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Full text of "Ergebnisse der gesamten Medizin : unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrter 6.1925"

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Ergebnisse 
der gesamten Medizin 


Unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrten 


herausgegeben von 


Prof. Dr. Th. Brugsch 
Oberarzt der II. Med. Klinik der Charite in Berlin 


Sechster Band 


Mit 135 Abbildungen im Text, 
5 farbigen und 12 schwarzen Tafeln 


URBAN & SCHWARZENBERG 


BERLIN N24 WIEN I 


FRIEDRICHSTRASSE 105B MAHLERSTRASSE 4 
1925 


Nachdruck der in diesem Werke enthaltenen Artikel sowie deren Übersetzung in fremde 
Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger gestattet. 


Alle Rechte, ebenso das Recht der Übersetzung in die russische Sprache, vorbehalten. 


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Printed in Austria. 
Copyright 1925 by Urban & Schwarzenberg, Berlin. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seit 

Neuere Syphilistherapie. ge 

Von Prof. Dr. Paul Mulzer, München ... 2 CL non rn. 1 
Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. | 

Von Prof. Dr. Edmund Forster, Nervenklinik der Charite, Berlin . . . . . 2.22... 63 


Die Asthenie des Weibes. 
Von Prof. Dr. Walther Hannes, Breslau `, 80 
Mit 3 Abbildungen im Text. 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 
Von Dr.K. Fahrenkamp, leitender Arzt des Kurhauses Bad Teinach (Württ. Schwarz- 
wald)Stuttgart . `. 2.2 22 2 2 2202 nen. EEE EEE E 99 
Mit 36 Kurven im Text. 
Die Extrauteringravidität. | 
Von Prof. Dr. O. Pankow, Leiter der Frauenklinik an der Med. Akademie in Düsseldorf 146 
Mit 25 Abbildungen im Text. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 
Von Dr. Thorkild Rovsing, Professor der klinischen Chirurgie an der Universität in 


Kopenhagen... e e dah an ur. an ae a er ie ae Acker ae ee A dr ` 202 
Mit 7 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln. 


Die Behandlung der Phlegmone. 
Von Prof. Dr. Ernst Unger und Dr. Heinz Heuß, Berlin . .... 2.222220... 254 
Mit 5 Abbildungen im Text. 


Das Schielen und seine Behandlung. 
Von Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und Prof. Dr. W. Meisner, Berlin `, 284 
Mit 5 Abbildungen im Text. 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 


Von Dr. H. Ulrici, Ärztlicher Direktor des Städtischen Tuberkulosekrankenhauses Wald- 
haus-Charlottenburg, Sommerfeld-Osthavelland . . . 222: Co m nn nn 321 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhoe. 
Von Prof. Dr. Fritz Heimann, Breslau . . . 2: 2 Co on. 345 


Mit 6 Abbildungen im Text und einer färbigen Tafel. 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 
Von Doz. Dr. Arnold Josefson, Oberarzt, Stockholm . . . . 2. 2: 22m 2 nn... 379 
Mit 12 schwarzen Tafeln. 
Cyclothymie. 
Von Dr. Friedrich Mauz, Tübingen. . . 2: 2 2: CL non 2.390 
Mit 4 Abbildungen im Text. 


1130714 


IV 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. Seite 
Von Prof. Dr. O. Polano, Vorstand der Gynäkologischen Universitäts-Poliklinik München, 
tünd Dr: C- Diet). München ei a e a 0.2 Seng a ne a re 408 


Mit 5 Abbildungen im Text. 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 
Von Prof. Dr. Kj. Otto af Klerker, Lund . . 2: Cr. 424 
Mit 4 Abbildungen im Text. 
Primäre Cholangitis. 
Von Priv.-Doz. Dr. Stanislaus Klein, Primararzt, Warschau. . . . 22 2 2 220000 447 


Die sogenannte Alveolarpyorrhoe und ihre Behandlung. 


Von Prof. Dr. Peter Paul Kranz und Dr. K. Falck, München . .... 22.2 2.. 460 
Mit 24 Abbildungen im Text. 

Tuberkulose und Auge. | 

Von Dr. A. Meesmann, Privatdozent und erster Assistent der Universitätsaugenklinik der 

ELE ee Berii EE 496 

Mit 6 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln. 

Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 

Von Prof. Dr. F. Rosenthal, Breslau `... 532 
Die Reichsversicherungsordnung. 

Von Geh. San.-Rat Dr. O. Mugdan, Berlin . . 2:22 Co KL ren 562 
Die Methode der Angiostomie und die mit Hilfe dieser Methode erreichten Resultate. 

Von Prof. Dr. ES London, Leningrad (St. Petersburg) . . .. 22 2 22 nn. 572 


Mit 4 Abbildungen im Text. 


Systematische Inhaltsübersicht aller in Band I-VI bisher erschienenen Arbeiten. 


Neuere Syphilistherapie. 


Von Prof. Dr. Paul Mulzer, München. 


A. Allgemeine Therapie der Syphilis. 


Seitdem Blaschko seine „Syphilistherapie« für dieses Werk geschrieben hat 
(1919), ist eine größere Anzahl neuer Präparate in die Therapie der Syphilis ein- 
geführt worden. Von den neueren Salvarsanpräparaten, mit denen wir uns 
zunächst beschäftigen wollen, sind zuerst zu nennen das Salvarsannatrium und 
‚das Silbersalvarsan, die beide Bilaschko noch kurz erwähnt hat. 

Das Salvarsannatrium enthält den gleichen Arsengehalt wie das Neosalvarsan 
und stellt in seinem Prinzip ein bereits bei der Fabrikation alkalisch gemachtes 
Altsalvarsan dar. Die wäßrige Lösung des goldgelben Pulvers reagiert also alkalisch, 
während bekanntlich die des Neosalvarsans neutral und die des Altsalvarsans sauer 
reagiert. 

Das Salvarsannatrium wird wie das Neosalvarsan dosiert und angewendet. In 
seiner Wirkung soll es nach E. Hoffmann ein wenig stärker als das Neosalvarsan, 
dem Altsalvarsan aber unterlegen sein. Die eintretenden Reaktionen und Neben- 
wirkungen entsprechen etwa denen des Neosalvarsans. Trotzdem hat sich dieses 
Präparat nicht in die Syphilistherapie einbürgern können; manche Interne (v. Rhom- 
berg) bevorzugen es indes auch heute noch. 

Das Silbersalvarsannatrium, kurz Silbersalvarsan genannt, wurde von Kolle im 
Verfolg der Ideen von Ehrlich und Karrer dargestellt und 1918 als mächtigstes 
Antisyphiliticum empfohlen. Es ist ein dunkelbraunes Pulver, das sich leicht im 
Wasser mit neutraler Reaktion löst und im Tierversuch wirksamer als das Altsalvarsan 
ist. Es besitzt hier eine etwa dreimal so starke Heilwirkung wie dieses; die spirillo- 
cide Komponente ist besonders ausgesprochen. 

Das Silbersalvarsan wird wie die anderen EE am besten 
intravenös appliziert. Man löst es in 10—20 cm? einer 04% igen oder physiologi- 
schen Kochsalzlösung oder aber in frisch destilliertem sterilen Wasser. Die Injektion 
ist für den weniger Geübten etwas schwieriger, da die dunkelbraune Lösung nicht 

gut erkennen läßt, ob bei Aspiration Blut in die Spritze eintritt, bzw. ob die 
` Kanüle richtig in der Vene liegt. Die Einspritzung selbst wird langsam ausge- 
führt und soll etwa 2, bei empfindlichen Personen 5— 10 Minuten dauern. Während 
der Injektion ist ständig der Puls zu kontrollieren. 

Die Dosierung des Silbersalvarsans beträgt im allgemeinen 0'1 — 0'3 g, die in 
4—5tägigen Intervallen gegeben werden. Bei Frauen soll man nicht über 0'2 g als 
Einzeldosis hinausgehen. Die Gesamtdosis ist je nach dem Stadium, in dem dieses 
Mittel angewendet wird, verschieden. Bei Abortivkuren wird man etwas mehr, bei 
Kuren in der Latenz etwas weniger applizieren. Im Durchschnitt gibt man 2mal 
01—015, 3—5mal 0'2 und 3—4mal 0'25—0'3 bei kräftigen Erwachsenen. 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. l 


2 Paul Mulzer. 


Das Silbersalvarsan beeinflußt die klinischen Erscheinungen aller Stadien der 
Syphilis meist recht gut und übt auch auf die Wassermannsche Reaktion und auf 
den Liquor in der Regel eine zufriedenstellende Wirkung aus. Die großen Erwar- 
tungen, die man auf das Silbersalvarsan entsprechend seiner vorzüglichen Wirkung 
im Tierexperiment gesetzt hatte (v. Nothafft, Gennerich, Walson, Sternthal, 
Kall, Böttner, Boas, Ullmann u. a.), hat es anscheinend aber doch nicht ganz 
erfüllt (Heuck, Ähmann, Krösing u. a). Vor allem ersetzt seine alleinige An- 
wendung nicht, wie man anfänglich geglaubt hatte (Citron, Böttner, Boas u. a.), 
die kombinierte Hg-Salvarsankur, da man nach alleiniger Silbersalvarsankur doch 
recht häufig klinische und serologische Rezidive sah (Jersild). 

Das Silbersalvarsan entfaltet im allgemeinen auch alle die Nebenwirkungen, 
die den älteren Salvarsanpräparaten eigentümlich sind. Cyanose, Kongestionen und 
Venenthrombosen sollen nach van der Velde hier sogar häufiger als beim Neosalvarsan 
vorkommen. Auch muß man bei diesem Präparat stets mit dem Vorkommen einer 
Argyrie rechnen, wenn diese bisher auch recht selten beobachtet wurde (Pa- 
rounagian). Die Nebenwirkungen scheinen hier aber weniger intensiv zu sein und 
auch schnell wieder vorüberzugehen. Schwere Zufälle nach der Silbersalvarsan- 
anwendung gehören wohl zu den Seltenheiten. 


Gleichzeitig mit dem Silbersalvarsan wurde von Kolle das Sulfoxylatsalvarsan (Präparat 
Nr. 1495) herausgegeben. Es ist dies eine nicht oxydable und daher in gelöster Form haltbare 
Arsenobenzolsulfoxylatverbindung. Sie gelangt in 20%iger gelber Lösung, die in Ampullen einge- 
schmolzen ist, in den Handel und kann ohne weiteres eingespritzt werden. E. Hoffmann spritzt 
alle 7 Tage 02-03 g ein, Citron beginnt mit 1 cm? der 10%igen Lösung und steigt, in Intervallen 
von 4—5-—7 Tagen, bis zu 4 cm?. 

Dieses Präparat beeinflußt die klinischen Erkrankungen der Sr ebenfalls gut, doch lang- 
samer und weniger intensiv als die übrigen Salvarsanpräparate (E. Hoffmann, Citron, Kall, 
Kumer, O. Michaelis), weshalb es sich für die Behandlung der frischen Syphilis nicht eignet 
ta Hoffmann). Es wird aber bei älterer Syphilis, insbesondere bei Nachkuren (Katz), empfohlen, 
erner bei Aortenlues, bei cerebrospinaler Syphilis (Citron) sowie bei Tabes und be Paralyse. Da 
es anscheinend auch viel weniger gut als die anderen Salvarsanpräparate vertragen wird (Kall) und 
nach E. Hoffmann besonders häufig langwierige und schwere Dermatitiden hervorruft, dürfte 
sich seine Anwendung doch sehr wenig empfehlen. Soviel mir bekannt, ist das Sulfoxylat 
auch aus dem allgemeinen Verkehr zurückgezogen worden. 

Endlich ist hier noch zu erwähnen das Neosilbersalvarsan, das ebenfalls von 
Kolle gefunden wurde, u. zw. durch Einwirkung von Neosalvarsan auf Silbersalvarsan 
unter Einhaltung bestimmter Mengenverhältnisse. Es handelt sich hier um eine ein- 
heitliche Verbindung, welche im Gegensatz zum Neosalvarsan selbst nach längerem 
(24stündigem) Stehen an der Luft keine Zunahme der Giftigkeit erfährt. 

Das Neosilbersalvarsan ist ein braunschwarzes Pulver, das in evakuierten 
Röhrchen in den Handel kommt und sich sehr leicht und klar mit hellbrauner 
Farbe und schwach alkalischer Reaktion in Wasser löst. Sein Arsengehalt beträgt 
etwa 20%, der Silbergehalt ca. 6%. Hinsichtlich der Toxicität nimmt es nach Kolle 
im Tierversuch eine Mittelstellung zwischen dem Silbersalvarsan und dem Neo- 
salvarsan ein; sein chemotherapeutischer Index ist derselbe, wie der des Silber- 
salvarsans. Kolle bezeichnet es daher als ein durch Einführung der Silberkom- ` 
ponente biologisch aktiviertes Neosalvarsan. 

Nach E Hoffmann wird es in 10—20 cm? destillierten Wassers gelöst und 
zweimal wöchentlich in Dosen von 0'3—0'45 g bei Männern und 02-04 g bei 
Frauen intravenös appliziert. Zimmern verwendet im poliklinischen Betrieb eine 
10% ige Stammlösung, von der die nötigen Mengen (02—05 cm? mit 10 cm? Wasser 
verdünnt) entnommen werden. Die Gesamtdosis beträgt 3—4, bzw. 45 g. 

Spirochäten, serologische Reaktionen und klinische Erscheinungen sollen im 


allgemeinen gut und prompt beeinflußt werden (E. Hoffmann, Fabry und Wolff, 


Neuere Syphilistherapie. 3 


Zimmern, Duhot, Galewsky, Ullmann, Hanemann, Stühmer, Hornemann, 
Bruhns, Liebner und Rado, Schiller u.a.), doch treten auch hier Rezidive 
auf, insbesondere nach ungenügenden Kuren und nach zu langen Intervallen 
(Zimmern). Nach Dreyfuß wirkt es bei Neurolues nicht ganz so intensiv wie 
Silbersalvarsan in gleicher Dosis, doch intensiver als die nicht mit Silber kombi- 
nierten Salvarsanpräparate; nach Ziegler ist es den älteren Salvarsanpräparaten 
nicht überlegen. 

Nebenerscheinungen werden auch nach Anwendung des Neosilbersalvarsans 
genau wie bei den übrigen Salvarsanpräparaten beobachtet; die schweren Formen 
sollen fehlen und Dermatosen selten sein (Zimmern, Galewsky). Bruhns sah 
jedoch gerade hier verhältnismäßig häufig Dermatitiden auftreten. Hübner und 
Marr loben besonders ein als Neosilbersalvarsan hyperideal bezeichnetes 
Präparat, bei dem überhaupt keine Nebenerscheinungen mehr vorkommen sollen. 

x 

Ehe ich nun die anderen neueren Syphilisheilmittel, die nicht zu den Arsen- 
präparaten gehören, bespreche, möchte ich hier etwas ausführlicher auf die Neben- 
wirkungen der Salvarsanpräparate eingehen. Unsere Kenntnisse der Salvarsan- 
schädigungen sowie der Möglichkeiten, sie zu verhüten oder ihnen entsprechend 
therapeutisch zu begegnen, sind ja seit den diesbezüglichen Mitteilungen von 
Blaschko wesentlich vermehrt und erweitert worden. 

Ganz allgemein gesprochen, wissen wir heute, daß es echte Salvarsan- 
schädigungen leichter, schwererer und schwerster Art gibt, die einzig und allein 
der Ausdruck einer Salvarsanintoxikation sind. Wir beobachten sie bei allen 
der bisher bekannten organischen Arsenpräparate mehr oder weniger 
häufig und graduell verschieden, aber alle zeigen den gleichen Typus. Sie lassen 
sich bei keinem dieser Präparate mit Bestimmtheit vermeiden, und wir besitzen 
keine Möglichkeit, mit Sicherheit vorauszusagen, ob sie bei einem unserer Patienten 
eintreten werden oder nicht. Zum Glück sind die schweren und schwersten 
Salvarsanzufälle zurzeit sehr selten geworden. Der praktische Arzt muß 
aber in jedem Falle, in dem er mit Salvarsanpräparaten arbeitet, auf 
ihren Eintritt, bzw. auf ihre Vorboten gefaßt sein und Mittel und Wege 
kennen, ihnen entsprechend zu begegnen. Dazu ist es notwendig, daß er 
sich genauestens mit der Klinik dieser Nebenerscheinungen vertraut macht und 
insbesondere ihre Prodrome gut kennt und sie entsprechend zu würdigen 
weiß. Selbstverständlich muß er auch die Technik der Salvarsananwendung 
gründlich beherrschen, völlig aseptisch arbeiten und schadhafte Prä- 
parate von der Verwendung ausschalten. 

Es wäre im Interesse der leidenden Menschheit schwer gefehlt, etwa auf die 
Salvarsanpräparate in Hinsicht auf ihre eventuellen Nebenwirkungen verzichten zu 
wollen. Es gibt insbesondere in der Syphilistherapie kein wirklich wirksames Mittel, 
das nicht auch Nebenwirkungen, leider auch oft schwerster Art, entfaltet. Das Sal- 
varsan ist zurzeit aber unsere mächtigste Waffe, die wir im Kampfe gegen 
die Syphilis besitzen. Es leistet, richtig und in entsprechender Dosis angewendet, bei 
der Syphilis aller Stadien, insbesondere aber bei der primären, seronegativen Syphilis, 
Vorzügliches, worin es von keinem der anderen, uns gegenwärtig zur Verfügung 
stehenden Mittel übertroffen wird. Wir modernen Syphilistherapeuten können und 
dürfen darum heute noch nicht auf die Salvarsanpräparate verzichten. Hoffen wir 
aber, daß es der rastlosen Tätigkeit der chemischen Industrie in Verbindung mit 
zielbewußten, erfahrenen Forschern gelingen möge, uns ein anderes, gleichwertiges 

1* 


4 Paul Mulzer. 


Präparat zur Bekämpfung der Syphilis zu schenken, das mit dem Arsen nichts zu 
tun hat und seine ihm und allen seinen Abkömmlingen eigenartigen, unheimlichen 
Nebenwirkungen nicht besitzt! Bis heute ist dies leider noch nicht der Fall. 


Die allgemeinen Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate, die ja, wie wir bereits gesehen 
haben, bei allen Salvarsanpräparaten mehr oder weniger häufig und graduell mehr oder minder 
verschieden schwer auftreten, hängen in erster Linie natürlich ab von der Güte und Reinheit des 
Präparates, exaktes Arbeiten, peinlichste Sauberkeit und entsprechende Dosierung seitens des Arztes 
und zweckmäßiges Verhalten des Patienten als selbstverständlich vorausgesetzt. Beschädigte Ampullen, 
die zersetztes, in seiner Farbe verändertes Salvarsan enthalten, dürfen nicht verwendet werden. Nach 
Roth kann sich das Salvarsan aber auch in geschlossenen Ampullen in bezug auf seine Farbe, Lös- 
lichkeit, Beweglichkeit in. der Ampulle und Toxicität ändern. Man soll es im Eisschrank aufbewahren, 
weil esdabei am konstantesten bleiben soll. Eine Zeitlang wurde von Fälschern und Schiebern gefälschtes 
Salvarsan in den Handel gebracht. Solches darf natürlich ebenfalls nicht verwendet werden. In der 
ersten Zeit der Salvarsanära war das Salvarsan, inklusive des Neosalvarsans, weit giftiger als heute. Ich 
erinnere an die diesbezüglichen Publikationen aus der Straßburger Hautklinik, die alle auf eigenen, 
völlig einwandfreien Beobachtungen beruhen. Daß dies heute weit weniger der Fall ist, ist wohl in 
erster Linie darauf zurückzuführen, daß man im Laufe der Zeit gelernt hat, das Salvarsan mehr 
zu entgiften und reiner herzustellen. Aber immer noch bedeutet, wie mir von autoritativer chemischer 
Seite gesagt wurde, die einwandfreie Herstellung der Salvarsanpräparate einchemisches Kunststück, 
und da kann es immer wieder einmal vorkommen, daß dies weniger gut glückt. Das beweist ja auch 
die Tatsache, die besonders gehäuft in den Jahren 1920—1921 beobachtet wurde, daß sich ganze 
Serien von Salvarsanpackungen als höchst giftig erwiesen. Wir haben dies sowohl hier in 
München, wie überhaupt in Deutschland (z. B. Klinik Arndt, Berlin, Klinik Zinsser, Köln) und in 
anderen Ländern, in der Schweiz (z. B. Oltramare, Bloch), Holland (van der Velde), Amerika, 
Frankreich, Spanien u. a. beobachtet. Dubreuilh u.a. fordern daher, die als toxisch gefundenen 
Kontrollnummern einer Zentralstelle mitzuteilen, die für die Einziehung dieser toxisch wirkenden 
Serien zu sorgen habe. Es genügt meines Erachtens, sie umgehend der Fabrik in Höchst a.M. 
mitzuteilen, wodurch wohl das gleiche, doch bedeutend rascher bewirkt werden dürfte. Eine sorgfältige 
Nummernkontrolle ist zu diesem Zwecke bei der Anwendung der Präparate unbedingt notwendig. 
Leider sind die Nummern, besonders auf dem Boden der äußeren Packung, nicht immer gut leserlich, 


Bei dem Zustandekommen der Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate spielt sicher in vielen 
Fällen auch eine individuelle Überempfindlichkeit gegen diese Medikamente eine große Rolle. 
Wir besitzen indes noch kein Mittel, um dies mit Sicherheit bei jedem unserer Patienten, die wir mit 
Salvarsan behandeln werden, vor dieser Behandlung festzustellen. Erst während der Kur bemerken wir 
dies aus Anzeichen, die weiter unten besprochen werden und auf die wir sorgfältig achten müssen. Die 
Nebenwirkungen hängen weiter davon ab, ob der Organismus, abgesehen von der syphilitischen Er- 
krankung, gesund ist. Vor allem müssen Nieren und Leber gut funktionieren, wovon sich jeder 
Arzt, ehe er eine Einspritzung von Salvarsan vornimmt, bzw. während einer mit Hg kombinierten Sal- 
varsankur durch jedesmalige diesbezügliche Urinuntersuchung zu überzeugen hat. Nach Wechselmann 
sind die üblen Zufälle, insbesondere die Todesfälle, nach Salvarsanapplikation auf eine geschädigte Nieren- 
funktion zurückzuführen, eine Ansicht, die von anderen Seiten indes bestritten wird. So reagierte 
z. B. nach Weiss und Corson ein Patient mit erhöhtem Reststickstoffgehalt im Blute nicht im ge- 
ringsten auf Salvarsan, während ein völlig Nierengesunder die schwersten Zufälle zeigte. Der in der 
Gegenwart zum Glück wieder ziemlich seltene Ikterus wird, wie wir noch sehen werden, vielfach auf 
eine primäre Erkrankung der Leber zurückgeführt. Auch die Schwächung des Organismus durch 
interkurrente Erkrankungen, Schnupfen, Bronchialkatarrh, insbesondere durch Grippe und 
Malaria, aber auch durch Unterernährung, vor allem durch die Kriegs- und Nachkriegskost mit 
ihrem Fett- und Zuckermangel, spielt entschieden eine große Rolle für das Zustandekommen der üblen 
Salvarsannebenwirkungen. Jacobsohn und Sklarz stellten an Tierversuchen fest, daß durch Kalium- 
vorbehandlung die Toxicität minimaler Salvarsandosen erhöht wurde, wodurch die gehäuften Salvarsan- 
schädigungen bei vorwiegend vegetabilischer Kost erklärt würden. Es ist Pflicht des behandelnden 
Arztes, sich in jedem Falle vor Beginn einer Salvarsankur durch eine gründliche körper- 
liche Untersuchung von dem Gesundheitszustand seines Patienten zu überzeugen, 
insbesondere sollte bei älteren Leuten stets eine Blutdruckmessung (Vorsicht bei erhöhtem Druck!) 
und eine genaue, eventuell orthodiagraphische Untersuchung des Herzens vorgenommen werden. 
Selbstverständlich ist während der Behandlung ständig die Temperatur und das Gewicht zu kon- 
trollieren. Man muß stets auch achten auf eventuell vorliegenden Basedow oder Status lymphaticus, der unter 
Umständen eine Kontraindikation für Salvarsananwendung bildet. Fritz konnte z. B. bei seinen 7 Todes- 
fällen (Encephalitis) nach Salvarsan sämtlich Zeichen eines vorhandenen Status thymo-Iymphaticus fest- 
stellen. Nach Kritschewsky haben alle krankhaften Erscheinungen nach Salvarsananwendung als gemein- 
same Ursache die Abnahme der Dispersionsfähigkeit des Blutes. In vivo und in vitro soll 
das Salvarsan eine außerordentliche Fähigkeit besitzen, die Dispersion der Blutkolloide herabzusetzen. 
Viele der nach Salvarsaneinspritzungen auftretenden Nebenwirkungen, insbesondere die sogenannte 
„nitroide Krise“, werden von verschiedenen Forschern in Zusammenhang gebracht mit der nach ihrer 
Ansicht bei jeder Salvarsaninjektion auftretenden hämoklasischen Krise Nach Golay und 
Benveniste darf diese aber nur dann als positiv betrachtet werden, wenn Leukocytensturz, Blut- 
drucksenkung und Umkehrung des leukocytären Blutbildes gleichzeitig gefunden werden. Leuko- 
cytenzählung allein genügt nicht, ein solches Phänomen anzunehmen; alle 3 Erscheinungen vereinigt 
fanden diese Autoren aber niemals. l 

Manche Erscheinungen, insbesondere das Fieber und die Herxheimersche Reaktion, bzw. 
die Neurorezidive sind teilweise auch zu erklären durch den Einfluß der Endotoxine der unter 


Neuere Syphilistherapie. 5 


Salvarsanwirkung massenhaft zerfallenden Spirochäten. Verschiedene Kliniker neigen über- 
haupt zu der Auffassung, die sogenannten Salvarsanschädigungen mehr auf das Konto der vor- 
handenen Lues zu setzen. Demgegenüber ist zu bemerken, daß wohl fast alle als echte Salvarsan- 
schäden anzusehenden unangenehmen Nebenwirkungen auch bei Nichtluetischen, die aus irgend 
einem Grunde Salvarsan eingespritzt erhielten, beobachtet wurden. Belege dafür finden sich zahlreich 
in dem bekannten Mentbergerschen Buche sowie in der vorliegenden neueren Literatur. 

Schließlich ist noch zu erwähnen, daß vielfach, insbesondere von französischer Seite, behauptet 
wird, die Salvarsanschädigungen würden nur bei intravenöser Applikation beobachtet. Milian 
betont aber mit Recht, daß diese auch nach subcutaner Anwendung auftreten und im allgemeinen 
unabhängig von der Größe der Dosis sind. Er beobachtete nach den kleinsten subcutanen 
Salvarsandosen das Auftreten eines schwersten angioneurotischen Symptomenkomplexes, eine Hirn- 
schwellung mit tödlichem Ausgang und eine letal endigende Dermatitis. 


Um nun auf die allgemeinen Nebenwirkungen der Salvarsanpräparate selbst 
einzugehen, so ist hier in erster Stelle zu nennen das | 


Fieber. 


Auch heute noch beobachtet man eine, am häufigsten etwa 10 Stunden 
nach der ersten Salvarsaninfusion auftretende fieberhafte Reaktion, die 
nicht selten 39—40° erreicht und meist mit Schüttelfrost einhergeht. 


Wir wissen heute, daß für dieses Fieber weder der sog. „organische« (Wechselmann), 
noch der „anorganische Wasserfehler“ (Emery) oder fehlerhafte Technik in Betracht kommen. Insbeson- 
dere die Untersuchungen von Mulzer an der Straßburger Hautklinik haben dazu beigetragen, das 
„Märchen vom Wasserfehler“ illusorisch zu machen. Wir erfahren immer wieder, daß selbst kleine 
Salvarsandosen mit nur wenig völlig frisch destilliertem und sterilisiertem Wasser in Schalen aus 
Jenenser Glas gelöst und in Spritzen aus gleichem Glase aufgesogen, hohes Fieber auslösen, und ander- 
seits sehen wir, daß wir absolut keine fieberhafte Reaktion, insbesonders bei den weiteren Einspritzungen 
erhalten, selbst wenn wir gewöhnliches Leitungswasser zur Herstellung der Lösung verwenden. Das 
teuere käufliche „Ampullenwasser“ ist meiner Ansicht und Erfahrung nach völlig unnötig für die 
Salvarsantherapie. Dieses Fieber, das besonders in der ersten Zeit der Salvarsanära so gut wie regel- 
mäßig gesehen wurde und uns zwang, allen Patienten anzuraten, sich nach der ersten Infusion 
für 24 Stunden ins Bett zu legen, wird gegenwärtig weit seltener, aber immer noch häufig genug 
beobachtet. Es tritt insbesondere bei frischer, florider Syphilis auf und wird daher mit Recht 
wohl teilweise auf die spirillocide Wirkung des Salvarsan zurückgeführt bzw. als Endotoxinfieber 
aufgefaßt. Man beobachtet ja bei frischer Syphilis auch nach den ersten Quecksilber- und Wismut- 
einspritzungen Fieber. Dieses specifische Fieber erreicht aber niemals die Höhe, die das Fieber 
nach Salvarsaneinspritzungen in der Regel zeigt, selbst bei stärkster Jarisch-Herxheimerscher 
Reaktion. Dieses Phänomen, das im wesentlichen in einem Anschwellen der Primäraffekte und in 
einer stärkeren Rötung und Schwellung des Exanthems besteht, wird wohl allgemein ebenfalls auf 
eine Endotoxinwirkung der unter dem Einfluß des specifischen Mittels zerfallenden Spirochäten zurück- 
geführt. Daraus und aus dem Umstande, daß das stärkere Fieber auch nach Salvarsaneinspritzungen 
bei Nichtsyphilitischen auftritt, geht hervor, daß für die Entstehung dieses Fiebers auch die 
zum ersten Male in den Organismus eingeführte Substanz, eben das Salvarsan (Salvarsan- 
fieber), verantwortlich gemacht werden muß. 


Das Fieber hält gewöhnlich nur kurze Zeit an, ebenso wie die nicht selten 
gleichzeitig vorhandenen Kopfschmerzen, leichte Übelkeit, Erbrechen, er- 
schwerte Atmung, Unruhe, Durchfall, Kreuzschmerzen und geringfügige 
Störungen der Herztätigkeit. | 

Einer besonderen Behandlung bedürfen das Fieber und diese geringfügigen 
Begleiterscheinungen meist nicht. Unter Umständen gibt man etwas Pyramidon 
(0:1 —0:3) oder Coffein-Natrium benzoicum (0:75), macht kühle Umschläge auf den 
Kopf und verordnet Ruhe und blande Diät. Erwähnt sei, daß Kopalewski, der 
die nach intravenöser Salvarsaninfusion auftretenden Erscheinungen, wie Schüttelfrost 
und Temperatursteigerungen, als anaphylaktische Phänomene bzw. im Sinne 
einer physikalischen Auffassung der Anaphylaxie als Folge kolloidaler Serum- 
ausflockungen auffaßt, sie durch Zusatz von 3—4 Tropfen Äther in die konzen- 
trierte Neosalvarsanlösung und durch langsame Injektion oder durch Wahl einer 
20%igen Zuckerlösung als Lösungsmittel vermeiden zu können glaubt. 

Wiederholen sich diese Erscheinungen, treten insbesonders nach 
jeder oder auch nur nach den nächstfolgenden Einspritzungen Tempe- 
ratursteigerungen auch nur leichter Art auf, dann ist größte Vorsicht 


6 Paul Mulzer. 


geboten sowohl in der Steigerung der Dosis als auch in der weiteren 
Verwendung des Salvarsans überhaupt! 

An dieser Stelle sei hingewiesen auf die beachtenswerten Mitteilungen von 
Friedmann, daß durch Salvarsaninjektionen latente Malariafälle provoziert 
werden können. W. Fischer, Glaser, Sklarz, Isaac-Krieger und Löwenberg, 
Hanel, Gordon u. a. haben diese Wahrnehmungen gleichfalls gemacht. Nach 
Gordon sind nach dem Kriege in Deutschland bis Anfang 1923, 70 Fälle von durch 
Salvarsan provozierter Malaria bekannt geworden. Von diesen hatten 13 Deutschland 
nie verlassen und 19 waren nicht im Felde gewesen. Von diesen 32 hatten 29 = 897% 
Lues in der Anamnese, 3=10'3% nicht. Die Tropicaart kann nach Gordon wahr- 
'scheinlich überwintern; diese Winterinfektion kann aber auch das Zeichen einer 
langen, 6—9 Monate dauernden Latenz sein. Da das Salvarsan eine manifeste Tropica- 
malaria therapeutisch oft nicht beeinflusse, sei es wichtig, auch ohne klinische Anhalts- 
punkte bei verdächtigen Personen schon nach den ersten Salvarsan- 
injektionen, insbesondere bei jedem Fieberanstieg, auf Malaria zu 
fahnden. Der durch Lues und Malaria geschwächte Organismus reagiert nämlich nach 
Ausbruch der Infektion anders als ein normaler auf Salvarsan. Tatsächlich wurden 
verschiedene Todesfälle und eine Reihe von schweren Salvarsanschädigungen, ins- 
besondere solche, die unter dem Bilde einer akuten gelben Leberatrophie verliefen, 
bei latenten Malariakranken gesehen. 


Angioneurotischer Symptomenkomplex. 


Im Anschluß an Salvarsaninjektionen beobachtet man ferner häufig Erschei- 
nungen, die in ihrer Gesamtheit als angioneurotischer Symptomenkomplex 
bezeichnet werden. Unmittelbar nach oder schon gegen Ende der Injektion tritt 
Atemnot, Rötung, Cyanose des Gesichtes, starkes Hervortreten der Augen und der 
Temporal- und Halsgefäße, Schwellungen im Gesicht und im Mund, Erstickungs- 
gefühl, Üblichkeit, Erbrechen auf. Gelegentlich kann es auch zu Hämorrhagien, zu 
Asthma und zu Speichelfluß mit Blutbeimischungen kommen. Mitunter tritt gleich- 
zeitig auch eine universelle Urticaria auf. Dieser Erschetnungskomplex, der graduell 
verschieden bei allen bisher bekannten Salvarsanpräparaten beobachtet wird, 
wurde wegen seiner großen Ähnlichkeit mit den Erscheinungen nach Einatmung 
von Amylnitrit von Milian auch als „nitroide Krise“ bezeichnet. Er unterscheidet 
hier 3 Formen, nämlich: 1. die gewöhnliche kongestive Form der normalen Krise 
mit Erbrechen und Durchfall, 2. eine vorübergehende Form mit Synkope und 
Kongestion und 3. eine schwere, shokartige Form, die er „Crise blanche“ nennt. 
Nach 10—30 Minuten bis höchstens 2—3 Stunden ist gewöhnlich auch der schwerste 
Anfall, der sehr bedrohlich aussehen kann, vollkommen vorbei, nur ein leichtes 
Schwächegefühl bleibt noch für einige Tage bestehen. Die Erscheinungen des angio- 
neurotischen Symptomenkomplexes treten selten nach der ersten Einspritzung 
auf. Gewöhnlich stellen sie sich erst nach 3—4 kleineren Gaben ein, treten dann 
aber regelmäßig auch nach der kleinsten Dosis auf. 


Die Ursachen für diese Erscheinungen liegen einmal in der zu schnellen intravenösen 
Injektion und der zu starken Konzentration der Salvarsanlösung. Wir wissen aber, daß 
dieser Komplex auch nach subcutaner Applikation des Salvarsans beobachtet wird. Es werden 
also bei dem Zustandekommen dieser Erscheinung auch noch andere Faktoren eine Rolle 
spielen müssen. Wechselmann und Tscherbenzow nelımen einen Zusammenhang mit syphilitischen 

eränderungen am Centralnervensystem an; nach Wechselmann handelt es sich um einen vom 
Depressor ausgelösten Reiz. Milian ist der Ansicht, daß die nitroide Krise unmittelbar vom 
Präparat selbst abhänge. Das saure Salvarsan wirkt ausgesprochen gefäßdilatatorisch und führt 
fast stets, in 80%, zu Kongestionen. Bei alkalischem Salvarsan tritt eine solche Reaktion nur in 10% 
der Fälle ein; diese Zahl steigt jedoch bei unvollkommener Alkalescierung. Beim Neosalvarsan will 


Neuere Syphilistherapie. 7 


er diese Zustinde weit seltener, nur etwa fh 50%, beobachtet haben, was nach meiner Erfahrung aber 
doch als zu niedrig gegriffen erscheint. Länger der Luft ausgesetztes, bzw. oxydiertes Neosalvarsan 
verursacht die Krise häufiger. Weiter spielt nach Milian der Zustand des Individuums eine 
gewisse Rolle. Die betroffenen Individuen haben seiner Ansicht nach nämlich erstens eine Neigung 
zu Vasodilatation (Ektasophilie), die auf einer humoralen Konstitution beruhen soll, welche die Zersetzung 
des Salvarsans in toxische Zwischenprodukte begünstige, und zweitens eine Insuffizienz des Gefäß- 
tonus. Die erstere soll von der Alkalescenz des Blutes abhängen. Die Ektasophilie ist nach Milian 
lediglich durch Insuffizienz der Nebenniere bedingt und kann durch Adrenalinzuführung behoben 
werden. Auch die Gehirnschwellung (Apoplexie nerveuse) ist nach Milian nur eine nitroide Krise 
des Gehirns. Sympathicusstörungen spielen bei diesen Zufällen eine große Rolle, da das Salvarsan 
seiner Ansicht ach nicht so sehr neurotrop als vielmehr sympathicotrop ist. Zwischen der nor- 
malen Krise und den sonstigen Arsenschädigungen bestehen sicher Zusammenhänge, so daß schon 
die normale Krise als ein Warnungszeichen anzusehen ist. 


Prophylaktisch wird man, vor allem beim Silbersalvarsan, eine zu rasche 
intravenöse Infusion der Salvarsanpräparate vermeiden müssen. Wie wir bereits 
gehört haben, soll sie 7—10 Minuten dauern. Milian rät die stark verdünnte 
Salvarsanlösung fraktioniert in der Weise zu injizieren, daß man zuerst 1—3 cm? 
einspritzt, dann '/, Minute wartet und dabei genau den Puls kontrolliert. Bleibt 
dessen Frequenz gleich, dann fährt man in gleicher Weise fort, bis nach 10 Minuten 
die ganze Einspritzung vollendet ist. Tritt Pulsbeschleunigung auf, dann soll man 
warten, bis der Puls sich wieder beruhigt hat. Auch darf die Salvarsanlösung 
nicht zu konzentriert sein. Es empfiehlt sich z. B. das Neosalvarsan durch- 
schnittlich in 10—20 cm? Flüssigkeit zu lösen. Wenn man bei der Injektion eine 
größere Spritze nimmt und nach Einführung der Nadel in die Vene noch einige 
Kubikzentimeter Venenblut in die Salvarsanlösung aufsaugt, so wird er- 
fahrungsgemäß die Einspritzung besser vertragen. Flandin schlägt sogar vor, die 
zur Injektion bestimmte Salvarsanmenge nur in 1 cm? Wasser zu lösen, sie in eine 
10 cm? haltige Spritze aufzuziehen und dann noch 9 cm? Blut zu aspirieren. Man 
soll hierauf 5—10 Minuten warten, ehe man dieses Gemisch injiziert. Durch den 
Kontakt mit dem Blute würde das Salvarsan desensibilisiert und anaphylaktische 
Erscheinungen würden dadurch teilweise vermieden („Exohämophylaxie“). Schuh- 
macher rät, die möglichst hoch schulterwärts angelegte Binde auch während 
der Infusion und nach Beendigung derselben noch 5 Minuten liegen zu lassen 
und sie dann langsam und ruckweise zu lösen. Durch Wechsel des Prä- 
parates vermeidet man oft ebenfalls den Wiedereintritt des angioneurotischen 
Symptomenkomplexes. | 

v. Rhomberg empfahl, kurz vor der Salvarsaninjektion subcutane Ein- 
spritzungen von 05 — 1cm?Solutio Adrenalini oder Suprarenini (1: 1000) vorzunehmen. 
Diese Maßnahme wirkt meist auch ausgezeichnet therapeutisch. Auch Milian 
gibt prophylaktisch und therapeutisch Adrenalin, u. zw. zur Bekämpfung schwerer 
Krisen große Dosen, bis 5—7 mg in 1—2 Stunden subcutan, bzw. intramuskulär. 
Gleichzeitig verabreicht er aber Adrenalin auch intravenös, aber in allerkleinsten 
Mengen. Es genügt, wenn man hierzu die zur intramuskulären Injektion verwendete 
Spritze mit 2—3 cm? Kochsalzlösung füllt und diese dann einspritzt. In ihr findet sich 
spurenweise noch so viel Adrenalin, daß das Herz dadurch bei jeder Vergiftungs- 
synkope angeregt wird. Reinhard und Eichelbaum geben vor der Salvarsaninfusion 
1/,—?/, cm? der 1% gen Suprareninlösung (synthetisches Präparat der Höchster 
Farbwerke) und die gleiche Menge auch therapeutisch subkutan oder 1. cm? intra- 
venös, was eine weit intensivere Wirkung auslöst. Man muß bei der Adrenalin- 
bzw. Suprareninanwendung wissen, daß diese Präparate aber bei intravenöser Appli- 
kation auch ihrerseits wieder Nebenwirkungen entfallen können, die sich in Schwindel, 
Erbrechen, Atembeschwerden und Krämpfen der Kiefer-, Hände- und Armmuskulatur 
äußern können. Besonders mit der intravenösen Einspritzung des Adrenalins muß 


8 Paul Mulzer. 


man sehr vorsichtig sein, da hiernach die eben besprochenen Nebenerscheinungen 
dieses Mittels viel ausgesprochener auftreten können. 

Sicard nimmt bei Auftreten des angioneurotischen Symptomenkomplexes 
intravenöse Injektionen von Natrium carbonicum vor, u. zw. 06—0'75 in 30 cm? 
physiologischer Kochsalzlösung gelöst. Das Mittel wird sterilisiert in hartem Glase zur 
Verwendung bereit gehalten. O. Salomon empfiehlt, zur Vermeidung des angio- 
neurotischen Symptomenkomplexes und zur Behandlung einer eventuell auftretenden 
Urticaria von einer starken Staimmlösung von Calcium chloratum und Aqua 
destillata ana 10—20 Tropfen in etwa 10 cm? abgekochtem Leitungswasser intravenös zu 
injizieren, bzw. darin das Salvarsan zu lösen. Dieses Mittel soll ebenso gut wie Afenil- 
Knoll (Ca-haltig), das von anderer Seite (Stümpke u.a.) empfohlen wurde, wirken, 
dabei aber wesentlich billiger sein. E. Hoffmann rät ebenfalls, 05—1 cm? einer 
50%igen starken Lösung von Calcium chloratum in der Weise zuzusetzen, daß 
aus der die Lösung enthaltenden Flasche !/,—1 cm? in die Salvarsanlösung aufgesogen 
und dann langsam, zur Vermeidung des leicht auftretenden Wärmegefühles, injiziert 
werden. Wiesenac hat experimentell festgestellt, daß eine Toleranzerhöhung 
gegenüber Salvarsan erzielt wurde durch dessen Auflösung im eigenen oder art- 
eigenen Serum und nach Anreicherung des Organismus mit intravenös verabreichten 
Calciumlösungen. Noch größere Toleranz erzielte er durch Kombination dieser Methoden 
mit Vorlegen einer kleinsten Schutzdosis von Salvarsan 24 Stunden vor Ver- 
abreichung der letalen Dosis, welches Vorgehen auch Kolle empfohlen hat. Letzteres 
hat sich auch klinisch allgemein gut bewährt. Wiesenac hat übrigens experi- 
mentell auch eine Steigerung der Widerstandskraft des Organismus durch die Auf- 
lösung desSalvarsans in 1 %iger Na-Cl-Lösung und vor allem in 1 %iger Normosal- 
lösung (Calcium, Kalium, Natrium) gesehen. Assmann allerdings will recht schlechte 
Erfahrungen gerade mit in Normosal gelöstem Salvarsan gemacht haben, weshalb er 
auch diese Methode auf das entschiedenste verwirft. 

Erwähnt sei noch, daß Scholtz und seine Mitarbeiter die Giftigkeit des Sal- 
varsans durch Traubenzuckerlösungen herabsetzen wollen. Kolle hat diese 
Tatsache auch experimentell festgestellt. Salvarsan in Verbindung mit 15 g Trauben- 
zucker (30 cm? der 50%igen Lösung) soll außerdem doppelt so stark spirochätocid 
wirken als ohne diesen Zusatz. Auch Kopaczewski, Duhot, Planner und Kyrle 
und andere Autoren empfehlen die gleichzeitige Applikation von .Traubenzucker- 
lösungen. Jessner betont dem gegenüber, daß nach Traubenzuckerverwendung 
häufig Thrombenbildung beobachtet wurde, was diesem Verfahren gegenüber ent- 
schieden zur Vorsicht mahnt. 

Milian rät noch, am Vortage bis zum folgenden Tage nach einer Salvarsan- 
injektion jede körperliche Anstrengung vermeiden zu lassen und ebenso Nacht- 
wachen und ähnliche die Nerven reizende Tätigkeit, eine Forderung, die zweifellos 
berechtigt ist, sich aber praktisch wohl nur selten vollkommen durchsetzen lassen 
dürfte. Die Salvarsaninjektion soll nicht bei vollem Magen, aber auch nicht 
ganz nüchtern gegeben werden. 1—3 Stunden nach der EES soll 
keine Nahrung genommen werden. 


Im Anschluß an den angioneurotischen Symptomenkomplex, aber auch ohne 
denselben, können nach einer Salvarsaninjektion urticarielle und dem Erythema 
multiforme ähnliche Exantheme entstehen, die zwar meist ebenfalls rasch 
wieder schwinden, aber doch zu einer gewissen Vorsicht in der weitern Ver- 
wendung des Salvarsans Anlaß geben. „Alle diese Hautreaktionen deuten auf 


Neuere Syphilistherapie. 9 


eine Überempfindlichkeit gegen einen im Salvarsan enthaltenen Stoff hin, vergleichbar 
den Reaktionen, wie sie entstehen nach anderen Medikamenten, am häufigsten nach 
Antipyrin, Atophan, Nirvancl und nach sog. Autointoxikationen vom Darm aus“ 
(Pincus). Sie leiten über zu der gefährlichsten der durch Salvarsan hervorgerufenen 
Erkrankungen der Haut, der sog. | 


Salvarsandermatitis. 


Die Salvarsandermatitis tritt sowohl nach intramuskulärer als nach intra- 
venöser Anwendung des Salvarsans auf. Nach letzterer wird sie naturgemäß schon 
deshalb häufiger beobachtet, weil diese Applikationsmethode gegenwärtig fast aus- 
schließlich angewendet wird. Sie beginnt in der Regel 8-10 Tage nach der Ein- 
spritzung, nicht selten im Anschluß an eine Angina. Pincus unterscheidet drei Formen 
der echten Salvarsandermatitis, nämlich eine leichte Form, die aus einem masern- 
ähnlichen Ausschlag, der meist unter leichter Temperatursteigerung und erheblichem 
Krankheitsgefühl auf der Brust und auf den Armen aufzutreten pflegt. Unter reicher 
Abschuppung verschwindet er gewöhnlich wieder nach 2—3 Tagen. „Diese ganz 
leichte Form ist recht häufig. Von ihr aus gibt es alle Übergänge bis zu den aller- 
schwersten, die durch septische Komplikationen zum Tode führen. Deshalb ist es 
ratsam, sofort die Salvarsanbehandlung auszusetzen. Eine einzige hinzukommende 
Dosis kann den Fall lebensgefährlich machen" (Pincus). Die mittelschwere 
Form zeichnet sich dadurch aus, daß die Affektion im Laufe von zwei bis drei 
Wochen allmählich auf den ganzen Körper übergeht und den Charakter einer 
universellen Erythrodermie annimmt. Auch sie kann unter trockener, dünner, lamel- 
löser Schuppung abheilen. Die.schwere Form der Salvarsandermatitits zeichnet sich 
dadurch aus, daß das Exanthem gleich von Anfang an oder wenigstens sehr bald 
in eine nässende Dermatitis übergeht. Das Allgemeinbefinden leidet zumeist sehr 
stark durch Sekundärinfektion. „Der Beginn der großen Gefahr ist der 
erste Furunkel“ (Pincus). Häufig erfolgt der Tod, doch ist auch Ausgang in 
Heilung möglich. Diese nimmt dann aber immer mehrere Monate in Anspruch 
und verlangt peinlichste Pflege und Aufmerksamkeit. 

Stühmer, der annimmt, daß alle Nebenerscheinungen, die wir nach der 
Anwendung von Salvarsan auftreten sehen, vor allem alle Formen von Hauterschei- 
nungen, nicht durch das intakte Salvarsan erfolgen, sondern daß erst der bei der 
Fabrikation, beim Lösungsvorgang oder im Organismus vor sich gehende Oxyda- 
tionsprozeß diese toxische Produkte entstehen lasse (Oxydtoxine), unterscheidet 
1. eine akute vasotoxine Salvarsandermatitis, deren Auftreten unmittelbar 
oder spätestens 1—2 Tage nach der Injektion erfolgt; 2. eine subakute anaphy- 
laktoide Salvarsandermatitis, die 6—12 Tage nach der ersten Einspritzung 
erfolgt. Der zeitliche Abstand von der ersten Injektion ist das Wichtigste; 
sie kann der Vorbote einer Hirnschwellung sein; 3. eine chronische Salvarsan- 
dermatitis und hier wieder eine Früh- und Spätform. Nach Abklingen der meist 
mehr urticariellen universellen Krankheitserscheinungen kommt es oft zu hartnäckigen 
Hautveränderungen an den Prädilektionsstellen des seborrhoischen Ekzems, weshalb 
ihm die Disposition zu seborrhoischen Ekzematiden eine ätiologische Rolle 
zu spielen scheint. 

Außer dieser Dermatitis, die besonders in den Jahren 1920 bis 1921 recht häufig 
war und schwer verlief — Arndt sah in dieser Zeit an seinem Material 11 schwere 
Fälle —, gegenwärtig aber doch wieder viel seltener ist, hat man auch andere Derma- 
tosen nach Salvarsananwendung gesehen, wie maculöse und papulöse Exantheme 


10 Paul Mulzer. 


und vor allem Hyperkeratosen, Lichen-ruber-ähnliche Ekzeme und Fälle, 
die ganz einem Lichen ruber planus glichen, mit typischen Schleimhauter- 
scheinungen im Munde (Buschke und Freymann, Schäfer, Frei und Tachau, 
E. Hoffmann, Wirz, Kleeberg, Troebs, Ullmann, Naegeli, Albert, Keller 
u. a.). Die Hyperkeratose findet sich meist an den Follikeln, doch kann es auch zur 
Ausbildung konfluierender hyperkeratotischer Herde und Schwielenbildung an Hand- 
tellern und Fußsohlen kommen. Meist sind diese Exantheme mit starker Pigmen- 
tierung verbunden, besonders an den dem Lichte ausgesetzten Stellen. Ferner 
hat man Fälle-von Pemphigus foliaceus beobachtet (Nicolas und Massia), 
die leichter als die klassische Form verliefen, Herpes zoster und, vor allem 
im Ausland nach Anwendung der Salvarsanersatzpräparate, purpuraähnliche Er- 
krankungen der Haut (Rabut und Oury, Lespinne und Wydooghe, Jareki, 
Callomon, Emile-Weil und Isch-Well u. a.). Doch hat auch Pet in Koblenz bei 
einem Manne nach der ersten Neosalvarsaninjektion flohstichähnliche Haut- 
blutungen am Unterarm gesehen, die er als eine Warnung vor weiteren 
Salvarsangaben auffaßt. Mitunter entsteht nur einfaches Hautjucken. 


Wie bereits bemerkt, faßt man, im allgemeinen wohl ganz mit Recht, die Dermatitis nach 
Salvarsananwendung auf als den Ausdruck einer reinen Salvarsanintoxikation. Jadassohn 
und Zieler sehen in ihrem Auftreten eine „ganz specifische Reaktion des Organismus auf Salvarsan“, 
Dubreuilh beschuldigt hierfür die Benzolgruppe, nach Emile Weil und Isch Well handelt es 
sich hier aber mehr um eineSalversanintoleranz, nicht um eine Salvarsanschädigung. Wechsel- 
mann meint, daß die Hautentzündungen selten nach reiner Salvarsanbehandlung beobachtet würden, 
sondern meist nach kombinierten Kuren. Er warnt deshalb vor der Zuführung anderer Metalle (Hg, 
Arg) zum Salvarsan, ein Standpunkt, auf dem er wohl ganz allein steht. Wichtig ist es bei kombi- 
nierten Kuren natürlich festzustellen, ob das Exanthem seine Entstehung dem As oder 
dem Hg verdankt, denn darnach wird sich die weitere Therapie zu richten haben. Das ist aber 
durchaus nicht leicht. Nach Peters gelingt es nur dann mit Sicherheit, wenn Hyperkeratosen auf 
der Palma oder Planta auftreten; diese seien nämlich immer auf As zurückzuführen. Meirowsky rät, 
um diese Frage zu entscheiden, dem Kranken auf einen kleinen Fleck der gesunden Haut ein Queck- 
silberpflaster aufzulegen. Ist die Dermatitis durch Hg hervorgerufen, dann soll sich unter dem Pflaster 
Rötung und Nässen einstellen. 


Die oben erwähnte Ansicht Wechselmanns trifft nicht zu; Hautentzändungen kommen ebenso 
häufig auch nach oder während reiner Salvarsankuren vor. Die Dermatitis hängt auch nicht ab von 
der Höhe der Dosis und ist auch keine Kumulativwirkung. Nach Moore kommen auch Ver- 
unreinigungen, Zersetzungen der Präparate hierfür nicht in Betracht, da sich zeigte, daß 
oft die Hälfte eines Präparates schwere Hautsymptome auslöste, während die andere keinerlei Er- 
scheinungen hervorrief. Auch der „Wasserfehler“, bzw. Sekundärinfektionen auf dieser Basis, die 
mitunter als Erklärung hier herangezogen werden, spielt hier keine Rolle, da die Dermatitis auch 
nach peinlichster Asepsis auftritt. Die Dermatitis ist auch keine Abart der Herxheimerschen 
Reaktion, da diese stets lokal, nicht diffus, wie die Salvarsanexantheme, ist. Nach Schiff handelt 
es sich hier um eine durch das Salvarsan, speziell den As-Kern, hervorgerufene Lähmung der Ca- 
pillaren, bzw. des Sympathicus. Anaphylaktische Vorgänge und eine durch die Syphilis 
oder durch As bedingte Leberinsuffizienz, durch welche die Entgiftung des Organismus leidet, 
sind mit in Betracht zu ziehen. 


Die purpuraähnlichen Erkrankungen der Haut werden von Rabut und Oury auf die 
gerinnungswidrige Wirkung des Salvarsans zurückgeführt, die dieses Präparat in vitro und bei 
jeder Injektion bis zu 24 Stunden lang entfalten soll. Außerdem soll hier noch die allen As-Präpa- 
raten eigentümliche gefäßerweiternde Wirkung in Betracht kommen. Für die Lichen-ruber- 
ähnlichen Exantheme, insbesondere für die Fälle, die sich vom echten Lichen ruber planus 
nicht unterscheiden lassen, kommt, wie insbesondere die Fälle von Keller, Wirz und E. Hoff- 
mann zeigen, die Möglichkeit einer Koinzidenz von echtem Lichen ruber und Syphilis 
in Betracht. Ferner könnte nach Nathan hier in Betracht kommen, daß ein Lichen ruber durch 
Salvarsan provoziert würde. In der Mehrzahl wird es sich aber doch wohl auch hier um echte 
Salvarsanexantheme handeln, zumal wenn während der Behandlung die follikuläre Hyperkeratose 
und die Pigmentierung zunimmt (Nathan, Riecke). | 


Prophylaktisch ist zu fordern, daß der Arzt der Haut der Patienten, die 
er mit Salvarsan behandelt, die größte Aufmerksamkeit schenkt. Jedes, auch 
das flüchtigste, Exanthem muß hier beachtet werden! Insbesondere bei Patienten, 
die zu seborrhoischen Ekzemen neigen, muß man stets auf der Hut sein. Ich selbst 
verlor einen Patienten, einen alten Tabiker, dessen Seborrhöe sich gegen Ende der 
Kur etwas verschlimmerte und plötzlich in eine schwere, letal endigende univer- 


Neuere Syphilistherapie. 11 


selle Dermatitis überging. Man muß selbstverständlich auch immer darauf achten, 
ob nicht eventuell eine latente hämorrhagische Diathese vorhanden ist. Un- 
regelmäßige reichliche Menstruation, Neigung zu Nasenbluten, Verringerung der 
Harnmenge bzw. verlängerte Blutungszeit und Verminderung der Blutplättchen müssen 
den Verdacht auf einen solchen Zustand stets hervorrufen (E. Weil). Nach Milian 
ist das isolierte Auftreten insbesonders einer einseitigen Conjunctivitis während 
einer Salvarsankur stets als Warnungszeichen dafür aufzufassen, daß das Salvarsan 
schlecht vertragen wird. Wird die Behandlung trotzdem weiter fortgesetzt, kommt 
es gewöhnlich zum Exanthem. Erwähnen möchte ich noch, daß Harrison die 
beginnende Intoleranz der Haut daran erkennen will, daß ein Fleck Jodtinktur, auf 
den Ellbogen gepinselt, bei der nächsten Einspritzung noch sichtbar sei. 


Therapeutisch wird die Hautentzündung natürlich nach den Grundsätzen 
der Dermatologie mit Umschlägen, Puderungen, Kühlsalben, weichen Pasten behandelt. 
Stühmer empfiehlt 1/,%ige Salicylvaseline, die seiner Ansicht nach bei Sebor- 
rhöe geradezu specifisch wirkt, am besten als !/,%iges Zinköl. Salben werden meist 
nicht gut vertragen, besser Zinklotio. Auch kurzdauernde Bäder mit Bor- oder Kalium- 
permanganicum-Zusatz sind zu empfehlen. Kusnitzky und Langner empfehlen die 
_ Röntgenbehandlung der Dermatitis, sobald der Patient entfiebert ist. Der Juck- 
reiz soll dadurch vermieden, .die Verhornung angeregt und Pyodermien sollen 
hintangehalten werden. Von manchen Seiten (Heuck) werden bei beginnenden 
Pyodermien Trypaflavineinspritzungen empfohlen, von denen allerdings Cal- 
lomon keine überzeugende Erfolge gesehen haben will. 


_ In letzter Zeit wird therapeutisch auch Calcium gegeben, das anscheinend einen 
leichteren Verlauf der Dermatitis gewährleistet. Ravaut empfiehlt Natrium thiosul- 
furicum, u. zw. 4—15 g einer 20%igen Lösung intravenös. Er beginnt tastend mit 
kleinen Mengen und setzt, vorsichtig steigend, die Behandlung dann längere Zeit fort. 
Auch Mc Bride und Dennie empfehlen diese Methode; sie geben von der sterilen 
Natrium-sulfuricum-Lösung bei As-Dermatitis sofort 0'3 intravenös, am nächsten Tage 
0:45, am 3. Tage 0'6, am 4. Tage 0'9, am 5. Tage 1'2 und am 8. Tage 1'8. E. Hoff- 
mann empfiehlt ebenfals diese Methode. Das chemisch reine, gut sterilisierte Natrium- 
chiosulfat wird pro dosi in 10 cm? sterilem Wasser gelöst und intravenös möglichst 
sofort nach Auftreten des Exanthems injiciert. Der Behandlungsturnus entspricht 
dem von Mc Bride und Dennie. Das Abblassen des Exanthems soll sofort ein- 
treten und der Verlauf, der sonst 3—6 Monate in Anspruch nimmt, auf einige Wochen 
abgekürzt werden. Bei leichter und mittelschwerer Purpura empfehlen E. Weil 
und Itsch Well subcutane Einspritzungen menschlichen Blutes, bei schweren Blut- 
transfusion. Feron und Wydooghe raten hier zu Einspritzungen von 0'5g Witte- 
pepton im Serum. 

Buschke und Freymann konnten von 21 schweren Salvarsanexanthemen 10 nachuntersuchen, 
von denen nur 2 mit Neosalvarsan und 8 auch kombiniert mit Hg behandelt waren. Der weitere 
Krankheitsverlauf war bei allen diesen Patienten ein so günstiger, daß die Autoren den Schluß 
zogen, daß Entzündungsvorgänge in der Haut, u. zw. auch nichtspecifische, für den 
Verlauf der Syphilis von höchster Bedeutung seien, bzw. daß auch gegen die To 
chäten die Abwehrstoffe, wenigstens zum Teil, in der Haut bereitet werden müßten. 
Bruck sowie verschiedene andere Autoren (Kusnitzky und Langner, Klaar, Kyrle, Gougerot 
u. a.) glauben, die Ansichten dieser Autoren bzw. die günstige Wirkung einer Hautentzündung auf 
die Lues mehr oder weniger bestätigen zu können. Andere wieder lehnen auf Grund ihrer diesbezüg- 
lichen Beobachtungen einen derartigen Einfluß gänzlich ab (Benveniste), wieder andere glauben, 
daß die verhältnismäßig seltene günstige Wirkung eines As- oder Hg-Exanthems auf den weiteren 
Verlauf einer Syphilis auf die hierbei stattgefundene (relative oder absolute) Überdosierung bzw. 
auf die Menge des hier verwendeten Medikamentes und die dadurch bedingte kräftigere 


arzneiliche Durchtränkung der Gewebe zurückzuführen sei und daß daneben auch das Fieber noch 
Bedeutung habe (Birnbaum, Kleinschmidt). 


12 | Paul Mulzer. 


Erwähnt sei noch, daß mitunter auch sog. fixe Salvarsanexantheme beob- 
achtet werden (Gutmann). Man versteht darunter umschriebene erythematöse oder 
urticarielle Exantheme, die immer wieder nach Salvarsaninjektionen an der gleichen 
Stelle auftreten und rasch wieder verschwinden. 


Ikterus und akute gelbe Leberatrophie. 


Daß nach Salvarsananwendung Ikterus und akute gelbe Leberatrophie, 
u. zw. an einzelnen Orten gehäuft, auftreten können, hat Blaschko bereits erwähnt. In 
der Folgezeit mehrten sich diese Beobachtungen. Nicht nur in Deutschland, sondern 
auch in anderen Ländern traten besonders in den Jahren 1919 bis Anfang 1921 
diese Komplikationen so gehäuft auf, daß eine große Literatur über sie entstanden 
ist. Zurzeit sieht man glücklicherweise wieder relativ selten ikterische Komplikationen 
nach oder im Gefolge der Salvarsanbehandlung. | 

Man unterscheidet hier einen Frühikterus, der sich noch im Verlaufe der 
Kur, schon nach den ersten Spritzen, einstellen kann, einen Spätikterus, der durch- 
schnittlich 1—3 Monate nach der Kur auftritt, und endlich die akute gelbe Leber- 
atrophie, in welche beide Formen des Ikterus übergehen können. Aber auch ohne 
daß diese Erkrankungen vorher beobachtet wurden, kann eine akute Hepatitis 
entstehen. 


Wie häufig diese Erkrankungen in den Jahren 1919 bis 1921 in Deutschland waren, geht 
aus der von Brandenburg in der „Med. Klinik“ seinerzeit veranstalteten Umfrage hervor, auf die 
ich hier verweise. Arndt hat in der Zeit von 1920 bis 1921 unter seinem reichen Berliner Material 
231 Fälle von Salvarsanikterus beobachtet, darunter 73 im tertiären Stadium. Obwohl in dieser 
Zeit ikterische Erkrankungen und auch gelbe Leberatrophie auch bei Nichtluetikern entschieden 
gehäuft vorkamen, betont Arndt doch ausdrücklich, daß er unter vielen Tausenden von Haut- und 
Tripperkranken in dieser Zeit nur etwa 2—3 Fälle von Gelbsucht gesehen habe. Auch Gennerich, 
nach dem der Ikterus im Frieden kaum beobachtet wurde, sah während 1916 bis Anfang 1921 400 
derartige Fälle, Minkowski beobachtete in der Zeit von 1920 bis 1921 in Breslau das gehäufte Auf- 
treten des einfachen katarrhalischen Ikterus wie der akuten gelben Leberatrophie. Auch Strümpell 
(1921) betont das in jener Zeit gehäufte Auftreten dieser Erkrankungen. Die diesbezüglichen Beob- 
achtungen vieler anderer Kliniker decken sich mit diesen Angaben. Ich möchte nur noch mitteilen, 
daß ich selbst in dieser Zeit in meiner Privatpraxis 7 Fälle und im hiesigen Standortlazarett 10 Fälle 
von Ikterus nach Salvarsanbehandlung sah; in einem Falle trat bei einer großen kräftigen Frau, die 
mit einem Manne, der Papeln am Penis und am After, sowie ein maculo-papulöses Exanthem hatte, 
verkehrt hatte und bei der ich eine prophylaktische Salvarsankur einleiten wollte, nach der ersten 
Injektion von 0'3 Neosalvarsan Ikterus auf. Luetische Erkrankungen waren bei ihr nicht vorhanden 
und sind auch in der Folgezeit nicht aufgetreten. 


Aber nicht nur in Deutschland, das ja besonders schwer unter den Folgen des Krieges litt, 
auch in anderen Ländern sind solche Gelbsuchtepidemien bei Syphilitikern nach oder während 
einer Salvarsankur beobachtet worden. So stellte z. B. in der Schweiz Oltramare, der 1914 keinen 
einzigen und 1915 nur 2 Fälle von Ikterus trotz zahlreicher Einspritzungen sah, in der Zeit von 
April 1915 bis Mai 1920 104 Fälle von Ikterus nach Neosalvarsan fest, u.zw. 85 bei kombinierter Hg- 
und Neosalvarsankur, 2 nach Galyl und Hg und 4 nach Galyl allein. Außerdem sah er aber auch eine 
große Anzahl von Icterus simplex in dieser Zeit. Ähnliche Berichte liegen von Todd aus 
England vor, der über eine im Winter 1921 dort beobachtete Art von Icterus epidemicus nach Neo- 
salvarsan berichtete. Auch aus Frankreich, Holland und Amerika finden sich ähnliche Mit- 
teillungen in der Literatur. 


Aus diesen Berichten geht nun zweifellos hervor, daß das zeitlich begrenzte gehäufte Auftreten 
der ikterischen Erkrankungen bei Syphilitikern nach Salvarsanbehandlung zusammenfällt mit 
einer Häufung dieser Erkrankungen, insbesondere des katarrhalischen Ikterus bei 
Nichtsyphilitikern. Mit Recht wird man daher wohl die geringere Widerstandsfähigkeit 
des Organismus infolge mangelhafter Ernährung (fleischarme Kost, das Fehlen von Fett 
und Zucker, schlechte Ersatzpräparate u. s. w.), unter der in jener Zeit fast alle Länder (auch die 
Schweiz nach Oltramares Bericht), Deutschland natürlich besonders, litten, mit für das Zustande- 
kommen dieser Erkrankungen beschuldigen. Minkowski weist beispielsweise darauf hin, daß hier 
mit großer Wahrscheinlichkeit eine durch die verschlechterten Lebensbedingungen herabgesetzte 
Widerstandsfähigkeit der Leber gegenüber Schädlichkeiten aller Art, insbesondere infektiöser Natur, 
verantwortlich zu machen sei. Auch Gennerich kommt zu einem ähnlichen Schluß; er glaubt, 
daß hier eine parenchymatöse Hepatitis vorliege, bedingt durch intestinale Intoxikationen, bei 
welcher die Salvarsanzufuhr eine neue Schädigung bedeute. Nach Oltramare wird durch 
die mangelhafte Ernährung in der Leber ein Locus minoris resistentiae den Spirochäten 
gegenüber geschaffen, so daß diese leichter für ein Hepatorezidiv empfänglich würde. Wir 


Neuere Syphilistherapie. 13 


kommen damit zu dem zweiten ätiologischen Faktor, der Syphilis, die gleichfalls hier eine 
große Rolle spielt, denn wir können, wie wir noch sehen werden, viele Fälle von sog. Salvarsanikterus 
durch eine vorsichtige specifische Kur heilen. E Mayer hält die Syphilis für den konstanten (vor- 
bereitenden) Faktor bei der Entstehung der akuten gelben Leberatrophie, zu dem noch besondere aus- 
lösende Momente (vor allem eine Gallengangsinfektion) hinzutreten können. Ähnlich urteilt Stümpke. 
Das Fehlen der Syphilis in der Vorgeschichte und der negative Ausfall der Wasser- 
mannschen Reaktion sollen im Einzelfalle nicht mit Sicherheit gegen eine syphilitische 
Grundlage sprechen. Auch Tachau, wie übrigens noch viele andere Autoren, die ich hier nicht 
einzeln erwähnen kann, vertritt den Standpunkt, daß es sich hier zumeist um einen Icterus 
syphiliticus handle. Demgegenüber ist aber doch daran festzuhalten, daß der syphilitische Ikterus 
ohne Behandlung immerhin ziemlich selten ist und daß auch die Hg-Therapie allein 
hierin keine Zunahme erzeugte. Nach Anwendung der Salvarsanpräparate ist dieser 
Ikterus aber ganz entschieden häufiger geworden, ganz abgesehen von seinem epidemischen 
Auftreten in den Jahren 1919 bis 1921. Das muß jeder unbefangene Kritiker zugeben! 


Das Salvarsan muß und wird also hier ebenfalls eine mitwirkende Rolle spielen. Je nach 
ihrer te zum Salvarsan überhaupt wird diese Rolle von den verschiedenen Autoren ver- 
schieden gewürdigt. Heinrichsdorff ist als einer der ersten für die ätiologische Bedeutung des 
Salvarsans bei dem Zustandekommen der Lebererkrankungen bei mit Salvarsan behandelten Patienten 
eingetreten. Der Umstand, daß in Fällen, in denen keine Syphilis vorhanden war, nach Salvarsan- 
darreichung ebenfalls diese Erkrankungen auftreten, sowie die statistische Häufung der Leberatrophie 
in den letzten Jahren spricht ihm für diese Tatsache. Buschke erblickt im Icterus syphiliticus praecox 
nach Salvarsanbehandlung eine specifisch toxische Schädigung des Leberparenchyms durch das 
Salvarsan. Kisch und Freundlich teilen die Ansicht von Buschke und glauben, daß es jedenfalls 
auch eine reine Salvarsanschädigung der Leber gäbe. Auch Strümpell führt den gehäuft bei 
mit Salvarsan behandelten Syphilitikern auftretenden Ikterus auf eine gesteigerte Disposition 
des Körpers auch für andere ikterische Erkrankungen infolge Salvarsanschädigung der Leber 
zurück. Andere Autoren wieder, wie z.B. Herxheimer und Gerlach, Tachau u. a., lehnen jede 
Mitwirkung des Salvarsans ab. Ich möchte darauf hinweisen, daB in jene Zeit des gehäuften Auf- 
tretens der Ikterusfälle nach Salvarsanbehandlung die eingangs erwähnten Beobachtungen ganzer 
Serien, schlechter Salvarsan-, insbesondere Neosalvarsanpräparate fallen, und bin der 
festen Überzeugung, daß man in erster Linie diese Tatsache als ursächliche Komponente 
für das Entstehen dieser Gelbsuchtsepidemien in Betracht ziehen muß. Jetzt, wo die 
Salvarsanpräparate besser und einwandfreier hergestellt werden, sind, wie die übrigen Nebenwirkungen, 
auch die Ikterusfälle nach Salvarsanbehandlung weit seltener geworden, obwohl doch für den 
überwiegenden Teil unseres Volkes die Ernährungsbedingungen auch nicht besser geworden sind. 
Übrigens glaubt auch be Jakobsohn den Benzolkern meist infolge eines technischen Fehlers bei 
zersetztem Salvarsan für die toxische Leberparenchymschädigung nach Salvarsangebrauch verantwort- 
lich machen zu müssen. 


Erwähnen möchte ich schließlich noch, daß unter Umständen auch die von Friedemann 
zum erstenmal erwähnte latente Malaria tropica bzw. ihre Provokation durch Salvarsan 
eine ätiologische Rolle insbesondere für die akute gelbe Leberatrophie spielen kann, denn diese Fälle 
treten meist unter diesem Krankheitsbild in Erscheinung. 


Prophylaktisch wird man, wie bereits einleitend gesagt wurde, vor allem 
den Harn Syphilitischer, die man mit Salvarsan behandeln will, vor jeder Injek- 
tion auf die Gegenwart von Gallenfarbstoffen untersuchen. Für den 
Praktiker genügen hier vollkommen die allgemein üblichen Methoden (Schlesingers 
Reagens, Rosin- oder Gmellinsche Probe u. s. w.). Beachtung verdient eine prophy- 
laktische Maßnahme von Harrison, die darin besteht, dem Patienten eine halbe 
Stunde vor der Salvarsaninfusion 60 g Zuckerlösung zu geben, da seiner Ansicht 
nach leere Leberzellen das Arsenobenzol begieriger aufnehmen. 

Das therapeutische Vorgehen richtet sich im allgemeinen darnach, ob man 
den Ikterus nach Salvarsan mehr als ein Symptom der Syphilis oder als eine 
toxische Wirkung des Medikamentes auffaßt. Da, wie wir gesehen haben, in 
vielen Fällen die Lues hier ätiologisch mitspielt, wird man, nachdem die akutesten 
Erscheinungen abgeklungen sind, eine vorsichtige antisyphilitische Behand- 
lung einleiten. Es empfiehlt sich, wie auch Jadassohn darlegt, unter allen Um- 
ständen zunächst nur Quecksilbereinspritzungen vorzunehmen, u. zw. ziehe ich: 
hier lösliche Präparate, das Hg succinimidatum in 1% iger Lösung, vor. Reagiert der 
Ikterus prompt, dann kann man gewöhnlich auch ohne Schaden und mit gutem 
Erfolg kleine Dosen Salvarsan weiter geben. Tritt auf die ersten specifischen 
Injektionen keine Besserung ein, dann muß man rein konservativ vorgehen. 


bd 


14 Paul Mulzer. 


Die schwerste, aber glücklicherweise gegenwärtig ebenfalls wieder sehr seltene 
Form aller Salvarsanschädigungen ist die 


Encephalitis haemorrhagica. 


Die Encephalitis haemorrhagica, der Salvarsantod, tritt meistens nach 
der zweiten, seltener nach späteren Salvarsaneinspritzungen urplötzlich, „wie ein 
Blitz aus heiterem Himmel“, meist ohne irgendwelche Vorboten katastrophenartig 
ein und ist unabhängig von Alter und Geschlecht, bevorzugt jedoch junge, 
kräftige Individuen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die, abgesehen von 
ihrer Lues, gesunde innere Organe und vor allem ein intaktes Nervensystem haben. 
Klassisch schildert sie Pincus folgendermaßen: „Diese Einspritzung (sc. die erste) 
wird ohne Störung ertragen. Einige Tage bis Wochen später erhält der Patient eine 
zweite gleicher oder meist höherer Dosis, erkrankt 36—48 Stunden später plötzlich 
oder nach einer Unruhe von einigen Stunden unter klonischen epileptiformen 
Krämpfen, wird bewußtlos und stirbt nach einigen Stunden bis zu zwei bis sechs 
Tagen. Das Gehirn zeigt starkes Ödem, vielfach kleine Blutungen um die kleinen 
Gefäße der weißen Hirnsubstanz, kann aber auch anscheinend ganz gesund befunden 
werden. Nicht alle Fälle verlaufen tödlich. Geht der Anfall vorüber, so erwacht der 
Kranke nach einigen Tagen aus seiner Bewußtlosigkeit, ist sofort vollkommen klar 
und auch körperlich wieder gesund oder leidet noch lange unter Lähmungs- 
erscheinungen oder sensiblen Reizerscheinungen der unteren Körperhälfte, die auf 
Rückenmarkstörungen hindeuten.“ 


Nach Meirowsky wird diese Encephalitis haemorrhagica am häufigsten in der sekun- 
dären Periode der Syphilis gesehen. Die Höhe der Dosis ist nach der statistischen Zusammen- 
stellung dieses Autors für das Zustandekommen dieser Erkrankung von ausschlaggebender Bedeutung. 
„je höher die Einzeldosis ist, desto häufiger die Encephalitis.« Es muß hier aber daran 
erinnert werden, daß insbesondere in der ersten Zeit die Todesfälle gerade nach kleinen Salvarsan- 
dosen beobachtet wurden. 

Was die Häufigkeit dieser Todesfälle überhaupt betrifft, so gibt das bekannte Mentberger- 
sche Buch, das ganz unter dem Eindruck der üblen Erfahrungen geschrieben wurde, welche die Straße 
burger Hautklinik in den ersten Jahren der Salvarsantherapie mit diesem Mittel, insbesondere mit dem 
Neosalvarsan, machte, entschieden ein falsches Bild, da es ziemlich wahllos alle Todesfälle, die sich bei 
mit diesen Präparaten behandelten Menschen ereigneten, aufführt. Darüber ist viel genug in der einschlägi- 
gen Literatur geschrieben worden. Nach der sog. Kölner Salvarsanstatistik beträgt die Gefahrchance 
für die Zeit, in der diese Statistik geführt wurde, 1:18815 Injektionen. „Auf Grund der aus dieser 
Statistik gewonnenen Erfahrungen ist jedoch eine Reihe von Todesfällen nach menschlicher Voraus- 
sicht vermeidbar gewesen, so daß die unvermeidbare Gefahrchance aller Mittel zusammen 
(sc. Alt-, Natrium- und Neosalvarsan) auf 1:56445 zu berechnen ist. Bezüglich der einzelnen Mittel 
beträgt sie beim Altsalvarsan 1:1300), beim Natriumsalvarsan 1:20000, beim Neosalvarsan 
1: 162800“ (Meirowsky). 

Nun ist aber auch hier wieder das gleiche zu beobachten wie bei allen Salvarsannebenwirkungen: 
inden nn. 1919 bis 1921 sind auch die Todesfälle nach Salvarsan gehäuft 
aufgetreten! Während beispielsweise Arndt in den Jahren 1914 bis 1918 im ganzen 4 Todesfälle nach 
Salvarsanapplikation sah, ereigneten sich 1921 im Bereiche der von ihm geleiteten Universitätsklinik und 
Poliklinik 12 Todesfälle im unmittelbaren Zusammenhang mit der Anwendung von Salvarsan, 10 davon 
allein in den Monaten März bis August. Es handelt sich um 1 Encephalitis haemorrhagica, 3 Derma- 
titiden und 7 Fälle von akuter gelber Leberatrophie. Loeb, der in derZeit von 1910 bis 1918 einen 
einzigen Fall von Encephalitis nach Salvarsan sah, beobachtete in der Zeit von 1918 bis 1920 bei 
6 Patienten Exitus infolge Encephalitis. Fritz (Innsbruck) sah in dieser Zeit 7 Fälle von 
Encephalitistod nach Salvarsan. Reif hatte 1921 innerhalb weniger Wochen 4 Fälle schwerster 
Encephalitis haemorrhagica, wovon 2 starben. Eine Überdosierung fand bestimmt nicht statt, 
auch die einzelnen Intervalle waren genügend groß. Aus der Literatur dieser Jahre lassen sich mühelos 
eine noch größere Anzahl von Encephalitis und Todesfällen nach Salvarsan zusammenstellen, als in 
der gesamten Zeit seit Beginn der Salvarsanbehandlung überhaupt und den letzten beiden Jahren 
zusammen notiert worden sind. 

Daraus geht hervor, daß das Salvarsan, u. zw. schlechtes, bei der Fabrikation 
fehlerhaft hergestelltes, bzw. zersetztes als Hauptfaktor bei dem Zustandekommen dieser 
üblen Zufälle angesehen werden muß. Daneben mögen und werden gewiß auch alle übrigen Faktoren, 
die in den vorhergehenden Abschnitten als mitwirkend bei den Salvarsanschäden genannt worden 
sind, wie verminderte Widerstandskraft des Organismus infolge und Ersatznahrung, 
Grippeepidemie, Syphilis (Ceelen z. B. führt die Encephalitis auf eine Salvarsanschädigung in 
Verbindung mit syphilitischen Veränderungen am Gehirn zurück, andere Autoren fassen die Encephalitis 


` 


Neuere Syphilistherapie. 15 


auf als eine Art Herxheimersche Reaktion), Überdosierung (s. oben!) u. a. mehr. Nach 
Henneberg, der die Präexistenz syphilitischer Veränderungen am Mechanismus des Salvarsanhirn- 
todes allgemein ablehnt, handelt es sich um eine Giftwirkung des Salvarsans an den Capil- 
laren oder Gefäßnerven, welche zum anatomischen Bilde der EE führen kann (nicht muß). 
Im allgemeinen sind sich wohl alle Autoren darin einig, daß die en haemorrhagica 
aufs engste in Zusammenhang mit dem Salvarsan steht, d. h. eine dire 

nebenwirkung darstellt. 

Erwähnen möchte ich noch, daß nach Wechselmann Nierenschädigungen, speziell durch 
gleichzeitige Hg-Behandlung hervorgerufen, eine große Rolle bei dem Zustandekommen der Salvarsan- 
todesfälle spielen sollen, ebenso wie Thrombose derVena magna Galeni. Löwy und Wechsel- 
mann wollen auch experimentell nachgewiesen haben, daß mit Sublimat vorbehandelte Kaninchen viel 
empfindlicher gegen Salvarsan seien als nicht vorbehandelte. Das ist ohne weiteres daraus zu erklären, 
daß diese Tiere schon an sich Hg so schlecht vertragen, daß sie dadurch natürlich viel schwerer 
geschädigt werden als Menschen. Ersterem widerspricht ferner die auch vielfach gemachte Wahr- 
nehmung, daß gerade die Encephalitistodesfälle nicht oder nur ganz wenig mit Hg behandelt 
worden waren, letzterem, daß bei Sektionen sich durchaus nicht immer jene Thrombosen finden. 
Wenn dies der Fall ist, so sollen sie nach Dietrich als von den kleinsten Gefäßen aus fortgeleitet 
entstanden sein. | 


Man glaubt, daß man die Encephalitis haemorrhagica vermeiden könne, 
wenn man nur kleine Dosen (Arndt) gäbe, bzw. nicht über 0'6 bzw. 0.45 Neo- 
salvarsan hinausgehe (Meirowsky). Wie wir später sehen werden, ist die Behand- 
lung mit zu kleinen Dosen, wie sie Arndt, Kromayer u. a. vorschlagen, gefährlich; 
sie begünstigt, wie Plaut und Mulzer experimentell nachwiesen, die Propagation 
des syphilitischen Virus im Centralnervensystem. Über Cp bzw. 0'45 Neosalvarsan 
als Einzeldosis soll man auch meiner Ansicht nach, selbst bei der Abortivkur, nicht 
hinausgehen. Die Encephalitis haemorrhagia wird man aber auch dadurch nicht 
mit Sicherheit vermeiden können. Man muß stets mit ihrem Eintritt rechnen, 
wenn man Salvarsan anwendet. Bei richtiger Technik und bei Verwendung ein- 
wandfreier Präparate tritt sie aber glücklicherweise so selten auf, daß auch diese 
Gefahr uns nicht abhalten kann und darf, etwa auf das Salvarsan in der modernen 
Syphilistherapie zu verzichten. l 

Therapeutisch stehen wir der Encephalitis ziemlich machtlos gegenüber. 
Lumbalpunktion, große Aderlässe, Kochsalzeinläufe und Adrenalin- bzw. Suprarenin- 
(Voithenberg) Einspritzungen werden empfohlen, Maßnahmen, die aber fast stets. 
völlig vergeblich sind. | 


te toxische Salvarsan- 


k 


Quecksilberpräparate. 
Von den neueren Quecksilberpräparaten sind hier zu nennen das 


Novasurol. 


Das Novasurol ist eine wasserlösliche Doppelverbindung von oxymercuri- 
chlorphenylessigsaurem Natrium und Diäthylmonylharnstoff, die 339% Hg enthält. 
Es wird von der Firma Bayer in zugeschmolzenen Ampullen gebrauchsfertig in 
den Handel gebracht, die je 2 cm? einer 10%igen Lösung = 0:068 g Hg enthalten. 

Zieler, die dieses Mittel 1917 in die Therapie der Syphilis einführte, verab- 
reicht 3mal wöchentlich 1—2 cm? in die Glutäalmuskulatur; nach Ledermann 
besteht beim Erwachsenen eine reine Novasurolkur gewöhnlich aus 15—20 Injek- 
tionen zu 2 cm?, die jeden 2. oder 3. Tag vorgenommen werden. Im Verlaufe einer 
6—8wöchigen Kur gelangen auf diese Weise 12—1'3g Hg in den Körper. Da das 
Hg aber auch schnell wieder ausgeschieden wird, eignet sich dieses Präparat nach 
Zieler nicht für energische Kuren bzw. nur für eine Kombination mit grauem Öl 
oder Kalomel. Gewöhnlich wird man es bei frischer Syphilis allein überhaupt 
nicht anwenden, sondern nur kombiniert mit Salvarsan. Dies kann entweder ab- 
wechselnd oder in kombinierter, einzeitiger Form geschehen; auf die letztere Methode 
werden wir noch ausführlich zu sprechen kommen. 


16 ` Paul Mulzer. 


Die gute Wirkung des Novasurols auf die verschiedenen Erscheinungen der 
Syphilis aller Stadien ist außer von Zieler besonders von Auer, Benningson, 
Treitel, Bruhns, Schönfeld und Schmalz hervorgehoben worden. Sittmann 
empfiehlt es bei syphylitischen Erkrankungen des Herzmuskels, u. zw. 
intravenös 1—2 g mit 3—4tägigen Zwischenräumen, da hier besonders seine harn- 
treibende Wirkung sehr wertvoll ist; „die Entwässerung ist oft überraschend“. 
Auch bei Syphilis der Nieren soll Novasurol, vorsichtig angewendet, günstig 
wirken (Sittmann). 

Von Nebenwirkungen werden nach O. Seifert erwähnt geringe Schmerzen 
an der Injektionsstelle (Saxl), leichte Stomatitis in etwa 4% der Fälle, die meist 
aber ein Aussetzen der Behandlung nicht bedingen (Hegler, Zieler, F. X. Müller 
und Pitzner), ferner von den meisten Autoren Durchfälle resp. Klagen über Leib- 
schmerzen in 6%, Erbrechen bei 24%, Übelkeit, Schwindel, Schwächeanfälle, 
Arzneiexantheme mit oder ohne Fieber in 6%, sowie fixes Exanthem (Gutmann) 
und Ikterus (Gutmann). Ä 

Cyarsal. 

Das Cyarsal, das Kaliumsalz einer im Benzolring merkurierten Oxybenzoe- 
säure (Oelze) mit einem Hg-Gehalt von 46%, wird in Ampullen zu 2 cm? von der 
Firma Riedel-Berlin in den Handel gebracht; es enthält in 1 cm? 0'01, stärkere 
Lösungen in 1'5 em? 0'045 metallisches Hg. 

Es wurde bei Syphilis in Form von intravenösen Injektionen von Lenzmann 
sowie von Negendank, in Form intramuskulärer Einspritzung von Oelze emp- 
fohlen. Bei der stärkeren Lösung sollen sich mitunter blutige Stühle (Lenzmann), 
seltener Stomatitis (Oelze), leichte Kongestionen und mäßige Pulsbeschleunigung, 
scharlachähnliches Exanthem (Gutmann), Ikterus (Gutmann), Kopfschmerz, 
- Schüttelfrost und Übelkeit (Heymann und Fabian) einstellen. 

Ebenso wie das Novasurol wird auch das Cyarsal gegenwärtig nur noch in Ver- 
bindung mit Salvarsan gebraucht, u. zw. in der einzeitigen Form der sog. Cyarsal 
Mischspritze. Es muß aber auch dabei festgehalten werden, daß das Cyarsal eine 
recht schwache Wirkung auf die syphilitischen Erscheinungen entfaltet, die auch 
meiner Erfahrung nach viel geringer ist als die der übrigen Hg-Präparate. 


Mercedan. 

Das Mercedan der Firma Knoll-Ludwigshafen, das paranukleinsaure Hg, 
kommt in Ampullen von 1 cm? Inhalt in 25%iger Lösung in den Handel. Jeder 
Kubikzentimeter enthält 0'025 Hg. 

