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Full text of "Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst"

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ENTWICKLU  NGS- 
GESCHICHTE  DER 
MODERNEN  KUNST 

1  N    DREI   BÄNDEN 
I.   BAND 


Itpiper  Si  €o.  •  0eclag  •  ITIünf^  en 


Presented  to  the 

LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONfTO 

front 

the  estate  of 

JULIE  LÄNDMANN 


JULIUS  MEIER^GRAEFE 

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 

DER  MODERNEN  KUNST 

IN    DREI    BANDEN 
ERSTER  BAND 


JULIUS  MEIER-GRAEFE 

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE 
DER  MODERNEN  KUNST 

DRITTE  AUFLAGE 

MIT  MEHR  ALS  600  ABBILDUNGEN 
IN  DREI  BÄNDEN 
ERSTER  BAND 


ALLE  RECHTE.  AUCH  DAS  DER  ÜBERSETZUNG,  VORBEHALTEN 


INHALT     DES    ERSTEN     BANDES 

IIIIIIIIHIIIBIIIIimillllU^^^^^^^^^  inilllllllllllinilMIIMWIlllll«^^  rmt::-:'     •  .!:;i::''      tifirr       '<       ' 

VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 1 

VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 4 

VORWORT  ZUR  DRITTEN  AUFLAGE 7 

EINLEITUNG:    DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE      9 

ERSTES  BUCH:  DER  KAMPF  UM  DIE  MALEREI 

DIE  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

LINIE  UND  FLÄCHE 35 

DIE  MOSAIKEN  37 

VON  GIOTTO  ZU  MICHELANGELO 45 

VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT 55 

DAS  DIX.HUITI£ME 71 

ZWEITES  BUCH:  CHAOS  UND  KOSMOS 

DAS  EMPIRE 

DAVID  UND  SEIN  KREIS 81 

GOYA 94 

INGRES 99 

NAZARENER 109 

DELACROIX  UND  SEIN  KREIS 

GfiRICAULT 125 

DELACROIX 135 

DAUMIER 149 

DRITTES  BUCH:  DIE  LANDSCHAFT 

VON  CLAUDE  ZU  COURBET 

KOMPONISTEN  UND  MUSIKER 167 

TURNER 173 

CONSTABLE 180 

DIE  SCHULE  VON  BARBIZON 192 

COROT 201 

COURBET 211 


DAS  NAMEN»   UND  BI  LDER»REGISTER 
BEFINDET  SICH  AM  SCHLUSS  DES  III.  BANDES 


COPYRIGHT  1920  BY  R.  PIPER  &.  CO,  G.  M.  B.  H..  VERLAG  IN  MÜNCHEN 


VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 


Jahrhunderte  haben  sich  mit  Aufstellung  von  Kunstgesetzen  gequält,  und  selbst 
die  Richtigkeit  der  Erkenntnisse  förderte  kaum  die  praktische  Ästhetik,  gab  nicht 
den  Halt  vor  schlimmen  Versuchungen,  nicht  den  hellen  Trieb,  das  Heiligtum  zu 
verehren.  Die  Gesetze,  auch  die  richtig  erkannten,  halfen  nicht.  Ließen  sie  sich  in 
eine  knappe  allgemeingültige  Form  fassen,  so  gehörte  zur  Schöpfung  kein  Genie. 
Sie  sind  so  weitmaschig,  daß  jeder  Versuch,  auf  rein  gesetzmäßigem  Wege  zur  Kunst« 
Schätzung  oder  Schöpfung  zu  gelangen,  uns  stets  der  Gefahr  aussetzt,  durch  dieMa« 
sehen  zu  fallen.  Man  kann  der  Kunst  nur  durch  vergleichende  Betrachtung  persön» 
lieh  näher  kommen.  Wie  dieser  oder  jener  das  Gesetz  erfüllte,  wie  ein  anderer  auf 
anderem  Wege  mit  einem  Opfer,  einer  Zutat  dem  Ziele  näher  kam,  und  wie  dann 
wieder  der  Nachfolger  das  erste  mit  dem  zweiten  zu  einem  dritten  bildete,  diese  Bc 
obachtung  übt  uns  auf  die  Kunst  ein,  soweit  überhaupt  eine  Wissenschaft  vermag, 
den  Sinn  des  Kunstgenusses  zu  fördern.  Über  die  Kunst  läßt  sich  mit  Abstrakten 
wenig  sagen.  Was  nicht  Kunst  ist,  erscheint  selbstverständlich, und  doch  haben  sich 
Generationen  bei  uns  und  überall  darum  gezankt.  Man  hat  Helden  auf  dem  Thron 
behalten,  nur  weil  man  sie  vor  dem  Vergleiche  schützte,  und  man  hat  andere  derVer» 
gessenheit  der  Gegenwart  preisgegeben,  weil  man  sich  sträubte, an  ihnen  die  mutige 
Tat  notwendiger  Entwicklung  zu  erkennen.  Unendliche  Widersprüche  verwirrten 
die  Lage  des  Kunstfreundes  unserer  Zeit.  Neben  den  Zaghaften  entstanden  Unab< 
hängige,  die  einem  Künstler  um  so  lieber  folgten,  je  weniger  Beziehungen  zu  der 
Kunst  der  Mitwelt  oder  der  Vergangenheit  an  ihm  bemerkbar  waren.  Diese  Neue« 
rungsschwärmer,  die  in  der  Kunst  die  Entwicklungsgeschichte  leugnen,  sind  fast 
noch  schlimmere  Feinde  der  Ästhetik  als  die  Mißtrauischen. 

So  lange  nur  das  als  Kunst  gilt,  was  unserem  Blick  als  Kunst  erscheint,  muß  das 

Auge  sich  seiner  Rolle  würdig  erzeigen  und  fassen  lernen.  Wir  Deutschen  aber  lei* 

I 


iiiiiiiiiHiiiniiMiiinniiiiiinNiniiiiiiinniiiiiiiiiiin iiiiiiiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnRilinniiiiniiiminHiiiiiiiiiiiiiiiDMH  iMHiminiimininii 

2  VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 

n  m  itmtn  n  n  h  n  tinunttiii  nnnrni  "tu 

den  an  dem  Irrtum,  Kunst  zu  denken,  statt  zu  betrachten.  Wir  tragen  unsere  Seele  in 
sie  hinein,  anstatt  uns  von  ihr  beseelen  zu  lassen,  und  wir  achten  nicht  darauf,  wem 
wir  uns  anhängen,  wenn  nur  unsere  Deutungssucht  im  Werk  die  noch  so  billige  Be» 
friedigung  findet.  Was  allen  Instinkten  heute  zum  Maße  dient,  was  den  Menschen 
bestimmt,  sich  seine  Kleidung,  seine  Nahrung,  seine  Helfer,  seine  Geliebte  zu  suchen ; 
das  Verfahren,  das  andere  auf  uns  anwenden,  der  Vergleich,  ob  wir  schlechter  oder 
besser  dienen  als  unser  Nebenmann,  wird  in  der  Kunst  allein  vernachlässigt.  Hier 
wählen  wir  so  schlecht,  so  einzig  und  allein  für  den  Augenblick,  daß  derselbe  Leicht» 
sinn  auf  anderen  Gebieten  uns  dem  Ruf  der  schlimmsten  Untüchtigkeit  aussetzen 
würde.  Hier,  wo  allein  die  Wahl  ganz  frei  steht,  sind  wir  unfrei  und  geduldigere, 
schwächere  Sklaven  als  auf  irgendeinem  Feld,  wo  wir  mit  allen  möglichen  konkre< 
ten  Widerständen  zu  kämpfen  haben.  Nirgends  geht  das  Recht  der  Persönlichkeit 
leichter  zuschanden.  Das  Mittel,  an  das  keine  soziale  Frage  heranreicht,  besser  zu 
werden,  reiner  und  mächtiger  zugleich,  bedeutender  in  einem  Kreise,  der  über  allen 
Kreisen  steht,  in  der  einzigen  unantastbaren  Aristokratie  des  Geistes,  wird  heute  am 
wenigsten  gesucht.  Man  redet  viel  darüber,  aber  die  Begeisterung  geht  durch  die 
Maschen,  und  heute,  wo  den  Materialismus  immer  neue  Segel  schwellen,  scheint 
die  Kunst  von  einem  ähnlichenGeschick  bedroht, wie  Religion  und  Metaphysik:  als 
unnütz  verworfen  zu  werden.  Diese  Möglichkeit  aber  schreckt  immer  nur  uns,  nicht 
die  Kunst;  sie  unterwirft  uns  im  Rang  anderen  weiseren  Völkern.  Religion  und  Me« 
taphysik  verschwinden  in  neuen  Werten  und  Wissenschaften.  Die  Kunst  ist  uner» 
setzlich,weil  kein  Wissen  und  keine  Werte  daneben  sind,  die  sie  aufzunehmen  ver* 
mögen.  Vf^r  brauchen  die  Kunst  als  höchste  Freude,  um  ein  Maximum  unserer  Be« 
gierden  zu  haben,  eine  höchste  Leidenschaft,  die  einzige,  deren  Befriedigung  den 
Sinn  nicht  abstumpft,  sondern  bessert,  und  indem  sie  edle  Teile  von  uns  bessert,  den 
ganzen  Menschen,  die  ganze  Rasse  veredelt.  Wir  brauchen  eine  Stelle,  der  wir  uns 
hingeben  können  ohne  Opfer,  wo  alles,  was  an  Begeisterung  in  uns  bleibt,  dahin» 
fließen  kann,  weil  es  stets  mächtiger  zu  uns  zurückkehrt.  Dies  ist  Nutzen,  so  buch* 
stäblich  und  berechenbar  wie  ein  materielles  Ding,  höchster,  ganz  materieller  Wert, 
mit  Augen  zu  greifen.  Der  Leser  wird  verwundert  sagen,  daß  niemand  an  diesem 
Nutzen  der  Kunst  zweifelt.  Diese  Sage  ist  bei  uns  in  Deutschland  eine  fromme  Lüge, 
die  Geschichte  der  letzten  dreißig  Jahre  hat  sie  unwiderleglich  erwiesen.  Wir  sind 
schon  heute  fast  ohne  Kunst,  wenn  unsere  Einbildung,  daß  wir  eine  haben,  nicht 
etwa  genügt,  uns  zu  Besitzern  zu  machen;  ja,  die  jüngste  Entwicklung  zielt  auf  den 
Ehrgeiz,  selbst  die  Einbildung  daran  zu  geben.  Wir  haben  Kunstgeschichten  von 
klugen  Leuten  geschrieben,  große  und  kleine,  man  liest  sie  wie  Berichte  von  höchst 


iiiiiiiiiiiiiiiMiiii'iiiiiiiinMitniiiiiiiiiiiMiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiitilM 


VORWORT  ZUR  ERSTEN  AUFLAGE 


verwickelten  Dingen,  die  irgendwo  im  Hintergrund  geschehen.  Sie  handeln  von  vie» 
len  Namen  und  vielen  Begebenheiten.  Nur  selten  tritt  aus  dieser  Masse  von  Begeben» 
heiten  die  Kunst  hervor,  der  Sinn,  der  diese  vielen  Geschicke  treibt,  das  einzige,  das 
wert  ist,  erkannt  zu  werden,  wenn  nicht  die  ganze  Geschichte  zu  totem  Ballast  wer» 
den  soll.  Die  Kunst  ist  nichts  Persönliches,  so  wenig  wie  die  Welt,  der  sie  ihre  Bil» 
der  entnimmt,  und  ihre  Geschichte  ist  frei  von  allerWillkür  wie  die  Weltgeschichte; 
ja,  ihr  Bau  bietet  noch  bessere  Handhaben,  den  Zufall  zu  überwinden  als  das  Feld 
des  Historikers,  auf  dem  sich  zuweilen  der  Sinn  der  Begebenheiten  mit  undurch» 
dringlichem  Schleier  verhüllt.  Alles  was  je  die  Kunst  geschaffen  hat,  bleibt  irgend» 
wie,  irgendwo  erhalten.  Nichts  stürzt,  was  je  die  Höhe  erklomm.  Es  ändert  sich, 
taucht  unter,  nimmt  neue  Formen  an  und  wird  mit  neuen  Werten  verbunden,  nie 
geht  es  verloren.  So  wenigstens  erscheint  die  Geschichte  von  grauen  Zeiten  an  bis 
auf  unsere  Tage.  Dieses  geheime  Lebenselement  gilt  es  zu  suchen.  Gelingt  es,  so 
finden  wir  Jas  beste  von  uns,  einen  Beweis  der  Unvergänglichkeit  unserer  Art. 

Ich  glaube  zu  nützen,  wenn  ich  mit  diesem  Versuch  einer  Entwicklungsgeschichte 
den  Nachweis  dieses  Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Kunstkräfte  erbringe.  DieMo» 
mente  der  Beweisführung  müssen  gleichzeitig  die  Elemente  einer  Ästhetik  ergeben, 
um  zu  der  Einsicht  von  dem  Wert  der  Kunstwerke  zu  gelangen.  Denn  die  Erkennt« 
nis  des  unsterblichen  Elementes  der  Kunst  gibt  zweifellos  die  Erkenntnis  ihrer  Schön» 
heit.  Daher  kam  es  mir  nicht  auf  die  Vollständigkeit  eines  Namenregisters  an.  Am 
Kunsthimmel  glänzen  so  ungeheuer  viel  Sterne,  daß  es  schon  nicht  möglich  ist, 
die  sichtbaren  alle  zu  fassen,  noch  viel  weniger  die  anderen,  die  nicht  leuchten.  Ich 
habe  versucht,  nach  Potenzen  zu  gruppieren,  deren  Wirkung  in  dem  hohen  Bereich 
Wege  bildet,  und  danach  getrachtet,  Systeme  zu  gewinnen,  Kreise,  wo  sich  die  Kraft 
des  Einzelnen  mit  der  von  anderen  paart,  um  der  Erscheinung  größere  Macht  zu 
geben.  Hunderte  solcher  Systeme  größeren  und  geringeren  Grades  machen  die 
Kunstgeschichte.  Ich  habe  kaum  ein  einziges  erschöpft  und  nur  an  großen,  zum  Teil 
bisher  ungenügend  erkannten  Beispielen  die  Wege  zu  dieser  einheitlichen  Kunst« 
Betrachtung  angedeutet. 

Paris  1903 


raiiiniiuiiiiiiiiiiiiii'KiaiiiiaiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiuiuiiiiieiiiiiiHiiiiiiliiiiiiHiiiwiiiiiiiiiiiiiiiiiia 


VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 

Man  besingt  in  der  Jugend  eine  Frau,  ohne  sie  zu  berühren.  Dabei  wird  allerlei 
von  ihrem  Umriß  deutlich.  So  ging  sie,  so  lächelte  sie,  so  war  ihr  Blick.  Es 
ist  möglich ,  ein  ganz  vollkommenes  Abbild  zu  geben ,  auch  wenn  man  von  allzu 
zudringlichen  Details  absieht.  Nachher  lebt  man  mit  ihr.  Da  versagt  die  frühere 
Methode.  Dem  einen  fällt  ein,  daß  er  früher  ein  Schwärmer  war  und  daß  es  mit  der 
Liebe  im  Grunde  nicht  so  viel  auf  sich  hat.  Das  läßt  sich  ausdrücken,  geistvoll  und 
skeptisch,  mit  Humor  und  mit  Bitterkeit.  Man  kann  daran  Weiterungen  knüpfen 
und  ein  System  erfinden ,  in  dem  von  unserem  Unmut  nichts  verloren  geht.  Es  ist 
eine  ganz  einfache  Sache.  Schwieriger  ist,  die  im  Positiven  mögliche ,  wenigstens 
denkbare  Fortsetzung  jener  Jugendschwärmerei  darzustellen,  das  Kapitel,  das  nach 
der  glücklichen  Verlobung  am  Schluß  des  Romans  beginnt  und  im  Sinne  der  letzten 
Seite  weiter  geht,  wenn  mandie  Chance  hat,  dergleichen  zu  erleben;  die  Fortsetzung, 
die  uns  sagen  läßt:  das  Frühere,  wie  sie  stand  und  ging  und  lächelte,  und  was  man 
dabei  dachte,  ganz  schön,  ganz  niedlich,  aber  nur  ein  Nebel,  eine  Ahnung.  Gestehe 
dir,  im  Grunde  hätte  sie  bei  alledem  recht  albern  sein  können,  war  es  vielleicht  gar 
und  du  selbst  warst  es  erst  recht.  Du  flogst  auf  ein  Nichts  zwischen  Nase  und 
Mund,  auf  eine  Falte  des  Kleides,  auf  einen  Hauch  ihrer  Stimme,  wolltest  gar  nicht 
mehr,  hättest  nicht  einmal  Platz  für  den  Reichtum  gehabt,  der  dahinter  steckte,  den 
du  heute  hast,  zu  haben  anfängst,  das  ganz  Unerschöpfliche,  Unvergängliche,  jen= 
seits  von  ihrer  Jugend,  die  vor  dreißig  Jahren  war  und  in  hundert  noch  sein  wird, 
jenseits  von  jenem  Rausch,  der  dich  toll  machte,  dich  aufblies  wie  einen  Pfau  und 
dich  im  Grunde  herzlich  lächerlich  werden  ließ,  und  den  du  auch  heute  noch  fühlst 
und  der  dich  heute  still  macht  und  dir  hundert  Augen  gibt  statt  der  beiden  irren 
von  damals.  Das  stelle  einer  dar,  ohne  banal  zu  werden.  Es  hat  noch  keiner  ver-- 
sucht,  soviele  Dichter  das,  was  vorherging,  besungen  haben,  so  viele  Spötter  den 
anderen  Ausgang  zum  Gegenstand  ihrer  Skepsis  gemacht  haben.  Doch  ist  es  eben= 


VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 5 

sogut  ein  Rosa  wie  das  der  Verlobung  am  Schluß,  nur  nicht  das  materielle  Rosa, 
wie  es  im  Farbenkasten  liegt,  sondern  eine  Zusammensetzung  aus  komplementären 
und  einander  kontrastierenden  Farben.  Doch  ist  es  ein  Werden  so  gut  wie  das  frü» 
here.  Stände  es  still,  wäre  man  bald  damit  fertig  und  würde  Mann  und  Frau  wie 
tausend  andere,  die  nur  von  Sitte  und  Vernunft  zusammengehalten  werden.  Wohl 
siehst  du  die  Bewegung  nicht  wie  den  grellen,  plötzlich  erhellenden  Zickzackblitz 
am  nächtlichen  Himmel.  Sie  ist  deshalb  nicht  kleiner,  vielleicht  größer,  nur  mit  viel 
zahlreicheren,  früher  unbeteiligten  Elementen  verbunden,  Teil  deiner  eigenen  Be» 
wegung,  die  du  mit  jedem  neuen  Erlebnis,  mit  jeder  Freude,  mit  jedem  Schmerz 
vollbringst,  ein  gar  nicht  mehr  lösbarer  Teil  deiner  selbst,  vielleicht  dein  Bestes. 

Dieses  Buch  war  ursprünglich,  wie  der  Titel  besagt,  als  eine  Entwicklungsge« 
schichte  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  geplant.  Die  Anfänge  liegen  weit  zu« 
rück,  und  dem  Schreiber  war,  als  er  anfing,  noch  recht  jugendlich  zumute.  Erstand 
weit  genug  von  der  Kunst,  um  ihre  Geschichte  wie  eine  angenehm  bewegte  Fläche 
vor  sich  sehen  zu  können.  So  erscheint  alles,  wenn  man  fernsteht.  Selbst  die  Erde 
wird,  vom  Mond  aus  gesehen,  zu  einer  gefälligen  Kugel.  Bei  der  Arbeit  verschob 
sich  dem  Schreiber  das  System.  Er  konnte  nicht  den  Platz  behalten,  wo  er  anfangs 
stand,  ging  näher  an  die  Erscheinung  heran,  die  er  schließlich  betrachten  wollte, 
und  sah  auf  einmal  nichts  mehr  wie  ein  ungeheures  von  Klüften  zerrissenes  Ge« 
birge.  Die  Höhendifferenzen,  die  früher  die  Linie  nur  gekrümmt  hatten,  wurden 
unüberbrückbar,  nicht  nur  weil  das  eine  soviel  höher  als  das  andere  war,  sondern 
weil  sich  so  viele  Höhen  auf  ganz  verschiedenen  Ebenen  befanden.  Da,  wo  er  bis« 
her  von  einer  Spitze  zu  der  anderen  klettern  zu  können  geglaubt  hatte,  entdeckte 
er  plötzlich  eine  Schlucht,  die  bis  zur  Talebene  oder  noch  weiter  hinabfiel,  womög« 
lieh  gar  mehrere  Schluchten,  zwischen  denen  wieder  Hügel  lagen.  Ein  ganzes  Land 
dehnte  sich  zwischen  den  beiden  Spitzen.  Er  stand  da  und  rieb  sich  die  Augen  und 
tat,  was  seines  Berufes  war,  schrieb  angesichts  der  Klüfte.  Zuweilen  rettete  er  sich 
auf  seinen  früheren  Aussichtspunkt  zurück  und  holte  Atem,  versuchte,  auch  von 
weitem  das  Vielerlei  zu  entdecken,  das  sich  in  der  gekrümmten  Linie  verbarg,  und 
wurde  immer  wieder  von  dem,  was  so  hell  und  so  voll  von  Geheimnissen  vor  ihm 
lag,  angezogen.  Und  immer  wieder  tat  er,  was  seines  Berufes  war.  Manchmal  hielt 
er  sich  an  seinem  Federhalter  wie  an  einem  Alpenstock. 

Das  Hin  und  Her  gibt  Motion,  aber  schlechte  Bücher.  Der  Schreiber  verwechselte 
die  Entwicklung  der  Kunst  mit  seiner  eigenen  Entwicklung.  Das  geht  heute  gar  oft 
so  in  unserer  nichts  weniger  als  klassischen  Zeit.  Man  bildet  sich  ein,  genug  zu  tun, 
wenn  man  etwas,  ein  paar  Linien,  ein  freundliches  Lächeln,  etwas  um  den  Nacken 


iiwiiiiiMiiiMiiiiiiiiwiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinniiiHiiiim^ 


iiiiiiiMniiiiMiniiiiniiiiiniim 


VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 


iiiiiiiriiiiriitiiiruiiiimili 


herum  oder  eine  nette  Frechheit  von  sich  selbst  sehen  läßt,  und  es  ist  alles  Mögliche, 
wenn  dabei  auch  eine  Kleinigkeit  über  die  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  gesagt 
wird.  Gott  verzeih  mir  das  Buch.  Ich  habe  hier  und  da  versucht,  es  besser  zu  ma« 
chen.  Hätte  ich  es  gründlicher  geflickt,  wäre  vielleicht  von  der  Motion  nichts  übrig» 
geblieben.  Wie  heute  die  Dinge  liegen,  ist  das  geringste  Argument  zu  brauchen, 
das  uns  auf  Zusammenhänge  weist  oder  den  Mangel  an  Zusammenhängen  aufdeckt. 
Das  allzu  Wenige,  das  hier  über  die  einzelnen  Künstler  gesagt  ist,  habe  ich  durch 
die  Reihe  von  Monographien  zu  ergänzen  versucht,  die  seit  der  ersten  Auflage  er« 
schienen  sind.  Ich  habe  sie  abgewartet,  bevor  ich  mich  zu  dieser  neuen  Auflage 
entschloß. 


wiwniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiwiiisiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiuiuiiiiiiiiiiiiiiittiuiiiiiiiuiuiiiiiiiiiiiiJiiMww 


VORWORT  ZUR  DRITTEN  AUFLAGE 

Die  zweite  Fassung  dieses  Werkes,  die  1914  erschien  und  hier  ungeändert  in 
neuer  Auflage  herauskommt,  hat  mir  manche  verwunderte  Frage  nach  der 
ersten  zugezogen.  Das  Vorwort  deutete  —  vielleicht  zu  drastisch  —  die  Gründe 
an,  die  mich  zu  der  weitgehenden  Revision  bewogen  haben.  Übrigens  blieb  das 
psychologische  Gerüst,  der  wesentliche  Entwicklungsgedanke,  intakt.  Nur  der 
Bau  des  Innern  wurde  fast  vollständig  ersetzt,  mußte  ersetzt  werden,  eben  des 
Gedankens  wegen,  um  Behauptungen,  die  in  der  ersten  Fassung  ziemlich  unver» 
froren  und  unvermittelt  ausgesprochen  wurden,  zu  erhärten,  um  das  große  Men» 
schentum,  dem  diese  Geschichte  nachgeht,  von  dem  Allzumenschlichen  oberfiäch» 
lieber  Betrachtung  zu  reinigen.  Diese  notwendige  Ergänzung  hat  nicht  überall 
gefallen.  Leute  von  Beruf,  die  der  ersten  Fassung  mit  heller  Begeisterung  zu» 
gestimmt  hatten,  wandten  sich  erzürnt  von  der  zweiten  ab.  Der  mehr  als  apo« 
kryphe  Entwurf  stand  ihnen  näher  als  der  Versuch  gründlicherer  Auseinander« 
Setzung  mit  dem  gleichen  Objekt.  Sonderbarer  Reflex  des  Impressionismus  I 
Gott  verzeih  mir  das  Buch!  schrieb  ich  1914.  Gott  verzeih  meinen  Lesern!  könnte 
ich  heute  schreiben.  Trifft  diese  Fassung  nicht  die  gesuchte  Wahrheit  —  und  ich 
bin  weit  entfernt  davon,  darüber  ohne  Sorge  zu  sein  — ,  so  traf  die  erste  erst  recht 
nicht,  und  was  man  an  ihr  schätzte,  war  just  das  Vergängliche.  Auch  hat  man 
dem  Autor,  der  sich  zu  verbessern  suchte,  Inkonsequenz  vorgeworfen.  Wohin 
muntere  Überzeugungen,  die  keine  Inkonsequenz  vor  dem  Absurden  bewahrt, 
das  Schiffchen  treiben  können,  das  haben  wir,  nicht  nur  in  der  Kunst,  gründlich 
erfahren. 

Der  schon  in  der  zweiten  Auflage  vermißte  dritte  Band  fehlt  immer  noch. 
Er  war  in  Arbeit,  als  der  Krieg  dem  Dienst  der  Musen  ein  Ende  machte.  Einige 
Kapitel,  über  Renoir,  Geranne,  Van  Gogh,  Gauguin,  Munch  und  die  Plastik  sind 
annähernd  fertig.  Für  den  Rest,  den  hoffnungsvollen  Ausblick  auf  Gegenwart 
und  Zukunft,  fehlte  bisher  der  rechte  Schwung.  Sobald  er  sich  einstellt,  werden 
die  Bogen  bald  voll  sein.    Solange  bitte  ich  den  Leser  um  Geduld.  M.»G. 


Dresden,  Sommer  1920. 


EINLEITUNG 


.  > 


ms 


iiiiiniiiiniiiiiiinniiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE 

I 

Zivilisation  und  Kultur  sind  zwei  leicht  vermengbare  Begriffe,  die  sich  zuweilen, 


z 


obwohl  sie  aufeinander  angewiesen  sind,  wie  Feinde  gegenüberstehen.  Jeder 
muß  das  erste  haben,  nicht  für  sein  geistiges  Wohl,  sondern  um  mit  und  von  den  an» 
deren  leben  zu  können,  um  nicht  zu  verhungern.  Keine  materielle  Nötigung  treibt  zu 
der  Kultur,  der  höheren  Stufe  der  anderen.  Sie  ist  abhängig  von  der  Zivilisation, 
weil  diese  notwendig  den  Rohstoff  zubereitet.  Hält  diese  die  Menschen  zu  lange  in 
ihrem  gewaltigen  Gebäude  auf,  wo  die  Arbeiter  an  Pulten  stehen  und  über  Büchern 
sitzen,  wo  Entdeckungen  gemacht,  Erfindungen  geprüft  werden,  wo  die  Maschinen 
nie  still  stehen  und  jede  Minute  neuen  Reichtum  bringt,  so  bleibt  für  die  stillere  Welt 
der  Kultur  zu  wenig  übrig.  Die  Zivilisation  drängt  uns  zur  Teilung  der  Arbeit  und 
Interessen,  zur  Spezialisierung  unserer  Fähigkeiten.  Die  Kultur  will  zusammenfassen, 
überblicken,  einen,  drängt  zu  einer  allen  höheren  Gebieten  des  Geistes  gleichmäßig 
zugewandten  Lebensführung,  zu  einem  organischen  Weltbild.  Sie  will,  mehr  als  alles 
andere,  selbst  auf  Kosten  alles  anderen,  die  Harmonie  und  hat  deshalb  die  Kunst  ge< 
schaffen. 

Die  Kunst  bezieht  alles,  was  sich  ihrem  weitschauenden  Auge  bietet,  auf  einen 
aller  Nützlichkeit  entrückten  Begriff,  der  verhältnismäßig  stabil  ist,  weil  ihm  das 
Gefühl  vor  allen  Dingen  vorsteht  und  weil  er  nie  der  Natur  entraten  kann,  weil  er 
auf  weitverzweigten,  veränderlichen  Wegen  das  ewig  Natürliche,  das  sich  dem  nai< 
ven  Sinn  ohne  weiteres  erschließt,  mit  hohen  geistigen  Abstraktionen  verbindet.  Als 
ordnendes,  zusammenfassendes,  reinigendes  Organ  der  Menschheit  ist  die  Kunst 
ein  wesentlicher  Maßstab  für  die  Kultur,  fast  ihr  Gestalt  gewordener  Ausdruck.  Eine 
Zeit  kann  tausend  Dinge  hervorbringen  und  die  Kunst  vergessen.  Dann  besitzt  sie 
die  Dinge  nicht,  vermag  sie  nicht  zu  ordnen,  sondern  wird  von  ihnen  besessen,  dann 
mangelt  ihr  die  Kultur. 


FitiimntiniminrirmniniititiiMi[iiiii[iiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiim<iiiiniiitriiMiiii)ririirnmiiii[nitiiiTin[iriitnriiiiiiii[iriiiiriiii[irirri[inititiiriritmtimim 


10  EINLEITUNG 

Das  wäre  alles  ganz  einfach,  wenn  wir  witkLch  Kultur  «nd  Kunst  und  die  einmal 
festgestellte  Beziehung  zwischen  beiden  als  ruhende  Punkte  in  der  Erscheinungen 
Flucht  behalten  könnten,  wenn  sie  uns  wenigstens  als  Begriffe  unveräußerlich  wären. 
Dann  hätte  die  heutige  Welt  manchen  Grund,  zu  verzweifeln.  Sie  hilft  sich,  hat  das 
Talent,  Gewinne  höher  als  Verluste  zu  buchen,  freut  sich  an  dem  Reichtum  der 
Dinge,  auch  wenn  sie  ihn  nicht  mehr  besitzt,  und  duldet  eine  Kunst,  die  nicht  mehr 
ordnendes,  zusammenfassendes  Organ  der  Menschheit  zu  sein  vermag,  vorausge« 
setzt,  daß  ihr  gelingt,  selbst  organisch  zu  bleiben  und  eine  Einheit  im  Kunstwerk 
zu  schaffen.  Wir  haben  damit  zu  rechnen,  daß  eine  hohe  Kunst  Dinge  hervorbrin« 
gen  kann,  ohne  in  ihrer  Gesamtheit  jene  Kultur  zu  besitzen,  deren  Resultat  die 
Kunst  von  Rechts  wegen  sein  muß.  Wir  haben  sogar  gelernt,  nicht  nur  uns  dieser 
Kunst  zu  freuen,  sondern  sogar  in  dieser  isolierten  Kunst  ein  noch  gesteigertes  Sym» 
bol  der  Menschheit  zu  erblicken.  Die  Kunst  vollzog  diese  entscheidende  Wendung, 
als  die  wesentliche  Kraft  der  Künstler  begann,  sich  auf  ein  besonderes  Gebiet,  das 
gemalte  und  gerahmte  Bild,  die  isolierte  Plastik,  zu  werfen.  Die  enorme  Einbuße, 
die  dadurch  der  Kunst  zugefügt  wurde,  wird  nicht  durch  die  Einsicht  geschmälert, 
daß  die  Entwicklung,  die  dahin  führte,  das  Werk  einer  ruhmreichen  Geschichte  war, 
die  bereits  in  den  glänzendsten  Phasen  neuerer  Kultur  ihren  Anfang  nahm.  Ruhm« 
reiche  Epochen  der  Menschheit  sind  ohne  die  Allmacht  der  Bilder  zu  der  hohen 
Bedeutung  ihrer  Kunst  gelangt.  Man  wird  den  Griechen  nicht  gut  Mangel  an  künst« 
lerischem  Betätigungstrieb  vorwerfen  können,  auch  nicht  den  Chinesen  und  Japa« 
nem.  Allen  hochstehenden  Völkern  waren  Bilder  und  modellierte  Figuren  nicht  der 
einzige  Zweck  ihres  künstlerischen  Ehrgeizes,  sondern  einer  von  vielen.  Wer  spürte 
nicht  in  der  wogenden  Plastik  eines  Phidias  den  Menschen,  diesen  einen,  der  Michel* 
angelo  mit  nie  erreichbarem  Anstände  voranschritt,  dem  noch  viel  später,  in  unse» 
rer  Zeit  einer  der  unseren  in  Augenblicken  höchster  Eingebung  mit-  einem  Bruch« 
stück  hochbrandender  Gestaltung  nahe  kam?  Wen  lockte  es  nicht  vor  seinen  Gie» 
belgruppen  in  London,  die  der  Eigennutz  in  ein  Museum  wie  Könige  in  einen  Ker» 
ker  gesperrt  hat,  das  Jupiterhaupt  zu  träumen,  dem  solche  Gestalten  entsprangen? 
Wer  sähe  nicht  seine  höchst  eigene  Kühnheit,  ahnte  nicht,  daß  dieser  eine  schon 
damals  als  Bildhauer  Besitztümer  der  Malerei,  einer  vielleicht  noch  ungeborenen 
Malerei,  entriß  und  mit  einem  Griff  die  Grenzen  seiner  Kunst  weit  über  jedes  weite 
denkbare  Maß  hinausschob?  Er  soll  ein  Freund  desPerikles  gewesen  sein,  war  viel« 
leicht  ein  Weiser,  in  der  Kunst  der  Rede  wie  in  allen  Künsten  geübt,  war  vielleicht 
ein  Held.  Seine  Zunftgenossen  verehrten  ihn.  Viele  Bildner  verbreiteten  seine  Werke. 
Trotzdem:  wer  fühlt  nicht  in  dem  einen  unendlich  viel  mehr  als  das  Genie  eines 


n 


DIE  TRAGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE 11 

Einzelnen?  Wessen  Sinn  flösse  nicht  von  der  sagenhaftenGestalt dieses  Menschen.der 
ein  Gipfel  war,  mit  der  Wucht  eines  stürzenden  Stroms  auf  die  heldenhafte  Zeit,  auf 
das  heldenhafte  Volk,  sicher,  daß  wenn  nicht  dieser  die  Athene  aus  Gold  und  Elfen» 
bein  gemacht  hätte,  ein  anderer  zur  Stelle  gewesen  wäre?  Nicht  weil  es  andere  Bild» 
hauer  gab,  sondern  weil  es  die  Athene  gab,  weil  sich  dieses  Volk  in  solchen  Gestal» 
ten  aussprach.  Man  zögert,  das,  was  solche  Gestalten  verkörperte,  Kunst  zu  nennen, 
weil  wir  von  unserem  Begriff  nicht  mehr  die  trockene  Luft  des  Ateliers  fernhalten 
können,  weil  uns  Kunst  immer  als  notwendig  überhitzte  Ausnahmevision  erscheint. 
Phidias  war  primus  inter  pares.  So  wie  er  die  Giebelgruppen  machte,  so  machte  man 
das  solchen  Schmuckes  würdige  Haus,  so  baute  man  überall  die  Tempel,  auch  ohne 
Gold  und  Elfenbein,  so  malte  man  die  Götter  und  Helden,  die  alle  kannten,  auf  schön 
geschwungene  Amphoren,  die  in  alle  Hände  kamen,  so  bildete  man  die  Schwerter 
und  Schilde  für  die  Schlacht  und  jedes  Ding  gemeiner  Notdurft.  Es  ist  uns,  als  hätte 
das  alles  ein  einziger  Mensch  gemacht. 

Heute  ist  es  genau  umgekehrt.  Was  bleibt,  wenn  man  unserer  Zeit  ein  paar  Na* 
men  nimmt?  An  Kunst  nichts,  dagegen  aller  Widerstand  gegen  die  Kunst,  den  die 
Träger  jener  Namen  einen  Augenblick  zu  biegen  verstanden,  der  nachher  um  so 
kräftiger  zurückschnellte;  alles  was  ihnen  das  Dasein  erschwerte  und  ihre  Kunst  aus 
der  Öffentlichkeit  verbannte:  unsere  Zivilisation. 

So  lauten  alle  unsere  Biographien:  Er  ward  geboren,  rang  und  starb.  Kein  Hahn 
krähte  um  ihn.  Nach  seinem  Tode  grub  man  ihn  aus. 

Das  war  früher  anders,  auch  noch  tausend  Jahre  nach  Phidias,  auch  noch  später. 

Wir  finden  in  den  Gemälden  der  großen  Meister  unserer  Galerien  Bildnisse  der 
Mächtigen  und  Reichen  der  Zeit.  Wer  gab  den  reichen  Leuten  in  Florenz,  in  Elan» 
dem  und  den  Niederlanden,  in  Frankreich  und  Deutschland  den  Instinkt,  sich  von 
den  besten  Malern  ihrer  Zeit  malen  zu  lassen,  während  sich  heute  die  Mächtigen  und 
Reichen  so  oft  des  Werkzeugs  gerade  der  Banalsten  bedienen?  Man  wußte  damals 
offenbar  besser  als  heute,  was  gute  Malerei  war.  Nichtsdestoweniger  beschäftigten 
sich  schon  damals  die  Fürsten  genau  wie  heute  mit  Regierungsgeschäften,  und  ihr 
Kunstsinn  stand  durchaus  nicht  höher  über  der  Masse  als  heute.  Die  ganze  Masse 
war  höher.  Sie  interessierte  sich  nicht  mehr  für  Kunst  als  heute,  sie  hatte  ebenso 
wie  heute  andere  Dinge  zu  tun,  aber  sie  war  an  Kunst  gewöhnt.  Sie  fand  in  der  Ma» 
lerei  dieselbe  Tüchtigkeit  wie  in  anderen  Dingen,  wie  in  ihrem  Tisch  und  Stuhl, 
wie  in  ihrer  Kleidung,  und  wäre  erstaunt  gewesen,  plötzlich  etwas  anderes  zu  fin» 
den.  Die  Malerei  hatte  nicht  viel  mehr  Bedeutung  als  irgendein  anderes  Gewerbe. 
Ihre  bevorzugte  Stellung  verdankte  sie  lediglich  dem  Umstände,  der  Natur  ihres 


iiiiiii:iiiiii[iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii:iiiiiii:iiiiiii|iiiiiiiiii:iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiw^^ 

14  "  EINLEITUNG 

gen,  wurde  der  Kreis  der  Kunst  wenn  möglich  erweitert,  nur  ließ  er  sich  durchaus 
nicht  mehr  in  konventionelle  Formen  fassen. 

Die  Befreiung  des  Menschen  von  den  Dogmen  der  Kirche  ist  ein  Fortschritt.  Er 
hätte  auch  im  Künstlerischen  segensreich  werden  können.  Tatsächlich  aber  bedeu» 
tete  er  hier  einen  Rückschritt.  Die  Malerei  war  noch  nicht  stark  genug,  um  allein 
gehen  zu  können,  oder  vielleicht  war  sie  schon  entkräftet.  Statt  sich,  von  jedem  ge* 
genständlichen  Zwang  befreit  und  nur  von  ihrer  eigenen  Konvention  getragen,  in 
die  Höhe  des  rein  Künstlerischen  zu  erheben,  verweltlichte  sie  nach  und  nach  und 
unterlag  schließlich  Verirrungen,  vor  denen  sie  selbst  in  den  frühesten  Zeiten  der 
Kultur  bewahrt  geblieben  war. 

•  Eine  dreifache  Losung  begeisterte  die  politischen  und  sozialen  Kämpfe  der  neuen 
Zeit:  Freiheit,  Wahrheit,  Gleichheit.  Die  beiden  ersten  Güter  glauben  wir  bereits 
zu  besitzen,  um  das  dritte  kämpft  unsere  Generation  die  Entscheidung. 

Die  Kunst  glaubte  sich  an  diesem  Kampf  beteiligen  zu  müssen.  Es  war  natürlich, 
daß  sie  sich  damit  auseinandersetzte.  Es  geschah  mit  derselben  Begeisterung,  mit 
der  der  Krieger  in  die  Schlacht  zog,  und  es  kam  zu  denselben  Freuden,  Leiden,  Ent» 
behrungen,  zu  denselben  Triumphen.  Es  wurde  wie  auf  dem  anderen  Schlachtfeld 
um  die  drei  Teile  der  Losung  gleichzeitig  gekämpft,  und  ebenso  am  schärfsten  und 
bisher  entscheidendsten  um  die  beiden  ersten,  die  Freiheit  und  die  Wahrheit. 

Im  allgemeinen  Sinne  bedeutet  das  Dreiwort  eine  Utopie,  nur  regelt  sich  das  Ziel 
im  Sozialen  in  rationeller  Weise.  In  der  Kunst,  wo  die  Regulierung  wegfiel,  richtete 
es  schwerstes  Unheil  an. 

Man  wollte  frei  werden  in  der  Kunst,  aber  frei  wovon?  Man  vergaß,  daß  Freiheit 
gleichzeitig  Alleinsein  bedeutet.  In  ihrem  ungestümen  Drange  befreite  sich  die 
Kunst  von  ihrer  Unentbehrlichkeit.  Je  mehr  sich  vor  ihr  das  weite  Meer  unbeschränk» 
ter  Ziele  ausdehnte,  desto  weiter  entschwand  ihr  das  feste  Land,  wo  sie  heimisch  ge» 
wesen  war.  Sie  verlor  den  vaterländischen  Boden. 

Das  Ziel  war  so  nebelhaft  wie  möglich.  Man  nannte  es  deshalb  Wahrheit.  Es  war 
bei  den  meisten  eine  große  Lüge  am  innersten  Wesen  der  Kunst,  die  nicht  wahrer 
oder  unwahrer  ist  und  sein  kann,  als  ein  Regenwurm  oder  ein  Stern  am  Himmel,  als 
alle  nur  erdenkbaren  Dinge,  auf  die  eben  Begriffe  wie  Wahrheit  nicht  anwendbar 
sind.  Aber  man  beharrte  dabei  und  trieb  die  Verweltlichung  so  weit,  die  Kunst 
durch  den  rohen  Vergleich  mit  der  Natur  zu  demütigen.  Weil  unter  den  techni* 
sehen  Mitteln  großer  Künstler  die  Erfassung  gewisser  Seiten  der  Natur  eine  Rolle 
spielte,  weil  sie  es  verstanden,  Dinge  zu  machen,  die  das  Auge  im  Walde  oder  auf 
der  Wiese  gesehen  zu  haben  glaubte,  deshalb  wurden  sie  für  „wahrer"  gehalten  als 


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iiiiiHniiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiflniiiiiiiiiiiiniiniiiiiiiiM^^^ 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  I  KCniHR  UND  HEUTE  15 

andere  Künstler,  die  diese  Mittel  nicht  oder  anders  anwandten.  Man  fing  an  zu  ver* 
gessen,  daß  der  Wald  und  die  Wiese  dem  Künstler  nichts  anderes  als  rein  mecha« 
nische  Mittel  sein  können  wie  seine  Palette  oder  sein  Pinsel  oder  tausend  andere 
Dinge,  die  er  mit  Recht  oder  Unrecht  nötig  zu  haben  glaubt,  und  die  für  den  Ge» 
nuß  der  anderen  fast  so  gleichgültig  sind  wie  die  faulen  Apfel,  die  ein  deutscher 
Dichter  zum  Dichten  benötigte. 

Wohlverstanden,  nicht  der  Künstler  dachte  so;  der  Maler,  der  so  dachte,  war 
eben  kein  Künstler.  Aber  der  Laie.  Er  überließ  sich  der  Reflexion,  wo  er  früher 
empfunden  hatte.  Für  ihn  warder  Versuch,  sich  verstandesmäßig  mit  der  Kunst  aus' 
einanderzusetzen,  derselbe  Schritt  zur  Trennung,  wie  vorher  bei  der  Religion.  Es 
war  ihm  unmöglich,  das  Ding  an  sich  zu  sehen.  Und  ohne  zu  wissen,  wie  berechtigt 
im  letzten  Grunde  seine  Abneigung  gegen  diese  für  ihn  unfaßbare  Abstraktion  war, 
griff  er  nach  den  ersten  besten  Tendenzen,  die  seine  Laune  ihm  eingab,  und  rieh» 
tete  danach  die  Kunst.  Die  unmittelbare  Folge  war,  daß  sich  geschickte  Leute  fan» 
den,  die  diese  Tendenzen  breitklopften.  Sie  waren  nur  willkommener. 

Dadurch  allein  schon  wird  das  sich  fortwährend  steigernde  Mißverhältnis  zwi* 
sehen  den  Künstlern  und  denen,  die  sich  so  nennen,  ohne  eine  entfernte  Berechti» 
gung  zu  haben,  genügend  erklärt.  Früher  hatte  die  Mystik  der  Kirche  den  Gläubi' 
gen  in  die  Mystik  der  Kunst  getrieben.  Er  leistete  keinen  Widerstand;  der  eine 
Schauer  ergänzte  den  anderen.  Jetzt  fühlte  er  sich  an  sein  persönliches  Interesse  ge« 
faßt  und  lehnte  ab,  wo  dieses  nicht  befriedigt  wurde. 

Zum  reinen  Wahnwitz  wurde  in  der  Verweltlichung  der  Kunst  das  soziale  Ideal 
der  Gleichheit.  Es  gelangte  nicht  zum  Recht  des  Schlagwortes  wie  die  beiden  an» 
deren,  aber  es  spukte  wie  ein  Irrlicht  in  den  Köpfen  der  Künstler  wie  der  Laien 
herum.  Die  Kunst  sollte  von  dem  hohen  Kothurn  herab.  Man  fand  auf  einmal  auch 
in  ihr  eine  Schanze  der  Tyrannei.  Sie  sollte  zu  den  Menschen  kommen,  demütig, 
ohne  Pathos,  schlicht,  realistisch.  Aber  als  sie  kam,  wußten  die  Menschen  nichts  mit 
ihr  anzufangen,  und  im  krassesten  Hohn  auf  die  erstrebte  Gleichheit  begann  sie 
ihren  Dienst  für  die  Wenigen,  die  Auserwählten. 

Allgemein  und  gleich  hätte  sie  nur  bleiben  können  an  allgemein  zugänglicher 
Stätte.  Die  gab  es  nach  der  Kirche  nicht  mehr.  Man  versuchte  wohl  das  religiöse 
Ideal  durch  das  des  Vaterlandes  zu  ersetzen,  über  das  unser  trefflicher  Schadow  den 
Streit  mit  Goethe  bestand.  Aber  abgesehen  davon,  daß  dafür  die  geeignete  Schau» 
statte  abging,  selbst  diesem  Ideal,  das  noch  am  meisten  geeignet  schien,  fehlten  alle 
Elemente,  die  einer  Tradition  hätten  dienen  können.  Es  war  vor  allem  zu  beweg» 
lieh,  bereits  den  Leidenschaften  des  Tages,  dem  Persönlichen  viel  zu  nahe.  Es  gab 


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16  EINLEITUNG 

das  Historienbild,  an  dem  das  Volk  nur  die  Historie  sah,  über  die  es  sich  ereiferte 
in  Begeisterung  oder  Trauer,  ohne  der  Kunst  zu  bedürfen. 

Unter  Gleichheit  verstand  man  die  allgemeine  Käuflichkeit  des  Werkes.  Jeder 
konnte  sich  von  nun  an  Kunst  kaufen.  Es  gehörte  nur  Geld  dazu.  Auch  das  führte 
zum  genauen  Gegenteil  der  Losung. 

Früher  allein,  als  sich  kein  eigentliches  Besitzrecht  mit  der  Kunst  verknüpfte,  kam 
das  Verhältnis  des  Laien  zu  ihr  einem  sozialen  Ideal  nahe.  Sie  war  für  Alle,  da  sie 
niemand  gehörte.  Sie  stand  über  der  Gier  des  Einzelnen,  war  ein  höchst  kommuni» 
stisches  Zeichen  in  einer  Zeit,  die  im  übrigen  gar  weit  von  dem  Sozialismus  unserer 
Tage  entfernt  war.  Heute  ist  sie  gerade  ein  Ausdruck  unserer  furchtbaren  Klassen» 
unterschiede  geworden,  vielleicht  der  krasseste,  sicher  der  tiefste.  Sie  ist  nur  einer 
Aristokratie  zugänglich,  deren  Herrschaft  darum  so  furchtbar  erscheint,  weil  sie 
nicht  lediglich  auf  Reichtum  und  Rang,  also  auf  Dingen  basiert,  mit  deren  Teilung 
der  kühne  Sozialist  das  Gleichgewicht  herzustellen  hoflft.  Es  gibt  nichts  so  Uner* 
reichbares  wie  sie,  weil  ihr  Genuß  eine  Kaviarkultur  voraussetzt.  Die  ästhetische 
Nutznießung  ist  fast  ebenso  selten  wie  die  künstlerische  Leistung  geworden.  Gleich« 
zeitig  mit  der  Spaltung  von  Massenkunst  in  Einzelkunst  mußte  sich  der  Massen* 
genuß  in  Einzelgenuß  spalten.  Es  wurde  ein  Luxusgenuß  daraus  und  der  raffinier» 
testen  einer.  Man  muß  nicht  nur  sehr  viel  Geld  heute  haben,  um  sich  Kunst  zu  kau« 
fen,  sondern  Ausnahmemensch  sein,  mit  ganz  besonderen  Sinnen  begabt,  um  sie 
zu  genießen.  Sie  ist  nur  für  wenige  da,  und  dieseWenigen  brauchen  im  übrigen  durch« 
aus  nicht  zu  denen  zu  gehören,  an  deren  Zuchtwahl  der  Allgemeinheit  gelegen  ist; 
sie  sind  durchaus  nicht  die  Bedeutenden  des  Volkes,  die  in  irgendeiner  Form  für 
sein  Wohl  und  Wehe  berechtigte  Bedeutung  haben ;  sie  scheinen  eher  mit  allen  Merk« 
malen  des  Dekadenten  gezeichnet.  Es  gehört  keine  Größe  des  Charakters  oder  der 
Intelligenz  dazu,  um  Kunst  zu  verstehen.  Die  größten  Leute  unserer  Zeit  haben  be» 
kanntlich  gar  nichts  davon  verstanden.  Die  heutige  künstlerische  Kultur  ist  kaum 
noch  ein  Element  der  Gesamtbildung,  das  nicht  entbehrt  werden  kann,  aus  dem  ein» 
fachen  Grunde,weil  die  Kunst  aufgehört  hat,  in  dem  Gesamtorganismus  eine  Rolle 
zu  spielen. 

Ja,  nicht  einmal  auf  den  Geschmack  hat  unmittelbar  unsere  Kunst  einen  entschei« 
denden  Einfluß,  selbst  bei  denen,  die  in  die  tiefsten  Geheimnisse  ihrer  Genüsse 
eingedrungen  sind.  Der  beste  Beweis  ist  der,  daß  der  allgemeine  Niedergang  des 
Gewerbes  selbst  auf  die  Leute  nicht  den  geringsten  Eindruck  macht,  die  sich  mit 
den  kostbarsten  Werken  umgeben;  daß  sie,  die  zu  den  Auseirwählten  gehören,  in» 
dem  sie  nicht  nur  materiell,  sondern  ideell  besitzen,  in  denselben  Räumen  die  rohe» 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE 


17 


sten  Geschmacklosigkeiten  dulden,  in  denen  ihre  schönsten  Werke  hängen;  daß  sie, 
die  unter  dem  Besten  das  Beste  zu  wählen  verstehen,  in  ihrer  Kleidung,  ihrem  Gc« 
baren,  ihren  Ansprüchen  an  die  übrige  Lebensführung  zuweilen  eine  bis  zur  Roheit 
getriebene  Empfindungslosigkeit  äußern.  Das  Eine  verschlingt  alles  übrige,  der  Kult 
wird  maniakalisch. 

Diese  immer  mehr  zurückzuckende  Genügsamkeit  reduziert  auch  ihre  Ansprüche 
an  das  Werk  selbst  auf  ein  räumlich  Geringstes.  Sie  duldet  an  ihm  die  gröbsten  Feh* 
Ter,  ja  bis  zum  gewissen  Grade  die  absolute  Unfähigkeit,  wenn  nur  eine  Qualität  ge' 
wahrt  bleibt,  die  sich  als  Unikum  erweist. 

Wir  werden  im  Verlaufe  unserer  Betrachtungen  der  relativen  Berechtigung  dieser 
Schätzungen  im  Einzelnen  genügend  Rechnung  tragen  und  uns  vielleicht  sogar  wie» 
der  zu  sehr  von  dem  Einzelnen  erobern  lassen,  um  das  Ganze  immer  im  Auge  zu  be* 
halten:  die Unhaltbarkeit  der  Situation, an  der  auch  die  heimlichen  Freuden  kostbarer 
Augenblicke  nichts  ändern.  Darum  soll  hier  am  Anfang  das  Veto  so  eindringlich 
wie  möglich  sein,  daß  es  stark  genug  bleibe,  das  eigene  maniakalische  Gelüst  zu  be« 
herrschen.  Es  ist  der  Schwur  des  Schwankenden,  der  bereits  die  Tür  des  Teehauses, 
hinter  dessen  Binsen  die  Mädchen  winken, in  der  Hand  hat 


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i«iminiiU'iMtii>iiiiMMirm.iiiiH:^rrMmiiiitmmliimiiiii^ii<iiNiiiiiiiuiili:iruiiiiilililiJMioiiuMliiwlintMiiiii'm:iiiii<iiiMiiiimiMtiiin>^ 


II 

Diese  tatsächliche  Bedeutungslosigkeit  der  Malerei  und  Skulptur  für  die  Allge« 
meinheit  wird  mit  einem  faltenreichen  Mantel  folgenloser  Wichtigtuerei  ver» 
hüllt.  Es  ist  sicher  in  allen  Epochen  der  Kunst  zusammengenommen  nicht  so  viel 
über  Kunst  gesprochen  und  geschrieben  worden,  wie  in  unserer  Zeit.  Die  mit  wach« 
sendem  Reichtum  zunehmende  Geselligkeit  machte  die  Erfindung  geeigneter  Be« 
schäftigungen  für  tatenlose  Betätigungstriebe  nötig.  Unter  diesen  gesellschaftlichen 
Sports  erlangte  das  Gespräch  über  Kunst  die  Stellung  der  Favoritin,  weil  es  keine 
besonderen  Vorkehrungen,  keine  Anstrengung  verlangt,  weil  es  von  der  Jahreszeit 
unabhängig  ist  und  im  Zimmer  geübt  werden  kann.  Wie  beim  Kaviar  sucht  jeder, 
auch  der,  dem  die  Kunst  nicht  schmeckt,  sie  zu  haben.  Zudem  fügt  das  Immaterielle 
an  ihr  dem  Sport  etwas  Geistiges  hinzu,  das  dem  plutokratischen  Charakter  des  Ka« 
viar»Schmauses  abgeht  und  daher  treffend  gegen  ihn  ausgespielt  werden  kann.  Das 
Kunstgespräch  in  Deutschland  stammt  aus  den  trüben  Stunden  unserer  Nation  in 
dem  ersten  Viertel  des  vorigen  Jahrhunderts,  als  man  in  rührender  Romantik  von 
den  großen  Dingen  träumte,  die  man  nicht  besaß.  Es  war  nichtsdestoweniger  pro« 
duktiver  als  heute,  bildete  die  Sphäre  großer  Leute  und  war  das  Organ  eines  Idea« 
lismus,  der  noch  ohnmächtig,  aber  echt  war.  Davon  ist  heute  nur  der  Nebenzweck 
geblieben.  Das  Kunstgespräch  ist  das  Feudalabzeichen  des  strebsamen  Bürgertums 
geworden  und  gehört  zu  den  Bessergebildeten  wie  ein  unentbehrliches  Kleidungs« 
stück. 

Von  Liebe  aber,  namentlich  von  der,  die  über  das  platonische  Verhältnis  hinaus« 
geht,  wird  heute  immer  weniger  empfunden,  je  mehr  die  Kunstverständigen  in  allen 
Landen  zunehmen.  Dafür  ist  der  Kauf  zum  springenden  Funkt  geworden;  er  ist, 
wie  die  Heirat,  das  einzig  untrügliche  Zeichen  der  Liebe,  und  zwar  ist  dem  Künstler 
im  allgemeinen  das  Zeichen  wichtiger  als  der  Beweggrund. 

Und  heute  kann  es  kaum  anders  sein.  Soll  die  Kunst  etwas  bedeuten,  so  darf  sie 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiwiiiHiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiw^^^ 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE  19 


nicht  lediglich  jene  merkwürdige,  moderne  Tätigkeit  des  schlummernden  Gehirns 
erzeugen,  die  man  mit  dem  liebenswürdigen  Worte  Interesse  bezeichnet.  Es  genügt 
nicht,  daß  sie  die  Schreiber  zu  Schreibereien  anregt  und  immer  nur  sich  selbst,  nicht 
die  anderen  entwickelt.  Wie  sie  heute  geworden  ist,  als  Bild  oder  Skulptur,  als  ver» 
käufliche  Sache,  könnte  sie  nur  wirken,  wenn  sie  den  Zweck  anderer  verkäuflicher 
Dinge  teilte:  den,  erworben  zu  werden.  Schon  die  unerhörten  ^Preise,  die  für  aner» 
kannte  Kunstwerke  bezahlt  und  für  nicht  anerkannte  erst  recht  verlangt  werden  in» 
folge  der  törichten  Sitte,  die  ein  bescheidenes  Gebot  mit  der  Standesehre  der  Kunst 
für  unvereinbar  erklärt,  schon  dieser  unsinnige  und  schlechterdings  aller  Ehrlich« 
keit  bare  Schacher  schließt  jede  Volkstümlichkeit  aus.  Ich  kann  mir  reiche  Leute 
denken,  die  lediglich  aus  Abscheu  vor  dem  Getriebe  dieses  Handels,  aus  einer  Art 
Reinlichkeitsgefühl,  auf  den  Kauf  von  Bildern  verzichten.  Der  kaufende  Liebhaber 
ist  eine  aus  den  dunkelsten  Trieben  zusammengesetzte  Persönlichkeit.  Das  ganz  un» 
berechenbare  Schwanken  der  Preise,  die  Wirkung  der  Mode,  die  nirgends  so  toll 
ist  als  hier,  der  Wunsch,  seine  Sammlung  stets  zu  verbessern,  d.  h.  auf  den  modisch 
gangbaren  Ton  zu  stimmen,  nötigt  den  Besitzer,  immer  wieder  zu  verkaufen,  d.  h. 
zum  verschämten  Händler  zu  werden,  der  natürlich  der  unverschämteste  ist  und  in 
den  an  sich  schon  verdorbenen  Handel  noch  verwirrendere  Elemente  hineinbringt. 
Das  macht,  daß  es  eigentlich  überhaupt  nur  Händler  gibt,  keinen  Käufer;  Leute, 
die  nur  aufstapeln  und  immer  nur  oder  wenigstens  fast  ausschließlich  unter  sich 
Geschäfte  machen,  nicht  mit  dem  eigentlichen  Publikum  in  Verbindung  stehen. 
Eine  Statistik,  die  nachweisen  würde,  in  wie  wenig  Händen  sich  die  enormen  heu» 
tigen  Kunstvermögen  befinden,  würde  Aufsehen  erregen.  Ein  großer  Londoner 
Händler,  dessen  Jahresumsatz  nach  Millionen  zählt,  gestand  mir  einmal,  daß  er  nur 
drei  Kunden  besitze.  „Und  wenn  diese  drei  abieben?"  fragte  ich.  ,,Dann",  erwider» 
te  er  und  strich  sich  das  Bäuchlein,  „setze  ich  mich  zur  Ruhe."  Durand  Ruel  in  Paris 
hat  eine  Menge  berühmter  Impressionistenbilder  drei»,  viermal  besessen  zu  etappen« 
weisen  Preisunterschieden  von  jedesmal  1000  Prozent,  und  die  Käufer  sind  sehr  oft 
dieselben  gewesen. 

Diese  Verhältnisse  beschränken  die  ästhetische  Verwertung  auf  ein  Minimum. 
Die  Bilder  werden  zu  Wertobjekten,  die  wie  Papiere  verschlossen  gehalten  werden. 
Selbst  von  dem  Genüsse  des  Einzigen,  des  Besitzers,  ist  bei  diesen  Aufstapelungen 
keine  Rede  mehr.  Das  typischste,  durchaus  nicht  alleinstehende  Beispiel  bildete  die 
Sammlung  Forbes  in  London.  Sie  bestand,  ich  weiß  nicht,  aus  wieviel  hundert  oder 
tausend  Bildern.  Um  sie  unterzubringen,  hatte  der  Besitzer  das  Obergeschoß  eines 
der  großen  Londoner  Bahnhöfe  gemietet,  große  Lagerräume,  aber  selbst  in  dieser 


MnininiiiiiiiniiiiiiiinMnnmiiiiiiii iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiniiiiiiiiiii iiiiniiiiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiniiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiii iiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiM^ 


20  EINLEITUNG 


iiiiMiiiriiiriiiiiiiiiKiMnitiirimrmiriiiiiiiiiiiitimiiiiitiiiiriiiitiii 


Ausdehnung  viel  zu  klein,  um  die  Bilder  aufzuhängen.  Sie  standen  in  ungeheueren 
Stapeln  an  den  Wänden,  eins  hinter  dem  anderen.  Die  Israels,  Mauve,  Maris  zähl« 
ten  zu  Hunderten,  die  Hauptmeister  der  französischen  Schule  um  1830  zu  vielen 
Dutzenden.  Es  gab  kostbare  Dinge  von  Millet,  Corot,  Daubigny,  Courbet  usw., 
von  Whistler.  Es  war,  obwohl  stämmige  Diener  die  Bilderstapel  hielten,  eine  unge« 
heuerliche  Strapaze^rein  physischer  Art,  dieser  Genuß.  Man  trat  zwischen  Bildern, 
man  hätte  unter  Umständen  auch  ruhig  darauf  getreten.  Nach  fünf  Minuten  in  die« 
ser  Moderatmosphäre,  mit  dem  Trieb,  möglichst  viel  zu  sehen  und  der  absoluten 
Unmöglichkeit  im  Bewußtsein,  auch  nur  das  Geringste  zu  erfassen,  wurde  jeder 
bessere  Instinkt  von  einer  Gleichgültigkeit  bezwungen,  der  nichts,  aber  auch  gar 
nichts  mehr  auffiel.  Die  tote  Ruhe,  die  man  schweißtriefend  aufstörte,  in  diesen 
kahlen  Riesenräumen,  in  denen  man  sich  nicht  bewegen  konnte,  dazu  das  Pfeifen 
der  Lokomotiven,  das  Zittern  des  Bodens  infolge  der  unten  fortwährend  ein«  und 
auslaufenden  Züge,  alles  das  gab  eine  merkwürdige  Wut,  den  stillen  Wunsch,  den 
ganzen  Kram  ausnahmslos  zu  zerstören. 

Was  würde  geändert,wenn  es  geschähe?  Wer  würde  verlieren?  Wenn  etwas  zum 
Anarchismus  reizen  kann,  ist  es  das  Bewußtsein,  daß  die  größten  Künstler  im  groß« 
ten  Elend  schaffen,  damit  nach  ihrem  Tod  ein  paar  Händler  daran  reich  werden  und 
ein  paar  Fanatiker  sie  in  versperrte  Lagerräume  stellen.  Die  merkwürdigsten  Laster 
haben  kaum  so  groteske  Gesichter,  erscheinen  so  unsinnig,  wie  diese  Stapelmanie, 
die  wohl  nur  ihrer  Harmlosigkeit  wegen  noch  nicht  als  psychische  Krankheit  er« 
kannt  ist.  In  milderer  Form  sind  alle  die  berühmten  Sammler  in  Paris  und  London, 
in  Amerika  damit  belastet,  deren  Häuser  man  mit  brennender  Sehnsucht  betritt  und 
mit  einem  Seufzer  der  Erleichterung  verläßt, halb  erstickt  von  den  Bildern,  die  jeden 
Zentimeter  der  Wände  bedecken,  und  völlig  niedergedrückt,  nicht  von  dem  Reich» 
tum,  von  nichts  weniger  als  Neid,  sondern  von  dem  Gedanken,  daß  es  Menschen 
gibt,  die  die  Qual,  zwischen  all  diesen  Dingen  ihr  ganzes  Leben  zu  verbringen,  frei» 
willig  auf  sich  genommen  haben. 

Auch  wenn  eine  weisere  Ökonomik  diese  Verhältnisse  bessert,  von  einer  Ver» 
Wertung  der  Kunst  in  weiterem  Umfange  wird  auf  dem  Wege  des  Kaufs  nie  die  Rede 
sein,  und  deshalb  schon  sind  die  schönen  Ideen,  die  sich  mit  „Volkskunst"  beschäf« 
tigen,  bestimmt,  Phantasien  zu  bleiben.  Es  ist  materiell  zunächst  unmöglich,  das 
reine  Kunstwerk  so  billig  herzustellen,  daß  es  allgemein  verkäuflich  wird.  Man  hat 
in  England  in  der  Fitzroy  Society,  in  Paris  mit  den  Blättern  für  die  Schule  von  Ri« 
viere  den  schönen  Versuch  gemacht,  Bilder  zu  sehr  billigen  Preisen  herzustellen,  um 
sie  massenweis  zu  vertreiben.  In  Deutschland  kam  Thoma  mit  seinen  Steindrucken 


nii:iitiiiii!tiiiiiiniiiiiiinnii?iniiiiiiiiiiiiiiiiiii[![iiiiniin!iiiiiiiiiii[iiii[iiiiii[iiiniii!ii[i[uiiiH^ 

lll>IUIIIUIIIIHUINIIJIIlli>tlllllll>lllltlll»l. 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE  21 


auf  diesen  gemeinnützig  gemeinten  Gedanken.  Alle  diese  Versuche  haben  nur  den 

Sammelsport  erweitert.  Jede  Spekulation,  die  diesem  Instinkt  dient,  wird  von  Er* 
folg  gekrönt,  gleichgültig,  ob  es  Briefmarken  oder  Bilder  sind.  Von  ideellem  Belang 
ist  dabei  keine  Rede.  Ich  glaube,  daß  der  letzte  Stand  noch  am  leichtesten  der  Wie* 
dereinsetzung  des  Kunstwerks  zugänglich  wäre,  daß  er  ein  Bild,  das  ihm  gehört, 
aufhängen  würde,  um  etwas  daran  zu  haben,  und  daß  er  Freude  daran  hätte.  So 
billig  kann  das  Kunstwerk  aber  nie  werden,  denn  selbst  wenn  es  nur  zehn  Pfennige 
kostete,wird  der  Arme  vorziehen,  die  zehn  Pfennige  zu  anderen  zu  sparen,  um  sich 
für  zehn  Mark  Dinge,  die  seinen  physischen  Bedürfnissen  dienen,  zu  kaufen.  Eine 
reguläre  Kunstpropaganda  ist  daher  nie  mit  abstrakten  Kunstwerken,  die  gekauft 
werden  müssen,  möglich.  Sie  gelingt  nur  mit  dem  Gewerbe,  mit  Dingen,  bei  denen 
der  künstlerische  Wert  mit  dem  Nutzwert  zusammenfällt.  Solange  diese  Dinge  ver« 
nachlässigt  sind,  ist  es  kein  Wunder,  daß  die  künstlerische  Kultur  der  unteren  Klas' 
sen  heute  niederer  ist  als  in  irgendeiner  anderen  Epoche  unserer  Geschichte. 

Unsere  sozialen  Kämpfe  aber  reißen  die  Standesgrenzen  nieder;  aus  dem  intelli« 
genten  Bettler  wird  der  Millionär;  in  Republiken  kann  ein  großer  Lederhändler  Staats* 
überhaupt  werden;  in  allen  modernen  Ländern  steht  nichts  dem  Aufsteigen  des  Pro* 
letars  entgegen.  Mit  ihm  steigt  die  Unkultur,  zersetzt  alle  Kreise.  Der  Mensch,  der 
in  seiner  Entwicklungsperiode  ohne  künstlerische  Anregung  geblieben,  wird  im  all* 
gemeinen  später,  nachdem  ihn  der  Zufall  zum  einflußreichen  Mitglied  der  Gesell» 
Schaft  gemacht  hat,  keine  edleren  Bedürfnisse  fühlen,  sondern  nur  heucheln  und 
damit  eine  neue  Quelle  von  Irrtümern  den  alten  hinzufügen. 


'';iiiiBinnir;:it;i;iiii;;i:i!;i]i<i)iii))iiinnitiiinii!n;!m!iiiiiiiinnitniini[iiiniiiiiiiii[!iiii^ 

IWIIIIIMIlllt.lltllIlllil»iUIUIMMI«imtlHIUIIII|Ullll(|l  lltl||liHIIIIIII<ll|MUUic»«illlll>l-t|IU'lllfllll|lllllllt|ll||lll|IIU|llll»H||UI4|l||lll>l.|l|tlltl<li>ll  iHlMUlMI»!  1<I  II  i  .lUIUU  iniUUlNUntUIUIIIIUIIItlUMIHnnUIUUMtllllllUUllMH  IHHUtllUllUHUUUlUUHIUUlllIIIHI  >.INHIIIIIIUmiHI«l 


III 

Soweit  die  materielle  Seite  der  Frage.  Sie  ist  allein  entscheidend;  jede  weitere 
Verhandlung  ist  schon  nur  mit  Kompromissen  in  der  Konditionalform  mög* 
lieh.  Setzen  wir  einmal  den  idealen  Zustand  voraus,  daß  nicht  nur  nach  dem  Traum 
des  braven  Königs  jeder  Untertan  sein  Huhn  im  Topfe,  sondern  auch  ein  Bild  in 
der  guten  Stube  haben  könnte,  wenn  es  lediglich  auf  den  Geldbeutel  und  den  gu« 
ten  Geschmack  ankäme.  Was  kann  sich  der  mit  Reichtum  und  Geschmack  Geseg» 
nete  heute  kaufen?  Der  Mensch,  der  seine  fünf  Sinne  beisammen  hat,  wird  sich  bei 
allen  Dingen,  die  er  kauft,  nach  seinen  Bedürfnissen  richten  und  also  auch  bei  dem 
Bilde  fragen;  kann  ich  es  brauchen. 

Diese  Frage  wird  zu  der  weiteren  führen:  kann  ich  das  Bild  in  mein  Haus  hängen. 

Und  hier  drängt  sich  sofort  mit  der  Gewalt  der  Logik  die  Tragik  unserer  heu» 
tigen  Kunst  auf,  der  Mangel  jedes  festen  Verhältnisses  zwischen  Kunst  und  Zweck, 
die  Unmöglichkeit,  eine  innige  Verbindung  zwischen  Produzenten  und  Konsument 
ten  herzustellen,  weil  sie  \»n  dem  Künstler  nicht  erstrebt  werden  kann,  da  er  im 
allgemeinen  nicht  weiß,  für  wen  oder  was  das  Werk,  das  er  macht,  bestimmt  ist. 
Es  ist  beweglich,  ja,  und  die  Erfahrung  hat  den  Künstler  gelehrt,  daß  er  noch  am 
besten  fährt,  wenn  er  es  so  beweglich  wie  möglich  hält,  also  für  verschiedene  Raum» 
Verhältnisse  passend,  nicht  subjektiv  wertvoll  für  einen  Besitzer,  sondern  wertvoll 
als  Handelsware,  als  Tauschmittel.  Diesem  Mangel  kommen  die  ideellen  Ansprüche 
des  Künstlers  entgegen,  der  es  mit  seiner  Freiheit  für  unvereinbar  hält,  sich  die  ge» 
ringsten  Schranken  aufzuerlegen  und  andere  Rücksichten  bei  der  Schöpfung  des 
Werkes  gelten  zu  lassen,  als  die  auf  seinen  künstlerischen  Einfall.  Er  glaubt  nur 
dann  sein  Bestes  schaffen  zu  können,  wenn  er  die  Bestimmung  seines  Werkes  dem 
Zufall  überläßt. 

Es  kommt,  sobald  der  Laie  in  ein  festes  Verhältnis  zur  Kunst  treten  soll,  nicht 
auf  den  absoluten  Wert  der  Kunst  an,  sondern  auf  den  relativen.  Die  Schätzungen, 
die  dabei  mitsprechen,  sind  vielverzweigter  Natur, 


raiii'iiiiiiiiiniiiiii»iiiiimnM:iii:imnMi!i!:n^ 

IlMIIKIIIIllllMI.IKIIIIIIItinittlfDinillUllilKI» llllllilNIlOIIIKiMil  i  II  r' 


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DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE 


23 


Nicht  die  reine  Ortfrage,  die  Forderung,  daß  ein  Kunstwerk  nur  für  einen  be» 
stimmten  Platz  vollwertig  geschaffen  werden  kann,  entscheidet  endgültig.  Sie  be» 
ruht  in  dieser  Ausdehnung  auf  einem  Irrtum,  der  täglich  praktisch  widerlegt  wird, 
so  wenig  auch  diese  Widerlegung  der  heutigen  Verwendung  zugute  kommt.  Ja,  sie 
hat  nicht  einmal  für  die  alte  Kunst  Gültigkeit,  trotzdem  die  "Werke  der  Alten  stets 
mehr  oder  weniger  streng  architektonisch  begründet  waren.  Die  gelungene  Heiligen» 
figur  im  Portal  einer  frühgotischen  Kirche  bleibt  schön,  auch  wenn  sie  von  ihrem 
ursprünglichen  Platz  entfernt  wird;  ja,  sie  behält  selbst  in  einem  Raum,  der  ganz 
und  gar  der  Beziehungen  zu  ihr  entbehrt,  einen  gewichtigen  Teil  ihres  Reizes.  Ein 
Kunstwerk,  bei  dem  die  architektonische  Beziehung  zum  ursprünglichen  Raum  loser 
ist,  wie  die  meisten  Tafelbilder,  wird  noch  leichter  seinen  ursprünglichen  Platz  wech» 
sein,  ja,  es  kann  Fälle  geben,  wo  das  Kunstwerk  dadurch  noch  gewinnt. 

Die  letzten  Dezennien  haben  uns  gute  Museen  gegeben,  die  diese  Frage  glück« 
lieh  gelöst  haben.  Die  meisten  der  alten  Werke,  die  diese  Galerien  zieren,  sind  dort 
zu  größerer  ästhetischer  Verwertbarkeit  gelangt,  als  an  den  Stellen,  für  die  sie  ur» 
sprünglich  geschaffen  waren,  die  sehr  oft  der  richtigen  Beleuchtung  und  Fernwir» 
kung  entbehren  oder  andere  Nachteile  haben.  Wir  stehen  mit  Rechtauf  dem  Stand« 
punkt,  daß  es  in  erster  Linie  auf  die  Bedingung  ankommt,  die  in  großen  Museen 
erfüllt  wird:  das  Werk  in  der  denkbar  besten  Weise  betrachten  zu  können.  Dies 
ist  viel  wichtiger  als  die  Milieuspielerei,  die  man  hie  und  da  angestrebt  hat,  Ver» 
suche,  alte  Interieurs  um  die  Bilder  herum  zu  bauen  usw.,  die  eher  aus  einer  Unter« 
Schätzung  der  Werke  entspringen.  Wir  glauben  in  diesen  Werken  wertvolle  Doku« 
mente  zu  besitzen,  an  denen  das  Archäologische,  das  etwa  durch  solche  Spielereien 
ergänzt  werden  könnte,  ganz  untergeordnete  Bedeutung  hat;  Dinge,  die  so  wie  sie 
sind,  Genuß  bringen.  Wir  haben  nicht  mehr  die  Augen,  für  die  diese  Dinge  einst 
gemacht  wurden,  und  es  ist  nur  unser  gutes  Recht,  mit  unseren  Mitteln  zu  unserem 
größten  Genuß  zu  gelangen.  Unser  Genuß  ist  anders  als  der  der  ursprünglichen 
Betrachter.  Wir  haben  ganz  neue  Arten  von  Freuden  gewonnen.  Denken  wir  ledig« 
lieh  an  die  Steigerung  unserer  Einsicht,  die  wir  der  Zusammenstellung  der  Werke 
desselben  Künstlers  oder  verschiedener  Master,  ja  verschiedener  Epochen  an  einer 
Wand  oder  in  einem  Räume  verdanken.  Solche  und  viele  andere  Kombinationen, 
die  in  unseren  Museen  möglich  sind,  können  höchst  künstlerische  Reize  erzielen, 
die  sich  früher  mit  diesen  Werken  nicht  verbanden. 

Das  Museum  hat  vielleicht  in  geradezu  idealer  Form  die  früheren  Kunstträger  er« 
setzt,  es  könnte  sie  wenigstens  ersetzen.  Es  ist  der  ganz  neutrale  Raum,  der  nur  der 
Schönheit  dient  —  dienen  könnte,  gar  keine  anderen  Zwecke  kennt  —  zu  kennen 


ii!ii!iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiin  «iiiiiniiiiiiiniiiiiiniiiniiniiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiniiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiin^ 

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24  EINLEITUNG 


brauchte.  Ganz  gewiß  hat  es  schon  heute  alle  Elemente  einer  Einrichtung,  auf  die 
wir  stolz  sein  können. 

Um  so  unsinniger,  unbegreiflicher  ist  die  Verwechslung  des  Hauses,  des  Wohn» 
raumes  mit  diesen  von  Rechts  wegen  heiligen  Hallen,  die  Vermengung  von  zwei 
einander  so  sehr  entgegengesetzten  Zwecken. 

Alles  oder  fast  alles,  was  in  dem  einen  möglich  und  notwendig  ist,  schHeßt  sich 
in  dem  anderen  aus.  Also  zunächst,  wofür  soll  der  Laie  kaufen?  Genau  betrachtet, 
steht  der  Fall  so:  die  Kunst  muß  von  dem  Laien  gekauft  werden,  damit  er  sich  ihrer 
entäußere.  —  Die  hochherzige  Gewohnheit  reicher  Leute,  die  Werke  zu  erwerben, 
um  sie  den  Museen  zu  schenken,  kann  nichts  an  der  Unsinnigkeit  dieser  Verhält» 
nisse  ändern.  Oder  ist  unsere  Wohnung  etwa  geeigneter,  Bilder  aufzunehmen,  als 
die  Wohnung  in  früheren  Epochen? 

Die  Wohnung  von  heute  hat  den  formalen  Zusammenhang  mit  unserer  Zeit  ver» 
loren.  Von  unumgänglichen  praktischen  Hauptfragen  abgesehen,  die  sich  in  einem 
gewissen  Komfort  und  der  Ausnützung  des  Raumes  äußern,  fehlt  ihr  die  enge  Be< 
Ziehung  zu  unserem  Leben.  Unsere  Pflichten  verlegen  unsere  Tätigkeit  im  Gegen* 
satz  zu  früheren  Zeiten  außerhalb  des  Hauses.  Die  wenigen  Berufe,  die  sich  in  der 
Wohnung  vollziehen,  kommen  kaum  in  Betracht  und  selbst  sie  bedingen  einen  be« 
sonderen  Arbeitsraum,  der  nach  Feierabend  verlassen  wird.  Wie  das  Arbeitsfeld 
hat  sich  die  Tätigkeit  selbst  vollkommen  verändert.  Sie  ersetzt  die  körperliche  An* 
strengung  immer  mehr  durch  die  geistige.  Die  Menschen,  die  heute  am  ergiebigsten 
schaffen,  d.  h.  deren  Willen  am  stärksten  die  Produktion  beeinflußt,  rühren  am 
wenigsten  ihre  Glieder.  Der  geistige  Apparat  verlangt  daher  in  den  Freistunden 
größtmögliche  Schonung. 

Die  Wohnung  ist  zur  Erholungsstätte  geworden.  Das  Haus  des  Tätigen  wird  da* 
durch  von  vornherein  bestimmt. 

Die  Folge  dieser  Einsicht  wurde  die  Vorliebe,  im  Hause  einen  möghchst  großen 
Gegensatz  zu  den  Räumen  zu  schaffen,  in  denen  sich  die  Tätigkeit  abspielt.  Man 
wünschte  möglichst  abgezogen  zu  werden  von  allen  Erinnerungen  an  die  Arbeit 
und  richtete  sich  Wohnungen  in  früheren  Stilen  ein,  um  aus  der  Gegenwart  in  an* 
dere  Zeiten  zu  flüchten.  —  Man  machte  mit  diesen,  zuweilen  fast  pathologischen 
Mitteln  aus  sich  ein  Doppelwesen. 

Tatsächlich  ist  unsere  Wohnung  als  Erholungsstätte  zur  Aufnahme  des  Kunst* 
Werks  geeigneter  geworden.  Übersehen  wir  einmal  die  gegebenen  traurigen  Ver* 
hältnisse,  daß  das  reine  Kunstwerk  in  der  Wohnung  das  einzig  Künstlerische  ist, 
beziehungslos  zu  den  übrigen  Dingen.  Es  wird  unter  diesen  Verhältnissen  nur  um 


iiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiniiiiiiiiiiiiiiiii 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE   '  25 

so  notwendiger,  wenn  der  Mensch  nicht  auf  jede  schöne  äußere  Anregung  verzieh* 
ten  soll.  Nur,  soll  das  Werk  im  Hause  unter  diesen  Umständen,  die  weit  entfernt 
sind  von  den  Bedingungen  der  früheren  Kunstträger,  wirklich  etwas  geben,  so  muß 
es  sich  dieser  neuen  Bestimmung  gemäß  unterwerfen.  Es  ist  durchaus  nicht  der 
Hauptzweck,  we^en  dessen  man  den  Raum,  der  es  beherbergt,  betritt,  wie  beim 
Museum;  man  besucht  ihn  noch  weniger  mit  der  Sammlung  der  nach  Mystik  dür» 
stenden  Seele,  wie  die  Kirche.  Hier  erhofft  man  nichts  wie  Behagen,  und  ein  Bild, 
das  das  Behagen  stört,  ist  schlechterdings  im  Hause  verfehlt. 

Dieses  Behagen  deckt  sich  durchaus  nicht  lediglich  mit  künstlerischen  Qualitäts« 
fragen.  Gerade  die  Werke,  denen  wir  die  stärksten  Eindrücke  verdanken,  können 
sich  dieser  Verwendung  widersetzen,  weil  sie  den  sinnlichen  Wert,  der  das  Behagen 
fördern  könnte,  in  Formen  enthalten,  die  nicht  für  unsere  vier  Wände  oder  unsere 
hundert  Einbildungen  passen.  Es  gibt  Dinge,  für  die  man  schwärmt,  und  solche, 
die  man  haben  möchte.  Was  zwischen  ihnen  entscheidet,  ist  eine  ganze  Welt,  nicht 
zum  wenigsten  eine  Hygiene,  die  uns  lehrt,  mit  gewissen  Empßndungen  hauszu« 
halten,  weil  sie  uns  geistige  Opfer,  Anstrengung  kosten. 

Man  sieht,  wie  unendlich  anders  die  Rollen  geworden  sind,  wie  nahe  man  der 
Trivialität  kommt,  sobald  man  sie  zu  erkennen  sucht.  Die  Kunst  scheint  alsdann 
von  dem  Göttlichen  so  weit  wie  möglich  entfernt.  Etwas  wie  ein  Hausmütterchen 
kommt  uns  entgegen,  das  uns  besorgt  mit  Zärtlichkeiten  umgibt  und  emsig  schafft, 
was  müden  Leuten  nach  der  Arbeit  wohltun  kann. 

Die  Kunst  hat  diese  Rolle  unter  ihrer  Würde  gefunden.  Sie  durfte  sie  nicht  an* 
nehmen,  wenn  sie  bestehen  wollte.  Diese  Rolle  umfaßt  in  der  Tat  nicht  ihr  Bereich, 
sie  gehört  dem  Baumeister. 

Wir  sind  wieder  an  unserem  Zirkelschluß  angelangt.  Wie  man  sich  auch  dreht 
und  wendet,  man  stößt  immer  wieder  auf  dasselbe:  Wenn  sich  die  Verwendung 
der  Kunst  ändert,  muß  die  Kunst  anders  werden.  Wenn  ihr  nicht  der  Raum  ge» 
geben  wird,  dessen  sie  bedarf,  wird  sie  ein  Unding.  Wenn  sie  allein  bleibt,  ver« 
kommt  sie.  Die  Beschränkung  unserer  künstlerischen  Bedürfnisse  auf  abstrakte  Ma» 
lerei  und  Skulptur  allein  ist  dieselbe  Utopie,  wie  der  Wunsch  des  törichten  Mannes 
im  Märchen,  daß  alles,  was  er  berühre,  sich  in  Gold  verwandle.  Die  Kunst  ist  Feier» 
tagsfreude.  Wir  sind  nichts  weniger  als  Feiertagsmenschen  und  sind  stolz  darauf, 
es  nicht  zu  sein.  Unser  rationellstes  Ideal  ist,  nicht  die  Güter  zu  teilen,  sondern  die 
Arbeit;  daß  eine  Zeit  komme,  in  der  es  keine  Drohnen  mehr  gebe,  in  der  jeder 
nach  seinen  Kräften  bestrebt  sei,  der  Allgemeinheit  zu  dienen.  Diese  wird  keine 
Liebhaber  mehr  kennen. 


I  iiiitiiiiiiiiiiiiüiinii  iiiiiiiiiiiijiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  iiiiii  II  iiiiiiiiiiiiiti  iiiiitiuiHiiiiiiiii  iiiiiiiit  1 1 II  iiuiiii  iiiim  i  imiii  n  im  ii  \\\  m\mm\m  iii  iii  iiiii  tiiiiiiiiiiiiiiiiii  ii  ii  m  i  ijiiiiiiiiiiin  im  m  n  um!  im  n  n  n  1 1 1 

I  U.IIU  UU  UUW  MI  UU 


IV 

Für  was  schaflFt  also  der  Künstler,  bis  das  gewöhnlich  erst  nach  dem  Tode  erreich« 
bare  Ziel  der  Aufstapelei  erklommen  ist. 

Die  einen  für  eine  sehr  schöne  mit  blutigen  Tränen  schrittweise  zu  erkämpfen« 
de,  nie  erreichbare  Sache,  die  fast  nur  mit  metaphysischen  Floskeln  zu  erklären  ist; 
die  Befriedigung  einer  Gewissensforderung,  die  gar  keine  Beziehung  zur  Außen« 
weit  hat,  eines  Ehrgeizes,  der  über  allem  Irdischen  steht,  großartig  in  seiner  Bewußt« 
heit,  in  der  Konsequenz,  mit  der  allem  Unbill  zum  Trotz  an  dem  irrlichtgleichen 
Ziel  festgehalten  wird,  unbegreiflich  in  seiner  Unbewußtheit,  mit  der  das  schein« 
bar  nur  stärkster  Anspannung  gelingende  Werk  geschaffen  wird.  Schaffen,  um  zu 
schaffen.  Ein  weitsehender  Idealismus  hält  sie  am  Leben,  das  Vertrauen,  daß  es 
ihnen  gelingen  muß,  eine  neue  Formel  der  Schönheit  zu  geben.  Ein  blinder  Opti« 
mismus  läßt  sie  immer,  auch  in  der  tiefsten  Verlassenheit,  auf  Menschen  hoffen, 
denen  sie  sich  offenbaren,  die  an  den  geheimen  neuen  Freuden  teilzunehmen  ver« 
mögen,  die  sie  selbst  gefunden  haben.  Und  wenn  sie  sich  nicht  mehr  vor  der  Un« 
möglichkeit  dieser  Erfüllung  zu  verschließen  vermögen,  wenn  sie  sehen,  daß  ihre 
Werke  ohne  Gefallen  bleiben,  oder,  was  noch  furchtbarer  ist,  gekauft  werden  ohne 
jenes  innerliche  Gefallen,  auf  das  sie  gehofft  haben,  kehren  sie  ganz  in  sich  hinein 
und  vollbringen  ihr  Größtes. 

Zuweilen  wird,  was  ihrem  kühnen  Selbstbewußtsein  als  Größtes  erscheint,  von 
erleuchteten  Augen  eines  Tages  wirklich  groß  gefunden  und  erhält  sich  als  unsterb« 
liches  Gut,  nicht  nur  als  Freude  weniger  Laien,  sondern  auch  als  unvergängliches 
Element  für  die  nachfolgenden  Kunstgenerationen,  in  deren  Werken  es  in  anderer 
Form,  mit  neuem  ergänzt,  weiter  fortlebt.  Es  geht  in  die  künstlerische  Überliefe« 
rung  über  und  nimmt  schließlich  immerhin  an  dem  Kulturbild  der  Nation  teiL 

Den  anderen  gelingt  es  nicht.  Unfähig  den  hohen  satzungslosen  Beruf  zu  er« 
füllen,  fügen  sie  nicht  nur  nichts  dem  künstlerischen  Gesamtvermögen  hinzu,  son« 


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iin«itiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiM»MimiiHiiiniiiii!iiiDitiiiii!n 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FROHER  UND  HEUTE  27 


I 


dem  schädigen  die  anderen,  indem  sie  mit  ihrer  Leistung  dem  Unverständnis,  der 
Gleichgültigkeit  gegen  Kunstwerke  eine  positive  Waffe  geben,  die  das  Publikum 
gegen  die  anderen  ausspielt,  und  so  in  offene  Feindschaft  verwandeln,  was  vorher 
Zurückhaltung  war.  Ihr  zahlenmäßiges  Übergewicht  ist  so  bedeutend,  daß  die  an< 
dern  vollkommen  zurücktreten,  und  der  geringe  Bedarf  des  Publikums  an  Bildern 
von  ihnen  fast  allein  gedeckt  wird.  Ich  weiß  nicht,  ob  auf  einen  Maler  der  einen 
Sorte  hundert  oder  tausend  der  anderen  kommen.  Man  stelle  sich  dieses  Verhältnis 
in  einem  anderen  Stande  vor!  —  Die  Täuschung  des  Publikums  gelingt  in  der  Kunst 
leichter  als  in  irgendeinem  anderen  Beruf,  weil  dem  Künstler,  ganz  abgesehen  von 
der  leichten  Empfänglichkeit  des  Volkes  für  alles  Seichte,  der  Nimbus  zu  Hilfe 
kommt  und  eine  Fülle  von  gerade  die  Mittelmäßigkeit  begünstigenden  Einrieb« 
tungen,  die  dem  Stand  als  solchem  eine  scheinbare  Bedeutung  erhalten. 

Unter  diesen  nimmt  die  Schaustellung  der  künstlerischen  Leistung  den  Hauptrang 
ein.  Die  unsinnige  Massenproduktion  verlangte  noch  unsinnigere  Veranstaltungen  in 
großen  Verhältnissen,  um  das  allein  in  einem  Jahr  Gemachte  regelmäßig  zu  zeigen. 
Dem  verdanken  wir  unsere  großen  Kunstausstellungen;  eine  besonders  bürgerliche 
Eroberung  unserer  Zeit,  in  der  man  den  heute  wesentlichsten  Kunstträger  erblicken 
kann. 

Sie  hätte  einen  gewissen  Sinn  als  „Laden"  im  großen  Stil,  als  Verkaufsgelegen» 
heit,  die  man  der  Ware  entsprechend  mit  besonderem  Gepränge  ausstattet.  Dieser 
Zweck  tritt,  wie  ein  Blick  auf  die  Verkaufsziffern  zeigt.zurück.  Wenn  er  tatsächlich 
die  unmittelbare  Hauptsache  wäre,  würde  die  Masse  der  Künstler  sich  unmöglich 
dem  Zahlenbeweis  verschließen.  Wenn  sie  fortfahren,  müssen  sie  dort  eine  andere 
Entschädigung  finden.  Tatsächlich  ist  von  einem  Rückgang  der  Ausstellungen  keine 
Rede;  sie  nehmen  im  Gegenteil  zu.  Der  Staat  oder  die  Stadt  unterstützt  sie  nach  Kräf» 
ten,  um  das  Interesse  der  Obrigkeit  an  dem  Wohle  der  Kunst  zu  betätigen,  und 
aus  der  Überlegung,  ein  Anziehungsmittel  zu  schaffen. 

Die  Künstler  machen  mit,  weil,  wenn  sie  darauf  verzichteten,  auch  ihr  letztes  Auße« 
rungsmittel  verschwände.  Sie  wollen  wenigstens  ihr  Werk  einmal  sehen  lassen  und 
selbst  sehen,  wenn  auch  unter  tausend  anderen,  wenn  auch  nur  für  wenige  Monate, 
wenn  auch  unter  zuweilen  barbarischen  Bedingungen. 

Was  nach  der  Ausstellung  daraus  wird,  ist  gleichgültig.  Es  genügt,  wenn  das  Bild 
seinen  Ausstellungszweck  erfüllt,  wenn  es  die  Augen  auf  sich  zieht,  vielleicht  von 
der  Kritik  besprochen  wird,  oder  gar  —  der  Gipfel  —  eine  Medaille  erhält. 

Damit  dies  unter  den  Tausenden,  die  alle  dasselbe  Ziel  verfolgen,  geschehe,  heißt 
es  dem  Bild  alle  Eigenschaften  geben,  die  es  vor  anderen  auszeichnen.  Wenn  man 


iiirrninitinmiiiiiiii!iiiiii!iiiii!iiiiiiiiiiiiiiiiiiini!iiiiiiii[!m 

i.ii(iii»iiiimHiiiicmiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiniiti(iiJiiiiiiiimiiiiiiiiiiiimmiMiiiijmii iiiitmuiiiiim>i>ii>iMii:iiiiiiii>iiiiiii<iiiii[iiiiiii>ir<i>iNiiiiiiiir ikiu iiiinMiii.iiimi.iiiiii 

28  EINLEITUNG 


Mut  hat,  groß,  so  groß  wie  möglich,  unter  allen  Umständen  schlagend,  so  daß  es 
auffällt,  auch  wenn  es  noch  so  schlecht  gehängt  wird.  Es  muß  sich  selbst  dem  fluch» 
tigsten  Blick  einprägen. 

Es  versteht  sich  fast  von  selbst,  daß  unter  diesen  Umständen  nicht  einmal  der 
Zweck,  den  die  Konkurrenz  auf  anderen  Gebieten  erreicht,  der  Auswahl  des  Besten 
zu  dienen,  erfüllt  wird.  Häßliche  Umtriebe,  die  stets  die  kompakte  Majorität  gegen 
die  hervorragende  Individualität  ausspielt,  tun  das  ihre  dazu.  Selten  ist  aus  den 
Tausenden  und  abermals  Tausenden  auf  diesem  Wege  ein  Genie  zutage  getreten. 
Die  Großen  ziehen  es  vor,  diese  Börsen  zu  vermeiden,  und  auch  der  Liebhaber  ist 
hier  nicht  zu  finden,  da  ihm  mit  Quantum  allein  nicht  geholfen  ist. 

Was  unserer  Zeit  an  künstlerischen  Empfindungen  bleibt,  sind  diese  Ausstellun* 
gen  im  Begriff,  systematisch  zu  zerstören.  Sollte  der  Zufall  eine  dieser  Palastba» 
racken  der  Nachwelt  erhalten,  so  werden  wir  schlimmer  damit  kompromittiert  wer» 
den,  als  mit  irgend  einer  unserer  Hinterlassenschaften.  Es  wird  Menschen  geben,  die 
mit  demselben  Gefühl  durch  diese  Hallen  schreiten,  mit  dem  wir  verfallene  Burg» 
verließe  besuchen,  und  die  verrosteten  Bilderhaken  werden  wie  grauenhafte  Folter» 
Werkzeuge  erscheinen.  An  allen  diesen  Haken  hingen  einst  Bilder  .  .  . 

Dies  ist  das  Ende  der  Bildergeschichte.  Vom  Symbol  des  Heiligsten,  das  in  der 
Kirche  Ehrfurcht  verbreitete,  das  über  den  Menschen  stand  wie  die  Gottheit  selbst, 
zu  dem  sich  die  Blicke  des  Trostbedürftigen  flehend  erhoben,  und  das  dem  leicht* 
sinnigen  Menschenkind  die  erhabene  Würde  des  Ortes  mit  überzeugender  Ein» 
dringlichkeit  vorstellte,  von  diesem  Göttlichen  ist  das  Bild  zu  dem  Füllsel  des  aller» 
flüchtigsten,  allernichtigsten  Moments  der  Zerstreuung  geworden.  Die  Kirche  hat 
sich  in  die  Jahrmarktsbude  verwandelt,  und  aus  den  Betern  sind  frivole  Schwätzer 
geworden. 

Es  heißt  für  den  Durchschnitt  der  Menschen  zu  viel  verlangt,  für  eine  erbarm» 
liehe  oder  ganz  nichtige  äußere  Veranlassung  dieselben  Anstrengungen  zu  machen, 
wie  sie  einst  die  Künstler  für  die  erhabensten  Zwecke,  für  die  Ewigkeit  aufwandten. 
Daß  es  Menschen  gegeben  hat  und  gibt,  die  trotz  dieser  Erbärmlichkeit  ihrer  äuße» 
ren  Lage  in  göttlicher  Einfalt  Unsterbliches  wollen  und  vollbringen,  kann  nicht  die 
anderen  belasten,  die  nur  einem  menschlichen  Trieb  unterliegen,  einer  Verblen» 
düng,  die  der  Staat  und  die  Gesellschaft  immer  noch  unwiderstehlicher  zu  machen 
suchen.  Wenn  in  irgend  einem  Beruf  der  Staat  Pflichten  besitzt,  so  ist's  in  dem 
künstlerischen ;  wenn  er  je  gewissenlos  handelt,  so  ist's  dem  Künstler  gegenüber.  Er 
hat  nicht  die  Fähigkeit,  den  Kunstzweck  zu  erhalten,  und  anstatt  die  Konsequenz 
zu  ziehen,  anstatt  lieber  mit  offener  Brutalität  dem  Künstler  zuzurufen:  „wir  haben 


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iiiiiiiiiiiiiginniiiiiiiiiiiiimniiiiiiiiiiniMiiiiiiiiiiiiiniiiiiinniniiiiiiniiiiiiiiin^ 


DIE  TRÄGER  DER  KUNST  FRÜHER  UND  HEUTE 


29 


keinen  Platz  mehr  für  dichl  wir  brauchen  unser  Geld  für  Soldaten  und  unser  In* 
teresse  für  praktische  Dinge!",  anstatt  zum  mindesten  ganz  zurückzutreten  von  einer 
Rolle,  von  der  durchaus  nicht  sein  Wohl  und  Wehe,  ja  nicht  einmal  immer  sein 
Ansehen  abhängt,  bestärkt  er  mit  törichten  Mitteln  den  Unsinn  und  erreicht  damit 
nur,  das  Proletariat  in  einem  Stand  groß  zu  züchten,  wo  es  am  gefährlichsten  wirkt. 
Welche  Verantwortlichkeit  würde  den  Staat  treffen,  wenn  er,  nachdem  einmal 
der  Weltfrieden  gesichert  wäre,  die  stehenden  Heere  abschaffte  und  statt  seinen 
bisher  dabei  beschäftigten  Beamten  neue  und  annehmbare  Bedingungen  zu  schaffen, 
sich  damit  begnügte,  ihnen  weiter  das  Tragen  der  Uniform  zu  erlauben  und  ihnen 
Orden  und  dergleichen  zu  geben?  —  Kein  Staat  ist  so  reich,  daß  er  sich  den  Luxus 
erlauben  dürfte,  eine  sich  stetig  mehrende  Anzahl  von  Intelligenzen  auf  einen  un« 
widerruflich  abschüssigen  Pfad  zu  treiben. 


ERSTES   BUCH 


DER  KAMPF  UM  DIE  MALEREI 


DIE  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


4 


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LINIE  UND  FLÄCHE 

Die  christliche  Kirche  hat  sich  um  die  Malerei  schlechterdings  unsterbliche  Ver* 
dienste  erworben.  Ihre  künstlerische  Rolle  setzte  in  dem  Moment  ein,  als  das 
Römertum  in  den  letzten  Zügen  lag.  Mit  dem  Prinzip  ihres  Radikalismus,  alles  ent« 
gegengesetzt  dem  zu  machen,  was  die  Römer  geschaffen  hatten,  diktierte  sie  sich  so* 
fort  eine  gewisse  Marschroute  auch  für  die  Kunst.  Natürlich  geschah  das  nicht  von 
ästhetischen  Gesichtspunkten  aus.  Der  Anfang  zeigt  sie  barbarisch  wie  den  Pro* 
testantismus.  Kunst  war  Götzendienst.  Dieses  götzische  Wesen  verkörperte  sich  für 
die  Christen  in  der  Skulptur,  dem  Träger  der  heidnischen  Gottheit,  und  wurde  da« 
her  ein  für  allemal  verbannt.  Erst  als  ein  Jahrtausend  den  Radikalismus  geschwächt 
hatte,  fing  man  an,  milder  über  diese  Dinge  zu  denken.  Ganz  erholt  hat  sich  die 
Skulptur  nie  von  dieser  Vernachlässigung,  und  ihre  Entwicklung  ist  dementspre« 
chend  weit  hinter  der  Malerei  zurückgeblieben.  Sie  blieb  der  Architektur  viel  län« 
ger  gehorsam  und  findet  sich  noch  heute  leichter  zu  ihr  zurück. 

Was  ihr  in  vorchristlicher  Zeit  und  bei  allen  Völkern  gehört  hatte,  wurde  Eigen» 
tum  der  Malerei.  Die  Bestimmung  war  anfangs  nicht  im  entferntesten  dieselbe.  Die 
Malerei  war  Schrift,  Verständigungsmittel  für  die  primitiven  Zwecke  der  Kirche. 
Kunst  wurde  sie  erst,  als  der  Gedanke  die  Muße  fand,  zu  Bildern  zu  werden,  als 
der  wachsende  Reichtum  die  Kirche  ausschmückte.  Sie  war  daher  ursprünglich  Strich, 
Linie,  Zeichen  aus  Linien.  Ihre  erste  Entwicklung  war  eine  Entwicklung  der  Linie. 
Ihre  erste  Schönheit  war  das  Ornament  auf  den  Wänden  heiliger  Räume;  ihre  erste 
und  einzige  ganz  reine,  ganz  beschränkte  Schönheit.  Sie  erhielt  Verstand,  als  sie  das 
größte  ihrer  Wunder  vollbrachte  und  den  Raum  erfand.  Der  Verstand  verunreinigte 
sie:  sie  malte  Räume  in  Räumen.  Damit  begann  die  Zersetzung  der  Linie  zugunsten 
der  Fläche.  Das  Verhältnis  zwischen  beiden  ist  das  materielle  Objekt  der  ganzen 
Geschichte  der  Malerei. 


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36 


ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


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Die  Linie  war  die  natürliche  Handschrift  eines  Stils,  der  auf  Massengedanken  be« 
ruht.  Sie  war  die  Nabelschnur  zwischen  der  Malerei  und  ihrer  Mutter,  der  Bau« 
kunst,  das  Bindeglied  mit  allen  übrigen  von  Menschen  gefertigten  Dingen. 

Die  Linie  steigt  vom  brutalen  Zeichen  zum  höchsten  Ausdruck  und  wird  das  Sym« 
bol  der  Gotik,  der  gewaltigsten  unter  den  Traditionen:  eine  einzige  Gebärde,  die  von 
allen  verstanden  wird,  der  sich  alle  gläubig  unterwerfen. 

Die  Linie  sinkt,  mit  ihr  sinkt  die  Tradition,  sinkt  der  Stil,  der  auf  Massengedan« 
ken  beruht,  und  die  Persönlichkeit  steigt  in  die  Höhe.  Ein  neuer  Begriflf  wird  ge« 
boren:  Statt  des  Stils,  der  vielen  gemeinsam  war,  kommt  ein  Stil,  der  den  einen  von 
der  Masse  unterscheidet.  Der  eine  Begriff  zerstört  den  anderen.  Je  mehr  sich  die 
Malerei  aus  sich  selbst  heraus  entwickelt,  desto  loser  wird  ihre  Verbindung  mit  den 
anderen  Künsten.  Immer  fremder  steht  die  Persönlichkeit  der  Masse  gegenüber. 
Die  Tausende  und  aber  Tausende  müssen  der  Kunst  verlustig  gehen,  damit  ein  ein» 
ziger  Meister  werde. 

Die  Linie  verflüchtigt  sich  in  der  Fläche.  Der  Mensch  glaubt  mit  dem  Intellekt 
das  Wunder  zu  bezwingen.  Seine  Analyse  zerstückt  den  götthchen  Schwung.  Und 
nahe  der  Höhe,  in  dem  Moment,  da  die  Lösung  vollbracht  scheint,  nähert  sich  die 
Malerei  wieder  dem  Punkt,  von  dem  sie  vor  anderthalb  tausend  Jahren  ihren  Aus« 
gang  nahm  und  wird  wieder  zur  barbarischen  Linie. 


DIE  MOSAIKEN 

Die  erste  Etappe  umschließt  die  Mosaiken.  Die  Fläche  existiert  noch  nicht  für 
die  Hand  des  Künstlers,  sie  ist  Sache  des  Handwerks;  die  Kontur  allein  ist 
Trägerin  der  Formel,  und  die  Formel  ist  anonym,  nicht  das  Werk  einzelner,  son« 
dem  Überlieferung. 

Es  fällt  uns  einigermaßen  schwer,  uns  den  Schöpfungsakt,  der  diese  Dinge  her» 
vorbrachte,  vorzustellen.  Es  gab  damals  keine  Kunst,  aber  man  hatte  einen  Instinkt 
für  Raumwirkungen,  dessen  Größe  uns  heute  schwindeln  macht.  Wer  findet  in  un« 
serm  wohlverproviantierten  Asthetikerlexikon  Ausdrücke,  um  das  schier  himm« 
lische  Gefühl  wiederzugeben,  das  den  friedlichen  Touristen  in  so  einem  Mosaikin« 
terieur  wie  dem  Baptisterium  der  Orthodoxen  zu  Ravenna  befällt?  Wer  vermag  den 
Rausch  dieses  edelsteinernen  Lilas,  den  Rhythmus  in  diesen  kindlich  ernsten  Apostel« 
gestalten  wiederzugeben?  Wo  träumt  man  lieblicher  von  der  schönen  Sage  unserer 
Religion,  als  in  der  Grabkapelle  der  Galla  Flacidia,  vor  dieser  unendlich  einfachen 
Lyrik  in  der  Darstellung  des  guten  Hirten?  Und  was  ist  prächtiger  als  San  Vitale? 
Man  verliert  den  Kopf,  wenn  man  sich  vorstellt,  wie  dieser  Bau  einmal  gewesen  sein 
muß.  Überall,  wo  man  auf  der  Suche  nach  höchsten  Genüssen  in  der  Welt  auf 
alte  Mosaiken  stößt,  sei  es  in  Rom  oder  Sizilien  oder  Konstantinopel,  immer  hat 
man  mehr  oder  weniger  einen  Augenblick  deutlich  das  Gefühl,  als  ob  diesen  ersten 
Schriftzügen  unserer  Kunst  gegenüber  alles  Folgende  eine  Verwirrung  bedeute, 
ebenso  wie  die  architektonische  Form,  die  viele  dieser  Zeichen  trägt,  der  romanische 
Stil,  von  keinem  der  folgenden  an  Hoheit  und  Macht  übertrofFen  wurde  und  uns 
Lebenden  heute  als  die  einzige  Basis  für  eine  moderne  Architektur  erscheint. 

