Unterschied besteht nur insofern, als die 
Diffusionstheorie auch die Stöße der Moleküle derselben Gasart unter- 
einander berücksichtigt, während die Lorentzsche Theorie nur die 
Stöße der Moleküle der einen Art mit denen der anderen Art in 
Rechnung zieht oder, mit anderen Worten, annimmt, daß die ersteren 
Stöße die der Lorentzeschen Theorie eigentümliche Verteilung nicht 
ändern. Reinganum schließt hier die Vermutung an, daß ein Einfluß 
der Zusammenstöße zwischen den Elektronen auf die Verteilung diese 
wohl in dem Sinne der Diffusiontheorie ändern müßte. 

Da nun bei Lorentz die Elektronen weder miteinander zusammen- 
stoßen noch auch bei den Stößen gegen die Metallatome ihre Energie 
der Größe nach ändern, so ist zunächst, wie Reinganum bemerkt, 
die Entstehung Joulescher Wärme unverständlich und sogar nicht 
zu verstehen, wie überhaupt eine bestimmte von der Temperatur 
abhängige Geschwindigkeitsverteilung zustande kommt; auch der Me- 
chanismus der Wärmeleitung bedarf physikalisch von diesem Ge- 


32) Man vgl. auch D. Enskog, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 539. 


8. Ergänzungen und Erweiterungen. 801 


sichtspunkte aus einer Erläuterung. Die erstgenannte Schwierig- 
keit erledigt sich mathematisch dadurch, daß die durch eine elek- 
trische Kraft erzeugte gerichtete Komponente der Elektronenbewegung 
durch die Stöße in ungerichtete, mit einer Temperaturerhöhung äqui- 
valente Bewegung übergeführt wird, physikalisch natürlich auch da- 
durch, daß die Voraussetzungen der Theorie in Wirklichkeit nicht 
strenge erfüllt sind.) Im Zusammenhang mit dem zweiten der oben- 
genannten Punkte diskutiert Reinganum die Frage, ob nicht im Rah- 
men der Lorentzschen Theorie neben einem Transport von kinetischer 
Energie im Wärmestrom noch ein solcher von potentieller Energie 
stattfindet, welcher geeignet wäre, den zahlenmäßigen Unterschied 
zwischen Theorie und Erfahrung zu verkleinern. Die diesbezüglichen 
Überlegungen Reinganums schließen an das bekannte hydrostatische 
Paradoxon der kinetischen Gastheorie und basieren auf folgendem 
Grundgedanken. Wenn ein Gas unter dem Einfluß einer äußeren 
Kraft X sich im nicht isothermen hydrostatischen Gleichgewicht be- 
findet, so leistet die äußere Kraft keinen Wärmetransport, wenn die 
Dichte und die Temperatur so variieren, daß 

1 d 5 A dh . 
ae “rnlae Ent 
während nach dem Ansatz von Lorentz für die Wärmeleitung ohne 
Strom die analoge Beziehung lautet 

2 da A dh 
(ash) ER N 
Die Differenz dieser beiden Kräfte könnte nach Reinganum nun dazu 
dienen, den Elektronen Energie zu erteilen und dadurch die Tempe- 
ratur zu erhöhen. Resultieren würde eine Erhöhung des (berechneten) 
Wärmeleitvermögens, wie sie z. B. durch den beobachteten Zahlen- 
wert des Koeffizienten im Wiedemann-Franzschen Gesetz gefordert 
wird (Nr. 9). 

Größere Bedeutung als den mehr formalen statistischen Erweite- 
rungen der ursprünglichen Theorie wird man den Erweiterungen der 
physikalischen Grundlagen zuschreiben müssen und an sie die Hoff- 
nung knüpfen können, die Ergebnisse der Theorie mit der Erfahrung 
weiter auszusöhnen. In erster Linie wird man daran denken, die Pro- 
zesse der Dissoziationen und Absorption und die Mechanik der Stöße 
einer genaueren Analyse zu unterziehen. In gewissem Sinne hat eine 
solche Analyse bereits Lorentz selbst in seinem mehrfach genannten 
Wolfskehl-Vortrag vorgenommen. Wirklich in Rechnung gesetzt hat 


33) Vgl. auch E. Riecke, Phys. Ztschr. 10 (1910), p, 511. 


802 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


aber die physikalische Sachlage wenigstens in gewissem Maße Gru- 
ner”), allerdings unter Zuhilfenahme einer Reihe von recht künst- 
lichen Hypothesen, die jedoch in einer Überarbeitung sich weitgehend 
vereinfachen ließen. 

Die grundsätzliche Neuerung in dieser zweiten Fassung der Theorie 
besteht darin, neben den neutralen Metallatomen noch eine weitere 
Gattung zu betrachten, nämlich die positiven Restatome; die Stöße 
zwischen den letzteren und den Elektronen werden als vollkommen 
elastisch angesetzt, zwischen den neutralen Atomen und den Elektronen 
aber die Gesetze des elastischen Stoßes nur unterhalb eines Grenz- 
wertes @ der Relativgeschwindigkeit als gültig betrachtet, oberhalb 
der Grenzgeschwindigkeit aber ungehinderte Durchquerung voraus- 
gesetzt. Dadurch findet in der Tat wenigstens eine erste Annäherung 
an die Verhältnisse statt, wie sie auf Grund der experimentellen Be- 
funde an Kathodenstrahlen®®) zu erwarten sind und zur Grundlage 
einer physikalisch befriedigenden Theorie gemacht werden müßten. 
Enthält das Metall bei der Temperatur 7 N, neutrale und N, posi- 
tive Metallatome in der Volumeinheit, ferner n= N, Elektronen, 
sind dre Wirkungssphären der beiden Atomarten R, und R, und ist 
allgemein 
(26) Ey 





= o(T), 


wobei ®(0)=0 ist und mit 7 ständig wächst, so kann man wie 
bei Lorentz ein Verteilungsgesetz und aus diesem die Lorenteschen 
Größen W und v finden. Die daraus resultierenden Ausdrücke für 
die elektrische und thermische Leitfähigkeit, die thermoelektrischen 
Größen usw. enthalten natürlich alle die noch unbekannte Funktion ®. 
Für N=0, ®= oo gehen die Formeln über in die der Lorentz- 
schen Theorie. 
Andere Möglichkeiten einer Erweiterung der klassischen Elek- 
tronentheorie endlich haben bereits Riecke, Drude und Lorentz selbst 
versucht, nämlich die Annahme von mehr als einer Trägergattung; 
Lorentz ist dabei aber auf die bedenklichsten Schwierigkeiten bezüg- 
lich des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik gestoßen.?®) — Auch 


34) P. Gruner, Verh. d. deutsch. phys. Gesellsch. 10 (1908), p. 509; Phys. 
Ztschr. 10 (1909), p. 48. 

35) In Betracht kommen hier in erster Linie die zahlreichen Arbeiten 
Lenards und seiner Schule, die zusammengefaßt sind in Heidelberger Akad. 1918, 
Nr. 5. Vgl. ferner P. Lenard, Ann. Phys. 40 (1913), p. 593; 41 (1913), p. 53; 
60 (1919), p. 329; 61 (1920), p. 665. 

36) Vgl. auch H. A. Lorentz, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 4 (1907), p. 125. 





9. Gesetz von Wiedemann u. Franz; Temperaturkoef. des elektr. Leitvermögens. 803 


eine ergiebige Durchbildung einer weiteren Möglichkeit, nämlich der 
Unterscheidung von freien und halbfreien oder lose gebundenen Elek- 
tronen, liegt bisher noch nicht vor.) 


II. Anwendungen und Folgerungen der gaskinetischen 
Theorie. 


9. Das Gesetz von Wiedemann und Franz; Tomperaturkoeffi- 
zient des elektrischen Leitvermögens. a) Als der schönste Erfolg 
der gaskinetischen Theorien wird die Ableitung des Gesetzes von 
Wiedemann und Franz betrachtet, so daß ein eingehender Vergleich 
mit der Erfahrung hier wünschenswert erscheint. Für das Verhältnis 
der thermischen zur elektrischen Leitfähigkeit liefern die einzelnen in 
Abschnitt I behandelten Theorien die folgenden Ausdrücke, die noch- 
mals zusammengestellt seien: 





Riecke (Wärmeleitfähigkeit mit Strom) (*) T(1+3BN), 

Riecke (Wärmeleitfähigkeit ohne Strom) s(£) za+3 3ßT)(l1-+on), 
Drude®®) - (<) 2, 

Lorentz, Debye s(£ ’T f 
Bohr, Livens (Zentralkräfte wie r””) * 5 > 2 (=) T, 

Gruner (Grenzspannung @) Saar (Er - f(G,T). 


Setzt man in diesen Formeln für — den Wert 1,29 - 10% ein, der 
sich mit großer Genauigkeit aus der Gaskonstante und dem elektro- 
chemischen Äquivalent bestimmen läßt, so erhält man für — . -. wo 


die Leitfähigkeit nun elektromagnetisch zu messen ist, nach Riecke I 
(für = 0) 2,51 - 10%, nach Drude 2,27 . 10° und nach Lorentz (bzw. 
nach Bohr für n = oo) 1,49. 10° für alle Metalle. Zunächst ist mit 
diesem Ergebnisse die Erfahrung zu vergleichen, und zwar wird dies 
nach drei Richtungen hin zu geschehen haben, nämlich: a) bezüglich 


37) M. Reinganum, Verh. d. deutsch. phys. Gesellsch. 1906, p. 593; R. Gans, 
Ann. d. Phys. 20 (1906), p. 324; H.A. Lorentz, Wolfskehl-Vortrag, Göttingen 1914, 
p. 171; J. Königsberger u. J. Weiß, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 1. 

38) Vgl. jedoch die Bemerkung hierzu in Fußn. 16); nach Korrektion 
würde der Faktor $ folgen. 


804 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


der numerischen Größe®?), b) der Konstanz bei allen Metallen, e) be- 
züglich der Konstanz mit der Temperatur (Lorenzsche Regel). Wäh- 
rend bei tiefen Temperaturen nach keiner der drei Richtungen Über- 
einstimmung mit der Erfahrung vorhanden ist, scheint mit steigender 
Temperatur eine Annäherung an die theoretischen Verhältnisse statt- 


zufinden, insofern wenigstens, als für alle Metalle — . n demselben 


konstanten Wert von etwa 2,4 - 10° zustrebt, der also zwischen den 
von Riecke und Drude errechneten und überraschenderweise am wei- 
testen entfernt von dem Lorentzschen nach den strengsten Methoden 
erhaltenen Wert liegt. Im übrigen zeigen die einzelnen Metalle so- 


wohl hinsichtlich der Größe von — . n ein individuelles Verhalten 


(geben aber im Mittel immerhin Werte, die sich nicht weit von den 
theoretischen Werten Rieckes und Drudes entfernen), als auch Abwei- 
chungen, und zwar wiederum spezifischer Art von der Lorenzschen 
Regel (doch ist auch hier. die Größenordnung unverkennbar in recht 
guter Übereinstimmung mit der Temperatur). 

Dieses, wenn auch nicht sehr ausgeprägte, so doch deutliche in- 
dividuelle Verhalten, das in den Formeln von Drude und Lorentz, die 
nur universelle Konstanten enthalten, natürlich nicht zum Ausdruck 
kommen kann, läßt sich deuten unter der Annahme einer Teilchen- 
gattung (Elektronen) nach der Theorie von Riecke mit == 0, aller- 
dings nur, wenn die Teilchendichte sehr stark von der Temperatur 
abhängt und mit steigender Temperatur abnimmt, ferner in gewissem 
Umfang nach der Formel von Bohr und der von Gruner. Die Bohr- 
sche Gleichung ist unter diesen formal insofern am wenigsten an- 
schmiegungsfähig, als sie zwar für das Leitfähigkeitsverhältnis von 
Fall zu Fall durch geeignete Wahl des Kraftexponenten n die beob- 
achteten Werte erzwingen läßt — die beste Übereinstimmung mit dem 
Mittelwert der beobachteten Werte ließe sich übrigens durch n = 3 
in Übereinstimmung mit der Thomsonschen Dublettvorstellung (Nr. 18) 
erreichen — aber die Abweichungen von der Lorenzschen Regel nur 
gezwungen zu deuten erlaubt. Die verschiedenen Möglichkeiten, die 
sich aus der allgemeineren Grundlage seiner Theorie (und z. B. den 
daraus fließenden Formeln (22a) und (23a)) ergeben müßten, hat 
Bohr ausführlicher diskutiert und teils größere Werte, teils kleinere 





39) Zahlenangaben wie überhaupt das empirische Material sind ausführlich 
gegeben bei K. Baedecker, Elektr. Ersch. in Metallen, p. 52ff., und bei J.J. Thom- 
son, Corpsth. der Mat., p. 56. Besonders hingewiesen sei auf die schöne und ein- 
gehende Diskussion der Sachlag in der Diss. von N. Bohr. 


9. Gesetz von Wiedemann u. Franz; Temperaturkoef. des elektr. Leitvermögens. 805 


als den Lorentzschen je nach Maßgabe der nun im einzelnen zugrunde 
gelegten Annnahmen erhalten; jedenfalls wird man, im Gegensatz 
z. B. zu Deöye (vgl. p. 794), die Möglichkeit nicht verneinen dürfen, 
wenigstens bezüglich des numerischen Wertes des Leitfähigkeitsver- 
hältnisses und wie es scheint zwangloser als bezüglich der Lorenz- 
schen Regel (und mehr noch des Temperaturkoeffizienten der elek- 
trischen Leitfähigkeit), die Bohrsche Theorie der Erfahrung anzu- 
schließen. Gruners Formel ist, wenigstens unter gewissen Voraus- 
setzungen, in der Lage, formal die notwendigen Korrektionen zu 
erzielen; man wird aber vorerst vielmehr umgekehrt die Größe des 
Korrektionsgliedes numerisch aus der Erfahrung ableiten müssen, 
ohne dabei eine wesentliche Vertiefung der Deutung desselben er- 
reichen zu können. Die Theorie von Drude gibt Abweichungen vom 
universellen Gesetz nur unter der Annahme von mindestens zwei Teil- 
chenarten; wie Drude gezeigt hat, werden die Abweichungen um so 
größer, je weniger die Einzelleitfähigkeiten der einzelnen Teilchen- 
guttungen voneinander verschieden sind. Sind für zwei Gattungen 


die Einzelleitfähiffkeiten 6, und o,, so kann man nämlich — in der 
Form schreiben) 
4 


ee Ma Su | 
(@ia) Ps a) a 
Es ist diese Formel auch insofern bemerkenswert, als sie aus Mes- 


% m . [02 . 
sungen von — das Verhältnis — zu berechnen erlaubt, das sich an- 
6 6, ® 


dererseits auch aus dem optischen Verhalten annähernd herleiten 
läßt. *!) 

Es ist nun selbstverständlich, daß man bei dieser Lage der Dinge 
nach noch anderen physikalisch vielleicht befriedigenderen Erklärungen 
für diese Diskrepanz zwischen Theorie und Erfahrung gesucht hat. 
In erster Linie wird man an eine Mitwirkung der Metallatome bei 
der Wärmeleitung denken®?), da diese ohne Transport von Materie 
möglich ist und außerdem auch Isolatoren thermische Leitfähigkeit 
zeigen. Man muß dann von dem beobachteten Wert von x den 
von den Atomen herrührenden Teil abziehen, d.h. man müßte er- 
warten, daß der theoretische Wert stets kleiner ist als der experi- 
mentell gefundene, und von diesem Standpunkt aus erscheint die 
größte Abweichung zwischen Theorie und Erfahrung bei der Theorie 
von Lorentz und Debye nun gerade als Stütze dieser Theorien. Bei 





40) P. Drirde, 1. c. p. 583. 
41) P. Drude, Phys. Ztschr. 1 (1900), p. 161. 
42) P. Debye, 1. c. p. 487; J. Königsberger, Phys. Ztschr. 8 (1907), p. 237. 


806 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


näherer Betrachtung treten aber auch diesem Ausweg die bedenklich- 
sten Hindernisse entgegen; wie Reinganum®?) bemerkt, müßte man 
nämlich für die Wärmeleitung der Isolatoren einen Wert annehmen, 
der etwa ein Drittel des Wertes für Silber beträgt. Auch die Heran- 
ziehung des Wärmeaustausches durch innere Strahlung reicht“*) selbst 
der Größenordnung nach nicht aus, die Lorentzsche Theorie quanti- 
tativ der Erfahrung anzuschließen, so daß hier in der Tat eine wesent- 
liche Lücke der Theorie vorhanden ist. Einen anderen Vorschlag 
unter Heranziehung der Magnetisierungselektronen zum Wärmeaus- 
tausch hat Reinganum®?) anläßlich der Feststellung eines Zusammen- 


hanges von — mit dem Atomgewicht und den magnetischen Eigen- 


schaften gemacht. 

b) Von fundamentaler Wichtigkeit für die Kritik der gaskine- 
tischen Ansätze ist nun noch ein zweiter Punkt, nämlich der Tempe- 
raturkoeffizient des elektrischen Leitvermögens. Alle besprochenen 
Theorien geben das elektrische Leitvermögen proportional der Dichte 
N der freien Elektronen, der freien Weglänge !, der mittleren Ge- 
schwindigkeit % und umgekehrt proportional der absoluten Tempe- 
ratur 7. Setzt man « proportional YT, so wird also 


1 
(27a) oprop. NI-T ?. 

Die Messungen“) ergeben im Gebiet von den höchsten Tempe- 
raturen herab bis etwa zur Temperatur der flüssigen Luft das soge- 
nannte Gesetz von Clausius, nämlich Proportionalität mit 7’-!, das 
recht genau gilt; der Temperaturkoeffizient des spez. Widerstandes 
ist merkwürdigerweise nahezu gleich dem reziproken Ausdehnungs- 
koeffizienten der Gase. Um also Theorie und Erfahrung in Überein- 
stimmung zu bringen, müßte man eine beträchtliche Abhängigkeit von 
N oder ! oder nahezu Unabhängigkeit von N/u von der Temperatur 
annehmen. (Auch die erweiterte Theorie von Debye (p. 794) gibt ohne 
Hilfsannahmen nicht die beobachtete Abhängigkeit.) Da man füglich 
wird annehmen müssen, daß N mit steigender Temperatur zunimmt, 
so lassen sich alle Theorien mit der Erfahrung nur in Übereinstim- 
mung bringen, wenn die freie Weglänge mit steigender Temperatur 
abnimmt. Näheres über diesen Punkt ist zusammengestellt in den 


43) M. Reinganum, Heidelberger Akad. 1911, Abh. 10, p. 18. 

44) M. Reinganum, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 355, 645; 11 (1910), p. 673; 
E. Riecke, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 3 (1916), p. 34. 

45) M. Reinganum, Verh. d. deutsch. phys. Gesellsch. 8 (1906), p. 1593; Phys. 
Ztschr. 7 (1906), p. 787. 

46) Literatur bei K. Baedecker, 1. ce. p. 21 ff. 


10. Thermoelektrische Effekte. Voltaeffekt. 807 


Nr. 14 und 17 und, soweit die Verhältnisse bei tiefsten Tempera- 
turen‘?) schon hereinspielen, hauptsächlich im Abschnitt IV. 


10. Thermoelektrische Effekte. Voltaeffekt. Die enge Beziehung 
zwischen Wärmeleitung und Elektrizitätsleitung, die im Wiedemann- 
Franzschen Gesetz bereits unmittelbar hervortritt, zeigt sich nun 
weiterhin in besonders anschaulicher Weise in der Deutung der 
thermoelektrischen Effekte durch die kinetischen Theorien, wenn auch 
hier die Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit bei der Durchführung 
derselben im einzelnen bereits etwas verloren geht. Bezüglich des 
Voltaeffektes ist hier und insbesondere auch in Nr. 14 und 15 zu 
beachten, daß die übliche und deshalb auch in diesem Artikel über- 
nommene Bezeichnung „Voltaeffekt“ sich stets bezieht auf den reinen 
Metalleffekt, seien nun zwei Metalle in unmittelbarem Kontakt oder 
im Vakuum sich frei gegenüberstehend, und daß diese aus der 
Theorie folgende Potentialdifferenz zwischen den beiden Metallen mit 
der in vielen unreinen Versuchen und auch im sog. Voltaschen Fun- 
damentalversuch auftretenden nichts zu tun hat. Diese letztere ist 
vielmehr eine elektrochemische Erscheinung der auf Metalloberflächen 
stets vorhandenen Flüssigkeitshaut und 1000 bis 10000 mal größer 
als jene, die hier gemeinte in reiner Form dagegen wohl überhaupt 
noch nicht untersucht. (Vgl. dazu Schottky, Verh. d. deutsch. Phys. Ges. 
16 (1914), p. 482.) Sieht man ab von den rein thermodynamischen 
Theorien der genannten Effekte*?) und gewissen, zunächst mehr sche- 
matischen Überlegungen“) und hält streng fest an der rein kine- 
tischen Auffassungsweise, so lassen sich in ihren physikalischen Grund- 
lagen die drei thermoelektrischen Effekte — Seebeckeffekt, Peltier- 
effekt und Thomsoneffekt — verstehen auf Grund der alten Kohl- 
rauschschen Mitführungstheorie°®), und dieneueren kinetischen Theorien 
erscheinen im wesentlichen als eine exakte Durchführung derselben.’!) 
Da nach der Mitführungstheorie jeder Wärmestrom mit .einem elek- 
trischen Strom verbunden ist, kann man die Entstehung des letzteren 


47) Die experimentelle Literatur ist vollständig gesammelt in zwei Be- 
richten von J. Clay, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 8 (1911), p. 383 und W. Meisner, 
ebd. 17 (1921), p. 229. 

48) Zusammenfassende Darstellungen bei K. Baedecker. Graetz, Handb. d. 
Elektr. u. d. Magnet. 1, p. 699 ff.; P. Cermak, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 8 (1911), 
p. 241. 

49) Z.B. L. Benedicks, Ann. d. Phys. 55 (1918), p. 137. 

50) F. Kohlrausch, Pogg. Ann. 152 (1875), p. 601; E. Riecke, Aun. d. Phys. 
66 (1898), p. 381 ff. 

51) Vgl. die phänomenologische Darstellung von H. A. Lorentz, Wolfskehl- 
Vorträge, Göttingen 1914, p. 174ff. 


808 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


so: auffassen, daß in jedem von einem Wärmestrom durchflossenen 
Volumelement eines Metalls eine elektromotorische Kraft erzeugt wird, 
und gelangt dann durch Summation über diese elementaren elektro- 
motorischen Kräfte zu der thermoelektrischen Kraft eines Kreises. Da 
ferner jeder elektrische Strom von einem Wärmestrom begleitet ist, 
erhält man wegen der Verschiedenheit des Mitführungskoeffizienten 
in verschiedenen Metallen unmittelbar eine Wärmeabsorption in. der 
Grenze zweier Metalle, d. h. den Peltiereffekt; und endlich erhält man 
den Thomsoneffekt durch Verbindung dieser beiden Überlegungen 
unter Einführung der Gefällkraft®®) in einem homogenen ungleich 
temperierten Leiter. 

Wenn so zwar die Untersuchung zwanglos angeschlossen werden 
kann an die Mitführungstheorie und alle bei der Durchrechnung auf- 
tretenden Formeln in diesem Sinn gedeutet werden können, so ist es 
doch im Interesse der kinetischen Theorien, diese von allem phäno- 
menologischen Beiwerk zu befreien. In diesem Sinne ist es ange- 
bracht, nicht von dem Gedanken der Mitführung auszugehen, sondern 
als das Wesentliche die rein kinetische Diffusion der Ladungsträger 
als Ausgangspunkt zu wählen.?) Man erreicht so zugleich, daß nun 
die Erscheinung des Voltaeffekts physikalisch sich den thermoelek- 
trischen Effekten beiordnet. Von diesem Gesichtspunkt aus sind das 
Primäre Diffusionsströme der freien Ladungsträger in dem thermisch 
oder chemisch inhomogenen Leiter, die im stationären Endzustand 
kompensiert werden durch entgegengesetzte Ströme infolge der ent- 
stehenden Potentialdifferenz (Thermo- bzw. Voltakräfte), und Ansätze 
für die Arbeit der inneren elektrischen Kräfte an den Ladungsträgern 
führen dann weiter zum Peltier- und Thomsoneffekt. Endlich ist noch 
eine dritte Möglichkeit denkbar, die Verhältnisse zu betrachten, die 
zwar nicht in demselben Maß wie die eben erwähnten Diffusions- 
theorien alle nicht rein kinetischen Elemente vermeidet, aber doch 
den Anschluß an die Vorstellungen der Gastheorie sehr weitgehend, 
in gewisser Beziehung sogar noch ausgeprägter zum Ausdruck bringt. 
Es gehören hierher alle Theorien, welche die Elektronen in Leitern 
wie ein ideales Gas behandeln, diesem Elektronengas einen bestimmten 
Druck zuschreiben und mit ihm thermodynamisch operieren... Wir 
werden darauf in Nr. 14 und 15 zurückkommen.t) 


52) H. Hörig, Phys. Ztschr. 15 (1914), p. 388; dort weitere Literatur. 

53) Es kommen hier vor allem in Betracht die früher erwähnten Theorien 
von Drude, Lorentz, Bohr usw. Eine zusammenfassende Diskussion bei a Kung; 
Phil. Mag. 16 (1908), p. 767. 

54) In gewisser Beziehung gehört hierher auch die Theorie; von Debye. 


10. Thermoelektrische Effekte. Voltaeflekt. 309 


Auf die Einzelheiten der verschiedenen Theorien kann hier nicht 
eingegangen werden; es sei vielmehr nur die eleganteste und allge- 
meinste Formulierung kurz besprochen, die Lorentz, a. a. O., den Eut- 
wicklungen gegeben hat und die, für den Fall wenigstens, daß nur 
Elektronen am Ladungs- und Energietransport beteiligt sind, das 
Wesentliche des Gedankenganges klar erkennen lassen. Ausgehend 
von Gleichung (15) für den Elektronenfluß erhält man, wenn man 
allgemein noch die potentielle Energie V der Elektronen gegen das 
Metallatom mit berücksichtigt und demgemäß die Kraft X zusammen- 
gesetzt denkt aus zwei Teilen 


(283) a 
für den durch v—= 0 gegebenen stationären Zustand durch Integra- 
tion längs des Leiterkreises die Integralbeziehung 

1 

1 m /1 1 m fi dinA 
2) .-9.- mn N)+Fl, 5) fr Te rdeh, 
2 

aus welcher sofort die speziellen Fälle abzulesen sind: 

1. Temperatur d. h. } konstant; Voltaeffekt. 

2. Chemisch-homogener Kreis, A Funktion von hallein; Gefällkraft. 

3. Kreis aus den Metallen aba, Temperatur der Berührungsstelle 
(ab) etwa 7,, der Berührungsstelle (ba) etwa 7,; Thermoeffekt. 

4. Der Peltier- und Thomsoneffekt ergeben sich durch Berech- 
nung der in einem Volumelement dx - & entwickelten Wärme, wenn 
durch die Endflächen derselben der Strom ö fließt. Ist w die Arbeit 
der elektrischen Kräfte an den Elektronen (in diesem Element), W- 
der Wärmefluß durch die Endflächen, so ist die entwickelte Wärme 


(302) a=w— L.(W- Z)da, 
worin in der bisherigen Bezeichnung ist 

miX. 1 dinA da 1 ei 
80) vwd; Seo +6#) + 


Damit zerfällt q in drei Teile, von denen einer unabhängig vom Strom 
ist (reine Wärmeleitung) und ein zweiter proportional dem Quadrat 
des Stromes (Joulewärme), die beide nicht weiter interessieren. Ein 
‚dritter Teil ist proportional der ersten Potenz von ö und hat die Form 


; din A 
(30e) = eh gr de 


Für den speziellen Fall, daß im Element dz-& der Übergang von 
einem Metall zu einem anderen liegt, die Temperatur aber konstant 


ist, gelangt man daraus sofort zum Peltiereffekt, für den speziellen 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 53 





810 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Fall, daß andererseits die Temperatur im Element dz-£ um d7 sich 
ändert, die chemische Natur des Metalls aber ungeändert bleibt zum 
Thomsoneffekt. 

Nur auf eine von J.J. Thomson°?) herrührende Ableitung der 
Thomsonwärme sei noch besonders hingewiesen, weil sie den für die 
Kritik der gaskinetischen Theorie wichtigen Zusammenhang (vgl. p. 853) 
zwischen der Thomsonwärme und der spezifischen Wärme der Elek- 
tronen besonders deutlich hervortreten läßt. Thomson schreibt den 
Elektronen im Metall denselben Druck wie einem Gas bei derselben 
Temperatur zu und findet zunächst aus der Betrachtung des Elek- 
tronenenflusses im Druckgefälle eines ungleich temperierten linearen 
Leiters, in welchem zugleich ein Strom ö fließt, für das mechanische 
Äquivalent der Wärme, die dem Metall durch die Elektronen zwischen 
zwei Stellen mit der Temperatur 7 und 7T+ dT zugeführt wird, 
(31) "(a3 Hz7(eNT))- 

Ist nun @ die „spezifische Wärme“ der Elektronen, so muB diese- 
Energie gleich sein — iQdT, woraus für Q, d. h. also für die Thomson- 
wärme, der Ausdruck folgt: 
(31a) 9=-;+ 
Auch Herzfeld°®) hat den Ausdrücken für Q eine sehr anschauliche 
Form dadurch gegeben, daß er die Energie E der Elektronen expli- 
zite einführte, nämlich: 


d WR; 
T zu (NT°%). 