Das Mercedan, von Mulzer und Bleyer hinsichtlich seiner er Wirkung auf die 
experimentelle Kaninchensyphilis geprüft und als recht gut wirksam befunden 
sowohl hinsichtlich des Verschwindens der Spirochäten aus den Hodensyphilomen 
als auch dieser selbst. Allerdings betonen diese Autoren, daß beim Kaninchen, das 
ja an sich sehr empfindlich dem Quecksilber gegenüber ist, die wirksame Dosis 
des Mercedans der Dosis toxica anscheinend leider sehr nahe liegt. 

Jacoby sah im allgemeinen gute klinische Wirkungen dieses Mittels bei der 
menschlichen Syphilis, nach Heuck kommt es hierin indes nicht den üblichen Hg- 
Präparaten gleich. In die Therapie hat es sich keinen Eingang zu verschaffen vermocht. 


Neomerlusan. 


Das Neomerlusan ist eine kolloidale Tyrosin-Quecksilber-Verbindung, die 
sich im Gegensatz zum Merlusan auch intravenös und intramuskulär einspritzen 


Neuere Syphilistherapie. 17 


läßt. Die Firma Dr. Bayer & Co., Budapest, stellt zwei gebrauchsfertige Lösungen 
her, nämlich eine für die intravenöse Injektion in Phiolen zu 2:2 cm? in 1% iger 
Lösung, von der 1 cm? 0'004 g Hg enthält, und eine stärkere, 7%ige, in Phiolen 
a 1:1 cm?, wovon 1 cm? 0'028 g Hg enthält, zur intramuskulären Applikation. 

Matzenauer, der dieses Mittel warm für die Therapie der menschlichen 
Syphilis empfiehlt, beginnt bei intravenöser Anwendung mit 1 cm? der 1%igen 
Lösung, die zwischen Salvarsaninjektionen jeden zweiten Tag gegeben wird; später 
steigert er bis zu 3 cm? dieser Lösung. Das Neomerlusan kann auch als Misch- 
spritze, d.h. gleichzeitig mit Salvarsan, appliziert werden. 

Für die intramuskuläre Anwendung, die eine energische Hg-Wirkung ge- 
währleistet, wählt Matzenauer 1 cm? der 7%igen Lösung jeden zweiten Tag. Das 
Neomerlusan soll, da es kein körperfremdes Eiweiß enthält, weder koagulierend 
noch ätzend oder thrombosierend wirken. 

Nach Schröder ist das Neomerlusan das erste und einzige Quecksilber-Eiweiß- 
präparat, das zufolge seiner Resorptionsfähigkeit ohne jede Nebenwirkung auch 
innerlich gegeben werden kann. Die Wirkung von Merlusantabletten à 0'03 
soll bei rezenter wie bei tertiärer Syphilis sehr gut sein. 


Von weiteren neueren Quecksilberpräparaten wäre noch zu erwähnen das 
Depogen, ein 10%iges Hg-Salicylat, u. zw. eine Emulsion in feinstem Paraffinöl, 
wodurch es sich von der gewöhnlichen Hg-salicylicum-Suspension unterscheidet. Es 
soll keine freien Hg-Ionen enthalten, sondern nur organisch-gebundenes Quecksilber 
in feinster Verteilung und infolgedessen keine Reizerscheinungen hervorrufen und 
rasch und gleichmäßig resorbiert werden. 

Ferner die kolloidalen Quecksilberpräparate der Firma Klopfer, Dresden, 
die intravenös angewendet werden sollen. Teichmann hat das kolloidale 
Quecksilber dieser Firma geprüft, das sich als gut verträglich und gut wirksam, 
aber als wenig nachhaltlich erwies, und von kolloidalem Kalomel, Kalomel- 
diasporal genannt, zwei Stärken. Das stärkere Präparat war zwar sehr wirksam, 
entfaltete aber so unangenehme Nebenwirkungen, daß es nicht weiter angewendet 
werden konnte. Das schwächere war auch bedeutend weniger wirksam. Nach Ansicht 
des Verfassers kommen diese Präparate vorläufig noch nicht allgemein für die Praxis 
in Betracht, sondern nur bei schweren intoleranten Fällen. Dadurch, daß es gelungen 
ist, das Schutzkolloid eiweißfrei zu machen, soll das Kalomeldiasporal jetzt ohne 
Gefahr von Nebenerscheinungen verwendet werden können. Zweig dagegen empfiehlt 
das Kalomeldiasporal, das in 1'5 cm? 15 mg Kalomel enthält, sehr, besonders bei 
Lues latens. Selbst Wassermannsche Reaktionen, die durch starke kombinierte Be- 
handlung nicht beeinflußt wurden, sollen nach einer Kur mit diesem Mittel negativ 
werden und negativ bleiben. Außerdem soll man es in Fällen anwenden, in denen 
eine exzessive Hg-Wirkung erwünscht ist. Nach Bardach reicht dieses Mittel jedoch 
nicht an die Wirkung der starken intramuskulären Injektionen (Kalomel, graues 
Öl) heran. 

Brünauer berichtet in jüngster Zeit über seine Erfahrungen mit einem neuen 
Hg-Präparat, dem Diphasol, das eine molekulardisperse Lösung von oxybenzoe- 
sulfosauren Salzen mit einem Gehalt von 5 % metallischem Hg enthält. Bei günstigster 
Wirkung des sowohl intramuskulär wie subcutan anzuwendenden Mittels soll es 


auffallend.geringe Nebenwirkungen entfalten. 


Im Auslande wird in neuerer Zeit wieder vielfach die zuerst von Baccelli im Jahre 1894 an- 
gewendete intravenöse Einspritzung von Quecksilbersalzen geübt, während wir sie in Deutsch- 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 2 


18 Paul Mulzer. 


land mit Recht so gut wie gar nicht ausführen. So empfahlen vor einiger Zeit Conrad und Mc Cann 
intravenöse Sublimatkuren, die sie in der Weise vornahmen, daß 2mal wöchentlich anfangs 
0:6 cm? einer 1%igen HgCl,-Lösung in physiologischer Kochsalzlösung eingespritzt werden. Wenn 
diese gut vertragen werden, dann soll 0:1 —2:0 cm? der 1%igen Lösung gegeben werden. Nach 21 In- 
jektionen ist die Kur abgeschlossen. Auch das Hg. oxycyanatum wird intravenös verwendet; 
Milian empfiehlt es in dieser Form seiner diuretischen Wirkung wegen besonders bei syphilitischer 
Nephrose. Lane behandelt die Syphilis mit 1%igem Hg. cyanatum, wovon er jeden zweiten Tag 1 cm? 
intravenös einspritzt und bessere Wirkung als mit den anderen Hg-Mitteln erzielen will. Chauffard 
verwendet in gleicher Weise 0'001 Hg-Cyanür mit 2tägigen Intervallen. Marchand sowie Keane 
und Slangenhaupt empfehlen das Merkurosal der Firma Parc, Davis & Co., ein lösliches, aktiv 
wirkendes Antisyphiliticum, das intravenös appliziert weit besser und dabei weniger schädigend wirken 
soll als alle die anderen Hg-Mittel in interner, subcutaner oder intramuskulärer Applikation. Nach 
Cole leistet es aber noch weniger als die Schmierkur; im Dunkelfeld konnte er kein Absterben 
der Spirochäten feststellen. In letzter Zeit wurde schließlich auch von Amerika aus (White Hill, 
Moore und Young, Baltimore) ein neues Quecksilberpräparat, das Flumerin, für die intravenöse Hg- 
Behandlung empfohlen, welches das Natriumsalz des Oxymercurifluoreszins darstellt. Es soll sowohl 
See bei der Kaninchensyphilis als auch beim Menschen ausgezeichnet wirken und so wenig 
giftig sein, daß man es in 8-20mal größeren Dosen, als man sonst Hg gibt, einverleiben kann. 


Bei der Besprechung der neueren Quecksilberpräparate möchte ich noch die 
von Pontopidan und Mulzer in die Therapie der Syphilis eingeführten Queck- 
silberschmelzstäbchen erwähnen. Die Firmen Merk, Boehringer u. Knoll bringen 
auf Veranlassung von Mulzer unter dem Namen „Stylone M. B. K.“ fabriksmäßig 
hergestellte Schmelzstäbchen in den Handel, welche die zur intramuskulären Appli- 
kation bestimmten Mengen Quecksilber (metallisches Quecksilber, Hg, salicylicum 
und Kalomel) genau dosiert in feinster Verreibung und völlig gleichmäßiger 
Verteilung innerhalb einer leicht schmelzenden und gut resorbierbaren Masse 


enthalten. 


Die Technik der Injektion ist außerordentlich einfach. Die Gelatinekapsel, welche die zu ver- 
wendende Dosis des Medikamentes enthält, wird durch Scherenschlag geöffnet und das Stylon in 
eine gewöhnliche, mit einer etwas kürzeren Kanüle armierte 1 cm?-Rekordspritze geschüttet, nachdem 
vorher Verschlußstück und Stempel derselben entfernt worden sind. Stempel und Verschlußstück werden 
dann wieder aufgesetzt und die Spritze wird ganz leicht über der Flamme erwärmt. Sofort, bereits bei 
30°C, ehe das Stäbchen noch ganz geschmolzen ist, wird das Erhitzen unterbrochen, dı es jetzt bei 
leichtem Hin- und Herdrehen der Spritze an der warmen Wand rasch völlig zu Ende schmilzt. Dadurch 
wird sowohl ein Springen der Spritze unbedingt vermieden, als auch ganz bestimmt verhütet, 
daß die Masse über ihren Schmelzpunkt hinaus erhitzt wird. Nun wird die Spritze so gehalten, daß die 
Nadel nach oben zeigt, und der Stempel so weit vorgeschoben, daß die Spritze nur das flüssige Medikament, 
etwa 0:3— 05 cm?, enthält. Der Druck wird dann fortgesetzt, bis das Medikament an der Spitze der 
Kanüle erscheint bzw. bis auch diese von der Injektionsmasse erfüllt ist. Es muß verhütet werden, 
daß die Masse an die Außenseite der Nadel herabfließt, einmal um keinen Verlust am Medikament 
zu erleiden, und dann, um es nicht in den Stichkanal gelangen zu lassen. Eventuell ist die Nadel vor 
dem Einstechen noch einmal mit einem sterilen oder in Alkohol getauchten Tupfer abzuwischen. Vor 
dem Einstechen wird auch die Kanüle zweckmäßig etwas erwärmt. 

Die Einspritzung selbst wird in üblicher Weise in die Glutäalmuskulatur, u. zw. in den äußeren 
oberen Quadranten, gemacht, weil hier am besten größere Gefäße ınd Nerven vermieden werden. 
Nach dem Einstechen der Kanüle ist etwas zu aspirieren und dann die Spritze abzunehmen, damit 
man sich überzeugen kann, ob man nicht etwa ein Gefäß getroffen hat und Blut aus der Nadel aus- 
tritt. Ist das der Fall, so muß man eine andere Einstichstelle wählen, wo nicht, fixiert man die Kanüle 
mit den Fingern der linken Hand in ihrer Lage und injiziert langsam und gleichmäßig den Inhalt 
der Spritze. Ein Nachspritzen von Luft ist unnötig, da die in der Kanüle zurückbleibende Menge 
des Medikamentes bei der Dosierung berücksichtigt worden ist. Es empfiehlt sich, jedesmal eine andere 
Einstichstelle zu wählen, wenn auch Infiltrate bei Verwendung der Stylone seltener vorkommen. Beim 
Herausziehen der Kanüle ist die Haut um diese herum fest zusammenzupressen, um zu verhüten, daß 
das Medikament in den Stichkanal gelangt, was insbesondere bei Verwendung der Quecksilberstylone 
schmerzhafte Infiltrate, Abscesse und Nekrosen erzeugen könnte. Spritze und Kanüle werden dann 
sofort mit Alkohol oder Glycerin-Alkohol-Mischung (1:3) wiederholt durchgespritzt; in dieser werden 
sie zweckmäßig aufbewahrt. 


Die Vorzüge der Stylone sind nach Mulzer: 


1. Sauberste Handhabung und Unmöglichkeit einer Überdosierung: 
Das lästige und zeitraubende Umschütteln der bisher üblichen Suspensionen und 
die unangenehme Schmiererei, die mit dem Aufziehen des Mittels verbunden ist, 
werden vermieden, desgleichen die Ungenauigkeiten in der Dosierung, die bei Ver- 
wendung von 40%igen Suspensionen trotz besonderer Spritzen nicht zu umgehen 
sind; der Gehalt an Hg wird trotz tüchtigem Umschütteln in den Suspensionen gegen 


Neuere Syphilistherapie. 19 


Ende der Kur stets größer sein, so daß die Gefahr einer Überdosierung hier wohl 
unvermeidbar ist. Die Stylone tragen die genaue Dosierung auf der Etikette, 
der geringe Teil, der nach der Injektion in der Kanüle zurückbleibt, ist bei der 
Dosierung berechnet. 


2. Größte Billigkeit: Alle Gläser und insbesondere die Ampullen sind zur- 
zeit an sich schon sehr teuer. Wesentlich billiger sind die Gelatinekapseln. Dazu 
kommt noch, daß kein Tropfen des ebenfalls teuren Medikamentes verloren geht; 
es verbilligt sich die Behandlung der Lues mit Hg-Stylonen dadurch ganz wesentlich, 
da die sehr teuren Spritzen mit engem Lumen (Zieler und Barthelemysche 
Spritze) hier unnötig sind. Es kann jede beliebige Injektionsspritze benutzt werden! 


3. Weit geringere lokale Beschwerden bei Verwendung der Stylone, da 
hier weniger Masse eingespritzt und diese auch leichter resorbiert wird. 


4. Bedeutend. geringere Infektionsgefahr, da die sterilen Stylone un- 
mittelbar ohne Anfassen mit Pinzette oder dergleichen aus der sterilen Verpackung 
in die sterile Spritze geschüttet werden und das Eintauchen einer nicht sterilen, nur 
in Paraffin aufbewahrten Spritze, wie dies bei dem gewöhnlichen Verfahren doch 
meist geübt wird, vermieden wird. | 

Die Stylone haben sich bisher praktisch recht gut bewährt. 


Übrigens hat auch Pinczower ähnliche Schmelzstäbchen zur intramuskulären Injektion un- 
löslicher Quecksilberverbindungen hergestellt und in den Handel gebracht. Es scheint sich wohl um 
ein ähnliches Verfahren zu handeln. Soweit sich bis jetzt sagen läßt, muß aber bemerkt werden, daß 
diese Stäbchen „in die Spritze mittels einer Pinzette hineingelegt werden“. Die Asepsis kann dabei 
leiden; auch ist es meines Erachtens nicht praktisch, daß die Stäbchen sich zu mehreren in einem 
Glase befinden. Bei höheren Temperaturen, im Sommer z. B. oder im warmen Zimmer, können und 
werden sie leicht zusammenbacken. 


+ 


Jodpräparate. 


Von den neueren Jodpräparaten seien hier nur einige der wichtigsten 
erwähnt. 

Dijodyl. 

Das Dijodyl der Firma Riedel (Berlin) ist ein Ricinstearolsäuredijodid von 
etwa 46—48% Jodgehalt. Es wird in Gelatinekapseln oder Tabletten zu 0'3 Inhalt 
täglich in Mengen von 3—5 Stück verabreicht (Oelze). Das Mittel soll den Magen 
unzersetzt passieren und erst im alkalischen Dünndarminhalt abgebaut werden. 
Infolgedessen soll es auch nur selten Schnupfen (M. Rheinboldt-Oelze) und Jod- 
ausschläge (Hoppe-Seegers) hervorrufen. 

Es wird besonders bei Lues des Herzens und der Gefäße empfohlen 
(Seegers, Korcynski). Nach Luft wird hier mit kleinen Mengen mehr erreicht 
als mit großen anderer Präparate; außerdem soll es viel billiger als diese sein. 


Jodival. 

Das Jodival (Knoll, Ludwigshafen) der «-Monojodisovalerianylharnstoff, ent- 
hält ca. 47% (!) Jod und stellt ein gutverträgliches, im Darm schnell lösliches und leicht 
resorbierbares organisches Jodpräparat dar. Es wird in Tabletten zu 0'30, 3mal täglich 
1 Tablette, genommen und besonders für luetische Erkrankungen des späteren 
sekundären und tertiären Stadiums empfohlen (Heese, Bayer). 


Auch reines Jod in Form von Jodtinktur wird neuerdings als billiges und 
bequemes, innerlich zu nehmendes Jodmittel empfohlen (Winkler, A. Meirowsky). 
Es ist zu beachten, daß aber 20 Tropfen schon eine recht hohe Dosis darstellen. 

2° 


20 Paul Mulzer. 


Jodipin. 

Das Jodipin der Firma Merck (Darmstadt), eine Additionsverbindung von Jod 
und Sesamöl, wird in zwei Konzentrationsstärken in den Handel gebracht, als 10% iges 
Jodipin und als 15 % iges Jodipin. Ersteres dient zum inneren Gebrauch und wird durch- 
schnittlich in Dosen von 1 bis 3 Teelöffeln (1 Teelöffel = 0'35 Jod = 0:45 Jodkali) 
täglich verabreicht. Die stärkere Lösung, die besonders Klingmüller bei tertiärer 
Lues empfiehlt, wird intramuskulär injiziert, ist wohl sehr wirksam, leider aber 


recht schmerzhaft. 
Alival. 


| Das Alival, ein a-Joddihydroxypropan mit einem Jodgehalt von 628%, kommt in 
Tablettenform à 0:3 für den innerlichen Gebrauch oder in 50- bzw. 85 % iger Lösung zu 
subcutaner, intramuskulärer oder intravenöser Applikation besondersbeitertiärer Lues, 
Tabes und Lues cerebri in den Handel. 20—30 Einspritzungen bilden eine Kur. 

Wiesnack sah aber selbst nach wochenlanger Anwendung dieses Mittels 
keinerlei Nebenwirkungen. 


Vor allem ist dann hier zu erwähnen das von Benkö angegebene und von 
Fröhlich pharmakologisch untersuchte 


Mirion, 
das Kyrle und Planner in die Therapie der Syphilis einführten. Dieses Mittel, 
eine organische kolloidale Jodverbindung von 177% Jodgehalt, die das Jod im 
Gegensatz zu den Jodalkalien und den bekannten Jodpräparaten in besonders leicht 
abspaltbarer Form enthält, so daß man mit viel kleineren Jodmengen als bisher 
auskommen kann, machte großes Aufsehen in der ärztlichen Welt. 

Kyrle und Planner berichteten, daß die klinische Wirkung dieses neuen 
Mittels auf syphilitische Efflorescenzen ganz ausgezeichnet sei. Mit einer gewissen 
Gesetzmäßigkeit nehme man an ihnen sogar eine ausgesprochene Jarisch-Herx- 
heimersche Reaktion wahr. Außerdem wirke es provokatorisch, da in Fällen, 
die unter energischer Hg-Salvarsan-Behandlung negativ geworden seien, die Wasser- 
mannsche Reaktion durch Mirioninjektionen wiederholt ins Positive umgeschlagen 
sei. Das Mittel wirke schon allein zufriedenstellend, werde aber am besten mit 
Salvarsan kombiniert. Hier sehe man auffallend häufig einen rezidivfreien 
Verlauf der Syphilis. Die Ursache hierfür erblickt Kyrle in einer Reizwirkung 
des Kolloids. „Von diesem Gesichtspunkte aus beobachtet, sind natürlich alle 
Einwände gegen das Mirion, die darauf basieren, daß Mirion eine geringe spirillo- 
cide Wirkung hat, unberechtigt, und es wäre auch verfehlt, mit Mirion allein, ohne 
entsprechende, sehr ausgiebige Salvarsanbehandlung Erfolge bei der Syphilistherapie 
zu erwarten. 20 und mehr Mirioninjektionen à Demi mit 5—6 g Neosalvarsan er- 
geben aber den Erfolg, daß bei sekundärer Syphilis so gut wie gar keine klinischen 
Rezidive und auch nur wenig serologische Rückfälle beobachtet werden.“ 

Schädigungen hat Kyrle durch Mirion überhaupt keine gesehen; selbst bei 
hochgradiger Idiosynkrasie wurde so gut wie niemals Jodismus beobachtet. Bei 
offener Tuberkulose soll das Mittel indes nur mit Vorsicht angewandt werden, 
da tuberkulöses Gewebe in ähnlicher Weise wie das luetische zu reagieren scheint. 

Jacobi, Pini, Dietl, Krasser, Zollschau u.a. bestätigen im allgemeinen 
die guten Erfolge des Mirions insbesondere bei einer Kombination mit Neosalvarsan, 
während andere Autoren, wie Olivier, Hajos, Urbän, Ruisama, weniger zufrieden 
damit sind. Eigene Erfahrungen besitze ich nicht. 


x% 


Neuere Syphilistherapie. 21 


Schon vor längerer Zeit hat man versucht, Arsen und Quecksilber zu- 
sammen in eine Verbindung zu bringen. Es wird hier nur an das bereits 1907 
von Uhlenhuth und Manteuffel angegebene atoxylsaure Quecksilber erinnert, 
das sich sowohl im Tierversuch als auch beim Menschen gleich gut bewährte, aber. doch 
keinen Eingang in die Syphilistherapie erzielte. In Frankreich fand dagegen ein von 
Gautier synthetisch hergestelltes derartiges Kombinationsprodukt, das salicylarsen- 
saure Quecksilber, Enesol genannt (Firma Clin), sehr weite Verbreitung. Von da 
fand es seiner nicht bestreitbaren Wirkung wegen auch den Weg nach Deutsch- 
land. Blaschko hat es ja ebenfalls schon erwähnt und als ein „schwach wirkendes, 
nur für Kuren in der Latenzzeit und bei schwächlichen Personen indiziertes“ Präparat 
bezeichnet. i 

Als während des Krieges die französischen Produkte in Deutschland ausgingen, 
wurde der Wunsch laut nach einem therapeutisch gleichwertigen deutschen Produkt. 
Als deutsche Ersatzpräparate des Enesols sind folgende 3 Prāparate anzusehen: 


Sarhysol. 


Das Sarhysol, eine Verbindung von Succinimidquecksilber mit Natrium- 
methylarsenat, wurde von Bornemann zur Behandlung der Syphilis empfohlen. 
Man injiziert pro die 2 cm3 = 1 Ampulle, die 0'02 g Hg und 0:007 g Arsen enthält. 
Die Einspritzung ist jedoch ziemlich schmerzhaft. Allgemeine Verwendung fand dieses 
Präparat nicht. 

Modenol. 

Das Modenol der Firmen Merck, Boehringer, Knoll, Ludwigshafen (MBK- 
Präparat) eine injektionsfertige Arsen-Quecksilbersalicylat-Lösung, die der 3% igen 
Enesollösung völlig entspricht, enthält 04% Hg und 06% As. Sie wirkt weniger 
giftig als seine Komponenten und verbindet die antisyphilitische Wirkung des Queck- 
silbers mit der tonischen des Arsens. Das Modenol kann als vollwertiger Ersatz 
. des Enesols angesehen werden und hat auch ziemliche Verbreitung als Syphilis- 
heilmittel gefunden. 

- Seine direkte rückbildende Wirkung auf syphilitische Prozesse wurde von Mulzer 
und Bleyer im Tierversuch nachgewiesen. In Deutschland wandte zuerst Frey das 
Arsen-Quecksilbersalicylat in Form des Modenols an. Er berichtet über das Ver- 
schwinden aller syphilitischen Erscheinungen der primären Lues und sicheres 
Negativwerden der Wassermannschen Reaktion nach den Modenolinjektionen. 
Irgend welche unliebsame Nebenwirkungen wurden darnach weder lokal noch all- 
gemein beobachtet. Sellei berichtet, daß Modenolinjektionen stets gut vertragen 
werden, an der Einstichstelle kaum Anschwellungen verursachen und fast vollkommen 
schmerzlos sind. Auf die sekundären und tertiären Syphilide wirkt es langsam, aber 
sicher. Die positive Seroreaktion wird durch Modenol in eine negative übergeführt, 
die sich nach zahlreichen Untersuchungen als bleibend negativ erwies. 

Fürth behandelte Fälle ganz frischer syphilitischer Infektion mit Modenol. 
Nach 6—8 Einspritzungen von je 2 cm? Modenol waren die manifesten Erscheinun- 
gen verschwunden. Nach 25 — 30 Injektionen war auch dieWassermannsche Reaktion 
negativ. Modenol wurde durchweg gut vertragen und erzielte bei schwächlichen Personen 
eine Besserung des Allgemeinbefindens. Lekisch beobachtete bei syphilitisch Erkrankten 
nach 10—12 Injektionen von Modenol Rückgang der syphilitischen Erscheinungen, 
negativen Ausfall der Wassermannschen Reaktion und Zunahme des Körpergewichts 
nn Steigerung des Hämoglobingehaltes bei den mit Modenol Behandelten um 5 

is 25%. | 


22 Paul Mulzer. 


Plaut rühmt die günstige Einwirkung der Modenolinjektionen auf die subjektiven 
Symptome der Tabes, insbesondere auf die Ataxie und die Sensibilitätsstörungen. Auch 
er betont die Vorteile des Zusammenwirkens der Quecksilber- und Arsenkomponente 
im Modenol. 

Arsenohyrgol. 


Das Arsenohyrgol (chemische Fabrik von Heyden, Radebeul bei Dresden), 
eine Lösung von Merkurisalicylsäure und Methylarsinsäure, entspricht einem Gehalt 
von 049% Quecksilber und 0'84% Arsen. Es wird ebenfalls intramuskulär à 2 em? 
injiziert und soll nach Winkler und Skutezky ein recht brauchbares Anti- 
syphiliticum sein. 

Schließlich wären dann hier noch zu erwähnen das 


Kontraluesin (Richter), 


das alle drei a in sich vereinigt und in neuer Zeit von Richter wieder warm 
empfohlen wird. besteht aus einem kolloidalen Gold-Quecksilberpräparat, Arsen und Sozojodol- 
Chinin-Salicyl. 1 cm? Kontraluesin enthält 0:1 g goldamalgamiertes Hg, dem noch 0'01 e Jod und 
0:001 g Arsen beigefügt sind. Nach Richter können durch die Amalgamierung dem Körper in kurzer 
Zeit größere Hg-Mengen zugeführt werden als durch jedes andere Präparat. Gleichzeitige Gabe von 
Jod soll die Wirkung erhöhen. Die Applikation ist intramuskulär, in 95% der Fälle nicht schmerzhaft; 
das Mittel selbst soll ungiftig sein und die bekannten Hg-Nebenwirkungen vermeiden. 

Nach Bruck ist das Kontraluesin für die Frische Syphilis nicht geeignet, da es eine zu 
langsame Wirkung entfaltet. Auch Döhring lehnt es hierab. Nach Richter bewährt es sich besonders 
bei Lues gravidarum, Meningitis luetica, Nervensyphilis und ganz besonders bei Salvarsan- 
neurorezidiven. | 

Auch das von v. Niessen zusammengestellte 


Sylisan (G. Mannfeld, Dresden), 
enthält Quecksilber, Arsen und Jod und außerdem noch Kaliumdichromat. Das Ganze ist 
suspendiert in einer mit Campher gesättigten modifizierten physiologischen Kochsalzlösung, Aqua 
Ringeri sterilisata, der zur Erhöhung der antiseptischen Wirkung noch 2% Formalin zugesetzt sind. 
Es soll zur intravenösen d Eee dienen; vor Gebrauch wird es eventuell noch verdünnt. Außer- 
dem ist es auch in Tablettenform vorrätig. v. Niessen will gute Erfolge mit diesem seinem Präparat 
erzielt haben. Ein Radikalmittel gegen die Syphilis kann und soll es jedoch nicht sein. 
Ly 

Linser hat zum erstenmal versucht, Quecksilber und Salvarsan gleich- 
zeitig und einzeitig als sogenannte „Mischspritze« zu geben. Er verwendete 
hierzu Sublimat und Neosalvarsan, ein Verfahren, das sich auch in der Allgemein- 
praxis außerordentlich rasch eingeführt hat, da es bequem und vor allem absolut 
schmerzlos ist. Über seine Wirkung und seine eventuellen Gefahren sind, wie wir 
gleich sehen werden, die Ansichten indes noch recht geteilt. Wir werden zunächst 


die Original Linser-Methoden besprechen. 


Sublimat + Neosalvarsan in der Mischspritze. 


Man bereitet sich nach Linser dieses Gemisch in der Weise, daß man sich 
zunächst in üblicher Weise eine Neosalvarsanlösung herstellt, diese in die Spritze 
aufsaugt und dann durch die Kanüle noch die gewünschte Menge Sublimat aufzieht. 
Es entsteht eine schmutzig-olivgrüne Färbung dieses Gemisches, die es für den 
weniger Geübten sehr schwer macht zu erkennen, ob die Kanüle richtig 
in der Vene liegt, bzw. ob Blut durch diese in die Mischung tritt. Man wird. daher 
Gutmann ohne weiteres recht geben, wenn er die Linser-Methode nur für den 
Arzt reserviert wissen will, der die Technik der intravenösen Einspritzung 
völlig beherrscht! Ä 

Über die Wirkung der Linser-Kur auf die Syphilis der verschiedenen Stadien 
liegen eine ganze Anzahl Mitteilungen in der Literatur vor. Schmidt aus der 
Linserschen Klinik in Tübingen berichtet zusammenfassend über die Resultate 
dieser Behandlung in den letzten drei Jahren folgendermaßen: Bei seronegativen 


Neuere Syphilistherapie. 23 


Primäraffekten wurden meist 6 Injektionen von 0'45 Neosalvarsan -+ 0'02 Sub- 
limat gegeben und nach 6—8 Wochen eine Sicherheitskur von 4 Spritzen ange- 
schlossen. Bei diesem Verfahren zeigte sich bei 63 Fällen Abortivheilung in 100% 
(29 Fälle davon waren 3 Jahre lang beobachtet worden). In allen Fällen sero- 
positiver Lues wurden nach Möglichkeit 10—12 Injektionen von 0'45—0°6 Neo- 
salvarsan 4 0'02— 0'04 Sublimat gegeben und nach 6—8 Wochen diese Kur wieder- 
holt. Die Einspritzungen erfolgten alle 3—4 Tage. Auf diese Weise erhielten die 
Kranken innerhalb der ersten beiden Kuren in 5 Monaten etwa 10'8— 14:4 g Neo- 
salvarsan + 0'48—09°6 g Sublimat. Je nach Ausfall der Wassermannsche Reaktion 
wurden nach einem halben Jahr eine dritte und dann ev. eine vierte Kur ange- 
schlossen. Bei dieser Behandlung traten bei 267 Fällen von seropositiver Lues nur 
2 klinische Rezidive auf. 898% wurden .seronegativ, 82% blieben trotz 3—4 Kuren 
refraktär und 1'8% zeigten serologische Rezidive. Bei zwei endolumbal behandelten 
Fällen von Tabes, bzw. Taboparalyse (3—4mal in Abständen von 14 Tagen '/, bis 
1 mg Neosalvarsan, dem einige Tropfen 1%iges Sublimat zugesetzt wurden) einmal 
wesentliche klinische Besserung, das andere Mal Rückgang der Pleocytose. Wesent- 
liche Schädigungen wurden nicht beobachtet, auch keine Häufung des Ikterus 
(zitiert nach Bruhns). 

Ähnliche gute Erfolge mit der Orginal-Linser-Methode sahen Nardelli, 
Tollens, der bis zu 0'04 Einzeldosis Sublimat hinaufging, Issel und vor allem 
Fischl und Schnepp. Nach letzterem scheint sogar die eigentliche Domäne der 
Sublimat-Salvarsan-Spritze die Abortivkur nach Excision des Primäraffektes zu 
sein, eine Ansicht, die aber durchaus nicht von den meisten anderen 
Autoren geteilt wird. So beobachtete Mackert, daß stärkere Infiltrate und 
Drüsenschwellungen schwerer beeinflußbar sind. 

Nach Rothmann wurden nach der Linser-Kur eine große Anzahl von 
Rezidiven beobachtet, die prozentual höher war als bei der getrennten Kombinations- 
kur. So bleiben z. B. papulöse Efflorescenzen während dieser Kur länger bestehen. 
„Obwohl die Mischkur ein ungefährliches und schmerzloses Verfahren darstellt, 
bleibt sie an Wirksamkeit doch hinter den älteren Kombinationskuren zurück.“ Auch 
Bruhns sah bei der Linser-Kur und ihren gleich zu besprechenden Modifika- 
tionen keine Dauererfolge, weshalb er sie für die Praxis gänzlich ablehnt. 
Nagel lehnt die einzeitig kombinierte Hg-Salvarsanmethode gleichfalls ab, da sie 
nur eine mangelhafte Dauerwirkung entfaltee Nach Ebel sinkt die Zahl 
der Rezidive mit steigender Salvarsanmenge und steigt umgekelirt. Die meisten 
klinischen und serologischen Rezidive sah er auftreten nach einer Gesamtmenge 
von 2—3 g Neosalvarsan; mehr als die Hälfte entfiel auf die ersten 6 Monate nach 
Abschluß der Kur, die wenigsten Rezidive hatten die Fälle, welche 4—6 g Neo- 
Salvarsan pro Kur erhalten hatten. Rothmann, Prinz und Bauer konnten bei 
einschlägigen tierexperimentellen Studien keine erhöhte Dauerwirkung, d. h. 
rezidivfreie Heilung der Kaninchen-Primäraffekte, feststellen. Auch Kolle 
und Joachimoglu lehnen auf Grund von Laboratoriumsversuchen und aus theo- 
retischen Erwägungen die Methode ab. 

Insbesondere aus der letzten Beobachtung geht hervor, daß die Hauptwirkung 
bei dieser ganzen Kur und wohl auch bei ihren Modifikationen dem Salvarsan 
zukommt. Schon Wolff und Mulzer hatten früher bei der Besprechung der Wirkung 
der intravenösen Einverleibung des Quecksilbers betont, daß dieses Mittel in dieser 
Weise nur in zu kleinen Dosen einverleibt werden könne und zu rasch 
wieder ausgeschieden werde, um wirksam zu sein. Zu gleichen Schlüssen 


24 Paul Mulzer. 


kommen für das Linser-Gemisch auch Nagel, Reines sowie Eicke und Rose. 
Letztere Autoren weisen darauf hin, daß bei der Original-Linser-Methode niemals 
Stomatitis, sondern nur höchstens eine Gingivitis leichter Art beobachtet wurde. 
Wolff und Mulzer haben den Satz geprägt, „daß ein Quecksilbermittel, das nicht 
im stande sei, eine Stomatitis hervorzurufen, auch nicht wirksam sei“, und dieser 
Satz ist hier wohl ohne weiteres zur Erklärung der eigentlichen Wirkung dieser 
Gemische, nämlich der der Salvarsankomponente, anwendbar. 

Rothmann sowie Prinz und Bauer konnten ferner feststellen, daß die 
Mischung von Hg-Verbindungen mit Arsenobenzolderivaten eine chemothera- 
peutische Erhöhung der Wirkung derSalvarsanpräparate bedinge. Schuh- 
macher erklärt die gute Wirkung der Linser-Mischung damit, daß nicht ge- 
löstes, sondern praktisch bereits unlösliches Hg injiziert würde, das nachweisbar 
therapeutisch wirksamer wäre, da es in lonenform im Blute vorhanden sei. Das 
Neosalvarsan würde dabei nicht nennenswert oxydiert und infolgedessen auch nicht 
erheblich toxischer. 

Bezüglich der Nebenwirkungen, welche diese einzeitige Sublimat-Neo- 
salvarsankur entfalten kann, wird wohl im allgemeinen angegeben, daß diese auf- 
fallend gering seien. Wie bereits erwähnt, wird insbesondere eine eigentliche 
Stomatitis anscheinend recht selten gesehen (Tollens). 


Bei der von Bruck empiohlenen Novasurol-Neosalvarsankur scheinen indes 
schon häufiger unerwünschte Nebenwirkungen aufzutreten. So sah Benningson, 
der diese Modifikation sonst recht empfiehlt, häufig Schüttelfrost nach der ersten 
Injektion mit Temperaturanstieg und Schweißausbruch. Treitel, der eben- 
falls gute Erfahrungen mit dieser Mischung zu verzeichnen hatte, fand, daß seine 
Patienten häufig gegen Ende der Kur über große Mattigkeit und Jucken und 
Kribbeln in den Beinen klagten. Schmalz beobachtete häufig unangenehme 
Geschmacks- und Geruchsempfindungen, und Zieler, der übrigens den 
Eindruck hatte, daB die Gesamtwirkung des Novasurol-Neosalvarsan- 
gemisches keineswegs eine sehr starke ist und durchaus nicht einer der 
üblichen getrennten Kombinationskuren mit Hg und Salvarsan entspricht, sah bei 
wiederholten Kuren oft Nierenreizungen. Heuck sah trotz großer Zahl der In- 
jektionen — 20 zu 0'3 Neosalvarsan +2 cm? Novasurol — in '/, der Fälle keine 
negative Wassermannsche Reaktion am Ende der Kur. Von den negativ gewordenen 
Fällen zeigte 1. nach ca. 1'/, Monaten Rezidive. Da schließlich verschiedene Autoren 
auch Todesfälle nach dieser Behandlung sahen, so Neustadt und Marlinger 
einen und Issel zwei, so wird man am besten die einzeitige Novasurol-Neo- 
salvarsanbehandlung gänzlich aufgeben. 


Als weitere Modifikationen der Sublimat- bzw. Novasurol-Mischspritze wäre 
dann noch zu erwähnen, daß insbesondere Krebs sowie Weber statt Neosalvarsan 
Neosilbersalvarsan und Novasurol einzeitig in der Mischspritze injizieren, und 
daß Tollens sowie Pürkhauer empfehlen, das Neosalvarsan mit einem kolloi- 
dalen Hg-Präparat, dem oben erwähnten Kalomeldiasporal (der Firma Klopfer- 
Dresden), zusammen einzuspritzen, weil dann das Neosalvarsan am wenigsten ver- 


ändert würde. 
Cyarsal-- Neosalvarsan in der Mischspritze. 


Oelze hat zum erstenmal das bereits oben erwähnte Cyarsal mit Neo- 
salvarsan gemischt bei der Syphilis angewandt. Ein dem Linser-Gemisch gegen- 


Neuere Syphilistherapie. 25 


über sofort in die Augen springender Vorzug ist der, daß sich diese Mischung erst 
nach etwa einer Minute und da nur ganz leicht trübt, so daß sich das Eintreten 
von Blut in die Spritze hier leicht verfolgen läßt. Oelze verabreicht pro dosi 0'3 
. bis 0'45 Neosalvarsan + 1—2 cm? Cyarsal (1 cm? Cyarsallösung = 0'01 g Hg). Die 
Cyarsal-„Mischspritze“ erscheint Oelze besonders wirksam bei der malignen Syphilis. 
Schädigungen sah er keine, so daß er zu Nachprüfungen auffordern konnte. 

Recht befriedigende Resultate mit dieser Methode hatten zu verzeichnen Lenz- 
mann, Salomon, Lion, Löwenberg und vor allem Mentberger, der bei 
Männern 12 Injektionen (5 g Neosalvarsan 4 22 cm? Cyarsal) und bei Frauen 10 In- 
jektionen (4 g Neosalvarsan 4 20 cm? Cyarsal) als normale Kur anpreist und diese 
in den meisten Fällen für völlig ausreichend erklärt. Die Wirkung auf die primäre 
Lues ist nach Mentberger ebenfalls gut, Spirochäten waren durchschnittlich nach 
der dritten Spritze völlig geschwunden, die Wassermannsche Reaktion wurde 
ebenfalls gut beeinflußt, desgleichen waren nach seinen Beobachtungen die Dauer- 
resultate gut. Weniger prompt reagierten die regionalen Lymphdrüsenschwellungen; 
die Verträglichkeit war sehr gut. Nach Spangenberg werden die Primäraffeke lang- 
samer beeinflußt; sehr gut soll die Wirkung dieser Mischspritze auf die klinischen 
Erscheinungen der zweiten und dritten Periode sein. 

Auch Gutmann hatte recht befriedigende Resultate bei der Anwendung der 
Mischspritze; er sah aber auffallend viel Rezidive und auffallend häufig 
Ikterus, und Krug sowie Mauelshagen und Strempel loben ebenfalls diese Misch- 
spritze, meinen aber, daß sie doch der üblichen zweizeitig kombinierten Hg-Neo- 
salvarsankur nachsteht. Nach Laband, Heß, Evening wirkt das Novasurol-Neo- 
salvarsangemisch besser als die Cyarsalspritze, Negendank sowie Nover lehnen 
diese indes ganz ab. Ersterer betont, daß das Cyarsal weder intramuskulär noch 
intravenös irgendwelchen Einfluß auf mittelschwere oder gar schwere luetische Erschei- 
nungen habe, auch die Spirochäten nicht beeinflusse, so daß in der Misch- 
spritze nur das Neosalvarsan wirksam sei. Letzterer, der über 500 Patienten 
damit behandelt hat, spricht ihr jede Wirkung im ersten und zweiten Stadium ab, 
sah sehr zahlreiche klinische und serologische Rezidive und fast stets. 
Nebenwirkungen, darunter 7 Fälle schwerer Dermatitis. | 


Rothmann führt übrigens die klinisch schwächere Wirkung des Cyarsal-Neosalvarsan- 
gemisches darauf zurück, daB Hg-Präparate, die mit Salvarsan keine Trübung ergeben, unwirksam 
seien, da sie zum größten Teil unverändert aus dem Körper ausgeschieden würden. Im Gegensatz 
hierzu empfiehlt Forster gerade das Cyarsal für derartige Gemische, da hierbei die Hg-Ausscheidung 
erst beginne, wenn das Gemisch bereits durch den Blutstrom im ganzen Körper verteilt sei. 

Erwähnt sei schließlich hier noch, daß Szily und Haller gleichzeitig eine Kombination 
von Hg, Jod und Neosalvarsan in der Weise einspritzen, daß sie zunächst 1—2 cm? eines zu diesem 
Zwecke modifizierten Seluesins, das 1915 von Szily empfohlen wurde und ursprünglich aus Hg, 
Jod und anorganischem As besteht, in eine 10 cm? fassende Rekordspritze aufziehen (Hg. bichlor. 
corr. 0:3, Natr. jodat. 14°0, Aq. dest. 20). Dazu werden dann 3—6 cm? einer frisch bereiteten 10pro- 
zentigen Neosalvarsanlösung aufgezogen. Dieses Gemisch wird dann intravenös eingespritzt, wobei 
die Jodkomponente besonders resorbierend wirken soll. 


Li 

Zu diesen bisher bekannten Präparaten, die wir, mit vollem Rechte, als Specifica 
der Lues gegenüber bezeichnen können, tritt nun als viertes specifisch wirkendes 
Mittel hinzu das 

Wismut. 

Das Wismut wurde 1920 von Levaditi und Sazerac in die Therapie der 
Syphilis eingeführt und hat sich im Laufe der Zeit einen ganz hervorragenden 
Platz innerhalb derselben errungen. 


Wismut (Wismut-Ammoniumcitrat) wurde zum ersten Male anscheinend von Balzer im 
Jahre 1889 zur Behandlung der Syphilis angewandt. Eine irrtümlich für Wismutnebenwirkung ge- 


26 Paul Mulzer. 


“ haltene schwere Hornhautentzüngung bei einem Hunde, der, wie sich später herausstellte, staupe- 
krank war, veranlaßte aber Balzer diese Versuche abzubrechen. Einige Jahre später haben Masucci 
und Raynold ebenfalls Wismut, u. zw. Wismutprotojoduret, bei der menschlichen Syphilis 
versucht. Näheres hierüber findet sich nicht in der Literatur; die Wismuttherapie der Syphilis schien 
in Vergessenheit geraten zu sein. 

Mit dem Aufschwung der modernen Chemotherapie der Syphilis wurden auch die Versuche 
mit Wismut wieder aufgenommen. So hat bereits Uhlenhuth 1908 Wismut in Verbindung 
mit Arsen erfolgreich bei Trypanosomenkrankheiten angewandt. 1913 stellten Ehrlich und Karrer 
ein leider unbeständiges und deshalb unbrauchbares Wismut-Arsenobenzol her. 1916 konnten 
Sauton und Robert zeigen, daß Wismut, u. zw. das Wismut-Kalium-Natriumtartrat, eine 
präventive und bis zu einem gewissen Grade auch eine heilende Wirkung auf die Spirillose 
der Hühner und auf die Trypanosomiasis entfalte. Auf Grund dieser Versuche vermuteten schon diese 
Autoren, daß dieses Mittel auch einen günstigen Einfluß auf die Recurrens und auf die Syphilis entfalten 
werde. 1919 hatten Kolle und Ritz kolloidales Wismut bei der experimentellen Syphilis der 
Kaninchen geprüft, die Versuche aber wegen der zu großen Toxicität des intravenös verabreichten 
Mittels wieder aufgegeben. 

Nach dem Tode Sautons im Felde nahmen 1920 Levaditi und Sazerac in Paris die Ver- 
suche desselben mit einer Wismutbehandlung der Trypanosomiasis und der Syphilis wieder auf. Sie 
verwendeten Bi-K-Na-Tartrat subcutan, später intramuskulär in 10 %iger öliger Suspension. Die 
Versuchstiere waren infiziert mit einem „dermotropen“ (Fournier, Schwarz) und einem „neurotropen«, 
von Levaditi und Morin aus Paralytikerblut gewonnenen Stamm. Außerdem wurden auch Kaninchen, 
die an originärer Kaninchenspirochätose erkrankt waren, behandelt. | 

Levaditi und Sazerac stellten fest, daß die tödliche Dosis der alkalischen wäßrigen Lösung 
dieses Mittels 0'2 betrage, die toxische 0*1 und die Dosis bene tolerata 0:05 — 0'06 pro 1 kg Kaninchen. 
Intravenös wirkten schon 0:005 g prol%g nach ca. 7 Tagen tödlich. Die 10%ige ölige Suspension des 
Bi-K-Na-Tartrat erwies sich als noch weniger toxisch als die wäßrige und wirkte schon in 
kleinen Dosen, die weit unterhalb der toxischen Dosis lagen, bei diesen Versuchs- 
tieren ausgezeichnet, u. zw. in erster Linie spirochätocid. 

Levaditi und Sazerac haben dann dieses Mittel, das sie Trepol nannten, auch bei der 
Syphilis des Menschen versucht, Sie behandelten damit 1 Fall von primärer, 2 Fälle von sekundärer 
und 2 Fälle von tertiärer Syphilis. Im ersten Falle schwanden die Spirochäten nach 3 Tagen, 
die Wassermannsche Reaktion wurde und blieb negativ. Bei den sekundären Fällen bildeten 
sich die Erscheinungen (Primäraffekt, Plaques, Lymphdrüsen, Exanthem) rasch zurück, die Wasser- 
mannsche Reaktion dagegen blieb positiv. Bei der tertiären Syphilis (Gummen und ein tubero- 
ne Syphilid) trat Abheilung der Erscheinungen nach je 6 Injektionen ein; die Seroreaktion 
im Blute blieb in einem Falle positiv. Als Komplikationen sahen sie in einem Falle eine fuso- 
spirilläre Stomatitis und eine Zahnfleischveränderung ähnlich dem Bleisaum. Die Autoren forderten 
auf Grund dieser günstigen Ergebnisse ihrer Versuche zur Nachprüfung auf. Diese nahmen in Frank- 
reich zunächst Fournier und Gu&not, in Belgien Duhot und in Deutschland Hugo Müller 
vor. Die Resultate dieser Autoren ermutigten bald zur allgemeinen Verwendung dieses Mittels, und 
so wurde denn auch die Wismutbehandlung der Syphilis zunächst in Frankreich und 
in den valutastarken Ländern auf der ganzen Linie aufgenommen. Aber auch in Deutschland 
fand diese Therapie bald Eingang, zumal die deutsche chemische Industrie eigene Wismutpräparate 
fand, welche die französischen Präparate nicht nur vollständig ersetzen, sondern sie in vielen Fällen 
noch weit übertreffen. 


Im folgenden seien nun zunächst die französischen Originalpräparate genannt und be- 
sprochen und einige der wichtigsten — ihre Zahl ist Legion! — ausländischen Ersatzpräpa- 
rate derselben. 


Das Trepol der Firma Chenal und Douilhet-Paris ist ein alkalisches Natrium- 
Calcium-Wismuttartrat in 10%iger öliger Aufschwemmung, das ca. 64% aktives 
Wismut enthält. Es kommt gebrauchsfertig in Ampullen in den Handel mit der 
Vorschrift, daß jeden zweiten bzw. jeden dritten Tag 2-3 cm? = 0'2—3 g Bi-Salz 
intramuskulär injiziert werden sollen. Später verwendete man jedoch nur 2 g mit 
3—5tägigen Intervallen, weil man der Ansicht war, daß dadurch die nachher noch 
zu besprechenden Nebenwirkungen vermieden würden. Im ganzen sollen bei Erwach- 
senen durchschnittlich 12—15 Spritzen à 2 g gegeben werden. Für Kinder sind 
Phiolen zu 0:025 mg Trepol im Handel, deren Inhalt jeden vierten Tag injiziert 
werden soll. 

Nin Posadas macht darauf aufmerksam, daß das von dieser Firma vertriebene 
Originaltrepol das einzige autorisierte Präparat sei, und daß alle anderen Trepole 
nur Nachahmungen wären, die in chemischer, wie in physikalischer Hinsicht nicht 
alle für das Original charakteristischen Eigenschaften zeigten. 

Das Trepol indolore, das im allgemeinen weit geringe Nebenwirkungen als 
das Trépol machen und insbesonders weit weniger schmerzhaft sein soll, wird 


Neuere Syphilistherapie. 27 


nach Bloch viel besser vertragen als die unlöslichen Quecksilberpräparate. Infolge 
seiner Viscosität läßt es sich aber etwas schwieriger einspritzen; man muß es erst 
anwärmen (H. Müller). 

Das Neotrepol der Firma Chenal und Douilhet ist ein rein metallisches Wismut, 
ca. 96%, in isotonischer Suspension. Es wird besonders empfohlen bei tertiärer 
sowie bei latenter seropositiver Lues. Kindern soll es nicht verabreicht werden. 

Außer diesen 3 Originalpräparaten Levaditis werden im Auslande, u. zw. 
besonders in Frankreich, häufig noch angewendet: 

Das Luatol (Poulence frères), ein dem Trépol analoges Präparat in wäßriger 
Glykoselösung mit Phenolzusatz; 

das Tarbisol (Usine de Rhône), ein wäßriges Diäthylenamin-Bi-Tartrat; 

das Muthanol (Lemay), ein durch Mesothorium radioaktiviertes Bi-Hydroxyd, 
das in Frankreich hauptsächlich bei Nervensyphilis angewendet wird, nach Heuck 
aber bei frischer Syphilis absolut unwirksam ist. Ein anderes Bi-Hydroxyd, Cura- 
lues genannt, wird von Evrard für Nervensyphilitis empfohlen; Gougerot empfahl 
es besonders bei arsenresistenten Fällen. Ein drittes, das Spirillan, das wasserlöslich 
ist, bevorzugt Simon. 

Ein anderes lösliches Wismutpräparat, das Gallismuth (Äthylendiamin-Wismut- 
gallat), wird besonders von Pomaret empfohlen; es soll schneller und besser als 
die unlöslichen Wismutpräparate wirken. 

Das Jodchininwismut von Aubry, Quinby genannt, enthält 30% Wismut 
und wurde bald nach dem. Trépol in den Handel gebracht. Nach Azoulay hat es 
sich glänzend bewährt, doch scheint es häufig recht unangenehme Nebenwirkungen 
zu entfalten. Heuck sah in allen Fällen, bei denen er es anwendete, Nephritis 
auftreten. | 
Das Sigmuth (Brisson), eine lösliche Na-K-Bi-Tartratverbindung in einem 
schwefelhaltigen Lösungsmittel, soll eine recht günstige Wirkung auf die syphilitischen 
Produkte aller Stadien entfalten, ohne die geringsten Nebenwirkungen auszulösen 
(Gouin und Jégat). Nach Pautrier soll der Schwefel besonders günstig auf die 
Ausscheidung des Bi wirken. Es kann intramuskulär und intravenös gegeben werden. 

Das Ol&o-Bismuth „Roche“, kurz „Ol&obi-Roche“ genannt, ist eine von 
der Firma Hoffmann-La Roche in Basel hergestellte, intramuskulär injizierbare, feinst 
verteilte ölige Suspension von Wismutoleinat, die in Ampullen von 2 cm?, entsprechend 
0:1 g metallischem Bi, in den Handel kommt. Nach Ramel (Züricher Klinik) entspricht 
dieses Präparat in seiner Wirksamkeit dem Trepol, überragt jedoch letzteres bei 
` weitem durch seine bessere Verträglickkeit. Experimentell hat Ritz dieses Präparat 
geprüft; 0'5 cm? desselben (= 0'025 g Bi) pro 1 kg genügen zur sicheren Ausheilung 
der Kaninchensyphilis. 5 


i SE großen Zahl der ausländischen Wismutpräparate seien hier nur einige, die bekannteren, 
noch erwähnt: 

Das Natrol Horta-Ganns (Brasilien), ein lösliches wäßriges Bi-K-Na-Tartrat, das in Deutsch- 
land Giemsa chemotherapeutisch prüfte; 

das Bi-Tartrat Rabello (Portugal); 

das Bi-Na-citricum von Paranhos (Brasilien) eingeführt und „Aspir-Natron« genannt. 
Die Wirkung dieses leicht wasserlöslichen und vollkommen schmerzlos intramuskulär injizierbaren 
Präparates soll ungewöhnlich stark spirillocid sein (Vaz Luis); 

das Bi-K-Na-Tartrat von Calcagno (Spanien), das Nin Posadas besonders wegen seiner 
geringen Nebenwirkungen empfiehlt; das Bi-Citrat Bernhardt (Polen); 

das Bi-Ceriumsubsalicylat von Sicilia (Italien), Bismutum-Cerium subsalicylicum, in 
5—10% iger Emulsion. 
| Das Bismutum subsalicylicum, Wismutsubsalicylat, ein weißes, in Wasser und Alkohol 
unlösliches Pulver mit einem Gehalt von mindestens 56°4% Bi, wurde ebenfalls von Sicilia, sowie 
von Nicolas und Greco und Muschietto sowie anabhängig von diesen Autoren von Marcus 
in Stockholm empfohlen. Nach Dietel wirkt es besser als Quecksilber. Auch das Jonoidewismut 


28 Paul Mulzer. 


von Fourcade, das Lacapere empfiehlt, isf ein kolloidales Wismufpräparat, ebenso wie ein von 
Ducrey (Italien) empfohlenes. Das Sorosale ist ein kolloidales Bisulfid, das Machado und 
Ara Leite (Brasilien) mit gutem Erfolg verwenden. Das Spirillan, ein kolloidales Wismuthydroxyl, 
wurde von Simon empfohlen, en Wismutkolloid „Zambeletti« von Artom besonders bei 
Nervensyphilis. Ein weiteres kolloidales Wismutpräparat stellt das „Colmuthol“ dar, welches nach 
Lousta, Thibaut und Barbier sowohl intramuskulär wie intravenös angewendet werden kann und 
gut wirken soll. 

Das Bismuthion, ein Präparat mit hohem Gehalt an metallischem Wismut olıne kolloidale 
Eigenschaften, wird von Aleixo (Brasilien) empfohlen. 

Ferner ist hier kurz zu nennen das Bisclorol von Pulchor (Oxychlorure de Bismuth), das 
Radiomuth von Lorot, das Ditrioxybismutobenzol (= Natriumderivat der Trioxybismuto- 
benzoesäure) von Grenet und Drouin, eine aromatische Triphenol-Bi-Komponente, die auch intra- 
venös gut vertragen werden soll. Intravenös wird angewendet 

das Bismoluol, ein Di-Kaliumbismuttartrat, das von Guzmann und Pogany ein- 
geführt wurde. Baecker sah zuweilen ernste Nebenwirkungen, nach Heiner soll es dem Salvarsan 


ebenbürtig sein. 
* 


Was nun die Wirkung dieser Wismutpräparate auf die Syphilis betrifft, so 
läßt sich aus den zahlreichen in der diesbezüglichen, hauptsächlich ausländischen 
Literatur niedergelegten Beobachtungen etwa folgendes sagen: 


Wirkung auf die primäre Syphilis. 


Die Wirkungen der Bi-Präparate auf die klinischen Erscheinungen der Syphilis 
machen sich nach Bloch schon nach den allerersten Einspritzungen, oft schon nach 
der ersten, geltend. Die Primäraffekte verlieren ihre Härte, epithelisieren sich und 
vernarben. Die Überhäutung beginnt bereits 48 Stunden nach der ersten Injektion - 
und ist nach der zweiten und dritten Einspritzung vollzogen; nach der vierten und 
fünften Injektion ist auch das Infiltrat verschwunden (Lehner und Radnay). Ähnliche 
gute Wirkungen auf den Primäraffekt sahen Fournier und Guénot, Tomasi, de 
Favento,Covisa,GrenetundDrouin, Braeker,Schubert und viele andere Kliniker. 
Nach Escher ist der Primäraffekt nach 8— 14 Tagen stets überhäutet und organisiert; 
die Induration schwindet im Laufe der Behandlung und hinterläßt keine Spuren 
mehr (Nin Posadas). Nach H. Müller erfolgt die Überhäutung vielleicht langsamer 
als nach Silbersalvarsan, dafür aber schneller die Resorption. Gerade das Gegenteil 
will aber Pasini beobachtet haben: Die Primäraffekte epithelisieren rasch, aber das 
Infiltrat bleibt immer noch lange Zeit bestehen. Auch nach den Beobachtungen von 
Greco und Muschietto bildet sich der Primäraffekt unter Bi-Einwirkung nur sehr 
allmählich zurück und läßt, was übrigens auch französische Autoren zugeben, Ver- 
härtungen zurück. „Gerade dieser Umstand läßt das Präparat für die 
abortive und sterilisierende Wirkung als unbrauchbar erscheinen.“ Auch 
Martinotti sowie Schubert beobachteten nur ein langsames Schwinden der syphili- - 
tischen Infiltrate. 

Die Spirochäten verschwinden ziemlich prompt nach Bi-Anwendung. Pasini, 
Lehner, de Favento, H. Müller, Schubert sehen sie schon nach der ersten, 
spätestens nach der zweiten Bi-Injektion geschwunden. Nach Nin Posadas erfolgt 
dies bereits nach 24—36 Stunden; Jeanselme, Escher u.a. sahen nach 48 Stunden 
keine Spirochäten mehr in den Primäraffekten. Tartaru hält nach dieser Richtung 
hin die Wismutpräparate für wirksamer als die Salvarsanpräparate, nach H. Müller 
sind sie hierin aber den großen Silbersalvarsandosen gegenüber unterlegen. Nach 
Sedlák ist die Spirillocidität des Trépol schwächer als die des Salvarsans, jedoch 
dem Hg weit überlegen. Zu gleichen Resultaten kommt auch Br. Bloch. Meren- 
lender sah bei einer Gruppe von mit Wismut behandelten Syphilitikern noch 
10 Tage nach Beginn dieser Behandlung Spirochäten. Auch Palenta fand in 
mehreren Fällen noch nach der 4. und 5. Injektion, bzw. 12—14 Tage nach Kur- 


Neuere Syphilistherapie. 29 


beginn, Lortat und Jacobi sahen in einem Falle noch nach der 7. Spritze Curalues 
(insgesamt waren 1'12 Bi gegeben worden) 8—10 Pallidae im Dunkelfeld. Ich selbst . 
sah bei einem jungen Soldaten noch nach der 7. Neotrepolinjektion im Quetsch- 
saft eines auch klinisch wenig beeinflußten Primäraffektes lebende Pallidae. 


Über die spirochätocide Wirkung der französischen Bi-Präparate, sowie zweier deutscher Präparate 
im Vergleich mit Quecksilber und Salvarsan gibt umstehender Auszug einer Tabelle einschlägiger 
tierexperimenteller Studien von Plaut und Mulzer einen guten Einblick (s. p. 30 und 31). 


Nach H. Müller sollen insbesondere die begleitenden Lymphdrüsen- 
schwellungen durch Bi beeinflußt werden. Bei Punktion fand er oft 6-7 Tage 
nach Beginn der Behandlung keine Spirochäten mehr. Auch Escher kommt zu 
ähnlichen Resultaten. Bei vergleichender Untersuchung wären nach Behandlung mit 
Neo- oder Silbersalvarsan hier noch nach 15 (!) Tagen Pallidae vorhanden gewesen. 
Nach Nin Posadas gehen die specifischen Drüsenschwellungen rapid zurück, de 
Favento sah aber gerade die Drüsen viel langsamer als sonst bei einer specifischen 
Therapie beeinflußt werden. Nach Lehner bleibt der Zustand der Drüsen 
während der Kur völlig unbeeinflußt, eine Beobachtung, die bis zu einem 
gewissen Grade auch Heuck sowohl wie ich bei Behandlung mit den französischen 
Originalpräparaten, wie überhaupt bei der Wismuttherapie gemacht haben. 


Sekundäre Lues. 


Von den sekundären Erscheinungen der Syphilis werden nach den Erfahrungen 
aller Autoren am günstigsten durch Wismut beeinflußt die maculösen Exantheme 
und die Schleimhautplaques. Sie schwinden schon nach einigen Einspritzungen. 
Nach H. Müller verschwinden ebenso prompt durch diese Therapie die sonst so 
resistenten hypertrophischen Papeln, psoriasiformen Syphilide, luetischen 
Nagelerkrankungen, Lues cornea plantaris und die kleinpapulösen und 
pustulösen Exantheme, die ja den Prüfstein einer jeden specifischen Behandlung 
bilden. Andere Kliniker haben hier jedoch nicht immer eine so gute Wirkung der 
Bi-Präparate gesehen. So zeigen nach Villemin die hypertrophischen und die 
primären Papeln dem Wismut gegenüber eine große Resistenz; zu einem ähnlichen 
Ergebnis kommt de Favento. 

Sehr schnell schwinden unter Bi-Darreichung auch die prodromalen Er- 
scheinungen der Lues (Covisa) sowie Cephalalgia nocturna und gelegentliche 
Dolores osteocopi (Covisa, H. Müller). Günstig ist im allgemeinen auch die 
Wirkung auf Pigmentsyphilis (Levy-Bing) und Alopecia specifica. Tommasi 
sah hier allerdings eine weniger gute Einwirkung, auch figurierte ältere Syphilide 
wurden nach seiner Erfahrung nicht so prompt beeinflußt. 

Meist wird bei den Erscheinungen der sekundären Periode, insbesonders bei 
der Roseola, eine mehr oder weniger starke Herxheimersche Reaktion beobachtet, 
die manchmal urticariellen Charakter annehmen kann (Vöhl). Sie wird meist nach 
der ersten oder zweiten Wismuteinspritzung beobachtet (Bloch, Escher, Ehlers, 
Schreus, Tommasi u.a.). Nach H. Müller tritt diese Reaktion infolge der weniger 
rapiden Abtötung der Spirochäten durch diese Mittel erst einige Tage nach der Injektion 
auf. Auch nach Vöhl erreicht sie erst drei Tage nach der Einspritzung ihren Höhe- 
punkt. Klauder hat dieses Phänomen übrigens in hochgradiger Weise gelegentlich 
auch bei syphilitischen Kaninchenhoden gesehen. Auch Plaut und Mulzer sahen 
wiederholt bei der experimentellen Prüfung antisyphilitischer Mittel, u. zw. insbesondere 
nach Wismutdarreichung, 24 Stunden später eine enorme Zunahme der Spiro- 
Chäten, was wohl in ähnlichem Sinne ausgelegt werden muß. Wie wir später noch 


30 Paul Mulzer. 


























Tabelle 
Tier Stamm Befund am Tage der Behandlung Befund nach 24 Stunden 
und BE Äis ) 
Nr Passage Klinischer Befund E + Klinischer Befund Spir. 





















links: Oberfl. Erosion mit 1:2 cm? 21.7.| 3:2 | links: ) NÉE leg 
geringer Grundinduration Trepol rechts: ` 
293 rechts: kirschkerngroße nm En 
Periorchitis. e Ba 
Bi p. 1 kg 
8.8.|1:7 | links: Orchitis diffusa ch 07cm? |9.8.|1'7| links: ` 
9 22 rechts: Orchitis und Peri- |+++-+! Trepol rechts: ) stat. idem 
N ‚orchitis diffusa.. "em 
Ii. H. P. ee Bi p. I Ag 
KK: 
5) 27.9.| 2'1 | links: Periorchitis im unt. |++-++ 1 em? 28.9.| 2:1 | links: stat. idem hpr 
22 Pol (16:22:12) mit dorn- Trepol 
artigem Fortsatz nach oben "e A0 me 
auf Periorchitis; Primär- _—_ 
371 | „Immel affekt (14: 16) mit ca. (a em Bi p. 1 kg 
(9. 8. 22) breiter derber Randzone 
MI. H. P. rechts: Hoden entfernt 


und verimpft. 
Liquor: normal. 












































20) 15. |2°4 | links: Primäraff. (10:14:6)| +++ 0°5 cm 16. |2°4 | links: FC +++ 
hé rechts: mantelartige Peri- | +++ | Neotrepol | 11. rechts: SS + 
400 Immel 22 orchitis (16:33:10). Starke om | 2 
(24. 9. 22) Drüsen beiderseits. — — 
Liquor: normal Bi p. 1 kg 
=) 16.1.130 | links: diffuse Orchitis und | +++ 1 ei 17.1.|3°0 | links: Odem der +++ 
23 Periorchitis mit 2-3 linsen- Muthanol 23 Scrotalhaut, sonst 
großen periorchit. Knoten o. B 
rechts: Hoden bereits ex- 
409 | Mulzer stirpiert. 
(21. 9. 22) Liquor:3.1.23121/3Zellen. 
Nonne: Spur 
Pondy: 0 
28) 15. |23| links: etwa walnußgroße | LA 0'5 cm3 16. |2°3| links: ? ++ 
11. runde Periorchitis (Durch- Quinby Eé rechts: } stat. idem tr 
366 Kolle 22 messer 10) (Bi-Gehalt | 22 
Kä 9. 22) rechts:ähnl.längliche Peri- | +++ | unbekannt) 
x. H.P. orchitis mit Praff. (15:19:14) 
Liquor: normal 
29) 27.9.1 27 | links: knotenförm. Peri- | +++ 1 cm3 28.9.| 2:7 | stat. idem -+-+ 
22 orchitis im untern Pol Bismogenol | 22 
Koll 19 : 21 : 16), daraufsitzend 
343 oile rundl. Primäraff. (19:21 :8) 
Mn CR > rechts: rechter Hoden am 
De Sr? 14. 9. exstirp. u. verimpft. 
Liquor: normal | 
30) 16. 1.| 2°5 | links: daumenkuppengroße | ++-+ 1 cm3 17.1.| 25| links: - + 
23 Periorchitis jape Bismogenol | 23 rechts: } stat, idem Puris 
360 Kolle rechts:haselnußgroßePeri- | +++ 
(1. 8. 22) orchitis u. Primäraff. (9:9:5) 
X. H. P. Liquor: normal 
31) 15. |274 | links: Orchitis diffusa und | 44+ 0:5 cm3 16. | 2'4 | links: stat, idem +++ 
395 Immel OI linsengroßer Primäraffekt Milanol 11. 
RW 9.22) | 22 rechts: o B: 22 
SN RP Liquor: normal 
34) 4.7.|2'1| links: erbsengroße Peri- | +++ 0°5 cm3 5.7.| 2 | links: e 
22 orchitis s KH, 22 rechts: stat. idem TER 
rechts: zwei kirschkern- | +++ |= 0005 Hg 
291 Mulzer große und eine erbsen- BE REH 
5, 5. 22 große Periorchitis. A A 
ANIL HP Liquor: 19 Zellen Hg p. 1 kg 
Pandy: 0 
Nonne: 0 
35) 20.1.| 2:7 | links: zirka kirschkern- | ++ 0'6 cm 22.1.| 2'7 | links: stat. idem — 
& Malet 23 große i ER Neosalv. 23 
1 rechts: o. B, intravenös 
Co ée Liquor: 67 Zellen p. 1 4g 022g 
36) 13.9.| 2°6 | links: starke Orchitis und | +++ | Neosalv. |14.9!26| links: ) klinisch ab- _- 
22 Periorchitis diffusa (18:35 intravenös | 22 solut keine 
:18). Am unteren Pol sitzt p. 1kg0'04g Ver- 
kappenartige rupiaähnliche — rechts: } änderung _ 
340 Kolle ppe : N 
(21.7. 22) Borke (17:20) auf. Hasel- Drüse: stat. idem -n 
VIII. H. P nußkerngroße harte Drüse. + 
LE o rechts: PA (18:24:12). +++ 








Liquor: normal | | 


zu p. 29. 


Befund nach 48 Stunden 


E Klinischer Befund 


Datum 












22.7.| 3'2 | links: Borke ab- 
estoßen, deutlich 
l., keine Infiltra- 
tion mehr 
rechts: stat. idem 


| 10.8. | 1'7 | links: Infiltration 
etwas zurück- 

| gegangen und 
weicher 

| rechts:desgleichen 





Spir. 





Neuere Syphilistherapie. 










Befund nach 3-4 Tagen 
Klinischer Befund 


links: stat. idem _ 
rechts: kleiner und - 
. weicher 


31 


Befund nach 5-10 Tagen 


v 


BI 
CR. 
Q 


1.8. |32 





Klinischer Befund | Spir. 






links: vernarbt 
rechts: erbsengr. 
weiches Infiltrat 












HBI ETI links: weiterer — 
rechts: | Rückgang = 


18.8 


2.10.| 2'2 





links:nurnoch erb- 
sengroßes weiches 
Infiltrat 

rechts: desgeichen 


links: Randinfil« 
trat geschwunden, 
Borke nur noch 
central haftend 


| 


vereinzelte gut 
formerhaltene 
Spir. 


20. |2'4 | beiderseits:wei-| ++ 


11. 
22 


ll. 
22 


2.10.|26| Randinfiltrat 


22 


20.1. 2°5 


ter Rückgang — 


unverändert BEES 


unverändert beider- | +++ 
seits E 


t! 


völlig SS Ca 
geschwunden eos 
Periorchitischer An Zë 
Knoten (13:18:11) |S Ẹ d 
bedeutend weicher Ta gär 


links: nur noch 
SEN Ärd 
großes Infiltrat 
rechts: Primär- 


des Primäraffekts e Di 
aff. in Vernarbung |: 


20. | 2'4 | vielleicht etwas we- 


11. 
22 


11.7.] 2°1 
22 


niger derb 


links: stat. -— 


rechts: | idem — 


29.9.22 | links: deutlicher |-++4--+] 30.9.| 2'2 | links: stat. idem — 
Schwund d. Rand- ge 
infiltrates, doch ER 
starkes Grundin- GER: 
filtrat (12:15:10) vun 
GET, 
"oO P 
Er 
17. | 2'4 | links: kein wesent- — 18. | 2:4 | links:keinewes. And. — 
11. licher Rückgang 11. rechts:Rückgang | +++ 
22 rechts: im allge- | +++ | 22 (13:20:10). Infiltr. bed. 
meinen keine Ver- weicher. Auf Druck 
änd. Vielleicht et- uilltnekrot. Masse a. 
was gering. Infiltr. and d. Borkehervor 
| N | N mee 
18.1.| 3:0 | links: stat. idem | ++ |19.1.|30 | links: vielleicht et- | +++ |24.1.| 3 
23 23 was weicher 23 
17. |24| keinerlei Wirkung! | +++ | 18. |2°4 | keinerlei Wirkung! +++ | 20. | 24 
11. +++ | 11. +rr 
22 22 
E, D D eege wg 
29.9.| 2'5 | links:deutlicher - 30.9 | 2:6 | klinisch unverändert — 
22 Rückgang, ins- 22 
besond. des Rand- | 5% — 
infiltrats (19:20: SE 
15) ES 
see 
en, 
WR BE WE D D, E D E E eg 
18.1.|2°5 | beiderseitsdeut-| ++ |[19.1.|25 | links: Infiltrat wei- — 
23 licherRückgang | ++ 23 cher und kleiner 
rechts:8:7:3; wei- u 
cher 
17. 12:4 | links: stat. idem; | +++ | 18. |24 keinerlei Verände- +++ 
11. noch hart u. derb! 11. rung! 
22 22 
6.7.| 2 | links: Jas idem +++ [7.7.| 2 | links: stat. idem +-+ 
22 rechts: ? =- 22 EES -y 
einer 


23.1.| 2'7 | links: Rückgang 
22 um etwa 1/3 


15.9.|2°6 | links: kleiner und | 
22 wesentl. weicher, 
in der Mitte noch 
härtere Stelle 
rechts: Randinfil- 
trat bedeutend zu- 
rückgegangen 
Drüse: stat. idem 


28.1.| 2:6 | links:stat. idem, nur — 
22 weicher 
Dinaar 37!/3 Zellen, 
wieder 0 6 Neosalv. 


18.9.| 2°6 | links: Borke sitzt an _ 
22 Rändern losgelöst, 
ohne jed. Infiltr. auf. 
Nur in Tiefe noch 
erbsengroß. Knötch. 
rechts: kein Inf., nur — 
nochan unt. Stelle et- 
was Drüsenoch vorh. 


LES DE. 
22 


21.9.| 2°6 
22 


links: linsengroße 
Knötchen 

Liquor: 20 Zellen 
wieder 0:6 Neosalv. 


links: Primäraffekt 
ohne Borke (11:15), 
keinerlei Infiltrat, 
Drüse bed. kleiner 

rechts:nurBorke, 
keine Spur von In- 
filtrat 


32 Paul Mulzer. 


sehen werden, deuten verschiedene Autoren Erscheinungen an der Niere und am 
Centralnervensystem, die im allgemeinen wohl als toxische Nebenwirkungen an- 
gesehen werden müssen, ähnlich. H. Müller berichtet über eine nach der zweiten 
Injektion sehr stark auftretende Schwellung einer Kniegelenkserkrankung bei sekundärer 
Lues gravis, sowie eine Lokalreaktion bei ausgedehnter Oculomotoriuslähmung 
mit Ptosis. Truffi beobachte wiederholt schmerzhafte Lymphdrüsenschwellung, die 
er im gleichen Sinne deutet. 

Bei frühulceröser, sog. maligner Syphilis, die auf die bisherige specifische 
Behandlung erfahrungsgemäß nicht immer gut reagiert, wird die Wismuttherapie 
durchweg als sehr erfolgreich beschrieben (Escher, Haxthausen, Azoulay, Huber 
und Massary). Das gleiche ist der Fall bei den Hauterscheinungen der 


tertiären Syphilis. 


Gummen der Haut und der Schleimhaut sowohl alsauch der Knochen ver- 
schwinden schnell (H. Müller, Bloch, Haxthausen, Escher, Bäcker, Eliascheff 
u.a.). Die Wirkung ist hier fast stets ausgezeichnet, geradezu „brillant“ (Tommasi), 
ja „schneller wie beim Salvarsan“ (Grenet und Drouin). Die Narbenbildung tritt 
verhältnismäßig rasch ein und das Infiltrat verschwindet prompt (Pasini). Nach 
Fournier und Guénot wird auch die Leukoplakie durch Wismut weitgehend ge- 
‚bessert. 

Syphilis der inneren Organe. 

Die Wismutbehandlung scheint einen besonders großen Wert bei der Syphilis 
des Herzens und bei den specifischen Aortitiden zu besitzen (Otero). Nach 
Villemin bessern sich unter dieser Therapie „rapid“ die Symptome dieser Erkrankung, 
wie Husten, Dyspnöe, Palpitation und Retrosternalschmerz. Von 6 röntgenologisch 
kontrollierten Fällen ergab sich einmal ein beträchtlicher Rückgang einer Aorten- 
erweiterung, einmal ein völliges Schwinden einer Periaortitis descendens. 
Simon sah von 3 Fällen einer Aortitis 2 schnell gebessert, einer versagte ganz. 
Laubry und Bordet konnten dagegen bei dieser Erkrankung durch Wismut keine 
Änderung der auskultatorischen und röntgenologischen Symptome feststellen. Der 
Aortenschatten wurde unter dieser Behandlung, die durchschnittlich 9 Monate 
dauerte, sogar breiter, doch besserten sich stets weitgehend nach einer oder mehreren 
Serien von Wismuteinspritzungen („Quinby“) die funktionellen Störungen nach Maß- 
gabe des Alters derselben, und dies fast ebenso schnell wie nach großen Dosen 
der Arsenobenzole. Die dyspnoischen Beschwerden wurden schwächer, die Attacken 
von Angina pectoris seltener, so daß die Patienten, die durch die drohende Not- 
wendigkeit, ihren Beruf aufzugeben, sehr beunruhigt waren, vertrauensvoll ihre Be- 
schäftigung wieder aufnehmen konnten und bei den geringsten Beschwerden wieder 
nach dieser Behandlung verlangten. Für beide Autoren ist es zweifellos, daß das 
Wismut die in der Entwicklung begriffenen syphilitischen Aortitiden auf- 
hält. Nach Bordet hat das Wismut bei den luetischen Aortenerkrankungen zweifellos 
den Vorzug vor den anderen specifischen Mitteln, daß es besser vertragen wird als 
diese und daher auch bei alten, komplizierten Fällen angewandt werden 
kann, bei denen Salvarsan und Hg infolge ihrer Chokwirkung kontraindiziert sind. 

Auch die Augenlues soll nach H. Müller durch Bi günstig beeinflußt 
werden. Gourfin berichtet über Versuche mit Neotr&pol bei Augensyphilis in der 
Sekundär- und Tertiärperiode. Das Mittel soll sich namentlich in der Sekundär- 
periode sehr bewähren; Erscheinungen an der Iris schwinden schon nach wenigen 
Injektionen. Bei Erkrankungen der Opticuspapille rät Duhot aber zur Vorsicht 


Neuere Syphilistherapie. 33 


betreffs der Wismutbehandlung, da dieses Medikament die Neigung besitze, Pigment 
in den Capillaren abzulagern. 

Nach Otero hat sich dem Bismut gegenüber am empfindlichsten der Ver- 
dauungstractus erwiesen. Der Icterus specificus bildet nach H. Müller zum 
mindesten keine Gegenindikation gegen Wismutbehandlung. Auch die specifischen 
Albuminurien können unbedenklich mit Wismut behandelt werden (Tzanck). 
Manche als toxisch gedeutete Nierene krankung ist, wie der weitere Verlauf der 
Behandlung ergab, als syphilitisch zu deuten (Simon, Bueler). 

In einer im Jahre 1922 gemachten Zusammenstellung der bis dahin vorliegenden 
Wismutliteratur hebt Levaditi die ausgezeichnete Wirkung des Wismuts auf die 
Nervensyphilis, u. zw. besonders auf die akute Hirnhautsyphilis, hervor. Diese, 
insbesondere umschriebene Gummen, jedoch auch Gefäßerkrankungen, Meningitis 
basilaris geben auch nach H. Müller bei dieser Therapie gute klinische Erfolge. 
Auch nach Fournier und Guénot, K. Csepay u. a. wird die frühzeitige Hirn- 
lues durch Bi rasch gebessert. Simon, der über gute Erfolge bei syphilitischem 
Kopfschmerz berichtet, sah ausgezeichnete Erfolge in 2 unter 3 Fällen von Neuritis 
optica. Nach Laubry und Bordet reagierte eine 21. Jahre bestehende, auf Hg- und 
As-Behandlung in erster Linie wegen Unverträglichkeit dieser Mittel sich nicht bessernde 
Hirnsyphilis glänzend auf Wismut. Auch Tom masi sah in einem Fall von Hirnsyphilis, 
die sich jeder anderen Therapie gegenüber refraktär verhielt, besonders gute Erfolge. 

Mandel empfiehlt auf Grund eigener Erfahrungen das Wismut dringend bei 
sekundärer Cerebrospinallues. H. Müller, Lortat und Jacob u. a. berichten 
über Schwinden hochgradiger Pleocytosen im Liquor sowie der Phase I 
unter dieser Therapie. Jeansalme empfieht dieses Mittel deshalb gerade bei diesen 
Erkrankungen, weil es, in wäßriger Form injiziert, schon nach 2 Stunden im Liquor 
nachzuweisen sei. Scherber hingegen konnte bei Nervensyphilis eine Besserung 
des Liquors durch Wismut nicht erreichen. 

Nach Agramunt wird das Wismut bei der Nervensyphilis besser vertragen 
als alle anderen Präparate Nin Posadas sieht ebenfalls in der Nervenlues 
das Hauptgebiet der Wismutanwendung. Alle seine einschlägigen gut auf 
Wismut reagierenden Kranken waren mit Hg und Salvarsan erfolglos behandelt 
worden. Die Einverleibung von Bi brachte überraschende Resultate, wie völlige 
Besserung ein- und doppelseitiger Lähmungen, Herstellung des Geh- 
vermögens, Besserung der Sprache u. dgl. 

Sehr gute Erfolge wurden von manchen Autoren auch bei den Neuro- 
rezidiven gesehen, insbesondere bei den nicht so seltenen arsenresistenten Fällen. 
Dies betonen vor allen Emery und Marie, die in einem Falle 4mal innerhalb 
eines Jahres 3 Wochen nach Abschluß der Salvarsankur ein Neurorezidiv mit 
schwerem Kopfschmerz sahen. Durch Bi wurde dauernde Heilung erzielt; der Liquor, 
der vor dieser Behandlung 120 Zellen enthielt, wurde normal. 

Erwähnt wurde bereits, daß in Frankreich das Muthanol, Luatol und das 
Curalues hauptsächlich bei Nervenlues angewendet wird, da es hier einen besonders 
guten Einfluß entfalten soll (Fourcade, Marie, Otero u.a.). Pinard ist aber der 
Ansicht, daß man auf die Erfolge der Wismutbehandlung bei Nervensyphilis nicht 
allzu große Hoffnungen setzen dürfe. Arsen sei dem Wismut überlegen. Man müsse 
daher nur mit großen Dosen Arsen behandeln, und erst wenn man durch fort- 
gesetzte Gaben desselben der Situation Herr geworden sei, dürfe man zum Wismut 
übergehen. So gut wie gar keine Erfolge mit Wismut bei Nervenlues sahen 
hingegen Escher sowie Baum. 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 3 


34 Paul Mulzer. 


Tabes. 


Von verschiedenen Seiten werden, ähnlich wie beim Salvarsan, auffallende 
Erfolge der Wismuttherapie bei der Tabes berichtet. Nach Nin Posadas trat bei 
Tabikern ausschließlich ein Umschlag unter dieser Therapie ein. Bei Inkontinenz 
stellte sich normale Urinfunktion ein, alle Blasenstörungen wurden zu fast voll- 
kommener Wiederherstellung gebracht, die schmerzhaften Krisen wurden ausnahms- 
los beseitigt, so daß Morphium unnötig wurde. In 9 Monaten wurde kein Rezidiv 
gesehen. Simon, Benech u. a. berichten über Verschwinden von Rhomberg und 
Pupillenstarre, Besserung der Gehbeschwerden sowie der Inkontinenz der Blase und 
der Krisen. Gouin und Jégat heben besonders das schnelle Schwinden der 
lancinierenden Schmerzen hervor. Nach Artom soll die Wirkung des Wismut 
besonders günstig im Beginn dieser Erkrankung sein, wenn auch der Einfluß 
auf die Wassermannsche Reaktion und den Liquor nicht sehr ausgesprochen sein soll. 
Die Herxheimersche Reaktion soll sich bei der Tabes am meisten geltend 
machen, u. zw. in einer starken Reaktivierung der Krisen. Die Schmerzen werden 
unerträglich, dauern einige Stunden bis Tage, dann aber tritt der Umschlag zu 
vollkommener Besserung ein. Auch Scherber sah nach Trepolanwendung in einer 
Anzahl der Fälle außer einem Negativwerden des Wassermann besonders Besserung 
der gastrischen Krisen, der Incontinentia urinae und mancher ataktischer Symptome, 
zuweilen auch der Pupillenreaktion. Ramel berichtet über einen auffallenden Erfolg 
einer kombinierten Silbersalvarsan- und Oleo-Bi-Therapie bei der ataktischen Form 
der Tabes. Nach Bloch sind indes diese doch mehr vereinzelten Erfolge bei der 
Tabes mit Vorsicht aufzunehmen, eine Ansicht, der ich mich in Erinnerung an 
die anfänglich gleich überschwenglich gemeldeten Erfolge der Salvarsantherapie bei 
dieser Erkrankung nur voll und ganz anschließen kann. 


Paralyse. 


Auch über die Wismutwirkung bei der Paralyse liegen ähnliche Berichte 
vor. So teilt Evrard einen Fall mit, bei dem vor der Behandlung starker Rhomberg 
bestand, die Knie- und Achillessehnenreflexe vollkommen fehlten, Pupillenträgheit 
und dazu fibrilläre Muskelzuckungen und andere eindeutige Symptome vorhanden 
waren. Nach einer Kur von 10 Wismuthydroxylspritzen (Curalues) trat eine auffallende 
subjektive und objektive Besserung ein und nach Abschluß derselben waren die 
Reflexe normal, Rhomberg und die früheren Sprach- und Gedächtnisstörungen 
waren geschwunden und der Patient war wieder arbeitsfähig. In einem anderen 
Falle will dieser Autor ebenfalls eine auffallende Besserung mit dieser Therapie 
erzielt haben, so daß er hofft, durch diese wenigstens Remissionen im Verlauf 
dieser Erkrankung erzielen zu können. Auch Levaditi sowie Lortat und Jacobi 
berichten über gute Erfolge der Wismutbehandlung der Paralyse. Letzterer empfiehlt 
hier speziell Chinin-Wismutjodid. Morris und Fourcade sahen indes gar keine 
Erfolge der Bi-Therapie bei der Paralyse. 


Lues congenita. 

Nach H. Müller gelingt es auch in sehr schweren Fällen der angeborenen 
Syphilis, ein schnelles Schwinden von Haut-, Schleimhaut- und Knochen- 
erscheinungen durch Wismut zu erzielen und das Leben der Säuglinge zu ver- 
längern. Freilich vermochte Müller in 6 Fällen niemals den Tod nach Ablauf von 3 bis 
6 Monaten zu verhüten. Er betont die Toleranz dieser Kranken gegen kleine (0:01) 
Dosen; bei 0'03 traten indes schwere Diarrhöen auf. M. H. Mery berichtet über 


Neuere Syphilistherapie. 35 


die außerordentlich günstige Wirkung des Bi (Luatol) bei einem 8 Monate alten 
congenital-luetischen Säugling, bei dem eine Schmierkur völlig versagte. Sehr gute 
Erfolge bei congenitaler Lues hatten auch Cajal und Spierer. Sie injizierten pro 
1 kg 0'01 Tre&pol und behandelten gleichzeitig auch die Mutter. Auch Marcus, der 
0:02 Trepol gibt, sah ähnliche gute Resultate, desgleichen Dejace, Levaditi, der 
besonders die erbliche Gehirnsyphilis glänzend beeinflußt sah, Walter und 
Röderer mit Sigmuth und verschiedene andere Autoren. 


Schwangerschaft. 


Hugo Müller betont zunächst, daß hier das Wismut gut vertragen werde. 
Das ausgetragene Kind einer bei der Befruchtung infizierten Mutter (papulo-pustu- 
löses Exanthem), welche als einzige Kur 14 Trepolspritzen à 2 cm? erhalten hatte, 
schien während der kurzen Beobachtungszeit nach der Geburt serologisch und klinisch 
gesund zu sein. Müller weist auf die Möglichkeit hin, daß Wismut eventuell durch 
die Milch auf das Kind übergehen könne. 


Serologische Einwirkung. 


Nach Fournier und Guénot bleibt die Wassermannsche Reaktion bei 
primärer, seronegativer Syphilis negativ, Rezidive treten nicht auf. Bei sero- 
positiver primärer Lues wird die Wassermannsche Reaktion negativ, allerdings 
oft erst einige Monate nach Abschluß der Behandlung. Wassermann, Sachs-Georgi 
und Hecht wurden in 6 Fällen, die Escher mit Tr&pol behandelte, innerhalb 5 Wochen 
nach der ersten Serie (12 Injektionen = 3'6 g}, 2 nach der zweiten Serie und 2 in 
der Dauer zwischen der zweiten und dritten Kur negativ. 