Die  Beziehung  dieser  Mosaiken  zu  den  antiken  liegt  auf  der  Hand.  Aber  auch 
wenn  wir  die  Mitgift  der  meist  recht  kläglichen  Reste  dieser  antiken  Formen  nicht 
unterschätzen  und  den  technischen  Unterschieden  zwischen  dem  Neuen  und  dem 
Alten  nicht  ganz  die  Bedeutung  zumessen,  die  der  Forscher  feststellen  zu  können 


iinnniiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiniinnniiiiiiiiiiiiiinniiiiinniiH 


38  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


iMiiiiitiiHtirMriiiitJtiiiiiiiimiiiniMiiiiiiii>iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiF>iiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiNiiiii 


glaubt*,  bleibt  ein  Novum  übrig,  das  einer  den  antiken  Mosaiken  ganz  fremden 
Vorstellungswelt  entspringt.  Selbst  die  Virtuosität  der  Alexanderschlacht  in  Neapel 
versagt  neben  der  keuschen  Inbrunst  in  dem  Tempel  der  Galla  Placidia.  Plump  und 
ungeschickt,  aber  nur  auf  die  Heiligkeit  der  Legende  bedacht,  dichten  diese  Mo« 
saicisten  Ravennas  ihre  Empfindung,  und  ihr  glühender  Glaube  erweckt  Farben 
die  das  römische  Ornament  in  Schatten  stellen.  Schon  in  Ravenna  kämpft  die  mensch« 
liehe  Diktion  mit  dem  Ornamentalen  und  gibt  zuweilen  dem  Bild  eine  Bewegung, 
die  der  Wand,  die  sie  schmücken  soll,  nicht  unbedingt  vorteilhaft  ist.  Die  byzan« 
tinischen  Mosaiken,  in  denen  die  Naturwärme  verschwindet,  gleichen  diese  Diffe« 
renz  aus.  Sie  gelten  deshalb  als  barbarische  Verirrung.  Mit  Recht,  wenn  man  den 
Gedanken,  der  die  früheren  Christen  trieb  und  der  später  erstarrte,  zum  alleinigen 
Kriterium  macht;  mit  Unrecht,  wenn  man  des  Baus  gedenkt,  dem  das  erstarrte 
Zeichen  zum  Vorteil  gerät. 

Nur  in  einem  Punkt  waren  vielleicht  die  frühchristlichen  Mosaiken  den  Byzan» 
tinern  auch  als  Dekoration  überlegen:  in  der  Farbe.  Und  selbst  darüber  mag  man 
streiten,  denn  jedenfalls  diente  die  Zurückhaltung  in  der  Farbe  bis  zur  Vollkommen« 
heit  dem  architektonischen  Ideal.  Zweifellos  dagegen  erscheint  die  Überlegenheit 
der  Byzantiner  als  Ornament,  und  es  geht  nicht  an,  sie  aus  ihrem  Zusammenhang 
mit  der  Architektur  loszulösen  und  an  sich  betrachten  zu  wollen.  Nur  sie  ent» 
sprechen  dem  Bedürfnis  der  Fläche  vollkommen.  Überall,  wo  Mosaiken  den  nach« 
her  von  der  Malerei  großgezogenen  Natursinn  verraten,  tritt  die  ornamentale  Wir« 
kung  natürlicherweise  zurück.  Das  Problem  der  Ausgleichung  zwischen  Natur  und 
Stilbedürfnis,  das  nur  die  Antike  zur  Befriedigung  beider  Tendenzen  gelöst  hat, 
nimmt  hier  seinen  Anfang.  Sobald  der  Realismus  in  den  Mosaiken  vorkommt,  hört 
die  zauberhafte  Wirkung  der  Technik  auf. 

Das  läßt  sich  nirgends  besser  als  in  der  Markuskirche  in  Venedig  verfolgen,  an 
deren  riesigem  Mosaikwerk  alle  Jahrhunderte,  vom  zehnten  angefangen  bis  zu  dem 
letzten,  beteiligt  sind.  Für  die  byzantinische  Anschauung  sind  Menschen  und  Dinge, 
alles  was  dargestellt  wird,  nur  Träger  dekorativer  Linien,  wenig  mehr  als  die  wun» 
dervollen  Buchstaben,  die  die  Bilder  begleiten  und  für  deren  Verständnis  wesent* 
lieber  sind  als  das  Gegenständliche  der  Bilder  selbst.  Das  moderne  Mosaik  stellt 
sich  in  den  Mittelpunkt,  es  will  nur  möglichst  stark  anziehen.  Die  Felder  der  Fas« 
sade  sind  möglichst  bunte  Gemälde,  denen  der  Raum,  den  sie  einnehmen,  nur  das 
Maß  ihrer  Ausdehnung  bedeutet  und  im  übrigen  indifferent  ist.  Sie  dienen  nur 


'  Julius  Kurth,  Die  Mosaiken  von  Ravenna  (R.  Piper  &.  Co.,  München). 


■iiiniiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 


I 


DIE  MOSAIKEN  39 

dazu,  das  ungeheure  bewegte  Bild  der  Fassade  noch  unruhiger  zu  machen,  und 
versuchen  eine  Konkurrenz  mit  der  Architektur,  anstatt  sich  mit  ihr  zu  vereinen. 
Sie  bringen  es  vielleicht  in  der  Tat  fertig,  ihre  Rivalin  in  den  Schatten  zu  stellen, 
aber  zerstören  die  künstlerische  Harmonie  des  Ganzen.  Ganz  anders  wirkt  schon 
das  Atrium.  Hier  überwiegt  das  Byzantinische.  Man  bekommt  eine  Ahnung  von 
der  Pracht  im  Innern,  aber  die  alte  Methode  wollte,  daß  es  eben  nur  Ahnung  bliebe. 
Es  ist  mit  Zeichen  bedeckte  Architektur,  Diese  Zeichen  sind  unsinnig,  wenn  man 
sich  das  Einzelne  vornimmt,  wie  man  ein  Bild  betrachtet;  das  Konventionelle  ihrer 
Kömposition,  die  äußerst  primitiven  Vorstellungen,  denen  sie  dienen,  machen  sie 
für  moderne  Anschauung  unmöglich.  Die  Architektur  allein,  der  äußere  Zweck 
dieser  Zeichen  gibt  ihnen  ästhetischen  Wert.  Einer  der  Bogen  zeigt  die  Geschichte 
Noahs.  In  gewissen  Abständen  spielen  sich  die  Phasen  der  Legende  ab,  jede  ist  ein 
Ornament  für  sich.  Man  sieht  Männer,  Tiere,  Wellenlinien.  Wa?  sich  aufdrängt, 
ist  die  unbegreifliche  Beziehung  zwischen  diesen  Linien  und  den  flächenverhält* 
nissen,  die  sie  umgeben.  Diese  Beziehung  ist  das  Überzeugende.  Die  Linien  sind 
so  außerordentlich  richtig  placiert,  daß  man  sich  nicht  einen  Augenblick  fragt,  was 
sie  bedeuten.  Und,  in  dem  rein  omamentalen  Zauber  dieser  Zeichen  befangen, 
kommt  man  schließlich  dahin,  selbst  das,  was  sie  dem  Verstand  zumuten,  anzu» 
nehmen,  zumal  wenn  sich  mit  ihnen  größere,  weitere  Gefühlskomplexe  mehr  oder 
weniger  lose  verknüpfen.  Die  Psychologie  der  religiösen  Suggestionen  findet  hier 
reiches  Material. 

Dekorative  Glanzstücke  sind  die  sechsflügeligen  Engel  zwischen  den  Bogen  der 
rechten  Kuppel  des  Atriums.  Ihre  Flügel  strahlen  nach  den  drei  Richtungen  des 
ihnen  zugewiesenen  Bogendreiecks  aus,  es  sind  zweckentsprechende  Abschlüsse, 
die  kaum  architektonischer  gedacht  werden  können;  vollkommene  Übertragungen 
der  Skulptur  dieser  grandiosen  Kapitale  mit  den  Löwenköpfen  und  Pfauen,  die  die 
Bogen  tragen,  auf  die  Fläche.  Wie  matt  wirkt  dagegen  das  moderne  Mosaik  in  der 
Hauptkuppel  des  Atriums  aus  dem  16.  Jahrhundert.  An  beiden  Seiten  der  einschlie« 
ßenden  Triumphbogen  sitzen  die  Evangelisten  auf  Wolken.  Die  ganze  Erbärmlich« 
keit  der  Epigonen  wird  offenbar.  Auch  wenn  die  Natürlichkeit,  mit  der  diese  Dinge 
gemalt  sind,  noch  viel  weiter  getrieben  wäre,  würde  der  Vorgang  dem  Betrachter 
nicht  natürlich  erscheinen.  Man  kann  nicht  auf  Wolken  sitzen.  Je  deutlicher  eine 
solche  Vorstellung  versucht  wird,  desto  weniger  glaubhaft  wird  sie.  Man  kann  nicht 
mit  denselben  Bedingungen,  die  für  unsere  kontrollierbaren  irdischen  Vorgänge 
maßgebend  sind,  überirdische  Dinge  schaffen.  Wie  mörderisch  ungeschickt  ist  die 
Darstellung  der  Apostel  in  lebensgroßen  Figuren,  die  in  gar  keinem  Verhältnis  zu 


imillllillllllflllllllllllllllllllllllllfllillllllllll  llil!l{|1IIIIIIIIIllI1llllllilll!IIIII1IIIill!1[|l!l[IIIII!lllIIIimMM^^^^ 

u  u  u  mMHiitn  II 

40  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

der  architektonischen  Größe  der  wundervollen  Bogen  stehen.  Was  man  selbst  ohne 
Ornament  aus  solchen  Bogen  in  Mosaik  machen  kann,  zeigen  altchristliche  Bauten, 
die  1000  Jahre  vorher  vollendet  wurden,  zur  Genüge,  zumal  der  Triumphbogen  in 
S.  Apolinare  in  Classe  bei  Ravenna,  dessen  Mosaik  dem  sechsten  Jahrhundert  ge« 
hört. 

Im  Innern  der  Markuskirche  schweigt  die  Kritik;  es  schweigt  auch  das,  was  man 
Kunstbetrachtung  nennt.  Man  überlegt  nicht.  Die  Hand,  die  den  Baedeker  hält, 
krampft  sich  zusammen,  und  das  liebe  Hirn  denkt  nicht  mehr.  Man  hat  für  solchen 
Reichtum  vorher  noch  keine  Vorstellung  gehabt.  Man  meint  plötzlich  etwas  Un^e» 
heuerliches  zu  erleben,  etwas  Unwahrscheinliches,  Grausiges,  Gigantisches.  Man 
sieht  diese  Goldpracht  nicht,  man  hört  sie,  fühlt  sie,  atmet  sie.  Man  hört  auf,  Herr 
Soundso  zu  sein,  wird  Atom,  ein  schweigendes  Teil  unter  anderen,  und  man  hat  das 
berauschende  Bewußtsein,  es  zu  werden.  Hier  kann  man  von  Massenwirkungen  re* 
den.  Die  Vorstellung,  wie  hier  eine  Masse  auf  die  andere,  die  "Wucht  dieses  Tempels 
auf  die  Beter  wirken  mußte,  würde  noch  ganz  andere  Tatsachen  begreiflich  machen, 
als  die  der  Religionsgeschichte.  Man  hat  selbst  Lust,  auf  die  Knie  zu  sinken  und  zu 
beten,  nicht  aus  plötzlich  überkommener  Frömmigkeit,  sondern  um  etwas  ganz  und 
gar  Ungewohntes,  Besonderes  zu  tun. 

Was  wissen  wir  Modernen  mit  unseren  ästhetischen  Mätzchen  von  solcher  Größe! 
—  Man  bedecke  einen  Raum  mit  den  schönsten  Gemälden  unserer  Jahrhunderte, 
man  häufe  in  einer  einzigen  Galerie  das  Größte  der  italienischen  und  nordischen 
Malerei  auf;  es  bleibt  eine  Galerie,  ein  Kunstraum,  etwas  Absonderliches,  das  nie 
die  Seele  in  solche  Schwingung  versetzen  wird,  wie  dieses  barbarische  Gold  mit  den 
barbarischen  Zeichen  der  übelberüchtigten  Byzantiner.  Man  wird  einwerfen,  es 
komme  nicht  auf  die  Größe  der  Schwingung  an,  sondern  auf  die  Tiefe.  Ich  kann 
mir  Ketzer  denken,  die  diese  Tiefe  Schwäche  nennen,  die  brutal  genug  sind,  der  auf« 
lösenden  Erkenntnis  der  Kultur  die  blinde  Wucht  dieser  Barbarei  vorzuziehen.  —  Es 
wären  ganz  gewiß  Leute,  die  einen  Augenblick  das  Nachdenken  vergessen  und  den 
bewußten  roten  Faden  verlieren.  Aber  was  gäbe  man  darum,  wenn  einem  dasselbe 
einmal  vor  modernen  Dekorationen  geschähel 

Hier  zeigt  die  Mosaikkunst,  was  sie  kann,  für  diese  Galerien  wurde  sie  geschaf« 
fen,für  diese  Bogen  und  Kuppeln.  Hier  wirkt  sie  Wunder  mit  ihrem  düster  gleißen» 
den  Gold  in  den  verschwiegenen  Kapellen,  in  dieser  nie  wieder  erreichbaren  Innen« 
architektur  mit  den  zauberhaften  Durchblicken  zwischen  und  über  den  Säulen.  Es 
hängt  kein  einziges  Bild  in  dieser  Kirche  und  doch  ist  keine  einzige  bilderreicher. 
Ich  meine  nicht  nur,  was  die  Mosaikkünstler  selbst  hier  geschaflfen  haben,  sondern 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIl 


DIE  MOSAIKEN 


41 


die  Bilder,  die  sich  aus  den  Ausschnitten  der  Architektur  auf  dem  Mosaik  ergeben, 
die  sich  mit  jedem  Schritt,  mit  jedem  veränderten  Lichtstrahl  ändern  und  schier  un« 
erschöpflich  sind.  Wahrend  die  byzantinische  Dekoration  im  Atrium  als  diskrete 
Dienerin  der  Architektur  erscheint,  ist  sie  hier  die  vollberechtigte  Gefährtin,  ja  die 
Krönung  des  Ganzen,  die  Sprache  dieses  göttlichen  Körpers,  das,  was  ihm  Leben 
gibt. 

Der  Reichtum  dieser  Sprache  ist  groß,  er  reicht  von  der  erhabenen  Majestät  zur 
kindlichsten  Einfalt,  und  von  dem  finstersten  Grauen  zur  süßesten  Anmut.  Die  bei» 
den  Säulenschiffe  enthalten  unterhalb  modemer,  wirkungsloser  Massendarstellungen 
auf  jeder  Seite  je  fünf  alleinstehende  Figuren,  unter  ihnen  links  einen  jugendlichen 
Christus,  rechts  an  derselben  Stelle  eine  jugendliche  Maria.  Man  kann  sich  unmög« 
lieh  etwas  Lieblicheres  denken  als  diese  beiden  Gesichter.  In  dem  blonden,  vomeh» 
men  Christ  steckt  eine  Süße,  die  man  nur  in  den  feinsten  Malereien  Vivarinis  wie» 
derfindet,  und  die  Maria  mit  den  schwarzen  Haaren  und  Augen  und  den  unendlich 
zarten  Linien  könnte  auch  von  der  Hand  des  großen  Meisters  von  Murano  gemacht 
sein.  —  Und  nun  vergleiche  man  mit  dieser  Anmut  die  ungeheure  Wucht  in  den 
Mosaiken  über  dem  Hochaltar:  die  Evangclistensymbole  in  den  Dreiecken,  die  die 
Kuppel  der  Apsis  von  der  des  Hochaltars  trennen,  zumal  diesen  furchtbaren  Löwen, 
bei  dem  der  Stil  nur  gebraucht  wird,  um  das  Grauenvolle  der  Bestie  noch  zu  er» 
höhen,  der  wie  ein  gesammelter  Ausdruck  all  der  finsteren  Majestät  erscheint,  die  in 
dieser  Architektur  schlummert.  Den  kecken  Beter,  der  den  Blick  von  der  Erde  zu 
heben  wagte,  traf  es  wohl  wie  ein  Blitz,  wenn  er  dieses  Ungeheuer  hoch  über  sich 
erblickte,  und  in  scheuem  Gehorsam  beugte  er  wieder  den  Nacken,  um  die  Last  der 
dumpfen  Gebete  weiter  zu  tragen. 

Und  daneben  in  der  entzückenden  Kapelle  di  S.  demente  wieder  eine  ganz  an 
dere,  eine  sanfte  mystische  Stimmung.  Hier  herrscht  stille  Dämmerung.  Grau  wächst 
der  herrliche  Marmor  empor.  Wo  die  Wölbung  ansetzt,  beginnt  das  Mosaik  und 
trägt  im  Halbrund  ganz  allein  das  Heiligenbild.  Nie  vergißt  das  Auge  das  Halb» 
dunkel  hinter  den  Säulen  mit  den  Bronzelampen,  den  stillen  Altar,  an  dem  die  Mar. 
morreliefs  schimmern,  den  stillen  Heiligen  in  der  Höhe.  Und  darüber  gleitet  der 
Blick  zwischen  enormen  Bogen  in  das  Stockwerk  hinauf,  wo  wieder  das  Gold  glänzt 
und  wieder  die  heiligen  Linien  strahlen,  und  zuletzt  bleibt  er  ganz  oben  an  der  Wöl» 
bung  haften,  an  dem  schaukelnden  Schiff  mit  den  Aposteln  und  dem  phantastisch 
weißen  Segel. 

Es  ist  merkwürdig:  so  gewagt  die  Einfälle  sein  mögen,  nie  kommt  dem  Betrach» 
ter,  und  sei  er  auch  noch  so  sehr  Berliner,  das  Lächeln,  das  er  so  leicht  bereit  hat, 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiNiiiiiiiiiiiiiiiniNiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiinniiiNiiiin^  iiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiii 

42  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

I     0  "1 

sobald  ein  Moderner  mal  ein  wenig  riskiert.  Die  Zeit  hat  uns  die  unsachliche  Pietät 
in  Kunstsachen  zu  überwinden  gelehrt;  Achtung  vor  dem  Alter  dieser  Dinge  kann 
es  also  nicht  sein,  das  uns  im  Schach  hält,  noch  weniger  der  Respekt  vor  dem  reli« 
giösen  Glauben,  der  in  ihnen  gewaltig  ist;  denn  über  ihn  hinaus  2u  sein,  rechnen 
wir  uns  ja  als  Verdienst.  Es  muß  also  doch  wohl  ästhetische  Schätzung  sein,  die 
uns  selbst  die  Extreme  des  berüchtigten  Stiles  dankbar  ertragen  läßt.  An  diesen 
fehlt  es  nicht.  Ein  beliebtes  Motiv,  das  sich  an  verschiedenen  Orten,  auch  in  der 
Markuskirche  findet,  ist  der  Christ,  der  die  Gläubigen  über  den  gestürzten  Satan 
hinweg  zur  Seligkeit  führt.  Diese  Gruppe  strotzt  dermaßen  von  grotesken  Verzeich* 
nungen  —  z.  B.  ist  das  Bein  des  dem  Christ  nächststehenden  Gläubigen,  den  der 
Heiland  zu  sich  zieht,  halb  so  dick  wie  der  Arm;  noch  kurioser  ist  der  dunkle  Leib 
des  Satans  usw.  —  daß  man  in  anderem  Zusammenhang  an  Karikaturen  denken 
könnte.  Aber  man  kommt  gar  nicht  zur  Kontrolle.  Jedes  Detail,  das  man  wie  im 
Fluge  erhascht,  treibt  das  Auge,  das  danebenliegende  zu  finden,  um  das  Ganze  zu 
fassen.  Dadurch  kommt  Leben  hinein.  Es  ist  natürlich  ein  ganz  anderes  Leben,  als 
das  des  modernen  Bildes.  An  diesem  gemessen  mag  jenes  wie  toter  Buchstabe  er* 
scheinen,  aber  ebenso  ist  das  Moderne  tot  in  dieser  Verwendung.  Der  Raum  tut  das 
Seine.  Es  kam  eine  Zeit,  die  in  den  mathematischen  Gesetzen,  die  von  den  Byzan» 
tinern  bewußt  oder  unbewußt  benutzt  wurden,  eitel  Barbarentum  sah,  und  der 
Seele  unwürdig  glaubte,  sich  von  der  Logik  leiten  zu  lassen.  Als  ob  es  etwas  Ehr» 
würdigeres  gebe,  als  die  Ewigkeit  dieser  mathematischen  Erkenntnissei  —  Tatsäch* 
lieh  bildet  sich  das  Auge  aus  diesen  halb  mathematischen  Gebilden  noch  heute  Zu« 
sammenhänge,  die  ganz  einzig  sind  und  weiter  ganz  einzig  das  Gemüt  bewegen. 
Gerade  in  der  oben  erwähnten  Darstellung  ist  ein  so  gewaltiger  Zug,  die  Bewe» 
gung  in  dem  vorwärtsschreitenden  Christ  mit  dem  schwermütigen,  den  Flehenden 
zugewandten  Antlitz  und  dem  hocherhobenen  Kreuz  in  der  Hand  ist  so  überzeu« 
gend,  daß  man  mit  gerissen  wird  und  das  Groteske  als  selbstverständlich  empfin» 
det.  Man  denke  nur  einmal  an  ähnliche  Darstellungen  späterer  primitiver  Maler, 
an  die  jüngsten  Gerichte  Fra  Angelicos,  wo  links  die  Engelein  in  dem  Garten  der 
Seligkeit  wandeln,  und  rechts  die  Sünderlein  gespickt,  gesotten  und  gebraten  wer» 
den,  Darstellungen,  die  man  sich  nicht  enthalten  kann,  komisch  zu  finden,  weil  hier 
die  Mathematik  durch  den  Schmelz  der  Seele  ersetzt  ist.  Keine  Frage,  daß  Fra  Ange< 
licos  Auffassung  als  Symptom  einer  milderen  Anschauung  des  Christentums,  die 
dem  strengen  Asketentume  folgte,  den  allgemeinen  kulturellen  Fortschritt  kenn« 
zeichnet.  Aber  gleichzeitig  vollzieht  sich  die  Abnahme  der  suggestiven  Kraft,  eine 
Schwächung  der  Mittel,  über  die  die  Kirche  verfügte.  In  der  Markuskirche  drängt 


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DIE  MOSAIKEN 43 

sich  diese  Differenz  deutlich  genug  auf.  Überall,  wo  spätere  Jahrhunderte  zu  Worte 
kommen,  gerade  die,  denen  die  Glanzzeit  der  Malerei  angehört,  geht  die  Wirkung 
der  Technik  verloren.  Ein  wahrer  Jammer,  daß  der  Hauptteil,  der  Kuppelausschnitt 
der  Apsis,  mit  dem  thronenden  Christus,  nicht  mehr  dem  reinen  Stil  gehört.  In  sei* 
chen  Wölbungen  hat  die  byzantinische  Mosaik  wahrhaft  erschütternde  Größe  ent» 
wickelt.  Ich  kenne  nichts  Schöneres  dieser  Art,  als  die  Reste,  die  noch  in  den  Kirchen 
von  Murano  und  Torcello  erhalten  sind,  den  beiden  uralten  Filialen  der  Lagunen« 
Stadt. 

Der  gute  Künstler,  der  mir  S.  Donato  in  Murano  zeigte,  konnte  nicht  genug  von 
dem  alten  Fußbodenmosaik  der  Kirche  erzählen,  das  in  der  Tat  allein  schon  den 
Besuch  des  traurigen  Nestes  lohnt.  Köstliche  Muster,  geometrisch  und  dabei  will« 
kürlich,  noch  willkürlicher  geworden  im  Laufe  der  Zeit,  die  wie  ein  Maulwurf  un» 
ter  den  Steinfließen  gewühlt  hat.  Die  Wiener  und  Feter  Behrens  müssen  hier  ihre 
Freude  haben.  Man  hat  Lust,  sich  lang  auf  den  Boden  zu  legen,  auf  diesen  pikanten, 
orientalischen  Teppich  von  Steinen. 

Und  plötzlich,  halb  durch  Zufall,  sieht  man,  weit,  weit  vor  sich  die  riesige  goU 
dene  Apsis,  und  in  ihr  allein,  allein  eine  einzige  schmale  Gestalt,  in  blauem  faltigen 
Gewände:  die  fürbittende  Mutter  Gottes.  Es  scheint  nicht  die  Wölbung  zu  sein,  in 
der  sie  schwebt;  es  ist,  als  wäre  es  die  Welt,  und  in  dieser  furchtbaren  Weltein» 
samkeit  schwebt  das  bleiche  Weib,  die  beiden  Hände  gerade  vor  dem  Antlitz,  wie 
gesteift  von  der  Last  ihrer  rätselhaften  Bitte.  Es  gibt  kein  größeres,  tieferes  Myste» 
rium  in  unserer  Religion,  und  es  gibt  keine  größere,  tiefere  Art,  es  zu  fassen,  als  es 
hier  geschehen  ist.  —  Dieselbe  Gewalt  äußern  die  Mosaiken  der  Apsis  im  Dom 
von  Torcello.  Diesmal  trägt  die  Maria  das  Christkind,  wie  in  der  Kapelle  S.  Zeno 
der  Markuskirche.  Unter  ihr,  getrennt  durch  ein  Schriftband,  dessen  wundervolle 
Buchstaben  wie  das  schönste  Ornament  wirken,  stehen  auf  blumiger  Wiese  die 
zwölf  Apostel,  und  unter  ihnen  fällt  der  wunderbare  graue  Marmor  mit  seiner  fast 
regelmäßigen  Zickzackstruktur  zu  den  Priesterbänken  hinab,  die  terrassenförmig 
aufsteigen  und  das  ganze  Halbrund  der  Chornische  wie  im  antiken  Theater  an» 
füllen.  Die  künstlerische  Wirkung  ist  nicht  zu  schildern.  Alles  ist  darauf  angelegt, 
die  Hauptfigur  hervorzuheben.  Nicht  nur  die  Größenverhältnisse  steigern  sich  in 
diesem  Sinne,  auch  die  Farben.  Während  den  Aposteln  jeder  starke  Ton  fehlt  und 
in  ihren  Gewändern  Weiß  vorherrscht,  hebt  sich  die  schmale  Gestalt  der  Maria  in 
dem  üblichen  stark  dunkelblauen  Gewand  von  dem  goldigen  Grund  ab  und  zeigt 
nur  im  Gesicht  und  in  den  Händen  helle  Funkte.  Das  schönste  Ornament  könnte 
nicht  die  Macht  dieses  einfachen  Kontrastes  ersetzen,  die  scharfe  Kontur  auf  dem 


HiiiiniiiimiiniiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiimmiiiininiiMiiiK 

tmmiHiHMiiiiiiiiniiHmimiiinimniimmiiuiiiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiirmi><i>i)iriiMiimiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiitiiiiNiiiiii>imiiiiriii<iii rii>iiEiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii>iiiiiiriiiii'iiiriiniiiiiritiiiiiiiiiii<riiiiitiiiitiiiiiiiii<iiiiii>iiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiniim«iiiiiiii(imiii 


44  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


lllinMMIIIMMIMinaimnüllllMIIIMmilllinillllllMllimilllUIIIMmillllMWIlllllllllMlinillilHIIIIimMMIinillllllllllHIHtllllHIPIIItMIllimMIMMinuirillltlMMIIIIIIItllUtW 


wundervollen  riesigen  Goldgrund,  dem  von  selbst  entstandene  Schattierungen  eine 
sanfte  Bewegung  verleihen.  Die  Apostel  stehen  alle  en  face  auf  der  gerade  abge« 
schnittenen  Wiesenfläche  mit  den  köstlich  stilisierten  Blumen.  Die  Gewänder  sind 
so  gerafft,  daß  die  überfallenden  Säume  immer  einen  annähernd  gleichen  Winkel 
bilden.  Dadurch  kommt  in  die  ganze  Reihe  eine  kaum  merkbare,  aber  unentbehr« 
liehe  Zickzackbewegung  hinein,  die  mit  den  geraden  Gestalten  angenehm  kon» 
trastiert.  Die  Wiese  mit  den  Aposteln  ist  durch  eine  Leiste  mit  sehr  schönem  Muster, 
viel  einfacher  und  geschmackvoller  als  die  entsprechende  Leiste  in  der  Apsis  der 
Markuskirche,  eingerahmt. 

Denkt  man  sich  den  Dom  von  Torcello  in  diesem  einheitlichen  Mosaik  wie  die 
herrliche  Fassade  vollendet,  mit  diesem  Fußboden,  dieser  Innenarchitektur,  von  der 
am  Lettner  namentlich  noch  einzelne  wundervolle  Stücke  erhalten  sind,  dann  wird 
man  vielleicht  etwas  vorsichtiger  mit  dieser  Kunst  zu  Gerichte  gehen,  die  für  immer 
verloren  wurde,  ohne  jemals  ersetzt  zu  werden.  Was  kümmert  uns,  die  Genießen» 
den,  daß  sie  von  Sklaven  geübt  wurde  und  daß  sich  ihr  glänzender  Bau  auf  ge» 
knechteten  Nacken  erhob!  Die  Kirche,  das  Element,  das  diese  Kunst  hervorbrachte, 
ist  längst  verfallen,  und  wir  bewundem,  wenn  wir  in  den  Palästen  ihrer  vergange« 
nen  Größe  weilen,  nicht  sie,  sondern  die  Kunst,  die  sie  belebte.  Die  Größe,  die  sie 
schuf,  mußte  durch  sie  wieder  vergehen.  Die  Verknüpfung  der  Kunst  mit  der 
Kirche  war  das  Glück  jener  ersten,  großen,  dekorativen  Kunst  und  wurde  ihr  Un« 
glück.  Je  mehr  die  Kirche  jenes  überirdische  Bewußtsein  ihrer  Unnahbarkeit  ver» 
lor,  desto  mehr  verflüchtigte  sich  der  großzügige  dekorative  Schwung,  der  aus  dem 
Gotteshause  eine  neue  Welt  machte  und  den  nicht  das  Genie  eines  einzelnen,  und 
sei  er  auch  noch  so  groß,  sondern  die  Inbrunst  der  Masse  allein  zu  äußern  ver* 
mochte. 

Die  Kunst  ist  frei  geworden,  sie  hat  sich  nicht  nur  von  der  Kirche,  sondern  von 
allen  nachfolgenden  Elementen,  die  mit  größerem  oder  geringerem  Erfolg  die  Nach» 
folgerschaft  des  religiösen  Impulses  vertreten,  befreit  und  ist  heute  so  ^ehr  das 
Werk  des  Einzelnen,  wie  sie  damals  die  Frucht  Tausender  war.  Sie  hat  sich  so  sehr 
verändert,  daß  sie  kaum  noch  mit  dem  Namen  zu  decken  ist,  den  sie  damals  trug; 
zwischen  der  neuen  und  der  alten  sind  so  große  Unterschiede,  wie  zwischen  Indi» 
viduum  und  Masse:  Es  sind  getrennte  Begriflfe,  die  keine  Kunstgeschichte  zusam« 
menleimen  kann. 


n 


VON  GIOTTO  ZU  MICHELANGELO 

Der  erste  Einschnitt  war  der  Übergang  von  der  Mosaik  zur  Freske;  er  war  ent» 
scheidend.  Damit  wurde  der  Maler  vom  Diener  des  Baumeisters  zum  Genos» 
sen,  vom  Handlanger  zum  Künstler.  Er  erhielt  ein  Stückchen  des  Hauses  zur  selb» 
ständigen  Bewirtschaftung.  Sofort  trat  ein  fremder  Bestandteil  in  das  Gebäude. 

Es  ist  merkwürdig,  wie  schnell  sich  die  dekorative  Anschauung  der  Mosaicisten 
verflüchtigt.  Cimabue  hat  nicht  nur  in  seinen  Mosaiken, sondern  auch  in  seinen  rie« 
sigen  Madonnentafeln  noch  die  dekorative  Größe  einer  auf  Raumschmuck  gerich« 
teten  Kunst;  bei  Giotto  ist  die  Malerei  bereits  Gemälde  geworden. 

Für  unsere  Betrachtung  eignet  sich  vielleicht  am  besten  das  herrliche,  harmoni« 
sehe  Freskenwerk  Giottos,  die  Geschichte  Christi  in  der  Kapelle  Madonna  dell' 
Arena  in  Padua.  Das  Werk  enthält  im  Keim  alles,  was  die  spätere  Kunst  sorgfältig 
ausgebaut  hat.  In  einzelnen  Partien,  wie  z.  B.  dem  Judaskuß,  der  Gegenüberstellung 
des  dummgemeinen  Proletenkopfes  des  abtrünnigen  Jüngers  mit  dem  göttlichen 
Antlitze,  dessen  Augen  dem  Verräter  bis  in  die  Seele  blicken,  offenbart  sich  verblüf« 
fend  persönliche  Anschauung,  ein  tiefgegrififenes  dramatisches  Moment,  das  weiten« 
weit  von  den  Byzantinern  entfernt  ist.  Aber  es  bleibt  das  Einzelne.  Man  untersuche 
dies  kleine  Interieur,  das  mit  den  geringsten  Mitteln  dekorativ  behandelt  werden 
konnte,  auf  den  Gesamteindruck  und  erinnere  sich  des  ersten  Anblicks  beim  Ein« 
treten,  als  man  sich  noch  nicht  aus  diesen  verblichenen  Linien  und  Farben  die  Per« 
len  herausgesucht  hatte.  Man  hatte  eigentlich  Lust,  gleich  wieder  hinauszugehen  in 
den  blühenden  Garten,  der  das  Häuschen  umgibt.  Es  war,  als  ob  uns  jemand  im 
Moment,  wo  wir  gar  keine  Lust  zum  Lesen  hatten,  ein  Buch  in  die  Hand  drückte. 
Erst  nach  Überwindung  eines  gewissen  inneren  Widerstandes  durch  ein  mehr  oder 
weniger  archäologisches  Interesse  kommt  man  näher,  und  dann  freilich  —  wenn  man 
gefunden  hat  —  mag  einem  der  starke  Eindruck,  den  man  vorher  entbehrte,  wie  der 


iiiuiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiii'iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiininiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin^ 

46  "       ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


lllilllllDIIIIIIIIlllllIlllllllillllllLIDIIIIIIII 


iiiiiiiiDiiiiiuiiTiiiiiiiiiitiiiiiiiNiiiiir uiiijiiii iiMiiiiiimMiiitiiimiiiiiiiiiiiiintiiiiiimtii. 


Wunsch  eines  Barbaren  erscheinen,  und  man  ist  im  entgegengesetzten  Sinne  ebenso 
ungerecht  wie  vorher.  In  der  Erinnerung  werden  immer  —  wohlverstanden  im  nai» 
ven  Menschen  —  die  beiden  Eindrücke  miteinander  streiten,  die  Liebe  zum  Person* 
liehen,  das  man  dort  trotz  aller  Verwitterung  in  unvergänglichen  Zügen  aufgezeich« 
net  findet,  und  die  Sehnsucht  nach  der  Raumwirkung,  die  man  schmerzlich  vermißte. 

Madonna  dell'  Arena  ist  die  erste  Gemäldegalerie  und  der  Galeriecharakter  un* 
serer  ganzen  Kunst  nimmt  bei  ihr  seinen  Anfang;  schon  hier  ist  das  Bild  oder  die 
Summe  des  Bildes  etwas,  das  allein  betrachtet  werden  will,  außerhalb  des  Zusam« 
menhangs  mit  dem  Raum,  nach  eigenen  Gesetzen ;  die  Kunst  richtet  sich  nicht  mehr 
nach  dem  Kosmos,  sondern  das  Individuum  macht  sich  selbst  zum  Kosmos,  zu  einer 
Welt  in  der  anderen.  Schon  der  erste  Schritt  dieser  Kunst  ist  für  das  Dekorative 
verhängnisvoll.  Man  betrachte  das  Jüngste  Gericht  an  der  Fassade  der  Kapelle;  die 
Komposition,  freilich  nicht  von  der  Hand  Giottos.ist  ebenso  schwach  wie  die  Auf» 
fassung,  die  dahintersteckt,  und  die  zu  den  späteren  Darstellungen  desselben  Ge» 
genstandes  von  Fra  Angelico  hinüberleitet. 

Und  während  das  mit  dem  Verfall  kämpfende  Land  die  Kunst  zur  Malerei  wer» 
den  läßt,  unfähig,  etwas  anderes  als  Bilder  zu  schaffen,  ist  im  barbarischen  Norden 
ein  wunderbares  Bauwerk  gewachsen,  das  eigene  Haus  der  neuen  Kirche.  Es  konnte 
nicht  in  Italien  erstehen,  wo  der  Anblick  des  gewaltigen  Alten,  allen  Verstandesre» 
aktionen  zum  Trotz,  die  Sinne  fesselte.  Die  römische  Kultur  war  eben  noch  etwas 
anderes  als  Heidentum  gewesen,  sie  war  vor  allen  Dingen  italienisch,  d.  h.  von  der 
Art  des  Landes  und  der  Menschen,  und  der  größte,  idealste,  künstlerischste  Aus» 
druck  dieser  Art.  Daß  sich  eine  Gedankenreihe  infolge  fremden  Einflusses  änderte, 
konnte  nicht  plötzlich  das  Blut  dieser  Leute  in  andere  Richtung  treiben;  ebenso» 
wenig  wie  es  ihre  Gesichter,  wie  es  ihre  Rasseneigentümlichkeiten  veränderte.  Was 
in  Italien  wuchs,  konnte  nur  römisch  sein. 

Dagegen  war  im  Norden  nichts,  das  einen  künstlerischen  Aufschwung  der  kirch» 
liehen  Form  zu  hindern  vermochte.  Die  Rolle,  die  das  Christentum  hier  auf  sich 
nahm,  war  anders  als  die  des  verflossenen,  heidnischen  Kultus  in  Italien.  Es  wurde 
die  große  Aufklärung,  die  Licht  'in  die  Gemüter  der  Barbaren  goß,  die  noch  vom 
Morgennebel  umflort  waren;  ein  starkes  Volk,  das  bisher  von  nichts  als  seiner  rohen 
Kraft  gelebt  hatte  und  mit  dem  das  Christentum  gerade  in  dem  Moment  zusammen» 
traf,  da  die  Kraft  sich  genug  äußeres  Daseinsbewußtsein  geschaffen,  um  nun  sich 
auch  ins  Geistige  auszudehnen.  Hier  fand  die  hervorragend  materielle  Rolle  des 
Christentums  sofort  dankbarsten  Boden  bei  den  Führenden,  denen  an  der  mate» 
riellen  Aufklärung  gelegen  war,  für  die  bereits  die  intellektuellen  Vorzüge  des  Chri» 


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iiiiiiiinniiiniiiiniiiiiiniiiiiiniiniiiinniiiiiiiiiiniNiiiiniiiiiiiiiiiiiiininniiiiiiiin^ 

VON  GIOTTO  ZU  MICHELANGELO  ^ 


stentums  genügten,  um  das  Ganze  zu  billigen.  Und  mit  beispielloser  Umsicht  er» 
füllte  die  Lehre  diese  Mission,  praktische  Erkenntnis, VTissen  verbreitend,  ohne  zu 
ahnen,  daß  dieselbe  Kultur,  deren  Grund  sie  legte.sie  selbst  eines  Tages  überspringen 
müsse,  als  letzte  Folge  ihres  ganzen  Werkes.  So  wuchs  auch  die  Kunst,  die  ihr  selbst 
diente,  unter  ihren  Händen  zu  etwas  Intellektuellem  heran,  bei  dem  man  sich  nicht 
nur  etwas  denken  konnte,  sondern  das  selbst  Frucht  des  Gedankens  war.  Die  po» 
pulären  Schmuckelemente  vereinigten  sich  mit  dem,  was  die  Religion  gebracht  hatte, 
aber  das  eigentliche  Mark  war  ein  Neues,  das  auf  scharfer  Reflexion  beruhte  und 
dadurch  himmelweit  von  aller  römischen  Kunst  entfernt  war.  Es  erreichte  in  der 
nordischen  Baukunst  des  13.  Jahrhunderts,  die  man  Gotik  genannt  hat,  den  vollen« 
deten  Ausdruck.  Mit  voller  Bewußtheit  und  einer  Wissenschaft,  die  noch  in  unse« 
ren  Tagen  ihre  Gesundheit  befruchtend  auf  unsere  dekadente  Architektur  zu  äu« 
ßem  vermochte,  wurde  das  Gesetz  des  Raums  mit  allen  Feinheiten  baulicher  Ar* 
gumente  begründet  und  eine  Konstruktion  geschaffen,  die  erst  natürlich  war,  bevor 
sie  schön  wurde.  Allmächtig  war  diese  Tat;  sie  drang  nach  Italien  und  erreichte 
dort  das  Unerhörte,  die  Unterwerfung  der  Italiener  unter  das  Barbarentum,  die  ge» 
horsame  Hinnahme  dieses  gotischen  Stils,  der  allen  eingeborenen  Instinkten  entge« 
gen  sein  mußte. 

Die  Kühnheit  dieser  Architektur  reduzierte  die  feste  einheitliche  Wandfläche  auf 
ein  Minimum.  Für  die  Mosaiken  gab  es  keinen  Platz.  Ihre  Rolle  wurde  von  den 
Glasmalereien  übernommen,  dem  hohen  Lied  der  Gotik,  dessen  Schönheit  nur  in 
der  tiefen  Pracht  der  Gesänge,  die  damals  zu  den  hohen  Fenstern  hinaufklangen, 
ihr  Gegenbild  findet. 

Man  vergleiche  jene  paduanische  Bildergalerie  mit  der  Sainte  Chapelle  in  Paris, 
diesem  kleinen  Wunderwerk  der  Glasmalerei,  in  dem  die  farbigen  Fenster,  durchaus 
nicht  die  schönsten  der  Gotik,  den  einzigen  Schmuck  bilden  und  die  schier  be« 
rückende  Harmonie  des  Raums  vollenden.  Es  will  uns  nicht  in  den  Sinn,  daß  wir 
das  eine,  diese  herrliche  Einheit,  aufgeben  mußten,  um  das  andere,  die  Kunst,  die 
Giotto  begann,  groß  zu  ziehen.  Und  es  war  nichtsdestoweniger  unabänderlich.  Die 
Kraft  der  Gotik  mußte  sich  schließlich  selbst  zersprengen.  Dieselbe  Gewalt,  die  in 
den  herrlichen  Bauten  sich  zum  Himmel  hinauftürmte,  trieb  jedes  einzelne  Gebiet 
in  die  Höhe,  in  eine  Sphäre,  wo  es  zuletzt  keine  Gemeinschaftlichkeit  mehr  geben 
konnte.  In  Italien  wurde  unter  Giotto,  dem  Schüler  des  Mosaicisten  Cimabue,  der 
Stil  zum  Typus,  zu  einer  Gleichartigkeit  der  Gesichter  und  Bewegungen,  in  der^n 
Grenzen  sich  die  Individualität  der  Schüler  Giottos  zunächst  nur  in  Nuancen  äußern 
-  konnte.  Aber  gleichzeitig  erobert  sich  die  Malerei  die  Unabhängigkeit  von  der 


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48  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


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Wand.  Aus  der  Freske  wird  die  Holztafel,  und  damit  bereitet  sich  äußerlich  die 
Abtrennung  der  Malerei  von  dem  Ganzen  vor.  Nicht  wenig  half  der  Umstand  da* 
bei,  der  die  Schöpfung  dieser  Gemälde  in  dieselben  Hände  legte,  denen  die  Her» 
Stellung  der  kirchlichen  Bücher  anvertraut  war.  Das  Didaktische  des  Buches  er* 
rang  auch  im  Gemälde  die  Vorherrschaft.  Der  Schmuck  der  Missalen,  als  solcher 
meisterhaft  verstanden  und  nach  allen  Gesetzen  der  zu  schmückenden  Fläche  und 
der  Beziehungen  zwischen  Bild  und  Schrift  gehandhabt,  wurde  im  Gemälde  seines 
ursprünglichen  Zwecks  entkleidet,  ohne  einen  präzisen,  neuen  Beruf  zu  finden.  Man 
arrangierte  und  vergrößerte,  was  man  auf  dem  Pergament  im  Kleinen  gemacht  hatte. 
Die  äußerlichen  Beziehungen  zur  Architektur,  die  dabei  in  die  Bilder  gelangten, 
kamen  auf  dem  Umweg  über  das  Buch,  das  natürlich  gewisse  Schmuckelemente  mit 
dem  Baustil  gemein  hatte.  Die  literarischen  Versuchungen  der  Malerei  sind  uralten 
Datums. 

Es  entsteht  das  Bild,  die  Koriiposition,  nicht  nach  dem  Gesetze  des  Raums,  der 
es  beherbergt,  sondern  nach  dem  eines  mehr  oder  weniger  willkürlichen  Rahmens. 
Noch  steht  der  Rahmen  am  bestimmten,  hochheiligen  Platz,  aber  er  ist  schon  ganz 
ein  Ding  für  sich,  eine  Kirche  in  der  Kirche,  in  der  es  sich  des  Schweißes  der  Edlen 
lohnt,  einen  Platz  zu  gewinnen. 

Und  auch  um  diesen  Platz  beginnt  der  Norden  zu  ringen.  In  Burgund  wächst 
eine  Malerei  heran,  die  der  Gotik  tiefste  Innigkeit  auf  die  Altartafeln  sät.  Sie  hat 
nichts  von  dem  kleinlichen  Werk  der  Enlumineure,  obwohl  eins  ihrer  frühsten  Do« 
kumente  ein  Buch  ist,  das  Andachtsbuch  „les  tres  riches  heures"  des  Herzogs  von 
Berry.  Ihre  Frömmigkeit  ist  frei  von  Scholastik,  ist  männlich.  Der  Zauber  des  Ritter* 
tums  umgibt  sie  und  ihre  Strenge  ist  Frucht  des  eigenen  Denkens.  Noch  liegt  ihr 
Ursprung  im  Dunkel.  Nur  wissen  wir,  daß  der  höfische  Anstand  der  französischen 
Herzöge  und  Könige  auch  diese  Blume  gedeihen  ließ,  daß  Paris  das  erste  Zentrum 
einer  ihrer  selbst  bewußten  nordischen  Malerei  gewesen  ist.  Das  Andachtbuch  des 
Duc  de  Berryi  das  um  1400  erstanden  sein  mag,  trägt  schon  französische  Züge,  die 
bald  von  dem  Meister  von  Flemalle,  von  Fouquet,  von  dem  Maitre  des  Moulins 
tiefer  geprägt  werden  sollen ;  Züge,  die  bereits  auf  Ingres  und  Renoir  hinweisen. 

In  der  Atmosphäre  jener  tres  riches  heures  bildet  sich  das  erste  Genie  der  nor* 
dischen  Kunst,  das,  sobald  es  flügge  geworden  ist,  das  Merkmal  einer  anderen 
Rasse,  einer  anderen  sozialen  Klasse,  einer  anderen  Kultur  begründet  und  mit  hun* 
dertfachen  Zinsen  Frankreich  die  Anregung  vergilt,  die  es  halb  zufällig  empfing. 
"Wie  mit  der  Wucht  des  gespannten  Bogens  schleudert  van  Eyck  das  Ziel  der  Ma» 
lerei  in  vorher  unerreichbare  Fernen  und  schafft,  fast  außerhalb  jedes  greifbaren 


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VON  GlOn  O  zu  MICin;i.ANGELO  49 


Zusammenhangs  mit  dem  Stil  der  Masse,  das  Wunder,  wie  ein  Mensch  die  Natur, 
seine  Natur,  seinen  Stil  malt.  Etwas  Allmenschliches  strömt  mit  dem  Werk  dieses 
ersten  Bürgers  der  Kunst  in  die  Malerei,  so  erhaben  und  groß,  daß  man  begreift, 
daß  alles  andere  in  Trümmer  fallen  mußte,  um  dieses  Eine  zu  ermöglichen. 

Und  wiederum  haben  sich  mit  ihm  die  materiellen  Rollen  der  malerischen  Ele» 
mente  verändert.  Die  Fläche  wächst  zu  immer  größerer  Bedeutung  heraus.  Ver» 
blüflfende  Details  vertiefen  das  Sonderinteresse.  Eine  solche  Kleinmalerei  wie  sie 
van  Eyck  in  seinem  Bild  mit  dem  Donator  im  Louvre  fertig  gebracht  hat,  zumal  in 
dem  Hintergrund,  wo  man  deutlich  durch  einen  nach  Millimetern  messenden  Wald 
durchzublicken  vermag,  in  dieser  Straße,  auf  der  sich  stecknadelkopfgroße  Men« 
sehen  richtig  bewegen,  das  ist  später  von  den  Spezialisten  kaum  je  wieder  erreicht 
worden;  nie  mit  diesem  Ausdruck  von  Würde.  Gleichzeitig  malte  FraAngelico  die 
winzigen  Altarschreine,  die  heute  in  San  Marco  gezeigt  werden,  die  kleinen  golde« 
nen  Gitterwerke  mit  der  Madonna  dahinter,  wahre  Filigranarbeiten,  Kunststücke 
einer  rührenden  Geduld,  wie  sie  eben  nur  ein  Mönch  besitzt.  Man  vergleiche 
die  Miniaturen  in  Chantilly  mit  denen  Fra  Angelicos.  Die  nordische  Kleinmalerei 
ließe  sich  auf  Wände  übertragen.  Van  Eyck  ist  groß,  er  umfaßt  alles,  auch  das 
Kleinste.  Auch  technisch  waren  seine  Mittel  neu.  Er  bediente  sich  —  wenn  auch 
nicht  als  erster,  wie  die  Überlieferung  behauptet  —  der  Ölmalerei,  des  Mediums, 
in  dem  allein  die  Taten  der  kommenden  Kunst  sich  abspielen  konnten,  und  das  die 
Dauerhaftigkeit  des  Werkes  sicherer  gestaltete,  als  wenn  es  als  Freske  auf  der  Wand 
geblieben  wäre. 

Mit  dem  Auftreten  dieser  Malerei  beginnt  bei  uns  die  Lockerung  der  Zusammen« 
hänge  unter  den  Künsten  zum  Besten  der  einen  Gattung.  Schon  objektiviert  die 
Persönlichkeit  das  traditionelle  Gut.  Die  Schule,  der  nicht  eine  sanktionierte  Behör» 
de  der  Gesamtheit,  sondern  die  aus  freier  Wahl  erkorene  Autorität  des  großen 
Künstlers  vorsteht,  wird  zum  Träger  der  Entwicklung.  Van  Eyck  und  der  Meister 
von  Flemalle  gründen  sich  ihre  Familien.  Die  Rogier  van  der  Weyden,  Dirk  Bouts 
und  Petrus  Christus,  die  Memling  und  Gerard  David  umgeben  sie  und  werden  von 
ihren  Sippen  umgeben.  Schon  steht  der  Historiker  vor  schwer  entwirrbaren  Fäden. 
Über  der  schwellenden  Freude  an  der  Geschichte  des  Geistes,  die  sich  in  diesen 
ersten  Verkündern  unserer  Schönheit  malt,  entgeht  ihm  die  Vertrautheit  mit  der 
Frage,  welche  Formel  der  Gilde  sie  eint.  Er  stimmt  den  Menschen  in  dieser  Kunst 
noch  freudiger  zu  als  den  Malern  und  nimmt  das  unvergleichliche  Handwerk  die» 
ser  Goldschmiede  der  Empfindung  wie  ein  Selbstverständliches  hin.  Schon  aber 
gibt  es  einen  Outsider,  der  mit  einem  Sprunge  über  den  Kreis  der  anderen  hinaus 


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50  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


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will  und  dessen  Kühnheit  den  ganzen  Bau  erschüttert,  schon  ein  tragisches  Schick» 
sal:  Hugo  van  der  Goes. 

Diese  Kunst  hatte  in  Italien,  so  reich  es  auch  wieder  geworden  war,  nicht  ihres» 
gleichen.  Im  Norden  war  der  Mönch  Schulmeister  geworden;  hier,  in  Italien  war 
er,  bis  die  Generation  des  Donatello  erstand,  Künstler  geblieben  und  hatte  die 
Kunst  wie  eine  vom  Geiste  anderer  befohlene  schematische  Handarbeit  geübt.  Die 
war  lieblich  und  fromm  und  zierte  prächtig  die  großen  Pergamente.  Wo  er  sich 
aber  der  großen  Tafel  bediente,  lief  er  über  von  Zuckersüße,  und  davon  sickerte 
nicht  wenig  auch  in  die  Kunst  der  Nachfolger  hinein.  Van  Eyck  nahm  sich  daneben 
wie  ein  Mann  neben  einem  Püppchen  aus. 

Die  Malerei  blieb  in  Italien  viel  länger  verhältnismäßig  unpersönlich,  weil  die 
Baukunst  viel  länger  die  Alleinherrschaft  behielt.  Das  gab  ihr  von  Anfang  an  ein 
von  der  nordischen  Malerei  durchaus  verschiedenes,  viel  harmloseres  Gesicht.  Der 
Süden  baute.  Alle  künstlerische  Kraft,  alle  Intelligenz  des  Künstlers,  aller  Ehrgeiz 
floß,  solange  überhaupt  die  Kunst  eine  gebietende  Rolle  spielte,  zunächst  in  den 
Baustein.  Man  hatte  in  Italien  die  Götter  auf  der  Erde  und  machte  ihnen  Häuser. 
Der  Germane  dachte  sie  sich  hinter  den  phantastischen  Wolkengebilden  seines 
Himmels,  und  nie  wäre  ihm  in  den  Sinn  gekommen,  diese  unsichtbaren  drohenden 
Wesen  in  Tempel  auf  die  Erde  zu  locken.  Die  Baulust  lag  den  vielen  Fürsten  Ita» 
liens,  lag  dem  ganzen  Volke  im  Blute  und  war  dem  Papsttum  feierliches  Gebot,  war 
das  natürliche  Produkt  der  marmorreichen  Erde,  war  das,  was  jede  Gegenwart  von 
jeder  Vergangenheit  erhielt.  Man  sah  in  der  Kirche,  im  Palast,  auch  wenn  das  Werk 
zu  Ehren  Gottes  geschah,  das  gegebene  Mittel  persönlicher  Macht,  das  geborene 
Zeichen  persönlichen  Ruhms,  während  im  Norden  das  Bauen  viel  mehr  eine  Sache 
kommunistischer  Regungen  blieb.  Daher  die  Beweglichkeit  der  italienischen  Archi» 
tektur.  Sie  war  ein  geschmeidiges  Material,  das  den  mannigfaltigsten  Einfällen  zu 
folgen  vermochte,  das  in  jeder  Stadt,  fast  könnte  man  sagen,  in  den  Händen  jedes 
Fürsten  zu  einem  Besonderen  wurde.  Man  baute  in  Italien  wie  man  in  Flandern  Bil» 
der  malte.  Schon  der  Florentiner  des  14.  Jahrhunderts  lebte  auf  der  sonnigen  Straße, 
während  der  Niederländer  schon  damals  am  liebsten  in  seinen  vier  Pfählen  war. 

Die  jahrhundertelange  Vorherrschaft  der  Architektur  bestimmte  die  Malerei  Ita* 
liens  auch  dann  noch,  als  diese  sich  längst  die  erreichbare  —  nie  ganz  unbeschränkte 
—  Unabhängigkeit  erobert  hatte.  Sie  prägte  einen  Begriff  des  Dekorativen  und  Mo* 
numentalen,  der  in  gleicher  Reinheit  in  keinem  unserer  Meister,  zumal  in  keinem, 
der  von  Rom  und  Venedig  unberührt  blieb,  erscheint,  und  verhinderte  jene  geistige 
Entwicklung,  die  von  van  Eyck  zu  Rembrandt  geht.  Die  Malerei  Italiens  hat  mehr 


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I  imnminmimi  ininn  r<  n  1 1 1 1 1 1 


VON  GIOTTO  Zr  MK.III-.I.AN'CFLO  51 


Worte  als  die  unsere,  viel  zahlreichere  Zusammenhänge  mit  dem  ganzen  Bau  der 
Kultur  des  Landes,  war  deshalb  nie  auf  sich  selbst  allein  angewiesen.  Daraus  crga* 
ben  sich  unendliche  Vorteile.  Dafür  hat  sie  nie  die  Vollkommenheit  und  Tiefe  un» 
serer  Abstraktionen  erreicht.  Das  Zusammentreffen  der  italienischen  und  nordischen 
Primitiven  gab  die  glücklichste  Kunstehe,  aber  es  stand  von  vornherein  fest,  daß  der 
Norden  der  Mann  war.  Es  war  keine  Gefahr,  daß  der  Norden  dabei  verlor;  anders 
sah  es  mit  der  Eigenart  der  anderen  Partei  aus.  Wieder  drang  vom  Norden  her  ein 
starkes  Lied  über  die  Alpen,  das  Lied  der  van  Eyck,  der  van  der  Goes  und  Rogier 
van  der  Weyden;  zum  zweitenmal  drohte  Eroberung  durch  die  Barbaren. 

Aber  Italien  war  inzwischen  zur  Besinnung  gekommen  und  ein  reiches,  mächtiges 
Land  geworden.  Seine  künstlerische  Kraft  war  durchaus  nicht  mit  dem  frommen 
Gebet  des  Mönches  von  San  Marco  erschöpft.  Eines  Tages  entdeckten  Künstler, 
die  nicht  in  Mönchskleidem  steckten,  auf  heimatlichem  Boden  Reste  klassischer 
Skulptur.  Mit  einem  Schlage  wird  das  repräsentative  Zeichen  und  das  Mittel  er» 
kannt,  das  Haus  von  den  Spuren  der  Barbaren,  von  dieser  Gotik,  die  hier  immer 
nur  als  Notbehelf,  als  Bastard  galt,  zu  reinigen.  Das  klassische  Prestige  entfaltet 
seine  Phönixschwingen.  Um  die  einstige  Bedeutung  der  Marmorreste,  die  man 
knieend  aus  der  Erde  gräbt,  kümmert  sich  kein  Mensch  mehr.  Die  Kirche  ist  zur 
staatlichen  Allmacht  geworden,  die  alles  wagen  kann.  Sie  steht  über  der  kleinlichen 
Parteiwut  ihrer  Kinderjahre;  eine  vornehme,  schöne  und  gekrönte  Frau,  die  höfi* 
sehen  Prunk  liebt  und  begreift,  was  an  ästhetischem  Wert  in  den  ehedem  als  Greuel 
erkannten  Resten  ihrer  längst  verschiedenen  heidnischen  Vorgängerin  steckt. 

Italien  vollzieht  als  Schlußakt  seiner  künstlerischen  Laufbahn  das  glückliche  Ex» 
periment  der  Renaissance,  und  es  geschieht  das  Unerhörte,  es  besiegt  schließlich 
nach  hundertjährigem  Kampf  die  Gotik  und  zwingt  die  Barbaren  sich  zu  Füßen. 
Die  Renaissance  wird  europäischer  Stil. 

Das  Schauspiel  ist  genügend  bekannt.  Der  Kampf  der  großen  Führer  ist  an  be< 
deutende  Akte  geknüpft  und  reich  an  wundervollen  Trophäen.  Daher  vergißt  man 
gern,  daß  das,  was  man  zuletzt  erkämpfte,  einer  vielköpfigen  Hydra  glich.  Wer 
könnte  sich  je  vor  der  glänzenden,  heroischen  Tat  dieser  ganzen  Schöpfung  ver» 
schließen?  In  die  künstlerische  Schätzung  mischt  sich  die  Würdigung  des  großen, 
kulturellen  Fortschritts,  der  unsere  Neuzeit  einleitet,  und  den  die  Kunst  glänzend 
dekoriert.  Aber  der  Siegeslauf  vollzieht  sich  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  nicht  nur 
nicht  in  der  alten,  fortschrittlichen  Richtung  der  allgemeinen  Kultur,  als  Folge 
vorher  gewonnener  Schlachten,  sondern  eher  entgegengesetzt.  Er  gibt  früher  ge» 
wonnene  Stellungen  auf  und  verliert  sie  unwiederbringlich.  Es  war  selbstverständ» 


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52"        "    "  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


lieh,  daß  die  wesentliche  Veränderung  wichtiger  sozialer  und  ökonomischer  Zeit» 
Verhältnisse  sich  in  der  Kunst  ausdrücken  mußte.  Aber  sobald  die  Bestimmung  kein 
instinktives  Zugreifen  des  Volkes  war,  mußte  die  Wahl  alle  Gefahren  eines  persön« 
liehen  Schicksals  hervorrufen.  Und  so  eine  instinktive  Massenreaktion  war  die  Re« 
naissance,  im  Norden  wenigstens,  nicht,  fehlten  ihr  doch  hier  nahezu  alle  Bedin» 
gungen.  Hier  wurde  sie  eine  Sache  der  Mode,  der  reichen  Leute,  des  Stils  wie  wir 
ihn  heute  kennen.  Es  ging  jetzt  den  nordischen  Völkern  wie  vorher  dem  Süden 
mit  der  Gotik.  Mit  dem  unübersehbaren  Unterschied,  daß  sich  Italien  innerhalb 
und  außerhalb  der  Gotik  hatte  helfen  können,  ohne  ein  Gran  seiner  Eigenart  auf» 
zugeben,  ohne  die  natürliche  Verbindung  mit  der  eingesessenen  Antike  zu  verlieren, 
während  der  Norden  jetzt  vor  einer  ganz  unvermittelten  Fremdheit  stand.  Und  war 
selbst  in  Italien,  wo  das  Ereignis  wurde,  die  geschichtliche  Renaissance  ein  ganz  na» 
türlicher  Ausdruck?  War  sie  nicht  auch  hier  trotz  aller  Legitimität  ihrer  Tendenz 
ein  Ausbiegen,  die  Umgehung  einer  langwierigeren,  aber  natürlicheren  Synthese, 
die  nicht  auf  Messungen,  nicht  auf  Traktaten,  sondern  auf  dem  Instinkt  beruhte? 
Sie  war  im  wesentlichen  eine  Errungenschaft  der  Künstler,  als  solche  nie  hoch  ge» 
nug  zu  preisen,  nie  wegzudenken  aus  der  Entwicklung  jeder  einzelnen  Gattung  der 
Kunst;  aber  selbst  in  Italien  eine  gewaltsame  Veränderung  des  normalen  Verhält» 
nisses  zwischen  Kunst  und  Volk,  eine  massenhafte  Schilderhebung  der  Persönlich« 
keit  auf  Kosten  der  Gesamtheit.  Das  Experiment  mußte  zuletzt  zu  einer  Dezentra» 
lisation  führen.  Man  findet  in  einem  idealen  Moment  die  künstlerischen  Kräfte  zu» 
sammen.  Es  ist  das  Vorspiel,  bei  weitem  der  frischeste,  interessanteste  Akt.  Das  Vor» 
spiel  scheint  ein  Rendezvous  zur  Jagd;  man  ist  zusammen,  aber  man  wartet  nur  un» 
geduldig  auf  das  Signal,  nach  den  vier  Winden  auseinander  zu  stieben.  Was  die 
Künstler  verbindet,  sind  nur  noch  Beeinflussungen,  und  Beeinflussungen  einen  die 
Künste.  Donatello  inspiriert  die  Maler,  und  die  Maler  sind  gleichzeitig  Archi» 
tekten,  Goldschmiede  und  alles  mögliche.  Aber  sie  sind  es  mehr  individuell,  in» 
folge  ihres  ungestümen  Tatendranges,  aus  dem  hochherzigen  Wunsche,  alles,  auch 
das  ihnen  Fernliegende,  auch  das  Geringste  an  ihrer  Begeisterung  teilnehmen  zu 
lassen.  Sie  beteiligen  sich  an  dem  Gewerbe.  Aber  nicht  ihre  Art  ist  es,  die  auf  die 
Dauer  dem  Gewerbe  frommt.  Was  wissen  sie  in  ihrer  überschäumenden  Kraft,  die 
mit  vollen  Händen  gibt,  von  Zweck  und  Nutzen,  ohne  die  das  Gewerbe  verküm» 
mert!  Und  indem  sie  ihre  Kunst  in  das  Vielseitige  treiben,  verkünsteln  sie  das  Ein» 
zelne,  und  damit  beginnt  der  Niedergang  der  Gesamtheit. 

Es  bezeichnet  die  Zeit,  daß  die  Heutigen  zumeist  das  Ideal  der  Renaissance  zu 
beleben  versuchen,  daß  so  vielen  der  Künstler,  denen  an  Erneuerung  der  Gesamt» 


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VON  GIOTTO  ZU  MICHELANGELO  53 


kunst  liegt,  jene  Epoche  vorschwebt,  der  sie  mit  frommer  Lüge  die  Tendenz  unter« 
schieben,  der  sie  heute  dienen  möchten.  Man  kann  von  den  letzten  Erben  einer  Ent* 
Wicklung,  die  alles  auf  die  Persönlichkeit  setzte,  nicht  verlangen,  daß  sie  in  Zeiten 
zurückgehen,  wo  es  keine  Persönlichkeit  gab.  Sie  nehmen  den  Augenblick,  da  das 
gemeinsame  Stilideal  noch  wach  war  und  zugleich  gewaltige  Persönlichkeiten  leb* 
ten;  aber  man  übersieht  die  logischen  Fehler  dieses  Momentes:  daß  das,  was  diese 
Leute  auszeichnete,  notwendig  zu  der  Zersplitterung  führen  mußte,  deren  Verhäng« 
nis  wir  heute  zu  tragen  haben. 

Noch  einmal  versuchen  zwei  Italiener,  die  wir  als  die  größten  verehren,  ihr  Bestes 
einzusetzen  zum  Preise  des  Raumes;  der  eine,  indem  er  sich, der  andere,  indem  er 
das  Gesetz  unterwirft.  Die  Welt  lächelte,  als  Raffael  sie  betrat.  Alle  Menschen,  alle 
Dinge,  die  bereits  in  Feindschaft  gegeneinander  starrten,  erhielten  unter  seiner  se« 
gensreichen  Hand  mildere  Seiten  und  neigten  einander  zu.  Es  ist,  als  wäre  er  "mit 
Kränzen  in  der  Hand  durch  den  Vatikan  geschritten.  Als  er  von  dannen  ging,  wurde 
das  Lächeln  leer. 

Die  Welt  zitterte,  als  Michelangelo  kam.  Malerei,  Plastik,  Baukunst  seufzten 
schmerzlich  unter  dem  Griff,  mit  dem  der  Riese  sie 'gewaltsam  zusammenschweißte. 
Er  machte  Sklaven  aus  ihnen.Wohl  wurden  sie  zu  einer  Einheit  gebändigt,  zu  einem 
Raum,  der  uns  wie  das  göttlichste  Gefäß  der  Menschheit  erscheint.  Der  Raum  war 
Michelangelo.  Nur  ein  von  dämonischer  Einsicht  geleiteter  Wille  herrschte  darin, 
der  seine.  Er  lachte  über  die  Eifrigen,  die  den  Vitruv  buchstabierten,  warf  die  Ge« 
seilen  hinaus,  die  helfen  sollten:  so  wie  ich  will,  geschieht  es.  Ein  Autokrat, wie  ihn 
die  Welt  nicht  zum  zweitenmal  sah,  vor  dem  sich  Menschen  und  Dinge  wie  vor  ei» 
ner  Unfehlbarkeit  beugten,  der  einzige,  der  in  seinem  Hirn,  in  seiner  Hand  das  Ko« 
lossale  besaß,  das  die  Reste  der  Cäsarenstadt  offenbarten.  Unter  seiner  Hand  sank 
der  Raum,  den  die  früheren  mit  sorgsamen  Händen  geliebkost  hatten,  in  Trümmer. 
Die  Quattrozentisten  werden  in  der  Sixtina  zu  gedankenlosen  Analphabeten.  Die 
Decke,  die  er  schmücken  sollte,  wurde  zu  einem  Palast  seiner  Träume,  dem  die  Ka« 
pelle  kaum  als  Schwelle  zu  dienen  vermag.  Die  Wand,  wo  sonst  der  Altar  zwischen 
artigen  Heiligen  stand,  erweiterte  sich  zu  einer  grenzenlosenVision,  neben  der  jede 
Gebärde  der  Wirklichkeit  zur  gegenstandlosen  Phrase  werden  mußte.  Man  fragt 
sich,  woher  die  Päpste  die  Stirn  nahmen,  vor  solcher  Wand  die  Messe  zu  lesen. 

Michelangelo  füllte  fast  ein  Jahrhundert.  Er  lebte  zu  lange,  um  nicht  die  Kunst 
in  allen  Traditionen  zu  erschüttern,  viel  zu  kurz,  um  sie  für  die  Fortsetzung  zu  stäh« 
len.  Nur  die  Erschütterung  blieb,  der  Zweifel  an  dem  Organismus,  der  unter  ihm 
ins  Wanken  gekommen  war,  die  Freiheit,  zunächst  die  Erlaubnis,  von  der  Antike, 


Hiiiiii!iiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiii«iiiiii!iiiiiiiiiiiiiBiiHiniiiii«i!iniiiiinB^ 

54 ENTSTEHUNGDESMALERISCHEN 


lll1IIIIinimilll1lltllllfH>IIIHIr!41lllirHIH)IIIIIIitlllUIIIIII(IUIWItlilHMtllMllimilllMIIIUIIIIIIIIIIIIIIIIt 


die  er  beseelt  hatte,  ins  Zügellose  zu  treiben  und  das  Persönliche,  für  das  er  ein  un« 
erreichbares  Vorbild  geschaffen  hatte,  an  die  Stelle  des  kaum  entdeckten  Gesetzes 
zu  stellen.  Seine  Form  blieb  ohne  den  Geist,  der  vor  den  Lücken  des  riesigen  Wer» 
kes  stand.  Kleinere  Menschen,  geringere  Begierden  bogen  sich  seine  Reste  zurecht. 
Wie  hätte  es  anders  kommen  können?  Die  Welt  war  so  weit,  zum  seligen  Opfer 
der  Michelangelos  zu  werden. 

Nun  heben  Malerei,  Plastik  und  Baukunst  wieder  die  Köpfe  und  sehen  einander 
an.  Jede  hatte  ihr  Teil.  Man  blieb  zusammen,  um  einer  gewissen  Form  zu  genügen 
wie  einstige  Waffenbrüder,  die  sich  bei  festlichen  Gelegenheiten  treflfen  und  ge» 
meinsame  Erinnerungen  feiern.  Man  hielt,  wo  es  sich  traf,  aus  Anstand  zusammen, 
allenfalls  um  diese  oder  jene  materielle  Notwendigkeit  zu  erfüllen,  mit  dem  Recht, 
jeden  Augenblick  die  Übereinkunft  zu  lösen.  Es  kam  zu  dem  freundlichen  Con* 
zerA,  den  man  das  Barock  genannt  hat.  Im  übrigen  ging  jeder  seiner  Wege. 


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VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT 

W'ährend  Michelangelo  noch  baute,  war  in  Venedig  längst  die  Malerei, bcgün« 
stigt  von  einer,  dem  Orient  geneigten,  weicheren  Sinnenwelt  und  von  einem 
materielleren,  im  Grunde  weniger  anspruchsvollen  Regime,  den  Schwestern  voran* 
geeilt.  Der  von  dem  Meere  unterhöhlte  Boden,  den  nie  ein  Kolosseum  beschwerte, 
bot  der  Baukunst  zu  wenig  Raum.  Schon  San  Marco  war  weniger  Bau  als  Zierat. 
Man  war  gewohnt,  an  keinem  Fundament  zu  rütteln,  und  schmückte  dafür  um  so  eif» 
riger  die  Wände.  Schon  die  Plastik  war  dem  leichteren  Sinne  zu  schwer,  und  ihre  kost« 
barsten  Monumente  wurden  von  außerhalb  hereingebracht.  Auch  die  auf  das  Pia« 
stische  gerichtete  Tendenz  der  Malerei  des  Quattrocento  war  Import.  Mantegna  hatte 
sie  von  Florenz  mitgebracht,  nicht  wie  sie  war,  sondern  wie  sie  einem  von  Paduamit 
eigenen  Augen  Zuschauenden  erschien.  Dürer  freute  sich  an  dieser  felsenharten  Form. 
Mantegnas  Schwager,  Giovanni  Bellini  unterwarf  sie  einer  gründlichen  Modifikation, 
ohne  sich  dem  römischen  Cinquecento  zu  nähern.  Diese  klassische  Form  des  plasti« 
sehen  Umrisses  blieb  der  Schule  Bellinis  fern.Giorgione  sieht  die  Antike  nur  als  Maler 
an.  Der  Unterschied  gegen  die  Jünger  Masaccios  und  gegen  die  Römer  beruht  auf 
keiner  technischen  Frage.  Die  Technik,  die  Giorgione  entstehen  läßt, ist  Folge  einer 
Anschauung, die  sich  von  dem  alten  Florenz  mit  seiner  Zierlichkeit,von  demgewal« 
tigen  Rom  prinzipiell  trennt  und  eine  rein  menschliche  Qualität  voraus  hat:  ein  mil« 
deres,  natürlicheres,  persönlicheres  Umfassen.  Es  ist,  als  habe  das  Volk  vorher  eine  an« 
dere  Sprache  gesprochen.  Die  Venus  Giorgiones  hat  Atmosphäre.  Mit  diesem  BegrifiF 
stehen  wir  in  der  Neuzeit.  Von  dem  ConcertChampetre  im  Louvre,von  der  Idylle 
im  Palazzo  Giovanelli  wallt  eine  Welle  der  Empfindung  bis  zu  Corot. 

War  Venedig  noch  etwas  anderes  als  die  Werkstatt  der  Giorgione  und  Tizian?  Wir 
wandern  staunend  durch  die  Paläste,  lassen  uns  seh  wärmend,  das  Fremde  genießend, 
auf  den  Kanälen  treiben.  Zu  den  Malern  Venedigs  zieht  uns  ein  tieferes  Gefühl.  Wir 
spürenVerwandte, meinen,  sie  seien  auch,  ähnlich  wie  wir, durch  die  Stadt, durch  jene 


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56  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


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glanzvolle  Zeit  gewandert,  ganz  Auge  für  alles  Schöne  und  gerade  deshalb  nicht  ganz 
beteiligt, mit  einem  harmlosen  Gefühl  zwischen  sich  und  den  Dingen,  durch  das  alles 
Schöne  eine  naive  Färbung  erhielt.  Dieses  Naive  ist  nicht  mit  der  kindlichen  Zier« 
lichkeit  der  Florentiner  zu  verwechseln, noch  mit  der  Anmut  Raflfaels.  Der  Florentiner 
Maler  und  der  Römer  waren  zu  eng  an  Florenz  und  Rom  beteiligt;  der  eine  an  dem 
Kostüm,  der  andere  am  Geiste  seiner  Stadt.  Bei  Michelangelo  nach  desgleichen  zu 
suchen,  wäre  Blasphemie. 

Vielleicht  ist  es  ein  Verzicht,  was  die  venezianische  Malerei  so  geschlossen  macht 
und  was  ihr  jenes  naiv  Menschliche  gibt;  ein  Verzicht  auf  grobe  Zusammenhänge 
mit  anderen  Werten  zugunsten  ihrer  Selbständigkeit.  Er  erscheint  für  sie  nur  als  Ge» 
winn.  Es  ist  jetzt  schon  so,  als  strömten  alle  Kräfte,  die  dem  Bildner  dienen,  in  dieser 
einen  Kunst  zusammen  und  als  hinge  es  von  ihremWillen  ab,  die  anderen  leben  oder 
sterben  zu  lassen.  Sie  wird  mächtig,  nicht  weil  ein  Doge  wie  Tizian,  geringeren  Blutes 
als  die  großen  Römer,  sie  leitet,  sondern  weil  plötzlich  ihre  Quellen— fast  scheint  es, 
ohne  Zutun  der  Menschen  — zu  fließen  beginnen.  Eine  übermenschliche  Besinnung, 
ein  fast  unverständlicher  Wille  bezwingt  die  Decke  der  Sixtina.  Venedig  hat  es  leich» 
ter.  Wie  ein  halb  durch  Zufall  von  einem  Sehnsüchtigen  entdecktes  Amerika  dem 
verarmten  Mutterlande  ungeahnte  Reichtümer  zuführt,  die  man  nur  aufzuheben 
braucht,  so  steht  auf  einmal  die  Malerei  da.  Dem  Worte  nach  empfängt  sie  noch  von 
der  Mutter  Befehle.  In  Wirklichkeit  ist  es  ihr  Geist, der  die  anderen  Künste  treibt. 
Malerisch,  heißt  sie, zu  bauen, zu  modellieren  und  jeden  Schmuck  zu  gestalten.  Die 
Linie, die  dem  Riesen  Roms  der 'Blitz  in  den  Händen  Jupiters  war,  verschwindet  in 
einen  Himmel  von  Purpur.  Das  Farbige  wird  das  Medium  des  Genius.  Noch  deko« 
riert  der  Maler.  Die  Leinwand  wird,  lose  genug,  auf  Wände  und  in  Kuppeln  gespannt, 
aber  sie  ist  wie  das  Innere  des  Buchs;  der  Bau, den  sie  schmückt, gibt  nur  denEinband. 
Und  so  ist  auch  das  Verhältnis  der  Kunst  zur  Allgemeinheit  geworden.  Das  Volk  ist 
loser  Einband,  nicht  Inhalt.  Wohl  steht  das  Kunstwerk  noch  am  allgemein  zugäng« 
liehen  Platz,  aber  die  Menge  erfaßt  kautn  noch  den  Sinn  der  rauschenden  Legenden, 
von  denen  der  Maler,  ein  Troubadour,  der  mit  vornehmem  Wesen  vertraut  ist,  mit 
großer  Geste  erzählt.  Sie  sieht  von  weitem  den  prunkvollen  Gastmahlen  desVeronese, 
den  wilden  Phantasien  eines  Tintoretto  zu  und  begafft  die  Gewänder  auf  den  Bildern 
wie  die  Festlichkeiten  des  hohen  Rates  oder  die  Gondel  des  Dogen,  der  sich  ihren 
Blicken  entzieht. 

Die  Reichen  und  Mächtigen  aber  drängen  sich  um  so  begeisterter  hinzu.  Von  über» 
all  herkommen  die  Aufträge  der  Fürsten,  die  an  den  Künstlern  ihres  eigenen  Landes 
nichtmehr  Genüge  finden.Wie  seine  Schiffe  sendet  Venedig  seine  Bilder  in  die  Welt, 


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VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT  57 


die  Zeichen  seiner  Macht  und  seines  Reichtums.  Von  überallher  kommen  Schüler 
in  das  Atelier  Tizians  wie  an  den  Hof  eines  ehrwürdigen  Patriarchen,  und  die  Sonne, 
die  hier  scheint,  der  Glanz,  der  sich  auf  jeden  der  Kunst  Geweihten  ergießt,  macht 
es  ihnen  nicht  leicht, in  ihre  kälteren  Zonen  zurückzukehren. 


Aus  dem  Kreise  stiehlt  sich  einer  der  vielen,  der,  obwohl  Fremdling,  von  anderem 
Blut,  anderer  Sprache,  dem  greisen  Lehrer  nahestand,  hinweg;  ein  Grieche,  der 
griechischer  Mystik,  jener  Mystik,  die  in  San  Marco  in  rohen  Zeichen  erstarrte,  voll 
-war,  der  hier  genoß  und  litt,  berauscht  von  der  Pracht,  die  seine  verfeinerten  Sinne 
zum  Paroxysmus  trieb,  gepeinigt  von  der  Sehnsucht  des  Fremden,  dem  seine  Art 
nicht  erlaubt,  am  Busen  des  Freundes  zu  ruhen.  Ahnt  er  vielleicht  in  dem  Lande, 
das  er  von  Nord  nach  Süd  mit  seinem  Malerbündcl  durchzieht,  das  Reich  des  rauhen 
Eroberers,  der  einst  die  Heimat  geknechtet,  ihr  die  Götter  entführte  und  seine  Ah« 
nen  zwang,  dem  plumpen  Geist  als  Handlanger  zu  dienen?  Vielleicht  lebt  in  ihm 
mit  der  Lust,  alles  zu  sehen,  was  die  Fremden  genommen  haben,  ein  heimliches  Re» 
vanchegelüst,  alles  zurückzugewinnen.  Es  verläßt  ihn  selbst  nicht  in  Rom,  wo  jener, 
allem  Hellenentum  entgegengesetzte  Geist  das  Größte  hervorbrachte,  selbst  nicht 
vor  Michelangelo.  Der  kleine  Grieche  hat  den  Mut,  dem  Goliath"  die  rechte  Kunst 
in  der  Übung  der  Waffe  —  für  ihn  ist  es  der  rechte  Geist  —  abzusprechen.  „Er 
konnte  trotz  allem  nicht  malen!"  Das  Erlebnis  mit  den  anderen  und  an  den  ande« 
ren  wird  zu  stark  für  den  schmächtigen  Jüngling.  Alles  was  in  den  kräftigeren  Ge* 
nossen  nach  außen  treibt,  was  ihren  Pinsel  zu  einem  Organ  ihrer  gesunden  Sinnlich' 
keit  werden  läßt,  frißt  er  in  sich  hinein.  Er  muß  fort  in  die  Einsamkeit,  um  der 
Geister  Herr  zu  werden,  um  den  Gegensatz  festzustellen,  in  dem  er  sich  zu  allem 
Gesehenen  befindet.  Dieser  Gegensatz  macht  ihn  zum  Schöpfer.  Er  geht  nach  Spa* 
nien,  findet  dort  die  willkommene  Atmosphäre  —  hätte  sie  wohl  überall  in  der 
Fremde  unter  einem  warmen  Himmel  gefunden  —  und  malt  voll  Leidenschaft  und 
Inbrunst  seinen  Protest. 

Nicht  venezianisch,  nicht  spanisch,  nicht  griechisch  ist  DominicoTheotocopuli. 
Er  malt,  wie  er  es  in  der  Werkstatt  Tizians  gelernt  hat.  Aber  seinen  Farben  ist  ein  Zu< 
satz.ein  geheimes  Gift,beigemischt,der  sie  leuchtend,  das  Fleisch,  das  sie  malen,  un« 
greifbar  und  überwahrscheinlich,  das  Christentum,  das  sie  darstellen,  zu  einer  ver. 
sengenden  Mystik  macht.  Die  ganze  Konzeption  der  Kunst  scheint  verändert.  Tizian 
und  seine  Schule,alle,selbstTintoretto,in  dem  dieWogen  der  Persönlichkeit  am  hoch« 
sten  gingen,bekannten  sich  zu  einem  höchst  greifbaren,  gemeinsamen  Ideal,  zu  Vene« 


iMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiuiiiiiiR^^^^^ 


58  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


tlitllllllMIlriiliitUiiiiiiiIHmiKrr.i' 


dig  als  dem  Inbegriff  eines  an  irdischen  Freuden  reichen  Daseins.  Sie  feierten  das 
Leben  in  dem  Ruhm  ihrer  Stadt.  Es  ist  ein  Optimismus  ganz  sinnfälliger  Art.  Leben 
und  leben  lassen,  genießen,  anderen  Genuß  geben.  Es  ist  ein  Materialismus  höherer 
Art,  der  den  Gedanken  dekorativ  behandelt,  so  wie  die  Maler  die  Leinwand  dekorie- 
ren. Wir  danken  ihnen  eine  Vermenschlichung  der  Kunst,  die  wichtigste  Station  auf 
dem  langen  Wege  der  Individualisierung.  Nur  ihre  strotzende  Gesundheit  war  fähig, 
den  komplizierten  Bau  einer  Entwicklung  zu  tragen,  die  schließlich  zu  den  Abstrak« 
tionen  unserer  Zeit  geführt  hat,  und  die  selbst  den  äußersten  Konsequenzen  jenes 
Malerischen  immer  noch  Warme,  Natur,  Leben  erhält.  Grecos  Hellsehertum  erfindet 
diese  äußersten  Enden.  In  dem  einen  Kopf  läuft  auf  einmal  die  Welt  dreihundert« ' 
mal  so  schnell  als  in  allen  anderen.  Wärme,  Natur,  Leben,  wie  es  die  anderen  meinen, 
wird  zu  groben  BegriflFen,  in  denen  der  Geist  erstickt;  das  Abmalen  des  Schönen 
zu  eitlem  Nebenzweck.  Die  Wirklichkeit  des  Geistes,  ein  Erleben  des  Heiligen  mit 
der  Heftigkeit  leibhaftiger  Halluzinationen,  ein  eigenes  Heiligtum  wird  Inhalt  des 
Bildes. 

Greco  ist  den  Venezianern  so  fem,  wie  sie  selbst  den  Frühflorentinem.  Der  Unter» 
schied  liegt  annähernd  auf  derselben  Stufe.  Soviel  die  Kunst  des  Kreises  Tizians 
neben  dem  Kreise  Massacios  an  Volkstümlichem  verloren  haben  mag,  so  dififeren» 
ziert  bereits  die  Begriffe  Tintorettos  sein  mögen,  neben  Grecos  Ekstasen  gewinnen 
die  Hymnen  Venedigs  die  Oberfläche  eines  Völksepos,  und  er  wird  zu  dem  Dichter 
unserer  Tage,  zu  einem  in  Form  und  Gedanken  ganz  modernen  Wesen. 

So  schreibt  ein  Mensch,  der  nur  in  seine  Seele  blickt,  die  Dinge  nieder.  Er  sieht  alles, 
was  um  ihn  vorgeht.  Keiner  sieht  schärfer.  Aber  er  sieht  nur  das,  was  ihn,  nicht  was 
die  anderen  angeht.  Die  Vorschriften  der  Kirche,  der  er  sich  mit  lässiger  Grandezza 
zur  Verfügung  stellt,  das  Barock,  dem  er  angehört,  das  Italien,  das  er  erlebt  hat,  nicht 
nur  die  Lagunenstadt,  auch  Rom,  auch  Michelangelo,  und  die  dunkle  Atmosphäre 
seiner  gegenwärtigenUmgebung,  das  Spanien  Philipps :  alles  das  wird  Kulisse,Materie, 
der  Rohstoff  für  seine  höchst  eigenen  Träume,  und  verliert  alles  Historische,  alle  ge« 
wohnte  Realität,  läuft  in  einem  das  Einzelne  verallgemeinernden,  das  Allgemeine  in» 
dividualisierenden  Begriflf  zusammen :  Greco.  Der  Pinsel  wird  ein  Organ  des  Hirns. 
Die  Empfindung  scheint  von  allen  Umwegen  befreit  auf  die  Leinwand  zu  kommen. 
Die  Italiener  waren  Maler.  Nie  vergißt  man  ihr  Handwerk.  Sie  waren  Dekorateure. 
Sie  hingen  als  Werkzeug,  sublimes  Werkzeug,  an  einer  gesiebten  Menge,  die  siema» 
len  ließ.  Er  steht  allein.  Seine  Sprache  ist  griechisch,  während  alle  andern  spanisch 
reden.  »So  sehe  ich  die  Geschichte«,  sagte  er,  würde  er  allenfalls  sagen,  »keiner  von  euch 
kann  sie  so  sehen,  gebt  euch  keine  Mühe.«  Rätselhaft,  daß  er  Aufträge  erhielt.  Was 


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^ ^ ^_ ^   VON  TIZIAN  zu  REMBRANDT 59 

muß  Toledo  gewesen  sein?  Er  fand  Prälaten,  die  sich  über  die  Gemeinde  stellten.die 

er  mit  seinem  Griechisch  bezwang.  Rätselhaft,  daß  man  es  für  Malerei,  nicht  fürHexe* 
rei  nahm,  daß  man  ihn  nicht  wie  einen  vom  Teufel  Besessenen  verbrannte.  Schließ« 
lieh  hätte  er  auch  von  Tizian  sagen  können:  »Er  konnte  trotz  allem  nicht  malen.«  So 
vergeistigt  ist  das,  was  er  Malen  nennt.  Da  wo  er  beginnt,  haben  die  Geschicktesten 
vor  ihm  nicht  geendet.  Das  Element,  mit  dem  sie  wie  mit  festen  Dingen  rechnen, 
wird  von  ihm  in  neue  Einheiten  zerlegt.  DiePracht.die  sie  mitStoflfen  und  Geschmeide 
erreichen,  liegt  bei  ihm  auf  dem  Grunde  des  Bildes  wie  auf  dem  Boden  des  Meeres, 
und  die  Fluten  darüber  sind  durchsichtig  wie  Luft.  Sein  Fleisch  ist  kein  modellierter 
Lokalton,  den  nur  ein  Unterscheidungsvermögen  bestimmt,  sondern  ein  zuckendes 
Gewebe  von  Zellen  und  Blut,  das  einen  Naturforscher  verleiten  könnte. zur  Lupe  zu 
greifen,  und  das  ganz  organischer  Teil  des  Bildhaften  ist,  auch  eines  Gewebes  aus 
Zellen  und  Blut.  Die  Vergeistigung  erscheint  Leuten.die  nichts  von  Mystik  wissen 
wollen,  verdächtig.  Sie  bedeutet  in  diesem  Falle  eine  höchst  concrete  Tatsache:  Über» 
Windung  des  Dinges  zugunsten  der  Materialisierung  der  Funktionen,  die  zum  Pin» 
seistrich,  zur  Farbe,  unerhört  sichtbar  werden.  Wenn  Greco  einen  Panzer  malt,  sieht 
man  Stahl  blitzen.  Wenn  er  einen  Heiland  malt,  glaubt  man  Himmel  und  Erde  äch« 
zen  zu  hören.  Wenn  er  sich  vollendet,  meint  man  Cezanne  und  Renoir  vor  seiner 
Staffelei  zusehen.  Man  sieht  alles  in  ihm.  zumal  alles  Zukünftige,  nur  keinen  BcgriflF 
von  der  Art.  die  einst  seinem  Volke  eigen  war.  keine  Beziehung  zur  Plastik,  zur  Bau» 
kunst.  nicht  einmal  eine  Dekoration.  Er  dekoriert  unsere  Iris.  Was  Cossio.  sein 
verdienter  Biograph,  an  Grecoscher  Architektur  erbracht  hat.  ist  leere  Wiederholung. 
Die  paar  Stücke  Plastik,  die  man  ihm  zuschreibt,  könnten  von  einem  Toledaner 
Zimmermeister  gemacht  sein.  Das  Organ  war  nur  noch  zum  Malen  da. 

Greco  stirbt, und  es  ist  so, als  ob  er  nichtgelebt  hätte.  Konsequenter  hätte  derlndivi« 
dualismus  nicht  sein  können.  Siehtman  von  dem  materiellen  Erbe  ab,  das  Velasquez, 
der  ein  paar  Farben  von  ihm  rettete,  anzutreten  versuchte,  so  ist  von  dem  Schöpfer 
des  Mauritius,  des  Orgaz,  des  Laokoon  nichts  übriggeblieben.  Velasquez  malt  wieder 
die  bewährten  alten  Begriffe  ohne  die  Harmonie  und  den  Glanz  der  Venezianer  und 
ersetzt  die  monumentale  Stabilität  Tizians  durch  eine  optische  Täuschung.  Das  Loch 
ins  Jenseits  ist  wieder  zu.  Die  Kunst  geht  zur  Tagesordnung  über.  Bis  Manet  kam 
hat  Greco  im  Grabe  gelegen,  weniger  beachtet  als  irgendein  Astrolog,  der  aus  den 
Sternen  Gutes  und  Schlimmes  weissagte  oder  andere  Allotria  trieb.  Die  Welt  wußte 
nichts  mit  ihm  anzufangen.  Sie  hatte  recht,  dieses  eine  Auge,  das  über  sie  hin  wegblickt, 
abzulehnen.  Die  Kunst  wäre  zu  schnell  in  die  Höhe,  zu  schnell  in  die  Niederung 
gelangt,  hätte  nicht  den  Reichtum  einer  Geschichte  entwickelt,  in  der  wir  nicht  nur 


«MllurHiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiim 


60  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


die  steilsten  Gipfel,  auch  die  fruchtbaren  sanften  Gelände  lieben  und  nötig  haben, 
wenn  Greco  nicht  für  verrückt  erklärt  worden  wäre. 


Die  SchöpfungTizians  und  seiner  Schüler  hat  in  Venedig  länger  gehalten  als  irgend» 
eine  Schule  in  Italien.  Bis  tief  in  das  achtzehnte  Jahrhundert  hinein  flimmert  das 
Licht,  das  sich  auf  den  Wellen  der  Lagunen  schaukelt,in  den  Bildern  der  Nachfolger. 
Das  Greisenalter  der  Stadt  bewahrt  noch  in  den  Tiepolo,  Guardi,  Canaletto,  selbst 
noch  in  Longhi  den  naiven  Sinn  ihrer  Blütezeit.  Die  Größe  aber,  der  d  ts  Ziel  leichter 
Formen  Rahmen,  nichtlnhaltwar,  die  Würde,  deren  Art  mit  dem  Pathos  der  Römer 
wetteifern  durfte,  verging  in  Venedig  so  schnell  wie  Michelangelos  Erbe  in  Rom. 
Italiens  Renaissance  ist  vorüber.  Es  erobert  nicht  mehr,  sondern  besitzt,  verwaltet. 
In  der  Kunst  ist  der  auf  Handel  und  Industrie  angewiesene  Friede  immer  Nieder» 
gang. 

Nun  wird  die  überreiche  Frucht  die  Beute  anderer  Rassen.  Wieder  kommt  der  Nor« 
den  im  rechten  Augenblick  und  paart  sich  mit  dem  Süden.  Von  vielen  hurtigen  Ver* 
mittlem  wird  die  Welt  Tizians  zusammen  mit  der  Welt  Michelangelos  der  Malerei 
unserer  Breiten  zugänglich  gemacht.  Den  Fremden,  denen  die  historische  Entwick» 
lung  der  beiden  Welten  nicht  geläufig  ist,  erscheinen  das  Farbige  der  einen,  das 
Plastische  der  anderen  nicht  wie  feindliche  Pole, sondern  füreinander  bestimmt,  und 
nachdem  Greco  als  erster  das  unbeachtete  Beispiel  gegeben  hat,  erfinden  andere 
viele  Bindemittel,  um  die  drohende  Differenzierung  wieder  aufzuheben. 

Zwei  Pfade,  von  genialen  Menschen  gebahnt,  zeichnen  sich  unter  den  vielen,  die 
über  die  Alpen  gingen,  aus  und  werden  zu  Richtwegen  der  europäischen  Malerei. 
Sie  sind  fast  um  eine  Generation  voneinander  getrennt.  Den  ersten  bahnte  sich  der 
glücklichste  Eroberer,  den  je  der  Norden  nach  Italien  gesandt  hat. 

Kein  übersinnlicher  Grieche  von  überzüchteter  Rasse,  sondern  nordisches  Bauern» 
blut,  ein  blonder  Germane  mit  blauen  Augen,  pflanzt  die  Venezianer  fort.  Er  ist 
Enkel  des  alten  Brueghel,  der  als  letzter  die  Reihe  der  von  van  Eyck  ausgehen» 
den  Primitiven,  vor  deren  gotischer  Würde  und  tiefer  Innerlichkeit  alle  italische 
Mönchskunst  erblaßte,  beschließt.  Diese  Würde  und  Innerlichkeit  haben  Rubens 
nicht  bedrückt.  Er  beobachtet  mit  einer  Begehrlichkeit,  in  der  noch  die  wüste  Brunst 
der  alten  Hunnen  steckt,  die  einst  über  Italien  herfielen.  Er  greift  zu.  Nun  wird  die 
venezische  Grandezza  lebendig,  die  stolzen  Ritter  und  Damen  verlieren  die  Hai» 
tung,  die  stumme  Würde  wird  gesprächig.  D«r  Geist  des  Till  Eulenspiegel  erfindet 
seine  Mythologie.  Die  Göttinnen,  die  unter  Tizian  Bildnisse  edler  Frauen  waren. 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinniiiiiiiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiw 


VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT  61 


werden  nackte  Weiber.  Faune  wälzen  sich  zwischen  schwellenden  Brüsten.  Schwe« 
ren  Schrittes  schwankt  der  trunkene  Silen.  Ein  Schmatzen  hallt  durch  den  von 
Giorgione  geweihten  Tempel.  Italien  hört  es  erstaunt.  Ist  es  nicht  schön?  fragt  er 
lachend  und  zeigt  auf  blondes  Haar,  das  sich  nie  vorher  so  um  üppige  Nacken  wand, 
auf  weißes  Frauenfleisch,  das  nie  diese  feuchte  Mattheit  besaß.auf  taumelnde  Leiber, 
die  sich  in  nie  gesehener  Sinnenlust  umschlingen.  Den  Zeitgenossen  muß  es  ge. 
wesen  sein,  als  hätten  sie  vorher  immer  nur  mit  Gewändern  zu  tun  gehabt.  Nackt 
gibt  sich  zum  erstenmal  das  Sinnliche  des  Künstlers.  Ein  rasendes  Temperament 
häuft  ein  Universum.  Dem  einen  Geist  entspringt  die  Welt  in  Bildern.  Nichts  in 
der  Geschichte  der  Völker,  das  die  Kühnheit  der  Vorstellung  reizen  könjjte,  bleibt 
ungemalt.  Griechen  und  Römer,  Spanier  und  Deutsche,  Franzosen  und  Engländer 
spielen  in  dem  ungeheuren  Drama.  Die  Bibel  gibt  ihre  Heiligtümer  her.  Die  Ge» 
schichte  Christi  und  aller  nur  denkbaren  Heiligen  ersteht  in  kolossalen  Gemälden. 
Kaiser  und  Bettler,  Krieger  und  Weise,  Hetären  und  Königinnen  erscheinen  in  dem 
nie  endenden  Zug.  Alle  sind  vor  ihm  Fleisch,  leuchtende  Materie,  alle  sind  es  zu« 
frieden.  In  Sthlachten  und  Jagden,  Tierkämpfen  und  Bauemtänzen,  in  Orgien  und 
Höllenstürzen  tobt  er  sich  aus.  Und  jeder  Teil  des  Chaos,  jede  geschwungene  Faust, 
jedes  flatternde  Mantelende,  jede  Feder  auf  dem  Hut  eines  Frauenbildnisses  wird 
von  seiner  Regung  bewegt,  ist  sein  Atem,  sein  Pulsschlag.  Daher  ist  der  Begriff  der 
Dekoration,  in  den  unsere  Hilflosigkeit  ihn  bändigen  möchte,  so  winzig  für  ihn 
wie  für  den  Dämon  in  dem  Jüngsten  Gericht  der  Sixtina.  Dem  allein  vergleicht 
er  sich.  Und  er  allein  mildert  mit  seiner  Übertreibung  die  finstere  Dämonie  Michel» 
angelos,  macht  sie  flüssig  und  rettet  sie  in  eine  neue  Formenwelt. 

Denn  diese  wüste  flämische  Sinnlichkeit,  die  neben  Tizian  schwatzhaft,  neben 
Grecowievon  Fleisches  Gnaden  allein  erscheint,  ist  Form ;  die  Willkür,  die  lachend 
die  Welt  in  einen  Riesentrichter  stürzt,  istOrdnung.  Nichts  an  diesem  Germanen  ge« 
hört  jenem  Mittelalter,  das  noch  die  reiche  Gestaltungskraft  eines  Matthias  Grünewald 
zuweilen  zum  Sklaven  seiner  Schreckensvorstellungen  machte.  Rubens  gehört  mit  al» 
lenFasern  zu  uns.  Der  ganz  auf  das  Äußere  gerichtete  Drang  bildet  aus  allem,  auch 
dem  Abgelegensten,  auch  dem  Finsteren,  lichte  Stilleben.  Das  Schreckliche  ist  für  ihn 
nur  da,  um  überwunden  zu  werden,  um  demRhythmus  neue  Hügel  und  Windungen 
zu  geben.  Auch  der  Märtyrer  in  Brüssel,  dem  die  Zange  des  Henkers  die  Zunge  aus 
dem  Munde  reißt,  ist  schön  an  Farbe,  und  der  Kadaver  der  Kreuzabnahme,  dem  das 
Blut  entwich,  ein  Beet  fruchtbarer  Keime.  Und  wo  die  derbe  Einzelheit  den  Nor» 
den  verrät  und  den  an  klassisches  Ebenmaß  und  strenge  Komposition  Gewöhnten 
abstoßen  könnte,  da  siegt  erst  recht  die  Bewegung  des  kühnen  Komponisten,  der 


HiniiiiiiiiiiiiiiiiiiBBiiiiiiiiniiiniiiiiiiii iiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii m iiiiiiiiiiiinmiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiii™ 

...  —  „1,111,11,1, III Uli Kiniiiimifti II III Ti null Hnitn III inii II 11 "  '—■■■— 


62  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


mit  stürmenden  Massen  komponiert.  Er  sucht  sich  die  Widerstände,  denen  ge» 
mäßigtere  Temperamente  aus  dem  Wege  gingen. 

Schwellende  Früchte  trug  Rubens  aus  Italien  heim.  Es  ist,  als  wäre  unserem  Norden 
die  Sonne  des  Südens  gewonnen.  DieStätte.woeinDürer  strauchelte,  sah  ihn  nur  als 
Eroberer.  Er  ist  der  erste  Germane  seit  unseren  Primitiven,  den  Italien  nicht  verwirrt, 
nicht  geschmälert  hat,  und  wird  für  Jahrhunderte  der  letzte  bleiben.  Michelangelo, 
der  die  eingeborenen  Nachfolger  zerstörte,  hat  ihn  nur  beschenkt.  Die  in  dem  Ko» 
loß  aufgespeicherte  Kraft  wird  in  dem  Beschenkten  zu  dem  schnellen  Tempo,  mit 
dem  er  die  Natur  umschlingt,  und  ergießt  sich  in  leuchtende  Prärien.  Das  Unge» 
heure  des  Vorbilds  spiegelt  sich  in  strotzender  Fruchtbarkeit,  und  vor  diesen  lachen« 
den,  nie  endenden  Flächen  vergißt  man,  was  Rubens  dem  Räume  nahm,  in  dessen 
Dienst  sich  Michelangelo  zersplitterte.  Unübersehbaren  Reichtum  des  Malerischen 
gewinnt  er  in  Venedig.  Die  Differenzierung  des  Farbigen  erscheint  dem  mit  Greco 
Vertrauten  vielleicht  nicht  mehr  so  erstaunlich  wie  früher,  als  die  Brücke  von  Vene» 
dig  nach  Spanien  nur  einen  Velasquez  trug;  zumal  dann  nicht,  wenn  man  die  großen 
Atelierbilder  von  Rubens  mit  eigenhändigen  Werken  des  Griechen  vergleicht.  Die 
Freude  unserer  Zeit  an  allen  Spuren  meisterlicher  Hände  tut  sich  leicht  zuviel. 
Nimmt  man  die  Dinge  zur  Hand,  in  denen  Rubens  allein  den  Pinsel  geführt  hat,  so 
wird  man  bald  genötigt,  jeden  auf  Wertdifferenzen  gerichteten  Vergleich  aufzu« 
geben.  Denn  hier  wie  dort  sieht  man  —  mit  welcher  Palette ,  ist  gleichgültig  —  die 
äußersten  Grenzen  der  malerischen  Form  erreicht.  Der  Materialismus  des  einen, 
d.  h.  das,  was  uns  bei  Rubens  wie  Materialismus  erscheint,  die  Übersinnlichkeit  des 
anderen  münden  in  Unendlichkeit.  Und  daß  Rubens  Dinge  erdachte,  an  deren 
Ausführung  viel  Hände  mitwirken  konnten,  ohne  wesentliches  zu  zerstören,  das 
könnte  dem  Nachdenklichen  als  Vorteil  erscheinen,  als  Zeichen  der  Gültigkeit  sei» 
ner  Tektonik. 

Rubens  steht  in  unserer  Kunst  wie  eine  jener  Rieseneichen  unserer  Zone,  mit  hun» 
dert  Asten  und  unzähligen  Zweigen,  unter  denen  Scharen  von  Menschen  Schatten 
finden  können.  Fruchtbar  wie  er  selbst  war  seine  Schule.  In  seinem  Atelier  in  Ant« 
werpen  ging  nie  die  Türe  zu.  Er  hatte  ein  Gesinde  um  sich  herum  wie  in  Versailles 
der  König  von  Frankreich.  Van  Dyck,  sein  gelehriger  Schüler,  ein  Maler,  dem  das 
Rubenssche  Hirn  in  die  Finger  ging,  schenkt  England  eine  vielen  geschickten  Kunst» 
lern  ersprießliche,  den  Lords  behagende  Kunst.  Sie  reicht  von  Hogarth,  dem  größten, 
in  dem  Rubens  noch  unverdorben  lebendig  ist,  zu  Constable,  dem  derselbe  Geist 
bei  der  Schöpfung  seiner  Landschaft  hilft.  Zwischen  beiden  dehnt  sich  die  Reihe 
der  schlauen  Manufacturers,  die  den  Bildnissen  die  venezianische  Feierlichkeit 


iiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiMiinHiiiiitniiiniiiiniiniiiiiiiiiiim^^^^^ 


VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT  63 


zurückgeben,  über  die  Rubens  lachend  hinwegging.  Doch  steht  dem  Zeitalter  der 
Skepsis  nicht  mehr  die  große  Allüre,  die  den  Modeilen  Tizians  natürlich  war,  und 
da,  wo  es  sich  sie  anmaßt,  wird  Schauspielerei  daraus.  Viel  senile  Phrasen  und  Flausen 
bringen  Reynolds  und  Genossen  in  das  zerstückelte  Erbe.  Sie  schaffen  den  akade» 
mischen  Begriff  der  angenehmen  Patina,  die  das  Alter  der  Porträtierten  zudeckt  und 
die  Jugend  der  alten  Meister,  das  Unvergilbte  unter  dem  vergilbten  Firniß,  unter« 
drückt.  Ihr  Einfluß  erobert  die  Welt,  dringt  in  das  Wien  der  Maria  Theresia  und  das 
Spanien  Goyas  und  zwingt  den  wilden  Stierkämpfer,  sobald  man  es  ihm  bestellt, 
gehorsam  dem  Klassengeiste  dieser  Malerei  zu  huldigen.  Doch  bleibt  den  Manu« 
facturers  das  Verdienst,  dem  Insellande  eine  Malerkultur  erhalten  zu  haben,  die 
nach  der  französischen  Revolution  dem  Kontinent  zum  Vorteil  werden  konnte. 

Auch  Frankreich,  das  alte  wenigstens,  verkleinert  Rubens.  Erst  das  neue  vollbringt 
die  Wiedergeburt  und  gebiert  einen  Menschen,  den  einzigen,  der  die  Fußtapfen  des 
Riesen  füllt.  Das  alte  spielt  mit  Rubens.  Wo  wäre  in  einem  Land,  das  aus  einem 
straff  gezügelten  Hof  bestand,  wo  es  kaum  einem  Puget  gelang,  einen  Funken  vom 
Geiste  Michelangelos  anzubringen,  der  Platz  für  rübenshafte  Natur?  Was  das  sieb» 
zehnte  Jahrhundert  Frankreichs  von  der  Größe  Italiens  brauchen  konnte,  gelangte 
auf  jenem  anderen,  später  gebahnten  Wege,  den  der  ungestüme  Flame  nicht  ahnte, 
mühsam  genug  nach  Paris. 

Das  Dixhuitieme  zieht  aus  ihm  die  süßesten  Töne  und  verwandelt  den  brünstigen 
Liebesrausch  in  zärtlich  gefaßte  Reime.  Rubens  sieht  zwischen  dem  leichten  Volk 
wie  der  Riese  aus,  auf  dessen  Daumen  eine  Legion  von  Däumlingen  herumkrabbelt. 
Watteau  machte  aus  Rubens  wunderbar  ziselierte  Bijouterie  und  verwandte  Perlen 
und  echte  Steine  dazu,  die  in  Venedig  gebrochen  schienen.  In  Potsdam  labte  sich 
Friedlich  der  Große  an  ihrem  Feuer  und  baute  sein  Sanssouci,  wie  eine  Fassung  um 
Juwelen,  um  den  Geist  solcher  Bilder  herum.  Boucher  löst  aus  Rubens  das  dekora« 
tive  Element  der  Epoche.  Er  drängt  das  Persönliche  der  Malerei  noch  einmal  zu» 
gunsten  des  Hauses  und  des  Gartens  zurück  und  schafft  eine  reich  gegliederte,  rein 
malerische  Baukunst,  die,  obwohl  Klassenkunst  feudalster  Art,  obwohl  nur  unter 
einem  vorurteilslosen  Luxusregime  denkbar,  uns  Heutigen  die  Dämmung  lohnt.  Da» 
mals  sah  es  anders  aus.  Mit  Fragonards  letztem  Pinselstrich  scheint  Rubens'  letzter 
Rest  verflüchtigt.  Ist  sonst  noch  etwas  übrig?  Das  Blut,  das  Tizian  in  den  Adern 
stockte,  ist  dünn  wie  Wasser  geworden.  Die  Kunst  hat  sich  zu  eng  mit  der  herr» 
sehenden  Kaste  eingelassen  und  droht  unter  der  Guillotine  zu  verschwinden. 


iiiniiMiiiiiiiiiiiiiiiiaiiiiiiiiiiiiiiiiiiNiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiniiiHiiiinniiinniiiinw 

64  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

Wahrscheinlich  trug  die  andere,  ein  paar  Jahrzehnte  nach  Rubens' Einzug  inVene« 
dig  begonnene  Verbindung  zwischen  Frankreich  und  ItaHen  zu  dieser  Entwick« 
lung  bei,  ob.wohl  der  Weise,  der  diesen  Pfad  einer  Kultur  zur  anderen  bahnte, 
von  edelstem  Humanismus  erfüllt  war.  Vielleicht  hätte  der  Verfasser  diesen  spä^ 
teren  Weg  vor  Rubens  nennen  müssen,  um  zu  vermeiden,  daß  der  Trubel  um  den 
Triumphzug  des  Flamen  den  Weg  eines  leiseren  Genius  den  Blicken  des  Lesers 
entzieht. 