E0lnN 
(81%) 9-lar- Prien) 
ne der Faktor ß nach Drude den Wert $%, nach Lorentz den Wert 
hat 
% hat. 


Die Ergebnisse aller Theorien im einzelnen hier aufzuführen, 
würde zu weit führen, um so mehr, als eine direkte quantitative 
Prüfung der Endformeln durch einen Vergleich mit der Erfahrung 
nicht möglich ist, weil in denselben die unbekannten Trägerkon- 
zentrationen auftreten; man wird vielmehr mit Hilfe dieser Formeln 
und des empirischen Materials die Trägerkonzentrationen zu ermit- 
teln suchen. Andererseits kann man aus einigen qualitativen Schlüs- 
sen einen Anhalt für die prinzipielle Richtigkeit und Vollständig- 
keit der theoretischen Grundlage gewinnen. Die Übereinstimmung 
mit den Ergebnissen der thermodynamischen Theorie, an die man 


55) J. J. Thomson, Corpusculartheorie der Materie, p. 75 ff. 
56) K. Herzfeld, Ann. d. Phys. 41 (1913), p. 27. 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte, 81l 


zunächst denken könnte?”), ist für die Formel von Lorentz von 
selbst erfüllt, z. B. für die von Drude durch plausible Annahmen zu 
erzwingen, wenngleich hierauf wegen der bekannten Reiersibilitäts- 
fragen nicht soviel Gewicht zu legen ist. Ausführlich findet man 
diese Fragen diskutiert in der Arbeit von Bohr (Nr. 7), wo die wich- 
tigsten diesbezüglichen Untersuchungen sowohl auf seiten der Elek- 
tronentheorie wie auf seiten der Thermodynamik kritisch besprochen 
sind. Die Ausführungen Bohrs scheinen wegen der großen Allgemein- 
heit seiner Voraussetzungen besonders bemerkenswert und umfassen 
bei geeigneter Spezialisierung natürlich auch die übrigen Theorien. 
Wichtiger ist, daß gewisse allgemeine Sätze, wie z. B. der von der 
thermoelektrischen Spannungsreihe, des Gesetzes von Magnus®®) usw., 
durch die Formeln erfüllt sind. Dem stehen nun aber bedenkliche 
Mängel gegenüber, die gerade zum Teil die Erweiterungen der rein 
kinetischen Theorie veranlaßt haben. Am bedenklichsten scheint 
neben der Stetigkeit der Thermokräfte beim Durchgang durch den 
Schmelzpunkt, aus welcher nach den obigen Formeln Stetigkeit der 
Kernkonzentrationen folgen würde, und dem in allen Theorien zu 
großen Wert der Thomsonwärme (vgl. Nr. 17) das merkwürdige Ver- 
halten gewisser Halbleiter in thermoelektrischer Beziehung zu sein. 
Von diesen geben einige sehr große Thermokräfte, z. B. gegen Kupfer, 
so daß man teils sehr große, teils sehr kleine Elektronenkonzentra- 
tionen im Vergleich zu der im Kupfer annehmen müßte. Auch die 
von Baedecker (a. a. 0. Fußn. 48) vermerkte Unmöglichkeit, auf Grund 
der bisher behandelten Theorien das anisotrope thermoelektrische Ver- 
halten mancher Kristalle zu verstehen, wird man hierher zählen dürfen, 
ebenso wie vielleicht die beträchtlichen Unterschiede zwischen den von 
Hörig (Fußn. 52) gemessenen und den theoretisch zu erwartenden 
elektromotorischen Kräften im Temperaturgefälle bei chemisch-homo- 
genem Material. Eine zusammenfassende Kritık kann erst später (Ab- 
schnitt III und IV) erfolgen. 


ll. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte.) 
Eine ganz wesentliche Vertiefung erfährt nun die Kenutnis der Elek- 


57) L. Cermak, Fußn. 48); H. A. Lorentz, Wolfskehl-Vorträge, Göttingen 1914, 
p. 178 ff., insbes. p. 188, 

58) Die Frage nach der Gültigkeit dieses Gesetzes ist allerdings durch 
neuere Untersuchungen von Benedicks, Paris C. R. 163 (1916), p. 751; 165 (1917), 
p. 391, 425; Ann. d. Phys. 55 (1918), p. 1, 103, wieder aktuell geworden. Vgl. 
dazu jedoch H. Haager u. F.Zernicke, Ann. d. Phys. 61 (1920), p. 753. 

59) Zusammenfassende Darstellungen bei Baedecker (Fußn. 39) und H. Zahn, 
Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 5 (1908), p. 166, besonders aber bei .P. Suter (Fußn. 4), 

53* 


812 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


trizitäts- und Wärmeleitung in Metallen durch einen Komplex von 
Erscheinungen, die man gewöhnlich unter der als Überschrift dieses 
Abschnitts dienenden Bezeichnung zusammenfaßt und die sich charak- 
terisieren lassen als eine Beeinflussung des Ladungs- und Wärme- 
transports durch ein äußeres magnetisches Feld. Neben einer ganz 
allgemein auftretenden Modifikation aller elektrischen und thermischen 
Eigenschaften eines Leiters zeigt sich nämlich eine Reihe neuartiger 
Erscheinungen, die durch die Vektornatur des magnetischen Feldes 
bedingt sind: Es treten in einem magnetischen Feld, das senkrecht 
zum Leiter gerichtet ist, auch transversale Wirkungen auf, d. h. 
solche, die senkrecht auf der Richtung der magnetischen Kraftlinien 
stehen. Im einzelnen lassen sich hierher gehörende Effekte, von denen 
im ganzen acht zu erwarten und auch in der Tat beobachtet wenn 
auch nur zum Teil genauer experimentell untersucht sind, in ein ein- 
faches geometrisches Schema einreihen. Gemeinsames Kennzeichen ist 
das Auftreten eines elektrischen Stromes (Potentialdifferenz) oder 
eines Wärmestromes (Temperaturdifferenz) im transversalen Magnet- 
feld innerhalb eines Leiters, in welchem ein elektrischer Strom oder 
Wärmestrom fließt. Zur Bezeichnungsweise sei bemerkt, daß man 
den Effekt (in also nicht eindeutiger Weise) als galvano- oder thermo- 
magnetischen bezeichnet, wenn der primäre Strom ein elektrischer 
oder ein Wärmestrom ist, und daß man ihn als transversal oder longi- 
tudinal bezeichnet, wenn primärer Strom und sekundärer Effekt senk- 
recht zueinander (und senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien) oder 
in derselben Richtung (und senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien) 
liegen; die einzelnen Effekte werden in der Literatur häufig mit den 
Namen ihrer Entdecker bezeichnet, doch scheint hier der Sprach- 
gebrauch zu schwanken. 

Wir erhalten so die folgende Liste der acht möglichen Effekte 
im transversalen Magnetfeld: 


Transversaleffekte. 


sekundäre Potentialdiff, Transversaler Halleffekt (Hall 1879) 
sekundäre Temperaturdiff. Galvanomagnet. Transversaleffekt 
(v. Ettingshausen 1887) 


sekundäre Potentialdiff. Thermomagnet. Transversaleffekt 


Primär elektr. 
Strom 


Primär- (Nernst u. v. Ettingshausen 1*86) 
Wärmestrom | sekundäre Temperaturdiff. Thermo-Halleffekt (Leduc u. Righi 
arg, Abe: 1887) 


wo eine eingehende Übersicht über den derzeitigen Stand der Forschung mit 
Literaturverzeichnis gegeben ist. Kurze, mehr orientierende Übersichten u. a. 
bei Riecke, Lehrb. d. Physik, Bd. I, und in einer Arbeit von H.Zahn, Ann. d. 
Phys. 14 (1904), 'p. 886. 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 813 


Longitudinaleffekte. 
Primär elektr. ( sekundäre Potentialdiff. Widerstandsänderung im Magnetfeld 

Strom | sekundäre Temperaturdiff. Galvanomagnet. Longitudinaleffekt 

sekundäre Potentialdiff. Thermomagnet. Longitudinaleffekt 
Primär- (Nernst u. v. Ettingshausen 1888) 
Wärmestrom | sekundäre Temperaturdiff. Änderung des Wärmeleitvermögens 
im Magnetfeld (v. Everdingen). 
Als den Koeffizienten dieser Effekte bezeichnet man ihre Größe für 
den Strom 1 und das Feld 1 und hat nun nur noch das Vorzeichen 
des Effekts nach einer Übereinkunft festzulegen, welche die Richtung 
des sekundären Stromes bezüglich der Richtung des magnetischen 
Feldes und der Richtung des primären Stromes, also die positiven 
Achsenrichtungen des rechtwinkligen Systems primärer Strom, sekun- 
därer Strom, Magnetfeld bestimmt. 

Eine Gruppe von Erscheinungen, die bei longitudinaler Magneti- 
sierung (magnetisches Feld parallel der Stromrichtung) auftreten, 
ebenso wie die Beeinflussung der thermoelektrischen Effekte durch 
ein Magnetfeld (Thermoeffekt und Peltiereffekt zwischen nicht magne- 
tisierten und magnetisierten Leitern) ist den obengenannten Effekten 
gegenüber für weitergehende Folgerung zunächst noch von geringerer 
Bedeutung, so daß dieser kurze Hinweis genügen soll. Auch dem sog. 
Corbinoeffekt kommt eine grundsätzliche Bedeutung nicht zu, er kann 
als eine Spezialform des Halleffekts aufgefaßt werden. Die Stellung 
der kinetischen Theorie zu den galvanomagnetischen und thermo- 
magnetischen Effekten — von der phänomenologischen Darstellung 
und teilweisen Verknüpfung der Effekte sowie der thermodynamischen 
Theorie sei auch hier abgesehen — ist in den Grundzügen unmittel- 
bar zu übersehen. Es wird sich physikalisch handeln um die Be- 
einflussung der Bewegung der Ladungsträger durch ein äußeres magne- 
tisches Feld, wie sie in den gröbsten Zügen ohne weiteres in den ge- 
nannten Effekten zutage zutreten und eine sehr erwünschte Bestäti- 
gung der Grundanschauung der kinetischen Theorie zu geben scheint. 
Der exakten Durchführung der diesbezüglichen Rechnungen auf dem 
Boden einer der speziellen Theorien und der Prüfung der Ergeb- 
nisse an der Erfahrung stehen aber erhebliche Schwierigkeiten ent- 
gegen. Teils ‚beruhen diese auf einer formalen Kompliziertheit der 
Durchführung, teils auf der Unmöglichkeit, die einzelnen Effekte rein- 
lich voneinander in der Theorie zu trennen, teils und nicht am wenig- 
sten in dem Mangel an genügend umfangreichen und zuverlässigen 
Beobachtungsdaten. Dazu kommt, daß die Resultate der einzelnen 
Theorien, soweit sie bisher auch auf die genannten Effekte angewandt 


814 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


wurden, in wesentlichen Punkten voneinander abweichen. Nach 
Riecke®®) hängt so z. B. der Hallkoeffizient im wesentlichen von der 
Beweglichkeit der Träger, nach Drude°!) auch noch von der Tempe- 
raturabhängigkeit der Trägerdichten ab, während Lorentz den ganzen 
bier zu behandelnden Komplex in seiner Theorie überhaupt noch 
nicht verarbeitet hatte. Diese Lücke hat Gans‘) zum Teil ausgefüllt 
und die Bewegung der Elektronen im Magnetfeld nach den strengen 
Methoden von Lorentz untersucht, mit dem Ergebnis, daß die Diskre- 
panz zwischen Riecke und Drude sich bei schärferer Fassung der 
äußeren Bedingungen teilweise auflöst und daß sich in den präzisen 
Ansätzen von Lorentz eine Möglichkeit bietet, durch Unterscheidung 
isothermer und adiabatischer Vorgänge die Verhältnisse wesentlich zu 
klären; die Ansätze von Gans-Loreniz wurden dann endlich noch 
verallgemeinert von Livens®), allerdings ohne daß damit an faß- 
baren Resultaten viel gewonnen werden konnte. Endlich hat sich 
auch Bohr®) auf Grund seiner allgemeinsten und deshalb sehr an- 
schmiegungsfähigen Theorie mit den hierher gehörenden Erschei- 
nungen beschäftigt. Abgesehen von dem Nachweis, daß entgegen der 
Behauptung verschiedener anderer Autoren‘) die Gegenwart freier 
Elektronen im Innern eines Metalls weder zu paramagnetischen noch 
zu diamagnetischen Eigenschaften desselben Veranlassung gibt, konnte 
er bezüglich der galvanomagnetischen Effekte die Übereinstimmung 
zwischen Theorie und Erfahrung verbessern. In keiner dieser Theorien 
aber gelingt es, alle Effekte erschöpfend zu deuten durch nur eine 
Trägerart. Es wird dies bereits auf Grund des einfachen physika- 
lischen Bildes der Ablenkung von Corpuscularströmen im Magnetfeld 
verständlich, welche z. B. das bei manchen Metallen positive, bei an- 
deren negative Vorzeichen des Halleffektes unerklärlich erscheinen 
lißt; auch zeigt sich bei der eingehenderen Analyse, daß für den 
Fall nur einer Trägerart die Zahl der verfügbaren Konstanten zu 
klein wird. Über Vorschläge, diese Schwierigkeiten zu beheben, vgl. 


60) E. Riecke, Ann. d. Phys. 66 (1898), p. 559ff. 

61) P. Drude, Ann. d. Phys. 3 (1900), p. 369; vgl. dazu O.Corbino, Phys. 
Ztschr. 12 (1911), p. 842. 

62) R. Gans, Aıun. d. Phys. 20 (1906), p. 293; ergänzt wurde die Ganssche 
Theorie von P. Gruner, Arch. sc. Phys. Nat. Gendve 28 (1909), p. 587; vgl. dazu 
Z. d.-Thullie Krak. Anz. 1912, p. 861. 

63) S. H. Livens, Phil. Mag. 30 (1915), p. 527. 

64) N Bohr, \viss. Kopenhagen 1911. 

65) J.J. Thomson, Congr. d. Phys. 3 (1900), p. 148; W. Voigt, Ann. d. Phys. 
9 (1902), p. 130; P. Langevin, Ann. Chem. Phys. 5 (1905), p. 90; Z. Thullie, Pr. 
Math.-Fiz. Warzava 19 (1908), p. 207. 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 815 


p. 821 dieses Artikels; eine befriedigende Lösung steht jedenfalls zur- 
zeit noch aus. 

Im einzelnen ist zunächst zu den diesbezüglichen Theorien von 
Riecke und Drude folgendes zu bemerken. Riecke kann seine Theorie 
in einfacher Weise sofort anwenden auf die Ableitung der hier in 
Frage kommenden Effekte durch Betrachtung der Wanderung der 
Ladungsträger in einem superponierten elektrischen und magnetischen 
Feld, d. h. unter dem Einfluß zweier Triebkräfte, der elektrischen und 
der im Magnetfeld nach .Biot-Savart hinzukommenden magnetopondero- 
motorischen, wenn er die früher von ihm abgeleiteten Ausdrücke für 
die spezifischen Wanderungs- und Verschiebungsgeschwindigkeiten (Be- 
weglichkeiten) benutzt; in diesen steckt der ganze kinetische Teil der 
Theorie implizite, so daß es sich nun sozusagen nur um eine sach- 
gemäße formale Nutzanwendung handelt. Die Bedingung, daß der 
Zustand stationär ist, liefert dann unmittelbar die gesuchten Formeln 
für die galvanomagnetischen und thermomagnetischen Effekte (behan- 
delt sind übrigens von Riecke nur die Transversaleffekte). In Drudes 
Ableitung ist die Sachlage insofern etwas komplizierter, als die Kon- 
zentrationsänderungen der Träger berücksichtigt werden; infolge der 
Abbiegung der Trägerbahnen entstehen Konzentrationsgefälle der 
Träger, welehe ihrerseits Diffusionsströme zur Folge haben. Zur Ein- 
sicht in den typischen Bau der Endformeln beider Theorien genügt 
(die Mitteilung eines Beispieles (Halleffekt) mit einigen erläuternden 
Bemerkungen: 

Riecke. Es bedeuten © die Stromdichte im magnetischen Maß, 
b die Breite der Platte, & die Leitfähigkeit, @ die Intensität des 
Magnetfeldes, u und v die spezifischen Wanderungsgeschwindigkeiten, 
9, und g, die spezifischen Verschiebungsgeschwindigkeiten der beiden 
berücksichtigten (positiven und negativen) Trägerarten, AE die trans- 
versale Potentialdifferenz im Halleffekt: 

@G-b-.iu’g,— dv? 
(32) ol realer ae Ye 7 

Drude. Es bedeuten außer den eben eingeführten Abkürzungen 
N,, N, die Dichte der Träger, v,,v, die Beweglichkeiten. Dann ist 
für den Halleffekt 





dinN, dln.N, 





G-i-b ET 
(83) SE NEE din(N,N,) 
un. 
gültig unter Vernachlässigung des gleichzeitig nach der Theorie zu 


nd eine uni- 


erwartenden longitudinalen Temperatureffekts. Ist — 7 





816 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


verselle positive Temperaturfunktion, so kann also der Halleffekt for- 
mal verschiedenes Vorzeichen in verschiedenen Metallen haben (wo- 
gegen z. B. der galvanomagnetische Transversaleffekt stets dasselbe 
Vorzeichen hat). 

Außer den vier Transversaleffekten behandelt Drude auch noch 
die Longitudinaleffekte ganz kurz, allerdings ohne Endformeln zu 
geben und findet für dieselben Proportionalität mit dem Quadrat der 
magnetischen Feldstärke.‘°) 

Wie erwähnt, hat Gans die Lorentzschen Ansätze auf den Fall 
erweitert, daß auf die im Metall bewegten Elektronen ein äußeres 
Magnetfeld wirkt. Die Überlegungen gehen zunächst darauf hinaus, 
die modifizierte Form des Maxwellschen Verteilungsgesetzes zu finden. 
Ist dieses bekannt, so ist der elektrische und der Wärmestrom in 
derselben Weise wie bei Lorentz zu berechnen, mit dem Unterschied 
natürlich, daß das Problem nun nicht mehr als ein eindimensionales, 
sondern als ein zweidimensionales zu formulieren ist; elektrischer und 
Wärmestrom haben nun zwei Komponenten in einer zur Richtung 
des magnetischen Feldes senkrechten Ebene. Explizite und übersicht- 
liche Formeln ergeben sich bei kleinen Magnetfeldern (so daß höchstens 
noch die zweiten Potenzen der Feldkraft zu berücksichtigen sind) für 
die den Lorentzschen v und w (vgl. p. 790) nun analogen »,, v, und 
W,, W,, aus denen alle galvanomagnetischen und thermomagnetischen 
Effekte abzuleiten sind. Bei der Verwertung dieser Formeln ist es 
nun aber wesentlich, wie schon oben betont, die Versuchsbedingungen 
scharf zu fassen und zu unterscheiden zwischen isothermen Vorgängen, 
bei denen sich die Temperaturdifferenzen nicht ausbilden können, und 
zwischen adiabatischen, bei denen dies der Fall ist. Für den Hall- 
effekt folgt: 

| isothrm AE=-F*.@.b-i, 
(34) 


ndishutisch, A Eike Wi ( dln N 


U Fr al 27 


für die Widerstandsänderung im Magnetfeld: 


isotherm Mu —_ = (4 — m) ev? . @?, 
(35) 6, 64 
| adiabatisch Fr = — en 1,® .duG’, 


wobei jedoch vorausgesetzt ist, daß kein longitudinales (sondern im 

66) Bezüglich einer Prüfung an der Erfahrung vgl. Zahn, a. a. O., p. 928ff.; 
da sich eine nur sehr unbefriedigende Übereinstimmung ergibt, ist auf die Mit- 
teilung hier verzichtet. 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 817 


adiabatischen Fall nur ein transversales) Temperaturgefälle zur Aus- 
bildung gelangt. | 

Die übrigen Effekte werden von Gans nicht durchgerechnet, sind 
jedoch aus den für die v und W gegebenen Formeln unschwer anzu- 
geben. Es wurde dies dann nachträglich durchgeführt von Zahm®”) 
für den Nernsteffekt, Leduceffekt und den thermomagnetischen Longi- 
tudinaleffekt. Da die Theorie von Gans vier Gleichungen zwischen 
acht zunächst unbekannten Größen, nämlich den Wärme- und Elek- 
trizitätsströmen in zwei Richtungen sowie den Potential- und Tempe- 
raturgefällen in diesen Richtungen liefert, sind dazu noch verein- 
fachende Hilfsannahmen (Vernachlässigung einiger dieser Unbekannten) 
notwendig; eine Prüfung der erhaltenen Formeln an der Erfahrung 
ist noch nicht möglich. Beachtenswert sind aber noch einige Be- 
merkungen von Gans über den Unterschied der Theorie von Drude 
und der eben besprochenen an Lorentz anschließenden bezüglich der 
Verschiedenheit des Halleffektes im Falle der elektrometrischen und 
galvanometrischen Messung, die ebenso wie die schon genannten 
im Falle isothermer und adiabatischer die Wichtigkeit eindeutiger 
Versuchsverhältnisse erkennen lassen.®) Die Endformeln der Theorie 
von Gruner, die auch de T'hullie benutzt‘), unterscheiden sich von 


den aus der Theorie von Gans folgenden nur um den Faktor 37, wo- 
rin L und $ recht kompliziert gebaute Funktionen der für die Gruner- 
sche Theorie charakteristischen Grenzgeschwindigkeit des elastischen 
Stoßes sind. 

Was endlich die oben in Fußn. 63) genannte Untersuchung von 
Livens anlangt, so gibt sie eine weitere Verallgemeinerung der Theorie 
von Gans in dem Sinne, daß zwischen den Elektronen und den 
Atomen Zentralkräfte als wirkend angenommen werden, so daß die 
potentielle Energie des Elektrons gegen das Atom proportional r-* 
ist (vgl. z. B. p. 791 dieses Artikels). Für s= oo erhält man dann 
den Fall elastischer Kugelstöße und hier also die Formeln von Gans. 
Livens gewinnt ebenfalls für die Verteilungsfunktion durch Verallge- 
meinerung der Methode von Lorentz in der genannten Richtung und 
für den Fall eines kombinierten elektrischen und magnetischen Feldes 
zunächst einen (recht komplizierten) geschlossenen Ausdruck, aus dem 


67) H. Zahn, Phys. Ztschr. 15 (1914), p. 663. 

68) Vgl. dazu etwa M.Corbino, Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 842; J. Königs- 
berger und G. Gottstein, ebd. 14 (1913), p. 232; Senepa, Arch. de Genöve 35 
(1913), p. 58. 

69) P. Gruner, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 48; Z. de Thullie, Krak. Anz. 1912, 
p: 61; vgl. auch Arch. de Gen&ve 28 (1909), p. 587. 


818 V20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


in bekanfter Weise die Komponenten des elektrischen und des Wärme- 
stromes und damit der unmittelbare Ausgangspunkt für die Theorie 
der hier zu betrachtenden Effekte folgt, die sich durch Spezialisierung 
der Reihe nach ergeben. Die Endformeln sind im folgenden zusammen- 
gestellt, die Bezeichnungen an die bisher betrachteten Formeln an- 


geschlossen: 
Halleffekt (elektrometrisch): 


sys:T(5 +5) 
(r(2 + 2). 4 Nec 

Galvanomagnetischer Transversaleffekt: 

2 1 3 4 

u. 20% ) 
2 2 

2+- r(2+,) 

worin /, die mittlere freie Weglänge der Elektronen ist. 

Thermohalleffekt: 





(36) Ar 


(37) AT= .@*b:i, 





3 4 | 
le rer) elmg?: Gb at 


(8) AI=-— 8s(s+ 1) r(e+2) wo ap 
$ 





worin q mit dem Mittelwert des Quadrates der Elektronengeschwindig- 
3 


keit zusammenhängt durch q = ih 


Thermomagnetischer Transversaleffekt: 


(.+2) me de 


Außerdem ergeben sich für die Longitudinaleffekte nebenbei noch 
einige Formeln von ähnlichem Bau, nämlich für die Widerstandsände- 
rung im Magnetfeld und für die’ Änderung der Wärmeleitfähigkeit. 
Zusammenfassend wird man den Resultaten von Livens insofern eine 
größere Anschmiegungsfähigkeit an die Erfahrung zuerkennen können, 
als das Vorzeichen in manchen Fällen, z. B. für den thermomagne- 
tischen und galvanomagnetischen Transversaleffekt, von der absoluten 
Größe des im Anziehungsgesetz auftretenden Exponenten s abhängt 
(oder umgekehrt, insofern als man für diesen aus den beobachteten Vor- 
zeichen nun Grenzwerte angeben kann). Im übrigen führt aber die Theorie 
nicht prinzipiell über die einfacheren älteren hinaus, sie ist ebenso 
wie diese nicht einmal zur qualitativen Deutung der Erfahrung fähig, 


8) AB=-(;—;5) +) Blatt, 1 
% 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 819 


und zwar vor allem deshalb, weil sie für ein Metall dasselbe Vor- 
zeichen für alle Effekte liefert (dagegen bei geeigneter Wahl von s 
für verschiedene Metalle verschiedene Vorzeichen liefern kann), wäh- 
rend die Erfahrung häufig verschiedene Vorzeichen ergeben hat”); 
eine allgemeine Diskussion der Sachlage hat Livens am Schluß seiner 
Arbeit gegeben’!) und die Möglichkeiten einer Ergänzung der Theorie 
(inneres magnetisches Feld, Anisotropie im Magnetfeld) kurz bespro- 
chen. Da der mathematische Teil der Theorie hierbei kaum noch einer 
wesentlichen Vervollkommnung fähig zu sein scheint, wird man aller- 
dings bis auf die Grundlagen zurückgehen müssen. 

Bemerkenswerter sind demgegenüber die Überlegungen, die Bohr 
zum Schluß seiner elektronentheoretischen Arbeit (vgl. Nr. 7) mitge- 
teilt hat, weil sie zum Teil zu Resultaten führen, die von den nach 
der Lorentzschen Theorie abgeleiteten abweichen, und zwar in Rich- 
tung nach besserer Übereinstimmung mit der Erfahrung. Um die 
galvanomagnetischen und thermomagnetischen Effekte behandeln zu 
können, muß Bohr die statistischen Betrachtungen erweitern auf den 
Fall EYE Dimensionen, d. h. die drei Momente G,@,@, der Elek- 
tronen betrachten und die zeitlichen Änderungen djeyäe nicht nur in- 
folge der Wirkung äußerer elektrischer Kräfte und der Zusammen- 
stöße, sondern auch infolge der Wirkung äußerer magnetischer Kräfte 
berücksichtigen. Die Verhältnisse liegen insofern verhältnismäßig ein- 
fach, als die magnetischen Kräfte die absolute Geschwindigkeit der 
einzelnen Elektronen nicht ändern. Die Kenntnis der Größen G ver- 
mittelt dann ebenso wie früher die Kenntnis des Ladungs- und Energie- 
transportes und in analoger Weise wie bei der Behandlung der thermo- 
elektrischen Effekte die Berechnung der galvano- und thermomagne- 
tischen Effekte. Bohr beschränkt sich bei der tatsächlichen Durch- 
rechnung auf ein spezielles Beispiel (Zentralkraft r” zwischen den 
Elektronen und Metallatomen, Vernachlässigung der gegenseitigen Zu- 
sammenstöße der Elektronen, chemisch und thermisch homogenes 
Metall, d.h. galvanomagnetische Effekte). Für n = © Uran sich 
die Bohbh von Gans im Rahmen der Theorie von Lorentz erhaltenen 
und verglichen an der Erfahrung zu engen Resultate für den trans- 
versalen und longitudinalen Halleffekt und für die galvanomagnetische 


70) Man vergleiche etwa die von Zahn, a. a. O., p. 926 gegebene Tabelle, 
ferner die Beobachtungen an Kupferjodür von Susinderg; Aun. d. Phys. 35 (1911), 
p: 1009 u. a. 

71) 8 H. Livens, a. a. O., p. 544ff.; vgl. dazu auch die Einwände von 
A. W. Smith, Phil. Mag. 31 (1916), p. 367, und die Diskussion bei P. Suter 
(Fußn. 4). 


820 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


transversale Temperaturdifferenz. Während aber für die Halleffekte 
sich die Diskrepanzen mit der Erfahrung nach Bohr überhaupt nicht 
beheben lassen durch reine Elektronentheorie mit isotropen Metall- 
atomen, sondern auf jeden Fall zu der (übrigens physikalisch durch- 
aus plausiblen) Annahme einer Art Polarisation der Atome durch die 
äußeren magnetischen Kräfte zwingen”®), verschwinden sie für den 
Temperatureffekt, wenn man die Lorentzsche Annahme n = oo fallen 
läßt und einen endlichen Wert für n annimmt. Man kann dann näm- 
lich erreichen, daß das Vorzeichen des Temperatureffekts sich um- 
kehrt, z. B. wenn man n—=3 wählt. Der transversale Halleffekt E, 
und die longitudinale Leitfähigkeit 67 im Feld werden dann 





We A se 272(356 — dr) 06@: 
(402) EG wei ah (1 GR 16384 [ ) 
und der transversale Temperatureffekt 
art » 15% G, 
(41) yT Tits Nee’ 


während nach Lorentz (n = oo) folgen würde 
se: 0, ) 
’ 


Ab) Bei: mi a (! uuNnide 

und mit entgegengesetzbem Vorzeichen wie in Formel (41a) 
aT 1 3 a 

(41b) 2 ran aaa a va 77 

(Bezeichnungen wie in Nr. 7). 