Bei sekundärer Lues wird die Wassermannsche Reaktion unter Wismut- 
behandlung gewöhnlich noch nicht nach der ersten, sondern meist erst nach der zweiten 
Serie negativ (Fournier und Guénot, Bloch, Rosner). Nach Escher wurde die 
Seroreaktion in 25 Fällen sekundärer Syphilis 3mal nach der ersten, 7mal nach der 
zweiten und in weiteren 7 Fällen nach der dritten, d. h. in 76% der Fällen, negativ. 
Schreus sah die Wassermannsche Reaktion bei Lues II durch Bi weniger prompt 
als durch Hg und Salvarsan beeinflußt werden, doch wird die Wirkung immerhin 
als befriedigend hingestellt. 

In der Frühlatenz erzielte Escher in 73% der Fälle und bei Lues Ill in 2 
von 6 Fällen ein Negativwerden der Seroreaktion. Barrio de Medina sah gerade in der 
Latenz eine außerordentlich gute Beeinflussung der Wassermannschen Reaktion durch 
die Bi-Präparate; sogar solche Fälle wurden negativ, die durch Salvarsan und 
Quecksilber nicht beeinflußt worden waren. Nach der Meinung dieses Autors 
ist daher das Wismut in erster Linie indiziert für latente Syphilitiker. 

Nach Hudelo und Rabut werden fast alle Syphilitiker unter Bi-Darreichung 
(Chinin-Wismutjodid) seronegativ, gleichgültig in welchem Stadium sie sich befinden. 
Otero bezeichnet die Wirkung des Wismuts auf Wassermannsche Reaktion und 
Liquor als überraschend. Bernhardt sah in 83% der sekundären und in 25% der 
tertiären Syphilis Negativwerden des Wassermann bei dieser Therapie, auch Sedlak 
sah im allgemeinen eine ganz ausgezeichnete Beeinflussung der Seroreaktion bei 
Syphilitikern aller Stadien. 

Im allgemeinen sind sich aber doch die meisten Kliniker darin einig, daß die 
Wassermannsche Reaktion und die anderen einschlägigen Seroreaktionen der 
Syphilis bei Bi-Darreichung erst nach einiger Zeitnegativ werden (Lehnert), und 
daß diese weniger intensiv als durch Salvarsan und Quecksilber beein- 

er 


36 Paul Mulzer. 


' flußt werden (Grenetund Drouin, Villemin, Bang und Kjeldaen u.a.). Villemin 
beobachtete wiederholt, daß eine schwache Wassermannsche Reaktion durch 
Bi verstärkt würde. Tartaru erblickt in der Tatsache, daß die Wassermannsche 
Reaktion sich durch Trépol unschwer beeinflussen läßt, einen Vorzug der Bi- 
Wirkung. Nach seiner Auffassung sind nämlich die Fälle, in denen die Wasser- 
mannsche Reaktion schnell negativ wird, prognostisch ungünstiger, weil die Abwehr- 
kräfte geringer sein sollen. Einmal negativ geworden, soll die Reaktion dann hier 
bedeutend länger negativ bleiben als nach jeder anderen Therapie. Auch Simon 
hält das Wismut hinsichtlich seiner Dauerwirkung auf die Wassermannsche 
Reaktion dem Salvarsan überlegen. 

Schubertsahnureine „geringeserologischeWirksamkeit“derBi-Therapie. 
Nach Baeker muß man, was den Einfluß der Wismuttherapie auf die Wassermannsche 
Reaktion betrifft, zwischen Früh- und Spätformen der Syphilis unterscheiden. 
Bei den primären und sekundären Fällen ist die Wassermannsche Reaktion bei einem 
großen Teil Schwankungen unterworfen, bei tertiären zeigt sich überhaupt kein Ein- 
flu (Bismoluol). Ducrey, Jeanselme, De Bello und andere Kliniker sahen über- 
haupt keinen Einfluß selbst der stärksten Wismutbehandlung auf die 
Wassermannsche Reaktion. „Der schwächste Punkt der Bi-Tnerapie scheint in 
der Einwirkung auf die Wassermannsche Reaktion zu liegen“ (Haxthausen). 

* 

Leider entfalten die Wismutpräparäte auch mitunter recht unangenehme Nach- 
wirkungen, die schon frūh erkannt und eingehend studiert wurden. Ich halte 
es für notwendig, daß auch der praktische Arzt, der sich ja leider schon ziemlich 
ausgedehnt der Wismutbehandlung in seiner Praxis bedient, genauestens alle, 
auch diealsnur vereinzelt vorkommend beschriebenen Nebenwirkungen 
kennt, da er wohl bei jedem Präparat damit rechnen muß. Ich beziehe mich 
auch hier im wesentlichen auf die ausländische Literatur. Die einschlägigen 
Erfahrungen der deutschen Autoren, die sich ja im allgemeinen mit diesen decken, 
werde ich bei der Besprechung der deutschen Wismutpräparate erwähnen. 


Lokale Nebenwirkungen. 

Lokal verursacht die Einspritzung besonders unlöslicher Wismutpräparate 
mehr oder weniger Schmerzen, die nach H. Müller besonders von den empfind- 
licheren romanischen Rassen schon bei dem Tre&pol recht unangenehm empfunden 
werden sollen. Dieser Umstand hat ja auch zu der Einführung des sog. „Trepol 
indolore“ geführt. Das Neoti&pol soll schon wieder stärkere Beschwerden machen 
(Escher). Meine Patienten, fast durchwegs kräftige junge Soldaten, haben beide 
Präparate als ziemlich schmerzhaft emj funden. Barrio de Medina lehnt die beiden 
ersten französischen Präparate eben wegen dieser ihrer großen Schmerzhaftigkeit 
überhaupt ab, desgleichen Nin Posadas, der sogar in enem Falle Absceßbildung 
nach ihrem Gebrauche beobachtet hat. Auch Lacapere und Galliot, Hudelo und 
Rabut und viele andere Autoren teilten mit, daß sie ebenfalls die Behandlung mit 
den Trepolpräparaten aufgäben, weil diese zu schmerzhaft seien. 


Nebenwirkungen allgemeiner Art. 
e Fieber. 
Fieber findet sich nach H. Müller seltener in Form der ausgesprochen hohen 
Temperatursteigerung, wie sie nach der ersten Salvarsaninfusion beobachtet wird, 
jedoch treten leichtere Temperatursteigerungen (38—38°5°) häufiger und nicht nur 


Neuere Syphilistherapie. 37 


nach der ersten Einspritzung auf. H. Müller sah bei einem Tabiker unmittelbar 
nach der 14. Spritze (A 1 cm? Trepol) Fieber bis zu 40° auftreten, das innerhalb 
von 3 Tagen abklang, und Lehnert in einem Falle 3 Stunden nach der zweiten 
Injektion Schüttelfrost, Brechreiz und darnach hohes Fieber und Stomatitis. 

Von leichteren allgemeinen Nachwirkungen beobachtet man nach Wismutdar- 
reichung gelegentlich Abgeschlagenheit, Kopfschmerz, Erbrechen, Appetit- 
losigkeit, Gewichtsabnahme (Schindler). Nach Milian haben Wismutein- 
spritzungen einen merklichen Einfluß auf das Allgemeinbefinden. Am häufigsten beob- 
achtet man Abspannung, Anorexie, Magenbeschwerden und Gewichtsverlust. Stets 
wird das Gesicht bleich und gibt allen mit Wismut behandelten Patienten ein 
charakteristisches Aussehen. | 

Simon beschreibt eine „Grippe bismuthique* als häufig, die aus Abgeschla- 
genheit, Kolik und Kopfschmerzen besteht, übrigens als Herxheimersche Reaktion 
gedeutet wird. Emery und Morin sahen einige Fälle von völliger Erschöpfung mit 
Notwendigkeit von Bettruhe, die in allgemeiner Benommenheit, leerem Kopf, Fieber 
und hypochondrischen Vorstellungen bestanden und meist Blutarme betrafen. Bei ein- 
zelnen Kranken sahen sie nach jeder Einspritzung Occipitalkopfschmerz auf- 
treten. Rosner sah häufig Diarrhöen nach Wismutanwendung und Ducrey in 
zwei Fällen eine Colitis ulcerosa. 

v Die häufigste Nebenwirkung der Wismutapplikation ist nach dem Urteil 
aller Autoren der sog. 
Wismutsaum. 

Er tritt in der Mehrzahl der Fälle nach einigen Bi-Spritzen auf als blaugraue 
oder blaubraune schmale Randzone der Schneidezahnränder (H. Müller), 
mitunter kann er aber auch schon nach der ersten Injektion beobachtet werden 
(Azoulay u. a.). Seinem Auftreten geht nach Nin Posadas ein eigentümliches 
Gefühl an den Zähnen voraus. Azoulay sowie Milian führen den Wismutsaum 
auf die Ablagerung von Wismutsulfid in den Bindegewebszellen der Cutis und vor 
allem in den Gefäßendothelien zurück. Zimmern, der ihn nur in einem kleineren 
Prozentsatz seiner Fälle und nur bei sehr schlechtem Zustand der Zähne sah, 
beschuldigt letzteren für das Entstehen dieser Nebenwirkung. 

Dieser Wismutsaum ist gewiß an sich harmlos (Bloch). Da er aber wochen- und 
monatelang nach Beendigung der Wismutbehandlung noch bestehen kann und, wie 
bereits bemerkt, so gut wie regelmäßig im Gefolge dieser auftritt, so ist der Gedanke von 
Pincus, daß er verräterisch für die Krankheit seiner Träger wirke, doch mehr zu 
beachten, um gewisse Unannehmlichkeiten gesellschaftlicher Art zu vermeiden. Aus dem 
Wismutsaum kann sich weiterhin gar nicht so selten ein weit ernsterer Zustand entwickeln, 
nämlich die 

Wismutstomatitis. 

Die eigentliche Wismutstomatitis, als deren leichtester Grad von vielen 
Autoren der eben besprochene Wismutsaum angesehen wird, dokumentiert sich in 
etwa 10% der Fälle (Milian) in Form von umschriebenen dunkelbraunen bis 
schwärzlichblauen, wie tätowiert aussehenden Strichen und Flecken, die 
in der Schleimhaut der Lippen, der Wangen, der Zunge, des Gaumens und der 
Tonsillen auftreten. H. Müller betont, daß er diese Verhärtungen bei seinen Fällen, 
die nur jeden 4. bis 5. Tag gespritzt wurden und zu möglichst guter Zahn- 
pflege angehalten worden seien, weit seltener beobachtet habe. 

In 10—30% der Fälle treten nach Milian, nach den Beobachtungen anderer 
Autoren auch seltener oder weit häufiger, dann entzündliche Erscheinungen 


38 ? Paul Mulzer. 


auf in Form von Gingivitis und Ulcerationen, seltener in-Form einer diffusen 
Stomatitis. Alle Autoren betonen aber, daß auch diese viel gutartiger seien als 
die bekannten Hg-Stomatitiden und daß sie durchschnittlich in 8-14 Tagen nach 
Aussetzen der Behandlung heilen. Von der Hg-Stomatitis soll sich diese Form noch 
dadurch unterscheiden, daß sie plötzlich auftritt, daß die Zunge unversehrt bleibt, 
daß nur eine geringe Salivation vorhanden ist und daß der Foetor fast vollkommen 
fehlt (Hudelo, Azoulay u.a.). 

Doch kommen auch schwerere Formen vor (Rosner u.a), die weniger leicht 
abklingen. Simon und Bralez beschreiben als eine besondere Form wuchernde 
Stomatitiden am Gaumen. H. Müller sah eine solche zwischen den Schneide- 
zähnen, die ungewöhnlich lang anhielt. Ganz schwere Formen der Wismutstoma- 
titis, die Azoulay als Stomatitis gravis bezeichnet, können unter schweren 
Allgemeinsymptomen und Intoxikationen zum Tode führen. Begleitet sind sie 
gewöhnlich von choleraähnlichen oder blutigen Diarrhöen und Albuminurie, sollen 
nie beim Menschen nach den üblichen Injektionen, sondern nur, experimentell 
erzeugt, bei Tieren vorkommen. Doch hat Spak bei vorsichtigster Trepol- und 
Neotr&epolanwendnng eine schwerste Ulceration der Wangenschleimhaut, 
verbunden mit Schwellung der gesamten Gingiva (spirillo-fusiforme Infektion!), 
starkem Foetor ex ore und heftigen Schmerzen gesehen. Es bestand in diesem Falle 
allerdings eine chronische Nephritis, die schon bei der Aufnahme des Patienten 
festgestellt worden war. 


Ätiologisch kommen für das Auftreten einer Stomatitis bismutica nach Milian und Perin 
die Größe der angewandten Dosen, der zeitliche Abstand der Injektionen und der Zustand der Zähne 
in Betracht. Die Verfasser beobachteten diese Komplikation meist nach der 6.— 10. intramuskulären 
Injektion. Vergrößerte man die Abstände der einzelnen Injektionen, dann trat die Stomatitis seltener 
und später auf. Bei schlechten Zähnen sah man sie nur an diesen entstehen. Azoulay nimmt an, 
daß die Ursache hierfür eine Infektion mit banalen Eitererregern im Stadium der Imprägnation 
sei, worauf dann im Stadium der Ulceration fusiforme Bacillen und Spirillen nachweisbar seien. 
Diese Annahme erscheint Azoulay gerechtfertigt durch das Tierexperiment, denn beim Hasen 
gelingt es, wovon auch ich mich stets überzeugen konnte, nicht, experimentell eine Wismutstomatitis 
zu erzeugen. Er ist Planzenfresser und für diese sollen die genannten Erreger nicht pathogen sein, 
während sie beim Hunde, dem Karnivoren, vorkommen und krankhafte Erscheinungen hervorzu- 
rufen pflegen. l : 

Histologisch ergab sich nach den Untersuchungen des gleichen Autors im Stadium der 
Imprägnation, daß der Transport des Wismuts durch die Blutgefäße eıfolgt; die Ausscheidung findet 
auf der dem Zahne zugekehrten Seite der Gingiva statt, während die von dem Zahn abgewendete 
Seite derselben mit ihrem starken Epithelbelag nichts durchtreten läßt. Von den behafteten Schichten 
bis hinauf in die höheren Anteile der Schleimhaut waren zahlreiche Mikroorganismen, u. zw. insbe- 
sondere Pneumokokken, nachweisbar. Im Stadium der Ulceration zeigt sich eine oberflächliche Schicht, 
bestehend aus polynukleärem zelligen Detritus und Mikroorganismen und darunter eine nekrotische, 
fibrinartige Masse mit zerfallenden Leukocyten. Gewebsinfiltration und entzündliche Veränderungen 
finden sich in der Tiefe an den Gefäßen und in der mittleren und tiefen Schicht reichliche Spirillen. 
Milian und Perin fanden in zwei Pigmentflecken der Unterlippe: Ablagerung feinster Wismutkörn- 
chen im Stratum capillare, u. zw. hauptsächlich in den Endothelzellen der Capillarschlingen sowie 
leichtere entzündliche Reaktion mit Dilatation der Gefäße bis in die tieferen Cutisschichten. 


Prophylaktisch kommt in erster Linie eine geordnete Zahn- und Mund- 
pflege in Betracht und 
therapeutisch sind zu verwenden alle die Mittel, die wir von der Behandlung 
der Hg-Stomatitis her kennen. Azoulay empfiehlt Spülungen mit absolutem Alkohol, 
Touschieren mit Salvarsan, Luargol oder 1%igem Methylenblau, eventuell intravenöse 
Salvarsanapplikation. Bernhardt rät zu 25%iger Tanninpasta und 2% iger Tannin- 
lösung. Im Falle stärkerer Entzündung wendet er Pinselungen mit 10—15 %igem 
Tanninglycerin an oder Tannin in Tinctura gallarum. 


Albuminurie und Nephritis. 


Blum bezeichnet als häufigste Komplikation der Wismutbehandlung neben 
der Stomatitis die Albuminurie. In einem Falle beobachtete er nach einer Ein- 


Neuere Syphilistherapie. l 39 


spritzung von 03 g Trépol neben schwerster Stomatitis eine Albuminurie mit 
epithelialen, granulierten und hyalinen Cylindern. Albuminurie und Cylindrurie 
verschwanden nach etwa 20 Tagen. GroBe Mengen abgestoBener Epithelien und 
Cylinder finden sich sehr häufig im Harnsediment (Thomas). Nach Schreus kommen 
sehr häufig Nierenreizungen (!/— 1/2% Eiweiß) nach Wismutbehandlung vor. 
Escher, Lacap£re und Galliot, Bang und Kjeldsen, Radaeli u.a. sowie die 
meisten französischen Autoren sahen leichte vorübergehende Albuminurien, ein 
Umstand, den H. Müller nicht so sehr auf die französischen Präparate als viel- 
mehr auf die von den Franzosen besonders anfangs geübte größere Dosierung in 
kurzen Intervallen zurückführt. Schwerere Nierenschädigungen, wie sie sich im 
Experiment leicht erzeugen lassen, sind in der Praxis anscheinend noch nicht 
beobachtet worden. Nur Simon beschrieb einen Fall, bei dem bei einem kräftigen, 
19jährigen Syphilitiker nach 4 Jnjektionen von 0'2 g Wismuthydroxyd, die 2mal 
wöchentlich verabreicht worden waren, starke Albuminurie mit heftigen Kopf- ` 
schmerzen und rasch vorübergehenden Delirien auftrat. Innerhalb 3 Wochen 
klang die Nephritis ab, die Simon als eine lokale Herxheimersche Reaktion 
und nicht als eine Wismutschädigung auffaßt. Auch Bickler sowie Neuendorf 
beobachteten bei einem bzw. zwei ähnlichen Fällen intensivere Nierenschädigungen 
mit positivem Albuminbefund, granulierten Cylindern und Erythrocyten im Sediment. 
Heuck sah, wie bereits erwähnt, nach Quinby stets Nephritis auftreten; nach den 


deutschen Präparaten beobachtete er dies in etwa 5%. 


Nach Blum kommt für das Auftreten einer Albuminurie in ersten Linie in Betracht eine 
Wismutimprägnierung der Niere. Diese verhindert die Ausscheidung und zwingt die Niere 
zu vermehrter Elimination des Metalls. Ferner begünstigen Schädigungen der Schleimhäute des Mundes 
eine Sekundärinfektion der Niere. Blum und Wallot sahen in 4 einschlägigen Fällen jedesmal 
eine leichtere oder schwerere, meist ulcerierende Stomatitis. Schließlich, an dritter Stelle, führt Blum 
als Ursache für die Albuminurie noch eine traumatische Wismutschädigung des Nieren- 
parenchyms an. 


Bemerkt sei noch, daß Milian und Perin während einer Wismutbehandlung 
nicht ganz selten ohne jegliche Schädigung des Nierenparenchyms eine Schwarz- 
färbung des eiweiß- und blutfreien Urins, der aber immer größere Mengen 
Wismut enthielt, beobachteten. Auch Nin Posadas sah einmal nach 0'2 Bi eine 
24 Stunden andauernde tief olivenfarbene Verfärbung des Urins, ähnlich dem 
Salolharn. Erwähnt sei auch, daß Schreus nach Wismutanwendung eine Balanitis 
erosiva mit gelblich schwärzlicher Smegmaverfärbung auftreten sah. 

Prophylaktisch ist immer, d. h. vor jeder Spritze, eine Untersuchung des 
Harns, u. zw. nicht nur chemisch, sondern auch mikroskopisch auf Cylinder 
vorzunehmen; bei pathologischem Befund Aussetzen dieser Therapie, eventuell 
Wahl eines anderen Wismutpräparates oder überhaupt eines anderen Medikamentes. 
Duhot empfiehlt als Prophylakticum gegen Nierenkomplikationen reichliche Milch- 
diät, wie bei Hg. Diese sowie die üblichen konservativen Maßnahmen kommen 
natürlich auch therapeutisch in Betracht. 

Hand in Hand mit den eben erwähnten Albuminurien und Nierenschädigungen 
sollen auch häufig Pollakisurie und Polyurie beobachtet werden. 


Hauterscheinungen. 


Auch mannigfache Hauterscheinungen wurden nach Wismutapplikation 
gesehen. Pinard und Marassi berichteten zum ersten Male hierüber. Bei einem 
34jährigen Manne mit unklarer Aortenläsion und positiver Wassermannschen 
Reaktion trat nach der 13., in wöchentlichen Abständen applizierten intramuskulären 
Injektion von 0:15 Bi-Hydroxyd plötzlich unter heftigem Juckreiz ein Exanthem auf, 


40 Paul Mulzer. 


das einer Dermatitis exfoliativa entsprach und besonders am Rumpf, in den 
Achselhöhlen und in der Inguinalgegend lokalisiert war. Gleichzeitig bestand eine 
leichte Albuminurie und ein starker Zahnfleischsaum. 

Hudelo und Richon sahen nach 8 Injektionen von Bi-Hydroxyd bei einer 
sowohl gegen Hg wie gegen Salvarsan überempfindlichen Patientin eine besonders 
in den Gelenkbeugen lokalisierte Erythrodermie in Form großer flächenhafter, 
unscharf begrenzter Herde, die kleienförmig abschuppten und absolut trocken, nie 
nässend waren. Gastou und Pontoizeau sahen 2 Tage nach der 3. intravenöen 
Einspritzung von 3 cm? kolloidalem Wismut (Robin) ein leicht juckendes papulo- 
squamöses Exanthem mit Einzelefflorenscenzen bis zu 4 mm Durchmesser, das 
hauptsächlich am Rumpf lokalisiert war. Auch Galliot berichtet über 3 Fälle von 
Wismuterythem nach 12 Injektionen von Bi-Hydroxyd. Ein scarlatiniformes 
Exanthem in der Inguinalgegend sah Levy-Frankel nach 2 Injektionen von 
Quinby auftreten; Urticaria sahen Neuendorff, H. Müller, Lepinay u. a. 
Nicolas, Gate und Lebeuf beobachteten bei einem Patienten, der nach Neo- 
salvarsanbehandlung ein scarlatiniformes Exanthem gehabt hatte, das nach 3 Tagen 
wieder abklang, unter der Wismutbehandlung ein lichenoides Exanthem, das 
aus peripilären, stark nadelkopfgroßen, leicht zugespitzten Papeln von rosaroter bis 
dunkelroter Farbe und mit feiner oberflächlicher Schuppenbildung bei geringem Juck- 
reiz bestand. Jeanselme und Lorotat-Jacob machen übrigens darauf aufmerksam, 
daß nach einem Salvarsanexanthem sehr oft Überempfindlichkeit gegen Hg und 
Bi zurückbleibt. Auch nach deutschen Präparaten wurden, wie wir sehen werden, 
Exantheme beobachtet, doch scheinen sie nach den ausländischen Ersatz- 


präparaten des Tre&pols häufiger vorzukommen. | 

Freudenberg führt übrigens die Entstehung von Wismutexanthemen auf kleinere arterielle 
Embolien zurück. : 

Auch Hämorrhagien wurden nach Wismutanwendung beobachtet. So sah 


Maranon solche bei 3 Syphilitikern auftreten, so daß er zu Vorsicht bei Arterio- 
sklerotikern und Personen warnt, die zu Hämorrhagien neigen. Erwähnt sei 
noch, daß Spillmann bei einem Syphilitiker eine nach jeder Wismutinjektion sich 
wiederholende Conjunctivitis sah. 

Schließlich sei noch bemerkt, daß Simon und Bralez im Verlaufe einer Bi- 
Kur eine Neuritis optica acuta, eine acute Meningitis und eine acute 
Meningomyelitis, die tödlich verlief, beobachteten. Die Autoren fassen diese 
Fälle aber nicht als medikamentöse Schädigungen auf, sondern sind der Ansicht, 
daß sie auf Lues beruhen. Ihrer Ansicht nach sind sie nicht infolge dieser Behand- 


lung, sondern trotz ihr entstanden. 


Deutsche Wismutpräparate. 


Bismogeno!. 


Das erste in Deutschland hergestellte Wismutpräparat ist das „Bis- 
mogenol“ der Firma Tosse-Hamburg. Es stellt eine Suspension eines Wismut- 
oxybenzoates in entsäuertem Olivenöl dar und enthält 59—60% Wismut, d.h. 1 cm? 
der gebrauchsfertigen Suspension 0'05— 0:06 g Wismut. Es soll sich hier um ein 
basisch oxybenzoesaures Wismut, das mit Wismutsubsalicylat identisch oder sehr 
verwandt ist, handeln. „Nähere Angaben über die Oxybenzoesäure, mit der das 
Wismut im Bismogenol verbunden ist, wurden bisher nicht gemeldet, es steht 
somit die Frage noch offen, ob es sich um ortho-, meta- oder para-Oxybenzoe- 


säure dreht.“ 


Neuere Syphilistherapie. dp 


H Deselaers führte das Bismogenol in die Therapie der Syphilis ein. Nach 
seinem Urteil und nach dem zahlreicher anderer Autoren leistet dieses Mittel zum. 
mindesten das gleiche wie die französischen Originalpräparate. Der Primäraffekt 
wird gut und prompt beeinflußt (Greif, Voigt, Plöger, Papasoglou, Ritter), 
wenn auch die Wirkung auf die Spirochäten nicht so hervorragend zu sein scheint. 
So fand Nagel noch nach 3-4 Injektionen lebende Pallidae. Nach den Beobach- 
tungen dieses Autors soll auch das Infiltrat der Sklerosen, die sich rasch über- 
häuten, oft noch länger bestehen bleiben, so daß man wohl Voigt zustimmen 
muß, wenn er die primäre Syphilis vorläufig noch mit Salvarsan behandelt wissen 
will. Die sekundäre Lues stellt nach Holländer die Domäne der Bismogenol- 
therapie dar, auch Eliasow und Sternberg sahen besonders hier gute Resultate. 
Exanthemerscheinungen papulöser Art schwinden rasch (Plöger); Voigt sowie 
Zimmern beobachteten dabei häufig eine Herxheimersche Reaktion, die bei 
zweien der Patienten eine urticariele Form annahm und erst nach 3 Tagen 
ihren Höhepunkt erreichte. Die Drüsenschwellungen werden nach Nagel 
auifallend rasch resorbiert, während dies nach Voigt, Neuendorff u. a. aber 
weniger prompt der Fall ist. Ersterer rät, sie nach dem Vorschlage Herxheimers 
mit einer 10% igen Bismogenolsalbe zu bedecken, wonach er bessere Resultate ge- 
sehen haben will. Schreus beobachtete gelegentlich besonders gute Einwirkung 
auf die Alopecia specifica. Auch die tertiären Erkrankungen verschwinden meist 
schnell nach einigen Bismogenoleinspritzungen. 

Vorsicht ist nach Görl und Voigt sowie nach Voehl bei syphilitischen 
Herzkrankheiten geboten. Um schwere, lebenbedrohende Zustände, die nach 
einem zu brüsken Vorgehen hier entstehen können, zu vermeiden, rät er, diese Fälle 
stets mit Jod oder Hg vorzubehandeln. Auch dürfen hier keine so großen Dosen, 
wie sie Deselaers empfohlen hat — je 1 cm? — genommen werden, sondern es 
muß mit 0'2 cm? begonnen und dann langsam bis 0'8 gestiegen werden. 
Zimmern sah bei zwei Fällen von Tabes nach Bismogenoleinspritzungen Rück- 
gang der Ataxie und der lancinierenden Schmerzen. 

Über die Wirkung auf die Wassermannsche Reaktion sind die Ansichten 
ziemlich geteilt. Nagel sah gerade hier eine ganz besonders gute Wirkung des 
Bismogenols. Ein unverhältnismäßig großer Prozentsatz von den Kranken hatte nach 
Beendigung der (sc. reinen Bismogenol-) Kur eine negative Wassermannsche 
Reaktion, nämlich von insgesamt 80 Kranken mit einer positiven Wassermannschen 
Reaktion wurden nicht weniger als 67 negativ, darunter von 19 Syphilis I/II mit vierfach 
positiver Wassermannscher Reaktion allein 17 und von 39 Syphilis III mit vierfach 
positiver Wassermannscher Reaktion 32 und von 8 Lues latens mit vierfach positiver 
Wassermannscher Reaktion 5. Bei den Nachuntersuchungen von 79 Patienten hatten 
nicht weniger als 65 eine negative und nur 14 eine positive Wasserman nsche Reaktion. 
Im seronegativen Primärstadium soll Bismogenol bisweilen provokatorisch wirken 
insofern, als langsam, aber sicher, oft erst einige Wochen nach Beendigung der Kur, 
ein Umschlag eintritt, was auch Ritter beobachtete. Einmal negativ geworden, soll 
die Reaktion dann aber auch dauernd negativ bleiben. Nach den Erfahrungen an- 
derer Autoren, wie Voigt, W.Richter, Neuendorff, Dietl u. a., wird die Wasser- 
mannsche Reaktion viel langsamer negativ als nach den anderen Syphilisheil- 
mitteln. Nach Ritter zeitigt eine Bismogenolkur zwar einen langsamen, aber dafür 
auch desto intensiveren Erfolg bezüglich der Umstimmung der Wassermannschen 
Reaktion. Nathan und Martin sahen aber gerade hier oft rasches Umschlagen der 
negativen Phase in die positive. | 


42 Paul Mulzer. 


Deselaers beobachtete nach Bismogenoleinspritzungen, die überhaupt nicht 
schmerzhaft waren, nur in vier Fällen einen leichten Bismutsaum, sonst keinerlei Neben- 
wirkungen. Auch Grimme sowie Prater halten das Bismogenol für eine ungiftige 
Verbindung, die gegenüber dem Tr&pol den Vorzug der absoluten Reizlosigkeit besitzen 
soll, was aber nicht ganz stimmt, denn nicht selten schmerzen, wie auch ich bestätigen 
kann, auch diese Injektionen sehr (Heuck). Boelsen hat in 54% der von ihm mit 
Bismogenol behandelten Fälle pathologische Veränderungen in der Mundhöhle be- 
obachtet, u. zw. bei 44% Zahnfleischsaum, bei 9% Gingivitis, umschriebene Pigmen- 
tierungen und Saum und in 6% Stomatitis ulcerosa. Neuendorff hatte hier sogar 
recht unangenehme Nebenwirkungen zu verzeichnen, obwohl er keine zu 
hohen Dosen anwendete, nämlich 3mal wöchentlich nur à 5 g bis zu 24 Injektionen, 
also bis zu einer Gesamtdosis von 13 cm?. In 13 Fällen traten dabei Kopfschmerzen, 
in 4 Fällen Erbrechen, in 3 Fällen starkes Fieber und 15mal Wismutsaum auf. In 
vier Fällen sah er schwere Nephritis mit Eiweiß, Cylindern und Blutdruck- 
steigerung. Neuendorff rät daher mit Recht auch bei der Bismogenolbehandlung 
zur Vorsicht. Dieser Autor beobachtete übrigens hier auch einen Fall, der wismut- 
resistent war und erst nach Salvarsan abheilte. 

Was die Dauerwirkung des Bismogenols betrifft, so ist sie nach Nagel, der 
von 100 ausschließlich mit diesem Mittel behandelten Patienten 79 nachuntersuchen 
konnte, ausgezeichnet. „Bei keinem einzigen der 79 Kranken hatte sich ein klinisches 
Rezidiv eingestellt, trotzdem einzelne bis zu 20 und 23 Wochen nach der ersten 
Bismogenolkur unbehandelt geblieben waren.“ 

Jesser, W. Richter sowie Papasoglou empfehlen das Bismogenol besonders 
zur Behandlung quecksilber- und salvarsanresistenter Fälle. 


Milanol. 


Das Milanol, das basisch trichlorbutylmalonsaure Wismut, ist ein weißes, 
lockeres, amorphes Pulver, das in Wasser und Alkohol unlöslich ist. Für die 
Syphilisbehandlung wird es von der Firma Athenstaedt und Redeker, Hemelingen, 
in Form einer stabilen Emulsion gebrauchsfertig abgegeben. 

Dieses Mittel wird von Felke zur Behandlung der Syphilis empfohlen, da es 
im Tierversuch recht wirksam — die originäre Kaninchensyphilis soll durch (Up g 
pro 1%g Tier in wenigen Tagen rezidivfrei ausheilen — und gut verträglich ist. 
Auch die Resorption des Mittels soll sehr gut sein. Beim Menschen gab er 
10—14 Injektionen innerhalb von 30 bis 40 Tagen, anfangs 1:5 cm? tief intra- 
muskulär, ebenso und unter den gleichen Vorsichtsmaßregeln wie beim Hg mit 
2 freien Tagen zwischen den Injektionen, von der sechsten ab meist 1 cm? mit 
3—4 freien Tagen. 

Das Milanol stellt nach den Erfahrungen dieses Autors an einer größeren Zahl 
damit behandelter Syphilitiker aller Stadien ein durchaus brauchbares Anti- 
syphiliticum dar. Die Rückbildungen der klinischen Erscheinungen beginnt etwa 
48 Stunden nach der ersten Einspritzung und pflegt am überraschendsten bei hyper- 
trophischen Papeln zu sein, Schleimhautpapeln dagegen sollen etwas langsamer 
weichen. Aus Primäraffekten schwinden die Spirochäten durchschnittlich nach 
48—85 Stunden; nur sehr derbe Papeln bewahrten ihre Erreger unter Umständen 
etwas länger. 

Auffallend war die gute Beeinflussung der Serumreaktion durch Milano; 
bei nicht zu alter Lues trat durchweg im Verlauf der ersten Injektionsserie ein Rückgang 
bis meist zu vollständigem negativen Ergebnis ein. 


Neuere Syphilistherapie. 43 


 Nebenerscheinungen hat er außer einer gerade bei den mit Milanol behan- 
delten Patienten am geringfügigsten vorhandenen Wismutimprägnation am Zahnfleisch 
keine beobachtet. 
Spirobismol. 

Das Spirobismol (Chemisch-pharmazeutische A.G. Bad Homburg) stellt eine 
Kombination eines wasserlöslichen und eines wasserunlöslichen Wismutpräparates 
dar. Es enthält in öliger Suspension wasserlösliches Wismutkalium-Natrium- 
tartrat und unlösliches Wismut-Chininjodid, u. zw. im Kubikzentimeter etwa 
35 mg metallisches Wismut, 25 mg Jod und 15 mg Chinin. Für eine Kur sind nach 
Citron insgesamt etwa 1—12g Wismut erforderlich. Die .intramuskuläre Injektion 
des Präparates ist schmerzlos und gut verträglich. Tierexperimentell ist es von Fränkel 
geprüft; es ergab sich, daß es hinsichtlich seiner Wirksamkeit auf die experimentelle 
Kaninchensyphilis den übrigen Wismutpräparaten mindestens ebenbürtig ist. 

Nach Citron, Joseph, Reicher u.a. wirkt es gut in allen Stadien der Syphilis, 
besonders aber bei Spätsyphilis der inneren Organe. Auch die Taboparalyse 
wird gut beeinflußt. Auf die Wassermannsche Reaktion wirkt es ebenfalls gut ein 
(Citron, Joseph). Nebenwirkungen sind so gut wie keine bisher beobachtet worden. 

Das Präparat steht dem Quinby nahe; Schuhmacher weist darauf hin, daß 
hier drei specifische Mittel miteinander kombiniert sind, so daß die Beurteilung der 
reinen Wismutwirkung unsicher sei. 


Nadisan. 


Das Nadisan der Firma Kalle & Co., Biebrich, ist das Kaliumsalz der Bismutyl- 
weinsäure, das mit kolloidalem Wismuthydroxyd gesättigt ist. Im Wasser sich zu einer 
neutralen, milchig opaken Flüssigkeit lösend, fällt es Eiweißstoffe nicht, auch bleiben 
die Blutkörperchen unter seinem Einfluß unverändert. Zum Gebrauch wird es in Öl 
suspendiert. In 1 cn? dieser Suspension sind 0'05 g Wismut enthalten. Das Präparat 
wird intramuskulär injiziert, in neuerer Zeit von Guttmann auch für die intra- 
venöse Anwendung empfohlen. 

H. Müller, Blass und Kratzeisen untersuchten das Nadisan pharmakologisch 
und toxikologisch. Es ergab sich dabei, daß es in wäßriger Lösung und bei intra- 
venöser Einverleibung bis zu 0'001 g (auf Wismut berechnet) pro 1 %g Versuchstier 
vertragen wird. Die toxische Dosis beträgt 0:0017 und die letale 00051 g. Die thera- 
peutische Wirkung war im Tierversuch befriedigend. 

Beim Menschen wird durchschnittlich 12mal 1 cm? Nadisan=0'1 g Nadisan 
= 0:05 g Bi appliziert. Die Einspritzung ist meist schmerzlos, wenn nicht, dann kann 
1 g steriles Olivenöl mit einigen Prozenten Cycloform zugesetzt werden. 

Der serologische Erfolg war nach den Erfahrungen dieser Autoren sehr gut; 
bei 48 Fällen primärer und sekundärer Syphilis wurde die Wassermannsche Reaktion 
spätestens nach 12—14 Injektionen negativ. Nach Guttmann wurde die Wasser- 
mannsche Reaktion in 50% der Fälle negativ. Aber auch die klinischen Resultate 
waren sehr günstig (Guttmann), wenn auch Versager vorkommen. Der Einfluß von 
Nadisan auf die Spirochäten entsprach dem anderer Wismutpräparate (Guttmann). 
H. Müller hebt insbesondere einen Fall von tertiärer Syphilis hervor, in welchem 
der weiche Gaumen eine in die Pharynxwand übergehende große gummöse 
Ulceration aufwies und das knöcherne Nasenseptum nekrotisch war. Nach 2 Injek- 
tionen von Nadisan trat schnelle Reinigung der Geschwüre ein. 

Das Präparat wurde durchweg gut vertragen. Gelegentlich können von 
den üblichen Nebenwirkungen einer Wismutbehandlung beobachtet werden: 


44 Paul Mulzer. 


Zahnfleischsaum, Stomatitis, Albuminurie, Fieber, Verstopfung, Diarrhöe, Erbrechen, 
hochgradige Erregung, Schmerzen am Hinterkopf, Geschmacksempfindungen und 
Speichelfluß (Müller) und von Hautkomplikationen bei 2000 Nadisanspritzen 
1 fixes urticarielles Exanthem, I leichte Purpura der Gliedmaßen und 1 scarlatini- 
formes Exanthem. Anämisches Aussehen trat bei etwa einem Drittel der Fälle auf. 
Guttmann sah Nierenschädigung nur einmal, rät aber doch zu ständiger Urin- 
kontrolle während der Wismutbehandlung auf Albuminurie und Nierenepithelien. 


Bisan. 


Das Bisan der Firma Bayer ist ein wasserlösliches Präparat mit einem Gehalt 
von 22% Wismut. Seine chemische Zusammensetzung ist noch nicht bekannt. 

Nach H. Th. Schreus hat es im Tierversuch nur geringe Giftigkeit gezeigt. 
Er verwendet es in der Syphilistherapie in öliger Suspension von 20 bis 50%, ent- 
sprechend einem Wismutgehalt von 004 bis 0'1 g pro lei Zuweilen benutzte er 
auch eine 5- oder 10%ige wässerige Lösung zu intramuskulären und intravenösen 
Injektionen. Für eine Kur kommen im allgemeinen 10— 12 Injektionen in Abständen 
von 2 bis 4 Tagen in Frage. Zur Besserung der Verträglichkeit kann man, wie 
Felke vorgeschlagen hat, nach der Hälfte der genannten Injektionen eine Pause 
von 10 bis 14 Tagen einschalten. 

Die Spirochäten sollen nach Bisan schneller als nach den anderen Wis- 
mutpräparaten schwinden, infolgedessen auch höheres Fieber, bis zu 39° und 
darüber, am Tage nach der Injektion häufiger auftrat. Herxheimersche Reaktion 
wurde nur einmal stark und einige Male in schwachem Grade gesehen. Die 5% ige 
Lösung des Präparates ist weniger schmerzhaft, die ölige Suspension aber mehr 
wirksam. Gelegentlich wurden auch Nierenreizungen gesehen. Die Balanitis erosiva 
mit Braunfärbung des Smegmas, die Schreus in zwei mit Bisan und in einem mit 
Trepol behandelten Falle sah, wurde schon an anderer Stelle erwähnt. An Schnellig- 
keit der Wirkung soll das Bisan dem Salversan nachstehen, das Quecksilber, dessen 
Nebenwirkungen ernster sind, aber übertreffen. 

Auch Evening sah gute Erfolge nach Bisanbehandlung; in einem Falle fand 
er indes noch nach der 7. Injektion Spirochäten. 


Cutren. 


Das Cutren der Firma Passek & Wolff, Hamburg, eine Jodoxychinolin-(Yatren-) 
Wismutverbindung, wurde von Patzschke in einer Anzahl von Fällen primärer und 
sekundärer Syphilis geprüft. Dieses Präparat scheint weniger spirochätocid als 
die anderen Wismutverbindungen zu sein, da die Spirochäten in einer größeren 
Anzahl der Fälle erst nach 6—8 Tagen bzw. erst nach 3 Injektionen, ja öfter sogar 
erst nach 4—5 Einspritzungen bzw. nach 12—14 Tagen verschwunden waren. Die 
Seroreaktion wird durch Cutren nicht so gut beeinflußt wie durch Salvarsan; es 
treten auch häufiger und länger dauernde positive Schwankungen auf. Evening 
sah bei der Verwendung von Cutren bessere Erfolge als bei Bisan und Bismogenol 
sowohl hinsichtlich der spirochätociden Wirkung als auch der klinischen Produkte. 
Patzschke warnt davor, sich bei primärer Lues nur mit einer Wismutkur zu 
begnügen. 

Das Neocutren der gleichen Firma stellt eine ölige Aufschwemmung der 
durch Kupfer aktivierten Bismutsalze der Jodorthooxychinolinsulfo- und Salicyl- 
säure im Verhältnis 1:20 dar. D. M. Lewy hat mit diesem Präparat in einer Anzahl 
von Fällen gute Ergebnisse erzielt, so daß er zur weiteren Nachprüfung auffordert. 


Neuere Syphilistherapie. 45 


Der gleiche Autor hat auch ein weiteres Wismutpräparat der chemischen Fabrik 
Passek & Wolff, das sog. Solvitren, das die Bestandteile des Neocutren in wasser- 
löslicher Form enthält und zur intravenösen Injektion bestimmt ist, geprüft. Er hat 
damit gleich gute Erfolge gehabt und keine ernsteren Nebenwirkungen gesehen. 

Die Firma Stroschein empfiehlt das Wismulen, das nach Bruck und Wein- 
berg, welche dieses Mittel geprüft haben, ein wasserlösliches Präparat von der 
Zusammensetzung C,H,,NO,Bi darstellt und ebenfalls intravenös verabreicht wird. 

Beide Präparate scheinen mir aber durchaus noch nicht so eingehend 
klinisch erprobt zu sein, daß eine so apodıktische Reklame und Empfehlung 
seitens der Fabriken gerechtfertigt ist. Dazu kommt noch, daß es sich hier um 
intravenöse Wismutanwendung handelt, die, wie wir wiederholt gesehen haben, 
weit gefährlicher ist als die intramuskuläre. Bei der derzeitigen großen Neigung 
auch der praktischen Ärzte, die intravenöse Applikation der Syphilisheilmittel zu be- 
vorzugen, besteht die dringende Gefahr, daß diese, verführt durch die in ihre 
Hände gelangenden „Gebrauchsanweisungen“ solcher Firmen, Mittel, welche noch 
nicht genügend erprobt sind, intravenös einspritzen. Ich verweise hier auf die weiter 
unten folgenden Ausführungen von Kolle und Perrin und empfehle sie dringend 
der weitestgehenden Beachtung für chemische Fabriken und Ärzte. Unter 
allen Umständen ist es aber im Interesse der Volksgesundheit zu fordern, daß alle 
Nebenwirkungen ernster Art, die mit irgend einem neuen Präparat erzielt worden 
sind, sofort veröffentlicht werden, eventuell durch Rundschreiben der 
Firmen, welche diese Präparate herstellen und empfehlen! Sovitl ich 
weiß, sind bereits vor längerer Zeit in Berlin zwei Todesfälle nach intravenöser 
Wismutapplikation eingetreten, u. zw. gerade einer nach Wismuleninjektion 
und einer nach Solvitreneinspritzung, ohne daß diese üblen Zufälle meines 
Wissens bisher veröffentlicht oder sonstwie weiteren Kreisen bekannt gemacht wurden. 

Erwähnt sei schließlich noch das Bisuspen der Firma Heyden, Radebeul- 
Dresden, eine Suspension von Wismutsubsalicylat, welches Heuck sowie Dietel 
mit zufriedenstellenden Erfolgen in einer größeren Anzahl von Fällen anwendeten, 
und das Präparat Caspis der Firma Leopold Caselle, Frankfurt, eine „nach be- 
sonderem Verfahren hergestellte Wismutverbindung“ in öliger Suspension, welche 
H. Poehlmann ausprobierte und sie dem Bismogenol hinsichtlich ihrer Wirkung 
auf die klinischen Erscheinungen und auf die Seroreaktion gleichstellte. Sie soll 
jedoch weniger Nebenerscheinungen als dieses machen. 

Wenn wir nun das Vorhergehende kurz zusammenfassen, so müssen wir sagen, 
daß wir im Wismut ein Mittel besitzen, das im allgemeinen ganz aus- 
gezeichnet auf die syphilitischen Erscheinungen aller Stadien der 
Syphilis wirkt, und daß die deutschen Wismutpräparate den französischen 
Originalpräparaten zum mindesten gleich sind. Hinsichtlich der Schmerz- 
losigkeit der Einspritzung und des Ausbleibens stärkerer Nebenwirkungen scheinen 
die deutschen Präparate, so insbesondere das Bismogenol, diese sogar noch zu 
übertreffen. 

Im Tierexperiment ist von Levaditi und anderen Forschern festgestellt, 
daß die Wismutpräparate ausgesprochen spirochätocid wirken. Auch neuere, 
diesbezügliche Untersuchungen bestätigen uns dies ständig. Aus der p.30 und 31 
angeführten Tabelle geht das gleiche hervor, aber auch, daß diese Wirkung vom 
Salvarsan weit übertroffen wird, während das Quecksilber dem Wismut 
hierin entschieden nachsteht. Auch bei der menschlichen Syphilis tritt, wie 


46 Paul Mulzer. 


wir gesehen haben, gerade diese Wirkung sehr hervor, aber auch die Tatsache, daß 
es bei allen Präparaten in dieser Hinsicht oft weitgehende Unterschiede 
gibt, bzw. daß die spirochätocide Wirkung des Wismuts im großen und 
ganzen lange nicht so einheitlich ist wie beim Salvarsan. Patzschke 
machte auf diesen Punkt mit Recht besonders aufmerksam. 


Nach Kolle unterscheiden sich die Wismutpräparate von den Arsenobenzolpräparaten nach 
drei Richtungen ` sie bes Gen einen sehr geringen chemotherapeutischen Index (bei intravenöser Ein- 
verleibung), wirken zumeist sehr langsam und nur indirekt. Sie wirken seiner Auffassung nach 
nicht spirochätocid wie die Arsenobenzole, sondern nur entwicklungshemmend, während wir, 
Plaut und ich, im Gegensatz hierzu eine ausgesprochene spirochätocide Wirkung der 
meisten der von uns geprüften Wismutpräparate feststellen konnten. 

Milian bezeichnete hinsichtlich der Wirkung auf die Spirochäten und die 
klinischen Erscheinungen die Aktionskraft des Quecksilbers mit der Zahl 4, 
die des Salvarsans mit 10 und die des Wismuts mit 7, ein Verhältnis, das 
im allgemeinen für die gut wirkenden Wismutpräparate bis jetzt wenigstens zu- 
treffen dürfte. Nach Heuck, der eine große Anzahl von Syphilitikern der verschie- 
densten Stadien einer reinen Wismutbehandlung unterworfen hat, dürfte sich diese 
jedoch im allgemeinen kaum als wirksamer erweisen als eine starke Queck- 
silberkur. 


Der schwächste Punkt der Wismutwirkung scheint mir die Einwirkung 
der Wismutpräparate auf die serologischen Reaktionen der Lues zu sein, 
was wohl auch aus den vorstehenden Ausführungen ersichtlich ist. 

Auch über die Dauererfolge liegen noch nicht genügend lange Beob- 
achtungen vor, um die Wirkung der reinen Wismutbehandlung in dieser Hinsicht 
einwandfrei feststellen zu können. Nur so viel scheint mir bis heute schon klar, 
daß sich das Wismut allein zur Vornahme einer Abortivkur nicht eignet. 
Die meisten Autoren, insbesondere auch Kolle, vertreten wohl auch diese Ansicht, 
auf die ich später noch ausführlicher zurückkommen werde. Patzschke will nur die 
Fälle von Primäraffekten für die alleinige Cutrenbehandlung reserviert wissen, bei denen 
nach 1—2 Injektionen keine Spirochäten mehr vorhanden sind; ist das nach dieser Zeit 
noch der Fall, dann soll man sofort mit Neosalvarsan kombinieren. Ich halte 
auch dies für falsch, weil dabei viel kostbare Zeit verloren wird. Gerade 
bei der Abortivkur handelt es sich, wie wir sehen werden, darum, mit möglichst 
hohen Dosen Salvarsan möglichst baid eine schlagartige sterilisierende Wirkung zu 
erzielen. Diese entfaltet das Wisınut aber nicht, wenigstens nicht in den bisher 
bekannten und angewendeten Präparaten. Deshalb möchte ich bis jetzt wenigstens 
im Gegensatz zu Felke das Wismut überhaupt von der Behandlung der 
primären Lues, u. zw. sowohl der .seronegativen wie der seropositiven, 
ausgeschaltet wissen, auch wenn es in Kombination mit Salvarsan ge- 
schieht. Ausgenommen natürlich sind hiervon die Salvarsan- und Hg-refrak- 
tären und überempfindlichen Fälle. Diese bilden entschieden die Domäne 
des Wismuts und schon darum müssen wir Levaditi außerordentlich dankbar 
sein, daß er der leidenden Menschheit dieses Präparat schenkte. 

Die rastlose chemische Industrie ist gegenwärtig immer noch bemüht, die 
bereits vorhandenen Wismutpräparate zu verbessern. Vielleicht können dann noch 
günstigere Wirkungen der Wismuttherapie erzielt werden. Zu warnen ist aber, wie 
ich soeben bemerkt habe, mit Kolle und Perrin ganz entschieden davor, daß 
Wismutpräparate, die aus spekulativen Gründen auf den Markt geworfen werden, 
ohne ausgedehnte tierexperimentelle und praktische Unterlagen kritiklos 
angewendet werden. Dazu ist das Wismut auch als Depot viel zu gefährlich, 


Neuere Syphilistherapie. 47 


da es als solches noch lange im Körper bleibt. Nur mit tastender Vorsicht darf 
daher, wie Kolle fordert, die Wismuttherapie klinisch erprobt und angewendet 
werden, da erst scharfbegrenzte Indikationsgebiete gefunden werden müssen. 
| Wenn wir die im Vorhergehenden mitgeteilten Resultate der Prüfung der 
neueren Syphilisheilmittel und ihrer Anwendung überblicken, so fällt uns auf, zw 
wie ganz verschiedenen Ergebnissen die einzelnen Autoren gelangt sind. 
Während die einen das oder jenes Mittel als ganz besonders geeignet für die Be- 
handlung der Syphilis empfehlen, nie oder nur selten Nebenwirkungen gesehen und 
so gut wie gar keine Rezidive beobachtet haben, lehnen andere gerade diese Mittel 
als wenig wirksam vollkommen ab und bezeichnen sie als mehr oder weniger toxisch. 
Es spielt sich hier genau dasselbe ab, wie wir es besonderes in der ersten Zeit der 
Salvarsanära zu sehen gewohnt waren. Und dabei kann und muß man aber doch 
annehmen, daß die Prüfungen, die meist an Uhniversitätskliniken oder größeren 
Fachabteilungen der Krankenhäuser vorgenommen worden sind, von erfahrenen 
Kennern der Syphilis sine ira et studio und in technisch völlig einwandfreier Weise 
ausgeführt wurden. Wie ist das zu erklären?! Ist es nicht möglich, daß dies auf eine 
Verschiedenheit der zur Zeit herrschenden Syphilisinfektionen zurück- 
zuführen ist? Dieser Gedanke, den in jüngster Zeit auch Evening ausgesprochen hat, 
hat sich mir schon oft aufgedrängt und bildete auch in erster Linie die Veranlassung, daß 
ich gemeinsam mit Plaut in der hiesigen Forschungsanstalt für Psychiatrie möglichst 
zahlreiche Fälle solcher Syphilis verimpfte; die Tatsache, daß es uns gelang, klinisch 
wie serologisch zwei so grundverschiedene Stämme zu finden, wie es unser Sog. 
Mulzer-Stamm und der Kolle-Stamm ist, spräche an sich wohl schon dafür. Auch 
unter den anderen Stämmen, die wir neu anlegen und eine Zeitlang passager weiter- 
verimpften konnten, glauben wir, gewisse Unterschiede wahrgenommen zu haben, 
u. zw. in klinischer wie in therapeutischer Hinsicht. Auch Levaditi will bekanntlich 
4 verschiedene, im Tierexperiment genau differenzierte Stämme aus dem Blute 
syphilitischer Menschen isoliert haben. Ähnliche Mitteilungen liegen aus Amerika 
vor (Nicholls u.a.). 
Es würde sich wohl verlohnen, derartige Untersuchungen, die natürlich sehr 
kostspielig sind, auf eine ganz breite Basis zu stellen, da sie vielleicht doch 
geeignet sind, Licht in viele noch immer unklare Fragen der Syphilisätiologie zu bringen. 


B. Spezielle Therapie der Syphilis. 


Im Vordergrund unserer therapeutischen Bestrebungen der Syphilis gegenüber 

steht zurzeit die 
Abortivkur der Syphilis. 

Auf Grund eingehender tierexperimenteller Studien hat bereits in den Jahren 
1907 und 1908 Uhlenhuth sich dahin ausgesprochen, daß man mittels des Atoxyls, 
eines organischen Arsenpräparates, die Dourine, die Hühnerspirillose und die Syphilis 
der Kaninchen und der Affen heilen könne. Vorbedingung für eine nachhaltige 
Wirkung einer derartigen Behandlung aber seien einmal die Verwendung großer 
Dosen und eine möglichst frühzeitige Behandlung. Auf ähnliche experimentelle 
Erfahrungen mit dem Salvarsan, dem alten 606, baute ja auch Ehrlich seine Theorie 
von der „Therapia magna sterilisans“ auf. Er glaubte bekanntlich, die mensch- 
liche Syphilis generell durch einen großen therapeutischen Schlag heilen zu können. 
Diese Hoffnung trog! | , 


-48 Paul Mulzer. 


Aus der einschlägigen Literatur lieBen sich hiefür zahllose Belege anführen. 
Ich möchte hier nur zwei eigene Beobachtungen mitteilen, die ich bereits 1912 
veröffentlichte, die aber auffallenderweise wenig bekannt zu sein scheinen: 


Im ersteren Falle handelte es sich um einen jungen Offizier, der am 21. Februar 1912 in unsere 
Behandlung kam mit einer typischen, spirochätenhaltigen, etwa linsengroßen Sklerose am Präputium. 
Der letzte bzw. infektiöse Coitus war vor einem Monat vollzogen worden; vor acht Tagen war das 
kleine. Geschwür enstanden. Drüsen waren noch nicht fühlbar, die Wassermannsche Reaktion war 
moch negativ. Am 21. Februar 1912 wurde die Sklerose exzidiert und eine intravenöse Injektion von 
0:4 g Salvarsan vorgenommen. Am 26. Februar 1912 war die Wunde per primam geheilt. Am 2. März 
1912 fand sich an dem einen Ende der Narbe, in einem Nahtwinkel, eine hirsekorngroße, 
indurierte, nicht ulcerierte Stelle, die im Quetschsaft Spirochäten enthielt. Aute dem 
war aber noch ene zweite typische, etwa linsengroße, spirochätenhaltige Primärsklerose 
neben dem Frenulum im Sulcus coronarius entstanden. Der Patient erhielt nochmals 0:4 
Salvarsan intravenös, worauf nach kurzer Zeit diese Symptome völlig abheil.en. 


Im anderen Falle war es ein Student, der nach längerer sexueller Abstinenz zum erst nmal 
wieder am 8. F: bruar 1912 mit einer geheimen Prostituierten den Coitus vollzog. Am 9. Februar 1912 
kam er mit frischeingesissenem, noch blutenden Frenulum in unsere Beobachtung; das Frenulum 
wurde durchtrennt und unterbunden (zwei Nähte). Am 10. Februar 1912 wurden bei diesem Patienten 
im Urethralsekr-t typische Gonokokken gefunden. Auf seine Anzeige hin wurde uns nun das Mädchen, 
mit dem er am 8. Februar verkehrt haıte, Käthe L., polizeilich vorgeführt. Bei dıesem Mädchen wurde von 
uns eine Gonorı hoea acuta, eine Bartholinitis sinıstra mit nicht specifischen Ulcerationen an der Drüsen- 
öffnung und eine Analfistel festgestellt. Da aber dieses Mädchen noch außerdem eine leicht suspekte 
An.lfissur und vor allem typische Scleradenitis. universalis hatte, wurde dem Patienten propo- 
niert, an sich eine prophylaktische Salvarsaninjektion vornehmen zu lassen. Am 11. Februar 
1912 erhielt dieser 0'4 Salvarsan intravenös. Zehn Tage später, also am 21. Februar, konnte 
man am unteren R.nde des Frenulums eine leicht verh: rtete, ein wenig ulcerierte, etwa hirsekorngroße 
Stelle wahrnehmen, die zunächst als Folge der Naht bew. der Wunde aufgefaßtt wurde. Genau drei 
Wochen nach dem letzten Coitus, also am 29. Februar 1912, kam der Patient aber wieder und 
wies jetzt einen typıschen, spirochätenhaltigen, etwa kleinfingernagelgroßen Primär- 
affekt an der Excisionsstelle auf Nun wurden von neuem 0'4 g Salvarsan injiziert. Nach dei 
Tugen war die Sklerose überhäutet, aber noch deutlich infiitriert. 


Bei beiden Fällen vermochte also eine einmalige intravenöse Injektion von 
0:4 Salvarsan, einer immerhin großen Menge, die sehr frühzeitig, in einem Falle 
acht Tage nach dem Auftreten des Primäraffektes, im anderen gar drei Tage nach 
der Infektion, vorgenommen wurde, nicht eine Weiterentwicklung des syphilitischen 
Virus hintanzuhalten. | 


Einen ähnlichen Fall veröffentlichte in neuerer Zeit Quioc. Eine Patientin erhielt am 15. Tag 
nach dem Verkehr mit ihrem sekundärsyphilitischen Mann 0'3 Neosalvarsan. 10 Tage später kam 
sie mit eınım typischen, spirochätenhaltigen Primäraffekt. Diese Beobachtungen fanden in 
Jüngster Zeit inre Stütze durch experimentelle Befunde von E Vecchia. Dieser impfte 3 Kanin- 
chen mit syphiliiischem Material in die Hoden und behandelte je eines dieser Tiere am 2.,4. und 
6. Tage mit Ou) Neoarsenbenzol Dillon pro I ke Während das Kontrolltier und das am 6. Tage nach 
der Infektion behandelte Tier syphilitisch erkrankten, blieben die beiden anderen Tiere 
gesund und konnten mit Erfolg reinfiziert werden. Einschlägige experimentelle Beobachtungen haben 
auch andere Autoren (Uhlenhuth und Mulzer, Truffi, Kolle u. a.) gemacht, auf die ich hier 
aber nicht näher eingehen will. 


Es scheint nun aber doch, daß eine Abortivkur der Syphilis gelingen 
kann, wenn man dem Körper rasch hintereinander möglichst viel hohe 
Dosen Salvarsan zuführt, selbstverständlich, ohne ihm dadurch zu schaden. 


Es würde mich hier zu weit führen, wenn ich ausführlich auf das Pro und 
Contra dieser Möglichkeit eingehen würde. Auch hier haben wir wieder die eigen- 
artige Erscheinung, auf die ich kurz vorher aufmerksam machte, daß die einen, hier 
allerdings die überwiegende Mehrheit, zu der auch ich gehöre, die Möglich- 
keit einerabortiven Behandlung der Syphilis unbedingt zugeben, während 
andere sie hier wiederum leugnen. Fest steht, daß der moderne Syphilistherapeut 
unterallen Umständen wenigstens den Versuch einer Abortivkur derSyphi- 
lis machen muß. Es ist als ein schwerer Kunstfehler zu bezeichnen, wenn sich 
der Arzt der Chancen einer derartigen Abortivheilung begibt! 


Wann bietet sich ihm diese Gelegenheit, bzw. welche Fälle sind für eine 
Abortivbehandlung der Syphilis geeignet? 


` e EN FE” 


Neuere Syphilistherapie. 49 


Für eine Abortivkur eignen sich ganz allgemein nur die Fälle, die möglichst 
frühzeitig dem Arzte zu Gesicht kommen. Die syphilitische Infektion darf noch 
nicht zu alt sein, bzw. der Primäraffekt darf noch nicht zu lange bestehen. 
Duhot fordert, daß er nicht älter als 12 Tage sein dürfe, wenn anders eine Abortiv- 
kur noch Aussicht auf Erfolg haben solle. Nach Fabry ist es wichtig, den Tag 
der Infektion festzustellen. Primäraffekte, die 2 bis höchstens 3 Wochen post 
coitum auftreten, können seiner Erfahrung nach leicht coupiert werden. Ältere 
Primäraffekte sind als zweifelhaft geeignet für eine Abortivkur anzusehen. 

Man darf nun aber nicht etwa meinen, daß dies deswegen der Fall sei, weil 
zu dieser Zeit das syphilitische Gift nicht generalisiert sei, daß, wie Freymann meint, 
zu dieser Zeit nur „vereinzelte“ Spirochäten im Blute kreisen und nur mehr aus- 
nahmsweise auch schon in entfernteren Körperorganen nachweisbar seien. Ganz im 
Gegenteil! Wir wissen.sowohl auf Grund alter klinischer Erfahrungen wie exakter 
wissenschaftlicher Ergebnisse, daß die Syphilis schon sehr frühzeitig, 
schon ganz kurz nach der Infektion, generalisiert ist. Ich habe soeben darauf 
hingewiesen. Es scheint aber, daß immerhin noch eine gewisse Zeit vergeht, bis das 
Virus so fest an die Gewebe verankert ist, daß wir nicht doch mit einer vollkommenen 
Sterilisierung durch eine in dieser Zeit, d.h.möglichst früh, einsetzende entsprechende 
Behandlung rechnen dürfen. Wir nehmen im allgemeinen an, daß dies der Fall ist, 
wenn, wie bereits bemerkt, der Primäraffektnoch nicht zu lange besteht, noch 
keine lokalen Lymphdrüsenschwellungen aufgetreten sind und auch die 
Seroreaktionen (Wassermannsche Reaktion, Sachs-Georgi-Il- und ev. Meinicke- 
Reaktion) noch völlig negativ sind. 

Aus diesem Grunde muß man gerade den ersten Erscheinungen der 
Syphilis besondere Aufmerksamkeit schenken. Der Primäraffekt gleicht häufig 
harm'osen Ulcerationen und Erosionen, so daß er dann verkannt und als nicht 
specifisch angesehen und gewertet wird. Eine richtig ausgeführte Untersuchung 
dieser Manifestationen würde meist sofort die Diagnose klären, denn gerade hier 
finden sich gewöhnlich zahlreiche typische Spirochaetae pallidae. Geschieht 
dies nicht, dann heilt diese unscheinbare Primäraffektion häufig rasch wieder ab und 
die Lues wird erst offenbar, wenn sekundäre Erscheinungen auftreten. Dann aber 
ist eine Abortivkur nicht mehr möglich! 

Der praktische Arzt muß sich daher daran gewöhnen, jede, auch die unschein- 
barste Erosion oder Ulceration an den Genitalien „gewissermaßen reflektorisch« 
(Pincus) auf Spirochäten zu untersuchen. Beherrscht er die Technik dieser an sich 
einfachen Untersuchung nicht oder vermag er nicht genügend die Pallidae von 
anderen hier oft saprophytisch vorkommenden mehr oder weniger ähnlichen Spiro- 
chäten zu unterscheiden, dann soll und muß er rechtzeitig einen Facharzt zu- 
ziehen oder die Präparate einer entsprechenden Untersuchungsstelle zuschicken. Bis 
das Resultat der Untersuchung aber einwandfrei feststeht, muß man sich 
jeder specifischen Therapie enthalten, wenn darüber auch einige Tage vergehen. 
Man braucht wirklich nicht zu befürchten, daß es sich hier, wie von verschiedenen 
Seiten (F. Lesser) behauptet worden ist, um Stunden handle, die, versäumt, ver- 
hängnisvoll wirken könnten. 

Selbstverständlich kann es auch Fälle geben, in denen lediglich der klini- 
sche Befund entscheidet bzw. solche, bei denen man trotz genauer Untersuchung 
keine Spirochäten findet und doch überzeugt ist, daß eine Lues vorliegt. Einen 
solchen hatte ich vor kurzem beobachtet. Ein Patient wies einen typischen linsen- 
großen Primäraffekt im Sulcus coronarius auf, in dem ich weder im Quetschserum 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 4 


50 Paul Mulzer. 


noch im Punktat aus den Rändern und aus der Tiefe Spirochäten fand. Trotzdem 
war ich überzeugt, daß hier eine luetische Infektion vorlag. Kurz nach Beginn 
der specifischen Kur trat denn auch eine „positive Zacke“ in der Wassermann- 
schen Reaktion auf. 

Hat man sich aber einmal, auch in den Fällen, in denen man, ohne daß 
Erscheinungen vorliegen, prophylaktisch eine Abortivkur vornimmt, — meiner 
Ansicht nach kommen hiefür nur Frauen in Betracht, die mit florid syphilitischen 
Männern verkehrt haben, da bei ihnen der Primäraffekt häufig so versteckt in den 
inneren Genitalien liegt, daß er leicht übersehen wird, — entschlossen, eine specifische 
Behandlung zu beginnen, dann muß man diese auch stets in der Stärke durch- 
führen, die, wie wir gleich sehen werden, notwendig ist, um einen Erfolg 
einer Arbortivkur einigermaßen zu gewährleisten. 

Hinsichtlich der zweiten Uhlenhuthschen Forderung, die Verwendung großer 
Dosen, wissen wir bereits, daß eine einmalige große Dosis — wenigstens der 
uns zurzeit zur Verfügung stehenden antisyphilitischen Präparate — für die 
menschliche Syphilis nicht genügt, um sie arbortiv zu heilen, auch wenn 
sie einige Tage nach erfolgter Infektion angewandt wird. Dies gelingt aber in der 
Mehrzahlder Fälle, wenn wir, wie ebenfalls schon kurz erwähnt, die nötige hohe 
Dosis etappenweise einverleiben. Wir können dann erst die für eine Abortiv- 
wirkung notwendige Gesamtmenge des Mittels zuführen, ohne dem Körper zu 
schaden. Welches Mittel — meines Erachtens kommen für die Arbortivkur in 
erster Linie die starkwirkenden Salvarsanpräparate in Betracht — wir auch 
auswählen, wir müssen es in den größtmöglich hohen Anfangsdosen ein- 
verleiben. Die Spirochäten müssen, wie Duhot sich treffend äußert, gewissermaßen 
„im Sturmangriff« abgetötet werden! Bei steigender Dosierung sah dieser Autor 
20% Mißerfolge. Auch die Intervalle zwischen den einzelnen Injektionen 
dürfen nicht zu klein sein. 

Ich glaube, daß wohl im allgemeinen Neosalvarsan zur Abortivkur ver- 
wendet wird und auch vollkommen genügt. Ich führe zurzeit die Abortivkur wie 
Heuck aus, der bei kräftigen Männern und Frauen während der ersten 3 Tage ` 
täglich 045 Neosalvarsan, dann am 5. Tage und von da ab alle 5-8 Tage 
die gleiche Dosis Neosalvarsan bis zu einer Gesamtmenge von 5-6g 
verabreicht. Dazwischen werden, von der 4. Salvarsanspritze ab, 12— 14 Injektionen 
graues Öl, 5-6 Teilstriche, vorgenommen, bzw. es wird eine starke Kur mit 
meinen Hg-metall.-Stylonen dazwischen eingeschoben. Dies kommt für mich indes 
nur bei Männern in Betracht, bei denen man auch ruhig Op Neosalvarsan wählen 
kann, bei Frauen kombiniere ich am liebsten mit 30—40 Injektionen des löslichen 
1% igen Hg succinimidatum, von dessen trefflicher und nachhaltiger Wirkung ich mich 
immer wieder überzeugen kann. 

E. Hoffmann verabreicht bei der Abortiv- bzw. Frühkur als Anfangsdosis 
ebenfalls 0:45 Neosalvarsan oder Natriumsalvarsan, bei Frauen und schwächlichen 
Personen 0'3 und weiterhin 0'6 bzw. 0:45 Neo- oder Natriumsalvarsan; die Inter- 
valle sollen am besten nicht mehr als 5 Tage betragen. Die Salvarsankur kombiniert 
auch Hoffmann mit Quecksilber, entweder in Form von Applikation grauen Öles 
oder als Schmierkur. 

Um unangenehme Nebenwirkungen, so insbesondere höheres Fieber, ohne 
Beeinträchtigung des Ictus therapeuticus maximus auszuschalten, gibt, wie ich schon 
erwähnte, Spiethoff 24 Stunden vor der ersten Hauptdosis (06—075 Neosal- 
varsan) '/,—!/,, dieser Dosis. Die Toxicität des Neosalvarsans soll noch weiter 


Neuere Syphilistherapie. 51 


heruntergedrückt werden durch Auflösen des Neosalversans in physiologischer Koch- 
salzlösung, in Afenil oder noch besser in Eigenserum. Andere Autoren, wie Scholtz, 
Duhot, Ullmann u.a., raten, wie bereits besprochen, das Neosalvarsan in Zucker- 
lösungen (20—25 cm? einer überkonzentrierten Glykoselösung von 38° bzw. in 
10 cm? einer 80%igen Zuckerlösung und ähnlich) aufzulösen. E. Hoffmann warnt 
übrigens vor dem zum ersten Male von Kolle auf Grund experimenteller Erfahrung 
empfohlenen Vorausschicken kleinster Salvarsandosen, den sog. „Käscherdosen“, 
da dies nicht ungefährlich sei, weil sie auf die Spirochäten reizend einwirken 
könnten. Ich komme weiter unten noch ausführlicher auf diesen Punkt zurück. 

Für große Salvarsandosen auch im Beginn einer Abortivkur treten ferner ein 
F. Lesser, Blank, Bering, Mac Kenna, Pinard, Jadassohn, Fabry und viele 
andere Autoren. Manche unter ihnen bevorzugen zur Abortivkur große Dosen von 
Silbersalvarsan oder Neosilbersalvarsan, verwenden nur Salvarsanpräparate 
oder schicken die Quecksilberkur nach. Scholtz verabreicht bei der Abortivkur 
Altsalvarsan in refracta dosi in der Weise, daß der Patient in 2 oder 3 Tagen 
3—4 Injektionen von zusammen 0'85-—10 Altsalvarsan erhält. Dann wird 4 Wochen 
geschmiert und wöchentlich einmal Hg salicylicum oder Kalomel. injiziert. Nach 
4 Wochen wird wieder eine Serie Altsalvarsan mit einer Gesamtdosis von 0:65 — 0:8 
Altsalvarsan injiziert. Ist zu Beginn dieser zweiten Serie die Wassermannsche 
Reaktion schon negativ, so schmiert der Patient noch 2—3 Wochen; ist die Wasser- 
mannsche Reaktion noch positiv, dann wird nach 3 Wochen noch eine Serie von 
etwa 0'6 Altsalvarsan injiziert, der noch etwa 2 Wochen Quecksilberkur folgen. 

Scholtz will mit dieser Serienkur zahlreiche Abortivheilungen, über die Silber- 
stein berichtet, ohne Nachkuren erzielt haben. Auch bei sekundären Fällen mit 
einer Krankheitsdauer bis zu 2 Jahren wurde sie erfolgreich angewendet. 


Andere wieder glauben, wie wir schon gesehen haben, daß auch durch die 
einzeitige Quecksilbersalvarsananwendung in der Mischspritze abortive 
Heilung der Syphilis erzielt werden könne. Nach meinen diesbezüglichen 
Ausführungen wird man sich aber wohl ohne weiteres davon überzeugen können, 
daß dies nicht der Fall sein kann, ebensowenig wie wir, zurzeit wenigstens, 
ein für die Abortivkur geeignetes bzw. genügend stark wirkendes Wis- 
mutpräparat besitzen. | 


Zusammenfassend sei also noch einmal betont, daß für die Abortiv- 
kur, die in allen Fällen seronegativer primärer Lues sobald als möglich 
eingeleitet werden muß, nach dem heutigen Stande der Wissenschaft nur 
große, massive Salvarsandosen in Verbindung mit stark wirkenden 
Quecksilberpräparaten in Betracht kommen. 


Daß eine durch ungenügende Salvarsanbehandlung herbeigeführte „Sterilisatio fere absoluta” 
ünstige Bedingungen für die Entwicklung verschont gebliebener Spirochäten schaffe, hat bereits 
hrlich angenommen. Dreyfuss, Wechselmann, Zalociecki wiesen mit Nachdruck darauf hin, 

daß im sekundären Stadium der Syphilis nur die ungenügende Salvarsanbehandlung zu einer 
Häufung latenter oder klinisch manılesier Prozesse am Nervensystem Anlaß gebe, eine Ansicht, die 
jetzt wohl allgemein geteilt wird. Für die nicht zu seltenen Fälle von Rezidiven, die im primären 
oder präsekundären Stadium blitzartig bei noch negativer Seroreaktion auftreten, dabei aber einen 
spätsekundären, ja tertiären Charakter zeigen, glaubt Menze annehmen zu müssen, daß sie durch 
Salvarsan provoziert würden. Diese Provokation erfolge durch Toxine, welche durch den Zerfall 
von Spirochätenherden geliefert würden, die das Salvarsan verhältnismäßig spät erreichte (Meningen, 
Liquor), zu einer Zeit, da die übrigen Spirochäten schon in das latente Stadium übergeführt 
seien. Der spätsekundäre Charakter dieser Rezidive, die sich von den sonst üblichen Rezidiven 
strenge unterscheiden, ist für Menze der Ausdruck dafür, daß durch eine ungenügende Salvarsan- 
behandlung ein Allergischwerden der Zellen nicht nur nicht unterdrückt — wie vielfach angenömmen 
wird — sondern sogar beschleunigt werde, da durch die Behandlung größere Toxinmengen frei 
werden als durch die Abwehrkräfte des Organismus allein. In praktischer Hinsicht fordert 
daher Menze ebenfalls die große Anfangsdosis Salvarsan, die längereZeit hindurch fort- 


4* 


52 Paul Mulzer. 


gegeben werden müsse. Ziemann betont, daß mit fast absoluter Sicherheit anzunehmen sei, daß 
die Syphilisspirochäten in einem Primäraffekt sich von Anfang an in ihren Erstmerkmalen bezüglich 
der Resistenz gegen Salvarsan verschieden verhielten, daß also durch eine schwache Therapie 
mit kleinen Dosen durch Ausmerzung der nicht resistenten Formen schließlich eine Rein- 
züchtung von resistenten Formen erzeugt werden müsse. Nach Schuhmacher verlangt auch 
die histochemische Forschung hohe Anfangsdosen bei der Salvarsanbehandiung, „starke 
Schläge, keine Nadelstiche“. 


Plaut und Mulzer haben die Wirkung ungenügender Salvarsanbehandlung auch im Ex- 
periment studiert und einwandfrei festzustellen vermocht, daß eine ungenügende Behandlung 
der Syphilis, insbesondere mit Salvarsan, die Virulenz der Spirochäten zu steigern 
und ihre Neurotropie zu erhöhen vermag. Bei Kaninchen, die mit Kolle-Virus geimpft 
worden waren, das einem erkrankten Tier entstammte, welches mit Neosalvarsan untersbehandelt 
worden war, traten jetzt nämlich imLiquor krankhafte ee A auf, und der größere 


Teil der mit diesem Virus geimpften Tiere zeigte frühzeitiger und häufiger als sonst intensive 


manifeste Erkrankungen einer sekundären Lues. Das sog. „Kolle“-Virus hat sonst in der 
Regel keinen Einfluß auf den Liquor; manifeste sekundär-syphilitische Erscheinungen traten bei mit 
ihm geimpften Tieren recht selten auf. 

Wenn irgend möglich, soll bei Abortivkuren der Primäraffekt exzi- 
diert werden. Das läßt sich in den meisten Fällen leicht in Lokalanästhesie be- 
werkstelligen. Wo dies infolge anatomischer Lage desselben nicht möglich ist, wird 
er mehrmals täglich mittels Sublimatlösung gereinigt und mit Kalomelpulver 
(Kalomel, Talcum ana) oder mit Jodol, dem man etwas Kalomel zusetzt (Jodol 5:0, 
Kalomel 0:5) gepudert. Meirowsky empfiehlt, ihn mit Acidum carbolicum lique- 
factum zu ätzen oder ihn zu kauterisieren. Geschlossene Sklerosen bedeckt man 
mit 20%iger Kalomelsalbe oder Hg-Pflastermull, bis die Induration völlig rück- 
gebildet ist. Duhot empfiehlt lokale Einspritzungen von Hectine oder Sulfarsenat; 
letzteres spritzt er auch in die Drüsen. 

Dringend notwendig ist es ferner, während der ganzen Dauer der 
Abortivkur so oft als möglich, zum mindesten aber 24Stunden nach der 
ersten und dann wenigstens alle 8 Tage und noch einige Wochen nach 
Abschluß der Kur, die Seroreaktion des Blutes, u. zw. sowohl nach 
Wassermann als auch nach Sachs-Georgi vorzunehmen. Wir machen näm- 
lich sehr häufig die Beobachtung, daß eine völlig negative Wassermannsche 
Reaktion nach der ersten starken Salvarsaninfusion positiv wird oder 
daß bei weiterem negativen Verlauf plötzlich einmal eine „positive Zacke“ auf- 
tritt. Wir stehen heute auf dem Standpunkt, daß wir nur bei den Fällen Aus- 
sicht auf das Gelingen einer Abortivkur haben, die von Anfang an 
negativ waren und während der Kur dauernd seronegativ geblieben sind. 

Aber auch bei diesen Fällen besitzen wir leider nicht die absolute 
Sicherheit, daß sie wirklich abortiv geheilt sind. Finger betont mit Recht, 
daß das Fehlen klinischer Erscheinungen und serologischer Symptome wohl die 
Ausheilung einer Syphilis sehr wahrscheinlich machen, aber nicht absolut erweisen 
könne. Auch Finger hält die Fälle von seronegativer Lues, die dauernd negativ 
reagieren, für die günstigsten; es gibt aber auch sicher beobachtete Rückfälle bei 
genügend behandelten, dauernd seronegativ gewesenen Fällen. Der einzig sichere 
Maßstab für die Ausheilung einer Lues ist nach Finger in der Reinfektion zu 
erblicken. Aber auch das wird von manchen Seiten bestritten, doch ist hier nicht 
der Platz, auf die schwierige und noch durchaus nicht völlig geklärte Frage nach 
dem eigentlichen Wesen der Reinfektion einzugehen. Praktisch ist das auch ziemlich 
bedeutungslos, denn wir können nicht darauf warten, ob sich ein Patient, den wir 
als geheilt ansehen, noch einmal mit Syphilis infiziert. 

Vielleicht kann uns das Tierexperiment hier helfen. Es sollte möglichst in 
allen Fällen, die man als gelungene Abortivkuren ansehen zu können glaubt, Blut 
in der von Uhlenhuth und Mulzer angegebenen Weise verimpft werden. Nach 


Neuere Syphilistherapie. 53 


meiner diesbezüglichen Erfahrung gelingt es dabei doch immer, einige mißlungene Fälle 
frühzeitig aufzudecken. Für die Praxis ergibt sich aus allen diesen Erwägungen dies, 
daß wir kein allzugroßes Gewicht auf den strengen Unterschied von sero- 
negativer und seropositiver primärer Syphilis legen dürfen, sondern uns 
auch in den dauernd negativ gebliebenen Fällen nicht mit einer Kur 
begnügen dürfen, sondern stets noch eine zweite gleichstarke Kur, die 
man ja als „Sicherheitskur“ bezeichnen kann, nachschicken müssen. 

Ich glaube, daß die meisten Kliniker gegenwärtig auf diesem Standpunkt 
stehen und sowohl die seronegative wie die seropositive primäre Lues 
mit mindestens zwei energischen kombinierten Hg-Salvarsankuren be- 
handeln. Der Abstand zwischen den beiden Kuren soll nicht zu groß sein; im 
Durchschnitt soll er etwa 6—8 Wochen betragen. 

Andere Autoren, wieStümpke, Löwenstein, Cormaz, Gouin und Leblanc 
' u. a., verlangen sogar auch für diese günstig liegenden Fälle mehrere Kuren 
selbst auf die Gefahr hin, daß ein oder der andere Patient zu viel behandelt würde, 
und eine mindestens 2 Jahre lange symptomfreie Behandlungszeit. Ich persönli.h 
glaube, daß insbesondere für die dauernd seronegative und wohl auch 
für die vorübergehend seropositive primäre Syphilis zwei energische 
Hg-Neosalvarsankuren und eine einjährige klinisch wie serologisch 
symptomfreie Beobachtungszeit völlig genügen, um einen derartigen 
Patienten als geheilt zu erklären. Wenn irgend angängig, sollte man in solchen 
Fällen nach Abschluß der Behandlung eine Untersuchung des Lumbal- 
punktates vornehmen und vielleicht auch noch eine Verimpfung des Blutes 
auf Kaninchen. Positiver Ausfall dieser Impfungen oder das Auftreten von 
Pleocytose im Liquor derselben dürfte dann im Sinne einer nicht gelungenen 
Abortivkur gewertet werden müssen. 


Sekundäre Syphilis. 


Obwohl von verschiedenen Seiten in letzter Zeit immer wieder versucht wird, 
die alte klassische Einteilung der Syphilis in ein primäres, sekundäres und tertiäres 
Stadium umzustoßBen, insbesondere die sekundäre Syphilis bereits vom Auftreten 
der positiven Wassermannschen Reaktion an zu datieren (Rost u. a.), glaube 
doch auch ich, daß wir ruhig bei der alten Einteilung bleiben können. Die Behandlung 
der seropositiven primären Syphilis fällt, wie eben gezeigt, nach meiner Auf- 
fassung mit der Behandlung der seronegativen Syphilis zusammen. Sie erfordert 
ebenfalls zwei energische, kombinierte Hg- und Salvarsankuren und eine 
mindestens ein Jahr lang dauernde, klinische und serologische Beobach- 
tungszeit. Wismut möchte ich auf Grund der bisher vorliegenden Beobachtungen 
und zur Verfügung stehenden Präparate auch für dieses Stadium der Syphilis nicht 
empfehlen, abgesehen natürlich von den Hg- oder As-refraktären bzw. überempfind- 
lichen Fällen. 

Wir wissen, daß durch ein derartiges energisches Vorgehen auch frische 
sekundäre Fälle von Syphilis völlig geheilt werden können (E. Hoffmann). 
Ja sogar durch eine derartige Kur kann nach Finger eine sekundäre Syphilis einmal 
ausheilen. Es gibt sicher auch Fälle von Selbstheilung der Syphilis im Sinne 
F. Lessers.Im allgemeinen verlangtaber die sekundäre Syphilis besonders 
im Frühstadium noch eine ganz energische kombinierte specifische Be- 
handlung, denn nur dann können wir mit ziemlicher SEN auch hier noch 
auf eine völlige Ausheilung vieler Fälle hoffen. 


54 Paul Mulzer. 


Nach E. Hoffmann besteht diese bei allen nicht ganz frisch zur Behandlung 
gekommenen Fällen von sekundärer Syphilis in 3—4 gründlichen Kuren, also 
1—2 weiteren starken, kombinierten Kuren. Joseph läßt bei seropositiven Früh- 
syphilisfällen in den ersten zwei Jahren 4—6 kombinierte Kuren ausführen. Ich pflege 
mindestens drei starke kombinierte Hg-Neosalvarsankuren in diesem Stadium 
innerhalb eines Jahres vornehmen zu lassen, so zwar, daß ich durchschnittlich 5—6 g 
Neosalvarsan und die übliche Quecksilbermenge appliziere. 

In der Literatur sind nun auch für das sekundäre Stadium der Lues eine 
Anzahl von Varianten der Kuren angegeben worden, auf die ich hier nicht 
weiter eingehen will. Die meisten Autoren, denen auch ich mich anschließe, empfehlen 
wegen der gerade in diesem Stadium so häufigen Herxheimerschen Reaktion bei 
Beginn einer derartigen Kur, erst 2—3 Hg-Injektionen vorauszuschicken, ehe 
man die erste Salvarsanspritze verabreicht. Oppenheim ist der Meinung, daß 
man jede intensive Jarisch-Herxheimersche Reaktion vermeiden müsse, ` 
was, wie soeben erwähnt, am besten dadurch geschehe, daß man die Behandlung 
mittels Schmierkur oder kleineren Hg-Spritzen einleite. Seiner Auffassung nach ist 
nämlich diese Reaktion im zweiten und dritten Stadium der Syphilis nichts anderes 
als eine zu starke Abwehrbewegung des Organismus, der sich nicht nur der 
Spirochäten, sondern auch der Gifte Quecksilber und Salvarsan zu erwehren suche. 
Eine so intensive Abwehrbewegung schädige den Organismus aber dann immer, so 
daß der Verlauf der Syphilis ein ungünstiger werde. 

Diese Erwägungen dürfen uns aber nicht etwa dazu veranlassen, besonders 
im frühsekundären Stadium schwächere Kuren zu verabreichen. Im Gegenteil! 
Auch hier sind, wie ja bereits erwähnt, große Dosen, jedoch nicht über 
0:6 Neosalvarsan, notwendig. Auch hier kann die einschleichende Salvarsan- 
behandlung mit kleinen Dosen bzw. die prinzipielle Gabe kleiner Sal- 
varsanmengen, wie sie von verschiedenen Autoren (Kromayer, Arndt) ge- 
fordert wird, schädlich wirken, aus Gründen, die weiter oben ausführlich erörtert 
worden sind. 

Ob hier an Stelle des altbewährten Quecksilbers unterschied- und wahllos 
Wismut in irgend einer Form treten kann, diese Frage ist meines Erachtens noch 
keineswegs geklärt. Trotzdem auch ich ein Anhänger der modernen Wismuttherapie 
bin, möchte ich doch nicht kritiklos jeden Fall sekundärer Syphilis mit 
Wismut statt mit dem altbewährten Quecksilber behandelt wissen, zumal 
da die Urteile über die Wirkung dieses Präparates auf die klinischen Er- 
scheinungen der Syphilis wie auf die Erkrankung selbst noch recht geteilt 
sind. Ich möchte auch hier Wismut in erster Linie für die Fälle reserviert 
wissen, die Hg- bzw. Salvarsanüberempfindlich sind, bzw. nicht genügend 
auf ihre Anwendung reagieren. 

Unter allen Umständen muß, worauf ich ebenfalls schon hinwies, verhütet 
werden, daß durch allzu geschäftsmäßige Aufmachung der Wismutreklame 
seitens der Fabrikanten oder durch die Tagespresse die an sich leider 
schon im Laienpublikum bestehende Abneigung gegen Quecksilber oder 
gar gegen Salvarsan noch verstärkt wird, wie dies leider zurzeit immer wieder 
geschieht. Im sekundären, u. zw. besonders im frühsekundären Stadium der Syphilis 
muß noch ausreichend mit Salvarsan behandelt werden, wenn anders wir 
Dauererfolge, bzw. Heilungen der Syphilis wirklich erzielen wollen. Es ist unverant- 
wortlich und im Interesse der Volksgesundheit aufs schärfste zu bekämpfen, 
wenn Krankenkassen, wie es hier in München und wohl auch anderswo geschah, 


Neuere Syphilistherapie. 55 


die Verwendung von Salvarsan nur für die Abortivkur, und da nur in zu 
geringen Mengen freigeben und für spätere Kuren nur Quecksilber- oder Wismut- 
oder sogar nur Jodkuren gestatten wollen! Auf diese untunlichen Verhältnisse 
hat übrigens vor kurzem auch v. Zumbusch nachdrücklichst hingewiesen. 