Es  war  in  dem  Jahre,  als  Rubens  seine  anbetenden  bunten  Könige  malte,  zehn  Jahre 
nach  dem  Tode  Grecos,  ein  Menschenalter  nach  Tizians  Tode,  als  Poussin  in  Rom 
erschien.  Das  Datum  zählt  in  der  Geschichte  Frankreichs;  vielleicht  noch  mehr  für 
die  Kultur  Frankreichs  als  für  seine  Malerei.  Poussin  bewies  die  Rassenbeziehung 
seines  Volkes  zu  der  Antike,  die  uns  schon  so  manches  kleine  und  große  Schnitz» 
werk  wie  ein  Zufall  verrät,  die  wir  versteckt  in  manchen  Bildern  französischer  Primi» 
tiven  und  später  in  der  Art,  wie  man  die  Renaissance  verstand,  wie  man  in  der  Ma» 
lerei  unter  Primaticcio  Lionardo  begriff,  und  noch  bei  mancher  anderen  Gelegenheit 
zu  finden  glauben.  Alle  diese  Beziehungen  kommen  uns  auf  Umwegen  zum  Bewußt» 
sein,  verbunden  mit  anderen,  zuweilen  entgegengesetzten  Tendenzen.  Oft  nimmt 
man  Reflexe  italienischer  Kunst  für  antike  Reste. 

Diese  Verwechselung  und  Vermengung  schließt  sich  bei  Poussin  aus.  Wie  Greco 
und  Rubens,  die  Zugewanderten,  dem  Geheimnis,  dessen  Schale  die  Venezianer 
formten,  näher  als  die  Venezianer  kamen,  so  war  Poussin,  der  Fremdling,  der  Antike 
näher  als  irgendein  Italiener  irgendeiner  Zeit.  Und  dieses  Eindringen  in  den  Kern 
einer  Welt,  die  früher  nur  in  den  Formen  der  Renaissance,  später,  zu  seiner  Zeit,  nur 
in  den  Formen  des  Barocks  gedacht  wurde,  ist  ein  nicht  weniger  merkwürdiges  Phä» 
nomen  als  die  Intuition  der  beiden  anderen  Entdecker.  Es  wäre  einfach,  wenn  der 
Sprung  über  Renaissance  und  Barock  eine  Umkehr  bedeutete,  z.  B.  einen  Archaismus 
von  der  Art  Dürers;  wenn  uns  das  Neue  seiner  Art  zu  einem  Standpunkt  nötigte, 
der  realisierte  Fortschritte  als  nicht  vorhanden  ansieht.  Poussin  nimmt  nichts,  er  fügt 
hinzu.  Seine  Rolle  ist  positiv  wie  die  der  Greco  und  Rubens.  Die  Errungenschaft 
der  beiden  anderen  hebt  sich  schärfer  ab.  Dramatisch  wie  sie  selbst,  sind  die  Ge» 
fühle,  die  sie  einflößen,  sind  ihre  Wirkungen.  Sie  werden  glühend  geliebt  und  ge« 
haßt.  Beides  ist  mit  Beschränkungen  verbunden.  Man  kann  sie  nicht  ablehnen,  ohne 
seine  Organe  zu  knebeln,  und  ihre  bedingungslose  Herrschaft  bedeutet  notwendig 
eine  Vereinseitigung  der  Kunst.  Poussins  Weg  bezeichnen  keine  prunkenden  Tro» 
phäen,  aber  auch  keine  Trümmer.  Er  hat  nichts  eingerissen,  nur  gebaut.  Er  hat  einen 
Bau  errichtet,  in  dem  die  Menschheit,  nicht  gedrängt  mit  zum  Himmel  geschleuderten 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinM 


VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT  65 


Armen,  sondern  mit  allen  Empfindungen  Platz  findet.  Solche  weiten  Räume  haben 
keine  üppigen  Fassaden,  aber  geniale  Grundrisse. 

Wie  bei  Greco  und  Rubens  und  ihren  großen  Vorgängern  bildet  das  Menschliche 
des  Eroberers  die  Formen  seiner  Kunst.  Eroberer  ist  ein  falsches  Wort  für  ihn.  Er 
besaß  die  Gelassenheit  der  Alten,  die  das  Schöne  ohne  Anstrengung,  ohne  Über» 
treibung  mehr  äußerten  als  produzierten,  frei  von  jenem  tragischen  Unterschied 
zwischen  der  Last  der  Wirklichkeit  und  dem  Ideal,  das  Michelangelo  nicht  erlaubte, 
einen  Gott  der  Milde  zu  schaffen,  und  frei  von  dem  beweglichen  Betätigungstrieb, 
der  Raffael  an  das  Objekt  kettete.  Das  grobe  Wort  Poussins,  Raffael  sei  ein  Esel 
neben  der  Antike,  bezeichnet  die  Kluft,  die  er  selbt  überwand.  Es  gibt  Landschaften 
von  ihm,  die  aus  Erde  und  Himmel  bestehen,  simple  Niederschriften  nach  der  Na» 
tur—  eine  von  ihnen  spielt  in  der  Geschichte  der  englischen  Kunst,  die  zu  Constabie 
führt,  eine  Rolle  —  die  uns  wie  der  reinste  Ausdruck  jenes  Geistes  erscheinen,  der 
die  Welt  mit  Göttern  und  Nymphen  bevölkerte. 

Natürlich  nur  ein  Schein.  Wäre  Poussin  wirklich  von  der  Art  der  Alten,  so  träfe 
ihn  eben  das  Los,  das  so  vielen  anderen,  die  sich  seines  Geistes  glaubten,  zum  Ver« 
derben  geworden  ist:  das  Anormale  des  Anachronismus  stieße  uns  ab.  Nichts  aber 
bezwingt  uns  stärker  in  seiner  Kunst  als  gerade  die  ganz  natürliche  Norm  seiner 
Anschauung.  Die  Quellen  dieser  Norm  sind  nicht  so  deutlich  wie  die  Quellen  eines 
Rubens  oder  Greco.  Wir  irren,  wenn  wir  sie  in  der  Antike  suchen,  der  er,  nicht 
mehr  oder  weniger  als  andere,  gern  seine  Motive  entnimmt.  Das  Antike  ist  das  Ziel, 
die  Qualität  Poussins,  nicht  sein  Ursprung.  Er  ahmt  es  weniger  nach  als  es  z.  B.  Raf« 
fael  mit  seinen  Fresken  versuchte.  Er  überträgt  die  Antike.  Seine  Quellen  liegen 
so  gut  in  Venedig  wie  die  der  Rubens  und  Greco,  sind  eine  weitere  Folge  der  von 
Giorgione  begonnenen  Entwicklung,  aber  behalten  gewisse  Werte  des  Ahnen,  die 
auf  dem  Wege  zu  Tintoretto  verloren  gingen,  und  fügen  unzählige  andere  hinzu. 
Dem  Dramatischen  der  Richtung  bleibt  Poussin  fern.  Eher  nähert  er  sich  Vero« 
nese,  der  die  Farben  der  Schule  klärte.  Mit  dieser  rationellen  Palette  tritt  er  vor 
Tizian.  Was  alle  anderen  vergaßen,  das  Stabile  der  Gestalten  des  Meisters,  wird 
ihm  höchstes  Gesetz.  Er  erhöht  das  Stabile  wie  Greco  das  Bewegte  und  erringt  auf 
diesem  Wege  einen  vollkommenen  Ausgleich  zwischen  Linie  und  Farbe,  zwischen 
Körper  und  Raum,  zwischen  Bewegung  und  Fülle,  der  uns  klassisch  erscheint.  Die  ' 
reichere,  mit  allen  Besitztümern  der  neuen  Ära  ausgestattete  Form  deckt  so  natür« 
lieh  den  Inhalt  wie  die  Einfachheit  der  Alten  den  ihren.  Man  vergißt  hier  wie  dort 
alles  Hemmende,  alles  Fördernde  der  Persör^lichkeit.  Der  Beobachter  fühlt  sich 
nicht  zerrissen,  nicht  vom  Sturm  gepackt,  das  Schöne  beugt  ihn  nicht,  noch  reckt 

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66  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

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es  ihn  in  die  Lüfte.  Er  schreitet  gelassen  in  einer  von  offenen  Säulengängen  be< 
grenzten  Natur  und  fühlt  sich  eins  mit  ihr.  Dieses  Gefühl  gewährt  uns  das  Klassi» 
sehe.  Nicht  das  Griechische  oder  Römische,  sondern  das  Klassische  verbindet 
Poussin  mit  der  Antike. 

Poussin  blickt  Rom  mit  der  Wärme  Tizians  an.  Um  den  Marmor  wallt  weiche  Atmo» 
Sphäre.  Er  blickt  Tizian  mit  dem  reinen  Instinkt  an,  der  sich  an  den  edelsten  Schöp» 
fungen  der  Alten  geläutert.  Seine  Rolle  ist  vergeistigend.  Deshalb  gehört  er  eher  zu 
Greco  als  zu  dem  blonden  Germanen.  Aber  auch  Greco  wird  rubenshaft  neben 
Poussin,  und  man  empfindet  das  Griechentum  des  Griechen  fast  wie  eine  noch  un« 
vergorene  Natur  jenseits  der  Antike.  Poussin  ist  stiller,  stiller  als  alle,  die  sich  dem 
geweihten  Boden  nahten,  und  "wenn  etwas  in  seiner  Kunst  die  Kühnheit  Grecos,  die 
Macht  Tizians  und  den  Reichtum  eines  Rubens  bezwingt,  ist  es  diese  olympische 
Stille. 

Auch  er  ist  ein  Vermittler,  ein  Einiger,  eine  Synthese,  und  eint,  vermittelt  wie  ein 
Weiser,  aus  dessen  Lächeln  streitende  Parteien  Urteile  ablesen.  Das  Atom  von  Pro« 
letariertum,  das  einem  Bildnis  Tizians  neben  einem  Bildnis  RafFaels  anhaftet,  über 
das  wir  mit  allen  Hymnen  auf  das  Malerische  nicht  ganz  hinwegkommen,  hat  Poussin 
entfernt,  ohne  die  Malerei  zu  entfernen.  Ein  Schleier  fällt  auf  die  Bacchanalien  und 
verhüllt  die  glühende  Lust.  Aber  diese  Hülle  ist  kein  Schmälern  oder  Vermummen, 
kein  Verzicht,  ist  Überwindung,  ist  reine  Malerei,  ein  reinerer  Begriflf  des  Male« 
rischen,  reinere  Form  als  das  Frühere.  Die  Hülle  hat  die  zauberhafte  Eigenschaft, 
den  Geist  der  Dinge,  die  sie  deckt,  leuchtend  zu  machen.  Das  Irreale  ihres  Gewebes 
schwächt  nur  das  niederen  Organen  leicht  Zugängliche,  veredelt  den  Rhythmus. 
Reiner  mengen  sich  die  Elemente  des  Bildes.  Die  Farbe  schwingt  in  tiefen,  aller 
grellen  Dissonanz  ledigen  Akkorden,  und  die  Tiefe  ist  durchsichtig.  Die  Hülle  ist 
Licht. 

Das  Helle  der  französischen  Kunst,  das  in  unserer  Zeit  das  Sehnen  der  Revolution 
näre  gegen  die  Meister  der  Finsternis  wappnete,  das  Helle  gallischer  Logik, gallischer 
Dichtung,  gallischer  Philosophie  war  Poussins  Genie.  Es  gibt  Kunstfreunde,  die  seine 
Bilder  für  prächtiger  halten  als  die  eines  Tizian  und  in  seinem  „Triumph  der  Flora", 
den  die  Dämmerung  beschattet,  eine  höhere  Koloristik  finden  als  in  der  „Assunta". 
Es  sind  Leute,  denen  das  Licht  lieber  ist  als  das  Ding,  das  es  beleuchtet. 


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VON  TIZIAN  ZU  REMBRANDT 


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Damit  uns  ein  Sinnbild  unserer  eigenen  Art  werde  und  der  Malerei  das  höchste 
für  die  ihre,  fügte  die  Zeit  einen  Rembrandt  hinzu. 

Wo  kommt  er  her? 

So  mag  sich  der  Römer  gefragt  haben,  der  Christus  erlebte,  den  Mann,  der  im  Bett* 
lergewand  von  seinem  himmlischen  Vater  erzählte  und  die  Armen  und  Bedrückten 
zu  sich  rief.  Nicht  näher  als  dieser  Gott  dem  Jupiter  und  Apoll,  für  die  der  Marmor 
gerade  gut  genug  war,  ist  Rembrandt  den  anderen  Göttern. 

Man  weiß,  wo  die  anderen  herkommen,  und  es  hilft  ihnen,  daß  wir  es  wissen.  Die 
hohe  Abstammung  schmückt  sie  wie  lange  Hände  und  hohe  Stirnen  den  Aristo* 
kraten.  Sie  sind  alle  Aristokraten,  auch  der  blonde  Germane,  der  so  gut  zum  Gesand* 
ten  taugte,  für  Schlösser  malte  und  selbst  in  einem  Schlosse  residierte.  Und  sind  alle 
Fürsten,  auch  der  Grieche,  ein  von  Dionysos  entzündeter  Asket.  Noch  wenn  sie  sich 
kasteien,  fühlen  wir  den  Rausch  und  werden  mitberauscht. 

Solange  die  Malerei  noch  irgendwie  mit  dem  Boden  der  Heiden  zusammenhing, 
bestand  Aussicht,  sie  eines  Tages  wieder  in  den  Tempel  zu  bringen,  in  der  sie  eine 
Kunst  unter  anderen  war.  Dieses  ganze,  höchst  rationelle  Ideal,  das  vom  Bau  aus« 
ging  und  Malerei  und  Plastik  von  einem  sichtbaren  Zentrum  aus  regierte,  war  nach 
außen  gerichtet,  sinnlich,  heidnisch.  Man  spürt  in  Poussin  die  Möglichkeit  eines 
solchen  Anschlusses  wie  ein  Ziel  seiner  Gesittung,  spürt  sie  in  den  Venezianern,  in 
Rubens,  selbst  in  Greco;  wenn  in  nichts  anderem,  so  in  der  Schönheit  ihrer  Farben« 
harmonien,  die  immer  noch  wie  ein  ganz  fernes  Echo  an  die  orientalische  Pracht  der 
Mosaiken  erinnern.  Wenn  dieser  Steinschmuck  der  erste  Akt  unserer  Malerei  war, 
der  Übergang  von  dem  Mosaik  zum  Fresco  der  zweite,  die  Verwandlung  des  Fresco 
in  das  Tafelbild  der  dritte,  so  bedeutet  Rembrandt  den  vierten  und  letzten  Akt.  Er 
erst  zerschneidet  ganz  das  gelockerte  Band  zwischen  dem  Bild  und  der  Kunst  der 
Alten  und  vollzieht  den  letzten  Schritt  der  geistigen  Emanzipation  des  Künstlers. 
Natürlich  gebührt  ihm,  streng  genommen,  nicht  allein  die  Verantwortung  und  das 
Verdienst.  Er  besitzt  als  Mitgift  der  Rasse  die  Möglichkeiten  unserer  Primitiven, 
die  schon  in  der  Formulierung  van  Eycks  das  nordische  Ideal  als  schärfsten  Gegen« 
satz  zu  allem  Heidnischen  hinstellen.  Aber  diese  Hilfe  hätte  auch  Rubens  haben 
können,  der  die  glorreichste  Veräußerlichung  der  Kunst  vollbrachte,  und  sie  stand 
ebensogut  dem  leichtblütigen  Franz  Hals  zur  Seite,  der  ursprünglich  nichts  von  ihr 
nahm  und  erst  im  Alter,  als  bereits  die  Welt  Rembrandts  geöffnet  dalag,  einer  mehr 
oder  weniger  verwandten  Vergeistigung  zuschritt. 

Diese  Mitgift  lag  wie  ein  unangreifbares  Majorat  in  den  Banden  der  Gotik  und 
war  dem  Barock  kaum  näher  als  uns.  Der  Materialismus  späterer  Zeiten  hatte  dem 


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68        ™        "  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 

lU  U  UU  KU 

Erbgut  nur  die  Erlaubnis  zu  der  bäuerischen  Derbheit  entnommen,  die  in  den 
Märtyrerbildern  der  großen  Primitiven  zur  Exekution  der  Heiligen  verwendet 
wurde  und,  so  kraß  zuweilen  die  Details  sein  mochten,  an  ihrem  Platze  blieb  und 
nie  den  Adel  der  Gesittung  und  Gesinnung  der  Schöpfer  jener  Bilder,  nie  ihre  tiefe 
Beschaulichkeit  in  Frage  stellte.  Dieses  Bäuerische  befreite  sich  von  der  Statisten» 
rolle  und  wurde  zum  Inhalt  einer  nichts  weniger  als  bäuerischen,  vielmehr  recht 
bürgerlichen  Kunst.  Essen  und  trinken,  tanzen,  schreien  und  sich  prügeln  war  die 
gewohnte  Tätigkeit  dieser  verkleideten  Bauern.  Die  Jan  Steen,  Ostade,  Teniers  usw. 
machten  Genrebilder  daraus,  über  die  der  feiste  Amsterdamer  Mynheer  schmunzelte 
und  seine  Damen  angenehm  erröteten.  Louis  XIV.  nannte  sie  mit  Verachtung 
„magots".  Unser  van  de  Velde  hat  in  einer  geistvollen  Studie  gezeigt,  was  diese  ge» 
malten  Bauern,  die  sich  schnell  genug  in  die  hoffähigen  „Bergers"  des  Dix«hui» 
tieme  verwandelten,  wert  waren'). 

So  wandte  sich  also  auch  der  Norden  dem  Äußeren  zu.  Aber  während  die,  dem 
Wort  nach,  ähnliche  Bewegung  in  der  Kunst  Italiens  einen  Fortschritt  brachte, 
während  hier  die  Veräußerlichung  so  viel  hieß,  wie  einen  Schatz  von  vielen  Hüllen 
befreien,  war  sie  im  Norden  Niedergang.  Die  Venezianer  näherten  sich  dem  klassi« 
sehen  Ideal  Italiens,  indem  sie  sich  von  ihren  Primitiven,  einem  halb  barbarischen 
Übergangsprodukt,  entfernten.  Der  Norden  verleugnete  sich  selbst,  als  er  die  Art 
seiner  Primitiven,  der  großen  Entdecker  nordischer  Eigenart,  vergaß.  Für  ihn  hieß 
äußerlich  banal.  Es  fanden  sich  vor  und  nath  Rembrandt. feinsinnige  Menschen, 
die  das  gefälschte  Bauerntum  von  sich  wiesen,  Landschafter,  die  das  Äußere  mit 
Innerlichkeit  suchten  und  wie  van  Gojen  einen  sauberen  Instinkt,  wie  Art  van  der 
Neer  eine  empfundene  Romantik,  wie  Cuyp  einen  Geist  von  klassischer  Lichtheit, 
wie  Vermeer  de  Delft,  ihr  Größter,  eine  kristallene  Gesittung  mitbrachten.  Sie  haben 
mit  allen  ihren  an  Schönheit  und  Natur  gesegneten  Bildern  den  einen  Verlust  nicht 
zu  ersetzen  vermocht. 

Rembrandt  sieht  man  mit  einem  Glasscherben  in  der  Hand,  in  den  er  hinein« 
blickt,  um  sein  Gesicht  zu  studieren.  Ein  halbdunkles  liederliches  Gemach,  zer« 
brochene  Fensterscheiben,  geborstene  Möbel.  Auf  einem  Kasten  zwischen  Farben 
und  zerkauten  Pinseln  liegt  wie  ein  gestohlenes  Gut,  ein  Kranz  von  Perlen.  Den 
versteckt  er,  sobald  einer  hereinkommt.  Er  kann  stundenlang  so  sitzen  und  starren, 
ohne  eine  Miene  zu  verziehen.  Judengöhren  gröhlen  vor  den  Fenstern.  Die  Leute 
zeigen  ihn  sich  wie  eine  Sehenswürdigkeit  des  Viertels.  Er  sitzt  und  starrt  in  den 
Scherben.  Dann  geht  er  an  die  Staffelei  in  der  Ecke  und  malt  eine  Heiligenlegende. 

')  Du  Paysan  en  Peinture  (Edition  de  l'Avenir  social,  Brüssel  s.  d.). 


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VON  TIZIAN  zu  REMBRANDT  69 


Doch  ist  der  Scherben  in  seiner  Hand  noch  zu  viel  schmückende  Realität,  um 
seine  Außenwelt  zu  bezeichnen,  und  die  Perlen  sind  längst  gepfändet.  Es  ist  nichts 
draußen  außer  einem  plumpen  Gesellen,  der  gleißende  Dinge  liebt  und  mit  der 
Welt  nicht  fertig  wird,  unglaublich  borniert  vor  allen  Notwendigkeiten  des  Le* 
bens;  ein  Ungeschickter,  der  die  Leute  abschreckt,  wenn  er  lacht,  ebenso  unfähig, 
angenehme  Farben  zu  mischen  wie  eine  Komposition  auf  modische  Weise  zu  ord* 
nen;  ein  Gezeichneter,  der  nie  die  elastische  Fülle  einer  Frauenbrust,  die  kühle 
Schlankheit  eines  Körpers  spürte,  der  seine  Leute  anziehen  muß,  um  sie  erträglich 
zu  machen;  ein  Aufrichtiger  aus  Plumpheit,  zu  ungelehrt,  um  zu  lügen,  gleich  kin« 
disch  und  lächerlich,  sobald  er  es  versucht;  ein  dumpfer  Geknechteter,  schwer  keu« 
chend  bei  der  Arbeit,  ein  Lastträger. 

Nie  naht  diesem  Dunkel  der  göttliche  Reigen  der  Grazien.  Eher  vermöchte  die 
schwielige  Faust  das  Florett  des  Fechters  zu  führen.  Nie  wäre  das  schwere  Haupt 
dessen  Abbild  als  starrer  Lappen  an  dem  rostigen  Nagel  hängt,  fähig,  (noch  käme 
ihm  je  das  Bedürfnis)  für  die  bescheidene  Wand  den  bescheidensten  Schmuck  zu 
ersinnen. 

Es  ist  möglich,  daß  man  nicht  bei  ihm  vorbeikommt;  das  Haus  liegt  abseits,  das 
Judenviertel  lockt  nicht;  oder  daß  man  nur  als  Reisender  vorbeikommt,  dem  die 
Sehenswürdigkeit  gezeigt  wird.  Es  genügt  nicht,  vorbeizukommen  und  stehen  zu 
bleiben.  Man  muß  sich  bücken,  tief  bücken  und  eintreten.  Auch  das  genügt  noch 
nicht.  Nun  heißt  es  warten,  bis  er  zu  uns  spricht.  Das  kann  lange  dauern.  Dann 
muß  man  zuhören  mit  Geduld,  nicht  ohne  Anstrengung.  Es  ist  ein  dumpfes  Mur« 
mein,  das  der  schwere  Atem  des  Redners  nicht  eben  verständlicher  macht.  So  viel 
hört  man,  er  redet  nicht  von  Farben,  noch  von  Linien,  noch  vom  Licht,  er  redet  nur 
vom  Gesicht.  Man  weiß  nicht,  welches  er  meint,  das  da  in  den  Scherben  oder  ein 
anderes.  Seine  Sprache  ist  dunkel  wie  das  Zimmer.  Das  Ungebundene,  Gebärden» 
lose  der  rauhen  Worte  ist  reimgewohnten  Ohren  eine  Qual.  Doch  wenn  man  erst 
Worte  vernimmt,  wird  einen  nichts  mehr  von  der  Stelle  bringen.  Nie  hörte  man  der« 
gleichen.  Man  steht  wie  angewurzelt,  vielleicht  ein  wenig  blöde,  weil  den  Sinnen 
Funktionen  zugemutet  werden,  auf  die  man  nicht  gefaßt  ist.  Die  Sinne  scheinen 
nur  zur  Vermittlung  da,  um  das  Aufzunehmende  direkt  in  die  Seele  zu  leiten,  als 
wenn  es  gar  nichts  Sinnliches  wäre.  Es  ist,  als  würde  durch  Augen  zu  uns  geredet 
Sein  Gesicht,  das  in  dem  Scherben  und  ein  anderes  zugleich,  beginnt  zu  strahlen. 
Die  Rede  schwillt  an.  Noch  immer  hört  man  den  keuchenden  Atem.  Regelmäßig 
wie  das  Heben  und  Senken  eines  ungeheuren  Gebläses,  das  von  rußigen  Armen 
reckenhafter  Schmiede  bewegt  wird,  kommen  die  Intervalle.  Etwas  in  uns  möchte 


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70 


ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


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in  gleichem  Schlage  mit.  "Wir  rücken  ihm  nahe.  Jetzt  sind  es  die  Intervalle  eines 
Sturms.  Da  hebt  er,  halb  zufällig,  die  plumpen  Arme.  Es  ist  die  erste  Gebärde, 
die  wir  an  ihm  sehen.  So  stand  der  blinde  Homer,  so  stand  Moses,  so  redete  Chris* 
tus.  Wir  sinken  ihm  zu  Füßen. 

Es  ist  unsicher,  ob  diese  Kunst  von  gleicher  Art  wie  die  der  anderen  ist.  Geist, 
Farbe,  Form  haben  andere  Rollen  als  sonst,  und  der  Rhythmus  geht  mit  Blasebälgen 
vor  sich.  Aber  sicher  ist  sie  der  zwingendste  Ausdruck,  den  je  die  Kunst  gefunden 
hat.  "Wir  vergessen,  was  sie  dem  Tempel  jener  göttlichen  Einheit  nahm,  die  in  der 
Antike  zusammenhielt,  um  die  Michelangelo  kämpfte.  Schließlich  sind  alle  Tempel 
immer  nur  der  Menschen  wegen  da,  und  hier  ist  das  Menschliche  selbst  zum  Tempel 
Gottes  geworden.  Dome  und  Paläste  mußten  stürzen,  um  einem  Rembrandt  zu  er< 
lauben,  in  einer  Straße  des  Judenviertels  von  Amsterdam  den  Blick  in  die  Ewigkeit 
zu  richten.  Dome  und  Paläste  sind  in  seinen  Bildern,  und  mehr  als  alles  das :  wir 
selbst  mit  unserem  Scherben  in  der  Hand  und  leuchtenden  Dingen  im  Herzen. 


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DAS  DIX=:HUITI£ME 

Bis  zur  französischen  Revolution  ist  von  einer  Entwicklung  der  Malerei  die  Rede, 
die  wir  sprunghaft.launenhaft  nennen  können, aber  deren  beständiger  Fortgang 
nicht  zu  leugnen  ist.  Nehmen  wir  genügenden  Abstand,  so  werden  die  Launen  und 
Sprünge  zu  den  Dispositionen  einer  ergreifend  weisen  Ökonomie, die  sich  der  Fähig« 
keiten  aller  Rassen  zu  bedienen  weiß,  um  dem  Gegenstand  ihrer  Fürsorge  alle  Mög* 
lichkeiten  zu  öffnen. 

Es  ist  keineswegs  eine  fortschreitende  Erhöhung  der  Werte,  die  im  sechzehnten 
und  siebzehnten  Jahrhundert  mit  der  Malerei  verbunden  waren.  Die  Manifestation 
der  Persönlichkeit  in  der  Heroenreihe  von  Michelangelo  bis  Rembrandt  war  nicht 
zu  überbieten.  Verstehen  wir  unter  Blüte  der  Malerei  die  Blüte  der  Persönlich» 
keit,  die  sich  des  Pinsels  bedient,  so  ist  das  siebzehnte  Jahrhundert  der  Gipfel 
eines  gewaltigen  Berges,  und  das  ganze  achtzehnte  eine  kahle  Ebene.  Erleuchtete 
Entdecker,  kühne  Eroberer  errichten  den  Berg.  Alle  sind  Idealisten,  die  sich  der 
Verantwortung  ihres  Tuns  bewußt  sind.  Sie  setzen  nicht  die  Epidermis,  Eitelkeit. 
Geschicklichkeit  für  die  Sache  ein,  sondern  ihre  ganze  Persönlichkeit,  sind  Fürsten, 
voll  Liebe  zu  ihrem  Lande,  vorsorglich  und  weise,  wahre  Landesväter.  Und  noch 
erlaubt  die  Zeit  ihr  Patriarchentum,  noch  haben  sie  Vertrauen  genug  zu  ihren  Unter» 
tanen,  um  das  Höchste  zu  wagen.  Das  achtzehnte  Jahrhundert  sagt  mehr  oder  weni» 
ger  offen:  Nach  uns  die  Sündflut.  Der  Mensch  schrumpft  zusammen.  Dem  Venedig 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  ist  die  gedrungene  Macht  eines  Tizian  unerreichbar, 
dem  Dix^huitieme  die  gebietende  Würde  Poussins.  Von  den  Engländern  ist  nur 
Hogarth,  der  gerade  noch  im  siebzehnten  Jahrhundert  zur  Welt  kam,  ein  Mensch 
von  der  großen  Art.  Die  Porträts  der  Gainsborough,  Reynolds,  Romney  usw.  sehen 
neben  ihren  Vorbildern  wie  Modepuppen  aus.  Und  Goya  scheint  den  Ekstasen  des 
großen  Griechen,  der  in  Toledo  eine  Kolonie  seines  Geistes  schuf,  nur  die  Erlaub» 
nis  entnommen  zu  haben,  den  Typus  genialischer  Zügellosigkeit,  eine  Karikatur  auf 


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72  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


das  Genie,  zu  bilden.  Dem  Menschen  in  der  Kunst  ist  das  achtzehnte  Jahrhundert, 
das  uns  eine  Literatur  und  eine  Musik  schenkte,  zum  Gift  geworden. 

Nicht  der  Kunst  als  solcher.  Es  bleibt  mindestens  eine  Entwicklung  der  Materie. 
Nicht  nur  Hogarth  und  Watteau,  auch  Guardi  und  seine  Genossen  beherrschen 
den  Pinsel  mit  einer  Meisterschaft,  die  die  gewaltigen  Quadern,  mit  denen  die  großen 
Venezianer  bauten,  zu  kostbaren  Kristallen  spitzt.  Auch  Goya  war  nicht  nur  der 
hemmungslose  Zerstörer  oder  Verbilliger,  der  seine  Zeit  zwischen  einem  wüsten  Re» 
volutionär  und  einem  verkappten  Akademiker  teilte.  Seine  zerrissene  Vielseitigkeit 
ließ  einen  Dritten  zu,  den  gewaltigen  Bildner  einer  Materie,  die  nicht  die  Schönheit 
der  Lasuren  Grecos  besaß,  aber  robuster  und,  wenn  man  so  sagen  darf,  haltbarer  als 
der  Anstrich  eines  Velasquez  war. 

So  war  es  in  allen  Ländern,  die  früher  beteiligt  gewesen  waren.  Man  behielt  die 
Materie  der  Malerei  und  mit  ihr  viel  Möglichkeiten,  die,  so  scheint  es,  nur  eines 
starken  "Willens  bedurften,  um  erfüllt  zu  werden.  Man  könnte  sich  vorstellen,  Tie« 
polo  habe  sich  damit  begnügt,  dem  Genie  das  Bett  bereit  zu  halten,  und  sich  inzwi» 
sehen,  bis  es  kam,  damit  vergnügt,  das  Haus  zu  schmücken. 

Aber  diese  Vorstellung  wäre  ungerecht  nach  allen  Seiten.  Geschicklichkeit  und 
Geschmack  sind  dem  Genie  keine  Lockungen.  Und  das  achtzehnte  Jahrhundert  er» 
wartete  alles  andere  als  das  Genie,  behielt  dafür  in  seinen  geputzten  Alkoven  kei« 
nen  Platz  und  hatte  Besseres  zu  tun,  als  vergeblich  zu  warten.  Die  Ehrfurcht  vor 
den  Königen  unserer  Malerei  macht  uns  leicht  unbillig  gegen  ihre  Barone.  In  der 
Kunst  vermag  keine  Materie  ohne  Geist  ihr  Leben  zu  fristen.  Das  achtzehnte  Jahr« 
hundert  war  nicht  nur  Geschmack  und  Geschicklichkeit;  es  hatte  fast  zu  viel  Geist. 
Man  könnte  ihm  nachsagen,  es  sei  an  dem  Überfluß  an  Esprit  zugrunde  gegangen. 
Freilich  entwickelt  sich  der  Geist  der  Maler  nicht  in  der  großartigen  Richtung  der 
Persönlichkeit  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  der  das  Pathos  natürlich  war.  Nie» 
mand  glaubte  in  der  aufgeklärten  Zeit  an  pathetische  Dinge.  Diese  Skepsis  re» 
duzierte  den  Umfang  des  Schöpferischen,  aber  hob  es  keineswegs  auf.  Sie  drängte 
den  Künstler  zu  einer  Verfeinerung  des  Betrachtens,  deren  Resultat  auch  seinen 
Preis  besaß.  Der  Pinsel  war  den  letzten  Venezianern  nicht  das  Werkzeug  eines  gro» 
ßen  Herzens,  aber  eines  glänzenden  Auges.  Man  machte  aus  der  Malerei  ein  inge« 
niöses  Fernrohr,  das  die  Dinge,  ähnlich  wie  die  Sprache,  die  man  damals  Hebte, 
gleichzeitig  nahe  brachte  und  fem  hielt.  Guardi  richtete  es  auf  den  Markusplatz, 
die  Lagunen  und  das  Volkstreiben.  Seine  Ahnen  hätten  das  Spielzeug  mit  Verach» 
tung  von  sich  gewiesen,  doch  fand  es  für  die  Zeit  den  rechten  Maßstab.  Schheßlich 
waren  die  Guardi,  Canaletto  und  Longhi  so  gut  legitime  Kinder  Venedigs  wie  die 


II 


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DAS  DIX^HUITIfeME 73 

Tizian  und  Veronese.  Nicht  ihre  "VTiIlkür,  sondern  das  Tempo  der  Zeit  trieb  sie  zu 
der  Verkleinerung  der  Dinge,  die  sie  im  Fluge  erfaßten.  Die  Dinge  waren  eitel  Staub 
und  Dunst,  an  den  Großen  des  siebzehnten  Jahrhunderts  gemessen.  Neben  den 
Kleineren,  die  auch  Augen  gehabt  hatten,  neben  einem  Vermeer  und  van  Gojen, 
gewannen  sie  Bedeutung.  Einer  späteren  Zeit,  die  auch  flinke  Tempis  brauchte« 
wurden  sie  nützlich. 

So  ein  Glas,  das  das  Große  verkleinerte,  aber  das  Kleine  groß  machte,  stellte 
"Watteau  auf  seine  Zeit.  Man  blickte  in  die  Bosketts  von  Versailles  und  in  die  Bou» 
doirs  von  Paris,  fand  überall  Variationen  desselben  Getändels,  aber  entdeckte  dabei 
der  Malerei  Zusammenhänge,  die  früher  entgangen  waren;  Zusammenhänge  zwi» 
sehen  dem  Schatten  der  Bäume  und  den  Spitzenröcken  der  Schönen,  zwischen  den, 
von  angenehmem  Zeitvertreib  verknüllten  Kissen  und  dem  rosigen  Fleisch,  das  sich 
darin  wohl  sein  ließ.  Wie  sich  auf  den  Stichen  der  St.  Aubin  die  Vorhänge  und  das 
Dekor  kräuselten,  so  kräuselten  sich  die  Locken  der  Perücken,  die  Züge  der  Ge* 
sichter,  die  Falten  des  Brokats  und  die  Empfindungen.  Wieder  dekoriert  der  Maler. 
Die  Form,  die  der  spielerischen  Empfindung  ohne  alle  Hemmungen  entfließt,  win» 
det  sich  von  selbst  zu  Supraporten  und  Panneaux,  die  der  aus  demselben  Geist  ge» 
borene  Holzrahmen  geschmeidig  umschließt.  Auf  manchen  Blättern  von  Moreau 
le  Jeune  scheint  die  Luft  von  Mikrokosmen  geschwängert,  deren  Winzigkeit  immer 
noch  von  dem  Rokoko  der  Gebärden  geformt  wird. 

So  intensiv  wie  dieser  Stil  im  Kleinen  war,  ist  nie  einer  der  großen  gewesen. 
Vielleicht  war  die  Widerstandslosigkeit  der  Menschen  daran  schuld.  Fragonard  er» 
scheint  wie  ein  Schwimmer,  der  sich  dem  lauen  Wasser  überläßt  und  seine  Glieder 
nur  dazu  braucht,  mit  dem  Strome  zu  treiben.  Doch  war  der  Schein  nicht  unbeab» 
sichtigt,  und  in  der  Lässigkeit,  die  trotz  ihres  geringen  sichtbaren  Kraftaufwands  das 
Spiel  mit  Hals  und  Rubens  würzte,  versteckt  sich  eine  nicht  gewöhnliche  Haltung. 
Man  erklärt  mit  der  ominösen  Lüsternheit  der  Schule  nicht  alle  ihre  Reize,  wenn 
man  nicht  überhaupt  alles  seit  den  Venezianern  damit  erklären  will,  und  darf  mit 
dem  Leichtsinn  der  Motive  nicht  den  leichten  Sinn  verwechseln,  der  sie  verzaubert. 
Der  leichte  Sinn  konnte  auch  anders.  In  adretten  Küchen,  wo  die  Pourvoyeuse 
ihren  Marktsack  leert  oder  die  Ratisseuse  ihre  Rüben  schält,  in  lauschigen  Zim» 
mern,  wo  das  Benedicite  von  Kinderlippen  gesprochen  wird  und  die  Mire  la» 
borieuse  bei  der  Arbeit  sitzt,  wo  sich  die  Amüsements  delavieprivee  mit  Bü» 
cherlesen,  Strickzeug  und  Häkeln  erschöpfen,  in  diesen  Interieurs,  fem  von  den  vor» 
nehmen  Faubourgs,  erhitzt  keine  Unkeuschheit  die  Anmut.  Und  auch  hier  prickelt 
die  Farbe.  Das  bis  oben  eng  geschlossene  Kleid  der  Bürgerin  schimmert  in  selten« 


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74  ENTSTEHUNG  DES  MALERISCHEN 


luiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiN iiiiiiiijiiiiiiniiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiNiiiMmiiiumauiuimiiiiiNiiimuiiuiiiiiiuuiiiiuiiiuiiitiiJiiiiiniiiiiiiiiihiniJiiiiiNMiuiiuiiNiiiiiiiiwiiiiiiiijiii^ 


sten  Harmonien,  und  das  schmale  Stückchen  Fleisch  sammelt  alle  Reize,  die  die 
anderen  verschwenden.  Es  bleibt  Kleinkunst.  Was  Aved  vonChardin  sagte,  größere 
Dimensionen  seien  nicht  seine  Sache,  gilt  vori  der  ganzen  Schule  und  in  jeder  Hin« 
sieht.  Die  Dekoration  verschlang  sie,  sobald  sie  sich  zu  natürlicher  Leibesfülle 
ausdehnen  wollten,  und  machte  aus  ihnen  im  Handumdrehen  die  Genossen  der 
Cressent,  Riesener,  Oeben  und  der  anderen  glorreichen  Ebenisten  und  Tapezierer. 
Boucher,  der  für  die  Dekoration  geboren  war,  hat  nie  vermocht,  die  Reize  seiner 
O'Murphy  oder  das  Prickelnde  seiner  Pompadour»Bildnisse  zu  vergrößern.  Frago« 
nards  Panneaux  für  die  du  Barry,  die  Pierpont  Morgan  für  ein  Vermögen  erwarb, 
sehen  wie  dünn  gezogene  Rubens  aus  und  sind  nur  noch  Tapeten.  Aveds  Wort  gilt 
selbst  für  den  größten  Meister  der  Schule.  Der  Tanz,  den  Friedrich  IL  besaß,  ist 
als  Format  und  Inhalt  das  Maximum  Watteaus.  Die  Leere  um  die  winzige  Blondine 
in  dem  silberigen  Kleid  wird  gerade  noch  von  dem  Tanz  des  Malers  gefüllt.  Das 
Embarquement  ist  schon  ein  wenig  dünn,  die  Enseigne  schon  ein  wenig  zu 
seiden,  und-der  Gilles  nähert  sich  unmerklich  der  Art  des  Blue  Boy,  mit  dem 
Gainsborough  den  gar  zu  offiziellen  Teil  seiner  Welt  illustrierte. 

Nuancen  entscheiden  in  dieser  Kunst,  das  ist  der  Vorteil  ihrer  Mängel.  Die  Eng» 
länder  machten  Puppen,  und  die  Franzosen  machten  Puppen.  Die  einen  machten 
sie  lebensgroß  und  stellten  sie  wie  richtige  Menschen  hin.  Da  standen  sie  unbeweg» " 
lieh  wie  imposante  Wachsfiguren,  an  denen  alles  echt  ist  außer  der  Hauptsache. 
Die  anderen  machttn  sie  klein  und  verzichteten  von  vornherein  auf  die  Fiktion,  es 
seien  richtige  Menschen  damit  gemeint;  auch  keine  Lords  und  keine  Ladies.  Sie 
nahmen  sie  nicht  ernst,  so  wenig  ernst  wie  möglich,  und  spielten  mit  ihnen.  Alle 
spielen  und  tanzen,  die  Boucher,  Lancret  und  Pater  und  der  tolle  Frago,  der  noch 
die  müden  Flügel  schlug,  als  das  Theater  aus  war.  Jeder  in  seiner  Art,  mehr  oder 
weniger  graziös,  keiner  so  gut  wie  Watteau,  aber  immer  glaubhaft,  weil  sie  für  sich 
selbst  spielen,  zu  ihrer  eigenen  Freude.  Den  Engländern  glaubt  man  nicht  trotz  ihrer 
kompakteren  Pracht,  weil  sie  für  die  anderen,  für  Geld  spielen  und  im  Grunde  gar 
nicht  bei  der  Sache  sind.  Das  Spiel  ist  echt,  echter  als  das  der  Leute,  denen  die  Maler 
verstohlen  zuschauten.  Das  süße  Lächeln  der  Kurtisane  und  Höflinge  barg  Lange* 
weile.  Hinter  der  Schminke  verzerrte  sich  der  Muskel  über  den  Erfolg  der  Gespielin. 
Während  sie  tändelte,  studierte  sie  angstvoll  das  heitere  Antlitz  des  Helden,  der 
den  Abschied  plante,  und  der  süße  Schäfer,  der  mit  gespitzten  Lippen  eine  Novelle 
Lafontaines  rezitierte,  berechnete  im  stillen  das  Konto  seines  Pächters  und  überlegte 
eine  gute  Gelegenheit,  um  den  Fiskus  zu  betrügen.  Das  Spiel  der  Maler  war  echter, 
weil  es  gewollter  Traum  war  und  blieb.  Sie  standen  zum  Heile  ihrer  Seele  abseits. 


«iiiiiiniiiiiliiiiiiiiiiiniiiniiiiniiiiiiiiiiinniiiiiMiiiniiiiniiinii 


DAS  DIX#HUITI£ME  75 


Gersaints  Wort  über  Watteau,  „libertin  d'esprit,  mais  sage  de  mceun"  steht  über 

dieser  ganzen  Kunst,  nicht  nur  über  der  Biographic  der  meisten.  Die  schwache  Brust, 
die  Watteau  von  Kolombine  fernhielt,  traf  deshalb  vielleicht  so  gut  den  zarten  Ton, 
mit  dem  er  sein  Kytherea  besang.  Ein  leiser  Seufzer  ewiger  Erwartung  mischt  sich 
in  den  Tanz.  Der  brave  Caylus  hatte  mehr  Recht  als  er  dachte,  als  er  den  menschen« 
scheuen  Pierrot  „infiniment  maniere"  nannte. 

Das  Dix»huitieme  ist  für  uns  Watteau,  Fragonard  und  Chardin.  Vielleicht  würde 
sich  unsere  Sachlichkeit  und  alle  die  anderen  schönen  Gefühle,  die  wir  der  gefalle 
nen  Zeit  voraus  haben,  empört  wegwenden,  wenn  uns  für  einen  Augenblick  ver* 
gönnt  wäre,  den  Vorhang  von  der  Wirklichkeit  zu  ziehen,  die  mit  Ludwig  XVI.  ver» 
schwand.  Wir  sähen  nur  die  Chaise  percee  des  Königs  und  den  Komwucher  der 
Maintenon.  Die  Puppen  haben  mit  dem  schönen  Schein  eine  Realität  geschaffen. 

Watteau  wurde  einige  Jahre  nach  dem  Tode  von  Jordaens  hart  an  der  flandri' 
sehen  Grenze,  im  spitzenreichen  Valenciennes,  geboren  und  vergnügte  sich  die  letz* 
ten  Tage  vor  seinem  Ende  mit  der  Lektüre  der  Briefe  seines  vergötterten  Rubens. 
Als  Chardin  das  Licht  der  Welt  erblickte,  pinselten  noch  einige  Überbleibsel  der 
Delfter  Malergilde,  der  Vermeer  arm,  aber  in  Ehren  vorgestanden  hatte.  Chardin  hat 
seinen  Vater  in  artibus  nie  gekannt.  Die  Zeitgenossen,  selbst  Diderot,  unterschätz« 
ten  ihn  gröbüch,  indem  sie  Teniers  für  den  Vater  nahmen,  und  überschätzten  ihn 
noch  gröber,  indem  sie  manche  seiner  Bilder  „dans  la  maniere  de  Rembrandt" 
nannten,  womit  damals  kein  übertriebenes  Lob  gemeint  war.  Uns  scheint  die  Be» 
ziehung  zwischen  Chardin  und  Vermeer  so  deutlich  wie  die  Blutsverwandtschaft 
der  Fragonard  und  Rubens.  Rembrandts  Geist  fand  auf  der  Puppenbühne  keine 
Rolle.  Fast  ebenso  fem  scheint  der  kleinen  Zeit  der  französische  Repräsentant  der 
großen  Epoche.  Dafür  wuchsen  seinem  Genossen  Claude  verborgene  Enkel.  Sucht 
man  ein  wenig  in  den  abseits  liegenden  Dokumenten,  so  wird  man  in  mancher 
Kohlenzeichnung,  die  noch  ungezügelt  das  Temperament  des  Malers  trägt,  eine  Er« 
innerung  an  die  kühnen  und  losen  Schriftzüge  finden,  in  denen  Poussin  die  ersten 
Gedanken  kommender  Werke  auf  das  Papier  warf. 

Marionetten  flüstern  die  letzten  Worte  des  großen  Stücks,  das  in  Venedig  begann. 


ZWEITES  BUCH 


CHAOSUND  KOSMOS 


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DAS  EMPIRE 


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DAVID  UND  SEIN  KREIS 

Ist  Fragonards  Schaukel  das  Abbild  der  einen  Zeit  und  Davids  Sabinerinnen 
das  der  anderen,  so  trennt  die  beiden  Zeiten  eine  schlechterdings  unüberbrück» 
bare  Kluft.  Und  viel  anders  kann  man,  im  Bilde  wenigstens,  die  beiden  Epochen 
kaum  darstellen,  wenn  man  das  Wesentliche  bezeichnen  will.  Es  ist  gleich,  ob  man 
für  Fragonard  einen  Boucher  oder  einen  Watteau  nimmt.  Ebenso  belanglos  ist  für 
diesen  Zweck  dieUntersuchung,  ob  David  vor  oder  nach  den  „Sabinerinnen"  anders 
gemalt  hat  und  wie  weit  seine  Art  mit  dem  seit  Poussin  geläufigen  klassischen  Ele» 
ment  der  französischen  Malerei  zusammenhängt. 

Ganz  anders  steht  der  Fall,  wenn  man  von  der  Darstellung  der  beiden  Epochen 
in  der  Malerei  absieht.  Der  Neo»Klassizismus  existierte  längst,  bevor  sich  David  zu 
ihm  entschloß.  Er  war  nicht  nur  literarisch  von  Winkelmann  und  vielen  anderen 
Kunstforschem  und  Philosophen  Frankreichs  und  Deutschlands  proklamiert,  son* 
dem  hatte  bereits  eine  gewohnte  plastische  Form  auf  Gebieten  gewonnen,  die  im 
18.  Jahrhundert  nicht  weniger  eng  mit  der  Malerei  zusammenhingen,  als  im  17.  unter 
Lebrun,  und  die  unter  David  eher  noch  enger  mit  ihr  verbunden  wurden.  Die  Form 
des  Klassizismus,  die  Empire  genannt  wird,  war  nicht  nur  vor  dem  Imperium  Napo« 
leons,  sondem  auch  lange  vor  David,  mindestens  in  allgemeinen  Umrissen,  da.  Sie 
wurde  so  gut  von  dem  sogenannten  Louis  XVI »Stil  vorbereitet  wie  irgendein  Stil 
von  seinem  Vorgänger;  besser  sogar.  Bellenger  zog  bei  den  Entwürfen  mancher  Möbel 
schon  typische  Motive  des  Empire  hinzu,  als  Ludwig XVI.  noch  vergnügt  auf  dem 
Thron  saß,  und  Napoleon  kaum  zehn  Jahre  zählte.  Und  das  erscheint  weniger  auf» 
fallend  in  dem  Stil  derZeit  als  dieArt  des  genialen  Gabriel,  der  mitten  unter  Louis  XV 
plötzlich  die  klassische  Ecole  militaire  baut,  oder  die  Art  des  geschickten  Ledoux, 
des  Architekten  des  Pavillons  von  Louveciennps,  der  unter  demselben  König  bereits 
reinster  Louis  XVI  war.  In  der  Architektur  unterbricht  also  die  Revolution  so  wenig 


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I M  tmnii  I III I  rii  I1IIII I  iiimi  III II I  luinin  III II 1 1 1  >ii  )11  >  1 1  >  I  >  I '  I !  1 1 "  "I "  I 


82  CHAOS  UND  KOSMOS 


die  Entwicklung  wie  vorher  der  Wechsel  auf  dem  Thron  der  Bourbonen.  Der  Faden 
wird  ungefähr  da  wieder  angeknüpft,  wo  ihn  das  Beil  zerschnitten  hatte.  Daher  be« 
ruht  die  Anschauung  von  einer  unmittelbaren  oder  gar  dramatischen  Beteiligung 
der  Kunst  an  der  politischen  Umwälzung  jener  Zeiten  auf  einer  Fiktion,  wenn  an« 
ders  die  Architektur  als  Kunst  zu  gelten  hat.  Nichts  erscheint  logischer  und  natür« 
licher,  als  daß  die  Malerei  nun  auch  zum  Klassizismus  überging.  Sie  holte,  scheint 
es,  nur  einen  Vorsprung  der  Baukunst  und  des  Gewerbes  nach. 

Das  Resultat  dieser  Überlegung  ist  gültig  bis  zu  einem  gewissen  Grade;  so  weit 
nämlich,  als  es  sich  darum  handelt,  das  Schöpferische  des  Davidschen  Klassizismus 
zu  bemessen,  das  zumal  im  Vaterlande  des  Meisters  überschätzt  wird  und  damals 
von  der  ganzen  Welt  angestaunt  wurde.  Es  gilt  nicht,  wenn  diese  Einsicht  die  Kluft 
zwischen  der  Malerei  des  Dix»huitieme  und  der  des  Empire  zudecken  soll.  Diese 
bleibt  von  dem  Entwicklungsprozeß  des  Klassizismus  ganz  unberührt.  Was  in  der 
Ecole  des  Beaux»arts  für  Antike  galt  und  was  David  darunter  verstand,  war  zweierlei. 
Vom  Louis  XVI^Sessel  zu  dem  Empire^Stuhl  ist  ein  kurzer  Weg,  auch  von  dem 
Empire»Stuhl  zum  Empire^Bild.  Dagegen  trennt  die  Bilder  des  Dix^huitieme— die 
akademischen  so  gut  wie  die  nichtakademischen  —  und  die  Bilder  Davids  ein  GaU 
tungsunterschied.  Der  Begriff  des  Malerischen,  der  seit  dreihundert  Jahren  wie  eine 
ruhmreiche  Dynastie  geherrscht  hat,  das  Wappen  und  Werkzeug  einer  Aristokratie, 
aus  der  die  größten  Persönlichkeiten,  die  größten  Formen  für  Persönlichkeit  her» 
vorgingen,  wird  abgeschafft.  Nicht  die  Motive  ändern  die  Situation ;  nicht  die  he» 
roischen  Römer,  die  an  die  Stelle  der  Bergers  treten,  sind  das  Neue,  sondern  das 
Verhältnis  des  Künstlers  zu  seinen  Dingen.  Er  verschwindet  mit  Pathos  hinter  die 
Würde  des  Objekts  und  gibt  mit  großen  Gebärden  das  auf,  was  früher  das  Objekt 
würdig  machte:  die  persönliche  Darstellung  des  Malers. 

Der  Unterschied  zwischen  der  Neuheit  und  dem  Früheren  ist  nicht  geringer  als 
der  zwischen  einem  Möbel  und  einem  Kunstwerk. 

Wieder  entsteht,  diesmal  für  alle  Beteiligten  höchst  unverhofft,  eine  Marionetten» 
bühne.  Es  ist,  als  habe  ein  asiatischer  Barbar  das  Spiel,  dem  er  von  weitem  zusah, 
ernst  genommen,  habe  sich  dann  zu  Hause  Puppen  nach  seinen  gepanzerten  Helden 
gemacht,  massive,  naturalistischePuppen  mit  echten  Wackn  und  richtigen  Händen.und 
habe  die  Drähte  vergessen.  Die  nachgemachten  Helden,  denen  eine  Schlacht  bei 
den  Thermopylen  zugemutet  wird,  sind  ohne  Puppenwesen.  Das  Theater  wird  zu 
dem  starren,  „lebenden  Bild". 

Wieder  dekoriert  der  Maler,  aber  diesmal  so  unbewußt,  daß  jeder  Zweck  verfehlt 
wird.  Es  werden  schöne  Posen  gestellt,  die  in  irgendeiner  Verwendung  wohl  brauch» 


^1 


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^^  DAVID  UND  SEIN  KREIS 83 

bar  wären,  nur  tritt  die  Verwendung  nicht  in  Erscheinung.  Ein  dekorativer  Effekt 
möchte  ins  Monumentale  wachsen.  Ein  Kunstgewerbe  abstrakter  Art  ist  das  unein« 
gestandene  Ziel.  Was  David  eingestand,  klang  anders.  Er  wollte  die  Antike,  so  wie 
Napoleon  die  Welt  wollte.  Davids  Imperium  war  noch  wesentlich  materieller  ge* 
meint.  Er  wollte  die  Antike  nicht  als  Lehrerin,  nicht  als  stillen  Teilhaber,  als  irgend« 
ein  Übertragenes,  sondern  so  wie  sie  war,  .als,  wenn  möglich,  einzigen  Mitarbeiter, 
als  Inhalt.  Wieder  hatte  man  in  Italien  etwas  ausgegraben,  und  das  verlockte  zu 
einer  Analogie,  die  das  Urbild  der  Renaissance  und  seine  verderblichen  Folgen 
durch  die  denkbar  engste  körperliche  Berührung  überwinden  sollte. 

Die  Gefahr  des  Dekorativen,  die  Fragonard  bedrohte,  lag  in  den  Wucherungen 
eihes  Stils,  dem  man  sich  naiv  überließ  im  Genuß  der  Überreife  einer  Epoche.  Um 
sich  zu  konzentrieren,  griff  man  zu  einem  reduzierten  Format.  Der  Klassizismus 
fühlte  sich  von  allen  Sünden  der  Vorfahren  frei.  Gemimte  Enthaltsamkeit  ersetzte 
die  Wollust.  Nichts  wucherte  außer  der  Pose,  und  man  glaubte,  die  Pose  durch 
eine  Vergrößerung  des  Formats  zum  Stil  zu  machen.  Ein  unverkennbarer  Proleta» 
riergeruch,  der  heute  verwöhnten  Nasen  eine  Abwechselung  bringt,  umgibt  die  As» 
kese  und  macht  es  uns  nicht  leicht,  über  den  krassen  Mängeln  der  Epoche  nicht 
ihre  versteckten  Vorzüge  zu  übersehen.  An  Fragonard  und  seine  Freunde  denkt  man 
wie  an  letzte  fröhliche  Erben,  lächelnde  Opfer. 

Die  Malerei  der  Revolution  und  des  Empire  steht  im  Zeichen  eines  einzigen 
Künstlers,  der  mit  dem  Kaiser  mindestens  eine  Qualität,  die  rücksichtslose  Energie, 
gemein  hatte.  Es  gab  wenig  Leute,  die  nicht  von  David  berührt  wurden ;  der  alte  Hu« 
bert  Robert,  der  mit  seinen  Gedanken  in  Tivoli  blieb,  während  in  Paris  die  Erde 
zitterte,  ein  Prud'hon,  der  sich  das  Empire  wie  ein  romantisches  Gewand  umgür* 
tete,  unter  dem  er  ferne  Träume  spann,  ein  Dichter,  der  einzige  Dichter  der  Zeit. 
Er  verherrlichte  Napoleon  mit  Genien  Correggios.  David  träumte  nicht.  Er  brachte 
der  rohen  und  heroischen  Zeit,  was  sie  brauchte.  Nie  hat  ein  Künstler  seit  den  Alten 
so  stark  die  Menge  bewegt.  Nie  vermochte  einer  sich  so  vollkommen  mit  ihr  zu  ver» 
einen,  so  genau  ihre  Instinkte  zu  treffen,  ohne  Sklave  zu  sein.  Es  hat  Bilder  von 
David  gegeben,  die  man  demVolk  hätte  vorantragen  können,  wie  es  einst  in  Florenz 
mit  der  Madonna  des  Cimabue  geschah.  Sein  künstlerischer  Wert  könnte  mit  der 
sozialen  Bedeutung  seiner  Kunst  nicht  gleichen  Schritt  halten,  selbst  wenn  er  weit 
höher  stünde,  und  es  ist  merkwürdig  genug,  daß  er  überhaupt  für  uns  noch  existiert. 

Er  beginnt  im  letzten  Drittel  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  als  eine  der  vielen 
Durchschnittsbegabungen.  Man  kann  nicht  behaupten,  er  habe  die  Versuchungen 
der  sinkenden  Zeit  nicht  gespürt.    Er  ist  ihnen  ohne  Murren  unterlegen  und  hat 


MHiiuHiMWiiiMiKiaiwiwiwiiaiaaiNMa^^ 


84  CHAOS  UND  KOSMOS 

Boucher  mit  gehörigem  Respekt  verehrt.  Die  Ratschläge  Bouchers  geleiten  ihn  zu  dem 
öden  Lehrer  Vien.  Lange  kämpft  er  mit  der  Akademie  um  den  Rompreis  und  weiht 
dafür  der  grämlichen  Institution  einen  Haß,  der  ihr  eines  Tages  die  Existenz  kosten 
soll.  Bis  dahin  versteht  er,  ihn  zu  verbergen.  1774  gelingt  es  ihm  endlich  mit  einer 
möglichst  komplizierten  Historie  (»Eristate  decouvrant  la  maladie  d'Antiochus  dans 
son  amour  pour  Stratonice«  war  der  Titel)  die  erste  Staffel  der  akademischen  Laufbahn 
zu  erklimmen,  und  das  Elaborat  ist  so  akademisch  im  alten  Sinne  wie  nur  ein  Rom« 
preis  sein  kann.  Die  Skizze  zu  dem  Bilde,  die  Cheramy  besaß,  jetzt  in  der  Sammlung 
derGräfinMurat,  sieht  wie  ein  flauer  aber  sehr  geschickter,  nicht  reizloser  Fragonard 
aus.  Und  als  einen  Adepten  dieses  Meisters  hat  ihn  die  Tänzerin  Guimard  angesehen, 
die  ihm  als  ersten  Broterwerb  den  Auftrag  erteilte,  die  Dekorationen  Fragonards*in 
ihremPariserHause  zu  vollenden.  Der  Aufgabe  hat  ersieh  mit  Fleiß  und  Gehorsam 
unterzogen.  1775  geht  er  nach  Rom.  Es  kommt  auch  dort  zu  keiner  Klärung  der 
Persönlichkeit.  Die  wesentlichste  Frucht  dieser  ersten  Romreise,  das  Reiterbildnis 
des  Grafen  Potocki,  sein  bestes  Jugendwerk,  könnte  ebensogut  in  Paris,  noch  eher 
vielleicht  in  London  entstanden  sein ;  ein  virtuoses  Paradebild,  geschickt  und  süßlich 
bis  zum  Exzeß,  von  blendender  Mache  in  allen  Einzelheiten,  auch  in  der  Verhältnis» 
mäßig  reichen  Farbe,  ohne  den  Funken  von  einer  über  das  pomphafte  Format  hinaus* 
gehenden  Größe.  Noch  ahnt  man  nichts  von  dem  Revolutionär,  noch  von  dem 
Römer.  Alles,  was  er  in  Rom  von  den  Ideen  der  Winkelmann  und  Mengs  erfährt, 
macht  ihn  nur  mit  antiken  StoflFen  archäologisch  vertraut  und  scheint  lediglich  seinen 
Historienbildern  einen  banalen  Schwung  zu  geben,  der  das  Hohle  der  Rhetorik  noch 
fataler  macht.  Eins  der  schlimmsten  dieser  Bilder  verschafft  ihm  1783  den  Eintritt 
in  die  Akademie.  Er  ist  fünfunddreißig  Jahre  alt,  kennt  sein  Paris,  hat  gute  Ellbogen, 
und  schon  umgibt  ihn  ein  Kreis  von  jungen  Leuten,  die  mit  ihm  weiterzukommen 
hoffen  und  seinen  Ruhm  verbreiten.  Er  scheint  schon  damals  ein  berühmter  Mann 
gewesen  zu  sein.  Doch  besitzt  er  bisher  nichts,  was  ihn  auch  nur  in  die  Nähe  der 
entscheidenden  Geister  der  Zeit  rücken  könnte.  Nichts  außer  einem  maßlosen  Ehr« 
geiz.  Dem  entgeht  nicht,  wieviel  und  wie  wenig  der  letzte  einer  Reihe  zu  sagen  hat. 
Er  möchte  mit  einem  Werk  aus  der  Kaste,  die  er  verachtet,  heraus  und  vor  eine  neue 
Menge  treten,  deren  Existenz  er  ahnt,  die  mit  dem  alten  Zopf  nicht  mehr  zufrieden 
ist.  Als  Akademiker  hat  er  Anspruch  auf  den  königlichen  Auftrag.  Er  wählt  die 
Horatier,  und  die  Wahl  wird  angenommen.  Der  königliche  Auftrag  führt  zu  dem 
Bilde,  das  wie  ein  erstes  Rollen  des  Donners  die  kommende  Zeit  ankündigt. 

Um  seinen  Gedanken  ganz  mit  der  Antike,  deren  Reize  ihm  in  Paris  aufgegangen 
sind,  zu  durchtränken,  geht  David  mit  der  Skizze  des  Bildes  nach  Rom  und  malt 


DAVID  UND  SEIN  KREIS  85 

dort,  im  Verlauf  eines  Jahres  und  unterstützt  von  gelehrigen  Schülern,  das  Gemälde. 
Schon  dieses  Bild  ist  das  Resultat  einer  kollektiven  Produktion,  die  für  die  ganze 
Kunst  Davids  bestimmend  wird.  Es  wurde  in  Rom,  wo  es  1785  mit  beispiellosem 
Erfolg  ausgestellt  war,  als  die  Proklamation  einer  neuen  Generation  betrachtet.  Im 
Pariser  Salon  desselben  Jahres  gewann  es  einen  endgültigen  Sieg  über  die  traditio' 
nelle  Schule.  Der  Schwur  derHoratier  war  in  derKunst  etwas  Ahnliches,  wieder 
Schwur  im  Ballhause  des  Jahres  1789  für  die  Politik  des  Landes.  Ich  glaube  nicht, 
daß  David  schon  damals  eine  andere  Agitation  als  die  für  das  eigene  Heil  beabsich« 
tigte.  Doch  gelang  sie  ihm.  Das  Zündende  war  nicht  das  Antike  in  dem  Bilde,  we< 
nigstens  nicht  das  Archäologische,  war  kein  gelehrter  oder  ästhetischer  BegriflF,  eher 
das  Gegenteil.  Es  war  das  Nackte,  das  ohne  alle  Apparate  Faßbare  des  Inhalts,  fast 
könnte  man  sagen,  die  Unkunst.  Diejugend,  der  längst  die  Süßlichkeit  der  Boucher« 
Schule  widerstand,  begeisterte  der  energische  Schritt  hinweg  von  der  höfischen  über« 
legenen  Form,  die  nur  für  überreizte  Sinne  da  war,  immer  nur  tändelte,  nie  han» 
delte,  immer  nur  dem  Luxus,  der  Verweichlichung  diente,  zu  dem  ganz  präzisen 
Ausdruck  einer  stürmischen  Handlung.  Der  Instinkt  machte  sofort  einen  Massen« 
gedanken  daraus.  Die  Hohlheit  war  Strenge,  das  Farblose  männliche  Derbheit.  Man 
dachte  nicht  an  Winkelmanns  Rom,  sondern  an  römische  Helden.  Die  spartanische 
Härte  dieser  Malerei  zerbrach  die  Lüsternheit  des  Dix«huitieme.  Der  Parallelismus 
der  drei  Körper  verhundertfachte  die  Gebärde.  Jeder  Betrachter  sprach  den  Schwur 
der  drei  auf  seine  Weise  nach.  Zum  erstenmal  hatte  ein  Künstler  dem  Volk  aus  der 
Seele  gesprochen. 

Wenn  erst  einmal  dieser  Kontakt  mit  der  Menge  hergestellt  ist,  geht  er  so  leicht 
nicht  wieder  verloren.  Nach  den  Horatiern  kommt  derSokrates  mit  dem  Gift« 
becher,  in  dem  Reynolds  das  größte  künstlerische  Ereignis  seit  der  sixtinischen 
Kapelle  und  den  Kammern  Raff  aels  entdeckt,  dessen  Motiv  wiederum  als  tiefe  Absicht 
des  Volkstribunen  ausgelegt  wird,  und  1789  hat  David  das  Glück,  mit  seinem  Brutus 
zur  Stelle  zu  sein.  Um  jedem  etwas  zu  bringen,  hat  er  auch  ein  Bild  leichteren  Genres 
ausgestellt,Paris  und  Helena.  DieMenge  sieht  nur  denBrutus,  den  großenRepubli» 
kaner,  der  seine  Söhne  töten  ließ,  weil  sie  sich  an  der  Verschwörung  zugunsten  des 
verbannten  Tyrannen  beteiligt  hatten.  Die  Leitung  des  „Salon"  beging  noch  die  Un« 
geschicklichkeit,  die  Entfernung  des  revolutionären  Bildes  zu  versuchen.  Das  trieb 
die  Popularität  des  Kämpfers  für  die  Freiheit  auf  den  Gipfel.  Das  Archäologische, 
das  sowohl  in  dem  Sokrates  als  auch  in  dem  Brutus  ganz  unverhohlen  im  Vorder« 
grund  stand,  das  einzige  Prinzip,  mitdem  es  David  ganz  ehrlich  meinte,  hinderte  nicht 
nur  nicht  den  Enthusiasmus,  sondern  wurde  als  eine  die  Echtheit  des  Gefühls  verbür« 


iDiniiaMmnaiEiiffiKiiiMiiiigiii'iniiniiDixiiiiinitfiKfiMaiiiiiiiunn 


86  CHAOS  UND  KOSMOS 

gende  Dokumentierung  genommen ;  ein  Widerstand,  der  den  Applaus  noch  steigerte. 
David  kommt  in  den  Konvent,  sitzt  mit  über  Ludwig  XVI.  zu  Gericht  und  stimmt 
für  die  Todesstrafe.  Er  wird  der  Gehilfe  Robespierres.  Der  Volkswille  ernennt  ihn 
zum  Verewiger  der  großen  Ereignisse  und  zum  Leiter  der  Feste  des  Terrorismus. 
Seine  politische  Rolle  ist  im  übrigen  wenig  sauber.  Die  Guillotine  gehört  zu  dem 
Inventar  seines  Ateliers  und  befreit  ihn  von  unbequemen  Modellen.  Er  herrscht  in 
seinem  Bereich  als  Diktator  und  es  gelingt  ihm,  die  Archäologie  zur  Staatsform  zu 
erheben.  Der  Sturz  Robespierres  nimmt  ihm  nur  das  Amt.  Man  verschont  den  angst» 
schlotternden  Angeklagten,  den  der  Geist  der  Antike  nur  zu  sehr  im  Stich  läßt,  und 
gönnt  ihm  in  dem  komfortablen  Gefängnis  Pinsel  und  Farben.  Der  Staat  kommt 
zur  Ruhe.  Die  Schreckensleute,  der  republikanische  Kalender,  die  Göttin  der  Ver« 
nunft  verschwinden,  die  Akademie  kommt  wieder,  die  ganze  Republik  sinkt  in 
den  Abgrund.  David  bleibt.  Er  ist  der  einzige  Würdenträger  der  Revolution,  der 
die  Republik  überlebt.  In  den  Sabinerinnen  gelangt  das  archäologische  Prinzip 
zu  einer  Art  Apotheose.  Das  Bild  wird  1799  für  sich  allein  in  einer  Sonderausstel» 
lung,  für  die  der  Staat  den  Raum  hergibt,  dem  Publikum  vorgeführt,  und  der 
Maler  kann  sich  mit  den  Eintrittsgeldern  ein  Landgut  kaufen.  Die  Menge  ist  mehr 
für  ihn  als  je,  und  Bonaparte  paktiert  mit  einer  Macht,  indem  er  sich  mit  David 
befreundet.  Der  Maler  des  Brutus,  der  vorsichtig  genug  war,  die  Avancen 
des  Konsuls,  den  Titel  des  „premier  peintre  du  gouvemement",  abzulehnen,  wird 
der  erste  Hofmaler  des  Kaisers  und  ist  so  gut  napoleonisch  gesinnt,  daß  er  vergißt, 
das  Leben  von  ein  paar  kompromittierten  Kameraden  aus  der  republikanischen  Zeit, 
das  von  seinem  Munde  abhängt,  zu  retten.  Nun  wandelt  sich  das  Symbol  sparta« 
nischer  Bürgertugend  in  den  Pomp  des  Empire.  Napoleon  überhäuft  ihn  mit  Wohl» 
taten,  deren  größte  der  Auftrag  des  Sacre  ist.  Er  zwingt  den  Maler,  an  Stelle  der 
römischen  Helden  ein  bewundernswertes  zeitgenössisches  Werk  zu  malen.  Doch 
zieht  sich  David,  sobald  er  die  offiziellen  Bilder  hinter  sich  hat,  um  so  tiefer  in  seine 
Antike  zurück.  Der  Klassizismus  überlebt  die  Herrschaft  des  Kaisers,  und  David 
feiert  noch  während  der  ersten  Verbannung  Napoleons  mit  seinem  Leonidas  in 
Paris  Triumphe.  Erst  der  Ausgang  der  letzten  Episode  Napoleons  nötigt  ihn,  das 
Land  zu  verlassen.  Er  lebt  in  Brüssel  wie  ein  mit  Unrecht  verbannter  Fürst,  hat  sei» 
nen  Hofstaat  wie  in  Paris,  und  Könige,  darunter  der  von  Preußen,  bewerben  sich 
um  seine  Gunst.  Bis  zum  letzten  Augenblick,  während  seine  Bilder  immer  entsetz« 
lieber  werden,  regiert  er  die  Kunst  Europas.  Nach  seinem  Tode  werden  an  der  Malerei 
in  seinem  Namen  zahllose  Verbrechen  begangen,  und  die  Erinnerung  an  ihn  kostet 
einen  seiner  besten  Schüler  das  Leben.  Ist  er  heute  endgültig  überwunden?  Nach 


niiiiiwiiiiiiiiiiiiiiHitwiluinuaiiiiuitKiiiiiiniraamitiiiK 


DAVID  UND  SEIN  KREIS  87 


dem  beispiellosen  Erfolge  der  Ausstellung  der  Davidschule,  die  im  Frühling  1913 
im  Petit  Palais  stattfand,  könnte  man  daran  zweifeln.  Unsere  Zeit  scheint  reif  ge« 
worden,  wieder  so  einen  Feldscherer  brauchen  zu  können. 

Davids  Schuldkonto  ist  schwer  belastet.  Er  stürzte,  was  auch  ohne  ihn  gefallen 
wäre.  Die  Operation  mag  nötig  gewesen  sein,  und  er  war  guten  Glaubens,  als  er 
sie  vollzog.  Revolutionäre  sind  Henker,  sobald  sie  nicht  an  die  Stelle  des  Gestürzten 
ein  Neues  setzen,  das  besser  als  das  Alte  ist.  Hat  er  das  getan?  Man  besinnt  sich 
nicht  ohne  Mühe.  Was  David  mit  seinem  Klassizismus  aufbaute,  war  schlimmer 
als  alles,  was  je  das  leichtsinnige  Dix»huitieme  verbrach.  Er  hat  um  die  alte  Kunst 
und  zumal  um  den  göttlichsten  Besitz  der  Menschheit  eine  Wand  errichtet,  die  er 
für  einen  erhabenen  Spiegel  hielt,  die  in  Wirklichkeit  undurchsichtig  und  aus  Blech 
war,  dick  genug,  um  für  Generationen  das  Heiligtum  so  unzugänglich  wie  möglich 
zu  machen.  Er  hat  die  Antike  zu  einer  rohen  Phrase  entwürdigt.  Er  sah  den  Weg, 
den  die  großen  Nachfolger  der  Venezianer  von  Italien  nach  dem  Norden  bahnten, 
die  Tat,  die  das  ganze  Gebäude  der  neueren  Malerei  trägt,  für  einen  Umweg  an 
und  glaubte  Poussin  zu  reinigen,  indem  er  ihn  der  Farbe  und  des  Lichts  entkleidete. 
Er  hat  am  meisten  für  den  barbarischen  Aberglauben  getan,  ein  Kunstwerk  werde 
schon  durch  eine  dem  Autor  edel  erscheinende  Historie  geadelt  und  hat  mit  diesem, 
mit  seltener  Energie  organisierten  Irrtum  das  Akademische,  das  er  zu  stürzen  glaubte, 
den  Händen  der  Kunstlosen  übergeben,  hat  es  dadurch  unüberwindlich  gemacht. 
Die  Männlichkeit,  die  man  ihm  nachsagt  und  gegen  seine  Vorgänger  ausspielt, 
hat  kaum  für  ein  einziges  Bild  seiner  Jugend,  die  Horatier,  gehalten.  Der  Rest 
dieser  Gattung  ist  hohles  Pathos,  ein  sentimentales  Theater,  dessen  Preis  der  Mangel 
an  sinnlichen  Reizen  nicht  erhöht.  Das  größte  Prestige  der  Schule,  das  sich  selbst 
nach  einem  Jahrhundert  aufklärender  Debatten  noch  erhält,  ist  ihr  vermeintliches 
Handwerk.  Weil  die  Klassizisten  überhaupt  nicht  malten,  sondern  nach  gewissen 
höchst  stereotypen  Regeln  ein  Anstreichergewerbe  trieben,  dessen  höchstes  Ideal 
der  Gegenstand  einer  anderen  Kunst,  die  Darstellung  körperlicher  Rundung,  war, 
deshalb  zog  man  sie  den  Rembrandt  und  Rubens,  allen  den  Meistern  vor,  die  alles 
für  die  Überwindung  jener  rohen  Fiktion  getan  hatten.  Das  Handwerk  an  einer 
Davidschen  Komposition  loben,  heißt  sich  für  das  Geistlose  bekennen,  weil  es  voll« 
kommen  realisiert  ist.  Der  übelste  Schinken  aus  der  Schule  eines  Le  Moine  steht 
höher,  weil  er  unsere  Gleichgültigkeit  nicht  mit  behandschuhten  Faustschlägen 
traktiert.  * 

Davids  Bildnisse  müßten  göttliche  Meisterwerke  sein,  wenn  man  mit  ihnen  das 
Andenken  des  Schädlings  zudecken  wollte.    Sie  sind  in  der  Mehrzahl  Zeugnisse 


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88  CHAOS  UND  KOSMOS 

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einer  derben  Objektivität,  die  beweisen,  daß  David  zu  sehen  wußte,  wenn 
er  sich  nicht  selbst  das  undurchdringliche  Blech  vor  die  Augen  hielt.  Angesichts 
der  vielen  stattlichen  Bildnisse  Davids  und  seiner  Schüler,  die  wie  Oasen  zwischen 
den  endlosen  Historien  stehen,  kommt  man  unwillkürlich  auf  die  Vermutung,  es 
könne  nicht  gar  so  schwer  sein,  ein  ansprechendes  Porträt  zu  malen,  und  es  gehöre 
weniger  Geist  dazu  als  zu  einer  sogenaimten  Komposition.  Diese  Täuschung  be« 
ruht  auf  dem  unsicheren  Maßstab  unserer  Kritik  vor  Bildnissen,  die  einer  uns  aus 
irgendeinem  Grunde  wertvoll  erscheinenden  Vergangenheit  angehören.  Das  Inter* 
esse  an  Sitte  und  Kultur  und  der  Persönlichkeit  des  Dargestellten  beeinflußt  die 
Kunstkritik.  Zwischen  dem  primitiven  Kostümbild  und  dem  Meisterbildnis  liegen 
hundert  Wertgrade,  an  denen  die  Kunst  mehr  oder  weniger  beteiligt  ist,  und  es  ge» 
nügt  unter  Umständen  eine  geringe  künstlerische  Zugabe  zu  dem  Reiz  des  Zeit« 
dokuments,  um  uns  schwelgen  zu  lassen.  Es  ist  nicht  leicht  zu  schätzen,  wieviel 
der  David,  den  wir  heute  sehen,  der  Mode  seiner  Frauen  und  Männer  ver» 
dankt,  wobei  ich  unter  Mode  nicht  nur  Kleider,  die  leicht  gelockten  Frisuren  und 
die  Möbel,  auch  gewisse  physiognomische  Dinge  verstehen  möchte,  die  jeder  Zeit 
Gemeingut  sind.  Das  üppige  Bildnis  der  Mme.  Pecoul,  das  der  Gattin  Davids,  das 
Mme.  Bianchi  gehört,  seine  Marquise  d'Orvilliers,  seine  Mme.  Seriziat  und  ihr  fast 
zu  hübscher  Gatte,  seine  Mme.  de  Veminac  usw.,  alle  diese  sehr  reizenden  Bilder 
empfangen  nicht  alles,  aber  nicht  wenig  von  dem  Kostüm;  selbst  das  beste  Stück 
dieser  Art,  les  trois  dames  de  Gand,  imLouvre,  deren  Häßlichkeit  auch  fast  zu 
einer  Art  Kostümfrage  wird ;  ein  Bild,  das  übrigens  neuerdings  dem  belgischen 
Schüler  Davids,  Navez,  zugesprochen  wird  ^).  In  dem  Bildnis  der  Recamier  ist  die 
zierliche,  virtuos  gepolsterte  Ruhebank  und  der  nicht  weniger  zierliche  Kandelaber 
(wer  möchte  nicht  dergleichen  authentische  Dinge  in  seinem  Salon  haben?),  die 
Stellung  dieser  Dinge  in  dem  raffiniert  leeren  Raum  und  das  Arrangement  derwun» 
derschönen  Frau  in  dem  fließenden  Linon  ein  Meisterstück  des  Dekorateurs,  das 
den  Anteil  des  Malers  zurückdrängt.  In  hundert  Jahren,  wenn  wir  einmal  Mode 
werden,  schwärmt  man  vielleicht  so  über  Bilder  Whistlers,  der  nebenDavid  ein  gecken» 
hafter  Stümper  war.  Überdies  gewinnen  viele  Bildnisse,  die  am  besten  gefallen,  einen 
primitiven  aber  schätzenswerten  Reiz  aus  der  lockeren  Malerei,  die  David  klugerweise 
unvollendet  ließ.    Die  Recamier,  die  Marquise  de  Pastoret,  die  bei  Cheramy  war. 


')  Charles  Saunier:  »David  et  son  Ecole«.  Gazette  des  BeauxcArts,  Mai  1913,  S.  289.  Übrigens 
scheint  mir  zwischen  dem  »Portrait  de  la  famiUe  Hemptinne«,  mit  dem  der  Autor  exemplifiziert, 
und  den  »Trois  dames  de  Gand«  doch  noch  ein  gewaltiger  Unterschied  zu  liegen,  der  weniger  in  der 
Technik  als  im  Ausdruck  zu  suchen  ist. 


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DAVID  UND  SEIN  KREIS  89 


die  Chalgrin  und  das  schöne  Selbstbildnis  im  Louvre,  die  sogenannten  Skizzen  in 
der  Sammlung  Bianchi  sind  noch  nicht  von  dem  letzten  allzu  festen  Überzug  be» 
deckt,  den  die  vollendeten  Gemälde  tragen.  Auch  der  zierliche  Bara  im  Miiseum 
von  Avignon  ist  so  gemacht.  Die  Materie  ist  ein  ganz  regelmäßiges  wolkiges  Ge» 
webe,  das  in  anderem  Zusammenhang  wie  eine  altmodische  Untermalung  erscheinen 
würde,  das  undifferenzierte  Bett  für  die  Farbe,  das  erst  die  Hand  des  Meisters  emp» 
fangen  soll;  nichts  weniger  als  das,  was  wir  bei  großen  Meistern  Skizze  nennen. 
Diese  lose  Materie  gibt  zusammen  mit  der  sparsamen  Farbenkombinatiori  und  mit 
den  höchst  präzisen  Umrissen  der  Gesichter  und  nackten  Arme,  der  Gewänder  und 
Möbel  den  Bildern  einen  Reiz,  der  uns  leicht  über  die  Gattung  dieser  Kunst  zu 
täuschen  vermag. 

Es  gibt  eine  andere  höhere  Gattung  von  Bildnissen.  Sie  gelingt  dem  Geist,  der 
das  Dargestellte  ganz  aus  der  Sphäre  dieses  hohen  oder  niedrigen  Kunstgewerbes 
heraushebt,  alles  Vergangene,  das  uns  als  Gegensatz  zu  unserer  Zeit  reizen  könnte, 
abstreift  oder  nur  als  belanglose  Nebensache  stehen  läßt  und  in  dem  Ausdruck  des 
Menschlichen  allein  das  Objekt  erblickt.  Von  dieser  Gattung  von  Bildnissen  wird 
man  nicht  sagen,  sie  sei  leichter  als  irgendein  Komponieren,  denn  sie  ist  nur  Kom' 
Position  im  höchsten  Sinn  des  Wortes.  Bei  einem  Bildnis  von  Rubens,  Greco,  Rem» 
brandt  oder  Tizian  wird  niemand  den  Zutaten  größeres  Gewicht  beilegen,  als  sie 
in  der  Wirklichkeit  haben,  obwohl  sie  zuweilen  von  größter  Kostbarkeit  sind.  Wenn 
Holbein  das  Kleid  seiner  Anna  von  Cleve  mit  Juwelen  übersät,  gibt  alle  Pracht  nur 
einen  Schrein  für  den  Ausdruck. 

Legt  man  an  David  den  Maßstab  solcher  Bildniskunst,  die  freilich  seit  Hogarth 
so  gut  wie  verschwunden  war,  so  vermindert  sich  der  dem  Laien  unerklärliche  Ab» 
stand  geistiger  Art  zwischen  den  hohlen  Historien  und  den  angenehmen  Porträts, 
und  man  begreift  leichter,  warum  ein  Künstler  seine  Lücken  bei  einem  Gegenstand 
verbergen  konnte,  der  nicht  unbedingt  die  höchsten  produktiven  Fähigkeiten  bean» 
sprucht,  um  eine  gefällige  Vollendung  zu  zeigen. 

Nur  in  sehr  seltenen  Fällen  ist  David  über  diese  Sphäre  hinausgelangt.  Für 
das  Sacre  hätte  die  gefällige  Kleinkunst  nicht  gereicht.  Die  Bedeutung  der 
historischen  Begebenheit  und  das  Interesse  an  den  Darstellern  erklärt  nicht  allein 
unser  Gefühl  beim  Anblick  des  riesigen  Gemäldes.  Der  Blick  auf  diesen  Höhe» 
punkt  des  Empire,  auf  seine  Kühnheit,  seine  selbstgeformte  Würde,  die  in 
vielen  Nuancen  nicht  das  Proletarische  so  manchen  frischgebackenen  Hofinannes 
verschweigt,  gibt  ungeahnte,  auch  dem  Schöpfer  des  Bildes  unbewußte  Aufschlüsse 
über  das  Wesen  des  grandiosen  Theaters  ist  schärfer  zugleich  und  objektiver  als 


HiiinHiiiiiffiiK.tiii»ii:fi;niiiiiiiiiiuiiKMnn»i]iniiiiiiniiiiai«M^^^ 


90  CHAOS  UND  KOSMOS 


eine  literarische  Beschreibung  je  zu  sein  vermöchte,  und  ist  trotz  allem  Bild.  Nicht 
ein  Dekorateur,  sondern  ein  Baumeister  von  nicht  gewöhnlichem  Intellekt  hielt  die 
Massen  zusammen,  gab  dem  Akt  des  Imperators  und  den  Hauptbeteiligten  die  rechte 
Bedeutung,  ohne  sie  aus  der  Atmosphäre  herauszuheben,  die  auch  den  letzten  Zeu« 
gen  der  Szene  triflFt,  sorgte  für  eine  Organisation  der  zahllosen  Gebärden  und  des 
Farbigen,  des  massenhaften  Gold,  Rot  und  Weiß  auf  dem  graublauen  Teppich. 
Das  Bild  ist  kein  Veronese.  Aber  bei  einer,  unseren  Möglichkeiten  so  weit  entrückten 
Aufgabe  -wie  dieser  auch  nur  einen  Strahl  der  lichten  Sphäre  alter  Meister  zu  be* 
halten,  ist  kein  geringes  Verdienst. 

Einem  der  Hauptbeteiligten  des  Sacre  verdankt  David  zwei  Meisterwerke.  Nicht 
dem  Kaiser.  David  hat  den  Kaiser  nie  getroffen,  weil  er,  wenn  er  sich  erschöpfen 
sollte,  auf  das  engste  an  das  Modell  gebunden  war,  und  Napoleon  zu  Sitzungen 
weder  Zeit  noch  Lust  hatte.  Der  Papst  hatte  mehr  Muße.  1805,  bevor  er  an  das 
Sacre  ging,  malte  David  den  unfreiwilligen  Gast  der  Tuilerien.  War  es  die  tra* 
gische  Rolle  des  seltenen  Modells,  was  ihn  begeisterte?  Er  erfüllte  auf  einmal  An< 
Sprüche  an  das  Bildnis,  auf  die  man  in  seinem  Kreise  kaum  gefaßt  ist.  Alle  Mängel 
des  Klassizisten  scheinen  zu  Vorteilen  zu  werden.  Das  Bildnis  ist  ganz  vollendet,  es 
fehlt  keine  Linie.  Aber  die  Festigkeit,  die  in  den  Historienbildern  der  blecherne 
Behälter  archäologischer  Dokumente  ist  und  das  Dargestellte  zu  einem  kalten  Ab« 
bild  einer  gedachten  Plastik  verdammt,  ist  hier  die  äußerste  Realisierung  einer  ganz 
empfundenen  Form.  Nichts  an  dem  reichen  Ornat  besteht  für  sich,  obwohl  man  die 
Ornamente  nachzählen  könnte.  Kein  Fältchen  in  dem  glatten  Antlitz,  an  den  wun» 
derbaren  Händen  geht  verloren.  Und  aus  allem  spricht  das  besondere  Leben  dieses 
Menschen.  Ist  das  der  David  desLeonidas  und  der  Sabinerinnen  und  des  über 
die  Maßen  öden  Brutus?  Man  steht  vor  einem  Phänomen  der  Kunstgeschichte. 
Ist  die  Form  dieses  Bildes  wirklich  das  Zeichnerische,  das  man  etwa  geneigt  war, 
ihm  zu  lassen,  und  das,  wenn  man  die  Bleistiftzeichnungen  Davids  zur  Hand 
nimmt,  so  kümmerlich  versagt?  Wir  suchen  nach  Vergleichen  und  kommen  unver» 
Sehens  mit  diesem  Werk  des  Malers  so  vieler  Nichtigkeiten  in  die  Nähe  eines  der 
größten  Meister  unserer  Kunst,  der  während  der  ganzen  Geschichte  der  Malerei,  die 
wir  bisher  erlebt  haben,  im  Hintergrunde  blieb,  und  dessen  Geist,  von  diesem  Bild 
gerufen,  zum  ersten  Male  wieder  auf  die  Bühne  tritt.  Auch  bei  Raffael  stellt  man 
sich  oft  die  im  Grunde  törichte  Frage:  Malerei  oder  Zeichnung,  und  entscheidet 
sich  im  Prado  vor  dem  Bildnis  des  Kardinals,  das  lange  zwischen  zwei  berühmten 
Tizians  hing,  für  die  Zeichnung,  wenn  sie  die  Form  ist,  mit  der  Raffael  sein  Bild 
gewann. 


«iiiifmnaiMnninuaniintiniiiiiiiiinnimHnfiiiiinmiTmitiiiRiniinmRiiuii^^ 

DAVID  UND  SEIN  KREIS  91 

Daß  dieses  Bild  kein  Zufall  war,  beweist  der  Ausschnitt  aus  dem  Sacre  mit  dem 
Papst  und  dem  Legaten,  denDavid  einigejahre  später  gemalt  hat.  Das  Bild  steigert  noch 
das  andere,  und  zwar  nach  einer  jenseits  von  Raffael  liegenden  Richtung  hin,  und  gibt 
uns  einen  letzten,  nicht  weniger  unerwarteten  Aufschluß.  Zu  der  bis  ins  Minutiöse 
dringenden  Analyse  des  Louvrebildes  tritt  eine  in  breiten  Massen  wirkende  ^X'ucht. 
Nun  fragt  man  nicht  mehr.  Man  denkt  bei  den  wie  Lasten  schweren  Farben,  bei 
diesem  Gold  und  Grün  in  dem  leichenhaften  Weiß  des  Papstkleides,  dem  dumpfen 
Rot  im  Mantel  des  Legaten,  bei  diesem  fast  leichenhaften  Fleisch  bezwungener 
Mienen,  das  sich  gegen  den  Zwang  zu  empören  scheint,  an  keinen  Zeichner.  Solche 
Symbolik  der  Materie  ist  Eigentum  der  neuen  Malerei.  Von  Raffael  fliegt  der  Ge« 
danke  zu  Rubens  zurück.  So  quälte  sich  das  Fleisch  im  Schatten  wüster  Märtyrer» 
bilder.  Nur  der  Geist  ist  anders.  Die  Form  beseelt  jene  einzigartige  Festigkeit  des 
Urbinaten,  die  Rubens  selten  wollte,  die  keiner  seiner  Nachfolger  dem  losen  Spiel 
zu  vereinen  wußte.  Sie  wird  das  Zeichen  eines  neuen  Zweiges  der  Familie. 

Es  ist  ein  enormer  Umweg,  den  uns  David  zu  gehen  zwingt.  Von  diesem  Doppel* 
bildnis  aus  kann  man  auf  dem  von  Trümmern  bedeckten  Weg  seiner  Entwicklung 
vorbereitende  Stationen  erkennen.  Man  entdeckt  in  dem  Geist  und  in  der  Materie  des 
sterbenden  M  a  r  a  t ,  dem  einzigen  lebenden  Historienbilde  Davids,  das  zum  Bildnis,  ei< 
nem  Bildnis,  das  zur  Geschichte  wird,  eine  eng  verwandte  Regung,  kann  die  Linie  noch 
weiter  zurück  bis  zu  dem  frühen  Selbstbildnis  verfolgen,  das  im  Louvre  neben  dem 
Papste  hängt,  wird  in  vielen  Bildnissen  den  bewußten  oder  unbewußten  Kompro« 
miß  mit  jenem  Rubenshaften  finden,  das  dem  Kostümbild  die  geheime  Widerstands* 
kraft  verleiht. 

Diese  Linie  stimmt  ein  wenig  milder  über  David.  Der  öde  Klassizist  hatte  Natur. 
Er  konnte,  wenn  er  wollte,  alles  beiseite  rücken  und  die  Wirklichkeit  mit  einer  neuen, 
einer  ganz  elementaren  Macht  umfassen.  Er  konnte,  wenn  er  wollte,  dem  achtzehnten 
Jahrhundert  eine  Form  gegenüberstellen,  die  würdig  war,  die  Boucher  und  van  Loo 
zu  stürzen,  wertvoller  als  Fragonard  und  Chardin,  notwendiger  als  Watteau;  die 
einzige  Form,  die  in  der  neuen  Zeit  zu  einer  neuen  Entwicklung  führen  konnte. 

Sie  hat  dahin  geführt.  So  wenig  vorbildliche  Eigenschaften  der  Mensch  besaß, 
der  die  Unordnung  seiner  Instinkte  mit  einer  rohen  Schablone  zudeckte,  so  uner« 
bittlich  wir  neun  Zehntel  seiner  Produktion  abweisen  mögen,  er  ist  trotz  alledem 
der  Vater  der  neuen  Kunst.  Ein  Rabenvater,  der  die  in  freier  Wahl  gezeugten  Kin. 
der  verleugnete  und  die  legitimen  mit  den  Wasserköpfen  zu  Aposteln  machte.  Da» 
vids  Folgen  sind  quantitativ  im  gleichen  Maße  geteilt  wie  seine  Tätigkeit:  Neun 
Zehntel  Verheerung  und  eine  schmale  Linie  Nutzen.    Mit  seinem  Regime  beginnt 


iMUlllinillllllllWIlIKMimWWliilBllllllllllMWH^^^ 

92  ™"™  ™"  ""  CHAOS  UND  KOSMOS 

der  sinnlose  Menschenverbrauch.  Er  hatte  nahezu  ein  halbes  Tausend  Schüler.  Im 
Grunde  waren  es  viel  mehr,  denn  die  Jünglinge  in  den  Ateliers  der  anderen  Lehrer 
der  Generation,  Regnault,  Guerin  usw.  sahen,  ein  einziger  Guerin«Schüler  ausge« 
nommen,  mehr  auf  David  und  seine  Adepten  als  auf  ihre  Meister,  und  die  Schüler 
der  Schüler  Davids  waren  so  gut  wie  die  seinen.  Dieses  gut  disziplinierte  Heer 
der  Drouais,  Girodet,  Beuchet,  Riesener,  Gauffier  und  Gerard  verbreitete  den  Klas« 
sizismus.  Die  Generäle  Davids  gehorchten  wie  die  Generäle  Napoleons  und  gin» 
gen  blind  für  ihn  durchs  Feuer.  Sie  gehorchten,  selbst  wenn  ihr  Instinkt  sie  in  ganz 
andere  Richtungen  wies.  Gros,  der  einzige  unter  den  direkten  Schülern,  der  fähig 
gewesen  wäre,  den  David  des  M a r a t  und  des  Doppelbildnisses  fortzusetzen  und 
einen  nicht  gewönlichen  Anlauf  nahm,  ein  geborener  Maler,  in  dessen  Werken  man, 
oft  unter  häßlichen  Krusten,  eine  mächtige  Empfindung  glimmen  sieht,  selbst  der 
plapperte,  während  seine  Hand  dem  gefesselten  Geiste  voraneilte,  die  öden  Rezepte 
nach,  trichterte  sie  seinen  Schülern  ein  und  ging  an  dem  Zwiespalt  zugrunde. 

Nur  den  Bildhauern  hat  David  nicht  geschadet.  Rüde  und  David  d' Angers  reali» 
sieren  die  gemalte  Plastik  und  machen  aus  der  Strenge  Form.  Die  malenden  Schüler 
sind  gegen  ihre  Absicht  weniger  streng,  nicht  etwa  ausWiderstand  gegen  die  Lehre, 
sondern  weil  sie  die  Archäologie  nicht  eifrig  genug  studieren.  Sie  werden  dafür 
um  so  banaler.  Das  vermeintlich  Malerische,  das  sie  dem  Lehrer  voraus  haben,  ist 
eine  doppelt  fatale  Süßlichkeit.  Das  Interieur,  das  Gros  und  Gerard  um  ihre  ge« 
putzten  Leute  bauen,  hat  nicht  mehr  die  sparsame  Distinktion  der  leeren  Zimmer 
Davids ,  sondern  ist  Protz.  Die  unverstandene  Archäologie  führt  notwendig  zum 
Historienbilde  nur  zu  gut  verstandener  Art.  Gros  mußte  einen  Delaroche  hervor» 
bringen.  Für  alle  Davidschüler  ist  der  malerische  Journalismus  eine  Befreiung. 
Nicht  jeder  half  sich  wie  der  abtrünnige  Alexandre  Fragonard,  der  eine  Generation 
nach  der  Revolution  blutige  Revolutionsbilder  mit  dem  behenden  Pinsel  seines 
Vaters  malte  und  noch  1830  wie  ein  Kind  des  Dix»huitieme  erscheint.  Nicht  jeder 
erkaufte  wie  der  geschickte  Granet  aus  Aix,  ein  ferner  Onkel  unserer  Schwind  und 
Knaus,  das  Genrebild  mit  einer  glänzenden  Beobachtungsgabe.  Davids  Klassizis» 
mus  war  stofflich.  Nun  versucht  stoffliche  Vielseitigkeit  die  einseitige  Anschau< 
ung  der  Schule  zu  ergänzen.   Schon  brandet  der  Unrat  des  Jahrhunderts. 

Alle  Davidschüler  werden  zu  Menschen,  sobald  sie  ein  Porträt  zu  malen  haben. 
Die  Hebung  der  Bildnismalerei  ist  ein  indiskutables  Resultat  des  Klassizismus.  Es 
kommt  noch  mehr  als  in  Frankreich  im  Ausland  zur  Geltung,  wo  in  der  Zeit 
der  Franzosenherrschaft  das  Bildnis  das  einzige  notwendige  Produkt  der  Eingebo« 
renen  war.    Außer  Füger  und  Graff  hatte  kaum  einer  der  Maler  in  Wien ,  Berlin 


iiniuminiiinniBiiiiiiiiiNBiinniiiiiiiiiiiiiininiiniiiiiMiniriiiiniii 


DAVID  UNDSEIN  KREIS  93 


und  in  den  Ostseeländern  dem  Dix'huitieme  eine  über  die  Verballhornung  hin» 
ausgehende  Eigenheit  hinzugefügt.  Es  gehört  große  Bescheidenheit  der  Ansprüche 
dazu,  um  in  den  gemalten  Verschrobenheiten  eines  Chodowiecki,  in  De  Marees  und 
seinem  braven  Schüler  Edlinger,  in  Hackert  und  dem  alten  Tischbein  mehr  als  eine 
recht  flaue  Folie  zu  sehen.  Der  einzige  Deutsche  in  der  Kunst  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  der  keinen  Zopf  trug  und  malerisch,  will  sagen  selbständig  sah,  war 
ein  Bildhauer,  Gottfried  Schadow.  Man  möchte  ihn  allein  wegen  ein  paar  Zeich« 
nungen  für  unseren  größten  Maler  aus  grauer  Vorzeit  halten. 

Den  schlecht  geratenen  Zopf  schnitt  die  Doktrin  Davids  ab.  Man  kann  nicht 
einmal  sagen,  sie  habe  uns  dafür  einen  anderen  angebunden,  denn  der  Platz,  den 
das  römische  Empire  Davids  bei  uns  hätte  einnehmen  können,  war  anderweitig, 
mit  dem  direkten  Import  aus  Italien,  besetzt.  Mit  der  Förderung  des  deutschen 
Bildnisses  ergänzte  die  Schule  Davids  die  wesentliche  Errungenschaft  der  deutschen 
Romfahrer.  Die  Berliner  Wach  und  Ternite  —  man  kann  auch  als  Nebenlinie 
unseren  Franz  Krüger  dazu  rechnen,  der  David  in  Berlin  studierte  — ,  der  treffliche 
Rheinländer  Kolbe,  Karl  Begas  und  Ramboux,  und  der  eigenste  von  allen  David« 
leuten  diesseits  des  Rheins,  bei  dem  es  auch  zu  mehr  reichte.  Gottlieb  Schick,  mach« 
ten  hart  aber  gerecht  das  Gesicht  des  deutschen  Bürgers.  Die  Härte  war  damals 
Mode  wie  im  achtzehnten  Jahrhundert  das  Verblasene  und  heute  das  Leuchtende. 
Sie  kam  am  besten  unseren  Eigentümlichkeiten  entgegen  und  hielt  sich  noch  lange, 
nachdem  ihre  Herrschaft  in  Paris  längst  gebrochen  war. 

Zwei  Schüler  unter  den  zahllosen  überwanden  David:  Ingres  und  Delacroix.  Der 
eine  schien  ihm  am  nächsten  zu  stehen.  Der  andere  war  nie  im  Atelier  Davids, 
aber  wurde,  so  weit  er  sich  von  anderen  erziehen  ließ,  von  Davids  engem  KoUe» 
gen  Guerin  gebildet  und  hängt  überdies  durch  Gros  und  Gericault  mit  dem  Kreise 
Davids  zusammen.  Diesem  Zusammenhang  verdankt  David  den  Titel  eines  Vaters 
der  neuen  Kunst. 


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GOYA 

Auch  der  Spanier,  der  schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  eine  Rolle  spielt,  hätte 
einen  gewissen  Anspruch  auf  den  Ehrentitel,  und  zwar  nicht  seiner  Schüler, 
sondern  seiner  selbst  wegen.  Wenigstens  kommt  uns  sein  Name  oft,  öfter  als  der 
Davids,  auf  die  Lippen,  wenn  wir  das  Neue  in  der  Malerei  des  neunzehnten  Jahr« 
hunderts  zu  analysieren  versuchen.  Auch  dieser  Vater  ist  kein  einwandfreier 
Schmuck  unseres  Stammbaumes. 

Goya  sah  dem  Empire  als  Beteiligter  auf  der  anderen  Seite  zu  und  gelangte  dabei 
nicht  zu  römischen  Dekorationen,  sondern  zu  geschlitzten  Leibern  und  blutigen 
Köpfen.  Nie  würde  man  ohne  Kenntnis  der  Biographie  vermuten,  David  sei  wäh» 
rend  der  Revolution  noch  etwas  andres  als  Maler  gewesen.  Goya  ist  ein  Stück  Revo» 
lution.  Die  Beteiligung  der  Kunst  an  den  politischen  Geschicken  ist  bei  ihm  Wirk» 
lichkeit.  Was  sein  Pinsel  von  der  Geschichte  Spaniens  meldet,  sind  Bruchstücke, 
die  das  eigene  Erlebnis  wie  ein  Blitz  beleuchtet.  Die  Kunst  scheint  das  geringste 
daran.  Zu  unserem  Begriff  von  Kunst  gehört  irgendein  Bewußtsein  von  Ordnung, 
und  die  Welt  begnügte  sich  mit  dem  Schein  einer  Davidschen  Ordnung,  um  ihn 
zum  Stil  zu  erheben.  Goya  ist  der  Prototyp  des  Regellosen,  ein  Fanatiker  des 
Durcheinanders.  Doch  verläßt  uns  nie  das  Gefühl,  seine  Unordnung  rühre  von 
einem  Überfluß  an  Kräften  her,  die  dem  Empire  nur  bei  äußerster  Anstrengung  zur 
Verfügung  blieben.  Ein  Gewaltmensch  von  der  Straße  gerät  durch  die  Umkehrung 
aller  früheren  Verhältnisse  plötzlich  in  einen  mit  Kostbarkeiten  gefüllten  Palast  und 
probiert  alle  die  feinen  Dinge  für  seine  höchst  individuellen  Zwecke.  Er  kämpft 
nicht  etwa  wie  David  gegen  die  frühere  Ordnung  zugunsten  einer  neuen,  sondern 
kämpft  mit  gleichem  Fanatismus  gegen  jede.  Nicht  einmal  in  dieser  Abneigung 
gegen  alles  Systematische  ist  System.  Er  kann  auch  anders.  Wenn  es  ihm  einfällt, 
ist  er  der  gelassenste  und  geschickteste  Kleinmeister,  macht  brave  und  banale  Tep» 
pichentwürfe,  gefällige  Bildnisse  auf  englische  Art  oder  pinselt  Fresken  i  la  Tie» 


r. 


ntiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiinniiiniiiiiiiiiiiiiiiiiii 


GOYA  95 


polo.  Dies  gehört  zu  ihm.  Wir  setzen  bei  allen  seinen  Dingen,  auch  den  wüste* 
sten,  im  stillen  hinzu:  es  fiel  ihm  ein,  diesmal  so  zu  erscheinen.  Er  ist  das  treue 
Abbild  jenes  chaotischen  Zustandes  der  Welt  beim  Übergang  von  der  alten  Zeit 
in  die  neue. 

Goya  gab  mit  dem  Verlust  des  Dix»huitieme  den  Stil  der  anderen  auf  und  be« 
gann  nahezu  eine  neue  Existenz.  Die  sicherste  Eigenschaft  seiner  eigenen  Art,  die 
er  eintauschte,  ist  ihre  Neuheit.  Wir  wissen  nichts  von  solchen  Menschen  in  der 
vorhergehenden  Kunstgeschichte.  Er  hat  Einfälle  wie  Bosch,  ist  liederlich  wie 
Magnasco  und  scheint  von  Velasquez  gelernt  zu  haben.  Aber  alles  das  und  alles, 
was  man  sonst  noch  von  früherem  in  ihm  entdecken  mag,  ist  stofflich,  bleibt  äußer« 
lieh,  sagt  nichts  von  seinem  Wesen.  Am  weitesten  entfernt  er  sich  von  dem  herr» 
sehenden  Pariser  Regime.  Er  ist  ungefähr  das  diametrale  Gegenteil  der  Strenge  der 
Horatier  oder  der  straff  gezogenen  Gefühlsduselei  des  Brutus.  Doch  wird 
man  noch  am  ersten  in  David  und  dem  Kreise  Davids  weitläufige  Verwandte  fin« 
den.  Nur  das  Bewegliche  seiner  Massenschilderung  ist  David  ganz  entgegen  und 
wäre  eher  von  dem  Sohne  Fragonards  gewürdigt  worden.  Doch  begegnen  wir  im 
Werke  Goyas  zuweilen  derselben  Wucht,  die  David  in  die  Materie  seines  Marat 
und  seines  Doppelbildnisses  mit  dem  Papst  und  dem  Legaten  bannte  und  die  Gros 
in  glücklichen  Momenten,  z.  B.  in  dem  Schlachtfeld  von  Eylau,  noch  häufiger  Geri» 
cault  wiederfand.  Eine  persönliche  Beziehung  zwischen  David  und  Goya  ist  so  gut 
wie  ausgeschlossen.  Die  Begegnung  in  Rom  ist  Fabel.  Und  was  hätte  der  junge 
David  dem  tollen  Spanier,  der  sich  in  Rom  nicht  mit  kaltem  Marmor,  sondern  mit 
lebenden  Nonnen  amüsierte,  geben  können!  Da  wo  Davids  Archäologie  saß,  hatte 
Goya  einyi  Malpinsel  stecken,  der  sich  des  Abends,  wenn  es  nottat,  in  ein  gutes 
Messer  verwandelte.  Auch  den  Mord  hat  dieser  Benevenuto  Cellini  des  Cirkus 
einfacher  gehandhabt.  Übrigens  war  Goya  längst  in  Saragossa  und  hatte  dort  schon 
viele  Quadratmeter  Fresken  konfektioniert,  als  David,  im  Herbst  des  Jahres  1775, 
nach  Rom  aufbrach.  Zur  Erklärung  des  fadenscheinigen  Kompromisses  Goyas  zwi» 
sehen  Dix»huitieme  und  Klassizismus  genügt  hinreichend  Raphael  Mengs,  der  mäch« 
tige  Hofmaler  Spaniens.  Man  muß  also  annehmen,  das  mit  David  Gemeinsame 
habe  damals  in  der  Luft  gelegen. 