Zusammenfassend wird man von einer einigermaßen befriedigen- 
den Erfassung der Elektronenbewegung in Metallen unter dem Ein- 
fluß eines äußeren Magnetfeldes kaum sprechen können, man wird 
sogar die bestehenden Schwierigkeiten nun nicht mehr in bloß for- 
malen oder mathematischen Unvollkommenheiten der gaskinetischen 
Theorien suchen dürfen, sondern man wird dafür die grundsätzlichen 
physikalischen Ansätze veranwortlich machen müssen. Wie weit man 
dabei zu radikalen Änderungen im Sinne der Aufgabe des gaskine- 
tischen Bildes überhaupt gezwungen sein wird, läßt sich noch nicht 
übersehen, wenn auch gerade die Theorie der galvanomagnetischen 
und thermomagnetischen Effekte diesem Bilde mit die ernstlichsten 
Schwierigkeiten bringt. Am geeignetsten zu einer Klärung der Sach- 
lage scheint hier der Halleffekt wegen seiner verhältnismäßigen Ein- 
fachheit zu sein; dies wenigstens dürfte der Grund dafür sein, daß 
die Vorschläge zur Vermeidung der bestehenden Schwierigkeiten alle 


72) Wenn man nicht die Annahme nur einer Art von Elektronen fallen 
lassen will. 


11. Thermomagnetische und galvanomagnetische Effekte. 821 


an die Theorie dieses Effektes anknüpfen. Es liegen in dieser Rich- 
tung bisher eine Reihe von Versuchen vor"?), deren Besprechung — 
allerdings zum Teil späteren Nummern dieses Artikels vorausgreifend — 
hierher gehört. Der Grundgedanke geht stets dahin, die Isotropie des 
Metallinnern in elektronischer Beziehung aufzugeben und entweder die 
magnetischen Felder oder die Elektronenbahnen dort in bestimmter 
Weise zu orientieren. In ersterer Richtung bewegen sich außer be- 
reits genannten z. B. Vorschläge von Lorentz, Smith und Alterthum, 
die Königsberger zusammengefaßt und ergänzt hat, in letzterer in 
in besonders ausgeprägter Form die zweite Theorie von T’homson (alle 
diese zitiert in Fußn. 73). Die Theorie von Thomson wird später 
(Nr. 18) ausführlicher besprochen werden, so daß hier nur die eigent- 
lichen „Richtfeldtheorien“ in Frage kommen. Mit Königsberger kann 
man zu einer Deutung speziell der beiden verschiedenen Vorzeichen 
der Hallkoeffizienten R etwa in der Weise kommen, daß man z.B. 
die Formel von Gans 


(428) R-.n 


erweitert durch den Einfluß eines inneren Feldes Hy der Molekular- 
magnete neben dem äußeren Feld H,, wodurch man erhält 


(42b) 2 ec 


oder übersichtlicher 
s 
(43) R= .yi+»), 


wo nun positiv oder negativ sein kann; in ähnlicher Richtung 
gehen die Spekulationen von Alterthum (der sich insbesondere mit 
der Deutung der Temperaturkoeffizienten von R bei tiefen Tempera- 
turen beschäftigt), den Hallkoeffizienten mit den magnetischen Eigen- 
schaften in Verbindung zu bringen; ob es auch möglich sein wird, 
die sog. „Regel von Beattie“, daß Halleffekt und Thermokraft korre- 
spondierende Zeichen haben, zu einer Verknüpfung magnetischer und 
thermoelektrischer Eigenschaften zu verwerten, kann erst die Zukunft 
zeigen. Dagegen ist eine solche Verknüpfung zwischen R und der 


73) H. A. Lorentz, Ergebnisse und Probleme der Elektronentheorie (Berlin 
1905), p. 43 u.45; J. J. Thonson, Corpusculartheorie der Materie (Braunschweig 
1905), p. 68: E. P. Adams, Phys. Rev. 24 (1907), p. 428; Smith, Phys. Rev. 1 
(1»10), p. 1; H. Alterthum, Ann. d. Phys. 39 (1912), p. 983; ©. W. Richardson, 
Phil. Mag. 23 (1912), p. 615; J. Königsberger und $. Gottstein, Phys. Ztschr. 14 
(1913), p. 232 (diese Note enthält eine Menge interessanter Hinweise und Be- 
ziehungen zu anderen Resultaten der Elektronentheorie). 


822 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


elektrischen Leitfähigkeit sehr naheliegend und namentlich von Königs- 
berger (vgl. auch die Verhältnisse in Halbleitern, Nr. 12) ausgebaut 
worden. 

1?. Legierungen, Halbleiter. a) Legierungen.'*) Die Legierungen 
von Metallen zeigen bezüglich des elektrischen und thermoelcktrischen 
Verhaltens gegenüber den reinen Metallen manche Eigentümlichkeiten, 
die eine besondere Besprechung hier um so mehr rechtfertigen, als sie 
zu einer Reihe wichtiger theoretischer Versuche Veranlassung gegeben 
haben. Diejenigen Legierungen, welche aufzufassen sind als ein Kon- 
glomerat der Komponenten, bieten für die Theorie wenig Interesse, 
die elektrische Leitfähigkeit und die Thermokräfte lassen sich nach 
einer Mischungsregel aus den für die Komponenten gültigen Werten 
berechnen. Es knüpft sich an die Deutung der Elektrizitätsleitung in 
derartigen Konglomeraten bzw. Aggregaten eine ausgedehnte Litera- 
tur”), die jedoch zur eigentlichen Elektronentheorie insofern nichts 
Neues bringt, als sie rein phänomenologisch die Stromverteilung in 
einem inhomogenen Leiter untersucht, d. h. im wesentlichen von der 
Geometrie der Stromlinien unter speziellen komplizierten Verhältnissen 
handelt. Anders liegen dagegen die Verhältnisse bei denjenigen Le- 
gierungen, die als feste Lösungen anzusehen sind; hier nämlich be- 
obachtet man eine meist erhebliche Verringerung des elektrischen 
Leitvermögens (demgemäß eine Vergrößerung des Verhältnisses von 


— im Gesetz von Wiedemann und Franz) und erhebliche Erhöhung 


der Thermokraft gegenüber den für die reinen Metalle gefundenen 
Werten, und zwar tritt diese Depression des Leitvermögens schon 
ein, wenn in einem Metall nur kleine Mengen eines anderen gelöst 
werden. 

Was zunächst die Erniedrigung des elektrischen Leitvermögens: 
anlangt, so können wir ältere Erklärungsversuche, die in mehr phäno- 
menologischer Weise verfahren und vor den Ausbau der Elektronen- 
theorie fallen, von vornherein beiseite lassen.”®) Auch ein Versuch 

74) Zusammenstellung des experimentellen Materials bei Baedecker, Metall. 
Leit., p 36ff, der Literatur speziell über Thermoelektrizität der Legierungen bei 
Bernoulli, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 9 (1912), p. 270. 

75) Z B. L. Lorenz, Ann. d Phys. 13 (1881), p. 600;  Rayleigh, Nat. 54 
(1896), p. 154; Scient, Pap IV, p. 232; W. Ostwald, Ztschr. phys. Chem. 2 (1893), 
p. 520; Libenow, Ztschr. f. Elektrochemie 4 (1897), p. 201. Kritik der Theorien 
‚bei Baedecker (Fußn. 74) und bei Benedicks (Fußn. 76). 

76) Literatur bei L. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 13 (1916), p. 351. 
Vgl. dazu feruer die Auseinandersetzung zwischen dem genannten und K Lichten- 
ecker, ebd. 14 (1917), p. 466, 470. | 


12. Legierungen, Halbleiter. 823 


von Riecke””), das Verhalten der Legierungen seiner Theorie einzu- 
fügen, stößt auf ernstliche Schwierigkeiten. Riecke nimmt nämlich 
an, daß die Dichte der freien an der Stromleitung beteiligten Elek- 
tronen in Legierungen kleiner ist als in reinem Metall, eine Annahme, 
die mit anderweitigen optischen und thermoelektrischen Daten nicht 
vereinbar erscheint. Damit bleibt im Rahmen der Elektronentheorien 
nur noch die Möglichkeit, eine Vergrößerung des Bewegungswider- 
standes der Elektronen zu einer Erklärung heranzuziehen, die denn 
auch Schenk”®) zu einer Theorie benutzt hat und die weiterhin von 
Bernoulli und Baedecker”?) modifiziert und vervollständigt wurde. Der 
Gedanke von Schenk ist der, daß zwar auch in den Legierungen nur 
die freien Elektronen den Ladungs- und Energietransport besorgen, 
daß aber die Moleküle des beigemischten (gelösten) Metalls kinetische 
Energie an die Elektronen abgeben und damit zum Wärmeausgleich 
beitragen. Diese Annahme führt an Stelle des Wiedemann- Franzschen 
Gesetzes in der Form für reine Metalle 


% 4 /a@\? 
(44) Che AT) Ak 
für Legierungen zu der Beziehung 

D4 4 fi-a\? 
BER IENE, 


worin ö angibt, wieviel mal in der Legierung die von den Elektronen 
übertragene kinetische Energie größer ist als im reinen Metall und 
sich durch die (in Metall und Legierung jedenfalls nahezu gleich 
große) Konzentration N, der freien Elektronen und die Konzentration 
N,, der gelösten Moleküle ausdrückt in der Beziehung 

> N, N, . £ 
(45) ii Het In - a8). 
Aus dieser zwar durchaus hypothetischen Annahme ergibt sich aber 
weiterhin sofort die Thermokraft für eine Legierung gegen das reine 
Metall in der Form 


(46) E=®8. In V&:* 2 n(14 ae), 


77) E. Riecke, Ztschr. f. Elektrochemie 15 (1909), p. 473. Kritisiert von 
Schenk, Phys. Ztschr. 8 (1907), p. 239. 

78) R. Schenk, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 261. Eine Erweiterung der Schenk- 
schen Ansätze bei M.J. Stepanow, Ztschr. f. anorg. Chem. 78 (1912), p. I. Kritik 
bei N. Bohr, Diss. Kopenhagen 1911 und bei K. Baedecker, Ann. d. Phys. 35 
(1911), p. 75. 

79) A. L. Bernoulli, Ann. d. Phys. 33 (1910), p. 690; 35 (1911), p. 162; Verh. 
d. Deutsch. Phys. Gesellsch. 13 (1911), p. 218; K. Baedecker, Ann. d. Phys. 36. 
(1911), p. 75. 








’ 


824 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


die sich (bekannt unter dem Namen Schenksche Regel) an der Er- 
fahrung erstaunlich gut bewährt hat, die man aber nach dem Oben- 
gesagten doch als kaum mehr als eine glückliche Beschreibung‘ der 
Tatsachen betrachten könnte. Es ist deshalb bemerkenswert, daß es 
Bernoulli und Baedecker unabhängig voneinander gelungen ist (Fußn.79), 
eine andere Begründung dieser Formel zu geben (zugleich mit Be- 
richtigung eines früheren Irrtums). Man hat dazu im Prinzip nur 
nötig, auf die Dampfdruckformel der Thermoelektrizität und die zu 
ihr führenden thermodynamischen Vorstellungen (vgl. Nr. 14) 

(46 a) Eu=- In; 
das Babosche Gesetz der Erniedrigung des Dampfdruckes durch einen 
gelösten Stoff anzuwenden, wodurch man unmittelbar wieder einen 
Teil der Gleichung (46) erhält; und zwar gewinnt man nun ohne die 
Hilfsannahme N,—= N, den Zusammenhang mit den Verhältnissen 
der Leitfähigkeiten und damit die eigentliche Schenksche Regel durch 
den Übergang von den Konzentrationen zu den Leitfähigkeiten mit 
Hilfe der Gleichung (45), (worin allerdings wieder die Annahme «’ = i« 
implizite steckt). 

Eine streng im Geiste der gaskinetischen Elektronentheorie durch- 
geführte Theorie ist damit allerdings noch keineswegs gegeben, da 
: eben der Beweis der Annahme a’= ia auf kinetischer Grundlage noch 
aussteht und sich nach einer kritischen Bemerkung von .Bohr"?®) wohl 
auch kaum erbringen lassen wird. Deshalb ist eine von Bohr im An- 
schluß an seine allgemeine Theorie skizzierte Möglichkeit zur Deutung 
des merkwürdigen Verhaltens der Legierungen bedeutungsvoll, wenn 
auch die eigentliche Durchführung noch aussteht. Nach Bohr hat die 
Gegenwart fremder Moleküle in einem Metall zur Folge, daß die auf 
die Elektronen wirkenden Kraftfelder im Metallinnern stärker sind als 
im reinen Metall, da sich diese im letzteren Fall in stärkerem Maße 
gegenseitig neutralisieren. Dadurch würde nicht nur der Bewegungs- 
widerstand der Elektronen steigen, die elektrische Leitfähigkeit also 
sinken, sondern es würde zu gleicher Zeit wegen der stärkeren Be- 
einflussung der langsameren Elektronen die Wärmeleitfähigkeit we- 
niger beeinflußt wie die elektrische Leitfähigkeit; auch der Tempe- 
raturkoeffizient der elektrischen Leitfähigkeit wäre größer zu erwarten 
in Legierungen wie in reinen Metallen. 

Nun sind aber auch von ganz anderer Seite her, nämlich unter 





79a) Fußn. 24) zu Nr. 7; vgl. jedoch einen Versuch in dieser Richtung von 
Bernouilli, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 162. 


12. Legierungen, Halbleiter. 825 


Verzicht auf die gaskinetische Auffassung überhaupt, neuerdings Ver- 
suche unternommen worden, dem merkwürdigen Verhalten der Legie- 
rungen theoretisch beizukommen; diese sollen, zum Teil den Ausfüh- 
rungen des Abschnitts IV vorgreifend, noch kurz besprochen werden. 
So beschäftigt sich Benedicks®) mit der Deutung eines in Misch- 
kristallen auftretenden Zusatzwiderstandes (entsprechend der Depres- 
sion des Leitvermögens), für den er die zunächst empirische Formel 


(47) o—=n(l —n){bn-+a(ll—n)) 


als die einfachste empfiehlt. Es bedeuten darin a und b zwei für die 
beiden die binäre Legierung zusammensetzenden Metalle charakte- 
ristische Konstanten, % die atomare Konzentration (Konzentration aus- 
gedrückt in Atomprozent); dann sucht er an einem einfachen Modell 
die Entstehung des Zusatzwiderstandes durch „Kontaktfehler“ im Sinne 
seiner phoretischen Theorie plausibel zu machen, ohne allerdings über 
die Anfänge einer Erklärung hinauszukommen. .March®') versucht die 
Legierungen seiner Theorie einzuordnen durch die Hilfsannahme, daß 
in festen Lösungen die elastischen Eigenschaften des Metalls in der 
Richtung einer Vergrößerung der Schwingungszahl verändert werden; 
dadurch würde nach den Ansätzen der Theorie von March die Zahl 
der freien Elektronen und damit die elektrische Leitfähigkeit herab- 
gedrückt. Auf einige durchaus spekulative Bemerkungen von .Bore- 
lius®®) zur Elektronentheorie von Mischkristallen sei nur der Voll- 
ständigkeit halber hingewiesen; es handelt sich dabei um die thermo- 
elektrischen Effekte der Legierungen. Zum Schlusse sei hier endlich 
noch ein Versuch von Skaupy°®) erwähnt, die Vorstellungen über den 
Mechanismus des Ladungstransportes in Elektrolyten zu übertragen 
zunächst auf die Elektrizitätsleitung in flüssigen Metallen, aus der eine 
jedenfalls originelle Auffassung der Leitung auch in festen Metallen 
sich entwickeln kann. Soweit die Bewegung der Elektronen (neben 
den Metallionen) in Betracht kommt, nimmt Skaupy für dieselben 
eine allerdings phänomenologisch eingeführte (und versuchweise sogar 
nach dem Stokesschen Gesetz berechnete) Reibungskraft proportional 
der Relativgeschwindigkeit Elektronen-positive Ionen an und unter- 


80) C. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 13 (1916), p. 351. Dort auch wei- 
tere Literatur und Angabe von Zahlenwerten sowie empirischen Widerstands- 
formeln. 

81) Vgl. p. 868 dieses Artikels. 

82) G@. Borelius, Ann. d. Phys. 53 (1917), p. 615. 

83) F. Skaupy, Ztschr. f. phys. Chem. 58 (1907), p. 560; Verh. d. Deutsch. 


Phys. Gesellsch. 16 (1914), p. 156, 494; 18 (1916), p. 252; Phys. Ztschr. 21 (1920), 
p. 597. 


Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 54 


826 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


sucht die Konzentrationsänderung beim Stromdurchgang — es müßte 
also entgegen den bisherigen Annahmen auch in Metallen ein Mate- 
rialtransport vorhanden und bei günstigen Versuchsanordnungen viel- 
leicht sogar experimentell nachweisbar sein — sowie das Dissoziations- 
gleichgewicht. Bemerkenswert ist jedenfalls nebenbei, daß sich auf 
diesem Weg der Radius des Elektrons in merkwürdig guter Überein- 
stimmung mit dem elektromagnetischen ergibt und daß sich der Dis- 
soziationsgrad für flüssiges Quecksilber aus der Leitfähigkeitsänderung 
bei Auflösung eines anderen Metalls in demselben finden läßt; es er- 
gibt sich, daß auf etwa 10—15 Hg Atome ein freies Elektron kommt 
und daß die Dissoziationswärme von 1 g Atom Hg in (einwertige) 
Ionen und Elektronen etwa den Wert 2000 cal. hat. 

b) Halbleiter.**) Unter der Bezeichnung Halbleiter und variable 
Leiter faßt man eine Klasse von Substanzen zusammen, die bezüglich 
des elektrischen Leitvermögens, der thermoelektrischen Effekte usw. 
sich von den Metallen und Legierungen in charakteristischer Weise 
unterscheiden. Es gehören hierher neben einigen Elementen, wie Sili- 
zium, Titan, Zirkonium, Kohlenstoff, eine Reihe von Metallverbin- 
dungen, hauptsächlich Sulfide und Oxyde (z.B. FeS, PbS, F&,TiO,, 
Fe,0,), die zum Teil auch als Mineralien auftreten, außerdem aber 
auch einige kompliziertere organische und anorganische Verbindungen 
(z. B. Auermasse, Naphtalin). Als charakteristisches Merkmal im Ver- 
halten dieser Körper sind neben der im Vergleich zu den Metallen 
kleinen Leitfähigkeit die komplizierte Abhängigkeit des elektrischen 
Leitvermögens von der Temperatur (Minimum des spezifischen Wider- 
standes bei einer bestimmten Temperatur) und die mitunter sehr hohen 
Thermokräfte gegen reine Metalle zu nennen; verschiedene andere 
Absonderlichkeiten bezüglich der thermomagnetischen und galvano- 
magnetischen Effekte, des Einflusses der chemischen Zusammensetzung 
u. dgl. (z. B. an dem von Daedecker untersuchten jodierten Kupfer- 
jodür) schließen sich an. Nehmen wir hier aus den vielen Einzel- 
heiten nur das heraus, was zur Ergänzung des elektronentheoretischen 
Bildes der metallischen Leitung von Bedeutung ist, so scheinen sich 
die zunächst so komplizierten Verhältnisse im wesentlichen deuten 
zu lassen durch zwei Eigenschaften der genannten Substanzen, näm- 
lich durch die relativ geringe Konzentration der freien Elektronen 
und durch die starke Abhängigkeit derselben von der Temperatur, 
wobei Komplikationen durch elektrolytische (Ionen-)Leitung natür- 





84) Zusammenfassende Darstellung bei K. Baedecker, Metall. Leit., p. 28 ff. 
und K. Königsberger, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 4 (1907), p. 458; 11 (1914), p. 84 
(wo auch die Literatur im einzelnen angegeben ist). 


12. Legierungen, Halbleiter. 827 


lich, soweit dies möglich ist, ausgeschaltet sein sollen. Wie die 
Deutung der Versuchsdaten für den spezifischen Widerstand, die 
Thermokraft, den Halleffekt usw. nach den diesbezüglichen Formeln 
der Elektronentheorie zeigt, kann man jedenfalls im großen und 
ganzen die Halbleiter durchaus anschließen an die Metalle, man kann 
sie gewissermaßen auffassen als durch geringe Elektronendichte ge- 
kennzeichnete Entartungen dieser. Königsberger, dem auf diesem Ge- 
biet wohl das größte Verdienst zuzuerkennen ist, hat in dem oben- 
genannten zusammenfassenden Bericht diesen Nachweis im einzelnen 
geführt; im speziellen sei hier nur hingewiesen auf die Parallelismen 
von spezifischem Widerstand und Hallkoeffizient und von spezifischem 
Widerstand und Thermokraft. Dagegen ist zu betonen, daß diese 
Ähnlichkeit zwischen den Metallen und Halbleitern nicht mehr gilt 
bezüglich der Wärmeleitung, daß also z. B. das Gesetz von Wiede- 
mann und Franz nicht mehr erfüllt ist; das Leitfähigkeitsverbältnis, 
das in Metallen den experimentellen Wert von etwa 7 hat, kann in 
Halbleitern auf den mehr wie tausendfachen Betrag (z.B. für Eisen- 
glanz auf 73000) steigen. Dies deutet jedenfalls darauf hin, daß die 
Wärmeleitung der Halbleiter nicht mehr zu den durch die freien 
Elektronen allein bestimmten Eigenschaften gehört.) 

Ein neues Moment kommt ferner herein, wenn man die Ab- 
hängigkeit des elektrischen Verhaltens der Halbleiter von der Tem- 
peratur betrachtet; man wird hier zu einer Ergänzung der für Me- 
talle benutzten Annahmen genötigt.®®) Ausgehend von der Vorstellung 
einer Dissoziation der Elektronen von den Metallatomen wird man 
annehmen können, daß bei den Metallen diese Dissoziation eine be- 
reits fast vollständige, von der Temperatur nur noch wenig abhängige 
ist, während bei den Halbleitern das Dissoziationsgleichgewicht noch 
stark von der Temperatur abhängt und damit die Konzentration der 
Elektronen stark mit der Temperatur sich ändert. Für die Konzen- 
tration kann man versuchsweise aus der Thermodynamik der Systeme 
aus einer festen und einer gasförmigen Phase die Formel ansetzen 


(5-3) 

(48) N= N,et\t TI, 

wo @ die Dissoziationswärme, R die Gaskonstante ist, und damit die 
aus der Elektronentheorie folgenden Ausdrücke für die elektrische 
Leitfähigkeit erweitern zu 


(49) 6= 6: —ger\ TI, 
85) Vgl. auch p. 805 dieses Artikels, Fußn. 42). 


86) J. Königsberger und K. Schilling, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 179. 
54* 


328 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Eine zweite Erweiterung betrifft (wie auch bei den Metallen) die Ab- 
hängigkeit der freien Weglänge von der Temperatur, so daß die all- 
gemeine Leitfähigkeitsformel resultiert als eine Superposition der bei- 
den Temperaturwirkunrgen. Setzt man die Temperaturabhängigkeit 
der Weglünge in Form eines empirischen, den Verhältnissen bei Me- 
tallen angepaßten Korrektionsgliedes an, so erhält man also 


i afı 1 

(50) = (tat + pn ar?) 

eine allgemeine Widerstandsformel, die insofern auch bemerkenswert 
ist, als sie von einem zusammenfassenden Gesichtspunkt aus nun die 
Verhältnisse in den verschiedenen Leitern zu beurteilen erlaubt.®”) Be- 
stimmt man nämlich die Dissoziationswärme (berechnet für 1 Gramm- 
Molekül Elektronen), so findet man für die eigentlichen (elektroposi- 
tiven) Metalle sehr kleine oder sogar negative Werte, für die Halb- 
leiter mittlere Werte von etwa 20—2000 und für die (elektronega- 
tiven) Metalloide sehr große Werte bis zu etwa 10000, wo dann die 
Ionenleitung beginnt. Es verraten sich hier bereits die Zusammen- 
hänge mit der neuerdings namentlich von Haber (vgl. p. 862 dieses 
Artikels) ausgebauten Gittertheorie der Elektronenleitung. 

Endlich kann man in dritter Stufe noch eine Abhängigkeit der 
Dissoziationswärme von der Temperatur annehmen?) Natürlich be- 
kommt man auf diesem Weg insgesamt beliebig viele freie Konstante 
in die Formel herein und damit auch beliebige Anpassungsfähigkeit 
der Formel an die Erfahrung; das physikalisch Wesentliche wird 
man deshalb bei derartigen Versuchen, solange eine Begründung für 
die einzelnen Korrektionen fehlt, nur in dem prinzipiellen Gedanken 
des variablen Dissoziationszustandes sehen können. Damit ist in rohem 
Umriß der Stand der Dinge wiedergegeben und nun eine Ergänzung 
durch Einzelheiten notwendig. Dies geschieht am besten durch eine 
kleine Auswahl von Zahlenwerten, die den beiden Berichten von Königs- 
berger entnommen sind. 

Die Gültigkeit der elektronentheoretischen Grundanschauungen 
für Halbleiter war aus den zusammengehörenden Werten des Hall- 
koeffizienten R und des elektrischen Widerstandes w erschlossen, 


deren Quotient ji da die Elektronendichte herausfällt, konstant sein 


müßte. Daß dies tatsächlich nahe der Fall ist, zeigen die beobachteten 
87) J. Königsberger, Ztschr. f. Elektrochemie 15 (1909), p. 97; H.v. Martin, 
Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 41. 
88) Ein Versuch zu einer Deutung einer solchen Abhängigkeit hat Königs- 
berger ].c. p. 222 (Fußn. 86) skizziert. 


12. Legierungen, Halbleiter. 829 


Werte von: 
Metalle im Mittel 4-10? Tellur 2.10% 
Molybdänglanz 7,2. 10% Kupferjodür 1,2 - 10? 
Silizium 2,1 - 10° 5.10%, 
Graphit 8,2 - 10? 


wobei zu beachten ist, daß die Einzelwerte der beiden Größen R und 
w Unterschiede von etwa 10° aufweisen. Ebenso gehen Halleffekt und 
Widerstand bei variablen Leitern, z. B. bei jodiertem Kupferjodür mit 
zunehmendem Jodgehalt gut parallel, und auch die thermomagnetischen 


Effekte fügen sich dem Bild befriedigend ein. Die Thermokräfte sind 

andererseits nach der Beziehung E=c-In ) erheblich größer zu 
2 

erwarten als die reiner Metalle. Daß aber die Einordnung hier nur 

eine qualitative ist, zeigt die schlechte quantitative Übereinstimmung 

der aus der Thermokraft (N,) bzw. der Leitfähigkeit (N,) berechneten 


Elektronendichte, z. B. für 


N, N, 
Schwefelkupfer 0,92 0,02 
Graphit 0,9 0,02 
Schwefeleisen 0,8 0,005 
. Hämatit 0,003 0,0003 
Molybdänglanz 0,001 0,000003 


bezogen auf die Dichte 1 in Gold. Dieselbe Unvollkommenheit der 
Theorie zeigt sich natürlich außer durch den Vergleich von N, mit 
N, in den Werten von N, für sich betrachtet, und noch deutlicher 
wie aus den obigen Zahlen aus den Relativwerten von N, gegen 


Kupfer, wofür sich z. B. ergibt für: 


Sb 1,6 Si 250 Cu,O 310. 


13. Optik der Metalle. Wie bereits in der Einleitung betont 
wurde, soll die Erweiterung der Elektronentheorie der Metalle auf 
nicht stationäre Vorgänge, d. h. auf zeitlich veränderliche Felder, nur 
insoweit hier behandelt werden, als sie mit dem eigentlichen Problem 
der stationären Wärme- und Elektrizitätsleitung unmittelbar zusammen- 
hängt. Bei dieser Beschränkung kommt also die Deutung der metall- 
optischen Erscheinungen und die Ableitung z. B. von Dispersions- 
formeln und von Ausdrücken für die optischen Konstanten » und k 
nicht in Frage, sondern vielmehr der Gesichtspunkt, unter den neuen 
Verhältnissen der nichtstationären Zustände, also gewissermaßen durch 
eine Variation der Versuchsbedingungen, Aufschlüsse über die elektro- 
nischen Vorgänge im Metall zu erhalten. Insbesondere sind es Aus- 
sagen über gewisse Konstanten des Elektronengases (Konzentration 


830 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


und freie Weglänge der Elektronen), die auf Grund der genannten 
Erweiterungen ermöglich werden, während die mathematisch - statisti- 
schen Komplikationen demgegenüber an physikalischem Interesse 
zurücktreten. 