Durch eine energische kombinierte Behandlung im Frühstadium der Syphilis. 
gelingt es beinahe regelmäßig, die Seroreaktion völlig negativ zu bekommen. 
Das muß unter allen Umständen in diesem Stadium das Ziel unserer Behandlung 
sein! Die Wassermann- sowie Sachs-Georgi- und Meinicke-Reaktion, soweit 
auch diese Reaktionen angestellt werden, müssen auch weiterhin völlig negativ 
bleiben, insbesondere während der ersten 3 Kuren {und in der nicht länger als 
höchstens 2—3 Monate zu bemessenden behandlungsfreien Zwischenzeit. Wir werden 
also 1 Jahr lang alle 2—3 Wochen die Wassermannsche Reaktion ausführen! 
Bleibt diese dauernd negativ und treten auch keine klinischen Rezidive 
auf, dann kann man sich mit diesen 3 starken Kuren auch bei sekundärer 
Syphilis begnügen. Voraussetzung ist allerdings, daß diese Verhältnisse noch 
mindestens 1 Jahr lang anhalten. Es ist also auch in der Folgezeit der 
Patient öfter zu untersuchen und die Seroreaktion wiederholt anzustellen. 
Ist sie positiv geworden, bzw. zeigt sie auch nur „leichte Schwankungen“, 
dann muß weiter behandelt werden, möglichst bis sie dauernd negativ ist 
und bleibt. Brandweiner gibt gemeinhin nach der letzten Wassermannschen 
Reaktion-Schwankung noch zwei volle Kuren, während welcher die Wassermannsche 
Reaktion negativ bleiben muß, ein Vorgehen, dem man sich im allgemeinen wohl 
anschließen kann. Wenn irgend angängig, sollte man auch bei sekundärer 
Syphilis, gegen Ende der 2. bis 3. Kur etwa, eine Liquoruntersuchung vor- 
nehmen. Wir wissen, daß sich hier recht häufig, insbesondere nach ungenügen- 
der specifischerTherapie, krankhafteVeränderungen finden, die im allgemeinen 
doch dafür zu sprechen scheinen, daß noch aktive Lues vorliegt. 

Meirowsky weist nun ganz mit Recht darauf hin, daß es in der Praxis 
außerordentlich schwer ist, in jedem einzelnen Fall die Lumbalpunktion aus- 
zuführen oder gar sie des Öfteren zu wiederholen. Das ist für das Frühstadium der 
Syphilis, wenn es recht zeitlich in Behandlung kommt, auch wohl gar nicht not- 
wendig. Wir müssen ja annehmen, daß in diesem Stadium der allgemeinen Durch- 
seuchung auch der Liquor pathologisch verändert sen wird. Wir wissen ferner, 
daß wir durch eine so energische Behandlung, wie wir sie soeben als Norm 
bezeichnet haben, ihn auch wieder völlig normal gestalten. können. Wiederholte 
Punktionen bzw. Untersuchungen des Liquors in diesem Stadium der Lues haben 
uns aber gezeigt, daß die Ergebnisse hier sehr schwankend sind. Näher hier auf 
diese ziemlich verwickelten Verhältnisse einzugehen, muß ich mir versagen. Man 
kann mit Meirowsky indes annehmen, daß 2—21/, Jahre nach der Ansteckung 
die Liquorverhältnisse ziemlich konstant geworden, bzw. endgültig ent- 
schieden sein dürften. „Um diese Zeit sind die pathologischen Verände- 
rungen desLiquors zu ihrer vollen Höhe entwickelt; Fälle mit negativem 
Liquor pflegen negativzu bleiben. Während Eiweißreaktion und Lymphocyten- 
zahl in bezug auf ihre Vermehrung schwanken können, sind Wassermann- und 
Goldsolreaktion im Liquor fast immer positiv und unterliegen am wenigsten 
spontanen Schwankungen und bleiben in der Regel positiv. Da diese Liquor- 
veränderungen keine klinischen Symptome hervorzurufen brauchen, gibt es nur 
die einzige Möglichkeit, sie ausfindig zu machen, nämlich die Lumbalpunktion. 
Wenn nun auch sicher viele Fälle mit verändertem Liquor keine klinischen Erkran- 


56 Paul Mulzer. 


kungen des Centralnervensystems aufweisen, so unterliegt es doch keinem Zweifel 
daß aus diesem Material die Kandidaten für Tabes und Paralyse hervorgehen“ 
(Meirowsky). 

Finden wir bei einer in der oben erwähnten Zeit, also etwa 1. Jahr nach der 
3. Kur, vorgenommenen Liquoruntersuchung krankhafte Veränderungen im 
Liquor, dann werden wir unsere Behandlung weiter fortsetzen. Es gelingt immer 
in einer Anzahl von Fällen, auch hier noch durch die übliche kombinierte Be- 
handlung zum mindesten erhebliche Besserung zu erzielen, und dann ist es ja auch 
gar nicht mit Sicherheit zu sagen, daß solche Fälle wirklich und immer auch 
prognostisch die ungünstigsten sind. Wir wissen, daß auch bei vollkommen 
normalem Liquor Tabes eintreten, bzw. vorhanden sein kann. 

Ein besonderes Augenmerk müssen wir hier bei der Besprechung der Liquor- 
veränderungen bei Syphilis richten auf die 


Endolumbale Behandlung. 


Durch Marinescu, Wechselmann, Swift und Ellis in die Therapie der 
Syphilis eingeführt, wurde die endolumbale Behandlung besonders von Gennerich 
geübt und nicht so sehr zur Behandlung der metaluetischen Krankheitsprozesse als 
vielmehr zur Bekämpfung aller meningealen Entzündungen imFrühstadium 
empfohlen. 

Die neueste Methode Gennerichs besteht darin, daß die Lumbalpunktion 
an zwei verschiedenen Stellen ausgeführt wird. An jede Punktionsnadel wird ein 
Schlauch mit einer Bürette angeschlossen. In die obere Bürette läßt man 15 — 20 cm? 
Liquor einfließen, in die untere, deren Nadel um 1-2 Segmente tiefer liegt, 
50—100 cm? bzw. so viel Liquor, als man überhaupt noch erhält. Der oberen Bürette 
setzt man dann die zur Infusion bestimmte Menge Salvarsan (135 —3 mg Neo- oder 
Natriumsalvarsan) zu und läßt dann den Inhalt beider Büretten wieder in den 
Lumbalsack einlaufen, u. zw. den der oberen zuerst. Der salvarsanfreie Inhalt der 
unteren Bürette hat im wesentlichen die Aufgabe, den salvarsanisierten Liquor 
cerebralwärts hinauf zu spülen. Gennerich glaubt, durch 4—5 solche endolum- 
bale Behandlungen die sog. „histologischen Meningorezidive“, aus denen sich seiner 
Ansicht nach die metasyphilitischen Prozesse entwickeln, beseitigen zu können, 
will aber auch bei basaler Meningitis, Pseudotabes und syphilitischer Epilepsie gute 
Erfolge, bzw. Krankheitsstillstand erreicht haben. 

Bei der alten Methode von Gennerich wird nur an einer Stelle punktiert. 
Man läßt etwa 40—60 cm? abfließen, klemmt den Schlauch ab und setzt dann mit 
der Pipette die erforderliche Salvarsanmenge zu, worauf man dieses Gemisch wieder 
in den Lumbalsack einlaufen läßt. 

Man muß bei diesen Methoden immer darauf achten, ob nicht Kopf- 
schmerzen, Pulsverlangsamung oder Brechreiz auftreten. Ist dies der Fall, 
dann klemmt man den Schlauch ab. Je langsamer der Liquor abtropft, desto seltener 
treten solche unangenehme Zufälle auf. Nach der Punktion muß der Patient 2mal 
24 Stunden streng horizontal auf fester, nicht elastischer Unterlage liegen. 

Diese Methoden Gennerichs werden nun sehr verschieden beurteilt. Ich selbst 
besitze infolge derzeitigen Materialmangels hiemit gar keine Erfahrungen; sie halte ich 
aber auch für die Allgemeinpraxis für zu umständlich und zu schwierig. Sie können 
nur für den reserviert bleiben, der sich genauestens mit ihrer Technik ver- 
traut gemacht hat. Ob sie tatsächlich mehr leisten als eine energische kombinierte 
Behandlung, insbesonders ob sie auch die entsprechenden Dauererfolge bieten, 


Neuere Syphilistherapie. 57 


ist immerhin recht fraglich. Boudreau, Fuchs u. a. meinen, daß eine genügend 
ausdauernde und intensive intravenöse Salvarsanbehandlung mit jahrelang fort- 
geführter Liquorkontrolle zum mindesten die gleichen günstigen Aussichten auf 
Erfolg besitze wie die endolumbale, ohne deren große Nachteile. Die Hauptursache 
der günstigen Wirkung dieser Behandlung erblickt Fuchs bei der Frühlues darin, 
daß der kranke Liquor unschädlich gemacht und teilweise entfernt werde. Deshalb 
läßt er bei Beginn einer intravenösen Behandlung, besonders bei Druckerhöhung, 
ebenfalls Liquor ab. Nach Fuchs besteht bei den Gennerichschen Methoden, 
insbesondere bei Überdosierung, die Gefahr großer Schädigung bis zu schwerem 
Siechtum und Lebensbedrohung. Jakobi hat vor kurzem über zwei Todesfälle 
berichtet, die nach endolumbalen Salvarsaninjektionen auftraten, welche mit allen von 
Gennerich geforderten Kautelen vorgenommen worden waren. 

Käding will übrigens die Gefährlichkeit der endolumbalen Behandlung dadurch 
herabsetzen, daß er 30—40 cm? Liquor abläßt, diesen aber weggießt und dafür die 
gleiche MengeSalvarsan in physiologischer Kochsalzlösung einfließen läßt. 

Craig, Burns und Barkley sind der Ansicht, daß die Einführung von As- 
Präparaten in den lumbalen Subarochnoidealraum infolge der Strömungsverhältnisse 
lediglich eine lokale Behandlung des umgebenden Gewebes darstelle und daher 
nicht als Heilmaßnahme in Betracht kommen könne bei Erkrankungen höher 


gelegener Partien des Rückenmarks oder des Gehirns. 


Zur Behandlung der cerebrospinalen Lues sind noch verschiedene andere Verfahren angegeben 
worden, welche im wesentlichen darauf abzielen, ohne direkte Injektion in den Lumbalsack mehr 
Medikamente bzw. mehr As dem erkrankten Nervensystem zuzuführen, als es bei der gewöhnlichen 
intravenösen Behandlung möglich ist. So will Höfer durch reichliche Liquorentziehung im 
Augenblick der höchsten Konzentration eines Medikamentes in der Blutbahn einen vermehrten 
Übertritt desselben in das Nervensystem erzielen. Von Weigelt und Zaloziecki ist dieses Verfahren 
mit zum Teil recht gutem Erfolg auch geprüft worden. 

Ein ähnliches Verfahren wendet Dercuman, indem er ebenfalls, u.zw.alle 10 Tage, im Anschluß 
an die intravenöse Salvarsaninfusion, die am besten in Seitenlage des Patienten ausgeführt wird, durch 
einfache Punktion reichlich Liquor abläßt. Durch die Lumbalpunktion und die durch sie verursachte 
Verminderung der Liquormenge mit Druckherabsetzung wird seiner Ansicht nach ein Anreiz auf 
den Chorioidealplexus zum Ersatz des Verlorenen aus dem Blute geschaffen. Wenn dieses nun 
zu diesem Zeitpunkt mit Medikamenten überladen ist, so gelangen diese auch reichlich in den Liquor. 
Dieses Verfahren soll übrigens auch bei As-Refraktären nützen. Weigelt erblickt die Heilwirkung 
dieser Methode in erster Linie in der primären Hyperämie, die in dem Augenblick eintritt, in 
dem das Blut mit Salvarsan geladen ist. 

Schließlich empfehlen noch Corbus, Budd C., Vincent J. O’Conor, Mary C. Lincoln 
und Stella M. Gardner in Chicago ein Verfahren, unter welchem es gelinge, ohne Lumbal- 

unktion mehr As, als sonst möglich, in den Lumbalsack zu bringen und dadurch die 
Rückenmarksyphilis rascher und sicherer zu heilen. Ihre Methode besteht in folgendem: 

Die Patienten werden ambulatorisch für 8 Uhr morgens bestellt, bekommen um 10 Uhr nach 
vorangegangenem Bad eine intravenöse Infusion von 100g 15 % igem, also stark hypertonischem Kochsalz. 
von Körpertemperatur. Kurz darauf spüren die Patienten eine auffallende allgemeine Körperwärme, 
zeigen Pulsbeschleunigung, es tritt gewöhnlich Harndrang und Stuhldrang auf. 6 Stunden später ohne 
die geringste Nahrungs- oder Getränkezufuhr erhalten die Patienten die relativ große Dosis von 0°9 Neo- 
salvarsan intravenös; 1 oder 2 Stunden später wird eine Lumbalpunktion gemacht, 10—15 cm? Flüssig- 
keit zur Untersuchung entnommen. Erst 4 Stunden nach der Neosalvarsaninjektion bekommen die 
Patienten wieder etwas zu essen. Außer etwas fieberhafter Reaktion wurde die Behandlung bei allen 
Patienten vertragen; diese konnten schon nach 24 Stunden Aufenthalt oder Bettruhe das Spital verlassen. 

Die Methode beruht auf dem Prinzip eines künstlich erzeugten starken Diffusionsstromes in 
dem Blutkreislauf durch den Plexus chorioideus zum Lumbalkanal hin. Das Verfahren wird 4- oder 
5 mal allwöchentlich wiederholt, in einzelnen Fällen auch öfter und soll viel bessere Erfolge als die 
intraspinale Salvarsaninjektion selbst ergeben. In der Lumbalflüssigkeit sollen schon kurz nach der 
Applikation ansehnliche Mengen von As, bis zu 0'01 mg im Kubikzentimeter, nachzuweisen sein. 


Tertiäre Syphllis. 


Über die Behandlung der tertiären Syphilis mit manifesten Erschei- 
nungen seitens der Haut und der Schleimhäute läßt sich nichts Neueres sagen. 
Sie wird in bisher üblicher Weise mit Salvarsan, Quecksilber und vor allem mit 
Jod, u.zw. dieses in möglichst großen Dosen, behandelt. Jod wird mit Erfolg häufig 


58 Paul Mulzer. 


auch bei der spätsekundären Syphilis angewendet und angewendet werden 
müssen. Auch das Wismut kann hier als wirkungs\olles Mittel verwendet werden, 
besonders in den gerade in diesem Stadium nicht allzu seltenen Hg-refraktären 
bzw. As-überempfindlichen Fällen. 

In diesem Stadium muß man aber ganz besonders darauf achten, ob nicht 
auch syphilitische Veränderungen an lebenswichtigen inneren Organen, 
insbesondere den Gefäßen und dem Herzen vorliegen. Meirowsky weist mit Recht 
darauf hin, daß eine einzige starke Salvarsaneinspritzung hier infolge ihrer 
Reizwirkung (Herxheimersche Reaktion) von den schlimmsten Folgen für die 
Gesundheit begleitet sein kann. Dies sollen insbesondere die praktischen Ärzte 
beachten, die leider oft ziemlich wahllos und schematisch Salvarsan bei allen 
Stadien der Syphilis anwenden. Meirowsky fordert, es sich zur Regel zu machen, 
bei allen tertiären Erkrankungen die Behandlung mit einer Schmierkur 
und Jod einzuleiten und erst etwa 14 Tage nach Anwendung dieser 
Mittel zum Salvarsan überzugehen. Hier kann und soll man auch immer 
mit schwachen Dosierungen beginnen und erst allmählich die auch hier zu 
einer Vollwirkung nötige Gesamtmenge zu erreichen suchen. 

Die Wassermannsche Reaktion wird man bei alter tertiärer Lues nur 
relativ selten völlig negativ bekommen oder dauernd negativ halten können. 
Daß man dies unter keinen Umständen erzwingen soll, ist ja allbekannt. 


Latente Lues. 


Jadassohn betont mit Recht, daß die positive Wassermannsche Reak- 
tion ein genügend sicherer Grund ist, um auch in der Spätlatenz ener- 
gisch zu behandeln, besonders wenn eine ungenügende Behandlung 
vorausgegangen ist. Die Furcht vor dem „quieta non movere“ ist nach Jadas- 
sohn unberechtigt, denn gar oft treten ja Spätrezidive auch ohne „therapeutische 
Provokation“ auf. Er weist darauf hin, daß man aus solchen Fällen ersehen könne, 
wie wenig das vermeintlich hergestellte Gleichgewicht zwischen Immunitätszustand 
und Spirochätenvegetation bestanden habe. 

Bezüglich der Wassermannschen Reaktion gilt dasselbe wie bei der tertiären 
Lues. Man soll bei alter latenter Lues ein Negativwerden nicht erzwingen. „Man 
beruhige in solchen Fällen die Patienten und lasse sie, wenn sie genügend be- 
handelt und wenn zurzeit und jahrelang vorher keine klinischen Symptome auf- 
getreten sind, heiraten, überwache sie und ihre Nachkommen, aber mög- 
lichst dauernd“ (Mulzer). 

‚Wenn ich hiermit meine Ausführungen über die „neuere Syphilistherapie“ 
schließe, so bin ich mir wohl bewußt, daß diese nicht vollständig sind ohne die 
Besprechung der Behandlung der Lues der inneren Organe und insbesondere der 
Tabes und der Paralyse, die ja gerade in der letzteren Zeit aussichtsreiche Neue- 
rungen erfahren hat. Ich glaube aber, daß diese Gebiete im Rahmen der „Ergebnisse“ 
noch besonders eingehend behandelt werden, wie dies ja auch bei der „congenitalen 
Lues“ der Fall ist, die eigentlich auch zu der mir zugeteilten Aufgabe gehört. 

Ich füge noch hinzu, daß mir bei der Abfassung dieses Berichtes das im Verlag 
Springer, Berlin, erscheinende, ausgezeichnet redigierte „Zentralblatt für Haut- und 
Geschlechtskrankheiten“, insbesondere hinsichtlich der ausländischen Literatur, große 
Dienste leistete, sowie eine Zusammenstellung der Wismutpräparate und ihrer Wir- 
kungen von Dr. Messner, Darmstadt (Firma Merck), die er mir im Korrekturabzug 
in liebenswürdigster Weise zur Verfügung stellte. 


Neuere Syphilistherapie. 59 


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Allgemeiner Teil. Neuere Salvarsanpräparate und Salvarsannebenwirkungen. 


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62 Paul Mulzer. 


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Nr. 2, p. 101—109 und 1923, Nr. 3, D: 133—148. — Craig, Burns und Berklay, J. of nerv. 
a. ment. dis. 1922, Nr.2, p.97—114. — Dercum, NY, med. j. 1922, Nr.9, p. 504-506. — Dreyfuss, 
D. med. Woch. 1922, Nr. 26, p. 860-861. — Duhot, R. belge d'ur. et de derm. syphilogr. 1921, 
Nr. 3, p. 55-70 u. 1922, Nr. 2, p. 33—46. — Ellis u. Swift, J. of expl. med. 1913, XVIII, Nr. 4; 
Münch. med. Woch. 1913, Nr. 36 u. 37. — Fabry, Mei. Kl. 1922, Nr. 43, p. 1369. — Finger, 
Wr. med. Woch. 1921, Nr. 1, p. 11-15; A, f. Derm. u. Syph. 1921, Orig., p. 344—352. — Frey- 
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Gennerich, Münch. med. Woch. 1916, Nr. 35 u. 36, feldärztl. Beilage; Münch. med. Woch. 1917, 
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Hoffmann E., D. med. Woch. 1914, Nr. 23; Th. d. G. 1922, H. 1, p. 11-19. — Höfer, Berl. kl. 
Woch. 1921, Nr. 35, p. 1029— 1031. — Jadassohn, KI. Woch. 1922, Nr. 24, p. 1193—1199 u. Nr. 25, 
. 1243—1247. — Jacobi, Th. Mon. 1921, H. 10, p. 307—308. — Joseph, D. med. Woch. 1922, 
r. 15, p. 491. — Käding, Münch. med. Woch. 1921, Nr. 19, p. 583. — Kolle, D. med, Woch. 
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Münch. med. Woch. 1921, Nr. 40, p. 1290—1292. ` Mulzer s. Wolff; Münch. med. Woch. 1921, 
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Wr. kl. Woch. 1922, Nr. 49, p. 951 — 951. — Vecchia s. Mulzer, Abortivbehandl. — Weigelt, D. med. 
Woch. 1922, Nr. 39, p. 1305 — 1307. — Wolff-Mulzer, Lehrb. d Haut- u. Geschlechtskr., III. Verlag 
Enke, Stuttgart 1914. I 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 
Von Prof. Dr. Edm. Forster, Berlin *. 


Alle psychischen Vorgänge führen zu Reizvorgängen im vegetativen System. 
Wenn wir uns hungernd ein saftig gebratenes Stück Fleisch vorstellen, fließt das 
Wasser im Munde zusammen. Ein Schreck läßt uns erblassen, ängstliche Vor- 
stellungen können zu Herzklopfen, ja zu Durchfällen Veranlassung geben, die Vor- 
stellung von ekelerregenden Dingen zu Erbrechen. Der Einfluß sexueller Vor- 
stellungen auf die Genitalorgane braucht nicht erst erwähnt zu werden. Feinere 
Untersuchungsmethoden, wie der psycho-galvanische Reflex, zeigen, daß die geringsten 
psychischen Vorgänge schon zu Veränderungen in der lIonenverteilung führen. Alle 
diese körperlichen Vorgänge in den Eingeweiden, Drüsen und Gefäßen werden 
durch Reizvorstellungen im vegetativen Nervensystem veranlaßt, Reizvorgänge, die 
also hervorgerufen wurden durch rein psychisches Geschehen. 

Da wir nun die psychischen Vorgänge selbst nicht beobachten können, wohl 
aber ihre körperlichen Folgeerscheinungen, so ist es klar, daß wir aus diesen 
letzteren unsere Schlüsse ziehen und uns mit ihrer Hilfe ein Urteil über das 
Psychische bilden. Es ist nun nur ein Schritt weiter, wenn bei von der Norm 
abweichendem Verhalten des vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Apparates 
auch auf psychische Abnormitäten geschlossen und das vegetative: Nervensystem 
für diese psychischen Abweichungen verantwortlich gemacht wird. Für eine solche 
Auffassung liegen allerdings zunächst keine zwingenden Gründe vor, denn am 
Gesunden sehen wir zwar, daß psychische Vorgänge konstante körperliche Folge- 
zustände hervorrufen, aber nicht daß solchen körperlichen Erscheinungen stets ein 
bestimmter Vorstellungsinhalt zu grunde liegt oder bestimmte psychische Vorgänge 
auslöst. Wir können streng genommen überhaupt nicht beobachten, daß diese 
körperlichen Zustände psychische Vorgänge auslösen. Es ist zwar richtig, daß sie 
für die Psyche nicht gleichgültig sind und daß verstärktes Herzklopfen in der Art, 
wie wir es bei Angstvorstellungen erleben, wenn es aus anderen rein körperlich 
bedingten Ursachen auftritt, Beklemmungsgefühle und dann auch Angstvorstellungen 
auslösen kann: der Vorgang ist dann aber ein ganz anderer. Wir nehmen in diesem 
Falle das Herzklopfen wahr, wie die Dinge der Außenwelt oder wie einen Schmerzreiz 
und verarbeiten es psychisch. 

Wenn durch Reizvorgänge im vegetativen System hervorgerufene abnorme Er- 
scheinungen zur Erklärung von nachgewiesenen psychischen Abweichungen heran- 
gezogen werden oder als Beweis dafür gelten sollen, daß solche Abweichungen 
vorhanden sein müssen, so bedarf eine derartige Ansicht des Beweises. Unter dem 
großen Einfluß, den das Buch von Eppinger und Hess über die Vagotonie aus- 
geübt hat, findet man den Ausdruck Vagotoniker sehr häufig gebraucht, nicht nur 
um eine bestimmte körperliche Abweichung zu bezeichnen, sondern auch im Hinblick 
auf eine bestimmte, angeblich für dieses Symptomenbild typische psychische Reaktions- 


* Referat, erstattet auf der Jahresversammlung des d. Ver. f. Psych., Jena 1923. 


64 Edm. Forster. 


weise. Im Zusammenhang hiermit hat die Tatsache, daß man von Vagotonie und 
Sympathicotonie spricht, dazu geführt, die Störungen der Affektivität, die man bei 
diesen Tonusstörungen des vegetativen Systems beobachtete, als Störungen des 
Tonus der Affektivität zu bezeichnen und sogar vom psychischen Tonus überhaupt 
zu sprechen. Es scheint mir, daß die Autoren, die diesen Ausdruck gebrauchen, 
sich nicht immer genügend bewußt bleiben, daß es sich bei einer solchen 
Benennung doch nur um einen Vergleich, einen Sprachgebrauch, handelt. 

Schon wenn es sich um die Definition des Tonus der Muskulatur handelt, 
zeigt sich, daß keine Einigkeit darüber herrscht, was unter dem Begriff Tonus zu 
verstehen ist. Es ist sehr lehrreich, die Darstellung Lewys! über den Tonusbegriff 
zu lesen. Auf Grund eingehender Berücksichtigung der Literatur und eigener 
Untersuchungen kommt dieser Autor zu folgendem Resultat. Muskeln von 
bestimmtem Bau und chemischer Zusammensetzung können in jedem Zustand 
der Verlängerung teils auf Grund rein physikalischer (Elastizität), teils auf Grund 
physikalisch- chemischer Zustände so starr werden, daß sie einer erheblichen 
äußeren Belastung das Gleichgewicht halten können. Der Muskel leistet dabei 
keine Arbeit. Solche exquisiten Tonusmuskeln besitzen hauptsächlich die Wirbel- 
losen. Aber auch die quergestreiften Muskeln der höchstentwickelten Tiere sind 
unter normalen (und vor allem unter pathologischen) Bedingungen in der Lage, 
ein angehängtes Gewicht ohne den dem rein tetanischen Vorgang zukommenden 
Energieverlust längere Zeit zu halten. Hier handelt es sich um einen muskulären, 
möglicherweise vom vegetativen Nervensystem regulierten Prozeß. Zu den vorzugs- 
weisen Tonusmuskeln gehören die glatten Muskeln der Wirbeltiere, wenngleich sie 
neben ihrer tonischen auch noch eine Bewegungskomponente besitzen. Diese Tonus- 
muskeln besitzen zwei charakteristische Zustandsfiormen — den der maximalen Sperrung 
oder Härte und den einer minimalen. Die quergestreiften Muskeln der Wirbeltiere 
sind durch einen gleitenden Tonus (Uexküll) charakterisiert — die Dehnungsgrenze 
und der Dehnungskoeffizient ist von der jeweiligen Belastung abhängig. Diese 
dauernde Anpassung erfordert eine Regulation, die anscheinend auch im quer- 
gestreiften Muskel durch Vagus und Sympathicus erfolgt. Zum Auslösen und Ver- 
ändern eines Spannungszustandes bedarf es einer Erregung. Der quergestreifte 
Muskel befindet sich nun beim reinen „Halten“ nicht nur in einem solchen arbeits- 
losen Tonus. Er befindet sich nur scheinbar in Ruhe, in Wirklichkeit unterliegt er 
dauernd minimalen Verlängerungen und Verkürzungen und verbraucht Energie. 
Diese Längenveränderung ist ein Teil der Koordination, indem durch die ständig, 
auch vom Muskel selbst, zugehenden Reize (die unabhängig sind vom vegetativen 
System) eine Dauererregung hervorgerufen wird. Eine solche Dauererregung 
bedingt eine stete Innervation gewisser Muskeln, besonders solcher, die für die 
Körperhaltung wichtig sind. Diese klinisch üblicherweise auch unter dem Tonus- 
begriff subsumierte Tätigkeit gehört richtiger ins Gebiet der Taxis des stellung- 
gebenden Faktors, der durch gleichzeitige Innervation der Antagonisten eine 
gewisse Ruhe garantiert. Lewy meint nun: Werde das Gleichgewicht der ant- 
agonistischen Innervation gestört, so trete Ataxie (eventuell Tremor) auf. Falle die 
alterative Dauererregung ganz weg, so entstehe die cerebellare Asthenie. Erst der 
Verlust der muskulären tonischen Komponente rufe die völlige Ataxie hervor. Normaler- 
weise seien im Leben Stellung (Taxis) und Haltung (Tonus) unlösbar verknüpft. 

Vergleichen wir diese Äußerungen mit den Arbeiten von Pekelharing, 
Riesser, Boeke, so zeigt sich, daß der Tonus der Muskulatur keine so einfache 
Sache ist, und daß ihm jedenfalls ganz bestimmte komplizierte Vorgänge, die alle 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. . 65 


in ihren Einzelheiten studiert werden müssen und können, zu grunde. liegen. Es 
fragt sich dann schon sehr, ob es zweckmäßig ist, den Begriff Tonus auf Vorgänge 
im Nerven zu übertragen, und erst recht muß man sich überlegen, ob es Sinn hat, 
von einem Tonus der Affekte zu reden. Die Affekte sind doch wirklich kein greif- 
bares und in gewissem Sinne konstantes Ding wie der Muskel. So viel kann man 
auch, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, sagen: Die Affekte stellen immer 
ein kompliziertes psychisches Geschehen dar, bei dem eine große Reihe von 
Vorstellungen, die zum allergrößten Teil auch innerlich nicht in Worte gefaßt 
werden, eine Rolle spielen, Vorstellungen, die bei jedem Affekt anders zusammen- 
gestellt sind. Niemals kann man zwei Affekte vergleichen, wie man zwei Muskeln 
vergleichen kann, und wenn man von der Gleichheit zweier Affekte bei zwei verschie- 
denen gesunden Personen spricht, so ist diese „Gleichheit“ eine ganz andere als die 
Gleichheit des Irismuskels oder des Biceps bei zwei gesunden Personen. 

Auch derjenige, der nicht zugeben will, daß alle Affekte schließlich auf den 
Schmerzsinn, respektive die Organgefühle als letzten Kern zurückgeführt werden 
können, an den sich alle anderen Empfindungen und Vorstellungen ankrystallisieren, 
wird nicht bestreiten können, daß bei allen menschlichen Affekten — je kultivierter 
der Mensch ist, desto mehr und desto komplizierter — Vorstellungen in großer 
Menge und stets anderer Zusammensetzung beteiligt sind. Man braucht ja nur z.B. 
den Affekt des Mißtrauens bei verschiedenen Personen bei Gesunden und Kranken 
zu analysieren, wie ich? das 1907 auf dem Internationalen Kongreß für Psychiatrie 
in Amsterdam im Anschluß an Bleulers Schrift: Affektivität, Suggestibilität, Paranoia, 
Karl Marhold, Halle 1906, getan habe, um klar zu sehen, wie komplizierte Vor- 
stellungsgruppen jeweils in einem Affekt enthalten sind, den wir trotz seiner ` 
verschiedenen Zusammensetzung immer mit demselben Wort Mißtrauen bezeichnen, 
weil bestimmte Vorstellungsgruppen — die Beziehungen des Ich zur Außenwelt — 
in gleicher Richtung verlaufen. 

Gewiß, wenn wir von Angst, Erwartung, Mißtrauen, Liebe u. s. w. sprechen, 
können wir uns verständigen. Wir erhalten ein Bild, worum es sich handelt. Aber 
es ist doch nur ein sehr oberflächliches Bild. Wollen wir genauer wissen, welche 
Affekte den betreffenden Menschen bewegen — und wenn es sich um eine 
psychiatrische Beurteilung handelt, ist das unbedingt erforderlich —, müssen wir die 
Vorstellungsgruppen, die in diesen Affekten enthalten sind, so weitgehend wie mög- 
lich analysieren. Und wie sollte es uns in der Analyse der Affekte weiterbringen, 
wenn wir diese vergleichen mit dem Tonus, dem lediglich ganz bestimmte kompli- 
zierte chemische und physikalische Gesetze zu grunde liegen? 

Halten wir uns an die Forderung, die Affekte jeweils genau zu analysieren, 
so zeigt sich besonders deutlich, daß es nur ein Vergleich ist, wenn manche Autoren, 
die von der tonisierenden Wirkung gewisser pharmakologisch wirksamen Substanzen 
sprechen und dann die Wirkung auf den „Tonus“ des vegetativen Systems in 
Parallele setzen zu der Wirkung auf den psychischen Tonus. Gegen einen solchen 
.Vergleich wäre ja nichts einzuwenden, wenn durch ihn irgend etwas gewonnen 
würde. Wir wollen untersuchen, ob dies der Fall ist. Fischer? meint, daß der 
„psychische Tonus“ eng verknüpft sei mit dem Tonus des peripheren, vegetativen 
Nervensystems. Er schreibt: „Das innersekretorische Hormon ist Tonusregulator für 
den vegetativen Tonus und für das Affektleben, für psychische und psychomotorische 
Äußerungsformen. Dabei sind die psychologischen Bedingungen, unter denen 
psychische Impulse an bestimmten Anteilen des innersekretorischen Systems an- 
greifen, nicht wahllos, sondern bis zu einem bestimmten Grade specifisch. Ebenso 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 5 


66 Edm. Forster. 


wie umgekehrt die Hormone der Affektäußerung eine bestimmte Färbung geben.“ 
Fischer? glaubt, daß das Beispiel der Nebenniere diesen Zusammenhang besonders 
klar zeige. Im Tierexperiment trete nach den Untersuchungen von Cannon und 
anderen bei psychischer Erregung eine vermehrte Adrenalinabgabe auf. Anderseits 
fallen nach Nebennierenexstirpation die den Affekt auf körperlichem Gebiete be- 
gleitenden Reizerscheinungen aus, weshalb man diese als Nebennierenwirkung auf- 
gefaßt hat. Gleichzeitig damit ist aber auch die psychische Affektäußerung, die 
Agressivität, Wildheit und Bissigkeit der Tiere herabgesetzt (Biedl). Demnach wirkt 
also einerseits der Affekt funktionssteigernd auf die Nebennieren, und anderseits läßt 
die affektive Ansprechbarkeit des Tieres bei Nebennierenausfall nach. Nun sind die 
Arbeiten Cannons und seines Mitarbeiters De la Paz gewiß sehr interessant, neu 
daran ist aber nur, daß die Wirkung der Affekte auf die körperlichen Organe, die 
wir schon lange kannten und von denen wir wußten, daß sie durch das vegetative 
System übermittelt werden, einhergehen und gefördert werden mit einer verstärkten 
Adrenalinabgabe. Wenn Cannon eine Gegensätzlichkeit zwischen Sympathicus und 
Parasympathicus findet und glaubt, diese am besten charakterisieren zu können, 
indem er das parasympathische System das anabolische und das sympathische 
das katabolische nennt, das erstere das aufbauende, das Reserven aufspeichernde, das 
letztere das Reserven abgebende und dann die Affektwirkung mit den Wirkungen 
des Krieges vergleicht, bei denen die Künste und Gewerbe, die den Reichtum und 
die Zufriedenheit im Frieden gebracht haben, vernachlässigt werden müssen, damit 
mit aller Energie die Reserven bereitgestellt werden können, um in den Streit ge- 
worfen zu werden, so ist ja ein solcher Vergleich sehr schön, er bringt aber keinerlei 
neue Erkenntnis und rechtfertigt nicht die Schlußfolgerungen Fischers. Fischer 
geht aber noch weiter. Nicht nur dem Nebennierenextrakt, auch anderen Drüsen- 
inkreten schreibt er eine Wirkung auf die sog. „Affektspannung“ zu. So wirke der 
Ausfall der Epithelkörperchen steigernd auf die Affektspannung, weiter stehe die 
Pankreasfunktion in Beziehung zum Affekttonus, sie stehe in einem gewissen 
Antagonismus zur Nebennierenfunktion im Zuckerstoffwechsel. Dämpfung und 
positive Färbung des Effektes beobachte man während der Verdauung. Fischer 
spricht auch von der Erotisierung durch die Geschlechtsdrüse. Diese Erotisierung 
sei keine unmittelbare Wirkung der Geschlechtsdrüse auf das Centralnervensystem, 
sie gehe durch Vermittlung anderer innerer sekretorischer Apparate, die zu den 
biologischen Einrichtungen für die Äußerungsformen des Affektlebens gehören. 
Man könne die innersekretorischen Funktionen nicht zu dem komplexen Affekt- 
leben in Beziehung setzen, sondern nur zu seinen einzelnen Komponenten, so zur 
Affektspannung und Affektfärbung. Die Bedeutung der Nebenniere an diesen Vor- 
gängen zeige sich an den Erscheinungen der Brunst, bei der wir eine Hyperplasie 
der Nebennieren und gleichzeitig gesteigerte Agressivität und Reizbarkeit der Tiere 
finden. Während diese Drüse auf die Affektspannung wirke, sei der bekannteste 
Affektlärber das erotisierende Geschlechtsdrüsenhormon. Die durch Hormone hervor- 
gerufenen Spannungsanomalien schwanken zwischen Affektschlaffheit über die 
Labilität bis zur Höchstspannung der epileptischen Explosivität. Die Färbungs- 
äußerungen schwanken von depressiver Schwermut über den ungefärbten Gleich- 
mut bis zur Euphorie des Manischen. 

Wenn man diese Einteilung in Spannung und Färbung sowie die Abhängig- 
keit beider jeweils von gewissen Hormonen liest, mag das auf den ersten Eindruck 
etwas Bestechendes haben. Dringen wir aber tiefer ein und bemühen wir uns, die 
Dinge möglichst unvoreingenommen zu betrachten und nicht, bestrickt durch theo- 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 67 


retische Erwägungen, den Respekt vor den Tatsachen zu verlieren, so erkennen wir, 
daß durch eine solche Einteilung nichts gewonnen wird. Was heißt z. B.: Dämpfung 
und positive Färbung des Affektes beobachtet man während der Verdauung? Aber 
das ist doch nichts anderes als die allgemeine Erfahrung, die ich auch schon 
vor vielen Jahren meiner Affekttheorie zu grunde gelegt habe, daß wir Lustgefühl 
empfinden, wenn eine unangenehme Empfindung, Schmerz, resp. Organgefühle, 
beseitigt wird. In diesem Falle also das Hungergefühl. Habe ich zuviel gegessen 
oder war das Genossene schlecht, so hört das Lustgefühl auf, Muß ich gleich nach 
einem guten Diner angestrengt arbeiten, während ich lieber eine gute Zigarre rauchen 
möchte, so ist das Lustgefühl schon kein reines mehr, und kommt ja etwas Neues 
hinzu, eine Auseinandersetzung mit dem Kellner, eine unerwartete Nachricht, so 
wird der sich an die Lustempfindung anschließende Vorstellungskomplex (der natürlich 
auch innerlich nicht in Worte gefaßt wird) ein derartiger, daß trotz gut von statten 
gehender Verdauung kaum mehr von einer positiven Färbung des Affektes gesprochen 
werden kann. Und was nützen die paar Stichworte: Affektschlaffheit — Labilität — 
Höchstspannung einerseits und depressive Schwermut — ungefärbter Gleichmut — 
Euphorie des Manischen anderseits? Das alles muß doch genau analysiert werden. 
Es gibt leicht erregbare Personen, die infolge guter Erziehung und starken Willens 
ihre Neigung zu affektiven Explosionen derartig beherrschen können, daß sie als 
ein Typus der „Affektschlaffheit“ gelten. Wie verschieden setzt sich die Labilität des 
Affektes zusammen, vom übersättigten Normalen bis zum Debilen zum fahrigen 
Psychopathen oder leicht Manischen u. s. w. und was heißt „Höchstspannung“? 
Warum der Epileptiker und nicht der geistig hochstehende, entrüstete Kämpfer, der 
gegen Ungerechtigkeit, gegen Gewalt und Betrug auftritt? Und erst die „Schwermut“! 
Der ängstliche Depressive, der Krankheit fürchtet, der Melancholische, der sich für 
schlecht hält, der nichts leisten zu können glaubt, der seine Familie ins Unglück 
zu bringen fürchtet in Schande und Hunger und aus diesem Grunde erfüllt ist 
von Gedanken an Selbstmord, welcher Unterschied in den Vorstellungen, die diese 
Affekte zusammensetzen! In allen diesen Fällen erweisen sich trotzdem die Hand- 
lungen klar motiviert aus den Vorstellungen, aus denen die Affekte sich zusammen- 
setzen, man muß sie nur in ihre Einzelkomponenten zerlegen, um dies zu sehen. 
Wo bleibt aber das einfache Verhältnis zwischen Hormonen und Färbung und 
Spannung, wenn man diese Zerlegung vornimmt? 

Mit den von Fischer angeführten Tierexperimenten ist ebenfalls nicht viel 
anzufangen. Wenn nach der Nebennierenexstirpation die Tiere weniger wild und 
bissig sind, so gibt uns das kein Recht, von einer specifischen Beziehung zu den 
Affekten zu sprechen. Ganz abgesehen davon, daß diese Affektveränderung bei den 
Tieren nicht so durchsichtig ist, daß wir sie mit den menschlichen Affektäußerungen 
vergleichen könnten, können wir bei rein empirischer Betrachtung hierbei auch auf 
eine allgemeine Intoxikationswirkung schließen. Nach Opiumgaben wird die Wildheit 
auch geringer. Auch die Verhältnisse bei der Brunst liegen ganz anders. Wir können 
keinesfalls sagen, daß die in der Brunst wirksamen Hormone die dann entstehende 
Affektivität direkt hervorrufen. Es ist eine in der Natur der Sache liegende, immer 
wieder zu beobachtende Tatsache, daß das Bewußtsein, bestimmte körperliche Eigen- 
schaften zu besitzen, dazu anregt, diese anzuwenden und zu vervollkommnen. Das 
gilt für das Sehen, für das Hören so gut wie für den Muskelapparat und auch für 
die Sexualität. Bei der menschlichen Pubertät sind die Verhältnisse psychologisch 
natürlich besser zu verstehen als bei der tierischen Brunst. Hier ist deutlich zu 
erkennen, wie die sexuelle Reife (die Wirksamkeit sexueller Hormone) bestimmte, 

5° 


68 | Edm. Forster. 


zunächst unverstandene Organgefühle schafft, die eine komplizierte Gedankentätigkeit 
anregen, die je nach dem Vorstellungsinhalt des betreffenden Menschen ganz ver- 
schieden ausfällt und je nach der Persönlichkeit in einem Falle zu rücksichtsloser 
Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse führt, in anderem Falle erst nach vielen 
Weltschmerzgedanken und Überwindungen von Hemmungen zu sexueller Betätigung 
Veranlassung gibt. Es besteht nicht der geringste Grund anzunehmen, daß die 
Absonderung eines Inkrets diese Reaktionsweise direkt verursacht, indem etwa dies 
Inkret im Hirn vorhandene Apparate direkt zur Tätigkeit veranlaßt. Die geschilderten 
Reaktionsweisen sind vielmehr abhängig von komplizierten psychischen Vorgängen, 
die ausgelöst werden als Reaktion auf körperliche Empfindungen. 

Auch die allgemein biologischen und pathologischen Verhältnisse illustrieren 
deutlich, daß wir nicht weiter kommen, wenn wir den Hormonen derartige speci- 
fische psychische Wirkungen zuschreiben. 

Zunächst müßte man erwarten, falls eine solche specifische Wirkung bestünde, 
daß ganz eindeutige Beziehungen zwischen Körperform und bestimmten effektiven 
Reaktionsweisen, bestimmten Temperamenten, bestünden, denn die verschiedensten 
Hormone und unter ihnen nicht zuletzt die Geschlechtshormone üben ja zweifellos 
einen bestimmenden Einfluß auf die Körperform aus. Solche eindeutige Beziehungen 
sind aber bisher nicht nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht worden. 

Gewiß, schon seit langer Zeit und schon oft sind die Beziehungen zwischen 
Charakter und Körperform der Gegenstand eingehender Untersuchung gewesen. 
Die Autoren, die geglaubt haben, feste Beziehungen zwischen bestimmten seelischen 
Eigenschaften und bestimmten körperlichen Besonderheiten nachweisen zu können, 
‚haben besonders beim gebildeten Laienpublikum großen Beifall und weitestgehende 
Würdigung erfahren. Es ist dies auch leicht verständlich, wenn man daran denkt, 
wie sehr dies Thema allgemein interessiert, und wenn man liest, wie die bekanntesten 
dieser Autoren den Bedürfnissen einer breiteren Masse entgegenkommen, indem sie 
journalistisch gewandt und anregend schreiben, ihre Allgemeinbildung ins rechte 
Licht zu setzen wissen und den Forderungen nach Wissenschaftlichkeit durch 
Tabellen, Maße, Zahlen sowie durch das Aufstellen von Thesen und Antithesen 
genügen, wobei der Wirksamkeit ihrer Argumente zu gute kommt, daß die meisten 
der Leser die Richtigkeit und Bedeutung der Zahlen und Tabellen nicht beurteilen 
können. Trotz der großen Verbreitung und der in weite Kreise getragenen Dis- 
kussion, die durch sie angeregt wurde, haben sich die bisher aufgestellten Thesen 
aber als falsch erwiesen und das bleibende Verdienst dieser Arbeiten beschränkt 
sich im wesentlichen auf die Anregung. Das gilt nicht nur für F. J. Gall und 
Lombroso. Man wird Kretschmer?’ gewiß beistimmen, wenn er sagt: Das 
Schlimmste bei der ganzen Einteilung ist nun aber das, daß (zum Teil schon in 
der Namengebung mehr oder weniger implicite enthalten) ein naiver Zusammen- 
hang zwischen körperlichen und psychischen Eigenschaften unterlegt wird, der in 
seiner Einfachheit den psychiatrisch geschulten Arzt befremdlich anmutet. Es ist 
aber auch Kretschmer nicht gelungen, diesen Zusammenhang auf wissenschaftlich 
gesicherter Grundlage darzutun. Wenn man die Menschheit hauptsächlich in zwei 
psychische Formkreise einteilt und zwei Haupttypen von Körperformen annimmt, 
von denen je eine zu einem dieser psychischen Formkreise eine erhöhte Affinität 
zeigt, und schließlich für diejenigen Körperformen, die Elemente aus beiden in sich 
vereinigen, eine Mischung beider psychischen Formkreise voraussetzt, so muß die 
Rechnung selbstverständlich stimmen. Dann ist alles untergebracht. Einen Wert 
kann eine solche Einteilung aber nur haben, wenn dies strikt zu beweisen ist, 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 69 


nicht wenn sie im allgemeinen zu stimmen scheint. Prozentzahlen tun es nicht und 
erst recht nicht ungefähre Eindrücke oder Material, das durch Ausfragen von An- 
gehörigen gewonnen wurde. Ganz und gar nicht können Briefe, Schriften oder 
künstlerische Werke längst Verstorbener auch in Verbindung mit mehr oder weniger 
authentischen oder ähnlichen Porträts und Lebensbeschreibungen, die von Zeit- 
genossen unter bestimmten Gesichtspunkten angefertigt wurden, einen Ersatz bieten 
für die allein entscheidende psychiatrische Untersuchung. So wirkt verblüffend, wie 
Kretschmer leichtfüßig durch den Oiymp schreitet und den Oeistesheroen aller 
Zeiten seine Zensuren und Diagnosen an den Kopf schleudert. Es kann keine starke 
These sein, die sich auf solches Material stüzt, aber ganz gewiß geben auch die 
Ausführungen Kretschmers keinerlei Anhaltspunkt für eine Funktion der Hormone 
im Sinne Fischers. 

Nun die pathologischen Verhältnisse. 

Auch bei vorwiegender Erkrankung einer innersekretorischen Drüse finden wir 
keine eindeutige psychische Abänderung, auch nicht eine eindeutige Temperaments- 
änderung, die eine Rubrizierung in veränderte Spannung oder veränderte Färbung 
zuließe. Betrachten wir z.B. die Basedowsche Krankheit. Es bedarf wohl keiner weiteren 
Ausführung, daß wir hier nicht eine specifische psychische Anomalie vorfinden, die 
typisch gerade für die Erkrankung der Thyreoidea wäre und als eine specifische Hormon- 
wirkung resp. Erkrankung des vegetativen Systems aufgefaßt werden könnte. In dem 
9. Band des Handbuches der gesamten Augenheilkunde von Graefe-Sämisch hat 
H. Sattler® unter ungemein sorgfältiger Bearbeitung der Literatur diese Krankheit 
ausführlich behandelt. Er widmet auch den Veränderungen im Seelenleben einen 
breiten Platz. Er kommt zu der Schlußfolgerung?”, daß die so häufig bei diesen 
Kranken vorkommende seelische Veränderung (die hauptsächlich in ungewöhnlicher 
Reizbarkeit, Erregtheit und Ruhelosigkeit mit Anfällen von Ängstzuständen bestehe) 
in den meisten Fällen ein ganz bestimmtes Gepräge darbiete, das für den Morbus 
Basedowii geradezu als symptomatisch bezeichnet werden könnte, daß ferner die 
ausgesprocheneren Grade dieser Störung von den leichtesten Formen des manisch- 
depressiven Irrseins nicht scharf zu trennen seien und daß endlich die am häufigsten 
vorkommende Form der psychischen Erkrankung bei Morbus Bassedowii gerade 
diejenige sei, welche den Stempel der Aufregung, Ideenflucht, des Bewegungs- 
dranges oder der ängstlichen Verstimmung und Hemmung an sich trage, die reine 
Manie, die verschiedenen Zustandsbilder des manisch-depressiven Irrseins und die 
Melancholie, letztere hauptsächlich im vorgerückten Alter. Als Psychiater wird man 
auch nach dem von Sattler beigebrachten Material nicht zu der gleichen Ansicht 
kommen können. Schon die Einteilung ist eine nicht-psychiatrische, die Hysterie 
wird als die häufigste Komplikation mit anderen nervösen Erkrankungen besprochen, 
gleich nach der Paralyse und der Tabes und vor der Neurasthenie und traumati- 
scher Neurose. Erst darnach kommt das Kapitel Veränderungen im Seelenleben, in 
dem die Beziehungen zur Dementia praecox, zum Zwangsirrsein, halluzinatorische 
Paranoia, Alkoholirrsein, akute Verwirrtheit, Delirium acutum und Intoxikationsirr- 
sein thyreogenen Ursprungs ihren Platz finden. Als Psychiater wird man scharf 
trennen müssen was zufällige Komplikation, was ursächlich durch die Basedow- 
Krankheit bedingt und was psychische Reaktion auf die körperliche Krankheit ist. 
Da wird man, worauf später noch näher eingegangen werden muB, finden, daß 
die von Sattler geschilderte Unruhe und Erregtheit im wesentlichen nur die 
häufigste Reaktionsweise auf die Erkrankung des Körpers darstellt. Immerhin ist 
bemerkenswert, daß auch Sattler sagt, es gibt keine specifische Basedowsche Psychose, 


70 Edm. Forster. 


und daß er nichts von einer direkten Beeinflussung der Psyche erwähnt, sondern 
annimmt, daß dieselbe Noxe, welche die verschiedenen Symptome der Basedow- 
schen Krankheit hervorruft, auch die den seelischen Funktionen vorstehenden Teile 
der Hirnrinde treffe und sie in mehr oder weniger hohem Grade schädige. Er 
nimmt also an, daß die psychischen Störungen indirekt durch die Hormonwirkung 
hervorgerufen werden, u. zw. dadurch, daß diese eine Hirnrindenschädigung be- 
dingt. Dasselbe müssen wir ja für die psychischen Störungen bei Myxödem und 
bei Kretinismus nach den heutigen Stande unserer Kenntnisse als sicher annehmen. 
Betrachten wir andere Krankheiten, bei denen eine endokrine Drüse vorwiegend 
geschädigt ist, so kommen wir zu dem gleichen Resultat. Weder die Akromegalie 
noch die Addisonsche Krankheit, weder die Fettsucht noch die Zuckerkrankheit, 
weder die männlichen Kastraten noch die ovariotomierten Frauen zeigen charak- 
teristische, für den Ausfall jeder Drüse specifische psychische Veränderungen, die 
die Theorie der Affektspannung und -färbung stützen könnten. Diese Erfahrungen 
sind so allgemein, daß es nicht nötig ist, darauf näher einzugehen. Selbstverständlich 
ist es möglich, aus dem Erhaltensein von nichterkrankten endokrinen Drüsen Theorien 
abzuleiten, die diese Erfahrungen mit der hormonalen Affektspannung in Einklang 
zu bringen geeignet sind. Gestützt werden kann die Theorie durch das psychische 
Verhalten dieser Kranken nicht. Fischer selbst gibt ja auch zu, daß es keine 
psychischen Störungen gibt, die für eine bestimmte Drüse charakteristisch wären. 
Aber auch sein psychischer Tonus und dessen Abhängigkeit von Hormonwirkungen 
läßt sich durch die Analyse dieser Fälle nicht verständlich machen. Wenn wir alle 
Theorien und alle Gelehrtheit weglassen, so finden wir, daß der Behauptung, die 
Hormone seien von Bedeutung für die Affektspannung und Affektfärbung, eigentlich 
nur die Beobachtung zu grunde liegt, daß die an endokrinen Störungen leidenden 
Patienten an bestimmten Zeichen der Affektlabilität leiden und daß vor der Pubertät 
der Geschlechtstrieb fehlt, ebenso wie oft (allerdings nicht immer) bei Kastraten. 
Auch wenn man annimmt, daß dies richtig ist, so wird dies nicht erklärt durch die 
Theorie der Affektspannung und Färbung. 

In einer schönen Arbeit über Eunuchoidismus3, in der er mehr Wert auf die 
Berücksichtigung der Tatsachen als auf die Aufstellung von Theorien legt, hat Fischer 
neuerdings gezeigt, welche Bedeutung die endokrinen Störungen für die psychiatrische 
und neurologische Forschung haben, wenn eine präzise naturwissenschaftliche Frage- 
stellung erfolgt und das Operieren mit verschwommenen Begriffen, wie Affektonus, 
vermieden wird. 

Wäre die Affektfärbung direkt abhängig von einer Drüse, so müßte man erwarten, 
daß eine typische psychische Reaktion bei Sympathicusreizung oder -erkrankung und 
die entgegengesetzte bei Vagusreizung oder -erkrankung wahrnehmbar sei, voraus- 
gesetzt, daß die von Eppinger und Heß’ eingeführte Zweiteilung in Vagotonie 
und Sympathicotonie stimmt. Nun haben wir aber schon einen specifischen psychi- 
schen Symptomenkomplex nicht finden können und erst recht keinen, der in ent- 
gegengesetzten Phasen verläuft und den man je nach Vagus- und Sympathicus- 
erkrankung als positiv oder negativ bezeichnen könnte. Von nichtpsychiatrischer 
Seite ist allerdings nicht selten der Versuch gemacht worden, psychische Störungen 
aus Schädigungen endokriner Drüsen zu erklären und unter dem Einfluß von 
Eppinger und Heß eine Gegensätzlichkeit im psychischen Verhalten der Vago- 
toniker und Sympathicotoniker nachzuweisen. Dem Psychiater wird es hierbei 
erstaunlich erscheinen, wie geringe psychiatrische Kenntnisse und welch geringe 
eigene Erfahrungen den betreffenden Autoren manchmal ausreichend erscheinen, 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 71 
"eem `. 


nicht nur um ihre eigenen Ansichten zu begründen, sondern auch um neue Theorien 
zur Förderung der psychiatrischen Erkenntnis aufzustellen. Einer der Schlimmsten 
auf diesem Gebiet war ja Bossi in Genua. Als Beispiel für die geradezu un- 
verständlichen Entgleisungen möchte, ich J. Bauer erwähnen, der in seinem dicken 
Buch: „Die konstitutionelle Disposition zu fnneren Krankheiten«?, den psychischen 
Störungen viele Seiten widmet. Dabei schreibt er: „Die katatone Reaktionsform 
wäre durch die wohl größtenteils durch Eigenbeobachtung eruierbare Neigung 
zu gewissen Stereotypien, Pedanterien, Perseverationen, Negativismen und Bizar- 
rerien gekennzeichnet. So kann der eine nicht lernen, wenn er nicht eine Steck- 
nadel oder einen Bleistift in der Hand wirbelt (einer meiner Bekannten schnitzte 
sich ausschließlich für diesen Zweck lange Holzstäbchen), ein anderer kann es nicht, 
wenn die Bücher nicht streng parallel zum Schreibtischrand gelegt sind.“ In dieser 
Weise geht die Psychiatrie weiter, und Bauer warnt dann auch davor, den exogenen 
psychischen Reaktionstypus Bonhoeffers mit den psychopathischen Konstitutionen 
Ziehens zu verwechseln. Gewiß, man soll Braustübl nicht mit Brustübel verwechseln. 
Bauer wird nicht verlangen dürfen, daß in psychiatrischen Kreisen seine Ansichten 
über die Beziehungen von endokrinen Störungen und psychischen Symptomen 
Beachtung finden, wenn sie sich auf solche Kenntnisse aufbauen. Unverständlich 
bleibt allerdings, daß diese Ausführungen, die im Verlage von Springer gedruckt 
wurden, in der im gleichen Verlag erscheinenden Zeitschrift für die gesamte Neu- 
rologie und Psychiatrie unter „Ergebnisse“ abgedruckt wurden, vielleicht eine Folge 
der suggestiven Wirkung, die dicke Bücher ja nicht selten ausüben. Das Fehlen 
einer genügenden Kenntnis der leichten Formen echter Psychosen, leichter Formen 
der Depression, beginnender Schizophrenien, Zwangsvorstellungen, die auf dem 
Boden solcher Psychosen entstehen, paranoider Zustände u.s. w. macht sich auch 
sonst häufig in der Literatur bemerkbar, besonders wenn psychische Besonderheiten 
bei an endokrinen Störungen leidenden Patienten, die nicht zu echten Psychosen 
geführt haben, geschildert und erklärt werden. Dazu kommt, daß das Wesen der 
hysterischen Reaktion oft völlig verkannt wird, und die infolge einer Zweckreaktion 
falschen Angaben, z. B. bei einer Sensibilitätsprüfung, verwertet werden, um eine 
körperlich bedingte Schädigung der Sensibilität zu postulieren. Auch wenn gewisse 
psychische Zustandsbilder treffend geschildert werden, wird man durch den Autor 
nicht überzeugt, daß der behauptete Zusammenhang mit den Störungen der 
inneren Sekretion vorliegt. So sagt z. B. Wiesel: „Es werde sehr häufig übersehen, 
daß die Pubertätstachykardie, die Neigung zu Schweißen, vasomotorische Stö- 
rungen aller Art, Diarrhöen, auch psychische Erscheinungen, wie Erregungszustände, 
Sprunghaftigkeit des Wesens, Stimmungswechsel u. dgl., auch dann thyreoidealer 
Genese sein könnten, wenn auch eine eigentliche Vergrößerung der Schilddrüse 
nicht nachweisbar sei.“ Die zuerst erwähnten körperlichen Symptome sind nun 
zweifellos sympathischer Genese und man wird gern zugeben, daß diese thyreo- 
idealen Ursprungs sind. Die psychischen Symptome aber, die so allgemein ge- 
schildert sind, daß eine Beurteilung gar nicht möglich ist und daß man vermuten 
muß, es wird lediglich eine Reaktionsweise auf unangenehme körperliche Reize 
geschildert, bieten nicht den geringsten Anhaltspunkt gerade für eine Erkrankung 
des Sympathicus oder der Thyreoidea. Man möchte sagen, Zahnschmerzen oder 
Plattfüße können dasselbe psychische Bild hervorrufen. Und man wird gewiß nicht 
davon reden können, daß man aus diesem psychischen Verhalten eine Gegensätz- 
lichkeit gegenüber dem Myxödem feststellen muß. Es wird zugegeben werden können, 
daß es Fälle gibt, bei denen eine Prüfung des Energiestoffwechsels Anhaltspunkte 


72 Edm. Forster. 


dafür bietet, daß eine Hypothyreose vorliegt, obwohl eine handgreifliche Verkleine- 
rung der Schilddrüse nicht nachgewiesen werden kann. Wenn man solche Fälle aber, 
wie Wiesel will, vor allem aus den psychischen Symptomen als Hypothyreose 
diagnostiziert, so zieht man seine Schlüsse nicht aus genau umschreibbaren Einzel- 
beobachtungen, sondern nur aus einem verschwommenen Ällgemeineindruck. Wie 
wenig eine derartige psychiatrische Diagnostik den psychiatrischen Erfahrungen 
Rechnung trägt, illustriert Wiesel durch folgende Sätze: „Bei dieser Gelegenheit 
will ich der Pubertätskopfschmerzen gedenken, die so vielfach auf Blutarmut, 
Chlorose u. dgl. zurückgeführt werden, aber gerade bei dem in Rede stehenden 
Symptomenkomplex vorzukommen pflegen und durch eine dahin gerichtete Therapie, 
in diesem Falle Zufuhr von Schilddrüse, leicht zu beheben sind“ und „Auch hier 
will ich an jene nicht allzu seltenen Fälle erinnern, wo das meistens verfrühte Auf- 
treten der Menstruation aber auch ohne dieses eine besonders starke Adynamie 
geistiger und körperlicher Art das Bild beherrscht, bei Fehlen sonstiger Chlorose- 
symptome. Diese Form der Adynamie, welche sich klinisch wohl von der hyper- 
thyreoidalen scheiden läßt, erinnert außerordentlich an jene bei Morbus Addisonii«. 
Welcher Psychiater erinnert sich hier nicht an die bekannte, besonders von Bon- 
hoeffer immer wieder mit Recht betonte Tatsache, daß jugendliche Depressive 
außerordentlich oft für blutarm, chlorotisch erklärt und demgemäß falsch behandelt 
werden! 

Ganz besonders deutlich sehen wir den Mangel psychiatrisch geschulten 
Denkens, wenn Wiesel mißbilligt, daß die endokrinen Störungen nicht richtig 
bewertet werden, und sagt: „Manche von diesen Symptomen, besonders jene mehr 
psychischen, werden Charakterveränderungen der Kinder, Einflüssen von außen zur 
Last geschrieben, bzw. dort, wo sich somatische Zeichen finden, dieselben falsch . 
gedeutet.“ Erst schildert Wiesel Charakterveränderungen, und dann sollen es keine 
sein! Es ist ja gerade unsere Aufgabe zu untersuchen, ob und wie die Charakter- 
veränderungen, die psychischen Symptome mit den endokrinen Störungen zusammen- 
hängen. Um das beurteilen zu können, müssen wir aber nicht nur die Persönlich- 
keit des Patienten und die Wirkungen der äußeren Einflüsse, des Milieus, kennen, 
sondern auch die in Frage kommenden psychischen Krankheitsbilder beurteilen 
können. Durch Behauptungen wie die Wiesels wird nicht im geringsten bewiesen, 
daß ein direkter Zusammenhang zwischen Hormonen und psychischer Reaktion 
besteht. Gerade das Beispiel des Myxödems weist doch darauf hin, daß der Zusammen- 
hang zunächst in der Richtung gesucht werden müßte, ob nicht die endokrine 
Störung eine Hirnrindenschädigung hervorruft, die ihrerseits erst die psychischen 
Anomalien bedingt, oder ob nur eine psychische Reaktion auf die körperliche Krank- 
heit oder sogar nur eine zufällige Kombination mit einer ganz unabhängigen, mehr 
oder weniger ausgesprochenen Psychose besteht. 

Eine solche Unterscheidung schwebt sicher Lichtwitz!! vor, wenn er die Be- 
ziehungen der Fettsucht zur Psyche in drei Gruppen einteilt: Gruppe 1. „Die 
seelische Umstimmung, die Charakterveränderung, ist die Folge der Adipositas; 
schwache Naturen schränken, wenn ihnen ihr Gewicht zur Last wird, die Bewe- 
gungen ein, damit ihr Handeln und schließlich auch ihr Wollen. Taubheit, Schlapp- 
heit, Verflachung des Gefühlslebens sind die Folgen.“ Hier finden wir also eine 
der Persönlichkeit entsprechende (an sich als normal zu bezeichnende) Reaktions- 
weise auf die körperliche Krankheit geschildert. Gruppe 2. „Trägheit des Geistes- 
und Gefühlslebens als Bedingungen der Adipositas ist ein Zusammenhang, wie er 
dem Urteil des Laien oft genug als gegeben erscheint. Wenn die Analyse dieser 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 73 


seelischen Verfassung eine Grundlage nicht ergibt, so liegt das an der Unzuläng- 
lichkeit unserer Erkenntnis und unserer Methoden.“ Gruppe 3. „Parallele Wirkung 
auf den Stoffwechsel und das Seelenleben. Hierher gehören die meisten Fälle 
endogener Adipositas.“ Man wird deshalb aber keine direkte Hormonwirkung als 
Ursache der psychischen Veränderungen annehmen dürfen und auch keinen Änhalts- 
punkt für eine solche Vermutung in Lichtwitz’ Ausführungen finden. Dagegen 
wird, wie wir später bei der Betrachtung der Encephalitisfälle noch sehen werden, 
ein solches Parallelgehen erklärt durch eine Erkrankung im Zwischenhirn, die einer- 
seits zu Störungen im Gebiete der Motilität, zu verlangsamtem Handeln, anderseits 
zu Fettsucht führt. In solchen Fällen besteht dann allerdings zunächst keine „Träg- 
heit des ‚Gefühlslebens“. Sehr gut wird die häufig bei Fettsucht zu beobachtende 
Schlafsucht, auf die auch Brugsch'? hinweist, durch eine Zwischenhirnerkrankung 
verständlich. 

Ein Gebiet, auf dem sehr häufig ein Zusammenhang des psychischen Ver- 
haltens mit dem Sympathicus einerseits und dem Vagus anderseits gesucht wurde, 
ist das der sog. funktionellen Neurosen. In der inneren Medizin wird als Ursache 
dieser Krankheitsgruppe neuerdings sehr häufig der Status thymico-Iymphaticus ange- 
nommen. Es wird vermutet, daß dieser Status thymico-Iymphaticus die Grundlage sei, 
auf der die meisten Störungen des Zusammenwirkens der Drüsen mit innerer 
Sekretion erwachsen. Hierbei kann das Versagen einer speziellen Drüse, z. B. der 
Schilddrüse, besonders in Erscheinung treten, wodurch dann ein spezielles Bild, z. B. 
manche Formen von Basedow, mit vasomotorischen Störungen entstehen. Da nun 
das Zusammenwirken der einzelnen inneren sekretorischen Drüsen ein außerordent- 
lich kompliziertes ist und eine Drüse immer auch wieder auf mehrfachem Wege 
auf die anderen Drüsen einwirkt, ist der Spekulation hier ein weites Feld gegeben. 
Peritz'3, der den Status thymico-Iymphaticus nicht für eine Störung der inneren 
Sekretion hält, sondern für eine richtige „Kümmerform“ mit Degeneration der ver- 
schiedenen innersekretorischen Drüsen, von denen die eine oder andere, z. B. 
Epithelkörperchen oder Hypophyse, mehr befallen sein könne und dann ein anderes. 
Bild gebe, im ersten Falle z. B. Spasmophilie, im letzteren Hochwuchs mit kurzem 
Rumpf und psychischem Infantilismus, wagt sich auch an die Erklärung von Psychosen. 
Man versteht nicht recht, warum diese Kümmerform, die doch eine Kümmerform 
der inneren Drüsen ist, keine eigentliche Störung der inneren Sekretion darstellen 
soll. Jedenfalls bringt Peritz verschiedene innersekretorische Krankheiten darin 
unter, besonders seine Spasmophilie und die Vagotonie von Eppinger und, Heß, 
aber auch die Schizophrenie. Er schreibt: „Sieht man sich aber die Abbildungen 
an, die Kretschmer von seinem schizophrenen Typus gibt, so sieht man, daß. 
auch diese Menschen den gleichen Habitus zeigen. Es handelt sich also auch hier 
wieder um denselben Habitus der Lymphatiker.“ ... „Für den, welcher das. 
Kretschmersche Buch gelesen hat, wird es überraschend sein, welche Ähnlichkeit 
zwischen den Charakterzügen der Spasmophilen und denen besteht, welche 
Kretschmer als Schizophrene schildert. Für mich war das nicht überraschend, 
weil ich aus vielen Untersuchungen wußte, daß die Menschen, welche an einer 
Schizophrenie erkranken, stets Spasmophile sind. Diese Menschen gleichen auch in 
ihrem Äußeren durchaus dem Typ, welchen Kretschmer als schizophrenen Typ- 
beschreibt. Darum ist es auch nicht verwunderlich, daß Kretschmer unter seinen 
Schizophrenen neben dem ihm echt erscheinenden asthenischen Typus so ver- 
schiedene Habitusformen findet, denn der Schizophrene ist als Spasmophiler von 
Haus ein Mensch mit Status thymico-Iymphaticus.“ Schade, daß wir Psychiater bisher 


74 Edm. Forster. 


davon nichts gemerkt haben. Es wäre interessant zu erfahren, wo Peritz seine vielen 
Untersuchungen an Menschen, die an Schizophrenie erkrankten (heißt das erkranken 
werden oder erkrankt sind?), ausgeführt hat und wer die psychiatrische Diagnose 
stellte. Für Kretschmer wird es jedenfalls sehr interessant sein zu sehen, was man 
aus seinen Abbildungen alles herauslesen kann. Durch solche Betrachtungen wird 
aber weder die direkte Hormonwirkung auf die Psyche, noch eine Gegensätzlich- 
keit im psychischen Verhalten bei Vagotonie und Sympathicotonie bewiesen. Ebenso- 
wenig wie durch die Schlußausführungen des gleichen Verfassers, in denen dieser 
die Meinung ausspricht, daß die Inkrete der Schilddrüse und Nebenschilddrüse den 
größten Einfluß auf den psychischen Reaktionsablauf, auf die Termperamente, haben, 
erst in zweiter Linie die Hormone der Keimdrüsen, die viel stärker auf unseren 
Willen wirken. | | 

Wir haben bisher hauptsächlich die Drüsenerkrankungen betrachtet. Die Er- 
krankungen des vegetativen Systems, bei denen Gefäßstörungen im Vordergrunde 
stehen, bieten kein anderes Bild. Die große Gruppe der vasomotorisch trophischen 
Neurosen liefert keinen Anhaltspunkt für direkte Hormonwirkung auf die Psyche. 
Daran, daß diese Gruppe von Erkrankungen auf eine Störung im Sympathicus 
zurückzuführen ist, ist nicht zu zweifeln. Die Möglichkeit, daß eine innersekretorische 
Ursache, also eine Hormonwirkung, für die Entstehung dieser Sympathicusstörungen 
angenommen werden muß, kann nicht bestritten werden. Jedenfalls besteht eine 
centrale Ursache, denn der ganze Prozeß dieser Erkrankungen, der Sklerodermie, 
der Raynaudschen Krankheit, des Quinckeschen Ödems, der angiospatischen Zu- 
stände, die sich mit der Zeit am ganzen Körper bemerkbar machen und die bei 
geeigneten Untersuchungsmethoden, wie O. Mülier gezeigt hat, schon frühzeitig 
eine Erkrankung anscheinend gesunder Partien erkennen lassen, ist nur bei einer 
solchen Annahme verständlich. Trotzdem finden wir keine für diese Erkrankungs- 
gruppen typischen psychischen Veränderungen, die etwa auf eine psychische Hormon- 
wirkung zurückgeführt werden könnten. Es ist zwar öfters versucht worden, die die 
Angina pectoris begleitende Angst als ein direktes Sympathicussymptom hinzu- 
stellen. Es wurde dabei aber nicht die Frage berücksichtigt, inwieweit diese Angst- 
reaktion als eine psychisch normale Reaktion auf körperliche Zustände aufgefaßt 
werden muß. Die Betrachtung dieser Gruppe von Erkrankungen zeigt besonders 
deutlich, daß die Wagebalkentheorie von Eppinger und Heß nicht haltbar ist. 
Cassirer nennt sie denn auch schon 1912 in seinem Buche „gescheitert“, nachdem 
Lewandowsky sie schon vorher abgelehnt hatte. Wenn auch die Frage der Gefäß- 
dilatatoren und ihrer Innervation durch den Vagus respektive Parasympathicus noch 
nicht endgültig geklärt ist, so ist jedenfalls doch soviel sicher, daß die Gefäß- - 
constrictoren unter der Herrschaft des Sympathicus stehen. Bei diesen Erkrankungen 
findet man keineswegs ein einheitliches Bild weder im Sinne einer Vagotonie 
noch Sympathicotonie. Die Wagebalkentheorie wird jetzt auch von den inneren 
Medizinern allgemein aufgegeben, wie sowohl aus den letzten Arbeiten von Bertha 
Aschner'* und Büscher 5 als auch aus den zusammenfassenden Arbeiten von Dresel 
und F.H.Levy zur Genüge hervorgeht. Letzterer Autor nimmt an, daß innerhalb des 
Centralnervensystems Zellen für Vagus und Sympathicus eng vermischt beieinander- 
liegen und daß innerhalb der dorsalen Vaguskernsäule, die in ihrer Totalität als 
Vagussystem anzusehen ist, neben den größeren Vaguszellen von mehr motorischem 
Typ auch kleinere Ursprungszellen sympathischer Fasern liegen. Brüning!‘ gibt als 
Erklärung für die Tatsache, daß sowohl Sympathektomie des Halssympathicus 
(Francois Franc, Jonesco, Brüning) als Vagusdurchschneidung (Eppinger und 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 75 


Hofer auf Anregung Wenckebachs) bei Angina pectoris einen therapeuthischen 
Erfolg erzielten, an, daß der von letzteren Autoren durchschnittene Vagusast, der 
Nervus depressor, eine große Menge von Sympathicusfasern erhalte. Bei einer solchen 
Sachlage wird man natürlich nicht erwarten können, daß ein pathologischer Prozeß, 
z. B. eine Entzündung oder eine Blutung, sich nur Fasern oder Zellen des einen 
Nerven aussucht, und man wird sich nicht wundern dürfen, daß bei den tatsächlich 
vorliegenden Krankheitsprozessen, die zu Erkrankungen des vegetativen Systems 
führen und über die Büscher in seiner vorhin erwähnten Arbeit eine schöne 
Übersicht gegeben hat, beide Nerven befallen sind. Das Vorkommen einer reinen 
Systemerkrankung entweder des Vagus oder des Sympathicus ist bisher noch nicht 
bewiesen. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß es eine solche gibt, da sich immer 
wieder gezeigt hat, daß Erkrankungen des Nervensystems, die früher als System- 
erkrankungen aufgefaßt wurden, keine sind, sobald unsere besseren Untersuchungs- 
methoden die pathologische Anatomie und Ätiologie aufgeklärt haben. Die Be- 
trachtung dieser Fälle liefert also ebenfalls keinen Anhaltspunkt für ein vom Sym- 
pathicus oder Vagus abhängiges typisches psychisches Bild. Es bleibt nunmehr 
noch übrig zu untersuchen, ob die Erkrankungen, die die centralen Ursprungs- 
gebiete des vegetativen Systems befallen, zu einer anderen Auffassung führen. 

In der Nähe der vorderen Centralwindung ist, wie auch die Kriegserfahrungen 
gezeigt haben und worauf ich in meinem Referate 1918 hingewiesen habe, ein die 
Vasomotoren beeinflussendes Centrum anzunehmen. Es liegt aber keine Veranlassung 
vor und es ist auch nie behauptet worden, daß deshalb in dieser Gegend eine 
besondere psychische Lokalisation etwa der Affekte anzunehmen sei oder daß die 
Erkrankung dieser Gegend specifische Affektstörungen hervorrufe. Ich selbst habe 
zwar erwähnt, daß bei Hirnverletzten, die keine epileptischen Krampfzustände, wohl 
aber starke vasomotorische Erregbarkeit hatten, gesteigerte Reizbarkeit und Ver- 
stimmungen auftreten, und ich habe angenommen, daß es deshalb naheliege, diese 
Verstimmungen in irgend einen Zusammenhang zu bringen mit Hirnrindenschädi- 
gungen in den Gegenden, die mit der Regulierung der Vasomotoren in Verbindung 
stehen. Es liegen aber keinerlei Tatsachen vor, die es wahrscheinlich machen würden, 
daß dieser Zusammenhang in einer Weise stattfindet, der die Hormontheorien im 
Sinne Fischers stützen könnte. Es ist vielmehr daran zu denken, daß die Schädi- 
gungen der Vasomotorenversorgung einen peripheren Reiz ausüben und daß die 
Verstimmungen als Reaktion auf diesen Reiz eintreten. 

Über die Lokalisation der Ausstrahlungen der vegetativen Bahnen aus der 
Großhirnrinde sind wir noch sehr wenig orientiert. Wir wissen aber aus vielfachen 
Untersuchungen der letzten Zeit, daß das Zwischenhirn eine centrale Vertretung 
des vegetativen Nervensystems beherbergt. An dieser Tatsache kann nicht gezweifelt 
werden, wenn auch die Einzeluntersuchungen zu keinem in allem eindeutigen Resultat 
geführt haben, und besonders manche interessanten Untersuchungen und Schluß- 
folgerungen von F. H. Lewy und Dresel mit guten Gründen von Bielschowsky 
angezweifelt werden. 

In den letzten Jahren hat das häufige Auftreten der Encephalitis lethargica, 
deren entzündliche Prozesse sich ja vorwiegend in diesem Gebiete abspielen, eine 
reichliche klinische Erfahrung über die bei Schädigungen dieses Gebietes auftretenden 
Symptome ermöglicht. Hierbei haben nicht nur die zweifellos auf das vegetative 
System zu beziehenden körperlichen Symptome Beachtung gefunden, wie Salben- 
gesicht, Exophthalmus, Störungen der Schweiß- und Speichelsekretion, vasomotorische 
Störungen, sondern man hat auch versucht, psychische Symptome mit der Erkran- 


76 Edm. Forster. 


kung dieses Gebietes in Beziehung zu bringen. Es sind nun nicht nur psychische 
Symptome, die in das Gebiet der Affektivität gehören, sondern auch psychomotorische 
Störungen im Sinne Wernickes mit der Erkrankung dieser Gegend in Beziehung 
gebracht worden. Um diese Frage entscheiden zu können, habe ch"? diejenigen 
Krankheitsgruppen untersucht, bei denen eine reine oder fast reine Erkrankung dieser 
Gegend vorliegt. Ich zog besonders Fälle von Wilsonscher Krankheit, Athetosis 
duplex, Torsionsspasmus, sowie auch Paralysis agitans und isolierte Herderkrankungen 
heran. Sowohl die Untersuchungen meiner eigenen Fälle als auch die in der Lite- 
ratur niedergelegten Erfahrungen führten zu dem Ergebnis, daß die Erkrankung 
dieser Gegend nicht zu psychischen Störungen führt. Soweit ein auffälliges affektives 
Verhalten dieser Patienten zur Beobachtung kam, konnte es dadurch erklärt werden, 
daß entweder infolge von Medikamenten Intoxikationsdelirien entstanden waren oder 
dadurch, daß, wie dies bet der Paralysis agitans und der Wilsonschen Krankheit 
— Pseudosklerose — der Fall ist, bei längerem Bestehen der Krankheit die Hirnrinde 
in Mitleidenschaft gezogen wird und dadurch psychische Ausfallserscheinungen auf- 
treten. Die Frage nach psychomotorischen Erscheinungen, deren Auftreten als Folge 
einer Erkrankung dieser Gegend ich im Gegensatz zu verschiedenen Autoren glaubte 
verneinen zu müssen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Das Auftreten psychischer 
Symptome bei der Encephalitis lethargica, einer Infektionskrankheit, die nachweisbar 
in sehr vielen Fällen die Hirnrinde schädigt, in ähnlicher Weise wie dies bei Typhus 
und Flecktyphus der Fall ist, mußte demnach auf eine Schädigung der Hirnrinde 
und nicht auf die Erkrankung des Zwischenhirns zurückgeführt werden. Es ist 
möglich, daß das besondere psychische Bild, das an -Encephalitis erkrankte Kinder 
darbieten, dadurch entsteht, daß die normale Entwicklung der Hirnrinde durch die 
Erkrankung der subcorticalen Centren beeinträchtigt wird. Aber auch wenn diese 
Annahme richtig sein sollte, muß man die psychischen Symptome dieser Patienten 
auf die Hirnrinde beziehen. Das vorliegende Material bietet jedenfalls keinerlei 
Anhaltspunkt dafür, daß die Erkrankung der in diesen Gegenden gelegenen vege- 
tativen Centren psychische Störungen hervorrufen könne. 

Um uns ein Urteil darüber bilden zu können, wie die Beziehungen zwischen 
Vagus, Sympathicus und Psyche sich tatsächlich abspielen, ist es am zweckmäßigsten, 
zunächst die einfachsten Verhältnisse zu betrachten und sich dabei freizuhalten von 
allen theoretischen Überlegungen. Die einfachsten Verhältnisse finden wir bei peri- 
pherenVerletzungen, die zu ausgesprochenenSympathicusstörungenVeranlassung geben. 
Das sind die von Weir-Mitchell bereits 1864 beschriebenen Causalgien, denen 
Leriche'® im Kriege seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat und deren 
erfolgreiche Behandlung durch Sympathektomie ihn veranlaßt hat, diese Therapie 
auch auf viele andere Gebiete der Sympathicuserkrankung auszudehnen. Schon 
Weir-Mitchell beschreibt das psychische Verhalten derartiger Kranker ganz aus- 
gezeichnet, worauf auch Leriche aufmerksam macht. Die Schilderung beider Autoren 
ist tatsächlich treffend. Die Patienten werden ängstlich, mißtrauisch, sie isolieren sich, 
sie bekommen Selbstmordgedanken, sie drehen sich im Bett herum, das Gesicht 
gegen die Mauer und wollen von nichts etwas wissen. Man ärgert sich über sie 
und man ist leicht geneigt zu glauben, daß sie übertreiben. So sagt Leriche nach 
Weir-Mitchell: „Ihr Gesicht drückt Müdigkeit und Leiden aus. Die Nacht ist 
ohne Ruhe, das Knistern eines Zeitungsblattes, geringer Zug, der Schritt eines 
Menschen, die Vibrationen, die durch einen militärischen Marsch hervorgerufen 
werden, der Stoß des Fußes gegen den Boden erhöhen die Schmerzen. Mit einem 
Wort, der Patient wird ein Hysteriker.« So sah ich auch meine Patienten. Was geht 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. 77 


hier nun vor sich? Die Patienten haben körperliche Schmerzen, die außerordentlich. 
quälend sind. Bei der Untersuchung können sie keine genauen Angaben machen, 
wo die Schmerzen sitzen. Die Abgrenzung von Sensibilitätsstörungen glückt nicht, 
geringe Veränderungen der Temperatur, Bewegungen u. s. w. erhöhen ihre Schmerzen. 
Diese sind in der Nacht viel schlimmer als am Tage, wenn sie abgelenkt sind. 
Alles dies paßt nicht in ein gewöhnliches Krankheitsbild. Die Personen ihrer 
Umgebung und sehr häufig auch der Arzt glaubt ihren Beschwerden nicht, trotzdem 
diese so außerordentlich quälend sind. Ihr psychisches Verhalten ist die Reaktion 
auf diese Dinge. Sie fürchten alles, was ihre Schmerzen erhöhen könnte, deswegen 
sind sie ängstlich und in sich zurückgezogen. Sie vermeiden den Umgang mit 
Menschen, weil sie sich ärgern über den ihnen so leicht gemachten Vorwurf, daß 
sie übertreiben. Sie fürchten, schon durch ihre Beschwerden lästig zu fallen. Es ist 
begreiflich, daß ein solches psychisches Verhalten von vielen als hysterisch bezeichnet 
wird. Unter Psychiatern brauche ich nicht auszuführen, daß diese Reaktionsweise 
natürlich nicht das geringste mit hysterischer Reaktion zu tun hat. Wir sehen hier 
dasselbe psychische Verhalten, wie wir es bei den Erkrankungen des Zwischenhirns, 
besonders beim Torsionsspasmus, gefunden haben. In diesen Fällen von Sympathicus- 
verletzung sind die Schmerzen besonders lebhaft, die eigenartige Verteilung der 
Sensationen findet ihr Verständnis in der segmentären Verteilung des Sympathicus 
und in der besonderen Weise, in der die Reize sich im vegetativen System ver- 
breiten, was Guillaume'? anschaulich geschildert hat. Dieselben Schmerzen und 
unangenehmen Empfindungen finden wir auch bei anderen sympathischen Erkran- 
kungen, die zunächst peripher auftreten, z. B. bei den Trophoneurosen, bei der 
Raynaudschen krankheit und der Sklerodermie. Im Beginn sind die Reizerschei- 
nungen hier nicht so heftig, und die geschilderte psychische Reaktionsweise dem- 
entsprechend auch nicht so ausgeprägt. Bei weiterem Fortschreiten der Erkrankung 
kommt es aber zu den gleichen psychischen Bildern. Wird bei solchen Patienten 
die periarterielle Sympathektomie gemacht und fallen dadurch die krankhaften Reiz- 
erscheinungen aus, so schwindet auch diese psychische Reaktionsweise, sie werden 
psychisch völlig normal. Anfangs besteht sogar ein ganz besonderes Wohlbefinden, 
das ja typisch ist für das Wahrnehmen des Fortfalles von Schmerz. 

Vergleichen wir diese Reaktionsweise der Patienten mit unangenehmen körper- 
lichen Empfindungen von mehr physiologischer Art, so finden wir eine auffällige 
Ähnlichkeit. Ich denke hier z. B. an die Folgen des Hungers, der Ermüdung oder 
an die Reaktion auf nicht genügenden Schlaf: Wir sehen auch hier eine gesteigerte 
Reizbarkeit als Reaktion auf nicht genau zu lokalisierende unangenehme Körperliche 
Empfindung. 

Das psychische Verhalten erklärt sich also als eine Reaktion auf Organgefühle. 
Es stellt einen exogenen Reaktionstypus dar. Die Frage, in welcher Weise die von ` 
den Organen dem Hirn und Bewußtsein übermittelten Reize centralwärts geleitet 
werden, braucht hierbei gar nicht erörtert zu werden. So viel steht fest, die Reize 
entstehen durch krankhafte oder physiologische Erregung des vegetativen Systems. 
Nachher werden sie zentripetalwärts dem Hirn zugeführt und bedingen dort die 
psychische Reaktionsweise. 

Es ist dies aber nicht die einzige Reaktionsweise, die durch Reize im vege- 
tativen System ausgelöst werden kann. Ist das Hungergefühl oder die Ermüdung 
relativ gering, so bestehen nur geringe unangenehme Allgemeinempfindungen, bei 
stärkerem Hungergefühl, bei starker Ermüdung ist die Organschädigung eine stärkere 
und damit auch der vegetative Reiz. Es kommt nun bald zu Organschädigungen, 


78 Edm, Forster. 


die nicht mehr als physiologisch bezeichnet werden können. Hierdurch kommt es 
zu Stoffwechselstörungen, die zweifellos sich in Toxinwirkungen äußern, wöbei ganz. 
gewiß auch Hormone beteiligt sind, und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, 
daß diese Toxinwirkungen das Hirn direkt schädigen. Hierin befinde ich mich in 
Übereinstimmung mit Cimbal2%. Diese Toxinwirkung bedingt dann wieder einen. 
exogenen Reaktionstypus, der durchaus den bekannten exogenen Reaktionstypen 
Bonhoeffers entspricht, besonders finden wir delirante Zustände und Korsakoff. 