Goya  erscheint  uns  wie  das  schlechte  Gewissen  des  Empire.  Er  malte  das.  was 
die  anderen  dachten.  Gemeinsam  mit  David  ist  ihm  das  Proletarische  der  Herkunft 
und  die  innere  Willkür  und  die  Seltenheit  der  Höhe  seines  Schaffens.  Aber  Goya 
organisiert  seine  Irrtümer  so  wenig  wie  seine  schöpferische  Intuition,  bleibt  In» 
stinkt  auch  da ,  wo  er  sich  verkleidet  und  verstellt.    Er  steht  dem  groben  Stilisten, 


iniwniBiiiniijiiiiuiiiiiiiininiiti!iiiiiHiiiiiifflniiiioii!»iiiiMH^ 


96  CHAOS  UND  KOSMOS 


iiiiiKTuiinimiliiinhiiii 


dem  keine  Archäologie  das  Unklassische  des  ganzen  Wesens  mildert,  wie  der  rohe 
aber  kräftige  Naturmensch  gegenüber,  der  seines  Zynismus  froh  ist;  ein  aufrichtiger 
Barbar  ohne  jedes  Repräsentationsgelüst,  bürgerlicher  in  einem  nicht  gewöhnlichen 
Sinne  als  alle  Pariser,  die  sich  Citoyens  titulierten,  im  Besitz  eines  weiteren,  wenn 
auch  nicht  wohlriechenden  Kollektivbegriffs.  Wir  sehen  ihn  oft  allein  in  seiner 
Kunst.  Das  Phänomenale  seiner  Art  könnte  uns  treiben,  ihm  die  Einsamkeit  eines 
Greco  anzudichten.  Nichts  wäre  verkehrter.  Nie  fühlte  er  sich  allein,  noch  wollte 
er  sich  allein  fühlen.  Er  wandte  sich  an  den  Pöbel,  wenn  kein  anderes  Publikum 
da  war.  Dieses  Bedürfnis  läßt  zuweilen  einen  das  Unrecht  geißelnden  Volkstribun 
erraten,  ebenso  oft  einen  Satyr,  der  für  seine  Wollust  Zuschauer  braucht,  um  sich 
auf  den  Gipfel  zu  treiben.  Wenn  Goya  einmal  im  Sinken  ist,  sinkt  er  tiefer  als  der 
Letzte  der  Davidschule.  Er  hat  keine  Formel,  um  sich  zu  sichern.  Ein  wüster  Ap'= 
petit  stößt  ihn  auf  alles,  was  kein  Vorbild  besitzt.  Nur  das  von  keiner  Kunst  Be» 
rührte  gibt  ihm  den  Rausch.  Er  hätte  Phidias  für  eine  Corrida  gelassen.  Zuweilen 
glaubt  man,  ein  vom  Geist  Geknechteter  habe  sich  dem  Ungeistigen  verschworen. 
Die  Caprichos  sind  Träume  eines  der  Inquisitioh  entlaufenen  Mönches,  der  sich 
vergeblich  austobt.  Der  wahre  Feind,  gegen  den  sich  die  Satire  richtet,  scheint  die 
Vernunft,  die  Gebärerin  der  „Monstruos". 

Mit  der  hemmungslosen  Sucht  nach  dem  Stoff  hchen  nimmt  er  das  Jahrhundert 
vorweg.  Doch  muß  man  ihm  lassen :  er  simuliert  nicht  mit  dem  Laster.  Die  ge» 
schwoUene  Impotenz  der  Nachfolger  des  Klassizismus,  die  den  Stoff  ausklügelt, 
ist  ihm  ebenso  fem  wie  die  Phrase  Davids.  Eher  mordet  er  seine  Motive.  In  dem 
Banalsten  fühlt  man  die  Kraft  des  Zügellosen,  der  nie  an  Sparen  denkt.  Nichts 
Großes,  aber  auch  nichts  Kleines  hemmt  ihn.  Seine  laute  Welt  verdirbt  den  Kunst* 
1er,  zuweilen  den  Maler,  nie  sein  Auge.  In  dem  wüsten  Straßenkampf  desPrado 
fühlt  man  noch  den  die  Wirklichkeit  überrasenden  Blick.  Das  Tempo  macht  ihn 
unwahr,  nicht  der  unehrliche  Wille. 

War  sich  Goya  immer  seiner  Dinge  bewußt?  Hat  er  der  Herzogin  Alba  seinen 
Spott  oder  seine  Verehrung  dargebracht?  Ahnte  er  die  ungeheuerliche,  durch  den 
Prunk  der  Farben  verdoppelte  Karikatur  auf  die  Königsfamilie?  Der  Pinselstrich 
krümmte  sich  vielleicht  ohne  seine  Absicht  zur  Fratze,  so  wie  die  Sprache  seiner 
Landsleute  schlecht  die  Grenze  zwischen  Spott  und  hochachtungsvoller  Ergeben» 
heit  innehält.  Goya  war  bis  in  die  letzte  Faser  Spanier.  Das  ist  vielleicht  seine  ent» 
scheidendste  Neuheit.  Kein  Klassizist  hat  je  den  Umfang  seines  Nationalismus  er» 
reicht.  Dafür  sorgte  die  strenge  Formel.  Aber  auch  kein  Meister  des  Dix»huiteme, 
was  mehr  bedeutet,  ist  je  so  vollständig  —  ich  sage  nicht,  so  vollkommen  —  Fran« 


1 


iiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiw 


GOYA 


97 


zose  oder  Engländer  gewesen  wie  Goya  Spanier.  Wahrscheinlich  läßt  uns  diese 
Einsicht  den  Mangel  an  Ordnung  leichter  ertragen.  Wir  nehmen  ihn  wie  eine  ethno' 
graphische  Eigentümlichkeit. 

Dieses  unbewußte,  zügellose,  urkräftige  Rassegefühl  zog  Goya  in  Untiefen  und 
trieb  ihn  auf  Höhen.  Ein  Spanier,  dem  die  in  der  Kunst  neuen  Motive  seine  ge« 
wohnte  Welt  bedeuten,  malt  das  Vielerlei.  Er  sieht  nicht  nur  das  kuriose  Ding, 
sondern  auch  das  Gefühl,  mit  dem  er  es  betrachtet.  Das  Gefühl  ist  wirr,  aber  Be» 
wegung.  Die  Sucht,  es  zu  fassen,  eine  Torerolust,  das  Objekt  in  die  empfindliche 
Stelle  zu  treffen,  macht  ihn  zum  Erfinder. 

Goyas  glückliche  Momente  hängen  nicht  vom  Motiv  ab,  denn  er  hat  in  fast 
jeder  Gattung  der  Malerei  Perlen  geschaffen;  sondern  von  seinen  Launen,  von 
günstigen  Konstellationen  seines  ungefügen  Temperaments.  Sie  erscheinen  wie  Zu» 
fallsgewinnste.  Immerhin  sind  sie  häufiger  als  die  Lichtblicke  Davids.  Der  Zufall 
ist  gnädiger  als  die  starre  Formel.  Und  auch  da,  wo  ihm  das  Glück  nicht  treu  bleibt, 
hindert  uns  nicht  die  Wand  einer  asketischen  Doktrin,  in  den  Fragmenten  Möglich« 
keiten  der  Lösung  zu  suchen. 

In  seinen  glücklichen  Momenten  hat  er  Bilder  wie  die  Berliner  Cucafia  ge» 
malt,  Neuheiten  des  Geistes,  nicht  der  gegebenen  Welt,  obwohl  sie  wie  von  der 
Natur  geschaffene  Symbole  erscheinen.  Es  ist,  als  ginge  die  ganze  unbändige  Be» 
wegung  des  Zügellosen  in  das  unbegrenzte  Leuchten  der  Farben  über  und  als  über» 
nähme  die  Materie  des  Gemalten  an  Stelle  des  Motivs  die  Rolle  des  Interpreten 
seiner  Düsterkeit.  Die  Unabhängigkeit  von  jedem  geläufigen  Prinzip,  die  oft  den 
Maler  zu  eng  mit  dem  Objekt  zusammenbringt,  führt  dann  zu  einer  seltenen  Höhe 
des  Abstrakten,  zu  einer  ebenso  gewaltigen  Gedankenwirklichkeit.  Wie  der  Pinsel 
ohne  besondere  Absicht  des  Malers  die  Fratze  formte,  so  gibt  er  jetzt  scheinbar  von 
selbst  die  fruchtbare  Atmosphäre,  in  der  die  Menschen,  Leichen,  Tiere  und  alle 
anderen  Seltsamkeiten  nicht  mehr  seltsam  sind.  Diesem  Goya  hat  nur  Rembrandt 
Vorbilder  geschaffen. 

Auch  dieser  Goya  malt  Bildnisse.  Es  geschieht  nicht  oft.  Unter  hundert  Malen, 
wo  er  mit  Kompromissen  oder  mit  seinen  Modellen  spielte,  war  er  ein  einziges  Mal 
ganz  echt.  Die  echten  stehen  neben  denen  des  englischen  Goya  und  des  sanften 
Mengsadepten  —  eine  Wildkatze,  die  ihre  Krallen  mit  Watte  polstert  —  wie  Men» 
sehen  neben  Spiegelbildern.  Die  Pracht  belebt  ein  wilder  Bojarenübermut.  In  der 
Bermudez  der  Pester  Galerie  wird  der  Weg  der  Engländer  mit  Siebenmeilenstie» 
fein  rekapituliert  und  eine  in  Spanien  seit  Greco  nie  gesehene  Herrlichkeit  gewon» 
nen.  Man  ist  versucht,  den  Zügellosen  für  einen  alten  Meister  zu  halten. 


wniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiillllliiilliiiiiin iiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiwiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiliiiliiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiu^ 

98  CHAOS  UNEJ  KOSMOS 


iiiimiiiiiiiiiiiiniiiiwiiiimNiiiwi 


Er  war  Maler.  Aus  allen  Verirrungen  fand  der  Instinkt  des  Malers  den  Ausweg 
Er  konnte  wie  David,  wenn  er  wollte,  wollte  weniger,  aber  konnte  tausendmal 
mehr.  Wie  in  dem  einzig  erhaltenen  Räume  eines  eingeäscherten  Herrenhauses 
alles  Gerettete  über«  und  nebeneinander  steht,  so  lagen  in  seinem  Hirn  alle  hand« 
werklichen  Erfahrungen  der  Blütezeit  durcheinander.  Da  waren  Stücke  von  Tizian, 
von  Hogarth,  von  Rembrandt,  von  Tiepolo.  Ein  guter  Augenblick  des  Bewußt» 
Seins,  und  das  Verworrene  ordnete  sich  und  wurde  lebend. 

David  und  Goya  sind  Grenzwerte  ihrer  und  noch  viel  mehr  der  kommenden  Zeit, 
gleichzeitig  Väter  und  Symbole.  Nicht  alle  unsere  Tugenden,  sicher  aber  alle  un* 
sere  Laster  sind  in  ihnen:  die  Routine  der  Masse  und  das  Ziellose  der  isolierten 
Begabung;  die  Spekulation,  die  es  bis  zur  Erstarrung  treibt,  und  die  Unordnung, 
die  sich  nicht  weniger  absurd  gebärdet.  Auch  von  unseren  Höheren  sagen  sie  viel 
voraus,  am  deutlichsten  eins :  ihre  Seltenheit.  Auch  das  gehört  dazu :  daß  man  von 
einem  David  zu  einem  Goya  wandert,  von  einem  Goya  zu  einem  Ingres. 


I 


INGRES 


Im  Museum  von  Montauban,  dem  Ruhmestempel  Ingres',  gibt  es  Zeichnungen 
für  die  Recamier  des  Louvre,  die  Ingres  im  Auftrage  Davids  gemacht  hat  und 
die  nicht  wenig  zu  dem  Reiz  des  Bildnisses  beigetragen  haben  mögen.  Es  sind  Stu» 
dien  nach  dem  bekleideten  und  nach  dem  nackten  Modell.  Die  Aktstudien  könnten 
ebensogut  für  die  große  liegende  Odaliske  Ingres'  gemacht  sein.  Sie  geben  fast 
genau  die  Umrisse  des  Körpers,  den  auf  dem  Bildnis  Davids  der  weiche  Linon  ver» 
hüllt,  und  man  braucht  sich  nur  das  orientalische  Dekor,  die  blauen  und  gelben 
Stoffe,  das  Kopftuch,  den  Federfächer  dazu  zu  denken,  so  ist  das  Meisterbild  des 
jungen  Ingres  fertig. 

Einige  Bildnisse,  das  Porträt  Davids  nach  dem  jungen  Ingres,  sein  frühes  Selbst» 
bildnis  im  Louvre  und  Ingres'  frühes  Selbstbildnis,  auch  das  Porträt  Ingres'  nach 
seinem  Kameraden  Granet,  im  Museum  von  Aix,  ergänzen  die  Berührungsfläche. 
Sie  ist  nicht  geringfügig  und  scheint  auf  den  ersten  Blick  wesentlicher  als  das  Ge» 
meinsame  zwischen  David  und  Gros  oder  gar  zwischen  David  und  Gericault.  Doch 
wird  sie,  wenn  wir  nicht  einzelne  Werke,  sondern  CEuvre  und  CEuvre  gegenüber* 
stellen,  zu  der  schmalen  Tangente  zwischen  zwei  sich  berührenden  Kreisen  von  ver» 
schiedenen  Radien,  und  selbst  das  Gemeinsame  in  jenen  Bildnissen  ergibt  sich  dann 
als  eine  Äußerlichkeit. 

Mit  der  Enthüllung  derOdaliske  wird  eine  EigenschaftDavids,  die  dem  Recamier« 
gemälde  unentbehrlich  erscheint,  ganz  weggewischt:  das  Empire.  Alles,  was  wir  da» 
runter  im  Nahen  und  Weiteren  verstehen,  die  Welt  von  Beziehungen,  die  uns  mit 
einem  Gerät,  mit  einer  Schleife  hundert  Vertrautheiten  gibt,  fällt  fort,  und  wir  irren, 
wenn  wir  meinen,  sie  würde  durch  das  Orientalische  ersetzt.  Das  nicht  geringe  Auf« 
gebot  von  dekorativen. Reizen  hat  für  die  Odaliske  eine  ganz  andere  Bedeutung. 
Es  gehört  viel  intensiver  zu  ihr.  Wir  können  uns  diesen  gestreiften  Turban,  diese 


iiiiiiiliiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiii>||iiniiiii><iiiiiiiii'iiiBn 

100  CHAOS  UND  KOSMOS 


Kissen,  dieses  Blaugelb  der  Umgebung  viel  schwerer  wegdenken  als  das  wenige, 
das  David  um  seine  Helden  ließ.  Aber  dieses  Dekor  hilft  uns  nur  wenig,  die  Fremd» 
heit  zu  überwinden.  Es  hilft  nur  ihr.  Es  gehört  zu  der  Odaliske,  zu  ihrer  Seltenheit, 
nicht  zu  uns. 

Der  Anteil  Davids  an  seiner  Recamier,  der  über  das  Empire  hinausgeht,  ist  ein 
Hauch  der  Wucht,  die  den  Marat  oder  das  Doppelbildnis  mit  dem  Papst  und  dem 
Legaten  belebt.  Er  verbürgt  das  Regsame  der  menschlichen  Gestalt  und  der  Geräte. 
Und  auch  davon  ist  nichts  übrig  geblieben.  Nicht  ein  Atom  jenes  latenten  Ru« 
benshaften,  das  immer  wieder  das  Römertum  Davids  beschwichtigt  und  seiner  Schule 
zu  einem  uneingestandenen  Schutz  wird,  wirkt  in  der  Odaliske.  Der  große  Flame 
gehört  zu  den  nicht  seltenen  Meistern,  die  Ingres  Zerstörer  nannte  und  mit  aller 
Energie  seines  naiven  Gemüts  verachtete.  Jetzt  erst  verschwindet  der  letzte  Rest  der 
Welt,  die  Tizian  und  Rembrandt  bauten.  Das  Leben  in  dieser  gewohnten  Form  ist 
so  endgültig  ausgeschieden,  daß  uns  die  Odaliske  wie  tot  erscheinen  könnte.  Der 
Recamier  raubt  keine  Form  die  Möglichkeiten  einer  leibhaftigen  Existenz.  Sie  ruht 
auf  dem  Möbel,  weil  sie  so  gemalt  wurde.  Gleich  wird  sie  sich  erheben  und  dem 
Besucher  entgegengehen.  Die  Leere  des  Bildes  hindert  uns  nicht,  den  Kreis  zu  den» 
ken,  der  die  geistvolle  Frau  umgab.  Die  Odaliske  ist  namenlos  und  zeitlos.  Wir 
könnten  nicht  einmal  sagen,  zu  welchem  Lande  sie  gehört.  • 

Ist  die  Nacktheit  daran  schuld?  Alle  nackten  Frauen  der  alten  Kunst  widerspre» 
chen,  und  zwar  nicht  nur  die  Antiopen  Correggios  und  die  Blumengöttinnen  Fous» 
sins,  auch  die  anderen,  die  kein  Band  mit  der  malerischen  Art  der  Venezianer  ver« 
knüpft,  deren  Form  weniger  von  dem  farbentrunkenen  Pinsel  als  von  der  Kelle  des 
Bildhauers  bestimmt  scheint.  Keine  Venus  eines  Quattrozentisten,  keine  Eva  Dürers 
oder  Cranachs,  keine  Diana  der  alten  Schule  von  Fontainebleau,  an  die  man  bei  dem 
Franzosen  vielleicht  noch  am  ersten  denken  könnte,  entzieht  sich  so  hartnäckig  jeder 
Berührung.  Die  Härte  ist  bei  Filippo  Lippi  nur  das  starre  Kleid  um  einen  pul» 
sierenden  Körper,  bei  Botticelli  ein  oft  unzureichender  Schutz  gegen  das  Über» 
schwengliche,  bei  unseren  Alten  das  grobe  Wort  tiefen  Gemüts.  Ingres'  Gestalten 
haben  nicht  diese  Härte.  Nichts  ist  geschmeidiger  als  die  Schlankheit  der  Odalisken, 
nichts  weicher  als  die  rundliche  Fülle  der  Badenden  in  dem  Bain  Türe.  Und  die 
meisten  Bildnisse  der  Davidschule  sind,  obwohl  vielleicht  der  Maler  alle  möglichen 
versteckten  Beziehungen  zu  rein  malerischen  Werten  in  ihnen  findet,  grob  und  plump, 
hart  in  einem  nicht  mißzuverstehenden  Sinne  neben  einer  Madame  Riviere,  einer 
Delphine  Ramel,  einem  Bertin  und  den  vielen  anderen  Frauen  und  Männern,  die 
Ingres'  Hand  unsterblich  gemacht  hat.  Nichts  ist  empfundener  als  ein  Nacken  Ingres', 


ni  ■niiiiiiiiiiNiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  IUI  lim  iiniiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiimiiiiiHi 


INGRES 


101 


ein  Mund,  eine  Hand,  und  wie  sich  Beine  stellen  und  legen.  Die  Kurzsichtigen,  die 

ihm  Mangel  an  Gefühl  vorwerfen,  haben  selbst  zu  wenig  davon. 

Ingres'  Härte  —  wenn  das  Noli  me  tangere  seiner  Gestalten  so  zu  nennen  wäre  — 
ist  ein  komplizierter  Begriff,  den  man  nicht  in  den  unbedingt  hindernden,  am  we* 
nigsten  in  kunstfeindlichen  Tendenzen  zu  suchen  hat.  War  er  gefühllos,  so  war  er 
es  nur  gegen  sich  selbst  aus  einem  übergroßen  Gefühle  für  Kunst.  Er  ist  fast  deutsch 
in  seinem  Kunstfanatismus,  und  wirklich  gibt  es  keinen  zweiten  Franzosen,  zu  dem 
sich  bei  uns  so  viele  Parallelen  finden  lassen.  Was  er  voraus  hat,  ist  der  Organis* 
mus,  mit  dem  er  seinem  Fanatismus  begegnet. 

Sein  erster  Eindruck  in  Italien  liegt  in  dem  Ausruf:  „Wie  hat  man  mich  betrogen!" 
Das  Wort  ist  der  Abschied  an  David  und  wird  nie  zurückgenommen.  Mit  heller 
Empörung  erkennt  er  die  grobe  Fiktion,  mit  der  sich  sein  Lehrer  begnügt  hatte,  und 
entsetzt  sich  über  die  Blasphemie  an  dem  Heiligtum.  Nun  wird  aus  dem  kalten 
Utilitarismus,  der  die  Alten  zu  Dekorationen  und  geschwollenen  Phrasen  verwendet 
hatte,  die  Anbetung  des  begeisterten  Jüngers.  Nur  der  restlosen  Hingabe  an  das 
Vorbild  kann  das  bon  sentiment  des  choses  zugänglich  werden.  Poussin  —  La» 
pauze  zitiert  den  Ausspruch')  —  wäre  nie  so  groß  gewesen,  wenn  er  nicht  eine 
doctrine  gehabt  hätte.  Und  diese  Doktrine  war,  so  glaubte  der  Enthusiast,  die  An« 
tike.  Er  sah  in  Poussin  nur  den  Kopisten  der  Aldobrandinischen  Hochzeit,  nicht 
den  Erleuchteten,  der  Tizian  im  Auge  behielt.  Es  gab  einmal  auf  der  Erde  einen 
kleinen  Erdenwinkel,  wo  unter  einem  besonders  schönen  Himmel  ein  besonders 
begabtes  Volk  lebte,  die  Griechen.  Dem  gelang  es,  über  die  Dinge  der  Natur 
ein  zweites  Licht  zu  verbreiten,  die  Kunst.  Homer  begann.  Er  schied  das  Schöne 
vom  Häßlichen,  so  wie  Gott  das  Chaos  in  Licht  und  Finsternis  schied.  Alle  großen 
Griechen  sind  seine  Schüler.  Sie  haben  alle  Künste  so  vollkommen  beherrscht,  daß 
Griechisch  und  Schön  zu  einem  Begriff  geworden  sind.  Die  Regeln,  die  sie  aufstell« 
ten,  sind  ewig.  Solange  die  Welt  ihnen  folgte,  hatte  man  die  Schönheit.  Als  man 
sie  verlor,  kam  das  Chaos  zurück.  Später  haben  sich  große  Leute  auf  Griechen» 
land  besonnen,  am  klarsten  einer:  Raffael"). 

David  kam  einmal  wie  durch  Zufall,  infolge  eines  günstigen  Kräfteausgleichs  zu 
Raffael.  Nichts  war  weniger  raffaelisch  als  seine  Gesinnung.  Für  Ingres  wird  der 
Urbinate  zum  Beruf.  Nur  mit  seinen  Mitteln  ist  der  hohe  Ausdruck  sittlicher  Mäßi« 


')  Les  dessins  de  J.  A.  D.  Ingres  (Bulloz,  Paris  1891),  vgl.  auch  Lapauze:  Ingres,  sa  vie  et  son 
CEUvre  (Paris  1911). 

*)  So  etwa  zitiert  Boyer  d'Agen  in  seinem  »Ingres,  d'apris  une  correspondance  inidite«(H.Dara 
gon,  Paris  1909). 


lllllllllllilllllllllilllllllilllllllliilllllllMlltilllllllillM^ 


nnitiiiimititMiiti'MiiHiiiiiHHiiiiiiiiiiiiiHiniiniiitiiiiiiKiiiriiiii'iiiiii 


102  CHAOS  UND  KOSMOS 


gung,  das  Schöne  ohne  Übertreibung,  erreichbar,  das  Ziel  aller  Selbstzucht.  Michel« 
angelo  überbot  vergebens  und  bereitete  den  Verfall.  Raffael  ist  höchste  Ordnung, 
das  Heil. 

Das  wird  zum  Evangelium.  Man  muß  sich  Ingres  immer  als  den  Nachfolger  der 
Revolution  denken,  der  nicht  wie  David  mitgetan  hat  und  in  den  Kämpfern  nur 
Zerstörer,  in  ihren  Notwendigkeiten  Willkür  erblickt.  Eins  tut  vor  allem  not:  Ord» 
nung,  strengste  Ordnung.  Zum  erstenmal  fühlt  ein  Künstler  für  sich  allein  die  volle 
Verantwortung  für  sein  Tun  und  Treiben,  und  zwar  nicht  nur  wie  eine  Forderung 
des  Instinkts,  sondern  wie  eine  Pflicht  der  Moral  und  Vernunft.  Das  geringste  Ab* 
rücken  von  dem  einmal  erkannten  Ziel  wäre  ihm  Abfall  vom  Ideal.  Die  Einseitig« 
keit  wird  ein  Bedürfnis  der  Reinlichkeit.  David  verdankt  seine  Rettung  einer  wohl« 
tätigen  Inkonsequenz.  Die  Doktrin  hatte  Löcher,  durch  die  das  Leben  eindrang. 
Für  solche  Auswege  hat  Ingres  nur  Verachtung.  Der  ganze  lockere  Kollektivbegriif 
der  Davidschen  Kunst  ist  ihm  ein  Greuel.  Es  handelt  sich  nicht  etwa  darum,  per« 
sönlicher  als  die  Davidleute  zu  sein,  sondern  um  eine  viel  weitergehende  Hingabe 
des  Persönlichen  zugunsten  des  Ideals.  Die  Kunst  ist  eine  Insel,  schwer  zugänglich 
und  von  Feinden  umgeben.  Wer  da  hinein  will,  muß  alle  Kompromisse  hinter 
sich  lassen,  auch  den  trügerischsten  von  allen,  den  mit  der  angeborenen  Eigenheit. 
Nichts  Gutes  ist  uns  Barbaren  angeboren.  Kniend  betrachten,  kniend  zu  erkennen 
suchen  und  dann  das  eine  Einzige  festhalten  wie  den  lieben  Gott,  der  keine  ande« 
ren  Götter  neben  sich  duldet.  »Ah,  le  plaisant  et  monstrueux  amour,  d'aimer  de  la 
meme  passion  Murillo,  Velasquez  et  Raphaell  Ceux  qui  pensent  ainsi,  n'ont  ja« 
mais  ete  admis  ä  l'intelligence  supreme  de  la  beaute;  et  la  nature,  en  les  creant, 
leur  a  refuse  un  sens.«*) 

So  exklusiv  wie  in  der  Malerei  ist  er  in  der  Musik,  die  er  leidenschaftlich  liebt 
und  betreibt.  Mozart  ist  ihm  der  Raffael,  der  das  Griechentum  am  reinsten  bewahrt 
hat,  Haydn  und  Gluck  und  allenfalls  Beethoven  —  „ein  delirierender  Mozart"  — 
stehen  daneben.  Mit  denen  kommt  er  sein  ganzes  Leben  aus.  Die  anderen  sind  ihm 
Velasquez. 

Ingres  war  sterblichen  Regungen,  auch  der  Eitelkeit  nicht  unzugänglich  und  schäm« 
te  sich  nie  seines  gesunden  Egoismus.  Dagegen  waren  seine  Beziehungen  zur  Kunst 
von  den  frühesten  Anfängen  bis  zu  dem  Ende  von  reinstem  Idealismus  bestimmt. 
Nie  drückte  ihn  die  Abhängigkeit  von  seinem  Idol,  noch  kam  es  ihm  je  in  den  Sinn, 
sie  zu  verbergen.  Alles,  was  ihm  gelang,  schrieb  er  Raffael  zu.  Er  hat  gelassen  die 

•)  Brief  an  Gilibert.  Vgl.  Boyer  d'Agen  (S.  100) ;  dort  auch  die  Bezeichnung  der  Komponisten 
Cramer,  Spohr  und  Ramberg  als  »nos  Velasquez  en  musique«. 


I 


INGRES 


103 


Angriffe  auf  sein  Akademikertum  ertragen  und  sich  der  Ehren  gefreut,  die  bei  wei* 
tetn  zahlreicher  waren.  Er  hielt  auf  Preise,  aber  hätte  nicht  eine  Linie  seines  Pro» 
gramms  geopfert,  wenn  sie  auf  dem  bescheidenen  Niveau  seiner  ersten  Romzeit  — 
20  Lire  für  das  gezeichnete  Porträt  —  geblieben  wären. 

Der  Absolutismus,  der  seine  Doktrin  beschränkte,  steigerte  seine  Kunst.  Man 
konnte  mit  seinen  Theorien,  wie  Hunderte  seiner  Schüler  beweisen,  zur  ledernsten 
Banalität  werden.  Er  korrigierte  seine  Theorie,  indem  er  sie  übertrieb,  und  wurde 
viel  päpstlicher  als  der  Papst.  Raffael  war  ein  schwungvolles  Temperament  neben 
ihm.  Ingres  entnahm  ihm  nur  das,  was  seiner  besonderen  Sphäre  zugänglich  war,  das 
bis  zum  Letzten  getriebene  Objektive  aller  Details  und  ersetzte  den  Rest  durch  seine 
unerschütterliche  Ruhe.  Er  behielt  die  Gelassenheit  auch  bei  der  Behandlung  von 
Stoflfen,  die  ohne  Bewegung  nicht  dargestellt  werden  können.  Es  wurden  daraus 
zuweilen,  zumal  wenn  er  sich  auch  noch  im  Format  vergriflf,  unbeschreiblich  drollige 
Dinge,  die  wir  nie  ohne  Lächeln  betrachten,  und  es  wurden  immer  Bibelots  von  sei» 
tenster  Kostbarkeit  daraus,  wie  diePrancesca  da  Rimini  oder  dieStratonice  in 
Chantilly.  Die  Stratonice  hat  er  selbst  einmal  eine  „grande  miniature  historique" 
genannt,  und  es  wäre  kaum  möglich,  solche  Bilder  treffender  zu  bezeichnen.  Sie 
sind  nicht  mehr  als  handwerkliche  Kunststücke,  und  man  kann  ihre  Reize  nur  in 
dem  Dekorativen  suchen.  Aber  sie  sind  dieses  Winzige  so  sublim  und  scheinen  so 
geflissentlich  nichts  anderes  sein  zu  wollen,  daß  man  schon  aus  einer  versteckten 
Opposition  gegen  die  Bescheidenheit  des  Autors  sie  für  mehr  halten  möchte.  Die 
Nuance  von  unfreiwilliger  Komik  scheint  ihnen  den  Geist  zu  geben,  vor  dem  sie 
sich  gewaltsam  verschließen.  Wie  hoch  steht  die  Stratonice  von  Chantilly  über 
dem  gleichen  Vorwurf,  mit  dem  David  seine  Karriere  begann! 

Raffael  paktierte  zuletzt  mit  den  Venezianern.  Weil  der  Jünger  das  wußte,  fand 
Tizian  vor  dem  Kritiker  Ingres,  der  Rubens  einen  Fälscher  nannte,  Gnade  *),  nicht  vor 
dem  übertreibenden  aber  konsequenten  Instinkt  des  Künstlers.  Von  der  Atmosphäre 
um  LeoX.  in  dem  Gemälde  des  Pitti  ist  in  dem  Bertin  kaum  ein  Hauch  übrig  ge» 
blieben.  Aber  dieser  genügt  dem  Bilde.  Die  Atmosphäre  geht  in  demselben  Maße 
zurück,  in  dem  die  ganze  Gestaltung  für  den  Dienst  einer  bescheideneren  Aufgabe 
reduziert  wird.    Ingres  wäre  unfähig  gewesen,  zum  objektivierenden  Biographen 

')  Ingres  ließ  Tizian  gelten  und  lehnte  Rubens  ohne  mildernde  Umstände  ab,  weil  er  Tiiian  für 
wahr  hielt  und  Rubens' Differenzierung  des  Natürlichen  für  unwahr.  „Rubens  et  van  Dyck  peuvent 
plaire  au  regard  mais  ils  le  trompent,  ils  sont  d'une  mauvaise  icole  coloriste,  de  i'icole  de  mensonge. 
Titicn,  voilä  la  couleur  vraie,  voilik  la  nature  sans  cxagiration,  sans  iclat  forci:  C'est  jusfe  "  (Boyer 
d'Agen.)  Derselbe  Instinkt  nannte  Shakespeare  „monstrueux"  und  vermochte  nur  mühsam  Rem» 
brandt  mit  einigem  Respekt  zu  begegnen. 


niiMHBiiniiniinniiiiiiiniiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiniiiiiniiiH 


104  CHAOS  UND  KOSMOS 


eines  Leo  X.  zu  werden.  Der  Gefühlsinhalt,  der  mit  solchen  Vorstellungen  verbun» 
den  sein  muß,  wenn  wir  uns  nicht  als  Betrogene  fühlen  wollen,  war  ihm  fremd. 
Dafür  beherrschte  er  die  Sphäre  seines  Bertin  so  gründlich  wie  Raffael  die  seines 
Modells  und  stellte  sie  auf  dieselbe  Art,  mit  derselben  Vollständigkeit  dar,  die  wir 
an  dem  Leo  X.  bewundem.  Der  Parallelismus  ist  so  vollkommen,  daß  sich  alle  Diflfe» 
renzen  auf  die  Einsicht  beschränken:  Es  gibt  keine  Päpste  wie  diesen  in  unseren 
Zeiten,  und  es  gab  keine  Bertins  im  Cinquecento.  Auf  dem  Wege,  auf  dem  Raflfael 
mit  dem  Papste  die  Epoche  Leos  X.  summiert,  und  soweit  er  sie  summiert,  macht 
Ingres  aus  dem  klugen  Gründer  des  Journal  des  Debats  den  Repräsentanten  des 
bourgeoisen  Frankreichs,  den  „Buddha  des  schrotigen,  gemästeten,  triumphierenden 
Bürgertums",  wie  Manet  bewundernd  sagte.  Die  außerordentlich  treffende  Anpas» 
sung  Ingres'  an  sein  Sujet  nimmt  seiner  Reduktion  alles  Negative.  Die  Fähigkeiten 
erscheinen  weniger  verringert  als  zusammengezogen,  um  ein  viel  weniger  plastisches 
Motiv  ebenso  plastisch  darzustellen.  Der  Verzicht  auf  den  Umfang  ergibt  sich  als 
logische  Notwendigkeit  und  kommt  einer  Konzentration  des  Inhalts  zugute. 

Diese  Reduktion  bestimmt  alle  Wirkungsfaktoren,  auch  das  Farbige,  und  die  Logik 
des  Systems  bricht  allen  Angriffen  auf  die  vermeintlich  dürftige  Koloristik  des 
Meistes  die  Spitze  ab.  Man  kann  den  ganzen  Ingres  ablehnen,  nicht  einen  Teil  von 
ihm.  Baudelaire  verstieg  sich  zu  der  Ungeheuerlichkeit,  Ingres  habe  nach  dem 
Ruhme  eines  Velasquez  oder  Lawrence  gestrebt  *).  Geradeso  gut  könnte  man  Baude» 
laire  vorwerfen,  der  Ruhm  eines  Historikers  habe  ihm  die  Ruhe  geraubt.  Ebenso 
verkehrt  scheint  mir  der  billige  Ausweg  aus  dem  Problem  Ingres',  seiner  Zeichnung 
alles,  der  Farbe  nichts  zuzusprechen.  Wohl  hat  er  sich  mit  Farbentheorien  nicht  den 
Kopf  zerbrochen,  mit  diesen  so  wenig  wie  mit  anderen  Theorien.  Er  war  im  Grunde 
eine  ganz  naive,  höchst  unproblematische  Natur.  Es  klingt  recht  primitiv,  wenn  er 
notiert,  zweifache  Draperien  von  verschiedenen  Farben  gäben  eine  gute  Wirkung, 
eine  schöne  weiße  Frau  müsse  man  mit  silbergrauen  und  rosa  Tönen  malen  (üb* 
rigens  ein  von  Tizian  gewonnenes  Rezept)  oder  das  Studium  der  Blumen  sei  für  die 
Koloristik  vorteilhaft  u.  dgl.  Der  Geist,  der  sich  an  Delacroix'  Erkenntnissen  labt, 
wird  in  Ingres'  Bekenntnissen  wenig  finden  und  wer  in  seinen  Bildern  die  Reize  der 
Femmes  d 'Alger  erwartet,  erst  recht  enttäuscht  werden.  Doch  triflFt  sich  Ingres 
mit  seinem  großen  Gegner  in  dem  Grundsatz:  nicht  die  verwendeten  Mittel  haben 
zu  entscheiden,  sondern  das  Resultat.  Und  seine  Forderung  „il  faut  faire  disparaitre 
les  traces  de  la  facilite"  wäre  von  Delacroix  gebilligt  worden.   Allerdings  hätte 


*)  Salon  von  1846  (Curiositds  esthetiques). 


INGRES       105 

der  Maler  der  Medea  den  Satz  von  einem  Standpunkt  ausgelegt,  von  dem  die  Ein* 
falt  Ingres'  kaum  die  Umrisse  ahnte. 

Jeder  rechte  Künstler,  sagt  Ingres,  findet  die  Farbe  zu  seiner  Zeichnung.  Das  gilt 
von  ihm  so  gut  wie  von  RafFael  oder  irgendeinem  Meister.  Die  Madame  Riviere 
ist  in  ihrer  Art  genau  so  farbig  wie  die  Madonna  della  Sedia  in  der  ihren.  Die  Far< 
ben  der  Odaliske  mögen  in  anderer  Verwendung  trocken  wie  geröstetes  Holz  sein. 
Sie  wären  in  diesem  Bilde  durch  nichts  anderes  zu  ersetzen. 

In  der  Baigneuse  des  Louvre  ist  das  Spiel  der  weißen,  gelben  und  graublauen 
Töne  ebenso  entscheidend  wie  der  Umriß  der  schönen  Gestalt,  ja,  diese  Harmonie 
scheint  das  Spiel  der  Linien  erst  möglich  zu  machen.  Das  weiß»rote  Kopftuch  wirkt 
wie  ein  Juwel  von  Farbe,  und  der  olivene  Vorhang  kann  den  naiven  Betrachter  an 
die  schönsten  Stilleben  Vermeers  erinnern.  Das,  was  man  für  raffinierte  zeichnerische 
Details  nehmen  möchte,  z.  B.  das  Stück  Badewanne  im  Hintergrund,  ist  ebensogut 
das  Resultat  einer  raffinierten  Abtönung  der  Farbe.  Der  Umstand,  daß  den  leise» 
sten  Wellen  dieser  Malerei  gelingt,  das  letzte  Detail  mit  verblüffender  Deutlichkeit 
zu  erhalten,  schmälert  nicht  ihren  Reiz. 

Auf  einer  erstaunlichen  Ökonomie  beruht  Ingres'  ganze  Kunst.  Das  enge  An» 
lehnen  an  ein  so  abgeschlossenes  und  so  abgelegenes  Vorbild  wie  RafFael  mußte  zu 
irgendeiner  Verkleinerung  führen.  Wenn  es  uns  mit  ihm  nicht  so  geht  wie  mit  an» 
deren  Jüngern  Italiens,  die  sich  auf  noch  frühere  aber  bequemere  Vorbilderbe» 
riefen,  ist  seine  weise  Bescheidenheit  daran  schuld,  die  mit  der  Verkleinerung  rech» 
net,  und  nicht  das  mindeste  versucht,  um  die  Reduktion  durch  das  falsche  Pathos 
einer  ungeformten  Gefühlswelt  zu  verdecken. 

Alles  ist  Form  in  Ingres.  Andere  Epigonen  dichteten  ihre  Vorbilder  an.  Ingres 
sagte  —  ich  glaube,  sein  Schüler  Janmot  zitiert  den  Ausspruch  —  „il  faut  manger 
cela"  und  nahm  alles  Wesentliche,  für  das  er  Organe  besaß.  Um  bei  seinem  nicht 
gerade  poetischen,  aber  treffenden  Bild  zubleiben:  er  hatte  den  Magen  dafür.  Seine 
Größe  war  eine  gewisse  solide  Ungeistigkeit,  die  allen  seeHschen  Folgerungen  des 
Kollektivismus,  die  seine  deutschen  Zeitgenossen  aufrieben  und  die  Engländer  zu 
Phrasenhelden  machten,  aus  demWege  ging  und  da,  wo  andere  Gefühle  gewannen, 
Arabesken  entdeckte.  Seine  Gegner  legten  dieses  Verhalten  als  ungenial  aus  und 
wollten  seine  ganzen  Fähigkeiten  mit  einem  entwickelten  Sitzfleisch  erklären').   In 

')  Montrosier,  dessen  Anschauung  für  die  Gegnerschaft  gegen  Ingres  typisch  ist,  verlangt,  man 
möge  die  patience  nicht  mit  dem  ginie  verwechseln,  stellt  Ingres  in  die  Kathegorie  der  Maler  der 
Dekadence  wie  van  Dyck  und  läßt  ihm  nur  die  Routine,  der  nicht  gelinge,  wesentliche  mensch« 
liehe  Differenzen  auszudrücken.  Schließlich  wirft  er  Ingres  vor,  was  J.J.  Rousseau  der  malenden 
und  schreibenden  Frau  nachsagte:  »11  n'a  pas  conclu«.   (Peintres  modernes,  Paris  1882.) 


II1[il!ll1l!UJIIItll{lllltlllliillllliiill)l1llillllllli1llliilllilllilllllllllN!tli{IHI^^^^^  liHllillilli<lilfl[|1llllitlllllllllll|ll||||lllilll||lill||||||i||||||||||||||||||||ll||f||||l]|||||^ 

liiitiiiinPiiiiiHmMiHiHiiMi;iniMliMJinimHIMrmi»iii"mrih(iiiii"!;ii(nHinii:(i;imniiHiiiimi[iiiitilimiii'iMi(iMiiitii<itiiii'iri»iriiiij|(iiiit iiniiiiiiiiiiiiiiMiiiiuitiiiiiiiiiiiiiitiiiii'iiiniiiKiiiKiiiiiii^i'uiii 

106  CHAOS  UND  KOSMOS 


.nMmHinNiiiiiJNriiiii>iMMiiiMiiiiiMiimiiiiiiiitmiiiMt?MiHHUiJiinMniM<:iMiiiMiii{iMi>iiiiniiiiiiiiiiiMmiiiiuniiuiiMiiMiHHiiimiiiiiNiMMiiiiiiiimi(niiiiiiiitii 


Wirklichkeit  war  es  der  gesunde  Widerstand  eines  stahlharten,  aber  klaren  Men« 
sehen.   Er  wollte  sich  nichts  vormachen. 

Diesen,  seiner  ganzen  Art  nach  nordischen  Widerstand  haben  viele  unbewußte 
Besitztümer  der  nordischen  Kunst  unterstützt.  Ingres  kam  nicht  waflfenlos  nach 
Italien.  Er  hatte  den  Norden  im  Instinkt,  als  er  die,  nach  seiner  Meinung,  vorbild« 
lichste  Kunst  des  Südens  seiner  Erkenntnis  erschloß,  und  blieb  mit  seinem  Instinkt 
im  Norden.  Daher  wurde  die  Hingabe  an  Raflfael,  so  bedingungslos  er  sie  selbst 
hinstellte  und  so  wenig  sie  von  egoistischen  Reservaten  gehemmt  wurde,  tatsächlich 
zu  einer  Auseinandersetzung,  bei  der  er  Sitz  und  Stimme  behielt.  Man  wird  von 
vielen  Bildern  angehalten,  seiner  in  Briefen  und  Gesprächen  oft  betonten  Vorliebe 
für  „die  kleinen  Holländer"  eine  gewisse  Bedeutung  zuzumessen.  In  Gemälden, 
die  Raffael  sehr  nahe,  zu  nahe  zu  kommen  suchen,  wie  le  Voeu  de  Louis  XIII 
mit  der  raflfaelschen  Madonna,  spürt  man  das  Nordische  wie  einen  sichernden  — 
wenn  auch  nicht  erhöhenden  —  Wert,  und  der  scheint  selbst  da,  wo  sich  der  Sach« 
liehe  zu  bösen  Banalitäten  verleiten  läßt,  wenigstens  den  Einzelheiten  das  Gedrungene 
der  Form  zu  erhalten,  das  der  Komposition  des  Ganzen  nur  zu  sehr  abgeht.  Im 
Museum  vonMontauban  steht  auf  einer  Staffelei  eine  große  Studie  zu  dem  Jesus 
parmiles  Docteurs.  Das  Bild,  das  auch  in  Montauban  hängt,  ist  von  tötender 
Langeweile;  die  Studie,  der  Ausschnitt  mit  dem  jungen  Christus  zwischen  den  bei» 
den  Doktoren,  ist  von  erstaunlicher  Größe.  In  den  Köpfen  der  beiden  Schriftge» 
lehrten  lebt  etwas  von  der  Wucht  der  beiden  Apostel  Dürers.  Bei  anderen  Bildern, 
den  meisten,  zumal  bei  manchen  Bildnissen,  denkt  man  an  stillere  Meister  des  Nor« 
dens.  Das  Mädchen  mit  dem  Kopftuch  Vermeers  stand  in  guten  Stunden  als  gei« 
stiges  Modell  neben  seiner  Staffelei.  Er  hat  einige  der  Schleier,  die  das  Strenge  in 
der  Spitzenklöpplerin  verhüllen,  entfernt,  ohne  den  geheimsten  Reiz  solcher 
Gestalten  einzubüßen,  das  unaussprechliche  Hellenentum  innerhalb  unserer  nordi» 
sehen  Zone. 

Nordisch  ist  seine  Zeichnung.  Unter  den  fünftausend  Zeichnungen  im  Museum 
von  Montauban  findet  man  kaum  eine  einzige,  die  mit  vollem  Recht  raffaelisch  ge» 
nannt  werden  könnte,  in  der  nicht  der  Anteil  Italiens  von  einem  mindestens  ebenso 
großen  unserer  Meister,  sagen  wir  Holbein,  ausgeglichen  wird.  Auf  dem  Papier 
ist  Ingres  seinem  großen  Vorbild  kongenial.  Wohl  kann  man  zwischen  dem  Zeich» 
ner  und  dem  Maler  keinen  prinzipiellen  Gegensatz  konstruieren,  denn  er  operiert 
in  beiden  Fällen  mit  demselben  Mittel  und  erreicht  dasselbe,  ist  immer  nur  Zeich« 
ner  oder  immer  nur  Maler.  Aber  die  Zeichnung  hat  schon  des  Formats  und  ihrer 
Bestimmung  wegen  den  Vorteil,  Ingres  nur  von  der  günstigsten  Seite  zu  zeigen. 


INGRES  107 


Man  wird  nicht  an  die  Klippen  seiner  großen  Komposition  erinnert,  und  die  Oko» 
nomie  des  Miniaturisten  tritt,  je  geringer  der  materielle  Umfang  des  Mittels  ist,  um 
so  strahlender  hervor.  Man  wird  von  dem  Reiz  der  zahllosen  Bleistiftbildnisse  die* 
selben  Abzüge  zu  machen  haben  wie  von  den  Bildnissen  der  Davidschule,  um  dem 
individuellen  Verdienst  gerecht  zu  werden,  aber  der  Abzug,  diesmal  ein  Bieder» 
meiertum  behaglicher  Art,  ist  bei  einem  Mittel,  das  den  Apparat  des  Gemäldes 
durch  das  anspruchlose  Material  ersetzt,  viel  geringer.  Das  Handwerk,  das  auch 
hier  oft  mehr  als  der  Geist  des  Erfinders  entscheidet,  steht  höher.  Ingres  verlangte 
alles  von  dem  Umriß.  „La  fumee  meme  doit  s'exprimer  par  le  traitl"  sagte  er  ein» 
mal.  Noch  weniger  greifbare  Dinge  als  den  Rauch  hat  er  mit  einer  Bewegung  des 
Bleistifts  ausgedrückt.  Und  immer  ist  das  Malerische  präzise  Arabeske.  Seine  De» 
tailzeichnungen  sind  vollständiger  als  seine  Kompositionen.  Auch  wenn  sie  nur  aus 
einer  Hand  bestehen,  sind  sie  abgeschlossene  Werke.  Sie  haben  die  Eigenschaft 
antiker  Fragmente.  Seine  Aktstudien  gleichen  griechischen  Gefäßen.  Doch  hat  er 
sie  mit  eigenem  Wein  gefüllt. 

Seltsam,  wie  wenig  die  Landsleute  Ingres'  das  Griechische  in  ihm  beachten.  Alles, 
was  er  als  Nachahmer  Raffaels  sagte  und  tat,  hindert  sie  nicht,  ihn  den  Realisten 
zuzuzählen,  während  ihnen  David  der  mit  Respekt  zu  behandelnde  Doktrinär  bleibt. 
Nicht  der  Meister  der  Rüde  und  Gros,  sondern  der  Meister  der  Pradier  und  Flan» 
drin  gilt  ihnen  als  Bringer  der  Natur.  Roger  Marx  nennt  Ingres  den  offiziellen  Be» 
gründer  des  Naturalismus. 

So  sprechen  Franzosen,  die  lateinisch  fühlen,  denen  die  klassische  Konvention  still» 
schweigende  Vorbedingung  jeder  künstlerischen  Handlung  ist.  Sie  nehmen  für  be» 
langlose  Gemeinsamkeit,  was  dem  Deutschen  wie  Diflferenzen  erscheint,  und  diffe» 
renzieren  mit  gewohntem  Scharfsinn,  wo  der  Deutsche  geneigt  ist,  ein  Gleiches  zu 
erblicken.  Es  bleibt  nicht  bei  dem  Sprechen.  Die  Geschichte  bestätigt  die  Rolle 
Ingres".  Nicht  allein  die  Flandrin,  Amaury  Duval,  Desgoffes  und  die  Chasseriau, 
Puvis  de  Chavannes,  Maurice  Denis  setzen  Ingres  fort.  Diese  Fortsetzung,  die  in 
das  Monumentale  gerät  und  dabei  die  wesentlichste  Forderung  der  ingresschen 
Ökonomie  vergißt,  ist  nicht  die  wichtigste,  auch  wenn  man  sie  vielleicht  die  offi» 
zielle  nennen  könnte.  Auch  die  entscheidenden  Künstler  des  modernen  Frankreich, 
die  nichts  weniger  als  eine  Nachahmung  Raffaels  im  Sinne  hatten.  Maler  von  so 
verschiedener  Art  wie  Degas,  Renoir  und  Cezanne  fingen  mit  Ingres  an.  Selbst  in 
Manet  wären  nachwirkende  Dokumente  für  den  Naturalismus  Ingres'  zu  erweisen. 
Auf  der  Centenale  von  1900  führte  kein  allzu  langer  Weg  von  dem  Bildnis  der 


giiiiiiiiiiiiaiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiBiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiniiiiiniiiiiiiniiiiiiiiiiiiia^ 


108  CHAOS  UND  KOSMOS 

„i,„i iiimiuMitiiimiiiiii iiiitiiiJiiiiiiiiiiniKiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiMrtiiiiiiMitiri imiiit iiiiiitiiiiiiiiiiiüiMiiiiiiiii i iiiiKiiiiiiiiiiiiiiiitiiiii iiiijuiiiiiiiiiiiiniiiiiii 

Mme.  Granger  von  Ingres,  an  dem  der  Maler  Granger  mitgearbeitet  haben  soll, 
zu  Courbet  und  Manet.  Seitdem  die  Olympia  im  Louvre  hängt,  ist  sie  der  Odaliske 
näher  gekommen. 

Ich  habe  von  der  Natur  in  Ingres  bis  hierher  nichts  gesagt,  weil  sie  sich  von  selbst 
versteht  wie  für  den  Franzosen  sein  Konventionalismus.  Ohne  dieses  Gepäck  wäre 
der  Italienfahrer  formlos  geworden  und  nicht  wahrnehmbar,  gerade  weil  er  nur  auf 
Formen  drang.  Raflfael,  die  Griechen,  die  kleinen  Holländer  und  was  ihm  sonst  an 
alter  Kunst  gefiel,  alles  das  war  für  Ingres  eine  Umschreibung  für  Natur.  Wenn 
wir  ihm  nachsagen  können,  er  habe  Raffael  mit  einer  Diminutivform  gesteigert, 
müssen  wir  hinzufügen,  die  Steigerung  habe  jenseits  von  allem  Manierismus  mit 
überlieferten  Formen  zu  der  Natur  geführt.  Er  stellte  in  der  Kunst  das  am  hoch* 
sten,  das  der  Natur  am  nächsten  bleibt,  und  wollte  sogar  Kunst  und  Natur  mitein» 
ander  vertauscht  wissen.  „L'art  n'arrive  jamais  ä  un  plus  haut  degre  de  perfection 
que  lorsqu'il  ressemble  si  fort  ä  la  nature  qu'on  le  prend  pour  la  nature  meme.  Et 
au  contraire,  la  nature  ne  reussit  jamais  ä  etre  plus  belle,  que  quand  l'art  y  est 
Cache." 

Diese  Essenz  seiner  Doktrin  enthält  das,  was  ihn  schützte  und  was  ihn  begrenzte. 
Das  Aufheben  der  Grenzen  zwischen  Natur  und  Kunst  kommt  nicht  ohne  eine 
Hintenansetzung  der  Persönlichkeit  zustande.  Wir  pflegen  solche  Menschen  in 
unserer  aus  Notbehelfen  zusammengesetzten  Sprache  Artisten  zu  nennen  und  ver« 
binden  damit  einen  Begriff,  der  zwischen  Kunst  und  dem  Künstlichen  steht.  Sol* 
che  Menschen  kommen  in  der  Regel  nach  großen  Epochen  und  sind  die  Übertrei* 
bungen  schöner  Reste.  Wir  haben  die  Art  in  allen  Schattierungen,  zumal  die  grobe 
Gattung,  an  der  die  Natur  nicht  viel,  und  die  Kunst  nur  das  Künstliche  bedeutet. 
Ingres  war  ein  sublimer  Artist.  Man  möchte  das  Schmälernde  des  Begriffs  auf  das 
Geringe  beschränken,  das  auch  einem  Raffael  anhaftet,  auf  die  unendlich  geistige 
Fessel  eines  Flaubert,  der  sein  reiches  Menschentum  mit  einer  zur  Kunst  geworde* 
nen  Natur  beschwerte.  Ingres  ist  dabei  wie  sein  geliebter  Meister  von  jeder  Tragik 
verschont  geblieben. 


lliiR'aiiiiiiMiiniiiiiiliiiniiiiiiiiiniiiiiiiiniinfliimiiiiiitiiiniiiniiiiwiiiiiiiiiiiiiiiiiniiii^ 


NAZARENER 

Vbn  weitem  sehen  viele  Bilder  und  Zeichnungen  der  Deutschen  aus  der  Zeit  des 
Empire  wie  Ingres  aus.  Auch  bei  uns  liebte  man  Raffael  und  die  Griechen. 
Und  die  Reaktion  Ingres'  auf  David  deckt  sich  in  vielen  Punkten  mit  dem  Nara» 
renertum.  Man  weiß  einiges,  leider  nicht  genug,  von  den  persönlichen  Beziehungen 
zwischen  dem  Kreise  um  Cornelius  und  dem  um  Ingres.  Die  Abneigung  der  Deut» 
sehen  richtete  sich  mehr  gegen  David  als  gegen  den  Maler  der  Madonna  von  Mon» 
tauban. 

Die  Ideale  der  Deutschen  sind  den  Idealen  des  Ingreskreises  von  weitem  noch 
ähnlicher.  Und  während  man  bei  näherem  Vergleich  der  Bilder  auf  schlimme  Dif» 
ferenzen  zuungunsten  der  Deutschen  stößt,  halten  die  Ideen  der  deutschen  Rom« 
fahrer  jede  Prüfung  aus.  Nicht  nur  die  Ideen,  auch  die  Menschen,  die  sie  hegten. 
Das  Menschliche  der  Deutschen,  wie  es  sich  in  Äußerungen  und  Handlungen  außer« 
halb  der  Bilder  erkennen  läßt— unddafür  fehlt  es  nicht  an  Dokumenten;  sie  schrieben 
alle  viele  Briefe  —  gibt  keinem  Ingres  etwas  nach,  ja,  es  kann  uns  überlegen  er» 
scheinen.  Die  Gesinnung  eines  Cornelius  ist  frei  von  der  Nüchternheit  Ingres',  die 
zuweilen  einem  verkappten  Materialismus  nahe  kommt.  Man  wird  vergeblich 
in  den  Briefen  an  Gilibert  nach  den  Ausdrücken  von  Gesittung  suchen,  die  den 
Overbeck  und  Schnorr,  den  Veit  und  Führich  geläufig  waren.  Und  man  glaubt 
ihnen  ebenso  gern  wie  einem  Ingres.  Sie  waren  reine  Apostel  einer  reinen  Sache. 
Nie  hat  der  Egoismus  das  hehre  Band  der  Bruderschaft,  die  auf  dem  Pincio  be» 
schworen  wurde,  gesprengt.  Nie  diente  die  Freundschaft  den  niederen  Schlichen 
einer  Koterie.  Gemeinsames  Empfinden,  gemeinsame  Arbeit,  gemeinsamer  Kampf 
hielt  die  Gemeinde  zusammen.  Der  Kommunismus  unter  Künstlern,  von  dem  spä» 
ter  ein  van  Gogh  träumte,  ist  damals  in  idealster  Weise  verwirklicht  worden.  Es 
verunziert  ihn  nicht,  daß  er  rein  christlicher  Art  war  und  sich  nicht  scheute,  rehgiöse 
Formen  anzunehmen.    Er  tat  damit  etwas  Natürliches,  fast  Selbstverständliches 


III  iiiiiiiiiii  II  Hill  iiiiiiiiiiiiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiii  II II  iiiiiiiiiiiiiiiiniHiiiiiiiiiiiiiiii  min  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  iiniwiniiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiii  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiniiiiiim 
llÖ  .CHAOS  UND  KOSMOS 

Der  unbegrenzte  Idealismus  dieser  ganzen  Bewegung  ist  nur  als  eine  christlich  ger« 
manische  Äußerung  zu  begreifen,  wurde  an  diesem  Geiste  groß  und  ging  daran  zu* 
gründe  Etwas  von  den  frühen  Christen,  die  unter  den  Heiden  litten,  lebte  in  den 
hundert  Deutschen,  die  sich  in  Rom  eine  Heimat  gründeten.  Sie  waren  ein  ver» 
sprengter  Trupp  derselben  Rasse,  die  gleichzeitig  in  Deutschland  mit  gleich  religi« 
ösem  Opfermut  für  eine  realere  Heimat  kämpfte.  Und  sie  wurden  so  gut  wie  ein 
Scharnhorst  und  ein  Körner  Märtyrer  ihres  Deutschtums. 

Der  erste  Eindruck  ihres  Schicksals  führt  zu  einer  Banalität.  Eine  Äußerlichkeit, 
die  man  kaum  zu  bezeichnen  wagt,  weil  sie  zu  offen  daliegt,  scheint  die  Enthusi» 
asten  zu  hindern.  Sie  haben  gute  Köpfe,  warme  Herzen,  tiefe  Überzeugungen,  und 
ihre  Einfalt  ist  nichts  weniger  als  beschränkt.  Helle  Intellekte  sind  unter  ihnen. 
Frei  wie  ihr  Christentum  ist  ihre  Liebe  zur  Kunst,  mindestens  viel  freier  als  die  ex» 
klusive  Passion  eines  Ingres.  Sie  haben  alles,  was  Menschen  sittlich  und  geistig 
auszeichnet,  nur  keine  Hände.  In  die  moderne  Kunstsprache  übersetzt,  heißt  das 
Fehlende  Talent. 

Dieser  erste  Eindruck  ist  billig.  Keine  Begabung  ist  so  gering,  daß  sie  nicHt  zum 
Ausgang  einer  zum  Gipfel  führenden  Entwicklung  führen  könnte.  Vermöchten 
wir  das  nicht  zu  glauben,  so  wäre  die  Kunst,  nicht  nur  jener  Gläubigen,  aller  Gläu' 
bigen,  um  ihr  größtes  Mysterium  ärmer.  Die  Leute,  die  an  Mangel  an  Ta» 
lent  zugrunde  gehen,  sind  die  Kranken,  die  an  Influenza  sterben.  Keine  Kunstge» 
schichte  ist  so  reich  an  Dokumenten  gegen  diesen  billigen  Aberglauben  wie  die 
unsere.  Hatte  der  Tiroler  Josef  Anton  Koch,  der  die  Landschaft  mit  dem  Regen« 
bogen  malte,  kein  Talent?  Fehlte  es  seinen  Schülern,  den  Heinrich  Reinhold,  Rein« 
hart,  Catel  und  den  beiden  Rohden?  Dem  Vater  Rohden,  der  den  Wasserfall  von 
Tivoli  malte,  dem  Sohn,  dem  wir  die  fast  ingreshaften  Bildnisse  verdanken? 
Waren  Fohr  und  Fforr  ohne  Begabung?  Man  meint,  sie  hätten  nur  auf  demselben 
Wege  fortzuschreiten  brauchen.  Diese  beiden  Römer  starben  in  einem  Alter,  in 
dem  David  noch  kaum  ein  typisches  Bild  gemalt  hatte.  Das  gleiche  Los  traf  Rethel 
und  die  Julius  Oldach,  Erwin  Speckter,  Viktor  Emil  Janssen,  Jakob  Gensler  und 
viele  andere,  und  den  größten  Hamburger,  Runge.  In  den  kleinen  Sälen  Hamburgs, 
die  Lichtwarks  rührige  Pietät  seiner  Vaterstadt  und  Deutschland  geschenkt  hat, 
umschlingt  oft  die  Bewunderung  der  kernigen  Zartheit  dieser  malenden  Bürger  das 
bittersüße  Gefühl,  gemischt  aus  Schmerz  und  Freude,  das  wir  am  Grabe  junger 
Toten  spüren.  Und  dieses  Gefühl  hat  man  sehr  oft  vor  deutscher  Kunst  aus  jener 
Zeit;  in  manchen  stillen  Winkeln  Lübecks,  wo  die  Bildnisse  vonOverbeck  hängen, 
vor  dem  Kapuzinerkloster  Oliviers  in  Leipzig,  in  Wien  vor  manchem  Schwind,  in 


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iHMMiii'tnitKiiitiirtirHHimiiKiiimiiititiiiiiiiriiiinnintirriiMii'ititii«! 


NAZARENER 


111 


Berlin  vor  Niederee  und  Blechen.  Man  hat  ein  ähnliches  Gefühl  auch  vor  Leuten, 

die  siebzig  Jahre  wurden  und  deren  Kunst  im  Jünglingsalter  starb.  Auf  der  deut< 
sehen  Jahrhundertausstellung  glaubte  man  zwischen  frischen  Gräbern  zu  wan« 
dein  und  stand  zuweilen  vor  so  viel  gestürzter  Jugend  wie  vor  einem  elementaren 
Unheil. 

Talent  war  massenhaft  da,  vielleicht  zu  jeder  Zeit,  und  damals,  vor  hundert  Jah. 
ren,  als  sich  alle  Kräfte  zu  dem  Kampfe  um  die  Nation  anspannten,  mehr  als  je. 
Wäre  es  möglich,  nachträglich  eine  doppelt  überflüssige  Statistik  zu  treiben,  so 
würde  man  das  Umgekehrte  des  Verhältnisses  der  Waffen  im  Kriege  gegen  Frank» 
reich  feststellen.  Für  ein  Talent  jenseits  des  Rheins  zehn  auf  unserer  Seite.  So  viel 
Länder  Deutschland  besaß,  so  viel  Nester  der  Begabung  hatten  wir.  In  Frankreich 
gab  es  eine  Stadt  und  einen  Mann,  der  andere  Männer  unter  sich  hatte. 

Was  grub  dieser  deutschen  Jugend  das  Massengrab? 

Die  Antwort  ist  so  stereotyp  wie  die  Sage  vom  Talent,  nur  um  ein  Geringes  rich< 
tiger.  Das  Ziel  der  Romfahrer  hat  uns  Hekatomben  gekostet.  Die  arme  Antike  ist 
seitdem  in  üblen  Verruf  gekommen. 

Deutschlands  Kultur  begann  erst  im  letzten  Drittel  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
selbständig  zu  denken.  Bis  dahin  hatte  sie  Frankreich  für  sich  denken  lassen.  Der 
Erfolg  war  eine  alle  Möglichkeiten  aufdeckende  Geistigkeit,  die  wie  ein  aufgeregtei 
Strom  aus  ihren  Ufern  trat.  Das  Dix»huitieme  wurde  von  den  Stürmern  nicht  als 
Esprit,  sondern  als  dumpfes  animalisches  Dasein  gedeutet.  Nun  gab  man  sich  an 
den  Geist  wie  Dichter,  die  nichts  zu  essen  haben.  Die  Abstraktion,  die  Ingres  be» 
drohte,  stieß  bei  uns  auf  keine  Hemmungen.  Man  erfand  den  Klassizismus  als 
Ausdruck  höchster  Geistigkeit.  Kein  längst  gewohnter  Konventionalismus,  kein 
alter  Rasseinstinkt  ersah  in  der  Antike  das  Verwandte,  mit  dem  sich  leben  und  auch 
plaudern  ließ.  Kein  deutscher  Poussin  war  zweihundert  Jahre  vor  Cornelius  in 
Rom  gewesen  und  hatte  den  Nachfolgern  ein  Bette  bereitet.  Keine  malerische  na« 
tionale  Schule  hatte  inzwischen  gewirkt.  Man  stand  ohne  Waffen  vor  derselben 
Antike,  die  Dürer,  den  Sohn  einer  blühenden  Kultur,  verwirrt  hatte.  Als  einzige 
Erbschaft  der  vorhergehenden  französischen  Zeit  besaß  man  nur  die  Einsicht,  es  sei 
mindestens  ebensogut  deutsch,  römisch  zu  werden. 

Der  Klassizismus,  zum  besten  Teil  ein  Resultat  deutscher  Gedankenarbeit,  war 
und  blieb  Gedanke,  und  was  sich  mit  milder  Gebärde  von  ihm  trennte,  das  Naza» 
renertum,  war  wiederum  ein  Gedanke.  Winkelmann  und  Lessing,  Goethe  und 
Schiller,  Wackenroder  und  die  Schlegel  spielen  die  Rollen,  die  in  Frankreich  von 
Malern  dargestellt  wurden.   Man  war. sich  so  klar,  daß  der  Kunst  nichts  zu  klären 


niininiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiininiiiiniiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiH^^ 

112  CHAOS  UND  KOSMOS 

Übrig  blieb.  Sie  illustrierte  die  Gedanken,  erreicht  dies  auf  die  denkbar  natürlichste 
Weise.  Nichts  wäre  verkehrter,  als  anzunehmen,  die  Maler  wären  geflissentlich  der 
Natur  aus  dem  Wege  gegangen.  Nur  der  Zweck  war  verkehrt.  Vielleicht  nicht 
einmal  das.  Vielleicht  fehlten  ihnen  nur  die  notwendigen  Hemmungen  auf  dem 
Wege  zum  Besten;  das,  was  für  Ingres  Holbein  und  die  kleinen  Holländer  wa» 
ren.  Dafür  schafften  sie  sich  andere  Hemmungen,  die  nicht  zu  überwinden  waren. 
Schon  Winkelmann  war  gegen  das  Farbige  gewesen.  Was  brauchte  es  der  Palette 
um  das  Schöne  zu  zeigen?  War  der  Marmor  der  Alten  etwa  farbig?  Kolorit,  Licht 
und  Schatten  waren  nur  geeignet,  das  Wesentliche  der  Antike,  die  reine  Linie,  zu  ver» 
hüllen.  So  dachte  ein  gelehrter  Spezialist,  der  seine  Erfindung  um  jeden  Preis  ver» 
wendet  sehen  wollte.  Carstens  war  der  getreue  Interpret  dieser  Wörtlichkeit.  Er 
betrachtete  sich  nur  als  ein  Werkzeug,  antike  Linien  unter  die  ahnungslose  Menge 
zu  bringen,  und  hätte  jeden  Versuch  einer  persönlichen  Darstellung  als  eine  Fäl» 
schung  angesehen.  Die  deutsche  Treue  war  die  schlimmste  Hemmung.  Es  ist  kein 
Zufall,  daß  Genelli,  der  einzige,  dem  neben  schrecklichen  Dingen  zuweilen  eine 
Objektivierung  der  Carstensschen  Linien,  etwa  in  der  Richtung  der  Blake  und  Flax» 
mann,  aber  auf  derber  und  soliderer  Grundlage  gelang,  und  der  sich  nicht  unge» 
schickt,  z.  B.  in  dem  Bilde  der  Schackgalerie,  mit  der  Dekoration  zu  helfen  wußte, 
kein  reiner  Deutscher  war.  DieNazarener  machten  sich  über  die  Neugriechen  lustig 
und  wurden  Neuflorentiner.  Die  Abneigung  gegen  die  von  den  Klassizisten  ge» 
miedene  Farbe  blieb  annähernd  dieselbe,  nur  wurde  sie  anders  belegt.  David  hatte 
die  Geschicklichkeit  des  Dix»huitieme,  Ingres  das  Farbige  des  Rubens  für  Schwin« 
del  erklärt.  Die  Deutschen  gingen  viel  weiter.  Der  ganze  sinnliche  Apparat,  der 
nach  der  Ansicht  früherer  Zeiten  zu  der  Malerei  gehört  hatte,  war  von  Übel.  Sinn« 
lichkeit  und  Gedanke  gehörten  nicht  zusammen.  Overbeck  schämte  sich,  weib« 
liehe  Modelle  zu  verwenden.  Der  Pinsel  war  ein  Phallus  und  verlor  nur  dann  seine 
bedenkliche  Symbolik,  wenn  man  ihn  mit  heiligen  Stoffen  säuberlich  entsündigte. 
Mit  einer  so  gewaltsam  begrenzten  Anschauung  wäre  auch  die  eiserne  Ökonomie 
eines  Ingres  kaum  fertig  geworden.  Diese  Sparsamkeit,  die  Mittel  und  Zweck  auf 
gleich ijescheidene  Verhältnisse  zu  reduzieren  weiß,  war  den  Deutschen  durchaus' 
nicht  fremd.  Die  Rohden,  Wasmann  und  die  anderen  Hamburger  besaßen  sie  fast 
alle,  auch  wenn  sie  sie  nicht  mit  Bewußtsein  als  künstlerisches  Prinzip  übten.  Die 
Wiener  waren,  bevor  sie  sich  dem  Nazarenertum  ergaben,  Schüler  Fügers  gewesen 
und  erinnerten  sich  zuweilen  bei  ihren  Bildnissen  an  die  gute  Lehre.  Ludwig  Schnorr 
von  Karolsfeld,  der  Bruder  des  Nazareners,  war  in  kleinen  Dingen  groß.  Die  Ber» 
liner  Nationalgalerie  besitzt  von  ihm  eine  hübsche  winzige  Madonna  und  in  dem 


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NAZARENER  113 


jungen  Leth  von  1841  ein  miniaturenhaftes  Bildnis,  das  man  nicht  für  ganze  Wände 
seiner  Zeitgenossen  hergeben  möchte.  Der  Pinsel  beschränkt  sich  durchaus  nicht 
auf  die  Reproduktion  der  köstlichen  Mode,  so  groß  der  Reiz  des  Kostümbildes 
in  dem  Bilde,  die  pikante  Zusammenstellung  der  Schwarz,  Weiß  und  Gelb  sein 
mag,  sondern  belebt  die  farbigen  Flächen  mit  einer  weiteren  Farbigkeit,  einer  inner» 
halb  natürlicher  Grenzen  ganz  ungebundenen  Bewegung.  Dergleichen  Dinge  hat« 
ten  die  meisten  gekonnt,  wenn  sie  gewollt  hätten.  Sie  erschienen  ihnen  nicht  wür» 
dig.  Die  Nazarener  waren  alles  andere,  nur  nicht  Artisten.  Ihr  Enthusiasmus  ging 
über  die  Einsicht  in  ihre  Kräfte  hinaus.  Eine  für  Miniaturen  ausreichende  Gestal« 
tung  griff  zum  Fresco.  Es  gibt  unter  den  Berliner  Kartons  von  Cornelius  Kompo» 
sitionen,  die  man,  hundertmal  verkleinert,  als  Vignetten  in  einem  Gebetbuch  ver» 
wenden  könnte.  Auch  die  Nibelungen  Schnorrs  in  der  Münchener  Residenz  wären 
für  ähnliche  Zwecke  allenfalls  zu  brauchen. 

Kein  niedriges  Motiv  trieb  zu  dieser  ungebührlichen  Vergrößerung,  nichts  weni« 
ger  als  Größenwahnsinn.  Der  Sozialismus  der  Gemeinde  ersah  in  diesem  Wand« 
bild  die  natürlichste,  am  wenigsten  persönliche  Form;  die  begeisterten  Jünger  der 
Alten  erkannten  im  Fresco  das  spezifische  Handwerk  der  Vorbilder;  und  die  Kar« 
tonmalerei  der  Klassizisten,  von  der  die  Nazarener  mindestens  den  scharfen  Umriß 
behielten,  legte  den  Ausweg  nahe.  Das  Fresco  war  eher  Sache  der  Linien  als  das 
Ölbild.  Und  das  Fresco  war  die  Entdeckung  der  Nazarener.  Sie  sahen  auf  einmal 
eine  noch  unbeschriebene  Seite  vor  sich  und  fühlten  den  Mut  aller  Anfänger. 
Hinter  ihnen  lag  eine  komplizierte  Geschichte,  deren  Geist  kein  Intellekt,  keine 
Bildung  erobern  konnte,  die  den  Einsiedlern  von  San  Isidoro  wie  eine  Verirrung  er» 
schien.  Hatte  nicht  Eigennutz  diese  Geschichte  entwickelt?  War  man  nicht  eines 
Künstlichen  wegen  einem  größeren,  reineren  Begriffe  der  Kunst  untreu  geworden, 
als  man  die  Malerei  von  der  Mauer,  von  der  allgemein  zugänglichen  Stätte,  entfernt 
und  in  den  Rahmen  des  Staffeleibildes,  in  das  enge  Bereich  der  Persönlichkeit  ge« 
zwängt  hatte?  Noch  einmal  rekapitulierte  ein  nicht  gewöhnlicher  Instinkt  die 
großen  Abschnitte  von  den  Mosaiken  an  und  nannte  christlich,  was  den  Heiden 
Ideal  gewesen  war,  Verirrung,  was  van  Eyck  begonnen  hatte.  Freskenmalen  hieß 
für  diese  Frommen  kein  artistisches  Experiment,  kein  Archaismus,  kein  blasses  Prä» 
raffaelitentum,  wie  es  sich  in  England  unter  Blake  ergab.  Nichts  lag  Cornelius  und 
Overbeck  ferner  als  die  virtuose  Übersinnlichkeit  Rossettis  oder  das  routinierte 
Weibische  eines  Burne»Jones.  Freskenmalen  hieß  für  sie  keine  gespielte  Einfalt, 
sondern  die  einfache  Kunstübung,  deren  sie  sich  fähig  glaubten.  Sie  stellten  sich 
nicht  wie  Primitive,  sondern  waren  es  im  wesentlichsten  Teile  ihres  VC  esens,  waren 


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114  CHAOS  UND  KOSMOS 

es  viel  mehr,  als  sie  selbst  ahnten,  viel  zu  sehr,  um  mit  der  Form  der  unmittelbaren 
Vorgänger  RafFaels  fertig  zu  werden,  die  alles  andere,  nur  nicht  nazarenisch  war. 

In  den  frühesten  Versuchen,  den  Fresken  der  Casa  Bartholdy,  ist  das  Anfänger» 
tum  kein  mildernder  Umstand,  sondern  Erhöhung.  Die  Entdecker  versuchen  zu 
organisieren  und  die  ungeschminkte  Nachahmung  mit  Vereinfachung  zu  verbin» 
den.  Es  kommt  dabei  alles  andere,  nur  nicht  die  aristokratische  Größe  der  Vor» 
bilder  heraus,  und  der  Gegensatz  zu  den  Vorstellungen,  die  wir  mit  den  Florenti« 
nern  verbinden,  kann  recht  peinlich  werden,  zumal  wenn  die  Sentimentalitätwilhelm 
Schadows  vor  die  Lücke  tritt.  Die  bürgerliche  Würde  des  Cornelius  und  das 
harmlose  Spiel  Veits  ist  leichter  zu  ertragen,  und  Overbeck  erreicht  mit  seinen  lieh» 
ten  Farben  und  schlichten  Linien  hier  und  da  eine  Herbheit  der  Form,  die  als  An« 
satz  zu  einer  Übertragung  gelten  könnte.  Die  Aufstellung  in  der  Nationalgalerie 
tut  mit  ihren  schrecklichen  Umrahmungen  alles  Mögliche ,  um  nur  die  Mängel  der 
Fresken  zur  Geltung  zu  bringen*). 

In  der  Villa  Massimi  zeigten  die  Nazarener,  wie  weit  sie  bei  aller  Frömmigkeit  aus 
sich  herausgehen  konnten.  Die  Motive  zwangen  zu  größerer  Bewegung.*  Der  Zwang 
bleibt  merkbar.  Es  standen  keine  Rubens  auf  den  Gerüsten.  Die  Ungeschicklich« 
keit  ist  zuweilen  verblüffend.  In  dem  Dantezimmer  mit  der  erstarrten  michelange« 
lesken  Orgie  hat  Koch  über  die  Stränge  geschlagen.  Der  Betrachter  hat  Mühe,  die 
Gliederverrenkungen  zu  entwirren.  Der  Maler  scheint  selbst  in  dem  Wald  der 
Irrtümer,  der  den  schlafenden  Dante  umgibt,  befangen  und  wird  von  dem  Fe« 
gefeuer  verzehrt,  das  er  mit  eigener  Hand  entzündet.  In  dem  Saal  mit  dem  Or« 
lando  furioso  hat  Julius  Schnorr  eine  heillose  Decke  verbrochen,  und  in  dem  Tasso» 
zimmer,  dem  besten  und  ruhigsten  Räume  mit  der  hübschen  Teppichdekoration 
als  Plafond,  hat  Führich  nicht  vermocht,  Overbeck  ganz  gleichwertig  fortzusetzen. 
In  jedem  Zimmer,  an  jeder  Wand  haut  der  Maler  irgendwo  ganz  schlimm  vorbei. 
Und  in  jedem  Zimmer,  selbst  bei  Koch,  kommt  das  Urteil,  das  ungeduldig  abwehren 
möchte,  zu  keinem  Entschluß.  Daran  sind  nicht  nur  die  gelungenen  Einzelheiten 
schuld,  die  nirgends  fehlen  und  vielleicht  in  der  Dekoration  Sghnorrs,  zumal  in  ge» 
wissen  Farbenkombinationen,  am  glücklichsten  überraschen.  Man  wird  von  dem 
Enthusiasmus  der  Maler  überrumpelt.  Es  steckt  in  diesen  Wänden  außer  dem  hilf» 
los  Naiven,  über  das  man  lächeln  und  lachen  kann,  auch  das  schöpferische  Naive, 

')  Hoffentlich  entschließt  sich  die  Galerie  zu  der  Aufstellung  der  Fresken  in  einem  den  Verhalts 
nissen  der  Casa  Bartholdy  angepaßten  Raum  ohne  die  schrecklichen  grauen  Rahmungen.  Die 
gegenwärtige  Probeaufstellung  mit  den  Kopien  Kerns  ist  überzeugend.  Auch  die  Fresken  der 
Villa  Massimi  würden  eine  Überführung  lohnen,  mindestens  sollte  für  eine  leichtere  Zugänglichkeit 
der  Wla  gesorgt  werden. 


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NAZARENER  115 


das  mutig  die  Welt  packt  wie  es  kann  und,  wenn  ihm  das  Feme  entgeht,  das  es 
erfassen  möchte,  mit  dem  herzhaften  Griff  ein  anderes  bringt,  das  uns  Aussichten 
eröffnet  und  in  dem  es  selbst  einen  gangbarenWeg  in  die  Zukunft  erkennen  könnte. 
Es  gibt  nichts  weniger  Klassisches  als  das  Ungebärdige  dieser  gefesselten  Stürmer. 
Doch  ist  es  mehr  wert  als  die  unschöpferische  Vorsicht  der  frömmelnden  Ingres» 
schüIer,  die  später  die  Kirchen  von  Paris  mit  ihren  Fresken  bedeckten,  viel  mehr  als 
alle  englische  Stilisierung.  Die  freiwillige  Beschränkung  des  Nazarenertums  war 
Torheit  aber  der  Wille  eines  sauberen  Instinkts  und  wirkt  als  solcher.  Tritt  man 
aus  dem  Saal  der  Nationalgalerie,  wo  die  Fresken  der  Casa  Bartholdy  untergebracht 
sind,  vor  den  großen  Mackart  über  der  Treppe,  so  ist  man  geneigt,  die  Beschrän« 
kung  zu  segnen.  , 


Die  Nazarener  gehören  vielleicht  weniger  in  eine  Entwicklungsgeschichte  der  mo» 
dernen  künstlerischen  Werte  als  in  eine  Geschichte  der  modernen  Irrtümer.  Doch 
wird  jeder  Fortschritt  in  der  Kunst  unserer  Zeit  mit  solchen  Opfern  bezahlt,  und 
jede  Erkenntnis  scheint  nur  aus  einer  Reaktion  auf  solche  Irrtümer  zu  wachsen. 
Mancher  große  Irrtum  hat  die  Nachfolgenden  besser  gefördert  als  laue  Wahrheit. 
Jedes  Irren,  in  dem  Größe  steckt,  verdient  Ehrfurcht.  Leicht  wurde  es  unserer  Zeit, 
die  Fehler  der  Nazarener  anzustreichen,  zumal  die  Nebensachen.  Da  ist  kein  Kunst' 
beflissener  im  ersten  Semester  zu  jung,  um  nicht  die  Härte  dieser  Zeichner  zu  be* 
merken  und  sich  über  die  Verzeichnungen  der  Maler  lustig  zu  machen. 

Vielleicht  waren  sie  zu  wenig  hart,  vielleicht  nicht  verwegen  genug  in  der  Ver« 
Zeichnung.  Alles,  was  ihnen  verspätete  Helfer  am  Zeuge  bessern  möchten,  flickt 
immer  nur  unwesentliche  Dinge.  Wer  sich  einbildet,  es  käme  auf  diese  oder  jene 
Art  der  Zeichnung,  diese  oder  jene  Art  der  Malerei  an,  um  ein  großer  Künstler  zu 
werden,  steht  unter  den  Nazarenem.  Kein  Stein  ist  so  hart,  kein  Staub  so  farblos 
wie  die  Materie,  deren  ein  Meister  bedarf,  um  uns  mit  göttlichem  Spiel  zu  bezau« 
bern.  Nur  spielen  muß  er,  spielen  wie  Phidias  und  Michelangelo,  wie  Tizian  und 
Rembrandt,  wie  Greco  und  Rubens,  wie  Watteau  und  Goya.  Dazu  vermochten 
sich  die  Nazarener  nicht  zu  entschließen.  Vielleicht  war  ihr  schlimmster  Fehler, 
ihre  Vorbilder  und  die  Welt  und  sich  selbst  um  ein  Geringes  zu  ernst  zu  nehmen. 
Sie  hatten  zuviel  Ehrfurcht  vor  der  Göttin,  um  sich  mit  ihr  zu  vereinen,  und  in  aller 
ihrer  Derbheit  zu  wenig  von  jener  nüchternen  Erkenntnis,  die  den  Schwärmer  In« 
gres  von  schönen  alten  Dingen  sagen  ließ:  „man  muß  sie  essen".  Es  ist  nicht  sicher, 


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üiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiniiiniiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiNiiiiiniiiiiiiniiira 


116  CHAOS  UND  KOSMOS 


was  notwendiger  zur  Kunst  gehört,  der  Materialismus  im  Ideal  oder  der  Idealismus 
in  der  Materie. 

Der  Geist  der  Casa  Bartholdy,  „dieser  Urzelle  der  ganzen  monumentalischen 
Begriffskunst",  wie  Karl  Scheffler  sagt'),  hat  noch  viele  Einsiedler  verführt,  die 
lieber  anfangen  als  fortsetzen  wollten.  Noch  oft  wurden  mit  wechselndem  Glück 
die  Fresken  entdeckt.  Mancher  Deutsche  seit  Cornelius  hat  geglaubt,  sich  an  einem 
alten  Metier  erneuern  zu  können  und  eiferte  mit  religiöser  Glut  gegen  eine  Kunst, 
die  ihm  zu  leicht  erschien.  Weil  ihn  ein  hoher  Idealismus,  sich  dem  Volke  hinzu» 
geben,  das  er  um  die  Kunst- betrogen  sah,  beseelte,  schloß  er  sich  erst  recht  vom 
Leben  ab  und  wurde  Sektierer.  Heute  noch  träumt  mancher  in  einem  stillen  Win» 
kel  ein  neues  Nazarenertum.  Zu  yiel  rechte  Impulse  und  Widerstände  von  innen, 
zu  wenig  rechte  Förderungen,  rechte  Hemmungen  von  außen,  so  ist  deutsches 
Künstlerschicksal  seit  hundert  Jahren.  Wo  es  nicht  tragisch  ist,  wird  es  zumeist 
frivol.  Die  deutschen  Künstler,  die  sich  geschickt  im  Tanze  drehen  lernen,  haben 
selten  einen  reinen  Stammbaum. 

Alle  zeitgenössischen  Landsleute  des  Cornelius,  an  denen  etwas  war,  waren  Na» 
zarener,  nicht  nur  der  arme  Rethel  und  der  glücklichere  Schwind  und  Ludwig 
Richter,  deren  Behaglichkeit  bescheidene  Auswege  fand;  auch  die  anderen,  die  dem 
Geiste  der  Romfahrer  anscheinend  ganz  fern  blieben.  Ihr  Schicksal  beweist,  daß 
es  nicht  Rom  und  die  Antike  oder  Florenz  allein  waren,  was  den  anderen  gefähr» 
lieh  wurde,  so  wenig  denen  die  große  Vergangenheit  half,  für  die  sie  keine  Gegen« 
wart  besaßen. 

Runge  und  Kaspar  David  Friedrich  blieben  im  Lande.  Runge,  der  mit  Goethe 
korrespondierte,  erkannte  die  Irrtümer  der  Römer.  Er  erkannte  sie  besser  und 
schlechter  als  Goethe.  Der  Alte  in  Weimar  lachte  die  Frommen  aus.  Er  fand,  es 
sei  leichter,  katholisch  zu  werden,  als  ein  gutes  Bild  zu  malen.  Dem  großen  Hei« 
den,  der  in  seinem  Weimar  saß  wie  vorher  Friedrich  der  Große  in  seinem  Sanssouci, 
entging  die  legitime  Gärung  in  der  deutschen  Kunst  und  in  dem  deutschen  Volke 
aus  denselben  Gründen.  Er  faßte  nicht,  daß  es  dieselben  Menschen  waren,  die  dort 
unten  mit  Rom,  hier  mit  Napoleon  rangen,  und  daß  es  leichter  war,  mit  einem  Feind 
in  greifbarer  Gestalt  fertig  zu  werden,  gegen  den  der  Geist  alle  Mittel  besaß,  als 
den  inneren  Feind  niederzuwerfen,  der  dem  Geist  die  Waffen  aus  der  Hand  wand. 
Er  hatte  sein  Teil  übermenschlich  getan  wie  Friedrich  übermenschlich  das  seine 
und  durfte  sich  auf  einen  Rationalismus  berufen,  der  nie  den  Faust  geschaffen 
hätte.   Auch  das  Verhalten  Goethes  gehört  zu  uns  und  unserem  Schicksal. 

')  Die  Nationalgalerie  (Verlag  Bruno  Cassirer,  Berlin  1912). 


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NAZARENER  117 


Runge  war  nicht  weniger  fromm  als  die  Einsiedler  von  San  Isidoro,  aber  nicht 
kirchlich  und  ein  schärferer  Denker.  Er  lebte  mit  Kant  auf  demselben  Breitengrade. 
Ihm  waren  die  deutschen  Römer  Leute,  denen  vor  lauter  Worten  die  Sprache  ver* 
ging,  und  es  schien  ihm  unnützes  Begehren,  nach  einem  Ausdruck  zu  suchen,  wenn 
das  Gefühl  nicht  selbst  einen  eigenen  Ausdruck  erzwang.  „Und  sollten  wohl  die 
Bilder  aus  allen  italienischen  Schulen  verstanden  werden?"  fragt  er  zweifelnd  im 
Zusammenhang  mit  einer  Bemerkung  über  die  Hieroglyphen  der  Ägypter.  „Mich 
dünkt  immer,  sie  wollen  nur  die  Schrift  verstehen,  nicht  die  Worte,  die  damit  ge< 
schrieben  sind ;  es  sind  zu  ihrer  Zeit  selbst  schon  viele  Leute  aufs  Schreiben  ver» 
fallen,  die  bloß  so  an  der  Schrift  Vergnügen  gefunden  haben,  und  das  ist  nicht  viel 
besser,  als  wenn  ein  Kopist  Minister  sein  könnte,  weil  er  die  Verordnungen  ins  Reine 
schreiben  kann.  Wenn  man  aber  das,  was  jene  rechten  Leute  schreiben  wollten,  auch 
in  sich  hat,  so  versteht  man  auch  ihre  Schriften." 

Runges  Absage  an  jeglichen  Eklekticismus  ist  so  energisch  wie  die  eines  Manet.  Er 
ahnt  eine  neue -Zeit,  die  sich  auf  Trümmern  erhebt,  „am  Rande  aller  Religionen, 
die  aus  der  katholischen  entsprangen",  am  Ende  einer  Kunstepoche,  die  von  den 
greifbaren  Idealen  der  Renaissance  lebte.  Die  Welt  wird  anders.  „Die  Abstraktionen 
gehen  zugrunde,  alles  ist  luftiger  und  leichter  als  das  bisherige;  es  drängt  sich  alles  zur 
Landschaft,  sucht  etwas  Bestimmtes  in  dieser  Unbestimmtheit  und  weiß  nicht,  vne 
es  anzufangen ...  Ist  denn  in  dieser  neuen  Kunst  —  der  Landschafterei,  wenn  man 
so  will  —  nicht  auch  ein  höchster  Punkt  zu  erreichen,  der  vielleicht  noch  schöner 
wird  wie  die  vorigen?  Ich  will  mein  Leben  in  einer  Reihe  Kunstwerke  darstellen. 
Wenn  die  Sonne  sinkt  und  wenn  der  Mond  die  Wolken  vergoldet,  will  ich  die 
fliehenden  Geister  festhalten.  Wir  erleben  die  schöne  Zeit  dieser  Kunst  wohl  nicht 
mehr,  aber  wir  wollen  unser  Leben  daran  setzen,  sie  wirklich  und  in  Wahrheit  her» 
vorzurufen.  Kein  gemeiner  Gedanke  soll  in  unsere  Seele  kommen.  Wer  das  Schöne 
und  das  Gute  mit  inniger  Liebe  in  sich  festhält,  der  erlangt  immer  doch  einen  schö» 
nen  Punkt.  Kinder  müssen  wir  werden,  wenn  wir  das  Beste  erreichen  wollen." 

Das  ist  das  Programm  der  Runge,  Friedrich,  Dahl  und  Blechen  und  aller  der  an» 
deren  heimlichen  Nazarener  des  Nordens.  Sie  sind  Prediger  kleiner  Ansiedler, 
gemeinden,  die  sich  irgendwo  in  einem  noch  unbebauten  Lande  niederlassen.  Die 
bescheidenen  Hütten  werden  in  Eile  errichtet,  die  Leute  haben  viel  mit  Roden  und 
Ackern  zu  tun,  und  der  Prediger  hat  keine  Kirche.  An  einer  lichten  Stelle  des  Wal» 
des  wird  des  Sonntags  unter  freiem  Himmel  Gottesdienst  gehalten.  Später  wird 
man  auch  zu  einer  Kirche  kommen.  Es  bedarf  ihrer  nicht,  um  dem  Herrgott  zu 
danken. 


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118  CHAOS  UND  KOSMOS 

I  n  fl  u  *■ 

DieseMenschen  haben  klare  blaueAugen  und  einfaltigeHerzen.  Sie  entdecken Bes« 
seres  als  Fresken,  erfinden  neue  Zusammenhänge  zwischen  Mensch  und  Kunst.  Ja,  es 
ist  uns,  als  hätten  sie  überhaupt  erst  den  wahren  Zusammenhang  zwischen  dem  Deut» 
sehen  und  der  Kunst  gefunden.  Auch  sie  sind  Anfänger.  Ihre  Einfalt  hindert  sie,  in  die 
nächste  Stadt  zu  gehen  und  sich  die  ihrem  Dasein  nötigen  Dinge  zu  kaufen.  Deutsch« 
land  ist  eine  Insel  im  Weltmeer,  eine  Stelle  im  Urwald.  Sie  könnten  nicht  mit  Gekauf* 
tem  oder  Erborgtem  glücklich  werden,  müssen  sich  selbst  alles  machen,  müssen,  auch 
wenn  sie  darüber  zugrunde  gehen,  Luft,  Licht,  StoflF  und  Stil  aus  dem  Eigenen  sau» 
gen;  müssen,  denn  das,  was  sie  brauchen,  wie  sie  es  brauchen,  ist  schließlich  doch 
nirgends  zu  haben.  Diese  Menschen  sind  in  einem  ganz  anderen  Umfang  Primitive 
als  die  deutschen  Römer.  Sie  vernageln  sich  nicht  mutwillig  die  Welt,  nehmen  nicht 
das  Primitive  von  anderen,  die  ihnen  gleicher  Art  erscheinen,  sind  Waldmenschen, 
Anfänger  kindlicher  und  heroischer  Art.  Lehrer  und  Meister  ist  die  Natur.  Zum 
ersten  Male  wird  das  verwegene  Wort  wie  ein  Gebet  gesprochen,  nicht  von  Leuten, 
die  in  der  Kunst  stecken  und  zurück  wollen,  denen  die  Natur  eine  Zutat  zu  anderem 
ist,  sondern  von  Einsiedlern,  die  nichts  anderes  haben.  So  inbrünstig  hat  kein 
Courbet  die  Natur  geliebt  wie  dieser  Runge,  so  unverwandt  starrte  kein  Rousseau 
auf  das  Blattwerk  wie  Kaspar  David  Friedrich.  Kein  Turner,  kein  Constable 
weidete  sich  so  sehnsüchtig  an  dem  Licht  wie  Dahl  und  seine  Genossen.  Natur  ist 
ihnen  alles,  Tradition,  Rembrandt,  Poussin,  das  Vaterland,  Genossen,  Familie.  Natur 
ist  ihnen  Religion  und  der  innere  Beruf  und  die  Bestellung  der  Fürsten.  Natur  ist 
ihnen  der  dunkle  unerforschte  Grund,  wo  sie  allein  ihre  Persönlichkeit  suchen.  Sie 
erreichen  viel,  hundertmal  mehr  als  die  Constable  und  Rousseau.  Oder  ist  die  Hütte 
des  Robinson  nicht  mehr  als  der  Palast  des  Fürsten?  Und  nicht  nur  für  die  Wildnis 
gilt,  was  sie  erfinden.  Die  Not  erschließt  ihnen  Möglichkeiten,  von  denen  manche 
erst  Generationen  später  der  europäischen  Malerei  geläufig  werden.  Aus  Bauern» 
maierei  gewinnt  Wasmann  einen  Impressionismus,  der  die  neue  Landschaft  hervor» 
bringt.  Janssen  in  Hamburg  wagt  ein  Selbstbildnis  mit  nacktem  Oberkörper,  in  dem  die 
Lokaltöne,  selbst  die  Schatten  des  Fleisches  von  den  grünen  Reflexen  einer  Wand  be< 
stimmt  werden.  Wilhelm  von  Kobell  in  München  findet  Lichter,  die  ihm  kein 
Wouverman  verraten  hat.  Dahl  in  Dresden,  Blechen  in  Berlin  malen  Wolkenstudien 
und  andere  atmosphärische  Dinge  von  einer  Flüssigkeit,  deren  Art  um  zwanzig  Jahre 
dem  Vorlauf ertum  des  jungen  Menzel  voraus  ist.  Und  in  der  Zeit,  als  Corot  noch 
ein  Knabe  war,  ersah  Martin  Rohden  in  Rom  eine  corothafte  Campagna. 

Das  sind  deutsche  Beispiele  aus  allen  Himmelsrichtungen,  die  sich  verzehnfachen 
lassen.  Die  Gleichzeitigkeit  so  vieler  Entdecker  kann  nicht  Zufall  sein.  Im  Diminutiv 


p 


iiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiu 


NAZARENER  119 

hat  Deutschland  damals  in  den  Tagen  der  David  und  Ingres  eine  auf  das  Natur' 
liehe  begründete  moderne  Malerei  erlebt. 

Warum  nur  im  Diminutiv?  Warum  nur  für  Minuten?— Weil  es  Einsiedler  waren. 
Weil  sie  die  Güter,  die  hier  und  dort  in  dem  noch  unerschlossenen  Land  entstanden, 
nicht  zu  vereinen  vermochten  und  gar  nicht  auf  den  Gedanken  kamen,  daraus  Ueße 
sich  ein  Inhalt  für  Generationen  gewinnen;  weil  ihnen  das  Gefundene,  Determi« 
nierte,  das  Wert  hatte,  wie  eine  Nebensache  auf  dem  Wege  zu  einem  unbestimm« 
baren  Höheren  erschien;  und  weil  es  die  Art  aller  deutschen  Nazarener  ist,  im 
Wollen  maßlos  zu  sein. 

Kein  Wunder,  daß  das  frühe  Sterben  unter  diesen  Menschen  zur  Epidemie  wird. 
Runge,  den  Rembrandt  im  Traume  mit  „lieber  Otto"  anredet,  scheint  seinen  schmalen 
Kopf  in  den  Schraubstock  zu  nehmen,  um  jenen  Ausdruck  des  „Leichten  und  Luf» 
tigen"  herauszupressen.  Die  Studie  nach  seiner  Mutter  für  das  große  Hamburger 
Doppelbildnis  erscheint  mir  immer  wie  das  Sinnbild  einer  Konzentration  von  er« 
schreckender  Intensität.  Aus  kahlem  Grunde  schält  eiserner  Wille  ein  klassisches 
Gesicht.  Die  fast  maskenhafte  Strenge  enthält  viele  Möglichkeiten  in  der  Richtung 
eines  verbürgerlichten  und  vertieften,  vergeistigten  David,  nur  nichts  Leichtes  und 
Luftiges.  Ein  Mensch,  der  nur  Geist  ist  und  sein  möchte,  wälzt  mit  schmalen  Hän« 
den  schwere  Lasten  einen  Berg  hinan  und  meint,  sie  würden  sich,  getrieben  von  seinen 
Gedanken,  schließlich  von  selbst  weiterbewegen.  Geradeso  gut  könnte  er  von 
den  würdigen  Ahnen  auf  dem  Doppelbildnis  den  Tanzschritt  erwarten.  Allzu  be» 
stimmt  bleibt  das,  was  er  als  Unbestimmtes  erblickt,  und  wenn  ihn  wirklich  ein» 
mal  die  Sehnsucht  nach  dem  Leichten  aus  dem  begrenzten  Kreis  herauslockt,  narrt 
ihn  die  angesäuerte  allzu  dünne  Luft  ungeformter  Mystik.  Wie  hätten  Denker,  de< 
nen  das  Bewußtsein  von  der  zerronnenen  Vergangenheit  und  einer  aus  Schweiß  ge» 
borenen  Zukunft  aufging,  sich  mit  dem  Leichten  und  Luftigen  begnügen  können, 
das  nur  der  stete  Gang  langer  Entwicklungen,  die  Kondensation  überwältigter  For» 
men  zu  erfüllen  vermag.  In  Blechens  weiche  schmiegsame  W-elt  einer  sorglosen  Ma» 
lerempfindung  ragt  oft  unversehens  ein  primitives  Barbarentum.  Als  seine  schreck« 
liehen  bunten  Palmenhäuser  oder  sein  in  Härte  erstarrtes  Semnonenlager  entstan« 
den,  malte  er  seine  schönsten  Skizzen,  voll  warmer  Atmosphäre. 

Das  Leichte  glückt  ihnen  in  den  Pausen  zwischen  harter  Arbeit  und  hat  nur  des« 
halb  für  sie  und  für  uns  seinen  Preis.  Die  Intimität  der  traulichen  Bildchen 
Schwinds,  die  so  hoch  über  seinen  fleißigen  Illustrationen  steht,  hätte  als  einziges 
Ziel  zu  einer  widerstandslosen  Gemütlichkeit  geführt  und  den  hochgemuten  He« 
roismus  der  Nazarener  in  satte  Biedermeierei  verwandelt.  Die  Kersting  und  Genes« 


uililiiiiiiiiiiiiiiiliiiiiKiiliiiinHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiKiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiKiii^iu^  iiiui!«iiiiiihiKiiiiiini>iiiiiiiiiiiiiiNiiiiiiii:iiiiiiiiiiniii;iiiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiu 


120  CHAOS  UND  KOSMOS 


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sen  wären  uns  bald  zu  viel,  wenn  sie  weniger  sparsam  mit  ihren  Gaben  wären.  Wir 
genießen  das  beschauliche  Dasein  und  die  saubere  Frische  des  Malerischen  in 
Friedrichs  Zimmer  mit  der  Frau  am  Fenster  doppelt,  weil  seine  meisten  Bilder  so 
kahl  und  kalt  anmuten.  Die  luftleere  Einsamkeit  seiner  Landschaften  ist  erschrek« 
kend.  Nicht  daß  Menschen  so  malen,  das  ist  schließlich  nicht  so  merkwürdig,  wir 
haben  andere  Originalitäten ;  sondern  daß  sie  so  empfinden  wie  sie  malen,  eine  Ein« 
sieht,  die  jeder  Strich  bestätigt,  bedrückt  uns.  Man  möchte  sich  den  Kragen  in  die 
Höhe  schlagen.  Es  ist  immer  genau  so  viel  auf  den  Bildern  als  hingemalt  ist.  Kein 
Hauch  fügt  sich  allein  hinzu.  Die  Menschen  Friedrichs  sind  verirrte  Wanderer  auf 
Alpengipfeln,  wo  die  Luft  zu  dünn  wird,  oder  Verlassene  an  einem  unwirtlichen 
Strande. 

So  sind  alle  Nazarener  dieses  in  Hoffnungen  bebenden,  in  Gedanken  und  Ge- 
fühlen schwelgenden,  an  Realitäten  armen  Deutschlands.  Von  hohen  Bergspitzen 
strecken  schmale  schwarze  Silhouetten,  die  winzig  erscheinen,  ihre  dünnen  Arme 
nach  dem  märchenhaften  Kommunikationsmittel  der  Lüfte  aus,  dem  schönen  und 
großen  und  sicher  gesteuerten  Luftballon,  der  sie  aufnehmen  und  fortbewegen 
könnte  und  ihnen  endlich  das  ersehnte  Gefühl,  in  Höhen  zu  fliegen,  bereite. 

Wir  haben  Realitäten  in  Fülle  gewonnen,  sogar  die  leichten  und  luftigen,  das 
Bestimmte  in  dem  Unbestimmten,  und  entbehren  nicht  der  geeigneten  Kommuni« 
kationsmittel.  Auf  hundert  Wegen  dringen  wir  in  die  Welt.  Wir  haben  die  Tor» 
heit  eingesehen,  mit  eigenen  Händen  Waldhütten  bauen  zu  wollen,  wenn  das  Material 
zu  stattlicheren  Bauten  in  der  Nähe  zu  haben  ist.  Von  unseren  komfortablen  Nie« 
derungen  blickt  unsere  Sattheit  auf  die  ein  wenig  komischen  Zeugen  einer  glück« 
lieh  überwundenen  Zeit. 

Doch  setzte  damals  eine  deutsche  Kunst  an,  da  an,  wo  sie  Aussichten  besitzt, 
im  Kern  der  Rasse.  Das  Stille  und  Dumpfe,  das  Zähe  und  Ungebärdige,  das  Grü« 
belnde  und  Störrische  rang  nach  Ausdruck.  Kein  Bedürfnis  nach  Komfort,  keine 
Konkurrenz  mit  anderen  Zeiten,  anderen  Völkern  trieb  die  Nazarener,  sondern  in« 
brünstige  Sehnsucht  nach  sich  selbst,  nach  einem  reinsten,  höchsten  Symbol  des 
Deutschen,  nach  würdiger  Gemeinsamkeit  und  würdiger  Eigenheit,  nach  dem  In» 
halt  für  einen  schönen  Kult. 

Ein  Dramatiker  stiller  Massenschicksale,  wie  Gerhart  Hauptmann,  fände  hier 
würdigen  StoflF.  Die  undramatische  Stille  ist  das  Drückende  des  Stücks.  Unglück« 
liehe  deutsche  Dichter,  wie  Hölderlin,  wie  Kleist,  hatten  ein  reicheres  Los.  Das 
Greifbare  des  tragischen  Moments  öffnet  unserem  Mitgefühl  weite  Tore.  Die  Klage 
wird  pathetisch.  Wir  werden  am  Anfang  der  modernen  französischen  Malerei  einen 


NAZARENER 


121 


frühgefallenen  Streiter  finden,  den  die  Kunstgeschichte  tragisch  nennt.  Sein  Schick« 
sal  hat  ihm  leuchtende  Kränze  auf  das  Grab  gelegt.  Wir  gedenken  in  Wehmut  der 
großen  Führer  der  Menschheit,  die,  so  lange  sie  lebten,  allein  waren,  leidend  und 
darbend,  und  verschwenden  unser  Mitleid,  anstatt  ihnen  Besseres  zu  geben.  Sie 
waren  nicht  einsam.  Kein  Rembrandt,  kein  Daumier,  kein  Marees  ist  tragisch.  Die 
Einsamkeit  würzte  ihre  Wollust.  Kein  Mißton  verunreinigte  das  erhabene  Echo 
ihrer  Gesänge.  Tragisch  sind  die  Einsamen,  die  klanglos  leben  und  sterben,  deren 
Stimmen  es  an  Kraft  für  das  eigene  Echo  gebricht.  Tragisch  sind  die  Einsichtigen, 
die  das  Höchste  kennen  und  wissen,  sie  können  es  nicht  erreichen;  die  sich  nicht 
als  Meister,  sondern  als  Jünger  fühlen  und  denen  die  Zeit  die  Hand  des  weisen 
Meisters  versagt.  Tragisch  sind  die  Gesunden  auf  kranker  Scholle,  die  Schicksals' 
losen,  die,  ohne  zu  stürzen,  in  ein  Massengrab  sinken. 


DELACROIX  UND  SEIN  KREIS 


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GfiRICAULT 

Der  größte  Nachfolger  Davids  und  größte  Vorgänger  Delacroix'  ist  ein  Zwischen* 
produkt.  Er  hängt  mit  David  zusammen,  denn  die  frühen  Bilder  mit  den  mäch' 
tigen  Einzelgestalten,  seine  stärksten  Werke,  besitzen  das  als  Norm,  was  David  in 
seltenen  Höhepunkten  erreicht,  die  Wucht  des  Marat  und  des  Doppelbildnisses 
mit  dem  Papst  und  dem  Legaten.  Er  hat  mit  Davids  Epoche  das  Ungeregelte  der 
Instinkte  gemein  und  steht  höher,  weil  er  auf  den  Schein  einer  schematischen  Ord* 
nung  verzichtet  und  sich  nicht  scheut,  sein  Temperament  an  Stelle  der  Doktrin  zu 
setzen.  Die  Beziehung  zu  Delacroix  ist  viel  äußerlicher,  beinahe  zufälliger  Art  und 
gilt  nur  für  einen  verschwindenden  Teil  des  Meisters  der  Dantebarke.  Doch  hat 
Gericault  vieles  berührt,  was  ein  größerer  umfassen  sollte,  und  wären  nicht  seine  eige» 
nen  Werke  stark  genug,  würde  schon  die  Pietät,  die  Delacroix  dem  kühnen  Reiter 
entgegenbrachte,  uns  zwingen,  ihm  den  Platz  des  Vorläufers  zu  lassen. 