Bereits Drude hat sich mit einer Erweiterung seiner Theorie auf 
zeitlich veränderliche Felder beschäftigt®®) und ist, allerdings nicht 
unter strenger Wahrung des rein kinetischen Standpunktes, zu Re- 
sultaten gelangt, die dann weiterhin nur noch wenig Änderung er- 
fahren haben. Man gewinnt die Ausgangsgleichungen Drudes ent- 
weder aus den Grundlagen der Dispersionstheorie absorbierender Kör- 
per, wenn man dort die quasielastische Kraft der Elektronenbindung 
Null setzt, oder einheitlicher dadurch, daß man die Bewegung der 
freien Elektronen allgemein (d. h. für beliebige elektrische Verschie- 
bungskräfte) untersucht unter der Annahme einer der Bewegung der 
Elektronen entgegenwirkenden Reibungskraft, die proportional ihrer 
Geschwindigkeit ist. Ist & die Verschiebung der Elektronen, X die 
elektrische Kraft und re? der Proportionalitätsfaktor der genannten 
Reibungskraft, so folgt aus der Bewegungsgleichung 


(51a) me. X— ra 


dt’ 
für den Fall einer zeitlich rein harmonischen Änderung von X von 
der Schwingungsdauer r für den Strom in Richtung von X 


(51b) en 





Hieraus ergeben sich genau in derselben Weise wie in der Disper- 
sionstheorie durchsichtiger Körper die (komplexe) Dielektrizitätskon- 
stante und durch Trennung von Reellem und Imaginärem die folgen- 
den Ausdrücke für die beiden optischen Konstanten » und k, in denen 
noch die Wellenlänge A—=2xzcr eingeführt ist (in elektromagne- 
tischem Maß; ce = Lichtgeschwindigkeit) 








m 
PT WARE *, WAR VORBRRE PASRAIDEL. u aid 
(52) + er) 
N 
nk = Ac- 2 5 
| +) 


die uns hier soweit interessieren, als sie eine Prüfung der Elektronen- 


89) P. Drude, Phys. Ztschr. 1 (1900), p. 161; Lehrb. d. Optik, 2. Aufl. 1906, 
p. 385; Ann. d. Phys. 14 (1904), p. 936. 


13. Optik der Metalle. 831 


theorie und zahlenmäßige Folgerungen abzuleiten erlauben. Bezüg- 
lich dieses letzteren Punktes liegen die Dinge insofern nicht ganz 
einfach, als die beiden Gleichungen neben N auch das unbekannte r 
enthalten und die zu dessen Elimination (z. B. von Schuster®®)) vor- 
geschlagenen Methoden nicht einwandfrei sind. Zudem geben die For- 
meln (52) in Strenge jedenfalls nicht die wirklichen Verhältnisse wie- 
der und müßten, will man nicht zu dem sehr unwahrscheinlichen 
Ausweg einer Mitwirkung von mehr als einer Gattung von Ladungs- 
trägern greifen, ergänzt werden durch die Annahme einer Abhängig- 


keit von = von der Wellenlänge. Ergänzend sei dem hinzugefügt, 


daß die Widerstandskonstante r auch von der Temperatur wesentlich 
abhängt; wenigstens muß man dies annehmen, um den geringen Ein- 
fluß der Temperatur auf die optischen Eigenschaften der Metalle in 
Einklang bringen zu können mit dem vergleichsweise großen Tempe- 
raturkoeffizienten der elektrischen Leitfähigkeit.”') Damit sind untere 
Grenzwerte für die Elektronendichte N leicht zu erhalten aus dem 
Reflexions- und Emissionsvermögen für große Wellenlängen, wenn 
man für diese die bekannten Ausdrücke in » und % benutzt und die 


elektrische Leitfähigkeit einführt durch 6 = rn = Eine zweite Mög- 


lichkeit, Aufschluß über N zu erhalten, ist die, sich auf eine bestimmte 
Wellenlänge zu beschränken, also nur für jeweils eine solche N zu 
suchen, was durch Elimination von r unschwer gelingt. Die Glei- 
chungen (52) müßten aber dann ergänzt werden durch die aus der 
Dispersionstheorie bekannten Zusatzglieder für die gebundenen Elek- 
tronen, d. h. man müßte ausgehen von den Beziehungen 


/ 


(1 — ik? —qg +24 — — 








a 


in. Ra bei ae 


90) A. Schuster, Phil. Mag. 7 (1904), p. 151. 

91) Man vgl. jedoch die Ergebnisse einer Arbeit von Jaffe (Fußn. 94). Mit 
den Drudeschen Formeln haben sich im Gebiet langer Wellen des optischen 
Spektrums zum Zweck, Dichte und freie Weglängen der Elektronen zu bestim- 
men, noch beschäftigt: J. Larmor, Phil. Mag. 14 (1907), p. 312; L. Bloch, Paris 
C. R. 145 (1907), p. 754; @.Schaffers, ebd. 145 (1907), p. 1144; Spence, Phys. 
Rev. 28 (1909), p. 337; L. P. Wheeler, Phil. Mag. 25 (1913), p. 661 und Gill. J. 35 
(1913), p. 491, 508, wo auch verschiedene Ansätze zur Verfeinerung der Theorie 
mitgeteilt sind, die aber alle nicht wesentlich über den Standpunkt Drudes 
hinauskommen, zum Teil sogar als Rückschritte zu bezeichnen sind. 


832 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


in der üblichen Schreibweise der Drudeschen Dispersionstheorie. Wenn 
man nun aber r eliminiert, enthält der entstehende Ausdruck für 
N die neue Unbekannte g; wie sich aber zeigen läßt, begeht man 
einen nur kleinen Fehler, wenn man für g nach Analogie mit den 
Verhältnissen bei durchsichtigen Körpern etwa den Wert 3 einsetzt. 
Drude hat auf diesem Weg für eine Reihe von Metallen für A = 589 uu 
aus seinen Beobachtungen N berechnet und für die Anzahl der freien 
Elektronen pro Atom Werte gefunden, die von 0,47 für Kupfer über 
1,06 für Silber, 2,00 für Platin, 2,83 für Zink, 3,73 für Zinn an- 
steigen bis auf 7,54 für Antimon. Wenn auch die Größenordnung 
dieser Zahlen stimmen wird, ergeben sich doch mancherlei Unstimmig- 
keiten mit den nach der zuerst genannten Methode erhaltenen unteren 
Grenzwerten. Vergleicht man endlich die Theorie der optischen Eigen- 
schaften mit der Theorie der stationären Ströme, indem man mit den 
optisch erhaltenen N-Werten nach der Drudeschen Formel für die 
Thermokraft die thermoelektrische Spannungsreihe der Metalle auf- 
stellt, so findet man wiederum zwar in großen Zügen eine Überein- 
stimmung, im einzelnen aber auch hier quantitative Mängel (vgl. dazu 
Nr. 14 und 17). Alles dies scheint jedenfalls darauf zu deuten, daß 
die Eigenschwingungen gebundener Elektronen noch nicht vollkommen 
berücksichtigt sind. (Diesen Einfluß der gebundenen Elektronen hat 
später W. Meier?) einer eingehenden Diskussion unterzogen, jedoch 
ohne befriedigenden Erfolg.) 

Es seien noch einige gelegentliche Bemerkungen über die Elek- 
tronenkonstanten eingefügt, die an die Metalloptik anschließen. Von 
verschiedenen Seiten wurde versucht, wenigstens überschlagsweise aus 
metalloptischen Daten Aufschluß über die Konzentration und die freie 
Weglänge der Elektronen in Metallen zu erhalten.) Der Grund- 
gedanke ist der, daß das elektrische Leitvermögen unter dem Einfluß 
von Wechselfeldern solange mit dem für stationäre Felder gültigen 
übereinstimmen wird, bis die Zeit zwischen zwei aufeinanderfolgenden 
Zusammenstößen eines Elektrons vergleichbar ist mit der Schwingungs- 
dauer des Wechselfeldes, daß also z. B. solange die aus Maxwells 
Theorie folgende Beziehung zwischen Reflexionsvermögen und elek- 
trischer Leitfähigkeit gelten wird oder daß man solange mit dem 
Wert der statischen Leitfähigkeit rechnen darf. Da man nun aus 


92) W. Meier, Ann. d. Phys. 31 (1910), p. 1035; vgl. dazu auch die Bemer- 
kungen in einer Arbeit von Jaffe (Fußn. 91). 

93) M. Reinganum, Ann. d. Phys. 16 (1905), p. 958; J. J. Thomson, Cor- 
pusculartheorie der Materie, Vieweg 1908, p. 83; Jeans, Phil. Mag. 17 (1909), 
p. 7, 79; J. Königsberger und J. Weiß, Ann. d. Phys. 33 (1911), p. 38. 


18. Optik der Metalle. 8333 


den Versuchen von Hagen und Rubens die genannte Grenze für die 
Schwingungsdauer kennt, kann man für die Zeit zwischen zwei Zu- 
sammenstößen eine obere Grenze angeben und daraus mit Benutzung 
der Formeln für die Leitfähigkeit bzw. für die mittlere Geschwindig- 
keit der Elektronen wenigstens die Größenordnung der Elektronen- 
dichte oder der freien Weglänge finden. (Vgl. hierzu p. 840ff. dieses 
Artikels.) 

Als einen bedenklichen Mangel der Theorie von Drude wird man 
unbedingt die phänomenologische Einführung des Bewegungswider- 
standes der Elektronen und die damit verknüpfte Unmöglichkeit, Ge- 
naueres über seine Abhängigkeit von der Wellenlänge und von der 
Temperatur aussagen zu können, betrachten müssen, und die Versuche, 
eine kinetische Begründung dieses Bewegungswiderstandes zu geben %), 
wird man deshalb als Fortschritt bezeichnen müssen. Prinzipiell liegt 
die Problemstellung recht einfach, da es sich offenbar darum handeln 
wird, die elektrische Strömung unter dem Einfluß einer zeitlich perio- 
dischen elektrischen Kraft auf dem Boden der rein kinetischen Elek- 
tronentheorie zu berechnen, d. h. also diese von konstanter Kraft auf 
eine zeitlich veränderliche zu erweitern; die Durchführung bietet aber 
manche Schwierigkeiten, sobald die mittlere Zeit zwischen zwei auf- 
einanderfolgenden Stößen eines Elektrons vergleichbar ist mit der 
Schwingungsdauer des Feldes. Ishiwara und Jaffe bauen auf den 
Voraussetzungen der Lorentzschen Theorie, Enskog auf allgemeineren 
und Bohr endlich auf den allgemeinsten Voraussetzungen über den 
Mechanismus der Stöße auf; und demgemäß enthalten die Resultate 
der letztgenannten Untersuchungen die der andern als spezielle Fälle 
in sich, führen aber letzten Endes nicht wesentlich über dieselben 
hinaus, da sich die Rechnungen nur für Kraftgesetze durchführen 
lassen, die wieder zur Lorentzschen Theorie führen. 

Der Gang der Untersuchung in der Arbeit von Jafe, die unbe- 
wegliche wie elastische Kugeln reflektierende Atome annimmt und 
die Zusammenstöße der Elektronen untereinander vernachlässigt, ist 
der, die Lorentzsche Verteilungsfunktion zu bestimmen aus einer 
partiellen Differentialgleichung, wenn die elektrische Kraft X in der 





94) J. Ishiwara, Proc. Tokyo Math. Phys. Soc. 6 (1911), p. 56; N Bohr, Dies. 
Kopenhagen 1911; D. Enskog, Ann. d. Phys. 38 (1912), p. 731; dort auch kurze 
Besprechung der vorhergehenden Untersuchungen. G@. Jaffe, Ann. d. Phys. 45 
(1914), p. 1217; 46 (1915), p. 984, die zweite kurze Note enthält außer Bemer- 
kungen zur Literatur den Hinweis auf einen Fehler in der Arbeit von Ishiwara, 
vgl. auch die Erweiterung der Lorentzschen Ansätze auf Wechselfelder von 
C. Zakrzewski, Krak, Anz. 1909, p. 734; 1911, p. 314. 


834 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Form angesetzt wird X = Xen, und zwar wieder durch eine Kor- 
rektion an der Muxwellschen Verteilung 


(54a) &n)=A e’"+95n9, 


worin nun angesetzt wird 


(4b) p(E, ,$)= Ex)‘, 
und sich für x(r) die Form ieh (= mittlere freie Weglänge) 


(54 c) N) = Fan Fern 3 2NAX,: Dee, 


nFür die elektrische Leitfähigkeit erhält man dann au J=6-E de 
Wert 


8Sre?lAh "rg 
Cs a nr Ei >ar 


der, wie dies sein muß, für »—=0 in den Wert von Lorentz über- 
geht. In bekannter Weise ergeben sich weiter die Werte von n?(1 — k?) 
und n?%k durch Berechnung des gesamten im Metall fließenden Stromes 
für den Fall, daß eine ebene harmonische Welle sich fortpflanzt. Ein 
Vergleich der so resultierenden Formeln mit denen von Drude (durch 
numerische Ausrechnung) gibt nun das physikalisch wichtige Resultat 
vollkommener qualitativer und sogar fast vollkommener quantitativer 
Übereinstimmung, liefert also den Beweis, daß die phänomenologische 
Annahme Drudes einer konstanten, mit der Geschwindigkeit propor- 
tionalen Reibungskraft sich rein kinetisch stützen läßt; auf die Be- 
deutung dieses Ergebnisses wurde bereits oben hingewiesen. Außer- 
dem ermöglicht die Theorie von Jafe bestimmtere Angaben über 
die Ionenkonstanten, wenn man in die Dispersionsformeln (53) mit 
dem hier gefundenen Ausdruck für die Leitfähigkeit eingeht, und 
zwar gelingt es, die Elektronendichte N und die Weglänge I ein- 
zeln zu berechnen. Zur Verfügung stehen dazu einerseits die Dis- 
persionsformeln bzw. eine aus ihr folgende Beziehung für das Re- 
flexionsvermögen und der Ausdruck für die Leitfähigkeit, andererseits 
die metalloptischen Daten für lange Wellen. Die Verallgemeinerung 
der Annahmen durch Enskog (Zentralkräfte zwischen Elektronen und 
Atomen sowie Berücksichtigung der Wirkung der Elektronen auf- 
einander) führt, wie bereits bemerkt, in den quantitativen Ergebnissen 
nicht über die Untersuchung von Jafe hinaus. Dasselbe gilt bezüg- 
lich der Arbeit von Bohr. 

Außer den in Fußn. 94) genannten haben sich in letzter Zeit eine 
Reihe englischer Forscher) mit dem Ausbau der Elektronenstatistik 





95) J.J. Thomson, Phil. Mag. 14 (1907), p. 217; 20 (1910), p.238; J. H Jeans, 
Phil. Mag. 17 (1909), p. 773; 18 (1909), p. 209; H. A. Wilson, Phil. Mag. 20(1910), p. 835. 


14. Freie Elektronen im Innern des Metalls. Die Elektronenkonstanten. 835 


für Wechselfelder beschäftigt; es erübrigt sich auf dieselben ausführ- 
licher einzugehen, da sie einer strengen Kritik nicht standhalten; eine 
eingehende Besprechung hat zudem Bohr in seiner Dissertation ge- 
geben. Auch die neuesten hierher gehörenden Versuche von Livens 
und Nicholson®) bringen zwar eine Verschärfung der Betrachtung in 
manchen Einzelheiten, führen aber — wohl infolge der ungenügenden 
Berücksichtigung der Eigenschwingungen gefundener Elektronen — 
nieht wesentlich über das vorher Erreichte hinaus. Soweit endlich 
die bisher genannten Untersuchungen nicht die Dispersion und die 
Absorption, sondern die Emission elektromagnetischer Wellen behan- 
‘ deln, führen sie bereits in das Gebiet der Strahlungstheorie und hängen 
nur locker mit dem Thema dieses Berichtes zusammen. 


III. Das Elektronengas. 


14. a) Freie Elektronen im Innern des Metalls. b) Die Elek- 
tronenkonstanten. a) Die klassisch gaskinetischen Theorien gehen 
alle aus von der Annahme der Existenz freier Elektronen im Innern 
des Metalls, die sich ganz ebenso oder doch ähnlich verhalten wie 
die Moleküle eines Gases nach der kinetischen Gastheorie, sie ope- 
rieren also mit der Vorstellung eines Elektronengases. Die Kritik 
dieser Vorstellung und damit die Kritik der genannten Theorien über- 
haupt soll erst in Nr. 17 durchgeführt werden. Hier soll es sich 
darum handeln, das Material zu vervollständigen, mit dem gewisse 
Theorien teils offen, teils implizite operieren, wenn sie von einem 
Elektronengas sprechen, und zwar soll dies nach zwei Seiten hin ge- 
schehen. Zunächst muß die bis hierher verschobene Besprechung der 
in der Hauptsache thermoelektrische Fragen behandelnden Unter- 
suchungen nachgetragen werden, die mit dem Ensemble der Elek- 
tronen thermodynamisch wie mit einem Gas arbeiten und mit dem- 
selben gedankliche Operationen (z. B. Kreisprozesse) vornehmen, wie 
dies in der Thermodynamik der Gase üblich ist (es wird sich diese 
Besprechung, nicht mehr beschränkt auf das Innere der Metalle, in 
die folgenden Nr. 15 und 16 fortsetzen); die Berechtigung zu dieser 
Annahme zu untersuchen gehört nicht hierher, die einschlägigen 
Theorien sollen vielmehr, vermutlich in Übereinstimmung mit der 
Meinung ihrer Schöpfer, aufgefaßt werden als Zwittergebilde, die in 
phänomenologischer Form nur noch einige Eigenschaften des aus der 
physikalisch konkreten kinetischen Theorie übernommenen Elektronen- 


96) Livens, Phil. Mag. 29 (1915), p. 173, 657; 30 (1915), p. 112; J. B. Ni- 
cholson, Phil. Mag. 22 (1911), p. 245. 


836 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


gases verwenden. Den Vorteil dieser Betrachtungsweise wird man in 
erster Linie darin sehen können, daß sie die zwischen den Elektronen 
und den Metallatomen wirkenden molekularen Kräfte und deren Ab- 
hängigkeit von der Temperatur sozusagen summarisch ersetzt durch 
physikalisch, wie man zugeben muß, recht anschauliche Begriffe wie 
Druck, Wärmetönungen, spezifische Wärme von Elektronen usw., und 
so in der Tat eine Reihe von Schwierigkeiten jener Theorien umgeht. 
Demgemäß schieben sich die hierher gehörenden Arbeiten ein zwischen 
die rein thermodynamischen Charakters und die rein kinetischen. Be- 
züglich der ersteren, die nicht mehr in den Rahmen dieses Berichtes 
gehören, sei zur notwendigen Orientierung für das Folgende nur hin- 
gewiesen auf die zusammenfassende Darstellung von Baedecker in Graetz’ 
Handbuch der Elektrizität und des Magnetismus, Bd. 1, p. 723ff. In 
zweiter Linie soll dieses Bild selbst vervollständigt werden durch Er- 
gänzungen bezüglich des Begriffes der freien (und der gebundenen) 
Elektronen und der typisch gaskinetischen Begriffe der freien Weglänge, 
Dichte usw. der Elektronen im Innern des Metalls. 

Man kann die thermoelektrischen Erscheinungen zu verstehen 
suchen in vollkommener Analogie zu gewissen rein thermodynamischen 
Vorgängen, die aus der Wärmetheorie der Gase bekannt sind. Cha- 
rakteristisch dafür ist eine einfache Überlegung, die zuerst J. J. Thom- 
son zur Berechnung der Potentialdifferenz zweier Metalle angestellt 
hat.°”) Schreibt man den Elektronen in einem Metall einen bestimmten 
Druck p zu, der abhängt von der Natur des Metalls und der Tempe- 
ratur, und denkt sich nun ein Mol des Elektronengases aus dem Me- 
tall 1 (Temperatur 7,) entnommen und in das Metall 2 (Temperatur 
T,) übergeführt, so gibt die Gleichsetzung der thermischen und der 
elektrischen Arbeit für die Potentialdifferenz zwischen den beiden 
Metallen 


Fa Bi a 
(55) V,„ = «T ln jr — «Tan, 
Ganz ebenso erhält man die Potentialdifferenz im Temperaturgefälle 
eines homogenen Metalls, wenn p (bzw. N) von der Temperatur ab- 
hängt, und durch Kombination beider die Thermokraft für 1° Tempe- 
raturdifferenz der Lötstellen 
(55) | Er ef 


Daß in den dieser Formel zugrunde liegenden Annahmen ein wahrer 
Kern steckt, wird vielleicht am klarsten aus Versuchen von Baedecker 


97) J. J. Thomson, Corpusculartheorie der Materie, Vieweg 1898, p. 71ff. 


14. Freie Elektronen im Innern des Metalls.. Die Elektronenkonstanten. 837 


am Kupferjodür®®), die unmittelbar auf den Zusammenhang zwischen 
Thermokraft und Elektronendichte hinweisen; Baedecker hat die Thermo- 
kraft an Kupferjodür gegen Platin gemessen und einerseits N in 
ersterem in weiten Grenzen durch fortschreitende Jodierung verändert, 
andererseits den damit parallel gehenden Gang der Leitfähigkeit des 
Jodürs beobachtet. Daß sie andererseits die Sachlage zu summarisch 
beschreibt, geht z. B. schon aus der Tatsache hervor, daß sie keine 
Rechenschaft gibt von der nur von der geometrischen Form der Metall- 
oberfläche bedingten Potentialdifferenz, die Debye (Nr.6 und später 
Fußn. 123) prinzipiell festgestellt hat. Eine Reihe von Schwierig- 
keiten®®) drängt nach einer Verfeinerung dieser primitiven Theorie, 
die von K. Baedecker und F. Krüger, weiter dann von Richardson, 
Bohr u. a. vorgenommen wurde.!’) Die Grundanschauung blieb be- 
stehen, im übrigen aber wurden die Vorstellungen und Erfahrungen 
der Thermoionik (vgl. Nr. 15) mitherangezogen: In konsequenter 
Extrapolation auf niedere Temperaturen muß man annehmen, daß 
stets eine Elektronenemission seitens der Metalle stattfindet!!) und 
daß man den Elektronen — schließt man sich der Richardsonschen 
Theorie der glühelektrischen Erscheinungen an — stets den thermo- 
dynamisch bestimmten Dampfdruck zuzuschreiben hat. Man hat also 
nur konsequent mit dem System Elektronendampf — feste Phase im 
Metall bzw. mit den Elektronendämpfen in den verschiedenen Metallen 


98) K. Baedecker, Nernst-Festschrift 1912, p. 62. 

99) Vgl. J.J. Thomson, Corpusculartheorie der Materie, p. 73; K. Baedecker 
in Graetz, Handb. d. Elektr., Bd. 1, p. 731, sowie Elektr. Erschein. in Metallen, 
p- 90. Eine Schwierigkeit für die Theorie besteht insbesondere in der Stetigkeit 
der Thermokraft beim Übergang vom festen in den flüssigen Aggregatzustand 
im Gegensatz zu dem Sprung im Leitvermögen, falls man das Verhältnis der 
Dampfdrucke gleich dem Verhältnis der Konzentrationen setzt. Denn während 
zwar für die Dampfdrucke über der festen und flüssigen Phase thermodynamisch 
Gleichgewicht folgt [Baedecker, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 85], müßte man im 
Falle der Konzentrationen annehmen, daß nur die freie Weglänge sich ändert. 
Experimentell scheint zudem die Frage der Stetigkeit der Thermokräfte noch 
nicht eindeutig entschieden zu sein; man vgl. hierzu bezüglich der theoretischen 
Diskussion eine Arbeit von X. Siebel, Ann. d. Phys. 45 (1914), p. 839 (Diss. Kiel). 

100) Außer auf die später genannten Originalarbeiten sei hingewiesen auf 
die in Fußn. 118) genannten Berichte von Schotiky und Richardson. 

101) Einen überzeugenden Hinweis auf die Existenz der Elektronenwolken 
an jeder Metalloberfläche scheinen die interessanten Beobachtungen über Kon- 
takterscheinungen zwischen zwei Metallflächen zu geben, die sich im Abstand 
von der Größenordnung der Lichtwellenlänge optisch frei gegenüberstehen. Vgl. 
hierzu: R.W. Wood, Phil. Mag. 24 (1912), p. 316; F. Rother, Ann. d. Phys. 44 
(1914), p. 1238 (Diss. Leipzig); @. Hoffmann, Ztschr. f. Phys. 4 (1921), p. 363 (dort 
noch weitere Literaturangaben). 


838 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


wie in der klassischen Thermodynamik reversibel zu operieren. In 
der Durchführung im einzelnen unterscheiden sich die Theorien von 
Baedecker und Krüger!) in der Hauptsache darin, daß der von Krüger 
benutzte Kreisprozeß ein Glied mehr enthält als der von Baedecker, 
daher rührend, daß die Verhältnisse im wirklichen Metallkreis nicht 
vollständig denen im idealisierten Dampfkreis entsprechen und durch 
eine Übergangswärme in den Lötstellen zu ergänzen sind. Dies hat 
zur Folge, daß z. B. im Ausdruck für die Peltierwärme dieser nicht 
elektrische Energieanteil hinzukommt; zudem sind in dieser exak- 
teren Theorie von Krüger die Vorstellungen von Stark und Königs- 
berger'”®) über die Dissoziation der Elektronen im Metall mitver- 
arbeitet. Unter der Annahme der Reversibilität der thermoelektri- 
schen Vorgänge, einer von der Temperatur abhängenden Dissoziation 
der Metallatome in frei bewegliche negative Teilchen (Elektronen und 
feste positive Reste), eines thermodynanıisch bestimmten Dampfdruckes 
der Elektronen über der festen Phase des Metalls und endlich der 
Gültigkeit der idealen Gasgesetze für die freien Elektronen innerhalb 
und außerhalb des Metalls, kann man durch Betrachtung des offenen 
gleichtemperierten Kreises aus zwei Metallen nach dem Spannungs- 
gesetze die Potentialdifferenz E’ an der Berührungsstelle der beiden 
Metalle finden, die gleich sein muß der Summe der Potentialdiffe- 
renzen der beiden Metalle gegen das Vakuum; diese beiden sind ge- 
geben durch die Arbeit, die man gewinnt, wenn man die Elektronen 
vom Dampfdruck im Metall auf den Dampfdruck im Vakuum bringt, 
und man erhält 


P, 
(56) E,,— «Tin5%- 


Die Anwendung der Clausius-Clapeyronschen Gleichung erlaubt dann 
die Logarithmen der Dampfdrucke mit der Verdampfungswärme zu 
verknüpfen. Ist q die Differenz der Verdampfungswärmen für die 
beiden Metalle, so darf man aber nicht die gesamte Wärmetönung 
E’+-.g bei Verdampfung von 1 Mol Elektronen aus dem einen Me- 
tall und Kondensation in dem andern einfach gleich der Peltierwärme 
setzen, sondern man muß berücksichtigen, daß einerseits sich jede 
dieser Verdampfungswärmen zusammensetzt aus zwei Teilen, nämlich 
aus der Dissoziationswärme g, und aus der eigentlichen Austritts- 


102) K. Baedecker, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 809; Ann. d. Phys. 35 (1911), 
p. 75; F. Krüger, Phys. Ztschr. 11 (1910), p. 800; 12 (1911), p. 860; vgl. auch 
Kunz, Phil. Mag. 16 (1908), p. 764. 

103) J. Königsberger, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 1907, p. 458; J. Stark, Naturw. 
Rundsch. 17 (1902), p. 533, 549. 


14. Freie Elektronen im Innern des Metalls. Die Elektronenkonstanten. 839 


wärme Metall— Vakuum g,, daß dagegen bein Übergang von Elek- 
tronen direkt von einem Metall zum andern (im elektrischen Strom) 
es sich nur um freie Elektronen handelt, für welche die Wärmetönung 
des Übergangs sich zusammensetzt aus der elektrischen Arbeit und 
der (nichtelektrischen) Differenz der Austrittswärme g,. Man erhält 
so für die Peltierwärme | 


(57) nN=E+(.— %:); 


also einen um die Differenz der Dissoziationswärme kleineren Betrag 
als den bei der Verdampfung, Überführung und Kondensation ein- 
tretenden Wärmeverbrauch. Von da aus kann man nun schrittweise 
weitergehen zu einer Reihe anderer Beziehungen zwischen den thermo- 
elektrischen Größen. Die wichtigsten sind: 


Potentialdifferenz im Temperaturgefälle!#%) dE’ = — gq:- 7 j 


(em Thomsonwärme 6-dT=dE” — rdT (r = spez. Wärme der 


freien Elektronen), 


aus denen eine Menge speziellerer Formeln und Folgerungen unmittel- 
bar abzuleiten sind. Die Theorie von Baedecker liefert demgegenüber 
natürlich etwas andere Formeln, da sie den nicht elektrischen Anteil 
der Peltierwärme (9,5 — 9,; in Gleichung (57)) Null setzt und außer- 
dem annimmt, daß die Temperaturkoeffizienten der g, für alle Metalle 
denselben Wert haben; die Verdampfungswärmen werden mit den 
Dissoziationswärmen identifiziert. 