Noch eine dritte Form der Schädigung infolge vegetativer Reize kommt in 
Betracht. Infolge von endokrinen Disharmonien, die durch vegetative Erkrankungen 
hervorgerufen werden oder auf anderem Wege entstehen und durch Reizung des 
von ihnen gesteuerten sympathischen Apparates eine Verschlimmerung erfahren, 
kann es zu Schädigungen der Blutgefäßinnervation kommen. Diese kann sich 
besonders im Centralnervensystem abspielen und zu Absperrungen der Blutcirculation 
in gewissen Bezirken durch Angiospasmen oder auch zu Gewebszerstörungen infolge 
von Blutungen führen. Hierdurch kann es dann zu vorübergehenden oder bleibenden 
Lähmungen, zu Erscheinungen von Hirndruck mit Stauungspapille und zu aphasi- 
schen oder anderen durch derartige Hirnschädigungen bedingten psychischen 
Störungen kommen. Daß endokrine Schädigungen derartige Gefäßstörungen hervor- 
rufen können, ist schon lange bekannt. Ich brauche nur auf die Erfahrungen des 
Basedows hinzuweisen, bei dem vasomotorische Störungen und auch Hirnblutungen 
beschrieben worden sind. Neuerdings hat Zondek?! auf diese Sachen wieder auf- 
merksam gemacht. Während der Schwangerschaft besteht eine besondere Neigung 
zu endokrinen Störungen, so daß es während dieser besonders leicht zu derartigen 
vasculären Hirnsymptomen kommen kann. Vor kurzem hat Westphal?? und später 
ich? selber einige derartige Fälle beschrieben, bei denen auch epileptische Anfälle 
zur Beobachtung kamen. In allen diesen Fällen hat die Hormonwirkung also zu 
cerebralen, respektive psychischen Siörungen geführt, aber niemais direkt in einer 
Weise, wie Fischer sich das vorstellt, sondern immer nur dadurch, daß sie die 
Hirnrinde materiell schädigte. Auch bei der besonders von Pal? und von Munk? 
studierten genuinen Hypertonie kann es leicht zu solchen Blutungen kommen. (Diese 
Störung hat sicher auch ursächlich mit dem Sympathicus, respektive mit endokrinen 
Drüsen zu tun, wenn man auch nicht zugeben wird, daß das Nichtausüben des 
Geschlechtsverkehrs bei Personen, die viel geistig zu arbeiten haben, eine krankhafte 
Wirkung des Geschlechtshormons bedinge, die diese Krankheit hervorrufe, wie Munk 
das haben will.) 

Es muß nun aber noch berücksichtigt werden, wie die psychischen Wirkungen 
wieder auf das vegetative System wirken und welche Folgen das hat. Wir haben 
gesehen, daß jedes psychische Geschehen auf das vegetative System wirkt. Wenn 
nun infolge endokriner Disharmonien, die so gering sein können, daß sie noch 
keinerlei deutliche Zeichen machen, schon eine Neigung zu Schädigungen des 
Gefäßapparates (oder anderer Organe) bestehen kann, so ist es leicht verständlich, 
daß eine Tonusveränderung, die infolge eines Affektes oder einer anderen psychischen 
Ursache ausgelöst wird, eine Schädigung hervorruft, die manifeste klinische Erschei- 
nungen macht. So kann ein plötzlicher Schreck die Ruptur eines dünnen Blutgefäßes 
bei asthenischen Personen hervorrufen, wie ich dies selbst schon beobachtet habe. 
Auch das allgemein bekannte Auftreten von Zucker nach seelischen Erregungen 
oder die Zunahme von striären Symptomen bei Aufregungen findet durch einen 
solchen Mechanismus leicht seine Erklärung. Die Verhältnisse liegen aber noch 
komplizierter dadurch, daß nicht nur die Hormone der einen Drüse auf die andere 


3 - a: kag mr e 


Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen. = 79 


auf dem Blutwege einwirken, sondern daß auch, wie Hamburger? nachgewiesen 
hat, durch vegetative Reizung eines Organs in diesem Organ Stoffe freigemacht 
werden, die die gleiche Reizwirkung haben. So kann also auch ein psychischer Reiz 
viel stärker wirken, als man zunächst geneigt ist anzunehmen, weil durch diesen 
Reiz Stoffe ins Blut gelangen, die die Reizwirkung unabhängig von der Psyche 
verstärken. | 

Wir sehen also, wenn wir die Beziehungen zwischen Psyche und vegetativem 
System überblicken, daß es nicht nötig ist, mystische Vorstellungen oder verscheom - 
mene Begriffe, wie Tonus oder Spannung der Affektivität, anzuwenden, sondern daß 
wir weiter kommen, wenn wir naturwissenschaftlich denken und präzise, scharf defi- 
nierte Ausdrücke gebrauchen. 


Literatur. ! F. H. Lewy, Die Lehre vom Tonus und der Bewegung, p. 411 u. ff. J. Springer, 
Berlin 1923. — 2 Forster, Über die Bedeutung des Affektes bei Paranoia. Cpt. r. Premier Congr. 
internat. de Psych. u. s. w., Amsterdam 2.—7. Sept. 1907, de Bussy, Amsterdam 1908. — 3 Fischer, 
Psychiatrie und innere Sekretion. Psych. neur. Woch. 1922-1923, Jahrg. 24, p. 229. — * Fischer, 
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Mn. 


A 


Die Asthenie des Weibes. 


Von Prof. Dr. Walther Hannes, Breslau. 
Mit 3 Abbildungen im Text. 





Die moderne von Martius inaugurierte Konstitutionsforschung hat die 
Abgrenzung und Feststellung bestimmter Konstitutionstypen geschaffen. Manches, 
was unseren ärztlichen Altvorderen mehr gefühlsmäßig bekannt und geläufig war, 
und was dann wieder Generationen hindurch völlig aus dem Wissensschatz der ` 
jeweils geltenden Schulmedizin verschwand und in Vergessenheit geriet, ist durch 
die Konstitutionsforschung neu ans Tageslicht gezogen, biologisch begründet und 
nunmehr feststehend präzisiert worden. So sprach bereits Hippokrates und nach 
ihm die klassische Humoralpathologie von Menschen mit schlaffer Faser, ein 
Zustand, der im wesentlichen nach den Lehren der modernen Konstitutions- 
forschung mit dem von ihr geschaffenen Begriff der Asthenie bzw. der asthenischen 
Konstitution identisch ist. 

Ohne hier näher auf die ungemein anregende, interessante und ausgiebige 
Diskussion über die Fassung und Auslegung des Begriffes der Konstitution, an 
welcher sich vor allem Martius, Lubarsch, Bauer, Hart, Tandler, Siemens 
u. a. beteiligt haben, eingehen zu wollen, scheint es mir für unsere Zwecke der 
Klinik und Praxis am richtigsten, die Definition dieses Begriffs, wie sie der auf 
dem Gebiete der Konstitutionsforschung beim Weibe besonders verdienstvoll tätig 
gewesene Fachgenosse Mathes faßte, uns zu eigen zu machen. Mathes erklärt 
Konstitution „als die durch die Beschaffenheit der elterlichen Keimzellen verursachte 
persönliche Eigenart eines Menschen, so zu sein, wie er es in jedem Augenblicke 
seines Lebens gerade tut“. Mithin wird im gleichen Augenblick, in welchem der 
männliche Samenfaden die weibliche Eizelle befruchtet, die Konstitution des neu- 
geschaffenen Individuums besiegelt. Diese ist also unwandelbar; nicht wandelbar 
durch Ereignisse (Krankheiten, ärztliche Kuren u. s.w.) während des menschlichen 
Lebens. In letzter Linie hat wohl fraglos jedes Individuum seine ganz eigene Kon- 
stitution, da — höchstens abgesehen von den eineiigen Zwillingen — kaum zwei 
Menschen völlig identisch konstitutioniert sein dürften. Daraus folgt weiter, daß der 
Begriff „normale Konstitution“ nicht basiert ist auf wirklich möglichen Beobach- 
tungen an einer Reihe sozusagen konstitutioneller Normalmenschen, sondern eben 
nur begrifflich das umreißt, was nach Maßgabe der Konstitutionsforschung in den 
Rahmen einer also gewissermaßen fiktiv konstruierten normalen Konstitution ein- 
zuordnen ist. | 

Nennenswerte und in ihrem Symptomenkomplex charakteristische Abweichun- 
gen von diesem als normale Konstitution supponierten Zustand bezeichnen wir als 
Konstitutionsanomalien. Die moderne Konstitutionslehre faßt gewisse regelmäßig 
sich wiederholende Vergesellschaftung anatomischer und physiologischer Kon- 
stitutionsanomalien, namentlich wenn diese Momente, wie Hart ausführt, „dem 


Die Asthenie des Weibes. 81 


einzelnen Individuum ein mehr oder minder charakteristisches Gepräge“ geben, in 
dem Begriff des Konstitutionstypes zusammen. Diese Konstitutionstypen werden 
meist dem wissenden Beschauer schon offensichtlich durch die Art und Weise des 
Gesamthabitus der betreffenden Person. Nach Hart sind die drei wichtigsten Kon- 
stitutionsanomalien der Lymphatismus, der Infantilismus und die Asthenie. 

Wie schon erwähnt, sind wohl die Menschen der schlaffen Faser,. welche die 
alte Medizin bereits kannte, und welche beispielsweise Soranus für ungeeignet zum 
Stillgeschäft erachtete, im wesentlichen das, was wir heute als asthenische Individuen 
betrachten. Nichtsdestoweniger ist die genaue Fixierung und systematische sowie die 
symptomatologische und diagnostische Abgrenzung des asthenischen Konstitutions- 
komplexes erst Errungenschaft der letzten Jahrzehnte. 

Nachdem Tuffier die Enteroptose als eine Inferiorit& physiologique des tissus 
angesprochen hatte, war es Stillers Verdienst, die Senkung der Eingeweide als einen 
essentiellen Bestandteil der Körperbeschaffenheit zu erkennen, die er mit dem hierfür 
seither anerkannten Namen der Asthenie bzw. Asthenia universalis congenita belegte. 

Wenn wir nun kurz umreißen wollen, welcher Symptomenkomplex ein Indi- 
viduum zu einem asthenischen macht, so sei zunächst mit Stiller u. a. hervor- 
gehoben, daß gerade bei der Asthenie der Gesamthabitus der betreffenden Person 
meist ein so charakteristischer ist, daß häufig Astheniker, worauf auch von gynäko- 
logischer Seite vor allem von Mathes hingewiesen wurde, schon in völlig beklei- 
detem Zustande augenfällig sind. Alles am Astheniker, seine Gewebe, seine Haltung 
und sein Gesichtsausdruck zeugt von Schwäche und Schlaffheit. Seine inneren Organe, 
namentlich die der Verdauung, Respiration, Circulation und Excretion manifestieren 
deutlich eine funktionelle Schwäche und Minderwertigkeit und sind damit zu allen 
möglichen Störungen und Erkrankungen besonders disponiert. Als besonders atonisch 
erweist sich beim asthenischen Individuum die Muskulatur, u. zw. sowohl die quer- 
gestreifte Körpermuskulatur als auch die glatte Muskulatur der inneren Organe. 
Hierauf wird später noch näher einzugehen sein. 

Wie zuerst von Stiller erkannt wurde, liegt die Ursache für das oben erwähnte 
Augenfälligsein des asthenischen Zustandes im Gesamthabitus der betroffenen Person, 
vor allem in gewissen charakteristischen Anomalien des gesamten Skelets. Schon am 
Kopf fällt die relative Kleinheit des Gesichts auf, die als Folge der besonderen Zartheit 
= und Schmalheit der Gesichtsknochen, wie vor allem des Unterkiefers, der Nase und 
des Jochbogens aufzufassen ist; gleichzeitig finden wir den Gaumen schmal und 
steil gestellt und einen ausgesprochen langen schlanken Hals. Wie Mathes u.a. 
sagen, sehen infolgedessen asthenische Individuen nicht selten jünger aus, als sie 
in Wirklichkeit sind. 

Die steil abfallenden Rippen mit ihren weiten Intercostalräumen und den her- 
vorstehenden Schulterblättern und Schlüsselbeinen lassen den langen, schmalen und 
flachen Brustkorb des Asthenikers mit seinem spitzen epigastrischen und vertebralen 
Winkel als einen ausgesprochenen Thorax paralyticus erscheinen. 

Von Stiller ist des weiteren, schon bei seinen ersten Veröffentlichungen über 
die Asthenia universalis darauf hingewiesen worden, daß mit markanter Regelmäßig- 
keit bei den Individuen dieser Konstitutionsanomalie eine sog. Costa decima fluctuans 
zu finden und meist schon ganz augenfällig ist. Infolge angeborenen Defektes der 
Knorpelspange hat die zehnte Rippe keine Anheftung mehr am Brustkorb gefunden, 
sondern endet frei, sie ist „fluctuans“ geworden. Nach Stiller kann in gewissen 
Fällen auch schon das Ende der neunten Rippe in mäßigem Grade frei tastbar 
werden. Über die specifische Zugehörigkeit dieses Stigmas der frei beweglichen 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 6 


82 Walther Hannes. 


zehnten Rippe zur Asthenie gehen nach reichlicher Diskussion der Autoren auch 
heute die Meinungen noch zum Teil auseinander. Immerhin ist es bedeutsam, daß 
Stiller auch jetzt noch auf Grund seiner fortlaufend eingehenden Untersuchungen 
und seiner wohl auf diesem Gebiete ausschlaggebenden großen Erfahrung an der 
specifischen Bedeutsamkeit dieses Costalstigmas festhält und seine Ansicht zu dieser 
Frage dahin zusammenfaßt, daß in Fällen, wo sonst der Thorax annähernd normal 
gebaut ist, wo sich aber die Costa decima fluctuans findet, dies allein bereits den Orga- 
nismus zum asthenischen stempelt. Ist dem so, dann muß die Asthenie ein konstanter 
angeborener Zustand sein.und nicht, wie Brugsch u. a. meinen, ein auf Grund 
äußerer Verhältnisse erwor- Fig. 2. 
bener. Hier schlägt Mathes 
gewissermaßen eine ver- 
mittelnde Brücke, indem er 
den Begriff des sog. astheni- 
schen Anfalles prägt, in dem 
die vorher bald mehr oder 
weniger latent gewesene 
asthenische Anlage klinisch 
offensichtlich wird. Ohne 
sich nun aber prinzipaliter 
auf das Costalstigma festzu- 
legen, führt Mathes weiter 
aus, daß es in der sozusagen 
anfallsfreien Zeit immer 
möglich ist, diese zu asthe- 
nischen Anfällen disponie- 
rende konstitutionelle An- 
lage stets und, was beson- 
ders wichtig sein muß, auch 
bereits vor dem ersten An- 
fall klarzulegen. Hierzu kann 
wohl sicherlich das Stiller- 
sche Stigma von der beweg- 
lichen zehnten Rippe sehr 
viel beitragen, die nach 
Bauer zwar nicht als ein 
Frau mit normalem Thorax besonders bedeutsames De- 37jährige Frau mit typischer Asthenie 
(nach Mathes in Halban-Seitz). generationszeichen anzu- E nee Lee 
| sehen ist, aber am astheni- 
schen Brustkorb häufiger zu finden ist als an anders konstitutionierten. 

Daß diese eigenartige Thoraxform nicht ohne Einfluß auf den gesamten übrigen 
Organismus sein kann, lehrt allein schon ein Blick auf die beiden obenstehend wieder- 
gegebenen Bilder (Fig. 1 u. 2). Die Richtung des Verlaufes der Rippen ist auf beiden 
Abbildungen mittels Jodstriches gekennzeichnet. Dies macht die auch sonst schon 
deutliche Differenz der beiden Brustkörbe noch besonders offensichtlich. Als deutliche 
Folge des asthenischen Thorax ist ferner bei Betrachtung dieser beiden Abbildungen 
zu registrieren, daß unter Äbflachung der auch an sich tiefer als normal befindlichen 
Lendenlordose eine ausgesprochene Rückenkyphose besteht. Die Nates erscheinen 
flacher und weniger prall; die Unterbauchgegend imponiert als gesenkt und über- 


Fig. 1. 





Die Asthenie des Weibes. 83 


hängend. Hingewiesen sei auch auf die im ganzen muskelschwache und schlaffe Haltung 
und den überaus müden, schlaffen, deprimierten Gesichtsausdruck der Asthenica. 

Eine weitere Folge der skizzierten asthenischen Form des Rumpfskeletes ist, 
wie Mathes ausführt, eine offensichtliche Änderung des Tiefendurchmessers der 
Eingeweidesäule. Wie die untenstehenden, der Mathesschen Arbeit entnommenen 
schematisierten Zeichnungen (Fig. 3) deutlich zur Anschauung bringen, ist beim 
normal konstitutionierten Rumpf der Tiefendurchmesser der Eingeweidesäule oben, 
d. h. im Thorax, groß, und unten, d. h. im Bauch, klein; beim asthenisch konstitutio- 
nierten Rumpf ist es umgekehrt. Die Folge dieses Geschehens ist die Enteroptose. 
Hierzu kommt, daß das Zwerchfell tiefer steht als normal, u. zw. ohne Änderung 
seiner Niveauverhältnisse zu den Rippen, ausschließlich infolge der Längensteigerung 
des Brustkorbes (Stiller). Dieser bis zu einem gewissen Grade also nur scheinbare 


Fig. 3. 


Schematisch; links normal konstitutionierter Rumpf, rechts asthenisch konstitutionierter Rumpf 
(nach Mathes in Halban-Sei tz). 


Tiefstand des Zwerchfelles bewirkt oft eine Steilstellung des bei diesen Individuen 
an sich kleinen Herzens infolge des nun größeren Abstandes des dem Herzen als 
Unterlage dienenden Zwerchfelles von den großen Gefäßen, dem „Aufhängeapparat“ 
des Herzens. So kommt es nach Stiller zu dem sog. Tropfenherzen. 

Alle Organe und Funktionen der Astheniker stehen im Zeichen der Schwäche, 
der Schlaffheit und der Atonie (Stiller, Mathes, Hart u. a.). Hiervon sind nicht nur 
die inneren Organe, die glatten und quergestreiften Muskeln und das Bindegewebe 
betroffen (Vogel), sondern vor allem ist auch dem gesamten Nervensystem der 
gleiche Stempel aufgedrückt. Hierbei sei jedoch gleich betont, daß zwar die 
Astheniker eine ausgesprochene Disposition zu depressiven Verstimmungen zeigen 
(Stiller, Mathes u. a.) daß sie aber im Gegensatz zu den ja so reichlichen 
Zeichen körperlicher Degeneration im allgemeinen keine Symptome psychischer 
Degeneration aufzuweisen pflegen (Stiller). Neben dieser ausgesprochen neur- 
asthenisch-depressiven Veranlagung finden wir nach Stiller, Mathes u. a. eine 
nervöse Überempfindlichkeit in Gestalt übermäßiger Reaktion auf normale bzw. 
sogar auf geringe Reize. Namentlich äußert sich das in spinalen, kardialen, 

ch 


84 Walther Hannes. 


sexuellen und vor allem in splanchnischen Nervenstörungen bei den Asthenischen. 
Diese letzteren überwiegen und drücken dem Gesamtbefinden des betreffenden 
asthenischen Individuums ihren besonderen Stempel auf in Gestalt der nervösen 
Dyspepsie, wenn der Sympathicus mit in diese konstitutionelle Nervenschwäche 
einbezogen ist. Daß solch ein asthenisches vegetatives Nervensystem ganz besonders 
auch in der Sexualsphäre zu typischen und häufig krankhaften Erscheinungen führen 
kann und muß, werden wir später noch zu erörtern haben. Nach Mathes offenbart 
sich die Asthenie des Sympathicus besonders auch in seiner Schmerzhaftigkeit, u. zw. 
gibt es nach ihm ganz typische Druckpunkte, die links im allgemeinen typischer als 
rechts sind. Solche Druckpunkte sind am Rande der Lendenwirbelsäule und im Hypo- 
gastrium, wo der sich teilende Grenzstrang den hinteren Teilen des Darmbeines auf- 
liegt. An dieser Stelle besteht starker Tiefendruckschmerz und eine beim Aufheben 
einer Hautfalte deutlich werdende Überempfindlichkeit der Haut. Auf eine gesteigerte 
Erregbarkeit des Sympathicus lassen auch die bei solchen Individuen im Anschluß 
an die Entblößung dieser Teile erscheinenden roten Hautflecke an Hals und Brust 
schließen, sowie die gesteigerte Dermographie und die vermehrte Schweißabsonderung 
an Händen, Füßen und in der Achselhöhle. 

Diese soeben kurz und im Rahmen unserer Abhandlung nur skizzenhaft dar- 
gelegte Hyperästhesie des gesamten Nervensystems der Asthenischen ist zwar stets 
nachweisbar, aber hinsichtlich ihrer Erscheinungen und ihres Manifestwerdens ist 
sie zeitlichen Schwankungen unterworfen. Namentlich Mathes hat von Anbeginn 
seiner Beschäftigung mit diesen Fragen den Standpunkt vertreten und nachdrücklich 
betont, daß häufig mehr oder weniger offensichtliche äußere Einflüsse auf das Ein- 
setzen der von solchen Nerven- und Innervationsstörungen bedingten asthenischen 
Erscheinungen auslösend wirken können. 

Auch die Chlorose wird von vielen Autoren (Meynert, Stiller, Mathes) als 
eine Manifestation der asthenischen Konstitution angesehen; der alsbald noch zu 
erörternde sog. asthenische Anfall findet bei solcher Manifestation der asthenischen 
Konstitutionsanomalie eine Parallele im chlorotischen Anfall. So haben z. B. die 
Untersuchungen von Hösslins ergeben, daß sehr häufig bei Asthenischen, u. zw. 
namentlich bei den zeitweise oder ständig blaB aussehenden, eine ausgesprochene 
Lymphocytose bestand. So fand ferner Borchardt, daß bei Asthenikern durch 
Nucleinsäureinjektion eine erheblich stärkere Lymphocytose auszulösen ist als bei 
anderen Menschen. Er sieht deswegen die Asthenie als eine Form reizbarer Kon- 
stitution mit so ausgedehnten Hypoplasien der Muskulatur und der Stützgewebe 
an, daß die Erscheinungen erhöhter Reaktionsfähigkeit im allgemeinen ganz in den 
Hintergrund treten. Schiff, welcher bereits von einem typischen asthenischen Habitus 
(Wetzel wies ihn bereits beim Säugling nach) im frühen Kindesalter spricht, findet 
neben Labilität der Temperaturregulierung bei solchen Kindern eine leichte Ermüd- 
barkeit infolge konstitutioneller Schwäche der Blutcirculation (kleines Herz, enge 
Gefäße). Auch die Gefäßwände sind primär anomal; nicht nur ist bei diesen 
scheinanämischen Kindern (Strauß), die auch zu häufigem Farbwechsel neigen, der 
schlecht gefüllte Puls leicht unterdrückbar, sie zeigen auch bei Injektionen von 
05 mg Adrenalin keine Blutdrucksteigerung. Ursache dieser sog. asthenischen 
Gefäßreaktion ist eine mangelhafte Gefäßanlage. Schwächt man den autonomen 
Tonus der Gefäße durch Atropinvorbehandlung u. s. w., so verhalten sich auch 
dann noch diese Kinder refraktär gegen die Adrenalininjektion. 

Von seinen Beobachtungen und Erfahrungen ausgehend, hat Mathes, wie 
schon mehrfach angedeutet, den Begriff des sog. asthenischen Anfalles geprägt. 


Die Asthenie des Weibes. 85 


Sämtliche vegetativen Funktionen sind, wie Mathes sagt, bei seinem Ausbruch in 
Aufruhr. Unter Erbrechen, Dyspnöe, Auftreibung des Leibes, Leibschmerzen oft 
unbestimmter Lokalisation, Angstgefühl, kaltem Schweiß u. s. w. entwickelt sich ein 
Zustand, der ohne nähere Kontrolle und Beobachtung von Puls und Temperatur, 
die normal sind, bei dem nicht Erfahrenen den Verdacht einer beginnenden Peritonitis 
erwecken können. Dauer und Intensität dieser Anfälle können verschieden sein; sie 
können sich ebensowohl plötzlich aus scheinbarem Wohlbefinden, namentlich wie 
Mathes meint, als Ausdruck psychischer Konflikte entwickeln, als auch ganz all- 
mählich entstehen. 

Der asthenische Anfall ist also zwar als idiopathisch für die asthenische 
Konstitutionsanomalie anzusehen, doch ist es keineswegs nötig, daß es bei jedem 
asthenischen Individuum einmal zur Auslösung solch eines Anfalles kommt. 

Wenn wir auch nach allem bisher Gesagten den asthenischen Habitus als 
einen angeborenen und nicht als einen erworbenen Zustand anzusehen haben, so 
vertreten doch eine Reihe auf diesem Gebiet besonders erfahrener Forscher (Brugsch, 
Aron u.a.) den Standpunkt, daß es wenigstens in gewissen Fällen und unter gün- 
stigen hygienischen, diätetischen und therapeutischen Bedingungen möglich ist, diese 
asthenische Anlage bessernd zu beeinflussen, bzw. den aus der Anlage sich ergebenden 
Dispositionen und Neigungen zu verschiedenen Anomalien und Krankheiten vorzu- 
beugen. Einige meinen, daß Frühgeborensein zur Asthenie disponiere. Die Anschauung 
der Autoren geht ziemlich eindeutig dahin, daß die Individuen asthenischer Konstitution 
besonders disponiert sind für Tuberkulose, Magen- und Duodenalgeschwüre auf der 
Basis dyspeptischer Zustände, ferner zu Chlorose und orthotischer Albuminurie und 
schließlich zu einer ausgesprochenen reizbaren Schwäche des gesamten Nerven- 
systems. Um sich aber anderseits vor einer Überwertung der Bedeutung der 
Asthenie für Leben und Gesundheit der betreffenden Individuen zu schützen, soll 
man sich bewußt sein, daß, worauf bereits Mathes hinwies, in gewissen Gegenden der 
Habitus asthenicus anscheinend ganz besonders gehäuft auftritt, daß er nach Wencke- 
bach z.B.in Friesland geradezu zu den Rasseeigentümlichkeiten des dortigen Menschen- 
schlages gehört. Man muß sich auch ferner immer vor Augen halten, daß Asthenie 
zwar eine Konstitutionsabweichung von dem ganz fiktiven Begriff der Normal- 
konstitution bedeutet, daß anomale Konstitution aber noch keineswegs gleich- 
bedeutend mit Kranksein oder mit Krankwerdenmüssen ist. Während noch Stiller 
bei seinen ersten Publikationen über dieses Gebiet fälschlicherweise, wie uns in- 
zwischen die Konstitutionsforschung lehrte, von einer asthenischen Konstitutions- 
krankheit spricht, müssen wir heute als vollgewichtiges Ergebnis der modernen 
Konstitutionsforschung registrieren, daß asthenische Individuen keineswegs immer 
ihrer Konstitution wegen erkranken müssen. Bleiben ihnen auslösende somatische 
und psychische Insulte erspart, so braucht ihre asthenische Konstitution nie in 
einer ihr typischen krankhaften Affektion manifest zu werden. Wir registrieren auch 
noch als nicht unwichtig für die Beziehungen zwischen asthenischer Konstitution und 
Krankheitserscheinungen, daß die Klinik der Konstitutionspathologie uns gezeigt 
hat, daß anderseits die Asthenischen gegenüber gewissen Krankheiten geradezu als 
geschützt zu betrachten sind. Es sind dies vor allem Diabetes, Fettsucht und Gicht, 
ferner schwere degenerative Herz- und Gefäßerkrankungen, sowie chronischer 
Gelenkrheumatismus und chronische Nierenerkrankungen. "Go bleiben sie namentlich 
auch vor Apoplexien bewahrt. | 

Wie wir gesehen haben, ist diese Konstitutionsanomalie, die Asthenie, hinsichtlich 
ihres Manifestwerdens an kein Lebensalter gebunden, sie ist beim Säugling und Kinde, 


86 Walther Hannes. 


wie wir ausgefüht haben, ebenso bereits erweisbar wie beim Erwachsenen. Auch männ- 
liches und weibliches Geschlecht werden von ihr wohl ziemlich unterschiedslos 
betroffen. Nichtsdestoweniger soll im folgenden nur noch von der Asthenie des 
Weibes und ihren Erscheinungsformen die Rede sein. Wir werden auseinander- 
zusetzen haben und sehen, daß beim Weibe die Asthenie gerade den Organen und 
Funktionen der Genitalsphäre ihren konstitutionspathologischen Stempel aufdrückt, 
so daß schon aus diesem Grunde allein eine gesonderte Behandlung der Asthenie 
des Weibes vollkommen berechtigt erscheinen muß. 

Nun kommt auch gerade wieder beim Weibe die Asthenie häufig nicht als 
eine völlig reine und unkomplizierte Konstitutionsanomalie zur Beobachtung, 
sondern vielfach, ja nach der Ansicht mancher wie Mathes u.a. meist vergesell- 
schaftet mit anderen Anomalien, u. zw. im wesentlichen vergesellschaftet mit Hypo- 
plasie und Infantilismus. Mathes, v. Kemnitz u.a. sprechen fast nur vom astheni- 
schen Infantilismus des Weibes. Über die Häufigkeit und Bedeutung der Hypoplasie 
bzw. des Status hypoplasticus (Bartel) für die Genitalsphäre des Weibes finden wir 
eingehende anatomische Untersuchungen bei E. Herrmann. Er fand an den Eier- 
stöcken solcher Personen Bindegewebsvermehrung mit regressiver Veränderung 
des Follikelapparates; er fand ferner überhaupt in über der Hälfte der einschlägigen 
anatomisch untersuchten Hypoplasiefälle eine bald mehr bald weniger ausgesprochene 
Genitalhypoplasie. Diese hatte sich auch klinisch bei den betreffenden Individuen 
dokumentiert in Menstruationsstörungen und Sterilität. Von 90 Frauen mit Genital- . 
= hypoplasie waren 54:45% steril, von 67 ohne Genitalhypoplasie nur 209%. 

Der Begriff des Infantilismus ist von Lasegue in die Medizin eingeführt 
worden; A. Hegar und W. A. Freund sind jedoch die ersten gewesen, die grund- 
legend die hierher gehörenden Störungen beobachteten und deuteten. 

Recht eingehend hat sich A. Mayer mit der Bedeutung von Hypoplasie und 
Infantilismus beim Weibe beschäftigt. Er legt dar, daß die der Asthenie eigentüm- 
lichen Erscheinungen, Ptose u. s. w., oft auch mit ausgesprochenen, zum Infan- 
tilismus gehörenden Entwicklungshemmungen, wie Chlorose (Meinert) oder wie 
infantiler Uterus (Mathes), kombiniert sich finden. A. Mayer macht dann weiter 
auf das auffallend weite Herabreichen der Darmschlingen in den hinteren Douglas 
bei gleichzeitiger Genitalhypoplasie aufmerksam und erinnert daran, daß von 
Hausmann u.a. die abnorme Beweglichkeit einzelner Darmteile für ein Symptom 
asthenischer Konstitution angesehen wird. Nach ihm gehören die Asthenischen 
Stillers, die „inferieurs“ Tuffiers und die von A. Hegar als „unfertig“ bezeichneten 
Infantilen in dieselbe Kategorie. wenn man nicht wie Strauß u.a. Infantile und 
Asthenische völlig miteinander identifizieren will. 

Manche, wie v. Kemnitz ua, sehen in dem Infantilismus als dem Stehen- 
bleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe etwas nach der Geburt Erworbenes und 
somit essentiell anderes als die sozusagen ererbte Asthenie. Da doch zweifellos 
vielen der gerade uns hier interessierenden Erscheinungen des Infantilismus endo- 
krine Störungen zu grunde liegen, worauf näher einzugehen ich mir im Rahmen 
dieser Abhandlung versagen muß, so können meines Erachtens der Infantilismus und 
seine Erscheinungen und seine Auswirkung nicht ausschließlich als nur etwas 
während des extrauterinen Daseins Erworbenes angesehen werden. Hier spielt beim 
Infantilismus doch wohl eine Erblichkeits- bzw. eine konstitutionelle Komponente 
auch noch mit. 

Wenn Mathes sagt, daß zur „funktionellen Minderwertigkeit“ der Asthenie 
sich die „morphologische Eigentümlichkeit“ des Infantilismus gesellt, und wenn 


Die Asthenie des Weibes. 87 


v. Kemnitz ausführt, daß beim ererbten Kraftmangel der Asthenie „mit ihrer 
enorm raschen Ermüdbarkeit und geringen Widerstandskraft“ sich dieser Kraft- 
mangel auch bei allen Zellfunktionen, also auch bei der Entwicklung, geltend macht 
und somit eine Entwicklungshemmung, ein Infantilismus resultiert, so kann man 
eben in diesem Infantilismus meines Erachtens dann auch nur eine weitere 
Erscheinungsform der Konstitutionsanomalie sehen. 

v. Jaschke und Jacobs sind am Material der Gießener Frauenklinik der 
Frage nachgegangen, wie oft sich überhaupt konstitutionelle Anomalien bei gynä- 
kologischen Kranken feststellen lassen. Von 200 untersuchten Frauen und Mädchen 
fand sich bei 85% irgend ein auf Asthenie weisendes Stigma. Das zeigt schon, wie 
häufig bei den unsern Rat in Anspruch nehmenden Kranken zum mindesten eine 
Anlage zur Asthenie vorhanden ist. Ausgesprochene Asthenie war auf Grund der 
nachweislich vorhandenen charakteristischen Befunde bei 11% der Fälle erweislich. 
In 135% ihrer Fälle, also bei 27 Frauen, fanden v. Jaschke und Jacobs ohne 
sonstige Zeichen von Asthenie eine ausgesprochene partielle Hypotonie, namentlich 
in der Kombination von Pes planus, Varizen und Enteroptose; mit Tandler sind 
wohl auch ohne sonstige somatische und nervöse Asthenieerscheinungen solche 
Individuen hypotonischer Anlage zur Gruppe der Astheniker einzureihen, wenn 
auch nur bei drei Frauen dieser Gruppe noch andere asthenische Stigmata evident 
waren. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß v. Jaschke diese Frauen nicht zu den 
Asthenikern gezählt wissen will. 

Hierzu kommt, daß im Gießener Material bei 36 Frauen mit infantilen 
Stigmen auch dieser erwähnte Hypotoniekomplex sich fand. Dies weist meines 
Erachtens auf die von Mathes immer und immer wieder betonte häufige Kom- 
bination von Infantilismus und Asthenie hin. So fanden sich unter den Gießener 
Fällen neben den 22 (11%) ausgesprochenen Asthenikerinnen 21 Kranke, bei denen 
eine Entscheidung, ob Asthenie oder Infantilismus, objektiv gar nicht möglich schien. 

Infantile Zustände am Genitale fanden sich am besagten Materiale in 405%; 
doch weist mit Recht Jacob darauf hin, daß wohl. bei mancher Frau, die bereits 
geboren hatte, früher ein noch infantiles Genitale bestanden haben mag, das dann 
eben noch ausreifte, da ja doch diese konstitutionelle Anomalie nichts Unwandel- 
bares darstellt. 

Gehen wir nun zur Klärung der Frage über, weile Anomalien und krank- 
hafte Erscheinungen in der weiblichen Genitalsphäre besonders bzw. ausgesprochen 
oft sich auf der Basis asthenischer Konstitution entwickeln. bzw. durch sie Vorschub 
geleistet bekommen, so haben wir zunächst der Menstruation und ihren Störungen 
unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dies umsomehr, als Mathes, M. Hirsch u.a. 
die sexuellen Vorgänge als die häufigsten Ursachen der aus der Asthenie sich ent- 
wickelnden Gesundheitsstörungen ansehen und betonen, daß die Asthenie besonders 
oft und typisch in der Pubertät manifest wird. 

Mathes hat die Menstruation das physiologische Urbild des asthenischen Anfalles 
genannt. Seit Goodmans Darlegungen über die Wellenbewegung im Leben des 
Weibes wissen wir, daß alle vegetativen Funktionen während der Menses bis zu 
einem gewissen Grade gehemmt sind, daß anderseits die Frau gewissen Einflüssen 
der Umgebung gegenüber in dieser Zeit sozusagen empfänglicher wird, so daß sie 
auch auf solche Einflüsse und Reize von außen mit ihrem Nervensystem ganz 
anders reagiert als zu anderen Zeiten. Zweifellos sind die daraus an Psyche und 
Soma resultierenden Erscheinungen während der Menstruation bei asthenischen 
Frauen und Mädchen viel heftiger und nachhaltiger als bei kräftig konstitutionierten 


88 Walther Hannes. 


Individuen. Nach Mathes sind die „handgreiflichen Elemente“ des asthenischen 
Anfalles Hyperästhesie und psychische Depression. Diese beiden Komponenten sind 
zum mindesten andeutungsweise wohl fast stets während der Menses auch bei 
solchen Frauen erweislich, die sich körperlich subjektiv für völlig unbeeinflußt 
während der Menstruation halten. Wieviel mehr aber in den Fällen, die auch für 
den Laien mit ausgesprochenen somatischen und psychischen Beschwerden während 
der Periode behaftet sind. Die Dysmenorrhöe hat in allen ihren Erscheinungen eine 
ausgesprochene Affinität zur weiblichen Konstitution bzw. Konstitutionspathologie. 
Bereits Menge und Krönig waren geneigt, die Dysmenorrhöe als nervös bedingt 
anzusehen. Mathes weist darauf hin, daß man bei allen Dysmenorrhöen die für ` 
Asthenie charakteristischen schmerzhaften Druckpunkte des Sympathicus am Bauch 
findet; ebenso fiel ihm auf, daß selbst bei Gesunden und nicht an Dysmenorrhöe 
leidenden Frauen die sonst so gut wie unempfindliche Cervixschleimhaut intra 
menses auch schon für leise Sondenberührung auffallend schmerzempfindlich wird. 
Auch die wechselnde Stärke der dysmenorrhoischen Beschwerden im Einzelfalle 
und ihre offensichtliche Abhängigkeit vom körperlichen und psychischen Allgemein- 
befinden dokumentiert ihre innigen Beziehungen zur Konstitution und macht es 
selbstverständlich, daß besonders Asthenikerinnen und vor allem auch gerade 
wieder solche mit infantil hypoplastischem Genitale unter dysmenorrhoischen 
Qualen zu leiden haben. K. Hegar fand bei hypoplastischem Uterus in etwa 50% 
und A. Mayer noch häufiger Dysmenorrhöe. Hirsch sieht in der Dysmenorrhöe 
„eine örtliche Minderleistung im Rahmen der konstitutiven Reaktionsmöglichkeiten 
und Reaktionsfähigkeiten des Organismus, also eine Konstitutionsstörung“. 85% 
seiner Dysmenorrhöefälle gehören dem schizoiden Typus Kretschmers an und 
dieser Typ koinzidiert nach M. Hirsch am gynäkologischen Material im wesent- 
lichen mit der Astheniee M. Hirsch fand weiter, daß bei 20% seiner mit 
Dysmenorrhöe behafteten Asthenischen die Ursache im wesentlichen in der Ein- 
geweideptose zu finden war; bei diesen war die Dysmenorrhöe nicht in der 
Pubertät, sondern erst nach der Entbindung aufgetreten. Hier kann operative 
Plastik am Beckenboden, Fettansatz und aktive Gymnastik zur Muskelkräftigung 
nach Hirsch Besserung, ja Heilung bringen. In 60% fand Hirsch Hypoplasie der 
Genitalien. Bei diesen besteht meist neben einer besonderen Kürze und Straffheit 
des Bindegewebes auch eine ganz besonders leicht entzündliche Reizbarkeit des- 
selben; ferner lange Cervix uteri mit spitzwinkliger Anteflexion. Für diese .Fälle 
kommt Hirsch zu folgender Erklärung der Dysmenorrhöe. In dem starren und 
entzündlich reizbaren Bindegewebe, welches der Hand in Hand mit der menstruellen 
Hyperämie gehenden serösen Durchtränkung weniger leicht zugänglich ist als ` 
normales Bindegewebe, sind die sensiblen Nervenendigungen schmerzhaftem Druck 
und Zug ausgesetzt. Mit zunehmender seröser Durchtränkung und Auflockerung 
des Gewebes: wird die „Asensibilisierung“ erzielt. Ähnlich wie bei der Infiltrations- 
anästhesie, sagt Hirsch, kehrt dann am Ende der Menses der Schmerz oft noch 
einmal schwächer und kurzdauernd zurück. Mittels Organtherapie, Eisen, Arsen, 
Bädern und Gymnastik soll man eine Besserung der Hypoplasie in diesen Fällen 
anstreben; nach Hirsch ist hier auch eine normale Vita sexualis von Einfluß. So 
registriert Hirsch bei 40% seiner Dysmenorrhoischen „deutliche Mängel der 
Sexualität oder Übergänge zum andern Geschlecht“. Er registriert dann weiter bei 
50% seiner mit Dysmenorrhöe behafteten Asthenischen Schwäche des vegetativen 
Nervensystems, Neurasthenie und Psychasthenie u. zw. oft unter dem Bilde der 
Vagotonie und Sympathicotonie; in 30% bestand sogar ausgesprochene Spasmophilie. 


Die Asthenie des Weibes. ` 89 


Hier hat eine allgemeine Behandlung mit Bädern, hochgespannten Strömen, intra- 
venöser Kalkzufuhr einzusetzen, lokale gynäkologische Behandlung ist sinn- und 
zwecklos. Jacobs fand am Material der Gießener Klinik unter 12 Dysmenorrhöe- 
fällen sechsmal typisch infantilen Uterus und einmal eine schwere Asthenie mit 
Retroflexio uteri. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Asthenischen und namentlich 
die Infantil-asthenischen einen besonders großen Prozentsatz zu den mit Dysmenorrhöe 
behafteten Frauen und Mädchen stellen; dies soll man, wie auch schon angedeutet, 
bei der. Aufstellung des einzuschlagenden Heilplanes genau so berücksichtigen wie 
im Einzelfall& etwa vorliegende ebenfalls diagnostisch aufklärungsbedürftige endokrine 
Störung (Ovarium, Thyreoidea, Hypophyse u. s. w.); damit darf meines Erachtens 
aber für die konstitutionell bedingte Dysmenorrhöe keineswegs abgegangen werden 
von der typischen Standardbehandlung der Dysmenorrhöe, nämlich der Dilatation, 
die nach meiner Erfahrung auch in den schweren Fällen konstitutionell bzw. 
endokrin bedingter Dysmenorrhöe recht Gutes leistet und trotz anderer ätiologisch 
scheinbar viel besser begründeter Heilverfahren gar nicht zu entbehren ist. Wenn 
wir nach Menges Anschauung annehmen, daß die zur Zeit der Menses physio- 
logischen Zusammenziehungen der Gebärmutter bei geschwächten vegetativen. 
Nervensystem als schmerzhaft empfunden werden, so können wir verstehen, daß 
eine mittels Laminaria oder anderer geeigneter Methode vorgenommene Erweite- 
rung des gesamten Gebärmutterkanals und namentlich seiner physiologisch engsten 
Stelle am inneren Muttermund auch den Infantilen und Asthenischen häufig eine 
Besserung ihrer dysmenorrhoischen Beschwerden bringen wird. 

Ganz analog der Dysmenorrhöe hat uns die Konstitutionsforschung gezeigt, 
daß die Asthenie zu Anomalien der monatlichen Blutausscheidung, u. zw. namentlich 
in Richtung der übermäßigen Blutung, der sog. Menorrhagie, disponiert. Seitz vertritt 
auf Grund des Materials der Gießener Klinik den Standpunkt, daß bei Blutungen 
des geschlechtsreifen Alters im Menstruationstyp, also bei der sog. Menorrhagie oder 
Hypermenorrhöe, vorwiegend Infantilismus, ja noch häufiger Asthenie oder auch die 
Kombination beider feststellbar ist. Da nach Ausweis des mikroskopischen Schleim- 
hautbildes in diesen Fällen der ovariell bedingte Cyclus völlig normal war bzw. 
völlig regelrecht ablief, so sieht Seitz die Ursache der Blutung in einer organischen 
Schwäche aller Elemente der Gebärmutter (Muskulatur, Nerven, Gefäße, Bindegewebe 
u. s. w.), also in der asthenischen Konstitution. Ganz analoge Fälle mit Neigung zu 
übermäßigen und im Typus eventuell anomalen Blutungen sind die, für welche Teil- 
haber, der z. B. eine Patientin beobachtete, die stets im Zorn zu bluten begann, den 
Begriff der Insufficientia uteri bildete. So stellt weiterhin van der Hoeven fest, daß 
ein Drittel seiner Patientinnen, die wir mit Mathes zu den mit Enteroptose behafteten 
rechnen müssen, selbst bei anteflektiertem Uterus profuse monatliche Blutungen 
aufwiesen. Mit Besserung des allgemeinen Muskeltonus sah dann van der Hoeven 
auch ohne lokale Behandlung diese Blutungen sich bessern. Auch Walthard mißt 
dieser Hypotonie der Gebärmutterkörpermuskulatur Bedeutung bei, u. zw. nicht nur für 
die in Rede stehenden Menorrhagien, sondern auch als Ursache für zu frühes Ein- 
treten und zu spätes Erlöschen der Menses. Ganz ähnliche Anschauungen entwickelt 
Mathes. Er mißt namentlich der Asthenie des sympathischen Ganglienapparates 
als Regulationsorgan für die Speicherung der Ovarialhormone eine große Bedeutung 
bei für das Auftreten starker monatlicher und auch atypischer Blutungen. Mathes 
geht ja noch weiter und sieht in der so typisch um die Zeit der Menarche ein- 
setzenden und häufig mit Störungen der Menstruation (Amenorrhöe, Dysmenorrhöe, 


90 Walther Hannes. 


Menorrhagie u. s. w.) einhergehenden Chlorose eine Auswirkung infantil-asthenischer 
Konstitution bzw. einer PE mit besonderer Beteiligung des blut- 
bildenden Apparates. 

Im Gegensatz zu dem am Schluß meiner Auseinandersetzung über die Be- 
deutung der Asthenie für die Dysmenorrhöe Gesagten ist hier zu betonen, daß lokale 
Behandlung dieser konstitutionell bedingten Blutungsanomalien keinerlei Aussicht auf 
Erfolg habe und demzufolge absolut zu verwerfen ist. Dagegen kommen neben 
allgemeinen therapeutischen Maßnahmen zur Hebung des Gesamtzustandes tonus- 
steigernde Mittel, wie Hypophysenpräparate, Ovarialpräparate u. s. w.,in Betracht. Nach 
meinen Erfahrungen ist hier Luteoglandol besonders wirksam. Zu warnen ist vor 
der Ausschabung der Gebärmutter; zu empfehlen ist dagegen Verabreichung von 
Kalk, Kalzan use 

Neben den soeben abgehandelten Menstruationsstörungen bekommen wir von 
den Asthenikerinnen, wie fast alle Beobachter übereinstimmend angeben, Klagen 
über Fluor und Kreuzschmerzen zu hören. Daß die ausflußartige Sekretion aus den 
Genitalien in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nichts mit Endometritis, die 
man früher geradezu mit dem Begriff des Fluors identifizierte, zu tun hat, haben 
bereits die mikroskopischen Untersuchungen der Schleimhaut durch Hitchmann und 
Adler bahnbrechend klargelegt. Die Entwicklung einer anomalen Scheidenflora ist, 
wie Schröder, Löser, Döderlein u. a. gezeigt haben, oft gleichbedeutend mit 
Hypersekretion, mit Fluor. Schon die Erfahrung, daß die Chlorose in so enger Be- 
ziehung zum Auftreten von Ausfluß steht, macht die Bedeutung der Konstitution 
für das Fluorproblem offensichtlich. Löser ua fanden bei Asthenischen die beim 
Vorhandensein von Fluor bedeutsame Verschlechterung des Reinheitsgrades der 
Scheidenflora. Wie auch von Löser u. a. erwiesen wurde, ist der Glykogengehalt 
der Scheidenschleimhaut ausschlaggebend für den Aufbau der mikrobiotischen 
Scheidenflora; er ist bei pathologischer Scheidenflora, d. h. beim Fluor, deutlich 
gemindert. Niederehe fand bei Asthenie deutliche Verminderung des Glykogen- 
gehaltes und Disposition zur Verschlechterung der Scheidenflora. Mathes faßt den 
Fluor der Asthenica auf als eine Hypersekretion des Endometriums analog der 
asthenischen Hypersekretion der Magenschleimhaut. In diesen Fällen ist die lokale 
Behandlung auf ein Minimum zu beschränken (Kamillenwaschungen, Dialon- 
puderungen u.s. w.) und eine allgemeine zur Hebung der Kräfte führende Behandlung 
einzuleiten; unbedingt zu unterlassen sind Ätzungen und Ausschabungsbehandlung 
des Uterus. Mathes, v. Kemnitz u.a. registrieren als Beschwerden, die fast stets 
in Gemeinschaft mit dem Fluor geklagt werden, die Kreuzschmerzen und die Sterilität. 

Daß die mit Hypoplasie und Infantilismus so oft kombinierte Asthenie recht . 
häufig unter den sterilen Frauen angetroffen wird, nimmt nicht wunder; so fand 
Jacobs unter 16 sterilen Frauen wesentliche Genitalinfantilismen. 

Was nun die so regelmäßig nach Ausweis der einschlägigen Literatur von 
den asthenischen Frauen und Mädchen geklagten Kreuzschmerzen anlangt, so muß 
hier eine gewisse Gegenüberstellung von verschiedenen Gruppen stattfinden; einmal 
von solchen weiblichen Individuen, bei denen tastbar durch bimanuelle Untersuchung 
keinerlei Abweichung vom regelrechten Tastbefund erweislich ist, und in solche, 
bei denen neben der allgemeinen Asthenie der Gewebe auch noch manifeste Ab- 
weichungen und Erkrankungen der Genitalorgane tastbar sind. Bei den Fällen, wo 
keinerlei Abweichungen am Genitale tastbar sind, muß man, wenn auch das für 
die Asthenie mit den Kreuzschmerzen charakteristisch vergesellschaftete Ermüdungs- 
gefühl im Kreuz vorhanden ist, nach weiteren konstitutionspathologischen Merkmalen 


Die Asthenie des Weibes. 91 


und Zeichen forschen; ein schwerer Fehler wäre es, einzig auf dieses Symptom des 
Kreuzschmerzes hin, eine gynäkologische Behandlung einzuleiten. Leider — dies muß 
ohne Beschönigung zugegeben werden — wird in diesem Punkte noch seitens vieler 
Gynäkologen von diesem Grundsatze abgewichen. Auf Grund der Untersuchungen 
W. A. Freunds an den Lendenwirbel-Kreuzbein-Verbindungen der Infantilen ist 
Mathes geneigt, diese Kreuzschmerzen den typischen Plattfußbeschwerden an die 
Seite zu stellen. 

Die anomalen bimanuellen Tastbefunde, die wir bei nicht wenigen der mit 
Kreuzweh behafteten Asthenischen und Asthenisch-Infantilen vorwiegend oft erheben, 
sind die sog. Parametritis posterior W. A. Freunds und die Retroflexio uteri. Die 
kurze der Ligamenta sacrouterina ist zweifellos oft als eine Entwicklungshemmung 
im Sinne des Infantilismus aufzufassen. L. Fraenkel vertritt die Anschauung, daß 
es sich hier um eine verminderte Elastizität und eine atrophische Entartung des 
Bindegewebes handle. Aus diesen Gründen wollen Mathes und Bauer wenigstens 
einen großen Teil der einschlägigen Fälle dem asthenischen Infantilismus zugezählt 
wissen, zumal auch Bab den Standpunkt vertritt, daß infolge von Infantilismus so 
häufig gerade Frauen mit Parametritis posterior absolut bzw. relativ steril sind. 
Auch die Tatsache, daß nach L. Fraenkel die Parametritis posterior in ca. 10% 
‚Hauptbefund und 61:7% Nebenbefund bei gynäkologisch kranken Frauen sei, nimmt 
Mathes für die Tatsache in Anspruch, daß hier die infantil-asthenische Konstitutions- 
anomalie eine nicht unwichtige Rolle spiele. Es ist wohl sicher richtig, daß ein 
nicht kleiner Teil der mit Parametritis posterior behafteten Frauen und Mädchen, 
worauf schon W. A. Freund hinwies, nicht durch lokale gynäkologische Therapie 
. gebessert oder gar geheilt werden kann, sondern nur durch allgemeine thera- 
peutische bzw. diätetische Maßnahmen, die auf eine Hebung des allgemein körper- 
lichen und nervlichen Zustandes abzielen. Es sind dies die weiblichen Individuen, 
bei denen wir durch den Befund an den Ligamenta sacrouterina aufmerksam gemacht, 
unschwer andere für Asthenie und Infantilismus charakteristische Stigmata finden. 
Einzig und allein aus dem gewiß recht häufigen Befund der verkürzten, infiltrierten, 
entzündlich schmerzhaften Ligamenta sacrouterina auf eine allgemein mangelhafte 
und krankhafte Veranlagung zu schließen, ist aber durchaus zu verwerfen. Es muß 
immer wieder einmal ausdrücklich hervorgehoben werden, daß gar nicht wenige 
dieser sog. Parametritis-posterior-Fälle anatomisch Reste und Endstadien von intra- 
peritoneal im Douglas, also vollkommen extraparametran abgelaufenen Entzündungen 
darstellen, d. h. es handelt sich hier um intraperitoneale Verlötungen und Verklebungen 
im Douglas in der unmittelbaren Umgebung der Ligamenta sacrouterina. Hier ist 
manches aus der Anamnese differentialdiagnostisch verwertbar; hier in diesen Fällen 
erzielt die gynäkologische Therapie (Tamponade, Badebehandlung, Diathermie, 
Massage, eventuell auch operative Lösung) gute Erfolge. Gewiß gibt es Autoren, 
die wie Payr u.a. glauben, daß bei allgemein konstitutioneller Schwäche auch die 
Serosadeckzellen minderwertig seien und somit bei Asthenischen häufiger zu 
Adhäsionsbildung post laparatomiam führen, doch ist diese Neigung zu postoperativen 
Verwachsungen auf konstitutionell asthenischer Basis von anderen Autoren wie 
von Vogel aufs nachdrücklichste bestritten worden, obwohl ja im übrigen gerade 
Vogel die Asthenie gewissermaßen als eine allgemeine Bindegewebsdyskrasie be- 
trachtet und sie für schlechte Wundheilung und Bildung wenig resistenter Narben 
bei solchen Individuen ätiologisch in Anspruch nimmt. 

Und nun zur Bedeutung der Retroflexion für den ganzen Komplex der uns 
hier interessierenden Fragestellungen! Daß die Retroflexio uteri auch bei völliger 


92 Walther Hannes. 


Beweglichkeit des Organs als eine Anomalie aufzufassen ist, weil eben nur die 
Anteflexio uteri sich als die Normallage erwiesen hat, wissen wir seit B. S: Schulze. 
Vor allem Küstner hat dann darauf hingewiesen, daß in einem nicht kleinen Teil 
der Fälle die Retroflexion als ein angeborener Zustand aufzufassen ist, daß hier 
eine Hemmungsbildung, oft ein ausgesprochener Infantilismus vorliegt. Des weiteren 
ist es vor allem auch wieder Küstner, welcher immer und immer betont, daß 
unter den Trägerinnen der ätiologisch aufs Wochenbett zurückgehenden Retro- 
flexionen vorwiegend Individuen der schlaffen Faser sich befinden und daß diese 
Retroflexion nur als ein Teil der Enteroptose aufzufassen sei. Diese Angaben und 
Beobachtungen erweisen schon deutlich, daß die Asthenie und der asthenische 
Infantilismus zahlreiche Vertreterinnen unter den Trägerinnen einer Retroflexio 
erkennen lassen. Die Retroflexio uteri, die ja meist auch mit einem mindestens 
geringen Descensus uteri vergesellschaftet ist, und ebenso der noch später 
im Zusammenhang unserer Äuseinandersetzung zu erörternde Prolaps sind in 
diesen Fällen als zugehörig zur asthenischen Enteroptose anzusehen. Wer nur 
einigermaßen darauf achtet, wird leicht finden können, wie auffallend oft auch 
namentlich bei Multiparen die Retroflexio uteri mit ausgesprochener Senkung aller 
bzw. einzelner Bauchorgane wie Niere, Leber, Magen u.s.w. vergesellschaftet ist, 
worauf neben Küstner, Menge, Martin, Heinrizius, Langerhaus, van der- 
Hoeven u. a. hingewiesen haben. Van der Hoeven fand bei 58 klinisch beob- 
achteten Enteroptosen 36mal Lageanomalien der Genitalien, u. zw. 2mal Retropositio 
und 18mal Retroflexio uteri und ferner 7mal Prolaps mit Anteflexio und Ymal mit 
Retroflexio uteri. Unter 101 poliklinisch beobachteten Frauen mit meist auch 
Gastroptose zeigenden Nephroptosen fand van der Hoeven 38 Retroflexionen, 
23 Prolapse und 40mal Änteflexio uteri. Da nach van der Hoevens Anschauung 
ein vom Centrum des Bauches aus wirkender Druck die Organe auf der ihnen zu- 
kommenden Stelle halte, so führe der allen diesen Individuen gemeinsame Er- 
schlaffungszustand der Muskelelemente und des Bindegewebes zu den gefundenen 
Lageanomalien. Mathes fand bei 83 Frauen mit asthenischer Enteroptose 33 mal 
Lageanomalien der Gebärmutter. Van der Hoeven führt dann nach eingehender 
Gliederung seines Material aus, daß die Menstruationsanomalien, der Fluor albus, der 
Urindrang und die Unterleibsschmerzen als Retroflexionsschmerzen bei den einschlägi- 
gen Fällen aufzufassen sind, daß dagegen die oft geklagten Magensymptome und 
Schmerzen in den oberen Partien des Bauches auf die Ptose des betreffenden 
Organes zurückzuführen seien, und daß schließlich Kopfweh, Reizbarkeit u. s. w. 
dieser mit Retroflexion behafteten Asthenischen als Erscheinungen ihres geschwächten 
Nervensystems aufzufassen sind. Auch van Teutem fand unter dem Retroflexions- 
material der Leydener Klinik in 47% der Fälle Asthenie registriert. 

Wenn wir also annehmen, daß die Retroflexio uteri in vielen Fällen nur ein 
Stigma bzw. Symptom der Asthenie oder des asthenischen Infantilismus ist, so er- 
hebt sich die wichtige Frage: Bedarf so eine auf konstitutioneller Basis entstandene 
Retroflexion einer Behandlung für sich, oder nur im Rahmen der gesamten vor- 
handenen Konstitutionsanomalie? Eine ganze Reihe Autoren, wie Feuchtwanger, 
Krönig, Theilhaber, Mathes u.a., lehnen ja auch wirklich die Behandlung der 
Retroflexio uteri mobilis als Erkrankung sui generis ab. Meines Erachtens ist die 
ganze Fragestellung nach folgenden Gesichtspunkten zu entscheiden. Eine ge- 
sonderte Behandlung ist nicht nötig, wenn es als erwiesen zu betrachten ist, daß 
die unkomplizierte mobile Retroflexio uteri keinen besonderen Symptomen- bzw. 
Beschwerdenkomplex auslöst, oder wenn eine rationelle, auf Besserung der ätiologi- 


Die Asthenie des Weibes. 93 


schen Konstitutionsanomalie abzielende Therapie Aussicht auf Erfolg hat. Dagegen 
ist eine gesonderte Behandlung dann meines Erachtens am Platze, wenn es mit ihr 
möglich ist, die bestehenden Beschwerden zu beseitigen. 

Abgesehen von gewissen Formen der Kreuzschmerzen, namentlich wenn sie 
mehr einseitig auftreten und die Tendenz zeigen, ähnlich der Ischias hüft- und ober- 
schenkelwärts auszustrahlen, haben wir auch den Harndrang, das Druckgefühl auf 
den Mastdarm, die Menorrhagien und den Fluor als in ätiologischer Abhängigkeit 
zur Retroflexion stehend zu betrachten. Auch die Sterilität. bei Nulliparen steht 
zweifellos im Zusammenhang mit einer bestehenden Retroilexion, da wohl jeder 
Gynäkologe über nicht wenige Fälle eigener Erfahrung verfügt, wo nach kurzer 
oder längerer Ehe prompt nach Beseitigung der Retroflexion Conception eintrat. 
Besonders vor Augen steht mir unter vielen ein Fall meiner Praxis, wo nach mehr- 
fachen von anderen Gynäkologen vorgenommenen Sterilitätsbehandlungen von mir 
nach bereits 10jähriger steriler Ehe der Retroflexion wegen eine Verkürzung der 
Ligamenta rotunda nach Alexander-Adams vorgenommen wurde mit dem Erfolge, 
daß innerhalb dreier Monate nach der Operation die ersehnte Conception eintrat. 
Ebenso sieht man vielfach oder allmählich nach Behebung der Retroflexion die 
Menorrhagien einer normalen Menstruation Platz machen. Eine rationelle und durch- 
greifende Hebung der asthenischen Konstitution der Retroflexionsträgerinnen durch 
tonisierende und roborierende diätetische und medikamentöse Maßnahmen ist zur- 
zeit wohl noch sehr wenig aussichtsreich. Hingegen haben wir in der sog. ortho- 
pädischen Behandlung der mobilen Retroflexion, welche in Aufrichtung der Gebär- 
mutter, Pessar und Maßnahmen zur Kräftigung besonders des Tonus der Unter- 
leibsorgane (Badebehandlung, Massage u. s. w.) besteht, eine Methode, die in vielen 
Fällen erreicht, daß in ca. einem Jahr der Uterus auch ohne Pessar oder sonstige 
Maßnahmen in Normallage, d. h. in schwebender Anteflexion, liegen bleibt. Ist dieses 
Ziel nicht zu erreichen, oder ist aus Gründen oder Erwägungen heraus, die im 
Rahmen dieser Abhandlung eine Erörterung nicht finden können, von vornherein 
eine Pessarbehandlung unangängig, dann soll man bei Bestehen der oben skizzierten 
Beschwerden meines Erachtens doch eine lagekorrigierende Operation vornehmen. 
Man könne, sagen Autoren wie Mathes, Stiller u.a. beim Status asthenicoptoticus 
nicht jedes einzelne aus seiner Normallage dislozierte und gesenkte Organ durch 
Naht fixieren, um die Enteroptose zu beseitigen; denn damit würden ja gar nicht 
alle die in der vorliegenden anomalen Konstitution ursächlich begründeten somati- 
schen und nervösen Beschwerden radikal beseitigt. Zudem seien streng genommen 
diese Organe ja gar nicht aus ihrer Normallage gesenkt, sondern infolge der oben 
erörterten veränderten Statik befinden sie sich gewissermaßen normalerweise in ge- 
senktem Zustande. Doch wird keiner der Autoren dieser Richtung die Leibbinde 
als höchst schätzbares orthopädisches Behandlungsmittel des Status asthenicoptoticus 
entbehren wollen; gewiß, versagt sie, so wäre eine operative Fixur der gesamten 
Eingeweide ein wohl unausführbares Unterfangen; dem ist aber nicht so, wenn bei 
der Retroflexio uteri die oben skizzierte orthopädische Behandlung versagt. Zudem 
besitzen wir gerade bei der mobilen Retroflexio uteri in Gestalt der Verkürzung 
der Ligamenta rotunda nach Alquie-Alexander-Adams eine Methode, welche 
anatomisch völlig normale und ideale Lageverhältnisse am Uterus herstellt, indem 
das Organ nirgends selbst mit seiner Wand fixiert wird, sondern es wird nur durch 
die Ligamentverkürzung eine regelrecht frei bewegliche schwebende Anteflexion 
erzielt, wodurch die volle und ungestörte Funktion des Organs gewährleistet ist. 
Van der Hoeven hat vollkommen recht, wenn er sagt, daß der, welcher nur das 


94 Walther Hannes. 


Nervensystem behandelt und den Uterus in Retroflexion liegen läßt, ebenso falsch 
handelt, wie der, welcher bei Behandlung der Retroflexion den Zustand der andern 
Bauchorgane völlig außer acht läßt. Ich habe seinerzeit 71 Frauen, die mittels 
Alexander-Adams operiert worden waren, nachuntersucht und gefunden, daß nur 
7 von ihnen keine Besserung bzw. Beseitigung ihrer Beschwerde hatten. Sind also 
Beschwerden oder funktionelle Störungen bei Asthenischen vorhanden, die an sich 
oder in ihren zu erwartenden Folgezuständen als ursächlich bedingt durch die Retro- 
flexion anzusehen sind, so ist diese sachgemäß zu behandeln und zu beheben. 

Unter den zu erwartenden Folgezuständen ist die weitere und weitestgehende 
Auswirkung der Enteroptose auf die weiblichen Genitalien zu verstehen, nämlich ` 
der Prolaps. Gewiß wird man bei einer Nullipara einem auf asthenischer Basis sich 
entwickelnden virginellen Prolaps im allgemeinen durch die Beseitigung einer Retro- 
flexion meist nicht vorbeugen können, wohl aber sehr oft bei einer zu Erschlaffungs- 
zuständen neigenden Frau, die geboren hat und mit einer Retroflexio uteri behaftet 
ist; namentlich wenn man hier außer dem Alexander-Adams auch eine exakte 
plastische Rekonstruktion des erschlafften Beckenbodens vornimmt. 

Wenn Pribram ausführt, daß die beste Therapie des Prolapses in der Prophy- 
laxe bestehe und daß systematische Muskel- und Atemübungen sowie Bewegungen 
im Freien und entsprechende Ernährung, besonders bei jungen Mädchen, gar nicht 
hoch genug einzuschätzen wäre, so ist ihm zweifellos zuzustimmen. Weshalb dann 
aber von ihm und anderen Autoren die Beseitigung einer Erscheinungen machenden 
Retroflexion abgelehnt wird, ist mir nicht recht verständlich. Wenn man auch 
Pribram zugeben kann, daß der extrem retroflektierte Uterus, durch den intra- 
abdominalen Druck nach abwärts getrieben, möglicherweise Halt an der Becken- 
bodenplatte findet, so doch eben nur dann, wenn sie normal ist, was bei Astheni- 
schen im allgemeinen und namentlich nach Geburten, nicht mehr der Fall ist. Ehe 
aber der auf der Basis konstitutioneller Schwäche seines Haft- und Bandapparates 
zur Retroflexion und Senkung neigende Uterus in steilste extreme Retroflexion ge- 
langt ist, wird er, wie Küstner erwies, in der in solchen Fällen üblichen mäßigen 
Retroflexionsstellung durch den hier in verhängnisvoller Richtung zur Auswirkung 
kommenden intraabdominalen Druck schon längst weitestgehend descendiert und 
prolabiert sein. Und es wird niemandem einfallen, die Korrektur eines auf konsti- 
tutioneller Schwäche basierten Prolapses nicht doch auf operativem Wege vornehmen 
zu wollen. i | 

Mit Mathes, v. Jaschke, Pribram ua stehen wohl heute die meisten Gynä- 
kologen auf dem Standpunkt, daß beim virginellen Prolaps so gut wie immer 
asthenische Konstitution feststellbar ist; nicht selten auch gerade wieder deutlich 
kombiniert mit dem Infantilismus, indem zur Entstehung des virginellen Prolapses, 
wie W. A. Freund, A Mayer u.a. betonen, der abnormen, als infantil aufzufassen- 
den Tiefe des Douglas eine ätiologische Bedeutung zukommt. Noch in einer Rich- 
tung ist nach Mathes gerade im asthenischen Infantilismus die Ursache des Pro- 
lapses zu suchen, indem diese Individuen auf Grund ihrer ganzen Einstellung zum 
sexuellen Leben in einem großen Prozentsatz zu den alten Erstgebärenden zählen, 
und weil sie ferner, was auch v. Jaschke betont, auf Grund ihrer Konstitutions- 
anomalie ganz besonders zu schweren mit schweren Weichteilverletzungen einher- 
gehenden Geburten disponiert sind. 

Unter 490 mit Prolaps behafteten Frauen und Mädchen fand Pribram bei 
447 ausgesprochene Zeichen der Asthenie, wie außerordentliche Schlaffheit der 
Muskulatur und der bindegewebigen Stützsubstanzen, was bei ihnen neben dem Pro- 


Die Asthenie des Weibes. 95 


laps Hängebauch, Enteroptose, Wanderniere, Hernien, Hämorrhoiden, Rectusdiastase, 
Plattfuß, Varizen zur Folge gehabt hatte. So betont ferner v. Graff, daß bei der 
Asthenikerin oft schon nach einer einzigen, selbst leichten Geburt in kürzester Zeit 
der Prolaps zur Entwicklung kommt. Ähnlich fand Jacobs unter 34 Frauen mit 
Prolaps bei 28 hypotonisch-asthenische Stigmata; bei drei Frauen hatte sich der 
Prolaps nach einer einzigen Geburt entwickelt. 

Wenn wir auch durchaus den Standpunkt vertreten mūssen, daß eine richtige 
Erziehung unserer jungen Mädchen, namentlich der mit schlaffer Faser zu Sport, 
Gymnastik, Turnen u. s. w. manches prophylaktisch wird bessern können, so wird es 
doch kaum möglich sein, damit die asthenische Konstitution umzuwandeln. Gewiß 
wird dann noch durch rechtzeitig im Wochenbett einsetzende gymnastische Übungen 
auch weiterhin an einer möglichst weitgehenden Erstarkung der Bauch- und Becken- 
bodenmuskulatur zu arbeiten sein. Bedeutsam in dieser Hinsicht ist auch das Früh- 
aufstehen im Wochenbett, das von Küstner bereits vor über 30 Jahren inauguriert 
viel später erst von Krönig u.a. lebhaft propagiert wurde. Es konnte nachgewiesen 
werden (Heimann), daß beim Frühaufstehen (3.5. Tag) viel weniger Retroflexionen 
sich im Wochenbett entwickelten, als bei Spätaufstehen (9.— 10. Tag). Nie darf Früh- 
aufstehen jedoch gleichbedeutend sein mit Früharbeiten; nie dürfen Verletzte, Fiebernde, 
auf Gonorrhöe Verdächtige früh aufstehen. Nichtsdestoweniger wird wohl auch die 
Zukunft lehren, daß beim Infantilismus und bei der Asthenie und bei der Kombination 
dieser beiden Konstitutionsanomalien der in Konstitution und Habitus ätiologisch 
begründete und durch die Geburt ausgelöste Prolaps nicht verschwinden, ja vielleicht 
nicht einmal an Häufigkeit gemindert werden wird. Durchaus möglich scheint es 
mir, daß die oben angedeuteten Maßnahmen bei den Nicht-Asthenischen und Nicht- 
Infantilen erfolgreich hinsichtlich Minderung der Prolapshäufigkeit sein werden. 

Ist der Prolaps manifest geworden, so bedarf er auch bei den Asthenischen, bei 
denen wir, wie schon erwähnt, meist auch einzelne oder mehrere der anderen Stigmata 
des Status asthenicoptoticus, wie Hängebauch, Enteroptose, Hernien, Obstipation, 
Hämorrhoiden, Varizen, Hängebrust u.s. w., finden, der entsprechenden operativen 
Korrektur. Diese ist stets mit einer gut sitzenden und die vordere Bauchwand tat- 
sächlich hebenden und stützenden Leibbinde zu kombinieren. 

Von allen Autoren, die sich eingehend mit der Asthenie und ihrer Sympto- 
matologie befassen, wird auf die Hyperästhesie der Haut, u. zw. ganz besonders auch 
der. Bauchhaut hingewiesen. Dies muß man sich immer vor Augen halten, wenn 
man nicht bei Asthenischen — namentlich im asthenischen Anfall — Gefahr laufen 
will, eine Peritonitis, Adnexitis oder Appendicitis zu mutmaßen, wo es sich eben 
um nichts anderes als um den asthenischen Anfall handelt. Albrecht, Mathes, 
A. Mayer u.a. weisen darauf hin, daß wohl in so manchem Falle, wo bei negativem 
objektiven Befund und mehr oder weniger starken subjektiven Beschwerden eine 
kaum oder gar nicht veränderte Appendix entfernt wird, ohne daß die Patientinnen 
beschwerdefrei werden, neben Asthenie auch das als infantile Hemmungsbildung 
nach Tandler anzusehende Coecum mobile die Ursache der Beschwerden ist. 

Eine analoge Fehldiagnose kann noch, wie auch Mathes erwies, dem Ungeübten 
bei Asthenischen hinsichtlich der Cystitis unterlaufen. Für die asthenische Konstitutions- 
anomalie sind nach Mathes, Stiller u.a. die schon erwähnte orthostatische Albu- 
minurie und die Phosphaturie als ihr eigentümliche Funktionsstörungen der Niere 
aufzufassen. Besteht nun im asthenischen Anfall Urindrang und Brennen beim Ent- 
leeren des salzreichen Urins, so kann dem Ungeübten sehr leicht in solchen Fällen 
die Fehldiagnose Cystitis unterlaufen. 


06 ‘Walther Hannes. 


Es erhebt sich nun weiterhin die Frage, ob wir unter den gynäkologischen 
Geschwulstträgerinnen die Asthenikerinnen besonders reichlich vertreten sehen. Hier- 
über findet sich bisher nur sehr wenig in der einschlägigen Literatur. H. Freund 
meint, daß die Hypoplasie eine Rolle bei der Myomentwicklung spiele. Er fand 
unter seinen 300 Myamfällen 21 Frauen mit allgemeinem und 15 mit partiellem 
Infantilismus, ferner 7 mit ungeheilter Chlorose und 4 mit ausgesprochenem Uterus 
duplex. Im ganzen waren bei 66 Frauen konstitutionelle Anomalien nachweisbar. Jacobs 
dagegen fand unter 11 Myomträgerinnen nur 2 Infantile. Hier. werden erst noch 
weitere umfängliche Beobachtungsreihen anzustellen sein, ehe man wird zu einem 
irgend wie abschließenden Urteile gelangen können, wenn auch v. Kemnitz meint, 
daß bereits jetzt erwiesen sei, daß bei Asthenikerinnen eine besondere Neigung zur 
Entwicklung von Eierstocks- und Gebärmuttergeschwülsten bestehe. 

Nunmehr ist noch darzulegen, ob und in welcher Weise die infantile und 
asthenische Konstitutionsanomalie das Fortpflanzurgsgeschäft beeinflußt. Hegar, 
Mathes u.a. weisen darauf hin, daß bei den Infantilen und Asthenischen primär 
der Sexualtrieb oft schon offensichtlich darniederliege, weswegen, wie Mathes ausführt, 
es auch nicht verwunderlich ist, daß die an absoluter Zahl nur wenigen Virgines 
einer poliklinischen Krankenklientel fast alle Infantil-Asthenische sind. Auch neigen 
wieder anderseits diese Individuen nach Ansicht von Mathes, W. A. Freund, 
L. Fraenkel u. a. zur Masturbation, welche diese Autoren zum Teil geneigt sind, 
ätiologisch für die oben schon erörterte Parametritis posterior in Anspruch zu nehmen. 
Hier spielen ja schon sicherlich psychasthenische Vorgänge mit, die wohl nach 
Walthard u.a. bei der Dyspareunie und dem Vaginismus eine ganz bedeutsame 
Rolle haben. Doch darf man natürlich nicht vergessen, daß die infantil hypoplastische 
Scheide auch schon rein anatomisch prädisponiert ist zu Dyspareunie und Vaginismus. 
Auf die Beziehungen zwischen hypoplastisch asthenischem Zustande der Genitalien 
und Sterilität ist bereits früher hingewiesen worden. W. A. Freund machte auf die 
infantile Verlängerung und Schlängelung der Tuben aufmerksam; diese können, wie 
Bumm ausführt, als Grund für Sterilität angesehen werden oder aber sie begünstigen, 
wie W.A.Freund, Neusser, Mathes, Stiller u. a. annehmen, das Zustandekommen 
einer Eileiterschwangerschaft. Abgesehen davon, daß die Erfahrung lehrt, daß es 
bei Infantilen und Asthenischen häufig und meines Erachtens ganz besonders häufig 
in der ersten Schwangerschaft zur Fehl- oder Frühgeburt kommt, sind, wie Mathes, 
v. Kemnitz u. a. betonen, die Molimina graviditatis viel größer bei ihnen und 
werden von ihnen viel störender und nachhaltiger empfunden. Die Hyperemesis 
gravidarum ist nach Mathes besonders ausgeprägt bei den Infantil-Asthenischen, 
ja für die so konstitutionierten Schwangeren geradezu ein Kennzeichen. 

Daß wir bei den Infantilen relativ oft mit einem allgemein verengten Becken 
zu rechnen haben werden, sei nur der Vollständigkeit wegen erwähnt. Aus dem 
asthenicoptotischen Zustande der Eingeweide ergeben sich ebenfalls für die Zeit der 
Schwangerschaft und des Wochenbettes besondere Störungen und Gefahren. Mit 
Recht weist Albrecht auf die relative Häufigkeit der Pyelitis gravidarum bei den 
Asthenikerinnen hin, für welche meines Erachtens die Nephroptose die Grundlage 
abgibt. Die Asthenischen bedürfen in der Gravidität einer ganz besonders guten und 
frühzeitig anzulegenden Stütze für ihre schlaffe und zu Überdehnungen neigende 
Bauchwand. Der asthenicoptotische Hängeleib schafft, wenn nicht durch Binde 
oder Wickelung gestützt, die Vorbedingungen für Lage- und Haltungsanomalien der 
Frucht in dem im ungestützten Hängeleib stark nach vorn überfallenden und mit 
dem Muttermund demzufolge von der Beckenachse abweichenden hochschwangeren 





Die Asthenie des Weibes. 97 


Fruchthalter. Die Lageanomalien des Uterus im Sinne der Retroflexion und des 
Descensus können in den ersten Monaten der Ausbildung einer Retroflexio uteri 
gravidi incarcerata Vorschub leisten, was eine weitere Erhöhung der Gefahrenquote 
für die Schwangerschaft der Asthenischen ergibt. Varizen gehören ja zum typischen 
Bild der Asthenie, sie werden in der Schwangerschaft sich besonders vergrößern, 
wenn sie nicht frühzeitig durch Wickeln oder Gummistrumpf in mäßigen Grenzen 
gehalten werden. Typisch ist auch der Plattfuß, der häufig diesen Schwangeren 
besonders viel Beschwerden macht und unbedingt sachgemäßiger Behandlung zuzu- 
führen ist. 

Hängeleib, Rectusdiastase, Lageanomalien der Frucht, infantiler Uterus, enges 
Becken, das sind ja alles Komplikationen, die sich — im Einzelfalle ganz ver- 
schieden — dann unter der Geburt in allen möglichen Störungen und Schwierig- 
keiten auszuwirken pflegen, auf die hier weiter nicht eingegangen zu werden braucht. 
Erinnert sei nur an die Wehenschwäche und die lange Geburtsdauer und die allein 
hieraus schon für Mutter und Kind erwachsenden Gefahren. Zur Illustration der Gebär- 
tüchtigkeit der Infantil-Asthenischen seien nur einige Angaben der Arbeit Jacobs 
entnommen. Von 5 kompletten Dammrissen bei operativer Entbindung handelte 
es sich Amal um genitalinfantile Frauen. Von 100 besser konstitutionierten Frauen 
hatten 80 geboren, von 100 schlechter konstitutionierten nur 46; in der ersten Gruppe 
hatte jede zweite Frau eine pathologische Geburt gehabt, in der zweiten Gruppe 
von 3 Frauen immer 2. Sellheims Worte, daß „die Art der Absolvierung der 
Fortpflanzungsgeschäfte durch die Frau geradezu das Maß ihrer Konstitution bildet“ 
sind voll und ganz zu unterschreiben. 

Der Ablauf des Wochenbettes ist in vielem zwangsläufig gebunden an die 
Art des Geburtablaufes. Geburtsstörungen ziehen auch Störung der Wundheilung 
und der Rückbildung im Wochenbett nach sich. Auf die Gefahren der Prolaps- 
entwicklung in und nach dem Wochenbett bei den Asthenischen wurde bereits hin- 
gewiesen und dabei schon die Prophylaxe in Gestalt von Frühaufstehen, Gymnastik, 
Massage u,s. w. erörtert. Die Gymnastik und das Frühaufstehen sind namentlich 
auch bei den mit Varizen behafteten Asthenischen zur Vorbeugung der Thrombose 
angezeigt. 

Nachdem in unseren vorstehenden Erörterungen aufgezeigt worden ist, in 
welchen Erscheinungen und bei welchen Gelegenheiten die Asthenie des Weibes 
besonders offensichtlich und bedeutsam wird, ist zu sagen, daß eine erschöpfende 
Darstellung dieses Gebietes zurzeit gar nicht möglich ist, weil notwendigerweise 
noch sehr viel klinisches und anatomisches kasuistisches Material wird gesammelt, 
gesichtet und zusammengestellt werden müssen, um die bisherigen auf dem Gebiete 
der weiblichen Asthenie durch die konstitutionspathologische Forschung aufgedeckten 
Beziehungen und Auswirkungen noch zu klären, zu vertiefen und zu erweitern. 
Aber schon jetzt ist klar, daß es unbedingt Aufgabe und Pflicht des einzelnen 
Arztes ist, bei der Untersuchung und Beobachtung seiner gynäkologisch Kranken, 
mehr als dies im allgemeinen schon geschieht, auf deren Konstitution bzw. Konsti- 
tutionsanomalie zu achten. Daß hierdurch der Zusammenhang so mancher schein- 
bar ganz verschieden klinischen und .pathologischen Erscheinungen und Befunde 
mit einer bestimmten Konstitution bzw. Konstitutionsanomalie dann offensichtlich 
werden kann und wird, ist im vorstehenden an der Asthenie gezeigt worden. Je 
mehr im Einzelfall der Arzt auf diese Zusammenhänge aufmerksam wird, um so 
eher wird er gerade auf dem Gebiete der Asthenie die Möglichkeit haben, durch 


geeignete Maßnahmen sachgemäße und erfolgreiche Prophylaxe zu treiben. 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 7 


98 | Walther Hannes, 


Literatur: Erschöpfende Literaturangaben in den Werken und Monographien von Ascher, 
Bauer, Hart, Mathes, Martius, Siemens, Stiller u.a. Adler, Studie über Minderwertigkeit von 
Organen. Urban & Schwarzenberg 1907. — Albrecht, Der asthenische Infantilismus des weiblichen 
Geschlechtes und seine Bedeutung für die allgemeine und spezialistische ärztliche Praxis. Ärztlicher 
Verein, München 29. September 1913. — Albu, Bewertung der Visceralptose als Konstitutionsanomalie. 
Berl. kl. Woch. 1909, 7. — Anton, Infantilismus. Münch. med. Woch. 1906, 30. — Bab, Die Pathologie 
der infantilistischen Sterilität. Volkmanns Vorträge 198-200. — Bartel, Status thymico-lymphaticus 
und Status hypoplasticus. Deuticke 1912. — Bartel u. Herrmann, Über die weibliche Keimdrüse bei 
Anomalie der Konstitution. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1911. — Bauer, Die konstitutionelle Disposition zu 
inneren Erkrankungen. Springer 1921. — Benjamin, Beobachtungen über Asthenie im Kindesalter. 
Kl. Woch. 1923, p. 1528. — Borchardt, Untersuchungen über die veränderte Reaktionsfähigkeit bei 
Asthenikern. Verein für wissenschaftliche Heilkunde, Königsberg 15. Januar 1923. — Burckardt, 
Splanchnoptose. Erg. d. Chir. u. Orth. IV. — Fischer, Über das klinische Bild der infantilen 
Sterilität. Dissertation. Halle 1920. — Fränkel L., Sexualphysiologie. Vogel 1914; Referat. Ztschr. f. 
Geb. LXIV. — Freund H., Ztschr. f. Geb. LXXIV, 1. — v. Graff, Zur Ätiologie des Prolapses. 
A. f. Geb. u. Gyn. CXX. — Greil, Richtlinien der Konstitutionspathologie, Bedeutung der Gestations- 
toxonosen. Zbl. f. Gyn. 1922, 17. — Hannes, Die Dauererfolge des Alexander-Adams. Zbl. f. Gyn. 
1908, 49. — Hart C., Konstitution und Disposition. Bergmann 1922; Ztschr. f. Geb. LXXIV. — 
Hegar, Entwicklungsstörungen. Münch. med. Woch. 1905, p. 377. — Herrmann, Die klinische 
Bedeutung der Veränderungen am weiblichen Genitale bei Status hypoplasticus (Bartel). Gyn. Rund- 
schau 1913. — Hirsch, M., Dysmenorrhöe in Beziehung zu Körperbau und Konstitution. A. f. Gyn. 
120. — v. Hösslin, Uber Lymphocytose bei Asthenikern und Neuropathen und deren klinische 
Bedeutung. Münch. med. Woch. 1913, 21/22. — van der Hoeven, Die Asthenie und Lageanomalien 
der weiblichen Genitalien. Fischer 1909. — en Beobachtungen über die Häufigkeit von Kon- 
stitutionsanomalien bei SE Kranken. Dissertation. Gießen 1922. — v. Jaschke, Beob- 
achtungen über die Häufigkeit konstitutioneller Anomalien bei Erkrankungen des weiblichen Genital- 
apparates. Ztschr. f. angewandte Anatomie und Konstitutionslehre VI; Der Genitalprolaps im Lichte 
der Konstitutionspathologie. A. f. Gyn. CXX. — Kehrer, Die Entwicklungsstörungen beim weiblichen 
Geschlecht. Hegars Beiträge, XV. — v. Kemnitz, Der asthenische Infantilismus in seinen Beziehungen 
zur Fortpflanzungstätigkeit und geistigen Betätigungen. Dissertation. München 1903. -— Kermauner, 
Dysmenorrhöe. Mon. f. Geb. u. Gyn. XXVI. — Kretschmer, Körperbau und Charakter. Springer 
1922. - Krönig, Uber die Bedeutung der funktionellen Nervenkrankheiten für die Diagnostik und 
Therapie in der Gynäkologie. Thieme 1902. — Mathes, Die asthenische Enteroptose. Nothnagel- 
Supplement, Il; Der Infantilismus, die Asthenie und deren Beziehungen zum Nervensystem. Karger 
1912; Prolaps und Retroflexionsfragen. Zbl. f. Gyn. 1921, 40; Was bedeutet Konstitution? Münch. 
med. Woch. 1923, 8; Die Konstitutionstypen in der Gynäkologie. Kl. Woch. 1923, 7; Über den 
Konstitutionsbegriff u. s. w. Ztschr. f. angewandte Anatomie u. Konstitutionslehre. VI; Die Kon- 
stitutionstypen des Weibes. Halban-Seitz, Handbuch, III. — Mayer, Infantilismus und Hypoplasie. 
Münch. med. Woch. 1910, p. 513; Hypoplasie und Infantilismus in Geburtshilfe und Gynäkologie. 
Hegars Beiträge, XV; Uber die Bedeutung der Konstitution in der Geburtshilfe und Gynäkologie. 
Münch med. Woch. 1922, 50. — Menge, Das Wesen der Dysmenorrhöe. Zbl. f. Gyn. 1901, p. 1367; 
Eröffnungsrede. A. f. Gyn. 120. — Niederehe, Beitrag zur Glykogenhypothese. A. f. Gyn. 119, 2. — 
Pribram, Konstitutionspathologie und Prolapsfrage. Kl. Woch. 1923/24. — Schiff, Das asthenische 
Kind. Kl. Woch. 1923, p. 228. — Seitz, Der konstitutionelle Faktor in der Pathogenese gynäkologi- 
scher Blutungen. A. f. Gyn. 120. — Sellheim, Ztschr. f. Geb. LXXX. — Siemens, Konstitutions- 
und Vererbungspathologie. Springer 1921. — Stieda, Chlorose und Entwicklungsfehler. Ztschr. f. 
Geb. XXXII. — Stiller, Grundzüge der Asthenie. Enke 1916; Die asthenische Konstitution. Ztschr. 
f. angewandte Anatomie u. Konstitutionslehre, VI. — van Teutem, Ztschr. f. Geb. LXXVII, 2. — 
van der Velden, Zur Lehre vom Infantilismus. Ztschr. f, Geb. LXXIV. — Vogel, Die allgemeine 
Asthenie der Bindegewebe. Münch. med. Woch. 1913, 16; Über Bauchfellverwachsungen. Erg. d. Chir. 
u. Orth. XVI. — Walthard, Der Einfluß des Nervensystems auf die Funktionen der weiblichen 
Genitalien. Pr. Erg. d. Geb. u. Gyn. II. — Wetzel, Die Stillersche Konstitutionsanomalie im Säuglings- 
alter. Ges. f. Kinderheilk. München, 13. Juli 1923. 


Die Digitalisbehandlung 
des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 


Von K. Fahrenkamp, Stuttgart. 
"Mit 36 Kurven im Text. 


——. 


L 


In dieser Darstellung wird die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens 
von der besonderen Fragestellung aus besprochen, ob eine die Herzinsuffizienz 
begleitende Störung der Schlagfolge für die Digitalisbehandlung besondere Richt- 
linien ergibt, oder ob ganz unabhängig von der gestörten oder ungestörten 
Rhythmik lediglich der Grad der Herzschwäche für den Erfolg der Digitalisbehand- 
lung maßgebend ist. 