Der  Ausspruch  seines  Lehrers  Guerin,  Gericault  habe  den  Stoff  für  drei  oder  vier 
Maler,  könnte  wörtlich  genommen  werden.  Schon  der  neunzehnjährige  Autor  des 
Selbstporträts  der  Sammlung  Moulin  in  Mortein,  das  um  1810  entstand,  hatte  ein 
Gesicht.  In  den  weichen  und  losen,  sehr  schnell  gemalten  Zügen  steckt  ein  Rest  des 
Dix'huitieme.  Der  verschwindet  sehr  bald.  Die  drei  gewaltigen  Soldatenbildnisse 
im  Louvre,  der  Officier  des  chasseurs  ä  cheval,  der  die  Reihe  beginnt,  der 
Cuirassier  blesse  und  der  Carabinier,  1812  bis  1814  entstanden,  gehören  zu 
ihrer  Zeit,  sind  gleichzeitig  typische  Zeugnisse  für  das  Genie  des  Malers  und  für 
den  Genius  der  napoleonischen  Ära.  In  den  beiden  ersten  Bildern,  in  denen  dem 
Pferd,  Gericaults  Lieblingsmodell,  eine  hervorragende  Rolle  zufällt,  setzt  er  sich 
mit  David  und  Gros  auseinander.  Der  Officier  des  chasseurs,  der  zum  Angriff 
sprengende  Reiterführer,  ist  die  glänzendste  Darstellung  der  pathetischen  Geste, 
die  David  in  dem  Napoleon  passant  le  Saint  Bernard  zu  einem  rein  formalen 
Zeichen  gestaltet  hatte.  Von  diesem  kulissenhaften  Symbolismus  des  Empire  hat 


iinniiininiiiiiiiigiisMinnmiiiiigiiiiniiiiiiniiiiiiiiniiiiiiiHic^^^^^^^ 

.iiiiiimimimijiiiiiitiiiiiJiiiitiitirtiiiiiinM 


126  CHAOS  UND  KOSMOS 


i<iiiiiiiiilimliiiiiiiiJiiiiilitiiiiiMiiiiiiiiiii'ii]ii:iia'i(ii>ii^iiii<iiiiiiiNiMiiiiiiiNniiiiiiiiiiiiii,;!:iiiiiiiiiiiuutiiiiiii 


sich  Gericault  endgültig  getrennt,  um  Gros,  dem  Gros  der  Bataille  d'Eylau,  um 
so  näher  zu  kommen.  Er  hatte  nicht  die  Muskeln  für  das  Kolossale  des  Schlachten* 
maiers  und  war  damals  noch  von  dem  Ehrgeiz  frei,  Aufgaben  von  solchen  Dimen« 
sionen  zu  unternehmen.  Er  begnügte  sich  mit  einer  Episode  der  Schlacht,  die  bei 
Gros  in  der  Masse  verschwindet,  stellte  sie  als  selbständiges  Motiv  in  den  Rahmen, 
mit  dem  steigenden  Pferd  als  mächtiger  Diagonale,  und  erwies  mit  diesem  Einfall, 
so  deutlich  die  Teilnahme  Gros'  zumal  in  dem  mutsprühenden  Pferdekopf  bleibt, 
ein  Gefühl  für  Maß  und  Raum,  das  dem  Proletarier  Gros  nie  gegeben  war.  In  dem 
Pendant,  dem  Cuirassier  blesse*),  der  mit  dem  Roß  am  Zügel  die  Schlacht  verläßt, 
bändigt  die  Diagonale  ungleich  höhere  Kräfte.  Die  tragische  Schönheit  des  Ge« 
schlagenen,  der  auf  die  Wucht,  die  ihn  aus  der  Schlacht  treibt,  wie  auf  eine  zur» 
nende  Göttin  zurückblickt,  reicht  an  die  Antike.  Nie  hat  ein  Klassizist  so  gut  die 
Griechen  interpretiert  wie  dieser  Rossebändiger,  der  an  nichts  weniger  denkt.  Die 
hohe  Menschlichkeit,  der  alles  Empire  entwich,  fügt  Roß  und  Reiter  instinktiv  zum 
Relief  als  einer  natürlichen  Form  ihrer  Würde  und  gelangt  nur  mit  ihrem  gegebenen 
Mittel  dahin,  ohne  sich  der  leisesten  Anlehnung  an  die  Skulptur  zu  bedienen. 
Plastisch  ist  für  sie  vollkommene  malerische  Form,  der  restlos  der  Farbe  mitgeteilte 
Ausdruck.  Die  Wucht  ist  gleich  im  Umriß  wie  in  der  Macht  der  Materie,  in  jedem 
Pinselstrich  des  breiten  Auftrags,  und  das  Farbige  ist  Bewegung.  Mit  dem  Cara« 
binier  vollendet  sich  der  Meister.  Die  Episode  verschwindet.  Das  Schlachtbild 
Gros' wird  mit  einer  einzigen  Gestalt  gegeben,  und  das  Getümmel  außerhalb  des 
Rahmens  wirkt  mächtiger  als  alles  sichtbare  Beiwerk  vermöchte.  Imposant  wie  Ti« 
zians  Medici  delle  bände  nere  steht  dieser  blonde  Krieger  vor  uns.  Ihm  fehlt 
das  Diabolische  des  Florenzer  Bildnisses.  Es  ist  ein  einfacher  Soldat.  Aber  die  Be« 
scheidenheit  der  Sphäre  des  Modells  läßt  die  Kunst  um  so  größer  erscheinen.  Der 
Stolz  des  Kleingeborenen,  der  sich  als  Glied  einer  glorreichen  Masse  fühlt,  ist  in 
dem  Bilde.  Wir  nennen  den  Ausdruck  mit  Recht  monumental,  weil  wir  in  dem 
einen  zufällig  gewählten  Soldaten  die  ganze  siegreiche  Armee  erkennen. 

Die  Fähigkeit,  das  Typische  zum  Monumentalen  zu  erheben,  erreicht  später  in 
der  Serie  von  namenlosen  Irren,  die  Clement")  in  seinem  Katalog  in  die  Jahre  1821 
bis  1824  legt,  zuletzt  in  dem  Profil  der  Frau  in  der  farbenreichen  Kapuze,  heute  in 
der  Sammlung  Eissler  in  Wien,  ihren  Höhepunkt.  Die  Folie  in  der  Nachtmütze, 
di«  bei  Cheramy  war,  ist  das  Werk  eines  neuzeitlichen  Rembrandt. 


*)  Siehe  auf  S.  122  die  Zeichnung  zu  dem  Bilde,  im  Besitz  von  Paul  Cassirer,  Berlin. 
*)   Charles  Clement    (Gericault,   Paris    bei    Didier  &.  Cie.,   II.  Aufl.   1868)    klassifiziert  die 
Köpfe  nach  Geisteskrankheiten,  Monomanie  du  vol,  monomanie  du  jeu  etc. 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiaiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiii^ 


GfiRICAULT  127 


Diese  Bildnismalerei  ist  Gericaults  reichste  und  reinste  Kunst.  Er  überträgt  sie 
aufs  Pferd,  das  der  leidenschaftliche  Reiter  sein  ganzes  Leben  immer  wieder  stu» 
dierte.  Dabei  hilft  ihm  Rubens.  Gericault  rückt  die  Werte  wieder  näher,  die  der 
Davidschule  verboten  waren.  Der  bekannte  Schimmelkopf  der  Ackermannschen 
Sammlung  ist  ein  rubenssches  Bildnis.  Der  Pinsel  beflügelt  die  Anatomie,  die  ob» 
jektiver  erscheint  als  die  des  Vorbildes.  Rubenshaft  sind  die  Stall»  und  Farmbilder. 
Die  stämmigen  Gäule  in  der  ficurie  des  Louvre  sind  von  dem  Bau  der  beiden 
Bauernpferde  auf  der  Farm  mit  dem  verlornen  Sohn  des  Antwerpener  Museums. 
Gericault  ist,  bevor  er  mit  der  englischen  Kunst  zusammentrifft,  nie  so  flüssig  wie 
Rubens,  aber  die  Zähigkeit  des  Realisten  hat  vor  dem  leichter  beschwingten  Kolo» 
risten  der  letzten  Zeit  manche  Vorzüge. 

I)ie  Bildniskunst  wird  auf  die  Landschaft  übertragen.  In  der  Tempete  mit  den 
tobenden  Wogen  und  der  ans  Ufer  geworfenen  Leiche')  läßt  die  Leidenschaft 
nicht  viel  Objektives  übrig;  aber  man  ahnt,  mehr  als  man  sieht,  die  Möglichkeiten 
einer  Landschaft,  die  nicht  mehr  aus  Kulissen,  sondern  aus  Atmosphäre  besteht. 
Auch  in  dem  Train  d'Artillerie  der  Münchener  Pinakothek  ist  das  Landschaft» 
liehe  mehr  Begleitung  einer  Stimmung,  freilich  Begleitung  sonorster  Art.  Die  Wucht 
der  vorbeijagenden  Batterie  scheint  sich  dem  ganzen  Terrain  mitzuteilen.  In  dem 
Bild,  das  früher  bei  Haro  war,  entsteht  eine  Landschaft  ohne  alle  Staffage  und  ohne 
jeden  anderen  Stimmungsgehalt  als  den  einer  höchst  lebendigen  aber  ganz  ruhigen 
Natur.  Ich  weiß  leider  nicht,  wo  das  Bild  hingekommen  ist.  Es  war  ein  ganz  breit 
gemaltes  gebirgiges  Terrain  und  ließ  sich  mit  Sicherheit  bestimmen.  Sonst  hätte 
man  es  gut  dreißig  Jahre  später  datieren  können. 

Die  Art  dieser  Bilder,  zu  der  auch  noch  ein  paar  Marinen  gehören,  erschließt 
viele  Perspektiven.  Man  blickt  über  Daumier  bis  zu  Courbet,  der,  solchen  Doku» 
menten  nach,  mit  größerem  Rechte  als  Nachfolger  gelten  könnte  als  Delacroix. 
Das  sogenannte  Selbstbildnis  Gericaults  in  der  Bildnisgalerie  des  Louvre  und  der 
Homme  ä  la  ceinture  de  cuir  Courbets,  dieTempete  des  einen  und  die  Mari» 
nen  des  andern  sind  Bilder  einer  Familie.  Hätte  Courbet  Gelegenheit  gehabt,  so 
wären  ihm  sicher  nicht  die  Häupter  der  Geköpften,  die  Gericault  mit  erschreckender 
Wahrheit  darstellte,  entgangen. 

Gebührt  deshalb  nicht  vielleicht  Gericault  der  Titel,  den  man  Ingres  verlieh? 
Ist  er  nicht  in  Wirklichkeit  der  Vater  des  Naturalismus? 

Das  Urteil,  das  anders  entschied,  ist  nicht  ohne  Feinheit.   Es  läßt  sich  nicht  von 


')  Museum  Brüssel.  Aus  dem  Jahre  1815. 


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ii  ti  • 

128  CHAOS  UND  KOSMOS 

I  I  M  U 

dem  kühnen  Temperament  beirren,  das  die  Natur,  zumal  eme  entlegenere  Natur, 
tiefer  aufwühlte  als  alle  Zeitgenossen,  nicht  von  dem  genialen  Erfinder,  der  mit  sei« 
ner  gewaltigen  Materie  ungleich  stärker  als  Ingres  Natürliches  symbolisierte,  sons 
dern  hält  sich  an  den  höheren  Grad  ingresker  Sachlichkeit.  Zumal  die  italienische 
Epoche  Gericaults  gibt  diesem  Urteil  recht. 

Den  Realismus  hat  er  am  weitesten  in  den  Lithographien  getrieben,  die  vielleicht 
Charlet  anregte.  Sie  fügen  seinem  Ruhm  nur  wenig  hinzu.  Gavarni  hat  ihnen  zu 
danken.  Manche  sind  trockene  Anekdoten  und  erinnern  an  gewisse  Banalitäten,  zu 
denen  sich  zuweilen  der  ältere  Courbet  verirrte.  Auch  diese  Unsicherheit  ist  den 
beiden  gemeinsam.  Doch  gibt  es  unter  den  Blättern  einige  Perlen  von  reinster  Emp« 
findung,  Tierstudien,  die  vielleicht  am  deutlichsten  den  schmalen  Weg  zu  Delacroix 
erkennen  lassen. 

Dies  der  eine  Maler  in  Gericault.  1816  geht  er  nach  Italien.  Neben  dem  Rea» 
listen,  der  sich  mit  dem,  was  er  von  David  hat,  entschlossen  von  allem  Davidischen 
entfernte  und  zum  stärksten  zeitgenössischen  Gegner  des  Klassizismus  wurde,  ent» 
steht  ein  Römer  von  nicht  gewöhnlicher  Art.  Man  kann  ihn  weder  zu  David,  noch 
viel  weniger  zu  Ingres  rechnen.  Auch  bleibt  er  von  dem  zweifelhaften  Titel  des 
Klassizisten  bewahrt.  Doch  wird  man  nicht  leicht  den  zutreffenden  Titel  für  ihn 
finden  und  unsicher  bleiben,  ob  überhaupt  die  italienische  Zeit  zu  einer  positiven 
Bestimmung  des  Wertes  Gericaults  beitragen  kann. 

In  Rom  weicht  der  Schatten  Gros',  und  die  Erinnerung  an  Prud'hon,  den  stillen 
hehren  Meister,  der  seinen  eigenen  Weg,  den  des  Dichters,  zu  der  Antike  gefunden 
hatte,  wird  lebendig.  Er  erkennt,  was  der  Meister  der  Psyche  einem  Poussin  ver« 
dankt,  und  schwelgt  in  der  Vorstellung  von  Bacchanalien.  Die  Gouaches  La 
Marche  de  Silene,  im  Museum  von  Orleans,  und  das  Concert  champetre  im 
Louvre  sind  reizvolle  Erweiterungen  des  poussinesken,  prud'honhaften  Gefüges. 
Der  Dramatiker  wird  Lyriker.  Er  besinnt  sich  auf  sein  Temperament  und  malt  die 
schwungvolle  Skizze  Cheval  arrete  par  des  esclaves,  die  heute  das  Museum 
von  Rouen  besitzt.  Es  ist  die  Aufdeckung  des  antiken  Geistes,  der  in  dem  Guiras« 
sier  blesse  verhüllt  und  unbewußt  wirkte.  Die  Enthüllung  hat  große  Reize  des 
Dekorativen  ausgelöst.  Geschmeidiger  fügen  sich  die  in  großen  Licht*  und  Schat» 
tenflächen  gemalten  Körper  zum  Relief.  Man  genießt  die  echt  gallische  Übertra« 
gung  der  Antike,  die  keinem  Deutschen  gelingt.  (Wie  fern  ist  dieser  fließende 
Rhythmus  dem  Einsiedlerwahn  der  Klosterbrüder  von  San  Isidoro,  die  gleichzei« 
tig  die  Casa  Bartholdy  bemalten!)  Trotzdem  war  die  unberührte  Antike  in  dem 
Cuirassier  mehr  wert.  Siegriff  tiefer,  war  in  dem  Soldatenkleid  ein  menschlicherer 


llMHiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 


GfiRICAULT  129 


Begriff.   Ein  Rembrandt  entkleidet  sich  seiner  Tiefen,  um  Dekorationen  zu  malen. 

Aus  der  Rouener  Skizze  entsteht  das  Motiv  der  Course  des  chevaux  libres. 
Gericault  malt  es  in  mehreren  Bildern  kleineren  Umfangs,  ohne  zu  einem  defini« 
tiven  Gemälde  zu  gelangen.  Die  am  weitesten  getriebene  Fassung,  die  früher  Doli' 
fus  besaß,  hat  1912  der  Louvre  erworben  als  notwendige  aber  nichts  weniger  als 
abschließende  Ergänzung  der  reichen  Gericault»Sammlung.  Schon  die  Zeichnungen 
zu  dem  Motiv  sind  auffallend  leer.  Die  reiche  Atmosphäre  der  Gouaches,  in  denen 
Pousäin  und  Prud'hon  den  jungen  Meister  beschützten,  wird  zu  zierlichen  Linien; 
das  Temperament  verdunstet  zu  Arabesken.  Man  spürt  es  noch,  aber  es  steht  nicht 
mehr  ganz  in  den  Dingen,  sondern  daneben,  und  man  weiß  nicht,  ob  es  nicht  le» 
diglich  Geschicklichkeit  ist,  was  diese  summarischen  Gliederkurven  treibt.  Bei 
manchen  könnte  man  fast  an  einen  gesteigerten  Genelli  denken.  Die  Gemälde  des 
gleichen  Motivs,  zumal  das  im  Louvre,  sind  das  imposante  Resultat  einer  kompi» 
lierenden  Kunst.  Was  man  schaffen  kann,  ohne  mit  dem  Herzen  bei  der  Sache  zu 
sein,  ist  erreicht.  Viel  für  den  malenden  oder  bildhauernden  Betrachter,  der  an 
Zwischenprodukten  lernen  kann,  viel  für  den  Dekorateur,  blutwenig  für  die  hohen 
Ansprüche,  die  von  dem  großen  Debütanten  Gericault  geweckt  wurden.  Gerade 
das,  was  den  Maler  des  Cuirassier  unddes  Carabinier  auszeichnete,  das  instink» 
tive  Zugreifen  und  Geradedrauflosgehen,  die  Liebe  des  kühnen  Reiters,  der  auch  die 
Antike  wie  ein  feuriger  Liebhaber  umschlang  und  nicht  fragte,  woher  sie  kam, 
fehlt.  Er  ist  auch  jetzt  vor  der  Antike  kein  vor  Respekt  erstarrter  Schüler,  aber  der 
Liebhaber  ist  nachdenklich  geworden,  und  er  gehört  zu  denen,  die  das  Denken  er« 
schlaff t.  Er  ist  auch  jetzt  noch  kein  Klassizist,  denn  er  malt,  was  andere  schreiben, 
steht  turmhoch  über  der  großen  Historie  Davids;  nicht  über  Ingres.  Seine  Male« 
rei  ersetzt  nicht  vollgültig  die  zeichnerische  Gestaltung  des  Odaliskenmalers,  gegen 
die  alles  zu  sagen  ist,  nur  eins  nicht,  daß  sie  ihren  Zweck  verfehlte.  Sie  redet  breit, 
was  kurz  gesagt  werden  müßte,  ohne  die  Macht  des  Ausdrucks,  der  diese  stür» 
menden  Pferde  und  Menschen  zu  Trabanten  eines  stürmenden  Genius  formen 
könnte.  Die  Malerei  in  dem  Bilde  läßt  sich  als  ein  Ding  an  sich  betrachten,  auch 
die  Anatomie,  auch  die  Bewegung.  Die  Muskeln  der  Nackten  sind  wohl  studiert, 
aber  spannen  sich  nur,  um  betrachtet  zu  werden,  nicht  zum  Kampf  mit  den  Rossen. 
Die  Bewegung  ist  fast  zu  einem  abgemalten  Begriff  geworden,  wird  nicht  als  trei< 
bendes  Element  hinter  den  Dingen  empfunden,  sondern  ist  eine  Art  Maske.  Die 
Lichter  erhöhen  nicht  die  Materie,  sondern  machen  sie  fett  und  speckig.  Die  Zu. 
schauer  auf  der  Mauer  des  Hintergrundes  sind  eine  malerische  Arabeske,  aber 
keine  Menschen,  will  sagen,  keine  lebendigen  Wesen  des  Bildes. 

9 


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130         """"  CHAOS  UND  KOSMOS 

p  nn         n       m 

Damals  war  Gericault  nahe  daran,  zu  einem  Akademiker  zu  werden.  Eine 
große  Aufgabe,  Le  Radeau  de  la  Meduse,  von  1819,  half  ihm,  die  Gefahr 
fast  vollständig  zu  überwinden.  Der  Ehrgeiz  brachte  das  Werk  hervor.  Ge« 
ricault  war  Neurastheniker  und  allen  Einflüssen  und  Stimmungen  unterworfen. 
Er  war  elegant,  mondän  und  reich  genug,  um  sich  in  Paris  mit  Anstand,  so» 
gar  mit  einem  gewissen  Gepränge  zu  bewegen,  und  litt  ganz  unverhältnismäßig 
unter  der  Gleichgültigkeit  der  Menge,  die  den  Debütanten  mit  voreiligem 
Zuspruch  ermutigt  hatte.  Das  Medusenfloß  sollte  ein  „Schlager"  werden  und  über 
Nacht  die  Undankbaren  auf  die  Knie  zwingen.  Die  Aktualität  des  Gegenstandes, 
der  Schiffbruch  der  Fregatte  La  Meduse,  der  noch  in  aller  Erinnerung  war  und 
sogar  politische  Kämpfe  zur  Folge  gehabt  hatte,  versprach  die  Teilnahme  der 
Menge.  Für  die  Dramatik  der  Szene  war  er  der  rechte  Mann.  Das  Werk  gelang 
trotz  der  nicht  einwandfreien  Absicht  seines  Schöpfers.  Wie  ein  Posaunenstoß  er» 
schüttert  das  Bild  den  Saal  des  Louvre.  Bedeutende  Werke  derselben  Zeit  hängen 
in  seiner  Nähe.  Prud'hons  Justice  et  Vengeance  ist  das  Vorspiel  seines  Rhyth» 
mus,  aber  hält  vor  solcher  Gewalt  nicht  stand.  Die  Kraft  ist  unwahrscheinlich. 
Der  riesige  Umfang  des  Gemäldes  wäre  für  jeden  anderen  zum  Verhängnis  gewor» 
den.  Bei  der  Skizze  in  der  Sammlung  Moreau  des  Louvre  scheint  das  Format,  das 
weit  unter  einem  Meter  bleibt,  dem  Gegenstand  durchaus  angemessen.  In  den 
Zeichnungen  des  Museums  in  Rouen  und  der  früheren  Sammlung  Cheramy  hätte 
man  die  Möglichkeit  einer  Vergrößerung  ahnen  können,  aber  mußte  fürchten, 
das  in  Einzelheiten  merkbare  Rokoko  würde  das  Gemälde  verflauen.  Die  Behand» 
lung  des  Wassers  in  der  spätesten  Zeichnung,  im  Fodormuseum  in  Amsterdam, 
zeigt  diese  Gefahr  besonders  deutlich.  Nichts  von  alledem  trifft  zu.  Trotz  der  nach 
und  nach  entstandenen  Häufung  der  Gruppen,  deren  Genesis  die  Zeichnungen 
lehren,  ist  die  Wirkung  vollkommen  geschlossen.  Schon  im  ersten  der  rouenerEnt« 
würfe  ist  die  Schrägstellung  der  Barke  gefunden ,  wenn  auch  zuerst  nach  der  an» 
deren  Seite;  mit  ihr  das  wichtigste  Element  des  Bildes.  Diese  Schräge  wird  von 
den  Gruppen  bereichert.  Sie  steigert  sich  von  dem  entseelten  Jüngling  am  Ende 
des  Flosses  bis  zu  dem  großartigen  Aufbau  der  dem  Rettungschiff  Entgegenwin* 
kenden  am  Kopf.  Das  Ungestüme  der  Bewegung  reißt  auch  die  paar  übernomme» 
nen  und  arg  akademischen  Posen  der  teilnahmlos  Verzweifelten  mit  sich  fort,  de» 
ren  Darstellung  dem  Temperament  Gericaults  fern  lag.  Die  Tendenz  ist  ganz 
michelangelesk.  In  den  vielen  vorbereitenden  Zeichnungen,  namentlich  auf  einem 
Blatt  im  Museum  von  Rouen,  findet  man  Motive  der  Sixtina  und  der  Medicisärge 
fast  unverändert;  und  sie  bleiben  auch  in  dem  Gemälde  erkennbar.  Aber  die  Ord» 


GfiRICAULT  131 


iPtriMilillriilliiiiiniiHitiiiiiitiiiiriiiiiliriiliiiiiJiiiMriliiriitiiriiirirliiiitimMiiNii 


nung  der  Teile,  die  gewaltige  Bewegung,  entspringt  einer  ganz  selbständigen  Emp» 
findung.  Die  Flächen  des  Malers  verbreitem  vielleicht  das  Vorbild,  aber  sind  or» 
ganisch. 

Die  Bewunderung  Michelangelos  trieb  Gericault  zur  selben  Zeit  zur  Plastik.  Es 
gibt  nur  sehr  wenige  Skulpturen.  Clements  Katalog  zitiert  sechs  und  von  ihnen  ist 
nur  ein  Teil  heute  noch  bekannt.  Sie  entstanden  halb  zufällig,  ausschließlich  in 
ganz  beschränkten  Dimensionen,  und  Gericault  hat  ihnen  keine  Bedeutung  bei» 
gelegt.  Mir  erscheinen  sie  wie  ein  Protest  gegen  die  Armut  der  Neuzeit  an  Bild< 
hauergenies.  Der  Schöpfer  der  Gruppe  Satyr  und  Bacchantin')  war  ein  gebo< 
rener  Meißler  des  Steins.  Die  Kleinheit  des  Werkes  verschweigt  nicht  die 
gebietende  Gewalt  eines  Monumentes,  und  der  Nutzen,  den  es  aus  Michel« 
angelo  gewann,  ist  wertvoller  als  des  Malers  Errungenschaften  auf  demselben 
Wege.  Der  Vergleich  der  riesigen  Anstrengung  des  Medusen flosses  mit 
diesen  nahezu  aus  Spielerei  begonnenen  Dingen  mag  grotesk  erscheinen.  Redu« 
ziert  man  die  Frage  auf  die  Entscheidung,  wo  mehr  Genie,  mehr  Kraft  des 
Künstlers  im  Verhältnis  zur  Aufgabe  wirkt,  so  wächst  das  winzige  Werk  über 
das  Große.  Was  hier  mit  zwei  Figuren  auf  einem  Sockel  von  35  cm  Länge  er» 
reicht  ist,  eine  Mannigfaltigkeit  von  Licht  und  Schatten,  ein  Reichtum  von  Bewe» 
gung  und  Kraft,  eine  Fülle  des  Lebens,  die  jeden  Millimeter  beteiligt:  das  läßt  die 
Monumentalität  des  Gemäldes,  so  wirksam  sie  ist,  wie  eine  Aufbietung  nicht  des» 
selben  Ranges,  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grade  äußerlich  erscheinen.  Die  Plastik 
ist  keine  Verbreiterung  Michelangelos,  sondern  Konzentration.  Sie  setzt  im  Wesent* 
liehen  an,  realisiert  unrealisierte  Ideale  des  Vorbildes  oder  deutet  wenigstens  die 
Möglichkeit  dazu  an,  ist  viel  rationeller  für  ihr  Material  gedacht  als  die  Malerei  für 
das  ihre  und  behält  die  Natürlichkeit  der  Vision,  die  augenblickliche  Auslösung  des 
Persönlichen  ohne  die  im  Gemälde  merkbaren  Hemmnisse.  Das  Unvorhergesehene 
mag  hier  so  gut  suggerierend  mitwirken,  wie  bei  dem  Emigrantenrelief  Daumicrs, 
das  dieser  Plastik  eng  verwandt  ist.  Trotzdem  ist  die  Behauptung  kaum  übertrie« 
ben,  daß,  wenn  Gericault  ausgebaut  hätte,  was  er  in  wenigen  Beispielen  andeutete, 
eiA  Bildhauer  entstanden  wäre,  dessen  Art  Rodins  Epoche  schmerzlich  vermißt. 

Und  nun  der  letzte  Meister  im  selben  Künstler.  Noch  nicht  neun  Jahre  war  er 
an  der  Arbeit  und  hatte  schön  zwei»,  dreimal  sein  Gesicht  vollkommen  verändert, 
war  von  Gros  über  Rubens  zu  Michelangelo  gekommen.  Kaum  ein  Jahr  nach 
Vollendung  des  Medusenflosses  wird  der  klassisch  Gesinnte,  den  die  Sehnsucht 


')  Heute  in  der  Sammlung  K.  Sternheim  in  La  Hulpe. 


mniiiiiiiiiillliiililliHlliiiiiiiniiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiuiiiiiiiiiniiiiiiliiiliiniii«^ 

132      "       °"  CHAOS  UND  KOSMOS 


nach  präzisen  Formen  zur  Plastik  getrieben  hatte,  zum  modernsten  der  zeitgenössi« 
sehen  Maler. 

Das  Unvermittelte  des  Überganges  läßt  wieder  äußere  Veranlassungen  ver« 
muten.  Der  Erfolg  des  Medusen flosses  war  hinter  den  sehr  hochgespannten 
Erwartungen  zurückgeblieben.  Dagegen  hatte  das  Bild  auf  einer  geschickt  arran» 
gierten  Tournee  in  England  große  Sensation  erregt  und  gute  Eintrittsgelder  ge» 
bracht.  Gericault  glaubte,  man  würde  dem  Autor  nicht  versagen,  was  man  seinem 
Werke  gab,  und  ging  1820  nach  London.  Die  Reise  zählt  in  der  wechselreichen 
Geschichte  der  Beziehungen  zwischen  englischer  und  französischer  Kunst.  Sie  war 
nicht  die  erste  Fahrt  über  den  Kanal,  die  die  Generation  Gericaults  unternahm,  aber 
die  entscheidende. 

Ganz  anderes,  als  er  erhofft  hatte,  wurde  ihm.  Nicht  der  Rausch  des  äußeren  Er» 
folges.  Dafür  fehlte  für  einen  Gericault  in  England  so  gut  das  Räucherwerk  wie  in 
Frankreich  oder  in  irgendeinem  anderen  Land.  Aber  er  fand  eine  durch  nichts  zu 
ersetzende  Förderung  seiner  Kunst.  Man  muß  im  Geist  neben  das  Medusen  floß 
eine  Landschaft  irgendeines  Engländers  derselben  Zeit  stellen,  muß  sich  den  zwi« 
sehen  allen  möglichen  Traditionen  schwankenden  Enthusiasmus  des  Sanguinikers 
vorstellen  und  daneben  die  gemächliche  Stetigkeit  eines  Old  Crome,  muß  sich  den 
ganzen  Unterschied  zwischen  einer  gleichsarh  ackerbautreibenden  Kunst  und  eineJ 
kriegliebenden  Muse  klar  machen,  um  die  Explosion  Gericaults  und  seiner  Freunde 
zu  verstehen  und  ihre  Hymnen  auf  englische  Meister  zweiten  Ranges  zu  begreifen. 
Es  hieß  hier  im  ersten  Augenblick,  entweder  die  ganze  Schule  ablehnen  oder  an« 
nehmen.  Die  Tendenz  überraschte  so  sehr,  daß  den  Empfängern  zur  Kritik  zu» 
nächst  nicht  der  Atem  reichte.  Was  Gericault  neben  der  Gesamtheit  der  zeitgenös* 
sischen  englischen  Kunst  entdeckte,  war  ihre  Vergangenheit,  wieder  eine  Gesamt» 
heit.  Mit  von  der  Sehnsucht  geschärften  Augen  erkannte  er  die  Freiheit  der  Eng» 
länder  und  das  Traditionelle  ihrer  Freiheit,  während  man  zu  Haus  immer  nur  Dok» 
trinen  predigte.  Nicht  nur  die  Zeitgenossen  malten  so  natürlich  ohne  Mythologie, 
sondern  schon  deren  Väter  und  Großväter  hatten,  so  schien  es  einem,  mit  klassi» 
zistischen  Rezepten  gespickten,  Franzosen,  so  gemalt.  Und  was  übrig  blieb,  Was 
man  besser  zu  machen  hoffte,  vergrößerte  die  Dankbarkeit.  Die  Lehre  wirkte  wie 
alle  vernünftigen  Gedanken  stärker  als  das  Beispiel. 

Gericault  verkannte  nicht,  was  sich  unter  den  von  ihm  gefeierten  Genreszenen 
Wilkies  an  malerischen  Werten  verbarg.  Der  Wilkie  des  Spanish  Girl,  in  der 
Sammlung  Tennant,  und  ähnlicher  Werke  konnte  auf  ihn  nur  den  besten  Einfluß 
haben.  Wie  er  die  Vorbilder  verstand,  beweisen  seine  Rennen  vonEpsom,  zumal 


n  iiiniiiiiiiniiiinniii  «iniiiiiiiiiiiiiiiniin  in  III 


GfiRICAULT 


133 


die  kleine  Perle  des  Louvre,  in  deren  prangender  Frische  der  Farbe  und  des  Striches 

die  Kunst  der  Besten  Englands  fortzeugend  wirkt.  Noch  einmal  läßt  der  Pinsel  des 
Kavaliermalers  Pferde  entstehen.  Aber  diesmal  ist  es  nicht  mehr  das  kurbettierende 
Schlachtroß,  dessen  steiler  Hals  das  Feldherrnbildnis  ziert,  nicht  der  Träger  des  an» 
tiken  Rhythmus,  keine  zierliche  oder  wuchtende  Kurve:  es  sind  Pferde,  Tiere,  die 
in  gestrecktem  Lauf  bunte  Jockeys  tragen,  farbige  Organismen,  deren  Wesen  nicht 
der  Meißel  des  Bildhauers  festzuhalten  vermag.  Nur  ein  Maler  konnte  sie  machen. 
Der  Schüler  von  Gros,  der  Verehrer  Prud'hons,  der  Anbeter  der  Antike,  der 
Nachfolger  Michelangelos  beschloß  als  Kolorist  und  als  Bewegungskünstler  von 
der  Rasse  eines  Degas  die  stolze  Laufbahn.  Viel  zu  früh  für  seinen  unersättlichen 
Tatendurst.  Ein  Sturz  vom  Pferde  raubte  seinem  kurz  bemessenen  Dasein  noch 
ein  volles  Jahr.  Vom  Februar  1823  bis  zum  24.  Januar  1824  schleppte  sich  der 
Krüppel  unter  schweren  Leiden').  Vom  entscheidenden  Debüt  an  gerechnet,  haben 
ihm  also  nur  zehn  Jahre  gehört.  Kam  das  Ende  zu  früh  für  seine  Kunst?  Trotz  der 
ungeheuren  Kraft,  die,  scheint  es,  abbrach,  ohne  das  vollkommen  adäquate  Feld  der 
Tätigkeit  gefunden  zu  haben,  bleibt  die  Frage  unbeantwortet.  Fast  könnte  man 
meinen,  daß  zu  dem  Bild  seines  Schaflfens  die  meteorartige  Existenz  des  Menschen 
gehört.  Sie  vergrößert  die  schöne  dramatische  Geschlossenheit  eines  Inhalts,  dem 
sonst  vielleicht  die  Mannigfaltigkeit  der  Bestandteile  verderblich  geworden  wäre. 


")  Nach  Charlet,  dem  Freunde  Giricaults,  ging  dem  Sturze  vom  Pferde  ein  Selbstmordversuch 
in  London  voraus,  der  nur  durch  einen  glücklichen  Zufall,  in  Gestalt  Charlets,  vereitelt  wurde. 
Der  Verlust  des  größten  Teils  seines  Vermögens  soll  G6ricault  zu  der  Tat  getrieben  haben.  Auch 
der  Sturz  vom  Pferde  wird  damit  in  Zusammenhang  gebracht.  Über  Charlets  Glaubwürdigkeit 
sind  die  Meinungen  sehr  geteilt.  Clement  bestreitet  die  Hypothese  mit  aller  Entschiedenheit; 
auch  ein  neuer  Biograph,  Leon  Rosenthal  (Giricault,  Librairie  ancienne  et  moderne,  Paris,  s.  d.) 
der  sich  freilich  auf  Clement  stützt.  Chenavard,  ein  Zeitgenosse,  hat  mit  derselben  Bestimmtheit 
Charlet  bestätigt,  und  aus  seinem  Bericht  geht  hervor,  daß  auch  Delacroix  Grund  gehabt  hatte, 
der  gleichen  Meinung  zu  sein.  (Vgl.  u.a.  Boyer  d'Agen,  Ingres,  S.  166EF.,  dem  Chenavard  aus« 
führliche  Mitteilungen  über  den  Tod  G^ricaults  gemacht  hat.) 


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DELACROIX 

Das  Empire  ist  ein  Produkt  des  Chaos,  David  ein  Despot,  der  eine  sturzende 
Welt  zu  sichern  glaubt,  indem  er  ihr  ein  paar  Zeichen  aufdrückt;  seine 
Doktrin  die  Idee  eines  Abenteurers,  der  zum  Akademiker  wird.  Er  gleicht  dem 
Kapitän  eines  schwer  gefährdeten  großen  Schiffes,  der  das  Meer  zu  beruhigen  sucht, 
indem  er  öl  auf  die  Wogen  gießt.  Die  Oberfläche  glättet  sich  auf  einen  bestimmten 
Umkreis,  auf  eine  bestimmte  Zeitdauer.  Dann  tobt  es  um  so  toller.  Die  engeren 
Davidschüler  sind  alle  Schwimmer  in  öl,  die  aus  der  fiktiven  Schicht  über  dem 
eigentlichen  Element  Realitäten  zu  gewinnen  suchen.  Auch  Cornelius  ist  so  ein  Be* 
schwichtiger  mit  ungeeigneten  Mitteln.  Die  subjektive  Sanktionierung  seines  Öls 
machte  seine  Methode  nicht  rationeller.  Die  deutsche  Gründlichkeit  stärkt  nur  noch 
mehr  den  Irrtum,  macht  ihn  für  Jahrzehnte  unausrottbar.  Die  Stabilität  ist  Erstar« 
rung.  Goya  und  Gericault  sind  Schwimmer,  die  zuweilen  auf  den  Grund  tauchen. 
Sie  kommen  mit  Trophäen  an  die  Oberfläche  und  schwimmen  mit  ihnen  im  Chaos. 
Da,  wo  Ingres  taucht,  scheinen  sich  die  Wasser  zu  teilen.  An  einer  Stelle,  die  nicht 
die  tiefste  ist,  wächst  ein  einsamer,  schmaler  Damm,  mit  friedlichen  Gebilden  ver* 
ziert.  Es  ist  Neuland ,  aber  zu  abseits  gelegen ,  um  dem  ungeheuren  Chaos  zu  ge« 
bieten.   Andere  Dämme  müssen  dazu  kommen,  um  es  zu  sichern. 

Nun  taucht  ein  Jüngerer,  von  edlerer  Herkunft,  von  tieferem  Gefühl,  von  kla» 
rerem  Intellekt  in  die  Fluten.  Er  sucht  sich  die  Stelle  in  der  Mitte,  die  wildeste, 
wo  die  Trümmer  des  Früheren  zu  Haufen  treiben,  wo  der  Schwimmer  am  schwer« 
sten  gefährdet  ist,  wo  das  Gelingen  größten  Nutzen  verheißt.  Keine  Fiktion  hemmt 
ihn,  schützt  ihn.  Er  wirft  das  Akademische,  den  bequemen  Schwimmgürtel,  von 
sich.  Alles  oder  nichts!  sagten  Entweder  gewinne  ich  Unbegrenztes  oder  will  ver» 
gehen.  Sein  Idealismus  ist  überfranzbsisch.  So  viel  hat  noch  keiner  der  gesegneten 
Rasse  gewollt.  Freilich  hat  noch  keiner  solche  Aufgaben  vorgeschrieben  erhalten. 
Noch  nie  befand  sich  die  französische  Kunst  in  einem  auch  nur  entfernt  ähnlichen 


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136  CHAOS  UND  KOSMOS  "  """" 

chaotischen  Zustand.  Nichts  steht  mehr  fest,  seitdem  David  abtrat.  Die  Revolution 
scheint  jetzt  erst,  nachdem  die  neo«akademischen  Zeichen  verblaßt  sind,  im  ganzen 
Umfang  auszubrechen  und  will  sich  auf  das  Banale  werfen.  Alles  ist  von  vorn  zu 
beginnen.  Da  wo  Veronese  und  Rubens,  Rembrandt  und  Greco  aufhörten,  ist  an« 
zufangen.  Ein  einziger  Mensch  will  die  Spanne,  die  dazwischen  liegt,  überspringen 
und  will  modern  sein,  muß  modern  sein,  soll  die  Tat  zu  weiterem  nützen. 

Man  kann  an  Goethe  denken,  an  den  Erbauer  unserer  Kultur,  zumal  an  den  Faust» 
dichter,  dem  der  junge  Maler  frühe  Zeugnisse  weiht  und  der  den  Gruß  erwidert. 
Aber  der  Franzose  hat  das  Französische  voraus,  eine  im  übrigen  intakte  Kultur,  die 
zum  Ersatz  schadhafter  Stellen  zwingt.  Er  braucht  nur  an  den  Rest  zu  denken,  den 
Standpunkt  eines  Malers,  der  gleichzeitig  Kind  seines  Volkes  ist,  mit  allen  Konse* 
quenzen  zu  erfassen,  um  auf  dem  einen,  durch  Zufälle,  durch  ein  Zuviel,  ein  Zu« 
wenig  zerrütteten  Felde  Ordnung  zu  schaflFen.  Ein  Ordner  ist  er  von  nie  gesehener 
Art,  weitherzig  wie  der  junge  Goethe,  freier  wie  irgendeiner  der  früheren  Dikta« 
toren  der  Kunst,  strenge  nur  gegen  sich  selbst;  und  ein  Schöpfer.  Nicht  eine  alles 
andere  ausschließende  Form  stemmt  sich  den  Strömen  der  Zeit  entgegen,  sondert 
sich  wie  Ingres'  RafFaelitentum,  wie  das  Präraflfaelitentum  anderer  willkürlich  ab. 
Soviel  Ströme  in  der  bewegten  Zeit  fließen,  soviel  Formen  fangen  sie  auf.  Ein  un« 
übersehbarer  Organismus  verschlingt  sie,  um  sie  zu  überwinden.  Langsam  und  ma» 
jestätisch  und  gleich  mächtig  nach  allen  Seiten  wächst  eine  Kunst  empor,  die 
nur  Geist  ist,  der  Extrakt  einer  alles  erlebenden,  alles  verstehenden  Klarheit.  Aus 
dem  Chaos  wird  ein  Kosmos.  Und  diese  Klarheit  strahlt  von  einem  Menschen  aus, 
dessen  natürliche  Art  es  nicht  ist,  die  Dinge  zu  ebnen  und  zu  glätten.  Eine  ihm 
selbst  kaum  im  ganzen  Umfang  bewußte  Übertreibung  liegt  ihm  im  Blut.  Was  er 
anfaßt,  wird  sofort  Teil  seines  die  ganze  Existenz  bis  in  das  Alltägliche  umfassen« 
den  heißen  Rhythmus.  „Ein  Orkan  im  Herzen,  eine  Sonne  im  Hirn,"  hat  einer 
von  ihm  gesagt.  Seine  schönste  Übertreibung  ist  die  Illusion  der  sozialen  Existenz 
seines  Künstlertums.  Aus  allem,  was  wir  mit  seiner  Kunst  von  ihm  aufnehmen,  ent« 
steht  der  Eindruck,  seine  Zeit  sei  wie  die  eines  Rubens  gewesen,  als  die  Menge  noch 
geneigt  war,  sich  großen  Geistern  dankbar  zu  unterwerfen,  als  der  Geist  der  Großen 
noch  nicht  von  jenem  bitteren  Individualismus  getrübt  war,  der  das  Große  der 
Menge  entzieht.  "Wir  glauben,  er  habe  wie  ein  Rubens,  ein  Raffael  regiert.  Es  tut 
nichts  zur  Sache,  wie  weit  sich  diese  Illusion  mit  der  Wirklichkeit  deckt.  Unser 
Glaube  ist  die  Tatsache.  Den  gewährt  uns  kein  anderer  Meister  unserer  Zeit,  und 
das  Schöpferische  dieser  Illusion  wird  uns  auch  von  keinem  Meister  der  kunstgün« 
stigeren  Zeiten  gewährt.   Daher  kann  man  sagen,  kein  Künstler  vor  oder  nach  De» 


iiiininiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiininiHiiiiniiii^ 


DELACROIX 


137 


lacroix  sei  wie  er  gewesen.  Und  es  ist  schön,  daß  man  hinzufugen  kann:  kdn  Kunst« 

1er  hat  so  wenig  anders  als  andere  sein  wollen. 

Die  Einzigkeit  besteht  noch  in  mancher  anderen  Hinsicht. 

Delacroix  hat  keine  schöneren  Bilder  als  die  alten  Meister  oder  als  die  jungen, 
die  ihm  folgten,  gemalt.  Denn  er  hat  immer  nur  seine  eigenen  gut  oder  schlecht 
malen  können.  Aber  es  wäre  nicht  übertrieben,  zu  sagen,  er  habe  die  seinen  besser 
gemalt  als  die  größten  Meister  die  ihren,  habe  mit  seinem  Pfund  besser  als  alle  an« 
deren  gewuchert.  Auch  sein  Verhältnis  zum  Malen  ist  einzig.  Die  Organe  seines 
Schöpferischen  waren  vielleicht  nicht  besser,  aber  zahlreicher  und  besser  geordnet. 
Es  gelang  ihm,  Faktoren  seines  Menschentums  zu  beteiligen,  die  bei  anderen  Künst- 
lern schlafen  oder  Dinge  treiben,  die  der  Produktion  entgegen  sind.  Er  hatte  kein 
Privatleben.  Es  gab  bei  ihm  nicht  den  bekannten  Unterschied  zwischen  Mensch  und 
Künstler,  mit  dem  man  alles  und  nichts  erklärt  und  entschuldigt.  Ob  er  den  Pinsel 
in  der  Hand  hatte  oder  die  Feder,  ob  er  mit  den  Gestalten  seiner  Bilder  sprach  oder 
bei  Thiers  dinierte,  ob  er  seine  geliebten  Dichter  las  oder  Chopin  zuhörte:  es  war 
derselbe  nuancenreiche  Mensch,  und  alle  Nuancen  blieben  beteiligt.  Daraus  er« 
wächst  sein  Universalismus.  Wie  vollbringe  ich  meine  Kunst?  ist  nur  der  eine,  nie 
isoliert  geltende  Teil  des  Programms,  untrennbar  von  dem  zweiten:  Wie  mache  ich 
es,  um  dabei  Mensch  unter  Menschen  zu  bleiben?  Man  mag  dieses  Programm  noch 
so  weit  fassen  und  alles  Ethische  und  Ästhetische,  das  darin  liegt,  überdenken,  man 
wird  nicht  den  Umkreis  im  Auge  behalten,  den  Delacroix  realisierte.  Aus  dem 
Journal  geht  manches  Detail  in  dem  Stundenplan  dieses  Weltmannes  sonder« 
gleichen  hervor.  Was  mir,  wenn  ich  an  Delacroix  ohne  eine  besondere  Hinsicht 
denke,  als  sein  Größtes  erscheint,  ist  seine  Muße.  Und  nichts  beschämt  uns  Trun- 
kene von  Geschäftigkeit  tiefer  als  dieser  Hinweis:  wie  viel  Zeit  hatte  der  Mensch, 
der  soundsoviel  tausend  schöne  Dinge  hinterließ,  für  andere  Dinge?  Gab  es  ein 
des  Geistes  Würdiges,  das  ihm  fremd  blieb?  In  seinen  Schriften  findet  sich  zu« 
weilen  eine  leise  Bitterkeit  des  Skeptikers.  Nie  kommt  es  zu  der  Klage,  die  heute 
in  unserem  Dasein  auf  aller  Lippen  ist,  die  Dehmels  Arbeitsmann  ausspricht.  Nie 
fliegt  dem  Künstler,  dem  Denker,  dem  Weltmann  die  Zeit  fort,  die  er  braucht.  Er 
malte  schnell,  schneller  als  andere  dachten,  das  war  seine  Technik,  Resultat  eines 
reifen  Gedankens.  Er  lebte  gelassenen  Schritts,  wie  es  die  vollkommene  Harmonie 
aller  hohen  Bedürfnisse  fordert.   Dies  war  seine  Form  und  sein  Inhalt. 

Von  der  Zinne  eines  Weltbürgers,  der  mit  dem  Zusehen  allein  genug  zu  tun 
hätte,  wird  ein  Werk  geschaffen,  das  in  jedem  Strich  produktive  Originalität  ist. 
Es  ist  das  umfangreichste  Oeuvre  unsrer  Zeit.   Wird  Eigenhändigkeit  bedingt,  so 


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138  CHAOS  UND  KOSMOS 


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dürfte  es  das  größte  Maleropus  aller  Zeiten  sein.  In  dieser  Fülle  ist  nichts,  das  dem 
Mechanismus  der  Gewohnheit  das  Dasein  verdankt,  das  nicht  empfunden  wäre.  Ein 
Gefühl,  mächtig  wie  ein  großer  Massengedanke,  rein  und  subtil  wie  nur  ein  hoch 
geartetes  Individuum  sein  kann,  bringt  Historien,  Heiligenlegenden,  Schlachten  und 
Löwenkämpfe,  Stilleben  und  Bildnisse  hervor,  illustriert  die  Dichtung  auf  eine  den 
Dichter  überflügelnde  Art,  malt  riesige  Fresken,  die  noch  einmal  die  ganze  Pracht 
einer  den  wirklichen  Raum  umschlingenden  Kunst  ausstrahlen  und  deren  Stil  jede 
Stilisierung  verbannt,  malt  winzige  Staffeleibilder  von  juwelenhaftem  Gefüge.  Und 
dieses  Gefühl,  dessen  Produktivität  nur  aus  einer  angeborenen  dämonischen  Kraft 
von  urwüchsiger  Robustheit  zu  erklären  ist,  das  wie  eine  ungeheure  Flamme  seine 
Stoffwelt  umschlingt,  paart  sich  mit  dem  Geiste  des  Forschers,  des  Gelehrten,  mit 
einer  Kühle  des  Bewußtseins,  die  die  bequeme  Erklärung  mit  der  Romantik  aus« 
schließt.  Das  Romantische  in  Delacroix  ist  Technik.  Er  hat  die  Gabe,  mit  allem, 
was  er  in  die  Hand  nimmt,  hinzureißen  und  große  Wagnisse  zu  natürlichen  Wir« 
kungen  zu  machen.  Nur  eins  wird  nicht  mitgerissen:  das  Hirn,  von  dem  alles  aus» 
geht.   Delacroix  steht  über  seinem  Dämon. 

Man  könnte  diese  Mischung  nicht  erfinden.  Der  Dichter,  der  es  wagte,  würde 
Mühe  haben,  gegen  das  Mißtrauen  zu  kämpfen;  das  Mißtrauen  gegen  den  Geist, 
der  dem  Dämon  immer  nur  das  rechte  Feld  öffnet,  oder  das  Mißtrauen  gegen  die 
Stärke  des  Dämons,  der  sich  leiten  läßt.  Wir  sind  zu  wenig  gewohnt,  sich  aus« 
gleichende  Kräfte  schöpferisch  wirken  zu  sehen,  um  nicht  in  der  Harmonie  nach 
dem  Defekt  der  einen  oder  anderen  Seite  zu  suchen.  Und  die  ganze  Geschichte 
seit  der  Revolution,  die  ganze  Geschichte  nach  Delacroix  bestätigt  das  Mißtrauen. 
Es  gibt  selbst  in  der  alten  Kunst  nur  sehr  wenige  Beispiele,  vor  denen  sich  unserer 
Bewunderung  der  Harmonie  nicht  der  leise  Wunsch  nach  einer  stärkeren  Auf  bietung 
der  Kräfte  beimengt  oder  unser  Staunen  vor  der  Kraft  die  Sehnsucht  nach  einer,  sei 
es  auch  nur  in  Einzelheiten,  reineren  Harmonie  beschwichtigt.  Die  Wucht  eines 
Rubens  wird  nicht  so  vollkommen  zum  Spiel,  der  Materialismus  eines  Tizian  nicht 
so  vollkommen  vergeistigt,  das  Dämonische  Michelangelos  nicht  so  vollkommen 
überwältigt,  daß  nicht  das  Überwiegen  des  kräftigeren  Teils  als  Einbuße  an  dem 
höchsten  Werte  erschiene.  Rubens  ist  viel  mehr  Romantiker  als  Delacroix.  Wir 
machen  uns  die  Kritik  zu  leicht,  wenn  wir  just  in  dem  Geringen,  das  göttliche 
Meister  bei  dem  Ausgleich  ihres  Menschentums  mit  ihren  Zielen  übrig  ließen,  ihre 
Eigenheit  zu  erkennen  glauben.  Eigenheit  ist  nur  der  Name  für  Kräfte,  die  erst, 
wenn  sie  die  Ansprüche  der  Vielheit  aushalten  und  wirksam  bleiben,  den  hohen 
Wert,  der  ihrer  Summe  zugesprochen  wird,  verdienen. 


niiHiiiniiHiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiini 


DELACROIX  139 


Ein  Kreis  höchster  menschlicher  Forderungen  bestimmt  den  wesentlichen  Wert 
Delacroix'  und  er  übertrifft  um  ein  Unendliches  die  Sphäre,  in  der  sein  materieller 
Nutzen  für  Kunst  und  Künstler  gefunden  wird.  Wohl  ist  dieser  kaum  hoch  genug 
zu  schätzen.  Delacroix  hat  ein  neues  Handwerk  geschaffen.  Wir  verdanken  ihm 
die  sichere  Erkenntnis  der  Grenzen  des  Malerischen.  Er  hat  das  rechte  Wissen  von 
der  Palette,  das  dem  Empire  entgangen  war,  das  dem  Dix»huitieme  über  alles  ging, 
wieder  hergestellt  und  um  eine  der  vollen  Weglänge  von  Tizian  bis  Watteau  ent» 
sprechende  Spanne  erweitert  und  hat  es,  was  noch  mehr  bedeutet,  an  die  rechte  Stelle 
gesetzt,  wo  es  keiner  gerechten  Reaktion  erreichbar  ist.  Er  hat  der  neuen  Malerei 
alle  Möglichkeiten  der  alten  und  mit  ihnen  das  Mittel  erschlossen,  sich  ihrer  zu  be» 
dienen,  ohne  Epigone  zu  werden.  Er  hat  ihr  viele  neue  Möglichkeiten  geöffnet.  Er 
,  hat  die  Bedeutung  des  Manuellen  erwiesen,  die  Notwendigkeit,  eine  geübte  Hand 
in  Bereitschaft  zu  haben,  um  allen  Windungen  des  Rhythmus  mit  Schnelligkeit 
folgen  zu  können,  und  hat,  was  mehr  bedeutet,  gezeigt,  wie  wenig  Geschicklichkeit 
wert  ist,  welche  Gefahren  jede  Kunst  bedrohen,  die  sich  allein  auf  Geschwindschrift 
und  Schönheit  des  Pinselstrichs  verläßt.  Alles,  was  im  nahen  und  im  weiteren  das 
Metier  des  Künstlers  angeht,  hat  Delacroix  in  strahlenden  Werken,  sicherer  als  die 
klarsten  Lehrsätze,  niedergelegt.  Er  ist  die  Bibel  des  modernen  Malers,  der  Klassiker 
aller  Malererfahrung.  Und  doch  gilt  dieses  immense  Werk  nichts  neben  der  Be» 
deutung  des  Menschentums  dieses  Künstlers.  Delacroix  hat  unsere  BegriflFe  vom 
Menschlichen  erhöht.  Wir  wissen  besser  seit  ihm,  was  Eigenart  und  Stil  und  was 
■  Natur  nicht  nur  in  der  Kunst,  sondern  überall  bedeutet,  was  ein  großer  Auserwähl» 
ter  schuldig  ist.  Über  den  Tausenden  von  Zeichen,  die  seine  Kunst  uns  schenkte, 
leuchtet  das  göttliche  Gefühl  seiner  Verantwortlichkeit. 

Er  war  einer  der  gesegneten  Künstler,  denen  geeignete  Dinge  in  Strömen  zu» 
fließen.  Mit  der  Geschwindigkeit,  mit  der  andere  Sterbliche  Realitäten  wahrnehmen, 
sah  er  Bilder.  Ein  Erzähltes  wurde  ihm  zu  Farbe,  bevor  noch  die  Worte  verklangen. 
Er  sah  dramatisch.  Mit  der  Begebenheit  wurde  ihm  der  Rhythmus,  der  sie  kompo« 
niert.  Diese  Begabung  hätte  ihm  zu  dem  Fluch  jenes  Mannes  im  Märchen  werden 
können,  der  alles,  was  er  berührte,  in  Gold  verwandeln  wollte.  Welcher  Kleine 
hätte  über  der  Fülle  von  Erz,  die  ihm  geschenkt  wurde,  an  das  deutliche  Prägen 
gedacht?  Hätte  aus  soviel  Kunst  sich  immer  wieder  ins  Leben  zurückgefunden? 
Delacroix  war  sparsam.  Seine  Verschwendung  kannte  keine  Grenzen,  wenn  es  galt, 
einem  Bilde  —  viele  gleichen  rauschenden  Festen  —  die  letzte  Schönheit  zu  geben,  und 
seine  Opferlust  schreckte  vor  nichts  zurück,  wenn  er  die  Notwendigkeit  des  Opfers 
erkannte.  Der  Verschwender  war  selbst  da,  wo  wir  uns  wie  überschüttet  mit  Schön» 


iiiiiiiiiiiiiiiiiidiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii^ 

Ho"  "  CHAOS  UND  KOSMOS 

heit  fühlen,  ökonomisch  und  stand  nie  von  seinen  Festen  auf,  ohne  das  Glas  bis 
auf  die  Neige  zu  leeren.  Seine  Ökonomie  war  nicht  die  Habsucht  des  Geizhals, 
noch  die  Angst  des  Armen,  war  die  Fürsorge  eines  weisen  Regenten,  der  über  dem 
Ansehen  seines  Reiches  nach  außen  nicht  die  kleinste  Begebenheit  im  Innern  des 
Organismus,  die  seinen  Wohlstand  vermehren  kann,  übersieht.  Selbst  Delacroix' 
Skizzen  sind  ausgedachte  Gedanken.  Oft,  zum  Beispiel  bei  der  Medea,  ist  ihm  die 
letzte  Realisierung  erst  nach  zahlreichen  Wiederholungen  desselben  Vorwurfs,  zwi» 
sehen  denen  viele  Jahre  liegen,  gelungen.  Er  hat  seine  großen  Dinge  vollendet  wie 
Ingres  die  kleinen.  Sein  Geist  schien  voll  von  Kräften,  die  nur  irgend  eines  äußer» 
liehen  Anlasses  bedurften,  um  zu  Formen  zu  werden.  Der  Blick  auf  ein  paar  Blu» 
men,  auf  eine  zufällige  Bewegung  genügte.  Er  aber  wählte  die  Anlässe.  Für  den 
feingegliederten  Apparat  schien  ihm  das  Beste  gut  genug.  Dante,  Shakespeare, 
Goethe,  Ariost  waren  seine  Genossen;  Genossen,  nie  Tyrannen.  Er  dichtete  sie, 
verdichtete  das,  was  ihnen  Umriß  war,  machte  es  im  Fluge  sichtbar  und  ließ  es 
doch  Erscheinung  bleiben.  Er  sah  die  Dichter  wie  Landschaften  an.  Nie  näherte 
er,  was  in  der  Ferne  bleiben  muß,  nie  festete  er  mit  indiskreter  Hand  das,  was  nur 
als  Loses  Bestand  hat.  Er  hatte  den  Takt,  mit  seiner  notwendigen  Übertreibung 
innerhalb  der  Sphäre  der  gewählten  Dinge  zu  bleiben,  jene  hohe  Konvenienz,  die 
auch  Foussin  besaß,  sein  großer  Vorgänger  in  Frankreich.  Er  hatte  Respekt  vor 
dem  Gefühl  seiner  JHitmenschen  und  vor  dem  eigenen  und  blieb  doch  immer  ganz 
freier,  naiver  Instinkt,  ob  ihn  Dante  bestürmte  oder  die  Schönheit  seiner  Modelle 
im  Jardin  des  plantes.  Es  waren  wohl  immer  vielartige  höhere  Impulse,  die  ihn  zum 
Malen  trieben,  und  nur  dann  griflf  er  zum  Pinsel,  wenn  der  Trieb  auf  der  Höhe 
war.  Unter  den  Impulsen  hat  die  Musik  die  größte  Rolle  gespielt.  Er  war  als  Musik« 
kenner  noch  exklusiver  als  Ingres  und  sah  in  der  Musik  weniger  die  reinste  Sinn» 
lichkeit  als  den  reinsten  Konventionalismus.  Er  liebte  Mozart  und  die  Italiener, 
vermochte  sich  nie  ganz  zu  Beethoven  zu  bekehren  und  war  der  erste,  der  Wagner 
sachlich  verurteilte.  Nichts  weniger  als  eine  gegenständliche  Beziehung,  mehr  ein 
Rhythmus,  den  wir  uns  noch  am  ersten  musikalisch  denken  können,  schien  ihn  mit 
anderen  Künstlern,  anderen  Künsten,  mit  allem  Schönen  zu  verbinden.  Man  denkt 
bei  der  Dantebarke  nicht  an  den  Dichter  der  Göttlichen  Komödie,  auch  nicht  an 
Delacroix,  sondern  an  ein  ihm  und  Dante  und  vielen  anderen  gemeinsames  Gefühl, 
das  hohe  Gebilde  in  erhabene  Schwingung  versetzt  und  auch  uns,  den  Betrachten» 
den,  davon  abgibt.  Wir  denken  bei  den  Faustillustrationen  nicht  an  Goethe,  son» 
dern  an  einen  Gegensatz  zwischen  Hell  und  Dunkel,  etwa  zwischen  Mittelalter  und 
Neuzeit,  ohne  uns  deshalb  gewaltsam  zugunsten  einer  unsicheren  Abstraktion  von 


niiiiiiiiiiiiiininiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiii^^^^ 


DELACROIX 


141 


dem  derben  Konkreten  lösen  zu  müssen.  Bei  der  Don. Juanbarke  wirkt  nicht 
etwa  das  vergessene  Gedicht,  obwohl  der  Maler  innerhalb  der  Sachlichkeit  Byrons 
bleibt,  sondern  die  Einsamkeit  eines  auf  dem  Ozean  treibenden  Kahns  mit  Men» 
sehen,  deren  winzige  Gestikulationen  das  Leuchten  des  Meeres  vergrößern.  Mit  dem 
Mort  de  Sardanapale  entsteht  der  Traum  eines  Übermenschen,  dessen  Gewalt 
die  Ungeheuerlichkeit  des  Gedichtes  vervielfacht.  Und  trotzdem  bändigt  der  Ma< 
1er  sein  Durcheinander  siegreicher  als  der  Dichter  seine  Vision.  Das  Gedicht,  das 
den  Traum  hervorrief,  erscheint  wie  einer  der  zahllosen  Teile  des  Bildes. 

Dieser  Verallgemeinerung  der  Dichtung  durch  den  Traum  des  Malers  verdanken 
wir  eine  große  Reihe  von  Bildern.  Sie  ziehen  sich  gleichmäßig  über  das  ganze 
Oeuvre  hin  und  stellen  keine  besondere  Gattung  dar,  wenn  man  nicht  etwa  künst' 
lieh  eine  konstruieren  will.  Die  Erfindung  spielt  in  ihnen  keine  andere  Rolle  als 
in  den  Tierstücken  oder  Schlachtenbildern  usw.  Das  muß  man  heute  noch,  bei  uns 
wenigstens,  aussprechen.  Delacroix  ist  in  Deutschland  so  wenig  bekannt,  daß  man 
nicht  um  die  Frage  herumkommt,  ob  er  der  Dichter  bedurfte.  Den  engeren  Um» 
fang  der  Frage  beantwortet  jede,  auch  die  winzigste  Studie  des  Meisters,  in  der  wir 
einen  Grad  desselben  Gefühls,  desselben  Inhalts  finden,  den  die  Bilder  mit  den 
Titeln  aus  Ariost  entfalten.  Der  weitere  Umfang  fällt  im  Grunde  mit  der  Frage 
zusammen:  bedürfen  wir  der  Gefühle,  um  fühlend,  der  Gedanken,  um  denkend 
zu  werden?  Denn  für  Delacroix  hatte  das  Gefühl  nicht  als  solches,  das  Denken 
nicht  als  solches  Wert,  sondern  erst,  wenn  es  die  Gefühle  und  Gedanken  der 
Menschheit  zu  erhöhen,  zu  vertiefen  vermochte.  Ebenso  dachten  die  Literaten 
Michelangelo,  Rubens,  Rembrandt.  Sie  illustrierten  sich  selbst,  indem  sie  der  Dich» 
tung  nachgingen,  fanden  in  diesem  losen  Zusammenhang  mit  Gegebenheiten  ein 
Etikett,  um  namenlosen  Dingen  Namen  zu  geben,  ein  Mittel,  sich  uns  verständlich  zu 
machen  und  sich  selbstverständlich  zu  werden.  Die  Dichtung  war  ihnen  so  gutwiedie 
Natur  das  Dictionnaire,  von  dem  der  Schreiber  des  Journalsdes  öfteren  handelt. 

Delacroix  hätte  die  Dichter  aus  Pflicht  gewählt,  wenn  ihn  nicht  die  Neigung  zu 
ihnen  getrieben  hätte.  Er  hätte  sich  für  einen  nicht  ganz  ausgebildeten  Menschen 
angesehen,  wenn  seine  Bilder  dieser  Beziehung  oder  irgendeiner  anderen,  die  das 
Geistige  zu  vergrößern  vermag,  entraten  hätten;  so  wie  ihm  sicher  der  Mangel  an 
Sinn  für  Musik  wie  ein  physischer  Defekt  erschien.  Er  hätte  sicher  einen  unlitera» 
tischen,  unmusikalischen  Künstler  nicht  für  unfähig  gehalten,  schöne  Bilder  zu 
malen,  aber  für  ungeeignet,  einen  Thron  im  Reiche  der  Kunst  zu  besteigen. 

Wie  er  sich  der  Dichtung  und  Musik  hingibt,  um  zu  Verallgemeinerungen  seiner 
Malerei  zu  gelangen,  so  nimmt  er  die  Geschichte  auf,  die  seiner  Zeit  und  der  Ver» 


nnilllinillllllllllllllllllllllinilllilllllllllllllilllinilllllllllllllllllllllllllinilllllllllllU^  «inm >«««« iniiinimniiinMii IUI iiiiniiiiiiiimi 

142  CHAOS  UND  KOSMOS 


iiiiiiiiiiiiiiimiiiiMKiiiiiiiiiiiiii 


gangenheit.  Er  hat  das  Geheimnis,  Gegenwärtigkeiten  in  vergrößernde  und  verein* 
fachende  Fernen  zu  rücken,  einen  Pariser  Straßenkampf  episch  zu  behandeln,  aus 
einem  Griechengemetzel,  das  soeben  die  Welt  erregt  hat,  eine  antike  Tragödie  zu 
gewinnen.  Dieser  Historienmaler  bedarf  keines  fremden  Bewußtseins,  um  das 
eigene  zu  erheben,  keiner  erstarrten  Maske,  um  sich  ein  gebietendes  Antlitz  zu  geben, 
noch  des  griechischen  Verses,  um  würdig  zu  reden.  Das  Symbol  eint  viele  Gebär« 
den,  auch  die  antiken,  aber  der  spontane  Zwang  eines  notwendigen  Ausdrucks 
bringt  es  hervor.  Eine  Steigerung,  die  nicht  von  außen  in  das  Bild  hineingetragen 
wird,  sondern  die  wir  im  Bilde  selbst,  in  seinem  handelnden  Rhythmus  größer  werden 
sehen,  erhebt  sich  natürlich  zu  königlicher  Getragenheit.  Alle  Bilder  Delacroix' 
sind  heroisch,  auch  die  mit  ganz  einfachen  Motiven,  eine  Landschaft  mit  einem 
Indier,  selbst  der  schlichte  Atelierwinkel,  der  vor  kurzem  in  den  Louvre  gelangt 
ist;  heroisch  wie  das  geschlachtete  Rind  Rembrandts  oder  wie  die  zweite  Anatomie. 
Der  Heroismus  ist  in  der  Kraft  des  Auges,  die  das  Objekt  umschlingt  und  seine 
Realitäten  vervielfacht,  in  dem  Löwengriff  des  Malers,  in  dem  Farbigen,  das  alles 
Lokale  im  Nu  zu  einer  Atmosphäre  erweitert.  Delacroix'  Blumen  sind  Historien, 
und  seine  Historien  sind  Blumengewinde. 

So  nimmt  er  die  Kunst  der  anderen  auf,  sich  selbst  und  das  Aufgenommene 
reinigend  und  erweiternd.  Selten  ist  ein  Genie  so  geschlossen  in  die  Welt  getreten, 
wie  dieser  Debütant  mit  der  Dantebarke.  Es  ist,  als  hätte  der  Jüngling  schon 
alles  Ungebärdige  der  Jugend  abgestreift  und  sei  mit  Erhabenheit  geboren.  Dies 
Debüt  verspricht  so  viel,  und  der  instinktive  Appell  an  die  Masse,  das  Symbol  auf 
das  Schicksal  des  Geistes  in  der  gärenden  Zeit,  das  nicht  rührender  und  tiefer  als 
in  diesem  DichterschifF  auf  wogendem  Meer  dargestellt  werden  konnte,  ergriflF  die 
Elite,  wie  ein  paar  Jahrzehnte  vorher  die  Horatier  die  Masse,  mit  so  unabweis« 
barer  Macht,  daß  es  kaum  denkbar  schien,  diese  bereits  fertige  Eigenheit  könne 
zukünftigen  Ernüchterungen  zuvorkommen.  Und  sicher  hätte  Delacroix  enttäuscht, 
wenn  der  ersten  Dantebarke  eine  zweite  gefolgt  wäre.  Nichts  von  dieser  abgeschlos* 
senen  Art  folgt;  eher  ein  Extrem  des  Entgegengesetzten.  In  der  schattenhaften  Fertig« 
keit  der  Dantebarke  erkennt  Delacroix  mit  bewundernswerter  Skepsis  die  Gefahr  des 
Kompromisses.  Noch  weiter  auf  diesem  Wege  gehen,  heißt,  sich  noch  weiter  in  die 
Schatten  des  düsteren  Sees  zurückziehen.  Aufmachen!  Luft  und  Lichtmachen  1  wird 
die  Parole.  Es  ist  eine  der  vielen  Parolen  Delacroix',  die  bis  zuletzt  wirksam  bleiben, 
einer  der  vielen  Kanäle,  mit  denen  er  die  Bewässerung  seines  Landes  organisiert. 

Die  bis  an  den  Rand  gefüllte  Eigenheit  der  Dantebarke  umschließt  nichtsdesto« 
weniger  bereits  die  Anfänge  einer  Synthese  überlieferter  Werte,  unter  anderem  das 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiwijinjjpB^^ 

DELACROIX  143 

in  der  M e  d  u  s  e n  b  a  r  k  e  gewonnene  Resultat  der  letzten  Generation.  Ein  Dantescher 
Geist  hat  die  zu  groß  geratene  Episode  Gericaults  geläutert  und  monumentalisiert 
und  den  großen  Massen  einen  sowohl  der  Aktualität  als  auch  allem  Akademischen 
entrückten  Inhalt  verliehen.  Das  Massacre  und  die  anderen  frühen  Historienbilder 
bringen,  wiederum  erweitert  und  erhöht,  wiederum  unlösbar  mit  einem  Fortschritt 
der  Vision  Delacroix'  verbunden,  ein  weiteres  Gut  der  Überlieferung:  das  jenseits 
der  Medusenbarke  liegende  Resultat  der  letzten  Generation :  Gros.  Schon  erscheint 
die  Mitgift  gering  neben  dem  Geist,  der  sie  umgestaltet.  Schon  regt  sich  mächtig 
neben  dem  Zeitgenössischen  die  stille  Mithilfe  großer  Toten,  die  in  den  Wogen 
um  die  Dantebarke  nur  geahnt  wird:  ein  Rubenshaftes  in  der  schönsten  Gruppe, 
ein  Antikes  in  dem  Pathos  des  Ganzen.  Und  in  letzter  Stunde  wird  dem  Bild  noch 
ein  großes  Fenster  geöffnet.  Das  beste  Resultat  Englands,  das  einen  Gericault  zu 
einem  neuen  Stoffgebiet,  fast  zu  einem  neuen  Menschen  zwang,  wird  mit  dem  Pathos 
des  Massacre  amalgamiert,  und  es  vertreibt  die  Zähigkeit  der  Guerin»Schule.  Das 
Pathos  wird  flüssig.  Schon  wird  dem  Erkenner  Constables  eine  große  Forderung 
klar:  die  Teilung  des  Pigments. 

Zu  Rubens,  zu  Gericault,  zu  Constable  treten  viele  andere  Meister.  Die  Zahl 
wächst  mit  den  Jahren  und  den  Werken.  Er  nimmt  sie  sich  nicht,  er  wächst  in  sie 
hinein.  Oder  er  ist  wie  ein  Badender  in  dem  an  köstlichen  Gasen  reichen  Wasser  von 
Spa.  Der  Körper  besät  sich  mit  Perlen.  Bei  jeder  Bewegung  treten  neue  hinzu,  andere 
wechseln  ihre  Stellen,  und  aus  den  Zahllosen,  die  engdas  Fleisch  bedecken,  entsteht  eine 
ganz  einheitliche,  strahlende  Epidermis.  So  wenig  diese  Hülle  aus  Perlen  die  Form 
des  Körpers,  den  sie  stärkt,  zu  modifizieren  vermag,  so  wenig  bedrückt  Delacroix  der 
Einfluß  der  Großen,  dem  er  sich  aussetzt.  Andere  mögen  in  dem  von  Kräften  sieden« 
den  Gewässer  vergehen.  Ihn  trägt  es  und  macht  ihn  immer  stärker,  reifer  und  würdiger. 

So  versteht  er  den  Begriff  der  Persönlichkeit.  Es  handelt  sich  nicht  darum,  die 
Eigenart  wie  eine  isolierte  und  immer  winzige,  immer  gebrechliche,  immer  verirrte 
und  verirrende  Linie,  eine  Wurzel  ohne  Erde,  zu  züchten,  sondern  sie  mit  allem, 
was  die  Erkenntnis  ihr  als  natürliche  Stützen  zu  geben  vermag,  zu  umhüllen  und 
sie  dann  mit  diesem  ganzen  fruchtbaren  Erdreich  zusammen  in  die  Höhe  zu  treiben. 
Mutig  ist  nicht,  wer  alle  Last  von  sich  wirft,  sondern  die  notwendigen  Lasten,  auch 
die  schwersten,  lächelnd  zu  tragen  weiß.  Da  erst  erwirbt  das  Temperament  seine 
Grade.  Nicht  das  Licht  an  sich,  sondern  das  durch  tausend  Schichten  des  Über« 
lieferten  durchbrechende  Leuchten  der  Persönlichkeit  gibt  der  Welt  die  Wärme. 
Die  Eigenart  steht  auf  dem  Gipfel,  wenn  das  ihr  erreichbare  Maximum  anderer 
Werte  in  dem  ihren  gelöst  ist. 


iiiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiililililiiiiiiiiiiiiiiiiiiioiniiiiiiiiniiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitt^^ 

iiuu  uuu  u  uuiuuiiuutiuu  uuiuu   u  HtmnuUN» 

144  CHAOS  UND  KOSMOS 

N  H 

Fragmente  dieses  Programms  realisiert  jeder  Meister.  Es  ist  leicht,  von  allen 
Großen,  mit  denen  sich  Delacroix  umgab,  ein  Stückchen  zu  nehmen.  Man  kann 
mit  einem  Extrakt  aus  Rubens  und  Rembrandt  ein  Stilleben  malen,  groß  wie  die 
Hand  und  vom  geistigen  Umfang  einer  Hotelrechnung,  trotzdem  angenehm  und 
kunstvoll.  Es  ist  schwieriger,  es  wie  Ingres  zu  machen,  der  die  Antike  auf  eine 
Miniatur  reduzierte,  die  alles,  sogar  eine  Art  Griechentum,  enthält.  Aber  die  Me* 
thode,  so  ingeniös  sie  sein  mag,  versetzt  den  Erfinder  nicht  unter  die  Unsterblichen, 
auf  die  er  sie  anwendet.  Dafür  ist  sie  zu  sehr  Methode,  zu  eindeutig  in  ihrer  Ver» 
kleinerung,  zu  artistisch.  Delacroix  steht  jenseits  von  allem  Artistentum.  Seine 
Methode  ist  vielseitig,  neben  der  Doktrin  Ingres'  so  vielseitig  wie  die  Natur.  Man 
durchschaut  immer  nur  Einzelheiten  und  gerät  auf  Irrwege,  wenn  man  das  Ganze 
nach  ihnen  bestimmen  will.  Wer  nach  anderen  Meistern  in  ihm  forscht,  stößt  auf 
ewige  Naturgesetze,  auf  seine  Farbenlehre,  auf  sein  Teilungsprinzip.  Wer  Natur* 
gesetze  in  ihm  sucht,  findet  alte  Meister.  Er  ist  ganz  gewiß  Nachfolger  großer 
Leute,  aber  ebenso  gewiß  Fortsetzer,  steht  zu  Michelangelo  wie  dieser  zur  Antike, 
steht  so  zu  allen  Meistern.  Man  kann  sich  fragen,  ob  Delacroix  die  übernommenen 
Werte  reduziert  hat,  ob  nicht  eher  seine  Synthese  eine  Konzentration  ohne  wesent» 
liehe  Verringerung  des  Umfangs  genannt  werden  darf.  Denn  das,  zum  Beispiel, 
was  er  von  Rubens  ließ,  scheint  uns  entbehrlich.  Er  ließ  die  Wucht,  die  das  Bild« 
hafte  aus  dem  Gleichgewicht  bringt,  und  vergrößerte  die  Kraft,  die  es  sichert.  Von 
Raflfael,  seinem  höchsten  Vorbild,  trennt  ihn,  so  scheint  es,  der  Unterschied  der 
Temperamente  wie  eine  Kluft.  Doch  wissen  wir  den  Unterschied  in  der  S.  Sulpice, 
vordem  reifsten  Werk  des  sowenig  raffaelischen  Geistes,  kaum  zu  wägen.  Das 
ideale  Bildnis  des  Urbinaten  strahlt  uns  aus  einem  Mosaik  reichster  Wirkungen 
entgegen.  Es  ist,  als  habe  Delacroix  geheime  Wünsche  des  Schöpfers  der  Stanza 
d'Eliodoro  erraten,  deren  Erfüllung  die  Zeit  Julius  II.  nicht  zuließ.  Den  Vorgang, 
den  RafFael  in  der  Sprache  des  päpstlichen  Hofmalers  mit  größter  Anmut  und 
würdiger  Gelassenheit  erzählt,  erblicken  wir  leibhaftig.  Es  ist  kein  kirchliches 
Emblem,  sondern  packende  Begebenheit.  Die  gewaltige  Halle  des  Palastes  erdröhnt 
von  seiner  Wucht.  Eine  Flut  reichster  Farben,  die  Ra£fael  nicht  geahnt  hat,  ent» 
zündet  ihn.  Und  auf  der  Höhe  dieser  Woge  aus  Farben  und  Linien  behält  Dela* 
croix  Raffaels  edelste  Gabe,  eine  sublime  Besinnung.  Sie  tritt  an  die  Stelle  der 
kirchlichen  Repräsentation,  ist  persönliche  Selbstzucht,  wirkt  repräsentativ  in  einem 
weit  höheren  Sinne.  Wir  würden  sie  Gelassenheit  nennen,  wenn  uns  nicht  das 
Wort  für  diese  dem  Sturm  gebietende  Beherrschung  zu  klein  wäre.  RafFael  ist  für 
den  Meister  der  S.  Sulpice  ein  Anfang  und  gleichzeitig  ein  Ziel.   Zwischen  beiden 


lllliiiiiiiiiinniiiiiiiiiiiiiiliiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiiiiililiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniHllllllilin 


DELACROIX  145 


Enden  liegt  eine  unendlich  reiche  und  komplizierte  Welt,  der  RafFael  ganz  fem 
steht.  Das  übernommene  Sachliche  verschwindet  in  dem  übernommenen  Ideal,  in 
der  Verallgemeinerung  des  Vorbildes  und  wird  zu  einer  höchsten  menschlichen 
Qualität.  Diese  Rolle  spielt  kein  anderer  Meister  in  der  Entwicklung  Delacroix'. 
Das  Temperament  läuterte  sich  an  dem  Vorbild  und  gewann  gleichzeitig  Nahrung 
aus  ihm.  Er  erkannte  an  Raffaels  Würde  die  Grenzen  der  Bedeutung  eines  Rubens 
und  der  Venezianer.  Soviel  ihmVeronese  gab,  er  erscheint  doch  nur  wie  ein  passen« 
des  Wort  in  einem  gedanklich  längst  gefügten  Satze,  wobei  zu  bedenken  ist,  daß 
in  dieser  ungeheueren  Syntax  Worte  atmosphärische  Gebilde  bedeuten.  In  der 
Eroberung  Konstantinopels  scheint  der  silbrige  Dunst  der  riesigen  Prunk« 
mahle  des  Venezianers  zu  einer  sanften  Fernsicht  geworden,  der  Abwandlung  des 
gewaltigen  Pathos,  das  den  Vordergrund  füllt. 

Es  gibt  wenig  Großes  in  der  Kunst,  zu  dem  sich  in  Delacroix  nicht  eine  nahe 
oder  ferne  Beziehung  finden  ließe,  und  es  gibt  kein  Bild  in  seinem  Oeuvre,  das 
nicht  in  allen  Teilen  Geist  von  seinem  Geist  wäre,  in  dem  er  nicht  Herr  und  Gebieter 
aller  Regungen  bliebe,  von  dem  man  nicht  zu  der  Dantebarke,  der  einfachsten 
und  geschlossensten  Form  seiner  Eigenart  zurückfände.  Man  wird  schwer  entschei« 
den,  was  bedeutender  in  ihm  war,  der  Widerstand  gegen  so  viele  Einflüsse,  oder 
die  Kultur,  die  ihrer  bedurfte. 

Wie  er  die  Kunst  umfaßt,  so  verallgemeinernd,  reinigend  und  erweiternd  nimmt 
er  die  Natur.  Die  Reise  nach  Marokko,  die  wichtigste  Etappe  des  Naturalisten, 
an  der  Grenze  zweier  Zeiten,  am  Ende  der  stürmischen  Jugend,  zu  Beginn  der 
Reife,  ist  nicht  der  vorübergehende  Zufall  im  Leben  eines  Malers,  sondern  der  plan« 
volle  Zügelnes  Eroberers.  Europa,  in  Gestalt  seines  größten  künstlerischen  Genies, 
nimmt  von  dem  Orient  Besitz.  Ein  Europäer,  den  hier  so  wenig  das  Ethnographische 
bedroht  wie  in  der  Kunst,  wo  es  anders  genannt  wird,  erbeutet  die  Schätze,  die 
vorher  keinem  Maler  erreichbar  schienen.  Er  entdeckt  in  Marokko  die  Quellen 
Italiens,  das  er  nie  betreten  wird.  Besser  als  die  deutschen  und  französischen 
Romfahrer  an  den  Formen  RaflFaels  ersieht  er  an  den  Mohammedanern  und  Juden 
des  unberührten  Landes  antike  Schönheit  und  ein  weiteres,  das  allen  Suchern  der 
Antike  beim  Anblick  des  Marmors  entging:  die  Atmosphäre  um  antike  Gestalten. 
Dieser  Fund  ist  nicht  zum  geringsten  Teil  physiologischer  Art.  Die  Sonne  Afrikas 
bestätigt  dem  Forscher  den  zweiten  und  wichtigsten  Abschnitt  seiner  Farbenlehre: 
das  Gesetz  von  den  Kontrasten  und  den  Komplementären.  *) 

Die  Gleichzeitigkeit  physiologischer  und  psychologischer  Momente,  die  schon 

•)  Näheres  darüber  in  meinem  Delacroix  (R.  Piper  a  Co.  München  1913). 

10 


MliniiMi I ilimiiminiiliiiininnliiililillllllllllllnillinilllllllllllllllllllllinilllllllllllllllllllllnillllllinlllillllinillllllllllllin^ 

146  CHAOS  UND  KOSMOS 

an  dem  Maler  des  Massacre  auffällt,  die  unter  dem  heißen  Himmel  zu  einer  ganz 
organischen  Verbindung  geschweißt  wird,  ist  Delacroix'  größter  Besitz.  Die  einen 
durchdringen  die  anderen,  modifizieren  und  werden  modifiziert,  ganz  wie  sich  die 
einsichtige  Pietät  vor  RaJffael  mit  der  instinktiven  Verwandtenliebe  zu  Rubens  ver» 
eint,  wie  die  Begeisterung  für  Dante  und  Shakespeare  den  Naturalismus  in  der 
Balance  hält,  und  das  Bedürfnis  musikalischer  Sensationen  die  materiellere  Freude 
des  Handwerkers  an  der  Materie  ausgleicht.  Nach  der  Marokkoreise  hat  Delacroix 
sein  Material  zusammen,  die  günstigsten  Motive  für  sein  Talent,  das  vorher  nicht 
immer  mit  gleichem  Glück  den  Gegenstand  getroffen  hatte,  und  hat  gleichzeitig 
alle  Möglichkeiten,  diese  Stoffe  zu  entmaterialisieren.  Die  Femmes  d'Alger,  die 
Eroberung  Konstantinopels,  die  Dekoration  der  Bibliothekim  Palais  Bourbon, 
der  Louvreplafond  und  S.  Sulpice  sind  ebenso  viele  und  große  Etappen  der 
Laufbahn  des  Malers  und  des  Menschen.  Wie  bei  Dante  wird  Pracht  und  Geist 
zu  einem  und  demselben  Begriff.  Seine  Farbenlehre  ist  der  Kodex  von  der  Materie, 
die  aufdeckende  Physiologie  aller  Geheimnisse  von  den  Mosaiken  an  über  die  Vene» 
zianer  bis  zur  Neuzeit  und  noch  über  Delacroix  hinaus,  und  ist  gleichzeitig  das 
unangreifbare  Mittel  der  Vergeistigung  der  Materie.  Wohl  übertrifft  die  Pracht 
alle  Gelüste  der  Emailleure  von  Limoges ,  wohl  könnten  manche  kleine  Legenden 
der  Sammlung  Thomy»Thiery  Reliquienschreine  der  Menschheit  umschliessen,  nie 
ist  die  Pracht  ihrer  selbst  wegen  da.  Die  Farbe  schmückt  nicht,  sondern  realisiert 
das  Objekt  in  einer  überirdischen  Atmosphäre. 

Die  Bilder  nach  der  Marokkoreise  haben  der  modernen  Malerei  die  Farbe,  das 
heißt  die  Substanz  gegeben.  Das  Genie  Prud'hons  war  quasi  nackt  herumgelaufen. 
Ein  Windstoß  mußte  den  losen  Schal  zerfetzen,  mit  dem  die  Eigenart  ihre  Blößen 
verhüllte.  Die  Klassizisten  hatten  sich  bei  ihren  feierlichen  Gelegenheiten  mit 
Blech  gegürtet;  Ingres  mit  einem  nur  für  ganz  bestimmte  Bewegungen  passenden 
Gewebe.  Goya  hängt  die  Form  wie  malerische  Lumpen  um  die  Glieder.  Gros  und 
Gericault  werden  von  ihr  erdrückt,  wenn  sie  sie  nicht  instinktiv  von  sich  fernhalten. 

Der  Geschmackswert  der  Farbe  ist  eine  Modesache  und  der  Kolorist,  dem  die 
Farbe  alles  ist,  ein  Maler  für  Hutbänder  und  Schleifen.  Nur  wer  ohne  Farbe  zu 
gestalten  vermag,  kann  mit  ihr  seine  Malerei  vergrößern,  kann  Entdecker  einer 
bleibenden  Farbigkeit  werden.  Nicht  weil  Delacroix  der  größte  Kolorist  aller 
Zeiten  ist,  steht  er  so  hoch,  sondern  weil  er  die  Farbe  zu  einem  vollkommen  orga« 
nischen  Ausdruck  seines  Geistes  formte.  Nicht  seine  hohe  Liebe  zu  den  alten 
Meistern  gibt  ihm  einen  Ruhmestitel,  sondern  die  Werktätigkeit  seiner  Liebe,  das 
Einfügen  der  Werte  alter  Meister  in  den  Blutumlauf  der  zeitgenössischen  Schöpfung. 


MiiiiiiiMiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiMiiiiiiiiiiiiia^ 

^ ^  DELACROIX 147 

Ebensowenig  verdient  sein  leidienschaftlicher  Hang  zur  Natur  besonderes  Lob. 
Ingres'  Naturalismus  war  ebenso  ernst  gemeint.  Constables  Landschaftertum  und 
die  Treue  der  Runge  und  Friedrich  nicht  weniger  ehrlich.  Aber  es  gilt  von  dem 
Nutzen  der  Natur  dasselbe,  das  von  der  Farbe  gilt  und  von  den  alten  Meistern, 
denen  nur  der  das  Maximum  entlockt,  der  ohne  sie  fertig  werden  könnte.  Nur  wer 
aus  sich  selbst  heraus  das  Natürliche  zu  produzieren  vermag,  wird  mit  der  Natur 
die  höchsten  Gipfel  erreichen.  Delacroix  war  von  keiner  besonderen  Natur  ab» 
liängig,  weil  sein  Gedächtnis  von  natürlichen  Modellen  voll  war.  Sie  versperrten 
dem  Rhythmus  nicht  den  Weg,  füllten  nicht  sein  Atelier  —  wieviel  hätte  er  haben 
müssen!  —  sondern  umgaben  ihn,  wenn  er  aß  und  trank,  spazieren  ging  oder  im 
Theater  lauschte,  und  sie  hatten  ihm  bereits  ihre  Hilfen  gegeben,  wenn  er  zu  malen 
begann.  Keiner  der  Sehnsüchtigen,  die  von  der  Natur  Rettung  erhofften,  hat  Land« 
Schaft,  Tier»  und  Blumenwelt  und  Menschheit  tiefer  durchschaut  und  rationeller 
genützt  und  dem  einzigen  Lehrbuch  so  gültige  Erkenntnisse  weitesten  Umfangs 
entnommen.  Dem  traurigen  Realisten,  dem  das  Barock  des  Meisters  das  Natur» 
liehe  in  den  Löwenjagden  und  Reiterkämpfen,  in  den  großen  Dekorationen  und 
den  kleinen  Legenden  verdeckt,  dem  entgeht  wohl  auch  die  Natur  in  Rembrandt 
und  Greco,  in  Mozart  und  Beethoven,  und  er  verlangt  nach  Eßbarem,  wo  ihm 
geistige  Nahrung  geboten  wird.  Man  soll  dem  Barock  dankbar  sein,  weil  es  eins 
der  Mittel  ist,  den  Feuergeist,  der  in  diesem  Menschen  wohnte,  zugänglich  zu 
machen.  Er  besaß  von  Michelangelo  die  Gabe,  mit  einem  Arm  oder  Bein  ein  Drama 
zu  spielen.  Wenn  er  den  Christ  im  ölgarten  malt,  zeigt  er  nicht  einen  am  Boden 
Hegenden  Heiligen,  von  dessen  Antlitz  wir  das  Seelische  ablesen  können,  sondern 
wirft  ein  Stück  zuckenden  Fleisches  hin,  das  die  halbe  Welt  bedeckt.  Er  konnte 
mit  Farben  ohne  Gegenstände  Dramen  spielen,  mit  züngelnden  Rots  und  lauernden 
Smaragds,  mit  glühenden  und  dumpfen,  lächelnden  und  weinenden  Farben.  Er  be» 
saß  hundert  Wege  und  Irrwege  der  Symbolik.  Wir  würden  ihn  nicht  fassen,  wenn 
das  Barock  nicht  seine  Artikulationen  zur  Sprache  fügte.  Es  ist  Teil  seiner  Technik, 
im  Grunde  ein  sehr  geringfügiger  Teil.  Wer  in  ihn  eingedrungen  ist,  kann  das  Ba» 
rock  leicht  abziehen. 

Delacroix  hat  der  Kunst  eine  Sprache  gegeben,  die  von  keinen  grammatikalischen 
Schnitzern,  die  zu  Originalitäten  werden,  getrübt  ist;  eine  Sprache,  rein  wie  Musik, 
fähig,  das  Tiefste  auszudrücken,  und  zu  allen  Geistern,  selbst  zu  denen,  die  nicht 
besonders  auf  Malerei  eingelernt  sind,  zu  reden,  eine  Weltsprache.  Mit  ihr  stellte 
er  sich  der  zerstörenden  Tendenz  seiner  Zeit  entgegen.  Sie  ist  der  Kosmos  im  Chaos. 
Dafür  lebte  der  Weltmann.    Sein  sozialer  und  sein  Künstlerinstinkt  sah  in  dieser 

»0« 


lliiiinoiiiiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiinniiiiininnHiiiiiiiiiiiiniiiiiin^ 


iiiiiiiiiiiiitiii 


148  CHAOS  UND  KOSMOS 


.iiiiiiiiiii[iiiiiiiNiitiiriti jitnitiuitmuiiMiimiiimiiiimtiiuiiiiimtiNiiiiuiiiiiiiiiniiiiii 


Schöpfung  das  vornehmste  Ziel  seines  Universdismus.     Sprache  und  Vernunft 
waren  dem  Künstler  dasselbe. 

Wir  Deutsche  drücken  uns  gern  in  Interjektionen  aus  und  sind  geneigt,  einer 
Empfindung  zu  mißtrauen,  die  sich  lückenlos  in  Sätze  zu  kleiden  vermag.  Mancher 
von  uns  hört  nur  das  Pathos  in  Delacroix  und  weigert  seiner  Sprache  die  Gültig« 
keit  für  schlichte  Zwecke.  Delacroix  war  pathetisch.  Er  war  es  zumal  in  dem  ' 
vibrierenden  Fleisch  seiner  Menschen,  in  dem  Leuchten  der  Stoffe,  in  dem  Blinken 
der  Wellen,  in  Lichtern,  Schatten  und  Farben.  Er  war  es  in  keinem  lärmenden 
Achilles,  in  keiner  überlieferten  Andromachepose,  in  keinem  Augenaufschlag  be» 
törter  Schönen,  in  keiner  Gebärde,  die  des  ergänzenden  Wortes  bedarf.  Er  war  es 
so  wenig  in  seinem  urbanen  Anstand,  daß  ihn  mancher  für  einen  glatten  Diplo» 
maten  nahm.  Doch  könnte  man  den  wahren  Sinn  seiner  ganzen  Lebensführung 
pathetisch  im  höchsten  Maße  nennen.  Sein  Pathos  war  die  Fülle  einer  lebens« 
trächtigen  Form,  der  Prunk  ganz  reifer  Früchte  auf  kristallener  Schale,  die  Kurve, 
die  sich,  getrieben  von  beherrschter  Kraft,  zur  größten  Rundung  wölbt. 

Dieser  Mensch  trägt  eine  ganze  Welt.  Er  steht  vor  dem  ungeheuren  Loch  in  der 
Geschichte,  ein  Fels  im  Chaos.  Seine  magnetischen  Kräfte  ziehen  alle  Werte,  die 
das  leichtsinnige  achtzehnte  Jahrhundert  und  die  Wut  der  Revolution  zerstörte,  an 
und  in  sich  hinein.  Das  Überlieferte  hat  er  in  reinsten  Essenzen,  das  Neue  liegt  in 
ihm  wie  die  Perle  in  perlmutterner  Schale.  Er  läßt  es  dort,  umschlossen  von  dem 
sicheren  Gehäuse,  ein  ruhiger  Besitzer.  Zum  letzten  Male  wurde  die  Welt,  die 
Welt  unserer  schönsten  Begriffe,  zu  Malerei.  Nach  seinem  Hingang  kommen  Maler, 
Perlenfischer,  verwegene  Taucher  nach  kürzeren  und  intensiveren  Lüsten.  Aus 
winzigen  Perlen  werden  neue  Welten.  Wir  freuen  uns  ihrer.  Wie  sollten  wir  nicht? 
Doch  jener  allumfassende  Kosmos  kommt  nicht  wieder. 


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iiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiiiniiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinwiiiiiiiHiw^^^^^^^ 


HONORfi  DAUMIER 

117  s  ist  in  der  Empfindung  ein  ähnlicher  Schritt  wie  von  Tizian  zu  Rembrandt. 

Die  Entfernung  ist  nicht  geringer,  obwohl  statt  des  Jahrhunderts,  statt  Zone 

und  Kultur  ein  Jahrzehnt  und  ein  paar  Straßen  zwischen  den  beiden  liegen,  ob« 

wohl  sie  sich  persönlich  gekannt  haben  und  obwohl  Daumier  die  reifste  Frucht 

Delacroix'  ist.    „Nicht  Fleisch  von  seinem  Fleisch,  aber  Geist  von  seinem  Geist", 

meint  Klossowski  in  seinem  schönen  Buch  und  hat  recht.')  Aber  wie  weit  müssen 

wir  den  Begriff  Geist  fassen,  damit  die  beiden  darin  Platz  haben  1 

Der  Unterschiede  zwischen  ihnen  sind  so  viele,  daß  wir  das  Gemeinsame  wie 

einen  Zufall  und  ein  Geringes  ansehen  möchten.    Schon  der  soziale  Unterschied 

zwischen  dem  Weltmann  bester  Herkunft  und  dem  Kind  der  Straße,  dem  Sohn 

des  übergeschnappten  Glasermeisters  aus  Marseille,  der  auf  das  Dichten  gerät  und 

Paris  mit  miserablen  Versen  erobern  will,  ist  ein  Abgrund.  Das  materielle  Elend 

hängt  wie  ein  schmutziger  Lappen  über  diesem  Dasein.     Er  muß  die  Eltern  er» 

nähren.   Sie  leben  zusammen  irgendwie  und  wo.   Die  Kunst  ist  in  dieser  Misere 

nur  als  Improvisation  möglich.   Sie  hat  nebenbei  dem  Broterwerb  zu  dienen.    In 

einer  winzigen  Kammer  sitzt  der  Arbeiter  über  seinen  lithographischen  Steinen. 

Er  hat  einen  alten  Hut  auf  dem  struppigen  Kopf  und  schmutzige  Nägel.  An  der 

Wand  stehen  ein  paar  winzige  bemalte  Täfelchen  hinter  anderen  Steinen.   Man 

kann  sich  vor  lauter  Steinen  in  dem  kleinen  Loch  kaum  bewegen.  Die  Unordnung 

ist  greulich.   Manchmal  fällt  einer  der  großen  Steine  auf  ein  bemaltes  Täfelchen 

und  zerbricht  es.   Tant  pisl   Der  Arbeiter  sieht  kaum  auf.    Der  Stein  muß  heute 

abend  noch  in  die  Redaktion.  Eines  Tages  wird  es  ihm  zu  toll.  Er  wirft  alle  Steine 

hinaus,  geht  nicht  mehr  in  die  Redaktion  und  gibt  sich  nur  noch  mit  den  geliebten 

bemalten  Tafeln  ab.   Was  Millet  und  die  anderen  können,  kann  er  auch  und  er 

wird  es  zeigen.  Phantastische  Idee!  Wie  kommt  der  Lithograph  dazu,  auf  einmal 

')  Erich  Klossowski,  Honorfe  Daumier.   Mit  150  Abbildungen.   (R.  Piper  6.  Co..  2.  Aufl.  Mün. 
chen  1913). 


MiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiniiiininiiiiiiiiiiiiiiiniiinHiniinniiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiniiiniiiiiiiin^^^  iiiiiiiiiiiiiiiiiininiaiiiniiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiniiitii 

150  CHAOS  UND  KOSMOS   "™ 


etwas  anderes  zu  wollen.  Wenn  ihm  nicht  einer  aus  Barmherzigkeit  ein  Aquarell 
für  50  Francs  abkauft,  kann  er  hungern.  Er  hungert.  Das  geht  so  zwei  Jahre.  Reu< 
mutig  kehrt  er  zu  seinen  Steinen  zurück. 

Von  diesem  Gedrückten  wird  keiner  den  Anteil  an  jener  Welt  großartiger  Ge* 
bärden  und  rauschender  Farben  erwarten,  die  Delacroix  aufbaute,  auch  nicht  die 
Delacroixsche  Ordnung,  das  Fleisch. gewordene  Symbol  höchster  Ordnung.  Ein 
grimmiges  Lachen  antwortet  auf  die  Forderung  des  Klassikers.  Erst  hieße  es,  des 
Hungers  Herr  werden,  bevor  man  sich  dem  Chaos  widersetzt.  Übrigens  kommt 
das  ganze  Chaos  nur  von  den  vermaledeiten  Bourgeois  her,  Louis  Philippe  und 
Konsorten,  die  man  unerbittlich  ausrotten  soll.  Wohl  wäre  es  besser,  sich  um  die 
Welt  gar  nicht  zu  bekümmern,  nur  um  die  Holztäfelchen,  als  Künstler  gar  keine 
Beziehungen  zu  den  Mitmenschen  zu  suchen.  Denn  sie  sind  fiktiv,  können  nur 
fiktiv  sein.  Man  kann  auf  die  Massen  nur  als  Lacher  wirken. 

So  könnte  Daumiers  soziales  Bekenntnis  lauten,  in  jedem  Satz  ein  schreiender 
Widerspruch  gegen  Delacroix.  Der  letzte  Fürst  in  der  Kunst,  in  dem  das  Univer* 
seile  der  Beziehungen  zwischen  Mensch  und  Schöpfung,  das  ganz  Ungeteilte,  Un< 
absonderliche  und  Natürliche  zur  Triebfeder  des  Schönen  wird,  und  der  erste  Pro» 
letar  in  der  Kunst,  der  in  der  Masse  nur  den  Feind  sieht,  den  er  sich  dienstbar 
machen  muß,  im  übrigen  Individualist  bis  zum  letzten,  sein  eigener  Amateur.  Wo 
fänden  die  beiden  eine  Berührung?  —Vielleicht  in  der  Romantik,  mit  der  der  eine 
bejaht,  der  andere  verneint.  Delacroix'  Vision  ist  eine  Renaissance  «Kultur,  mit 
der  er  das  Gegenwärtige  überbietet.  Die  hohe  Geistigkeit  des  Organismus  erlaubt 
uns,  das  Ewige  in  dieser  Vision  als  bleibenden  Wert  zu  abstrahieren.  Daumier 
bringt  eine  Gegenwart.  Seine  Vision  überbietet  sie  mit  Formen,  die  das  Aktuelle 
überwinden.  Er  steigt  zu  diesen  Formen  aus  seinem  Alltag  hinauf.  Er  findet  sie, 
erfindet  sie,  weil  er  seine  Dinge  so  stark  wie  möglich  ausdrücken  will.  Es  ist  ihm 
weniger  daran  gelegen,  daß  sie  Michelangelo  und  Rembrandt  ähnlich  sind,  als  daß 
sie  die  Stärke  besitzen.  Die  Beziehungen  zu  der  Überlieferung,  zu  dem  kleinen 
Ausschnitt  der  Überlieferung,  sind  viel  versteckter  als  bei  Delacroix.  Die  Eigenheit 
scheint  ebenso  groß.  Vielleicht  ist  das  Produktive  der  Eigenheit  noch  überraschen, 
der,  wenn  wir  in  einem  dicken  Deputierten  einen  Reflex  jener  Delacroixschen  Re» 
naissance»Größe  zu  finden  glauben,  eine  Größe,  die  aus  einem  Widerstand  gegen 
Größe  hervorgeht;  wenn  aus  dem  Hohn  auf  alle  Gebärde  eine  neue  hinreißende 
Gebärde,  aus  einer  OfFenbachschen  Parodie  auf  die  antike  Welt  eine  Antike  ent' 
steht. 

Das  Wort,  das  man  Delacroix  zuschreibt:  „Gebt  mir  Kot,  ich  werde  Meister» 


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HONORfiDAUMIER 151 

werke  daraus  machen!",  das  Delacroix  nie  gedacht  hat,  das  nicht  seinen  Fähig* 
keiten,  aber  seiner  ganzen  Kultur  widerspricht,  wird  von  Daumier  realisiert.  Es 
fällt  uns  bei  jedem  seiner  Bilder,  bei  seinem  ganzen  Dasein  ein,  obwohl  auchDau' 
mier  es  nie  ausgesprochen  hätte.  Die  Erfüllung  des  Wortes  wird  von  keinem  Ehr» 
geiz  verunreinigt.  Es  blieb  dem  Bedrückten  in  Wirklichkeit  kein  anderer  Weg,  um 
unsterblich  zu  werden.  Alles  war  schön,  was  Delacroix  in  die  Hand  nahm.  Nicht 
weil  er  das  Häßliche  verachtete.  Der  Philosoph  von  Champrosay  kannte  alle 
Bankette  der  Welt,  die  für  den  einen  Verwesung,  für  den  anderen  Auferstehung 
bedeuten,  und  faßte  die  Welt  als  den  großen  Schmelzofen  auf*).  Der  Künstler 
aber  hatte  sein  Pensum  zu  wählen,  das  rechte  für  seine  besonderen  Verwandlungs» 
möglichkeiten,  für  seinen  Schmelzofen.  Das  war  alles  Große  und  Kühne,  alles 
Erregte  in  Menschenwerk  und  Natur.  Sein  Geist  gewann  aus  dem  Schönen  ein 
Schönstes,  das  sein  Ureigenes  war. 

Daumiers  Nacken  war  gebeugt  wie  der  Rücken  Rembrandts.  Das  gab  seinen 
Augen  eine  andere  Richtung  Er  sah  Myriaden  anderer  Wesen,  die  aus  der  Fäulnis 
Leben  bereiten.  Man  könnte  auf  sein  Werk  die  Umkehrung  des  Wortes  Ingres' 
über  Signorelli  anwenden:  „C'est  beau,  tres  beau,  mais  laid!"  Häßlich,  sehr  haß» 
lieh,  aber  über  die  Maßen  schön. 

Delacroix  ist  eine  Sonne.  Er  strahlt  da  oben  auf  ewige  Zeiten,  eine  Welt  über 
der  Welt.  Solange  die  unsere  besteht,  wird  sie  von  jener  bestrahlt  werden,  gleich* 
mäßig  und  unabhängig  von  dem  Guten  und  Schlechten  der  Menschen,  von  denen 
es  abhängt,  ob  sie  sich  wärmen  lassen  oder  vor  den  Strahlen  in  dumpfe  Höhlen 
flüchten,  wie  es  heute  geschieht.  Daumier  ist  ein  von  dem  Gestir«  gebrochenes 
Stück,  das  auf  die  Erde  fiel.  Man  hat  es  vor  kurzem  entdeckt.  Es  liegt  wie  ein  un» 
geheurer  Block  zwischen  den  Menschen.  Wer  es  sieht,  muß  zu  ihm,  um  seine 
Kostbarkeit  zu  bewundern.  Es  ist  kostbar  wie  Delacroix,  aber  Bruchstück,  das 
größte  in  der  Reihe  glorreicher  Fragmente,  aus  denen  sich  die  neue  Kunst  zusam» 
mensetzt. 

Der  Meister  der  Dantebarke  kämpft  mit  allen  Mitteln  für  eine  lückenlose  Tra» 
dition.  Kultur  des  Überlieferten,  Erforschung  des  noch  Unerschlossenen,  höchste 
Weisheit  des  Intellekts,  höchste  Kühnheit  des  Eroberers  zugunsten  eines  organi» 
sehen  Gebildes,  einer  klassischen  Sprache.  Daumier  stammelt.  In  zerrissenen  Lauten 
erkennt  man  die  Reste  derselben  klassischen  Syntax  und  die  Möglichkeiten  einer 
neuen  Sprache,  die  die  alte  vereinfacht.  Was  den  geschlossenen  Satz  verhindert, 

')  Ich  denke  an  den  schönen  Morgenspaiiergang  in  Ch.improsay.  mit  dem  Delacroix'  Notizen 
zur  Metaphysik  beginnen.  (Literarische  Werke,  Insel.Verlag,  S.  384.) 


iiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiniiniiiiiiiniiiiiiiiHininin^^^^^^^ 


152  CHAOS  UND  KOSMOS 


III1IIIIIIIIIIIIIIIII 


scheint  weniger  die  Unfähigkeit  des  Sprechenden,  ist  sicher  nicht  die  Unklarheit 
des  Gedankens,  sondern  die  Hast  vor  der  Fülle,  die  wir  vollkommen  geborgen  m 
seinem  Geiste  wissen.  Er  hat  alles,  nur  keine  Zeit.  Die  Notwendigkeit  eines  ganz 
vollendeten  Gefüges  kommt  in  zweiter  Reihe.  Wenn  er  nur  sagen  kann,  was  ihn 
bedrückt  und  erhebt.  Es  sind  unerhört  neue  Dinge.  Er  sagt  sie  unwiderstehlich, 
gerade  weil  er  alles  halbwegs  Entbehrliche  verschluckt,  und  weil  man  fühlt,  daß 
ihn  die  Fülle  drängt,  zu  verschlucken.  Aus  der  Not  wird  Tugend.  Die  Zeit  langt 
nicht  mehr  für  die  Delacroix.  Es  gibt  keine  Impulse  für  die  größte  Gattung  Dich» 
tung,  selbst  wenn  die  Organe  dafür  da  wären.  Es  gibt  keine  Heldengeschichte 
mehr,  der  nicht  der  Wurm  an  der  Wurzel  nagt,  und  den  kühnen  Sprung  Delacroix' 
über  die  Zeit,  ohne  in  die  Vergangenheit  zu  fallen,  wird  keiner  mehr  nachmachen. 
Aber  es  gibt  Heldengeschichte  hinten  herum,  da,  wo  andere  gar  nichts  Helden« 
haftes  erblicken,  fragmentarische  Heldengeschichte.  Es  gibt  Heldengedichte,  die 
man  in  der  Zeitung  liest,  Heldengedichte  hinten  herum,  in  Fragmenten.  Deshalb 
kann  man  immerhin  noch  an  Heroismus  glauben. 