Neben Krüger und Baedecker hat sich um den Ausbau der Theorie 
namentlich Richardson!®) in eingehenden Untersuchungen bemüht und 
die Betrachtungen auch verallgemeinert auf den Fall, daß sich die 
Elektronen im Innern des Metalls nicht in einem Raum konstanten 
Potentials befinden. Außerdem sind hier noch zwei Arbeiten von 
Schottky!%®) und Bohr!) zu erwähnen, die eine weitere Verfeinerung 
der Ansätze bringen; es handelt sich in denselben um die schärfere 
Fassung des Begriffes der Austrittsarbeit und der nach Clausius- Cla- 
peyron anzusetzenden inneren Verdampfungswärme der Elektronen, 
welche die Berücksichtigung z. B. der Änderung der Eigenenergie des 
Metalls bei Austritt eines Elektrons sowie des Unterschiedes zwischen 


104) Eine experimentelle Untersuchung und ausführliche Diskussion spe- 
ziell der Gefällkraft bei H. Hirig, Phys. Ztschr. 15 (1914), p. 388 (dort weitere 
Literatur). 

105) ©. W. Richardson, Phil. Mag. 23 (1912), p. 594; 24 (1912), p. 737. 

106) W. Schotiky, Verh. d. Deutsch. Phys. Gesellsch. 17 (1915), p. 109. 

107) N. Bohr, Phil. Mag. 23 (1912), p. 924. 


840 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


den Verhältnissen bei stationärem Strom und bei thermischem Gleich- 
gewicht erfordert. Endlich verdient noch ein Versuch von Herzfeld'%®) 
in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden, der in vermutlich aus- 
sichtsreicher Weise durch eine Verknüpfung mit elektrochemischen 
Daten eine Erweiterung des bisher besprochenen theoretischen Stand- 
punktes anbahnt. Das von Herzfeld betrachtete System besteht aus 
einem Metall mit Atomen, positiven Ionen und Elektronen, einer 
darüberliegenden Lösung (Wasser) und darüber Wasserstoff in freiem 
Raum, in welchem nun wiederum geeignete Kreisprozesse vorgenom- 
men werden, die unter anderem zu der Nernstschen Formel zwischen 
dem Dampfdruck der Ionen im Metall und in der wässerigen Lösung 
führen und diese so als lonengleichgewichtsformel zwischen Metall 
und Lösung darstellen lassen. Leider fehlt zur vollständigen quantita- 
tiven Diskussion die Kenntnis des Wertes der Zersetzungsspannung 
und ihres Temperaturkoefizienten. 

b) Gehen wir nun zu dem zweiten der zu Anfang dieser Nummer 
genannten Punkte über, nämlich zu der Beibringung von Zahlenwerten 
für die kinetischen Daten des Elektronengases, so werden wir solche 
für die Dichte und freie Weglänge der Elektronen und ihrer Ab- 
hängigkeit von der Temperatur fordern müssen; erst dadurch wird das 
Bild der kinetischen Theorien ein befriedigendes. 

Es ergibt sich hier die Möglichkeit zu einer Prüfung und Kritik 
der Grundlagen der Theorien selbst einmal dadurch, daß mangelnde 
Übereinstimmung der auf verschiedenen Wegen erhaltenen Werte für 
dieselbe Konstante auf Unvollkommenheiten der Theorie hinweisen 
oder dadurch, daß mıan die Ergebnisse vergleicht mit denen ander- 
weitiger Vorstellung über den inneren Bau des Metalls. Auf diesem 
Weg ist es in der Tat möglich gewesen (vgl. Nr. 17), das Material 
für die Kritik und die schwerwiegenden Bedenken gegen die gaskine- 
tischen Theorien überhaupt zu gewinnen. 

Eine Bestimmung'”) der Elektronendichte N ist auf folgenden 
Wegen möglich. Unmittelbar liefert N a) der Halleffekt, b) die Metall- 
optik, d.h. die beiden metalloptischen Konstanten » und %, ec) der 
thermoionische Sättigungsstrom (bei mindestens zwei Temperaturen). 
Mittelbar, und zwar über das Produkt N/ aus Elektronendichte und 
freier Weglänge, wobei also die Weglänge anderweitig bereits bekannt 
sein muß, ist N zu berechnen. d) Aus der elektrischen Leitfähigkeit. Ein 


108) K. F. Herzfeld, Phys. Ztschr. 16 (1915), p. 354. 

109) Hinweise auf die Literatur im einzelnen sind hier und im folgenden 
unterblieben, soweit sie in den einschlägigen Nummern dieses Artikels unschwer 
zu finden sind. 


14. Freie Elektronen im Innern des Metalls. Die Elektronenkonstanten. 841 


von Herzfeld*'P) vorgeschlagener Weg, die für Gase bekannte Entropie- 
konstantenformel zu übertragen auf das Elektronengas und damit den 
Dampfdruck absolut zu berechnen (wobei die Verdampfungswärmen 
entnommen sind aus den thermoionischen Effekten), sei der Voll- 
ständigkeit halber erwähnt, da er, über die gaskinetischen Elektronen- 
theorien hinausgehend, in vorläufig hypothetischer Weise deren Grund- 
annahmen erweitert. Auch eine wohl von Kiecke zuerst vorgeschla- 
gene Methode!!!), N zu berechnen aus der spezifischen Wärme (Ab- 
weichung vom Dulong-Petitschen Gesetz), hat nur prinzipielle Bedeutung 
und schließt streng genommen sogar einen Zirkelschluß in sich. End- 
lich verdient noch eine originelle Idee von Thomson"!?) erwähnt zu 
werden, aus elektrostatischen Betrachtungen zu einer Schätzung von 
N zu gelangen. Er findet unter der Annahme eines dem Gasgesetz 
gehorchenden Elektronendruckes p für die Potentialdifferenz zwischen 
einem Punkt der Oberfläche und einem Punkt im Inneren eines auf 
dem Potential Null erhaltenen mit der negativen Ladungsdichte 'g. be- 


legten Konduktors den Wert 4x 2 und daraus, da p—= 3N«T ist, 
p 


also eine Möglichkeit, N zu bestimmen, die sogar experimentell aus- 
genutzt werden könnte. Relative Werte für die Elektronenzahlen, d.h. 


für das Verhältnis = für zwei Metalle, kann man unmittelbar ent- 
2 


nehmen aus den Formeln für die Thermokraft, Aussagen über die Ab- 
hängigkeit der Elektronenzahlen von der Temperatur außer aus den 
Temperaturkoeffizienten derjenigen Größen, die N allein lieferten, 
namentlich aus dem Thomsoneffekt. 

Die freie Weglänge ! der Elektronen?) läßt sich schätzen aus 
dem anderweitig bekannten mittleren Abstand der Metallatome, falls 
nur die Stöße mit diesen in Betracht kommen und man die aus Be- 
trachtungen an langsamen Kathodenstrahlen bekannte Größe der Wir- 
kungssphären auf die Verhältnisse im Innern der Metalle übertragen 
darf. Unmittelbar dagegen kann man die freie Weglänge wohl am 
besten finden aus metalloptischen Daten, die nach den neuesten Ar- 


110) K. F. Herzfeld, Phys. Ztschr. 15 (1913), p. 1119; anschließend dazu Be- 
merkungen von E. Riecke. 

111) E. Riecke, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 508. 

112) J. J. Thomson, Corpusculartheorie der Materie, p. 80; vgl. auch E. Silber- 
stein, Phil. Mag. 36 (1918), p. 418. 

113) Die Berechnung der Weglänge aus der mittleren Zeit zwischen zwei 
Zusammenstößen eines Elektrons ist, da man bei gegebener Temperatur die 
mittlere Geschwindigkeit der Elektronen kennt, im folgenden nicht noch beson- 
ders erwähnt. | 

Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 55 


842 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


beiten von Jaffe, Enskog u. a. (Fußn. 94) N und } getrennt zu be- 
rechnen erlauben. Eine obere Grenze ergibt sich nach Reinganum 
u. a.) aus den kürzesten ultraroten Wellenlängen, für welche die 
Maxwellsche Relation zwischen dem Reflexionsvermögen und der 
elektrischen Leitfähigkeit noch gilt, oder nach Thomson'") aus der 
Grenzdiehte dünner Metallschichten, bei denen eben der Widerstand 
sich gegenüber dem gewöhnlichen Wert zu ändern beginnt. Diese 
verschiedenen Methoden sind aber durchaus nicht gleichwertig; teils 
sind die Ergebnisse der Beobachtung noch recht ungenau — als Bei- 
spiel diene etwa die Bestimmung von N aus dem thermoionischen 
Sättigungsstrom —, teils, wie z. B. bei den die metalloptischen Daten 
benutzenden Berechnungen, ist die Theorie selbst noch nicht abge- 
schlossen. Die Aussagen über den absoluten Wert der Konstanten N 
und Z wird man deshalb mit Vorsicht aufnehmen müssen und aus 
ihnen nicht mehr als die Größenordnung, diese aber wohl mit Sicher- 
heit, entnehmen können. Trotzdem zeigen sich in den bisher nach 
den verschiedenen Methoden erhaltenen Konstantenwerten und ebenso 
in ihren Temperaturkoeffizienten zweifelsfrei innere Widersprüche der 
Theorie bereits an. 

Die Größenordnung der Elektronendichte, bezogen auf die Atom- 
dichte, d. h. also die Zahl p der freien Elektronen pro Atom, ergibt 
sich aus allen direkten Methoden, insbesondere aus der Metalloptik 
und dem Halleffekt, gleich 1, numerisch in den meisten Fällen etwas 
geringer (etwa 0,3), in manchen Fällen auch etwas größer (ansteigend 
bis etwa 7). Die Weglänge wird man von der Größenordnung 1077 
bis 10-8 em ansetzen können. Versucht man dagegen die Zahl p zu 
berechnen aus der elektrischen Leitfähigkeit, indem man entweder den 
direkt erhaltenen Wert für Z oder den aus den mittleren Atomabstän- 
den folgenden benutzt, so erbält man einen Wert von hundertmal 
größerer Ordnung. Die Elektronendichten in verschiedenen Metallen 
ergeben sich, wie dies bereits aus der Übereinstimmung der Größen- 
ordnung von p folgt, nur wenig voneinander verschieden. Doch auch 
hier zeigt sich ein Widerspruch insofern, als die Reihenfolge der 
Metalle, geordnet nach den direkt erhaltenen Werten, nicht überein- 
stimmt mit der Reihenfolge der thermoelektrischen Spannungsreihe. 
Im einzelnen die von verschiedenen Seiten erhaltenen Zahlenwerte zu 


114) M. Reinganum, Ann. d. Phys. 16 (1905), p. 958; .J. Königsberger und 
J. Weiß, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 38; J. J. Thomson, Corpusculartheorie der 
Materie, p. 82. 

115) J. J. Thomson, Cambr. Proc. 1901, p. 1119; K Baedecker, Elektrizitäts- 
leitung in Metallen, p. 16; J. Patterson, Phil. Mag. 4 (1902), p. 652. 





15. Thermoionische Untersuchungen. 843 


diskutieren, hat kaum Zweck. Dagegen ist es nun noch notwendig, 
auf die Temperaturabhängigkeit von N und ? einzugehen, weil auch 
hier deutlich Unstimmigkeiten zutage treten. 

Die Abhängigkeit der Elektronendichte von der Temperatur läßt 
sich unmittelbar entnehmen aus dem Thomsoneffekt und müßte nach 


Drude, Lorentz und Thomson dargestellt werden durch N TE N nr 


und NT 3 jedenfalls müßte also N sich mit sinkender Temperatur 
verkleinern. Andererseits gibt der Temperaturkoeffizient der elek- 
trischen Leitfähigkeit, daß das Produkt N -! mit steigender Tempe- 
ratur abnimmt, so daß also in Verbindung mit der Temperaturab- 
hängigkeit von N notwendigerweise anzunehmen ist!!®), daß 7 mit 
steigendem 7’ abnimmt, und zwar (da 6 ungefähr proportional 7’ ist) 
nach Lorentz umgekehrt proportional 7°, nach Thomson umgekehrt 
proportional 7T. Ließen sich selbst Modelle ersinnen, die eine solche 
Abnahme ergeben würden, so wäre damit wenig gewonnen. Denn 
einerseits gibt der Temperaturkoeffizient des Halleffekts bei manchen 
Metallen bereits eine kleinere Zunahme von N als im Widerspruch 
zur Thomsonwärme folgen würde, andererseits zeigen metalloptische 
Daten an, daß die freie Weglänge nicht stärker als umgekehrt pro- 
portional 7’ mit steigender Temperatur abnimmt. Die Theorie ver- 
wickelt sich so — die Beispiele ließen sich noch vermehren — schon 
bei gewöhnlichen Temperaturen in Widersprüche. Zur Ergänzung 
sei noch die Abhängigkeit von N und / vom Druck erwähnt, die aus 
der Änderung der elektrischen Leitfähigkeit und der Stellung des 
Metalls in der thermoelektrischen Spannungsreihe sich entnehmen 
lassen; es hat sich dabei ergeben, daß man auf eine Vergrößerung 
von } und ebenso von N und von p zu schließen gezwungen ist.!!”) 
Die Anwendung der klassischen Theorie auf die Verhältnisse bei 
tiefen Temperaturen — alle bisher gegebenen Angaben beziehen sich 
auf mittlere Temperaturen in der Umgebung von 0° Celsius — ver- 
schärft die Widersprüche. (Vgl. Abschn. IV, insbesondere Nr. 17.) 


15. Thermoionische Untersuchungen.''®) Es liegt auf der Hand, 
daß zwischen der thermischen (oder sog. glühelektrischen) Elektronen- 
emission der Metalle und der eigentlichen in diesem Artikel zu be- 


116) Ganz abgesehen von der aus jeder Dissoziationsvorstellung folgenden 
qualitativen Zunahme der Elektronendichte mit der Temperatur. 

117) Vgl. auch Fußn. 169). 

118) Eine ausführliche Besprechung der gesamten theoretischen wie experi- 
mentellen Literatur findet man bei W.’Schottky, Jahrb. d. Rad. u. Elektr 12 
(1915), p. 147 und in einem Artikel von O. W. Richardson in Marx’ Handb. d. 
Radiologie, Bd. 4, p. 445. 

55* 


844 V 20. Rudolf Seeliger. }lektronentheorie der Metalle. 


handelnden Elektronentheorie des Metallinnern viele und enge Bezie- 
hungen bestehen; die Verknüpfung der beiden Gebiete läßt sich am 
einfachsten herstellen auf Grund des in Nr. 14 benutzten Bildes von 
einem Elektronengas oder besser einem Elektronendampf im Innern 
der Metalle, der bei genügend hoher Temperatur in meßbarer Menge 
das Metall verläßt und analog dem Dampf über einer Flüssigkeit in 
den Außenraum übertritt. Zu ergänzen sind diese „thermoionischen“ 
Erscheinungen durch eine Reihe dene Vorkommen von Elek- 
tronenemission durch Metalle, nämlich durch die der lichtelektrischen 
Phänomene'!?) und der sog. Sekundärstrahlung'”) beim Auftreffen 
von korpuskularen Strahlen und Röntgenstrahlen auf ein Metall. Da- 
bei interessieren hier nun vornehmlich zwei Fragen. Einmal wird es 
sich darum handeln, aus Beobachtungen an den emittierten Elektronen 
Rückschlüsse auf die Verhältnisse im Metallinnern zu ziehen; daneben 
aber erhebt sich die rein theoretische Frage, inwieweit die Analogie 
mit einem Dampf überhaupt einer strengeren Kritik standhält. Dies 
soll erst in der folgenden Nr. 16 und zwar für das Innere und Äußere 
behandelt werden, während hier die zur Beantwortung der ersteren 
gehörenden Arbeiten Platz finden. Ein Eingehen auf Einzelheiten und 
die Anführung ‚spezieller Literatur erübrigt sich im Hinblick auf die 
in Fußn. 118) genannten monographischen Darstellungen. 

Der Gedanke, dem in allen hierher gehörenden Betrachtungen 
eine grundsätzliche Bedeutung zukommt, ist, daß ein Elektron beim 
Austritt aus dem Metall, d.h. beim Durchtreten durch die Metallober- 
fläche, eine bestimmte nur von der Natur des Metalls (und eventuell 
von der Temperatur) abhängende Arbeit, die Austrittsarbeit, zu leisten 
hat. Dabei genügt es vorerst, diese Austrittsarbeit als eine charakte- 
ristische Konstante phänomenologisch einzuführen; nähere Angaben 
über den Mechanismus, der dieser Austrittsarbeit zugrunde liegt, kom- 
men erst in zweiter Linie in Frage. Nimmt man für die freien 
Elektronen im Innern des Metalls Maxwellsche Verteilung an, so 
kann man die Zahl » der in der Zeiteinheit durch die Flächeneinheit 
der Begrenzung des Metalls tretenden Elektronen in einfacher Weise 
finden, wenn man unter Einführung der genannten Austrittsarbeit w 


119) Literatur bei R. Pohl und P. Pringsheim, Die lichtelektr. Erschein., 
Sammlung Vieweg, Heft 1, 1914; W. Hallwachs, Artikel Lichtelektrizität in 
Marx’ Handb. der Radiologie, Bd. 3, p. 245; vgl. außerdem A. Becker, Ann. d. 
Phys. 58 (1919), p. 891. 

120) Außer den monographischen Darstellungen der Physik der Röntgen- 
strahlen vgl. zahlreiche Arbeiten der Lenardschen Schule in Ann. d. Phys. und 
besonders das zusammenfassende Werk von Ph. Lenard, Heidelberger Akad. 
1918, Nr. 5. 


15. Thermoionische Untersuchungen. 845 


für die Normalkomponente der Geschwindigkeit der austretenden Elek- 
tronen die Bedingung vorschreibt 


(59) "> w 
und erhält 
(60) von. Vet gar m, 


und daraus für den thermoionischen Sättigungsstrom, falls N und w 
unabhängig von der Temperatur sind, die Form 
b 


1 
(1) i=4A:T?.e?; A— Ne( & )2; be), 





2m 


die einerseits zur experimentellen Verifikation der Theorie, anderer- 
seits zur Bestimmung der Größen A und b und damit der Größen N 
und dienen kann. Die Grundannahmen der Mazxwellschen Vertei- 
lung sind außer auf diesem Weg bestätigt durch direkte Messung 
der Verteilung der Austrittsgeschwindigkeiten, die eingehenden Kon- 
stanten, insbesondere die Austrittsarbeit, außerdem durch Messungen 
der Austrittswärme auf direktem thermischem Weg, d.h. durch die 
mit der Emission verbundene Abkühlung des Metalls. Zu bemerken 
ist aber, daß die Beziehungen (60) bzw. (61) nicht eindeutig an die 
Annahme freier Elektronen im Metall gebunden sind, sondern sich 
rein thermodynamisch ableiten lassen lediglich auf Grund der Be- 
hauptung, daß das Elektronengas im Außenraum im thermodynami- 
schen Gleichgewicht steht mıt dem Metall. Man kann die Ableitung 
der Formel (61) in direkter Analogie zu der Thermodynamik der 
Verdampfung gestalten, wenn man die latente Wärme der Verdamp- 
fung L einführt durch 
(61 a) L=vw-+pr, 
wo p der Druck der Elektronen, » das spezifische Volumen derselben 
nach der Verdampfung ist, das im Vergleich zu dem Volumen vor 
der Verdampfung sehr groß angenommen werden muß. Soviel über 
die Grundlagen. 

Was zunächst die Austrittsarbeit » anlangt, so kann sie einmal 
nach Gleichung (61) durch Messung der Sättigungsstromdichte ge- 


wonnen werden; diese liefert die Konstante b und wegen b= ri also 
0 
unmittelbar w. Die Messungen sind schwierig und unsicher, da Rein- 
121) «, ist hier und im folgenden die Gaskonstante bezogen auf ein Teil- 
chen eines elementaren Gases. 


121a) Eine Verwechslung der Elektronenladung e und des Transzendenten 
e wird nicht zu befürchten sein. 


846 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


heit und Vorbehandlung des Metalls von großem Einfluß sind, und 
da es sich zugleich mit einer Bestimmung von b stets auch um eine 
Bestimmung von A handelt; insbesondere bedingt ein kleiner Fehler 
in b bereits einen sehr großen in A. Drückt man in der üblichen 
anschaulichen Weise die Austrittsarbeit (p) in Volt aus nach der Be- 
ziehung p = 8,59 - 10°, so erhält man Werte von der Größe einiger 
Volt, für Platin z.B. nach einer kritischen Verwertung aller verfüg- 
baren Einzelresultate 5,72 Volt. Sehr viel ungenauer sind nach dem 
oben Gesagten die Werte von A und damit von N, für welches ledig- 
lich die Größenordnung von 10°, das ist die Größenordnung der Atom- 
zahlen pro cem, sicher gestellt ist. Die zweite direkte Methode der 
Austrittswärme erlaubt w nur zu berechnen unter gewissen einschrän- 
kenden Annahmen über die Energie der Elektronen im Innen- und 
Außenraum und führt deshalb nach den einzelnen Theorien zu ver- 
schiedenen Werten. Letzten Endes sind die Unterschiede begründet 
in den Unterschieden zwischen einer latenten statistischen Verdamp- 
fungswärme, der Wärmeentwicklung an der Metalloberfläche und der 
von Richardson benutzten Austrittsarbeit, die namentlich Schottky in 
dem Fußn. 118) genannten Bericht scharf herausgearbeitet hat. Die 
Beeinflußung der Austrittsarbeit durch das äußere Feld und der ganze 
Komplex der unter dem Namen Raumladungserscheinungen zusammen- 
zufassenden Komplikationen, die theoretisch und praktisch von größter 
Bedeutung sind, gehören nicht mehr zur eigentlichen Elektronentheorie 
der Metalle. 

Die zweite Frage nach der Geschwindigkeitsverteilung der Elek- 
tronen nach ihrem Austritt scheint durch eine Reihe eingehender 
experimenteller Untersuchungen im Sinn der Maxwellschen Verteilung 
bejahend beantwortet zu sein. Es ergäbe sich daraus, wie dies nament- 
lich Richardson**?) betont, die für die Elektronentheorie der Metalle 
wichtige Folgerung, daß auch die Verteilung der Geschwindigkeit im 
Innern des Metalls in Übereinstimmung mit Marwells Verteilungs- 
gesetz steht und daß die mittlere übertragene kinetische Energie sol- 
cher Elektronen identisch ist mit der der Moleküle eines Gases bei 
der Temperatur des Metalls. 

Die Möglichkeit von Beziehungen zwischen der eigentlichen 
Thermoionik und der Theorie der thermoelektrischen Erscheinungen 
übersieht man im Anschluß an den vorhergehenden Abschnitt, wenn 
man sich klarmacht, daß es für eine Reihe von Fragen prinzipiell 


122) Fußn. 118), insbesondere p. 517 des dort genannten Berichtes, zu er- 
gänzen durch einen im Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 1921 erscheinenden Bericht von 
A. Becker, welcher diese Frage kritisch betrachten wird. 


15. Thermoionische Untersuchungen. 847 


keinen Unterschied macht, ob in einem heterogenen Kreis zwei Me- 
talle sich unmittelbar berühren oder sich im Vakuum gegenüberstehen. 
Dabei resultiert die Mannigfaltigkeit der einzelnen Resultate und 
Theorien letzten Endes aus den verschiedenen Möglichkeiten, mit dem 
Elektronengas gedankliche thermodynamische Operationen auszuführen, 
und zum Teil natürlich auch aus der Schärfe der Fassung der dabei 
notwendigerweise eingehenden Definitionen; eine eingehende kritische 
Darstellung enthält der Fußn. 118) genannte Bericht von Schottky. Es 
seien hier nur noch zwei solche Beziehungen angeführt, um die Natur 
der Resultate im allgemeinen zu charakterisieren. Aus der Grund- 
gleichung für die statistische Verteilung der Dichte n eines Systems 
von Teilchen, die dem Hamiltonschen Prinzip gehorchen und deren 
potentielle Energie U nur von der Lage abhängt!??*) 

AU 
(62a) n—=n:e % 
erhält man, falls im Innern des Metalls Gebiete merklich konstanten 
Potentials den Elektronen zur Verfügung stehen, die Beziehung zwi- 
schen der Voltapotentialdifferenz Y, den Elektronendichten n, und n, 
im Innern und den Austrittsarbeiten w, und w, die zuerst von De- 
bye'*°) gefundene Beziehung 


(62) | Ve Re Te 


e N, gr 


die sich unter Vernachlässigung der Peltierwärme vereinfacht zu der 
angenäherten und durch die Erfahrung in vielen Fällen gut bestä- 
tigten Gleichung 

(63) ı KER er ai A 


€ 


Eine zweite Beziehung, nämlich zwischen thermoionischen Daten und 
Thomsonwärmep, ergibt sich, wenn man die Konstanz von w und 
N in Gleichung (60) fallen läßt und den thermoelektrischen Strom 


1222) » und n sind die Konzentrationen in der Umgebung zweier Punkte 
mit dem potentiellen Energieunterschied AU; eine Verwechslung der Basis e 
mit der Elektronenladung e im folgenden ist wohl nicht zu befürchten. 

123) Wie überhaupt die Theorie von Debye (vgl. Nr. 6) in konsequenter 
und einheitlicher Weise den ganzen Komplex der thermoelektrischen und thermo- 
ionischen Erscheinungen umfaßt und aus der Statistik des Systems aus freien 
und gebundenen Elektronen im Innen- und Außenraum eines Metalls zu ver- 
stehen lehrt. Wie Schottky in seinem öfter genannten Bericht mit Recht hervor- 
hebt, wird man als Mangel dieser Theorie nur bezeichnen müssen, daß sie sich 
zur Einführung schwer kontrollierbarer Annahmen über die Vorgänge im Metall- 
innern gezwungen sieht, die zu vermeiden eines der Ziele der späteren von Bae- 
decker und Krüger durchgeführten eigentlichen Elektronendampfdrucktheorien war. 


848 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


in einem Leiterkreis als reversibeln, von den Wärmeleitungseffekten 
trennbaren Vorgang durch einen Kreisprozeß nachahmt. Man erhält 


dann für den Sättigungsstrom 7 
(64) i—= BT!e ar a) Te 


worin 6 die Thomsonwärme und #’ die Austrittswärme eines Elek- 
trons, B eine Konstante ist; die Elektronendichte im Innern ist aus 
dieser Formel in gegen Gleichung (61) vorteilhafter Weise verschwun- 
den. Auf die Unterschiede zwischen w, w’” und dem in der aus der 
Olausius-Clappeyronschen Formel folgenden Gleichung für die Elek- 
tronendichte im Außenraum P 

f; ar 

(64 a) n=4A:e 
auftretenden W wurde von verschiedenen Seiten hingewiesen (vgl. 
Schottky, Fußn. 118). 

Über den Zusammenhang zwischen lichtelektrischer und thermi- 
scher Elektronenemission, wie er z. B. in der Ansicht, der glühelek- 
trische Effekt sei ein lichtelektrischer des Metalls auf sich selbst, zum 
Ausdruck kommt, sowie über Einzelheiten des Mechanismus der Elek- 
tronenauslösung und hierher gehörende Literaturangaben hat Becker '**) 
ausführlich berichtet. Die lichtelektrische Elektronenemission und die 
durch Sekundärstrahlung von Röntgen- und Korpuskularstrahlen scheint 
im übrigen im Rahmen einer Elektronentheorie der Metalle noch nicht 
einheitlich behandelt und zu weiteren Schlüssen verwertet worden 
zu sein. 


16. Die thermodynamischen Arbeiten von Laue und Schottky. 
Der Vorgang der Elektronenemission der Metalle bei höheren Tempe- 
raturen schien sich vollkommen erfassen zu lassen durch die Auffas- 
sung einer Verdampfung der Elektronen aus dem heißen Metall, wie 
sie mit Hilfe der Clausius- Clappeyronschen Gleichung in einfachster 
Weise zuerst Wilson'?) beschrieben hatte. Man findet aus dieser für 
die Grenzdichte e, der Elektronen an der Metalloberfläche den Ausdruck 

Ww h 

(65) 0, = konst. “7? 
wenn man mit W ganz allgemein die Änderung der Gesamtenergie 
von 1 Mol Elektronen beim Austritt aus dem Metall bezeichnet. Diese 
Einfachheit der Sachlage scheint nun aber neuerdings gestört zu sein 
durch eine Reihe tiefgehender Untersuchungen von von Laue'”°) und 


124) A. Becker, Ann. d. Phys. 60 (1920), p. 30. 
125) H. A. Wilson, Phil. Trans. (A) 202 (1903), p. 258. 
126) M.v. Laue, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 15 (1918), p. 205, 257, 801. " 


16. Die thermodynamischen Arbeiten von Laue und Schottky. 849 


eine daran anschließende noch nicht bis zur vollständigen Klärung 
durchgeführte Diskussion zwischen von Laue und Schottky'?”). Die 
Lage der Dinge und ihre historische Entwicklung läßt sich kurz da- 
hin zusammenfassen, daß zunächst von Laue in den genannten Ar- 
beiten die Berechtigung der Annahme eines um das heiße Metall sich 
ausbreitenden Elektronengases, d. h. die thermodynamisch vollkom- 
mene Analogie des Elektronenensembles mit einem idealen Gas, be- 
stritten und eine von der Wilson-Clausius-Clappeyronschen Dampfdruck- 
formel abweichende abgeleitet hat, während Schotiky teils formal, teils 
begrifflich die Existenz des klassischen Elektronendampfes zu retten 
sucht. 

von Laue geht voraussetzungslos — abgesehen von einigen An- 
nahmen allgemeinster Natur — aus von der Differentialgleichung für 
das Potential im Außenraum von Metallkörpern konstanter Tempe- 
ratur und konstanten Potentials der Form 
(66) Ay = me“, 
deren Diskussion und Integration mit Hilfe von Ap = — o die Dichte 
der Elektronen im Außenraum liefert. Er findet zunächst, daß die 
Elektronen — die „Elektronenwolke“ zum Unterschied von dem klas- 
sischen „Elektronendampf“ — eine an den Metallfliächen anliegende 
Schicht bilden, deren Energie, Entropie und Ladung sich angeben 
läßt und der bei gekrümmter Oberfläche ein bestimmter (negativer) 
Kapillardruck zukommt. Für die Grenzdichte unmittelbar am Metall 
findet er die von (65) abweichende Formel 


(67) 


worin N die Zahl der Moleküle im Mol, R die Gaskonstante, — a die 
Arbeit zur Entziehung von 1 Mol Elektronen bei konstanter Tempe- 
ratur und endlich © eine universelle Konstante ist, die mit der En- 
tropiekonstanten der Elektronen nahe zusammenhängt. Die Bildkraft 
ist bei dieser Untersuchung vernachlässigt, wird aber später mitein- 
bezogen. Während nämlich die bisherigen Entwicklungen auf hin- 
reichend hohe Temperaturen und auf hinreichenden Abstand von der 
Metalloberfläche beschränkt waren, wo die Bildkraft gegen die übrigen 
mit der Temperatur schnell steigenden Kräfte klein ist, gelingt nun 


18 A A 


127) W. Schottky, Phys. Ztschr. 20 (1919), p. 49, 220; M. vo. Lawe, Ann. d. 
Phys. 58 (1919), p. 695; Phys. Ztschr. 20 (1919), p. 202. 
128) Benutzt ist hier das Lorentzsche Maßsystem. Es ist 


3 
e—= 4,76 - 10710 Y4 g* cm? sec=!, N=6,08-10°, R=8,31 10°: gem?’sec”*grad-! 
und C= 7,80 : 10- 1° cm-? grad”? 