Wenn hier also die Störungen der Schlagfolge im Zusammenhang mit der 
Insufficientia cordis vera (A. Fraenkel) als häufiges Begleitsymptom der Herzschwäche 
ganz bewußt den Kernpunkt des Interesses bilden sollen, so wird nicht einseitig die 
Digitalistherapie von der Seite der Herzrhythmusstörungen aus betrachtet, sondern 
es wird der Versuch gemacht, diejenigen klinischen Erfahrungen und Beobachtungen 
kritisch zusammenzufassen und ihren praktischen Wert für die Digitalisbehandlung 
im ganzen herauszuschälen, die am Krankenbett und in der Praxis im Zusammen- 
hang mit der Anwendung der Digitalis bei Störungen der Schlagfolge und dem 
gleichzeitigen Versagen des Herzens gesammelt wurden. Bei dem Versuch, das 
Tatsächliche unserer Kenntnisse bei dieser speziell gerichteten Frage darzulegen, 
muß sich zeigen, ob das rhythmusgestörte insuffiziente Herz andere Wege 
und Ziele für die Digitalisbehandlung als das rhythmusnormale insuf- 
fiziente Herz ergibt. Die Behandlung dieser Frage würde sich erübrigen, wenn 
nicht in Lehrbüchern und Spezialabhandlungen die Rhythmusstörungen im Zusammen- 
hang mit der Herzinsuffizienz und der Digitalisanwendung sehr verschiedenartig be- 
wertet würden. 


Über „Digitalistherapie“ hat Jarisch im II. Band dieser Ergebnisse berichtet, ohne ausführlicher 
auf die Digitaliswirkung bei Rhythmusstörungen einzugehen, und auch A. Weber streift in einem Aufsatz 
über Herzinsuffizienz im IV. Band dieser Ergebnisse bei der Digitalistherapie die Rhythmusstörungen 
so kurz, daß man den Eindruck gewinnen kann, als ob diese speziell gerichtete Frage kein besonderes 
Interesse mehr beanspruchen könne. 


Wir werden im folgenden unter Hinweis auf die jetzt übliche lehrbuchmäßige 
Darstellung (Lewis, A. Hoffmann, Romberg, Makenzie, Krehl, Edens' u. a. m.) 
an einigen Beispielen sehen, wie weit die Ansichten der verschiedenen 
Autoren in der uns hier beschäftigenden Frage auseinandergehen. 

Magnus kommt in einer Abhandlung über die Digitalis und ihre therapeu- 
tische Anwendung im Anschluß an die im Original mitgeteilten Richtlinien 
Witherings aus dem Jahre 1785 zu der Schlußfolgerung: „Man kann sogar sagen, 
daß neben dem Neuen, was die letzten Jahrzehnte der Digitalisforschung gebracht 

7° 


100 K. Fahrenkamp. 


haben, auch viel Verwirrung angerichtet wurde, so daß mancher Praktiker zum 
Schaden seiner Patienten unsicher geworden ist“ (1923). 

Zu diesem „Neuen“ muß man ja wohl auch, vor allem seit Einführung des 
Saitengalvanometers in die klinische Untersuchungsmethodik, das Studium und die 
Forschungsergebnisse der Lehre von den Herzunregelmäßigkeiten rechnen. Wenn 
ein so hervorragender Kenner der Herzkrankheiten wie A. Fraenkel 1923 zu dem 
Urteil kommt, es sei keine Unterschätzung der großen, physiologischen und klinischen 
Bedeutung des namentlich durch die Elektrokardiographie befruchteten Studiums der 
Rhythmusstörungen, wenn dessen praktischer Wert für die Indikation zur Digitalis- 
therapie zurzeit noch gering erscheine, und wir anderseits an die Stellung Wencke- 
bachs und Edens denken: 

„Während beim normalen Herzmechanismus die Insuffizienz die Ursache der 
Pulsbeschleunigung ist, ist beim Vorhofflimmern wenigstens zu einem wichtigen 
Teil die Pulsbeschleunigung die Ursache der Insuffizienz« — und Edens bei- 
spielsweise in dem dauernden Vorhofflimmern mit rascher Kammerfrequenz die 
chronische Digitaliskur für die gegebene Behandlung ansieht, so stellen wir 
selbst unter den besten Kennern dieser Frage eine weitgehende Meinungsverschieden- 
heit fest, denn Fraenkel kommt mit Doll in seiner Darstellung weiter zu dem Ergebnis, 
auch in den meisten Rhythmusstörungen, die eine Herzschwäche verursachen 
oder begleiten, im Grunde kein digitalisförderndes oder -hemmendes Moment 
erblicken zu können. 

„Ebensowenig bietet aber eine Irregularitas perpetua Aussicht auf einen größeren 
Digitaliserfolg, als man ihn etwa bei Herzschwächen mit regelmäßigem Puls erzielen 
kann“ (A. Fraenkel und Doll). 

Und von Wenckebachs Stellung: „Die Arhythmie verlangt an sich eine spezielle 
Behandlung, weil sie der Ausdruck einer für den Kreislauf schädlichen Störung des 
Herzmechanismus ist, wenigstens steht die Therapie gänzlich unter dem Zeichen des 
gestörten Pumpmechanismus“ zu der Ansicht A. Fraenkels finden wir in den Lehr- 
büchern alle möglichen mehr nach der einen oder anderen Seite zielenden Auf- 
fassungen in der Darstellung dieser Frage. 

So nimmt beispielsweise Romberg den Standpunkt ein, die Dynamik des 
Herzens bestimme neben der Reaktion der Gefäße vorwiegend oder neben anderen 
Bedingungen die Wirkung der Digitalis, und während Romberg auf der einen Seite 
in der Arhythmia perpetua ein dankbares Anwendungsgebiet der Digitalis erblickt, 
macht er auf der anderen Seite die Einschränkung, daß nach seinen persönlichen 
Erfahrungen die Aussichten der perpetuellen Arhythmie auf gute Digitaliserfolge 
allerdings nur mäßig größer seien als bei rhythmischer Herztätigkeit. 

Wenn A.Fraenkel und Doll einen so extremen Standpunkt einnehmen, so 
mag nach meinem Dafürhalten diese Stellungnahme aus ihren Erfahrungen erwachsen 
sein, daß häufig vor lauter Berücksichtigung einer Arhythmie und durch unberechtigte 
theoretische Bedenken praktisch wertvolle Digitaliserfolge nicht zu stande kommen, 
und daß in diesem Sinne die praktischen Ergebnisse der klinischen Elektrokardio- 
graphie noch gering sind — oder um hier die Worte von R. Magnus zu wieder- 
holen „auch viel Verwirrung angerichtet wurde“ — zum Schaden unserer Kranken. 

Sehr wesentlich erscheint mir noch ein Moment, auf das Leo Müller für die 
Digitalis schon 1908, also vor der elektrokardiographischen Methodik, hingewiesen hat: 

„So überragend auch die Verwendung der Digitalis in der Behandlung Herz- 
kranker ist, so vielgestaltig und different ist anderseits die Art und Weise der 
Medikation in ihrer Indikationsstellung und Ausführung, nicht nur auf den ver- 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 101 


schiedenen Kliniken und Krankenhäusern, die gewissermaßen traditionell den einen 
oder anderen Modus der Digitalisbehandlung ausgebildet haben, sondern jeder Arzt 
hat eigentlich für sich seine persönliche Methode der Digitalistherapie.“ 

Diese stark individualisierende Stellung des einzelnen Arztes zur Digitalistherapie 
ist meines Erachtens durch die mehr oder weniger anerkannten praktischen Ergebnisse 
der klinischen Elektrokardiographie in den letzten Jahren immer mehr in Erscheinung 
getreten, und manche Ärzte haben eher eine gewisse Unsicherheit bekommen, da, 
wie dies schon vorher angedeutet wurde, die Stellung der Lehre von den Herz- 
unregelmäßigkeiten zu der Frage der Herzinsuffizienz und Digitalis sowohl lehrbuch- 
mäßig als auch unter den Autoren, die sich besonders mit dieser Frage beschäftigt 
haben, zurzeit noch eine sehr verschiedenartige ist. 

So machen wir mit einem Hinweis auf die ausführlichen Darstellungen von 
Lewis, Makenzie, Wenckebach, A. Hoffmann, Krehl, Romberg, Edens u.a. m. 
den Versuch, die eingangs gestelte Frage zu beantworten. Um dies einigermaßen 
erschöpfend zu tun, müßten die Ergebnisse der experimentellen und klinischen 
Elektrokardiographie zusammenfassend kritisch bewertet werden. Eine diesbezügliche 
Darstellung von dem derzeitigen Stande der tierexperimentellen und klinischen 
Forschungsergebnisse seit Einführung des Saitengalvanometers in die Klinik kann 
nicht das Ziel dieser Arbeit sein. Um aber die Fragestellung dieser Abhandlung 
doch einigermaßen zu beantworten und der Kritik standzuhalten, muß man vor 
Beantwortung der speziell gerichteten Frage den Begriff „bei gestörter 
Schlagfolge“ für das hier zu behandelnde Thema möglichst klar präzisieren. Bei 
diesem Versuch denken wir an die Worte von Edens, die er in einem dieser 
Abhandlung verwandten Kapitel seines Buches folgen läßt: 

„Unser Kapitel über die Wirkung der Digitalis auf die unregelmäßige Herz- 
tätigkeit ist komplizierter geworden als erwünscht, aber es erschien mir zunächst 
keine Vereinfachung möglich, ohne der Sicherheit unserer Erkenntnis und unserer 
Behandlung zu schaden. Nicht Flucht vor den Schwierigkeiten, sondern ihre Durch- 
dringung ist der einzige Weg, um zu möglichst einfachen Vorstellungen 
zu gelangen.“ 

„Und zu einfachen und einheitlichen Vorstellungen müssen wir gelangen, wenn 
die praktisch wichtigen Ergebnisse aus der Lehre der Herzunregelmäßigkeiten in 
ihren Hauptpunkten Allgemeingut der Ärzte werden und für unsere Kranken beim 
therapeutischen Handeln wertvoll sein sollen.“ 


IL 


Wenn ich daher im folgenden trotzdem versuche, die Frage einfacher zu be- 
antworten, so ziehe ich einmal ausschließlich die Ergebnisse und Erfahrungen zu Rate, 
die sich mir in einer mehr als zehnjährigen Beschäftigung mit der hier aufgestellten 
Frage ergeben haben. So muß ich für diese Darstellung grundsätzlich eine Aus- 
einandersetzung mit den überaus fruchtbaren und wichtigen tierexperimentellen 
Forschungsergebnissen der Elektrokardiographie außer acht lassen. Wir werden uns 
also nur mit kurzen Hinweisen begnügen müssen. Das gleiche gilt für die für die 
Klinik und Praxis selteneren Störungen der Schlagfolge, zumal diese theoretisch 
überaus wichtigen, selteneren Rhythmusstörungen für die Frage „Digitalis und Herz- 
insuffizienz“ in der Praxis weit in den Hintergrund treten. So engen wir ganz bewußt 
die Fragestellung in der Weise ein, welches klinische Ergebnis bei dem klinischen 
Studium der Herzrhythmusstörungen im Zusammenhang mit der Digitalisbehandlung 
des insuffizienten Herzens als gesichert und wichtig angesehen werden kann. 


102 K. Fahrenkamp. 


Die Beantwortung der Fragestellung, die dieser Arbeit zu grunde gelegt ist, wird aufgebaut 
auf einer langjährigen eigenen klinisch-experimentellen und klinisch-praktischen Beschäftigung mit 
der Elektrokardiographie am herzkranken Menschen. Wenn ich daher im folgenden nur 
eigene Untersuchungsergebnisse, auch in SE und Tabellen, den Ausführungen zu 
grunde lege, so ist dies keine Vernachlässigung zahlreicher anderer Beobachter, die gleiches oder 
ähnliches feststellten, sondern ich glaube, das klinisch Wichtige klarer und vor allem 
auch einfacher darstellen zu können, wenn ich hier, ohne Auseinandersetzung mit der 
Literatur, die objektiv in eigenen Beobachtungen festgelegten Erfahrungen, die die 
Sicherheit der Erkenntnis in dieser Frage beweisen können, zusammenfasse. 

Ich möchte bei dem Studium der Elektrokardiographie beim herzkranken 
Menschen zwei Ziele besonders voneinander trennen: das eine Ziel der klinischen 
Elektrokardiographie hat eine von keiner anderen Methode übertroffene diagno- 
stische Bedeutung, denn wir sind jetzt durch das Saitengalvanometer in die Lage 
versetzt, eine Störung der Schlagfolge des Herzens mit Sicherheit zu erkennen und 
zu analysieren, und das Einreihen einer Störung der Reizentstehung und Reizleitung 
in eine der Gruppen der „Arhythmieformen« ist durch diese Methodik in einfachster 
Weise ermöglicht. 

Das andere Ziel der klinischen Elektrokardiographie hat durchaus den Charakter 

einer experimentellen Methodik, indem wir die feinsten Veränderungen des 
Erregungsablaufes beim herzkranken Menschen beispielsweise im Zusammenhang 
mit therapeutischen Maßnahmen (Digitalis, Atropin, Vagusdruck, Chinidin u. a. m.) 
objektiv feststellen können. Nehmen wir z. B. bei unseren Herzkranken ganze Serien 
von Elektrokardiogrammen im Verlaufe einer Digitalisbehandlung auf, so können 
wir in einfacher Weise Veränderungen feststellen, die mit Sicherheit ursächlich auf 
die Digitalis zurückzuführen sind. Im Zusammenhang mit einer derartigen Behandlung 
erkennen wir im Elektrokardiogramm die verschiedenartige Einwirkung des Vagus- 
. druckversuches auf den Erregungsablauf in den verschiedenen Perioden der Be- 
handlung. 
, Wir können feststellen, welche Störungen der Reizentstehung und Reizleitung 
unter dem Einfluß bestimmter Medikamente auftreten und verschwinden, und wir 
können uns vor allem einwandfrei davon überzeugen, welche Wand- 
lungen eine an sich einheitliche Störung der Herzrhythmik z. B. die 
Arhythmia perpetua im Verlaufe einer Behandlung oder im Verlaufe 
mehrerer Jahre bei dem gleichen Kranken durchmachen kann. Dabei 
konstatieren wir fließende Übergänge der einen Kurvenform in eine andere Kurven- 
form auf dem Boden der gleichen Grundstörung bei dem gleichen Kranken und 
erkennen den Zusammenhang scheinbar ganz verschiedener Pulsbilder 
auf der Grundlage einer gleich gerichteten Grundstörung. Vor allem sehen wir, wie 
nach Aufhören einer bestimmten Behandlung das unter der Behandlung völlig 
veränderte Kurvenbild mehr oder weniger bald wieder das Bild vor der Behandlung 
zeigt, und wie scheinbar ganz verschiedene Zustandsbilder aus einer 
primären Grundstörung bei dem gleichen Kranken ineinander über- 
gehen und reversibel sind. Eine ganz besondere Bedeutung dieser experimentellen 
Seite der klinischen Elektrokardiographie tritt dann in Erscheinung, wenn wir 
pharmakologisch besonders differente Mittel bei gestörter Herzrhythmik intravenös 
verwenden, weil man, wie wir später sehen werden, graphisch vor allem die Ver- 
änderungen festhalten kann, die unmittelbar nach der intravenösen Einverleibung 
auftreten. | 

Bei dieser Art der Betrachtung möchte ich auf einen Punkt hinweisen, den 
man in der Literatur kaum erwähnt findet: das ist ein gewisses Bedenken, die 
überaus reichen Ergebnisse der tierexperimentellen Elektrokardiographie auf die 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 103 


Ergebnisse der Elektrokardiographie am herzkranken Menschen zu übertragen. Wir 
pflegen doch meist das Ergebnis des Tierexperimentes der Deutung der Befunde am 
herzkranken Menschen zu grunde zu legen. So scheint es mir wertvoll, die Ergebnisse 
der klinischen Elektrokardiographie beim Menschen an einem großen und technisch 
einwandfreien Material einmal selbständig zu betrachten unter dem Gesichtspunkte, 
daß doch gerade für die Dauerzustände der Störungen der Herzrhythmik beim 
Menschen zwischen dem Tierexperiment und der Klinik dadurch zurzeit noch eine 
unüberbrückbare Kluft besteht, daß wir gerade jene Dauerzustände — ich erwähne 
die Arhythmia perpetua — im Zusammenhang mit den klinischen Erscheinungen 
der chronischen Herzinsuffizienz — beim Tier nicht nachahmen können. Aus dieser 
Art der Betrachtung heraus scheint es mir berechtigt, ganz unabhängig von den 
Ergebnissen des Tierexperimentes die praktisch und klinisch wichtigen Resultate aus 
dem Studium der Elektrokardiographie des herzkranken Menschen im Zusammen- 
hang mit der Frage der Digitalisbehandlung mit den nötigen Unterlagen zusammen- 
zustellen. | 
HI. 

Nachdem wir durch das Saitengalvanometer die Fülle der elektrokardiographi- 
schen Bilder der Rhythmusstörungen des herzkranken Menschen zu klassifizieren 
und die Wichtigkeit besonderer Störungen für die Praxis zu erkennen gelernt 
haben, benutzen wir für diese Darstellung die von Brugsch und Schittenhelm 
in ihrer klinischen Diagnostik gewählte Einteilung der Störungen der Schlagfolge 
. als Ausgangspunkt der Betrachtung. Diese Autoren grenzen 5 Gruppen von- 
einander ab. 


1. Gruppe: Die extrasystolischen Pulsunregelmäßigkeiten; Anhang: Die paroxys- 
male Tachykardie. 


2. Gruppe: Der Pulsus irregularis perpetuus (Arhythmia perpetua). 


3. Gruppe: Überleitungsstörungen; Anhang: Störungen der Reizbarkeit, die 
Hemisystolien. | 

4. Gruppe: Sinusarhythmien. 

5. Gruppe: Der inäquale Puls. 

Ich wähle diese Einteilung, weil wir bei ihr in der 1. und 2. Gruppe eine 
klare Gegenüberstellung der beiden praktisch wichtigsten Störungen der Herz- 
rhythmik für unsere spezielle Frage finden, denn wir werden die eingangs gestellte 
Frage, ob die Insufficientia cordis vera, gleichviel auf welcher ursächlichen Grund- 
lage diese entstanden sein mag, für die Digitalisbehandlung bei gleichzeitig gestörter 
Schlagfolge besondere Richtlinien ergibt, am ersten beantworten können, wenn wir 
uns auf die praktisch wichtigen Rhythmusstörungen beschränken. 

Die folgenden Darlegungen stützen sich auf den Befund von mehr als 
4000 Elektrokardiogrammen, die wir als objektives diagnostisches und als experi- 
mentell-methodisches Hilfsmittel bei unseren Herzkranken sammelten’. Wir reihen 
die elektrokardiographischen Beobachtungen in das Gesamtbild des klinischen 
Geschehens ein, um vor allem nicht in den Fehler zu verfallen, durch eine ein- 
seitige Betrachtung und Beschäftigung mit den Rhythmusstörungen den weit 
wichtigeren klinischen Gesichtspunkt: die gestörte Dynamik, die ungleiche Blut- 
verteilung, zu vernachlässigen. 

* Herr Geheimrat Krehl gestattete mir gütigst, meine große Sammlung aus der Zeit meiner 


Tätigkeit an der Heidelberger Mediz. Klinik (1912 bis 1920) mit dem Material aus der eigenen Praxis 
in dieser Zusammenfassung zu verwerten. 


104 = K. Fahrenkamp. 


llla. 

Wir beginnen mit der Darstellung der Arhythmia perpetua oder dem Pulsus 
irregularis perpetuus. Dabei ist zuerst die Frage zu beantworten, ob die Bezeichnung 
für diese überaus wichtige und häufige Störung der Herzrhythmik einigermaßen ein- 
heitlich aufgefaßt wird. Wir stellen fest, daß in der Abgrenzung dessen, was als 
Pulsus irregularis perpetuus oder als Arhythmia perpetua zu bezeichnen ist, auch 
heute noch die einzelnen Forscher und Kliniker mehr oder weniger voneinander 
abweichen, wie auch in der Beurteilung der klinischen Bedeutung dieser Rhythmus- 
störung. Während man heute weiß, daß z. B. die extrasystolischen Rhythmusstörungen 
eine ganz verschiedenartige pathognomonische Bedeutung haben und nur im 
Zusammenhang mit dem übrigen klinischen Befund bewertet werden können, wird 
zum Teil der Arhythmia perpetua eine selbständigere Stellung eingeräumt. Man sieht 
in ihr vielfach den Ausdruck schwererer, irreparabler organischer Veränderungen des 
Herzens sowie Zeichen oder Folge der drohenden Herzschwäche. Diese Auf- 
fassung wird unterstützt durch die Bezeichnung „perpetuus“, die ja 
gewissermaßen eine klinische Prognose vorwegnimmt. Auf der anderen 
Seite wird die Arhythmia perpetua klinisch weit weniger wichtig bewertet, zumal 
man auch durch das Studium der vorübergehenden Form dieser Rhythmusstörung 
ihr selbständiges Auftreten ohne schwere Herzmuskelveränderung kennengelernt 
hat. Die einen Autoren legen bei der Bezeichnung der Arhythmia perpetua aus- 
schließlich den Schwerpunkt auf das Verhalten der Vorhöfe und wählen den Aus- 
druck „Flimmerarhythmie“ (Klewitz). Durch diese Form der Betrachtung wird der 
Begriff der Arhythmia perpetua außerordentlich stark eingeengt. Andere Autoren 
vermeiden nicht den Begriff der „Extrasystolie« bei dieser Rhythmusstörung. 

So schreibt beispielsweise Magnus Alsleben (1922): „Die elektrokardiographi- 
sche Untersuchung zeigt, daß manchmal eine mäßige Zahl von Extrasystolen ein- 
gestreut ist,“ und im Hinweis auf die verschiedenartigen Pulsbilder kommt Magnus 
Alsleben zu dem Schluß: „Der Name Arhythmia perpetua erschöpft also nicht 
mehr alles Dazugehörige, die Arhythmie spielt an sich sicher eine viel geringere 
Rolle, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Dafür sprechen experimentelle 
Beobachtungen, und vor allem auch die klinische Erfahrung. Leute mit Arhythmia 
perpetua sind öfters jahrelang von völlig ausreichender Leistungsfähigkeit. Es ist bei 
der Beurteilung solcher Kranken stets im Auge zu behalten, daß eine Arhythmia 
perpetua an sich keineswegs eine ungünstige Prognose bedingen müsse, wenn sie 
auch freilich auf eine organische Erkrankung des Herzens hinweist. An eine 
bestimmte Herzkrankheit, an ein charakterisierbares, anatomisches Substrat ist sie 
auf Grund unserer jetzigen Kenntnisse dagegen nicht gebunden.“ 

Vor allem wird von einem Teil der Autoren bei der Arhythmia 
perpetua die rhythmische Vorhofstachysystolie als eine nicht zur 
Arhythmia perpetua gehörige Störung angesehen und anderseits werden 
auch blockartige Zustände von dieser Anomalie abgegrenzt. Es ist 
bemerkenswert, daß beispielsweise Klewitz die Bezeichnung „Flimmerarhythmie“ 
und „perpetuelle Arhythmie« synonym gebraucht. Er schildert das Flimmern und 
Flattern der Vorhöfe, die ausgeprägte rhythmische und arhythmische Vorhoftachy- 
systolie schließt er aber scheinbar aus. So wird der Begriff Arhythmia perpetua nicht 
nur stark eingeengt, sondern auch die Verständigungsmöglichkeit unter den einzelnen 
Autoren sehr erschwert. Ganz abgesehen von der Forderung, daß man heute für 
einen so geläufigen Begriff wie Arhythmia perpetua wenigstens einigermaßen etwas 
Gleichsinniges verstehen und schildern sollte. Die Schwierigkeit in der Verständigung 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 105 


wächst noch dadurch, daß die Bezeichnung Extrasystolie so häufig mit der Arhythmia 
perpetua verbunden wird. Ich erwähne als Beispiel eine Schilderung von E. Meyer 
in seinem Aufsatz über rectale Digitalistherapie 1922. 

„In einem Fall von kombiniertem Mitralfehler mit hepatischer Stauung, der 
auf intravenöse Injektionen mit ‚Bigeminie‘ reagierte, erhielten wir erst bei länger 
durchgeführter rectaler Anwendung ‚Bigeminie‘ und Extrasystolie.“ 

Da ich nicht zweifle, daß dieser Kranke eine Arhythmia perpetua hatte (kom- 
binierter Mitralfehler), so führe ich diese Nomenklatur E Meyers deshalb an, um 
zu zeigen, wie wenig einheitlich auch heute noch der Begriff Arhythmia perpetua 
gebraucht wird. 


Das sind nur wenige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen. Jeder, der mit der dies- 
bezüglichen Literatur vertraut ist, wird mir darin zustimmen, daß eine einheitliche Verwendung des 
Begriffes „Arhythmia perpetua“ noch keineswegs erreicht,ist. Und wollen wir praktisch wichtige klinische 
Ergebnisse herausheben und diskutieren, so muß die Nomenklatur eine möglichst einheitliche — und 
eindeutige sein. 


So fassen wir unsere Beobachtungen unter dem besonderen Ziel zusammen 
festzustellen, in welchem Umfange wir durch die Befunde am herzkranken 
Menschen berechtigt sind, die Bezeichnung Arhythmia perpetua als 
einen einheitlich klinischen Begriff anzuwenden. 


Bekanntlich hat Hering 1903 die Bezeichnung Pulsus irregularis perpetuus in die Nomenklatur 
eingeführt. Inden Hering durch diese Definition die Genese des Pulsus irregularis perpetuus auf 
Vorhofsflimmern zurückführte, betonte er seine schon früher hervorgehobene Meinung, in der 1903 
beschriebenen Pulsform eine besondere und eigenartige Rhythmusstörung des Herzens dargestellt zu 
haben, während andere Autoren, z. B. A. Hoffmann, Krehl, Gerhardt, Wenckebach u. a., 
mehr zu der Ansicht neigten, daß in dem sog. Pulsus irregularis perpetuus verschiedene Herzrhythmus- 
störungen verborgen sein könnten. 


Nun wäre ja der Name, den man für eine bestimmte Form der Arhythmie 
wählt, weniger wichtig, wenn er allgemein im gleichen Sinne angewendet würde 
und gewissermaßen eine klinische Einheit darstellte; aber gerade bei der Arhythmia 
perpetua hat sich gezeigt, wie wenig einheitlich diese Bezeichnung heute noch 
gebraucht wird. So werden wir also im folgenden das klinische Elektrokardiogramm 
des herzkranken Menschen zu grunde legen und, ohne erst einmal den Begriff des 
Vorhofsflimmerns, der für Hering maßgebend war, zu sehr in den Vordergrund 
treten zu lassen, prüfen, welche Zustandsbilder wir bei dem Pulsus irregularis per- 
petuus finden und welche wir dann schließlich nach dem Befund im Elektrokardio- 
gramm mit diesem Namen bezeichnen können. | 

So möchten wir also heute unter dem Pulsus irregularis perpetuus nicht mehr 
den klinischen Begriff des alten „Delirium cordis“ verstehen, sondern in Anlehnung 
an die Heringschen Arbeiten und die Ergebnisse der elektrokardiographischen 
Untersuchungen der letzten 10 Jahre als Arhythmia perpetua eine ganz einheitliche 
klare Störung der Reizentstehung und Reizleitung bezeichnen, die wir auch beim 
verhältnismäßig noch gut leistungsfähigen und sonst keine Krankeitserscheinungen 
zeigenden Herzen finden können und die manchmal auch das einzige Zeichen einer 
Herzstörung darstellen kann. 

Nach unseren heutigen Kenntnissen dürfte die gewöhnliche Form der Arhythmia 
perpetua dadurch charakterisiert sein, daß im Elektrokardiogramm neben einer 
Tachysystolie der Vorhöfe eine völlig arhythmische, meist beschleunigte Kammer- 
tätigkeit gefunden wird. Dabei können die Vorhöfe eine rhythmische oder 
arhythmische Tachysystolie in einer Frequenz von 200 oder 300 oder 500 Er- 
regungen in der Minute zeigen, die Kammern schlagen völlig arhythmisch, aber 
der Erregungsablauf bietet ein normales Bild. Diese Rhythmusstörung kann man als 
die unkomplizierte Form der Arhythmia perpetua bezeichnen. Zeigen die Vorhöfe 


106 K. Fahrenkamp. 


eine höhere Frequenz an, so bezeichnet man dies bekanntlich als Vorhofsflattern. 
Und sind endlich die Potentiale, die wir von den Vorhöfen ableiten können, so 
schwach, daß man sie nicht mehr mit Genauigkeit auszählen kann, so spricht man 
von flimmernden Vorhöfen. Dabei kann der Ablauf des Kammer-Elektrokardio- 
gramms durchaus normal sein. Es besteht also eine einwandfrei festzustellende 
Störung in der Reizentstehung der Vorhöfe. Daneben besteht immer ein mehr oder 
weniger hoher Grad einer Überleitungsstörung mit einer unregelmäßigen Schlag- 
folge der Kammern. 


An dieser Stelle möchte ich nur hinweisen auf die Vorstellungen, die man sich heute nach 
tierexperimentellen Studien über das Flimmern und Flattern der Vorhöfe macht, und mich beschränken, 
die Darlegungen Rothbergers zu erwähnen, die sich mit seinen neuen Theorien über dieses Problem 
beschäftigen. Wenn ich gleichzeitig die Monographie de Boers über die Physiologie und Pharma- 
kologie des Flimmerns (1923) anführe, so möchte ich an dieser Stelle, ohne auf dieses Problem ein- 
zugehen, nur zum Ausdruck bringen, daß ich glaube, daß meine einheitliche Auffassung der Arhythmia 

rpetua nach klinischen Befunden, was das Verhalten der Vorhöfe angeht, in den Darlegungen von 
Rethberger (1922) ganz besonders eine Stütze finden dürfte. 


Erkennt man das hier skizzierte einfache Bild der Arhythmia perpetua an, so 
kann man mit Sicherheit sagen, daß wir es bei dieser Form der Arhythmia perpetua 
einmal mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Überleitungsstörung zu tun 
haben, und daß mit Sicherheit die regelrechte Tätigkeit der normalen Reizbildungs- 
stätte, des Sinusknotens — zum mindesten funktionell — dauernd ausgeschaltet ist. 
Diese Feststellung und ihre Anerkennung in der Klinik ist von grundsätzlicher 
Bedeutung, sofern man zu einer einheitlichen Verständigung gelangen will. Nun ist es 
weiter zweckmäßig, bei derals Arhythmia perpetua definierten Rhythmus- 
störung Kammererregungen, die nicht den normalen Erregungsablauf 
des R.-T.-Komplexes zeigen, ausschließlich als abnorme Erregungen zu 
bezeichnen und die Bezeichnung Extrasystolie zu vermeiden. Unter solchen 
abnormen Erregungen verstehen wir dann solche Erregungen, die jenseits des 
Hisschen Bündels irgendwo im Bereich des Reizleitungssystems in den Herz- 
kammern ihren Ursprung haben. | 

Man nennt dann diese abnormen Erregungen entweder nach dem Vorschlag 
von Krauß und Nikolai und A. Hoffmann nach der Form des Kammer-Elektro- 
kardiogramms mit dem Buchstaben A, Bund C, oder man bezeichnet sie kurzer 
Hand mit dem Buchstaben A=abnorm, um so eine völlige Trennung von 
dem Begriff Extrasystolie herbeizuführen. Denn wir können den Begriff der 
Extrasystolie (oder den der Parasystolie Kaufmanns und Rothbergers) für die 
Arhythmia perpetua nicht benutzen, ohne Verwirrung anzurichten. 

Bei der gewöhnlichen unkomplizierten Form der Arhythmia perpetua treten 
für gewöhnlich solche abnorme Kammerkomplexe erst unter dem Einfluß bestimmter 
Medikamente auf. Dies zeigt die nachstehende Tabelle (I). 

Diese gewöhnliche Form .der Arhythmia perpetua zeigt also lediglich eine 
verschieden stark ausgeprägte Veränderung der Vorhofserregungen. Die Kammer- 
erregungen verlaufen an sich normal. Der Grad der Überleitungsstörung ist außer- 
ordentlich wechselnd. Grundsätzlich ist die normale Reizbildungsstätte: der Sinus- 
knoten, dauernd ausgeschaltet. In dieser Tatsache besteht der prinzipielle 
Unterschied zu allen denjenigen Rhythmusstörungen, die wir später als 
extrasystolische Arhythmien bezeichnen werden. 

Ohne an dieser Stelle auf theoretische Erörterungen einzugehen, welche das 
Verhalten der Vorhöfe bei der Arhythmia perpetua und das Verhalten der Kammern 
im Zusammenhang mit der Überleitungsstörung darlegen müßten, sind im folgenden 
die Kurven abgebildet, die wir heute mit Sicherheit als zur Arhythmia perpetua 





Die Digitalisbehandlung des insuftizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 107 






Tabelle I. 

Zahl der 

Verhalten der Anzahl der | TC ar 

N Die abnormen Err en a 

registrierten traten anf ` ` SC 

r 

= = 
| 1 | Tachysystolie (300) normal 1004 0 JO — 12 
2 e 240/300) e 1774 0 |O -— 16 
3 v 60/400) e 1060 0 j0 — 15 
di e 400) e 1474 0 |O _ 18 
5 | Übergänge oe e 654 0 |O — H 
D e 400/500 e 776 0 |0 — 11 
7 e (400/500 e 1155 0 |0 _ 20 
8 | Tachysystolie (300/400) e 1803 0 10 _ 20 
| 9 | Übergänge (400/500) e 1174 0 10 _ 20 
10 » 400/500) ” 676 0 |0 _ 10 

11 | Tachysystolie (400) ” 655 1 |015 spontan H 

12 | Übergänge (400/500) e 610 1 017 nach Strophanthin 11 
113 | Tachysystolie (300/400) 922 1 | 008 spontan 15 
14 |_ e 300 e 1097 3 10:28 nach Strophanthin 15 
15 | Übergänge (400/500) e 537 3 10:56 nach Digitalis 9 
16 » 400/500 e 1364 4 \0'29 nach Strophanthin u. Vagusdruck| 20 
17 | Tachysystolie (350/400) n 1352 5 |037 nach Vagusdruc 19 
18 n 300 v 1005 6 |059 spontan 10 
19| _ e (400) e 1347 9 |0°66!nach Strophanthin u. Vagusdruck| 22 
120 | Übergänge (400/500) e 830 10 |12 nach Digitalis 18 
121 | Tachysystolie (400) e 924 10 | 108 spontan 12 
122 | Übergänge (400/500) e 2167 10 |046 nach Digitalis 20 
24 » (400/500) e 935 18 [192 e D 14 
25 e (400/500) e 1822 91 15 nach Strophanthin 29 


gehörig bezeichnen können, u. zw. deshalb bezeichnen können, weil wir am Kranken- 
bett die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Kurven immer wieder dadurch 
feststellen konnten, daß wir sahen, wie die eine Pulsform in die andere überging, 
besonders unter dem Einfluß medikamentöser Maßnahmen, und wie bei dem gleichen 
Kranken z. B. aus einer Bradykardie mit flimmernden Vorhöfen wieder eine gewöhn- 
liche Arhythmia perpetua mit Vorhofstachysystolie und beschleunigter Kammertätig- 
keit wurde. Und endlich sahen wir im Verlauf der sich fortentwickelnden Krank- 
heitsprozesse bei dem gleichen Kranken den Übergang der einen Elektro- 
kardiogrammform in die andere und lernten so die Störungen. mit ihren 
ganz verschiedenen Pulsbildern kennen, die wir auf eine einheitliche 
Grundstörung nach den Befunden am Krankenbett zurückführen müssen. 
Wenn wir also im folgenden die verschiedenen Elektrokardiogramme bei der 
Arhythmia perpetua zur Darstellung bringen, so sei ausdrücklich betont, daß ich 
diese überaus mannigfaltigen „Pulsbilder“ einheitlich zur Arhythmia perpetua rechne, 
vor allem deshalb, weil uns klinische Beobachtungen am herzkranken Menschen 
gezeigt haben, daß diese Pulsbilder einmal untereinander reversibel sind, und daß 
sie uns den Werdegang der Arhythmia perpetua beim Herzkranken zeigen. 


| IIb. 
Die verschiedenen Formen der Arhythmia perpetua beim Menschen. 


Fig. 4 zeigt die gewöhnliche Form einer unkomplizierten Arhythmia perpetua. 
Die Vorhöfe schlagen tachysystolisch-arhythmisch, die Schlagfolge der Kammern ist 
bei normalem Erregungsablauf unregelmäßig und frequenter als normal. Schon 
auf dem Boden dieser Störung können wir, vor allem nach körperlichen An- 


108 K. Fahrenkamp. 


strengungen, typische Anfälle von arhythmischem Herzjagen finden. Wir 
werden im folgenden immer wieder sehen, wie häufig wir gerade bei der Arhythmia 
perpetua rhythmische und vor allem arhythmische Kammertachykardien am Kranken- 
bette erwarten können. 


Fig. 4. 





Fig. 5 zeigt bei dem gleichen Kranken der Fig. 4 das gleiche Bild an den 
Vorhöfen bei nunmehr verminderter Kammerschlagfolge. 


Fig. 5. 





Während man in Fig. 4 und 5 eine unregelmäßige Vorhoftachysystolie 
feststellt, kann man bei anderen Kranken mit Sicherheit die rhythmische 


Fig. 6. 


Vayu solr. l. 





Tachysystolie der Vorhöfe finden. Vor allem sind die diastolischen Pausen bei 
der Beurteilung wertvoll, in denen die Interferenzerscheinungen durch die Kammer- 
erregungen wegfallen und wir bei einwandfreier Technik die Erregungen in den 
Vorhöfen beurteilen können (Fig. 6). 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 109 


Es besteht nach meinen Beobachtungen für mich kein Zweifel, daß man bei 
der Arhythmia perpetua weit häufiger in der Lage ist, die in den Vorhöfen ent- 
stehenden Erregungen gut zu beurteilen und ihre Regelmäßigkeit festzustellen, als 
dies meistens in der Literatur angenommen wird. Da die Potentiale dieser Vorhof- 
erregungen sich in keiner Weise von den Erregungen normaler Vorhofkontraktionen 


Fig. 7. 


JS A ZZ A AS A AS AC SZ KS AN E AS 


(ULI 





unterscheiden, so kommt für diese Potentiale der Begriff des Flatterns meines Er- 
achtens nicht in Frage. 

Von der ausgeprägten regelmäßigen oder unregelmäßigen Vorhofstachysystolie 
finden wir, bei genügend häufiger Kontrolle durch das Elektrokardiogramm, bei 
dem gleichen Kranken häufig im Verlaufe seiner Krankheit die Übergänge zum 


Fig. 8. 


R 





Vorhofsflattern und Vorhofsflimmern. Diese drei verschiedenen Formen der Erregungen 
in den Vorhöfen kann man in den Kurven leicht differenzieren. 

Fig. 7 zeigt den tachykardischen Anfall eines Kranken mit Arhythmia perpetua 
und Fig. 8 zeigt das Verhalten der Vorhöfe dieses Kranken außerhalb des Anfalles. 
Es ist leicht festzustellen, daß eine Tachysystolie der Vorhöfe vorliegt. Sehr schön 
kommen die Interferenzerscheinungen zum Ausdruck in 8, die die Beurteilung 
erschweren können. | 


110 K. Fahrenkamp. 


Fig. 9 zeigt eine auffallend langsame rhythmische Vorhofstachysystolie bei 
unregelmäßiger Kammerbradykardie. Fig. 10 zeigt den gleichen Kranken in tachy- 
kardischem Anfall. 


Fig. 9. 





Ich rechne nach meinen Beobachtungen grundsätzlich diese nicht sehr häufiger 
Fälle zu den Erscheinungsformen und Möglichkeiten der Arhythmia perpetua, weil 
ich mehrfach auch bei solchen Kranken auch unregelmäßige Vorhofstachysystolien, 


Fig. 11. 





besonders unter dem Einfluß medikamentöser Behandlung, bis zu flimmernden Vor- 
höfen feststellte und im Verlauf der Beobachtung die Rückbildung in das alte Zustands- 
bild der Fig. 9 registrieren konnte. 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 111 


Ehe wir die echte Flimmerarhythmie darstellen, zeigen wir an drei kleinen Kurven- 
stücken jenes Vorstadium des Flimmerns, das man als Vorhofsflattern zu bezeichnen 


Fig. 12. 





pflegt. Auch hier sind stellenweise noch gut auszählbare Vorhofserregungen zu 
erkennen, aber die Bilder sind doch mit Leichtigkeit von der Tachysystolie der Vor- 
höfe abzugrenzen (vgl. Fig. 11, 12, 13). 


Fig. 13. 


pasina 


Fig. 11 zeigt eine fast rhythmische Kammerbradykardie bei nunmehr flimmernden 
Vorhöfen. Diese Form der Arhythmia perpetua kann sich zurückbilden und 
grundsätzlich das gleiche Bild wieder zeigen wie Fig. 4 und 5. 





Fig. 14. 


R 





In den Fig. 15 und 16 stellen wir fest, daß bei flimmernden, flatternden oder 
tachysystolischen Vorhöfen — das letzte ist sehr selten — der Erregungsablauf in 
den Kammern dadurch verändert ist, daß neben den für die einzelnen Kranken als. 
normal anzusehenden Kammererregungen auch abnorme Erregungen einge- 
streut sind. Ist erst einmal die Hetorotopie in den Kammern erwacht (nach Digitalis), 
so können bei dieser Form der Arhythmia perpetua wieder sehr leicht Anfälle von 


112 K. Fahrenkamp. 


Kammertachykardie auftreten in Form der „paroxysmalen Tachykardie“, wie dies in 
zwei weiteren Beispielen gezeigt wird (Fig. 17 und 18). 


Fig. 15. 





Fig. 16. 


III? 


BEL 





Fig. 17. 


A 


4 


l 


HA f 
! | | | | 


Fig. 18. 








Nehmen wir endlich noch hinzu, daß wir beispielsweise bei einer jugend- 
lichen Kranken mit einem kombinierten Mitralvitium (vorwiegend Mitralstenose) 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 113 


die beiden in Fig. 19 und 20 dargestellten Kurven im Verlauf der Krankheits- 
entwicklung verzeichnen konnten und wir hinzufügen, daß wir bei dieser Kranken 
von der hohen P-Zacke aus alle Stadien der gestörten Vorhofstätigkeit über die 
Vorhofstachysystolie bis zum Vorhofsflimmern unter dem Bilde der Arhythmia 
perpetua festhalten konnten, und daß alle diese Kurvenbilder bei dieser Patientin 
reversibel waren, so wollen wir hier nicht auf die Entstehungsmöglichkeiten 
der Arhythmia perpetua eingehen, sondern aus solchen Befunden nur ableiten, 
daß man bei Menschen berechtigt ist, eine möglichst einheitliche Auffassung der 
Arhythmia perpetua anzustreben. 


Fig. 19. 





Nun gibt es aber Kranke, bei denen bei flimmernden Vorhöfen echte 
dauernde rhythmische Bardykardie besteht, die der Rückbildung nicht mehr 
fähig ist. Derartige Kranke mit rhythmischer Kammerbradykardie bei flimmenden 
Vorhöfen bieten klinisch nach unseren Erfahrungen stets zahlreiche Erscheinungen 
von schweren Veränderungen des Herzens dar. Wir verstehen, daß solche Kranke 
bei dem gleichzeitigen Bestehen einer Arhythmia perpetua in Gefahr sind, einmal 


Fig. 20. 


.perp. nach Diyitatis 
Vorhofe 2 


Frequenz’ 34. 





eine dauernde und nun ganz rhythmische Bradykardie’zu bekommen; denn es 
kann sich bei ihnen, wie beim echten Herzblock, als Teilerscheinung einer Myo- 
karditis auch eine bleibende Schädigung der Überleitung entwickeln. Eine der- 
artige Bradykardie wäre der Rückbildung nicht mehr fähig. Für die Kammern 
- wären dann die Bedingungen wie beim echten Herzblock gegeben. Die tertiären 
Kammercentren bilden die Erregungen in völliger Unabhängigkeit von den Vor- 
höfen. Also wie beim echten Herzblock, der aber seinerseits stets mit erhaltener 
Vorhoftstätigkeit einhergeht, schlagen jetzt bei flimmernder Vorhofstätigkeit die 
Kammern auch automatisch regelmäßig in langsamer Schlagfolge. Das Elektro- 
kardiogramm zeigt uns aber noch an, daß einmal eine gewöhnliche Arhythmia 


perpetua vorausgegangen ist, ehe sich diese Pulsverlangsamung herausbildete. 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 8 


114 K. Fahrenkamp. 
Tabelle Il. 





4 verschiedene Formen von „Herzblock“« und herzblockähnlichen Zuständen. 


I. Form von Vorhöfe rhythmisch-tachysystolisch, z. B. 200 in der Minute. 
Bradykardie Kammerfrequenz 30—40 pro Minute. 

Kammerschlagfolge nicht ganz rhythmisch. 

Anfälle von paroxysmaler Kammertachykardie. 


II. Form von Vorhöfe flimmern. 
Bradykardie Kammerfrequenz 30—40 pro Minute. 
Kammerschlagfolge nicht ganz rhythmisch. 


Dieser Zustand meist nach Digitalisgebrauch. Bleibt Digitalis 
fort: Auftreten der gewöhnlichen Arhythmia perpetua. 







III. Form von 
Bradykardie 


Arhythmia perpetua. 


Vorhöfe flimmern. 
Kammerfrequenz 30—40 pro Minute. 


Kammerschlagfolge ganz regelmäßig. Auch bei Fortlassen der Digi- 
talis keine Anderung dieser Bradykardie mehr. 


Bradykardie Kammern. Kammererregungen unabhängig von den Vorhofs- 
erregungen: rhythmisch. 


Nie Kammertachykardie. | 


IV. Form von | Vorhöfe schlagen rhythmisch, meist 2,- 3- oder 4 mal so oft als die | 


Digitalis auf die Kammerfrequenz ohne Wirkung. Höchstens Erre- 
gung tertiärer Centren: Auftreten abnormer Kammererregungen. 


echter Herz- 
block 


Fig.21 zeigt einmal eine rhythmische Bradykardie bei flimmernden Vorhöfen, dann 
aber auch das Auftreten „abnormer Kammererregungen“ in Form eines „Bigeminus“. 
Sehr häufig wird diese Pulsform als extrasystolische Bigeminie bezeichnet. Dies beruht 


Fig. 21. 





nach dem bisher Gesagten auf einem Irrtum. In Tabelle II sind übersichtlich in scharfer 
Abgrenzung von dem echten Herzblock in I— III die Formen des Pseudoherzblocks, 
wie er auf dem Boden einer Arhythmia perpetua vorkommen kann, zusammengestellt. 

Nach dieser Übersicht der verschiedenen Erscheinungsformen kommen wir 
zu dem Ergebnis, daß die Bezeichnung Arhythmia perpetua einen wohl charakterisier- 
baren Zustand kennzeichnet, der freilich eine außerordentlich große Mannigfaltigkeit 
der verschiedenen Pulsbilder zeigt. Bei der Vielgestaltigkeit der Bilder werden wir 
an die Ausführungen Krehls über die Arhythmia perpetua erinnert: 

„Die Schlagfolge der Kammern ist sehr verschieden frequent, meist beschleunigt, 
70—90 oder gegen 100, zuweilen noch höher, selten von mittlerer Zahl oder sogar 
verlangsamt. Meist unregelmäßig, häufig ganz regellos ist die Schlagfolge nur recht 
selten annähernd regelmäßig. Immer fehlt eines: das ist jede Regel. 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 115 


Eine Beschreibung der Verhältnisse zwischen Vorkammer und Kammersystolen 
ist sehr einfach: Wir können keine Beziehung feststellen.“ 

Gerade diese Regellosigkeit der zahlreichen Erscheinungsmöglichkeiten der 
Arhythmia perpetua hat aber wieder etwas durchaus Charakteristisches und bei länger 
dauernder Beobachtung hilft sie in hohem Maße dazu, diese Zustände auch ohne 
technische Hilfsmittel häufig zu erkennen. Denn diese verschiedenen Pulsbilder treten 
ja ganz besonders erst unter der Behandlung auf (Digitalis). Davon wird später die 
Rede sein. Kompliziert wird die präzise Festlegung des Begriffes „Arhythmia perpetua“ 
dadurch, daß es auch eine vorübergehende Form dieser Störung gibt. An sich 
ist ja die Bezeichnung vorübergehende Arhythmia perpetua ein Widerspruch in sich 
selbst. Die Definition dieses Begriffes ist aber einfach: denn wie bei der dauernden 
Arhythmia perpetua finden wir anfallsweise Vorhofstachysystolie, Vorhofsflattern 
oder Vorhofsflimmern mit Überleitungsstörungen und Kammerarhythmie. Häufig 
treten diese Anfälle geradezu unter dem Bilde der paroxysmalen Kammertachy- 
kardie auf. Besonders eindeutig ist das Elektrokardiogramm bei diesen Fällen in 
diagnostischer Beziehung, wenn wir den Übergang der normalen Vorhofstätigkeit 
in die für Arhythmia perpetua charakteristische Form oder umgekehrt registrieren 
können. Dies zeigt Fig. 22. 


Fig. 22. 


Vagusdruck 





Vagusdruck rechts. Kammertachykardie Normaler Erregungsablauf 


Fall 1I. L. Ende eines tachykardischen Anfalles mit Vorhofflimmern durch Vagusdruck rechts. 
Übergang zu Bradykardie mit normalem Erregungsablauf. 


Die vorübergehende Arhythmia perpetua kann Stunden, Tage, Wochen, Monate 
und Jahre dauern, sie kann in stetem Wechsel mit dem normalen Erregungsablauf 
auftreten und ein Vorstadium der dauernden Arhythmia perpetua bilden. Dies gilt 
wohl besonders für Kranke mit kombiniertem Mitralfehler. Aber wir sind 
doch so außerordentlich selten in der. Lage, die Entstehung der Arhythmia perpetua 
bei unseren Kranken im Elektrokardiogramm zu verfolgen. In den meisten Fällen 
stellen wir eines Tages ihre Anwesenheit fest, und es wäre für die tiefere Erkenntnis 
dieser so überaus häufigen Rhythmusstörung gerade bei den großen Gruppen der 
Kranken mit postrheumatischer Endokarditis des Mitralostiums besonders wichtig, 
die Erscheinungen des Erregungsablaufes festzuhalten, die auftreten, ehe das voll- 
ausgebildete Bild dieser Rhythmusstörung nachweisbar ist. Also gibt es einmal bei 
diesen Kranken die vorübergehende Arhythmia perpetua. Weit häufiger tritt sie in 
späterem Lebensalter als Teilerscheinung einer Arteriosklerose, Lues u. s. w. auf. 
Manchmal eine Herzinsuffizienz auslösend, manchmal als ganz harmloser Neben- 
befund. Das hängt von dem Zustande des betroffenen Herzmuskels ab und sehr 
oft auch von der Dauer ihres Bestehens. Oder wir finden diese vorübergehende 

HS 


116 K. Fahrenkamp. 


Form der Arhythmia perpetua nach Infektionskrankeiten (z. B. Deist) oder im Gefolge 
von thyreotoxischen Zuständen. An anderer Stelle habe ich über diese Form früher 
schon ausführlich berichte. Nach meinen Erfahrungen in der Privatpraxis spielt 
jedenfalls die Arteriosklerose bei älteren Kranken eine große Rolle. Daß man diese 
Anfälle im Krankenhause und in der Klinik weniger sieht, liegt wohl daran, daß 
diese Anfälle im ganzen nicht zu einer Krankenhausbehandlung zu führen pflegen. 
Wenn diese Anfälle nicht lange dauern und gehäuft auftreten, sind sie mehr lästig 
als für den Kreislauf gefährlich. Die kurzen Anfälle von einigen Tagen pflegen die 
Leistungsfähigkeit der Kranken aber doch mehr zu beeinträchtigen als jene Anfälle, 
die wochen- und monatelang dauern. Das Moment der Vorhofpfropfung spielt neben 
dem Zustand des Herzmuskels jeweils eine große Rolle. Die immer wechselnde 
Rhythmik führt bei kurzen Anfällen eher zu Stauungserscheinungen, während sich 
bei den langdauernden Anfällen scheinbar der Kreislauf leichter auf die veränderte 
Rhythmik einstellt. Aber gerade weil die kurzdauernden Anfälle kurz sind, erscheint 
mir die Beurteilung therapeutischer Maßnahmen außerordentlich schwierig; wir 
werden später bei der Digitalisbehandlung davon sprechen müssen. Nach meinen 
Erfahrungen an der Klinik, im Sanatorium und in der Praxis sind aber im ganzen 
die Anfälle vorübergehender Arhythmia perpetua doch lange nicht so häufig, als 
es nach den Angaben in der Literatur den Anschein hat. Sie können außer- 
ordentlich leicht verwechselt werden mit komplizierten Störungen 
extrasystolischer Natur, die prinzipiell nichts mit der Arhythmia perpetua zu 
tun haben. Am Krankenbett ist die Diagnose oft nicht möglich, aber das Elektro- 
kardiogramm läßt die extrasystolische Störung ohneweiters erkennen. 

Somit hätten wir diejenigen Kurven und die Pulsbilder, die sich ohneweiters 
aus unseren Befunden als zur Arhythmia perpetua gehörig ergeben, im wesentlichen 
charakterisiert. Für alle diese Formen der gestörten Herzschlagfolge kann 
man den Begriff der „Arhythmia perpetua“ als klar umschriebene klini- 
sche Einheit verwenden. 

Eine präzise, weitgefaßte Begriffsbestimmung der Arhythmia per- 
petua erschien aus der klinisch-elektrokardiographischen Erfahrung und aus dem 
klinischen Bedürfnis, zu einer einheitlichen Verständigung zu gelangen, erforderlich. 


Hc. 


Nachdem wir für unsere Fragestellung den Begriff „bei gestörter Schlagfolge“ 
festgelegt haben, wenn die Störung der Schlagfolge auf dem Boden der Arhythmia 
perpetua entstanden ist, verständigen wir uns zweckmäßig weiter über diesen 
Begriff, wenn die Störung der Schlagfolge extrasystolischer Natur ist. 

Wir stellen bei sämtlichen Störungen der Schlagfolge, die wir nunmehr als 
extrasystolische Arhythmien bezeichnen, in klarer Gegenüberstellung zur 
Arhythmia perpetua fest, daß bei diesen die reizbildenden und reizleitenden 
Stätten ihre normale Tätigkeit noch bewahrt haben, auch wenn neben den 
primären Centren sekundäre oder tertiäre Stationen, oder alle drei abwechselnd, 
vorübergehend reizerzeugend werden. Dadurch kann dann das Bild einer völligen 
Herzunregelmäßigkeit entstehen. Einfache extrasystolische Arhythmien mit den typi- 
schen interpolierten Extrasystolen oder denen, die eine kompensatorische Pause 
zeigen, bieten ja diagnostisch keine weiteren Schwierigkeiten, aber es gibt doch so 
komplette Herzunregelmäßigkeiten extrasystolischer Natur, daß wir sie nur durch 
das Elektrokardiogramm analysieren können, aber diese komplizierten extrasystoli- 
schen Arhythmien sind meist flüchtiger Natur und machen den normalen Vorgängen 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 117 


in der Reizentstehung und Reizleitung wieder Platz. Wir verstehen also unter extra- 
systolischer Arhythmie in ganz klarer Gegenüberstellung zur Arhythmia perpetua 
alle diejenigen Störungen der Schlagfolge, bei denen nachgewiesen werden kann, 
daß die normale Tätigkeit des Sinusknotens bei normalem Ablauf der Erregungen 
entweder im wesentlichen vorherrscht oder jedenfalls nicht dauernd aufgehoben ist. 
Nennen wir jeden die normale Schlagfolge störenden neuen Reiz ohne Rücksicht 
auf den Ort der Entstehung „eine Extrasystole“, so kann schon durch eine länger 
andauernde, unregelmäßige Reizentstehung im primären Centrum — also schon 
durch Sinusextrasystolen — das Bild einer völligen Herzunregelmäßigkeit entstehen. 
Natürlich tritt eine sehr frequente und unregelmäßige Kammerschlagfolge mit zahl- 
reichen frustranen Contractionen auf, wenn neben dem primären Centrum sekun- 
däre oder tertiäre Centren ihrerseits Reize bilden. Derartige komplizierte extrasysto- 
lische Arhythmien kann man dann sehr leicht mit einem vorübergehenden Pulsus 
irregularis perpetuus verwechseln. 


Fig. 23. 


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| | 


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Fall IV. H. K. Kurze Anfälle von Tachykardie durch wechselnd auftretende Erregungen aus primaren, 
sekundären und tertiären Stätten. 


Fig. 24. 





Fall III. D. Herzunregelmäßigkeit durch Erregungen aus primären, sekundären und tertiären Stätten, 


Zwei Abbildungen mögen das oben Gesagte belegen. Für die uns hier be- 
schäftigende Frage kann gleich angefügt werden, daß wir bei der Herzinsuffizienz, 
die eine Digitalisbehandlung erfordert, außerordentlich selten diese komplizierteren 
extrasystolischen Störungen finden. 

Die vereinzelten Extrasystolen, die als belangloser Nebenbefund bei einer 
Herzinsuffizienz, gleichviel auf welcher ursächlichen Grundlage, festgestellt werden, 
und ebensogut unter der Digitalisbehandlung auftreten wie verschwinden können, 
bieten diagnostisch keine Schwierigkeiten. 

Therapeutisch spielen diese vereinzelten Extrasystolen deshalb keine Rolle, 
weil sie für die Digitalisbehandlung belanglos sind. Hier ist für die Digitalis- 





118 u K. Fahrenkamp. 


anwendung immer der Grad der Herzschwäche maßgebend. Vereinzelte Extra- 
systolen während einer Digitalisbehandlung als Zeichen der „Überdosierung“ an- 
sehen zu müssen — mit Recht anzusehen — dürfte zu den größten Seltenheiten 
gehören. 

Ich habe bei meinen Kranken die komplizierten extrasystolischen Rhythmus- 
störungen, die zu einer Verwechslung mit einer Arhythmia perpetua Veranlassung 
geben können, äußerst selten als auslösende Ursache oder Begleiterscheinung der 
Herzinsuffizienz gesehen. Die komplizierten Störungen der Schlagfolge dieser Art 
tragen meist einen selbständigen Charakter und machen eine Digitalisbehandlung 
meistens nicht erforderlich, die auch häufig zu versagen pflegt. 

Nach dieser Darstellung der für die Digitalisbehandlung und somit für die 
Praxis wichtigen Störungen der Schlagfolge brauchen wir auf die selteneren 
Störungen der Reizentstehung und Reizleitung hier nicht einzugehen. Bei dem par- 
tiellen und dem echten Herzblock ist der Grad der Herzinsuffizienz für die Indikation 
und Digitalisbehandlung ausschlaggebend. Was die besonderen Richtlinien in dieser 
Beziehung angeht, so muß ich auf die Darstellung von Lewis und Edens verweisen. 
Will man die elektrokardiographischen Ergebnisse der Lehre der Herzunregelmäßig- 
keiten im besondern Hinblick auf die Frage Arhythmie und Digitalis für die Praxis 
wertvoll gestalten, so muß man nach meinen Erfahrungen die Einteilung der wich- 
tigsten Arhythmieformen durchaus den Beobachtungen am Krankenbett anpassen und 
eine Vereinfachung in der Verständigung erzielen. Das erscheint mir nur möglich, 
wenn man die in der Praxis wichtigsten Rhythmusstörungen ganz klar voneinander 
abgrenzt, und eine Vereinfachung der Nomenklatur hiebei erzielen kann. 

Nach dem bis hier Gesagten genügt für die Verständigung durchaus der ein- 
heitliche Begriff der Arhythmia perpetua auf der einen Seite, und der der extra- 
systolischen Arhythmie auf der anderen Seite. Diese Vereinfachung ist keine Scheu, 
die Schwierigkeit des ganzen Arhythmieproblems zu umgehen, sondern das Bedürfnis 
nach Vereinfachung der ganzen Arhythmiefrage für die Praxis ergibt sich aus der 
Tatsache, daß auch gute Kenner dieses Spezialgebietes sich immer schwerer unter- 
einander verständigen können, und es kam mir hier darauf an, nach rein klinischem 
Gesichtspunkte klinische Einheiten aufzustellen, die sich bei der für jeden 
Arzt wichtigen Digitalistherapie mir in jahrelanger Beschäftigung mit dieser speziell 
gerichteten Frage ergeben haben. Ohne eine Vereinfachung der Lehre der Herz- 
unregelmäßigkeiten nach klinisch wichtigen Gesichtspunkten wird die Unsicherheit 
des Arztes, die heute zweifellos in der uns hier beschäftigenden Frage besteht, zum 
Nachteil seiner Kranken nicht beseitigt werden können. 


IV. Über die Frequenzfrühwirkung der Digitalis bei Herzinsuffizienz und. 
gestörter Schlagfolge. 


Über die Einwirkung der Digitalis bei insuffizientem Herzen und gestörter 
Schlagfolge kann man sich nunmehr verständigen, wenn man bei der Herzinsuffizienz 
als praktisch wichtig auf der einen Seite die Arhythmia perpetua, auf der andern Seite 
die extrasystolische Arhythmie im Auge hat. 

Wir wenden uns zuerst der Anfangswirkung der Digitalis zu, weil wir bei 
Herzinsuffizienz und gestörter Schlagfolge unter besonderen Verhältnissen eine Früh- 
wirkung der Digitalis ganz vorwiegend auf die Herzfrequenz finden, die wir in gleicher 
Intenstät nie bei Herzinsuffizienz und normaler Schlagfolge beobachten. Wir werden 
also gesondert betrachten: den Beginn einer Digitalisbehandlung von dem mehr chroni- 
schen Abschnitt der Kur. Es soll also, absichtlich abgetrennt von der übrigen Digitaliskur, 


"a 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 119 


jene allererste Zeit der Digitalisdarreichung besprochen werden, in der wir Kranke 
dieser Art — unvorbehandelt mit Digitalis — oder jedenfalls einige Zeit unbehandelt 
in ihrer Reaktion auf die Digitalis beobachten können. | 

So beginnen wir wieder mit Arhythmia perpetua. Nehmen wir diejenigen Kranken 
vorweg, bei denen ohne die eigentlichen Zeichen der Herzinsuffizienz lediglich die 
Herzunregelmäßigkeit auf dem Boden einer Arhythmia perpetua oder durch diese 
ausgelöste tachykardische Anfälle einen Versuch mit Digitalis veranlassen, so wissen 
wir, daß oft erst größere Mengen der Mittel gegeben werden müssen, um die ge- 
wünschte Beeinflussung der Kammerfrequenz zu erzielen. Die Gruppe dieser Kranken, 
bei denen tachysystolische Vorhöfe mit beschleunigter unregelmäßiger Kammertätigkeit 
häufig das einzige Symptom einer Herzstörung sind, ist nicht klein bzw. in den ver- 
schiedenen Gegenden scheinbar verschieden häufig. Man sieht diese Kranken z. B. 
entweder mit einem gut kompensierten kombinierten Mitralfehler oder mit den 
leichten Erscheinungen der Arteriosklerose, seltener nur bei essentieller Hypertonie, 
oder man sieht diese Form nach Infektionskrankheiten oder bei thyreotoxischen 
Zuständen. Dann pflegt diese Störung auch häufig, wie erwähnt, vorübergehender 
Natur zu sein. Nicht so selten führt aber doch auch, ohne die greifbaren Zeichen 
der Herzinsuffizienz, das subjektive Gefühl der verringerten Leistungsfähigkeit zum 
Arzt und zur Digitalisanwendung, und meist gelingt es bei diesen Kranken, mit 
großen Digitalisdosen (2—3 g etwa in 10 Tagen) die erwünschte Kammerfrequenz- 
erniedrigung zu erzielen. Der Erfolg hängt in hohem Maße von dem Grundleiden 
ab. Anders verhalten sich die Kranken, wenn die Zeichen der Herzinsuffizienz 
— meist chronischen Herzinsuffizienz — mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. 
Ich denke hier vor allem an die Kranken, die „wegen des Magens“ (chronische 
Stauung, meist vergrößerte Leber, im Harn Uhrobilin) oft fälschlicherweise als 
Magenkranke behandelt werden oder wegen eines chronischen Lungenkatarrhs 
(Stauungskatarrh, im Röntgenbild typischer Stauungshilus) wegen der Lunge 
behandelt werden (Asthmatiker! Pneumatische Kammer!). Bei diesen Kranken tritt 
die erwünschte Kammerfrequenzabnahme schon nach einer mittleren Gabe von 
1 bis 2g Digitalis ein. 

Gleichzeitig mit dem Sinken der Kammerfrequenz beobachten wir bei diesen 
Kranken einen Übergang von tachysystolischen zu flimmernden Vorhofserregungen, 
und der vorher negative Vagusdruck fällt während oder nach der Behandlung stark 
positiv aus, und endlich ist eine dritte Gruppe von Kranken in bezug auf die Frequenz- 
verminderung schon bei verhältnismäßig kleinen Mengen der gegebenen Mittel sehr 
empfindlich. Bei dieser Gruppe sehen wir eine Wirkung der Digitalis 
bei der Insufficientia cordis mit gestörter Schlagfolge, die wir nur 
dann konstatieren können, wenn die gestörte Schlagfolge bestimmte 
Formen der Arhythmia perpetua zur Grundlage hat. Es ist dies eine ganz 
specifisch ausgeprägte chronotrope Frühwirkung der Digitalis, die wir bei keiner 
anderen Rhythmusstörung finden. Bei diesen Kranken bewirkt dann der Vagusdruck 
meist schon vor, stets aber nach der Behandlung, eine starke Abnahme der Kammer- 
schlagfolge. Bei diesen Kranken gehen unter der Digitalisbehandlung gleichzeitig mit 
dem immer stärker ausgeprägten Ausfall des Vagusdruckversuches die noch vorhan- 
denen tachysystolischen in Flatter- und Flimmererregungen über, und die Abnahme der 
Kammerschlagfolge kann so erheblich sein, mit einer gleichzeitigen Regularisierung, 
daß wir das Pulsbild der „Eürhythmie“ (Gerhardt) oder des „Pseudoherzblocks“ 
vor uns haben. Während nach meinen Beobachtungen so gut wie alle Kranke mit 
Mitralinsuffizienz und Stenose im Verlaufe ihrer Krankheit alle möglichen Stadien 


120 K. Fahrenkamp. 


der Digitalisempfindlichkeit und die verschiedensten Erscheinungsmöglichkeiten der 
Arhythmia perpetua durchmachen, scheint dies bei Herzkranken, deren Insuffizienz 
auf anderer Basis entsteht, z. B. Lues, Arteriosklerose, bei weiten nicht in diesem 
Maße der Fall zu sein. Es scheint mir klinisch noch völlig ungeklärt, ob die Bedin- 
gungen für das Auftreten einer Arhythmia perpetua bei den einen und den anderen 


Fig. 25. 



























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Kranken so nah verwandt sind, wie es den Anschein hat. Nach eigenen Erfahrungen 
neige ich mehr dazu, die specifische Wirkung der Digitalis bei Herzinsuffizienz auf 
dem Boden eines kombinierten Klappenfehlers und gleichzeitiger Arhythmia perpetua 
einheitlich als eine hervorragende Vaguswirkung aufzufassen, als bei den übrigen Formen 
von Herzinsuffizienz, bei denen die Arhythmia perpetua mehr ein Zufallsbefund ist 


Fig. 26. 








und nicht so geradezu klassisch zum Krankheitsbilde gehört wie bei den kombinierten 
Mitralfehlern. So gelten also diese Richtlinien für die Digitalisbehandlung in ganz beson- 
derem Maße für die verschiedenen Zustände von Herzschwäche bei kombinierten Mitral- 
fehlern, die ja so gut wie ohne Ausnahme eine Arhythmia perpetua als Teilerscheinung 
aufweisen. 

In allen Fällen aber, in denen wir eine auffällige Frühwirkung der Digitalis auf 
den Rhythmus feststellen konnten, ergibt sich immer eine Wechselwirkung zwischen 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 121 


dieser Digitalisfrühwirkung und der frequenzvermindernden Wirkung des Vagusdrucks. 
Diese Beobachtung spricht doch für die Annahme, daß in solchen Fällen vielleicht 
der wesentliche Erfolg der Digitalisbehandlung durch die vaguserregende Wirkung: 
dieser Mittel erzielt wird. | 

An anderer Stelle habe ich über diese EEN mit ausführlichen Belegen berichtet (1916). 

Ehe wir auf die chronische Digitalisbehandlung in unserem Zusammenhang 
eingehen, müssen wir die für die Arhythmia perpetua — und nur für diese 
Rhythmusstörung — charakteristische Frequenzfrühwirkung der Digitalis aus der 
Digitalisbehandlung im ganzen herausstellen, weil diese Frequenzfrühwirkung auch 
in diagnostischer Beziehung eine außerordentlich einfache Handhabe bietet. So möchte 
ich nur in zwei typischen Pulskurven und drei Tabellen zeigen, was sich mir bei 
gewissenhafter Nachprüfung immer wieder gezeigt hat (Fig. 25 und 26). 

Die zwei Pulsbilder veranschaulichen, wie je nach der verschiedenen Digitalis- 
empfindlichkeit bei der Arhythmia perpetua auch schon ganz kleine Mengen der 
Digitalis eine Wirkung hervorrufen, die man weder bei der extrasystolischen 
Arhythmie noch bei normalem Grundrhythmus und Herzinsuffizienz je 
beobachten kann. 

Was diesen Pulskurven im Elektrokardiogramm zu grunde liegt, einmal im 
Zusammenhang der Digitalis mit dem Erregungsablauf in den Vorhöfen und das. 
andere Mal im Vergleich zu der immer wieder in Erscheinung tretenden Wechsel-. 
beziehung: Digitalis und Vagus, veranschaulichen am einfachsten die Tabellen III und IV. 


Tabelle III. 
Das Verhalten der Vorhofs- und Kammererregungen vor und nach der Behandlung. 


l Elektrokardiogramm vor der Behandlung Elektrokardiogramm nach der Behandlung 











Bemerkungen 
Auftreten abnormer 
1. der Vorhöfe Ee Kammererregungen 
Tachysystolie normal 115 Flimmern normal 52 | zahlreiche abnorme 

Erregungen 

n ” 128 nm n 50 a 

” n 102 e P 58 vereinzelte abnorme 
Erregungen Ä 

e P 100 n e 48 zahlreiche abnorme |: 
Errregungen 

e P 144 e " 66 vereinzelte abnorme 
Erregungen 

n P 174 ” S 45 zahlreiche abnorme 
Erregungen 

II nN 150 n n 42 pm 

H L 132 n ” 38 SZ 

n n 120 "n n 50 Ka 

n ” 160 H H 60 GE 

e " 140 n n 50 vereinzelte abnorme 
Erregungen 

n P 124 D y 48 T 


Vergleicht man diese beiden Übersichtstabellen, so ist es ganz augen- 
fällig, welche Ähnlichkeit zwischen dem Ausfall des Vagusdruckversuches und einer 
guten Digitaliswirkung in diesen Fällen besteht. Selbstverständlich läßt sich diese 
Übereinstimmung der Vaguswirkung und der medikamentösen Erfolge nur für 
einen gewissen Teil der Kranken mit Arhythmia perpetua feststellen, weil es sich 
dabei um Veränderungen handelt, deren nähere Ursachen wir noch nicht genügend, 
kennen. 


122 K. Fahrenkamp. 


Tabelle IV. 
Das Verhalten der Vorhofs- und Kammererregungen vor und nach Vagusdruck. 







Elektrokardiogramm vor Vagusdruck Elektrokardiogramm nach Vagusdruck 


Traten abnorme Kammer- 


erregungen auf? 
Vorhöfe Kammern nen 


Kammer- 
frequenz 








Tachysystolie normal 108 | Flimmern normal 62 zahlreiche abnorme 
, Erregungen 
170 | Übergänge n 88 zahlreiche abnorme 
zu - Erregungen 
Flimmern 
114 D ” 60 H 
102 ” e 24 _ 
190 e ” 110 zahlreiche abnorme 
Kammererregungen 
. 110 | Flimmern » 22 — 
114 " e 38 _ 
06 n n 24 T 
102 n e 68 _ 
120 | e " 60 _ 
138 | Übergänge e 84 zahlreiche abnorme 
zu Erregungen 
Flimmern Ä 
124 | Flimmern e 72 =- 


Die ausgesprochene Frequenzfrühwirkung veranschaulicht am einfachsten eine 
Übersichtstabelle (Tabelle V). In der ersten Spalte war bei den Kranken die Schlag- 
folge gestört durch eine Arhythmia perpetua, in Spalte 2 und 3 lag eine extra- 
systolische Arhythmie oder ein normaler Rhythmus zugrunde. Bei allen hier auf- 
geführten Kranken war eine ausgesprochene Herzinsuffizienz vorhanden. 

Ein Blick auf die Tabelle genügt, die eklatante Tatsache festzustellen, 
daß bei der Arhythmia perpetua + Herzinsuffizienz schon ganz geringe 
Mengen der Digitalis in zwei bis drei Tagen eine erhebliche Abnahme 
der Kammerfrequenz bewirken können. 

Etwas Ähnliches finden wir bei der Herzinsuffizienz + extrasysto- 
lischer Arhythmie und Herzinsuffizienz-- normalem Rhythmus über- 
haupt nie. 

So sehen wir, daß das durch eine Arhythmia perpetua charakterisierte insuf- 
fiziente Herz ohne Zweifel durch eine besondere Empfindlichkeit der ansprechenden 
reizerzeugenden und reizleitenden Apparate ausgezeichnet ist. Das erkrankte, insuf- 
fizient werdende Herz, das neben den sonstigen Erscheinungen auch noch eine 
Erkrankung der reizerzeugenden und reizleitenden Apparate in einer der viel- 
gestaltigen Erscheinungsformen der Arhythmia perpetua zeigt, bietet uns bei der 
Behandlung mit Digitalis außer den übrigen Angriffspunkten ganz besonders in 
dem Reizleitungsapparate noch eine andere Möglichkeit der Heilwirkung dar. 

Die Frühwirkung dieser Mittel in der Beeinflussung der Kammer- 
schlagfolge darf als erwiesen gelten. Sehen wir von den seltenen Fällen von vor- 
übergehender Arhythmia perpetua ab, so können wir bei dieser Störung eine bleibende 
Veränderung der reizbildenden und reizleitenden Stätten annehmen, wenn auch die 
pathologisch-anatomischen Untersuchungen dieser Veränderung kein einheitliches 
Ergebnis ergeben haben. Wir können aber nach den klinischen Ergebnissen sicher 
sagen, daß die Tätigkeit der normalen Reizbildungsstätten des Sinusknotens dauernd 
in der Weise verändert ist, daß bei der Arhythmia perpetua zahlreiche Vorhofs- 


123 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 





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124 K. Fahrenkamp. 


erregungen an die Stelle der sonst normalen regelmäßigen Vorhofsreize getreten 
sind. Diese Vorhofserregungen sind so geartet, daß sie unter der Einwirkung der 
Digitalis abgeschwächt werden können. Dies tritt mit großer Wahrscheinlichkeit 
auf dem Wege der Vaguserregung ein. Gleichzeitig besteht neben der Veränderung 
der Reizentstehung eine Veränderung der Reizleitung. Beide Veränderungen zu- 
sammen zeigen engste Beziehung zu dem Vagusapparat. Es bestehen also 
von der Norm völlig abweichende, der Rückbildung nicht mehr fähige Bedingungen 
für die Tätigkeit der Reizbildung, Reizleitung und für die mit diesen Stätten ver- 
bundenen Vagusendapparate. 

Auf Grund immer wieder nachgeprüfter Beobachtungen kann man auch die 
komplizierteste und scheinbar schwerste extrasystolische Rhythmusstörung für die 
Digitalisbehandlung dem rhythmusnormalen insuffizienten Herzen gleichstellen. Man 
braucht hier weder mit besonderen Gefahren bei der Digitalisanwendung zu 
rechnen, auf die wir bei der Frage der chronischen Digitalisbehandlung kurz ein- 
gehen werden, noch kann man eine Frühwirkung der Digitalis in solchen Fällen 
erwarten. ` 

Das bisher Gesagte gilt für jene Kranken, bei denen eine Herzinsuffizienz als 
Teilsymptom entweder eine Arhythmia perpetua oder eine extrasystolische Arhythmie 
zeigt, und wir haben hier besonders hervorgehoben, wie zu Beginn einer Digitalis- 
behandlung, die durch eine Arhythmia perpetua komplizierte Herzinsuffizienz ganz 
andere und anerkannte Digitalisfrühwirkungen auslöst, die wir bei der Herzinsuf- 
fizienz mit extrasystolischer Störung nicht finden. 

Das betont auch Magnus in seiner Darstellung der Digitalistherapie (1923), 
aber er trennt auch die Tachysystolie der Vorhöfe von den flimmernden Vor- 
höfen ab und stellt die besondere Wirksamkeit der Digitalis nur für das Vorhofs- 
flimmern fest: | 


„Wo man einen beschleunigten, unregelmäßigen und inäqualen Puls (Arhythmia perpetua, 
Pulsus irregularis perpetuus, Delirium cordis) neben Erscheinungen der Herzinsuffizienz findet, kann 
Digitalis in einigen Tagen das Bild völlig ändern. Die Dyspnöe läßt nach, die Cyanose verschwindet, 
die Odeme nehmen ab, die Diurese wird überschießend, der Puls deutlich verlangsamt.“ 

Nach den bisherigen Mitteilungen halte ich nach unseren elektrokardiographi- 
schen, experimentellen und diagnostischen Befunden eine Abtrennung der Vorhofs- 
tachystolie und Vorhofsflimmern nicht für angezeigt, denn wir finden bei ein und dem- 
selben Kranken fließende Übergänge von dem einen in den anderen Zustand der Vorhöfe und das 
ganz vor allem unter dem Einfluß der Digitalisbehandlung, vor allem aber auch in der Entwicklun 
der Arhythmia perpetua im Verlaufe der Krankheit. Daß flimmernde, Vorhöfe als Dauerzustan 
registriert, dann häufig in Kombination mit einem höheren Grad der Überleitungsstörung, der bis 
zum Pseudoherzblock führen kann, meist mit einem späteren oder gar Endzustand des Krankheits- 
bildes zusammen angetroffen werden, ist außer Zweifel. Aber wie schon erwähnt wurde, ist hier 
sicher die Grunderkrankung — z. B. kombinierter Klappenfehler oder arteriosklerotische Myokard- 
veränderungen — von grundlegender Bedeutung. 

eh fehlt zurzeit noch eine klinische Trennung, die mir durchaus möglich 
erscheint. 


V. 


| Wir haben uns noch kurz zu beschäftigen mit der Frage, ob die Digitalis- 
behandlung bei Herzinsuffizienz mit gestörter Schlagfolge besondere Wege weist, 
wenn die Rhythmusstörung nicht Begleitsymptom, sondern auslösende Ursache der 
Herzinsuffizienz wird. Wenckebach hat uns ja gelehrt, welch große Bedeutung 
dem Zusammenfallen vor Vorhofs- und Ventrikelsystole: der Vorhofspropfung, zu- 
kommt. Wenn beide Abteilungen des Herzens auch kräftig schlagen, so kann der 
Nutzeffekt für den Kreislauf trotzdem sehr gering sein. Die Ventrikel werden nicht 
genügend gefüllt und zu gleicher Zeit können die Vorhöfe ihren Inhalt nicht durch 
die verschlossenen Klappen in die Ventrikel pressen und werfen ihn in die Venen 
zurück. 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 125 


„Bei der systematischen Durcharbeitung des ganzen Gebietes der Arhythmie 
treffen wir immer wieder die Tatsache, daß es die Vorhofspfropfung ist, welche 
die bedenklichsten Kreislaufstörungen hervorruft“ (Wenckebach). 

Es liegt auf der Hand, daß sowohl bei bestimmten Formen der Arhythmia 
perpetua als auch bei komplizierten Formen der extrasystolischen Arhythmie, vor 
allem aber bei der paroxysmalen Tachykardie, auf der einen oder anderen Grund- 
lage die ernstesten Stauungserscheinungen sich ausbilden können, und wir sahen 
ja, daß ein Teil der Fälle von paroxysmaler Tachykardie — und dieser Anteil ist 
nicht klein — hineingehört in die Gruppe der Arhythmia perpetua, denn wir 
stellten an den Kurven fest, daß in vielen Fällen die Bedingungen gegeben sind, 
die einen Anfall unter dem Bilde der paroxysmalen Tachykardie auslösen können. 
Das gleiche gilt für komplizierte extrasystolische Arhythmien, auch hier können 
geeignete Bedingungen allein durch die fohe Frequenz ausgelöst werden, welche 
Ventrikel und Vorhofsschläge so zusammendrängen, daß die Entleerung der Vorhöfe 
und die Füllung der Ventrikel fast unmöglich wird. Gelingt es alsdann, den hohen 
Grad der Arhythmie zum Verschwinden zu bringen, so nimmt häufig die Kreis- 
laufstörung alsbald ihr Ende. So wird es also nicht so wenig Fälle geben, wo die 
Arhythmie als solche eine spezielle Behandlung erfordert. 

Für diejenigen Kranken, bei denen derartige Zustände von Herzinsuffizienz 
selbständig auf dem Boden einer Arhythmia perpetua ausgelöst werden, ist die 
Digitalis ein unentbehrliches Mittel, und wir werden später bei der chronischen 
intermittierenden Digitalisbehandlung diese Fälle berücksichtigen müssen. 

Häufig gelingt es mit einer Strophanthininjektion, den durch die Arhythmia 
perpetua ausgelösten tachykardischen Anfall zu coupieren. Oft sind große Digitalis- 
mengen nötig, manchmal läßt uns die Digitalis im Stich. Jedenfalls kann man bei 
Zuständen auf dem Boden dieser Grundstörung einen Erfolg von der Digitalis 
erwarten. Anders liegen die Verhältnisse bei schweren Störungen im Sinne Wencke- 
bachs, wenn die Störung der Schlagfolge extrasystolischer Natur ist. Hier empfiehlt 
Wenckebach vor allem das Chinin, eventuell kombiniert mit Digitalis. Nach meinem 
Dafürhalten hängt bei diesen Fällen der Digitaliserfolg weit mehr ab von der Digitalis- 
reaktivität im Sinne Fraenkels (Herzmuskel), als von der Angriffsmöglichkeit der 
Digitalis auf das Reizleitungssystem. Denn hier fehlt die specifische Digitaliswirkung, 
die wir von der Arhythmia perpetua her kennen. Ehe wir die chronische Digitalis- 
behandlung besprechen, sei kurz das noch sehr umstrittene Kapitel der Behandlungs- 
möglichkeit vor allem der vorübergehenden Arhythmia perpetua gestreift. Ich meine 
das Ziel der Behandlung, die Rhythmusstörung — das Vorhofsflimmern — zu beseitigen. 
Die Erfolge einer zielbewußten Chinidintherapie in dieser Richtung sind erwiesen. 
Ich verweise auf die Untersuchungen von Frey, dem wir die Einführung des Chinidins 
für diese Fälle verdanken. Aber die Frage, ob es möglich ist, durch Chinin oder 
Chinidin eine „dauernde“ Arhythmia perpetua, oder, wie es in der Literatur heißt, 
"das Vorhofsflimmern“ zu beseitigen, wird von den verschiedenen Autoren noch 
sehr verschieden beurteilt. Bei kombinierten Mitralfehlern habe ich eine Rückbildung 
im vorgeschrittenen Krankheitsstadium nie gesehen. Bei älteren Kranken mit arterio- 
sklerotischen Herzveränderungen oder auch bei Kranken, bei denen sich im Anschluß 
an einen Infekt oder beispielsweise eine thyreotoxische Störung, eine Arhythmia 
perpetua einstellt, wird die Wirksamkeit der Chinidintherapie besonders gerühmt. 
Ich persönlich glaube nicht, daß bei wirklich vollausgebildeten Dauerzuständen das 
Vorhofsflimmern so häufig für dauernd verschwindet, wie es nach der Literatur den 
Anschein hat. Anders liegt es ja bei den vorübergehenden Formen. Aber die vor- 


126 K. Fahrenkamp. 


übergehenden Formen sind eben doch, wie der Name sagt, flüchtiger Natur, und 
ich halte eine Beurteilung medikamentöser Maßnahmen bei diesen flüchtigen Er- 
scheinungsformen für außerordentlich schwierig. Ich kenne eine Anzahl Kranker, 
bei denen entweder auf dem Boden eines Mitralvitiums sich im jugendlichen Alter 
zeitweise ein Irregularis perpetuus einstellte, wieder verschwand, wiederkam und 
dann Dauerzustand wurde, oder bei denen, und das sind vor allem die älteren 
Kranken mit Arteriosklerose, irgend eine Erscheinungsform, Anfälle vorübergehender 
Arhythmia perpetua auftraten, die Stunden, Tage, Wochen oder Monate dauerten. 
Vor allem sah ich auch bei dem gleichen Kranken den einen Anfall sehr kurz, den 
anderen sehr lang dauernd. Ich erinnere an die Angaben in der Literatur, wie stark 
die Auslösung dieser Anfälle von nervösen Einflüssen abhängen kann und daß sie 
auch aufhören können in dem Moment, wo man mit der Nadel die Haut vor der 
Einspritzung berührt, ohne die Injektion auszuführen. Wie anders würde man den 
therapeutischen Effekt beurteilen, wenn der Anfall eine Minute später nach erfolgter 
Injektion aufgehört hätte. | 

Jedenfalls wird man einen Versuch mit Chinidin, eventuell auch in Kombination 
mit Digitalis, machen, aber bei einer derartigen Behandlung nie außer acht lassen, 
daß alsdann eine besonders sorgfältige Überwachung des Kranken erforderlich ist 
wegen etwaiger Gefahren von seiten des Herzen oder des Centralnervensystems, 
auf die von allen Autoren, die sich mit der Chinidintherapie beschäftigt haben, 
immer hingewiesen wird. Mir persönlich erscheint die Chinidintherapie bei Arhythmia 
perpetua als Allgemeingut für die Praxis noch nicht spruchreif. Ich möchte weitere 
klinische Untersuchungen mit möglichst zahlreichen und beweiskräftigen Elektro- 
kardiogrammen abwarten. 


Wie hier immer wieder betont wurde, ist für die Beurteilung eines Digitaliserfolges eine ein- 
wandfreie elektrokardiographische Diagnose Grundbedingung. Ich halte in zahlreichen Fällen die Deutung 
des Elektrokardiogramms im tachykardischen Anfall für unmöglich. Gelingt es, den Übergang zur 
normalen Schlagfolge festzuhalten, oder durch Vagusdruck größere diastolische Pausen zu erzielen, 
so ist die Diagnose sehr leicht. So macht also nicht nur das klinische Pulsbild, sondern auch die 
Trennung einer Arhythmia perpetua von einer schweren extrasystolischen Störung im Elektrokardio- 
gramm oft große Schwierigkeit. 


Im Hinblick auf unsere spezielle Frage können wir jedenfalls bei der echten 
vorübergehenden Arhythmia perpetua mit einer energischen Digitalistherapie (Stro- 
phanthin) eine Reaktion der Vagusendapparate und somit eine Beseitigung des Anfalles 
erwarten, während bei der schweren extrasystolischen, anfallsweise auftretenden 
Arhythmie weit mehr der jeweilige Zustand des Herzmuskels für den Digitaliserfolg 
ausschlaggebend sein dürfte. | 

An dieser Stelle möchte ich aus eigenen Erfahrungen einige technische Bemer- 
kungen über die klinische Elektrokardiographie einfügen. 