Jede  Skepsis,  die  sichtbar  wird,  verkleinert.  Delacroix  behielt  die  seine  für  sich. 
Er  bedurfte  ihrer  in  seinen  hohen  Regionen  nicht  weniger,  aber  ließ  sie  verschwin* 
den,  wie  die  großen  Pinselstriche,  mit  denen  er  die  Arbeit  begann  und  deren  Sicht» 
barkeit  den  Reichtum  des  Bildes  geschmälert  hätte.  Daumier  gestaltet  seine  Skepsis. 
Das  gibt  ihm  eine  spezifischere,  notwendig  kleinere  Art.  Er  überbietet  die  Skepsis 
so  vollkommen,  daß  der  Anlaß  verschwindet.  Die  Extensität  Delacroix'  wird 
durch  eine  Intensität  ersetzt,  in  der  wir  wiederum  die  Art  Delacroixscher  Kräfte 
erkennen.  Auch  Daumier  ist  pathetisch  und  sein  Pathos  überwindet  die  Vernei» 
nung.  Er  ist  wirksamer  in  dem  kleineren  Rahmen  oder  wenigstens  überzeugender. 
Das  gespitztere  Mittel  dringt  tiefer.  Die  auf  einen  geringeren  Umkreis  gerichtete 
Kraft  bringt  nicht  reichere,  aber  monumentalere  Wirkungen  hervor.  Ihre  Gewalt 
treibt  uns,  aus  Fragmenten  ein  Ganzes  zu  bilden.  In  den  Fragmenten  erkennen  wir 
wesentliche  Teile  unserer  Epoche. 

In  ein  paar  Strichen  von  Daumier  steckt  seine  Zeit,  und  zwar  in  einer  konzen« 
trierten  Dosis,  in  einer  ganz  zur  Form  gewordenen  Konzentration.  Diese  Fähigkeit 
gehört  ihm  allein.  Sie  ist  ebenso  weit  von  der  altmodischen  Langsamkeit  Ingres' 
wie  von  der  neumodischen  Geschwindigkeit  Goyas.  Ingres'  Sachlichkeit  scheint 
zu  viel  Unwesentliches,  Goya  zu  viel  Aktuelles  zu  greifen.  Wenn  Gericault  alles 
Akademische  vermieden  und  die  Kunst  weniger  kavaliermäßig  betrieben  hätte, 
wäre  er  auf  Ahnliches  gekommen.  Allen  ist  Daumiers  Art  der  Übertreibung  und 
seine  Wahl  der  Dinge,  die  übertrieben  werden,  überlegen. 


WMiiHiiiiiJiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinniiiiiiiiiiiiiiniiMiiiiiin^ 


HONORfiDAUMIER  153 


In  dem  Modus  läßt  sich  ein  Barock  erkennen;  ein  viel  heimlicheres  Barock  als 
in  dem  Modus  Delacroix'.  Es  kann  hart  und  spitzig  sein  wie  das  Knochengerüst 
des  Don  Quichotte  und  seines  Gauls,  der  immer  noch  rund  ist,  obwohl  die  Haut 
über  Gestelle  gelegt  scheint.  Es  kann  sich  der  massigen  Rundung  eines  Bauern«* 
rückens,  der  klotzig  in  der  Eisenbahn  sitzt,  anschmiegen,  kann  sich  mit  dem  Wind, 
der  die  Kleider  eilender  Frauen  bewegt,  begnügen,  kann  den  unförmigen  Lasten, 
die  seine  Menschen  tragen.  Form  geben.  Es  ist  gleichsam  auf  Naturelemente  redu* 
ziert.  Lichter,  Schatten  übertreiben  auf  barocke  Art.  Nur  lösen  sie  nicht  auf,  ver» 
ringern  nicht  das  Gewicht,  scheinen  es  im  Gegenteil  zu  übertreiben.  Während  die 
Umrisse  sachlich  vereinfacht  scheinen,  wachsen  die  Volumen  ins  Ungeheure.  Das 
Leichteste  wird  stabil.  Es  gibt  Zeichnungen  aus  flackernden  Linien,  die  man  kaum 
deuten  kann,  die  eine  wuchtige  Körperlichkeit  umhüllen.  Sancho  Pansa  ist  ein  un» 
geheurer  Mehlsack,  und  selbst  da,  wo  Don  Quichotte  nur  aus  einer  Linie,  dünn  wie 
seine  Lanze,  besteht,  wo  sich  der  Hals  zu  einem  Unendlichen  verlängert  und  das 
ganze  Gestell  wie  der  Schatten  eines  ausgebrannten  Kirchturms  aussieht,  sitzt  er, 
reitet  er,  immer  noch  seßhaft.  Der  Wasserträger,  der  früher  bei  Henri  Rouart 
war,  wäre  mit  nichts  in  einen  den  Olymp  stürmenden  Zyklopen  zu  verwandeln, 
der  Odipus  ist  ein  Herkules,  die  Blanchisseuse  steigt  wie  ein  Koloß  aus  der 
Unterwelt  die  Treppe  vom  Seinequai  herauf.  Es  ist  nicht  das  Barock  der  Greco 
und  Delacroix,  eher  das  Barock  Rembrandts.  Aber  während  das  Barock  bei  Rem* 
brandt  zuweilen  nur  noch  gerade  die  Last  bewegt,  die  uns  sonst  erdrücken  würde, 
behält  es  bei  Daumier  die  größte  Freiheit  der  Bewegung.  Die  Bewegung  ist  un» 
gestüm  wie  in  Delacroix'  Bildern,  doch  scheint  sie  aus  tieferen  Gründen  an  die 
Oberfläche  zu  quellen  und  die  Antike  mitzureißen.  Antikes  Wesen  ist  auf  geheime 
Art  mit  diesen  Wäscherinnen  und  Eisenbahnfahrern,  mit  den  Wasserträgern  und 
Kunstreitern  verbunden.  Aus  Hängtbacken  und  Augensäcken,  aus  durchknieten 
Hosen  und  faltigen  Westen  werden  mythologische  Attribute. 

Es  ist  wohl,  abgesehen  von  dem  versteckten  Barock,  die  ganz  sinnfällige  Ein« 
fachheit,  was  uns  in  diesen  Gestalten  von  gestern  an  die  Alten  erinnert,  und  die 
seltsame  Möglichkeit,  uns  die  massigen  Lasten  gleichzeitig  in  anderer  Verwendung 
als  entlastete  Volumen,  z.  B.  in  großen  Wandbildern  zu  denken.  Nicht  nur  das 
Ecce  homo  der  Sammlung  Osthaus,  das  schon  beinahe  Freskenfragment  ist,  oder 
die  Emeute  oder  der  Scapin  und  ähnliche  Dinge  lassen  sich  so  transformieren, 
auch  viel  weniger  flächige  Kompositionen.  Wer  denHercule  de  foire,  ein  Aqua« 
rell  von  ein  paar  Handbreiten  Umfang,  nicht  kennt,  wird  sich  ohne  Mühe  vor« 
stellen  können,  es  sei  der  Ausschnitt  aus  einem  riesigen  Wandgemälde.    Dieselbe 


uiiiiiiiiiiiiiiiiiiNiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiii'niiiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiniiniiiiniiiHiiiiiiiiiiiiiiiin  iiiiiiiiiiiiiiniii  iiiiiiiiiinniiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii>iiiiiiH 

154  CHAOS  UND  KOSMOS 

Größe  steckt  in  zahllosen  Kleinigkeiten.  Selbst  da,  wo  uns  die  Vergrößerung  eine 
ungewohnte  Deplacierung  des  Gefühls  zumutet,  wo  der  Gegenstand  sich  zum  Ko« 
mischen  wendet,  führen  wir  sie  in  einem  idealen  Saale  aus  und  lassen  uns  die 
Dinge,  die  das  Komische  ergeben,  zur  Verstärkung  des  Ernstes  dienen.  Sobald  der 
Anschluß  an  Rembrandt  erreicht  ist,  gelangt  man  auch  zu  der  Freske.  Auch  das 
Umgekehrte  gilt.  Daumier  gewöhnt  uns,  die  beiden  Welten,  die  bis  dahin  für 
Gegensätze  galten,  (denn  wem  wäre  eingefallen,  in  Rembrandt  Antikes  zu  suchen?) 
als  Einheit  zu  betrachten.  Das  ist  die  mächtige  Atmosphäre  um  das  Fragment. 

Er  gewöhnt  uns  noch  an  andere  Gegensätze.  Der  bei  weitem  größte  Teil  seines 
CEuvre  besteht  aus  Beiträgen  für  den  Charivari.  Die  Karikatur  gab  ihm  das  Brot 
und  brachte  ihm  zu  Beginn  seiner  Laufbahn  unter  Louis  Philippe  ein  halbes  Jahr 
Gefängnis.  Man  kann  sich  wundern,  daß  ihn  die  Regierung  einsperrte.  Noch  viel 
merkwürdiger  ist,  daß  sie  ihn  je  wieder  herausließ. 

Seit  Lionardo  hat  mancher  große  Meister  Karikaturen  gemacht.  \^elleicht  sieht 
jeder  einmal  das  Zerrbild  seiner  Gottheit  vor  sich  und  befreit  sich,  wenn  er  es  nie» 
derschreibt.  Auch  Delacroix  könnte  dergleichen  in  stürmischen  Stunden  gemacht 
haben.  Was  wir  tatsächlich  von  ihm  an  Karikaturen  besitzen,  die  Lithographien 
des  Anfängers  zählen  nicht.  Es  sind  harmlose  Dinge  unter  dem  Einfluß  Goyas 
und  der  Engländer,  viel  zu  kompliziert,  um  zu  wirken.  Noch  1822,  im  Jahre  des 
glänzenden  Debüts  mit  der  Dantebarke,  lithographiert  er  die  Ecrevisses  ä  Long* 
champs,  in  deren  phantastischer  Trockenheit  wir  heute  weder  den  Witz,  noch  viel 
weniger  eine  Spur  von  Delacroix  finden.  Daumiers  Debüt  ist  das  Blatt  mit  den 
Masken  des  Jahres  1831.  Der  Künstler  war  zweiundzwanzig  Jahre  alt  und  noch 
weit  von  der  Vollendung;  aber  diese  Masken  enthalten  schon  die  wesentlichen  Züge 
der  Physiognomie  des  gefürchteten  Spötters. 

Was  sind  unsere  Satiriker  für  friedliche  Leute  neben  Daumier.  Wie  harmlos  er» 
scheinen  die  Alten,  Callot,  Rowlandson,  Hogarth,  selbst  ein  Goya.  Die  meisten 
Spaßmacher  Frankreichs  sind  traurige  Tröpfe,  die  für  ernste  Dinge  zu  arm  sind  und 
sich  dafür  an  den  Reichen  rächen.  Sie  geben  zumeist  nur  eine  komische  Einzelheit, 
die  lange  Nase,  die  krummen  Beine  oder  eine  stilisierte  komische  Oberfläche  und 
kümmern  sich  nicht  um  den  Rest.  Daumiers  Karikatur  verkleinert  nicht,  sondern 
vergrößert.  Er  kennt  alle  Nester  des  Infamen  am  Leibe  seines  Bourgeois.  Diese 
deckt  er  auf.  Ob  sie  lächerlich  sind,  ist  eine  weitere  Frage.  Er  erreicht  sein  Ziel  mit 
zwei  unwiderstehlichen  Mitteln.  Das  erste  ist  der  „anatomische  Ausdruck",  den 
Raphael  Mengs  an  Michelangelo  verwerf  hch  fand.  Er  gibt  die  Anatomie  des  Bour« 
geois.  Seine  Leute habendie  Gemeinheit  nicht  nur  in  jeder  Falte  und  Runzel,  sondern 


IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIMIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHIIIIIIW^ 


HONORfiDAUMIER  155 


in  den  Gliedern,  in  den  Knochen.  Sie  grinsen  mit  allem  Sichtbaren  und  Unsichtbaren, 
auch  mit  dem  Bauch  unter  der  geschwollenen  Weste.  Daraus  entstehen  fabelhafte 
Linien.  Ich  bin  sicher,  er  hat  viele  seiner  Opfer  durchaus  nicht  komisch,  sondern 
schlechtweg  schön  gefunden,  weil  sie  Ausdruck  hatten,  einen  Ausdruck,  dessen 
Formen«Gesetze  seine  Übertreibung  aufdeckte;  und  dieses  Schöne  lockte  ihn  mehr 
als  die  daraus  abzuleitende  Psychologie.  Die  Form  bedarf  keiner  Legende  als 
Unterschrift  und  verträgt  sie  nur  selten.  Der  Titel  wäre  immer  durch  zehn  andere 
zu  ersetzen,  und  jeder  faßt  diese  Anatomie  der  wiehernden  Menschheit  zu  eng.  Das 
Lächerliche  erscheint  wie  ein  vorübergehendes  Stadium  unseres  Anpassungsver« 
mögens.  Wir  lachen,  um  nicht  schreien  zu  müssen.  Cervantes  und  Moliere,  seine 
Lieblingsdichter,  haben  so  gelacht. 

Auch  Daumier  ist  Illustrator,  und  auch  der  Illustrator  beschränkt  seinen  Kreis: 
Don  Quichotte  und  der  Malade  imaginaire  und  noch  zwei,  drei  andere,  ein  win< 
ziges  Fragment  der  Weltliteratur,  die  Delacroix  im  Kopf  hatte.  Aber  dies  Stück 
wird  von  einem  Schiffbrüchigen,  der  nur  dieses  und  nichts  anderes  auf  seine  kahle 
Insel  rettete,  gelesen  und  wieder  gelesen.  Don  Quichotte  wird  von  ihm  ver« 
schlungen,  geht  ihm  ins  Blut  über,  wird  seine  Religion,  sein  Traum,  seine  Welt. 
Daraus  entsteht  eine  Verallgemeinerung  so  großen  Umfangs,  daß  man  fast  glauben 
könnte,  der  Don  Quichotte  sei  ohne  Daumier  nicht  mehr  denkbar.  Es  ist  keine 
Illustration,  sondern  eine  Vollendung  des  Schöpfungsprozesses,  der  in  Cervantes 
begann.  Als  Daumier  las,  bestand  das  ganze  Universum  nur  noch  aus  dürren  Ge« 
rippen  und  schwammigen  Säcken,  und  alle  Gefühle  der  Menschheit  wurden  in 
Dünn  und  Dick  geschieden.  Es  entsteht  die  Anatomie  eines  Gedankens  der  Mensch» 
heit.  Millionen  Blicke  haben  durch  das  eine  erleuchtete  Augenpaar  die  beiden 
Reiter  zum  Symbol  gesehen,  wie  das  Christentum  den  Körper  am  Kreuz.  Nun 
genügt  ein  Nichts,  eine  Gerade,  eine  Krumme,  um  den  ganzen  Roman  und  mehr  als 
den  Roman  zu  entrollen.  Die  aufgesaugte  Form  wird  Fangarm  unserer  Gedanken. 
Der  Begriff  des  Komischen  paßt  auf  diese  Macht  so  wenig  wie  der  des  Traurigen 
auf  den  Gekreuzigten. 

Er  paßt  noch  weniger  auf  die  Zeichnungen  zu  dem  Eingebildeten  Kranken; 
auf  die  lebende  Leiche  mit  dem  vom  Entsetzen  hochgereckten,  vor  Entsetzen  trie» 
fenden  Schädel  und  dem  von  Entsetzen  gedunsenen  Bauch  neben  dem  Totengesicht 
des  Doktors,  den  dasselbe  Entsetzen  bleicht.  Von  dem  Humor  Molieres  bleibt  allen« 
falls  der  Pompon  auf  dem  Trichterhut  des  Arztes  zurück.  Der  Pompon  auf  dem 
Entsetzen.  Der  Maler  macht  es  umgekehrt  wie  der  Dichter.  Er  ergreift  die  zwischen 
den  Zeilen  des  Dichters  stehende  Tragödie  von  der  Macht  der  Einbildung,  die 


miniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiim 

156  CHAOS  UND  KOSMOS 

grausiger  ist  als  jede  Realität.  Die  Komödie  beginnt  jenseits  des  Rahmens.  Auf 
dem  Blatt  der  Sammlung  Esnault»Pelterie  steht  der  Arzt  wie  ein  flüchtiger  Send« 
ling  des  Gevatter  Tod  neben  dem  Krankenstuhl.  Er  ist  gerade  noch  Mensch  genug, 
um  nicht  zum  Geier  zu  werden.  Die  Strähnen  der  Perücke  fliegen  ihm  um  den  Kopf 
wie  der  Meduse  die  Schlangenbälge.  Und  der  Kranke  ist  unschlüssig,  ob  diese 
Gestalt  sein  Retter  ist  oder  der  Dämon  seiner  Träume.  Es  ist  die  Anatomie  Mo» 
iieres,  das,  was  unter  dem  freundlichen  Lächeln  sitzt.  "Wit  lächeln  hinten  herum, 
wenn  wir  den  Atem  behalten. 

Das  Anatomische  unterscheidet  den  Karikaturisten  Daumier  von  dem  Karika» 
turisten  Goya,  mit  dem  man  ihn  unrechterweise  verglichen  hat.  Goya  hat  keinen 
Moliere  und  keinen  Cervantes  hinter  sich,  noch  sonst  etwas  außer  seinem  Ich.  Und 
das  Ich  ist  immer  nur  Irrlicht  im  Chaos.  Daher  zeichnet  sich  seine  Groteske  nicht 
ab,  wird  nicht  wirksam.  Der  Geier  ist  zu  sehr  Geier,  nicht  mehr  genügend  Mensch. 
Die  Schlangen  um  den  Schädel  sind  nicht  mehr  Haare.  Die  Phantasie  steht  mit  einem 
Fuß  im  Naturalienkabinett  und  macht  Amphibien  statt  Symbole.  Daumiers  Capri« 
chos  haben  immer  die  Wand  der  Wirklichkeit,  vor  der  er  seine  Fratzen  schneidet.  Die 
Verzerrung  raubt  Moliere  nicht  ein  Atom  an  Wahrheit.  Der  Wahrheitsbegriff  ist 
lediglich  eine  Treppe  tiefer  oder  höher  gestiegen.  Wir  bleiben  in  einem  und  dem» 
selben  festen  Hause. 

So  anatomisch  illustriert  er  die  Wirklichkeit.  Auch  die  Monumente  des  Zynis» 
mus,  die  er  in  dem  Gerichtssaal  des  Bürgerkönigtums  errichtete,  sind  nicht  zum 
Lachen.  An  den  Advokaten  reizte  ihn  nicht  die  Gaunerei;  die  steht  wie  eine  Rand» 
leiste  über  seinem  Text;  sondern  das  Animalische  des  Sprachmechanismus.  Er  liebte 
den  Mund  wie  Gericault  die  Pferde,  wie  Delacroix  die  Löwen,  wie  Goya  Stier» 
kämpfe.  Die  Chanson  ä  boire  ist  eine  Physiologie  des  Loches,  das  der  Mensch 
zwischen  den  Kiefern  hat.  Au  Theätre  fran^ais  ist  die  Physiologie  anderer  Ge» 
sichtslöcher;  der  Augen,  noch  mehr  der  Augenhöhlen.  Une  famille  sur  les  bar» 
ricades  oder  die  Aquarelle  mit  dem  Galeriepublikum  des  Theaters  sind  Beiträge 
zu  einer  ungeheuerlichen  Schädelkunde.  Die  Folgerungen  hat  ein  michelangelsker 
Griffel  summiert,  Folgerungen  einer  skrupulösen  Anatomie.  In  dem  Defenseur 
stört  fast  die  witzige  Legende  in  der  Gestalt  der  köstlichen  Klientin  neben  dem  die 
Unschuld  erstürmenden  Verteidiger.  Man  möchte  diesen  Heroismus  der  Fratze  ab» 
strakt  sehen  wie  ein  Wolkengebilde.  Die  beiden  Advokaten  in  der  Cause  celebre 
sind  brüllende  Bestien.  Sie  scheinen  irgendwo  unter  der  Toga  scheußliche  Glieder 
zu  haben.  Die  Zuhörer  sitzen  wie  eine  ganze  Welt  da,  sprachlos  den  Kampf  der 
Ungeheuer  betrachtend.    Es  ist  nichts  zum  Hören  da,  nur  etwas,  das  die  Luft 


niiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiioiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiigi 


HONORfeDAUMIER 157 

erzittert  mit  Laut  und  Gebärde.  Es  ist  ein  anderer  Shakespeare  als  der  eines  De» 
lacroix.  Er  wurde  mit  Daumier  geboren.  Und  nichts  ist  reinerer  Moliere  als  das 
Ende  des  Kampfes,  Apres  l'audience,  mit  den  beiden  Auguren,  die  ihre  Akten 
und  ihre  Gesichter  für  den  Heimweg  zubinden. 

Zu  der  psychologischen  Anatomie  gehört  untrennbar  Daumiers  zweites  Mittel: 
das  im  verwegensten  Sinne  Plastische  seines  Ausdrucks.  Die  Volumen  sind  so  ge« 
sichert,  weil  sie  von  einem  Bildhauer  bestimmt  wurden,  und  die  Komik  des  Kari* 
katuristen  dehnt  sich  ins  Ungeheure,  weil  sie  dreidimensional  ist.  Die  Leute  grinsen 
mit  dem  Rücken,  auch  wenn  sie  von  vom  gezeigt  werden.  Schon  in  dem  frühesten 
Blatt  mit  den  Masken  überwiegt  das  Plastische  bei  weitem  die  Satire.  Diese  scheint 
viel  mehr  erst  aus  der  unvermuteten,  bildhauerisch  zugreifenden  Gestaltung  her« 
vorzugehen.  Manche  dieser  Masken  wären  als  plastische  Schmuckstücke  einer  Ar» 
chitektur  zu  verwenden. 

Daraus  könnte  eine  Beschränkung  gefolgert  werden.  Der  Einwand  gilt  bei  die« 
sem  belanglosen  ersten  Blatt  mit  Recht;  vielleicht  auch  noch,  wenn  schon  mit  we» 
sentlich  verringertem  Recht,  bei  einigen  anderen  Frühwerken.  Der  Anfänger  er» 
kennt  noch  nicht  mit  ganzer  Sicherheit  die  Grenzen  zwischen  Malerei  und  Plastik 
und  mag  in  dieser  Hinsicht  der  Schule  Davids  näher  erscheinen  als  Delacroix.  Er 
entwickelt  sich  rapide,  und  gerade  die  höhere  Erkenntnis  jener  Grenzen  scheint  ein 
wichtiges  Moment  seines  Entwicklungsganges. 

Gericault  ist  diesem  Daumier  ein  Vorgänger  ähnlicher  Art  wie  auf  anderem  Ge» 
biete  dem  Maler  der  Dantebarke.  Er  hat  die  Doppelbegabung  für  beide  Künste. 
Sie  bleibt  eine  seltene  aber  verhältnismäßig  materielle  Erscheinung:  er  hat  zwei 
Rosse  an  seinem  Streitwagen,  die  ungleichen  Wuchses  sind  und  nicht  immer  durch 
die  Deichsel  voneinander  getrennt  werden.  Seine  Plastik  ist  da  am  schönsten,  wo 
sie  in  Stein  bleibt  und  nicht  die  Malerei  berührt.  Auch  Daumier  hat  Skulpturen 
gemacht.  Sie  können  nicht  übergangen  werden,  weil  sie  nun  einmal  da  sind  und 
überdies  die  Geschichte  der  modernen  Skulptur  einleiten.  Aber  sie  haben  für  Dau» 
mier  selbst  verhältnismäßig  geringe  Bedeutung.  Er  wäre  nicht  kleiner,  wenn  sie 
fehlten,  und  wir  sehen  ihn  immer  als  einspännigen  Fahrer  vor  uns.  Dagegen  ist  der 
Ausgleich  zwischen  den  wirksamen  Kräften  der  Plastik  und  der  Malerei  eines  der 
bedeutsamsten  Momente  seiner  Kunst,  ja  geradezu  ein  Kunstmittel. 

Bekanntlich  machte  es  Daumier  wie  Poussin  mit  seinen  antiken  Gestalten.  Er 
formte  viele  seiner  Opfer  zuerst  in  Ton,  bevor  er  sie  auf  das  Papier  brachte.  Poussin 
kam  es  dabei  auf  den  Raum  an.  Den  besitzt  Daumier  nicht  minder,  aber  es  scheint 
nicht,  daß  er  deswegen  der  Bildhauerbegabung  bedurft  hätte;  diese  ist  eher  eine  Folge 


aiwiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiininuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiwiiiiiiiiiiiiiiMiniiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiliiiiiiniiii^ 

iiimiiitiiii(iiiiii(Hitiimiiiiiuiiiiii'iiiiiiitii«tii»miiiiiiiiiiNiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinmiiiiiiiiiii i iiiiiiiiti>iiiiiiiiiiiiiiiriiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiriiiiiiti)intiiiiiiiimiiiiiiiii4iiiiiiiiiiiijii  

158  CHAOS  UND  KOSMOS 


seines  einzigartigen  Raumgefühls.  Das  Räumliche  ist  der  Sitz  seiner  Visionen  und 
selbst  eine  ganz  visionäre  Erscheinung.  Es  ist  vorhanden  und  wirkt,  auch  wenn  der 
Vorgang  skizziert  ist,  wenn  ihn  kaum  ein  paar  Tuschflecke  andeuten;  und  es  er» 
weitert  ihn,  objektiviert  ihn,  wenn  er  überlaut  werden  möchte.  Die  Mäuler  in  der 
Chanson  ä  boire  oder  in  den  Advokatenbildem  würden  uns  totschreien,  wenn 
der  Raum  nicht  das  Gebrüll  verschlänge.  In  der  Don«Quichotte«Serie  bringt  das 
Räumliche  den  kosmischen  Umfang  der  Legende  hervor.  Es  gibt  dem  Wasserträger 
die  das  Freskenhafte  verdoppelnde  Wirkung  und  ist  das  Vergrößernde  in  dem 
winzigen  Gekräusel  mancher  Federzeichnung,  das  man  vor  Daumier  nur  in  Rem* 
brandt  findet. 

Auch  Delacroix  besaß  den  Raum,  aber  hatte  den  „horreur  du  vide",  und  seiner 
Sensibilität  wären  die  plastischen  Wirkungen  Daumiers  fatal  gewesen.  Er  löste  die 
energischen  Diflferenzen  zwischen  Hell  und  Dunkel,  die  dem  Maler  des  Don  Qui» 
chotte  zu  Stützpunkten  wurden,  in  Farben  und  Töne  auf.  Sein  Rhythmus  fand  hun* 
dert  andere  Stützpunkte  als  Ersatz.  Daumier  liebt  die  Leere.  Sie  entspricht  seiner 
Einfachheit  und  dem  unbewußt  Volkstümlichen  seiner  ganzen  Gesinnung,  dem  es 
auf  eindeutige  Gesichter  der  Bilder  ankommt.  Seine  Helden  stehen  zu  zweien  oder 
dreien  oder  allein  auf  der  Szene.  In  den  Theaterbildem  oder  in  der  Serie  des 
Wagon  de  troisieme  classe  ist  die  Menge  ein  einziges  Gesicht:  das  Theater,  die 
Eisenbahn.  Das  Publikum  in  den  Gerichtsszenen  ist  Hintergrundsgebirge.  Selten 
kompliziert  sich  die  Handlung.  Die  Kohlezeichnung  l'Ivresse  de  Silene,  eine 
köstliche  Überraschung  für  den  Freund  des  Meisters,  der  in  dem  Rubenshaften  eine 
Quelle  vieler  Anregungen  anderer  Bilder  erkennt,  bestätigt  die  Regel;  Die  Gestalten 
eines  bekannten  Ornaments,  das  auch  Gericault  anzog,  scheinen  lebendig,  über« 
lebendig  zu  werden,  aber  der  Rhythmus  ist  zu  wuchtig  für  die  Fläche,  und  mit  dem 
mangelnden  Raum  scheint  ein  Teil  Daumiers  zu  fehlen. 

Der  überwundene  Dualismus  seiner  Begabung  kommt  in  einem  ganz  greifbaren 
Moment  zum  Vorschein.  Der  Maler  verdankt  dem  Bildhauer  die  Technik.  Das 
Aushöhlende,  Rundgreifende  der  den  Ton  gestaltenden  Hand  wird  zu  der  Struktur 
der  Finselstriche.  Die  Zeichnung  trägt  noch  den  mächtigen  Daumendruck  des 
Bildners.  Man  fühlt  die  Hand,  deren  Spuren  Delacroix  und  Ingres  verschwinden 
sehen  wollten,  fühlt,  wie  sie  gestaltet,  als  ob  wir  hinter  dem  Rücken  des  Zeichnen» 
den  stünden.  Sie  scheint  nicht  mit  Stichel  oder  Pinsel,  sondern  mit  ihren  Fingern 
zu  runden  und  zu  spitzen.  Banville  erzählt,  Daumier  habe  neue  Materialien  gehaßt 
und  immer  mit  winzigen  abgebrauchten  Kreidestückchen  gearbeitet.  „Daher",  meint 
Klossowski,  der  Malerbiograph  des  Malers,  „das  wundervoll  Gefühlte,  Unmittel» 


I 


liiiwiitiiiiMifiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiigiiiniiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinH 


HONORfiDAUMIER 159 

bare  seines  Strichs,  das  Abbrechen,  die  saftigen  Drucker".  Das  gilt  zumal  für  die 
reife  Zeit.  „Seine  ältere  Manier  hat  daneben  etwas  Dünnes  und  zugleich  Rund« 
liches.  Jetzt  überreißt  er  den  ganzen  Stein  mit  einem  dichten  Gewühl  tastender, 
kreiselnder  Striche,  hier  ganze  Partien  offen  lassend,  dort  leicht  überflogen,  an  jener 
Stelle  tiefe  Schwärzen  gebend.  Und  aus  diesen  Löchern  und  Gewirren  lösen  dann 
ein  paar  unfehlbare  Konturen  die  entscheidende  Dominante." 

Daumiers  Skulptur  ist  Hilfsmittel.  Es  war  sicher  nicht  sein  Wille,  sie  aufzuheben. 
Sie  zeigt  einen  bedeutsamen  Teil  seines  fruchtbaren  Autodidaktentums,  alles  oder 
nahezu  alles  Neue.  Die  Hand  knetet  die  Deputierten  und  Advokaten  zu  Ver» 
brechertypen  von  unheimlicher  Vitalität.  Das  Material  wird  zu  Zwecken  gebogen, 
die  bis  dahin  nicht  existierten.  Phrenologen  könnten  aus  diesen  unregelmäßigen 
Hökern  und  Lappen  und  den  zerrissenen  Tiefen  lernen.  Der  R a  t a  p  o  i  1 ,  das  zottelige 
Sinnbild  des  dritten  Napoleons,  besteht  nur  aus  Löchern.  Das  Relief  Les  Fugi* 
tifs  scheint  von  einem  Michelangelo  skizziert,  der  nicht  mehr  der  Antike  bedurfte. 
Diese  Dinge  mögen  auf  die  wenigen  Zeitgenossen,  die  sie  zu  Gesicht  bekamen, 
gewirkt  haben,  wie  die  Broncen  von  Matisse  auf  den  friedlichen  Bürger  unserer 
Zeit.  Sie  sind  uns  nichts  Neues  mehr.  Viele  Begnadete  und  Unbegnadete  haben 
seit  Daumier  diese  Modellierung  aus  Hökern  und  Löchern,  für  die  Ausdruck  das 
Ausdrücken  des  Tons  bedeutet,  geübt,  und  sie  ist  uiis  heute  so  geläufig  geworden, 
daß  uns  fast  das  Eigene  Daumiers  in  seinen  Beispielen  entgeht.  Vielleicht  gerade, 
weil  es  einst  so  eigen  und  neu  war.  Das  Fragment  zeigt  hier  eine  Lücke,  die  Dela» 
croix  nicht  verziehen  hätte,  die  nichts  mit  dem  Fragmentarischen  der  Bilder  zu  tun 
hat:  eine  Lücke  der  Anschauung,  nicht  der  Malerei.  Diese  Plastik  hat  tausend 
Möglichkeiten,  die  den  Alten  verschlossen  waren,  aber  es  fehlt  ein  Unentbehrliches: 
das  Zielen  auf  das  Rund,  das  Plastische.  Der  Weg  in  das  Malerische,  der  hier  ein* 
geschlagen  wurde,  mußte  schließlich  die  Skulptur  vor  die  Alternative  stellen,  ent< 
weder  die  ganze  Entwicklung  in  diesem  Fahrwasser  zu  leugnen  oder  zu  ver< 
schwinden.  Dieser  Daumier  ist  das  Vorspiel  eines  Niedergangs. 

Daumiers  Plastik  ist  Hilfsmittel.  Man  darf  ihn  nicht  für  den  Ordnungssinn 
unserer  Zeit  büßen  lassen,  der  auch  das  Entbehrliche  aufhebt.  Wer  weiß,  welche 
Schlüsse  auf  das  Unklassische  Poussins  gezogen  werden  könnten,  wenn  es  dem 
Liebhaber  seiner  Zeit  eingefallen  wäre,  die  Puppen  zu  sammeln,  mit  denen  er 
seine  Raumsysteme  konstruierte.  Die  Plastiken  Daumiers  sind  etwas  Ahnliches 
wie  die  Paletten  Delacroix',  die  dem  Delacroixforscher  manche  Aufschlüsse  geben. 
Sie  sind  das  rohe  Pigment,  das  im  Bilde  zum  Farbigen  erhöht  wird.  Das  erkennt 
man  schon  bei  dem  Vergleich  der  frühen  Terrakottabüsten  mit  den  gleichzeitigen 


nimiffliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii'iiiiiiiiinwiiiiiiiiiiiiiiiiiiM^^ 

160  ""  "  CHAOS  UND  KOSMOS  _ 

lithographischen  Bildnissen,  von  denen  Berteis  in  seinem  Daumierbuch  einige  ein* 
ander  gegenübergestellt  hat')-  Wie  unendlich  größer  ist  der  Begriff  des  Plastischen, 
der  aus  den  reichen  Flächen  des  gezeichneten  Lameth  hervorgeht,  neben  dem  Pia* 
stischen  des  modellierten  Lameth.  Die  Erhöhung  des  Begriffs  bringt  eine  Ver* 
tiefung  des  Objekts  hervor.  Aus  dem  undifferenzierten  Verbrechertypus  der  Terra* 
kotta  wird  ein  Mensch,  den  alle  Karikatur  nicht  um  das  persönliche  Dasein  bringt. 
Die  Terrakotta  ist  viel  eher  eine  Totenmaske  der  Karikatur. 

Später  erhebt  sich  das  Plastische  des  Malers  in  solche  Höhen,  daß  der  Vergleich 
mit  der  Skulptur  banal  wäre.  Das  unzerstörbar  Monumentale  des  Reliefs  Les 
Fugitifs  ist  ein  winziger  Teil  der  Wucht  in  den  Bildern  ähnlichen  Inhalts.  Solche 
Bilder  mögen  den  Delacroix  des  Attila  begeistert  haben. 

Ich  habe  an  anderer  Stelle  Delacroix'  Farbenlehre  als  eine  geistige  Hygiene  zu  er* 
weisen  versucht.  Etwas  Ahnliches  ist  für  Daumier  das  Plastische  gewesen.  Seine 
Einfalt  bedurfte  keiner  Palette,  und  obwohl  es  einigen  Bildern  wie  dem  Scapin  und 
der  Emeute  nicht  an  lebhaften  Pigmenten  fehlt,  kann  man  sich  Daumier  mit  nahe* 
zu  indifferenter  Palette  denken.  Jene  scheinbar  in  den  Fingern  liegenden  Fähig* 
keiten  des  Malers  hätten  eine  Gefahr  werden  können.  Ich  sehe  sie  nicht  in  der 
»sacree  facilite  de  la  brosse«,  vor  der  Delacroix  im  Journal  gewarnt  hat.  Dafür 
war  das  Gefühl  zu  stark;  die  Drucker  und  Schwärzen,  von  denen  Klossowski  spricht, 
konnten  bei  einem  Daumier  immer  nur  Akzente  des  Lebens  sein.  Eher  bedrohte 
den  Einsamen,  der  die  meisten  Skizzen  nur  für  sich  selbst  machte,  eine  übertriebene 
Differenzierung  der  Handschrift,  die  Genügsamkeit  mit  allzu  losen  Formen.  Davor 
hat  ihn  die  Plastik,  geschützt.  Wenn  uns  der  Hauch  auf  manchen  angetuschten 
Blättern  noch  unzählige  Freuden  erschließt,  danken  wir  es  dieser  Hygiene. 

Und  aus  ähnlichen  Gründen  darf  man  auch  die  Kraftverschwendung  für  die 
Caricature  und  den  Charivari  nicht  allzu  tragisch  nehmen.  Es  bleibt  dahin* 
gestellt,  ob  Daumier  unter  anderen  Verhältnissen  viel  mehr  fertige  Malereien  von 
der  Art  der  Seinequaibilder  geschaffen  hätte,  so  schön  es  wäre.  Vielleicht  hätte  er 
die  Laveuse  noch  öfter  gemalt,  weil  ihn  noch  andere  Variationen  des  Blonds  auf 
dem  Holz  der  Tafel  gelockt  hätten.  Vielleicht  wäre  er  noch  sparsamer  gewesen. 
Er  empfand  nicht  jene  Verantwortung,  die  Delacroix  zu  der  größtmöglichen  Aus* 
gestaltung  der  Art  trieb,  hatte  nicht  den  ins  Weite  treibenden  Optimismus  und  wäre 
nie  auf  den  Gedanken  gekommen,  er  könne  mit  seiner  Malerei  noch  andere  außer 
sich  selbst  beglücken.  Darum  mag  auch  die  Zwangsarbeit  in  den  Witzblättern 
ihren  hygienischen  Wert  gehabt  haben. 

*)  Beitels,  Honorfi  Daumier  als  Lithograph.    (R.  Piper  &.  Co.,  München.) 


iMii  iNiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiniiiiiiiiiiiiiii  ii  ii  1 1  iiiinniiwiiiiii 


HONORfiDAUMIER 161 

Und  es  ist  bei  Daumier  wie  bei  allen  großen  Leuten:  wir  legen  alles,  was  wir 
von  ihrem  Dasein  wissen,  zugunsten  ihrer  Schöpfung  aus,  weil  sie  uns  als  das  Ziel 
ihrer  Leiden  und  Freuden  erscheint. 


Man  muß  Delacroix  und  Daumier  zusammen  aussprechen  lernen.  Beide  besitzen 
höchste  Dinge  der  Menschheit,  vergangene  und  zukünftige,  ewige.  Es  ist  un» 
wesentlich,  zu  entscheiden,  wer  von  ihnen  tiefer  in  die  Vergangenheit  gegrififen  hat 
und  weiter  in  die  Zukunft  deutet,  und  es  ist  unmöglich,  denn  dafür  gehören  sie  zu 
eng  zusammen.  Daumier  besitzt  die  Dinge  so  instinktmäßig,  so  unlösbar  mit  seinem 
ganzen  Sein  verbunden,  daß  er  unserer  Schlichtheit  wohl  immer  wie  das  größere 
Phänomen  erscheinen  wird.  Wir  neigen  immer  gern  zu  den  großen  Protestanten  und 
Revolutionären,  und  dieser  Revolutionär  scheint  aus  seinem  Protestantismus  allein  ein 
Rembrandthaftes,  ein  Antikes,  eine  freskenhafte  Größe  zu  schafFen.  Eins  fehlt, 
der  leuchtende  Ring  um  den  Menschen  und  um  den  Künstler,  das  ganz  klare  all» 
umfassende  Bewußtsein.  Das  Phänomenale,  das  ihn  auszeichnet,  beschränkt  ihn, 
denn  es  entsteht  aus  dem  Fragment.  Daumier  ist  Fragment  in  dem  äußeren  Sinne, 
weil  er  nicht  hindern  kann,  daß  neben  dem  göttlichen  Detail  im  schönsten  Blond 
des  alten  Meisters  das  nicht  weniger  ergreifende  Gerippe  eines  empörten  Prole» 
tariers  in  die  Luft  starrt;  Fragment  in  einem  mehr  inneren  Sinne,  weil  sich  das 
Menschliche  nur  in  einem  zuckenden  Segment  beteiligt.  Er  gewinnt  alles  aus  dem 
Chaos,  selbst  Wirkungen,  die  wir  kosmisch  nennen  müssen,  nur  nicht  die  ge» 
schlossene  Allseitigkeit,  das  Königliche  des  universellen  Delacroix.  Ein  großer  Teil 
seines  Wesens,  nicht  alles,  liegt  in  dem  anderen  drin.  Das  Verhältnis  zwischen 
den  Teilen  scheint  dem  Verhältnis  der  Malerei  Delacroix'  zu  dem  Menschentum 
Delacroix'  zu  entsprechen. 

Man  kann  die  große  europäische  Kunst  des  neunzehnten  Jahrhunderts  wie  einen 
reich  organisierten  Körper  betrachten,  der  für  alle  möglichen  Funktionen,  für  die 
Bewegung  nach  allen  Richtungen  des  Schönen  Organe'  besitzt.  Das  Kostbarste  ist 
ein  Doppelorgan:  Delacroix  und  Daumier.  Es  ist  der  treibende  Geist  und  das, 
was  den  Blutumlauf  treibt,  und  liegt  im  Innersten  des  Körpers. 

Auch  an  dem  Äußeren  des  Körpers  der  modernen  Kunst  (wenn  es  erlaubt  ist, 
sich  eine  Kunst  als  Körper  zu  denken  und  Äußeres  und  Inneres  zu  unterscheiden) 
haben  die  beiden,  zumal  Delacroix  mit  seiner  Farbe,  einen  weittragenden  Anteil. 
Doch  tritt  ein  Element  hinzu,  dessen  Wesen  uns  materieller  als  ihre  Art  und  des» 
halb  mehr  von  unserer  Art,  daher  neuer  erscheint.  Überdies  kam  es  auf  Wegen  zu» 
Stande,  die  ihnen  fern  lagen. 

II 


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DIE    LANDSCHAFT 


VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


KOMPONISTEN  UND  MUSIKER 

Es  gibt  Komponisten  und  Musiker.  Komponisten  sind  die  Leute  mit  dem  Rhyth» 
mus.  Sie  haben  die  weltbildende  Regung,  die  der  gewöhnliche  Mensch  in  be« 
scheidenen  Ansätzen  nur  als  Kind  besitzt,  und  die  ihm  bald  ausgetrieben  wird,  als 
Zentrum  ihres  ganzen  Seins  und  Werdens  und  werden,  ob  sie  sich  als  Maler,  Poli« 
tiker.  Gelehrte  oder  Philosophen  bekennen,  immer  mehr  sein  als  das.  Ihre  Korn« 
Position  steht  über  dem  Beruf.  Sie  sind  immer  Dichter,  ob  sie  mit  Mineralien  oder 
Gedärmen  oder  Menschheitsgedanken  zu  tun  haben.  Sie  haben  die  Welt  in  sich, 
und  ihre  Aufgabe  ist,  sie  zu  veräußern,  daß  sie  ihnen  selbst  und  anderen,  ihrer 
Zeit  und  allen  Zeiten  sichtbar,  begreiflich  und  nützlich  wird.  Dafür  schaffen  sie 
sich  die  Mittel,  ihre  Technik,  ihren  Beruf;  aus  Glänzendem,  wenn  sie  Delacroix 
heißen;  aus  Düsterem,  wenn  sie  Daumier  sind.  Der  Zweck,  der  sie  handeln  läßt, 
erscheint  so  primär  und  unteilbar  neben  dem  Mittel,  das  Erfinderische  überstrahlt 
in  solchem  Maße  das  Gegebene,  daß  ein  Enthusiast  sagen  durfte,  Raffael  sei  ein 
großer  Künstler  geworden,  auch  wenn  er  ohne  Arme  auf  die  Welt  gekommen  wäre. 
Zum  mindesten  ist  der  Künstler  von  allen  Gattungsunterschieden  seiner  Kunst 
unabhängig.  Er  wird  immer  gleichzeitig  Historien,  Landschaften,  Bildnisse,  Still« 
leben  und  alles  andere  malen  oder  malen  können.  Und  zwischen  den  Bildern  wird 
kein  anderer  Unterschied  sein  als  der  zwischen  Gebeten,  die  sich  um  verschiedene 
Gaben  aus  der  gleichen  Brust  an  dieselbe  Gottheit  wenden. 

Die  Musiker  sind  die  Leute  mit  dem  Organ.  Sie  haben  das  Besondere  in  der 
Kehle,  in  den  Fingern,  im  Auge;  die  Möglichkeit,  ein  außer  ihnen  Gegebenes  auf 
besondere  Art  zu  greifen.  Sie  sind  schon  in  der  Wiege  Klavierspieler,  Techniker, 
Mediziner.  Ihre  Aufgabe  ist  es,  die  Welt,  die  sie  nicht  haben,  zu  gewinnen,  das 
Äußere  zu  verinnerlichen.  Sie  können  nur  auf  diesem  Umwege  Komponisten  werden. 

Menschen  lassen  sich  nicht  wie  Materialien  unterscheiden,  am  wenigsten  die  Leute 
von  höheren  Berufen.  Es  ist  wohl  jeder  Komponist  in  einem  kleinen  Teile  seines 
Wesens  geborener  Musiker.  Er  hätte  alles  werden  können,  aber  auf  das  eine,  das 


168  DIELANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 

lHiHiiiinHinüiniHiiitiiii»iii»iiiiniuiinniMinHHiiii"i»nii"iiiiii'i>i"i>iii"i"ii"ii""iiii'itii'i'iiii"i"'"iii'ii'ii't'""'ii"""iM"i»"^^^  iriiiiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiumiiiiiimiittmuniiiiiiuiimi iiiiiuiiiiriiMiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiinii 

er  wurde,  wies  ihn  ein  Wink  der  Natur.  Und  es  ist  wohl  jeder  Musiker  ein  wenig 
Komponist,  hat  in  dem  besonderen,  das  ihm  obliegt,  ein  Gefühl  für  größeren 
Rhythmus.  Die  reinen  Komponisten  unserer  Zeit  lassen  sich  an  den  Fingern  zählen. 
Die  Zahl  der  Musiker  ist  unbeschränkt.  Die  Geschichte  sollte  sich  vor  allem  an 
die  erste  Kategorie  halten.  Denn  die  kleinste  Gebärde  dieser  Großen  ist  bedeut« 
samer  für  die  Menschheit  als  das  größte  Werk  der  anderen,  die  in  der  Regel  da 
enden,  wo  jene  beginnen.  Da  die  Art  der  Komponisten  ein  Zusammenfassen  der 
Werte  bedeutet,  ruhen  wir  vor  ihren  Werken  an  den  Quellen  des  Schönen,  ge« 
nießen  am  stärksten  und  lernen  das  Bleibende  unserer  Welt  und  der  Vergangenheit 
kennen.  Nur  sie  vermögen  dem  Chaos  zu  steuern.  Nur  sie  weisen  uns  Richtwege 
in  unserem  Chaos.  Vielleicht  würden  wir  in  einer  Welt,  in  der  sie  allein  wären, 
nicht  existieren  können.  Dagegen  ist  gesorgt.  Aber  sich  die  Welt,  die  sie  zu  ver* 
decken  droht,  möglichst  wegzudenken,  erst  sie  zu  erringen,  dann  das  andere,  ist  hoch* 
stes  Ziel  der  Gesittung. 

DerNutzen  der  anderen,  ein  emsiges,  mehr  oder  weniger  intelligentes  Aufarbeiten, 
kann  immer  nur  Teile  fördern  und  muß  parteiisch  sein.  Ihr  Werk  ist  die  Formu« 
tierung,  die  Bildung  von  Tendenzen  und  Gruppen,  das  immer  einseitige  Wirken 
der  Masse.  Sie  können  es  dahin  treiben,  daß  man  vor  lauter  Wald  keinen  Baum 
mehr  sieht.  In  solchen  Zeiten,  wo  die  Mittel  wachsen  und  die  Zwecke  schwinden, 
will  jeder  Laie  Musikant  und  jeder  Musiker  Komponist  sein.  Da  faßt  ein  Gassen» 
hauer  oder  ein  Tanz  das,  was  sich  komponieren  läßt,  zusammen.  Das  neunzehnte 
Jahrhundert  hat  alle  Grade  der  Komposition  durchlaufen;  vom  Meister  größten 
Umfangs  an  zum  kleinen  und  kleinsten;  vom  Musiker,  der  guten  Glaubens  sich 
Schöpfer  dünkte  und  als  Schöpfer  genommen  wurde,  während  gar  mancher  Dauiiiier 
ungekannt  verschied,  bis  zu  der  immer  größeren  Masse  der,  allen  Glaubens  baren, 
Fabrikanten  aktueller  Billigkeit. 

Es  gibt  kein  bequemes  Reagenspapier,  um  die  beiden  Arten  zu  unterscheiden. 
Den  großen  Schöpfer  wird  man  schon  deshalb  erst  nach  seinem  Tode  vollkommen 
erkennen,  weil  er  dann  erst  mit  der  Arbeit  halbwegs  fertig  ist.  Solange  er  lebt,  be» 
ladet  er  sein  Schiff.  Und  selbst,  wenn  er  an  vielen  Seiten  gleichzeitig  arbeitet,  wird 
er  bis  zu  der  Vollendung  nicht  für  eine  gleichmäßige  Belastung  sorgen  können. 
Da  kann  es  Zeiten  geben,  wo  das  eine  Bord  sich  senkt,  das  andere  steigt,  und  im 
Anfang  mag  es  zuweilen  scheinen,  als  triebe  der  Kiel  zu  oberst.  Solche  Variationen 
erträgt  die  Menschheit  nicht,  ohne  unruhig  zu  werden.  Die  unkomplizierte  Or'u 
ginalität  des  Musikanten  folgt  besser  ihrem  Fulsschlag.  Da  aber  auch  sie  Niveau« 
diflFerenzen  aller  möglichen  Art  hervorzubringen  vermag,  läßt  sich  nicht  einmal 


iiiniiiiiniiiiiiiiiMniiiiiiiiiiiinininiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 


KOMPONISTEN  UND  MUSIKER  169 


an  diesen  mechanischen  Beobachtungen  der  Unterschied  zwischen  den  Gattungen 
erkennen.  Das  Schiff  kann  schwanken,  auch  wenn  es  gar  keine  Lasten  trägt,  ja,  es 
schwankt  dann  bekanntlich  am  stärksten.  Und  geschickte  Fahrer,  die  wissen,  daß 
eine  gewisse  Bewegung  dem  Publikum  am  Ufer  gefällt,  verstehen  es  einzurichten, 
in  die  Nähe  der  großen  Ozeandampfer  zu  gelangen,  und  schaukeln  eine  Weile  in 
deren  Kielwasser.  Manchmal  kippen  sie  sogar  uto,  und  es  kommt  zu  tragischen 
Katastrophen. 

Die  englische  Kunst  hat  immer  gute  Musiker  besessen  und  blutwenig  Kern« 
pohisten.  Wenn  das  Kaliber  der  großen  Meister  des  Kontinents  als  vorbildliches 
Maß  gilt,  haben  sie  keinen  einzigen  hervorgebracht.  Selbst  Hogarth  und  Constable, 
die  Größten  Englands,  sind  diesem  Maß  nicht  gewachsen.  Der  weltenbildende 
Rhythmus,  der  einem  Shakespeare  die  Zunge  löste,  ist  auf  die  Dichtung  beschränkt 
geblieben. 

Dabei  fehlt  es  England  nicht  an  Rhythmen  von  allerlei  Art.  Selbst  das  Geschäfts* 
leben  ist,  könnte  man  sagen,  rhythmisch  geordnet  und  hat  Stil.  Wo  sich  aber  in 
der  englischen  Plastik  oder  Malerei  unserer  oder  vergangener  Tage  eine  Bewegung 
zu  erkennen  gibt,  die  zu  einem  Stil  führen  könnte,  wird  man  in  der  Regel  ganz 
nahebei  das  fremde  Schiff  finden,  von  dem  sie  ausgeht.  England  ist  auf  Import 
gestellt.  Auch  seine  Künstler  huldigen  im  weitesten  Umfang  den  Ideen  der  Man« 
chesterleute.  Sie  sind  in  vieler  Hinsicht  dem  Kontinent  vorangeeilt,  der  sich  erst 
in  unseren  Tagen  zu  einer  ähnlichen  Freihandelpolitik  entschließt. 

Die  Kunst  in  England  war  von  Anfang,  das  heißt  von  van  Dyck  an,  das,  was  sie 
in  allen  Ländern  über  kurz  oder  lang  zu  werden  bestimmt  ist:  das  Villenviertel  vor 
den  Toren  der  Industrie.  Es  gab  in  dem  Leben  des  nüchternen  Volkes  nichts 
Geistiges,  das  nach  plastischem  Ausdruck  verlangte,  aber  reiche  Leute.  Der  Mate» 
rialismus  war  hier  bereits  Staatsdoktrin,  als  man  in  anderen  Ländern  noch  Reli< 
gionskriege  führte.  Nicht  nur  das  Mittel  der  Kunst,  auch  das  Bedürfnis  nach  Kunst 
war  Import.  Man  versuchte  zu  pfropfen,  bevor  man  einen  Stamm  hatte.  Wenn  die 
deutsche  Kunst  zu  wenig  okulierte,  geriet  die  ehglische  in  das  entgegengesetzte 
Extrem.  Unsere  Kunst  wurde  in  der  Mitte  ihres  Lebens  gewaltsam  unterbrochen, 
aber  sie  hatte  eine  glückliche  Kinderstube.  Die  englische  ist  nie  jung  gewesen. 
Es  ging  ihr  wie  den  Söhnen  reicher  Eltern,  die  man  in  Pension  gibt,  um  nicht  im 
Hause  behelligt  zu  werden,  und  deren  Keime  unter  der  lediglich  materiellen  Für« 
sorge  verkümmern.  Sie  wurde  blasiert,  bevor  sie  gelebt  hatte.  Da  man  sich  alles 
Schöne  kaufen  konnte,  verlor  auch  das  Erhabene  den  Preis.  Man  naschte  an  allen 
großen  Dingen  herum,  die  man  früher  als  andere  entlegenere  Länder  in  die  Hände 


Kii!i:iiiiiiiiiiiiHi>iiiiiiiiiiiiiiiiii!iiiiiiiiiiiiiiiii!niiiliiiniiiiiiiiiiinHiiiiniin!iiii»Hiiiiiiiii>iin»i«n^  iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin iniii>iiiiiiiiii«iiiiiiiiiiiiiiiiiiiii;iiitiiiiMniiii 

170  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


bekam,  und  es  entstand  jene  verfeinernde  Verkleinerung  und  verbilligende  Ver« 
allgemeinerung  des  Schönen,  die  jede  Plutokratie  begleitet.  Das  Volkstümliche 
und  Eigene  konnte  nur  aus  einem  "Widerspruch  gegen  die  Plutokratie  entstehen, 
an  dem  die  negative  Tendenz  wichtiger  ist  als  das  Objekt,  gegen  das  er  sich  richtet. 
Dem  verdankt  England  seine  Satiriker  in  Wort  und  Bild.  Hogarth  wuchs  aus  der 
Atmosphäre  der  Witzbolde  zu  feinem  seltenen  Gipfel  empor.  Er  gewann  aus  der 
negativen  Diktion  positive  Werte  nicht  unbeschränkten  Umfangs  aber  ganz  eigener 
Art:  ein  Daumier  ohne  Delacroix.  In  der  langen  Reihe  ist  er  der  einzige,  der  nicht 
simuliert,  sondern  spielt.  Der  Rhythmus  in  seinen  bürgerlichen  Komödien,  in  deren 
krausen  Winkeln  ein  letzter  Hauch  von  Shakespeare  nistet,  kommt  aus  seiner  Brust. 
Der  Ingrimm  auf  die  Unnatur  bringt  eine  reiche  Natur  zum  Vorschein.  Beides 
haben  ihm  die  reichen  Leute  noch  heute  nicht  ganz  verziehen. 

Es  bleibt  noch  eine  andere  Quelle  oder  Hilfsquelle  des  Natürlichen.  Das  Villen» 
viertel  liegt  im  Freien.  Eine  Liebhaberei  nicht  merkantiler  Art  geht  dem  Business» 
man  über  Konvenienz  und  Phrase:  Der  primitive  aber  gesunde  Hang  zur  freien 
Natur.  Dem  verdankt  England  die  Erfindung  des  Sports,  den  Ersatz  für  geistige 
Freuden  und  die  rationelle  Hygiene  für  den  Bewohner  des  Drehstuhles.  Den  Malern 
öffnete  dieser  eingeborene  Hang  die  Augen  für  ein  winziges  aber  ergiebiges  Frag« 
ment  des  Kosmos:  die  Landschaft. 

Diese  vom  Genius  selten  gestreifte  Kunst  wurde  im  ersten  Drittel  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  von  Europas  besten  Künstlern  mit  dem  Respekt  betrachtet,  mit  dem 
man  später  bei  uns  nach  Paris  blickte.  Die  laute  modische  Vorliebe  für  England, 
die  noch  aus  dem  Dix»huitieme  stammte  und  weder  in  der  Revolution,  noch  in  dem 
Empire  versiegte,  hatte  mit  dieser  Bewegung  nur  wenig  zu  tun.  Seit  Gericault  war 
die  englische  Kunst  die  Hoffnung  aller  Selbständigen.  Der  Erfolg  der  englischen 
Bilder  im  Salon  von  1824  beruhte  auf  dem  Beifall  einer  sehr  kleinen  aber  wesentlichen 
Minorität,  und  der  Hay  Wain  be.stimmte  bekanntlich  Delacroix,  sein  Massacre 
zu  übermalen.  1825  war  Delacroix  in  London  und,  trotzdem  ihm  Land  und  Leute 
wenig  zusagten,  hingerissen  von*der  Kunst.  1826  hat  er  einige  Zeit  seinen  Freund 
Bonington  im  Atelier  und  glaubt  von  der  Geschicklichkeit  des  flinken  Koloristen 
mit  der  „touche  coquette"  lernen  zu  können.  Der  Aufsatz  über  Lawrence  im  Jahre 
1829  ist  der  Ausdruck  einer  von  dem  ganzen  Kreise  Delacroix' geteilten  Überschät» 
zung.  Es  dauerte  Jahre,  bis  Delacroix  den  Irrtum  erkannte.  Dann  freilich  hat  er  mit 
bewunderungswertem  Scharfsinn  und  noch  größerer  Milde  Abrechnung  gehalten 
und  das  für  alle  Zeiten  gültige  Urteil  geprägt,  das  Constable  allein  den  Lorbeer 
des  Eroberers  erteilt. 


iiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiHiiiiiiiiiiiitiiiitiiiiiitiiiiiriii^^ 


H    IltlH 


KOMPONISTEN  UND  MUSIKER  171 

Derselbe  Enthusiasmus  trieb  die  zweite  große  Gruppe  der  Jungen  Frankreichs. 
die  Schule  von  Barbizon,  ihr  Programm  aus  England  zu  beziehen.  Dadurch  wurde 
den  Nachfolgern  Gainsboroughs  ein  noch  entscheidenderer  Anteil  an  derGeschichte 
des  Kontinents  bis  zu  Manet  und  Monet  gesichert.  Derselbe  Enthusiasmus  füllte 
einen  der  wenigen  und  dünnen  Kanäle,  mit  dem  das  junge  Deutschland  mit  der 
Kunst  Europas  verbunden  blieb,  und  mancher  verkappte  Nazarener  des  Nordens, 
den  kein  Rom  verlockte,  sehnte  sich  im  geheimen  nach  der  Heimat  Constables.  Ein 
letzter  Reflex  erwärmte  die  Jugend  Menzels. 

Was  die  Ausländer,  auch  wenn  sie  nicht  mit  gewitzten  Maleraugen  hinsahen,  an 
der  englischen  Malerei  entzückte,  war  das  Friedliche  und  Stetige  dieser  innerhalb 
ihrer  engen  Grenzen  hochentwickelten  Kunst.  Der  respektable  Durchschnitt  der 
Musikanten  bestach.  Es  ging  allen  Reisenden  wie  Gericault.  Mit  dem  Schritt  auf 
die  stille  Insel  war  man  allen  Stürmen  des  Chaos  entrückt.  Es  hatte  hier  weder  die 
alles  zerschmetternde  Revolution  gegeben,  noch  einen  Napoleon.  Es  gab  infolge« 
dessen  keine  einschneidenden  sozialen  Fragen,  die  den  Instinkt  des  Künstlers  be* 
einträchtigten,  noch  jene  weitere  Folge,  den  zugespitzten  Gegensatz  zwischen  Kunst« 
doktrinen,  der  die  Kräfte  des  einzelnen  verbraucht.  Der  Mangel  an  überragenden 
Individualitäten  schien  ein  Vorzug.  Das  allgemeine  Kulturniveau  war  so  hoch, 
daß  es  keiner  Spitzen  bedurfte.  Die  großen  Umstürzer  und  die  großen  Ordner 
fanden  hier  keine  Aufgabe.  Die  Windmühle  war  das  Symbol.  Das  Malen  ging 
wie  das  Wachsen  des  Getreides  auf  dem  wohlbestellten  Boden.  Der  Himmel  trieb 
sanft  und  sacht  das  klug  erdachte  Räderwerk,  und  die  vor  aller  übertriebener  Lei* 
denschaft  gefeite  Empfindung  verwandelte  sich  von  selbst  in  angenehme  Bilder.     * 

Nicht  die  Siddons  noch  die  Nelly  O'Brien  hätten  die  Wirkung  vollbracht.  Sie 
trugen  dazu  bei,  aber  wanderten  mit  all  ihrer  Fracht  in  die  Kulisse.  Auf  der  Szene 
blieb  ein  viel  verlockenderer  Begriff:  das  Schlichte,  doppelt  wirkungsvoll  mit  dieser 
Kulisse,  die  es  als  höchstes  Produkt  des  Reichtums  hinstellte.  Menschen,  die  allen 
Luxus  kannten,  begnügten  sich  mit  einer  ganz  einfachen  Landschaft.  Die  Schlicht« 
heit  wirkte  wiederum  auf  die  Kulisse  zurück  und  legitimierte  die  Puppen. 

Es  war,  als  hätten  die  Fremdlinge  zum  erstenmal  eine  Landschaft  gesehen,  eine 
Landschaft  ohne  Genien  und  umgestürzte  Säulen,  als  hätten  die  Holländer  nie  e^i» 
stiert.  Es  lag  vielleicht  daran,  weil  man  diese  neue  Landschaft  entstehen  sah,  während 
die  alte  mit  vielen  anderen  Dingen  zusammenhing.  Man  sah  die  ersten  Anfänge 
aus  Wilson  auf  eine  den  Franzosen  vertraute  Art  hervorgehen.  Wilson  gab  sie 
Gainsborough  weiter, dem Gainsborough  des  Great  Cornard  Wood  unddesCot« 
tagedoor.  Dann  wurde  sie  von  vielen  sympathischen  Leuten  übernommen,  bis  Con» 


172 


DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


stable  kam,  der  geniale  Müllersohn,  der  auf  der  Landschaft  wie  auf  einem  reichen 
Saiteninstrument  spielte  und  dabei  immer  der  gelassene  und  bescheidene  Angehörige 
einer  „regularly  taught  profession"  blieb.  Dieses  einfache  Rationelle  und  sach» 
lieh  Professionelle  wirkte  auf  Franzosen,  denen  die  großen  Phrasen  der  Klassizisten 
noch  in  den  Ohren  klangen,  wie  ein  reinigendes  Bad.  Damit  der  Harmonie  nicht 
das  Unvorhergesehene  fehlte,  war  Turner  da. 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiDiiiiiiiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiii 


TURNER 

Turner  ist  das  Phänomen  der  englischen  Kunst.  Er  scheint  dem  nicht  mit  Eng« 
land  Vertrauten  gar  nicht  in  den  Kreis  zu  passen.  Er  hat  Temperament.  Neben 
seiner  lebhaften  Vielseitigkeit  erhält  Old  Crome  einen  spießbürgerlichen  Anstrich. 
Neben  seinem  Lichtzauber  ertrinkt  Morland  in  sentimentaler  Dämmerung.  Stobbs, 
sein  Vorgänger,  wird  langweilig,  Wilkie  verdächtig.  Neben  seiner  Virtuosität  er» 
scheint  Bonington  zaghaft  und  Constable  derb.  Selbst  die  alten  illustren  Herren 
verlieren.  Turner  ist  neu.  Der  letzte  Saal  in  der  NationaUGallery  wirkt  wie  eine 
hochdramatische  Episode  nach  einer  biederen  Familiengeschichte.  In  den  anderen 
Sälen  meistens  ein  stilles  Braun  und  Grau.  In  dem  Turner»SaaI  Feuerzauber,  als 
käme  ein  Richard  Wagner  in  einen  Gesangverein;  ein  Farbentaumel,  eine  ganz  un» 
gewohnte  Sinnlichkeit,  nicht  englisch,  nicht  französisch,  sondern  exotisch,  ohne 
daß  man  einen  Orient  als  Heimat  dieser  Farben  nennen  könnte;  ein  verwirrendes 
Chaos.  Wohl  wird  auf  bekannte  Dinge  angespielt.  Man  blickt  durch  Wolken,  die 
ein  Blitz  erhellt,  auf  Fragmente  der  Mythologie,  glaubt  in  erregten  Meeren  die  alten 
holländischen  Marinemaler,  seltsam  verkleidet,  wiederzufinden,  stößt  auf  Spuren 
der  letzten  Venezianer;  alles  merkwürdig  verdünnt,  verschlungen,  verworren.  Am 
Himmel  Arkadiens  wird  ein  großstädtisches  Teuerwerk  abgebrannt.  Wir  wissen 
nicht,  ob  in  dem  Taumel  der  Lüfte  Hannibal  oder  das  Wrack  eines  Dampfers  er* 
scheint.  Die  Atmosphäre  Londons  umhüllt  die  Gefilde  der  Hesperiden,  und  neben 
dem  Tal,  wo  Nymphen  tanzen,  jagt  ein  Eisenbahnzug,  oder  eine  feurige  Schlange, 
ein  neuer  Drache  Ladon  mit  den  Augen  einer  richtigen  Lokomotive.  Die  Zeit 
Turners  bietet  nur  ein  zweites  Beispiel  gleicher  Merkwürdigkeit:  Goya.  Es  sind 
Verwandte  entfernten  Grades  oder  Schicksalsgefährten,  aber  Goya  ist  leichter  ethno* 
graphisch  zu  bestimmen.  Es  ist,  als  wehre  sich  der  Engländer  gegen  die  natürlichen 
Zeichen  der  Art,  als  spiele  er  Versteck  mit  der  Natur,  um  die  seine  zu  verbergen. 
Doch  sitzt  sie  ihm  auf  der  Haut.    Alles,  was  er  besitzt,  ist  Oberfläche.   Wenn  er 


MiniiniiiiHiinniRiniiniiiininiiiiiinnniiiiiwiMnnniiiiH^^^ 


174  DIELANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


sich  so  schwer  greifen  läßt,  kommt  es  von  dem  Unplastischen  eines  Körpers  her, 
der  nur  aus  einer  mit  Luft  gefüllten  Haut  besteht. 

Der  Anfang  war  bescheiden  wie  das  Debüt  Gainsboroughs.  Auch  Turner  be= 
gann  mit  Wilson  und  ist  in  den  meisten  Bildern  um  das  Ende  des  Jahrhunderts 
ein  flaues  Spiegelbild  des  Vorgängers.  Man  erstaunt,  wieviel  Leben  Wilson  besaß, 
und  ist  geneigt,  aus  seinem  Rokoko  neue  Reize  zu  gewinnen.  Gainsborough  ver» 
suchte,  das  Rokoko  durch  Rembrandt  zu  ersetzen  und  zu  vertiefen,  und  es  gelang 
ihm  hier  und  da.  Turner  nahm  die  Sache  leichter.  Er  verbreiterte  das  Vorbild, 
nahm  statt  der  kleinen  Landschaften,  die  Wilsons  Wert  enthalten,  die  dünnen 
großen  Kompositionen  und  füllte  die  schwachen  Wände  mit  allen  möglichen  inter« 
essanten  Begebenheiten.  In  ein  paar  Jahren  entsteht  die  stattliche  Vielseitigkeit 
Turners.  Er  war  kaum  dreißig  Jahre  alt,  als  er  bereits  alle  nur  denkbaren  Gattungen 
der  Malerei  probiert  hatte.  Nach  ein  paar  weiteren  Jahren  hatte  er  einen  großen 
Teil  der  Kunstgeschichte,  den  Teil,  der  ihm  gelegen  war:  Cuyp  und  die  hoUän^ 
dischen  Marinemaler,  die  Canaletti,  ein  Stückchen  Rubens,  vor  allem  Claude  Lor« 
rain  auf  seine  Art  absorbiert.  Es  ist  eine  andere  Art  als  Delacroix'  Durchdringung 
der  Alten.  Turner  war  der  beste  Schüler  der  Reynoldschen  Academy,  jener  Handels« 
akademie  der  Kunst  und  Hochschule  des  Plagiats,  wo  man  den  Firniß  auf  alten 
Bildern  mit  der  gleichen  Liebe  studierte  wie  auf  anderen  Akademien  die  Anatomie, 
und  in  dieser  Dermatologie  solche  Fortschritte  machte,  daß  viele  Jahrzehnte  lang 
die  Produkte  dieser  Schule  in  englischen  Sammlungen  für  Werke  Rembrandts  ge» 
halten  wurden.  Was  für  Reynolds  Rembrandt  war,  wurde  für  Turner  Claude.  Das 
Experiment  lag  insofern  günstiger,  als  es  mit  einem  weniger  komplizierten  Vorbilde 
vorgenommen  wurde,  dessen  Vergröberung  eher  als  Bereicherung  erscheinen  konnte. 
Die  Leere  auf  den  Bildern  Claudes,  seine  ruhigen  Schatten,  seine  weiten  Perspek» 
tiven  luden  zu  einer  Dekorierung  ein.  Die  diskreten  Farben  ließen  sich  durch 
üppigere  ersetzen.  Vor  allem  war  die  Handlung  zu  bereichern.  Man  spürt  in  die« 
ser  Spekulation  die  Art  der  Kaufleute,  auf  deren  Produkte  man  in  England  die 
Marke  „Made  in  Germany"  prägte.  Skrupelloser  ist  nie  ein  Industrieller  mit  seiner 
Ware  umgegangen  wie  dieser  Spekulant  des  Universalismus  mit  hohen  geistigen 
Werten,  und  keiner  ist  erfolgreicher  gewesen.  In  den  zehn  Jahren  zwischen  den 
wilsonhaften  Hesperiden  und  der  Dido  tauschte  Turner  das  kleinere  Vorbild 
gegen  das  größere  ein.  Es  war  der  Szenenwechsel  eines  modernen  Regisseurs,  dem 
die  Ausstattung  über  die  Bedeutung  des  Schauspielers  geht  und  der  wohl  weiß,  daß 
sich  selbst  ein  unverhältnismäßig  hoher  Aufwand  für  die  Kulisse  bezahlt  macht. 
Turner  hatte  in  keiner  Falte  seines  vielfältigen  Wesens  eine  Wesensverwandtschaft 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiitiiiitiinnniiiiiiiiiiiiiiiiiiMniiiiiiiM^^^^ 

tHlllllllllltllMltltlllllllllUllllllllllllllllUOlUllllltUltltlltlNIIININI 


TURNER  175. 


mit  Claude.  Er  war  skrupelloser  als  David,  so  unklassisch  gesinnt  wie  Goya.  Er 
hätte  Phidias  für  einen  hübschen  Farbenfleck  geopfert. 

Claude  gab  ihm,  was  Rembrandt  dem  Landschafter  Gainsborough  gab,  das  inter» 
essante  Mittelmotiv.  Man  konnte  das  verborgene  Lichtzentrum  der  Einschiff  ung 
der  Königin  von  Saba  wirksamer  machen.  Dasselbe  Lichtzentrum  ließ  sichauf  eine 
beliebige  andere  Wasserfläche  oder  auf  ein  Kriegsschiff"  oder  eine  Viehherde  über* 
tragen.  Die  Variation  dieser  Beleuchtungseffekte  war  unabsehbar.  Als  rcizvergrö» 
ßerndes  Mittel  kam  einspezifisch  modernes  Moment,  die  Undeutlichkeit,  hinzu.  Clau. 
de  machte  die  Natur  so  plastisch  wie  möglich  und  verbarg  das  Schema  trotz  der  Ein» 
fachheit  seiner  Mittel.  Turner  wählte  den  leichteren  Weg  und  machte  es  umgekehrt. 
Er  erhob  das  Ungemalte,  das  so  oder  anders  gedacht  werden  kann,  das  Bildhafte, 
das  auch  auf  den  Kopf  gestellt  werden  darf),  zum  Stil.  Seine  Konkurrenz  m  itClaude 
ist  die  treffsichere  Spekulation  auf  die  Flüchtigkeit  der  Kunstbetrachtung  unserer 
Tage.  Er  malte  seine  Bilder  so,  wie  unsere  Galeriebesucher  Kunstwerke  zu  betrach* 
ten  pflegen.  Außerdem  wurden  sie  auf  diesem  Wege  romantisch. 

Vollendete  Werke  Claudes  wie  diese  Königin  von  Saba  oder  der  Wasserfall 
mit  der  Hochzeit  der  Rebekka  sind  kristallklare  Klänge,  deren  Ordnung  an  das 
vollendete  Rund  Mozarts  erinnert.  Sie  sind  nicht  sehr  häufig.  Der  Louvre  hat  fast 
nichts,  das  sich  neben  die  englischen  Ferien  stellen  läßt.  Poussin  war  ein  reicherer 
Geber.  Aber  wir  vermögen  mit  der  Erinnerung  an  die  Perlen  auch  schwächere  Werke 
Claudes  zu  ergänzen,  so  wie  uns  bewölkte  Tage  immer  noch  an  die  Sonne  erinnern. 

Turner  ist  immer  reicher  in  materiellem  Sinne,  d.  h.  seine  Bilder  sind  voller.  Sie 
füllen  sich  mit  allerlei  Dingen,  die  bei  Claude  undenkbar  sind.  Man  könnte  diese 
Dinge  mit  schönen  Schleiern  oder  feinen  Papieren  vergleichen,  die  bestimmt  sind, 
kostbare  Dinge  einzupacken.  Man  greift  nach  ihnen  in  der  angenehmen  Erwartung, 
ein  Geschenk  aufzuwickeln,  und  es  bleibt  bei  der  Erwartung.  Das  Einwickelpapier 
ist  das  Versprechen  moderner  atmosphärischer  Wirkungen,  modemer  Koloristik, 
moderner  Empfindung  usw.  Das  Versprechen  geht  weit  über  die  Erwartungen  hin« 
aus,  die  ein  Claude  erweckt.  Es  hat  genügt,  um  Ruskin  zu  seinen  phantastischen  Pro» 
klamationen  zu  treiben  und  hat  selbst  feinere  Geister,  wie  einen  Burger,  den  Freund 


*)  Bekanntlich  hatte  man  in  einer  Ausstellung  eine  seiner  Landschaften  aus  Versehen  verkehrt 
aufgehängt.  Er  soll,  als  er  es  sah,  gesagt  haben,  man  könne  das  Bild  so  lassen,  es  wirke  besser. 
Die  Anekdote  mag  Wahrheit  oder  Fabel  sein,  ihr  Gedanke  entspricht  annähernd  den  Tatsachen. 
Die  Kritik  hat  es  fertig  gebracht,  auch  aus  dieser  Ungeheuerlichkeit  ein  Argument  cugunsten 
Turners  zu  gewinnen.  In  der  Ahnenreihe  moderner  Irrtümer,  die  sich  um  die  Bedeutung  des  Or» 
naments  gruppieren,  steht  diese  Episode  obenan. 


inniinniitiinniiiniiiiiiniiiiiiiiiMiiiiinniiinmiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiinifliiiniiim^^^^ 

176  DIELANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


iniJuinHiiininntiiiimiitiirHiiriimiiiimnniiimiiiniiiMiiiMiMiiiriNiniiiMiiiiiiiuritmiiiiiuMiritiiiiiiiiiMiiimiiituiinniimiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiitiiiii (iiiiimimiiiiiirniiiiiiiiiiiii uiiiiiriiiiiiiiiiiiiiituiiiiriiiiii 


der  Rousseau  und  Corot,  einen  Kenner  Claudes,  verwirrt  ^).  Es  hat  die  noch  heute 
wirksame  Massensuggestion,  Turner  für  einen  Heros  der  modernen  Kunst  zu  neh« 
men,  hervorgebracht.  Man  hat  vergessen,  in  welchem  Maße  Claude  alle  Erwar* 
tungen  erfüllt,  und  Turner  die  Erfüllung  seines  Versprechens  schuldig  bleibt.  Mit 
seiner,  weit  über  Claude  hinausgehenden  atmosphärischen  Perspektive  erreicht 
Turner  nicht  das  Elementare,  die  unentbehrliche  Stabilität.  Keins  der  zahllosen 
Zierstücke  desDido^Gemäldes  ersetzt  die  mangelhafte  Konstruktion.  Trotz  oder 
infolge  der  reichen  Architektur  im  Vordergrund,  findet  das  Auge  in  der  gleißenden 
Wandeldekoration  keinen  Stützpunkt.  Das  Bild  scheint  zu  rutschen.  Wir  blicken 
an  schillernden  Dingen  vorbei  in  das  Nichts.  Turners  Farbe  ist  ein  unvergorener 
Naturalismus.  Er  ersetzt  in  vielen  Bildern,  so  auch  in  der  Dido  das  Blau  Claudes 
durch  das  dem  Sonnenglanz  nähere  Goldgelb.  Der  Mangel  an  jeder  tieferen  Logik 
in  den  Beziehungen  dieser  Farbe  zu  den  anderen  macht  das  Bild  bunt  statt  farbig, 
und  die  über  Claude  hinausgehende  partielle  Wirkung  vergrößert  nur  die  Unord» 
nung.  Eine  Sonne,  die  so  steht  wie  in  dem  Didobilde,  kann  nicht  das  Wasser  und 
die  Ufer  so  beleuchten.  Das  wäre  unwesentlich,  wenn  das  Licht  wie  in  der  Königin 
von  Saba  Claudes  als  Stilelement  wirkte.  Daran  hat  Turner  nie  gedacht.  Er 
nimmt  das  Licht  lediglich  als  Theatermittel,  um  bestimmte  Teile  des  Bildes  roman» 
tisch  hervorzuheben.  Es  ist  ihm  die  bengalische  Flamme  einer  festlichen  Gelegen» 
heit.  Nennt  man  die  Flamme  Sonne,  so  muß  es  viele  Sonnen  in  dem  Turner  geben. 
Und  auch  das  würden  wir  ohne  Murren  hinnehmen,  wenn  von  dieser  Vielheit  die 
warme  Harmonie  ausginge,  die  Claude  in  manchen  nächtlichen  Landschaften  mit 
dem  schwachen  Licht  der  Mondsichel  erreicht.  Ruskin  nannte  Claudes  Königin 
von  Saba  eine  Kinderfibel,  und  wollte  damit  die  Überlegenheit  Turners  bezeich» 
nen,  der  testamentarisch  die  Ungeheuerlichkeit  forderte,  sein  Machwerk  neben  diese 
Perle  zu  hängen.  Man  kann  diese  Kritik  bis  zum  gewissen  Grade  gelten  lassen. 
Turner  fehlt  nichts  so  sehr  wie  das  bei  allem  Meisterlichen  Kindliche  des  Franzosen. 
Turners  Inhalt  ist  dieselbe  dünnwandige  Phantasie,  die  später  die  Rossetti  und 
Burnesjones  zu  ihrem  Spiel  mit  anderen  Vorbildern  trieb;  die  absichtlich  kompli» 
zierte  Stofflichkeit,  um  sich  der  Kontrolle  zu  entziehen.  Man  findet  dieselben  Miß» 
Verhältnisse  in  allen  Arten  von  Bildern  und  zu  allen  Zeiten.  In  der  Bay  of  Bajae 
der  National'Gallery")  hat  der  feingestimmte  Hintergrund  nichts  mit  der  Plumpheit 


')  Er  schreibt  von  den  Lichteffekten  Turners:  „Claude,  le  supreme  illuminateur,  n'a  jamais 
rien  fait  d'aussi  prodigieux"  (Tresors  d'art  en  Angleterre).  Wenn  man  das  „prodigieux"  anders 
als  es  Burger  will,  verstände,  könnte  das  Wort  gerecht  sein. 

')  Abgebildet  im  TurnersKapitel  meiner  „Großen  Engländer"  (R.  Piper  &.  Co.,  München  1908.) 


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TURNER  177 

des  vorderen  Planes  gemein,  den  die  beiden  unbegreiflichen  Bäume,  ähnlich  wie 
der  Baum  inCarthago,  verunstalten.  Dasselbe  gilt  von  der  viel  bewunderten  An» 
sieht  Venedigs.  In  welche  Höhen  erheben  sich  die  von  Ruskin  verspotteten  Cana« 
lettil  Ulysses  deriding  Polyphemus  hat  kein  Format.  Es  liegt  kein  Grund 
vor,  diesen  Aufbau  von  Felsen  und  Schiffen  nicht  noch  ein  paar  Meter  nach  rechts 
fortzusetzen.  Sehr  viele  Gemälde  wie  dieses  enthalten  in  einem  Rahmen  mehrere 
Bilder.  In  der  berühmten  Grotte  der  Queen  Mab  kann  man  drei  oder  vier  zählen. 
Häufenl  war  und  wurde  mit  den  Jahren  immer  mehr  Turners  Prinzip.  Zumal  hetero» 
gene  Dinge  häufen!  Die  Seifenblase  in  der  Vision  derMedea,  oder  in  derLan« 
düng  des  Prinzen  von  Oranien  das  weiße  Schild  mit  dem  präzisen  blauen 
Wappen  eines  im  Dunst  des  Hintergrundes  liegenden  Schiffes,  und  ähnliche  Varie» 
täteneffekte  sind  noch  verhältnismäßig  harmlos  neben  dem  Fire  at  Sea,  einem 
rubensschen  Höllensturz  in  moderner  Beleuchtung,  neben  der  Eisen  bahn  und  den 
Feuerwerken  der  letzten  Jahre.  Nur  sehr  selten  widerstand  Turner  seinem  Theater» 
teufel.  Das  Burial  Wilkies  in  der  National»Gallery, mit  der  harmonischen  Atmo» 
Sphäre  aus  Blau,  Schwarz  und  Weiß  gelang,  weil  Turner  bescheiden  war.  In  der 
Nähe  des  Bildes  hängen  ein  paar  andere  Bilder,  meist  aus  früher  Zeit,  mit  denselben 
Ansätzen  eines  tüchtigen  einfachen  Landschafters,  der  mit  freierem  Blick  als  Wilson 
und  leichter  beschwingt  als  Gainsborough  wohl  fähig  gewesen  wäre,  diese  Vorläufer 
würdig  fortzusetzen. 

Was  er  Neues  brachte,  war  eine  besondere  Empfänglichkeit  für  die  impondenu 
bilen  Reize  des  Landschaftlichen.  Er  ahnte,  welchen  Weg  die  moderne  Landschaft 
nehmen  würde.  Aus  seinen  mündlichen  Äußerungen,  die  Ruskin  festgehalten  hat, 
geht  ein  ziemlich  sicheres  Bewußtsein  von  der  Bedeutung  der  physikalischen  Luft» 
und  Lichtphänomene  für  die  Zukunft  hervor.  Diese  Einsicht  wird  von  vielen  frühen 
und  späten  Bildern  bestätigt.  Denkt  man  sich  in  demSnowstorm  des  Jahres  1812 
den  unteren  Teil  mit  der  unmöglichen  Hannibal<Episode  fort,  so  bleibt  die  merk« 
würdige  Darstellung  einer  Lufterscheinung  übrig.  In  dem  Snowstorm  von  1842 
hat  er  selbst  die  Trennung  vollzogen  und  mit  Kennerschaft  das  erregte  Element 
geschildert.  Auch  wenn  wir  nicht  wüßten,  daß  Turner  diesen  Sturm  auf  dem  Wasser 
mit  erlebte,  würden  wir  daran  glauben.  Der  Tumer»Saal  der  Tate»Gallery  besitzt 
mehrere  die  sonnige  Atmosphäre  restlos  wiedergebende  Bilder.  Man  glaubt  im 
ersten  Augenblick  gedämpfte  Monets  letzten  Datums  zu  erblicken.  Die  Blicke 
hüllen  sich  in  farbige  Schleier.  Ein  Ballonfahrer,  der  über  beleuchteten  Luftschich» 
ten  treibt,  muß  solche  Sensationen  erleben. 

Das  konnte  Turner,  und  es  war  etwas  Neues,  eine  neue  Welt  von  Motiven  und 

12 


iH MiijiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiimiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiiiiiiiHiiiiiiiinuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin^ 


178  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDhZU  COURBET 

eine  neue  Malerei,  vielleicht  jenes  Luftige  und  Leichte,  das  der  Sehnsucht  eines 
Runge  vorschwebte.  Es  waren  die  Umrisse  der  Sphäre,  die  späteren  Meistern 
als  Arbeitsfeld  dienen  sollten.  Nicht  mehr,  eher  weniger,  nichts  weniger  als  eine 
Form,  kaum  die  Ansätze  dazu,  nur  das  Rohmaterial,  aus  dem  Formen  werden 
können.  Er  unterließ  es,  zu  gestalten.  Jeder  Künstler  durchläuft  vor  der  Schöp« 
fung  zunächst  eine  Phase,  in  der  er  sich  auf  ein  abwartendes  Verhalten  beschränkt. 
Es  ist  der  erste  Moment  der  Darbietung  des  Motivs,  die  Lockung  der  Natur.  Man 
sieht  etwas,  das  Kunst  werden  könnte.  Jeder  Mensch  mit  offenen  Augen  kann  täglich 
tausend  Schönheiten  entdecken.  Das  hängt  von  seiner  Empfänglichkeit  ab  und 
von  der  Möglichkeit,  sich  angenehmen  Eindrücken  zu  überlassen.  Der  Meister 
potenziert  diese  Empfänglichkeit  durch  ein  ihren  passiven  Tendenzen  entgegenge» 
setztes,  höchst  aktives  Verhalten.  Er  widersteht  unzähligen  Lockungen,  umdieGe* 
legenheit  zu  wählen,  die  seine  Hingabe  zu  der  denkbar  ergiebigsten  macht,  und 
gibt  sich  dann  um  so  gründlicher  hin.  Er  liebt  nur  da,  wo  er  sicher  ist,  die  ganze 
Fülle  seines  Gefühls  verschwenden  zu  dürfen,  wo  ein  geeignetes  Terrain  seinem 
Rhythmus  den  besten  Stützpunkt  bietet,  eine  besondere  zufällige  Ordnung  in  der 
Natur  sich  zum  Monument  ausbauen  läßt,  eine  besondere  Unordnung  nach  seinem 
ordnenden  Eingriff  verlangt.  Delacroix  war  ein  Weiser  dieses  Wahlvermögens. 
Er  steht  immer  über  dem  Objekt,  das  sich  seinem  unbegrenzten  Aufnahmevermögen 
erschließt,  hält  es  als  Herr  und  Gebieter  in  der  Hand ,  und  die  Hand  ist  so  reich 
gebildet,  daß  das  von  ihr  Erfaßte  wie  ein  nur  lose  gezügeltes  Roß  erscheint.  Er 
behält  trotz  der  unerschütterlichen  Ordnung  alle  Natur. 

Turner  erscheint  wie  eins  der  vom  Körper  eines  Delacroix  gelösten  Organe,  das, 
weil  es  vom  Willen  befreit  ist,  die  ihm  gegebene  Funktion  ins  Unbeschränkte  aus* 
übt  und  infolgedessen  zu  einer  Hypertrophie  seiner  Art  getrieben  wird.  Er  spielt 
nicht  auf  der  Natur,  sondern  wird  von  ihr  gespielt.  Das  nicht  ohne  Finesse  gebil« 
dete  Organ  tönt  gleich  einer  Äolsharfe,  sobald  der  Wind  geht.  Das  Organ  be* 
schränkt  sich  ungefähr  auf  eine  besondere  Empfindung  für  Farbe,  etwa  gleich  einer 
farbenempfindlichen  Platte.  Ist  es  vielleicht  die  Einsicht  in  die  rohe  Natur  dieser 
Eigenart,  was  uns  treibt,  unter  den  Aquarellen  Turners  immer  die  farbenarmen  zu 
wählen  und  das  einfarbige  Liber  Studiorum  (so  billige  Lektüre  es  neben  dem  Liber 
Veritatis  Claudes,  dem  es  eine  wenig  lautere  Konkurrenz  bereiten  sollte,  sein  mag) 
über  die  meisten  Gemälde  und  Aquarelle  zu  stellen?  Die  geringe  Dosis  von  Willen, 
von  gestaltendem  Spiel,  die  in  den  dünnen  Blättern  gespürt  wird,  scheint  dembe« 
trachtenden  Geist  reicher  als  die  ungeformte  Gabe  des  Impressionisten. 

Mit  Recht  zählt  man  Turner  zu  dem  Impressionismus,  doch  verlangt  der  Respekt 


Illllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll«^ 

TURNER 179 

vor  den  Meistern,  die  gewohnheitsmäßig  mit  diesem  Sammelbegriff  bezeichnet  wer« 
den,  eine  Sonderung.  Turner  stellt  das  in  dem  Impressionismus  verborgene  negative 
dar,  nur  die  eine  Seite  der  Formel,  den  Teil,  der  als  betörendes  Fragment  noch  oft  in 
der  Geschichte  der  modernen  Kunst,  zumal  in  der  Geschichte  Englands,  am  ver» 
heerendsten  in  Whistler,  wiederkehrt.  Von  den  Voraussetzungen,  die  auf  die  Höhen 
des  historischen  Impressionismus  führen,  brachte  Turner  nur  das  Impressionable 
mit,  eine  Eigenschaft,  die  damals  überraschen  mußte,  aber  die  zu  denen  gehört,  die 
eines  Tages  Allgemeingut  werden.  Sein  gerechtester  englischer  Kritiker  sagt  von 
ihm:  „He  had  beauty's  phases  at  his  fingers"  ends,  but  not  its  causes"').  Das  ist 
später  das  Schicksal  ganzer  Generationen  geworden. 

Dieses  passive  Verhalten  zur  Außenwelt,  dem  die  Kunst  nur  ein  Kanal  für  die 
Flucht  der  Erscheinungen  ist,  erklärt  Turners  enorme  Produktion.  Armstrong  zählt 
21000  Gemälde,  Zeichnungen  und  Skizzen  (darunter  „2000  more  or  less  finished 
works  of  art").  Es  sind  ebensoviele  ungeborene  Kunstwerke.  Neben  dieser  Masse 
war  selbst  die  Tätigkeit  eines  Reynolds  Lappalie.  Man  könnte  Turner  Landscape« 
Manufacturer  nennen,  ein  Pendant  zu  der  von  Hogarth  gezeichneten  Klasse,  aber 
muß  das  pathologische  Moment  hinzufügen.  Das  maniakalische  Gelüst  überwog 
schließlich  jeden  anderen  Instinkt.  Auch  das  Leben  des  Sonderlings  bestätigt 
die  im  wesentlichen  physiologische  Sonderart  der  Erscheinung. 

Turner  gehört  zu  den  problematischen  Existenzen  der  Neuzeit,  die  der  Kunst 
den  Weg  verschließen,  indem  sie  ihr  Auswege  öffnen.  Es  sind  typisch  moderne 
Geschöpfe.  Sie  erweisen  ihre  Neuheit,  indem  sie  sich  abwenden  vom  Gesetz  der 
Alten  und  die  Illusion  erwecken,  der  Einfall  ihrer  Willkür  sei  die  Erfüllung  eines 
neuen  Gesetzes.  Jedes  der  Länder,  die  an  der  modernen  Entwicklung  beteiligt  sind, 
hat  solche  Menschen  hervorgebracht;  jedes  hat  seinen  besonderen  Typ  der  Ent» 
artung.  Das  zugrunde  liegende  Problem  aber  ist  immer  dasselbe:  scheinbare  Aus« 
dehnung  der  Kunstgrenzen,  in  Wirklichkeit  Verkleinerung  der  Kunst;  scheinbare 
Schöpfung  eines  Kosmos,  in  Wirklichkeit  Vergrößerung  des  Chaos.  Unter  allen 
Varianten  ist  Turner  die  gefährlichste.  Die  anderen  bilden  lediglich  Irrtümer  aus 
gewonnenen  Resultaten,  fälschen  bestehende  Werte,  verbilligen,  was  sie  finden. 
Damit  erschöpft  sich  Turner  nicht.  Seine  wesentlichste  Tat  ist,  Irrtümer  der  Zu» 
kunft  vorwegzunehmen.   Er  schrieb  eine  Parodie,  bevor  das  Original  gegeben  war. 


')  Sir  Walter  Armstrong:  Turner  (Thos,  Agnew  &  Sons,  London  1902). 


12* 


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CONSTABLE 

Was  dem  im  Freien  lebenden  England  mit  seinem  Rationalismus  und  trotz 
seines  Rationalismus  an  positiven  Werten  erreichbar  war,  das  hat  es  in 
Constable  geschaffen.  Es  ist  eine  Landschaft.  Neben  dem  Universum,  das  ein 
Delacroix  mit  neuem  Geiste  aus  dem  Alten  entstehen  ließ ,  sieht  es  wie  ein  kleiner 
willkürlicher  Ausschnitt  aus,  und  zumal  der  Anteil  des  Geistes  erscheint  fragmen» 
tarisch.  Doch  enthält  es  nichtsdestoweniger  das  Stück  Neuland,  das  der  Kunst 
unserer  Zeit  unentbehrlich  war,  und  es  hat  allen  unseren  großen  Meistern  gedient, 
zumal  denen,  die  sich  nicht  damit  begnügten,  auch  Delacroix.  Über  der  Fülle  von 
Möglichkeiten,  die  man  aus  dem  Stück  gewann,  vergißt  man  nach  dem  Umfang  zu 
fragen.  Es  ist  nicht  eine  Landschaft,  sondern  die  Landschaft,  ein  wohlorganisierter 
neuer  Erdteil  im  Reiche  des  Schönen. 

Der  Kolumbus  dieser  neuen  Welt  ist  einer  von  den  zwei  oder  drei  Männern  der 
englischen  Kunst.  Weder  die  Liebedienerei  der  Costumiers  des  achtzehnten  Jahr» 
hunderts,  noch  das  Fräraffaelitentum,  auch  nicht  die  versteckte  Nuance,  die  das 
Präraffaelitentum  in  der  passiven  Romantik  der  Turner  und  Whistler  fand ,  haben 
ihn  geschwächt,  noch  das  feminine  Ästhetentum,  das  die  Liebe  zum  Schönen  zu  der 
künstlichen  Blume  an  der  wattierten  Brust  einer  alten  Kokette  verwandelt  und 
das  von  England  wie  eine  Krankheit  über  die  Welt  ging.  Er  ist  Mann  und  liebt 
die  Kunst  als  Mann,  als  ein  gut  organisierter,  gerade  gewachsener  Mann,  mit  hellem 
Enthusiasmus  und  ohne  die  bärenhafte  Dickhäuterei  des  Germanen.  Ein  Land» 
mann,  dem  die  Landschaft  angeboren  ist,  nichts  weniger  als  ein  Bauer;  ein  Land« 
mann  mit  wohlgepflegten  Händen.  Auf  dem  Kontinent  sind  solche  Typen  nur  in 
manchen  Pfarrhäusern  zu  finden.  Wilkie  wollte  den  gut  geschnittenen  Kopf  für  den 
Arzt  in  seinem  Kolumbus  als  Modell  haben.  Der  Vater  war  ein  wohlhabender 
Müller. 

In  dem  ruhig  pulsierenden  Herzen  war  für  viele  Dinge  Raum,  und  jedes  hatte 
seinen  Raum.  Die  Kultur,  mit  der  sich  der  Einfache  schmückte,  war  Ordnung. 
Weniger  ein  unbändiges  Lebensgefühl  als  ein  rationeller  männlicher  Instinkt  trieb 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiginiiiiiiiiiii 


CONSTABLE  181 


ihn,  wenn  er  malte,  die  Bilder  der  anderen  zu  vergessen  und  sich  nur  auf  die  eigene 
•Kraft  zu  verlassen,  weil  man  so  die  Natur  am  natürlichsten  erfaßte.  Aber  zu  dieser 
Erfahrung  kam  der  Künstler,  nicht  das  Naturkind;  ein  Künstler,  dem  die  vor* 
nehmsten  Schätze  des  an  Sammlungen  reichen  Englands  wohl  vertraut  waren,  der 
alles  kannte,  was  die  Vorgänger  benutzt  und  mißbraucht  hatten,  und  es  besser 
kannte. 

Keinen  Meister  hat  Constable  höher  verehrt  als  Claude,  denselben  Claude,  den 
Turner  zu  fälschen  versuchte.  Es  steht  dahin,  ob  wir  es  aus  seinen  Bildern  merken 
würden,  wenn  wir  es  nicht  aus  seiner  Biographic  wüßten.  Kein  Motiv  verrät  die 
Beziehung.  Nie  finden  sich  auf  Constables  Bildern  die  feierlichen  Architekturen, 
noch  die  biblischen  oder  antiken  Gestalten,  mit  denen  Claude  seine  Gefilde  be« 
völkerte.  Constable  sieht  das,  was  jeder  Einfältige  sehen  kann:  einen  Karren  mit 
Schnittern,  noch  in  dem  Hauch  des  Feldes,  auf  dem  sie  sich  müde  geschafft  haben; 
Pferde,  die  den  Lastkahn  durch  den  Kanal  ziehen ;  ruhende  oder  arbeitende  Menschen. 
Nur  eines  ist  allenfalls  mitClaude  gemein,  und  es  wird  zum  Wesentlichen :  die  Idylle. 
Auch  Constables  letztes  Resultat,  verborgen  unter  Pinselstrichen,  die  nur  das  ohne 
weiteres  Sichtbare  festzuhalten  scheinen,  ist  ein  schönes  Gleichgewicht  des  Gefühls, 
Idylle.  Es  gelingt  ihm  trotz  aller  Zurückhaltung,  den  Menschen  darzustellen,  der 
den  Acker  und  die  Bäume,  die  Schnitter  und  die  Schleuse  nicht  nur  mit  scharfen 
Augen  ansah,  sondern  mit  diesen  Dingen  auf  eine  besondere  Art  lebte,  mit  ihnen 
fühlte.  Nur  weil  er  intensiv  fühlte,  kam  er  zu  seiner  intensiven  Darstellung.  Alle 
Mittel  der  Darstellung  sind  von  Claude  um  Welten  entfernt.  AndereMeister  lehrten 
sie  den  Künstler,  andere  Erlebnisse  bildeten  sie  aus.  Das  Gefühl  ist  ähnlich  und 
möchte  ähnlich  sein.  Dieselbe  Wahlverwandtschaft,  die  Delacroix  zu  RaflFael  zog, 
über  Rubens,  über  die  Venezianer,  über  alle  möglichen  Unterschiede  der  Natur 
und  Kultur,  zieht  Constable  über  nähere  Engländer  und  Holländer,  über  viele 
andere  Hindernisse,  zu  Claude.  Claude  spielt  auf  einer  leichter  als  Bühne  erkenn» 
baren  Landschaft,  die  längst  für  uns  zum  toten  Buchstaben  geworden  wäre,  wenn 
nicht  die  Empfindung  des  Menschen,  eine  besondere,  ein  wenig  kühle  Schlichtheit, 
die  Kulisse  lebendig,  d.h. natürlich  erhielte.  Mit  Constable  geht  es  uns  umgekehrt. 
Obwohl  er  uns  zeitlich  viel  näher  ist,  würde  auch  seine  Welt,  in  die  seitdem  so 
viel  kühne  Pfadfinder  eingedrungen  sind,  uns  nichts  mehr  zu  sagen  haben,  wenn 
sie  wirklich  die  objektive  Natur  wäre,  die  er  als  Bühne  benutzte.  Das  Wort  an 
seinen  Freund  Fisher,  das  Leslie  berichtet'),  Malen  sei  für  ihn  nur  ein  anderes 


•)  Life  and  Letters  of  John  Constable.  In  der  deutschen  Übersetzung  von  Müller»  Röder  und 
Arthur  Rößler  bei  Paul  Cassirer,  Berlin,  I91I. 


nnmiMiiiinnMMiinniininiiiimiiinininnifliiiiiiiiniiiniiniinn^^^ 


182  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


Wort  für  Fühlen,  würde  uns  wenig  bedeuten,  wenn  es  Gainsborough  gesagt  hätte. 
Im  Munde  des  nüchternen  Realisten  wird  es  zu  einem  weittragenden  Geständnis.     • 

Constable  stammte  aus  der  Gegend,  in  der  Gainsborough  geboren  wurde  und 
war  auf  dem  Felde,  das  Gainsborough  für  seine  eigentliche  Heimat  erklärte,  sein 
Nachfolger.  Er  gleicht  dem  Sprößling  eines  aristokratischen  Hauses,  der  den  Adel 
ablegt  und  in  die  Welt  hinauszieht,  um  sich  selbst  seine  Titel  zu  erkämpfen.  Mit 
der  Frucht  seiner  Arbeit  kehrt  er  zurück  und  baut  das  verfallene  Haus  mit  einem 
Glänze  auf,  den  es  nie  vorher  besaß.  Gainsboroughs  Landschaft  war  ein  roman» 
tisches  Luftschloß,  gefühlvoll  gemeint,  aber  unsolide  gebaut,  eine  malerische  Ruine. 
Große  Bäume  mit  dichtem  Blattwerk  bilden  rechts  und  links  Kulissen  und  um» 
schließen  das  bewußte  Mittelmotiv,  das  Turner  zu  benutzen  wußte,  ein  Helles  in 
dem  Dunkel.  Diese  Dissonanz  allein  schon  sorgt  für  die  träumerische  Gefühls* 
weit.  Kommt  noch  ein  traulicher  Waldtümpel  mit  Kühen  oder  dergleichen  dazu 
ist  die  Idylle  gesichert.  Auch  Constable  leuchteten  die  Vorzüge  des  Mittelmotivs 
ein.  Seine  Hauptwerke,  der  Hay  Wain,  das  Cornfield,  die  Valley  Farm  usw. 
erscheinen  insofern  wie  freie  Fortsetzungen  der  großen  Formate  des  Vorgängers 
von  der  Art  des  Watering  Place.  Aber  der  Fortsetzer  hat  ein  Terrain  urbar  ge» 
macht,  das  vorher  infolge  des  Mangels  an  Luft  und  Licht  versumpfte.  Nicht  der 
Naturalist  Constable,  sondern  der  Künstler  übertraf  Gainsborough.  Er  öffnete  der 
Kunst  ein  größeres  Wirkungsfeld,  indem  er  die  dumpfe  Romantik  lüftete  und  Licht 
hineinließ.  Mit  diesem  Verfahren,  dessen  Konsequenzen  unabsehbar  waren,  be» 
reicherte  er  nicht  die  Hinterlassenschaft  Gainsboroughs,  sondern  die  größte  Land« 
schafterschule  der  Vergangenheit,  von  der  Gainsborough  und  die  anderen  Eng« 
länder  nur  einen  matten  Reflex  gegeben  hatten,  das  Erbe  der  alten  Holländer.    • 

Der  Nerv  der  holländischen  Malerei  war  zum  Teil  am  Rokoko,  zum  Teil  am 
Klassizismus  gescheitert.  Eine  merkwürdige  Schickung  ersah  Constable,  den  Jünger 
Claudes,  zu  dem  Wiedererwecker  der  gesunden  Richtung,  die  durch  einen  falsch* 
verstandenen  Claude  verloren  gegangen  war.  Es  war  eine  unendlich  segensreiche 
Wahl  der  Schickung.  Der  Jünger  Claudes  verhinderte  die  Reaktion,  sich  in  das  ent* 
gegengesetzte  Extrem  zu  verirren  und  den  flauen  Idealismus  durch  einen  ebenso 
verderblichen  Naturalismus  zu  ersetzen. 

Gainsborough  war  zu  Rembrandt  gegangen.  Constable  ging  mit  besserem  In* 
stinkt  zu  den  Landleuten,  nach  deren  Taille  er  geschnitten  war'').  Wohl  hatte  er  vor 


*)  Ich  kann  hier  nur  die  Umrisse  dieser  Beziehungen  andeuten.    Näheres  in  dem  Constable» 
Kapitel  meiner  Großen  Engländer  (R.  Piper  6.  Co.,  München,  1908), 


I 


CONSTABLE  183 


dem  anderen  Müllersohn  allen  möglichen  Respekt.  Er  sprach  in  klugen  Worten 
vgm  Clair^-obscur  als  der  raumwirkenden  Kraft  und  meinte,  wenn  die  Wirkungen 
dieser  Kraft  zuweilen  übertrieben  erschienen,  dürfe  man  deswegen  Rembrandt  so 
wenig  einen  Vorwurf  machen  wie  einem  Michelangelo  wegen  des  Riesenmaßes  seiner 
Gestalten.  Er  sei  eben  zu  „impressive"  gewesen.  Nur  nachahmen  solle  man  ihn 
nicht.  Diese  Reserve  findet  sich  jedesmal,  wenn  die  Rede  auf  den  Meister  kommt. 
Gewiß,  ein  sehr  großer  Mann,  aber  um  Gottes  willen  die  Hände  davon  lassen. 
Mehr  als  er  zugab,  bemerkte  Constable  die  Verheerungen  Rembrandts  in  der  eng» 
lischen  Schule,  und  ganz  im  Innersten  regte  sich  gegen  den  großen  Rücksichtslosen 
ein  leiser  Groll.  Der  Rausch  des  Gewaltigen  erschreckte  ihn.  Dem  nüchternen 
Landmann  kam  es  auf  Klarheit  an,  auf  die  Durchsichtigkeit  Claudes,  dem  sicher 
Rembrandt  eine  versiegelte  Welt  gewesen  war. 

Die  anderen  Holländer  standen  ihm  dafür  um  so  näher.  Ruysdael  kam  unter 
seinen  Lieblingen  gleich  nach  Claude  und  war  nach  seiner  Ansicht  ein  ähnliches 
Genie  aus  einer  entgegengesetzten  Welt.  Cuyp,  Jan  Steen,  sogar  Pieter  de  Hoogh 
finden  sich  in  seinen  Beispielen  häufiger  als  Rembrandt.  Er  nennt  sie  einmal 
„more  artless"  in  nicht  mißzuverstehendem  Sinne.  Sein  Empfinden  bedurfte  des 
Anscheinsder  Harmlosigkeit  und  schreckte  vor  jedem  vollkommen  formulierten 
Prinzip  zurück,  das  ihn  zwang,  von  der  Natur,  wie  er  sie  sah,  große  Teile  ungenutzt 
zu  lassen.  Er  "hatte  recht,  dem  Prestige  eines  Größeren  nicht  die  Ökonomie  seiner 
eigenen  Anlage  zu  opfern. 

Constable  war  nicht  der  erste  Engländer,  der  noch  für  andere  Leute  als  die  Rem» 
brandt  und  Hals  Augen  besaß.  Als  er  auftrat,  war  längst  die  ganze  holländische 
Kunst  dem  Spürsinn  englischer  Sammler  vertraut.  Schon  in  Wilson  und  in  George 
Lambert  finden  sich  Anklänge  an  die  holländischen  Intimen.  In  der  nächsten  Gene» 
ration  setzte  zumal  Thomas  Barker  die  von  Gainsborough  begonnene  Verschmel» 
zung  Wilsons  und  der  Holländer  fort.  Turner  hatte  Cuyp  entdeckt  und  die  seidene 
Atmosphäre  der  De  Vlieger  und  Jan  van  de  Cappelle.  Wahrend  er  das  Weiche 
und  Zarte  verschwommen  und  formlos  machte,  setzte  James  Ward  seine  Vorbilder 
einer  Art  Verhärtung  aus  und  gab  ein  omenreiches  Vorspiel  des  Realismus  der 
PrärafFaeliten.  Drei  Jahre  malte  er  an  einer  Interpretation  des  Potterschen  Stiers  im 
Haag,  bis  von  der  über  alle  Detaillierung  siegreichen  Frische  des  Holländers  nichts 
mehr  übrig  war.  Old  Crome  näherte  sich  mit  feineren  Organen  Hobbema,  und  der 
Seitenblick  auf  Rembrandt  förderte  ihn  nicht  wenig.  Sein  Schwager  Ladbrooke 
und  die  anderen  aus  Norwich  hielten  sich  noch  enger  an  die  niederländischen 
Modelle.  Callcott,  den  man  wie  manchen  anderen  seinesgleichen  den  Claude  Eng« 


■niiiiiininiininiiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinRiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiii^^^^ 


184  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


lands  genannt  hat,  folgte  den  Spuren  Cuyps  und  der  Marinespezialisten.  Die 
Wasserfälle  von  Nasmyth  erschienen  seinen  Landsleuten  wie  echte  Ruysdaels,  und 
seine  Hobbemas  wurden  eine  Zeitlang  höher  bezahlt  als  die  Originale  dieses 
Namens.  Holland  existierte  also  in  England  auch  ohne  Constable  in  allen  Gang» 
arten.  Doch  würde  der  Aspekt  der  europäischen  Kunst  nicht  sonderlich  anders 
sein,  wenn  alle  diese  Dokumente  auf  einmal  verschwänden.  Das  Verhältnis  der 
Nachfolger  zu  den  Vorgängern  war,  von  Nuancen  abgesehen,  immer  das  gleiche. 
Man  machte  es  genau  so,  wie  es  die  Portraitmanufacturers  mit  ihren  Vorbildern 
gemacht  hatten,  nahm,  was  man  nehmen  konnte,  trieb  verstohlen  oder  offen  ge« 
wissenlose  Raubwirtschaft.   Niemand  dachte  daran,  etwas  hinzuzufügen. 