850 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


der Nachweis, daß allgemein die Bildkraft in dem früher benutzten 
Wert für die potentielle Energie der Elektronen enthalten ist, wenn 
nur die Raumladungen so dicht sind, daß sie ein zeitlich unver- 
änderliches Potential hervorrufen. Zur Orientierung über die Struktur 
und die Eigenschaften der Elektronenschicht können die folgenden 
Zahlenwerte dienen, die mit den von Langmuir gefundenen Werten 
(für Wolfram) der Konstanten A und b in Gleichung (61)') unter 
Vernachlässigung der Reflexion der Elektronen an der Metallober- 
fläche berechnet sind. Es bedeutet g, die Grenzdichte der Elektronen, 
E den Wert der Feldstärke an der Grenzfläche (beide im elektro- 


statischen Maßsystem), < bzw. die Zahl der Elektronen pro Volum- 


einheit an der Grenzfläche bzw. pro Flächeneinheit des Metalls, u die 
kinetische Energie pro Flächeneinheit in Erg und endlich « die Ober- 
 Bächenspannung (den Oberflächendruck) pro Längeneinheit in Dyn. 
































Tabs.) TmRg urn £ 5 U 6 

2400 1,4. 10? 0,12 3,1. 10"! 2,6. 108 2,1-107* | 1,7.107% 
2600 7,8.10° 0,30 1,6. 10"? 6,3 - 108 5,5-107* | 4,4.10=* 
3000 1,4. 10% 1,55 3,0 . 10°? 3,2.10° 2,6-107? | 2,1-1075 


Mit einem idealen Gas hat die Elektronenschicht keine Ähnlichkeit, 
nähert sich auch nicht einem solchen mit wachsender Temperatur, 
wenigstens solange die Verbindung mit einer stets neue Elektronen 
nachliefernden Elektrode besteht. Erst für den Fall konstanter Elek- 
tronenzahl ist diese Analogie berechtigt. Die Folgerungen aus der 
gegen (69) veränderten Gleichung (67) sind naturgemäß für die Elek- 
tronentheorie der thermoelektrischen Effekte und für die Thermoionik 
recht einschneidende. Auf die ersteren geht von Laue nicht ein, wohl’ 
aber auf den thermoionischen Sättigungsstrom und zeigt, daß mit 


(67a) u=—R{ß+TY+6MT)), 


wo ß,y,ö von der Temperatur unabhängige Materialkonstanten sind, 
der Anschluß beider Formeln aneinander zu erzielen ist. Der im spe- 
ziellen erforderliche Wert ö = ? (bzw. der Wert des Exponenten von 
T) läßt sich aus den bisher vorliegenden Versuchsdaten über die 
Sättigungsstromstärke jedoch nicht begründen. 

Es ist also von der Elektronengasvorstellung der älteren Thhermo- 

129) A = 2,36 - 10’ amp. cm”? grad’ ®; b == 5,25 .10*grad. J. Langmuir, 
Phys. Ztschr. 15 (1914), p. 516 


17. Kritik der gaskinetischen Theorien. s5l 


ionik kaum etwas übrig geblieben, die schöne Einfachheit der Thermo- 
dynamik der Glühelektroden ist verschwunden. Nun hat demgegen- 
über Schottky (Fußn. 126, 127), wie bereits bemerkt, in mehreren No- 
tizen mit einer Verteidigung der älteren Vorstellung begonnen. Zu- 
nächst hat er gezeigt, daß die Lauesche Dampfdruckformel mit der 
aus der Clausius-Clappeyronschen Gleichung folgenden identisch ist und 
sich nur formal davon unterscheidet; weiterhin haben dann er und 
von Laue die Voraussetzungen der beiden Auffassungen einer eingehen- 
den Kritik unterzogen. Man wird den Stand der Forschung als Resultat 
dieser Untersuchungen etwa so kennzeichnen können, daß zwar z. B. 
für niedere Temperaturen die ältere Auffassung durchaus annehmbar 
erscheint, daß man aber in Strenge und allgemein nicht von der Exi- 
stenz eines Dampfdruckes und einer Zustandsgleichung der Elektronen- 
schar ausgehen darf, sondern die Bedingungen, wann die Verhältnisse 
denen in einem idealen Gas und wann sie denen in der Laueschen 
Elektronenwolke ähnlich werden, nur auf Grund der Potentialgleichung 
(66) festlegen kann: Der Begriff des idealen Gaszustandes ist ein 
Grenzwert, dem sich Elektronenwolke und Gas von entgegengesetzten 
Seiten beliebig nähern können. 


IV. Semigaskinetische und quantentheoretische Ansätze. 


17. Kritik der gaskinetischen Theorien. Ehe man sich ent- 
schließt, die gaskinetischen Theorien in Metallen überhaupt aufzu- 
geben, wird man die Gründe genauer zu erwägen haben, die zu einer 
derartigen radikalen Maßnahme drängen. Bei dieser Kritik scheint es 
nun angebracht, zwei Seiten der genaunten Theorie zu unterscheiden, 
nämlich das ihnen zugrunde liegende physikalische Bild und die 
eigentliche mathematische Theorie; denn Mängel, die sich z. B. in 
letzterer zeigen, könnten sehr wohl korrigiert werden durch eine Ver- 
feinerung und Vervollkommnung gewisser Annahmen, ohne daß man 
an dem Bild selbst etwas abzuändern brauchte. Zwischen diesen bei- 
den Seiten liegt aber noch ein Grenzgebiet, auf welchem es zweifel- 
haft sein wird, ob man sich zeigende Mängel in dem einen oder an- 
deren Sinne deuten soll; und diese werden naturgemäß für eine glatte 
eindeutige Kritik die größten Schwierigkeiten bieten. 

Beginnen wir mit dem Bild selbst, weil hier die Verhältnisse am 
einfachsten zu liegen scheinen, so werden wir als wesentliches Merk- 
mal desselben eigentlich nur die Existenz freier Elektronen im Metall- 
innern zu betrachten haben, frei in dem Sinn, daß sie bei ihrer Be- 
wegung zwischen den Metallatomen (oder positiven Restatomen) Weg- 


852 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


strecken außerhalb der Kraftwirkungsbereiche der letzteren zurücklegen 
können, die zumindest vergleichbar sind mit den Wegstrecken inner- 
halb dieser Bereiche, eine Aussage, die man in anderer Fassung be- 
ziehen kann auf die Geradlinigkeit der genannten Wegstrecken, auf 
die Bewegungsmöglichkeit in Räumen ohne potentielle Energie oder 
auf die relativen Verweilzeiten in diesen Räumen. Es ist allerdings 
selbst bei dieser äußersten Vereinfachung der Prämissen für die 
Kritik die größte Vorsicht notwendig; denn es hat z. B. Bohr als 
Grundlage seiner Theorie — die man zweifelsohne durchaus zu den 
gaskinetischen rechnen muß — ein Bild benutzt, in welchem von 
freien Elektronen in dem obigen Sinne kaum noch die Rede sein 
kann; und wenn auch gewisse Voraussetzungen in dieser Richtung 
gemacht werden mußten, so scheint die Frage doch noch nicht ge- 
klärt zu sein, inwieweit diese Voraussetzungen notwendig sind. Ge- 
rade damit aber ist man an dem Punkt, der des Rätsels Kern zu 
enthalten scheint, nämlich dem Zusammenstimmen einer physika- 
lischen Unmöglichkeit des Bildes an sich mit einer wenigstens bei 
nicht zu tiefen Temperaturen unzweifelhaften Leistungsfähigkeit 
der auf diesem Bild aufgebauten Theorien; das Rätsel scheint sich 
eben lösen zu lassen durch die trotz der zunächst scheinbaren 
Bestimmtheit vorhandene Dehnbarkeit und Unbestimmtheit jenes 
Bildes. Die genannte physikalische Unmöglichkeit, die von den ver- 
schiedensten Seiten betont wurde, zeigt sich bereits ohne jedes Ein- 
gehen auf die speziellen Annahmen der Elektronentheorie aus Be- 
trachtungen über die Struktur der Metalle, die in der Tat die Exi- 
stenz einer freien Weglänge unmöglich machen. Wie sich aus der 
einfachen Rechnung aus Volumen des Grammatoms und Anzahl der 
Atome im Grammatom, ebenso aber aus Betrachtungen über die 
Schmelztemperatur und endlich aus den neuesten Ergebnissen der 
röntgenographischen Analyse der Metallstruktur ergibt, ist der mitt- 
lere Abstand der Atommittelpunkte im Metall von der Größe rund 
eines kleinen Vielfachen von 10-® cm, ebenso groß aber ist nach den 
Ergebnissen der auf Bohrs Modell aufbauenden Atomphysik der Ra- 
dius des Atoms bzw. der Atomwirkungssphäre. Der naheliegende 
Ausweg, nicht diese, sondern nur den Kern des Atoms als gaskine- 
tisch maßgebende Größe anzusehen, ist abgeschnitten durch die Fol- 
gerungen, die man aus dem Verhalten langsamster Elektronen gegen 
die Atome ziehen muß, wenn man bedenkt, daß die mittlere Ge- 
schwindigkeit der Elektronen im Metall bei 0° Cels. etwa 1,3 - 10° cm 
(entsprechend einer Voltgeschwindigkeit von nur etwa 0,04 Volt) ist. 
Noch wesentlich ungünstiger werden aber die Verhältnisse, wenn man 


17. Kritik der gaskinetischen Theorien. 353 


die von den gaskinetischen Theorien postulierten freien Weglängen 
aus deren eigenen Ergebnissen berechnet (vgl. Nr. 14b); man kommt 
dann zu freien .Wegläugen, die 10 bis 100 mal größer sind als der 
mittlere Atomabstand. | eo; 
An zweiter Stelle, womit man. bereits das eingangs erwähnte 
Grenzgebiet betritt, muß die an den gaskinetischen Theorien voraus- 
gesetzte Gültigkeit des Gleichverteilungsgesetzes die größten Bedenken 
erregen. Der von den Elektronen herrührende Beitrag zu der spezi- 
fischen Wärme, der in dieser unmittelbar und mittelbar in der Thomson- 
wärme als additives Glied auftritt, ist in dem von der kinetischen 
Theorie geforderten Betrag nicht vorhanden. Bezüglich der Thomson- 
wärme!?°) liegen die Verhältnisse so, daß man den infolge des ge- 
nannten additiven Gliedes zu großen Wert der Thomsonwärme nur 
durch eine ad hoc eingeführte künstliche Annahme über die Ab- 
hängigkeit der Elektronenzahl herunterdrücken könnte. Schreibt man 
die Thomsonwärme in der Form 
(68) 9er a), 
worin nach der Theorie von Lorentz x, = 3, 2, —= 1, nach der Theorie 
von Drude 2, = $,2,—=1, nach der von Thomson , = 3, =} 
ist, so müßte also, damit in Übereinstimmung mit der Erfahrung Q 
klein wird gegen den konstanten Term %% (gefordert wird etwa ,), 
angenähert sein & 
(68 b) NwTa, 


Während man sich also hier wenigstens durch eine, wenn auch vor- 
läufig rein formale Zusatzhypothese helfen könnte, sprechen die Be- 
obachtungen über die spezifische Wärme der Metalle eindeutig dafür, 
daß die freien Elektronen keinen oder doch nur einen gegen den aus 
der klassischen Theorie zu erwartenden sehr kleinen Beitrag zur 
Atomwärme beisteuern. Wenn zwar auch bis herab zu nicht zu tiefen 
Temperaturen die höhere Atomwärme der Leiter gegenüber der der 
Halbleiter und Isolatoren sich in Analogie zur Erklärung der gleich- 
sinnigen Abweichungen vom Dulong-Petitschen Gesetz durch eine 
Mitwirkung der freien Elektronen deuten ließen?!), sprechen doch 


130) Z. B. J.J. Thomson, Corpusculartheorie der Materie, p. 77; J. Königs- 
berger und J. Weiß, Ann. d. Phys. 35 (1911), p. 43; @. Borelius, Ann. d. Phys. 57 
(1918), p. 232; K. F. Herzfeld, Ann. d. Phys. 41 (1913), p. 43; W. H. Keesom, Phys. 
Ztschr. 14 (1913), p. 670; vgl. dazu auch den Bericht P. Cermak, Jahrb. d. Rad. 
u. Elektr. 8 (1911), p. 262 ff. 

131) Es hat sich für eine derartige Erklärung, auch bei tiefen Tempera- 
turen, namentlich J. Königsberger eingesetzt. Ztschr. f. Elektroch. 17 (1911), p. 289; 


854 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


die Beobachtungen bei tiefsten Temperaturen, und zwar insbesondere 
der vollkommen gleiche Gang der Atomwärme mit der Temperatur 
bei Metallen und Isolatoren mit Bestimmtheit dafür, daß den freien 
Elektronen keine spezifische Wärme im Sinne des Gleichverteilungs- 
theorems zukommen kann; es haben darauf eine Reihe von Forschern 
nachdrücklich hingewiesen.'??) 

Mit der Voraussetzung der Gleichverteilung hängt aber noch eine 
weitere Schwierigkeit zusammen. Da die elektrische Leitfähigkeit 6 
in allen diesen Theorien notwendigerweise proportional der Elektronen- 
dichte N angesetzt werden muß, so müßte bei sinkender Temperatur 
gleichzeitig mit N auch 6 abnehmen; in einem gewissen Temperatur- 
bereich läßt sich die Abnahme von N zwar kompensieren durch eine 
entgegengesetzte Temperaturabhängigkeit des Proportionalitätsfaktors 
(der z.B. die freie Weglänge enthält) und so wiederum Übereinstim- 
mung mit der Erfahrung herstellen; gefährlich für die Gleichver- 
teilungstheorie wird die Sachlage aber unbedingt in der Nähe des abso- 
luten Nullpunktes, wo man wohl eine vollständige Verschiebung. des 
Dissoziationsgleichgewichtes zugunsten der neutralen Metallatome, ein 
„Festfrieren der Elektronen“?3?) annehmen muß. Allerdings hat z.B. 
Lenard'*) darauf hingewiesen, daß man gerade bei tiefsten Tempera- 
turen infolge der Nähewirkung der Atome aufeinander eine starke 
Elektronenbefreiung bzw. eine enorme Abnahme der Elektronen ab- 
sorbierenden Atomquerschnitte und demgemäß große Konzentration 
freier Elektronen erwarten sollte. 

Zusammenfassend wird man aber wohl behaupten können, daß 
sich den klassischen Theorien, insbesondere bei tiefen Temperaturen, 
die ernstlichsten Schwierigkeiten entgegenstellen und daß diese nur 
zu überwinden sind durch Hilfsannahmen; dadurch aber geht natür- 
lich ein wesentlicher Vorteil, nämlich die Einheitlichkeit und Konse- 
quenz, verloren. 

Prinzipiell einfacher liegen die Dinge bezüglich der Klasse von 
Einwänden, die quantitative Widersprüche zwischen der Erfahrung 
und speziellen Folgerung der Theorie betreffen. Das Hauptgewicht 


Verh. d. Deutsch. Phys. Gesellsch. 14 (1912), p. 275. Vgl. auch Richards, Ztschr. 
f. anorg. Chem. 58 (1908), p. 256; 59 (1908), p. 146; Wied. Ann. 48 (1893), p. 708. 

132) U. a. M. Reinganum, Ann. d. Phys. 2 (1900), p. 398; Magnus und 
F. Lindemann, Ztschr f. Elektroch. 16 (1910), p. 269; Eucken, Jahrb. f Rad. u. 
Elektr. 8 (1911), p. 489 (dort weitere Literatur); E. Grüneisen, 2. Solvay-Kongreß, 
Brüssel 1913, sowie die Arbeiten der Nernstschen Schule über spezifische Wärme. 

133) Kammerlingh-Onnes, Leidener Comm. 9 (1904), p. 25; Suppl. (1908), 
p. 103. 

134) Ph. Lenard, Ann. d. Phys. 60 (1919), p. 330. 


18. Theorie von J. J. Thomson. 855 


wird für die Kritik dabei naturgemäß zu legen sein nicht auf der- 
artige Widersprüche für sich, sondern auf Kombinationen solcher; so 
2. B. auf die verschiedenen Werte der Elektronenkonzentration, die 
aus den Formeln für die elektrische Leitfähigkeit und aus metall- 
optischen Daten folgen, oder auf die verschiedenen Temperaturkoeffi- 
zienten der Elektronendichte nach dem Gang der Atomwärme, der 
elektrischen Leitfähigkeit und des Halleffektes oder endlich auf eine 
Reihe von Unstimmigkeiten in der Theorie der verschiedenen thermo- 
elektrischen Effekte. 

Abseits von den bisher erwähnten Angriffspunkten der Kritik 
steht nun noch ein Einwand gegen die klassischen Elektronentheorien, 
den Decombe'?°) erhoben hat durch den Hinweis darauf, daß diese 
Theorien nicht fähig sein sollten, das Auftreten der Jouleschen Wärme 
zu erklären. Eine kritische Stellungnahme zu diesem, wenn richtig, 
allerdings sehr schwerwiegenden Einwand findet sich bisher merkwür- 
“digerweise nur in einem Bericht von Meißner”), der ihn als nicht 
stichhaltig abweist. Beschränkt man sich auf wirklich stationäre Zu- 
stände, so dürfte Decombes Einwand in der Tat hinfällig sein; er 
scheint aber doch insofern einen richtigen Kern zu enthalten, als über 
die Zeitdauer bis zum Eintritt des stationären Zustandes nichts aus- 
zusagen ist und sich eine bisher nicht beobachtete „Trägheit“ des 
Elektronengleichgewichtes bei zeitlich veränderlichen Verhältnissen 
ergeben könnte. 


18. Theorie von J. J. Thomson. Der erste Versuch, die aus der 
kinetischen Theorie der Gase übernommenen und für diese charakte- 
ristischen Vorstellungen und Annahmen durch andere zu ersetzen, 
rührt wohl von J. J. Thomson her'?°) und geht bereits in radikaler 
Weise vor. Ohne Zweifel ist der Grundgedanke Thomsons physikalisch 
berechtigt; die Durchführung im einzelnen aber, auf die es gerade 
hier wesentlich ankommt, ist leider ziemlich oberflächlich, so daß zum 
Teil eine Prüfung der Theorie an der Erfahrung noch nicht mög- 
lich ist, zum Teil bei einer exakteren Durcharbeitung sich noch man- 
ches anders gestalten wird, als Thomson aus seinen mehr überschlags- 
weisen Überlegungen gefolgert hat.) Nach Thomsons Annahme sind 

135) L. Decombe, J. de phys. 4 (1914), p. 116; vgl. dazu F. v. Hauer, Phys. 
Ztschr. 18 (1917), p. 149; K. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 13 (1916), p. 351; 
M. Reinganum, Heidelberger Akad. 1911, Nr. 10, sowie W. Meißner, Jahrb. d. 
Rad. u. Elektr. 17 (1921), p. 229 (dort weitere Literatur). 

136) J. J. Thomson, Corpusculartbeorie der Materie (Vieweg 1908), p. 48, 
84 ff.;, Phil. Mag. 30 (1915), p. 192. 


137) Auf eine derartige Schwierigkeit macht z. B. Borelius aufmerksam, 
Ann. d. Phys. 57 (1918), p. 280. 


356 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


die Elektronen im Metall weder frei in dem Sinn, daß sie auf län- 
geren Wegen die Möglichkeit hätten, sich mit ihrer Umgebung in 
thermisches Gleichgewicht zu setzen, noch auch in dem Sinn, daß sie 
als Wolke oder Gas den Raum zwischen den Metallatomen erfüllten, 
sondern sie werden — wohl infolge der Atomschwingungen in einer 
etwa Lenards Nähewirkung entsprechenden Weise — von den Atomen 
ausgestoßen und schon beim nächstfolgenden Zusammentreffen mit 
einem anderen Atom von diesem absorbiert. Der Zusammenhang zwi- 
schen gerichtet transportierter Ladung und elektrischem Feld wird 
dabei dadurch hergestellt, daß dieses im gewissen Sinne riehtend 
wirkt auf den Vorgang der Elektronenemission, der Zusammenhang mit 
der Wärmeleitfähigkeit dadurch, daß die kinetische Energie des aus- 
gestoßenen Elektrons proportional gesetzt wird der kinetischen Energie 
des Mutteratoms; durch die letztere Annahme wird ermöglicht, trotz 
der Aufgabe des Gleichverteilungsprinzips (vgl. die Theorie von Wien, 
Nr. 22), auch die Wärmeleitfähigkeit zu behandeln und insbesondere 
also auch zum Gesetz von Wiedemann-Franz gelangen zu können. In 
Wirklichkeit aber wird jenes Prinzip nur scheinbar aufgegeben; denn 
Thomson setzt zur rechnerischen Durchführung axiomatisch jene Energie 
gleich «7. Die Durchführung erfordert nun natürlich bestimmte, so- 
zusagen modellmäßige Vorstellungen. Demgemäß denkt sich Thomson 
die Metallatome als Dubletts, aus deren negativem Ende das Elektron 
austritt, um am positiven Ende des benachbarten Atoms aufgenommen 
zu werden. Diese Dubletts werden durch das elektrische Feld parallel 
gerichtet, wodurch eine ausgezeichnete Strömungsrichtung der Elek- 
tronen zustande kommt. 

Ist + e die Ladung der Dublettkomponenten, d ihr Abstand, » 
die Zahl der Dubletts in der Volumeinheit und b der Abstand zwi- 
schen diesen, E die elektrische Kraft, ist ferner die Richtungsvertei- 
lung der Dublettachsen nach einem bekannten statistischen Ansatz ge- 

3,7 
geben durch e ? «7 (Y — potentielle Energie eines Dubletts im elek- 
trischen Feld) und sendet nun jedes Dublett in der Sekunde pmal je 
ein Elektron aus, so erhält man aus der Stromdichte in Richtung der 
Kraft für die elektrische Leitfähigkeit !?#) 
1 e’dpnb k 


(69) IE 





138) Bei Thomson liegt, soviel ich sehe, ein Rechenfehler vor. Demgemäß 
ändern sich auch im folgenden die Zahlenfaktoren, so z. B. im Wiedemann- 
Franzschen Gesetz von dem Wert 3 bei Thomson zu 3. Im Text sind die korri- 
gierten Werte benutzt. 


18. Theorie von J. J. Thomson. 357 


Die Wärmeleitfähigkeit ergibt sich aus der kinetischen Energie, die 
von einem Dublett der Temperatur 7’ zu einem benachbarten der 
Temperatur 7’ + d7T übertragen wird in der Form 


(70) «= inb!Ne, 

so daß also endlich für das Verhältnis beider folgt 
* 2 be?T 

(71) pen 


Dies Resultat stimmt mit dem aus der gaskinetischen Theorie folgen- 


den (p. 803) überein bis auf den Zahlenfaktor und den Faktor ist 


dieser von der Größenordnung 1, d. h. also ist der Dublettabstand 


von der Größenordnung der Dublettgröße, so ergibt sich für = 


dieselbe Größenordnung wie aus der älteren Theorie. Von Bedeutung 
b 
d 


charakteristische Konstante ist; denn es liegt darin eine Möglichkeit, 
die beobachteten individuellen Abweichungen der einzelnen Metalle 
vom universellen Wiedemann-Franzschen Gesetz darzustellen. 

Thomson hat im Rahmen seiner Theorie auch den Peltier-, Thom- 
son- und den Halleffekt zu deuten versucht, allerdings nur in Form 
allgemeiner qualitativer Überlegungen. Das wesentliche ist auch hier, 
daß die elektrischen bzw. magnetischen Felder nicht wie in den älteren 
Theorien unmittelbar die Bewegung der Elektronen beeinflussen, son- 
dern daß sie richtend auf die Dubletts wirken. Namentlich bezüglich 
des Halleffektes aber wird man den Überlegungen Thomsons skeptisch 
gegenüberstehen. 

Von besonderem Interesse ist der Inhalt der zweiten der in 
Fußn. 136) genannten Arbeiten Thomsons, in der er seine Theorie 
anwendet auf die bei sehr tiefen Temperaturen von Kammerlingh- 
Onnes entdeckte Erscheinung der Supraleitfähigkeit. Es ist physika- 
lisch unschwer zu übersehen, daß bei sehr tiefen Temperaturen die 
Leitfähigkeit ansteigen muß, da die Richtkraft des äußeren Feldes 
dann die eine regellose Verteilung der Dublettachsen bewirkenden Ur- 
sachen überwiegt; analytisch lassen sich die dann eintretenden Ver- 
hältnisse fassen, wenn man die Überlegungen Langevins zur Theorie 
des Paramagnetismus benutzt. Bemerkenswert ist hier nun aber, daß 
die Thomsonsche Dublettheorie nicht nur den Zustand der Supraleit- 
fähigkeit ergibt — dies leisten auch andere Theorien, nämlich die in 
Nr. 19 besprochene Gittertheorie —, sondern bisher als einzige auch 


den plötzlichen Übergang zur Supraleitfähigkeit bei einer bestimmten 
Encyklop. d. math. Wissensch. V 2. 56 


ist aber ferner, daß -- keine universelle, sondern eine jedem Metall 


858 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


kritischen Temperatur?®) verständlich macht; der Gedankengang, der 
zu diesem Ergebnis führt, ist ganz ähnlich einem von P. Weiß in 
dessen Theorie des permanenten Magnetismus unterhalb einer be- 
stimmten kritischen Temperatur benutzten. Von weiteren Folgerungen 
sei nur noch hervorgehoben, daß sich für den Temperaturkoeffizient « 
der elektrischen Leitfähigkeit 6 = o,(1 + «f) in Übereinstimmung 
mit der Erfahrung ein Wert ergibt, der für nicht allzu tiefe Tempe- 
raturen größer ist als ;.;. 

Eine kurze allgemeine Kritik der Theorie wurde bereits einlei- 
tend gegeben, die auch auf diese Erweiterung auf tiefste Tempera- 
turen zu übertragen ist. Es erübrigt sich vielleicht noch darauf hin- 
zuweisen, daß eine spätere Verschmelzung der Thomsonschen Theorie 
mit den Gittertheorien (Nr. 19), die dem wahren Sachverhalt wohl am 
nächsten kommen, nicht so fernliegend erscheint, wenn man die Grund- 
lagen der Überlegungen Thomsons analysiert. Als das Wesentliche, 
aus dem letzten Endes auch die Möglichkeit der Erfassung der Supra- 
leitfähigkeit fließt, wird man nämlich bei Thomson die Annahme be- 
trachten müssen, daß es im Metall ausgezeichnete Leitungsbahnen 
(Chains) gibt; man kann diese Theorie auffassen als die Theorie so- 
zusagen eines speziellen Modells für diese Leitungsbahnen, denselben, 
die bei Stark als Leitungsstäbe oder bei Haber als Ketten der sich 
berührenden Elektronenbahnen vorkommen. 

Richardson“) hat einige ergänzende Bemerkungen zu der Theorie 
mitgeteilt. Er berechnet die thermoionische Sättigungsstromdichte auf 
Grund der Vorstellungen Thomsons und findet dafür 


i 3 KT kT = 
m ea Ve 
(w — Austrittsarbeit, k = Boltzmannsche Konstante). Hieraus ent- 
nimmt er das Moment e-d—= M der Dubletts und berechnet aus den 
gemessenen Werten von &, w und 6 für Wolfram 4,65 - 10% 0.6.8.- 
Einheiten.) Kennt man M, so kann man die „Dichte »’ der freien 
Elektronen“ finden aus der Überlegung, daß 


(72a) n— Pen 


ist, wo d, die mittlere Weglänge eines Elektrons zwischen Emission 


139) Bericht über das gesamte experimentelle Material bei ©. A. Crommelin, 
Phys. Ztschr. 21 (1920), p. 274, 300, 331 und in einem Bericht von W. Meißner, 
Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 17 (1921), p. 229. 