Wir finden eine ganz besonders klare Darstellung aller wissenswerten Einzelheiten, die bei der 
klinischen IE We zu beachten sind, bei Schrüm f zusammengestellt. Im übrigen findet 
man ja überall ähnliche Abhandlungen, vor allem bei Hoffmann, Schittenhelm, Kraus und 
Brugsch, Romberg u. a. m. A. Hoffmann hat vor allem auch auf die Fehler in der Technik 
hingewiesen. Ich beschränke mich darauf, lediglich einige Fehler kurz zu streifen, die 
bei der Benutzung des großen Edelmannschen Saitengalvanometers in Frage kommen, 
da mir eigene Erfahrungen über den von Siemens und Halskeschen Oscillographen fehlen. Das große 
Edelmannsche Saitengalvanometer ist ja wohl in Deutschland sowohl für muskelphysiologische als 
auch für elektrokardiographische Studien das am meisten verwendete Instrument. 


Die nachstehenden Ausführungen stützen sich vor allem auf eigene Erfahrungen 
im Physiologischen Institut in Leiden bei Einthoven und in Würzburg bei M.v. Frey 
und P. Hoffmann. 


‚Ich halte an sich bei der Aufstellung einer elektrokardiographischen Station es für einen technischen 
Vorteil, wenn analog physiologischer Arbeitsmethoden keine Schaltschemata zur Verwendung kommen, 


Die Digitalisbehandiung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 127 


sondern alle Schlüssel, Leitungen, Widerstände und Hilfsapparate so aufgebaut sind, daß sie jeder- 
zeit auslösbar und kontrollierbar sind. Der Untersucher sollte also in der Lage sein, seine sämtlichen 
Leitungen mühelos in jedem Augenblick übersehen zu können und so auch kleine Fehler (Lockerung 
der Drähte, schlechte Isolation u. s. w.) auszuschalten. Die Grundbedingung für das Arbeiten mit 
einem so empfindlichen Instrument, wie es das Saitengalvanometer ist, dürfte eine möglichst 
erschütterungsfreie Aufstellung sein. Am günstigsten wird diese Frage zu lösen sein, wenn 
das Instrument in einem Kellerraum ohne Berührung mit den Seitenwänden des betreffenden Hauses 
auf einem erschütterungsfreien Sockel ganz allein für sich Aufstellung findet. NebenderErschütterung 
bedeutet die Induktion die zweitgrößte Gefahr für das Arbeiten mit dem Saiten- 
galvanometer. Dabei handelt es sich nicht nur um elektrische Störungen durch Wechselströme, sondern 
auch in hohem Maße um statische Ladungen, die unter Umständen ein Arbeiten unmöglich machen 
können. Es liegt auf der Hand, welche enorme Störungen ein Instrument erleidet, wenn durch Befestigun 
an einer Hauswand oder durch die Nähe einer Straßenbahn, eines Röntgenzimmers, ja schon durc 
die Anwesenheit eines Steckkontaktes der Lichtstromleitung mit Wechselstrom die Möglichkeiten der 
mechanischen oder elektrischen Störung ohne weiteres gegeben sind. Eine Saitengalvanometer-Arbeits- 
stätte, mag sie nun zu physiologischen oder elektrokardiographischen Untersuchungen benutzt werden, 
sollte vor mechanischen Erschütterungen gesichert sein. Gegen elektrische Störungen schützt eine 
einliche Isolation des gesamten Stromkreises mit Einschluß des Patienten, und nachdem ich diese 
solation bis in alle Einzelheiten mit Starkstromisolatoren und dem Vermeiden der statischen Ladung 
und der Einwirkung von irritierenden Wechselströmen nach dem Vorgange Einthovens immer 
durchgeführt habe, registriere ich nur dann verzitterte Kurven, wenn der Patient wirklich keine anderen 
liefert und die Zahl derartiger Patienten ist nach meinen Erfahrungen eine sehr kleine. Eigentlich 
sind es nur bei wiederholten Aufnahmen schwerere thyreotoxische Kranke, die ja immer einen sehr 
oßen Ruhestrom haben und bei denen tatsächlich auch im übrigen die Kurve sehr leicht trotz 
eachtung aller Vorsichtsmaßregeln verzittert ist (Muskelaktionsströme). 


Nur technisch einwandfreie Kurven ermöglichen die Lösung einer Frage, wie 
wir sie hier behandeln. Diese technischen Bemerkungen erschienen mir angebracht, 
besonders auch im Hinblick auf die Frage der Häufigkeit der vorübergehenden 
Rhythmusstörungen. Was die Art der Ableitung angeht, so sehe ich für klinische 
Zwecke kein Bedürfnis, eine andere Art der Ableitung zu wählen: als die mit Hilfe 
der Wannenelektroden oder der von Einthoven angegebenen Bindenelektroden. 
Bei einwandfreier Technik kann man für Untersuchungen am Krankenbett nach 
meinem Dafürhalten die Straubschen Nadelelektroden entbehren. Die scheinbaren 
Vorteile, die diese neuerdings von Straub eingeführte Methode haben soll, werden 
durch eine sonst einwandfreie Technik ausgeglichen. Ich halte sie auch als Ableitungs- 
art auf die Dauer kaum für durchführbar. 

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, so war die Frage, ob eine vorüber- 
gehende Rhythmusstörung, die selbständig eine Herzinsuffizienz auslöst, für die 
Digitalisbehandlung besondere Richtlinien ergibt. Da kommt für die vorübergehende 
Arhythmia perpetua in hohem Maße das Chinidin in Frage an Stelle der Digitalis, 
im übrigen läßt sich für diese Fälle eine generelle Antwort nicht geben, und man 
wird je nach der Lage des Falles versuchen, den Anfall zu beseitigen, ohne hier 
von der Digitalis zuviel erwarten zu dürfen. Bei der dauernden Arhythmia perpetua 
als selbständiger Ursache der Herzinsuffizienz können wir nach dem Vorhergesagten 
eher einen Digitaliserfolg erwarten, vor allem, wenn es gelingt, durch eine chronische 
Digitaliskur die kritischen Frequenzen zu vermeiden und die Pulszahl zwischen 
60 und 70 zu erhalten. Daß hier die einzelnen Krankheitsfälle verschieden reagieren, 
je nach der ätiologischen Grundlage der Rhythmusstörung, wurde vorher gesagt. 

So fassen wir für unsere Fragestellung noch einmal das klinische Ergebnis 
der klinischen Elektrokardiographie dahin zusammen, daß die sichere Diagnose 
über die Art der vorliegenden Herzunregelmäßigkeit für die Digitalisbehandlung 
von praktischer Wichtigkeit "st, denn es verhält sich das durch Extrasystolen unregel- 
mäßig schlagende Herz in bezug auf die Frequenz gegenüber der Digitalis wesentlich 
anders als das durch eine Arhythmia perpetua klinisch unter dem gleichen Bilde 
unregelmäßig schlagende Herz. Das durch Extrasystolen arhythmisch schla- 
gende Herz unterscheidet sich der Digitalis gegenüber nicht von dem 
in seinem Rhythmus ungestörten insuffizienten Herzen. 


128 K. Fahrenkamp. 


Dagegen ergaben die dauernd bestehenden Veränderungen der Reizentstehung 
und Reizleitung bei der Arhythmia perpetua besonders günstige Möglichkeiten für 
die Digitalisbehandlung. Das war die geschilderte Frequenzfrühwirkung, die wir 
bei dem durch Extrasystolen arhythmischen sowie bei dem insuffizienten Herzen 
mit regelrechter Schlagfolge nicht kennen. Dabei sahen wir, daß in der hier nieder- 
gelegten Auffassung die Bezeichnung Arhythmia perpetua auf Grund der elektro- 
kardiographischen Befunde eine gut umschriebene klinische Einheit darstellt. Über 
etwaige Gefahren in der Art der Digitalisanwendung bei der Herzinsuffizienz bei 
der einen oder anderen Arhythmieform wird in dem Abschnitt über die kontinuier- 
liche Digitalisbehandlung zu sprechen sein. 


VI. Über den kontinuierlichen Gebrauch der Digitalis bei gestörter 
Schlagfolge. 


Wir haben bisher ganz bewußt den Beginn der Digitalisbehandlung in 
den Vordergrund gestellt. Die charakteristische chronotrope Digitalisfrühwirkung 
haben wir nur bei der Arhythmia perpetua feststellen können, nicht aber bei der 
extrasystolischen Arhythmie und bei normalem Grundrhythmus. Unsere bisherige Auf- 
fassung steht durchaus im Einklang mit den Ergebnissen der experimentellen 
Pharmakologie. Ehe wir auf den chronischen Digitalisgebrauch im folgenden ein- 
gehen, führe ich deshalb die Ansicht Gottliebs an, weil aus ihr hervorgeht, wie 
wichtig experimentelle Therapie am Krankenbett, wie wir sie durchgeführt zu haben 
glauben, für das Digitalisproblem im ganzen ist. Ich füge zusammengefaßt einiges 
aus der diesbezüglichen Darstellung Gottliebs an: Da die Empfindlichkeit jedes 
dieser Angriffspunkte durch krankhafte Störungen in besonderer Weise verändert 
wird, ist es verständlich, daß die Digitalisbedürftigkeit ebenso wie die Digi- 
talisempfindlichkeit der Herzkranken im Einzelfalle wesentlich verschieden sein 
kann, Màn weiß, daß eine durch Arhythmia perpetua bedingte oder in ihrem 
Gefolge auftretende Herzinsuffizienz allein schon durch die chronotrope Wirkung 
selbst kleiner Digitalisgaben günstig beeinflußt werden kann, und es ist auch bekannt, 
daß Herzinsuffizienzen ohne Störung der Reizbildung und Reizleitung im Sinne 
der Arhythmia perpetua im allgemeinen erst durch größere Digitalisdosen beein- 
flußbar sind. Bei der Arhythmia perpetua handelt es sich nicht um ein 
primäres Versagen der Contractionsfähigkeit der Kammern wie etwa bei 
der Kompensationsstörung eines hypertrophischen Herzens, sondern um eine schwere 
Störung von Ort und Tempo der Reizbildung (1921). 

Da die Digitalisanwendung schon in kleinen Gaben imstande ist, eine langsam 
und weitgehende Regulierung der vorher völlig arhythmischen und stark be- 
schleunigten Kammerpulse herbeizuführen, so erklärt sich die günstige Wirkung 
der Digitalis in solchen Fällen allein schon aus der Pulsverlangsamung, die 
das Mittel hervorruft. Wenn wir uns also jetzt zudem chronischen Digitalisgebrauch 
bei Herzinsuffizienz mit gestörter Schlagfolge zuwenden, so haben wir im folgenden 
nur solche Krankheitsfälle im Auge, bei denen der optimale Grad der Kompensation 
nach einer zielbewußten Digitalisbehandlung erreicht wurde. Also jene Kranken, bei 
denen .es die Aufgabe des Arztes ist, nach eingetretener völliger oder relativer Kom- 
pensation eine neue schwere Insuffizienz zu verhüten. Häufig dürfte es viel leichter 
sein, die groben Erscheinungen der Herzinsuffizienz zu beseitigen, als das nunmehr 
suffizient gewordene Herz suffizient zu erhalten. Da eine Herzinsuffizienz mit extra- 
systolischer Rhythmusstörung nach dem bisher Gesagten sich der Digitalis gegen- 
über in keiner Weise unterscheidet, wie das insuffiziente Herz bei normalem Grund- 


D 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 129 


rhythmus, so können wir uns auch hier wieder auf die Herzinsuffizienz mit Arhythmia 
perpetua beschränken. Durch die Übersicht einiger typischer Pulskurven, denen große 
Serien von Elektrokardiogrammen zu grunde liegen, werden wir am einfachsten 
feststellen können, welche der uns hier interessierenden Krankheitsfälle ganz besonders 
eine chronische Digitalisbehandlung erfordern. 

Dabei stellen wir noch einmal fest: Abgesehen von der hier gesondert be- 
trachteten Frequenzfrühwirkung, wird man die Digitalisdarreichung bei Herzinsuffizienz 
und gestörter Schlagfolge fortsetzen, bis der optimale, für den einzelnen Fall charak- 
teristische (besonders auch für die Prognose [vgl. A. Fraenkel]) Grad der Kompen- 
sation erreicht ist. Über die zu verabfolgende Menge der Digitalis läßt sich ein 
Schema nicht aufstellen. Während aber bei Herzinsuffizienz und extrasystolischer 
Arhythmie ebenso wie bei Herzinsuffizienz und ungestörter Schlagfolge Mengen 
von 3 bis 5 oder gar 6 g Digitalis etwa in 10—14 Tagen von seiten des Reiz- 
leitungsapparates — und auch vom Herzen im ganzen meist gut vertragen werden 
oder meist auch nicht in die Gefahrzone der „Überdigitalisierung“ führen, liegen 
die Verhältnisse bei Herzinsuffizienz und Arhythmia perpetua doch anders. 


Fig. 27. 





Nach 06g Digitalis (6X 0'8 mg Verodigen) tritt eine lang anhaltende, erwünschte, niedrige Kammerfrequenz ein. 


Wir können hier naturgemäß nur ganz wenige Pulsbilder wiedergeben, an 
Hand derer aber erörtert werden kann, wie die Digitalisanwendung bei Herzinsuffi- 
zienz + Arhythmia perpetua sich doch nach Möglichkeit jeweils auf die ganz 
individuelle Reaktion des Kranken auf den Rhythmus anzupassen hat. In dem einen 
Beispiel der Fig. 27 tritt schon nach einer Gabe von 0'6 g Digitalis eine lang- 
anhaltende, erwünschte, niedrige Kammerfrequenz ein. In einem solchen Fall wird 
man, sofern die Kompensation erreicht ist, doch zweckmäßig Digitalispausen eintreten 
lassen. Darüber wird kurz in einem nächsten Abschnitt zu reden sein. 

Geht aber, wie in Fig. 28, die Kammerfrequenz bei Aufhören der Digitalis? 
@arreichung gleich wieder in die Höhe, so wird man wohl genötigt sein, über weit 
längere Zeit, vielleicht dauernd Digitalis zu geben. Aber auch bei solchen Kranken 
erzielt man dann meistens bei lang andauernder Digitalisierung die Möglichkeit, 
kürzere oder längere Pausen einzuschalten, ohne daß die Kammerfrequenz in die 
Höhe geht. 

Fig. 29 zeigt, daß das eine Mal eine unerwünschte weitere Abnahme der 
Kammerfrequenz dazu Veranlassung gibt, mit der Digitalis aufzuhören. Das andere 
Mal zeigt eine weitere Fig. 30, daß durch das Auftreten abnormer Kammerregungen 
die starke Abnahme der Kammerfrequenz verdeckt werden kann. In therapeutischer 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI Q 


130 K. Fahrenkamp. 


Beziehung liegen die Verhältnisse bei derartigen Kranken in.der Fig. 29 und 30 
deshalb besonders ungünstig, weil auf der einen Seite die Digitalis unerwünscht 
stark die Frequenz herabdrückt, anderseits häufig die Insuffizienzerscheinungen noch 





Fig. 28. Fig. 29. 
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Starke Einwirkung der Digitalis (Oitalin) auf die sehr Die weitere Abnahme einer SE 
erhöhte Kammerfrequenz, flüchtiger Natur. Auffallend bei flimmernden Vorhöfen und Arhythmia 
große Differenz zwischen Herz- und Hand- petua durch Digitalis. Bemerkungen: 7. V. Fli Ge 
pulszahlen. Etwa 80 Herzcontractionen sind am Ra- mern der Vorhöfe, Vagusdruck 60:54 links, 
dialispulse nicht auszählbar. Bemerkungen: 11. JI. Tachy- 2: 54 rechts. 9. V. Flimmern ger Vorhöfe 
systolie der Vorhöfe. 12. If. Vagusdruck 108 : 80 links, 3. V. Vagusdruck 54 : 42 links, 54 : 36 rechts. 
108 : 50 rechts. 14. II. Übergänge zu Flimmern. 23. II. 14 V. keine abnorme Erregung, Flimmern der 
wie am 14. Il. 23. Il. Vagusdruck 100:90 links, 100 : 75 Vorhöfe. 


"rechts. Keine abnorme Erregung. 


nicht genügend beseitigt sind. Ich persönlich neige dazu, in solchen Fällen dann 
lieber durch andere Mittel — Campher, Coffein, Scilla — erst abzuwarten, bis die 
Kammerfrequenz um 60 liegt, weil ich in der intensiven Weiterdigitalisierung eine 
Gefahr erblicke. 


Fig. 30. Fig. 31. 


Ss 


B. le 15 16 1? 18 19 0A 2232 


EMT 





TEROR 
SE 
BEER ER 
WS HAARE 
IS E Re E E EE 
KEE e E 
eg Ke Eë 
; Leiden in Tng 
Nach 06 g Digital 6x .0'8 Verodi 
® reten abnorme Brregungen, starke Abnahme de Peer 
Kammerfrequenz und dıe übrigen bekannten Er- 
scheinungen auf. Bemerkungen: 6. II. Vagusdruck 
84 : 60 links, 84 : 50 rechts. 11. Il. keine abnorme Rhythmische Kammerbradykardie bei Vorhofsflimmern. 
Erregung, Flimmern der Vorhöfe. 15. II. Vagus- Eine Abnahme der Kammerfrequenz durch Digitalis 
druck 00:48 links, 60:48 rechts. 16 II. Flimmern u nicht auf. Bemerkungen: Flimmern der Vorhöfe, 
der Vorhöfe. 21. Il. vereinzelte abnorme Erregung, sdruck 42:42 links, 42:42 rechts. 22. I. spontan 
Flimmern der Vorhöfe 54:46 links, 54 : 44 rechts. u and: bei Vagusdruck abnorme Erregung 42: 84 links, 
23. Il. Übergänge zu Tachysystolie 65 : 50 links, 42:84 rechts. 26. I. Flimmern der Vorhöfe 42: 84 
65:48 rechts. links, 42:84 rechts. 


Anders liegen die Verhältnisse bei Kranken, die eine Pulskurve wie Fig. 31 
zeigen. Es besteht eine rhythmische Kammerbradykardie bei Vorhofsflimmern als 
Dauerzustand. Auch große Digitalisgaben beeinflussen die Frequenz nicht mehr. 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 131 


Ich mußte diese Beispiele der Vollständigkeit halber anführen. Zwischen den 
Beobachtungen der Fig. 29 und 30 und denen der Fig. 27 und 28 liegen außer- 
ordentlich vielgestaltige Möglichkeiten. 

Das: eine Mal geht das Zurücktreten der Herzinsuffizienz durchaus parallel mit 
der Abnahme der Herzfrequenz auf eine beispielsweise mittlere Zahl von 65 Schlägen 
in der Minute, das andere Mal sind die Zeichen der Herzinsuffizienz noch vorhanden 
und die Frequenz so stark gesunken, daß man lieber eine Pause mit Digitalis ein- 
treten läßt, und schließlich gibt man ganz lange Zeit — auch große Einzeldosen, 
z.B. 03-05 pro die — und erzielt gar keinen nennenswerten Effekt weder auf die 
Frequenz noch auf die pathologische Blutverteilung und die immer mehr erlahmende 
Herzkraft. Kurz, gerade diese Kranken erfordern ein ganz besonderes Studium des 
Arztes, und hier kommt das individuelle Moment der Digitalistherapie ganz scharf 
zum Vorschein. 

Überblickt man im einzelnen die hier wiedergegebenen Pulsbilder im Zusammen- 
hang mit dem Befund im Elektrokardiogramm, so ergibt sich als erstes, daß man 
die Frage der chronischen Digitalisierung nicht schematisieren kann. Man sieht, daß 
die Menge der verabreichten Mittel verhältnismäßig gering sein kann und daß man 
oft vorwiegend durch die chronotrope Wirkung allein schon einen wesentlichen 
therapeutischen Erfolg erzielen und festhalten kann. Es ergibt sich weiter die Tat- 
sache, daß die gleiche kleine Gabe, wenn sie ununterbrochen gegeben wird, mehr 
erzielen kann als den gewünschten Erfolg. Die Pulsfrequenz kann dann weit unter 
50 Schläge absinken. Man wird also nach Möglichkeit versuchen, nach Eintreten 
der Kompensation mit möglichst kleinen Dosen den Erfolg festzuhalten. Dies gelingt 
nach zahlreichen Beobachtungen häufig nur in der Weise, daß man für jeden ein- 
zelnen Kranken erst einmal unter sorgfältigster Beobachtung feststellt, in welchen 
Zwischenräumen Digitalis gegeben werden muß, um die Frequenz niedrig zu erhalten 
und so eine neue Dekompensation zu verhüten. Denn häufig genug kommen gerade 
Kranke mit dieser Rhythmusstörung bei ihrem an sich schwer geschädigten Herz- 
muskel in ein neues Stadium der Herzinsuffizienz, wenn die Herzfrequenz wieder 
emporschnellt. Schwieriger gestaltet sich die Frage, was zu geschehen hat, wenn bei 
dem Versuch der Beseitigung einer akuteren Herzinsuffizienz jene Zustände von 
„Pseudoherzblock“ mit Vorhofsflimmern auftreten. Diese Zustände sind deshalb nicht 
ganz gefahrlos, weil man nicht vorher wissen kann, ob bei einer durch die Digitalis 
immer weiter sinkenden Kammerfrequenz entweder ein Dauerherzblock entsteht oder 
zeitig genug die Heterotopie in den Kammern die sinkende Kammerschlagzahl 
paralysiert. Erwacht diese Heterotopie nicht oder bildet sich kein kompletter Herz- 
block als Dauerzustand heraus, so kann eine Digitalisbehandlung einmal eine Gefahr 
bedeuten, auf der anderen Seite nutzt sie nichts. Das sind jene gar nicht sehr seltenen 
Fälle von Herzinsuffizienz mit Arhythmia perpetua, die überdigitalisiert wurden, ohne 
daß die krankhafte Blutverteilung beseitigt werden konnte. Häufig sind es in der 
Praxis jene Kranke, bei denen ohne nötige Berücksichtigung der übrigen Faktoren 
(Flüssigkeitseinschränkung, Kochsalzeinschränkung, strengste Bettruhe, Beeinflussung 
der Diurese durch andere Mittel) zu einseitig der Digitalis vertraut wurde. 

Ich stimme durchaus der Ansicht Fraenkels bei, daß jeweils der Grad der 
Insuffizienzerscheinungen maßgebend für die zu verabreichende Digitalismenge ist, 
aber in Hinblick auf die vorstehenden Pulskurven läßt sich die Tatsache nicht leugnen, 
daß das durch eine Arhythmia perpetua rhythmusgestörte insuffiziente Herz besondere 
Vorteile, aber auch Nachteile und Gefahren bei der Digitalisbehandlung in sich birgt, 
die ganz vorwiegend durch die Rhythmusstörung bedingt sind. Mit einem Hinweis 

D 


132 K. Fahrenkamp. 


auf die im Original nachzulesende klinisch überaus wichtige Darstellung von 
Fraenkel und Doll möchte ich hier über die in der Literatur viel erörterten 
Gefahren bei der intravenösen Strophanthintherapie nur hervorheben, daß ich für 
meine Person dann in der intravenösen Strophanthintherapie eine Gefahr: erblicke, 










Bea ae aaa Bee Be 
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30 





Beispiele einer flüchtigen Kammerfrequenzabnahme nach intravenöser Strophanthininjektion, die nach einer Stunde wieder ab- 

geklungen ist. Bemerkungen: 1. Tachysystolie der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall 

r. 1460). 2. Vorübergehend tritt Flimmern der Vorhöfe auf, Kammererregungsablauf normal (Fall Nr. 1460). 3. Sofort nach 
der Injektion Flimmern, um 5 Uhr Tachysystolie, keine abnormen Erregungen. 


wenn die von A. Fraenkel nicht sehr hoch bewertete Digitalis-Vagusfrühwirkung 
und die immer wieder bei der Herzinsuffizienz und der Arhythmia perpetua in 
Erscheinung tretende, oft unerwünschte Einwirkung aller Digitaliskörper auf die 
Kammerschlagzahl nicht sorgfältig beobachtet wird. Wenn wir an den drei Fig. 32, 


Fig. 33. 


Bad. 
Bean 
DE 


H 





Bemerkungen: 7. Tachysystolie der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214). 
8. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion, Übergänge zu Flimmern, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214). 
9. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion Flimmern der Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal (Fall Nr. 1025). 


33 und 34 sehen, daß unmittelbar nach der Injektion von Strophanthin unter Um- 
ständen ein brüsker Abfall der Kammerfrequenz eintreten kann, so darf man sich 
nicht der Tatsache verschließen, daß unter Umständen die intravenöse Strophanthin- 
therapie eine Gefahr bedeutet, freilich nicht in der Hand des Kundigen, aber wohl 
in der Hand des weniger erfahrenen Arztes, und ich glaube nicht, daß es eine 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 133 


falsche Vorsicht ist, wenn ich bei Herzinsuffizienz mit Arhythmia perpetua mit einer 
Strophanthintherapie eher zur Vorsicht mahne. Ganz anders liegen ja die Dinge bei 
dem rhythmusnormalen insuffizienten Herz, bei diesem auch wenn es noch so sehr 
durch Extrasystolen arhythmisch schlägt, scheint mir eine lege artis durchgeführte 


Fig. 34. 














6. 


Bemerkungen: 4. Tachysystolie der Vorhöfe, sofort nach der Injektion Flimmern, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1460). 
5. Tachysystolie der Vorhöfe, keine abnormen Erregungen, sofort nach der Injektion Flimmern (Nr. 964). 6. Tachysystolie der 
Vorhöfe, Kammererregungsablauf normal, keine abnormen Erregungen (Fall Nr. 1214). 


Strophanthinbehandlung vollkommen gefahrlos. Daß schließlich und endlich einmal 
die uns hier ganz besonders beschäftigende Wirkung der Digitalis auf die Frequenz 
erlischt, zeigt die Fig. 35. 


Fig. 35. 


5X bis 9. hi. B.I ta bis 211% 
Digitalis | Digitalis Digitalis 
s I | Te I. 





Das schließliche Versagen der Digitalis. 


Fassen wir die Frage des chronischen Digitalisgebrauches bei der Herzinsuf- 
fizienz mit Arhythmia perpetua nunmehr zusammen, so müssen wir immer wieder 
hervorheben, daß sich eine schematische Vorschrift nicht geben läßt. Die besten 
Kenner dieser Frage stellen in dieser Richtung die verschiedensten Forderungen 
auf. So hält Edens bei dauerndem Vorhofsflimmern mit rascher Kammerfrequenz 
die chronische Digitaliskur für die gegebene Behandlung und intermittierende Digitalis- 
kuren für einen Fehler. Darin hat Edens sicher recht, daß es bei derartigen Kranken 
besonders wichtig ist, auch unnötigen Frequenzsteigerungen vorzubeugen, „denn wir 


134 K. Fahrenkamp. 


wissen nie, ob sich nicht aus einer kurzen Überanstrengung eine rettungslose Herz- 
schwäche entwickeln wird“. An dieser Darstellung von Edens möchte ich nur als 
an einem Beispiel zeigen, wie wichtig es ist, daß man sich über eine einheitliche 
Nomenklatur bei der Arhythmia perpetua einigt, denn nach den Ausführungen in 
den hier gegebenen Darstellungen müßten wir Kranke mit flimmernden Vorhöfen 
und immer hohen Kammerfrequenzen mehr oder weniger als Endzustände auf- 
fassen, bei denen schließlich und endlich die Digitalis in ihrer Wirkung auf die 
Frequenz versagt. 

Schon lange vor der Zeit der RE E ist der Wert der chroni- 
schen Digitalisbehandlung von den Klinikern erörtert und anerkannt worden. Ich 
erinnere nur an die Ausführungen von Kussmaul, Naunyn und J. Grödel aus 
dem Jahre 1899. Die alten Kliniker haben, wie dies Naunyn schildert, den chroni- 
schen Digitalisgebrauch geübt und anerkannt (Fräntzel) und in einer großen Zahl 
von Fällen hat nach den Krankengeschichten eine der zahlreichen Erscheinungs- 
formen der damals elektrokardiographisch noch unbekannten Arhythmia perpetua 
den Grund für das klinische Postulat abgegeben, bei einer nicht kleinen Zahl von 
chronisch Herzkranken mit größtem Nutzen über Wochen, Monate und Jahre 
(vgl. Kussmaul und J. Grödel Kongr. f. inn. Med. 1899) auch ohne die Indikation 
der abnormen Blutverteilung dauernd kleine Mengen Digitalis zu geben. 

Ob man diese Form der an sich fortlaufenden Digitalisbehandlung nach 
Penzolt periodischen, nach J. Grödel kontinuierlichen oder nach Goldscheider 
chronischen Digitalisgebrauch nennt oder schließlich die Bezeichnung chronisch- 
intermittierend wählt, ist deshalb weniger wichtig, weil wir bei den Kranken, die 
uns hier interessieren, doch immer ganz individuell vorgehen müssen, und bei 
dem gleichen Kranken bald mehr die eine oder andere Bezeichnung berechtigt ist. 

Für die chronisch intermittierende Digitalisbehandlung wählt man natürlich 
zweckmäßig die Medikation per os, aber man wird bei der peroralen Darreichung 
häufig nicht zum Ziele kommen. Es hat sich mir in völliger Übereinstimmung mit 
den Angaben von E. Meyer als besonders wertvoll die Behandlungsart gezeigt, 
die perorale Therapie mit der rectalen abwechseln zu lassen. Eichhorst hat schon 
1916 und dann E. Meyer (1922) die rectale Digitalistherapie aus dem Bedürfnis 
der konsultativen Praxis heraus empfohlen. Meyer setzt den Wert der rectalen An- 
wendungsform in ihrer Wirkung in Parallele mit der intravenösen Einverleibung 
und betont, daß man noch Erfolge erzielt, wo die perorale Therapie versagt. Nach 
eigenen Erfahrungen kann ich den großen Wert der rectalen Digitalistherapie, wie 
ihn E Meyer ausführlich geschildert hat, nur bestätigen. Auf der einen Seite kann 
man bei der rectalen Therapie gegebenenfalls die Digitalis mit einem weiteren 
Medikament gleichzeitig geben (z. B. Teophyllin, Morphin u. al und so Magen- 
störungen vermeiden, auf der andern Seite kann man die intravenöse Behandlung 
für Zustände aufsparen, die ein besonders energisches Eingreifen erforderlich 
machen. Für die uns hier ganz besonders interessierenden Krankheitsfälle mit 
Arhythmia perpetua ist die zeitweise mit der peroralen Darreichung abwechselnde 
rectale Digitalistherapie geradezu die Methode der Wahl, denn gerade bei diesen 
Kranken finden wir andeutungsweise oder ausgeprägt die Voraussetzungen gegeben, 
für die E. Meyer die rectale Verabfolgung besonders angezeigt hält: 

1. Bei ungünstiger Lage der Hautvenen und hochgradigsten Ödemen; 

2. bei Thrombose- und Emboliegefahr; 

3. bei sehr lang dauernder hepatischer Stauung, in Fällen, in denen man nicht 
dauernd aus äußeren Gründen intravenös injizieren kann. Hier empfiehlt sich oft 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 135 


abwechselnde intravenöse und intrarectale Therapie. Der jetzt vielfach gebräuchliche 
Modus, mehrere Tage Digitalis per os zu geben und 1—2mal wöchentlich intra- 
venös zu injizieren, wirkt bei noch bestehender hepatischer Stauung nicht so gut 
wie die abwechselnde intravenöse und intrarectale Anwendungsart. 

Wenn auch Fraenkel ohne Zweifel mit Recht darauf hinweist, daß wir in 
einer zielbewußten intravenösen Strophanthintherapie nicht nur einen quantitativen 
Digitalisversuch mit wertvollen Aufschlüssen für die Prognose haben, sondern daß 
wir auch anderen Kranken noch helfen können in Fällen, wo jede, also nach 
Fraenkels Ansicht auch die rectale Digitalistherapie versagt, so kann ich mir doch 
eine intermittierend chronische Strophanthintherapie bei den Kranken unserer 
speziell gerichteten Fragestellung allein schon aus rein äußeren Gründen nicht als 
durchführbar denken, und es erscheint mir bei einer jahrelangen Versorgung der- 
artiger Kranken die rectale Therapie sehr wertvoll zu sein. 

Nach diesen Ausführungen hätten wir die chronische Digitalis- 
behandlung der Herzinsuffizienz bei gestörter Schlagfolge auf extra- 
systolischer Grundlage zu erörtern. Diese deckt sich mit der chronischen 
Digitalisbehandlung der Herzinsuffizienz bei ungestörter Schlagfolge. Somit fällt 
eine Auseinandersetzung mit dieser Frage nicht mehr in den Rahmen dieser Ab- 
handlung. Daß auch das extrasystolisch arhythmisch schlagende Herz nach Besei- 
tigung der Erscheinungen der Herzinsuffizienz im Stadium der Kompensation digi- 
talisbedürftig ist, haben, wie schon erwähnt, die alten Kliniker immer wieder be- 
tont. Ohne diese Seite der Frage weiter zu erörtern, gehen wir für die Herzinsuf- 
fiiienz mit Arhythmia perpetua noch auf eine kurze. Erörterung der Frage 
„Digitaliskumulation oder -gewöhnung“ ein. Aus unseren Befunden der klinischen 
Elektrokardiographie kann man die engen Zusammenhänge zwischen dem Erfolg 
der Digitalisbehandlung und der vaguserregenden Wirkung der Digitalis immer 
wieder feststellen. 

Wahrscheinlich spielt bei der Arhythmia perpetua der mit den normalen Reiz- 
bildungs- und Reizleitungsstätten in engem Zusammenhange stehende Vagusapparat 
und seine verschiedene Empfindlichkeit der Digitalis gegenüber eine große Rolle. 

Vielleicht ist die Arhythmia perpetua in allen Erscheinungsformen vorwiegend 
Ausdruck einer verschieden schweren Erkrankung der mit der specifischen Musku- 
latur verflochtenen Vagusendigungen. Dann könnte man das verschiedene Verhalten 
dieser Kranken bei Digitalis- und Strophanthinbehandlung so erklären, daß der 
Vagusapparat erst in einem bestimmten Zeitabschnitt der fortschreitenden Erkrankung 
besonders stark durch diese Mittel erregt wird. Derartige Kranke kommen ja tat- 
sächlich einmal in eine Zeit besonderer Digitalis- und Vagusempfindlichkeit. 

Man wird mithin versuchen, diese Zeit der Digitalisempfindlichkeit durch 
kleine Mengen der Mittel lange auszudehnen. Das schließliche Versagen der Digi- 
talis kommt bei diesen Kranken dadurch zu stande, daß die vorher auf diese Stoffe 
ansprechenden Stätten ihre Empfindlichkeit durch Gewöhnung oder auch durch 
das Fortschreiten krankhafter Veränderungen in den reagierenden Stätten verloren 
haben. Anderseits würde möglicherweise dann aber auch zu einer Zeit, in der die 
Digitalisempfindlichkeit noch nicht eingetreten ist, eine fortgesetzte wirkungslose 
Digitalisbehandlung diese Kranken schädigen; denn eine solche Kur könnte eben- 
falls durch Gewöhnung die Anspruchsfähigkeit der auf die Mittel reagierenden 
Apparate vorzeitig herabsetzen. Aus unseren Krankengeschichten sehen wir ja, 
daß diese Kranken draußen oft große Mengen eines Digitalispräparates ohne wesent- 
lichen Erfolg einnehmen. Die beschleunigte unregelmäßige Kammerfrequenz, die 


136 K. Fahrenkamp. 


oft besonders nach geringen körperlichen Anstrengungen als paroxysmale Tachy- 
kardie aufgefaßt wird, ist nicht so selten bei Kranken dieser Art das einzig nach- 
weisbare Zeichen einer ernsteren Herzstörung, das eine langdauernde Digitaliskur 
angezeigt erscheinen läßt. Es ist bei solchen Kranken, bei denen die erwünschte 
Abnahme der Kammerschlagsfolge durch Digitalis nicht eintritt, nun aber zweck- 
mäßig, aus den angeführten Gründen Digitalispräparate in größeren Mengen nicht 
zu geben, um die später einmal eintretende Digitalisempfindlichkeit nicht vorzeitig 
durch Gewöhnung abzuschwächen. 

Das hier mehrfach gebrauchte Wort „Gewöhnung“ wird allgemein für Digi- 
talis abgelehnt, die Pharmakologie trennt den Begriff Gewöhnung scharf von den 
Begriff der Kumulation. Hierzu äußert sich Edens, wie folgt: „Hin und wieder 
kann man die Ansicht hören, man solle Digitalis nicht dauernd geben, da sonst 
Gewöhnung eintrete und das Mittel wirkungslos würde. Unsere Beobachtungen 
führten zu dem Schluß, daß die Digitalis dann nicht mehr wirkt, wenn infolge zu 
schwerer Schädigung des Herzens das Organ reaktionsunfähig geworden ist.“ 

Meine vorherigen Ausführungen stützen sich lediglich auf die am Krankenbett 
immer wieder gemachten Beobachtungen, daß Herzkranke mit Arhythmia perpetua 
ganz verschiedene Stadien der Vagusempfindlichkeit der Digitalis gegenüber durch- 
machen, und es scheint doch alles darauf anzukommen, in dem Abschnitt des Krank- 
heitsverlaufes, in dem unsere Kranken die höchste Vagus-Digitalisempfindlichkeit 
zeigen, bei möglichst großem Effekt die kleinsten Dosen solange wie möglich aus- 
zunutzen. Ebensowenig wie bisher bewiesen ist, daß es eine Gewöhnung an Digi- 
talis im üblichen Sinne gibt, ebensowenig ist der Gegenbeweis erbracht, daß das 
Abnehmen der Digitalisempfindlichkeit und Vagusempfindlichkeit nicht zum Teil 
auch auf eine Gewöhnung der Nervenendapparate zurückzuführen ist. Ich 
finde in der Literatur nur einmal im Zusammenhang mit der Digitalis den Begriff 
der Gewöhnung bei Gottlieb: Überschreiten tägliche Gaben nicht die- 
jenige Größe, welche durch Ausscheidung und Zerstörung unschädlich 
gemacht werden kann, so braucht es auch bei langdauernder Änwen- 
dung nicht zur Kumulation zu kommen. Ja es macht sich unter diesen 
Umständen sogar ein gewisser Grad von Gewöhnung geltend. Ich kann 
dies durch einen Versuch mit täglicher subcutaner Injektion von Digi- 
puratum belegen. 

An der Katze führen Gaben von 001 g nach 3—4 Tagen zur Kumulation, 
die Tiere verweigern die Nahrung, es kommt zu Speichelfluß3 und Erbrechen. 
Injiziert man nun die gleiche Dosis trotz dieser Erscheinungen täglich weiter, so 
steigern sie sich nicht, sie werden vielmehr z. B. nach 10 Tagen überwunden; das 
Tier wird wieder normal, das Erbrechen hört auf, es stellt sich wieder Freßlust ein 
u. s. w. Erhöht man die tägliche subcutane Gabe, so kommt es nach kurzer Zeit, z. B. 
nach 3 Tagen, wieder zu den gleichen toxischen Nebenwirkungen, aber diese ver- 
schwinden wieder bei fortdauernder Zuführung der erhöhten Dosis. So erhielt z. B. 
eine Katze durch 40 Tage hindurch 0:63 g Digipuratum und nahm dabei an Gewicht zu. 

Ähnliche Erfahrungen hat man auch bei der chronisch durchge- 
führten Digitalistherapie am Menschen mit kleinen Gaben gemacht. 

Wir sehen, in allen für die Digitalistherapie wichtigen Punkten hat die experi- 
mentelle Forschung der letzten Jahre neue Gesichtspunkte gewonnen. Überall 
gehen klinische Arbeit und pharmakologisches Experiment Hand in 
Hand, um der Einsicht in die Vorgänge bei der Digitaliswirkung näher- 
zukommen. (Med. Kl. 1913, Nr. 50.) 





— —_ — — 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 137 


Ich möchte also den Begriff der Gewöhnung nur in diesem ganz speziellen 
Zusammenhang mit klinischen Beobachtungen bei der Arhythmia perpetua erwähnt 
haben. 

Über die Wahl des Mittels kommt es, wie dies immer wieder betont wird, 
ganz vor allem darauf an, daß der Arzt „sein Präparat“ kennt. Ein häufiger Wechsel- 
in den zahllosen verfügbaren Digitalispräparaten, die täglich noch an Zahl zunehmen, 
führt ohne Zweifel zu Unsicherheit in der Beurteilung. Neben der Digitalis als Infus 
und in Pulverform habe ich so gut wie ausschließlich das Digipuratum Knoll 
und später das Verodigen Böhringer verwendet. Die Anwendungsmöglichkeit 
des Digipurats in jeder Form gab ihm vor dem Verodigen den Vorzug, solange 
das Verodigen intravenös nicht anwendbar war. Seitdem wir auch Verodigen intra- 
venös anwenden können (1922), steht es nicht mehr hinter dem Digipurat zurück; 
ich habe den Eindruck, daß besonders bei Störungen der Schlagfolge im Sinne der 
Arhythmia perpetua das Verodigen stärker auf den Rhythmus einwirkt als Digipurat. 
Das hängt vielleicht damit zusammen, daß Verodigen „Gitalin« ist. Ohne diese 
Annahme experimentell belegen zu können, wollte ich sie nach klinischen Ein- 
drücken nicht unerwähnt lassen. Nimmt man noch das Strophanthin Böhringer 
als unentbehrliches Herzglykosid hinzu, so hat man Digitaliskörper zur Verfügung, 
auf die man sich für alle klinischen Bedürfnisse verlassen kann. Über Scilla wird 
im nächsten Abschnitt kurz zu sprechen sein. Das Digipuratum Knoll wurde, 
wie dies aus den Eintragungen der Kurven us e hervorgeht, so gut wie immer 
in allen dieser Arbeit zu grunde liegenden Beobachtungen verwendet, wo „Digitalis“ 
vermerkt ist. 

Es hat sich mir in seiner allen Bedürfnissen entsprechenden Anwendungs- 
möglichkeit ganz besonders bewährt. 

Es seien noch einige kurze Angaben über die Dosierung der Digitalis im 
Gebrauch für die Praxis angefügt. Häufig kommen chronisch Herzkranke in die 
Behandlung des Arztes, nachdem schon vorher große Dosen Digitalis — meist 
peroral — verwendet wurden. So sehen wir solche Kranke in ungenügender Kompen- 
sation mit nicht ganz beseitigten Stauungserscheinungen einzelner Organsysteme 
(Lunge, Leber, Nieren u. sel Liegt als Teilerscheinung der Herzinsuffizienz eine 
Arhythmia perpetua vor, so ist nicht zu selten der Puls sehr langsam, ohne daß 
eine relative Suffizienz erzielt wurde. Es empfiehlt sich dann erst einmal, ganz mit 
Digitalis auszusetzen und bei Beobachtung strengster Schonungsmaßnahmen — Bett- 
ruhe Flüssigkeitsbeschränkung, Tee- oder Milchtage, kochsalzfreie und stickstofffreie 
Ernährung — allein durch Campher entweder als Injektion, 2—4 cm? in 24 Stunden 
oder peroral — Campfergelatinetten 4—8 Stück pro die — den Kreislauf zu stützen. 
Gleichzeitig bringt dann eine rectale Theophyllinbehandlung 2—-3mal täglich 02 
bis 0'3 g Theophyllin als Suppositorium die oft mangelhafte Diurese schon in Gang. 

Die Kombination von Theophyllin und 0'01 e Morphin am Abend als Suppo- 
sitorium leistet für die ersten Nächte gute Dienste. Ich dehne diese digitalisfreie 
Zeit gerne aus, solange es mir im Interesse des Kranken .möglich erscheint, z. B. 
8-10 Tage. Die Bradykardie pflegt dann meist einem frequenteren und unregel- 
mäßigeren Puls wieder Platz zu machen. Bestanden also noch Stauungserscheinungen, 
und wurde Digitalis peroral schon häufig und lange in früheren Krankheitsabschnitten 
gegeben, so sehe ich in solchen Fällen grundsätzlich von einer erneuten peroralen 
Digitalisbehandlung ab. 

In derartigen Zuständen bewährt sich dann meist als „Wiederbeginn“ der 
Digitalisbehandlung die rectale Darreichung ausgezeichnet. Liegt keine Bradykardie 


138 KK Fahrenkamp. 


vor, sondern ein sehr frequenter, irregulärer Puls mit zahlreichen frustranen Con- 
tractionen und stand der Kranke bis zum Eintritt in die Behandlung „unter Digitalis“ 
— aber ohne den gewünschten Erfolg — so schalte ich trotz der frequenten Herz- 
aktion doch eine digitalisfreie Zeit in der geschilderten Weise ein. Der Campher als 


Injektion oder peroral als Gelatinetten leistet hier unschätzbare Dienste. In den ersten 


Tagen wird man die Injektion nicht vermeiden können. Auch ist Morphium bis zu 
002 e oft unentbehrlich. Für diese schweren, aber nicht seltenen Krankheitsfälle 
führe ich ein Beispiel an, das ich absichtlich aus der konsultativen Praxis der jüngsten 
Zeit wähle. 


Es handelte sich um eine 64jährige Patientin, die im Herbst 1923 im Anschluß an eine leichte 
Grippe allmählich immer schwerer insuffizient geworden war, die unter der Behandlung ihres Haus- 
arztes wochenlang digitalisiert wurde, dabei aber im Hause dauernd tätig war. Ich fand die Patientin, 
nachdem sie noch ihre Hausarbeit unter großen Mühen am Tage verrichtet hatte, abends außer Bett 
mit folgendem objektiven Befund: schwere chronische Herzinsuffizienz wohl auf dem Boden einer 
arteriosklerotischen Myokarditis mit einem typischen Irregularis perpetuus bei einer Pulsfrequenz von 
annähernd 170 Schlägen in der Minute mit zahlreichen frustranen Contractionen, hochgradige Be- 
wegungsinsuffizienz, Stauungskatarrh auf den Lungen, erhebliches Transsudat rechts, schwere Unter- 
schenkel- und Oberschenkelödeme, Anasarka im Rücken, Lebertumor, Milztumor, schwerste Störung 
der Nachtruhe durch Dyspnöe, dauernder Hustenreiz u. s. w. Behandlung: strengste Bettruhe, 3 Tee- 
tage, in 24 Stunden 1000 e dünnen schwarzen Tee in 5 Portionen (Milch war aus äußeren Gründen 
nicht zu beschaffen), 4mal 1 cm? Campher am Tage, rectal 3mal 0'3 g Theophyliin: Theophyllini 0'3, 
Olzi cacao 2:0, abends dazu 0'01 Morphini mur. Nach 3 Tagen 8mal eine Camphergelatinette 0'1, statt 
Campherinjektion, allmählich eiweißarme, kochsalzfreie Ernährung, Flüssigkeit einschließlich der festen 
Nahrung nicht über 1000 cm?. Stuhlgang durch kleine Einläufe oder Istizin 3—4 Tabletten geregelt. 
Es setzt eine überschießende Diurese ein. Am 6. Tage Beginn der Digitalisbehandlung; um in der 
Dosis je nach Bedarf wechseln zu können, werden Suppositorien folgender Zusammensetzung bereit- 
gestellt: Digipuratum 0'05 g oder Verodigen je 0:4 mg + Theophyllin 0'2 g+ Oleum cacao 2:0 g, außer- 
dem die gleichen Zäpfchen mit der doppelten Digipurat- bzw. Verodigendosis. In den ersten Tagen 
werden 3mal Zäpfchen mit 0'8 Verodigen bzw. 0'1 Digipurat verabreicht bzw. der halben Digitalis- 
dosis. Nach 14 Tagen hat die Patientin 9 kg Wasser verloren. Gleichzeitig ist die Pulsfrequenz auf 
etwa 90 heruntergegangen. Weitgehende objektive und subjektive Besserung. Nach 3 Wochen — 
es waren im ganzen gegeben worden: 20 Tage je Imal 0'8 Verodigen bzw. 0:1 g Digitalis und 2mal 
täglich 0°4 mg Verodigen bzw. 005 g Digipurat, also im ganzen 4 g Digitalis — war der optimale 
Grad der Suffizienz erreicht. 

Eine vorsichtige, streng kontrollierte Digitalisbehandlung hatte gezeigt, daß bei 
dieser Kranken eine Frequenzfrühwirkung der Arhythmia perpetua nicht eintrat und 
daß doch verhältnismäßig große Mengen Digitalis nötig waren, um den opti- 
malen Grad der Kompensation herzustellen. Ich führe gerade dieses Beispiel gerne 
an, um zu zeigen, daß die klinisch-theoretischen Erwägungen bei der Arhythmia 
perpetua nicht dazu führen dürfen, bei schweren Insuffizienzerscheinungen durch 
theoretische Bedenken zu wenig Digitalis zu geben. Die Kranke ist nun seit Monaten 
bewegungssuffizient, versieht ihren ganzen Haushalt, macht 2—3stündige Spazier- 
gänge und ist subjektiv und objektiv in dem für ihre Krankheitsveränderung best- 
möglichen Zustande. Sie ist meines Erachtens dauernd digitalisbedürftig und erhält 
von ihrem Hausarzt jetzt seit Monaten in Pausen von 2—4 Tagen Digitaliszäpfchen 
mit 0'05 Digipurat ohne Theophyllin. Ohne chronisch intermittierende Digitalisierung 
wird es nach meinen Erfahrungen nicht möglich sein, diese Kranke in dem jetzt sehr 
guten Zustande möglichst lange zu erhalten. Die Digitalisbehandlung wechselt jetzt 
auch ab mit Scillaren, das ebenfalls rectal gegeben wird. Einmal oder 2mal ein 
Suppositorium aus je 2 Tabletten 0'2 g Scillaren. Dauernde Selbstkontrolle des 
Körpergewichtes, Innehaltung einer im bürgerlichen Haushalt gut durchführbaren 
Diätvorschrift, 2—3 e Kochsalz zum Selbstsalzen „bei sonst salzfreier Diät“ erlaubt. 
Die Patientin spart in dieser Weise häufig Kochsalz ein, da sie mit 2 g Kochsalz ohne 
Beschwerde auskommt. Im übrigen reizlose Kost und Beachtung der Flüssigkeitszufuhr. 

Da diese Kranke keine Frequenzfrühwirkung auf Digitalis zeigt, so hätte vor- 
aussichtlich bei dieser Kranken eine konsequente Strophanthinbehandlung wahr- 


scheinlich einen gleich guten, vielleicht einen schnelleren Erfolg erzielt. Bei der 





Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 139 


Empfindlichkeit der Patientin und den äußeren Verhältnissen hätte sich eine lang- 
dauernde Strophanthinbehandlung eines Tages als unmöglich erwiesen. Wenn man 
in einem so schweren Krankheitszustande wie dem hier geschilderten, den optimalen 
Grad der Kompensation durch eine gut beobachtete rectale Digitalistherapie erreichen 
kann, so möchte ich aus zahlreichen Erfahrungen der Praxis dieser Behandlungs- 
methode nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus praktischen Gründen doch 
häufiger den Vorzug geben, als Fraenkel und seine Schule dies in ähnlich liegenden 
Fällen zu tun pflegen. 

Als anderes Beispiel führe ich noch einen Kranken an, den ich 1920 erstmals 
konsultativ sah: Es bestand auf dem Boden eines prostrheumatischen kombinierten 
Mitralfehlers + Arhythmia perpetua die Neigung zu chronischen Insuffizienzerschei- 
nungen. Ich sah den Kranken erstmals mit Stauungserscheinungen von seiten der 
Leber mit starken Schmerzen, die auf „Gallensteine« bezogen wurden. Es bestand 
etwas Stauungsbronchitis und auf dem Boden der Arhythmia perpetua Neigung zu 
Tachy-Arhythmien. Eine langdauernde perorale Digitalisbehandlung hatte den Leber- 
tumor nicht beseitigt. Behandlung wie bei der schwerkranken Patientin des vorigen 
Beispieles. Nach 5 digitalisfreien Tagen und Behandlung wie oben überschießende 
Diurese, dann in 5 Tagen nach 2mal 0'8 mg Verodigen -+ 0'2 g Theophyllin: Leber- 
schmerzen verschwunden, Leber wesentlich weicher, beginnende Eurythmie. Hier 
also deutliche Frequenzfrühwirkung. Der Kranke wird bald beschwerdefrei. Trotzdem 
hier die Insuffizienzerscheinungen nicht sehr hochgradig waren und der Kranke ohne 
seine „Öallensteinkolik“ sicherlich noch wochenlang in seinem großen Betriebe 
weitergearbeitet hätte, wurde zu Hause strengste klinische Behandlung wie bei ganz 
Schwerherzkranken durchgeführt, um den optimalen Grad der Kompensation zu 
erzielen und für den chronischen Digitalisgebrauch die nötigen Erfahrungen für 
diesen Kranken zu sammeln. Der Kranke nimmt jetzt in Abständen von 3—4 Wochen 
immer wieder 8—10 Tage 2mal 0'4 mg Verodigen bzw. 0'05 Digipurat 2mal täglich 
oder 2—3 Wochen 2—3 Scillarentabletten und ist jetzt mehrere Jahre völlig arbeits- 
fähig geblieben. Er hat es gelernt, auch leichteste Insuffizienzerscheinungen selber 
zu erkennen und richtig einzuschätzen und kurze Digitalisbehandlung selber ein- 
zuschalten. Bis jetzt gelingt es in einem Zeitraum von 3 Jahren, durch kleinste 
Digitalisdosen die Pulsfrequenz zwischen 60 und 70 zu halten. Der Kranke ist dauernd 
voll arbeitsfähig, hat es aber gelernt, durch Umstellung in seiner Lebensführung bis 
jetzt neue Insuffizienzerscheinungen zu vermeiden. 

An diesen zwei Beispielen möge nur andeutungsweise gezeigt werden, wie 
wichtig es ist, daß der Arzt sein Digitalispräparat kennt. Ein Versagen der Digitalis- 
therapie bei derartigen Kranken dürfte viel weniger in dem betreffenden Medikament 
zu suchen sein als in der Art der Darreichung. Zwischen diesen zwei Bei- 
spielen liegen unendlich viele Möglichkeiten, im einzelnen Fall die Be- 
handlung durchzuführen. Immer wieder wird es darauf ankommen, 
die Digitalisempfindlichkeit des einzelnen Kranken zu studieren und 
sich nicht davor zu scheuen, auch bei leichten Insuffizienzerscheinun- 
gen wenigstens für einige Tage strengste klinische Gesichtspunkte in 
der Behandlung durchzuführen und nicht allein der Digitalis zu vertrauen. 
Das ist auch in der Praxis draußen, auch unter einfachsten Verhältnissen 
immer möglich. Die beiden hier angeführten Fälle können nicht „als Schema“ 
aufgefaßt werden. Jeder Herzkranke erfordert ein neues Studium. Das macht 
die klinische Seite des Digitalisproblems so außerordentlich reizvoll 
und vielgestaltig. 


140 K. Fahrenkamp. 


Über das Einsparen der Digitalis. 


Nach dem bisher Gesagten haben wir bei der Digitalisbehandlung der Herz- 
insuffizienz bei gestörter Schlagfolge in ganz besonderer Weise immer nur als 
gestörte Schlagfolge die Arhythmia perpetua angeführt und wir können uns für 
Klinik und die Praxis auf diese so häufige Störung der Schlagfolge beschränken, 


Fig. 36. 









1916. IT. 
10. 11. 12. 13. 14. 15.16.17. Go _20 21. 22. 23. 24. 25. Ae 20.28. 


E din GE Ge Zoe d a garget -425g 2 Län D d ei 
WOI 4 









Bay SE AT 
== ege Re 


Bemerkungen: 10. II. zahlreiche „Extrasystolen“, normaler Erregungsablauf, en ohne Wirkung. 25. 1I. immer noch starker 
echsel im Auftreten der Extrasystolen. Vagus o. 






60 


weil wir wissen, daß man die durch Extrasystolen hervorgerufene Schlagfolge in 
bezug auf die Digitalis der ungestörten Schlagfolge, d. h. dem Rhythmus normaler 
Herzen, gleichsetzen könne; das zeigen in einfacher Weise zwei Pulsbilder (Fig. 36, 37). 

Das durch Extrasystolen arhythmisch schlagende Herz bietet eben auf Grund 
der elektrokardiographischen Ergebnisse in gleicher Weise wie das rhythmusnor- 


Fig. 37 


nn ntrabernöos 
Gi A Wéi (0I (GI a 


EERE Zu 














Bemerkungen: 12. X. zahlreiche Extrasystolen; spontan starker Wechsel, sonst normales Elektrokardiogramm. 22. X. spontan 
starker Wechsel: wie am 12. X. 31. X. vor und nach der Behandlun : Vagusdruck ohne wesentliche Wirkung. Wie am 12. X. 
starker Wechsel auch der Häufig eit der Extrasystolen. 


male Herz nicht die Angriffspunkte für die Digitalis, wie wir dies bei der Arhythmia 
perpetua sahen. Da wir hier nur die Frage uns zur Beantwortung gestellt haben, 
die Digitaliswirkung bei gestörter Schlagfolge zu behandeln, so erübrigt es sich, 
über die extrasystolischen Rhythmusstörungen im weitesten Sinne wie bei Herz- 
insuffizienz zu sprechen, denn hier gibt nicht die Rhythmusstörung, sondern nur 
der wirkliche Grad der Herzinsuffizienz die Indikation der Digitalisdarreichung ab. 

Wenn ich an dieser Stelle noch einmal anführe, was Fraenkel im Zusammen- 
hang zu unserer Frage sagt, so zeigen uns seine Ausführungen vor allem wieder 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 141 


das eine, daß ohne eine einheitliche Nomenklatur eine Verständigung kaum mög- 
lich ist. 

„Von der Bedeutung der die Herzschwäche begleitenden Rhythmusstörungen 
war oben schon die Rede. Während sie das Eintreten eines vollen Digitaliserfolges 
nur ausnahmsweise behindert, ist ihrem Auftreten während der Behandlung natür- 
lich Beachtung zu schenken. Es ist dies eigentlich selbstverständlich, scheint aber, 
wie die ungünstigen Erfahrungen anderer Autoren lehren, oft nicht genügend beachtet 
zu werden. In Betracht kommt in erster Linie die Digitalisbigeminie, von der Edens 
sagt, daß sie eine unökonomische Herzleistung bedingt, also das Gegenteil dessen, 
was man durch die Therapie anstrebt. Diese jetzt vorwiegend als Steigerung der 
Reizbarkeit und Reizbildung in den tertiären Centren erkannte Digitalisnebenwirkung 
ist zu beachten, weil sie nicht nur den therapeutischen Effekt bedroht, sondern auch 
dem Kranken sehr lästig ist. Dagegen ist sie nicht so gefährlich, wie Edens sie 
ansieht. Jedenfalls gelingt es fast immer, durch Verkleinerung der Dosen oder Ver- 
größerung der Intervalle die Therapie doch durchzuführen, wobei allerdings zu- 
zugeben ist, daß die Bigeminie auch schon nach kleinen Dosen auftreten kann. 
Das gleiche gilt von der harmloseren, einfachen Digitalisextrasystolie. Sie ist meist 
flüchtiger Natur und pflegt nach Herstellung der Suffizienz zu verschwinden. 

Noch seltener sind die Leitungsstörungen durch Digitalis bei normalem Er- 
regungsablauf, die sich als Systolenausfall bemerkbar machen. Sie hindern die 
Digitaliswirkung nicht und sind, wie Weil gezeigt hat, durch gleichzeitige Atropin- 
darreichungen zu bekämpfen. Wir beobachteten einen Kranken, bei dem ein A— V- 
Intervall von 0'5 Sekunden durch 0'75 mg Atropinum sulfuricum sich um 0'2 Se- 
kunden verkürzte. 

Zuweilen hat eine energische Digitalisierung bei Vorhofsflimmern eine exzessive 
Bradykardie zur Folge, wenn die negativ dromotrope Wirkung das Reizleitungs- 
vermögen im Hisschen Bündel zu stark herabseizt. Man braucht dann nur mit 
den Dosen zurückgehen, um dadurch die Wirkung festzuhalten, ohne sie zu steigern.“ 

Die hier wörtlich wiedergegebenen Ausführungen von Fraenkel bedürfen 
nach den Darlegungen in dieser Arbeit keines Kommentars. Der Leser wird sich ohne- 
weiters davon überzeugen können, daß die praktischen Ergebnisse der klinischen 
Elektrokardiographie am Krankenbett uns nicht berechtigen, die Frage Herzinsuffi- 
zienz + Digitalis + gestörte Schlagfolge so einfach abzutun. Sie ist durch die Viel- 
gestaltigkeit der Arhythmia perpetua im Grunde doch recht kompliziert. 

Für die Frage der chronischen Digitalistherapie ohne besondere Berücksichti- 
gung einer zu grunde liegenden Rhythmusstörung verweise ich auf die Arbeiten 
von Kussmaul, Naunyn, Eichhorst, E. Meyer, A. Fraenkel u.a. m. Die Be- 
sprechung dieser Frage geht weit über das Ziel dieser Arbeit hinaus. 

Aber wir haben festgestellt, daß die Arhythmia perpetua eine außerordentlich 
häufige und vielgestaltige Begleiterscheinung der chronischen Herzinsuffizienz ist. 
Und wir sahen, daß wir eine chronisch intermittierende Digitalisbehandlung gerade 
bei diesen Kranken mit größtem Vorteil verwenden können und müssen. Da die 
Versorgung dieser Kranken meist sich über viele Jahre erstrecken wird, werden wir 
bei dieser Aıt der Behandlung immer wieder den Versuch machen, alle die Mittel 
zur Anwendung zu bringen, die Pausen in der intermittierenden Digitaliskur 
möglichst auszudehnen und die Digitalis einzusparen. Unter diesen Mitteln 
kommt für unsere spezielle Frage dem von Mendel wieder in die Therapie ein- 
geführten Bulbus scillae eine große Bedeutung zu. Dies gilt vor allem seit wir 
dieses Mittel in reiner und gut verträglicher Form durch die Einführung des 


142 K. Fahrenkam p. 


Scillarens besitzen. Der Wert des Scillarens wird noch sehr verschiedenartig beurteilt. 
Die einen Kliniker setzen es den Digitalispräparaten gleich, die anderen lehnen es 
ganz ab. Die klinischen Erfahrungen über Scillaren scheinen mir noch keineswegs 
abgeschlossen. Nach eigenen Untersuchungen an 92 Kranken möchte ich meiner- 
seits, ohne an dieser Stelle im übrigen auf die Scillafrage einzugehen, das Scillaren 


Fig. 38. 















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AN EES 
SEET EE 


Fast rhythmische Kammerbradykardie bei Arhythmia perpetua mit flimmernden Vorhöfen bei einem Kranken, der sich ohne 

Behandlung schnell erholt. Bei Digita isdarreichung tritt sehr bald wieder ein „Digitalis-Herzblock” ein. Bemerkungen: 

5, XI. Flimmern der Vorhöfe. 12. XI. Digitaliskur (schwere Herzinsutfizienz). Vom 5.—12. XI. Bettruhe, Campher, Koffein. 19. XI. 
Flimmern der Vorhöfe. 













30 


als ein besonders wertvolles Medikament erachten, das uns dann die besten 'Dienste 
leisten kann, wenn es sich darum handelt, das wieder suffizient gewordene insuffi- 
ziente Herz über lange Zeit suffizient zu erhalten, und gerade für unsere Kranken 
hat es sich gezeigt, daß man das Scillaren lange Zeit an die Stelle der Digitalis 


Fig. 39. 









12.13.14. 15. í 
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Der Rückgang eines „Digitalis-Herzblocks* unter Fernhaltung von Digitalis bei Bettruhe. Bemerkungen: 26. I. keine abnormen 
Erregungen, Flimmern der Vorhöfe. 1. II. Vagusdruck 50:38 links, 50:38 rechts. 2. II. Flimmern der Vorhöfe. 8. Il. dasselbe, 
60:60 rechts, 60:60 links. D II. keine abnormen Erregungen, Übergänge von Flimmern zu Tachysystolie. 











dëi 


treten lassen kann, und daß es gelingt, die Digitalispräparate für unsere Kranken 
einzusparen. 

Ich habe an anderer Stelle über meine Erfahrungen mit Scillaren ausführlich 
berichtet. Nach den Erfahrungen, die von klinischer Seite bisher vorliegen, kann 
man das Scillaren, was die Indikationsbreite dieses Medikamentes angeht, vorerst 


Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 143 


heute dahin zusammenfassen, daß dieses Mittel eine wertvolle Bereicherung der 
Behandlungsmöglichkeit der chronischen und subakuten Herzschwäche (bei noch 
reichlich vorhandener Digitalisreaktivität nach Fraenkel) ist. 

Die Indikationsstellung hingegen erscheint nach den vorliegenden Mitteilungen 
der Literatur für den einzelnen Fall noch individueller gestaltet als bei der Digitalis. 
Die einzelnen gut reagierenden Fälle, und solche gibt es ohne Zweifel, sind schwerer 
herauszufinden, aber mit Sicherheit von den einzelnen Autoren beobachtet worden. 
Gerade diese erschwerte generelle Indikationsstellung, die vielleicht eine besondere 
Eigentümlichkeit der Scilla ist, hat bis jetzt die so verschiedenartige Beurteilung. 
dieses Mittels bewirkt. Für die Praxis liegt gerade bei dem chronischen Digitalis- 
gebrauch bei Einschaltung von Scillarenperioden, in diesem Mittel wegen seiner 
außerordentlich geringen Kumulationsfähigkeit sicherlich ein Vorteil. Daß wir häufig 
gezwungen sind, mit der Digitalis auszusetzen und anderseits doch nicht in der 
Lage sind, das Herz und den Kreislauf unbeeinflußt zu lassen, zeigen die Puls- 
kurven Fig. 38 und 39. 

Neben dem Scillaren kommt für unseren Kranken der chronischen Campher- 
behandlung eine große Bedeutung zu. Seit wir in der Lage sind, in. wirksamer 
Form den Campher auch peroral über lange Zeit unseren Kranken zu geben und 
nicht auf die Campherinjektion mehr in dem Umfange wie früher angewiesen 
sind, kann man dieses Mittel bei der chronischen Behandlung Herzkranker nicht 
mehr entbehren. Die von Vieth in die Therapie eingeführten Camphergelatinetten 
haben sich in einer größeren Beobachtungsreihe mir ausgezeichnet bewährt. 

Das Ziel dieses Vorgehens ist immer wieder, die digitalisfreien Zeiten bei 
unseren Kranken nach Möglichkeit auszudehnen. So kann man dann ohne Zweifel 
den Nutzeffekt der Digitalis besonders ausdehnen und vergrößern. Vielleicht kommen 
für das Einsparen der Digitalis auch andere, der Digitalis verwandte Körper, wie. 
Convalleria majalis (Adonispräparate, Spartein u. a. m.) in Betracht. Hierüber fehlen 
mir eigene Erfahrungen für die Gruppe der Kranken, die uns hier besonders. 
beschäftigen. Der Arzt, der jahrelang Kranke dieser Art zu versorgen hat, wird in 
jedem Falle dankbar sein für jedes Mittel, das ihm die unersetzliche Digitalis ein- 
sparen hilft. 

Wenn in dieser Abhandlung eine einigermaßen erschöpfende Darstellung der 
Digitaliswirkung auf das insuffiziente Herz bei gestörter Schlagfolge gegeben werden 
sollte, so mußten wir doch mehr Einzelheiten ausführlich besprechen, als dies für 
eine einfache Beantwortung der Frage wünschenswert erschien. Aber auf der anderen 
Seite konnten wir zeigen, daß man die Beantwortung dieser speziellen Digitalis- 
frage, die für die Praxis ohne Zweifel von größter Wichtigkeit ist, weil sie uns bei 
der größten Zahl unserer schweren Herzkranken immer wieder begegnet, dann 
einfach und verständlich gestalten kann, wenn man nach den Erfahrungen der Elektro- 
kardiographie und aus dem Bedürfnis für unser therapeutisches Handeln den Begriff 
der Arhythmia perpetua auf der einen Seite und den der extrasystolischen 
Arhythmie auf der anderen Seite scharf voneinander abgrenzt und in dem 
'Umfange erweitert, als es durch die Ergebnisse am herzkranken Menschen 
berechtigt ist. 


Literatur: Ich führe nur einige speziellere Arbeiten an, um Wiederholungen zu vermeiden, 
und kann auf die ausführlichen Literaturverzeichnisse in den Lehrbüchern von Romberg, Krehl, 
Wenckebach, A. Hoffmann, Mackenzie, Levis u.a. verwiesen werden. — Magnus E Alsleben,, 
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144 K. Fahrenkamp. 


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Sitzung v. 18. Oktober 1922; Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 5, p. 229. — de Boer S., Die Prädisposition 
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flimmern. Ref. Kl. Woch., 1. Jahrg., Nr. 20, p. 1015; Die Beziehung zwischen Flimmern und Alternans. 
Hundertjahrfeier deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig v. 19. September 1922; Kl. Woch. 1923, 
2.Jahrg., Nr.1, p.45; Die Physiologie und Pharmakologie des Flimmerns. Erg. d. Phys. 1923, XX1, Abt. I. — 
Böttcher G. B., Über die klinische Verwertbarkeit von Nadelelektroden (Straub) bei der Elektrokardio- 

aphie. Kl. Woch., 2. Jahrg., Nr. 29, p. 1357. — Boros J., Die Behandlung der Rhythmusstörungen des 
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CXXXVI, p. 205; Über das Wesen der Reizleitungsstörung. D. A. f. kl. Med. 1921, CXXXV, p. 32; 
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Vorübergehende komplette Herzunregelmäßigkeiten unter dem klinischen Bilde der Arhythmia 
perpetua mit Beobachtungen über Vaguswirkung. D. A. f. kl. Med. 1914, CXVII, p. 1-12; Klinische 
und elektrokardiographische Untersuchungen über die Einwirkung der Digitalis und des Strophanthins 
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Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei gestörter Schlagfolge. 145 


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1923, 19. Jahrg., Nr. 6, p. 170. 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 10 


Die Extrauteringravidität. 


Von Professor Dr. O. Pankow, Leiter der Frauenklinik an der medizinischen Akademie 
in Düsseldorf. 


Mit 25 Abbildungen im Text. 





Die extrauterine Implantation des Eies kann in der Tube, im Ovarium oder 
in der freien Bauchhöhle erfolgen. Dementsprechend kann die Extrauterinschwanger- 
schaft eine Graviditas tubaria, ovarialis oder abdominalis sein. Am häufigsten von 
ihnen ist die Tubargravidität. Das erklärt sich dadurch, daß das menschliche Ei 
wahrscheinlich in der Tube, u. zw. zumeist wohl in ihrem ampullären Teil, befruchtet 
wird und erst nach etwa 8tägiger Wanderung durch das Tubenrohr in die Gebär- 
mutter hineingelangt. Verhältnismäßig oft jedoch wird das befruchtete Ei irgendwo 
auf seiner Wanderung durch den Eileiter festgehalten und kommt dann hier zur 
Haftung und Entwicklung. Je nach dem Ort, in dem das Ei in der Tube zur Implan- 
tation gelangt, unterscheidet man eine Graviditas tubaria ampullaris, isthmica und 
interstitialis. Seltenere Formen der Tubargravidität sind die Graviditas tubo-uterina, 
bei der das Ei zum Teil im Uterus sitzt, die Graviditas tubo-ovarialis, bei der Tube 
und Ovarium den Fruchthalter bilden, und die Graviditas tubo-abdominalis, bei der 
die Implantation teils in der Tube, teils auf dem Peritoneum der Bauchhöhle erfolgt 
ist. In vereinzelten Fällen ist auch die Haftung des Eies auf der Fimbria ovarica 
oder in einer sog. akzessorischen Nebentube beobachtet worden (s. Fig. 40). 

Ätiologie. Die Ursache für die Entstehung einer Eileiterschwangerschaft kann 
im Ei oder in der Tube gelegen sein. Zum Verständnis einer durch das Ei selbst 


bedingten Haftung in der Tube sei kurz auf folgendes hingewiesen. 


. Der Vorgang der Befruchtung und der ersten Entwicklung des befruchteten Eies ist beim 
Menschen noch nicht beobachtet worden. Auf Grund zahlreicher vergleichender Befunde im Tierreich 
können wir aber annehmen, daß die Befruchtung des menschlichen Eies in ähnlicher Weise erfolgt, 
wie sie O. Hertwig! zuerst beim Seeigel direkt beobachtet und beschrieben hat. Darnach dürfen 
wir weiter voraussetzen, daß auch beim Menschen sogleich nach der Befruchtung die Furchungsvor- 
gänge einsetzen. Dafür spricht wenigstens der überaus interessante Befund eines in Furchungskugeln 
geteilten Affeneies (Macacus), den Hubrecht? erheben konnte (s. Fig. 41). Der Vorgang der Furchung 
spielt sich so ab, daß sich das Ei zunächst in zwei gleiche Hälften teilt, die sog. Furchungskugeln 
oder Blastomeren, die sich unter fortgesetzter Teilung rasch vermehren. Dadurch entsteht zunächst 
ein kugliges, maulbeerähnliches Gebilde, die sog. Morula (s. Fig. 42). Schon in diesem Entwicklun 
stadium tritt eine Sonderung der Eizellen in zwei Schichten ein, indem ein innerer Zellhaufen, die 
sog. Embryonalkugel, aus der sich der Embryo selbst entwickelt, von einem äußeren Zellager umgeben 
wird, der die erste Anlage des Trophoblasts darstellt, das die spätere Ernährung des Eies zu über- 
nehmen hat. Indem sich zwischen diesen beiden Zellsorten an dem einen Pol der Eizelle ein mit 
Flüssigkeit gefüllter Spalt, die sog. Keimhöhle, bildet, entsteht aus der Morula die Blastula (s. Fig. 43). 
In diesem Stadium der Entwicklung befindet sich wahrscheinlich auch das mensch- 
liche Ei, wenn es nidationsreif geworden und unter normalen Verhältnissen in den 
Uterus gelangt ist. Wahrscheinlich nat auch bis zu diesem Stadium der Entwicklung eine Größen- 
zunahme des Eies nicht stattgefunden. Während dieser Entwicklungszeit ist die das Ei zunächst 
umhüllende Zona pellucida verlorengegangen, so daß jetzt die äußere Zellreihe der Blastula, der 
Trophoblast selbst, die äußere Hülle des Eies darstellt. Dieser Trophoblast besitzt nun eine intensive 
histeolytische Eigenschaft, und sie ist es, die es dem Ei ermöglicht, sich aus eigener Kraft an der 
Stelle einzugraben, wo es zur Einnistung kommt. 


Denkbar wäre es nun, daß bei bestimmten Unregelmäßigkeiten im Ablauf 
dieser Vorgänge ein Hängenbleiben des wandernden Eies in der Tube erfolgen 


Die Extrauteringravidität. 147 


könnte. Träte z. B. eine mit einer überstürzten Entwicklung des Eies verbundene 
zu frühe Abstoßung der Zona pellucida ein und befände sich das Ei dann noch in 
der Tube oder wäre es infolge dieser überstürzten Entwicklung bereits zu groß 
geworden, um das enge uterine Ende des Tubenrohres noch zu passieren, so bestände 
die Möglichkeit, daß das nidationsreife Ei irgendwo in der Tube zur Haftung gelangte. 


Fig. 40. 





uw 


Die Möglichkeiten der Eieinnistung. 


1 = Oraviditas uterina. 4=Gravidität auf der Fimbria ovarica. 

2 = Tubargravidität (2a =Oraviditas tubaria interstitialis, 5= Qravidität in einer akzessorischen Nebentube. 
2b= Graviditas tubaria isthmica, 2c = Oraviditas tubaria 6 = Primäre Abdominalschwangerschaft, s. dazu Fig. 61. 
ampullaris). (Die Implantation kann auch an andern stellen der 


3 = Ovarialgravidität. Bauchhöhle erfolgen.) 


Aber auch bei zeitlich normaler, nicht überstürzter Entwicklung des befruchteten 
Eies wäre es theoretisch dann möglich, daß das Ei schon in der Tube selbst nidations- 
reif würde, wenn der Weg, den es von dem Befruchtungsort bis zum Eintritt in 
den Uterus zurücklegen müßte, ein abnorm langer wäre. ‘Das kann bei der sog. 
äußeren Überwanderung des Eies der Fall sein. Man versteht darunter, daß das 
auf der einen Seite ausgestoßene Ei nicht in den Eileiter dieser Seite, sondern in 
die Bauchhöhle und von da durch den Saugstrom der Tube in den Eileiter der 
anderen Seite hineingelangt. Wird ein solches Ei schon gleich nach seinem Austritt 

10* 


148 O. Pankow. 


aus dem Ovarium befruchtet, so besteht theoretisch die Möglichkeit, daß es auf dem 
verlängerten Weg durch die Bauchhöhle bis in den Eileiter der anderen Seite zu 
früh nidationsreif geworden ist, in der Tube zur Haftung gelangt und dann in ihr 
zur Entwicklung kommt. 

Schließlich ist auch die Ansicht ausgesprochen worden, daß Veränderungen 
des Eies selbst die Ursache für seine extrauterine Entwicklung abgeben können. 
Das ist aber eine ganz unbewiesene Annahme, für deren tatsächliches Vorkommen 
jede Unterlage fehlt. Sie ist jedoch erst jüngst wieder von Poorten? ausgesprochen 
worden. Jede Zelle, meint er, habe eine gewisse Lebensenergie, die aber selbst 
bei Zellen gleicher Art sehr verschieden sein könne. Eier, die zur tubaren Im- 
plantation kämen, verfügen über ein „Plus an Aktivität und Entwicklungskraft«, 
und diese „Überenergie“ befähigt sie, auf dem ungeeigneten Boden der Tube Fuß 
zu fassen und sie sei die Ursache für das schnelle und tiefe, zerstörende Eindringen 


Fig. 41. Fig. 43. 





Macacusei in Furchung. (Aus Morula (schematisch). (Aus Blastula (schematisch). 
Selenka: Menschenaffen.) v.Jaschke-Pankow, (Aus v. Jaschke-Pankow, 
Lehrbuch der Oeburtshilfe.) Lehrbuch der Geburtshilfe.) 


des Tubeneies in das Gewebe der Eileiterwand. Normale befruchtete, jedoch nicht 
mit einer Überenergie begabte Eier würden sich, auch wenn sie durch ein Hindernis 
in der Tube aufgehalten würden, nicht dort implantieren, sondern einfach zugrunde 
gehen. Man müsse deshalb den Schluß ziehen, daß das zerstörende Wachstum des 
Eies bei der Tubargravidität nicht die Folge eines ungenügenden Nährbodens in 
der Tubenmucosa, also etwas Sekundäres, sei. Vielmehr sei die Ausstattung des 
befruchteten Eies mit einer Überenergie an Entwicklungskraft das Primäre und das, 
was seine Haftung in der Tube und die Art seines Tiefenwachstums bedinge. 

Diese Auffassung, die sich ja ebensowenig direkt beweisen wie widerlegen 
läßt, besteht aber doch wohl nicht zu Recht. 

Poorten verbindet mit dem Begriff der Überenergie den des intensiveren 
Tiefenwachstums und der ausgedehnteren Zerstörung des anliegenden Gewebes, 
d. h. also eines gesteigerten histeolytischen Vermögens, und sieht in dieser Über- 
energie die Ursache dafür, daß das Ei bereits sehr bald nach erfolgter Befruchtung 
irgendwo extrauterin zur Haftung kommt und gar nicht bis in den Uterus gelangt. 

Nun besteht doch aber die unbestreitbare Tatsache, daß sich das von Poorten 
als Ausdruck der Überenergie aufgefaßte tiefere Eindringen des Eies in die Frucht- 
halterwand und ihre weitgehende Zerstörung nicht bloß bei der Tubargravidität, 
sondern sehr häufig auch bei der Haftung des Eies im Isthmus uteri, bei der Pla- 
centa praevia, findet. 

Wie kommt es, muß man sich fragen, daß diese angebliche Überenergie 
stets in der Tube, so oft im Isthmus und so selten in dem zwischen beiden 
liegenden Corpus uteri zur Auswirkung kommt? Das kann an dem Ei selbst nicht 
liegen, denn es wäre nicht zu verstehen, was das Ei veranlassen könnte, auf die 


Die Extrauteringravidität. 149 


Betätigung seiner Überenergie, die so stark diesseits und jenseits des Corpus uteri 
zum Ausdruck kommt, gerade im Uteruskörper selbst zu verzichten. 

Wer die anatomischen Verhältnisse dieser drei Abschnitte: Tube, Corpus und 
Isthmus uteri, kennt, wird auch wissen, warum die Implantationsart in ihnen eine 
so verschiedene ist. 

In der Tube ist die dünne Schleimhaut so gut wie gar nicht imstande, aus- 
giebig decidual zu reagieren, und niemals fähig, für das Ei allein das Bett abzu- 
geben. Da also der Platz nicht ausreicht, muß das Ei stets über die Grenze der 
Schleimhaut hinaus in die Muscularis eindringen. 

Im Isthmus uteri ist die Entwickelung der Schleimhaut schon im nicht- 
schwangeren Zustande ungleichmäßig hinsichtlich der Dicke und der Ausbildung 
des Stromas und der Drüsen. Ungleichmäßig ist darum auch ihre Fähigkeit bei 
der Bildung des Eibettes. Ist sie dick genug und ist ihre decjduale Umwandlung 
gleich der des Corpus uteri, so wird das Ei in ihr allein sein Nest bilden und 
nicht in die Tiefe zu wachsen brauchen. Ist sie zu dünn und zu wenig decidual 
reaktionsfähig, so kann oder muß das Ei über die unzulängliche Mucosa hinaus 
bis an oder bis in die Uteruswand vordringen. 

Im Corpus ist die gesunde Schleimhaut stets im stande, allein das Bett für das Ei 
herzugeben. Finden wir aber trotzdem eine echte Adhärenz der Placenta und das Tiefen- 
wachstum der Zotten bis an und in die Muskulatur hinein, dann sind auch fast stets 
Dinge vorhergegangen, die die Untüchtigkeit der Schleimhaut veranlaßt haben, Endo- 
metritiden, schwere puerperale Erkrankungen, häufigere Geburten oder Aborte, Aus- 
schabungen etc. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn nach einem Corpuskaiserschnitt 
die Wunde schlecht heilt und nun eine Schwangerschaft eintritt. Dann findet man nicht 
selten eine partielle Adhärenz des Eies im Gebiet der Narbe, wenn dort nur eine 
dünne, kümmerliche Mucosa vorhanden ist, während drum herum, wo die Schleim- 
haut unverletzt geblieben war, die Implantation in normaler Weise erfolgt ist. 

Es wäre doch wirklich merkwürdig, wenn sich eine Überenergie überwiegend 
nur auf solchem Boden auswirken sollte! Was aber ist denn allen diesen Dingen, 
Implantation in der Tube, im Isthmus und unter den genannten Bedingungen im 
Corpus uteri, gemeinsam? Das ist der ungeeignete Implantationsboden. Er ist 
es, der die Vorbedingung für die Erscheinungen bildet, die Poorten als „Über- 
energie“ auffaßt. In ihnen liegt unseres Erachtens also auch die Ursache für die 
Vorgänge in der Tube, und der Begriff der völlig unbewiesenen Überenergie des 
Eies ist nicht nötig zu ihrem Verständnis. 

Wahrscheinlich spielt also die im Ei selbst gelegene ursächliche Möglichkeit 
nur eine sehr geringe Rolle. Den Eindruck gewinnt man wenigstens, wenn man bei 
der Frage nach der Ursache der tubaren Entwickelung des Eies den Eileiter selbst 
untersucht. In ihm sind Veränderungen nachgewiesen worden, die ohne Zwang 
eine Erklärung für das Aufhalten des befruchteten Eies in der Tube und seine 
dort erfolgte Implantation geben. 

Wie weit hypoplastische und infantile Bildungen des Tubenrohres und eine 
damit verbundene mangelhafte Flimmerung des Epithels oder eine Schwäche der 
Muskulatur dabei eine Rolle spielen, die beide für den Weitertransport des be- 
fruchteten und unbefruchteten Eies in der Tube verantwortlich gemacht werden, 
ohne daß wir heute noch sagen können, welche dieser beiden Kräfte von größerer 
Bedeutung ist, bleibe dahingestellt. Solange es noch völlig ungeklärt ist, wie weit 
wellenförmige, vom Ostium abdominale nach dem Uterus hin gerichtete Contrac- 
tionen der Tube überhaupt zum Transport des Eies nötig sind und eventuell durch 


150 ; O. Pankow. 


eine mangelhafte Entwickelung der Muskelwand beeinflußt werden können, ist über 
ihren Einfluß auf die Entstehung der Tubargravidität nichts Bestimmtes zu sagen. 
Dasselbe gilt für die Frage, wie weit angeborene oder erworbene Defektbildungen 
des Flimmerbesatzes eine Transportstörung des Eies bedingen. Nach experimentellen 
Untersuchungen über die Bedeutung der Tubenflimmerung auf die Fortbewegung 
corpusculärer Elemente im Eileiter ist aber wohl sicher anzunehmen, daß Störungen 
der Flimmerfunktion tatsächlich die Fortbewegung des Eies verhindern oder doch 
wenigstens verzögern können. Wie weit eine solche Anomalie im Einzelfalle tat- 
sächlich von ätiologischer Bedeutung bei der Entstehung der Tubenschwangerschaft 
gewesen ist, das wird sich allerdings schwer feststellen lassen. Bei Untersuchungen 
früh schwangerer Tuben ist jedenfalls wiederholt ausdrücklich hervorgehoben 
worden, daß ein völlig unversehrter Epithelüberzug mit ungeschwächtem Cilien- 
schlag in der Umgebung des Eies nachweisbar war. Eine erheblichere Rolle scheint 
danach der Tubenflimmerung praktisch doch nicht zuzukommen. 

Ebenso bleibt es unsicher, wieweit andere, seltenere Entwicklungsstörungen 
mit der tubaren Haftung des Eies in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden 
dürfen. Man sieht aber doch, gelegentlich bei der Operation frischgeplatzter Tubar- 
graviditäten, angeborene grobmechanische Veränderungen, die man wohl für die 
Haftung des Eies im Eileiter verantwortlich machen könnte. 