Constable  hat  weder  falsche  Ruysdaels,  noch  falsche  Hobbemas  gemalt.  Seine 
Landschaften  geben  so  treffend  seine  Heimat,  daß  der  Reisende,  der  heute  durch 
Bergholt  oder  Salisbury  kommt,  sich  einbildet,  das  alles  schon  einmal  gesehen  zu 
haben;  freilich  auf  andere  Art,  sozusagen  in  einem  anderen  Dasein,  auf  bessere  Art. 
Es  ist,  als  besäße  man  durch  Constable  eine  Art  Geheimschlüssel  für  die  englische 
Landschaft,  der  die  Summe  gewisser,  an  Realitäten  armer,  an  Empfindung  reicher 
Erlebnisse  öffnet.  Das  Motiv  im  engeren  Sinne  hat  wenig  damit  zu  tun.  Es  spielt 
im  Oeuvre  Constables  eine  höchst  untergeordnete  Rolle.  Derselbe  Blick  auf  Ded« 
ham,  dieselbe  Stelle  in  Hampstead  finden  sich  immer  wieder,  und  es  mag  für  Con» 
stable  ein  großes  Ereignis  gewesen  sein,  als  er  zum  ersten  Male  die  Schleuse  mit  dem 
Pferde  malte.  Trotzdem  hat  er  sich  nur  selten  wiederholt,  und  während  Turners 
wechselreiche  Bilder  ein  ewiges  Einerlei  ergeben,  das  wie  eine  Wandeldekoration 
auf  leerer  Bühne  an  uns  vorüberzieht,  fühlt  man  sich  von  Constable  immer  wieder 
an  neue  verborgene  Stellen  gerührt  und  möchte  mit  Dingen  reden,  die  von  Natur 
aus  ohne  Sprache  sind. 

Constable  erkannte,  wie  wenig  die  geläufigen  Begrifi^e  des  Landschafters,  der 
Baum,  der  Fluß,  die  Wiese,  das  gemütliche  Haus  usw.,  neben  dem  diese  Dinge  ver» 
bindenden  Medium  bedeuten.  Derselbe  Baum  hatte  unzählige  verschiedene  Ge» 
sichter,  dieselbe  Wiese  konnte  je  nach  der  Beleuchtung  heute  grün,  morgen  braun 
aussehen,  und  in  einem  Stück  Erde  von  ein  paar  Klaftern  Umfang  steckten  mehr 
Landschaften,  als  alle  Landschafter  zu  malen  imstande  waren.  Es  galt  nicht,  den 
Baum  zu  zeigen,  obwohl  und  gerade  weil  er  aller  Aufmerksamkeit  wert  war,  son« 
dem  das,  was^mit  dem  Baum  vorging,  seine  Funktion.  Das  war  ein  Fortschritt  der 
Erkenntniskräfte  und  gleichzeitig  Fortschritt  der  Empfindung.  Die  Erkenntnis  schloß 
die  Nymphen  und  die  gefälligen  Ruinen  aus  und  wehrte  sich  gegen  alle  dinghafte 
Zutat  der  Phantasie.    Die  Empfindung  machte  das  Variable  zu  ihrem  Gefäß.    Sie 


CONSTABLE^ 185 

bedurfte  klarer  Einsicht,  strenger  Organisation,  um  sich  in  der  schwankenden  Hülle 
zu  behaupten. 

Nach  den  Möglichkeiten  einer  solchen  Form,  die  seinem  Erkenntnisdrang  kein 
Opfer  zumutete,  spürte  der  Scharfäugige  aus,  wenn  er  die  alten  Meister  betrachtete, 
und  dabei  entdeckte  er,  daß  es  auch  in  der  Kunst  kein  Ding  an  sich  gab.  Das  Ru» 
benshafte  war  keine  bestimmte  Art  von  Motiven,  sondern  ein  erwärmender  und 
bewegender  Rhythmus,  eine  Art  Sonne.  Claude  war  ein  anderer  Rhythmus,  Ruys« 
dael  wieder  ein  anderer.  Unter  dem  Rhythmus  verbarg  sich  jedesmal  ein  anderer 
Ausgleich  zwischen  Erkenntnis  und  Empfindung.  So  kam  der  Fortschritt  zustande, 
wenn  es  überhaupt  einen  Fortschritt  gab.  Jeder  Meister  gelangte  durch  eine  neue 
Teilung  des  überlieferten  Begriffs  zu  seiner  Eigenart,  sah  als  variabel  an,  was  seinen 
Vorgängern  unveränderlich  erschienen  war,  machte  es  wie  die  Erfinder  in  der  Che» 
mie,  die  immer  mehr  die  Zahl  der  Elemente  vergrößern.  Divide  et  impera!  war 
die  große  Regel.  Sie  war  schwachen  Zeiten  abhanden  gekommen.  Die  englischen 
Meister,  die  immer  mehr  Genießer  als  Künstler  gewesen  waren,  hatten  in  dem  Ga» 
lerieton  der  alten  Meister  das  Ding  an  sich  gesehen,  dem  man  nacheifern  mußte, 
hatten  zu  festen  geschlossenen  Begriffen  gestaltet,  was  ursprünglich  lose,  lebendig 
und  oflfen  gewesen  war.  Das  summarische  Braun,  das  man  jetzt  konstruierte,  gab 
es  so  wenig  in  der  Natur  wie  in  der  Kunst.  Unter  dem  Hobbema,  wie  man  ihn  in 
England  sah,  unter  den  vermeintlichen  Ruysdael  und  Cuyp,  unter  den  Rüben»  und 
Claude,  wie  sie  dem  passiven  Auge  in  der  einschläfernden  Atmosphäre  der  Samm« 
lungen  erschienen,  steckten  ganz  andere  Werte. 

Wohl  hatten  auch  die  anderen  Landschafter  Englands  an  den  Holländern  die 
Wirksamkeit  der  Kontraste  erkannt.  Niemandem  aber  war  eingefallen,  aus  dieser 
Wirksamkeit  das  elementare  Gesetz  schöpferischer  Darstellung  zu  gewinnen.  Man 
nahm  als  Begleitung,  was  die  Hauptsache  war,  und  verwandelte  den  Schein  in  das 
Wesen  des  Kunstwerks.  Auf  der  Suche  nach  sentimentalen  Werten  kam  man*  da« 
hin,  das  Gefühl  wie  einen  Firniß  auf  die  Bilder  zu  legen.  Es  ließ  sich  wegwischen, 
und  dann  kamen  Fragmente  wie  die  Gainsboroughs  zum  Vorschein.  Nur  an  dem 
Mangel  an  Differenzen  waren  die  großen  Bilder  des  Gefühlvollen  gescheitert;  im 
Grunde  an  einem  Mangel  an  Gefühl.  Nicht  nur  das  verwendete  Pigment  des 
Schwarz,  der  Asphalt,  hatte  den  Ruin  des  Watering  Place  verschuldet,  sondern 
die  Genügsamkeit  mit  einer  zu  eindeutigen  Differenz  zwischen  Hell  und  Dunkel, 
das  Undifferenzierte  der  ganzen  Gestaltung.  Gainsborough  hatte  aus  Rembrandts 
Art,  die  dinghaften  Details  zu  opfern,  die  Erlaubnis  abgeleitet,  auch  unentbehrliche 
Teile  des  Bildhaften  zu  unterdrücken,  und  nicht  beachtet,  daß,  wenn  Rembrandt 


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186  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


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eine  Hand  im  Dunkel  verschwinden  läßt,  das  Dunkel  hundert  Hände  erhält,  um 
die  eine  zu  ersetzen. 

Constables  ganze  nicht  unbeschränkte  Entwicklung  ist  die  Erweiterung  seines 
Teilungsprozesses.  Das  summarische  Braun  und  Grau  der  ersten  Zeit  weicht  später 
einer  immer  größeren  Farbigkeit.  „Die  Schönheit  des  Grün»  seiner  Wiesen  ist  das  Re;= 
sultat  einer  Zusammensetzung  der  Farbe  aus  vielen  verschiedenen  grünen  Tönen." 
So  notiert  Delacroix,  der  aus  diesem  Grundsatz  die  Basis  seiner  Farbenlehre  gewinnt. 
Das  Pigment  als  solches,  das  Delacroix  einer  weiteren  Reinigung  unterwarf,  war 
Constable  verhältnismäßig  gleichgültig.  Turners  Farbenchemie  blieb  ihm  fremd.  Er 
fragte  nicht,  ob  die  Farbe,  bevor  sie  in  den  Pinsel  kam,  gemischt  oder  ungemischt 
war.  Keine  wird  prinzipiell  ausgeschlossen,  auch  nicht  das  Schwarz,  das  am  wenig* 
sten.  Aber  das  Schwarz  ist  bei  ihm  nicht  dunkel,  sondern  tief  und  leuchtend.  Das 
Silber  der  Wolken  blitzt  zwischen  den  braunen  Stämmen,  umzieht  das  Tiefe  mit 
Licht,  durchdringt  es.  In  den  Skizzen  wird  das  Pechschwarz  von  feurigem  Rot  und 
reinem  Weiß  eingefaßt.   So  wird  aus  dem  Dunkel  das  Lichte. 

Constables  Größe  ist  in  seinen  kleinen  Bildern,  die  er  Skizzen  nannte  und  für 
sich  behielt.  Sie  sind  zum  größten  Teil  erst  nach  seinem  Tode  zum  Vorschein  ge* 
kommen.  Die  berühmten  Gemälde,  die  einst  die  Revolution  auf  dem  Kontinent 
hervorriefen,  enttäuschen  heute  den  Besucher  der  NationaUGallery,  der  mit  den 
letzten  Resultaten  jener  Revolution  vertraut  ist.  Ihr  Geist  scheint  noch  den  Holland 
dern  zu  nahe,  und  ihr  Stoff  mangelt  der  meisterlichen  Fertigkeit,  deren  handwerk« 
liches  Geheimnis  mit  den  Holländern  verschwand.  Der  Auftrag  ist  oft  zu  spitz 
oder,  zumal  wenn  das  Palettenmcsser  an  die  Stelle  des  Pinsels  tritt,  zu  grob,  um 
jenes  schöne  Netz  farbiger  Wirkungen  zu  erlauben,  zu  dem  das  Werk  des  alten 
Meisters  zusammenwächst.  Wohl  hat  Constable  manche  Hobbemas  scheinbar  mit 
Diamantenspitzen  besät,  doch  ersetzt  das  Blitzen  der  Blätter  nicht  die  reiche  Grün« 
dierüng,  die  der  Fläche  eines  Hobbema  die  leuchtende  Tiefe  gibt.  Constable  war 
konsequenter.  Die  Holländer,  wenn  sie  nicht  Rembrandt  hießen,  gingen  ihren  Weg 
nicht  zu  Ende.  Das  Handwerk,  das  ihnen  einen  nicht  einzuholenden  Vorsprung 
gab,  hinderte  ihre  Bewegung.  Die  konsequentesten  Landschafter  wie  van  Goyen 
waren  genötigt,  ihre  Symbolik  auf  eine  Spezialität  zu  beschränken  und  wurden  Rou» 
tiniers  einer  eminent  geistvollen  Technik.  Ruysdael  und  Hobbema,  zu  denen  sich 
Constable  am  meisten  hingezogen  fühlte,  vergaßen  über  der  Nachahmung  der  Na« 
tur  zuweilen  das  schöpferische  Symbol.  Sie  bedienten  sich  nicht  ausschließlich  des 
natürhchen  Mittels  des  Malers,  das  allein  die  Reinheit  der  Abstraktion  verbürgt, 
sondern  ließen  akademische  Hilfen  zu.  Die  Rücksicht  auf  eine  Einzelheit  der  äuße« 


I III  iiiniiiiiiiiiiiniiiiiiiiniiifliiiiiNini  ■MiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiNiiiiin«^^^^^^ 


CONSTABLE  187 


ren  Welt  hemmte  die  Regung.    Manche  Bäume  Ruysdaels  sind  modelliert,  bevor 
sie  gemalt  wurden  und  tragen  die  Farbe,  anstatt  von  ihr  getragen  zu  werden. 

Die  Unterdrückung  dieses  Dualismus  ist  Constables  größte  Tat.  Man  kann  zwei* 
fein,  ob  ihm  das  Ziel  vollkommen  bewußt  war,  weil  es  am  wenigsten  in  den  Wer« 
ken  hervortritt,  die  er  für  seine  liebsten  Kinder  erklärte.  Wenn  man  mit  dem  Be» 
griff  Skiize  die  Vorstellung  einer  Form  verbindet,  in  der  der  Meister  andeutet,  was 
ihm  in  einer  anderen  vollkommeneren  gelang,  müssen  die  großen  Gemälde  Con« 
Stahles,  die  für  seine  vollendeten  gelten,  Skizzen  genannt  werden,  und  die  kleinen 
Bildchen,  in  denen  er  jene  Form  erreichte,  seine  vollendeten  Werke. 

Mit  diesen  Bildern,  groß  wie  Buchdeckel,  die  man  früher  nie  Bilder  genannt 
hätte,  hat  Constable  der  holländischen  Landschaft  eine  Fortsetzung  gegeben,  die, 
soweit  die  Kunst  nicht  als  Speise  für  Liebhaber,  sondern  als  Quelle  des  Geistes 
gilt,  Überwindung  genannt  werden  darf.  Eine  Überwindung  ganz  geistiger  Art, 
denn  das  Neue  ist  ein  höherer  Ausgleich  zwischen  Erkenntnis  und  Empfindung, 
ein  höheres  Symbol.  Ruysdael,  Hobbema  und  ihre  Genossen  dachten  in  erster  Linie 
daran,  schöne  Bilder  zu  malen  und  gingen  von  einem  feststehenden  Begriff  des 
Bildhaften  aus,  den  sie  mit  Natur  und  Kunst  zu  bereichern  und  zu  variieren  such« 
ten.  Wir  sehen  in  ihrer  Landschaft  immer  zuerst  das  Bild.  Es  weist  unsere  Vor* 
Stellung  sofort  in  eine  ganz  bestimmte  Richtung:  eine  Wassermühle,  eine  Landstraße 
mit  Bäumen,  ein  Abendhimmel  usw.  Erst  nachdem  wir  diesen  Begriff  haben,  lockert 
er  sich  unter  der  Kunst  des  Meisters.  Aus  dem  Wasser  möchte  gleichzeitig  ein  Ge« 
schmeide  werden;  an  dem  Himmel  erscheinen  kostbare  Töne,  die  uns  von  Holland 
weg  nach  einem  Japan  locken,  wo  schöne  Lacke  bereitet  werden.  Während  unsere 
Blicke  die  Landstraße  zwischen  den  Bäumen  hingleiten,  stellt  sich  ganz  flüchtig  ein 
Gefühl  von  Materien  ein,  die  gar  nichts  mit  der  Landschaft  als  solcher  zu  tun  haben. 
Wir  tasten  irgendwo  in  unserem  Unterbewußtsein  Bernstein  und  Rauchtopase,  sei« 
tene  polierte  Hölzer.  Je  weiter  sich  diese  kaum  gedachten,  nur  als  Äquivalente  ge« 
spürten  Materien  von  der  Landstraße  und  der  Wassermühle  entfernen,  und  je  zahl« 
reicher  und  kostbarer  sie  sind,  um  so  wirksamer  wird  die  Landschaft.  Das  Strahlen 
des  Steins  in  unserem  Unterbewußtsein  erweitert  das  Blinken  des  sichtbaren  Wassers 
auf  dem  Bilde. 

Auch  Constable  hat  die  Art  dieser  Wirkungen,  den  materiellen  dekorativen  Reiz^ 
aber  er  erweckt  die  Illusion,  dieser  Reiz  sei  das  Primäre.  Bevor  das  Bild  erscheint, 
ist  eine  wirksame  Materie  da,  ein  Fließen,  ein  Gehämmertes,  Gespitztes,  Gewisch* 
tes  von  Farbe,  das  unserem  Auge  wie  ein  schöner  Stoff  schmeichelt.  Darunter  steckt 
nichts,  kein  Bild,  keine  Zeichnung,  kein  Detail.  Irgendwo  entsteht  aus  einem  dunkel 


aiiniiiiiiiiiniiilillliiiiiiiiiiiiiiHiiiiiniiiiiiiiiintiiiiiiiiiiiiiniiiniiiiiniiiiiiiiiiiH^^^^^ 

iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiininninmiiiiiiiiirtiiiriimiiiiNiiiiiiiiiiiiiii!imiiiHiii iiiiiiHiiuiiinuiNiMNiiiMiniiMriiiitniii>iiuHiniiuiiiiii<imiimiu''uiuni>itHimiuiitiiHiiiiiiiiHiiiihuiiniimnii»MiiiMmiinmmiiHitiiiiniiiitiiitiiiiiiitiiiiiii iiiiiiiruiiHiitiuuiiuuuiuiitMiiiiUMUHDHMM 

188  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 

iiuuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiBiiiiiiiriiiiiiiiuiiittiiiiiuiuiiiJiiiiiiJLiiiiiiiwiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimitiJiiiiiiiiiiHiitiiHBiiiiiamnBBii  timiuiuuitii  iiiruiuHiiiiiuimiiiiiiiiiriHMuimiuiuiiiititiuiuuiiiiiuiiiitiiiiiiiiiiiiiMbuiiiiuiiii 


gefurchten  Pinselstrich  die  Vorstellung  einer  Ackerscholle.  Sie  wiederholt  sich. 
Aus  einem  heller  geschwungenen  wird  ein  Wolkiges.  Weil  dieses  über  dem  anderen 
ist,  ist  es  Himmel,  das  andere  der  Erdboden,  ein  Acker.  Schneller  als  ich  dieses  hin« 
zuschreiben  vermag,  und  mit  unwiderstehlicher  Sicherheit  ergänzen  wir  das  Bild. 
Es  ist,  als  stürzten  unsere  vorher  zurückgehaltenen,  durch  die  dekorativen  Werte 
der  Farbe  gereizten  Gedanken  in  offene  Behälter,  die  für  sie  bereitstehen,  und  wir 
fühlen  das  Füllende  wie  eine  Kraft,  die  sich  noch  über  die  Form  hinaus  ausdehnen 
möchte.  Das  Werk  wird  vor  unseren  Augen,  man  könnte  fast  sagen,  in  unseren 
Augen.  Das  Meer  ist  Wasser,  bevor  es  Wellen  wird,  das  Grün  ist  Chlorophyll, 
bevor  es  Wiesen  gibt,  die  ganze  bemalte  Fläche  ist  ein  elementares  Werden  der  Na« 
tur,  bevor  wir  es  als  Bild  erkennen.  Diese  Erkenntnis  kommt  vor  dem  Werke  über« 
haupt  kaum  zu  Bewußtsein,  bleibt  im  Unterbewußtsein.  Wir  wollen  nicht  an 
Kunst  denken  und  haben  das  Dekorative,  das  vorher  unsere  Sinne  reizte,  vergessen. 
An  die  Intensität  dieser  Empfindung  reicht  kein  Hobbema,  kein  Ruysdael  heran. 
Ihre  meisterliche  Aufbietung  will  uns  von  diesem  Erlebnis  aus  wie  ein  Sekundäres, 
fast  wie  etwas  Kunstgewerbliches  erscheinen.  Ihre  Landschaft  ist  ein  winziger  Be« 
griff  neben  diesen  Werken,  ein  momentaner  Zustand,  ein  Detail.  Die  Skizze  Con« 
Stahles  ist  ein  Kosmos. 

Mit  dieser  Kunst  nähert  er  sich  größeren  Leuten,  einem  Rembrandt,  einem  Ru» 
bens.  Auch  er  gab  Selbstbildnisse  mit  seinen  Landschaften.  Diese  sind  gewiß 
nicht  so  mächtig  wie  das  Gesicht,  in  das  Rembrandt  die  Fülle  seines  Geistes  goß. 
Die  fast  schmerzhafte  Zusammenziehung  der  Kraft  auf  das  Minimum  von  Objekt, 
das  Rembrandt  in  dem  Scherben  in  seiner  Hand  erblickte,  weicht  einer  milderen 
Spannung.  Doch  bleibt  sie  dramatisch.  Die  Spannung  eines  Lyrikers  ist  eine  be« 
sondere  Gnade.    Wir  sind  dankbar,  daß  es  sich  nur  um  eine  Landschaft  handelt. 

An  Rubens  werden  wir  sogar  in  manchen  größeren  Gemälden  erinnert,  an  den 
Rubens  der  Jahreszeiten,  zumal  des  Rainbow  und  des  Chäteau  de  Steen, 
die  Constable  zu  den  verschiedenen  Fassungen  des  H  a  y  Wa  i  n  mit  dem  ausziehenden 
und  heimkehrenden  Erntewagen  anregten.  Die  Erinnerung,  die  einem  weniger 
aufrichtigen,  weniger  klaren  Bewußtsein  hätte  gefährlich  werden  können,  schmückt 
ihn.  Constable  bestand  nicht  wie  Turner  mit  seiner  Dido  darauf,  sein  Werk  neben 
das  Vorbild  zu  hängen  und  der  Nachwelt  das  widerliche  Schauspiel  eines  unlau« 
teren  Wettbewerbs  zu  geben.  Er  konkurriert  nicht  mit  der  unerreichbaren  Gefühls« 
weit  eines  Rubens.  Alles,  was  uns  in  dem  Rubens  wesentlich  erscheint,  das  rasende 
Temperament,  das  selbst  aus  einem  Erntebild  ein  Schlachtfeld  gewinnt,  wird  aus« 
geschieden,  und  ein  ganz  anderes  Gefühl,  ein  ganz  anderes  Tempo,  ebenso  gelassen 


wiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 


CONSTABLE 189 

wie  das  des  anderen  erregt,  aber  in  der  Gelassenheit  ebenso  intensiv,  tritt  an  die 
Stelle.  Es  ist,  als  kämen  wir  langsam  an  einem  Orte  vorbei,  den  wir  vorher  im 
Sturm  überflogen.  Die  Dififerenz  der  Tempi  bedrückt  uns  nicht,  weil  wir  der  ge. 
lasseneren  Gangart  neue  Anblicke  verdanken.  Ein  Motiv,  das  in  dem  Rubens  ganz 
unwesentlich  schien,  wird  zur  Hauptsache.  Es  besitzt  Schönheiten,  die  vorher  nicht 
bemerkt  werden  konnten.  Das  Zusammengeflossene  teilt  sich,  um  kömig  zu  werden. 
Was  vorher  summarischer  Ton  war  und  sein  mußte,  erscheint  jetzt  als  vibrierender 
Kontrast  und  muß  mit  gleicher  Notwendigkeit  so  erscheinen.  Wohl  trägt  zu  un» 
serer  Sicherheit  ein  Realismus  bei,  über  den  Rubens  erhaben  war.  Doch  ist  es  nicht 
er,  was  uns  in  Schwingung  versetzt.  Wenn  wir  in  der  stilleren  Idylle  trotzdem  ein 
Rubenshaftes  spüren,  ist  auch  eine  Übertreibung  daran  schuld,  nur  eine  Übertrei* 
bung  mit  anderen,  kleineren  Unitäten.  Das  Tempo  läßt  kleinere  und  zahlreichere 
Massen  ebenso  schwingen  wie  Rubens  eine  geringere  Anzahl  größerer  Einheiten. 

Zuweilen  sind  es  bei  Constable  kleinste  Massen,  die  nur  die  Bewegung  zu  Kör» 
pern  des  Ausdrucks  macht.  Inder  Skizze  Jubilee  after  Waterloo  des  Budapester 
Museums,  mit  dem  ausgestopften  Napoleon  an  dem  Galgen,  wogt  die  Menge  unter 
den  wallenden  Fahnen  wie  ein  gewaltiges  Meer,  und  die  lebhaften  Farben  toben 
wie  Jubelrufe.  In  dem  winzigen  Bilde  A  Village  Fair  des  South  Kensington, 
mit  den  Buden,  die  von  Menschen  wimmeln,  elektrisieren  Funkte  den  Betrachter. 
Mit  Punkten,  die  lebendig  werden,  hat  Constable  das  Leben  in  den  Themsedocks 
geschildert.  Nicht  viel  größer  sind  auf  manchen  Hamp$tead<Skizzen  die  Menschen. 
Drei  solcher  Punkte  in  verschiedenen  Farben  geben  eine  Gruppe,  zehn  geben  eine 
vielköpfige  Menge,  und  es  wäre  unmöglich,  das,  was  gezeigt  werden  soll,  deutlicher 
zu  zeigen. 

Dieses  Punktverfahren  hatte  schon,  als  Constable  ans  Ruder  kam,  eine  ruhmreiche 
internationale  Geschichte.  Die  Canaletti  verdankten  ihm  ihr  Rokoko.  Lange  vor 
ihnen  war  es  in  Holland  in  Gebrauch.  Dort  verschmähte  der  Größte  nicht,  das 
Ornat  seiner  Gestalten  damit  zu  schmücken.  Und  auch  er  hat  es  nicht  erfunden. 
Schließlich  läßt  es  sich  bis  in  die  ersten  Anfänge  der  Malerei,  bis  zu  den  Mosaiken 
verfolgen.  Rembrandts  Nachfolger  bildeten  das  Verfahren  aus,  und  Vermeer  schuf 
aus  blitzenden  Punkten  seinen  Kanal.  Wahrscheinlich  haben  die  Holländer,  die 
nach  Italien  gingen,  den  Venezianern  die  Technik  gebracht.  Beiotto  und  noch  mehr 
die  anderen  Nachahmer  ohne  Namen,  denen  es  weniger  auf  die  Zukunft  der  Malerei 
als  auf  die  Fastnachtslust  der  Gegenwart  ankam,  reduzierten  ihre  Bilder  auf  einen 
primitiven  Tanz  runder  Punkte.  Einer,  dem  die  Musen  alles  Liebliche  schenkten, 
brachte  höhere  Auffassung  in  das  Spiel.  Guardi  hemmte  den  allzu  leichten  Rhyth« 


niiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiininiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiniiiiiiiB 

190  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  CQURBET 


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mus  und  machte  ihn  gleichzeitig  flüssiger.  Er  wählte  die  Einheit  nach  freieren  Er* 
wägungen  des  Malers,  auf  größeren  Reichtum  und  intimeren  Zusammenhang  be» 
dacht. 

Diese  Leute  blieben  dem  Norden  nicht  fremd.  Beiotto  kam  1745  nach  München, 
dann  nach  Dresden,  und  es  wäre  nicht  zu  verwundern,  wenn  die  jungen  Land« 
schafter,  die  sich  hier  zu  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  versuchten,  zumal 
Dahl  und  Friedrich  seine  Bilder  mit  Nutzen  bemerkt  hätten.  Sein  Onkel  Canaletto 
ging  nach  London  und  ließ  dort  viele  Bilder.  Die  hübsche  Themselandschaft  eines 
unbekannten  Engländers  aus  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  die  in  der 
NationaUGallery  hängt,  ist  nicht  das  einzige  Zeugnis  seines  Einflusses.  Gainsbo* 
rough  benutzte  die  Punkte  als  Akzente  seiner  kleinen  blonden  Skizzen,  die  Con« 
stable  eifrig  studierte.  Den  englischen  Aquarellisten,  zumal  den  Girtin  und  Cozens, 
Mmrden  sie  nicht  weniger  nützlich,  und  Turner,  der  Girtin  auf  die  Leinwand  über* 
trug  und  nie  den  aquarellhaften  Ursprung  seiner  Gemälde  („large  water^colours" 
nannte  sie  Constable)  zu  verwischen  vermochte,  gaben  sie  ephemere  Hilfen.  Auch 
Constable  und  sein  jüngerer  Landsmann  Bonington  benutzten  die  englische  Aqua« 
relltradition.  Bonington  studierte  die  Venezianer  an  der  Quelle.  Cheramy  besaß 
zwei  kleine  Ansichten  Boningtons  des  Markusplatzes,  von  denen  die  eine  nahezu  die 
verkleinerte  Kopie  eines  schönen  Guardi  sein  könnte,  der  im  Besitz  der  Prinzessin 
Mathilde  war;  freilich,  eine  Kopie  ohne  Übernahme  des  Geistes  der  Vorlage.  Es 
dauerte  nicht  lange,  bis  Bonington  der  Abhängigkeit  Herr  wurde,  um  sie  mit  einer 
edleren  zu  vertauschen;  aber  bis  zu  seinem  frühen  Tode  ist  seinen  Landschaften  die 
Schule  Guardis  förderlich  gewesen. 

Dieselbe  Quelle  hat  Constable  zu  seinen  „Glittering  points"  verholfen,  von  denen 
MacCoU  spricht^).  Sie  sind  in  der  Frühzeit  oft  leichte  Dekoration  wie  bei  anderen 
Engländern.  In  dem  See  von  W Inderm e er e"),  der  noch  die  Spuren  des  Aquarells 
und  den  Einfluß  Girtins,  wenn  man  will,  auch  Turners  verrät,  dienen  die  kleinen 
Farbenpartikel  auf  den  dünnen  Tönen  der  Unterlage  mehr  zum  Schmuck  als  zum 
Ausdruck.  Bald  kommt  Leben  hinein.  Die  Punkte  werden  zu  den  blitzenden  Augen 
der  Landschaften  und  regieren  die  Töne.  Die  Skizzen  von  den  Themsedocks  und 
ähnliche  Bilder  sind  Canalettos,  die  von  der  Natur  illuminiert  werden.  Die  Punkte 
erweitern  sich,  werden  zu  modellierten,  fassettenartig  geschlifi^enen  Flecken,  verbin« 
den  sich  mit  dem  weichen  rubenshaften  Strich,  den  sie  zu  sammeln  scheinen,  und 


')  Nineteenth  Century  Art  (James  Maclehose,  Glasgow  1903). 

^)  Abgebildet  in  Meier^Graefe  et  Klossowslci :  La  Collection  Cheramy.  (R.  Piper  &  Co.,  München 
1908)  Tafel  40. 


iiiiiiiiiHiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniimiiiiiiiiiiiiiniiiiiHiiniinw 


CONSTABLE 


191 


werden  das  allen  Bedürfnissen  folgende  unerschöpfliche  Ausdrucksmittel  des 
Meisters.  Abernoch  in  dem  glorreichen  Spätwerke  OpeningofWaterloo  Bridge 
der  Sammlung  Tennant  fühlt  man  unter  den  flackernden  Säumen  von  leuchtenden 
Farben  den  Rhythmus  der  Kanalmaler  Venedigs. 

Das  Bild  erschien  1832,  in  dem  Jahre,  als  Delacroix  in  Marokko  ein  anderes 
Venedig  entdeckte.  Fünf  Jahre  darauf  ist  Constable  gestorben.  Die  letzte  Zeit  hat 
außer  derWaterloo  Bridge  wenig  Wesentliches  hervorgebracht.  Auch  Constable 
wurde  schließlich  von  dem  Los  des  Landschafters  ereilt,  zum  Sklaven  seiner  Technik 
zu  werden.  Der  Cenotaph,  von  1836,  verrät  die  Versandung.  Die  glitzernden 
Spitzen  der  Blätter,  die  früheren  Bildern  als  Schmuck  dienten,  sind  zum  Gegenstand 
der  Darstellung  geworden,  und  das  Erlebnis  ist  fortgeblieben.  Die  Biographen 
machen  die  übertriebene  Verwendung  des  Palettenmessers  für  den  Niedergang 
verantwortlich  und  nehmen  eine  Folge  als  Anlaß.  Der  Niedergang  eines  Constable 
ist  in  dem  Lande  der  Manufakt    en  weniger  verwunderlich  als  der  Aufstieg. 


iiiiiiiiiiinniiiiiiDiiiniiiiinniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiicHiiiiiiiiniiisiiniiiiiiiiiiniiiniiiiiB 


DIE  SCHULE  VON  BARBIZON 

"T^ie  Kunst  verträgt  keine  willkürliche  Beschränkung  des  Universums,  und  jede 
■*-^  Spezialisierung  des  Objekts,  das  ihr  zur  Nahrung  dient,  macht  ihre  höchsten 
Kräfte  stumpf.  Wir  fühlen  uns  schon  in  unseren  letzten  Ansprüchen  beengt,  wenn 
sich  ein  Künstler  auf  Aufarbeiten  seines  Stoffes  beschränkt,  wenn  es  ihm  nicht  gelingt, 
die  Bedingungen  seines  Metier  so  souverän  zu  erfüllen,  daß  ein  idealer  Überschuß  von 
ungeformten  Kräften  geahnt  wird,  der  sich  der  Formung  entzieht  und  die  gegebenen 
Pormen  erweitert.  Wir  wollen  Rembrandt,  Rubens,  Delacroix  so  wenig  Maler  nennen 
können,  wie  wir  einen  großen  König  mit  seinen  Errungenschaften  als  Staatsmann  zu 
erschöpfen  vermögen.  Wohl  gehört  zum  Genie  unsere  Möglichkeit,  seine  rationelle 
Wirtschaft  zu  erkennen,  sonstkönnten  wiresnichtdeuten.  Aberim  gleichen  Maße  ge* 
hört  die  Unerschöpflichkeit  seiner  Materie  dazu.  Alle  sichtbaren  Funktionen  des 
Genies  sind  rational.  Das  Zentrum,  von  dem  sie  ausgehen,  steht  so  hoch  über  ihnen, 
daß  sie  wie  subjektives  Gebaren  erscheinen.  Es  ist  irrational.  Der  Maler  braucht  alle 
Zugänge  zu  der  Natur  seiner  Kunst,  um  das  Höchste  zu  vollbringen.  Er  bedarf 
des  Bildnisses,  um  Sonnenuntergänge  und  Gewitter  zu  malen,  und  muß  Schlachten 
beherrschen,  um  Blumen  beleben  zu  können.  Er  wird  den  Prunk  der  Bacchanale 
und  die  Mystik  der  Legenden  nur  dann  gestalten,  wenn  er  das  Allerschlichteste 
schöpferisch  darzustellen  vermag. 

Die  Landschaft  der  alten  Holländer  ging  an  ihrem  Rationalismus  zugrunde.  Es 
steht  dahin,  ob  Constable  nur  Landschafter  war.  Jedenfalls  war  seine  Landschaft 
für  ihn,  den  Engländer,  keine  Spezialität,  sondern  das  Universum.  Sie  war,  so  wie 
er  sie  von  seinen  Vorgängern  erhielt,  der  Behälter  aller  halbwegs  intakten  Kräfte 
seines  Landes  und  wurde  von  ihm  zu  der  grünen  Oase  inmitten  der  Unfruchtbar» 
keit  und  Korruption  gestaltet,  zu  einem  Symbol  der  Wahrheit,  das  für  uns  noch 
heute  den  Charakter  einer  höchst  persönlichen  Demonstration  besitzt  und  den 


IIIII1MIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII 


DIESCHULE  VON  BARBIZON 193 

Landschafter  mit  dem  einzigen  Engländer  seines  Grades,  mit  Hogarth,  verbindet. 
Es  ging  Constable  wie  Hogarth,  und  es  mußte  ihm  so  ergehen.  Es  war  bei  der 
Geistesart  seiner  Landsleute  selbstverständlich,  daß  er  keine  Schule  machte,  daß 
man  nur  die  Landschaft  in  seinen  Bildern  sah,  eine  den  groben  Ansprüchen  einer 
Plutokratie  nie  genügende  Landschaft,  nicht  die  Demonstration  eines  reinlichen 
Geistes,  dessen  Anstand  das  Revolutionäre  seines  Auftretens  überbot.  England 
verpaßte  die  einzige  Gelegenheit,  eine  eigene  Kunst  zu  erhalten,  und  benutzte  den 
Anlaß  nur,  um  sich  noch  konsequenter  als  vorher  dem  eingewurzelten  Eklekti« 
zismus  hinzugeben.  Das  Kunstgewerbe  der  Präraffaeliten  vertrieb  die  letzten  Reste 
eingeborener  Kunst.  Zu  der  Tragikomödie  dieser  Entwicklungsgeschichte  gehört 
der  Abschluß  durch  Whistler,  der  aus  Turner,  Constable,  Courbet,  Japan,  Cana' 
letto  und  seiner  amerikanischen  Unverfrorenheit  einen  Universalismus  konfektio« 
nierte,  der  noch  heute  alle  Bedürfnisse  Englands  erfüllt. 

Was  die  Heimat  Constables  versäumte,  übernahm  mit  seltener  Einmütigkeit  der 
Kontinent.  Wir  haben  eine  Folge  des  Hay  Wain,  den  Einfluß  auf  Delacroix,  vor» 
weggenommen,  um  die  Bedeutung  der  englischen  Hilfe  für  den  Meister  des 
Massacre  nicht  ungebührlich  zu  übertreiben.  In  dem  weitverzweigten  Komplex 
künstlerischer  Werte,  aus  dem  Delacroix  hervorging,  spielt  Constable  nur  eine 
Nebenrolle.  Sein  Beitrag  ist  die  erste  Etappe  einer  Physiologie,  die  erst  in  Marokko 
ihren  entscheidenden  Aufstieg  gewann  und  deren  weiterer  Verlauf  selbst  diese 
Station  weit  hinter  sich  zurücklassen  sollte.  Und  die  ganze  Physiologie  Delacroix' 
ist  nur  ein  Teil  einer  Gleichung.  Trotz  alledem  war  seine  Übernahme  der  Farben» 
teilung  Constables  die  wichtigste  Folge  des  Engländers.  Gerade  diese  Verallgemei« 
nerung  durch  die  zahllosen  Möglichkeiten  eines  universellen  Genies  erschloß  dem 
Gesetz  den  weitesten  Nutzen.  Aus  einer  Atelierregel  wurde  das  Zeichen  einer 
Weltanschauung,  eins  der  siegreichsten  Zeichen  für  die  Überwindung  der  Revo« 
lution,  die  die  Regeln  zerstört  hatte.  Durch  Delacroix  hängt  Constable  mit  allen 
großen  Meistern  unserer  Zeit  zusammen.  Er  verdient  mit  mindestens  demselben 
Recht  wie  die  David,  Goya  und  Ingres,  zu  den  Vätern  unserer  Kunst  gerechnet  zu 
werden. 

Constables  greifbarsten  Nutzen  trugen  die  Fontainebleauer  von  1830  davon, 
Leute,  die  auf  seinem  Felde  blieben,  Landschafter,  die  vieles  mit  ihm  gemein  hatten, 
vielleicht  zuviel,  um  vor  der  sondernden  Geschichte,  die  die  Welt  der  Künstler  in 
Musikanten  und  Komponisten  einteilt,  auf  der  besseren  Seite  zu  bleiben.  Es  ist 
ihnen  nicht  gut  gegangen.  Die  meisten  hungerten,  so  lange  sie  lebten,  hungerten 
zumal  in  ihrer  besten  Zeit,  kamen  allenfalls  als  alte  Leute  zu  einer  Anerkennung, 

13 


nnnnitiiiiiiiininmiiiiiiMiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiininiiiiminiiniiniiiiniiiiiiin^ 


194  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 

die  wenig  mehr  als  Duldung  war.  Nach  ihrem  Tode  wurden  sie  wie  Helden  ge< 
feiert.  Constable,  dem  es  leidlich  ging,  ist  nie  wie  Rousseau  und  Millet  und  Dupre 
und  Troyon  vor  dreißig  Jahren  gepriesen  worden.  Heute  wendet  sich  wieder  das 
Blatt,  und  es  sieht  fast  so  aus,  als  ob  der  Nachruhm,  das  einzige,  was  sie  errangen, 
ihnen  auf  die  Dauer  verwehrt  wäre.  Die  Preise  halten  noch.  Die  Schule  steht  auf 
dem  Markt  noch  immer  an  der  besten  Stelle.  Aber  unsere  Augen  halten  nicht  mehr. 
Sie  gleiten,  ohne  haften  zu  bleiben.  Wir  vermissen  das  Zucken  des  Bewußtseins, 
jenes  Anspannende  der  Vorfreude,  das  der  Rhythmus  gibt,  bevor  das  Bild  erkannt 
wird.   Wir  sehen  Landschaften,  es  bleiben  Landschaften. 

Es  waren  im  besten  Teile  ihres  Wesens  Nazarener  wie  die  Runge  und  Friedrich, 
fromme  Menschen,  auch  wenn  ihnen  das  Religiöse  nicht  auf  den  Lippen  saß.  Sie 
gingen  als  Ansiedler  ans  Werk,  gruben  und  rodeten,  der  Pinsel  war  ihr  Spaten. 
Alle  sahen  wie  Handwerksleute  aus,  hatten  breite  Gesichter  mit  Barten.  Rousseau 
und  Troyon  hätten  Zimmerleute  oder  dergleichen  sein  können.  Das  mächtige 
Antlitz  Rousseaus  verriet  nichts  von  dem  Grübler,  der  an  Gedanken  zugrunde  ging. 
Diaz  mit  seinem  Holzbein  hatte  etwas  von  einem  Kriegsveteranen,  Millet  einen 
Christuskopf.  Dupre  hätte  der  Prediger  der  Gemeinde  sein  können.  Nur  Dau» 
bignys  schmales  Gesicht  hatte  unverkennbare  Artistenzüge.  Er  gehört  schon  nicht 
mehr  zu  dem  eigentlichen  Stamm  von  Barbizon. 

Sie  waren  Nazarener,  weil  sie  einfältig  und  gläubig  waren  und  Paris  für  das  Aus» 
land  ansahen.  Die  komplizierte  Stadt,  die  komplizierte  Kultur,  dieses  ganze  weit« 
verzweigte  Getriebe  erschreckte  sie,  obwohl  die  meisten  dort  geboren  waren.  Ihr 
Glaube  an  die  Natur  war  nazarenisch.  Man  sah  sie  in  Paris  wie  fremde  Neulinge 
an.  Nicht  so  sehr  ihr  künstlerisches  Bekenntnis  als  das  soziale,  der  Mangel  an  Be» 
Ziehungen  zu  allem,  was  in  Paris  für  Künstlertum  galt,  der  Verzicht  auf  die  Lieb« 
haberwaare  des  Dix«Huitieme,  auf  die  Phrase  des  Klassizismus  und  das  Pathos 
der  Delacroix  und  Gericault,  raubte  ihnen  den  Boden.  Man  warf  ihnen  das  vor, 
was  wir  ihnen  heute  vorwerfen:  nur  Landschafter  zu  sein.  Die  Zeit  war  zu  unruhig 
für  so  gelassenes  Gebaren.  Paris  war  nicht  Holland.  Es  half  ihnen  nichts,  daß 
Delacroix  sich  zu  ihnen  stellte  und  daß  sie  in  Delacroix  einen  Verwandten  zu  er« 
kennen  glaubten.  Sie  wollten  vielleicht  so  etwas  wie  der  Kreis  der  Landschafter 
des  17.  Jahrhunderts  um  Rembrandt  werden.  (Aber  es  fehlte  der  Kreis  um'  den 
Kreis  und  die  über  den  Respekt  hinausgehende  Verbindung  zwischen  diesem  Rem« 
brandt  und  diesen  Ruysdael  und  Hobbema. 

Frankreich  war  zu  stolz,  zu  reich  für  diese  Einfalt,  der  die  Kanäle  für  unentbehr« 
liehe  Rassengelüste  fehlten.   Oder,  so  will  es  uns  zuweilen  heute  erscheinen:  Die 


DIE  SCHULE  VON  BARBIZON  "  195 


Nazarener  waren  nicht  einfältig  genug.  Sie  hingen  eben  doch  an  Paris,  an  seinen 
Salons  und  seinen  Medaillen.  Rousseau  wurde  schwermütig,  als  das  Kreuz  der 
Ehrenlegion  um  ein  Jahr  zu  spät  kam,  und  die  Freundschaft  mit  Dupri  bekam  einen 
Riß,  weil  dieser  einen  Augenblick  vorgezogen  wurde.  Sie  malten  in  Fontainebleau, 
aber  hatten  in  Paris  ihre  Absteigequartiere.  Das  ganze  Nazarenertum  dieser  Gene* 
ration  war  eine  Sommerfrische.  Sie  waren  keine  Landleute  wie  Constable.  Nur 
ihr  Äußeres  hatte  das  Robuste  von  Leuten,  die  im  Freien  leben.  Ihr  Handwerk 
war  ein  nichts  weniger  als  einfältiges  Virtuosentum.  Rousseau,  ihr  Größter,  kommt 
selten  über  Constable  hinaus.  Merkwürdig,  wie  wenig  die  sehr  nahe  Beziehung 
bemerkt  wurde.  Sensier  verschweigt  sie  geradezu*).  Die  Scheu  vor  dem  Kunstge« 
lehrtentum  Thores,  der  als  Analytiker  aus  der  Verbannung  zurückkehrte,  mag  schuld 
daran  sein.  Man  fand  es  pietätlos  und  indiskret,  sich  um  die  Genesis  der  Leute 
für  die  man  schwärmte,  zu  bekümmern. 

Die  Ausstellung  der  Engländer  im  Louvre,  die  Delacroix  zum  Erlebnis  wurde, 
kam  für  die  Schule  von  Barbizon  zu  früh.  Rousseau  war  damals  noch  ein  Knabe. 
Er  sah  Constable  1832,  als  er  zwanzig  Jahre  zählte.  Bis  dahin  waren  ihm  Hobbema 
und  andere  Holländer  Lehrmeister  gewesen,  und  Claude,  der  auch  diesem  Sehn» 
süchtigen  die  Liebe  zum  Lande  erweiterte.  1833  entsteht  unter  anderem  die  Land 
Schaft,  die  heute  die  Akademie  von  Petersburg  besitzt,  ein  unverkennbarer  Nieder» 
schlag  des  Hay  Wain.  Die  Komposition  und  der  kurzgefaßte  kömige  Auftrag, 
selbst  die  Palette,  das  Eingesetzte  lebhafter  Farbenpunkte  in  dunkle  Fassungen,  sind 
typische  Mittel  Constables.  Auch  die  schöne  Landschaft,  die  früher  als  Leihgabe 
im  Stedelijkmuseum  von  Amsterdam  hing  und  die  Tschudi  für  die  Nationalgalerie 
zu  erwerben  suchte,  geht  ohne  viele  Umwege  auf  Constable  zurück.  Auch  später 
ist  Rousseau  immer  da  am  glücklichsten,  wo  er  sich  in  der  Nähe  Constables  hält. 
Die  Näht  ist  geistiger  Art,  die  Abhängigkeit  bedrückt  nicht.  Die  Frische  der  Farben 
in  den  kleinen  Bildern,  die  straffe  Energie  der  Empfindung,  die  das  Kleine  vergrößert, 
würden  wirksam  bleiben,  auch  wenn  man  die  Bilder  des  Vorgängers  daneben  hinge. 
Der  Nachfolger  wendet  dasselbe  Gesetz  auf  eine  ähnliche  Welt  an.  Das  ergibt 
ähnliche  Resultate,  aber  man  fühlt  die  selbständige  Empfindung  des  Gestalters. 
Die  größeren  Formate  Rousseaus  versagen  wie  die  großen  Gemälde  des  Vor« 
gängers,  aber  aus  anderen  Gründen.  Der  Nerv,  dei:  die  kleinen  Bilder  mit  sauberer 
Straffheit  zusammenhält,  scheint  nicht  auszureichen.  Die  Massen  fallen  auseinander 
oder  werden  mit  Hilfsmitteln  gebunden,  die  sich  als  fiktiv  erweisen,  mit  einer  Atmo« 


*)  Souvenirs  sur  Th.  Rousseau  (L.  Techener  &  Durand  Ruel,  Paris  1872). 

13« 


«iiiiiBiimiiiiiiiiiffinwiMiimiiiiiiwMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiitm 


196  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


IIMIIII»IINUIl1lliriIIMIIUIIMI>llllllllltlNnillNII]tUIUIIIUIWIIUtJIIUIUUIWUIUMlUIIIUIIIMIIUIIUMMIlllUILIU<IUUtIIUIIJUIIIJ[llIII]IIUIIIllllUlllIllllllllJlllIUIIIIIILitll[IIIIIIIlll>III 


Sphäre,  die  das  Farbige  gesondert  behauptet  und  daher  theatralisch  wirkt,  wie  z.  B. 
in  der  Sortie  de  Foret  ä  Fontainebleau  des  Louvre.  Rousseau  war  nichts 
weniger  als  der  starkknochige  Riese,  den  seine  Freunde  in  ihm  sahen  und  den  Corot 
mit  dem  bekannten  Vergleich  seiner  eigenen  Kunst  mit  der  des  Freundes  —  eine 
Lerche  neben  einem  Adler  —  erkannte,  sondern  eine  zarte,  überzarte  Sensibilität, 
die  zur  Dekadenz  neigte.  Er  war  ein  sehr  reinlicher  Mensch,  der  nie  daran 
dachte,  die  hohe  Muse  zu  niedrigen  Zwecken  zu  mißbrauchen,  kein  dumpfer  Ab» 
maier  wie  Troyon,  kein  Virtuose  wie  Dupre,  ein  Künstler,  immer  darauf  bedacht, 
Symbole  zu  geben.  Er  hatte  die  rechte  Vorstellung  von  der  notwendigen  Art  der 
Symbole,  erfand  farbige  Äquivalente,  nicht  nur  den  bekannten  großen  Baum,  unter 
dem  sich  die  Kunstgeschichte  seine  spröde  Eigenart  vorstellt,  sondern  den  Rhyth« 
mus,  der  ihn  und  anderes  wachsen  und  sich  regen  läßt.  Er  war  ein  Sucher, 
dies  ist  das  Beste,  das  man  von  ihm  sagen  kann,  und  es  enthält  seine  Tragik. 
Der  Sucher  kam  nie  zur  Ruhe.  Er  fand  mancherlei  Dinge  wertvoller  Art,  für 
die  in  dem  kleinen  Kreis  seiner  Möglichkeiten  der  Platz  fehlte.  Er  war  ein 
Kleinmeister  mit  dem  Herzen  eines  Großen.  Die  Unruhe,  die  in  seinem  Kopfe 
steckte,  führte  zu  keiner  starken  Bewegung.  Immer  empfinden  wir,  daß  er  empfand. 
Wir  empfinden  es  in  jedem  Blatt,  in  jedem  Farbenteilchen.  Manche  seiner  kleinen 
Bilder  mit  den  großen  Bäumen  erscheinen  wie  eine  gewaltsame  Verkleinerung 
großer  Dinge.  Wir  möchten  die  Verkleinerung  aufheben.  Sie  treibt  uns  auf  die 
Suche  nach  einem  größeren  Rousseau.  Der  Teil  des  Oeuvre,  den  wir  suchen,  blieb 
in  seinem  Geiste.  Er  mag  dort  Formen  geschaffen  haben,  die  weit  über  Constable, 
sogar  über  Claude  hinausgingen.  Man  ahnt  in  Rousseau  einen  gewaltigen  Schöpfer. 
Fem  von  den  Bildern  gestaltet  sich  die  Ahnung  zu  einer  Vorstellung,  und  man 
ist  immer  wieder  enttäuscht,  wenn  man  zu  den  wirklichen  Resultaten  zurückkehrt. 
Rousseau  gehört  zu  den  Entdeckern  Japans  und  war  vielleicht  der  erste  Europäer, 
der  die  entscheidenden  Formprinzipien  der  Japaner  auf  unsere  Malerei  zu  über» 
tragen  suchte.  Oft  stehen  die  blätterreichen  Baumgruppen  in  schwarzen  Silhouetten 
vor  dem  farbigen  Himmel  wie  auf  japanischen  Gravüren.  In  anderen  Bildern  scheint 
sich  die  gewohnte  Präzision  und  Gedrungenheit  der  Form  in  das  Gegenteil  umzu* 
kehren.  Lange  vor  Claude  Monet  gab  sich  Rousseau  einer  hellfarbigen  Darstellung 
atmosphärischer  Dinge  hin.  Die  Dokumente  dieses  Rousseau  sind  selten,  zumal 
die  überzeugenden,  die  nicht  nur  Erkenntnisse  von  Naturphänomenen  darstellen, 
sondern  von  Rousseaus  reicher  Empfindungswelt  berichten.  Viele  hat  er  zerstört 
xmd  sie  sind  nur  als  Ruinen  zu  uns  gekommen.  Manche  mögen  die  ersten  hellen 
SchicKten  dunkler  Bilder  sein,  die  der  Unzufriedene  immer  wieder  übermalte.  Die 


niiiiiiiiniiiiiiiiiniiiiHiiiiHiiiaiit 


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DIE  SCHULE  VON  BARBIZON 197 

Vorstellung  des  Tragischen,  die  man  mit  Unrecht  mit  unserem  Hans  von  Maries 
zu  verbinden  pflegt,  trifft  bis  zum  gewissen  Grade  auf  Rousseau  zu.  Er  hat  sehr 
viele  seiner  Bilder  immer  wieder  vorgenommen,  ohne  zu  einer  fortschreitenden  Ent* 
Wicklung  zu  gelangen.  Das  letzte  Ziel,  das  er  —  oft  notgedrungen,  weil  es  ihm  die 
Freunde  wegnahmen  —  stehen  ließ,  war  nicht  immer  das  beste.  Schon  früh,  in  den 
dreißiger  Jahren,  als  seine  damals  refusierten  Hauptwerke,  die  Descente  des 
Vaches  und  die  Allee  des  Chätaigniers,  entstanden,  übermalte  er  mehr,  als 
es  der  für  leichte  Dinge  bestimmten  Leinwand  gut  war.  Die  Allee  des  Chi* 
taigniers,  heute  im  Louvre,  mag  viele  leuchtende  Stadien  durchgemacht  haben, 
bevor  sie  das  gegenwärtige  Antlitz,  mehr  eine  ehrwürdige  Maske  als  ein  Gesicht, 
gewann.  Man  könnte  glauben,  Rousseau  habe  einem  Monumentalen,  für  das  ihm 
die  Substanz  fehlte,  die  Möglichkeiten  geopfert,  die  ihm  offen  standen.  Der  starken 
Männlichkeit  genügte  nicht  die  Landschaft,  an  die  er  gebunden  war,  und  es  entging 
ihm  die  Aussicht  auf  die  reichen  Pläne  Claudes,  die  jenen  großen  Stil,  das  Zie 
seiner  Sehnsucht,  wie  eine  Natur  enthalten. 

Von  den  anderen  französischen  Landschaftern  hat  eigentlich  nur  Daubigny  einen 
Beitrag  zu  der  von  Constable  begonnenen  Eroberung  zugesteuert.  Manche  seiner 
Bilder  erscheinen  wie  vergrößerte  Skizzen  Constables.  Er  vergrößerte  nicht  alles, 
was  in  dem  Engländer  steckte.  Die  Routine  lief  wie  ein  Regulator  mit  und  hemmte 
das  Spontane.  Dupre,  dessen  Silhouette  sich  heute  immer  mehr  verflüchtigt,  der 
plumpe  Troyon,  ein  Potter  ohne  Mark,  der  zähe  Decamps,  ein  Nicolas  Maes  der 
Landschaft,  blieben  Constable  im  wesentlichen  fem,  und  wir  empfinden  diese  Un* 
abhängigkeit  wie  einen  Mangel.  Es  ist,  als  habe  Constable  den  Weg  gewiesen,  auf 
dem  allein  die  schmale  und  schwankende,  auf  sich  selbst  gestellte  Landschaft  weiter* 
zugehen  vermochte. 

Millet  und  Diaz  versuchten  sie  zu  bevölkern;  Diaz  mit  einem  Kompromiß,  der 
halb  auf  Delacroix,  halb  auf  eine  Delacroix  fremde  Derbheit  gestellt  war.  Es  geht 
uns  mit  seinen  Bildern  wie  mit  Monticelli.  Wir  vermögen  nicht  leicht  die  echten 
von  den  falschen  zu  unterscheiden.  Auch  die  ganz  sicheren  Originale  haben  etwas 
nicht  Authentisches,  das  uns  unsicher  macht.  Und  ein  ähnlicher  Kompromiß,  edler, 
weil  er  ganz  unbewußt  blieb,  beginnt  langsam  die  Gloriole  um  Millet  zu  verdunkeln. 
Ein  Bauer  in  Holzpantinen  mit  einem  weichen,  nur  zu  weichem  Herzen,  zu  fem 
von  dem  alten  Breughel,  der  den  Bauem  zum  Helden  machte,  erfindet  Dinge,  die 
den  Städter  rühren;  rührende  Umschreibungen  eines  treuherzigen  Gemütes,  zu 
weich  im  Symbol,  in  der  Form,  die  das  Bild  verewigt,  zu  hingegeben  dem  StoflF, 
um  den  Geist  zu  dem  Unerschütterlichen  verdichten  zu  können,  das  allein  uns  und 


iiiiinniiiniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii:i!ii!iiniiiniiiiiiiiiiBiiiniiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiB^ 

198  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


ihn  gegen  das  sachliche  Verlangen  der  Motive  sichert.  Er  war  wirklich  Bauer.  Von 
allen  den  Malern,  die  sich  in  den  Wald  von  Barbizon  zurückzogen,  war  er  der  ein« 
zige,  der  dort  mit  seinen  Aspirationen  zu  Hause  war.  Und  gerade  das  lockte  ihn 
auf  Abwege.  Jeder  Bauer,  dem  nicht  eine  Intuition,  die  nicht  aus  seinem  Kreise 
stammen  kann,  gegeben  ist,  wird  an  den  Klippen  MiUets  scheitern.  Der  Mensch 
wird  eine  besondere  Welt  nur  dann  zu  objektivieren  vermögen,  wenn  er  draußen 
steht.  Vielleicht  muß  er  einmal  darin  gewesen  sein,  jedenfalls  sie  in  Wirklichkeit 
oder  im  Traum  erlebt  haben.  Die  Ablösung  des  Erlebnisses  wird  füglich  nur  er» 
folgen  können,  wenn  er  darauf  von  oben,  von  außen  oder  zurück  zu  bücken  vermag. 
Millet  blieb  in  seinen  Menschen.  Er  betete  mit,  wenn  der  Angelus  ertönte, 
anstatt  das  Beten  uns  zu  überlassen,  uns  Ungläubigen,  die  nur  ein  Priester,  der 
sich  als  Mensch  verstellt,  zu  wortlosen  Gebeten  bringt.  Er  blieb  seiner  B erger e, 
seiner  Fileuse  zu  nahe,  um  uns  das  zu  erweisen,  was  solche  Gestalten  verewigen 
könnte.  Er  machte  sie  zu  hübsch  in  ihrer  Robustheit,  malte  zuviel  daran  herum, 
machte  ihre  Armut  und  Einfalt  zu  kostbar,  um  uns  zu  erlauben,  sie  mit  unserer 
Empfindung  aus  dem  unscheinbaren  Kreis  ihrer  Dürftigkeit  herauszuholen  und  zu 
den  Königen  und  Helden  unserer  Vorstellungen  zu  gesellen.  Schon  er  nahm  sie 
heraus,  indem  er  sagte:  Seht,  wie  sie  arm  und  fleißig  und  treuherzig  und  einfältig 
sindl  und  suchte  sie  uns  ans  Herz  zu  legen,  an  unser  gefühlloses  Herz,  das  nur  zu» 
gänglich  wird,  wenn  sich  ein  anderes  als  Stein  verstellt.  Er  hatte  wohl  die  Anfänge 
einer  Form.  Nicht  alle  Bilder  sind  so  endgültig  verfehlt  wie  der  Printemps  des 
Louvre  mit  der  Theaterbeleuchtung,  mit  den  allzu  magischen  Farben  und  den 
Blümchen  und  Vögelchen  aus  dem  Stammbuch.  Seine  Menschen  haben  Umrisse. 
Sie  kommen  besser  in  der  Zeichnung  zur  Geltung,  am  besten  in  den  Holzschnitt 
ten,  die  der  Bruder  ausführte,  und  in  den  eigenen  Radierungen.  Da  wird  die  Emp« 
findung  zu  Zeichen,  die  in  uns  die  Empfindung  entzünden.  Man  möchte  mit 
Hundertfachem  ergänzen,  was  ungesagt  blieb,  sucht  in  dem  CEuvre  nach  ahn» 
liehen  Zeichen,  und  steht  dann  immer  wieder  vor  Bildern,  die  nur  Bilder  sind  und 
selbst  das  wenige,  das  Millet  gelang,  zu  sich  herabziehen.  Die  Gemälde  beschrän» 
ken  sich  darauf,  mit  unerträglicher  Breite  etwas  zu  wiederholen,  das  nur  in  der 
knappsten  Form  gesagt  werden  darf  und  nicht  gesagt  ist.  Vielleicht  wurde  es  sogar 
wirklich  gesagt,  aber  verschwand  unter  vielem  Gerede.  Diese  Möglichkeit  hält  uns 
noch  zurück,  Millet  zu  den  Troyon  und  Decamps  und  anderen  Virtuosen  zu  rechnen. 
Das  Menschliche  seiner  Absicht  bildet  ein  letztes  Band.  Man  glaubt,  das  Unvoll» 
kommene  des  Künstlers  abziehen  zu  können  und  dann  sein  Menschentum  in  reiner 
Form  zu  behalten.  AberauchdiesesletzteBandistzu  dünn,  um  künftige  Generationen 


MiwiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiMiiiiiinii 


DIESCHULE  VON  BARBIZON 199 

zu  fesseln.  Wohl  kann  man  sich  aus  Millet  eine  Form  konstruieren  —  van  Gogh 
hat  es  mit  Erfolg  versucht  — ,  indem  man  alle  Flauheit  des  Gemalten,  alle  hinzu» 
gedichtete  Sentimentalität  abstreift.  Man  findet  dann  zunächst  den  Umriß,  den 
jeder  Betrachter  an  einer  Wäscherin,  oder  einem  Vanneur,  an  einer  Brüleuse 
d' herb  es,  an  allen  solchen,  einzeln  gesehenen,  Gestalten  entdecken  würde.  Der 
Rest,  das,  was  über  diese  Erfahrung  jedermanns  hinausgeht,  das  Zusammenfassende, 
das  versteckt  Antike,  das  in  den  besten  Bildern  der  Sammlung  ThomyThiery  den 
Blick  gebannt  hält,  der  vorübereilen  möchte,  ist  nicht  Millet,  sondern  Daumier. 
Zwischen  einer  Blanchisseuse  Millets  und  einer  Blanchisseuse  Daumiers  sind 
die  Beziehungen  zu  nahe,  um  dem  Kritiker  zu  erlauben,  darüber  hinwegzugehen,  und 
die  Differenz  innerhalb  der  Gemeinsamkeit  ist  zu  entschieden  zugunsten  Daumiers, 
als  daß  man  nicht  in  ihm  den  Schöpfer  erkennen  müßte,  selbst  wenn  der  Nachweis 
erbracht  werden  könnte,  Millet  sei  persönlich  von  Daumier  unberührt  geblieben. 
Was  Millet  wollte,  erscheint  wie  ein  geringerTeilder  Absichten,  die  Daumier  glän* 
zend  erfüllt  hat.  Unsere  Sehnsucht  nach  dieser  Erfüllung  eilt  schneller  als  unser 
Drang,  Gerechtigkeit  zu  üben,  und  sie  hat  längst  entschieden,  bevor  wir  uns  die 
Frage  vorlegen,  ob  Millet  wert  war,  aus  einem  Irrtum  unserer  Erkenntnis  Vorteile 
zu  gewinnen.  Es  war  sicher  ein  verzeihlicheres  Versehen,  Millet  für  Daumier  zu 
nehmen,  als  Velasquez  mit  Greco,  Marees  mit  Böcklin  zu  verwechseln.  Es  war 
ebenso  unvorteilhaft  für  unsere  Freude  am  Schönen;  das  ist  das  Entscheidende. 
Was  Millet  fehlt,  ist  das  Plastische  Daumiers  und  die  Karikatur,  das  aller  Sentimen» 
talität  entrückte  Dramatische,  das  Menschliche,  das  zu  groß  und  reich  ist,  um  sich  auf 
Deutungen  seiner  selbst  einlassen  zu  können.  Es  ist  das  Delacroixhafte  in  Daumief. 
Millet  war  ein  Spezialist  des  guten  Herzens.  Für  die  Wertung  des  Künstlers  ist 
das  Spezialistentum  als  solches  wesentlicher  als  die  Bedeutung  der  Gattung,  auf  die 
es  sich  beschränkt.  Millets  Psyche  fehlten  die  Differenzen,  die  starke  Lichter  und 
Schatten  geben,  bevor  sie  etwas  von  der  Art  des  Gemüts  verraten;  die  Leidenschaft, 
die  sich  in  Bewegung  äußert,  bevor  sie  als  Laster  oder  Tugend  erkannt  wird.  Der 
Künstler  war  in  ihm  eine  Zutat  zu  publizistischen  Zwecken.  Er  malte  mit  ihm.  Wie 
ein  Blitz  zuckt  der  Umriß,  den  Daumier  erfand,  in  das  Bild.  Wir  haben  nie  vorher  ge» 
wüßt,  daß  uns  Rücken  und  Arme,  Wäschestücke  und  der  Hintergrund  von  Häusern 
so  erschüttern  können.  Wir  wissen  es  seitdem  wie  eine  unumstößliche  Tatsache.  Wie 
ein  Leuchten  bewegter  Dinge  sind  seine  Farben.  Sie  werden  schön,  nicht  weil  sie  nach 
den  Regeln  des  Koloristen  gewählt  sind,  sondern  weil  sie  wie  das  Wort  b'ei  Shakespeare 
haarscharf  die  Handlung  decken.  Bei  Millet  sind  sie  ein  wolliges  Bekleidungs« 
mittel.   Und  so  ist  der  Geist  bei  Millet  eine  Zutat,  bei  Daumier  Ursprung  und  Ende. 


iiiiiiiliiiiiiiiniiiniiiiiiiiiiwiiiiiiaiiiiiiiiiiiiiiinniiiiniiiiiniiiniiiiiiBniiiiiiiniiiiniinniiiiniiniiiniiiiu^ 


200  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


Er,  seine  Größe,  seine  Reinheit,  seine  Unnahbarkeit,  bringt  in  den  Bildern  Daumiers 
das  Freskenhafte  hervor,  das  Symbol,  das  dem  Schicksal  einer  Wäscherin,  die  mit 
ihrem  Kinde  die  Treppe  von  dem  Seinequai  heraufkommt,  die  Gültigkeit  einer  an* 
tiken  Göttin  verleiht. 

Als  man  1855  Rousseau  zu  seinem  Erfolg  auf  der  Weltausstellung  beglückwünschte, 
sagte  det  Mißtrauische  zu  den  Gratulanten:  „Prenons  garde,  messieursi  nous  ne 
sommes  peut»etre  plus  que  des  ganaches  romantiques,  classiques  ä  notre  fagon." 
Das  paßt  am  wenigsten  auf  Rousseau  selbst,  aber  es  trifft  nahezu  vollständig  auf  alle 
seine  engeren  Genossen  zu. 

Auch  Millet  ist  ein  Kleinmeister,  und  zwar  in  einem  weniger  zureichenden  Maße 
als  Rousseau.  Es  fehlt  ihm  der  vergrößernde  Rhythmus,  der  in  den  kleinen  Bildern 
Rousseaus  steckt.  Nur  unsere  Sentimentalität  möchte  ihn  vergrößern.  Man  hat  ihn 
einen  Märtyrer  genannt.  Er  war  es,  war  es  weniger  als  Rousseau,  dessen  Leben 
mit  der  verrückten  Frau  zuweilen  einer  Hölle  glich,  aber  genug,  um  uns  tiefen  Re» 
spekt  vor  dem  Menschen  einzuflößen.  Doch  erscheint  uns  selbst  seine  Not  wie 
eine  unproduktive  Zutat.  Wie  schöpferisch  war  das  Darben  eines  Daumierl  Wir 
klagen  nicht  mit  ihm.  Eher  möchten  wir  das  Elend,  das  er  leuchtend  machte,  segnen. 
Millet  gewann  nichts  aus  dem  seinen,  außer  unserem  Mitleid.  Die  phantastische 
Reaktion,  die  nach  seinem  Tode  einsetzte  und  ihn  zu  einem  Heiland  der  Kunst 
machte,  hat  dem  Fortschritt,  zumal  außerhalb  Frankreichs,  schwer  geschadet.  Nicht 
das,  was  von  einem  anderen  in  ihm  wirkte,  machte  Schule,  sondern  seine  Sentimen« 
talität,  während  einer  der  größten  Meister  unserer  Zeit  im  Nebel  blieb. 


COROT 

Die  Lerche,  die  sich  klein  dünkte  neben  dem  Adler  Rousseau,  stieg  höher.  Sie 
schwirrte  über  Constables  Äcker  und  Gehöfte  hinweg  und  nahm  kreisend 
das  alte  Holland.  Von  einem  verborgenen  Schlupfwinkel  in  dem  Baumdickicht 
traf  ihr  Gruß  Delacrorx.  Sie  flog  über  Claudes  Gelände,  und  es  war,  als  ob  ihr 
Gesang  Dingen,  die  längst  verstummt  schienen,  neues  Echo  entlockte.  Sie  nistete 
in  Italien,  in  dem  Lande  antiker  Schönheit,  und  gehört  so  eng  zu  Frankreich,  wie 
die  Märchen  vor  tausend  Jahren  zu  uns.  Man  würde  von  Frankreich  nicht  das 
Heimlichste  und  Lieblichste  kennen,  wenn  Corot  nicht  wäre. 

Vogelgleich  war  seine  Gesinnung.  Nichts  Schweres,  keine  erschütternden  Erleb» 
nisse,  keine  tiefe  Symbolik  belasteten  sie.  Auch  keine  allzu  schwere  Verantwor* 
tung.  Als  die  Sammlung  Chauchard  in  den  Louvre  einzog,  merkte  jeder,  der  es 
noch  nicht  wußte,  daß  auch  Corot  viel  überflüssige  Dinge  gemalt  hat.  Chauchard 
hatte  ein  Talent,  von  allen  Leuten  das  Banalste  zu  wählen.  Aber  es  gibt  Künstler, 
bei  denen  es  dergleichen  nicht  gibt.  Delacroix  erscheint  auch  in  dieser  Sammlung 
wie  ein  Fürst  unter  Söldnern,  obwohl  er  außer  einer  Nichtigkeit  nur  ein  einziges 
Bild  dort  besitzt.  Wir  sind  gewohnt,  ihn  so  zu  sehen.  Und  wir  sind  ebenso  ge« 
wohnt,  Corot  nicht  hervortreten  zu  sehen.  Es  ist  seine  Art,  leise  zu  sein,  mit  allem 
zu  stimmen,  selbst  mit  dem  banalen  Alltag  jener  Sammlung.  Und  seltsamerweise 
rechnen  wir  ihm  die  paar  Tage  Flauheit  —  es  sind  Minuten  in  dem  übervollen  Da* 
sein  —  nicht  an.  Wir  sagen  uns,  er  hätte  nicht  so  weich  sein  können,  wenn  ihm 
nicht  hier  und  da  sein  Wesen  einen  Streich  gespielt  hätte,  nehmen  das,  was  bei  an» 
deren  Abtrünnigkeit  oder  gar  Feilheit  wäre,  für  ein  lässiges  Nachgeben  ohne  Be» 
lang,  für  eine  Art  Gutmütigkeit  den  Forderungen  der  trüben  Mitwelt  gegenüber, 
der  er  selbst  in  seinem  Widerstand  keine  Schroffheit  zu  zeigen  liebte. 

Zuweilen  scheint  der  Vergleich  mit  der  Lerche  noch  zu  grob.   Man  möchte  den 


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null  II1II1IIIIII1III1I  IUI 1 iiLjiii.  iiiitiiiiiii<iili'iniiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiTiiiiiiiiii4iiiiuiiiiiiiiiiiH<iiMiiiiiiiiiiiiliiiiiiiiiiiiMiiniii<iii>ii<iiiiiii>ii<iii»iiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiii iiiiiiiiiiiiiioiiii'iiiiiiiiiutiiiiiiiiiliiiilHHluliiltiuliluiMllluilii 


202  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


hurtigen  Aufspürer  zartester  Reize,  der  berührend  gestaltete,  was  andere  im  Schweiß 
ihres  Antlitzes  nicht  erreichen,  einen  Schmetterling  nennen.  Und  am  Ende,  wenn 
man  ihm  durch  das  ganze  Werk  gefolgt  ist,  das  sich  zu  dem  heiligen  Hain,  in  dem 
die  Götter  wohnen,  erweitert,  wenn  man  vor  derToiletteodervorder  Femmeäla 
Perle  steht,  oder  vor  jenem  Sebastian, den  Delacroix  das  religiöseste  Bild  der  Epoche 
nannte,  mag  jeder  Vergleich  des  Ehrwürdigen  mit  fliegendem  Viehzeug  banal  und 
pietätlos  erscheinen. 

Er  steht  nicht  neben  Rousseau,  noch  neben  Constable.  Er  war  keine  Gattung, 
auch  wenn  man  sie  noch  so  weit  begreifen  würde,  kein  Landschafter,  obwohl  keiner 
den  Reiz,  den  ein  Stück  freier  Natur  beherbergen  kann,  besser  besungen  hat.  Be< 
sungen,  nicht  gemalt.  Und  daraus  mag  sich  wohl  wiederum  unsere  Toleranz  den 
Schwächen  Corots  gegenüber  erklären.  Er  hat  immer  nur  gedichtet.  Welchem 
Dichter  wäre  die  Muse  tagtäglich,  stündlich  gleich  günstig?  Wer  von  uns  könnte 
dem  Gesang  immer  gleich  geöffnet  sein?  Er  hat  alles  gedichtet,  nicht  nur  die 
Nymphen  in  seinen  verzauberten  Wäldern,  die  uns  zuweilen  trotz  ihrer  losen  Grazie 
wie  eine  Materialisierung  seines  Zaubers  erscheinen,  sondern  das  AUerrealste,  Aller« 
natürUchste,  Schlichteste,  den  Eingang  durch  ein  Tor,  den  Blick  auf  eine  Stadt,  den 
Winkel  am  Teich  von  Ville  d' Avray,  die  Landstraße  bei  Arras,  Dinge,  die  nur  sein 
Blicken  zu  Motiven  macht.  Er  verstand  drei  Bäume  so  zu  geben,  als  wenn  wir 
unser  Leben  unter  ihren  Zweigen  verbracht,  dort  geliebt  und  geseufzt  hätten.  Und 
das  gelang  ihm  ohne  merkbaren  Eingriff  in  die  Natur,  ohne  die  Kulisse  der  Gains« 
borough  und  Genossen,  ohne  jede  Phrase.  Er  gab  nicht  den  Blick,  der  günstig  ge* 
wählt  sein  kann  —  den  auch  er  übrigens  vorteilhaft  zu  wählen  verstand  — ,  sondern 
das  Blicken.  In  dem  Unscheinbaren  entzündete  sich  etwas,  wenn  sein  Auge  datauf 
fiel,  und  wurde  für  alle  Zeiten  leuchtend!  Es  gibt  Menschen,  denen  das  Behagen 
gegeben  ist  wie  anderen  ein  besonderes  Gehör  oder  sonst  etwas.  Es  genügt,  sie  in 
ein  Zimmer  treten  zu  sehen,  um  uns  dort  heimisch  zu  machen,  auch  wenn  es  vorher 
noch  so  übel  war.  Sie  können  das  Einfachste  sagen,  es  wird  warm,  klingt  tiefer  in 
uns,  als  wenn  ein  anderer  seltene  Bilder  ausbreitet.  Sie  haben  etwas  Sonores  in  der 
Stimme,  eine  bezwingende  animalische  Wärme  im  Druck  ihrer  Hand.  Wir  geben, 
sobald  wir  mit  ihnen  reden,  alle  Banalitäten  auf  und  möchten  sie  erobern.  So  war 
Corot  in  seinen  Bildern,  mit  dem  Unterschied,  daß  Bilder  alles  das  viel  gültiger 
erweisen,  wenn  es  ihnen  gelingt,  weil  ihre  Gebärde  durchsichtiger  ist  als  die  des 
Menschen.  Unter  angenehmen  Vokalen  verbirgt  sich  nicht  selten  der  Tropf.  Das 
Bild,  das  jenes  Stillbezwingende  hat  —  Giorgione  besaß  es;  es  wird  schwer,  ein 
zweites  Beispiel  zu  nennen  —  kann  nicht  betrügen. 


mitmiiiiiiiiiiiiiiiiKiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiMiiii 


COROT  203 


Er  war  ein  Gefühl.  Man  könnte  sagen,  er  ist  es,  denn  es  ist  uns  seit  ihm  unver« 
lierbar.  Er  hat  es  uns  gegeben,  wie  andere  Künstler  Formen  oder  gewisse  Farben 
hinterlassen.  Das  Gefühl  umschlang  die  Welt,  Menschen,  Täler,  Berge,  alles  Sicht« 
bare  und  die  Geschichten  der  Welt,  vieles  Unsichtbare.  Die  Welt  erscheint  klein 
neben  ihm.  Nur  zufällig  hat  es  dieses  oder  jenes  beiseite  gelassen.  Es  hätte  alles 
umschlingen  können.  Er  war  ein  Gefühl  wie  Delacroix,  aber  er  ist  uns  vertrauter. 
Trotz  aller  Ehrfurcht  nicken  wir  ihm  zu,  wo  wir  ihm  begegnen.  Das  würden  wir 
uns  mit  Delacroix  nie  erlauben. 

Corot  ist  die  schönste  Rache  Frankreichs  an  dem  Empire.  Er  kam  noch  im 
18.  Jahrhundert,  ein  Jahr  vor  Delacroix,  auf  die  Welt,  wuchs  auf,  als  David  seine 
Erfolge  davontrug,  und  hätte  ein  Schüler  Ingres'  sein  können.  Er  war  es  bis  zum 
gewissen  Grade.  Aber  gleichzeitig  war  er  Schüler  vieler  anderer  Meister,  unter 
denen  die  Michallon  und  Bertin,  in  deren  Ateliers  er  ging,  die  geringste  Rolle  spielen. 
Ihm  war  noch  die  Landschaft  des  18.  Jahrhunderts  vertraut,  das  verspätete  Gefolge 
Claudes,  das  gern  mit  Architekturen  spielte,  die  Joseph  Vemet  und  Hubert  Robert, 
und  er  könnte  die  grünen  Parterres  mit  den  guardihaften  Figürchen  gekannt  haben, 
die  Louis«Gabriel  Moreau  in  Meudon  und  St.  Cloud  gemalt  hat.  Wenigstens  findet 
man  zu  dem  Spiel  dieser  Leute  eher  eine  wesentliche  Beziehung  als  zu  Rousseau 
und  dessen  Genossen,  mit  denen  er  nur  Äußerlichkeiten,  Kleidungsstücke,  allenfalls 
Redensarten  gemein  hat.  Corot  war  der  Schüler  aller  lichten  Geister  Frankreichs, 
ja,  des  französischen  Geistes,  der  Foussin  und  Claude  und  der Moliere  und  Rameau. 
Man  findet  seine  Art  schon  in  gewissen  Primitiven  vorausgesagt,  die  für  die  Ma« 
donnen,  die  sie  für  die  Kirchen  malten,  mit  Menschlichkeit  schwärmten,  in  Minia» 
turen,  wo  die  Formel  unter  jünglinghafter  Geschmeidigkeit  verschwindet,  in  Stein«  ' 
figuren  gotischer  Dome,  deren  Fragmente  noch  ein  griechisches  Lächeln  belebt 
Dieser  Sohn  einer  Schneiderin  und  eines  behäbigen  Buchhalters,  der  seine  Karriere 
damit  begann,  die  Stoffe  eines  Buchhändlers  zu  verkaufen,  hatte  die  Antike  in  den 
Fingerspitzen.  Eine  andere  Antike  als  die  eines  David.  Sie  war  nichts  weniger  als 
römisch  und  allem  Marmor  fern.  Sie  bedurfte  nicht  im  geringsten  der  Anlehnung 
an  geläufige  Muster,  nicht  einmal  der  Berührung  mit  mythologischen  Stoffen.  In 
einer  Baumkrone  Corots  hockt  verborgen  wie  die  Nachtigall,  deren  Gesang  wir 
vernehmen,  ein  unendlich  wirksames  Griechentum.  Es  ist  ein  Gefühl.  Wir  nen* 
nen  es  griechisch,  weil  uns  für  diese  pastorale  Sinnlichkeit,  die  immer  warm,  nie 
überhitzt  ist,  ein  besserer  Ausdruck  fehlt,  weniger,  weil  wir  uns  auf  griechische 
Formen  besinnen.  Ganz  fehlt  das  Klassische,  das  wir  schwer  von  der  Antike  lösen 
können.    Dafür  war  Corots  Sprache  viel  zu  lückenhaft.  Er  gehört  eher  zu  Daumier, 


iniiiiiiiiHiginiiiiiiiiinininiHiiiiiiiiniiiniiiniiiinniiiiiiiiiiiiiiiiniiiin^^^^^ 


204  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


1 1 1 1  lim  1 1  u  1 1 1  m  1 1  mii  »11 1 11 II  iiimi  iiiiiiii  I II II I 


mit  dem  er  befreundet  war,  als  zu  Delacroix,  der  ihm  immer  ein  wenig  unheimlich 
blieb,  obwohl  er  vielleicht  der  einzige  Zeitgenosse  ist,  der  die  Sphäre  Delacroixscher 
"Wirkungen  —  man  denke  an  den-H.  Sebastian  und  ähnliche  Werke  —  gestreift 
hat,  und  war  weniger  bewußt  als  sie  beide.  In  dem  geringsten  Fragment  von  Dela« 
croix  steckt  eine  Welt  von  künstlerischen  Werten,  die  wir  benennen  können,  und 
jeder  Strich  Daumiers,  mag  er  noch  so  impulsiv  sein,  läßt  uns  an  Michelangelo  oder 
Rubens  oder  Rembrandt  denken.  Corots  Uxzelle  scheint  von  Kunst  ganz  unberührt, 
ist  namenlose  Kindheit.  Die  Kunst  stellt  sich  erst  ein,  nachdem  das  Werk  vollendet 
ist,  und  bleibt  auch  dann  noch  ein  unsicherer  Begriff,  den  wir  fast  wie  einen  Not* 
behelf  wählen. 

Corot  gehört  zu  den  Glücklichen,  die  nicht  auf  ihre  Füße  zu  achten  brauchen, 
um  sich  vor  dem  Straucheln  zu  schützen.  Seine  Bildung  war  höchst  zweifelhaft 
und  er  besaß  keinerlei  Doktrin.  Das  wenige,  was  er  über  seine  Kunst  gesagt  hat, 
ist  leerer  Gemeinplatz.  Die  Natur,  behauptete  der  Naive,  habe  ihn  alles  gelehrt. 
Das  war  Wahrheit.  Das  Gefühl  hat  ihm  kein  Lehrer  beibringen  können.  Dieses 
Fühlen  aber,  das  sich  selbst  zu  leiten  weiß,  dem  die  Atmosphäre,  die  es  umgibt, 
nur  Schönheit,  keine  Irrtümer  zuführt,  das  sich  wie  ein  Vogel  äußert  und  wie  eine 
Pflanze  wächst,  können  wir  uns  immer  noch  am  leichtesten  als  Gemeingut  in  dem 
alten  Hellas  denken. 

Ein  winziges  Zeichen  deutet  auf  Corots  Zusammenhang  mit  der  zu  seiner  Zeit 
üblichen  Antike.  Man  könnte  sagen,  er  habe  die  Verwandlung  der  Madame  Reca« 
mier  Davids,  die  Ingres  begann,  fortgesetzt,  habe  die  Odaliske  belebt,  die  Ingres 
als  ein  Ornament  gewann.  Aber  wie  unendlich  wenig  sagt  dergleichen  von  seiner 
Schöpfung.  Die  Odaliske,  die  mit  Ingres  zusammenhängt,  ist  ein  verschwindender 
Bruchteil  des  Frauenhaften ,  dem  Corot  Gestalt  verlieh.  Und  schon  der  Laut  mit 
dem  Namen  Davids  schmerzt  in  seiner  Nähe  wie  ein  Mißton.  Alle  Frauen  von 
Giorgione  und  Correggio  bis  zu  Frud'hon  scheinen  sich  zusammengetan  zu  haben, 
um  Corots  Frau  zu  schmücken.  Und  sie  erscheint  ärmer  an  Schmuck  als  sie  alle, 
hat  von  allen  die  einfachste  Sprache,  sieht  uns  am  wenigsten  an.  Es  ist,  als  ob  die 
vielen  Vorgängerinnen  sie  gelehrt  hätten,  allein  und  für  sich  zu  sein,  nicht  wie  eine 
Entsagende,  sondern  voll,  übervoll  von  allem,  was  die  vielen  vor  ihr  empfunden 
haben.  Sie  erscheint  wie  ein  Symbol  mädchenhafter  Gedanken,  zart  in  der  Sehn« 
sucht  nach  der  Welt,  die  auf  sie  wartet,  zart  in  der  Trauer,  die  zu  wenig  Gestalt 
annimmt,  um  jemals  zu  Tränen  zu  treiben,  leise  im  Glück,  das  nie  zum  Lachen, 
kaum  zum  Lächeln  führt.  Und  dieses  Symbol  ist  mehr  Mensch  als  alle  die  kraft» 
strotzenden  oder  aschenbrödelhaften,  dramatischen  oder  lyrischen,  trauernden  oder 


I 


iniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiniiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiHi 


COROT  205 


jubelnden  Frauen,  die  je  auf  die  Leinwand  gelangt  sind.  Dieses  naiv  Abgewendete, 
das  keine  Verneinung,  gescliweige  Weigerung  bedeutet,  verspricht  mehr,  als  eine 
vollkommen  realisierte  Erfüllung  zu  geben  vermöchte.  Wir  glauben  in  Corots 
Frauen  jene  unvergeßlichen  höchsten  Augenblicke  des  Mannes  vor  seiner  Liebe 
zu  erleben,  wenn  die  Anbetung  noch  nicht  nach  einem  Worte  sucht,  wenn  der  Blick 
noch  nicht  wagt,  anders  als  mit  jener  Neugier  zu  blicken,  die  uns  von  der  Geliebten 
nicht  scheidet,  sondern  mit  ihr  zusammenblickt,  als  gälte  es,  ein  Drittes  zu  sehen. 

Cörots  Mädchen  ist  Corots  Muse.  Denn  so,  wie  er  sie  gemalt  hat,  hat  er  alles 
gemalt,  den  Wald,  den  Weiher,  das  Zimmer,  die  Legenden;  so  zögernd,  so  wenig 
realisiert  als  greifbare  Sache,  so  vollkommen  als  Fülle  aller  Möglichkeiten.  Wir 
könnten  seine  ganze  Kunst  mädchenhaft  nennen,  wenn  das  nicht  einen  Gegensatz 
zu  dem  Männlichen  ergäbe,  dem  es  allein  gelingt,  das  Mädchenhafte  so  sicher  zu 
objektivieren. 

Das  alles  scheint  uns  weit  weg  von  der  Gegenwart  zu  führen,  von  den  Axthieben 
unserer  Persönlichkeit  und  der  präzisen  Physiologie  unserer  Maler,  von  allem,  was 
uns  heute  als  Mittel  der  Kunst  gilt.  Sicher  stand  Corot  vielen  Tendenzen  der  neuen 
Zeit,  soweit  sie  ihm  bewußt  wurden,  fremd  gegenüber,  und  in  der  Betonung,  mit 
der  alle  Künstler,  die  begannen,  als  er  alt  wurde,  von  dem  Pere  Corot  sprachen,  war 
neben  der  Verehrung  eine  Nuance  von  Überlegenheit  zu  spüren.  Doch  eilte  dieser 
altmodische  Naive,  ohne  es  zu  wollen,  in  mancher  Hinsicht  allen  Zeitgenossen  vor» 
aus,  und  zwar  gerade  infolge  seiner  Einfalt.  Er  war  der  erste  Meister,  der  aus  der 
Revolution  die  Konsequenz  zog  und  sich  nur  auf  seinen  Instinkt  verließ.  Er  war 
Autodidakt  wie  die  besten  deutschen  Kollegen  seiner  Zeit  und  behielt  das  Beste 
seines  Autodidaktentums,  auch  nachdem  er  ein  großer  Mann  geworden  war.  So 
viele  Meister  wir  nachträglich  in  ihn  hineinphilosophieren  mögen,  er  nahm  bewußt 
nicht  einen  einzigen  und  hatte  buchstäblich  nur  die  Natur  als  Lehrer.  Museen 
waren  ihm  schrecklich.  Bekanntlich  ist  er  auf  der  ersten  italienischen  Reise  zwei 
Jahre  in  Rom  gewesen,  ohne  die  Sixtina  gesehen  zu  haben.  Nicht  aus  Mangel  an 
Respekt,  sondern  an  Zeit.  Er  hatte  kaum  genug,  um  alle  Malnester  in  den  Sabiner 
Bergen  und  in  der  Campagna  abzugrasen. 

Den  Autodidakten  verriet  am  deutlichsten  die  Zeichnung.  Er  zeichnete  wie  ein 
Kind,  auf  das  Objekt  bedacht,  ohne  jeden  Ehrgeiz.  Das  Ding,  das  er  vor  sich  hatte, 
zu  malen,  so  gut  es  ging,  so  daß  man  sich  seiner  erinnern  konnte,  war  das  Ziel; 
die  Tante  mit  der  langen  Nase  und  der  großen  Brille,  den  Löwen  im  Jardin  des 
Plantes  mit  dem  riesigen  Kopf  und  dem  fohlenhaften  Hintergebäude,  die  leere 
Ebene,  in  der  unten  ein  Pferd  ist  (wirklich  nur  ein  Pferd,  sonst  gar  nichts),  oben 


MiiiiiiiiHii!iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiii!iniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiin»iiiiiiiiiw 


206  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


ein  Kirchturm  auftaucht,  auch  der  ganz  allein,  ein  Kirchturm  auf  der  Erde.  Er  hat 
wenig  Ahnung  von  Perspektive  und  besitzt  keinerlei  Einsicht  in  die  notwendigen 
rationellen  Opfer  bei  der  Darstellung.  Die  Dinge  opfern  sich  selbst,  weil  er  sie 
nicht  fassen  kann.  Und  alle,  die  er  fassen  kann,  werden  in  Linien,  die  Buchstaben 
von  Kinderhand  gleichen,  gemalt.  Auf  der  ersten  italienischen  Reise,  er  war  damals 
immerhin  schon  dreißig  Jahre,  zeichnet  er  einen  Baumstamm  mit  zwei  Linien,  von 
denen  die  eine  die  rechte  Seite,  die  andere  die  linke  darstellt.  Zwischen  den  Linien, 
die,  isoliert  betrachtet,  eher  einen  Gummischlauch  als  ein  Gewächs  ergeben,  sitzen 
kleine  Punkte  oder  Kreise.  Es  könnten  die  Zeichnungen  auf  einer  Schlange  sein, 
wenn  der  Gummischlauch  einen  Kopf  hätte.  Hier  sind  es  die  Knorpel  in  der  ge» 
dachten  Rinde  des  Baumes.  Daneben  windet  sich  wieder  so  ein  Liniengeschlängsel. 
Dann  kommt  über  Felsen  ein  verästeltes  Wurzelwerk,  das  viel  größer  als  der 
ganze  Baum  erscheint,  von  dem  aus  noch  ein  paar  Zweige  ins  Bild  gehen.  Die 
Wurzel  sieht  wie  ein  barockes  Amphibium  aus  mit  geöffnetem  Rachen.  Wenn  man 
im  Wald  neben  solchem  Zeug  liegt  und  halb  einduselt,  kann  es  einem  schon  so  er» 
scheinen.  Das  alles  ist  mit  denselben  geduldigen  Linien  gemacht.  Man  sieht  die 
Hand,  die  sie  langsam  hinschrieb,  hier  und  da  ausgleitend  trotz  aller  Vorsicht,  nur 
darauf  bedacht,  die  verschiedenen  Verzweigungen  der  Bäume,  Aste  und  Wurzeln 
zu  geben  und  das  Dünne  dünn,  das  Dicke  dick  auszudrücken.  Wo  das  Terrain 
ohne  Bäume  und  Wurzeln  war,  fehlt  es  vollständig.  Dahinter  steigt  etwas  an,  das 
die  Grenze  zwischen  zwei  Steinen,  aber  auch  eine  Schlucht  zwischen  Felsen  sein 
könnte.  Womöglich  fließt  auch  noch  irgendwo  ein  Bach.  Von  den  Milhonen  Vor» 
Stellungen,  die  dieser  Fleck  am  Nemisee  oder  bei  Civita  Castellana  hervorrufen 
könnte,  ist  nur  eine  einzige  höchst  primitiv  gegeben.  Aber  diese  ist  organisch.  Der» 
selbe  kindliche  Strich  schreibt  die  Felsen  und  Bäche  nieder,  unterdrückt,  übertreibt 
überall  mit  derselben  emsigen  Sachlichkeit,  den  Schein  für  das  Wirkliche  nehmend. 
Nie  kämen  wir  mit  dem  Blatt  an  den  Nemisee  oder  nach  Civita  Castellana.  Der 
Fleck  könnte  gerade  so  gut  im  Jura  oder  im  Walde  von  Fontainebleau  Hegen. 
Aber  wir  kommen  in  ein  mindestens  ebenso  reales  Märchen  hinein,  in  dem  Bäume, 
Wurzeln,  Bäche  ihr  Spiel  treiben.  Daß  diese  Dinge  nur  vage  Beziehungen  zu  der 
Wirklichkeit  haben,  das  verringert  nicht  die  Wirkung  ihres  Organismus.  Jede 
dieser  Beziehungen  erhöht  nicht  das  Wahrscheinliche,  sondern  das  Geheimnisvolle 
des  Märchens.  Später  bereichem  sich  die  Beziehungen.  Wir  merken  schneller,  daß 
Bäume  und  Steine,  knollige  Wurzeln  gemeint  sind,  und  erkennen  leichter,  wohin 
die  Schluchten  führen.  Das  Kindliche  verliert  infolgedessen  das  Kindische,  die 
Handschrift  wird  leserlich.  Doch  rühren  die  Verbesserungen  nicht  an  das  Märchen. 


,,iniiiiiiiiiMiiiniiiiiiiniMiinnnniiimMiiiiMunniiiiniiiniitin^^^^ 


COROT  207 


Sie  führen  uns  nicht  aus  dem  Traum  in  die  Natur,  wo  wir  uns  verlieren  müßten, 
sondern  sichern  die  Traumwelt.  Im  einzelnen  scheint  die  Entwicklung  der  Zeich» 
nung  minimal.  Wohl  ist  sie  vorhanden.  Irgendwo  setzen  Erfahrungen  eines  Stu« 
diums  der  Natur,  das  während  des  Erlebnisses  des  Eindrucks  zustande  kam,  ein; 
sogar  sparsame  Reflexe  der  Kunst  anderer  Meister,  z.  B.  Ingres',  dessen  ganze  Art 
diesem  so  wenig  doktrinären  Naturkind  so  fern  steht,  dessen  spröde  Zärtlichkeit 
zwischen  den  Strichen  vieler  Bildnisstudien  gespürt  wird ;  seltener  Delacroix'.  Immer 
bleibt  Corot  zögernd,  behutsam,  sehr  oft  linkisch.  Noch  in  den  Entwürfen  zu  den 
reifsten  Gemälden  der  sechziger  und  siebziger  Jahre  findet  man  unverkennbare 
Reste  des  dilettantischen  Anfängers.  Da  werden  fliegende  Putten  hingeworfen  mit 
höchst  zweifelhaften  Händen  und  Beinen.  In  einer  Landschaft  mit  gigantischen 
Bäumen  erscheint  ein  Reiter,  der  um  die  Hälfte  zu  klein  ist.  Nymphen  tanzen, 
von  denen  man  nicht  sagen  könnte,  ob  unter  dem  Schleier  von  gekräuselten  Strichen 
alle  wesentlichen  Körperteile  Platz  haben.  Aber  der  Reiter  reitet,  die  Nymphen 
tanzen,  die  Putten  fliegen  wirklich.  Es  ist,  als  werde  jeder  der  ungefügen  Striche 
zu  einem  Flügel  unserer  Vorstellung.  Die  Bewegung  ersetzt  alles,  was- wir  an  De* 
tails  entbehren,  ja,  diese  Lücken  erscheinen  wie  notwendige  Opfer  infolge  der  Be< 
wegung.  Es  gibt  keine  bewegungslosen  Motive  im  Werk  dieses  Sängers  der  Ruhe. 
Als  sich  einmal  ein  Besucher  über  die  Ungeniertheit  eines  Modells,  der  kleinen 
Dobigny,  wunderte,  die  im  Atelier  wie  ein  Vogel  herumzwitscherte  und  nie  still 
hielt,  meinte  Corot,  gerade  diese  Beweglichkeit  sei  ihm  lieb.  „II  me  faut  un  modele 
qui  remue*)."  Dinge,  die  wirklich  still  hielten,  machte  er  beweglich.  Auch  das 
Allerstabilste  hat  irgendwo  einen  sich  rührenden  Hauch.  Der  spielende  Strich  er« 
faßt  ihn,  und  die  Bewegung  wird  uns  zum  Führer  in  Arkadien.  Sicher  spielt  in 
unserer  Betrachtung  einer  Corotschen  Zeichnung  noch  eine  andere  Bewegung  mit, 
die  Wirkung  der  Gemälde,  die  wir  gesehen  haben.  Wir  wissen,  was  aus  der  primi« 
tiven  Zeichnung  wurde,  und  fügen  instinktiv  das  Ende  zum  Anfang.  Aber  je  mehr 
wir  dieser  Suggestion  und  je  weniger  objektiven  Wert  wir  der  Zeichnung  zuschreiben, 
um  so  bedeutsamer  ist  die  Beziehung  zwischen  Anfang  und  Ende.  Sie  enthält  viel» 
leicht  den  einzigen  praktischen  Nutzen,  den  der  Künstler  aus  der  Betrachtung  Corots 
zu  gewinnen  vermag.  « 

Vergleicht  man  Zeichnungen  der  Spätzeit  mit  ähnlichen  Motiven  der  zwanziger 
Jahre,  so  scheint  der  eigentliche  Strich  an  der  unverkennbaren  Entwicklung  am 
wenigsten  beteiligt.  Er  wird  loser.  Niemand  wird  ihn  richtiger  nennen  können. 
Die  Verbesserung  liegt  weit  mehr  in  dem,  was  zu  dem  Strich  dazukommt,  in  dem 

')  L'oeuvre  de  Corot  par  Al&ed  Robaut  et  Moreau.N4laton  (H.  Floury.  Paris  1904). 


niiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiniiiiiiiiHiiiiiiiiiiiiiin^ 

208  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


Ton  um  das  früher  dürftige  Gerippe.  Aus  dem  einen  Strich  rechts  und  dem  Strich 
links,  die  beide  zusammen  den  Baum  gaben,  der  bedenklich  an  einen  Schlauch  er» 
innerte,  werden  drei  oder  vier,  deren  Gesamtheit  den  richtigen  Baum  enthält.  Wenn 
die  unwiderrufliche  Arabeske  Ingres'  die  rechte  Art  ist,  war  Corots  Ungefähr  der 
Striche  Pfuscherei.  Aber  der  Pfuscher  erreichte  mehr.  Das,  was  wir  zwischen  den 
tastenden  Strichen  spüren,  was  wir  uns  selbst  aus  der  losen  Hülle  herausschälen, 
ist  wirksamer  als  die  Vollkommenheit  einer  lückenlosen  Linie.  Wir  vermögen  uns 
bei  aller  Bewunderung  einer  Arabeske  nicht  gegen  die  Einsicht  zu  verschließen,  daß 
auch  sie  nur  ein  Mittel  ist,  ein  Zeichen  für  Dinge,  die  weit  über  die  Glätte  und 
Eleganz  des  Kalligraphischen  hinausgehen  müssen,  um  uns  zu  bezaubern,  und  wir 
verkennen  nicht,  wie  gering  der  Unterschied  zwischen  dieser  Art  von  Linien  und 
einer  anderen  ist  neben  der  Unendlichkeit  der  Begriffe,  die  sie  symbolisieren. 

Corot  malte  mit  dem  Zeichenstift.  Sein  Pfuschen  war  eine  breitere  Gestaltung. 
Wir  fragen  bei  ihm  nicht  nach  Linien,  weil  er  ihrer  nicht  bedurfte.  Ja,  wir  leugnen 
angesichts  seiner  vibrierenden  Flächen  die  Berechtigung  der  Linie,  finden  ihre  Ge» 
nauigkeit  unfrei  und  akademisch,  ihre  Deutlichkeit  beschränkt,  im  Grunde  fiktiv, 
und  begreifen,  warum  Corot,  ohne  sich  zu  widersprechen,  die  Forderung  aufstellen 
konnte,  in  allem  sei  die  „indecision"  von  Übel.  Nie  könnten  wir  uns  das,  was 
Corot  ausdrückte,  deutlicher  denken.  Das  gilt  nicht  nur  von  den  frühen  Rombil» 
dem,  jener  Topographie  eines  Empfindsamen,  der  mit  der  genausten  Darstellung 
des  landschaftlichen  Objekts  die  Fähigkeit  verband,  die  Beziehungen  des  Objekts 
zu  einer  bestimmten  Zeit  mitzuteilen.  Die  zarten  Teile  und  sauberen  Kontraste, 
mit  denen  Corot  den  Blick  auf  die  Engelsburg  und  die  Tiberbrücke  so  sachlich  wie 
nur  denkbar  wiedergab,  kostümieren  nichtsdestoweniger  diese  Stelle  ähnlich  wie 
David  seine  Recamier;  nur  mit  viel  zarteren,  selteneren  Schleiern.  So  sahen,  fühlen 
wir,  damals  alle  Romfahrer  Rom.  Man  könnte  an  Vossens  Übersetzung  Homers 
denken,  die  auch  der  Niederschlag  vieler  Blicke  auf  eine  geweihte  Stätte  war.  Noch 
spürt  man  wenig  von  der  dichterischen  Evokation  der  Antike  des  späten  Corot,  der 
Theophile  Gautier  an  einen,  den  Anakreon  übertragenden,  La  Fontaine  erinnerte. 
Ein  Leser,  der  sich  nichts  entgehen  läßt,  übersetzt  mit  stillem  Behagen.  Eine  Sach» 
lichkeit,  die  wir  gern  als  germanisch  in  i\nspruch  nehmen,  treibt  ihn ;  derselbe  helle 
Spürsinn,  derselbe,  die  Nüchternheit  beflügelnde  Frohsinn,  den  wir  in  den  Land« 
Schaftsstudien  des  jungen  Dürer  finden.  Diese  Sauberkeit  grundiert  das  ganze 
Oeuvre ,  so  weit  es  die  höchste  Schätzung  verdient.  Wo  Corot  flau  wird  und  die 
Fälscher  lockt,  fehlt  der  unnachahmliche  Kern  sauberer  Sachlichkeit  unter  den 
grauen  Schleiern. 


müiiiillliHliiiiiiiiiliiiililiniiiillliilliiiliiiiiiilllliiniiig 


^^^ _  COROT 209 

Man  muß  die  Landschaften,  die  auf  das  ungeübte  Auge  flau  wirken,  von  denen 
unterscheiden,  die  es  wirklich  sind.  Corot  sagte  einmal:  „Um  in  meine  Malerei 
hineinzukommen,  muß  man  wenigstens  die  Geduld  haben,  zu  warten,  bis  sich  der 
Nebel  verzieht.  Man  kommt  nur  langsam  hinein,  aber  wenn  man  einmal  drin  ist. 
muß  es  einem  wohl  sein,  denn  meine  Freunde  bleiben  alle  drin."  Corots  Farbe 
ist  das  gelassene  Antlitz  eines  Weisen,  dem  die  Leidenschaft  die  tiefen  Rinnen  er« 
spart  hat.  Es  ist  immer  in  Bewegung,  aber  die  Bewegung  beschränkt  sich  auf  ein 
leises  Runzeln,  ein  Zucken  um  den  Mund,  das  dem  Femerstehenden  entgeht;  der 
aufmerksame  Betrachter,  der  Freund  weiß  es  zu  deuten.  Die  für  leidenschaftlich 
geltenden  Köpfe  sind  leicht  starr,  weil  die  Linien  zu  tief  und  scharf  sind.  Die  hef» 
tige  Bewegung,  die  der  erste  Blick  mitzuteilen  scheint,  verliert  sich  bei  längerer  Be< 
kanntschaft,  und  wir  lesen  weniger  darin  als  in  dem  gelassenen  Gesicht,  das  anfangs 
des  sicheren  Ausdrucks  entbehrte.  Dem  Auge,  das  von  den  grellen  Reizen  modemer 
Koloristen  abgestumpft  ist,  muß  Corot  monochrom  erscheinen.  Eine  ähnliche  Ver» 
bildung  hat  Rembrandt  schwarz  genannt  und  möchte  sich  Mozart  entziehen.  Corot 
sah  in  der  Farbe  ebensowenig  wie  in  der  Natur  das  Ding  an  sich,  das  der  Darstel« 
lung  wert  war,  und  ließ  das  Dekorative  des  Farbigen  nur  auf  einem  Umwege  zu, 
der  soviel  wertvollere  Dinge  erschließt,  daß  man  es  kaum  noch  beachtet.  Doch  ist 
es  hier  im  Verhältnis  ebenso  wirksam  wie  in  den  Bildern  anderer  Meister.  Aus  dem 
Nebel  um  die  verhüllten  Farben  wird  eine  wunderbare  Materie,  der  gerade  die 
homöopathische  Dosis  des  Malers  den  Reiz  gibt.  Sie  ist  weniger  eindringlich  als 
die  blitzenden  Funkte  Constables,  gleißt  nicht  so  verführerisch  wie  die  flüssigen 
Rubine  und  Smaragde  Delacroix'  und  wäre  sicher  nicht  geeignet,  große  Flächen 
leuchtend  zu  machen,  weshalb  uns  auch  die  wenigen  rein  dekorativen  Malereien 
Corots,  mit  denen  er  die  Wände  seiner  Freunde  beschenkte,  als  entbehrliche  Im» 
provisationen  erscheinen.  Dem  Staffeleibild,  das  man  nach  Belieben  nahe  oder  fem 
halten  kann,  gibt  die  Malerei  Corots  zuweilen  die  seltensten  Reize.  Man  könnte  sie 
nicht  beschreiben.  Um  Äquivalente  geben  zu  können,  müßte  man  Stoff'e  kennen, 
in  denen  sich  mattes  Metall  mit  spinnewebenartigem  Gewebe  restlos  zu  vermischen 
vermag;  Silber,  das  sich  in  schneeigen  Flocken  verteilt;  uraltes  Gold,  das,  zu  Dämpfen 
kondensiert,  noch  leuchtet.  Er  war  kein  Freund  der  starken  Kontraste,  aber  ein 
Meister  des  Tons,  wie  vor  ihm  kaum  einer,  wie  nach  ihm  vielleicht  nur  Cezanne. 
Seine  Armut  an  Farbe  scheint  uns  dieselbe  Überwindung  des  Farbigen,  die  einem 
Poussin  den  Weg  ins  Überirdische  bahnte. 