140) ©. W. Richardson, Phil. Mag. 30 (1915), p. 295. 

141) Nach Messungen von Smith, Phil. Mag. 19 (1915), p. 102; die früheren 
Werte von Langmuir geben einen etwas größeren Wert. 


19. Die Gittertheorien. 859 


und Absorption und V die mittlere Geschwindigkeit auf diesem Weg 
ist (Bezeichnung s. Gleichung (69). Es ergibt sich für Wolfram n 
von der Größenordnung 6 - 10%, also von der Größenordnung der An- 
zahl der Atome. Wenn auch die thermoionischen Daten, die bei 
diesen Rechnungen benutzt wurden, vorerst wenig genau bekannt 
sind, wird man die auf diesem Weg erhaltene Größenordnung von M 
und »’ immerhin als richtig betrachten dürfen. Bemerkenswert ist 


noch, daß die spezifische Wärme der „freien“ Elektronen mit = 


klein wird und also unter Umständen (für d, = 0) überhaupt Null wird. 

19. Die Gittertheorien. Von den mannigfachen theoretischen 
Versuchen, die bisher zur Behebung der in Nr. 17 besprochenen 
Schwierigkeiten der älteren gaskinetischen Theorien unternommen 
worden sind, gehören die nun zu besprechenden trotz vielfacher Ver- 
schiedenheiten im einzelnen insofern zusammen, als sie einen in den 
übrigen Theorien noch nicht verwerteten Gedanken benutzen, der ohne 
Zweifel einen physikalisch neuen Gesichtspunkt in die Diskussion 
hereinbringt. Es rührt dieser Gedanke von J. Stark und F. Haber her 
und läßt sich, zunächst noch allen speziellen Beiwerks entkleidet, da- 
hin formulieren, daß das Metall nicht als regelloses statistisches En- 
semble von Atomen und Elektronen aufgefaßt wird, sondern daß die 
regelmäßige geometrische Lagerung der Komponenten in einem Gitter 
für die elektrischen und die thermischen Eigenschaften eine wesent- 
liche Rolle spielt. In dieser allgemeinen Fassung hat diese Annahme 
heute nichts Hypothetisches mehr, sondern ist durch vielerlei ander- 
weitige Erfahrungen der Metallographie und vor allem der Röntgeno- 
metrie gesichert. 

Stark selbst“#?) hat eine allerdings nur qualitative Theorie durch- 
gearbeitet. Nach dieser besteht ein Metall gewissermaßen aus zwei 
ineinander gesteckten Gittern, nämlich dem Gitter der Elektronen und 
dem Gitter der Atome oder positiven Ionen, die eine stabile Gleich- 
gewichtskonfiguration bilden sollen. Die Elektronen sind nun aber 
nicht allseitig frei beweglich, sondern nur in ausgezeichneten Rich- 
tungen, den sogenannten Schubflächen, zwangsläufig verschiebbar, in 
diesen aber auch nicht einzeln, sondern nur zusammen mit vielen 
anderen Valenzelektronen; es ist das Elektronengitter als Ganzes ver- 
schiebbar im Atomgitter längs ausgezeichneter Flächen. Sind die 
Atome, wie bei sehr tiefen Temperaturen, in Ruhe, so kann die Ver- 
schiebung kräftefrei oder doch nur unter Überwindung einer sehr 


142) J. Stark, Atomdynamik, Bd. 3, p. 174ff.; Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 9 
(1912), p. 188. Bzgl. der Arbeiten von Haber vgl. S. 862 dieses Berichtes 
56* 


860 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


kleinen Gegenkraft erfolgen, d. h. die elektrische Leitfähigkeit ist sehr 
groß; mit steigender Temperatur wird von den um ihre Gleichgewichts- 
lagen schwingenden Atomen Energie auf das Elektronengitter über- 
tragen, es steigt der Widerstand gegen die Verschiebung desselben, 
d. h. die Leitfähigkeit nimmt ab. Die Zahl der an der Elektrizitäts- 
leitung beteiligten Elektronen pro Volumeneinheit bleibt dagegen, wie 
ausdrücklich noch bemerkt sei, stets dieselbe und ist lediglich gegeben 
durch die Zahl und Anordnung der atomaren Valenzfelder, ist also 
z. B. bei einem einatomigen Metall gleich der Zahl der Atome. Diese 
Vorstellungen hat nun Stark zu einer erfolgreichen qualitativen Deu- 
tung einer Reihe von Erfahrungstatsachen benutzen können. Auf 
diese einzugehen ist hier nicht der Ort; es sei nur hingewiesen auf 
eine Erweiterung der Theorie durch die Einführung der Begriffe des 
Ganzmetalls und des Halbmetalls, welche die Erfassung der Vorgänge 
auch in Halbleitern, in Verbindungen und Legierungen ermöglichte. 

Neuerdings hat Borelius“#)' Ansätze zu theoretischen Über- 
legungen veröffentlicht, die sich den Vorstellungen von Stark eng 
anschließen und sie quantitativ zu fassen suchen. Allerdings wird die 
Übereinstimmung der Grundlagen dadurch verwischt, daß Borelius 
andererseits auch Vorstellungen hereinbringt, die der Theorie von 
Thomson (Nr. 18) entnommen sind; sie tritt aber klar hervor bei 
der Behandlung der Wärmeleitfähigkeit. Nach Borelius kommt näm- 
lich die Wärmeleitfähigkeit der Metalle bereits deren Atomgitter zu 
und wird durch die Elektronen nur in bestimmter Weise reguliert, 
in dem Sinn, daß die Wellenlänge der elastischen Wellen des Raum- 
gitters beeinflußt wird durch die dazwischen gelagerten Elektronen. 
Außerdem setzt Borelius die mittlere Energie der Elektronen in Ana- 
logie zu den Verhältnissen im Strahlungsfeld proportional der Tem- 
peratur und nimmt die Energie der Elektronen sehr viel kleiner an 
als den Gleichverteilungswert 3%; prinzipiell ist natürlich die Durch- 
breehung des Prinzips der Gleichverteilung bereits mit der Annahme 
der Gittervorstellungen gegeben und auch in der vorliegenden quan- 
titativen Fassung nicht neu. Die im einzelnen wenig befriedigenden 
Überlegungen werden ergänzt durch eine zweite Arbeit von Bore- 
lius'“), in der nun bestimmtere Vorstellungen über die Kraftfelder 
der Atome, und zwar speziell über die im Atomgitter maßgebenden 
entwickelt werden. Die Beweglichkeit der Elektronen wird beeinflußt 
durch die Atomkraftfelder, deren Konstitution von der Temperatur 
abhängt. 

143) @. Borelius, Ann. d. Phys. 20 (1918), p. 278. 

144) @. Borelius, Ann. d. Phys. 57 (1918), p. 231. 


19. Die Gittertheorien. 861 


In reinster Form bildet die Gittervorstellung die Grundlage einer 
Theoriei die neuerdings Lindemann") entwickelt hat. Lindemann 
schließt sich durch die Annahme sowohl eines Elektronengitters, das 
im Atomgitter verschiebbar ist (das sich wegen der aus der kleinen 
Masse der Elektronen folgenden hohen Eigenfrequenz verhält wie ein 
Kristall von sehr tiefer Temperatur), wie auch in vielen Einzelheiten 
eng an die Theorie von Stark an, ohne diese allerdings zu erwähnen. 
Die strenge Durchführung der Theorie, die in dieser Fassung durch- 
aus ein Problem der Gitterdynamik ist und sich nur bewältigen läßt, 
wenn man die Eigenschaften des Gitters bis in die Einzelheiten kennt, 
ist noch nicht möglich; es lassen sich aber immerhin die Verhältnisse, 
wie es scheint, qualitativ so weit übersehen, daß man alle hier in Be- 
tracht kommenden einzelnen Erscheinungen (Elektrizitäts- und Wärme- 
leitung, Voltaeffekt, Thermoeffekte usw.) physikalisch recht genau ver- 
stehen kann. Die Elektrizitätsleitung wird hier vorgestellt als eine 
Verschiebung des Elektronengitters durch das Atomgitter, wobei ge- 
wissermaßen das erstere auf der einen Seite ständig „abschmilzt“, auf 
der anderen durch „Ausfrieren sich wieder ansetzt“. Der freien Ver- 
schiebung des Gitters stehen hemmend repulsive Kräfte zwischen den 
Elektronen und den Metallatomen entgegen, die aber erst wirksam 
werden, wenn der regelmäßige Aufbau des Atomgitters gestört ist, 
sei es durch die Schwingungen der Atome, sei es durch die einge- 
betteten Atome von Verunreinigungen. Dadurch ergibt sich eine Er- 
klärung der Supraleitfähigkeit bei tiefsten Temperaturen, der Wirkung 
von Verunreinigungen und der Temperaturabhängigkeit des elektri- 
schen Widerstandes (Nernstsche Formel). Die Wärmeleitfähigkeit ist 
zu verstehen von Seite der Debyeschen Theorie des festen Körpers 
her, führt aber zusammen mit der elektrischen Leitfähigkeit nur zum 
Wiedemann-Franzschen Gesetz, wenn man die genannten repulsiven 
Kräfte zwischen Elektronen und Atomen geeignet wählt. Ist das 
Kraftgesetz für diese Kf(r) — fürr <r,, fürr>r, gilt die gewöhn- 
liche Coulombsche Anziehung —, ist ferner N die Anzahl der Elek- 
tronen im cem, so ist die elektrische Leitfähigkeit proportional einer 
Funktion p(N, K) von N und K. Andererseits ergibt sich die ther- 
mische Leitfähigkeit als Funktion Yy(N, D) der Elektronendichte N 
und der Dielektrizitätskonstanten D der Metallionen; das Wiedemann- 
Franzsche Gesetz folgt, wenn g © % ist, und zwar ist vermutlich die 
speziellere Form von g und % derart, daß 

% N 
(73) v0 St 
145) F. A. Lindemann, Phil. Mag. 29 (1915), p. 127. 


862 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


woraus: bei gleichem D für alle Metalle N proportional YK folgen 
würde. Die übrigen Effekte behandelt Lindemann nur ganz kurz, 
immerhin aber soweit, daß sich bereits ein klares Programm für den 
weiteren Gang der Forschung ergibt. Von fundamentaler Bedeutung 
und deshalb der eingehenden Betrachtung wert ist aber natürlich 
wieder die Frage nach der spezifischen Wärme der Elektronen. Be- 
rechnet man im Anschluß an bekannte Überlegungen Debyes die 
Atomwärme des Elektronengitters, so findet sich der sehr kleine Wert 
12% er 
(74) RER are 
der wesentlich unterhalb der heutigen Grenzen der Meßgenauigkeit 
liegt. Damit ist also in der Tat diese größte Schwierigkeit der 
älteren Theorien aus dem Wege geräumt. 

Zum Schluß sind hier noch zu erwähnen die sehr bedeutungs- 
vollen, leider noch nicht abgeschlossenen Arbeiten von Haber zur 
Elektronentheorie der Metalle; schon vor längerer Zeit hatte Haber 
ebenfalls die Vorstellung entwickelt‘), daß die Metalle aufzufassen 
seien als aus Elektronen und Ionen aufgebaute Gitter, die er nun 
neuerdings weiter ausgebaut hat.!!‘) In dem vorliegenden Zusammen- 
hang interessiert vor allem der Inhalt einer Nachschrift!) zu der 
letzten Arbeit. Hier entwickelt Haber (anschließend an röntgeno- 
metrische Untersuchungen von Debye über die Verteilung der Elek- 
tronen im Raumgitter) eine Möglichkeit, Schwierigkeiten der oben be- 
sprochenen Gittertheorien zu vermeiden. Abgesehen nämlich von ge- 
wissen gitterdynamischen Schwierigkeiten läßt die Annahme eines 
statischen Elektronengitters keinen Raum zum Verständnis der Supra- 
leitfähigkeit beim absoluten Nullpunkt ohne Verletzung des Ohmschen 
Gesetzes, da man notwendigerweise eine Mindestkraft zur Verschie- 
bung der Elektronen einführen muß. Deshalb faßt Haber das Gitter 
nicht mehr als ein statisches, sondern als ein dynamisches Gebilde 
auf; dadurch wird allerdings die Sachlage nun wieder komplizierter, 
„es wird das theoretische Verständnis der durch das statische Gitter 
schon geklärten Zusammenhänge wieder undeutlich, aber man erkennt 
neue Zusammenhänge, die vom statischen Gitter aus unerreichbar 
waren“ Zu diesen gehört nun auch die Vorstellung, daß im Zustand 
der Supraleitfähigkeit die Elektronen in Bahnen mit gemeinsamer 
Tangente umlaufen; dann nämlich wird ein Elektron ohne Arbeits- 


146) F. Haber, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 13 (1911), p. 1128. 
147) Berlin. Ber. 1919, p. 506, 990. 
148) Ebd. p. 1002. 


20. Die phoretische Elektronentheorie von Benedicks. 863 


leistung von einer Bahn zur anderen übergehen können und also der 
Strom in Strenge widerstandslos durch das Metall fließen. Die Theorie 
berührt sich damit mit der Bohrschen Theorie des Atombaues und 
kann der Ausgangspunkt einer befriedigenden neuen Auffassung der 
Elektronentheorie der Metalle werden. 


20. Die phoretische Elektronentheorie von Benedicks. Eine 
Theorie der Elektronen in Metallen, deren Grundannahmen sich eben- 
falls weit entfernen von denen der gaskinetischen Theorien, hat auch 
Benedicks skizziert”); wieweit dieselbe allerdings trotz eines fraglos 
richtigen Kerns einer strengeren Kritik wird standhalten können, ist 
fraglich, da Benedicks seine Überlegungen stützt auf die von ihm bei 
anderer Gelegenheit vorgeschlagene sog. Agglommerationshypothese 
und gegen diese von verschiedenen Seiten ernste Bedenken erhoben 
worden sind. Ausgangspunkt sind neben den auch anderweitig viel- 
fach bemerkten prinzipiellen Mängeln") des gaskinetischen Bildes 
die Beziehungen zwischen den elektrischen Eigenschaften der Metalle 
und deren chemischer Natur, insbesondere der Zusammenhang der 
elektrischen Leitfähigkeit mit der Stellung des Metalls im periodi- 
schen System der Elemente, wie sie in dem Gang der sog. atomaren 
Leitfähigkeit zum Ausdruck kommt (vgl. Nr. 23). In der phoretischen 
(oder Kontakt-) Theorie wird nun der Transport von Ladung durch 
ein Metall überhaupt nicht besorgt von freien Elektronen im Sinn 
des gaskinetischen Bildes, sondern die Elektronen gehen unmittelbar 
von Atom zu Atom über. Dies ist natürlich nur möglich, wenn die 
Atome sich unmittelbar berühren, sei dies nun dauernd wie bei tiefen 
Temperaturen oder nur jeweils in momentanen Stößen; wie man sich 
den Mechanismus dieser mit dem Übergang eines Elektrons verbun- 
denen Stöße im einzelnen zu denken habe, ist zunächst gleichgültig. 
Es ist aber immerhin bemerkenswert, daß neuerdings auch Haber 
(Fußn. 148) von seiten quantentheoretischer Spekulationen im Sinne 
Bohrs zu Vorstellungen gekommen ist, die jedenfalls zu demselben 
Endeffekt führen. Formal faßt Benedicks diese Vorstellung durch den 
Zusammenhang zwischen der atomaren Leitfähigkeit 6, (= spezifische 
Leitfähigkeit dividiert durch den Quotienten aus spezifischem Gewicht 


149) L. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 13 (1916), p. 351; vgl. auch 
manche Bemerkungen hierzu in den Ann. d. Phys. 55 (1918), p. 1, 103. Auch 
eine Theorie von F'. H. Hall [Proc. Am. Acad. Arts. Se. 50 (1914), p. 67] scheint 
hierher zu gehören. (Diese Arbeit war nur in einer kurzen Bemerkung bei 
Benedicks, nicht im Original zugänglich.) 

150) Einige der von Benedicks erhobenen Einwände sucht F\v. Hauer, 
Phys. Ztschr. 18 (1917), p. 149 zu entkräften. 


864 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


in das Atomgewicht) und der Schwingungszahl » der Atome 6,—=(': », 
worin C eine mit der Elektronenaffinität in Beziehung stehende cha- 
rakteristische Konstante ist; die Größe v kann dabei aus bekannten 
Theorien der festen Körper einfach herübergenommen werden. Im 
einzelnen ergibt sich die qualitative Deutung des empirischen Mate- 
rials, allerdings stets in recht rohem Überschlag. In einigen Fällen 
liegt diese Deutung auf der Hand, so z. B. bezüglich der Zunahme 
der Leitfähigkeit mit zunehmender Kompression, bezüglich der Über- 
leitfähigkeit bei tiefsten Temperaturen und überhaupt des Zusammen- 
hangs der Leitfähigkeit mit der Temperatur; gewisse Schwierigkeiten 
treten jedoch auf bei der Deutung des Wiedemann-Franzschen Ge- 
setzes, die zu Zusatzannahmen zwingen. (Weiteres über die atomare 


Leitfähigkeit vgl. Nr. 23.) 


21. Quantentheoretische Ansätze. Die inzwischen entwickelte 
Quantentheorie des festen Körpers mußte den Gedanken nahelegen, 
die ihr zugrunde liegenden Ideen auch der Theorie der Elektronen 
in Metallen dienstbar zu machen. Einen Hinweis auf einen direkten 
Zusammenhang zwischen beiden hatte zudem Nernst'°!) rein empirisch 
(bereits 1911) darin gefunden, daß die Atomwärme und der Tempe- 
raturkoeffizient der elektrischen Leitfähigkeit einen ganz analogen 
Gang mit der Temperatur zeigen, nämlich das Hinstreben zu einem 
universellen konstanten Wert bei hoher Temperatur und dem raschen 
Abfall bei tiefer, und auch bereits versucht, diesen Zusammenhang 
durch eine empirische, der Einsteinschen Formel für die Atomwärme 
formal nachgebildete wiederzugeben. Seitdem haben nun verschiedene 
Forscher von verschiedensten Seiten her versucht, diese zunächst nur 
geahnten Zusammenhänge zu fassen und zu verwerten in quanten- 
theoretischen Ansätzen.’°?) Die sich bietenden Möglichkeiten lassen 
sich in zwei Gruppen teilen, die man etwa als die kinetische und die 
energetische bezeichnen könnte. Die typische energetische Betrach- 
tungsweise nimmt die Energie der Elektronen oder der Metallatome 
unmittelbar zum Ausgangspunkt, die kinetische die freie Weglänge 
der Elektronen; zu den ersteren Theorien wäre zu rechnen die von 
Bernoulli, Jaffe und Keesom, zu letzteren die von Onnes und Linde- 
mann. 

Der Gedankengang der kinetischen Theorien ist der, daß die freie 
Weglänge ! der Elektronen abhängt von der Amplitude der Atom- 
schwingungen; die um ihre Gleichgewichtslagen pendelnden Atome 

151) W. Nernst, Berl. Ber. 1911, p. 311. 


152) Eine ganz kurze Übersicht und Charakterisierung bei K. F. Herzfeld, 
Ann. d. Phys. 41 (1914), p. 27. 


21. Quantentheoretische Ansätze. 865 


überstreichen gewisse Areale, welche sich den Elektronen in den Weg 
stellen. Der sozusagen rein mechanische Zusanımenhang mit der 
Quantentheorie kommt dadurch herein, daß die Amplitude der Atom- 
schwingung Funktion der Energie, diese aber in bekannter Weise 
Funktion der Frequenz und der Temperatur ist; dadurch ergibt sich 
l als Funktion der Temperatur. Einen ersten Versuch von K. Onnes'?®) 
in dieser Richtung, gekennzeichnet durch den allerdings nicht näher 
begründeten Ansatz 


(75) = FR, A RE 
F 


in Verbindung mit der Drudeschen Formel für die elektrische Leit- 
fähigkeit, hat Lindemann!) aufgegriffen und weiter ausgebaut; er 
bildet auch, wie vorgreifend erwähnt sei (vgl. Nr. 22), die Grundlage 
der Theorie von Wien. Lindemann übernimmt ebenfalls die Drude- 
sche Formel für die elektrische Leitfähigkeit und setzt nun die freie 
Weglänge in der Form an > 

1 met 

Darin bedeutet d den mittleren Abstand der Atome, r die Amplitude 
des Atommittelpunktes und o den Radius des für die Zusammenstöße, 
d. h. für die Begrenzung der freien Weglänge allein in Betracht kom- 
menden Atomkernes. Die Amplitude » eines Atoms von der Eigen- 
frequenz v ist unter der Annahme quasielastischer Bindung (oder 
kleiner Schwingungen) unter Zugrundelegung des Plank-Einsteinschen 
Ansatzes für die Energie der Schwingung gegeben durch 


(76) a AR re 
er? _1 


Setzt man noch mit T’homson die Elektronendichte und nach dem 
Gleichverteilungsprinzip der alten Theorie die mittlere Elektronen- 
geschwindigkeit proportional YT, so ergibt sich für den Widerstand 
die Form 


\ ; 2 
(77) ee 
er —ı Sy 


worin A und B Konstante sind. Entnimmt man die 8v Werte den 
spezifischen Wärmen, so erhält man eine Darstellung der beobach- 
teten Temperaturabhängigkeit des Widerstandes, allerdings, und dies 





153) K.Onnes, Leid. Comm. 119B, 1911. 
154) F'. A. Lindemann, Berlin. Ber. 1911, p. 316. 


866 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


ist ein bedenklicher Mangel der Theorie, nicht mit dem richtigen 
Wert 2AB der zweiten Konstanten; für sehr tiefe Temperaturen 
(T< 0,15 ßv) versagt die Formel überhaupt. 

Von den energetischen Theorien sei die von Bernoulki'®), die 
allerdings wesentlich thermodynamisch orientiert ist, nur kurz er- 
wähnt. Bernoulli stellte sich die Aufgabe, die Thermokraft, die Peltier- 
wärme und die Thomsonwärme, die nach Kelvins thermodynamischen 
Untersuchungen durch drei Gleichungen miteinander und implizite mit 
der Temperatur verbunden sind, als explizite Funktionen der Tempe- 
ratur darzustellen, und will die Aufgabe dadurch lösen, daß er — da 
die beiden Hauptsätze der Thermodynamik dazu nicht genügen — 
das Nernstsche Wärmetheorem zu Hilfe nimmt.'®) Dabei kommt es 
letzten Endes darauf an, die innere Energie und die Entropie als 
explizite Temperaturfunktionen darzustellen, und die Quantentheorie 
kommt dadurch herein, daß der für die Thermokraft maßgebende 
Anteil der inneren Energie über Einsteins Ansatz für die Molekular- 
wärme in Verbindung gesetzt wird mit den Eigenfrequenzen des 
Metallkörpers. Bernoullis Ansatz für die Energie ist jedoch nicht 
richtig, womit auch alles Folgende hinfällig wird. 

Auf wieder anderem Wege hat nun Jaffe"”) versucht, die 
Quantentheorie einzuführen durch die Annahme, „daß dieselben Teil- 
chen, welche für die Wärmekapazität in Frage kommen, außer den 
freien Elektronen am Wärme- und Elektrizitätstransport beteiligt 
sind“. Demgemäß sollen also neben den Elektronen Ionen sich am 
Ladungs- bzw. Energietransport beteiligen; ein detailliert vorgestellter 
Atomismus, der zum Teil mit den alten Vorstellungen von Giese 
(vgl. Nr. 1), zum Teil mit denen von T’homson (vgl. Nr. 18) manche 
Ähnlichkeit aufweist, führt für die Geschwindigkeit u, der Elektronen, 
da sie wesentlich frei sind, zum Gleichverteilungsansatz, für die der 
Ionen (u,), da sie von den neutralen Atomen mit einer deren Schwin- 
gungsenergie gleichen kinetischen Energie abgespalien werden, zum 
Plank-Einsteinschen Ansatz 


mu? 3 hv 
(78) es 
et 1 


Benutzt man dies in den aus Drudes Theorie direkt übernommenen 
Ausdrücken für die elektrische und thermische Leitfähigkeit, so er- 
155) A. L. Bernoulli, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 13 (1911), p. 573. 
156) Vgl. auch eine Bemerkung von W. Nernst, Grundlagen des neuen 
Wärmesatzes (Knapp 1917), p. 177. 
157) @. Jaffe, Phys. Ztschr. 13 (1912), p. 284. 


21. Quantentheoretische Ansätze. 867 


hält man das Gesetz von Wiedemann-Franz in der Form 

“Lgp[kititas) „_wl.Vm, 
| all) 1-afıT) ’ ART uh 
hv 


9) lt “ : (1), 


hv 
an=[&-)]:enr 
Ein maßgebender Vergleich der Theorie mit der Erfahrung ist 
natürlich erst möglich, wenn man auch a als Funktion der Tempe- 


ratur kennt; denn die Endformeln (79) enthalten zwei individuelle 
Konstante a und v, die naturgemäß die Anschmiegungsfähigkeit an 








- . . . % 
‘sich groß machen. Für hohe Temperaturen konvergiert allerdings — 


zu dem universellen Wert 37 (#), und ferner ergibt sich unter Be- 


nutzung der aus den spezifischen Wärmen bekannten » Werte aus der 
Größenordnung von a für das Verhältnis n,:n, = Dichte der Atom- 
ionen : Dichte der Elektronen die Größenordnung 10°, die also die 
Schwierigkeit bezüglich der Beiträge der Elektronen zu Atomwärmen 
sehr wohl beseitigen würde. Daraus allein aber auf die Richtigkeit 
der Theorie zu schließen, würde zu optimistisch sein. 

Eine vierte Theorie endlich hat Keesom'°®) aufgestellt, die ener- 
getisch und zwar in radikalster Weise von der Quantentheorie Ge- 
brauch macht; sie überträgt nämlich den von Sommerfeld-Lenz, Te- 
trode, Keesom selbst und anderen unternommenen Versuch einer der 
Theorie der festen Körper vollkommen analogen Theorie des idealen 
Gases auf das Elektronengas im Metall, teilt also mit jener zwar die 
formale Eleganz, aber auch die doch recht weitgehende Abstraktion 
und Unanschaulichkeit. Die Elektronen verhalten sich bei gewöhn- 
licher und selbst noch bei Glühtemperaturen vollkommen verschieden 
von einem idealen Gas, die spezifische Wärme ist wesentlich kleiner, 
die Energie und der Druck jedoch größer als der eines Gases klassi- 
scher Eigenschaften; auf eine ernstliche Schwierigkeit der Identifizie- 
rung speziell des Elektronengases mit dem elastischen Körper Debyes 
hat Schottky'°°) hingewiesen. Die Thermodynamik des Thermo-, des 
Peltier- und des 'Ihomsoneffektes wird von Keesom direkt ange- 
schlossen an jene Theorie!®); es ergibt sich, daß die Thermokraft mit 


158) Keesom, Phys. Ztschr. 14 (1913), p. 670; vgl. auch W. Schottky, Jahrb. 
d. Rad. u. Elektr. 12 (1915), p. 185. 

159) W. Schottky, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 12 (1915), p. 147. 

160) Vgl. dazu die experimentelle Untersuchung von @. Wietzel, Ann. d. 
Phys. 43 (1914), p. 605. 


868 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


T wie 7°, die Peltierwärme wie 7* und die Thomsonwärme wie 7° 
nach Null gehen. Auch bezüglich der Elektronenemission heißer Me- 
talle führt die Theorie von Keesom naturgemäß zu Resultaten, die 
von denen der klassischen Theorie, etwa der von Richardson, wesent- 
lich abweichen und hier vermutlich zu einer experimentellen Ent- 
scheidung führen können. Da nach Keesom die kinetische Energie 
der Elektronen im Innen- und Außenraum verschieden ist (bei 1000° 
um einen Betrag, der einem Potentialunterschied von etwa 1 Volt 
entspricht), so ist die Austrittsarbeit von der in der klassischen 
Theorie eingeführten Austrittswärme um ebendiese Energiedifferenz 
verschieden, was natürlich auch in der Formel für die Sättigungs- 
stromstärke zum Ausdruck kommen muß. Wichtiger als diese Resul- 
tate sind aber gewisse allgemeine Folgerungen, weil sie in Beziehung 
stehen zu der im folgenden Abschnitt zu besprechenden Theorie von 
Wien. Für hohe Temperaturen mündet die Keesomsche Quantentheorie 
nämlich in die Gleichverteilungstheorie, für tiefe ergeben sich die 
Dichte und die ungeordnete Geschwindigkeit der Elektronen in Über- 
einstimmung mit den Annahmen von Wien unabhängig von der Tem- 
peratur. Damit verschwinden, wie Keesom ausdrücklich und mit Recht 
hervorhebt, zwei der hauptsächlichsten Schwierigkeiten der alten 
Theorie; der geringe Beitrag der Elektronen zur spezifischen Wärme 
wird nun wenigstens formal verständlich, und man kann nun auch 
bei tiefen Temperaturen das Gleichgewicht zwischen den freien Elek- 
tronen und den im Atom gebundenen wiederum als ein Dissoziations- 
gleichgewicht betrachten. 

Mit diesem Dissoziationsgleichgewicht beschäftigt sich zum Teil, 
ebenfalls auf quantentheoretischer Grundlage, auch eine Untersuchung 
von March.) Die Emission eines Elektrons seitens eines Metalls soll 
nach der Annahme von March- nur dann stattfinden können, wenn 
die Schwingungsenergie des Atoms ein ganzes Vielfache des Elemen- 
tarquantums erreicht; dann aber soll stets die ganze Energie in kine- 
tische Energie des Elektrons umgesetzt werden, diese also gleich 
n-hv — Yy sein, wo Y die Verdampfungswärme des Elektrons ist. Es 
wird also die kinetische Energie der Elektronen dem Atom entnommen, 
und es soll ein Teil des durch Debyes Formel gegebenen Energie- 
inhalts des festen Metallkörpers, der von der Temperatur abhängig 
ist, den freien Elektronen zukommen. Zu dieser Vorstellung kommt 
ferner im Sinne der zweiten Plankschen Theorie eine Annahme über 
die Nullpunktsenergie; die Schwingungsenergie der Atome verschwin- 


161) A. March, Ann. d. Phys 49 (1916), p. 710. 


21. Quantentheoretische Ansätze. 869 


det zwar bei absolutem Nullpunkt, es soll aber eine von der Natur 
des Metalls abhängige Zahl von Elektronen beim absoluten Null- 
punkt in Freiheit sein und sich mit gewisser Energie bewegen. 
Die Durchführung dieser Gedanken (unter Benutzung mancher hypo- 
thetischer Annahmen) ergibt die Zahl »’ der „freien“ Elektronen. 
Wie sich zeigt, nimmt n’ mit wachsendem v,, (elastische Grenzfre- 
quenz des Debyeschen festen Körpers) ab, und es müssen demgemäß 
alle Einflüsse, welche »v,, ändern, rückwirkend »’ und damit alle da- 
von abhängenden Erscheinungen beeinflussen. Bezüglich der z. B. so 
erklärten Zunahme des Widerstandes mit wachsendem äußeren Druck 
liegt jedoch nach einer Bemerkung von Benedicks!®) ein Vorzeichen- 
fehler in dem von March benutzten Zahlenmaterial vor; bei Berück- 
sichtigung dieses Umstandes verkehrt sich die vermeintlich sogar 
quantitative Übereinstimmung also zu einer bedenklichen Unstim- 
migkeit. 

Eine weitere quantentheoretische Theorie, zwar nicht im vollen 
Umfang, sondern beschränkt auf die thermoionische Elektronenemis- 
sion, hat W. Wüson'‘®) entwickelt, auf die nur noch kurz hinge- 
wiesen sei. Der Grundgedanke ist der eines Gleichgewichts zwischen 
Elektronen, Oszillatoren und Strahlungsfeld unter bestimmten An- 
nahmen über den Mechanismus des Energieaustausches zwischen Elek- 
tronen und Öszillatoren. 

Zum Schluß verdient noch eine Untersuchung von Hersfeld!) 
erwähnt zu werden, wenn sie auch nicht eigentlich eine Theorie gibt. 
Herzfeld führt in die Formeln der Elektronentheorie — geleitet von 
den Ergebnissen der Quantentheorie, welche die Energie E als Funk- 
tion von T geben — an Stelle der Temperatur die Energie E der 
Elektronen und ihre Ableitung nach der Temperatur ein und ver- 
sucht nun, die Beobachtungsdaten durch geeignete Wahl von E(T) 
möglichst gut darzustellen. Dabei geht er aus von den Formeln für 
die thermische und elektrische Leitfähigkeit und insbesondere von 
dem im Gesetz von Wiedemann-Franz auftretenden Verhältnis der 
beiden Größen, das in seiner Darstellungsweise wird 

% dE 
(80 a) zeE7r 


und also neben den genannten beiden keinerlei andere Unbekannte 
162) L. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 13 (1916), p. 358. 
163) W. Wilson, Ann. d. Phys. 42 (1913), p. 1154; vgl. auch W. Schottiky, 
l. e. (Fußn. 118) p. 183 und O. W. Richardson, Phil. Mag. 23 (1912), p. 594. 


164) K. F. Herzfeld, Ann. d. Phys. 41 (1914), p. 27 (vgl. auch p. 810 dieses 
‚ Artikels). 


870 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


mehr enthält. Es ergibt sich zunächst das bemerkenswerte Resultat, 
daß sich für - guter Anschluß an die Beobachtungen nur ergibt, 


wenn man für E die erste Planksche Beziehung (also ohne Null- 
punktsenergie) benutzt, daß aber alle anderen quantentheoretisch etwa 
noch plausiblen Ansätze!) Abweichungen außerhalb der Versuchs- 
fehler ergeben. Legt man also die genannte Energieformel zugrunde, 
so kann man nun n.I= Elektronendichte X freie Weglänge rück- 
wärts aus dem Drudeschen Ausdruck für 6 und aus den Beobach- 
tungen errechnen; der Thomsoneffekt gibt dann weiter » als Funk- 
tion von 7, so daß man auch / als Funktion 7 darstellen kann. 
Weiter durchgeführt und sozusagen zum axiomatischen Ausgangs- 
punkt einer Theorie erhoben ist der Ansatz von Herzfeld, kinetische 
Energie des freien Elektrons — Energie eines Plankschen Oszillators, 
dann in einer ausführlichen Arbeit von v. Hauer!®), die zum Teil für 
die freie Weglänge der Elektronen außerdem von dem Wienschen 
Ansatz Gebrauch macht (vgl. Nr. 22). 


22. Theorie von W. Wien. Die einzige, bisher einigermaßen 
durchgeführte quantentheoretische Deutung der Elektronenleitung ver- 
danken wir W. Wien"). Ihr Wert liegt in einer quantitativen Er- 
fassung der Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit 
nicht durch isoliert dastehende, ad hoc konstruierte Ansätze, sondern 
im Zusammenhang mit den quantentheoretischen Vorstellungen der 
modernen Physik über die Konstitution der festen Körper. 

Der Gedankengang Wiens schließt sich an die in der vorigen Num- 
mer erwähnten Versuche an, die freie Weglänge der Elektronen im 
Metall in Verbindung zu bringen mit der Amplitude der Atomschwin- 
gungen. Aus der gaskinetischen Theorie wird die Vorstellung über- 
nommen, daß der Strom getragen wird von Elektronen, und es wird 
sogar formal derselbe Ausdruck für die Leitfähigkeit 
(81a) 0.7 Ne) 
als Grundlage des folgenden gewählt. Dagegen wird angenommen, 
daß u sowohl wie N unabhängig von der Temperatur ist und dem- 
gemäß die ganze Temperaturabhängigkeit von 6 in die freie Weg- 
länge verlegt. Physikalisch bedeutet dies, daß die Vorstellung freier 


165) Vgl. H. A. Lorenz, Theorie du Rayonnement et des Quantes, p. 477; 
W. Nernst, Ztschr. f. Elektroch. 17 (1911), p. 241. 

166) F.v. Hauer, Ann.d. Phys. 51 (1916), p. 189; Phys. Ztschr. 18 (1917), p. 149. 

167) W. Wien, Berlin. Ber. 1913, p. 84. 

167a) Es ist dies der unkorrigierte Ausdruck von Drude; richtiger ist im 
Nenner der Faktor 3 (vgl. Fußn. 16). 


22. Theorie von W. Wien. 871 


Elektronen fallen gelassen wird, an deren Stelle Wien zunächst 
skizzenhaft ein Bild der Vorgänge stellt, das manche Ähnlichkeit mit 
den Vorstellungen von Thomson (p. 855), Lenard (p. 854,877) und Stark 
(p. 859) hat; die einschneidendste Folge davon ist die Beschränkung 
der Theorie auf die Elektrizitätsleitung und die Ausschaltung aller 
Aussagen über die Wärmeleitung, insbesondere also auch der Ver- 
zicht auf eine Ableitung des Gesetzes von Wiedemann- Franz. Was 
nun die Abhängigkeit der freien Weglänge von der Temperatur be- 
trifft, so läßt sich der Gedankengang Wiens am besten übersehen 
durch Zerlegung in einzelne Etappen. Die freie Weglänge ist jeden- 
falls abhängig von der Zahl der Zusammenstöße mit den Metall- 
atomen, und zwar ist sie auch bei allgemeiner Definition (durch ein 
exponentielles Absorptionsgesetz) umgekehrt proportional der Zahl z 
der Zusammenstöße. Diese nun ist, auch ohne daß man auf den Me- 
chanismus der Zusammenstöße näher eingeht, ihrerseits abhängig von 
der Amplitude x, der Atomschwingungen anzunehmen, es ist zunächst 
allgemein z—= z(z,). Die Amplitude x,, und zwar nicht nur die mitt- 
lere Größe derselben, sondern auch die Art der Verteilung auf die 
einzelnen Atome ist aber eine Funktion der Temperatur, so daß also 
2 und damit o eine Funktion der Temperatur wird. Nun greift die 
Quantentheorie ein, und zwar in Form der Annahme, daß die Atome 
nur Schwingungen ausführen können, bei denen die Energie ein 
ganzes Vielfache von khv ist; unter der Annahme einer quasielasti- 
schen Bindung (oder physikalisch wohl besser unter der Annahme 
kleiner Schwingungen) der Atome läßt sich dann die Amplitude =, 
eines Atoms ausdrücken durch die Eigenfrequenz » dieses Atoms und 
für die Abhängigkeit des » von der Temperatur der bekannte Ansatz 
der Quantentheorie benutzen. Die Verteilung über die einzelnen Atome 
und deren v-Werte nach der üblichen statistischen Methode erfordert 
aber nun natürlich noch die Festsetzung der Grenzen für die v, als 
deren eine v0 selbstverständlich ist, als deren andere Wien die 
Debyesche Grenzfrequenz v = v,, nimmt; dadurch tritt außer den uni- 
versellen Konstanten A und % im Endresultat noch die individuelle 
Konstante v,, auf, und es ergibt sich die Möglichkeit, die elektrischen 
Eigenschaften des Metalls unmittelbar anzuschließen an die elastischen. 
Die rechnerische Durchführung dieses Gedankenganges ergibt für den 
a 1 
Widerstand (prop. =): ; 
(81) wc. (2 
eT_ı 





0 


372 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Die Diskussion dieses Ausdruckes durch geeignete Reihenentwicklung 
hat nur rein mathematisches Interesse, weshalb hier nur drei extreme 
Näherungen aufgeführt seien, nämlich 


für sehr hohe Temperaturen Wr=(. u e. 


für sehr niedere Temperaturen Wr = Ü ar ze x 
(82) | | 
für (3 ir) klein: 
Wr 





Pe 8 7 (0, 00366 + Sao) — 3 Rn PING 

Die Prüfung der Theorie an der Erfahrung kann nun in zweierlei 
Weise erfolgen. Zunächst wird man, und dies ist ohne weiteres über- 
zeugend, mit Hilfe der von Debye gegebenen v, Werte den Tempe- 
raturkoeffizient ß berechnen und mit den empirischen Werten ver- 
gleichen. Die Übereinstimmung ist eine recht gute und erstreckt sich 
vor allem auch auf die hohen Werte, die Eisen und Nickel vermöge 
ihrer großen Elastizität der Theorie nach erwarten lassen. In zweiter 
Linie wird man die aus der Gleichung (81) bzw. (83) folgende Ab- 
hängigkeit des Widerstandes von der Temperatur über ein größeres 
Temperaturintervall mit der Erfahrung vergleichen. Wien hat die 
diesbezüglichen numerischen Rechnungen für einige Metalle durch- 
geführt und die Resultate mit Messungen von K. Onnes verglichen, 
und zwar im Intervall 7’ = 273° bis 7 = 13,9%, wobei sich im gan- 
zen eine richtige Wiedergabe der Beobachtungen ergab. 

In diesem Zusammenhang — wobei übrigens die Theorie von 
Wien nur als der vielleicht am weitesten durchgeführte Vorstoß in 
das Gebiet der Quantentheorie anzusehen ist, da das wesentliche neue 
Moment, nämlich der Zusammenhang des elektrischen Widerstandes 
mit den elastischen Frequenzen auch in anderen quantentheoretischen 
Ansätzen (vgl. Nr. 21) auftritt — sind einige Bemerkungen von Grün- 
eisen'®) zur Klärung der Sachlage bemerkenswert. Grüneisen hat das 
gesamte neuere Beobachtungsmaterial über den Gang des Widerstandes 
bei tiefsten Temperaturen einer Diskussion unterzogen und sich dabei 
von den aus den quantentheoretischen Ansätzen fließenden Hinweisen 
leiten lassen. Er findet zunächst, daß der spezifische Widerstand eines 
(einatomigen) Metalls bei tiefer Temperatur um so mehr einer univer- 


sellen Funktion f (3 ; proportional läuft, je reiner das Metall ist 





168) E. Grüneisen, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 15 (1913), p. 186; 20 
(1918), p. 36. 


32, Theorie von W. Wien. 8373 


(6 abgekürzt für #)- In Verbindung mit der Ausgangsgleichung für 
den Widerstand 


2mu 
(83 a) v— am 


und dem Ausdruck für die freie Weglänge, den Grüneisen allgemeiner 
als Wien in der en _. 
“ge ; 
(836) 1m alla) 
schreibt (C Dres bay Konstante, M Atomgewicht, v Atomvolu- 


men), folgt für 3 unabhängig von der Temperatur das obengenannte 


empirische Ergebnis aus der Theorie, es zeigt sich aber zugleich, daß 
die von Wien errechnete Form für die universelle Funktion nur in 
grober Annäherung die tatsächlichen Verhältnisse darstellt, so daß 
man nach möglichen Erweiterungen der Wienschen Ansätze suchen 
muß, z. B. indem man « und N wiederum als Funktion der Tempe- 
ratur ansetzt. Wie dies zu geschehen hat, darüber lassen sich vor- 
läufig allerdings kaum Vermutungen äußern, wenn auch Grüneisen 
in dieser Beziehung einen kleinen Hinweis in der zweiten seiner in 
Fußn. 168) genannten Arbeiten geben zu können glaubt. 
Andererseits ist es nun aber bemerkenswert, daß der Wiensche 
Ausdruck für die freie Weglänge den vom Standpunkt der klassischen 
Theorie recht wenig verständlichen Einfluß des Druckes auf die elek- 
trischen Eigenschaften der Metalle wiedergibt.) Aus Gleichung (83) 
folgt nämlich zunächst in Verbindung mit der Aussage der Theorie der 
festen Körper, RR auch die Entropie bei tieferen Temperaturen 


nur Funktion von . ist, die Beziehung für die freie Weglänge !: 


ol 1 Ü ; 

wa rent 

wo C, die are und %, die adiabatische Kompressibilität ist, 
d. h. daß die freie Weglänge I bei adiabatischer (und um so mehr bei 
isothermer) Druckerhöhung wächst. Man kann aber noch weiter 
gehen und quantitativ die Übereinstimmung zwischen Theorie und 
Erfahrung nachweisen. Für den Druckkoeffizienten, dessen Darstellung 
in einer zur Diskussion geeigneten Form Grüneisen gelungen ist 
(Grundlage bilden wieder die Gleichungen (83a) und (83b)), gibt die 
Theorie nach den ausgedehnten Beobachtungen von Beckmann (Fuß- 





169) Die experimentelle Literatur ist in der in der Fußn. 168) genannten 
Arbeit von Grüneisen vollständig zitiert. Vgl. dazu noch B. Beekmamn, Phys. 
Ztschr. 16 (1915), p. 59; 18 (1917), p. 507. 

Eneyklop. d. math. Wissensch. V 2. 87 


874 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


note 169) für Gold, Silber, Aluminium und Kupfer gute, für eine 
Reihe anderer Metalle mit Ausnahme von Wismuth und Quecksilber 
wenigstens näherungsweise Übereinstimmung mit der Erfahrung. 


23. Beziehungen zur Atomphysik. Ausblick. Den gaskine- 
tischen Theorien aus innerer Notwendigkeit, aber auch den meisten 
der neueren quantentheoretischen Ansätze sind Aussagen über die 
intimeren Eigenschaften der Atome und über deren Zusammenhang 
mit der Elektronentheorie der Metalle fremd. Zwar ist man zu einer 
Individualisierung der Atome von den glatten und harten elastischen 
Kugeln zu Kraftzentren mit verschiedenen Kraftgesetzen fortgeschritten 
man hat auch den Vorgang der Dissoziation der Elektronen, der Dis- 
soziationswärme u. dgl. gelegentlich betrachtet, aber letzten Endes hat 
man es nie mit etwas anderem zu tun als mit physikalisch recht 
farblosen Rechengrößen. Es fehlte bisher (mit Ausnahme der neue- 
sten Ansätze von Haber) der physikalische Zusammenhang zwischen 
der Elektronentheorie und dem Chemismus der Metalle; nur eine 
Reihe von empirischen Hinweisen liegt in dieser Richtung vor. 

Man wird zunächst nach Beziehungen zwischen dem elektrischen 
Verhalten der Metalle und ihrer Stellung im periodischen System der 
Elemente suchen. Baedecker‘'®) hat bereits in dieser Weise aus einem 
recht umfangreichen Material die elektrische Leitfähigkeit in Verbin- 
dung gesetzt mit der Ordnung des periodischen Systems und einige 
augenscheinliche Zusammenhänge herausgefunden; später hat dann 
Bilte") in übersichtlicher graphischer Darstellung die Leitfähigkeit 
als Funktion des Atomgewichts gegeben. Damit hängt natürlich auch 
zusammen, daß die aus der Leitfähigkeit berechneten Elektronen- 
dichten einen periodischen Gang mit dem Atomgewicht zeigen, wie 
dies z. B. Riecke!"?) bemerkt hat. Einen Fortschritt bedeutet der Ge- 
danke von .Benedicks'"?), nicht die spezifische Leitfähigkeit zu einem 
Vergleich der verschiedenen Metalle zu benutzen, sondern die Leit- 
fähigkeit pro Atom, die sog. „atomare Leitfähigkeit“, die gegeben ist 
durch (spezifische Leitfähigkeit) : (relative Anzahl der Atome in cem): 
(85) ER 


gs’ 


170) K. Baedecker, Elektrische Erscheinungen in Metallen, p. 21. 

171) W. Biltz, Ztschr. f. Elektroch. 19 (1913), p. 618. Vervollkommnet durch 
ein größeres Beobachtungsmaterial durch Benedicks (Fußn. 173). 

172) E. Riecke, Phys. Ztschr. 10 (1909), p. 508. 

173) K. Benedicks, Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 18 (1916), p. 351; der exste Hin- 
weis auf die Bedeutung der atomaren Leitfähigkeit rährt wohl von F'. Richards, 
Ztsehr. f. anorg. Chem. 59 (1908), p. 356 her. 


33. Beziehungen zur Atomphysik. Ausblic«. 375 


wo A das Atomgewicht, s das spezifische Gewicht des betreffenden 
Metalls ist. Die Maxima der 6, Kurve kommen in den Tat in engere 
Beziehungen zu dem Verlauf der Atomvolumenkurve, sie liegen in 
der Nähe von deren Maximas (Li, Na, K, ...), weiterhin in der 
Nähe von deren Minimas (Al, Cu, Ag, Au), zudem sind manche Un- 
stimmigkeiten, die sich bei Benutzung der spezifischen Leitfähigkeit 
gezeigt hatten, nun verschwunden. Jedenfalls scheint es bereits durch 
diese Resultate sichergestellt zu sein, daß wirklich ein tiefer begrün- 
deter Zusammenhang zwischen der Leitfähigkeit und den Eigenschaften 
des chemischen Atoms besteht. Geleitet von seinen neuartigen theo- 
retischen Vorstellungen (vgl. Nr. 20) hat Benedicks diese Zusammen- 
hänge weiterverfolgt und in der sog. Leitungskapazität C, definiert durch 
(86) 0-4, 
wo » die Atomfrequenz (bzw. die Grenzfrequenz) ist, eine für das 
elektronische Verhalten der Metalle charakteristische Größe gefunden. 
Einerseits zeigt sich nun ein ganz klarer Parallelismus der C- und 
der Atomvolumenkurve, andererseits ein inniger Zusammenhang mit 
der Valenz und mit der Elektronenaffinität, wie sie etwa in der 
elektrolytischen Zersetzungsspannung zum Ausdruck kommt. Es ist 
interessant, daß eine Deutung namentlich des letzteren Zusammen- 
hanges auf Grund der nach den Bohrschen Ideen von Vegard auf- 
gebauten Atommodelle möglich zu sein scheint.!’*) 

Auf einen Mangel der Feststellungen von benedicks hat nun aber 
Grüneisen'"®) hingewiesen durch die Bemerkung, daß Benedicks über 
die Temperatur, bei welcher die Leitfähigkeit gemessen werden sollte, 
keine Voraussetzung macht, und daß deshalb eine Verzerrung der von 
ihm gefundenen einfachen Gesetzmäßigkeiten möglich sei, wenn man 
die 6-Werte für tiefe Temperaturen zugrunde legen würde. Grün- 
eisen hat deshalb vorgeschlagen, die atomaren Leitfähigkeiten ver- 
schiedener Metalle nicht bei derselben Temperatur zu vergleichen, 
sondern bei individuellen Temperaturen © — die er korrespondierende 
nennt — und zu denen er durch die empirische Feststellung ge- 
langt!”e), daß der Widerstand der Metalle proportional einer univer- 


sellen Funktion von “= ist (© ist auch die charakteristische Tempe- 


ratur in Debyes Theorie der Atomwärme). Damit ergibt sich zugleich 


174) L. Vegard, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 19 (1917), p. 344. 
175) E. Grüneisen, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 20 (1918), p. 58. 
176) E. Grüneisen, Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 20 (1918), p. 36. 


57* 


876 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


eine Deutung der Benedicksschen Leitungskapazität. Aus der genannten 
empirischen Beziehung für den Widerstand 


(87) wu TF (5) 


folgt nämlich unter Absonderung des Atomvolumens v für die ato- 
mare Leitfähigkeit 

(88) ee 

’(0) 

wo ÖO’ nun wesentlich von der Temperatur unabhängig ist. Für ge- 


nügend hohe Temperaturen, wo 7F (5) für alle Metalle nahezu den- 


selben Wert hat, wird daraus 
(89) 6, > 0. vv, 


so daß also die Leitungskapazität proportional ist der Konstanten ©’, 
d. h. der bei der korrespondierenden Temperatur gebildeten atomaren 
Leitfähigkeit. Damit ist nun jede Willkür aus der Deutung des Be- 
obachtungsmaterials verschwunden, und Grüneisen ist es gelungen, aus 
den vorliegenden Beobachtungsdaten bei tiefen Temperaturen ein Ge- 
setz abzuleiten, das dem oben erwähnten von Benedicks für die Lei- 
tungskapazität angegebenen Zusammenhang mit dem periodischen 
System entspricht, ohne dessen Mängel zu haben. Es ist nämlich die 
atomare Leitfähigkeit bei korrespondierenden Temperaturen im wesent- 
lichen eine periodische Funktion des Atomgewichtes, derart, daß sie 
von maximalen Werten in der ersten Gruppe des periodischen Systems 
zu minimalen in der O0. oder 8. Gruppe abfällt. 

Schon früher wurden Beziehungen zum Chemismus der Atome 
namentlich von Königsberger und seinen Mitarbeitern betont.!’”) Königs- 
berger weist darauf hin, daß die Eigenschaft eines Elementes, als Leiter 
der Elektrizität zu dienen, mit seinem elektropositiven Charakter zu- 
sammenhängt und sich fassen läßt durch die Größe der Dissoziations- 
arbeit bei Entfernung eines Elektrons vom Atom, und findet Beziehungen 
zur Valenz. Was zunächst die Dissoziationsarbeit und die damit zu- 
sammenhängende Affinität des Atoms zum Elektron anlangt, so kann 
man aus dem Temperaturkoeffizient der elektrischen Leitfähigkeit mit 
Hilfe der Königsbergerschen Widerstandsformel (p. 827) die Dissozia- 
tionswärme @ unter gewissen Beschränkungen für Metalle bestimmen; 


177) Zuerst wohl Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 9 (1907), p. 388. Lite- 
raturübersicht in dem zusammenfassenden Bericht Jahrb. d. Rad. u. Elektr. 4 
(1907), p. 158; speziell die Affinitätsfragen sind im Zusammenhang behandelt 
Phys. Ztschr. 12 (1911), p. 1084 oder Verh. d. Deutsch. phys. Gesellsch. 13 (1911), 
p- 131. ; ' 


28. Beziehungen zur Atomphysik. Ausblick. 877 


0 (Dissoziationswärme für 1 g Atom Elektronen und 1 g Atom posi- 
tiver Ionen) zeigt einen deutlichen Gang mit der Stellung des Elementes 
im periodischen System. Die Elemente mit kleinerem Atomgewicht 
und weder ausgesprochenem elektropositiven noch elektronegativen 
Charakter haben Werte von Q etwa zwischen 100 und 10000; geht 
man in einer Vertikalreihe des periodischen Systems nach größeren 
Atomgewichten, so wird @ kleiner, d. h. die Elemente werden metall- 
ähnlicher, so z. B. in den Reihen Si, Ti, Zr oder P, As, Sb; zu be- 
achten ist allerdings, daß Q einen bestimmten Wert hat nur für je- 
weils eine bestimmte Modifikation oder einen bestimmten kristallo- 
graphischen Zustand und sich mit diesem ändert, so daß hier eine 
Unbestimmtheit besteht, welcher Wert für die Affinität maßgebend 
sein soll. Über die Valenz hat Königsberger einige Spekulationen ge- 
äußert!”®), in denen er, in der Hauptsache an Stark und Lenard an- 
schließend, die verschiedenen Arten der vom Atom abspaltbaren Elek- 
tronen (Valenzelektronen, Oberflächenelektronen) unterscheidet. Daß 
ein Zusammenhang der Valenz mit der Elektronik der Metalle be- 
steht, kann man, wenn auch nur in rohem Umriß, aus dem Gang der 
Elektronenzahl p mit der Valenz schließen. Drude!"®) hat p aus 
metalloptischen Überlegungen errechnet, mit der Valenz verglichen 
und seine Vermutung, daß p ungefähr mit der Valenz übereinstimmt, 
wenigstens der Größenordnung nach bestätigt gefunden; die p-Werte 
schwanken nach seinen Zahlen von 0,47 bei Kupfer bis 7,5 bei Au, 
also um etwa das 16fache, das Verhältnis p : Valenz dagegen hält 
sich immerhin zwischen den Grenzen 1 und 35. 

Zwei Hinweise auf die Vorstellungen von Lenard und Stark 
mögen diese Zusammenstellung beschließen. Lenard'?®) hat mehrfach 
darauf hingewiesen, daß die Verhältnisse im Innern des festen Me- 
talls physikalisch andere sind als für isolierte Metallatome (etwa im 
Metalldampf), und die starke Dissoziation durch eine Nähewirkung zu 
deuten versucht und daraus eigenartige Vorstellungen über die elek- 
trische Leitung in Metallen, über die thermoionische Elektronenemis- 
sion usf. entwickelt, die mit den in diesem Artikel besprochenen Bil- 
dern nur wenig mehr zu tun haben, aber physikalisch beachtenswert 
sind; Stark'®!) hat (vgl. Nr. 19) im Zusammenhang mit seiner Gitter- 
theorie detaillierte Modelle der Kraftfelder in den Metallen entworfen, 
die mit den Valenzkraftfeldern zusammenhängen. 





178) J. Königsberger und K. Schilling, Ann. d. Phys. 32 (1910), p. 227. 
179) P. Drude, Ann. d. Phys. 14 (1904), p. 947. 

180) Ph. Lenard, Zusammenfassung in Heidelberger Akademie 1918, Nr. 5. 
181) J. Stark, Atomdynamik, Bd. 3, $ 25, 


378 V 20. Rudolf Seeliger. Elektronentheorie der Metalle. 


Versucht man, sich nun auf Grund der bisherigen theoretischen 
Bemühungen ein Bild von dem weiteren Gang der Forschung zu 
machen, so wird man kaum zweifelhaft sein können, wohin der Weg 
führt. Die gaskinetischen Theorien wird man, ihrer Einfachheit und 
Eleganz und auch mancher ihrer Erfolge wegen schweren Herzens, 
aufgeben müssen, sicher wenigstens in der bisherigen Form. Vor allem 
ist es die tiefere Einsicht in den Feinbau der Metalle, die auch hier 
auf neue Bahnen drängt, nämlich auf den Ersatz des strukturlosen 
Ensembles der Elektronen und Atome durch das Bild des Raum- 
gitters. Die neue Theorie muß nun wieder von vorn anfangen, alle 
die schönen Ergebnisse ihrer klassischen Vorgängerin abzuleiten; ob 
dies im einzelnen mit Hilfe quantentheoretischer Vorstellungen und 
Bohrscher Atommodelle gelingen wird, ist nieht so wichtig wie der 
Umstand, daß aus rein physikalischen Erwägungen und Erfahrungen 
heraus ein neues Bild an Stelle des alten treten muß. 


(Abgeschlossen im Mai 1921.) 





























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