Trotz  alledem  dürften,  wenn  einmal  die  Generation  der  Chauchard  verschwunden 
sein  wird,  unter  den  Landschaften  außer  den  frühen  italienischen  Corots  die  robusten 

14 


linmminiiiiniinmmiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiinDiniiiiigiiiiiiniiniilinilinnH^^^ 

210  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 

Bilder  der  Spätzeit  am  höchsten  geschätzt  werden,  in  denen  der  Meister  nicht  die 
Gestaltung,  sondern  seine  Zärtlichkeit  verhüllt  und  breite  Farbenmassen  die  Rolle 
der  zarten  Töne  der  ersten  Romzeit  übernehmen.  Thomy»Thiery  hat  schöne  Exempel 
dieser  Art  dem  Louvre  geschenkt.  Ein  Stück  Natur,  das  mit  daumierhafter  Leben« 
digkeit  gegeben  wird,  scheint  die  Hauptsache.  Die  Dichtung  kommt  erst  auf  Um» 
wegen  dazu  und  ist  nichts  als  eine  Vergrößerung,  Verallgemeinerung  des  natürlichen 
Eindrucks.  Mit  diesen  Bildern  hängt  Corot  mit  der  Schule  Constables  und  den 
Fontainebleauem  zusammen.  Sie  geben  das  brauchbare  Resultat  der  Landschafter, 
das  nur  ein  Outsider  zu  realisieren  vermochte:  die  Idylle,  die  Constable  in  seinen 
großen  Bildern  suchte  und  über  die  ihm  die  Lebendigkeit  der  Skizzen  abhanden 
kam;  die  Größe,  derMillet  die  Natur  opferte;  die  Natur,  mit  der  Rousseau  um  die 
Größe  rang.  Als  Outsider  wurde  er  von  allen  angesehen.  Millet  bewunderte  ihn 
mit  merkbarem  Widerstreben.  Corot  male,  schrieb  er  1858,  wie  einer,  der  nichts 
von  Malerei  wisse  und  sein  Bild  mache,  so  gut  er  könne,  mit  der  großen  Sehnsucht, 
es  zu  machen*).  Es  entging  ihm  sicher,  wie  recht  er  mit  seiner  Kritik  hatte.  Hip« 
polyte  Flandrin  ahnte  die  wirkliche  Ursache  der  Überlegenheit  Corots:  „Dieser 
Teufelskerl  gibt  seinen  Gestalten  etwas,  das  alle  Spezialisten  nicht  in  die  ihren  hin« 
einbringen."  Und  Decamps,  der  im  Alter  zusah,  mit  welcher  Geschwindigkeit 
Corot  die  Wände  in  seinem  Landhause  mit  Farbe  belebte  und  schmückte,  sagte 
wehmütig:  „Wenn  ich  nicht  so  alt  wäre  und  das  Leben  noch  vor  mir  hätte,  gäbe 
ich  gern  alle  meine  Rezepte  für  Ihre  Wahrheit  hin." 

Daubigny,  Corots  Intimus,  der  oft  mit  ihm  vor  der  Natur  saß,  war  eine  Art 
Vermittler  zwischen  dem  Meister  und  den  Künstlern  von  Barbizon.  Er  scheint  auf 
die  Bereitung  der  Palette  einen  gewissen  Einfluß  gewonnen  zu  haben.  Vermutlich 
half  er  Corot,  sich  immer  mehr  von  dem  Braun  und  Grau  zu  befreien  und  klingende 
Kontraste  zu  wählen.  Corot  ließ  es  sich  gern  gefallen.  Aber  es  ging  der  Palette 
oft  wie  den  Panthern,  die  er  sich  von  Barye  in  einige  seiner  Bilder  malen  ließ,  da 
er  sich  selbst  nicht  für  kompetent  genug  hielt.  Er  bewunderte  sie  und  dankte  dem 
Kameraden  in  überströmenden  Worten,  und  übermalte  sie  dann  so  gründlich,  daß 
nicht  ein  Strich  davon  übrig  blieb.  Die  Übermalung  raubte  den  Tieren  die  präzise 
Anatomie,  die  der  Tierspezialist  beherrschte,  und  machte  sie  zu  unendlich  wirk« 
sameren  Fabelwesen,  die  aus  der  Dämmerung  des  Bildes,  aus  allem,  was  sie  dort 
umgibt,  aus  Flocken  und  Lichtern,  die  Möglichkeiten  ihres  Daseins  gewinnen. 
Und  die  Palette  verschwindet  aus  unserer  Vorstellung  vor  dem  Anblick  eines  ge» 
benedeiten  Geistes,  der  einer  folgsamen  Hand  seine  Liebe  zur  Welt  anvertraute. 

•)  In  dem  Brief  an  Sensier  aus  1858. 


HUI     III  II    I      nnmiiiiiiiiiiiiHii       n 


COURBET 


Es  ist  ein  entfernt  ähnlicher  Schritt  wie  von  Delacroix  zu  Daumier.  Aber  der 
Schritt  bedeutet  im  Positiven  und  im  Negativen  mehr.  Von  Corots  Harmonie 
hatte  Courbet  kaum  eine  vage  Vorstellung.  Doch  wurde  er  ohne  sie  fertig,  und 
man  begreift,  daß  sich  Corot  dem  Jüngeren  unterlegen  fühlte;  er  ging  in  seiner  Be» 
scheidenheit  so  weit,  sich  glücklich  zu  schätzen,  weil  er  in  einer  Zeit  mit  Courbet 
leben  durfte.  Man  begreift  es ,  ohne  zu  wollen ,  mit  Rührung  und  einer  Art  Er» 
bitterung,  wie  man  Napoleon  begreift  und  andere,  elementaren  Kräften  ähnliche, 
Menschen;  wie  man  das  Meer  begreift,  das  ein  göttliches  Ufer  zerstört;  mit  Jubel 
über  die  Kraft  und  einem  Fluch  auf  die  Verheerung.  Wir  sind  selbst  Fragmente 
vor  dieser  Erscheinung,  und  es  nützt  uns  daher  wenig,  das,  was  fragmentarisch  an 
ihr  ist,  nachzuweisen. 

Das  Fragmentarische  Courbets  trübt  am  sichtbarsten  sein  Menschentum.  Des* 
halb  sind  wir  eher  als  sonst  geneigt,  die  Kunst  vom  Menschen  zu  trennen.  Die 
Karikatur,  die  Daumier  träumte,  hinter  die  er  sich  schweigend  zurückzog,  ein  Un« 
bekannter.  Unpersönlicher,  der  irgendwo  aus  seinem  Darben  Bilder  gewann, 
wurde  von  Courbet  ahnungslos  gelebt.  Er  wollte  so  persönlich  wie  möglich  sein, 
mit  lärmenden  Manifesten,  großmäuliger  Beteiligung  am  öffentlichen  Leben  usw. 
Er  war  eine  Karikatur  auf  die  soziale  Bedeutung  Delacroix'.  Diesem  bedeutete  seine 
gesellschaftliche  Rolle  etwas  Ahnliches  wie  der  Verkehr  mit  Dante  und  Ariost.  eine 
von  ihm  gestaltete  Fiktion,  deren  objektiver  Gehalt  erst  heute  für  uns  wahrnehmbar 
wird.  Courbet  hielt  durchaus  nichts  von  dem  Nachleben.  Er  nahm  die  Fiktion  ernst, 
war  Künstler  mit  dem  Ehrgeiz  eines  liberalen  Deputierten,  wollte  Volksbeglücker  mit 
dem  Pinsel  werden.  Seine  Opposition  gegenden  Bourgeois  war  sobourgeois  wie  mög« 
lieh.  Er  wies  das  öffentliche  Ehrenzeichen  mit  solchem  Eklat  zurück,  daß  es  beinahe 
legitimiert  wurde.  Alles,  was  er  außerhalb  des  Ateliers  sprach  und  tat,  sein  Jakobiner» 


liIrni'nimiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiniiiiiiiiiiiiiliiiiiiniiiiiiiliH^^^ 


212  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


iiiuiiiiüiiuMiuiüiujNiHiuiJNi<inNiimiiiiuiiuinuiiiuuiUMiiimiiioiJMiiiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiünMNinii!iiriiiiiiriiiiiiiiiiiiiji'iiiiiiiiiiiiiiniiiMiiiMiiiMitiiiniiiiiii>iiiiiiii 


tum,  sein  Realismus,  den  selbst  Proudhon  in  dieser  mündlichen  Form  für  „allen  ver« 
nünftigen  Sinnes  bar"  erklären  mußte,  war  Karikatur,  eine  Karikatur,  die  wir 
irgendwo  von  Daumier  gesehen  zu  haben  glauben.  Paris  nahm  ihn  für  nichts 
anderes.  Es  lachte  über  den  Kleinbürger  von  Omans,  der  ihm  das  universelle 
Prägerecht  verwehrte  und  mit  seinen  Fäusten  den  Esprit  der  Weltstadt  besiegen 
wollte,  lachte  auch  dann  noch,  als  die  Kommune  dem  Maler  wirklich  eine  Art  von 
Gewalt  übertrug.  Es  nahm  ihn  erst  ernst,  als  man  dem  Verbannten  die  Rechnung 
für  die  Vendömesäule  präsentierte.  Die  Karikatur  hat  selbst  das  tragische  Ende 
des  Geschlagenen,  der  zwischen  wenig  skrupulösen  Adepten  starb,  nicht  verschont. 

Seine  Kunst  blieb  nicht  ganz  unberührt  von  diesem  Treiben,  aber  es  ist  ein 
Wunder,  bis  zu  welchem  Grade  sie  den  Zumutungen  des  Menschen  widerstand. 
Sein  Auftreten  ließ  auf  einen  Illustrator  von  Belanglosigkeiten  schließen,  auf  einen 
Rohling,  der  Millets  Mitleid  auf  die  Straße  zerrte,  auf  einen  populären  Tenden» 
zenden  schlimmster  Sorte.  Keiner  der  verblendeten  Kritiker,  die  seine  Werke 
zurückwiesen,  hat  schlimmer  gegen  seine  Kunst  agitiert  als  er  selbst.  Sie  wider< 
stand.  Courbet  war  unendlich  mehr  als  er  zu  sein  glaubte,  obwohl  er  sich  als  der 
wichtigste  Mann  der  ganzen  Welt  erschien.  Selten,  ich  glaube  nie,  ist  ein  Mensch 
so  unklar  über  seine  Kunst  geblieben.  Er  würde  wie  der  Vierfüßler,  den  er  in 
seinem  öffentlichen  Atelier  den  Schülern  vorsetzte,  dastehen,  wenn  er  wüßte,  in 
welchem  Lichte  ihn  die  Nachwelt  erblickt. 

Theophile  Silvestre  sagt  einmal,  Courbets  meiste  Landschaften  seien  schwarz 
wie  ein  Arkadien  von  Kohlenschleppem.*)  Das  gilt  nicht  nur  von  den  Land« 
Schäften.  Courbets  ganze  Kunst  ist  ein  geschwärztes  Arkadien.  Ein  Teil  des 
Schwarz  ist  die  Hautfarbe  seiner  Art,  über  die  man  nicht  streiten  kann,  die  ihm 
von  Silvestre  und  anderen  am  meisten  verübelt  wurde.  Sie  gehört  zu  ihm  wie  zu 
Corot  das  Blond  und  das  Grau,  wie  zu  Delacroix  das  Rot  und  Smaragd,  und  sie 
hat  ebensogut  ihre  Juwelen.  Er  begnügte  sich  nicht  damit,  schwärzte,  verdunkelte 
seine  Anschauung,  brachte  entbehrliche,  oft  störende  Dinge  hinein,  aber  hat  nie 
vermocht,  die  fruchtbare  Vegetation  zu  zerstören.  Auch  schwärzte  er  sein  Arka» 
dien,  um  nicht  für  einen  Sänger  zu  gelten,  von  der  Idee  befangen,  die  Zeit  der 
Sänger  sei  vorbei.  Er  verbot  den  Traum,  dem  Corot  nachhing,  wie  eine  infame  Lüge, 
erging  sich  in  Rüpeleien  gegen  die  Heiligtümer  der  französischen  Kunst,  pfiff  auf 
alles,  was  nicht  mit  Händen,  mit  seinen  Händen  zu  greifen  war;  und  war  doch 
nichts  anderes  als  ein  Sänger,  auch  wenn  die  Leyer  zuweilen  einem  Besen  glich. 
Ein  Sänger  von  teutonenhafter  Gewalt.   Es  gibt  keinen  zweiten. 

*)  In  dem  Katalog  der  Galerie  Bruyas  (Impr.  J.  Claye,  Paris  1876). 


tMn::iliiiiililinillllllllilll 


COURBET  213 


Das  Fragmentarische  ist  zumal  jenes  Heterogene  von  Menschentum  und  Künstler« 
tum  oder  was  uns  so  erscheint.  Wir  sind  nirgends  mißtrauischer  und  haben  recht,  soll 
uns  nicht  die  Kunst  zu  einer  ästhetischen  Liebhaberei  werden ;  aber  vergessen  leicht, 
daß  wir  unser  Vertrauen  oder  Mißtrauen  auf  schmale  Zufälligkeiten  stützen,  deren 
wahre  Bedeutung  sich  oft  unserer  Erkenntnis  entzieht.  Wir  sind  immer  grob 
und  leichtsinnig,  sobald  wir  biographische  Details  in  die  Finger  bekommen,  wie 
um  uns  für  die  Nachgiebigkeit  und  Vorsicht  zu  rächen,  die  uns  die  Kunstbetrach« 
tung  auferlegt.  Wenn  aber  schon  das  ohne  weiteres  sichtbare  Kunstwerk  ein  un« 
erschöpf liches  Phänomen  bedeutet,  wie  mag  es  mit  den  Beziehungen  dieses  Phä< 
nomens  zu  seinem  Schöpfer  stehen,  von  denen  wir  im  besten  Fall  nur  winzige 
Bruchteile  wahrnehmen  1 

Wäre  es  erlaubt,  Courbets  Grobheit  auf  die  Kritik  seiner  eigenen  Persönlichkeit 
anzuwenden,  so  könnte  man  ihn  für  einen  Heldentenor  nehmen  mit  einer  sublimen 
Stimme  und  mäßigem  Spiel.  Die  Hand  scheint  seine  wesentliche  Waffe.  Sein  be« 
kannter  Ausspruch:  „Im  Finger  steckt  die  Feinheit",  bezeichnet  ihn,  soweit  ein 
Künstlerwort  bezeichnen  kann.  Es  gibt  einen,  irgendeinen  Umriß.  Die  unbewußte 
Selbstkritik  trifft  zu,  aber  ist  summarisch. 

Schon  dieser  Hinweis  modifiziert  den  eingebürgerten  Begriff  seines  Natur« 
burschentums.  Man  kann  ihn  sich  nicht  als  rußigen  Schmied  mit  plumpen  die« 
dem  vorstellen.  Das  Plumpe  steckt  irgendwo.  Das  braucht  nicht  weiter  nachge« 
wiesen  zu  werden.  Wir  fühlen  es  so  deutlich,  wie  wir  in  Corot  das  Leichte  spüren. 
Aber  diese  Plumpheit  schließt  nicht  eine  Summe  von  höchst  meisterlichen  Eigen« 
Schäften  aus,  die  z.  B.  Corot  zum  großen  Teil  versagt  waren,  der  en  freilich  de 
Dichter  nicht  bedurfte. 

Courbet  kannte  sein  Handwerk.  Die  Revolution  hatte  diesem  Erfinder  nichts 
genommen.  Er  malte  nicht  wie  im  17.  Jahrhundert.  Vorsichtige  Grundierung  und 
Lasuren  waren  nicht  seine  Sache.  Und  er  hatte  für  den  komplizierten  Apparat 
eines  Delacroix,  der  die  ganze  alte  Technik  erneute,  weder  Organe  noch  die  durch« 
haltende  Zähigkeit  des  Temperaments.  Dafür  war  er  zu  eilig.  Er  kümmerte  sich 
nicht  um  die  Physiologie  der  Farben.  Dafür  war  er  zu  plump.  Aber  er  bedurfte 
nicht  der  Fähigkeiten,  die  ihm  fehlten.  Er  sah  Dinge,  die  nur  auf  seine  Art  zu 
geben  waren,  bei  denen  es  nur  auf  Schnelligkeit  und  Wucht  ankam,  zwei  Momente, 
die  bis  dahin  für  nicht  leicht  vereinbar  galten.  Und  dafür  besaß  er  eine  unver« 
gleichliche  Virtuosität.  Auf  jene  beiden  Momente  reduzierte  er  nicht  nur  die 
Natur,  sondern  auch  das,  was  ihm  an  der  alten  Kunst  gefiel.  Man  kann  sich  den« 
ken,  wie  viel  infolgedessen  wegfiel.   Es  ist  erstaunlich,  wie  viel  er  behielt  und  wie 


niHiiHiinniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii'iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiinininniiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiin^ 


214  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


iiiiiiMiiiimiiiiiimmnnii miiiii iiiiiiiii Miiiiiiiiiiiiiiiiiiimiiiiiiniiii 


er  es  mit  seiner  einfachen  Technik  gestaltete.  Man  hat  auf  seine  Geschwindigkeit 
gewettet,  und  er  gab  einmal  in  München  vor  dem  lebenden  Modell  ein  Stückchen 
zum  besten,  das  den  Zuschauern  wie  Zauberei  erschien.  Er  war  geschickt  wie  ein 
Geigenvirtuose,  der  Paganini  vom  Blatt  spielt,  und  spielte  so  alle  seine  Meister. 
Die  raffiniertesten  Spanier  und  Holländer  hatten  für  ihn  keine  Geheimnisse.  Er 
sah  sie  an  und  sagte:  das  kann  ich  auch.  Und  die  Ausführung  folgte  der  ver« 
wegenen  Behauptung  auf  dem  Fuße. 

Dieses  Können,  das  nicht  ohne  Wissen  denkbar  wäre,  schließt  den  Naturalis* 
mus,  den  man  ihm  vorwarf,  und  den  wir  auch  heute  noch  in  den  Umrissen  des 
Oeuvre  erkennen,  nicht  aus,  bestätigt  ihn  vielmehr.  Corot  war  kein  Naturalist,  ob« 
wohl  er  kein  Museum  besuchte.  Courbets  erster  Gang  in  einer  fremden  Stadt  galt 
der  Galerie,  und  er  kopierte  noch  in  seiner  letzten  Zeit  Hals  und  Rembrandt.  Er 
war  trotzdem  Naturalist.  Sein  Naturalismus,  der  auch  die  Kunst  zum  Objekt 
nahm,  wäre  verwerflich,  wenn  die  Kopie  nut  eine  Wiederholung  ergeben  hätte, 
pietätlos,  wenn  sich  die  Tendenz  auf  die  Bewunderung  beschränkt  hätte,  war  es 
vielleicht  wirklich;  und  war  unendlich  nützlich,  da  diesem  Primitiven  gelang,  eine 
unentbehrliche  Verbindung  mit  der  Kunst  der  Alten  und  mit  der  Natur  herzu» 
stellen,  indem  er  eine  der  zeitgenössischen  Künstlerschaft  zugängliche  Materie 
erfand. 

Courbet  war  ein  Meister  der  Materie.  Gelänge  es,  diese  Tatsache  und  ihre 
nächsten  Folgerungen  vor  allen  Mißverständnissen  zu  sichern,  so  hätten  wir  eine 
solide  Basis  für  das  Urteil  über  seine  Kunst.  Dies  scheint  sehr  einfach,  weil  nie« 
mand  der  Behauptung  widerspricht.  Doch  geht  es  vielen  Behauptungen  so,  die 
unwidersprochen  bleiben,  weil  sich  jeder  etwas  anderes  ZutreflFendes  darunter 
vorstellt. 

Die  Revolution  hat  uns  viel  weniger  an  unersetzlichen  Malerrezepten  und  der« 
gleichen  gekostet  als  an  Begriffen.  Ich  will  nicht  sagen,  man  sei  vor  der  Revolution 
an  BegriflFen  reicher  gewesen,  aber  die  Nachfrage  war  geringer.  Unsere  wichtigsten 
Begriffe  sind  Hilfskonstruktionen  verkehrter  Art,  die  wir,  trotzdem  wir  sehr  wohl 
wissen,  wie  verkehrt  sie  sind,  doch  nie  entbehren  können.  Dieser  Satz  des  alten 
Philosophen  Gruppe  gilt  im  weitesten  Umfang  für  unser  Denken  über  Kunst.  Cour« 
bet  ist  in  zweifacher  Hinsicht  Opfer  dieses  Chaos.  Ein  Teil  seiner  Schwächen  geht 
auf  mißlungene  Versuche  zurück,  Begriffe  verstandesmäßig  zu  sichern,  die  sein 
Instinkt  durchaus  besaß.  Er  war  ein  großer  Künstler,  aber  wußte  nicht  immer,  was 
Kunst  ist.  Viel  empfindlicher  hat  ihn  die  Mißwirtschaft  in  den  Begriffen  des  Publi» 
kums  getroffen;  ihn  und  die  ganze  Kunst,  der  er  voranging.  Die  Kämpfe  für  oder 


COURBET 


215 


gegen  diese  Irrtümer  haben  bis  gestern  gedauert.  Wenn  sie  heute  ruhen  oder  zu 
ruhen  scheinen,  ist  keineswegs  gesagt,  daß  sie  zugunsten  richtiger  Erkenntnis  cnt* 
schieden  sind. 

Vieles,  was  für  oder  gegen  den  Naturalismus  mit  unerträglicher  Gewissenhaftig» 
keit  und  Gewissenlosigkeit  gesagt  wurde,  was  ich  zur  Schonung  meiner  Leser  als 
bekannt  voraussetzen  will,  läuft  auf  die  verschiedenen  Stellungen  zu  dem  Begriff 
Materie  hinaus,  dessen  Wort  vieldeutig  ist  und  das  wir  nicht  ersetzen  können, 
ohne  auf  wertvolle  Möglichkeiten  der  nur  zu  beschränkten  kunstwissenschaftlichen 
Darstellung  zu  verzichten.  Gerade  bei  Courbet  ist  der  Doppelsinn  von  Materie 
unentbehrlich,  denn  Courbets  Größe  und  seine  Mängel  stammen  aus  einer  und 
derselben,  nur  von  ihm  verschieden  gedeuteten  Quelle. 

Die  Materie  in  jedem  Sinne  gilt  bei  ihm  in  einem  ungewöhnlichen  Umfang. 
Wir  wissen  von  den  Gegenständen,  wie  er  sie  malte,  nur  eines  zu  sagen,  daß  sie 
sehr  stofflich  sind,  d.  h.  das,  was  eine  Frauenhaut  von  einem  Tierfell,  ein  Tierfell 
von  der  Dichtigkeit  des  Steins,  den  Stein  von  der  Borke  des  Baumes  oder  dem 
glatten  Blatt  unterscheidet,  besonders  eindringlich  enthalten.  Die  Kritik  ist  nur 
selten  auf  die  Idee  gefallen,  diese  Eindringlichkeit  zu  untersuchen.  Sie  schloß: 
weil  Courbet  Materie  im  Auge  habe,  sei  er  Materialist.  Materialisten,  die  ihren 
Anspruch  auf  Naturtreue  beschränkten,  glaubten  ihn  deshalb  in  ihre  Reihen  rech» 
nen  zu  dürfen;  Idealisten,  die  sich  über  alle  Materie  erhaben  glaubten,  wiesen  ihn 
zurück.  Der  Sozialismus,  den  man  in  den  Steinklopfern  und  anderen  Bildern 
entdeckte,  fügte  noch  eine  Bestätigung  hinzu.  Die  Begeisterung  der  einen  Seite, 
die  Vorwürfe  der  anderen  trafen  Courbet  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  Recht, 
aber  nicht  auf  Grund  jener  realisierten  Stofflichkeit,  die  sich  in  wuchtigen  Farben« 
massen  kundtut,  vielmehr  aus  gerade  entgegengesetzten  Gründen.  Die  viel  gc» 
rühmte  und  berüchtigte  Naturtreue  erweist  sich  als  unwesentlich,  sob.ild  man  dar< 
auf  die  Wirkung  Courbets  zurückführen  will;  sie  ist  im  Grunde  nicht  bedeut« 
samer  als  die  bekannte  Romantik  Delacroix'  oder  das  Barock  Grecos;  ein  Not 
behelf.  Vielleicht  wird  man  leichter  Omans  in  Courbets  Landschaften  erkennen, 
als  in  denen  von  Corot  den  Teich  von  Ville  d'Avray.  Selbst  das  ist  nicht  ganz 
sicher,  und  es  wird  dem  Betrachter,  dem  beide  Orte  fremd  sind,  wenig  nützen. 

Der  Materialist  vernachlässigt  die  schönste  menschliche  Fähigkeit,  die  Gabe  der 
Interpretation.  Er  klebt  am  Dinge,  ist  der  Geizhals,  der  Geld  des  Geldes  wegen 
liebt,  nicht  um  sich  schöne  Dinge  dafür  zu  kaufen,  und  leugnet  die,  die  ohne  Geld 
zu  haben  sind.  Der  Materialist  als  Künstler  ist  eigentlich  eine  contradictio  in  ad» 
jecto,    denn  Kunst,  jede  Kunst,   selbst  wenn  sie  von  Kalmücken  geübt  wird. 


BititiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinninitiiimiiiiiimiiiHiiinmm«^^ 


216  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


iiiiriitiiiiMiiiiKiiiimiHiiiHmuiMmiiiiiiiiiiii ii<iiiiMiitiiiiniiiiMmiHiiimiiiiiiiiuiiiiiriiiinuiHHiiiiuiiiiiiti>jiiiiiiiiiiiuuiuimiiiiiiiiitiifiiiiiiiimiiiiiiiuiiitiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii[iii 


muß  interpretieren,  um  in  Erscheinung  zu  treten.  Es  ist  immer  nur  e'm  relativer 
Materialismus  denkbar,  der  nichts  anderes  bezeichnen  kann,  als  eine  ungenügende 
Realisierung  des  Interpreten,  z.  B.  eine  Schöpfung,  die  nicht  das  ganze  Werk  zum 
Rhythmus  und  zum  Symbol  gestaltet,  sondern  nur  Teile,  während  andere  Teile  ver» 
hältnismäßig  ungestaltet,  verhältnismäßig  traditionell  oder  natürlich  bleiben.  Cour, 
bet,  der  Courbet,  der  dem  Philister  seinerzeit  ein  Dorn  im  Auge  war  und  der  die 
moderne  Kunst  befruchtete,  war  ein  gewaltiger  Interpret  und  wurde  gerade  deshalb 
für  materiell  gehalten.  Man  sah  nicht  die  Methode  seiner  Formung  und  nahm  für 
Stoff,  was  reinste,  mächtigste  Form  war.  Die  Art  der  Form,  ihre  Materie,  erleich« 
terte  den  Irrtum.  Courbets  Materie,  die  hiebartigen  Finselstriche,  das  Gehämmerte, 
Geschmiedete, von  dem  feinsten  unddemgröbstenPinselHingestrichene,mitFingern 
und  dem  Messer  Geschlichtete  und  Gerauhte,  das  Farbige,  das  zuweilen,  z.  B.  in  sei» 
nen  Stilleben,  in  so  feinen  Dosen  erscheint,  daß  man  glauben  könnte,  der  Maler  habe 
die  Lippen  zu  Hilfe  genommen,  war  den  Zeitgenossen  zu  neu,  zu  ungewohnt.  Doch 
hatten  sich  schon  lange  vor  Courbet  die  ausdeutenden  Kräfte  großer  Künstler  in  ahn« 
lieh  er  Form  verdichtet.  Seine  Materie  war  nichts  anderes  als  eine  geniale  und  rationelle 
Folge  der  meisterlichsten  Taten  der  Epoche,  das  gesammelte,  homogen  gestaltete 
Resultat  der  seltenen  Erleuchtungen  eines  David  (der  Materie  in  dem  Doppelbild« 
nis  mit  dem  Papst  und  dem  Prälaten);  der  Höhepunkte  eines  Goya  (der  Cucana  und 
ähnlicher  Dinge);derbestenWerkeGericaults  und  Daumiers.  Erst  Courbet  realisierte 
die  volle  Vf^rksamkeit  des  in  den  Skizzen  Constables  verborgenen  Agens  und  gewann 
daraus  einen  bis  zum  Monumentalen  reichenden  Stil,  den  der  Verzicht  auf  die  rein 
koloristischen  Entdeckungen  des  Vorgängers  eher  stärkt  als  mindert.  Nicht  geringere 
Legitimierungen  sind  in  der  älteren  Malerei  zu  finden,  in  Rembrandt  und  Hals  und 
in  den  holländischen  und  flandrischen  Landschaftern  und  Kleinmalern.  Das  Beste 
der  Ruysdael  und  Hobbema,  der  Sieberechts,  Ostade  und  Craesbeeck,  das  Zun» 
dende  in  einem  Caravaggio  und  in  den  anderen  italienischen  und  spanischen  Rea* 
listen  scheint  in  Courbet  verallgemeinert  und  gesteigert,  von  dem  Lokalen  befreit, 
auf  die  einfachste  Form  gebracht.  Und  daß  wir  bei  seiner  Materie  nicht  an 
diese  Gestalter  denken,  sondern  nur  an  die  Natur,  d.  h.  an  ein  noch  Allgemei« 
neres,  beweist  die  Fülle  seiner  Gestaltung.  Er  brachte  gesteigertes,  uns,  die  Be< 
trachter,  steigerndes  Leben.  Er  malte  Tiere,  Menschen,  Steine,  Bäume  so,  daß  wir 
die  Macht  der  Natur,  die  uns  alle  bindet,  nicht  wie  ein  Joch,  sondern  wie  eine 
Gnade  empfinden.  Nur  formulierte  er  in  seinen  besten  Werken  nicht  diese  Gnade, 
überließ  es  uns,  die  Macht  seines  Ausdrucks  zu  deuten,  setzte  nicht  die  bequem 
leserliche  Legende  dazu,  sondern  blieb  Landschafter.  Was  bei  anderen  notwendige 


COURBET    217 

Beschränkung  war,  erscheint  bei  diesem  Dramatiker  der  Materie  wie  freie  Wahl. 
Wer  auf  die  Deutung  der  Materie  verzichtet  und  in  ihr  nur  ein  Handwerk  erblickt, 
begeht  selbst  den  Materialismus,  dessen  er  den  Künstler  beschuldigt,  denn  er  ma» 
terialisiert,  beengt  und  kürzt  die  Wirkung  des  Kunstwerks,  nimmt  Mittel  für 
Zweck. 

Man  gelangt  erst  auf  einem  Umweg  zu  dem  Geiste  Courbets  (auch  wenn  man 
die  Hindernisse  vermeidet,  die  er  mit  seinen  Worten  und  Allüren  der  Erkenntnis 
entgegengestellt  hat),  während  Delacroix,  Corot,  Daumier,  ja  alle  französischen 
Meister  das  ohne  weiteres  Geistige  schneller  zu  offenbaren  scheinen.  Aber  dies 
Geistige  »ohne  »weiteres  ist  auch  nichts  anderes  als  ein  Umweg,  nach  dem  man  erst 
das  Geistige  mit  allem  weiteren,  das  Schöpferische,  entdeckt,  ist  nichts  anderes  als 
der  rohe  Stoff,  das  Motiv,  das  mehr  oder  weniger  Zufällige,  allenfalls  das  Instru« 
ment,  auf  dem  der  Meister  spielt.  Die  Unscheinbarkeit  des  Instruments  kann  eben« 
sowenig  gegen  die  Musik,  die  ihm  entlockt  wird,  entscheiden,  wie  seine  Schönheit 
für  sie  zu  sprechen  vermag. 

Erst  als  man  die  volle  Deutung  der  Materie  Courbets  besaß,  und  das  bedingte 
ein  viel  intimeres  Verhältnis  zu  den  alten  Meistern,  als  es  seine  Zeit  im  allgemeinen 
besaß,  als  man  seine  koUossalischen  Formen  fließend  lesen  konnte,  vermochte  man 
ihn  zu  beurteilen,  die  Stärke  seiner  Vergeistigung  zu  prüfen  und  seinen  Grad  von 
Materialismus,  wenn  davon  wirklich  die  Rede  sein  kann,  zu  erkennen.  Das  ist  viel» 
leicht  erst  heute  möglich  mit  unserer  Beherrschung  der  Analogien  und  unseren  Ver» 
gleichsmöglichkeiten.  Doch  lassen  dieselben  Möglichkeiten  ebensoviel  neue  Irr« 
tümer  zu.  Auch  Tizian  kann  als  Materialist  gelten,  auch  Rubens,  sobald  man  an 
Greco  oder  Poussin  denkt.  Es  fragt  sich,  ob  wir  bei  Tizian  und  Rubens  an  sie 
denken,  ob  diese  Meister  nicht  unser  ganzes  Denken,  wenn  wir  vor  ihnen  stehen, 
erfüllen,  ob  die  Art  der  anderen  sie  zu  ergänzen,  also  ihre  Vergeistigung  zu  ver« 
größern  vermag.  Bei  anderen  Vergleichen  verliert  sich  das  vermeintlich  Verklei« 
nernde  oder  kehrt  sich  gar  in  das  Gegenteil  um.  Constable  ist  materieller  als 
Corot,  darum  steht  uns  Corot  höher.  Er  ist  materieller  als  Turner,  darum  steht  er 
über  Turner.  Ähnlich  verhält  sich  Gericault  zu  Delacroix  und  David.  Die  schein« 
bare  Willkür  wird  durch  das  Wort  bedingt,  das  während  des  Vergleichs  einen  Teil 
seiner  Bedeutung  ändert,  in  einem  Fall  etwas  Objektives,  im  anderen  Fall  etwas 
Subjektives  bedeutet.  Das  Resultat  des  Vergleichs  aber  ist  gültig,  gültiger  als  die 
Kritik,  die  wir  aus  dem  Materialismus  der  Tizian  und  Rubens  im  Vergleich  zu  Pous« 
sin  und  Greco  folgern  möchten,  weil  der  höhere  Wert  den  niederen  mitumfaßt.  Über« 
tragen  wir  dieses  System  der  Kritik  auf  Courbet,  so  stoßen  wir  auf  Widerstände, 


WininiiiiiiiiiiinniiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinininiiiiiiiiiiiiHiiiniiiiiinuiiiiiiiiiiiiiiiiiin 

Mliiitiui)iiiitNililiiiliuiiiiiiiiirtiiiiiiii>iiiiiiiiiN[ii>iHii]iiiiiiiiiii<iiiiiiiiiiiiiii>iiiiiifiiii>ii>iiiiiiiiiii>iiiiiitii 


218  DIELANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


auf  einen  Subjektivismus  besonderer  Art,  der  bei  dem  Vergleich  mit  den  Vor« 
gängern  gewichtig  in  die  Wagschale  fällt.  Courbet  erscheint  derber,  und  darum 
mag  er  greifbarer  als  die  Delacroix  und  Daumier  erscheinen.  Doch  spricht  diese 
Derbheit  nicht  gegen  oder  für  seine  Intensität.  Die  greifbare  Mache  seines  Geistes 
(wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist)  erklärt  vielleicht  seinen  großen  Einfluß.  Man 
konnte  sich  ihm  wiederum  mit  einer  Derbheit  hingeben,  die  der  Persönlichkeit  alle 
möglichen  Reservate  geistiger  Art  erlaubte.  Sie  sagt  nichts  voit  der  Art,  wie  Cour« 
bet  selbst  sein  Eigentum  bewirtschaftete,  ist  zunächst  ein  Gesicht,  das  nur  sehr  un« 
sichere  Schlüsse  auf  den  Menschen  erlaubt.  Die  Welt  hat  sich,  zumal  nach  seinem 
Tode,  zu  ausschließlich  daran  gehalten. 

Das  Derbe  war  Courbets  Kunst  durchaus  nicht  von  Anfang  an  eigentümlich, 
erscheint  hier  vielmehr  als  ein  Ziel ,  dem  er  sich  nach  einer  weitverzweigten  Ent» 
Wicklung  schrittweise  näherte.  War  es  seine  Natur,  so  ist  er  von  einer  ihm  fremden 
Art  ausgegangen  und  hat  es  als  seine  Aufgabe  betrachtet,  sich  selbst  zu  gewinnen. 

Die  ersten  Werke,  zumal  die  Selbstbildnisse,  das  erste  aus  1841  mit  dem  viel» 
sagenden  Titel  Desespoir,  dann  der  Courbet  au  chien  noir,  der  Homme 
blesse  und  zumal  die  Amants  dans  la  Campagne  sind  reiche  Zeugnisse  eines 
Romantikers,  dem  die  Schwärmerei  auf  der  Stirn  steht.  Corot,  dessen  Aufgabe  war, 
die  angeborene  Weichheit  zu  entdecken,  fing  viel  strenger,  um  nicht  zu  sagen, 
härter  an.  Der  frühe  Courbet  ist,  von  seltenen  Ausnahmen  abgesehen  ^),  ein  Geri« 
cault,  in  dem  die  Wucht  durch  eine  fast  mädchenhafte  Zärtlichkeit  ersetzt  ist;  ein 
Träumer  von  der  Art  Prud'hons,  die  ja  auch  in  Gericault  mitgewirkt  hat.  Das 
Selbstbildnis  von  1849,  das  man  neben  den  Gericault  der  Bildnisgalerie  des  Louvre 
hängen  möchte,  l'homme  ä  la  ceinture  de  cuir,  mit  dem  bleichen,  von  langem 
schwarzen  Haar  gerahmten  Antlitz  und  den  prachtvollen  Händen,  ist  ein  Romeo 
von  edelster  Haltung;  ein  Romeo  aus  Sevilla.  Die  meisterhafte  warme  Modellie« 
rung,  die  jede  Härte  vermeidet  und  nichts  als  die  Noblesse  einer  geläufigen  Form 
interpretieren  will,  deutet  eher  auf  das  Clair  obscur,  in  dem  sich  im  17.  Jahrhundert 
spanische  Granden  malen  ließen,  als  auf  den  Maler  der  Felsen  von  Omans.  Noch 
an  dem  Apres«diner  ä  Omans,  dem  ersten  seiner  großen  Gruppendarstellungen, 
ist  die  blasse  und  dunkle  Romantikerform  beteiligt;  freilich  nicht  an  dem  eigent» 
liehen  Inhalt  dieses  ersten  Blattes  eines  nordisch»bürgerlichen  Epos. 


*)  Die  bedeutsamste  Ausnahme  ist  der  Hamac  —  die  Hängematte  mit  dem  modisch  gekleideten 
Mädchen  —  aus  1844.  Das  Bild  könnte  ebensogut  fünfzehn  oder  zwanzig  Jahre  später  entstanden 
sein.  Es  zeigt  bereits  in  manchen  Einzelheiten  jenes  dürre  Extrem  des  Courbetschen  Realismus,  das 
Hans  Thoma  verlockte.   Für  Courbet  mag  es  ein  bravourhaftes  Experiment  gewesen  sein. 


COURBET 219 

Einen  großen  Teil  der  Entwicklung  bestimmt  der  Einfluß  Gericaults.  Der  junge 
Courbet  verehrte  Gericault  mit  demselben  Enthusiasmus,  mit  dem  der  junge  Dela« 
croix  an  dem  Meister  hing.  Noch  in  später  Zeit,  als  er  nicht  leicht  einen  anderen 
neben  sich  gelten  ließ,  nannte  er  ihn  seinen  Lehrer.  Das  war  nicht  mehr  als  gerecht, 
gerechter  als  Delacroix'  Enthusiasmus.  Er  verdankte  ihm  mehr  als  Delacroix.  Geri* 
cault  war  der  einzige  Zeitgenosse,  in  dem  der  werdende  Naturalist  eine  verwandte 
Regung  erblickte.  Es  war  das  Versprechen  des  Carabinier  und  ähnlicher  Bilder, 
das  Gericault  später  in  manchen  anderen  Köpfen  und  in  einigen  Landschaften  wieder* 
holte  und  zu  dessen  Erfüllung  dem  Ehrgeizigen,  der  allzuvielen  Zielen  zustrebte, 
keine  Zeit  geblieben  war.  Courbet  erkannte  in  diesen  grandiosen  Fragmenten  das 
Wesentliche  des  Meisters  der  Medusenbarke  und  die  Stützen  seiner  eigenen  Welt. 

Diese  Erkenntnis  kam  ihm  schwerlich  gleich  im  Anfang,  sicher  nicht  bevor  er 
sich  mit  allerlei  altmeisterlichen  Werken,  z.  B.  mit  den  Spaniern,  auseinandergesetzt 
hatte,  und  es  ist  die  Frage,  ob  ihn  nicht  Delacroix  in  dieser  Richtung  gefördert  und 
ihn  noch  mehr  auf  Gericault  gewiesen  hat.  Das  klingt  heute  paradox,  nachdem 
Delacroix  und  Courbet  längst  als  feindliche  Pole  mit  sicheren  Titeln  rubriziert  sind. 
In  den  vierziger  Jahren  waren  die  fragwürdigen  Titel  noch  nicht  geprägt,  und  da 
findet  man  oft  in  der  Tageskritik  die  Namen  der  beiden  als  „Verhäßlicher  der 
Menschheit"  vereint.  Ein  wesentlicheres  Symptom  ist  der  Beifall,  mit  dem  Dela« 
croix  im  Salon  von  1849  das  Werk  des  Genossen,  den  Ingres  mit  ebenso  unver» 
hohlener  Erbitterung  ablehnte,  begrüßte.  Es  fehlt  nicht  an  künstlerischen  Be» 
Ziehungen.  Die  Ähnlichkeit  gewisser  Landschaften  Delacroix',  wie  des  Gartens 
der  George  Sand,' mancher  Tierbilder,  z.B.  der  merkwürdigen  Katze,  die  bei 
Cheramy  war,  mancher  Stilleben,  Blumenstücke  usw.  mit  späteren  Werken  Cour» 
bets  springt  in  die  Augen.  Der  Delacroix  der  vierziger  Jahre  erscheint  in  solchen 
Bildern,  die  freilich  so  gut  wie  nichts  zu  seinem  Oeuvre  beitragen,  naturalistischer 
als  der  Naturalist.  Der  Vergleich  würde  in  vielen  solchen  Fällen  zugunsten  der 
subjektiveren  Gestaltung  Courbets  entscheiden,  schon  weil  Courbet  zu  seinem 
Glück  auch  später  nur  sehr  selten  auf  einen  Rest  der  weichen  Tonumhüllung  spa« 
nischer  Herkunft  verzichtete,  ein  Mittel,  über  dessen  Nützlichkeit  Delacroix  er« 
haben  war.  Die  Naturstudie  war  Delacroix  nur  Mittel  zum  Zweck,  während  sie 
alle  gestaltenden  Kräfte  Courbets  absorbierte.  Daher  verbietet  sich  der  kritische 
Schluß  aus  solchen  Vergleichen,  will  man  nicht  den  Fehler  jenes  Fachmanns  be» 
gehen,  der  Voltaire  vorwarf,  nicht  genug  von  Jurisprudenz  zu  wissen. 

Das  Verhältnis  zu  Gericault,  das  ohne  diese  Reserve  betrachtet  werden  kann,  ist 
ungleich  wichtiger.  Es  läßt  Courbet  wie  den  legitimen  und  glücklicheren  Erben  er. 


D«iMWiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiniiiiiiiMiiiiiini!ninininiiiiH^ 

220  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


scheinen.  Sein  Verzicht  auf  die  Wege,  die  dem  Vorgänger  die  Kräfte  gelähmt  hatten, 
ist  von  ähnhcher  "Weisheit  wie  der  Widerstand  Constables  gegen  die  Prätentionen 
Turners  und  stellt  den  berüchtigten  Größenwahnsinn  des  Menschen,  der  sich  selbst 
einmal  „den  eingebildetsten  Mann  Frankreichs"  nannte  0.  in  das  rechte  Licht.  Es 
war  die  Einsicht  des  Gärtners,  der  die  Äste  beschneidet,  um  den  Stamm  zu  kräf» 
tigen.  Der  Stamm  war  auch  in  Gericault  die  derbe  Kraft  eines  Naiven,  dem  es 
gegeben  war,  ohne  viele  subjektive  Umwege  ein  Stück  Welt  in  wuchtige  Materie 
zu  verwandeln,  und  dem  alle  bewußten  psychologischen  Weiterungen  des  Stofifs 
die  spontane  Gewalt  des  Ausdrucks  schmälerten.  Diesen  schöpferischen  Natura« 
lismus  ließ  der  Gericault,  der  nach  Italien  ging,  ungenutzt.  Er  war  dem  Maler  der 
Medusenbarke  und  der  antiken  Rossebändiger  kaum  mehr  als  ein  Sport  oder  eine 
Sammlerlaune,  und  ließ  ihn  im  Stich,  sobald  er  nicht  mehr  Geköpfte  und  Irre  und 
verwundete  Soldaten  seines  Landes  zu  malen  hatte.  Dieser  Naturalismus,  der  in 
dem  eingebornen  Kleinen  das  Große  entdeckt,  gab  dem  Maler  von  Omans  das  ho* 
mogene  Gefüge  und  machte  ihn  unwiderstehlich. 

Man  hat  dem  Unbescheidenen  nichts  schwerer  verübelt  als  diese  Bescheidenheit. 
Sein  Verzicht  war  in  dem  Lande  der  Poussin  und  Claude  eine  Ungeheuerlichkeit. 
Man  darf  es  Gericault  nicht  anrechnen,  daß  er  ihn  unterließ.  Nie  hätte  einem  Nach« 
folger  Davids  und  Vorgänger  Delacroix'  in  den  Sinn  kommen  können,  die  Antike 
bewußt  zu  opfern.  Um  das  Opfer  möglich  zu  machen,  bedurfte  es  der  stillen  Vor» 
arbeit  der  Fontainebleauer  und  vor  allem  der  Gewöhnung  der  Menge  an  ein  sozi« 
ales  Empfinden,  das  zwar  schon  fünfzig  Jahre  vorher  offiziell  dekretiert  worden 
war,  aber  für  das  jetzt  erst  die  Organe  langsam  zu  wachsen  begannen. 

Claudes  Bilder  nennen  wir  Landschaften,  und  Constables  Hay  Wain  nennen 
wir  ebenso,  auch  die  Bilder  von  Rousseau,  Corot  und  Millet.  Das  geht  an,  auch 
wenn  uns  für  die  Erlaubnis,  die  gleiche  Bezeichnung  zu  benutzen,  nicht  die  Tat« 
sache,  daß  auf  allen  diesen  Bildern  Wiesen,  Bäume,  Himmel  vorkommen,  genügt. 
Zwischen  den  Künstlern  besteht  eine  leise  geistige  Gemeinschaft.  Es  geht  viel 
weniger  an,  Courbets  Landschaften  dazuzurechnen,  wenigstens  viele  von  ihnen,  z.B. 
die  Bilder  mit  den  Felsengrotten  oder  die  Marinen,  die  gerade  seine  schönsten  sind. 
Es  fehlt  unserem  Gefühl  ein  Gefühlswert,  der  uns  über  den  Maler  beruhigt  und  seine 
Stellung  in  unserer  Mitte  sichert.  Wenn  wir  uns  aber  darüber  klar  werden  wollen, 
merken  wir  in  den  Bildern  etwas  vielWesentlicheres  als  jenen  entbehrten  Gefühlswert, 

')  In  der  köstlichen  Unterredung  mit  dem  kaiserlichen  Intendanten  Nieuwerkerque,  der  ihn  zu 
einem  Kompromiß  bewegen  wollte.  (S.  u.  a.  das  CourbetsWerk  von  Georges  Riat  [H.  Floury, 
Paris  1906],  S.  129.) 


iiiiiliniiiiiliimilwiiiiilfliiinniniiiiiiiiiinnmimiiiiniininniiiiiniiiHiiniiniininiiiini» 


COURBET 221 

ein  Mächtigeres  das  den  anderen  abgeht.  Zu  den  Landschaften  bis  dahin  schien  eine 
Art  Gemächlichkeit  zu  gehören,  die  zuletzt  noch  Corot  deutlich  sehen  ließ,  ein  Be* 
h^gen,  das  trotzdem  alle  möglichen  düsteren  und  erhabenen  Seelenzustände  erweckte, 
das  Vehemente  wie  in  Rubens,  das  Mystische  wie  in  Breughel  enthalten  konnte, 
namentlich  wenn  in  der  Landschaft  eine  Legende  dieser  Art  vorging.  Man  suchte 
diese  Legende  und  fand  sie,  selbst  wenn  sie  nur  aus  einem  umgestürzten  Baum  oder 
einer  zerfallenen  Hütte  bestand.  Man  konnte  sich  immer  eine  Legende  dazudichten, 
und  das  war  das  Beruhigende.  Bei  den  besten  Courbets  von  der  genannten  Art 
ist  dergleichen  undenkbar,  so  undenkbar,  daß  wir,  selbst  wenn  der  Maler  eine  solche 
Legende  versucht  hat,  sie  als  unwesentlich  und  als  Störung  zurückweisen,  weil  wir 
keine  Erklärung  oder  Deutung,  nur  eine  Schmälerung  jenes  beunruhigenden  Mo» 
mentes  darin  finden.  Wir  ahnen  ein  anderes  Erlebnis,  eine  ganze  Art  von  Erleb» 
nissen.  Es  ist,  als  ob  nicht  Steine,  Bäume,  Himmel  eine  Rolle  in  dem  Erlebnis 
spielten,  sondern  das  in  Moleküle  Zerlegte  dieser  Dinge.  Das  Beunruhigende  ist 
das  Unbegreifliche,  daß  dieses  Zerlegte,  nach  gewohnten  Begriffen  also  Verklei» 
nerte,  so  großartig,  dramatisch,  so  monumental  wirkt. 

Mit  seinen  Bildnissen,  wiederum  nur  mit  den  besten,  geht  es  uns  nicht  ganz  so, 
aber  ähnlich.  Wir  zögern,  sie  zu  der  Kategorie  zu  rechnen,  in  der  so  verschiedene 
Abbilder  der  Menschheit,  wie  die  von  Rembrandt,  Tintoretto,  Raffael,  zusammen« 
stehen.  Wieder  vermissen  wir,  wenn  auch  vielleicht  weniger  bestimmt,  einen  ge« 
wohnten  Gefühlswert,  der  bis  dahin  der  Gattung  unentbehrlich  schien,  eine  ge« 
wohnte  Beziehung  zu  einem  Kreis  versteckter  Legenden,  die  uns  das,  was  wir  den 
Geist  eines  Bildnisses  nannten,  deutete.  Und  bevor  wir  infolgedessen  auf  einen 
Mangel  schließen ,  stellt  sich  ein  Ersatz  ein ,  der  aus  einer  fast  entgegengesetzten 
Welt  von  Wirkungen  stammt  und  uns  die  Illusion  einflößt,  Courbet  habe  etwas 
anderes  als  jenen  Geist  im  Auge  gehabt,  und  es  sei  ihm  gelungen,  dieses  andere 
ebenso  wirksam  zu  gestalten. 

So  geht  es  uns  mit  vielen  anderen  Bildern.  Zurbaran  hat  ein  Begräbnis  gemalt, 
Greco  ein  anderes.  Sie  wurden  dafür  gefeiert,  und  wir  können  das,  ganz  abgesehen 
von  unserer  heutigen  Schätzung,  nachfühlen.  Auch  Courbet  hat  ein  Begräbnis  ge* 
malt,  und  darüber  geriet  man  im  Salon  von  1850  in  eine  Entrüstung  wie  über  eine 
öffentliche  Infamie.  1855  ging  es  dem  Atelier,  dem  zweiten  Hauptwerk  Courbets, 
ebenso.  Und  auch  das  können  wir  sehr  wohl  nachfühlen,  obwohl  die  Bilder  zu 
den  großartigsten  und  edelsten  Werken  der  Kunst  gehören  und  obwohl  wir  sie  als 
solche  immer  von  neuem  genießen. 

Die  zeitgenössische  Kritik  behauptete,   die  Bilder  seien  häßlich  gemalt.     Das 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiininiiiiiiiniiiiiniiiiniiininiiiniiiiiiiiiiiiiniiMiiiininiiiiiiiiwiiiiiiiiiiiniii"^  niniiHiniiiii 

* iitiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiii ■ 


222  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


UHijiiiNiMii(wnrni«witiHiiiiMiiituiiiiiiiiiiiii"iiiiiriuiimiiiiiiiiiiimiimi(imjMmiiiiiiiiiiiiiiiiuiHiiiiiiiuiiiiiiuiiiiiiiii iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuiiiiiii iiitimiiiuiiiiiiiiuiiiiiiiiiimtiuiiiiinriui iiiiiiiiiuiinimiuuiiiiiiiiii iiiiiii iiiiiiiiiiitKtiriitiiiiiiriiiHiiimuiMti 

widerlegen  wir  ohne  Mühe.  Die  Bilder  sind  mit  größter  Meisterschaft  gemalt,  und 
es  lassen  sich  dafür  Argumente  erbringen,  die  in  anderen  Fällen  zu  entscheiden 
pflegen.  Das  Begräbnis  von  Omans  enthält  eine  bewundernswerte  Synthese  der 
künstlerischen  Konventionen ,  die  Greco,  Zurbaran  und  andere  große  Meister  aus» 
gebildet  haben.  Man  hat  es  mit  den  Schützenstücken  des  Franz  Hals  verglichen. 
Mit  einem  gewissen  Recht,  denn  einmal  ist  in  der  ungeheuren  Kraft  dieses  düsteren 
Daseins  etwas  von  Hals  zu  spüren,  freilich  nur  ein  winziger  Reflex,  der  kaum  aktiv 
wird;  und  dann  gilt  uns  heute  ja  auch  das  Begräbnis  von  Omans  als  ein  repräsen« 
tatives  Werk  wie  jene  Bilder.  Es  gilt  uns  sogar  in  weit  höherem  Maße  dafür,  ja, 
wir  möchten  ihm  mit  dieser  Bedeutung  etwas  zuschreiben,  das  kein  Gemälde  Dela» 
croix'  oder  Ingres'  oder  Davids  besitzt.  Nur  vermögen  wir  es  kaum  zu  formulieren. 
Wir  fassen  leicht  das  Repräsentierte  in  den  Bildern  von  Hals,  die  Lust,  an  der  sich  der 
Maler  ergötzte.  Wie  harmlos  erscheint  diese  Lust  und  alles  andere,  der  ganze  Inhalt 
der  Schützenstücke,  neben  der  Gewalt  des  modernen  Repräsentanten,  der  sich  ab* 
kehrt  von  seinen  Geschöpfen,  sie  malt,  als  gingen  sie  ihn  nichts  an,  und  ihnen  ge« 
rade  dadurch  die  Macht  verleiht.  Es  ist,  als  gewänne  er  aus  dem  Verzicht  auf  jeden 
deutbaren  Geist  die  düstere  Fracht  seiner  Legende,  neben  der  selbst  ein  Franz  Hals 
erblaßt. 

Die  zeitgenössische  Kritik  warf  Courbet  das  besondere  Motiv  vor,  das  sie  ab» 
scheulich  nannte.  Eher  könnte  sich  der  Vorwurf,  den  wir  nachfühlen,  gegen  den 
wir  bis  zum  gewissen  Grade  sogar  noch  heute  in  der  eigenen  Brust  zu  kämpfen 
haben,  gegen  das  Unbesondere  der  Bilder  richten,  das  zu  einem  Heroismus  ge» 
steigert  wird. 

Courbet  kämpfte  für  das  Recht  eines  neuen  Erlebens.  Das  Unbesondere  war 
ein  besonderer  Wahlinstinkt,  der  konsequent  zu  Werke  ging.  Wir  können  ihn 
leichter  mit  Beispielen  für  das  Negative  seiner  Wahl  erklären.  Courbet  hatte  nicht 
die  Duldung  für  Dinge,  die  er  nicht  empfand,  und  hätte  die  ihm  gelegenen  sonst 
nicht  empfinden  können.  Er  blieb  vor  der  Antike  ohne  jede  Regung,  saß  vor 
Raffael,  Leonardo  und  Michelangelo  wie  vor  Hieroglyphen  und  leugnete  es  nicht. 
Die  anderen  Meister  der  Zeit,  denen  der  fördernde  Zusammenhang  mit  Italien 
entging,  suchten  den  Mangel  zu  verdecken.  Turner  simulierte.  Goya  ging  mit 
Wildheit  darüber  hinweg,  die  Deutschen  mit  einer  frommen  Einfalt,  der  keiner 
gram  sein  konnte.  Niemand  dachte  daran,  gegen  den  Gegenstand  allgemeiner  Ver» 
ehrung  zu  protestieren.  Courbet  saß  da  und  sagte:  ich  fühle  nichts.  Alle  hörten 
es  mit  Entsetzen. 
.  Er  war  geradezu  klassisch  in  dieser  Unberührtheit  von  allem  klassischen  Wesen, 


iiiiiiiiiniiiiiiiiiiiwaiMiiiiiniiinmiiin 


_         COURBET 223 

in  dieser  unträtablen  Kälte  gegen  eine  Welt,  die  seinem  Volke  so  viel  wie  die  Her» 
kunft  künstlerischen  Ausdrucksvermögens  bedeutet.  Er  lehnte  nicht  einmal  ab, 
wenigstens  nicht  als  Maler.  Daumier  lehnte  die  Antike  ab,  und  jeder  Pinselstrich 
bewies  die  Zugehörigkeit  des  Spötters  zur  Antike.  Courbet  malte  so,  als  ob  es  die 
Gottheit  nie  gegeben  hätte.  Und  malte  fabelhaft.  Ohne  den  unerhörten  Prunk 
seiner  Diktion  wäre  die  Verneinung  unbemerkt  geblieben. 

Weist  ein  gewöhnlicher  Sterblicher  einen  wesentlichen  Teil  unserer  Kultur  zu* 
rück,  so  ist  das  seine  Sache.  Die  Kultur  gerät  deshalb  nicht  aus  den  Angeln. 
Neun  Zehntel  der  heutigen  Deutschen  empfinden  im  Vatikan  im  wesentlichen 
Langeweile  und  denken  an  ihr  Lunch,  während  sie  die  Augen  verdrehen.  Ein 
Zehntel  gesteht  es  beim  Weine,  treuherzig  oder  mit  Verlegenheit.  Manche  von 
ihnen  empfinden  trotzdem  allerlei  vor  anderen  Dingen  oder  bilden  es  sich  ein,  so» 
gar  vor  ebenso  hohen  oder  noch  höheren,  z.  B.  vor  Rembrandt,  vor  den  nordischen 
Primitiven,  vor  allem,  das  von  ihrer  Art  ist  oder  das  sie  —  nicht  eben  bedenklich  — 
dafür  nehmen.  Es  sind  Neger,  die  das  Weiße  nicht  mögen.  Sie  werfen  den  großen 
Italienern  das  Italienische  vor,  nennen  Pose,  was  nicht  mehr  noch  weniger  konven» 
tionelle  Form  ist  als  der  gewohntere  Ausdruck  ihrer  eigenen  Derbheit.  Sie  können 
nur  Deutsch  lesen.  Goethe  würde  ihnen  auch  das  noch  absprechen.  Denn  im 
Grunde  lesen  sie  auch  das  eigene  nicht ,  sondern  spiegeln  sich  darin  und  werfen 
das  Buch  fort,  das  sich  dem  Spiel  nicht  eignet.  Es  sind  Geographen,  die  auch  den 
Geist  ethnographisch  betrachten,  Touristen,  die  sich  selbst  umkreisen,  Provinzler. 
Schließlich  aber  kann  ihnen  niemand  das  Recht  rauben,  ihr  Erlebnis  da  zu  finden, 
wo  es  ihnen  paßt.  Es  gibt  schlimmere  Krüppel.  So  lange  sie  nicht  betteln,  hat 
das  Interesse  der  Allgemeinheit  nichts  mit  ihnen  zu  tun. 

Beim  Künstler  wird  die  gleiche  Verneinung  des  Wesentlichen  zur  Staatsaktion. 
Er  gehört  zum  Bau,  soll  ihn  stützen,  um  von  ihm  gestützt  zu  werden.  Er  ist  immer 
Repräsentant.  Die  Kunst  ist  das  Herrenhaus  der  Völker.  Daher  muß  sein  Erleb» 
nis,  das  ihn  zum  Künstler  macht,  Baustein  sein  in  dem  Gebäude  der  Kunst,  dem 
Mörtel  erreichbar,  sonst  bleibt  er  ungenutztes  Mineral  in  der  Erde.  Sein  Anspruch 
an  die  Gesamtheit,  der  immens  ist,  bedingt  seine  Gegenleistung:  er  muß  passen. 
Wäre  er  ein  Gott,  müßte  er  immer  noch  Form  sein,  den  anderen  zugänglich,  greif» 
bare,  brauchbare  Materie.  Hätte  sein  Haupt  Gedanken  voll  neuer  Glückseligkeit 
für  die  Welt,  müßten  seine  Worte  immer  noch  Sprache  sein,  der  Syntax  seines 
Volkes  unterworfen. 

Zweierlei  warf  man  Courbet  vor:  erstens,  daß  er  nichts  zu  sagen  habe;  zweitens, 
daß  er  die  Sprache  seiner  Väter,  die  mit  größter  Pietät  gehegte  und  gepflegte  Form 


iiiitiiiiiiiiiiiiniiiiiniiiiiiiiiniiiii!<iiiiiniinwwiiiniiiiiiiiiiiiiiinniininii!nitiiiiiiiinniniiin^ 


224  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


HNmHiiHhWMTMMntMMnuiuMniuiJiimmiinLiJHiiiiniiiiiiirimriiMrniiNmuNiiiiiiiiiiJNMniuiiiumnimiuiitiMruiiiuiiiiiiiiiii»^ 

der  Poussin,  Claude  und  ihrer  Nachfolger  in  inartikulierte  Laute  verwandele.  Der 
erste  Vorwurf  interessiert  uns  heute  nicht  mehr;  dafür  sind  wir  artistisch  zu  abge« 
härtet.  Der  andere  besitzt  auch  heute  noch  fördernde  Möglichkeiten  für  unsere 
Erkenntnis.  Der  Mangel  eines  gewöhnlichen  Sterblichen  an  wesentlichen  Bezie* 
hungen  ist  leicht  festzustellen.  Ein  paar  Worte  können  ihn  verraten.  Derselbe  Mangel 
liegt  in  der  Äußerung  des  Künstlers  nicht  so  offen  da.  Die  mehr  oder  weniger  enge 
Rücksicht  auf  jene  Beziehungen  wird  leicht  zu  dem  ungerechtfertigten  Anspruch 
führen,  der  Künstler  solle  überlieferte  Formen  wiederholen,  während  es  seine  Auf» 
gäbe  ist,  die  Form  zu  erneuern.  Man  kann  von  ihm  fordern,  daß  er  das  Alte  ent» 
halte,  weil  ohne  die  Wirksamkeit  des  Alten  das  Neue  nicht  mitteilbar  wird.  Nur 
geht  es  nicht  an,  die  Form  vorzuschreiben,  in  der  er  das  Alte  enthält.  Hat  er  etwas 
zu  sagen  und  sagt  er  es  verständlich,  so  muß  angenommen  werden,  daß  seine  Sprache 
vollkommen  ist  und  in  einer  für  uns  zunächst  noch  nicht  durchsichtigen,  vielleicht 
sogar  dem  Künstler  selbst  nicht  bewußten  Form  die  Wirksamkeit  der  Beziehungen 
enthalte,  ohne  die  wir  uns  eine  gültige  Äußerung  nicht  denken  können. 

Man  machte  Courbet  zum  Opfer  einer  Analogie,  die  zu  eng  genommen  wurde. 
Seine  Sprache  galt  für  unzulässig,  weil  ihr  in  der  Tat  viele  bis  dahin  gewohnte 
Floskeln  fehlten.  Waren  diese  wirklich  unersetzlich?  Darüber  vermochten  die  Epi» 
gonen  des  Klassizismus  nicht  zu  entscheiden.  Courbets  Sprache  galt  für  unerhört, 
weil  man  den  rechten  Begriff  der  Sprache  verloren  hatte.  Wie  hätte  sonst  der  reine 
Gesang  der  Delacroix  und  Corot  und  der  anderen  Meister,  auf  den  wir  heute 
lauschen,  ungehört  bleiben  können  1  Man  war  so  gewohnt,  immer  dasselbe  aus  dem 
Munde  der  Nachsprecher  zu  hören,  daß  das  Produktive  in  der  Wahl  des  Aus» 
drucks  wie  ein  Eingriff  in  das  Patrimonium  galt. 

Die  künstlerische  Äußerung  ist  so  viel  reicher  und  freier  als  das  gewöhnliche 
Idiom  des  Menschen,  daß  der  Vergleich  mit  der  Sprache  nicht  ausreicht.  Schon 
der  Begriff  der  Worte,  die  den  Satz  des  Künstlers  bilden,  i^  so  kompliziert,  daß 
er  kaum  mit  der  wenig  veränderlichen  Buchstabenfolge,  die  wir  sprechend  als 
Zeichen  benutzen,  verglichen  werden  kann.  Die  Sprache  des  Künstlers  ist 
Schöpfung,  als  solche  einmalig,  allem  Mechanismus  entrückt,  und  sie  ist  nicht 
Mittel  zum  Zweck,  sondern  Mittel  und  Zweck  zusammen,  daher  vollends  der 
Analogie  unzugänglich.  An  Stelle  der  Worte  treten  die  überlieferten  Materien,  die 
Stoff  gewordenen  vorhergegangenen  Interpretationen,  und  Sprache  wird  die  rhyth» 
mische  gesetzmäßige  Zusammenziehung  der  Materien  zu  einer  neuen.  Die  Formel 
ist  apokryph,  weil  sie  das  größte  Geheimnis,  den  Rhythmus,  der  die  Worte  wählt 
und  zusammenziehend  umgestaltet,   im  Dunkel  läßt  und  weil  wir  das  Gesetz« 


uiiiiiniiiiimiiiiiiMaiiiuiMiiMiini^^ 


COURBET .  225 

mäßige  des  Rhythmus,  die  geheime  Beteiligung  der  Allgemeinheit  an  diesem 
höchst  individuellen  Vorgang  nicht  zu  durchschauen  vermögen.  Alles  in  dieser 
Sprache  ist  schöpferisch  und  persönlich,  alles  ist  gesetzmäßig  und  allgemein.  Und 
alle  solche  Analogien  sind  zumal  deshalb  apokryph,  weil  ihre  Kompliziertheit  die 
Kunst  entfernt,  die  sie  uns  nähern  möchte,  und  das  der  Empfindung  Zugängliche 
dem  hilflosen  Verstände  überläßt.  Es  wäre  vielleicht  richtiger,  sich  statt  der 
Worte  hohe  Gefäße  oder  köstliche  Brunnen  zu  denken,  die  irgendwo  im  Weltall 
an  entlegenen  Stellen  die  Empfindungen  der  Menschheit  sammeln  und  erst  wenn 
sie  gefüllt  sind,  wahrgenommen  und  ausgesprochen  werden.  Die  Tat  des  Künstlers, 
der,  nach  Erlebnis  dürstend,  durch  die  Welt  zieht,  ist  vielleicht  nur,  jene  Brunnen  und 
Gefäße  zu  entdecken  und  uns  den  Weg  dahin  zu  zeigen.  Jahrhundertelang  wies  man 
immer  auf  die  Gegend ,  wo  die  klassische  Amphora  stand  oder  vermutet  wurde, 
und  das  Weisen  war  zu  einer  leeren  Gebärde  geworden,  der  die  Blicke  der 
Menschheit  nur  noch  mechanisch  folgten.  Inzwischen  aber  war  im  Walde  zwischen 
Felsen  und  Gestrüpp  ein  von  keinem  Marmor  gefaßter  Quell  voll  und  übervoll 
geworden.  Viele  hatten  ihn  geahnt,  waren  ihm  nahe  gekommen.  Courbet  fand 
ihn.  Niemand  wollte  ihm  glauben,  weil  der  Weg  abseits  führte,  weil  alles  fehlte, 
was  sonst  den  Zugang  zu  den  Quellen  schmückt.  Die  Welt  schien  in  dem  Urwald 
zu  Ende.  Man  brauchte  nur  auf  den  nächsten  Hügel  zu  steigen,  um  über  dem 
Walde  zu  sein  und  ringsum  auf  längst  gewohntes  Land  zu  blicken,  dem  jener  neue 
Strich  um  die  Quelle  notwendige  fruchtbare  Verbindungen  erschloß. 

Jede  neue  Kunst  ist  eine  Urbarmachung  eines  Stückes  der  Welt,  eine  neue  An» 
siedelung  im  Reiche  der  Erfahrung.  Jeder  große  Künstler  ist  ein  Streiter  für  eine 
neue  Selbsterkenntnis.  Diese  muß  in  unseren  Zeiten  wohl  immer  bitter  sein,  weil 
die  Welt  sich  allemal  sträubt,  sie  für  gültig  anzuerkennen. 

Courbets  Recht  auf  seine  Sprache,  die  Gültigkeit  seiner  Entdeckung,  ist  ästhe« 
tisch  letzten  Endes  so  wenig  zu  legitimieren,  wie  wir  selbst  und  unsere  Art.  Er  ist, 
weil  wir  sind,  und  man  kämpfte  gegen  sich  selbst,  als  man  sich  gegen  ihn  erklärte. 
Alle  anderen  Begründungen,  an  denen  es  nicht  fehlt,  sind  winzige  Nebensätze, 
die  erst  in  ihrer  Summe  überzeugen.  Die  wichtigste  ist  die  unabsehbare  Folge 
seines  Wirkens.  Aber  daß  wir  heute  so  sprechen  wie  er,  beweist  nicht,  daß  et 
recht  hatte,  so  zu  beginnen.  Eines  ist  sicher,  daß  wir  uns  eine  andere  Möglichkeit 
nicht  denken  können,  daß  uns  die  Zeichen,  die  er  schuf  oder  deren  Schöpfung  er 
anbahnte,  unentbehrlich  geworden  sind.  Wir  können  uns  die  Zeichen  seiner  Inter» 
pretation  ins  Unendliche  differenziert  denken,  uns  vorstellen,  daß  nach  Courbet 
andere  Künstler  kamen  und  kommen  mußten,  die  ihn  nach  vielen  Richtungen  hin 

15 


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226  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDEZU  COURBET 


ergänzten  und  übertrafen.    Es  ist  uns  unmöglich,  uns  eine  andere  Gattung  von 

Ausdrucksformen  zu  denken,  die  uns  gleich  nahe  stände.   Et  ist  der  Übertreiber 

unserer  Unfähigkeit.    Mit  einer  Offenheit,  die  an  Zynismus  grenzt,  bekannte  er 

unser,  der  Antike  nur  zu  entferntes,  Wesen  und  zog  den  Boden  unter  allem  Klas« 

sizismus  fort,  der  es  je  wagen  sollte,  sich  mit  der  nachahmenden  Vorspiegelung 

jener  Welt  zu  begnügen.   Er  ist  der  Übertreiber  unserer  Fähigkeiten.   Denn  er 

verstand  unser  der  Form  mißtrauendes  Gefühl  zu  formen.   So  legitimierte  er  seinen 

Verzicht.   Er  setzte  an  Stelle  der  Ordnung,  die  bis  dahin  galt,  eine  andere.   Sie 

war,  sobald  man  das  Wesentliche  des  Künstlers  von  seinen  oft  banalen  Irrtümern 

trennte,  keine  Willkür,  erschien  nur  seinen  Landsleuten  und  der  Welt,  die  seit  Jahr» 

Hunderten  von  Frankreich  die  Kunst  erhielt,  wie  eine  beziehungslose  Neuheit  und 

galt  für  Naturalismus,  weil  man  ihre  Gesetze  nicht  durchschaute.    Ihre  Grund» 

lagen  sind  alt  wie  die  Ägypter.   Er  hatte  sein  Gesetz,  nur  sträubte  er  sich,  es  aus» 

zusprechen.   Der  kleine  Denker  mit  der  großen  Hand,  der  alle  Geheimnisse  der 

Malerei  erspähte,  der  Maler  mit  der  Finesse  dans  le  doigt,  war  am  wenigsten  von 

allen  Franzosen  Methode.   Man  sieht  den  Nachteil  auf  den  ersten  Blick.   Es  war, 

so  will  es  uns  von  hundert  Methoden  Überschwemmten  erscheinen,  sein  Vor» 

teil.   Es  hieß  unsicherer  Schutz  gegen  das  eigene  Wollen.    Es  hieß  auch  dieses, 

daß  er  im  Freien,  wenn  er  mit  seinen  Kameraden  zur  Arbeit  ging,  nicht  lange  nach 

dem  guten  Ausguck  zu  suchen  brauchte,  sondern  da  malte,  wo  er  stand.   Es  hieß 

auch  dieses :  die  Unabhängigkeit  einer  robusten  Seele  von  aller,  auch  der  edelsten 

Routine,  ein  Fantheismus  unserer  aller  Art,  dem  jeder  Stein  zum  heiligen  Altar  wird. 

Wir  fühlen  Courbets  Verluste,  wenn  wir  an  Delacroix,  an  Rubens  und  Michel» 

angelo,  an  Raffael  denken.  Das  ist  oft  genug  der  Fall,  und  es  kann  nie  zu  oft  sein. 

Wir  fühlen  seinen  Gewinn,  wenn  wir  an  uns  denken.    Unser  Höchstes  in  Kunst» 

werken  ist  nicht  das  Schöne,  sondern  ein  Glaube,  der  uns  gläubig  macht,  das, 

was  uns  in  einem  van  Eyck  mächtiger  als  in  einem  Raffael  erscheint;  ein  schlech» 

terdings  Religiöses,  das  uns  um  so  tiefer  ergreift,  je  weniger  formuliert  wir  es 

finden.    Courbets   Stil  ist  die  wortlose  Macht  des  Ausdrucks  seiner  Baigneu» 

ses,   die   frohlocken,   nur  weil   sie   sind,   das  Frohlocken   des  Stoffs   in   Felsen 

und  Wogen,  das  Pathos  in  der  Materie.  Wo  dieses  hohe  Lied  ganz  unverhalten  er» 

klingt,  wird  uns  kein  Meister  der  anderen  Art,  und  wäre  es  der  größte,  verlocken, 

so  wenig  ein  anderer  die  Erhabenheit  ersetzt,  mit  der  Rembrandt  den  Leichnam 

seiner  zweiten  Anatomie  belebte,  noch  das  Pathos  übertönt,  für  das  van  Eyck  die 

Wölbung  des  Leibes  seiner  Eva  erfand.    Wir  können  alle  diese  Quellen  des  Er» 

habenen  im  Haine  unseres  dunklen  Arkadiens  Materie  nennen.    Nur  müssen  wir 


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COURBET  227 


darunter  die  äußerste  Abstraktion  des  Geistes  verstehen.  Um  die  notwendigen  Zu» 

sammenhänge  Courbets  mit  der  Antike  aufzudecken,  müßte  man  mit  dem  Nach» 
weis  der  Antike  in  van  Eyck  und  Rembrandt  beginnen.  Der  Instinkt,  dem  dieser 
Nachweis  gelingt,  wird  auch  in  Courbet  die  gleiche,  tief  versteckte  Wirksamkeit 
entdecken. 

Doch  trifft  den  Schöpfer  einer  neuen  Herrlichkeit  der  Vorwurf  des  Materialismus 
mit  Recht,  und  zwar  eben  da,  wo  sein  Ausdruck  nicht  vollkommen  zu  Materie  ge» 
worden  ist.  Das  war  nicht  selten.  Der  Interpret  mißtraute  zuweilen  seiner  Kraft  und 
illustrierte  sich  selbst,  anstatt  es  uns  zu  überlassen.  Er  verzierte  seine  Bilder  mit 
Bewußtheiten,  die  den  Rhythmus  hemmen  wie  die  Sinnfehler,  die  der  Setzer  in  ein 
Gedicht  bringt.  Das  sind  die  nachträglich  dazu  gemalten  diminutiven  Schiffchen  auf 
den  Wellen,  die  Rehe  vor  manchen  Felsen,  die  Menschen  in  manchen  Landschaften. 
Oft  scheinen  zwei  verschiedene  Anschauungen  in  einem  und  demselben  Bilde  wirk» 
sam:  eine  neue  unbegrenzte  Gewalt,  die  uns  die  Illusion  einflößt,  das  Meer  sei  vom 
Meer  aus,  von  einer  in  dem  Element  verborgenen  Gottheit  erfaßt,  die  nichts  von 
uns  weiß,  noch  wissen  will;  und  ein  am  Boden  schleichender  Realismus,  der  am 
Begrifflichen  haftet  und  dem  es  nur  auf  täuschende  Naturkopie  ankam.  Courbet 
hatte  von  Gericault  das  Plastische  des  Bildhauers,  das  verhängnisvolle  Erbe  der 
Davidschule,  übernommen  und  wurde  weder  als  Maler,  noch  als  Bildhauer  (er  hat 
ein  paar  schlimme  akademische  Skulpturen  hinterlassen)  damit  fertig.  Neben  der 
plastischen  Gewalt  seines  neuen  Ausdrucks  steht  oft  ganz  unvermittelt  jene  fingierte 
Plastik  und  macht  die  andere  zu  schänden.  Er  war  beständig  in  Gefahr,  seine 
Gestalten  zu  übiermodellieren,  und  machte  aus  der  Familie  Proudhon')  und  den 
Cribleuses  de  ble  Monstruositäten  mit  herrlichen  Details.  Die  Virtuosität  ver» 
leitete  ihn  oft  zu  Kombinationen  heterogenster  Wirkungen  und  einer  bösen  Kraft< 
meierei  z.  B.  in  den  „Lutteurs",  denen  nach  dem  scharfsinnigen  Worte  Dela« 
croix'  „die  Handlung  fehlt",  nämlich  der  Rhythmus,  der  die  Kolosse  überwindet. 
Er  besaß  alles,  wenn  er  nicht  daran  dachte,  und  wurde  zu  einem  hilflosen  Dilet» 
tanten,  sobald  er  sich  seiner  Fähigkeiten  bewufk  war.  Er  erfand  einen  neuen  In« 
halt  der  Malerei,  entdeckte  neue  Kunsterreger,  neue  Möglichkeiten  der  Form,  und 
er  komponierte  zuweilen  ohne  Sinn  und  Verstand,  wie  ein  frühreifes  unnaives 
Kind,  ein  Knabe  mit  den  Händen  eines  alten  Meisters.  Dann  vergaß  er  jede 
Rücksicht  auf  Format  und  Verhältnis,  legte  überlebensgroße  Äpfel  von  göttlicher 
Materie  in  eine   Landschaft,   die  dreimal  zu  klein  war,  oder  stellte  mit  einem 

')  Dies  und  die  andern  zitierten  Werke  abgebildet  in  meinem  Corot  und  Courbet  (2.  Auf« 
läge.     München,  R.  Piper  6.  Co.  1912). 

15* 


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228  DIE  LANDSCHAFT  VON  CLAUDE  ZU  COURBET 


1 1 1 1 1 1 III!  I  im  it  m  II II I II 1 1 1 II  LI  1 1  uiiumii  11 1> 


schlecht  gewählten  Ausschnitt  einen  Mädchenkopf  wie  ein  anatomisches  Präparat 
dar.  Das  Klaffende  zwischen  altmeisterlichem  Tun  und  urneuem  Empfinden, 
das  wir  auch  in  Goya  finden,  aber  das  im  Werke  Goyas  von  der  fremden  Stoff* 
weit  eher  gemildert  wird,  läßt  Courbet  wie  einen  dämonischen  Bastard  erscheinen. 
Sein  Dämon  nahm  wahllos  aus  zwei  verschiedenen  Welten.  Die  Untiefen  des 
Menschen  vergrößerten  noch  den  Zwiespalt  in  dem  Künstler.  Man  könnte  zu» 
weilen  glauben,  er  habe  die  Kunst  selbst  wie  eine  Bourgeoisie  verhöhnt.  Der 
Mensch  karikierte  seinen  Dämon  wie  die  Diener  im  Office  die  Herrschaft.  Nicht 
nur  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit,  sondern  selbst  das  unerläßliche  Artisten« 
tum,  das  den  Geschmack  verleiht,  war  ihm  versagt. 

Aber  wie  es  kindlich  wäre,  den  Sturm,  der  die  Bäume  bricht  und  die  Statue  zer= 
trümmert,  des  Mangels  an  Geschmack  zu  zeihen,  so  wenig  kann  man  Courbet  mit 
solchen  Einwänden  verkleinern.  Alle  unsere  verbrieften  Ansprüche  sind  Relativi« 
täten,  sobald  einer  kommt,  der  uns  hinwirft.  Courbet  gestaltete.  Dieses  eine  ver« 
schlingt  alles  andere.  Er  gestaltete  wie  eine  Kraft,  die  sich  austobt,  wie  eine  Feuers» 
brunst,  gegen  die  alle  Mittel  versagen,  weil  sie  das  Haus  von  den  vier  Seiten  gefaßt 
hält,  und  der  man,  sobald  es  so  weit  ist,  mit  Wonne  zusieht,  befreit  von  aller  Sorge 
um  den  zerstörten  Besitz.  Er  dachte  nicht  an  das  Aufräumen,  und  diese  Unords 
nung,  dieses  Chaos,  das  uns  abschrecken  müßte,  das  viel  ungebärdiger  war  als 
alles,  was  die  Revolution  hervorbrachte,  erquickt  uns  wie  den  Verbannten,  der 
seine  Heimat  wiedersieht,  die  Erde,  die  Luft  seines  Landes.  Er  malte  bis  zum  ge« 
wissen  Grade  animalisch.  Rehe,  Felsen,  Wogen,  Weiber,  Männer  mit  Denker* 
köpfen,  das  ganze  Universum,  war  vor  ihm  Stoff  zum  Malen,  Fleisch,  aller  Deu» 
tungen  ledig.  Er  machte  es  zur  nackten  Materie.  Man  sieht  ihn  als  rohen  Fleischer 
mit  nackten  Armen,  den  Pinsel  wie  ein  Messer  schwingend,  und  als  rächenden 
Engel  mit  den  robusten  Gliedern,  wie  sie  die  Blüte  der  Antike  liebte,  als  den  Rächer, 
der  einmal  kommen  mußte,  uns  von  den  Resten  überlebter  Zeiten  zu  befreien  und 
uns  zu  neuer  Schöpfung  hinzureißen.  Seine  Materie  war  der  unentbehrliche  Stoff 
für  eine  neue  Folge  von  Vergeistigungen. 

Es  erscheint  merkwürdig,  daß  dieser  fruchtbare  Barbar  gerade  in  Frankreich  ge» 
boren  wurde.  Aber  nur  hier,  im  Lande  der  David  und  Gericault,  war  der  Boden 
für  ihn  gegeben.  Das  Barbarische  haben  viele  andere  Länder  hervorgebracht  ohne 
die  Vorteile  Courbets.  Unsere  Barbaren  sind  blasse  Denker,  die  ihre  Feinheit  nicht 
in  den  Fingern  haben.  Ihr  Arkadien  bleibt  ungemalt  und  ^ire  Materie  gestaltlos, 
weil  sie  nicht  interpretieren.  Das  Barbarentum  Courbets  gilt  nur  neben  der  Hoch* 
kultur  seines  Landes.    Hier  war  es  notwendig.    Es  ist  die  in  Jahrhunderten  aufge» 


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COURBET 


229 


speicherte  Empörung  des  Selbsterhaltungstriebes  auf  das  schwächende  Kunstleben 
der  Nation.  Man  könnte  an  die  völkische  Macht  eines  dem  Westen  feindlichen, 
russischen  Dichters,  z.  B.  an  Tolstoi,  denken,  wenn  sich  diese  Vorstellung  mit  dem 
Gegensatz  Courbets  zu  allen  uns  völkisch  erscheinenden  Eigenschaften  der  Fran# 
zosen  vertrüge.  Man  müßte  denn  das  Völkische  auf  einen  weiteren  Komplex  als 
den  der  Nation  beziehen,  und  dem  steht  bei  diesem  Europäer  nichts  im  Wege. 
Nicht  Frankreich  allein,  sondern  unser  ganzes  artistisches  Zeitalter  brauchte  den 
Materialisten  Courbet  so  notwendig,  wie  unser  Idealismus  das  Vorbild  Delacroix. 
So  bedurfte  die  Literatur  Europas  der  Russen  und  Skandinaven,  um  die  Franzosen 
ertragen  zu  können.  So  bedurfte  vielleicht  die  Musik  eines  Richard  Wagner.  Die 
Kunst  wäre  ohne  den  Sensualismus  Courbets  längst  zum  Herbarium  geworden. 
Man  wird  ihn  nicht  nennen,  wenn  man  der  reinsten  Güter  unserer  Zeit  gedenkt,  und 
der  Blick,  der  die  Spanne  von  Claude  zu  Courbet  überfliegt,  wird  vielleicht  am 
kürzesten  am  Endpunkt  haften  bleiben.  Weil  das  Ende  gleichzeitig  Anfang,  zumal 
Anfang  ist.  Wir  gedenken  nicht  gern  der  derben  Funktionen  der  Natur,  auf  denen 
unsere  Existenz  beruht.  Der  Blumenfreund,  der  uns  ein  seltenes  Exemplar  seines 
Gartens  zeigt,  wird  kaum  der  Mühe  wert  finden,  uns  an  das  schwarze  Erdreich  zu 
erinnern,  das  dieses  und  so  vieles  andere  gebärt. 


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ABBILDUNGEN 


KUPPEbMOSAIK  IM  DOM  VON  MURANO 


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DIE  SINTFLUT 

Mosaik  im  Marcusdom  zu  Venedig 

Aufnahme  Alinari 


CHRISTUS  IN  DER  VORHÖU.E.    DER  UNGLÄUBIGE  THOMAS 

Mosaiken  im  M.ircusdom  lu  Venedig 

Aufnahme  Alinari 


DER  THRONENDE  CHRISTUS  MIT  DEN  VIER  ERZENGELN 
Kuppelmosaik  der  Kirche  della  Martorana  in  Palermo 


DKR  i-;vANGi;i.isr  mauhäus 

Rcichenauer  Malschule.    X.  Jahrhundert 
Aus  dem  Olto-Evangeliar.     München 


GIOTTO:    DERjUDASKUSS 
Kapelle  Madonna  del!"  Arena  in  Padua 


MASACCIO:   SELBSTbILDNIS 

Ausschnitt  aus  den  Petrusfresken  in  Maria  del  Carmine,  Florenz 
Photo  Brogi 


JAN  VAN  EYCK:  Madonna  mit  Stifter 
Paris,  Louvre 
Photo  Braun 


BRUEGEL:   Landschaft  mit  Galgen 
Darmstadt,  Großherzogl.  Landesmuseum 


10 


PIERO  DELLA  FRANCESCA:  Die  Geburt  Christi 
London,  National  Gallerie 


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SIGNORELLI:    Heilige  Familie 
Florenz,  Uffizien 


12 


MICHELANGELO:  Sklave 
Florenz,  Uffizien 


13 


MICHELANGELO:   Aus  dem  Jüngsten  Gericht 
Rom,  Sixtinische  Kapelle 


14 


MICHELANGELO: 
Handzeichnung  zu  einem  Auferstehenden 


15 


MICHELANGELO:  Zeichnung  zum  Jüngsten  Gericht 


16 


MANTEGNA:  Toter  Christus 
Mailand,  Brera 


17 


GIOVANNI  BELLINI:  TOTER  CHRISTUS 

Mailand,  Brera 

Photo  Alinari 


18 


GIORGIONE:     CONCERT  CHAMPETRE 
Paris,  Louvre 


19 


TIZIAN:    BACCiii's  UM)  Akiadne 
London,  National  Gallerie 


20 


TIZIAN;  Aretino 
Florenz,  Pitti 
Photo  Brogi 


21 


GRECO:   Der  Kardinal  Niäo  de  Guevara 
New» York,  Sammlung  Frau  Havemeyer 


22 


TIZIAN:  L'ASSUNTA 
Venedig,  Accademia 


23 


TINTORETTO:  Kampf  des  heiligen  Michael  mit  dem  Satan 
Dresden,  Königl.  Gemäldegalerie 


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GRECO:  Entkleidlxg  Christi 
München,  Alte  Pinakothek 


27 


GRECO:   AlFERSTFIlUNG 

Madrid,  Prado 


28 


GRECO:  Heiliger  Mauritius 
Escurial 


29 


GRECO:  Kreuzigung 
Madrid,  Prado 


30 


VELASQUEZ:    PAPST  Innocenz 
St.  Petersburg,  Eremitage 


51 


GRECO:   PORTRAT  DES  COVARRUBIAS 

Toledo,  GrccosMuscum 


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RUBENS:    Skizzk  für  hin  Jüngstes  Gericht 
Budapest    Museum 


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RUBENS:  Martyrium  dks  Heiugen  LifiviN 

Brüssel,  Museum 

Photo  ßr.iiin  &.  Co. 


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RUBENS:  Helkne  Foukment 
Wien,  Kaiserliche  Gemäldegallerie 


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RUBENS:    HEI.KNK  FOl'RMKNT  ALS  BRAUT 

München,  Alte  Pinakothek 


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FRANZ  HALS:  Porträt  des  Jean  Honebeek 
Brüssel,  Museum 


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FRANZ  HALS:  Btiiinis  Dis  Willem  Crols 
München,  Alte  Pinakothek 


44 


REMBRANDT:  Der  undankbare  Knecht 
London,  Sammlung  Wallace 


45 


REMBRANDT:  Danae 
St.  Petersburg.  Eremitage 


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REMBRANDT:   FRAGMENT  AUS  DER  ANATOMIE  DES  DR.  JOHANN  DEYMANN 
Amsterdam,  Rijksmuseum 


47 


REMBRANDT:   Dkk  VKRi.oKhSK  SOHN 
St  Petersburg,  Hremitagc 


48 


REMBRANDT:  Selbstbildnis 

Sammlung  Carstanjen 

Photo  Brucktnann 


49 


HOGARTH:  Selbstbildnis 
London.  National  Gallery 


50 


HOGARTH:   Geschmack  in  der  feinen  Welt 


51 


WATTEAU:  DER  Tanz 
Sammlung  des  Deutschen  Kaisers 
Phot.  Photogr.  Gesellschaß  Berlin 


52 


TIEPOLO:   Nach  dem  Bade 
Berlin,   Museum 


53 


WATTEAU :    DAS  URTEIL  DES  PARIS 

Paris,  Louvre 


54 


MOREAU  LE  JEUNE:  Die  Toilette  der  Königin 

Aquarellierte  Zeichnung 

München,  Graphische  Sammlung 


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FRAGONARD:  Diu  Schaukel 
London,  Wallacc  Collcction 


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FRAGONARD:  LA  Chemise  enlevSe 
Paris,  Louvre 


57 


BOUCHER:    LlKGENDES  MADCHEN 

München,  Alte  Pinakothek 


58 


CLAUDE  LORRAIN:  Einschiffung  der  Königin  von  Saba 
London,  National  Gallery 


59 


GUARDI:    VENEDIG 
London,  WallacesCollection 


60 


CHARDIN:  DER  Knabe  mit  dem  Kartenspiel 
St.  Petersburg,  Eremitage 


61 


DAVID:  Bildnis  des  Grafen  Potocki 

Sammlung  Graf  X.  Branicki,  Warschau 

Photographie  Bitlloz,  Paris 


62 


DAVID:  Paris  und  Helena  (Ausschnitt) 
Paris,  Louvre 


63 


DAVID:  Der  Schwur  der  Horatier 
Paris,  Louvre 


61 


DAVID:  Bildnis  der  Mme  de  Verninac  (der  Schwester  Delacroix') 

Sammlung  Charles  de  Verninac,  Paris 

Photographie  Bulloz,  Paris 


65 


DAVID:  Li:  iKOis  Da.mls  di;  Gaku 
Paris,  Louvre 


66 


DAVID:  Bildnis  Ingres 
Photographie  Durand-Rtiel,  Paris 


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67 


DAVID:  Bildnis  der  Baronin  Jeanin 

Sammlung  M""<  Bianchi,  Paris 

Photographie  Bulloz,  Paris 


68 


DAVID:  Li£  Sacre 
Paris,  Louvre 


69 


DAVID:  Papst  Pius  vii.  und  der  Kardinal  Caprara 

Sammlung  Marquise  de  Ganay,  Paris 

Photographie  Biilloz,  Paris 


70 


DAVID:  Marat 

Brüssel,  Museum 

Photographie  BuUoz,  Paris 


71 


GROS:  Schlacht  bei  Eylau 
Louvre,  Paris 


72 


GROS:   STUDIE 

Besan^on,  Museum 

Photographie  Bnlloz,  Paris 


73 


G£RARD:  Li:  Roi  Mlkat 

Sammlung  Prinz  Murat,  Paris 

Photographie  Bulloz,  Paris 


74 


A.  E.  FRAGONARD  FILS:  Baissy  Danglas 

Sammlung  Sibilat,  Paris 

Photographie  Biilloz,  Paris 


75 


LOUIS  GAUFFIER:  Bildnis  kines  Okkizikrs 

Sammlung  Paul  Marmotten,  Paris 

Photographie  Bulloz,  Paris 


76 


FRANCISCO  GOYA:  La  Tirana 
Madrid,  Academia  de  S.  Fernando 


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GOYA:  Selbstportrat 
Madrid,  Conde  de  Villagonzalo 


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GOYA:  Der  Schauspieler  Mayquez 
Madrid,  Prado 


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GOYA:  Der  verdorrte  Ast    (Proverbios  Nr.  3) 


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GOYA:  Dkk  Tanz    {Proverbios  Nr  12) 


82 


GOYA:    CUCANA 

Berlin,  Nationalgalerie 


83 


GOYA;  Bii.nNis  dkr  Rfrmudez 
Budapest,  Museum 


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INGRES:  Selbstbildnis 
Photo  Durand-Ruel,  Paris 


87 


INGRES:  Bildnis  dkr  Gattin  des  Künstlers 

Sammlung  Lcpaure,  Paris 

Photo  Bulloz,  Paris 


88 


INGRES:   ODALISQUE 
Paris,  Louvre 


89 


INGRKS;  I-k  bain  turc 
Paris,  Louvre 


90 


INGRES:    ANDROMhDA 

Photo  Durand-Rnel,  Paris 


91 


INGRES:  Studu;  zur  Ii.ias  aus  der  Apotheose  Homers 
Photo  Durand-Ruel,  Paris 


92 


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INGKÜS:    V'L.NUS  lil.LSSt  l'AK  DlOMfiDE 

Sammlung  M"ie  L'Heriller,  Paris 

Photographie  Bulloz,  Paris 


93 


INGRES:  Apotiikose  Homkrs 
Lille.  Museum 


94 


INGRES:  Madame  RivifiRE 
Paris,  Louvre 


95 


INGRES:  Bildnis  Bertins 
Paris,  Louvre 


96 


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INGRES:  ZEICHNUNG 

Montauban,  Museum 

Photographie  Bulloz,  Paris 


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INGRES:  Zeichnung 

Montauban,  Museum 

Photographie  Biilloz,  Paris 


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INGRES:   ZEICHNUNG 


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INGRES:  ZKICIINUNG 


100 


PRUDHON:  Aktstudie  zu  einer  Allegorie  über 
Liebe  und  Freundschaft 


101 


PRUDHON: 

ZEICHNUNG 

Paris,  Louvre 


PRUDHON:  L'enlEvement  de  PsYCHfi  par  ZEphik 
Paris,  Louvre 


102 


PRUDHON:  La  Fk.mmk  du  Pltii'iiak 
Paris,  Sammlung  E.  Marcille 


103 


104 


GfiRICAULT:   LE  CUIRASSIR  BLESSfi 
Paris,  Louvre 

Nach  einem  Kohledruck  von  Braun  ü  Co.,  Dornach  i.  Eis. 


105 


G£RICAULT:  Le  Cakahinilr 
Paris,  Louvre 
Nach  einem  Kohledruck  von  Braun  6.  Co.,  Dornach  i.   EU. 


106 


GKKICAULT:  ZhlcilNLNG 

Rouen,  Museum 

Photo  Bulloz,  Paris 


107 


GERICAULT:  SKIZZE  zu  course  de  chevaux  libres 

Roucn,  Museum 

Photo  Biilloz,  Paris 


108 


GfiRICAULT:  Wagen  mit  Verwundeten 
Photo  Durand-Ruel,  Paris 


109 


GfiRICAULT:  General  Klebhr 

Rouen,  Museum 

Photo  Ihilloz,  Paris 


110 


GfiRICAULT:  La  Folle 
Früher  Sammlung  Cheramy 


111 


GfiRlCAULT:  LORD  BYRON 

Montpellier,  Museum 

Photo  BuUoz,  Paris 


112 


GfiRICAULT:  Skizze  zum  Medusafloss 


113 


GENELLI:  DRii  Ekai'kn.    Zeichnung 
Leipzig,  Museum 


114 


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MORITZ  VON  SCHWIND:  Die  Symphonie 

Mittelstück  der  großen  Zeichnung 

Leipzig,  Museum 


115 


ALBRECHT  DÜRER:  DER  reitende  Tod.    Zeichnung 


RETHEL:  Zweites  Blatt  aus  dem  Totentanz.   Holzschnitt 


116 


KASPAR  DAVID  FRIEDRICH:  Landschaft  mit  Regenbogen 
Weimar,  Großherzogl.  Museum 
Photo  F.  Bruckmann,  München 


117 


GKORG  FRIKDKlCll  KKKSTING:  Stibk  mh  Sklbstbildnis 
Weimar,  Groliherzogl.  Schloß 
Photo  F.  Bruckmann,  München 


118 


MORITZ  VON  SCHWIND:  Kniestock  der  Tochter  Anna  im  GRtJNEN 

Wien,  Moderne  Galerie 

Photo  F.  Bruckmann,  München 


119 


GOTTLIEB  SCHICK:  Bildnis  dkk  krstkn  Gattin  Danneckers 

Stuttgart,  Kgl.  Staatsgemäldcgalerie 

Photo  F.  Bruckmann,  München 


120 


PHILIPP  OTTO  RUNGE:  Selbstbildnis 
Photo  F.  Bruckmann,  München 


121 


JULIUS  OLDACH:    DER  VATER  DES  KÜNSTLERS 

Hamburg,  Kunsthalle 

Photo  F.  Bruckmann,  München 


122 


WILHELM  VON  KOBELL:  Soldaten  an  einer  Brustwehr 
Photo  F.  Bruckmann,  München 


123 


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RUNGK:  Die  Eltern  des  Künstlers 

Hamburg,  Kunsthalle 
Photo  F.  Bruckmann,  A.  G.,  München 


124 


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FRANZ  PFORRt  Allegorik  auf  Overbecks  und  Pforrs  Schicksal 

Bes.:  P.  Kaufmann,  Berlin 

Photo  F.  Bruckmann    A.  G ,  München 


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125 


L.  F.  SCHNORR  VON  CAROLSFELD:  JULIUS  JOH.  BAPT.  Leth 

Berlin,  Nationalgalerie 

Photo  F.  Bruckniann,  A.  G.,  München 


126 


KASPAR  DAVID  FRIEDRICH:  Wiesen  bei  GReifswald 

Hamburg,   Kunsthalle 

Photo  F.  Bruckmann,  A.  G.,  München 


127 


lOH,  CHR.  CL.  DAHL:  SÄCHSISCHE  Landschaft. 
Berlin,  Nationalgaleric 
Photo  F.  Bruckmann,  A.G.,  München 


Studie. 


128 


WASMANN:  MtRANER  Blumengarten 

Hamburg,  Kunsthalle 

Photo  F.  Bruckmann,  A.  G.,  München 


129 


KARL  bLtCHüN:  Blick  auf  Garten  und  Hauser.    Skizze. 

Berlin  Nationalgalerie 

Photo  F.  Bnickmann,  A.  G.,  München 


130 


OVERBECK:  Familiknbild  des  Künstlers 

Bes.  Frau  Senator  Dr.  Overbeck,  Lübeck 

Photo  F.  Bruckmann,  A.  G.,  München 


131 


DKLACKOIX:  Selbstportrait 


132 


DELACROIX:   Die  Dantebarke 
Paris,  Louvre 


133 


DELACROIX:  LE  naufrage  de  Don  Juan 

Paris,  Louvre 

Photo  Braun  &■  Co.,  Dornach 


134 


DELACROIX:  Paganini 


135 


DELACROIX:  La  GrEce  expirant  SUR  les  ruines  de  MissoLONGHi.    Skizze. 
Dresden,  Sammlung  Schmitz 


136 


DELACROIX:  T£tk  DfiTUDE  dune  vielle  Religieuse 
Früher  Sammlung  Cheramy 


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DELACROIX:  Hamlet  und  Ophelia.    Zeichnung 


138 


DELACROIX:  Hamlet  am  Leichnam  des  Polonius 


139 


DELACROIX:  Le  ROI  Rodrigue 


140 


DELACROIX:  Herkules  UND  Alceste 


141 


DtLACKülX:   iKAG.MliM'  ALS  DKM  MaSSACKI:  1)1-:  i>(  lO 
Früher  Sammlung  Cheramy 


142 


DELACROIX:  Le  denier  de  ST.  Pierre 


143 


DELACROIX:  LA  chasse  au  tigre 
Paris,  Louvre   (Sammlung  Chauchard) 


144 


DELACROIX:  Der  Kampf  Jakobs  mit  dem  Engel 
Zeichnung  zu  dem  Fresco  in  St.  Sulpice 


145 


DKLACROIX:  Unausgeführte  Skizze  für  den  Louvre.Pi.afonu 
Hamburg,  Kunsthalle 


146 


147 


DELACROIX:  Medea 

Paris,  I.ouvre 

Photo  Braun  &  Co.,  Domach 


148 


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DAUBIGNY:  Bildnis  Daumiers 
Photo  Durand-Ruel,  Paris 


151 


DAUMIER:  ÖDiPUS,  ALS  Kind  von  einem  Hirten  gefunden 


152 


DAUMIER:  DER  eingebildete  Kranke.    Aquarell 
Paris,  Sammlung  Bureau 


133 


DAUMIER:   DON  QyixOTE 
München,  Neue  Pinakothek 


154 


DAUMIER:  ZWEI  KINDER 

Photo  Bernheim  jeune,  Paris 

Procede  E.  Dniei,  Paris 


155 


DAUMlhk:  la  Wagon  de  troisi£me  classe 

Photo  Bemheim  jeune,  Paris 

Procede  E.  Druet,  Paris 


156 


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DAUMIER:  Im  Theater 

Photo  Bemheim  jeune,  Paris 

Procede  E.  Druet,  Paris 


159 


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DAUMIKR:    AHK^S  LAUDIKNCK 

Paris,  Sammlung  Mme.  Esnault»Pelterie 
Photo  Durand-Ruel,  Paris 


160 


DAUMIER:  ZvcKl  ADVOKAXtN.   Auquarell  (Holzschnitt  von  Beltrand) 
Paris,  Sammlung  P.  Bureau 


161 


DAUMIER:  Dtk  KicilTKK 
Photo  Fritz  Gurlilt,  Berlin 


DAUMIER:  Nach  der  Sitzung 


162 


DAUMIER:   Die  Wäscherin 
Paris,  Sammlung  Bureau 


163 


DAUMIER:  Das  Drama 
München,  Neue  Pinakothek 


164 


DAUMIER:  LA  Chanson  ä  boire.    Aquarell 
Paris,  Sammlung  Ad.  Tavernier 


165 


CLAUDIi  LÜRRAIN:  Die  MiiiKAi  Isaaks 
London,  National  Gallery 


166 


TURNER:   DlDOS  ROXTK 

London,  National  Gallery 

Photo  Hanfstaengl,  München 


167 


TURNER:  The  GREAT  Western  Railway 
London,  National  Gallery 


168 


TURNER:  The  fighting  ,.T£m£raire" 
London,  National  Gallery 


169 


TURNER:    SCHNEESTURM 
London,  National  Gallery 


170 


TURNER:  Sonnenaufgang  mit  Boot 

London,  Täte  Gallery 

Photo  Hanfstaengl,  München 


171 


CONSTABLli:  THE  HAY  WAIN 

London,  National  Gallery 

Photo  Hanjstaengl,  München 


172 


CONSTABLE:  Landschaft  mit  Kalkbrennerei 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Hanfslaengl,  München 


173 


CONSTABLE:  The  Glebe.Farm 

London,  National  Gallery 

Photo  Hanfstacngl,  München 


174 


CONSTABLE:  Sommerlandschaft 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Hanfstaengl,  München 


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175 


CONSTABLE:   Di:r  Maler  im  Walde 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Hanfstaengl,  München 


176 


CONSTABLE:  Waterloo-Jubilaum 
Budapest,  Museum 


177 


CONSTABLE:  Tm:  Valley  Farm 

London,  National  Gallery 

Photo  Ilanfslaengl,  Alünchen 


178 


CONSTABLE:  Hami'stead  Hi  .- 
Photo  Hanfstaengl,  München 


179 


CONSTABLE:   Makink 
Früher  Sammlung  Cheramy,  Paris 


180 


ROUSSEAU:  Baumlandschaft 
Photo  Durand'Ruel,  Paris 


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ROUSSEAU:  Sonnenuntergang  im  Wald  von  Fontainebleau 
Photo  Durand'Ruel,  Paris 


182 


DAUBIGNY:  Die  Weinlese  in  Burgund 

Paris,  Louvre 

Photo  Hanfstaengl,  München 


183 


DAUBIGNY:  Flusslandschaft 
London,  Sammlung  Salting 
Photo  Hanfstaengl,  München 


184 


TROYON :   La  provende  des  poules 

Paris,  Louvre  (Sammlung  Thomy^Thiery) 

Photo  Hanfstaengl,  München 


185 


TROYON:  BoEUFS  SK  rendent  au  labour 

Paris,  Louvre 

Photo  Braun  &  Co.,  Darnach 


186 


MILLET:  Les  Tueurs  de  porcs 


187 


MILLET:  Eine  Schafhorde 

Glasgow,  Sammlung  Donald  Baquest 

Photo  Hanfstaeng/,  Alünchen 


188 


MILLET:   Die  Kirche  von  Chailly.    Pastell 
Photo  Hanfstaengl,  München 


189 


MILLET:    Li;  PRINTEMPS 

Paris,  Louvre 

Photo  Hanfstaengl,  München 


190 


MILLET:  LA  SOUPE 
Marseille,  Museum 


191 


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MILLET:   L'ANGELUS 

Paris,  Louvre  (Sammlung  Chauchard) 

Photo  H.tnfstaengl,  München 


192 


MILLKT:  November 
Photo  Durand' Ruel,  Paris 


193 


DIAZ:  Sc£ne  dincantation 
Photo  Durand'Ruel,  Paris 


194 


MONTICELLI:  Idylle 
Paris,  Sammlung  Haviland 


MONTICELLI:  La  Ronde 
Paris,  Sammlung  M.  Rambaud 


195 


MONTICELLI:   Damenbiidnis 

Paris,  Sammlung  Bernheim  jeune 

Photo  E.  Dniet.  Paris 


196 


MONTICELLI:  MASKENBALI. 
Berlin,  Paul  Cassirer 


197 


COROT:  CiviTA  Castellana.    Zeichnung 


198 


COROT:  Zeichnung 


199 


COROT:  Landschait.    Zeichnung 


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COROT:   SlLtNE 
Paris,  früher  Sammlung  DoUfus 


201 


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COROT:  Mantes 

Reims,  Museum 

P/ioto  Braun  6-  Co.,  Dornac/i 


202 


COROT:  La  blonde  Gasconne 

Paris,  Sammlung  Warneck 

Photo  Bernheim  jeune,  Paris 

Procede  E.  Druet,  Paris 


203 


COROT:  San  Giorgio  Maggiore  in  Venedig 

Photo  Bernheim  Jeiine,  Paris 

Procede  E.  Druet 


204 


COROT:   DIE  TOILETTE 
Paris,  Sammlung  Mme  Desfosses 


205 


COROT:   SOMMliKLA.NDSClIAn 


206 


COROT:  Souvenir  de  Mürteeontaine 
Paris,  Louvre 


207 


COROT:   VILLE  DAVRAY 


208 


COKOT;   M'-iANCOLlh 
Paris,  Sammlung  Alphonsc  Kann 


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209 


COROT:  Nymphes  sortant  du  bain 


210 


COROT:  Der  heilige  Sebastian 


211 


COROT:  Dame  mit  Mandomnk 
Paris,  früher  Sammlung  Henri  Rouart 


212 


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COURBET:  Lhomme  a  la  ceinture  de  cuir 

Paris,  Louvre 

Photo  Ad.  Braun  &■  Co.,  Dotnach 


215 


COURBET:  Frauenbildnis 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Ilanfstacngl,  München 


216 


COURBET:  La  fhmme  a  la  vague 
Photo  Durand'Ruel,  Paris 


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217 


COURBET:  Le  BON  viN 
Paris,   Sammlung  Camentron 


218 


COURBET:  Durchgehendes  Pferd 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Hanfstaengl,  München 


219 


COURBET:  Junge  Mädchen  vor  dem  Meer 
Früher  Sammlung  v.  Nemes,  Budapest 


220 


COURBET:  Schlafendes  Mädchen 

Photo  Bernheim  jeime,  Paris 

Procede  K.  Druet,  Paris 


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221 


COUKBÜT:   STILLEBEN 
München,  Neue  Pinakothek 
Photo  Bernheim  jeiine,  Paris 

Proeide  E  Druet,  Patis 


222 


COURBET:  Felsen  in  der  Umgebung  von  Ornans 
Photo  Bemheim  Jeune,  Paris 

Procede  E.  Druef,  Paris  • 


223 


COURBET:  DiF  LoiKi  .CiKOiiK 
Photo  Diirand'Ruel,  Paris 


CUL  Khl  I:   1)11   Gkoi  IK 
Photo  Durand'Rucl,  Paris 


224 


COURBET:  DIE  WOGE 
Paris,  H.  Ottinger 


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CÜURBKT:  MhKK 


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COURBET:   BLLMIiN 

Hamburg,  Kunsthalle 

Photo  Bernheim  jeune,  Paris 

Procede  E.  Druet,  Paris 


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