11. Mai 1923. Frau G., 27 Jahre alt, seit 1'/, Jahren verheiratet. Erste Periode mit 13 Jahren, 
immer unregelmäßig, meist nur alle 6-8 Wochen von 5- bis 6tägiger Dauer und mit mäßigem Blut- 
verlust. Seit der Verheiratung dauern die unregelmäßigen Blutungen oft 14 Tage lang, sind aber 
auch nur immer schwach. Vier Wochen nach der Periode setzen regelmäßig heftige Kopf- und Leib- 
schmerzen ein, die bis zum Eintritt der Menses anhalten. Letzte Periode vor 14 Wochen 4-5 Tage 
lang, diesmal besonders stark. Seit Anfang April blutet die Patientin ständig. Dabei war das Blut 
einmal hell, einmal dunkel. Stücke sind nie abgegangen. Seit 4 Wochen treten alle 2—3 Tage heftige 
Schmerzanfälle auf, die auf der linken Unterleibseite lokalisiert sind. Die Schmerzen gehen dann auf 
den ganzen Leib über und strahlen bis auf die Magengegend aus. Während der Schmerzanfälle, die 
meist 6—8 Stunden anhielten, war das Urinieren ebenfalls schmerzhaft. Vor 14 Tagen wurde Patientin 
wegen starken Blutabganges in ein Krankenhaus aufgenommen, mit Tamponade, Eisblase und Bett- 
ruhe behandelt und nach 8 Tagen entlassen. Da in den letzten 8 Tagen die Beschwerden unverändert 
anhielten, wird Patientin zur Aufnahme geschickt. Mittelgroße Frau in mäßigem Ernährungszustande. 
Muskulatur und Fettpolster gut entwickelt, Gesichtsfarbe gelblichblaß, Puls 112, Schleimhaut schlecht 
durchblutet. Herz und Lunge ohne Besonderheiten. Hämoglobin 55%, Erythrocyten 2:8 Millionen, 
Leukocyten 9400. Auf der linken Seite des Abdomens sieht und fühlt man einen bis zum Nabel 
hinaufreichenden Tumor von etwa Faustgröße, der sich in das kleine Becken hinein verliert. Die 
Vagina ist blaß verfärbt, Portio zapfenförmig, Cervicalkanal verschlossen. Der Uterus liegt anteflek- 
tiert, fühlt sich verhältnismäßig derb an, ist nicht vergrößert, Sondenlänge 7!/, cm. Links oberhalb 
des Uterus, von der kurzen straffen Vagina aus mit Mühe erreichbar, fühlt man von der linken Uterus- 
kante ausgehend einen im ganzen kindskopfgroßen Tumor, der bis zum Nabel reicht. Rechts ist die 
Tube am uterinen Ende schlank zu fühlen, das Ovarium nicht zu tasten. Diagnose: Linksseitige 
Tubargravidität mit peritubarer Hämatocelee Operation: Querschnitt durch Haut und Fascie, 
Eröffnung des Bauches in der Mittellinie. Unmittelbar in der Medianlinie sieht man links einen 
bläulichschwarz durchschimmernden Tumor, der der Bauchwand breit anliegt und mit ihr verwachsen 
ist. An seiner oberen und teilweise auch an seiner Vorderseite ist er mit Netz bedeckt, das ebenfalls 
mit ihm verklebt ist. Nach unten geht der Tumor über in die linken Adnexe, von denen das Ovarium 
den unteren Pol dieses Tumors bildet und sich deutlich von ihm abhebt. An der medialen Fläche 
des Tumors bestehen ausgedehnte Verwachsungen mit der Flexur und dem Dünndarm. Nach Lösung 
der Netzadhäsionen werden die Därme vorsichtig abgelöst. Hierbei reißt der Tumor selbst ein und 
es entleeren sich reichlich dicke alte Blutgerinnsel aus ihm. Jetzt erkennt man deutlich, daß der ganze 
Tumor von der schwangeren abdominellen Tubenhälfte gebildet wird, und daß die Tube von der 
Uteruskante aus ziemlich steil nach obenhin verläuft. Unter Zurücklassung des Ovariums wird die 

anze Tube abgetragen und das Wundbett versorgt. Die Hämatocelenschwarte wird überall von der 
Geesse und dem Darm vorsichtig abgelöst und alte Blutgerinnsel aus dem Douglas entfernt. 
Dann heißt es weiter im Operationsprotokoll: Zur Erklärung des hohen Sitzes der Extrauteringravidität 
ist vielleicht die Tatsache heranzuziehen, daß auch das rechte Ovarium, das mangelhaft descendiert 
ist, ausgezogen, 1'!/, Fingerglied-lang in der Gegend der Linea innominata liegt, und daß auch die rechte 
Tube nach obenhin bis über die Linea innominata verläuft, und ebenfalls lang ausgezogen, aber offen 
und schlank ist. Irgendwelche Zeichen vorausgegangener Entzündungen sind an den rechten Adnexen 
nicht vorhanden. 


In diesem Falle, in dem es sich zweifellos um eine Entwicklungsstörung 
insofern gehandelt hat, als die Adnexe nicht genügend tief in das kleine Becken 


Die Extrauteringravidität. 151 


herabgestiegen waren, könnte man wohl daran denken, daß in dieser Anomalie die 
Ursache der Tubenschwangerschaft zu suchen ist, umsomehr als die histologische 
Untersuchung des linksseitigen Tubenrohres Divertikelbildungen und Faltenver- 
schmelzungen, auf die wir als Ursache der Tubargravidität gleich noch eingehen 
werden, nicht erkennen ließ. 

Das gleiche gilt von den mechanischen Momenten, die gelegentlich dadurch 
geschaffen werden können, daß Myome oder Ovarialtumoren, besonders wenn sie 
intraligamentär entwickelt sind, die Tube verziehen, verdrehen, komprimieren oder 
abknicken und so die Passage des befruchteten Eies stören. 

Am häufigsten hat man bisher jedenfalls bestimmte gröbere Veränderungen 
der Tube nachweisen können, die mit der Tubargravidität in ursächlichem Zusammen- 
hang stehen und deren Entstehung heute zumeist noch mit entzündlichen Erkran- 
kungen der Eileiter in Zusammenhang gebracht wird. Schon Werth®, dem wir eine 
ausgezeichnete Bearbeitung der Extrauterinschwangerschaft in dem v. Winckelschen 
Handbuch verdanken, kam auf Grund seiner Studien zu der Auffassung, es müsse 
„neben den vereinzelt beobachteten und beschriebenen seltenen Hindernissen in 
der Eibahn ein für die große Mehrzahl der Fälle gültige einheitliche Erklärung 
gefunden werden“. 

J. Veit? sieht als eine solche einheitliche Grundlage den Tubenkatarrh an. 
Er sagt: „Ich finde die Hauptursache der Tubenschwangerschaft in einem in der 
Abheilung begriffenen Tubenkatarrh.“ Dabei betont er ausdrücklich, daß der Katarrh 
nicht etwa nur durch eine Gonorrhöe bedingt zu sein braucht, sondern daß „alle 
übrigen Keime“ in gleicher Weise wirken können. Allerdings ist es ihm niemals 
gelungen, Keime in der schwangeren Tube nachzuweisen. Deshalb meint er auch, 
daß es mehr die Folgezustände des Katarrhs seien, die die Einbettung des Eies in 
der Tube verschulden, wie eine gewisse Hypersekretion und Epithellücken, die zur 
Verlangsamung der Flimmerung führen, und ein abnormes Verhalten der Schleim- 
haut überhaupt. Das Wesentlichste von den postkatarrhalischen Schleimhautverände- 
rungen scheinen für Veit die Epithellücken zu sein, die er direkt für nötig zu halten 
scheint, wenn die Tubareinnistung des Eies erfolgen soll. Jedenfalls meint er, müsse 
man doch davon ausgehen, daß das Ei durch das Epithel in das subepitheliale 
Bindegewebe hineingelange. Es sei aber noch keineswegs erwiesen, daß das Ei 
normales Epithel der Tube etwa auflösen könne. In diesen Annahmen Veits sind 
aber zwei große Unwahrscheinlichkeiten enthalten. Wir haben eingangs bereits 
hervorgehoben, daß das nidationsreife Ei sich mit seiner Trophoblastschale an das 
Oberflächenepithel anlegt, und daß das Trophoblast eine ungemein starke gewebs- 
auflösende Eigenschaft besitzt. Wenn diese histolytische Kraft so groß ist, daß sie 
sogar Bindegewebe und Muskulatur auflöst und zerstört und die derben Gefäßrohre 
durchfrißt und eröffnet, so besteht keinerlei Grund anzunehmen, daß sie nicht auch 
im stande wäre, das zarte Tubenepithel aufzulösen, ebenso wie das ja auch mit 
der Epitheldecke des Uterus bei der physiologischen Implantation geschieht. So 
besteht also tatsächlich kein Grund, eine Epithellücke für die Implantationsmöglich- 
keit des Eies in der Tube vorauszusetzten. Diese Voraussetzung enthält auch bereits 
die zweite Unwahrscheinlichkeit der Veitschen Annahme. Das Epithel als solches 
hat überall eine ganz außerordentlich große Regenerationsfähigkeit und läßt keine 
unbekleideten Lücken zwischen sich bestehen. Heilt also ein Katarrh, selbst wenn 
er wirklich hie und da das Epithel zerstört hat, ab, dann verwachsen entweder die 
epithellosen Stellen wieder miteinander oder sie werden rasch wieder von den 
Seiten her epithelisiert. 


152 O. Pankow. 


Die ganze Auffassung V eits von der Bedeutung eines in der Abheilung begriffenen 
Tubenkatarrhs für die Tubareinnistung des Eies entbehrt also zu sehr der anatomischen 
Grundlage, als daß man sie mit Befriedigung annehmen könnte. 

Man kann es umsoweniger, als heute anatomische Untersuchungen der schwan- 
geren Tube vorliegen, die unseres Erachtens der Forderung Werths nach einer 
einheitlichen Erklärung der Entstehung der Tubargravidität genügen. Auf Grund 
dieser Untersuchungen möchten wir die Tubargravidität auf zwei Dinge 
zurückführen, auf Divertikelbildungen der Schleimhaut, die mehr oder 
minder tief in die Muskulatur der Tube und selbst bis in die Serosa 
vordringen, und auf Faltenverschmelzungen der Mucosa. Schon über die 
ätiologische Bedeutung dieser beiden Anomalien, die vielfach gleichzeitig in der- 
selben Tube gefunden werden, gehen die Ansichten auseinander. Die einen sehen 
die Hauptursache der Tubenschwangerschaft vor allem in der Faltenverschmelzung, 
durch die das befruchtete Ei an seinem Eindringen in den Uterus verhindert werden, 
die anderen dagegen in Divertikelbildungen, in die das befruchtete Ei hineingeraten 
soll. Umfangreiche anatomische Untersuchungen aus unserer Klinik durch Schön- 
holz® haben uns ebenfalls zu der Überzeugung gebracht, daß von beiden Möglich- 
keiten doch wohl der Divertikelbildung der Schleimhaut die größere Bedeutung für 
die tubare Einnistung des Eies zukommt. Trifft das zu, dann ist damit aber nur ein 
Teil des Problems nach der eigentlichen Ursache der Tubenschwangerschaft gelöst. 
Will man ihm bis ins Letzte nachgehen, so muß man sich die Fragen vorlegen: 

1. Sind die Veränderungen, die man als Ursache der tubaren Einnistung des 
Eies erkannt hat, stets oder überwiegend entzündlicher Natur? 

2. Ist die nachgewiesene vorausgegangene Entzündung der Eileiter tatsächlich 
zumeist eine gonorrhoische gewesen, wie viele Autoren heute noch annehmen? 

3. Können die Divertikelbildungen und Schleimhautverschmelzungen auch 
anderer als entzündlicher Herkunft sein? 

Die Schleimhautverschmelzung und Divertikelbildungen sind vielfach 
Gegenstand eingehender Bearbeitung gewesen. Das Vorkommen von intramusculär 
gelegenen, mit Epithel ausgekleideten Hohlgängen in der Wand der schwangeren Tube 
wurde schon sehr früh gelegentlich beobachtet. W erth wies dann auf den Zusammen- 
hang dieser Hohlräume mit dem Lumen der schwangeren Tube hin. Er kam jedoch 
zu der Auffassung, daß diese Schleimhautdivertikel nicht als eine Ursache, sondern als 
Folge der tubaren Einnistung des Eies aufzufassen seien, die sich erst unter dem Reiz 
des benachbarten Eies entwickeln sollten. Er stand damit im Gegensatz zu einer Reihe 
von Forschern, die in derartigen Divertikelbildungen gewissermaßen Fanggruben 
sahen, in die das Ei hineingelangen konnte, um sich dann an Ort und Stelle zu 
implantieren. Es lag nahe, daß alle diese Forscher die Frage aufwarfen, woher dann 
solche Muskelausstülpungen der Schleimhaut und damit die letzte wirkliche Ursache 
für die tubare Implantation des Eies stammten. 

Die Tatsache, daß sich solche epithelbekleidete Hohlgänge besonders häufig 
in knotigen Verdickungen der Tubenwand nahe an ihrem Übergang zum Uterus 
fanden, eine Veränderung, die zuerst Chiari?” eingehend beschrieb und die Schauta® 
dann als Salpingitis isthmica nodosa bezeichnete, vergrößerte die Unsicherheit dieser 
Deutung erheblich. Von Chiari, Schauta u. a. als entzündlichen Ursprungs ange- 
sprochen, trat dann v. Recklinghausen? in einer ausführlichen Arbeit dafür ein, 
daß diese Bildungen mit einer Entzündung nichts zu tun hätten, sondern wirkliche 
Neubildungen seien, Adenomyone, die von den Resten der Wolffschen: Kanäle 
abgeleitet werden müßten. Sein Schüler Schickele!? vertrat dann die Anschauung 


Die Extrauteringravidität. 153 


daß auch die ohne gleichzeitig vorhandene knotige Verdickungen der Tube nachweis- 
baren epithelausgekleideten Muskelgänge Abkömmlinge von Urnierenresten darstellen. 
Nach dieser Auffassung müßte man also annehmen, daß die Tubar- 
gravidität durch das Hineingelangen eines befruchteten Eies in persi- 
stierende, mit dem Tubenlumen zusammenhängende Reste der Wolffschen 
Kanäle entstanden sei. Die Auffassung von v. Recklinghausen hat sich jedoch 
nicht halten lassen. In Sonderheit hat R. Meyer!! durch Untersuchungen an zahl- 
reichen Tuben von neugeborenen Kindern und Erwachsenen niemals irgendwelche 
Bestandteile der Urniere in den Müllerschen Gängen nachweisen können. R. Meyer 
wie eine große Zahl anderer Untersucher bekannten sich vielmehr zu der Auffassung 
Chiaris und Schautas, die in den Divertikelbildungen die Folge einer chronischen 
Entzündung sahen. 

Auf eine gleiche entzündliche Ursache wurden auch die Faltenverschmelzungen 
zurückgeführt, die man uterinwärts von dem Eibett in dem Lumen der Tube hat 
nachweisen können und auf die besonders Opitz’? als die nach seiner Ansicht 
hauptsächliche Ursache der Eileiterschwangerschaft hingewiesen hat. Solche Falten- 
verschmelzungen sind in der Tat in entzündlichen Tuben nicht selten nachweisbar. 
Sie können so ausgedehnt sein, daß das ganze Lumen dadurch in eine Reihe neben- 
einander und ineinander laufender Kanäle aufgeteilt erscheint, oder sie befallen einen 
Teil der Schleimhautfalten, so daß neben dem größeren Rest des eigentlichen Lumens 
eine Reihe wieder zum Hauptlumen stoßender oder blind endigender Hohlgänge 
entsteht. Fehlt die vollkommene gitterförmige Verlagerung des Tubenrohres und 
sind nur die partiell gebildeten Hohlräume neben einem noch gut durchgängigen 
Rest des Lumens vorhanden, so erklärt es sich, meint Opitz, zwanglos, warum bei 
derlei Frauen eine oder mehrere ungestörte Eipassagen durch eine solche Tube mit 
nachfolgender Intrauteringravidät erfolgen, und warum dann gelegentlich, wenn ein 
Ei in solche zu enge oder blind endigende Hohlräume hineingelangt, eine Tuben- 
schwangerschaft entstehen könne. Jedenfalls sieht Opitz in diesen Veränderungen 
der Eileiter die häufigste Ursache für die Tubareinnistung des Eies. Aber auch er 
hat in zahlreichen der von ihm untersuchten Tuben Schleimhautdivertikel gesehen, 
die mehr oder minder tief in die Muscularis hineindrangen und von denen Opitz 
in einem Falle auch sah, daß sich das Ei in einem solchen Divertikel implantiert 
hatte. Er lehnt jedoch die Annahme, daß das Hineingelangen des Eies in sie die 
Ursache für die Tubenschwangerschaft abgebe, deshalb ab, weil ihr Verlauf meist 
nicht in der Wanderungsrichtung des Eies gelegen sei. 

Somit können wir also zunächst zwei Auffassungen registrieren. Die eine, die 
die Schleimhautdivertikel, die andere, die die Faltenverschmelzungen als die häu- 
figste Ursache für die Tubargravidität ansieht. Beide Auffassungen stehen aber 
auf gemeinschaftlichem Boden insofern, als beide diese Veränderungen 
als Folgezustände vorausgegangener Entzündungen ansehen. Nach der 
Auffassung von Opitz sind es gerade die leichteren entzündlichen Vorgänge der 
Eileiter, die zu einem Epithelverlust der Falten und zu einer Verschmelzung führen, 
so leicht, daß später nicht einmal mehr die Reste der Entzündung histologisch an 
den Falten erkennbar zu sein brauchen. 

Auch für die Divertikelbildungen nehmen manche Autoren an, daß sie ohne 
schwere eitrige Wandveränderungen entstehen können. So glauben Chiari und 
R. Meyer, daß allein schon der starke Druck, unter dem eine entzündlich ge- 
schwollene Tubenschleimhaut stände, genüge, um die Schleimhaut zu solchen Aus- 
stülpungen in die Muscularis hinein anzuregen. Demgegenüber vertritt Höhne die 


154 O. Pankow. 


Ansicht, daß es sich bei der Entstehung dieser intramusculären Schleimhautabzwei- 
gungen um ÄAusheilungsvorgänge der gar nicht so seltenen Tubenwandabscesse handele. 
Höhne setzt also schwer entzündliche Veränderungen der Tube für die Entstehung 
der Divertikel voraus. Das ist ein sehr wichtiger Punkt für die Frage, welcher Art 
denn hauptsächlich die Entzündungen sind, die solche Veränderungen hervorrufen. 

Chiari und Schauta haben schon für die Entstehung der Salpingitis isthmica 
nodosa die Gonorrhöe verantwortlich gemacht, die Martin und eine Reihe anderer 
Autoren auch als die Hauptursache der Tubenverschmelzungen ansehen. Auf die 
Zusammenhänge mit der Gonorrhöe hat dann in jüngster Zeit Höhne"? in seiner 
ausführlichen Arbeit von neuem hingewiesen. Indessen hebt schon R Meyer 
hervor, daß nicht nur die Gonorrhöe und die Tuberkulose zu einem derartigen 
adenomatösen Tiefenwachstum der Schleimhaut führen, sondern daß derartige Ver- 
änderungen auch bei Entzündungen jeder anderen Art vorkommen und sich in 
allen Teilen der Tube finden können. Die meisten Autoren stehen jedoch auch 
heute noch auf dem Standpunkt, daß es in erster Linie gonorrhoische Veränderungen 
sind, die die Entstehung einer Tubargravidität zur Folge haben. 

Wir können diesen Standpunkt nicht teilen, u. zw. aus klinischen und patho- 
logisch-anatomischen Erwägungen heraus. Klinisch ist es eine unbestreitbare Tat- 
sache, daß die Verbreitung der Tubargravidität mit der Häufigkeit der Gonorrhöe 
durchaus nicht Hand in Hand geht. Wohl ist früher das Gegenteil behauptet 
worden, aber schon Wertheim hat seinerzeit darauf hingewiesen, daß der damals 
häufiger gewordene Nachweis einer Tubenschwangerschaft doch wohl nur auf die 
besseren diagnostischen Kenntnisse zurückgeführt werden könne, die man sich mit 
dem Ausbau der operativen Gynäkologie erworben hatte. Wir können jedenfalls 
an einem sehr großen gonorrhoischen Material feststellen, daß mit der in und nach 
den Kriegsjahren gestiegenen Häufigkeit der Gonorrhöe die Tubenschwangerschaft bei 
uns nicht in gleicher Weise zugenommen hat, und zweitens, daß wir bei den von 
uns beobachteten Tubenschwangerschaften die Gonorrhöe meist mit Sicherheit 
haben ausschließen können. Ebenso haben wir auch früher vor dem Kriege an 
einem bezüglich des Anteils der‘Gonorrhöe sehr verschiedenen Material derartige 
Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Gonorrhöe und der Tubargravidität 
nicht beobachten können. Wir hatten Gelegenheit, vor dem Kriege Jahre hindurch 
ein verhältnismäßig an Gonorrhöe armes Material in Freiburg und im Gegensatz 
dazu ein an Gonorrhöe reiches in Düsseldorf zu beobachten. In Freiburg haben wir 
feststellen können, daß nur etwa 45% aller entzündlichen Adnexerkrankungen 
gonorrhoischen Ursprungs waren. In Düsseldorf hingegen ist der Anteil der Go- 
norrhöe an dieser Gruppe von Erkrankungen ungefähr doppelt so groß. Trotzdem 
aber kann von einem häufigeren Vorkommen der Tubenschwangerschaft an unserem 
Düsseldorfer Material keineswegs die Rede sein. Auch in anderen an Gonorrhöe 
reichen Städten und Ländern ist eine gesteigerte Häufigkeit der Tubenschwanger- 
schaft durchaus nicht beobachtet worden. 

Aber auch aus anderen klinischen Beobachtungen heraus erscheinen uns die 
vielfach angenommenen ursächlichen Zusammenhänge zwischen Tubargravidität und 
Gonorrhöe nicht wahrscheinlich. Wer sehr viel ascendierte Gonorrhöe gesehen hat, 
der kennt die Folgen des Eindringens der Gonokokken in die Tube und weiß, daß 
mit dem Übergreifen der Gonorrhöe auf die Eileiter das Schicksal der Frauen hin- 
sichtlich ihrer Conceptionsfähigkeit meist besiegelt ist. 

Fast ausnahmslos tritt bei der eitrigen Entzündung derEileiter nicht bloß eine 
mehr oder minder ausgedehnte Zerstörung der Schleimhaut ein, sondern es wird 


Die Extrauteringravidität. 155 


auch durch Einkrempelung des Ostium abdominale und Verklebung seiner Serosa- 
fläche untereinander und mit der Umgebung oder durch Verwachsung der Serosa 
der Tubenampulle mit dem Peritoneum der Nachbarschaft der Eingang in die 
Eileiter meistens so dauernd verlegt, daß die Vereinigung von Sperma und Ei 
dadurch unmöglich wird. Opitz betont deshalb auch ausdrücklich, daß es gerade 
die leichten Entzündungen der Eileiter seien, die zu den von ihm so hochbewerteten 
Faltenverschmelzungen führen. Wenn man das für richtig annehmen und ebenso 
auch zugeben wollte, daß, wie z. B. Robert Meyer betont, schon leicht entzünd- 
liche Schwellungszustände der Mucosa zur Enstehung der Muskeldivertikel Anlaß 
geben könnten, dann müßten wir annehmen, daß sehr zahlreiche gonorrhoische In- 
fektionen der Eileiter gewissermaßen schattenartig über die Tube hinweghuschen, 
ohne schwerere anatomische Veränderungen zu machen. Das widerspricht aber 
durchaus unseren klinischen Beobachtungen und dem, was wir über die zerstörende 
Tätigkeit der Gonokokken sonst wissen. Sind sie einmal in die Tube eingedrungen, 
dann führen sie hier meist auch zu einer solchen Entzündung, daß auf ganze Strecken 
hin die Epithelien zu grunde gehen, die dann trotz ihrer ungeheueren Regenerations- 
fähigkeit die defekt gewordene Stelle nicht wieder überkleiden können. Dann bleibt 
aber auch in den allermeisten Fällen der gonorrhoische Prozeß nicht auf diesen 
Vorgang allein beschränkt, sondern greift durch das abdominelle Ende auf das 
Peritoneum über und führt weiter fortschreitend zu den bekannten tiefgreifenden 
Zerstörungen der Tubenmuskulatur, wie sie Höhne beschrieben hat. Diese Ver- 
änderungen haben aber unzweifelhaft eine außerordentlich geringe Neigung zur 
Ausheilung und darum so häufig eine dauernde Sterilität zur Folge. Wir selbst 
haben wenigstens unter überaus zahlreichen Fällen von Gonorrhöe mit deutlichen 
Erscheinungen der Ascension nur einen einzigen Fall erlebt, bei dem die entzünd- 
lichen Schwellungen der Tube rasch wieder zurückgingen und dann später noch 
eine Oravidität, u. zw. eine intrauterine, beobachtet werden konnte. Niemals haben 
wir bisher einen Fall von ascendierter Tubengonorrhöe oder auch nur von 
klinisch nachweisbarer Reizung der Adnexe bei gonorrhoischer Endo- 
metritis gesehen, bei dem später eine Tubargravidität erfolgte. Daran kann 
auch gar kein Zweifel sein, daß die anatomischen Veränderungen der Tube bei gonor- 
rhoischen Erkrankungen ganz andere sind als bei den septischen, wie wir sie nach Geburt 
und Abort, nach intrauterinen Eingriffen und bei Fortleitung entzündlicher Prozesse, z. B. 
vom Appendix aus, beobachten können. Jeder Gynäkologe weiß, daß, selbst wenn es in 
solchen septischen Fällen zu den allerschwersten Eiterungen mit faustgroßen doppel- 
seitigen Tumoren der Adnexe gekommen ist, doch noch in oft überraschend kurzer Zeit 
eine vollständige Rückbildung eintreten und sogar manchmal verblüffend rasch eine er- 
neute Conception erfolgen kann. Derartige Dinge kennen wir aber bei der Gonorrhöe 
nicht. Es kann demnach kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß die Gonokokken 
und ihre Toxine eine ganz andere zerstörende Fähigkeit auf die befallene Tube 
ausüben als z. B. die Streptokokken mit ihren freigewordenen Endotoxinen. Schon 
P. Zweifel!* konnte vor Jahren darauf hinweisen, daß bei den Streptokokkeneite- 
rungen der Tube „an keiner Stelle das Epithel geschwunden“ war. In sehr ein- 
gehenden Untersuchungen über die eitrigen Entzündungen des Eileiters bestätigte 
Gchriddei diesen Befund. Er sagt darüber: „Das Epithel der Tubenfalten erleidet 
nur mäßige Schädigungen. Zwar kommt es zur Abstoßung von Epithelzellen, zum 
teilweisen Verlust der Flimmern und zu einer Unterdrückung der Funktion der 
Sekretionszellen, in keinem Falle aber zu einer auch nur beschränkten Zerstörung 
des Epithels, zur Geschwürsbildung. Dementsprechend trifft man auch keine Ver- 


156 O. Pankow. 


klebung der Falten an und daher wird man auch bei abgelaufenen Prozessen keine 
verwachsenen Falten sehen.“ Aus allen diesen Erwägungen heraus möchten wir 
uns dahin ausdrücken: 

„So häufig die chronische Gonorrhöe die Ursache für den Tuben- 
verschluß und damit für die bleibende Sterilität der Frau abgibt, so 
selten kommt sie als Ursache für die Entstehung der Tubenschwanger- 
schaft in Frage.“ 

Das gilt auch für die akuten gonorrhoischen Entzündungen. Man hat gesagt, 
daß bei der akuten Entzündung die Mucosa eine derartige Schwellung der Schleim- 
haut aufweise, daß dadurch das Lumen erheblich verengt und das Ei auf seiner 
Wanderung aufgehalten werden könne. Der Nachweis einer akuten Gonorrhöe der 
Tube mit positivem Gonokokkenbefund im Eileiter bei gleichzeitiger Tubar- 
gravidität, wie das in einzelnen Fällen gelungen ist, spricht jedoch durchaus noch 
nicht dafür, daß diese gonorrhoische Infektion nun auch die Ursache der bestehen- 
den Tubargravidität ist. Beide Erkrankungen, pathologische Eiinsertion und Gonorrhöe, 
können sehr wohl derselben Cohabitation ihren Ursprung verdanken. Es kann aber 
die Gonorrhöe ser leicht auch erst nach der Haftung des Eies auf die Tube über- 
gegriffen haben. Dagegen spricht auch nicht der überaus seltene Befund von Gono- 
kokken in dem Abschnitt der Tube, der jenseits des das Lumen der Tube aus- 
füllenden Eies nach der Bauchhöhle zu gelegen ist. Wenn es nach den Untersuchungen 
von Micholitch'! und nach den neueren Untersuchungen, die an unserer Klinik 
Schönholz an einem größeren Material angestellt hat, bewiesen ist, daß das Ei 
meistens in einem Schleimhautdivertikel zur Einnistung kommt, so steht den Gono- 
kokken zunächst gar kein Hindernis auf ihrem vordringenden Weg nach dem Ostium 
abdominale an dem das Ei enthaltende Schleimhautdivertikel vorbei, im Wege. Ver- 
größert sich jetzt das Eibett, greift es auf das Lumen über und füllt es ganz mit 
aus, so können die Gonokokken bereits jenseits davon gelegen sein und dann bei 
der Operation eines solchen Falles auch leicht bauchhöhlenwärts vom Ei nach- 
gewiesen werden. Schließlich erscheintes doch auch überdies sehr fraglich, 
ob eine akut entzündliche gonorrhoisch veränderte Schleimhaut trotz 
freier Passage für das Ei implantationsfähig bleibt und ob nicht ein so 
zartes Gebilde, wie das frei wandernde Ei, durch die Entzündungsprodukte. 
in der Tube so schwer geschädigt wird, daß es rasch darin abstirbt. 

Wir selbst möchten jedenfalls ebenso wie der chronischen auch der akuten 
gonorrhoischen Erkrankung der Tube eine nur sehr untergeordnete Rolle bei der 
Entstehung der Tubargravidität zubilligen. 

Fraglich bleibt es schließlich immer, wieweit überhaupt nachweisbare entzünd- 
liche Veränderungen der Tube, welchen Ursprungs sie auch seien, mit der be- 
stehenden Tubargravidität in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden dürfen. 
Jedenfalls genügt der Nachweis älterer oder frischerer entzündlicher Auflagerungen 
und Verwachsungen auf der Tube bei der Operation noch nicht, um daraus zugleich 
eine ältere Entzündung zu diagnostizieren und sie sofort in ursächlichen Zu- 
sammenhang mit der Eileiterschwangerschaft zu bringen. In Fällen von Tubarabort, 
bei denen vor der Operation meistens schon länger zurückliegende Blutungen vor- 
ausgegangen waren, ist immer zu bedenken, daß diese Blutungen selbst erst die 
Ursache für die Adhäsionsbildungen abgegeben haben können und dann nicht als 
die Ursache, sondern als die Folge der Tubargravidität angesehen werden müssen. 
Uns ist jedenfalls immer wieder an unserem operativen Material frisch geplatzter 
Tuben aufgefallen, wie außerordentlich häufig an der schwangeren Tube selbst und 


Die Extrauteringravidität. 157 


vor allem an dem mitschwangeren Eileiter der anderen Seite makroskopisch nach- 
weisbare entzündliche Veränderungen vollkommen fehlten, nämlich unter 49 Fällen 
von Tubenruptur, in denen sich verwertbare Angaben im Operationsprotokoll fanden, 
33mal, d. h. in 67%. Aber auch wenn man in solchen Fällen einmal leichte, ent- 
zündlich aussehende Auflagerungen auf der Serosa solcher Tuben findet, ist man 
nicht berechtigt, diese sofort immer mit der Schwangerschaft in ursächlichen Zu- 
sammenhang zu bringen. Wenn Opitz bei seinen Fällen, in deren Krankengeschichten 
leider gar nichts über die Art, Häufigkeit und die zeitliche Entstehung der Blutung 
enthalten ist, häufiger neben älteren Adhäsionen „je näher am Ei um so stärker auch 
frisch blutige Auflagerungen oftmals in Organisation betroffen“, erwähnt, so haben 
solche Befunde nicht viel zu sagen. Wissen wir doch aus den schönen Unter- 
suchungen Aschoffs!”, daß sehr häufig in dem Gebiete des Eies die Zotten bis an 
und durch die Serosa vordringen, und daß über ihm, durch den Reiz der vor- 
dringenden Zotten bedingt, Ausschwitzungen und fibrinöse Auflagerungen entstehen, 
die durchaus den Eindruck „entzündlicher« Veränderungen machen können. Aber 
selbst da, wo ältere derbe Adhäsionen nicht durch die bestehende Schwangerschaft 
bedingt sein können und auch gleiche Veränderungen in der anderen nichtschwangeren 
Tube zeigen, daß sich tatsächlich entzündliche Prozesse in den Eileitern oder um 
sie herum abgespielt haben, ist noch nicht gesagt, daß dieser Prozeß nun auch die 
Haftung des Eies in der Tube bedingt habe. Dazu wären wir nur berechtigt, wenn 
tatsächlich eine Entzündung die Vorbedingung für die Entstehung der Faktoren 
wäre, die wir als die Hauptursachen für die tubare Einnistung des Eies ansehen 
müssen, und wenn diese Faktoren in wirklich gesunden Tuben nicht nachweisbar 
wären. Da sie aber in der Tat auch in gesunden Tuben häufig vorkommen, so hat 
es durchaus nichts Gezwungenes anzunehmen, daß alte entzündliche Veränderungen, 
die man bei der Operation nachweisen kann, von höchst nebensächlicher Bedeutung 
hinsichtlich der Haftung des Eies für eine Tube sein können, die die Vorbedingung 
dazu schon vor der früher durchgemachten Entzündung in sich trug. 

Wir haben als die beiden Möglichkeiten, die wahrscheinlich in überwiegendem 
Maße die Implantation des Eies in der Tube veranlassen, die Faltenverschmelzungen 
und vor allen Dingen die Schleimhautausstülpungen kennengelernt. Entgegen der 
Ansicht von Opitz haben wir jedoch auf Grund eingehender Untersuchungen 
unseres eigenen Materials, die Schönholz vorgenommen hat, — der nach dieser 
Richtung hin auch ein größeres Material des Pathologischen Instituts zu Dortmund 
verarbeiten konnte — durchaus den Eindruck gewonnen, daß von den beiden er- 
wähnten Veränderungen die Schleimhautdivertikel in der Mehrzahl der Fälle die 
Ursache für die Haftung des Eies abgeben. Die Tatsache, daß diese Veränderungen 
auch in Tuben gefunden wurden, in denen jede Spur von Entzündung fehlte, hat 
uns nun immer wieder die Frage aufgedrängt, ob denn diese Veränderungen, soweit 
sie in sonst wegsamen Tuben gefunden werden, überhaupt auf entzündliche Ver- 
änderungen zurückgeführt werden müssen und nicht vielmehr Bildungsstörungen 


darstellen. 
In einer ausführlichen Arbeit über die Epitheliofibrosis und Epitheliomyosis der 


Tube haben sich Schridde und Schönholz* eingehend mit den Divertikelbildungen 
befaßt und Schönholz (l. c.) hat dann an dem Material unserer Klinik diese Frage 
weiter verfolgt und ihre Beziehung zur Entstehung der Tubargravidität studiert. 
Beide Autoren weisen darauf hin, daß sowohl bei der Ausbildung von Wandabscessen 
als auch bei den zur Faltenverklebung führenden schwereren Entzündungen der Eileiter 


* Noch nicht erschienen. 


158 O. Pankow. 


Veränderungen übrig bleiben, die der histologischen Untersuchung nicht entgehen. 
Bei den Absceßbildungen tritt an Stelle des entzündlichen Herdes innerhalb der 
Tubenmuskulatur als Ausheilungsprodukt eine Narbe, durch die die Regelmäßigkeit 
im Aufbau der Tubenmuskulatur erheblich gestört wird. Bei den entzündlichen 
Verwachsungen der Falten zeigt sich die fibrinöse Grundsubstanz, die normalerweise 
parallel der Verlaufsrichtung der Falten angeordnet ist, durch ein Granulationsgewebe 
ersetzt, durch das der Aufbau des Faltenstromas gestört wird. Nun sind derartige 
entzündliche Reste sehr häufig weder bei den Divertikelbildungen noch bei den 
Faltenverschmelzungen zu erheben. Das hat ja auch dazu geführt anzunehmen, daß 
es nicht die schwereren, sondern die sehr raschen und leichten Entzündungen des 
Eileiters sein sollen, die zu diesen Veränderungen führen und so leicht ablaufen, 
daß sie keine anderen Spuren der früheren Entzündung hinterlassen. Wir haben 
oben bereits auseinandergesetzt, daß wir diese Annahme für höchst unwahrscheinlich 
halten und daß wir uns nicht gut vorstellen können, wie so geringfügige Erkrankungen 
zu derart schweren bleibenden Veränderungen führen sollen. Das drängt uns also 
zu der Annahme, diese Befunde als Bildungsanomalien der Tube auf- 
zufassen. Diese Vermutung ist auch schon von früheren Untersuchern ausgesprochen 
worden. v. Franqu&'!® z. B. nennt neben den entzündlich entstandenen Epithel- 
ausstülpungen und Divertikelbildungen unter den seltneren durch congenitale Miß- 
bildungen bedingten Ursachen der Tubenschwangerschaft wiederum „Divertikel- 
bildung und nach dem Uterus zu blind endigende Gänge“. Auch Werth erwähnt 
in seiner Monographie einen Fall von Tubargravidität, den Henrothin und Herzog 
beschrieben haben, bei dem man das Ei „in einem gröberen, mit der Tube in Ver- 
bindung stehenden Blindgang“ sah, und er sagt dazu, daß es sich in diesem Falle 
„um einen groben Entwicklungsfehler, eine partielle Verdopplung der Tube“ handle. 
Daß aber solche Divertikelbildungen auch in ganz normalen Tuben vorkommen 
darauf hat Krömer! in einer sehr schönen, durch Serienschnitte und Modell- 
rekonstruktionen belegten Arbeit hingewiesen. Er fand auch an der ganz normalen 
Tube blindsackartige Ausstülpungen der Schleimhaut in einer Form, die nach seiner 
Ansicht die entzündliche Genese völlig ausschloß, und die er für sehr häufig hält. 
Immerhin könnte man auch hier wieder den Einwand erheben, daß es sich bei dem 
Befund Krömers um die Tube einer Erwachsenen gehandelt habe, bei der doch 
eben leichte Entzündungen vorausgegangen sein könnten, die keine klinischen Er- 
scheinungen gemacht hätten. Will man sich aber auf diesen Standpunkt, der durch 
nichts bewiesen ist, stellen, dann müßte man schließlich bei der Häufigkeit solcher 
Bildungen annehmen, daß fast bei jeder geschlechtsreifen Frau einmal eine Ent- 
zündung, u. zw. überaus häufig sogar eine gonorrhoische Entzündung der Eileiter 
bestanden habe. Diese Annahme ist aber selbstverständlich ohne weiteres abzulehnen. 
Es drängt deshalb auch der häufige Befund solcher blindsackförmiger Ausstülpungen, 
wie ihn Krömer nachgewiesen hat, immer wieder zu der Auffassung hin, daß es 
sich bei einem sehr großen Teil der Fälle von Divertikelbildungen nicht um Ent- 
zündungsprodukte, sondern um Abweichungen in der Anlage und Ausdifferenzierung 
der Müllerschen Gänge handelt, eine Auffassung, wie sie jüngst übrigens auch von 
Lahn!8a vertreten worden ist. Dagegen spricht auch nicht, daß man in den Tuben 
Neugeborener diese Bildungen noch so verhältnismäßig wenig gefunden hat. Die Zahl 
der untersuchten Fälle ist dafür noch zu gering. Während Robert Meyer solche 
Divertikelbildungen in der Tube Neugeborener überhaupt nicht nachweisen konnte, 
fand Schridde bei einem viermonatigen Kinde im isthmischen Teil der Tube bereits 
solche mit Schleimhaut ausgekleidete Gänge, die bis in die Muskulatur hinein- 


Die Extrauteringravidität. 159 


reichten. Die Frage, wie und wann diese Schleimhautdivertikel in der Entwicklungs- 
zeit entstehen, ist noch nicht hinreichend geklärt und bedarf noch weiterer Unter- 
suchungen. Jedenfalls zeigt ihr Nachweis bei einem viermonatigen Kinde, daß sie 
ohne eine Entzündung der Eileiter entstehen können. Das gleiche gilt auch für die 


Fig. 44. 





Schnitt durch die Tube eines neugeborenen Mädchens. Das Tubenrohr ist in eine Reihe von 
ungleichmäßigen Gängen aufgesplittert. 


Faltenverschmelzungen. So konnte Schönholz bereits an einem in unserer Klinik 
totgeborenen Mädchen das congenitale Vorkommen dieser Bildungen beweisen. 

In diesem Falle ist es im mikroskopischen Schnitt infolge des Alters des Leichen- 
präparates zu Zusammenballungen der Epithelien beim Schneiden des Präparates 


Fig. 45. 





Schematische Darstellung einer durch Operation einer Graviditas tubo-abdominalis gewonnenen graviden Tube. E = Eisitz in 

dem erweiterten Tubenpavillon. (Das Ei war zugleich zwischen den Blättern des Ligamentum latum und am Colon pelvinum 

implantiert.) D. = nach mikroskopischen Schnitten rekonstruiertes mächtiges Divertikel. Im Tubenrohr und im Divertikel be- 

standen zahlreiche Faltenverschmelzungen. Weder in der Wand, vor allem weder in der Umgebung des Divertikels und in 

seinen Wandungen noch in den Falten bestanden irgendwelche Zeichen vorausgegangener Entzündungen. 7, 2 und 3 zeigen 
die Stellen, denen die Figuren 46, 47 und 48 entsprechen. 


gekommen, so daß dadurch die Zeichnung der Epithelauskleidung der einzelnen 
Gänge etwas gelitten hat. Ganz einwandfrei geht aber dennoch daraus hervor, daß 
die typische Kanalisierung des Tubenrohres ausgeblieben ist und sich ein System 
von Kanälen gebildet hat, die wir wohl als den Anfang der im späteren Leben 
nachweisbaren Faltenverschmelzungen auffassen können. 

Beweisen solche Befunde bereits, daß beide Bildungen, Divertikel und Falten- 
verschmelzungen, ohne eine vorausgegangene Entzündung der Eileiter selbst im 
frühesten Lebensalter gefunden werden können, so lassen auch die mikroskopischen 


160 O. Pankow. 


Bilder Erwachsener vielfach eine andere Deutung als die einer Entwicklungsstörung 
gar nicht zu. Zum Beweise gebe ich den Fall einer Tubargravidität wieder, der in 
unserer Klinik operiert worden ist und in dem die schwangere Tube in überaus 
schöner Weise die ausgedehnte Divertikelbildung und die Faltenverschmelzung 


Fig. 46. 





Schnitt durch die in Fig. 45 schematisch EE $e Tube, der Linie 1 entsprechend. T. = Tubenrohr, D. = Divertikel. Die 

Divertikelwand zeigt einen anderen Bau als die Tubenwand insofern, als sie eine dem Tubenlumen fehiende Lage von innerer 

Längsmuskulatur (J. L. M.) zeigt. Nirgends Narbenbildungen als Reste eines ausgeheilten Abscesses. Im Lumen des Tuben- 

rohres und des Divertikels ausgesprochene verschmeung der ane Falten, die keinerlei Zeichen vorausgegangener Ent- 
zūndung zeigen. 


erkennen läßt, ohne daß irgendwelche Reste einer Entzündung nachweisbar sind, 
die doch mit Sicherheit nicht fehlen würden, wenn eine solche bestanden und zu 
so tief greifenden, weit in die Muscularis hinein vordringenden Veränderungen 
geführt hätte, wie die Abbildungen sie zeigen. 

In diesem Falle handelt es sich um eine Patientin, die klinisch in den letzten 
8 Jahren sorgfältigst beobachtet worden war. Niemals hatten bei der Zweitgraviden 





Schnitt durch die in Fig. 45 schematisch dargestellte Tube, der,Linie 2 entsprechend. E AE des Divertikels vom Tuben- 

lumen. G. = Grenze zwischen Tubenlumen und Divertikel, 7. = Tubenlumen, D.= Divertikel, J. L. M.= innere Längsmuskulatur, 

die hier das ganze Divertikel umgibt und teilweise auch auf das Tubenlumen übergeht. Auch hier ausgedehnte Faltenverschmel- 
zungen. Nirgends in der Wand oder in den Falten die geringsten Zeichen vorausgegangener Entzündung. 


Die Extrauteringravidität. 161 


irgendwelche Krankheiten seit den Kinderjahren bestanden, vor allen Dingen nie- 
mals irgendwelche Unterleibsentzündungen und niemals auch das geringste Zeichen 


von Fluor. Auch bei der Opera- 
tion wurden an der exstirpierten 
Tube und an den zurückge- 
lassenen Adnexen der rechten 
Seite keinerlei Zeichen einer 
vorausgegangenenEntzündung 
gefunden. 

Es ist vollkommen un- 
denkbar, daß so ausgedehnte 
Veränderungen, wie sie hier 
nachgewiesen sind, ohne klini- 
sche Erscheinungen und ohne 

histologisch nachweisbare 
Narbenbildungen entstanden 


Fig. 48. 





wären, wenn sie tatsächlich schnitt durch die in Fig. 45 schematisch Se Tube, de, Linie 3 ent- 
. . e e sprechend. 7.=Tubenlumen, D.= Divertikel, J. L. M.= innere Längsmuskula- 
mit einer Entzündung in Zu- E uin e? EL I kar an tine kine cl: ee nt as Diver- 
s el aber nach dem Tubenlumen zu als besonders kräftige Muskellage um- 

sammenhang gestanden hätten gibt. Ausgedehnte Faltenverschmelzungen im Tubenlumen und im Divertikel. 


und wenn man gar den in 
der schematischen Abbildung 


Keinerlei Zeichen vorausgegangener Entzündung, weder in der Wand noch 


in den Falten. 


wiedergegebenen Hohlgang neben der Tube auf einen ausgeheilten Absceß zurück. 


führen wollte (s. Fig. 45 —48). 


Nirgends in den ganzen Präparaten haben sich auch mikroskopisch weder in 





Querschnitt durch eine schwangere Tube, uterinwärts 
vom Sitz des Eies. 7.= Tubenlumen, D.= Divertikel, 
die besonders zahlreich bis an die Serosa heran ent- 
wickelt sind. Die Schleimhautfalten des größten Diver- 
tikels zeigen eine ausgesprochene deciduale Umwand- 
lung {= Dec.) Um das Tubenlumen herum und um die 
Divertikel (hier nur stellenweise) ausgesprochen eine 
innere Längsmuskulatur. 


den Falten noch in der Tubenwand irgend- 
welche Reste von Narbenbildungen nach- 
weisen lassen. 

Das gleiche gilt von einer anderen in 
Fig. 49 wiedergegebenen Tube. Tief in die 
Muscularis hinein, an manchen Stellen sogar 
bis an die Serosa heran, reichen hier die 
Divertikel, die zum Teil mächtig entwickelt 
sind und deren Schleimhaut teilweise eine 
ausgesprochene deciduale Umwandlung zeigt. 
Nirgends ist aber auch in dieser Tube irgend 
ein Zeichen einer vorausgegangenen Entzün- 
dung zu finden, weder in Form von Narben- 
bildungen um die Divertikel oder das Tuben- 
lumen herum, noch an den Falten des Lumens 
und der Divertikel. Eine entzündliche Erkran- 
kung der Tube, die so starke Veränderungen 
zur Folge gehabt hätte, müßte aber unbedingt 
noch andere Zeichen der vorausgegangenen 
Erkrankung tragen als die Divertikel selbst, 
wenn man diese schon auf eine Entzündung 
zurückführen wollte. 


Nach allen diesen Beobachtungen und sehr eingehenden, sorg- 
fältigen anatomischen Untersuchungen scheint unsdie letzte eigentliche 
und häufigste Ursache für das Haftenbleiben des befruchteten Eies in 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 


11 


162 O. Pankow. 


der Tube, das wir in erster Linie in den Schleimhautdivertikeln, seltener 
in den Tubenverschmelzungen sehen, doch hauptsächlich auf Entwick- 
lungsvorgängen im Eileiter und weniger auf entzündlichen Erkrankun- 
gen zu beruhen. Wie und wann diese Bildungen entstehen, das festzu- 
stellen, bedarf noch weiterer Forschungen. 

Wieweit durch entzündliche Verwachsungen, Verziehungen, Verdrehungen und 
Abknickungen vielleicht die Strom- und Bewegungsrichtung in der Tube geändert 
und dadurch das Hineingeraten des befruchteten Eies in ein schon vorher vor- 
handenes Divertikel begünstigt werden kann, das bleibe noch dahingestellt. 

Unbestritten bleibt dabei, daß entzündliche Prozesse der Tube zu Divertikel- 
bildungen und Faltenverschmelzungen führen können. Aus ihrem Vorhandensein 
allein die Diagnose einer überstandenen Entzündung der Tube zu stellen, dazu 
sind wir jedoch nicht berechtigt. Das dürfen wir nur dann, wenn wir Reste der 
vorausgegangenen Erkrankung noch nachweisen können. Da das aber in dem von 
uns untersuchten Material von Tubengraviditäten, besonders an der frisch geplatzten 
Tube, meist nicht möglich war, halten wir die Bedeutung der vorausgegangenen 
Entzündung in der Ätiologie der Tubargravidität für wesentlich geringer als die 
der nicht auf entzündlicher Grundlage entstandenen Divertikelbildungen und Falten- 
verschmelzungen. 

Bland Sutten?? hat sich einmal dahin ausgesprochen, daß eine gesunde Tube 
in viel höherem Grade zum Schwangerwerden geeignet sei als eine, die früher ent- 
zündet war. | 

Richtiger wäre es, wenn man Tuben mit Divertikelbildungen und Faltenver- 
schmelzungen, die nicht entzündlichen Ursprungs sind, doch nicht mehr als gesund be- 
zeichnen will, zu sagen: „Eine nicht entzündlich veränderte Tube gibt einen günstigeren 
Boden für die Implantation des befruchteten Eies ab als eine entzündlich erkrankte.“ 

Wir glauben darum bezüglich der Ätiologie der Tubargravidität folgende Schlüsse 
ziehen zu können. 

1. Die Tubargravidität entsteht in der Mehrzahl der Fälle dadurch, daß das 
Ei in einen Schleimhautdivertikel der Muskulatur hineingelangt. Seltener ist die 
Ursache in den Faltenverschmelzungen zu suchen. 

/ 2. Diese beiden Anomalien der Tube sind wahrscheinlich in erster Linie als 
Entwicklungsstörungen aufzufassen. 

3. Auch durch entzündliche Erkrankungen der Tube können solche Verände- 
rungen bedingt sein. 

4. Sofern diese Entzündungen gonorrhoischer Art waren, führen sie meistens 
durch Verklebung oder Verlegung des Ostium abdominale zu einem dauernden 
Verschluß der Tube und damit zur völligen Sterilität. Die Gonorrhöe spielt des- 
halb als Ursache der Eileiterschwangerschaft wahrscheinlich eine nur sehr unter- 
geordnete Rolle. 


Die Einbettung und weitere Entwicklung des Eies in der Tube. 


Die Einbettung des Eies in der Tube erfolgt ebenso wie im Uterus in der 
Weise, daß es sich zunächst an das Epithel der Schleimhaut des Lumens oder eines 
Divertikels anlegt und sich vermöge seiner histeolytischen Kraft durch die Epithel- 
decke hindurch in das darunter gelegene Gewebe einsenkt. Infolge der grundsätz- 
lichen Unterschiede im anatomischen Bau der Uterus- und Tubenschleimhaut ist 
aber die eigentliche Nestbildung des Eies und seine Weiterentwicklung in der Tube 
eine ganz andere als im Uterus. 


Die Extrauteringravidität. 163 


Im Uterus liegen die Dinge bekanntlich so, daß sich die bereits im Prämenstruum stark 
rk Schleimhaut unter dem Reiz des befruchteten Eies immer mächtiger verdickt. Die 
chleimhaut erfährt ihre deciduale Umwandlung, und man kann nun besonders deutlich an ihr eine 
dem Cavus zugewandte kompakte und eine der Muscularis zugewandte spongiöse Schicht unter- 
scheiden. In die kompakte Schicht der Mucosa senkt sich bei der intrauterinen Gravidität das Ei 
hinein und in ihr bleibt es bei seiner ganzen weiteren Entwicklung auch liegen. Niemals greift das 
Eibett unter normalen Verhältnissen auf die Muskulatur des Uterus über. Nur da, wo infolge vor- 
EUER RENT Entzündungen oder Vernarbungen (z. B. Kaiserschnittnarbe im Corpus uteri) die 
Schleimhaut ein anormales Verhalten zeigt, oder wo sie wie gelegentlich in den Tubenecken und 
vor allen Dingen in dem Isthmus uteri von Hause aus in manchen Fällen eine kümmerliche Ent- 
wicklung zeigt und decidual nicht so reaktionsfähig ist wie sonst, sehen wir auch, daß das Ei über 
die Grenze der Mucosa hinaus bis in die Muscularis hinein vordrängt. 


Bei der Tube dagegen ist diese Schichtung der Schleimhaut nicht vorhanden 
und eine mangelnde deciduale Reaktionsfähigkeit physiologisch. Darum ist auch 
die Mucosa der Tube nicht im stande, gleichgültig, ob sie das Lumen oder die 
Divertikel auskleidet, allein das Bett 
für das Ei abzugeben. Die Bildung 
einer Decidua fehlt demgemäß auch 
bei der Tubenschwangerschaft in dem 
Eileiter fast vollkommen oder tritt nur 
ausnahmsweise zuweilen herdförmig, 
selten in ganzer Ausdehnung der 
Tubenschleimhaut auf. Wir selbst 
sahen sie einmal in einer mit zahl- 
reichen Divertikeln versehenen Tube 
in einzelnen dieser Divertikel sehr 
deutlich ausgebildet, während sie in 
den durchmusterten Schnitten des 
Lumens und in anderen Schnitten 
vollkommen fehlten. Jedenfalls ist die 
deciduale Reaktion der Mucosa, selbst 
wenn sie am Orte der Eianlagerung Columnare Einbettung (nach Kreisch). Das Ei sitzt in einer großen 
auftritt, niemals derart mächtig, daß sie Falte, die Tubenwand Se Gel dE E geblieben von der 
im stande wäre, allein das Eibett ab- 
zugeben. Stets durchbricht deshalb das Ovulum die Schleimhaut und senkt sich 
kraft seiner gewebeauflösenden Eigenschaft in die Muskulatur selbst ein. Auch 
in den Fällen, wo das Ei die seltenere, von Werth als „columnare“ bezeichnete 
Einbettung zeigt und in einem dicken Faltenstamm zur Haftung kommt, durch- 
bricht es die Epitheldecke und kommt in einer Stromafalte zur Entwicklung. Einen 
derartigen Fall von besonderer Schönheit hat Kreisch?! beschrieben, den ich hier 
in der Figur wiedergebe (s. Fig. 50). Er ist interessant auch deshalb, weil er in 
dem Durchschnitt noch eine Reihe von Schleimhautdurchschnitten erkennen läßt, 
so daß wir annehmen können, daß die Haftung des Eies auch hier durch das 
Hineingeraten in einen Gang dieser dicken Schleimhautfalten entstanden ist. Diese 
Art der columnaren Einbettung Werths tritt aber weit zurück hinter der ge- 
wöhnlichen . Einbettung innerhalb der Muscularis. Wie tief das Ovulum hierbei 
in die Muskulatur selbst hineingelangt, das hängt von der Art der Implantation 
ab. Früher nahm man an, daß sich das Ei zwischen zwei Falten an die Schleim- 
haut des Lumens irgendwo anlege (die intercolumnare Implantationsart) und sich 
nun von hier aus mehr oder minder tief in die Muscularis hineingrabe. Diese 
Auffassung besteht unseres Erachtens für die Mehrzahl der Fälle wohl nicht. Wir 
glauben vielmehr, wie schon gesagt, daß die meisten Tubargraviditäten dadurch 

11* 





164 O. Pankow. 


entstehen, daß das Ei unter Benutzung eines Schleimhautdivertikels von vornherein 
in das Gebiet der Muskulatur hineingelangt und deshalb, sobald es die dünne 
Epithelschicht dieses Divertikels durchbrochen hat, sofort innerhalb der Muskulatur 
liegt. Nur dadurch, daß man das Hineinmünden des Anfangsteiles solcher Divertikel 
in das Eibett hinein verfolgt, kann man dann noch die ursächlichen Zusammen- 
hänge dieser Bildungen zur Implantation erkennen. Wir möchten deshalb bei der 
Tubargravidität 3 Implantationsarten unterscheiden: 

1. die Divertikelimplantation, 

2. die intercolumnare und 

3. die columnare Implantation. 

Da die Divertikel oft nur bis in die inneren Lagen der Muskulatur hinein- 
reichen und oft auch, wenn sie tiefer hineingehen, so eng sind, daß sie ein weiteres 
Vordringen des Eies verhindern, so ist es kein Wunder, daß das Ei in der 
Tubenwand häufig so gelegen ist, daß die Schicht, die es nach dem Tubenlumen 
hin begrenzt, dünner ist als die nach der Serosa zu gelegene. Mit fortschreitendem 
Wachstum des Eies drängt es sich dann nach dem Lumen zu weiter vor und plattet 
das Lumen so ab, daß es wie eine Sichel dem intramuskulären Ei aufliegt. Dabei 
muß gleichzeitig, um Raum für das wachsende Ei zu gewinnen und die Eihülle zu 
vergrößern, die Muskulatur der Tube in einem größeren Umfange zerstört ‚werden. 
Diese zerstörende Wirkung ist nicht etwa nur eine dem Tubenei anhaftende Eigen- 
schaft, sondern sie kommt auch bei der physiologischen Haftung des Eies im Uterus 
in gleicher Weise zur Auswirkung. Während sich hier aber diese zerstörende Tätig- 
keit auf die Schleimhaut beschränkt und die Muskelwand völlig intakt läßt, muß 
die Raumgewinnung bei dem Wachstum des Tubeneies auf Kosten der Muscularis 
erfolgen. 

Inder Entfaltung derphysiologischenKräftedesEies am ungeeigneten 
Ort liegt das Verhängnis der Tubargravidität, und allein dadurch werden 
die Bedingungen für die klinischen Erscheinungen geschaffen, die den 
gewöhnlichen Ausgang der Tubargravidität bilden. Hat sich das Ei inmitten 
der Muskulatur eingebettet, sei es von einem Divertikel aus, sei es auch intercolumnar 
vom Lumen der Tube aus, so ist es nach der Serosa und nach der Mucosa der 
Tube hin von einer mehr oder minder dicken Gewebslage eingehüllt. Die meist 
dünnere innere Bedeckung wird gewöhnlich von einer dünnen Muskelplatte und der 
Mucosa, die äußere von einer dickeren Muskelplatte und der Serosa gebildet. Da 
zunächst, wie auch bei der physiologischen Haftung des Eies am Uterus, die 
Trophoblastschale allseitig rings um das ganze Ei herum in Wucherung gerät und 
die Zotten des Eies damit nach allen Seiten hin vordringen und zur Bildung des 
intervillösen Blutraumes und zur Eröffnung mütterlicher Gefäße führen, so wird 
deshalb auch die schützende Schale des Eies nach allen Seiten hin mehr oder minder 
ausgiebig zerstört. Gerade in der lumenwärts gelegenen dünneren Wandlage findet 
man dann an Stelle der ursprünglichen Wandbestandteile oft nur noch ein nekro- 
tisches, fibrinös entartetes Gewebe, das bei weiterem Wachstum des Eies den Dehnungs- 
ansprüchen nicht genügt und deshalb zerreißt. Diesen Vorgang der Zerreißung des 
nach dem Tubenlumen hin gelegenen Anteils der Fruchtschale hat man als den 
inneren Fruchtkapselaufbruch bezeichnet. Man versteht also darunter das, was klinisch 
früher unter dem Namen tubarer Abort bekannt war. Sitzt das Ei in dem engen, 
nach dem Uterus zu gelegenen Teil der Pars isthmica der Tube, dann sieht man 
nicht selten, wie die in das enge Lumen durchbrechenden Zotten sich in die gegen- 
überliegende Wand des Lumens wieder einsenken und wie so allmählich das ganze 


Die Extrauteringravidität. 165 


enge Tubenlumen mit in das Eibett hineingezogen wird. Man kann dann, wenn 
man ein solches Eibett in Serienschnitten untersucht, sehen, wie das Schleimhautrohr 
vom abdominellen Ende her frei in das Eibett mündet, im Gebiete des Eibettes 
unterbrochen ist und uterinwärts wieder wohlerhalten weiterverläuft. 

Ebenso wie nach innen wird aber auch bei dem allseitigen Vordringen der 
Zotten und fötalen Zellen die Tubenwand nach den Seiten und der Serosa hin 


Fig. 51. 





Querschnitt durch eine schwangere Tube im Bereich des Eibettes (E.). Das Tubenlumen (7.) ist plattgedrückt. 


zerstört. Macht man Längs- und Querschnitte durch eine solche Tube, so sieht man, 
wie das Ei sich ganz oder größtenteils außerhalb des meist plattgedrückten Tuben- 
lumens in der Muskulatur entwickelt hat (s. Fig. 5l und 52). In seltenen Fällen kann 
sich das Ei sogar circulär innerhalb der Muskulatur vollkommen um das Tuben- 
lumen heraus ausdehnen und so buchstäblich die Mucosa mit einer inneren Muskel- 
schicht von der Serosa mit der äußeren Muskelschicht abspalten (s. Fig. 53). Dabei 


Fig. 52. 





Längsschnitt durch eine schwangere Tube (schematisch) E.- E,.=Eibett, das ganz außerhalb des Tubenlumens 7.—-T.; in der 
Wand der Tube gelegen ist. 


dringen die Zotten und fötalen Zellen, wie gesagt, nicht bloß nach dem Lumen, 
sondern auch nach der Serosa zu vor. Aschoff hat darauf hingewiesen, wie bei 
diesem Vordringen der Zotten die Serosa vielfach durchbrochen und wie der Bauch- 
fellüberzug mit allerfeinster Perforation siebartig durchlöchert werden kann (sog. 
miliare Perforationen). Diese Durchbruchstellen sind aber so fein, daß sie zunächst 
klinische Erscheinungen gar nicht hervorzurufen brauchen, umsoweniger, als sich 
infolge des Reizes der vordringenden Zotten Ausschwitzungen und fibrinöse Auf- 
lagerungen bilden, die die so entstehenden feinen Lücken gewissermaßen prophy- 


166 O. Pankow. 


laktisch wieder zudecken. Diese Veränderungen der Serosa, mit denen durch den 
Reiz der vordringenden Zotten nicht selten auch Einstülpungen und cystische Erwei- 
terungen des Serosaepithels in die Tubenwand hinein verbunden sind, wurden früher, 


Fig. 53. 





Querschnitt durch die schwangere Tube im Bereich des Eibettes (nach Füth). Das Ei (E.) hat sich so unterhalb der Muskulatur 
um das Tubenlumen (T.) herum entwickelt, daß das Tubenlumen mit einer inneren Muskellage von der äußeren Muskellage 
und der Serosa wie abgesplittert erscheint. 


worauf wir oben schon hingedeutet haben, nicht selten als sichere Zeichen einer 
vorausgegangenen Entzündung gedeutet. Sie haben aber damit gar nichts zu tun, 
sondern sind erst infolge der Reizwirkung des implantierten Eies in der Tube ent- 


Fig. 54. Fig. 55. 





Äußerer Fruchtkapselaufbruch. Aus dem Riß ragen Blutkoagula 
(B.) und Zotten (Z.) heraus. 


standen. Diese vielfachen sog. miliaren 
Perforationen, die man auch als ver- 
borgene Ruptur bezeichnet hat und 
die auch in der inneren Fruchtkapsel in 
der gleichen Weise gefunden werden, 
haben eine sehr große klinische Bedeu- 
be Dome ett äm, äu (UNE. Sie sad es die ert de Haupt- 
i ' “in die Bauchhöhle hineinhängen. Ingung für den Zustand bilden, den 

wir als den äußeren Fruchtkapselaufbruch 
bezeichnen (s. Fig. 54 und 55). Die letzte auslösende Ursache für die ausgedehnten 
Zerreißungen, die besonders bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch, der sog. 
Tubenruptur, so stürmisch in die Erscheinung treten, ist ja häufig in anderen 





Die Extrauteringravidität. 167 


Dingen zu suchen. Wird z. B. durch starkes Pressen bei der Defäkation oder 
bei schwerer Arbeit der Blutdruck in dem zarten intervillösen Raume oder in 
den bereits schwer veränderten Gefäßen der Tubenwand erhöht, oder eröffnen die 
vordringenden Zotten ein größeres Gefäß, und kommt es dadurch zu einer plötz- 
lichen starken Blutung in das Ei hinein, so können diese Dinge ganz unerwartet 
die Eikapsel in größerem Umfange zersprengen. Die eigentliche tiefere Ursache, 
die die Vorbedingung für solche katastrophalen Rißblutungen schafft, 
liegt aber in der Art der Implantation und im Wachstum desEies, dessen 
Zellelemente die Muskelwand in ausgiebiger Weise vorher zerstört haben. 
Wie schon erwähnt, kann dabei die Fruchtkapsel nach innen, nach dem Tubenlumen, 
oder nach außen, nach der freien Bauchhöhle zu, zerreißen, und es kann zum inneren 
Fruchtkapselaufbruch, Tubarabort, oder zum äußeren Fruchtkapselaufbruch, zur Tuben- 
ruptur, kommen. 

In jedem Falle ist der Fruchtkapselaufbruch, ob er nun nach innen (Tubarabort) 
oder nach außen (Tubenruptur) erfolgt, mit Blutungen verbunden. Die Art, wie 
diese Blutungen verlaufen und klinisch in die Erscheinung treten, ist aber gewöhn- 
lich bei beiden Arten eine sehr verschiedene. Man kann sagen, daß der innere 
Fruchtkapselaufbruch meist mit leichteren und oft über Wochen sich ausdehnenden 
Blutabgängen, die Ruptur dagegen gewöhnlich mit einer heftigen stürmischen 
Blutung verbunden ist. Die Ursache für diese Verschiedenheiten liegt in den anato- 
mischen Verhältnissen. Der bei der Implantation des Eies in der Tube, ebenso wie 
im Uterus gebildete intervillöse Raum tritt zur weiteren Ernährung des Eies mit 
der mütterlichen Blutbahn in Verbindung. Die Ausbildung. der mütterlichen Gefäße 
ist nun in den submukös gelegenen Schichten der Tubenmuskulatur und in der 
Schleimhaut, die bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch durchbrochen werden, eine 
wesentlich geringere als. in den äußeren Schichten der Tubenwand, die die größeren 
Gefäße führen. Wird nun die innere Kapsel allmählich durch die vordringenden 
Zotten nach dem Tubenlumen hin zerstört, so kommt es meist zunächst nur zu 
geringfügigem Blutaustritt. Das Blut kann dabei zum Teil durch den Uterus nach 
außen, zum Teil durch das abdominelle Tubenende in die Bauchhöhle fließen und 
zum Teil kann es auch im Tubenlumen liegen bleiben und gerinnen. Dann bildet 
es, besonders wenn es noch in festere Verbindung mit der Schleimhaut tritt, gewisser- 
maßen einen Pfropf, der die Durchbruchstelle abdecken hilft. Dazu kommt, daß die 
gegenüberliegende Wand der Tube einen Gegendruck auf die ins Lumen vorspringende, 
der Zerreißung am meisten ausgesetzte Eikapsel ausübt und dadurch ebenfalls einen 
gewissen Schutz bildet. Dementsprechend sehen wir auch, daß sich die Blutungen 
bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch meist wochenlang mehr oder minder stark 
wiederholen und so allmählich zu schubweisen Blutungen nach außen oder innen 
führen. Kommt es dabei nun durch Eröffnung größerer und besonders auch arterieller 
Gefäße neben der Zerreißung des intervillösen Raumes zu einem stärkeren Blut- 
erguß in die Eihöhle hinein, so kann die plötzliche Drucksteigerung die nach dem 
Tubenlumen hin gelegene Eikapsel in größerem Umfange sprengen. Hierbei kann 
dann das Ei teilweise oder ganz aus seinem Bett herausgerissen werden und in das 
Tubenlumen gelangen, wenn es nicht sofort in die Bauchhöhle gedrängt wird. Da 
aber die Zotten bei der Tubarimplantation des Eies tief in die Muskulatur der 
Wand vordringen, so ist auch in solchen Fällen die Ausstoßung so gut wie niemals 
eine vollständige, sondern es bleiben auch in solchen Fällen immer noch abgerissene 
Zottenreste in der Tubenwand zurück, durch deren histologischen Nachweis man 
oft noch lange danach die alte Haftstelle des Eies in der Tube erkennen kann. Für 


168 O. Pankow. 


gewöhnlich aber wird das gelöste Ei nicht sofort in die Bauchhöhle hinaus- 
geschleudert, sondern es bleibt zunächst ganz oder teilweise im Tubenlumen hängen, 
während die Eikapsel selbst durch ein Hämatom 
ausgefüllt wird. Um die abgelösten Eiteile herum 
lagert sich dann meist ebenfalls das Blut ab und 
hüllt so allmählich das Ei vollkommen ein, das 
schließlich in einer aus Blutgerinnsel und Fibrin 
gebildeten Schale liegt. Durch eine derartige 
Umbildung wird dann die schwangere Tube 
allmählich zu einem deutlich tastbaren Tumor 
umgewandelt (s. Fig. 56). Man hat dieses Häma- 
tom, in dessen Centrum man dann beim Durch- 
schneiden nicht selten das abgestorbene, nun 
teilweise schon zu grunde gegangene Ei finden 
kann, als „Blutmole“ bezeichnet. Wenn sich 

diese Blutmole allmählich eindickt und den 
Schwangere ee rau en  Blutfarbstoff zum Teil verloren hat, so bekommt 

sieein mehrrosafarbiges Aussehen und wird dann 
als „Fleischmole“ bezeichnet. Eine solche Blut- oder Fleischmole schließt jedoch das 
Tubenlumen fast niemals vollständig ab, vielmehr kann sich neben ihr das Blut weiterhin 


Fig. 56. 





Fig. 57. 





Hämatocele retrouterina, U.= Uterus, l. T.=linke schwangere Tube, /. Ov.= linkes Ovarium, r. T.— rechte Tube, r. Ov.= rechtes 
Ovarium, #.= Hämatocelensack, der durch zahlreiche Adhäsionen mit der schwangeren Tube, dem linken Ovarium, Uterus und 
Därmen verklebt ist. (Nach Döderlein-Krönig: Operative Gynäkologie.) 


nach außen und innen ergießen. Infolge dieser andauernden Blutungsnachschübe in 
die Bauchhöhle hinein bildet sich eine mehr oder minder große Blutansammlung, die ge- 
wöhnlich in der tiefsten Peritonealaussackung zwischen Uterus und Rectum, im Douglas- 
schen Raume gelegen ist und als Haematocele retrouterina bezeichnet wird (Fig. 57). 


Die Extrauteringravidität. 169 


In seltenen Fällen, bedingt durch die Lage der schwangeren Tube, findet sich diese 
Blutung auch in der flachen Peritonealaussackung vor dem Uterus (Hameatocele anteute- 
rina) und noch seltener um die Tube herum (Haematocele peritubaria). Wodurch es 
kommt, daß das anfangs doch nur in kleinen Schüben ausgetretene Blut nicht sofort vom 
Peritoneum resorbiert wird, wie man das bei anderen intraabdominellen Blutungen 
und bei experimentell und therapeutisch eingeführtem Blut beobachtet hat, ist 
noch ungeklärt. Ob die Ursache darin zu suchen ist, daß das Blut, das viel- 
leicht auch mit Gewebsfetzen untermischt ist, teilweise schon in geronnenem 
Zustande in die Bauchhöhle hineingelangt, oder ob es daran liegt, daß das 
Douglasperitoneum gegenüber dem Peritoneum der oberen Bauchhöhlenabschnitte 
eine geringere Resorptionsfähigkeit besitzt, das bleibe dahingestellt. Über dieser im 
Douglas erfolgten Blutansammlung bildet sich dann gewöhnlich — nach Werth zu- 
meist von dem Bauchfell der schwangeren Tube aus — eine Abdachung, die die 
Blutansammlung mehr oder minder fest von der freien Bauchhöhle abschließt und 
in die das abdominelle Ende der schwangeren Tube selbst hineintaucht. Diese 
Abdachung der Hämatocele kann aber auch dadurch erfolgen, daß sich Dünndarm, 
Dickarm oder Netz dem Bluterguß auflegen und in feste Verbindung untereinander 
und mit ihnen treten und so einen vollkommen festen Abschluß nach oben bilden. 
In der Wand dieser abdeckenden Organe und ebenso auch an der Hinterwand des 
Uterus, der Scheide, der Ligamenta lata, in der Vorderwand des Rectums und 
an der Auskleidung der seitlichen Beckenwände bildet sich rings um den Erguß 
herum eine ausgesprochene, oft sehr derbe und mit dem Organ festverwachsene 
Kapsel, die manchmal nur mit Mühe und oft gar nicht von ihnen abzuziehen ist. 
Dieses nach oben hin abschließende Dach bildet einen verhältnismäßig großen 
Schutz bei stärkeren Blutungen in den Hämatocelensack hinein. Es kann allerdings 
auch vorkommen, daß bei einer besonders starken Nachblutung das abschließende 
Dach zersprengt wird und dann eine schwere, selbst tödliche Blutung in die freie 
Bauchhöhle hinein erfolgt. In solchen Fällen kann dann klinisch das Bild des 
äußeren Fruchtkapselaufbruches, der Tubenruptur, ganz unerwartet zu dem des 
inneren Fruchtkapselaufbruches, des Tubarabortes, hinzutreten. Gleichzeitig muß aber 
auch betont werden, daß die Entstehung einer großen Hämatocele durch inneren 
Fruchtkapselaufbruch nicht davor schützt, daß die weiter wachsenden Zotten die 
Serosa nach außen hin durchbrechen und daß so auch anatomisch eine Tuben- 
ruptur zu dem bereits erfolgten tubaren Abort hinzukommen kann. 

Eine besondere Form der Hämatocelenbildung, die noch nicht erwähnt worden 
ist, ist die intraligamentäre Hämatocele, bei der die Blutansammlung zwischen den 
Blättern des Ligamentum latum zu finden ist. Bei ihrer Entstehung kann es sich 
einmal darum handeln, daß der äußere Fruchtkapselaufbruch, d. h. die ZerreißBung 
der äußeren Wandschichten, an der nicht mehr von der Serosa überkleideten Stelle 
der Tubenbasis erfolgt und nun das Blut in das lockere Gewebe der Mesosalpinx 
hineintritt, die Blätter auseinanderdrängt und zu einer mehr oder minder großen 
Blutansammlung führt. Es kann die Blutung aber auch dadurch entstehen, daß die 
Zotten bei ihrem Vordringen die Grenzen der Tube überschreiten, in die Mesosal- 
pinx hineingelangen und die hier liegenden Gefäße arrodieren und dadurch den 
großen intraligamentären Bluterguß herbeiführen. 

Anders wie bei dem inneren ist dagegen der Hergang gewöhnlich bei dem 
äußeren Fruchtkapselaufbruch, obwohl die eigentliche Ursache die Zerstörung der 
die Eiskapsel nach der Bauchhöhle zu umhüllenden Muskulatur und Serosa durch 
die fötalen Zellen in ganz gleicher Weise erfolgt wie die Zerstörung der inneren 


170 O. Pankow. 


Fruchtkapsel. Wir erwähnten bereits, wie durch das Vordringen der Zotten die 
Serosa oft siebartig durchlöchert wird und wie sich unter dem Reiz der vordringen- 
den fötalen Zellen das Peritoneum verdickt und durch fibrinöse Ablagerungen über 
dem Eibett verstärkt hat.. An der Außenseite der Tube fehlt jedoch der Gegendruck 
der gegenüberliegenden Tubenwand wie bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch 
und festhaftender Blutgerinnsel, von deren schützender Wirkung beim inneren 
Fruchtkapselaufbruch wir oben gesprochen haben. Frei und ungeschützt liegt viel- 
mehr die Serosa da. Ist nun die äußere Deckschicht durch die zerstörende Tätig- 
keit der Zotten schon weitgehend geschwächt und tritt dann eine plötzliche 
Drucksteigerung in der Eihöhle ein, so wird die äußere Kapsel für gewöhnlich 
weitgehend aufgesprengt und das Blut ergießt sich aus den größeren zerrissenen 
Gefäßen frei in die Bauchhöhle hinein. Hierbei wird die Frucht und oft auch 
das Ei mit aus seinem Bett herausgerissen und teilweise oder vollständig in die 
Bauchhöhle hineingetrieben. Eine solche plötzliche Drucksteigerung kann allein 
durch Arrosion eines größeren Gefäßes und die dadurch erfolgte Blutung in 
das Eibett bedingt sein. Die Zerreißung der Gefäße kann aber auch durch Er- 
höhung des intraabdominellen Druckes bei starken körperlichen Anstrengungen, bei 
erschwerter Defäkation oder durch Druck oder Schlag auf den Leib entstehen. 
Alle diese Dinge können also gelegentlich die auslösende Ursache des äußeren 
Fruchtkapselaufbruches bilden. Die Hauptvorbedingung aber — das sei noch einmal 
ausdrücklich betont — wird durch die zerstörende Tätigkeit des Eies selbst geschaffen, 
die schon vorher die Muskulatur und die Serosa in weitgehendem Maße zerfressen 
hatte. Es ist deshalb auch in manchen Fällen der äußere Fruchtkapselaufbruch an 
mehreren Stellen zugleich beobachtet worden. 

Ebenso aber, wie der innere Fruchtkapselaufbruch gelegentlich unter dem 
Bilde der Tubenruptur, so kann ausnahmsweise auch der äußere Fruchtkapselauf- 
bruch unter dem Bilde des Tubarabortes verlaufen. Wenn z. B. bei dem äußeren 
Fruchtkapselaufbruch nicht gerade ein großes Gefäß verletzt ist, so können lang- 
same, schleichende Blutaustritte die Folge sein und die Blutmassen ‚können sich 
dann um das Tubenrohr herum ansammeln und so zur Entstehung der bereits 
erwähnten seltenen Hämatocele peritubaria führen. Im übrigen ist die Schwere 
der Blutung nicht abhängig von der Größe des Loches, das bei der Ruptur gesetzt 
wird, sondern davon, ob die Ruptur durch Arrodierung eines größeren Gefäßes 
erfolgt ist oder ob beim Platzen der Wand gerade ein größerer Ast getroffen ist. 

Die bisher eingehend beschriebenen Vorgänge stellen den gewöhnlichen Aus- 
gang der meist in der 6.— 12. Woche zur Unterbrechung gelangenden Tubargravi- 
dität dar. Im allgemeinen erfolgt die Beendigung der Gravidität um so früher, je 
näher das Ei in dem engeren, isthmischen Teil der Tube der Uteruskante zu ge- 
legen ist. Doch sind auch andere Ablaufmöglichkeiten gegeben. Zunächst einmal 
kann eine Tubargravidität schon verhältnismäßig früh, und ohne daß sich die bisher 
beschriebenen weitgehenden Veränderungen bilden, zur Spontanausheilung kommen. 
Eine Reihe von Autoren haben über Befunde berichtet, die sie gelegentlich anderer 
Operationen als Zufallsbefunde erheben konnten, und die ganz einwandfrei die Aus- 
heilung einer Tubargravidität erkennen ließen. Wir selbst fanden z. B. bei der 
Operation eines äußeren Fruchtkapselaufbruches in der anderen Tube einen hasel- 
nußgroßen Knoten, der ganz wie eine junge Schwangerschaft aussah und zur Ent- 
fernung der Tube Veranlassung gab. Die histologische Untersuchung ließ in der 
Tat Zotten erkennen, die aber schon abgestorben und mehr oder minder vollständig 
verkalkt waren, während von der Frucht selbst nichts mehr zu finden war. Solche 


Die Extrauteringravidität. 171 


Spontanausheilungen können dann entstehen, wenn schon in einem sehr frühen 
Entwicklungsstadium des Eies eine stärkere Blutung in die Eihöhle hinein erfolgt 
war, die zwar das Ei aus seinem Verbande mit dem Mutterboden losgelöst und 
zum Absterben gebracht, aber nicht ausgereicht hatte, die noch verhältnismäßig 
wenig geschwächte Fruchtkapsel nach innen oder nach außen hin zu durchbrechen. 
Wie häufig eine Tubargravidität auf diese Weise beendet werden kann, ist auch 
nicht einmal schätzungsweise anzugeben. Vielleicht aber finden doch mehr 
Extrauteringraviditäten auf diese Weise ihr Ende, als man bei der Spär- 
lichkeit derart veröffentlichter Fälle anzunehmen berechtigt ist. 

Ein häufigerer Ausgang der Tubenschwangerschaft als dieser ist der, daß die 
Gravidität nicht in der 6.— 12. Woche unterbrochen wird, sondern einen längeren 
Bestand hat und selbst bis zum normalen Ende der Schwangerschaft ausgetragen 
werden kann. Mitteilungen über Tubargraviditäten mit lebenden Früchten am Ende 
der Zeit sind durchaus keine Seltenheit. Wird der Zustand richtig erkannt, so können 
dann auch lebende und lebensfähige Kinder durch Operation geboren werden. Bei 
solchem längeren Fortbestehen der Tubargravidität sind zwei Möglichkeiten gegeben. 
Entweder liegt die Frucht nach wie vor in dem geschlossenen Tubensack, oder sie 
ist durch das abdominelle Ende der Tube oder durch eine Usurstelle der Wand 
in die Bauchhöhle ausgetreten. Wird die Tubenschwangerschaft überhaupt bis in 
die späteren Monate oder gar bis ans Ende ausgetragen, dann handelt es sich 
meistens um eine Implantation des Eies in dem ampullären Teil der Tube. 
Werth sieht die Ursache dafür in dem Umstand, „daß die größere Weite dieses 
Tubenabschnittes allein die Möglichkeit bietet, daß der Eikörper sich in das Lumen 
hinein entwickelt und das Tubenrohr dem steigenden Raumbedürfnis entsprechend 
allseitig erweitert“. Demgegenüber muß jedoch betont werden, daß es bisher noch 
unbewiesen ist, daß in solchen Fällen stets oder doch nur meistens eine Hinein- 
entwicklung der Frucht in das Tubenlumen erfolgt ist. Es ist durchaus möglich — 
und dieser Punkt müßte in solchen Fällen noch genauer erforscht werden —, daß 
auch trotz ausgetragener Schwangerschaft das Ei entsprechend seiner Entwicklung 
in einem Divertikel außerhalb des Lumens der Tube liegen bleibt und daß dieses 
irgendwo bei genauer Durchsicht der Präparate als feiner Spalt neben der Eihöhle 
gefunden wird. Dann aber sind auch im isthmischen Teil der Tube Schwanger- 
schaften in späteren Monaten und selbst ausgetragene Öraviditäten beobachtet 
worden. Immerhin besteht die Tatsache, daß ausgetragene Tubargraviditäten weit 
häufiger im ampullären als im isthmischen Teil der Tube ihren Sitz haben. Sowohl 
im ampullären wie im isthmischen Teil der Tube sind sie indessen nur denkbar, 
wenn zu der rein mechanischen Dehnung der Wand durch das wachsende Ei ein 
echtes Wachstum der Muskulatur hinzukommt. Das ist auch tatsächlich der Fall, 
und ohne das würde die dünne Tubenwand nicht im stande sein, der ungeheuren 
Dehnung standzuhalten, die durch das Wachstum der Frucht bis ans Ende der 
Schwangerschaft bedingt ist. Warum nun in den meisten Fällen selbst in dem 
geräumigen und besser dehnungsfähigen ampullären Teil der Tube die Gravidität 
doch für gewöhnlich durch inneren oder äußeren Fruchtkapselaufbruch in den 
ersten Monaten unterbrochen wird und warum andererseits selbst in dem schlecht 
dehnungsfähigen und engen Isthmus gelegentlich eine Gravidität unter Beibehaltung 
der Tube als Eisack ausgetragen werden kann, das ist noch nicht geklärt. Sehr 
beachtenswerte Befunde zur Klärung dieser Dinge hat Lichtenstein? gegeben. 
Er konnte zwei Fälle von Tubargravidität mit ausgetragener Frucht beobachten, bei 
denen jedesmal die Entwicklung der Placenta nach der Mesosalpinx hin erfolgt 


172 O. Pankow. 


war. Er ließ nun aus der Literatur die Fälle von Tubargravidität aus der zweiten 
Hälfte der Schwangerschaft zusammenstellen und fand die gleiche Implantationsart 
der Placenta nach der Mesosalpinx zu in 90% aller Fälle. Auch Lichtenstein 
betont die Wichtigkeit der histeolytischen Wirkung der fötalen Zellen für die Ent- 
stehung der inneren und äußeren Fruchtkapselaufbrüche. Er meint aber, daß die 
Frage, wann und wo diese Ereignisse erfolgten, im wesentlichen von der Art und 
dem Ort der Placentarbildung in der Tube abhängen. 

Denkt man sich das Tubenrohr, wie es in dem beigegebenen Schema zu 
sehen ist (s. Fig. 58 und 59), in 4 Quadranten eingeteilt, von denen der eine nach 
der Mesosalpinx, der andere nach dem entgegengesetzten Teil der Tube, die beiden 
anderen nach den Seiten gerichtet sind, so kann man sich das Ei in jedem der- 
. selben entwickelt vorstellen. Hierbei sind nun jedesmal zwei Möglichkeiten gegeben. 
Die Entwicklung der Placenta kann zentripetal (s. Fig.58) oder centrifugal (s. Fig. 59) 


Fig. 58. 





$ e 
un 
e e rm mm e mm mm mm 


lôn. lr: M. Lon, 


lr M 
Zentripetale Implantation des Eies in der Zentrifugale Implantation des Eies in der 
Tube (nach Lichtenstein). U. = Ute- Tube (nach Lichtenstein). U. = Ute- 
rus, /.z = Ligamentum rotundum, M. = rus, /.r.= Ligamentum rotundum, M. = 
Mesosalpinx, 4. O p.= Ligamentum Mesosalpinx; / O.p.=Ligamentum ovarii 
ovarii proprium, 7. = Tubenlumen. proprium, 7. =Tubenlumen, b J.= 


basiotrope Implantation. 


gerichtet sein. In allen Fällen von zentripetaler Entwicklung der Placenta, meint 
Lichtenstein, sei die Neigung zum inneren Fruchtkapselaufbruch und damit zum 
tubaren Abort groß. Wenn es nicht dazu kommt, sondern sich die Placenta um 
das Lumen herum oder durch das Lumen hindurch, ohne daß es dabei zum Tubar- 
abort kommt, in die gegenüberliegende Seite hin entwickelt, so sei die Einnistung 
in dem oberen Quadranten am günstigsten, weil sich die Placenta dann nach der 
Mesosalpinx hin entwickeln und hier reichlich Raum zur weiteren Entfaltung finden 
könne. Entwickelt sich die Placenta zentrifugal, so sei die Ansiedlung im unteren 
Quadranten nach der Mesosalpinx, also nach der Basis der Tube, am günstigsten. 
Diese Art der Entwicklung, dieLichtenstein als die basiotropelmplantation 
bezeichnete, (Fig.59 b.J.) ist es nun, die er in 90% der Fälle von langer oder 
ausgetragener Gravidität nachweisen konnte. Es wird weiterer Nachprüfun- 
gen bedürfen, um festzustellen, ob diese Erklärung Lichtensteins zu Recht besteht. 
Zu Bedenken hinsichtlich der Lichtensteinschen Behauptung könnte vielleicht 
der Punkt Veranlassung geben, daß im unteren Quadranten die Gefäßentwicklung 
am größten ist und daß gerade die Arrosion solcher Gefäße zu Blutungen und 





Die Extrauteringravidität. 173 


zur frühzeitigen Beendigung der Schwangerschaft Veranlassung geben könnte. 
Andererseits aber läßt sich auch nicht bestreiten, daß gerade die Anwesenheit 
größerer Gefäße die Bildung des intervillösen Raumes erleichtert und dadurch sehr 
günstige Bedingungen für die weitere Entwicklung der Frucht bietet. Jedenfalls ist 
es, wie gesagt, bemerkenswert, daß Lichtenstein aus den Fällen der Literatur in 
00% eine derartige basiotrope Implantation nachweisen konnte. 

Das Verhalten des Fruchtsackes zu dem Uterus ist in solchen Fällen weiter 
bestehender Tubenschwangerschaft ein verschiedenes. Bleibt die Frucht allseitig von 
der Tube umgrenzt, so schiebt sich der vergrößerte Fruchtsack in die freie Bauch- 
höhle hinauf und hängt verhältnismäßig schmal gestielt am Uterus, der durch ihn 
nach unten und nach der entgegengesetzten Seite verdrängt wird. Hat die Placenta- 
tion dagegen bei der basiotropen Haftung auf die Mesosalpinx selbst übergegriffen, 
sich tiefer in sie hineingesenkt und die Blätter des Ligamentum latum stark aus- 
einandergedrängt, so kann sich auch der untere Eipol in das Ligamentum latum 
hineinschieben und dem Uterus breit anliegen. In solchen Fällen wird die Gebär- 
mutter dann für gewöhnlich mehr nach vorn und nach oben verdrängt. 

Häufig bildet aber nicht die Tube allein das Eibett, an dessen Bildung viel- 
mehr die freie Bauchhöhle mit beteiligt ist. Hierbei kann der Hergang für eine 
derartige Entwicklung so sein, daß sich das Ei von vornherein auf der Fimbria 
ovarica oder im Pavillon der Tube sehr nahe am Ostium abdominale einnistet und 
sich nun schon frühzeitig unter Verschiebung des dünnen, nach der Schleimhaut 
zu gelegenen Kapselteiles in die Bauchhöhle hinein entwickelt. Der Hergang kann 
aber auch so sein, daß das Ei zunächst irgendwo in der Tubenwand allseitig von 
der Tube umschlossen gelegen hat und daß dann nach ZerreiBung der Kapsel 
die Frucht durch die Rißstelle hindurch in die Bauchhöhle hineingelangt. Das setzt 
natürlich voraus, daß es sich dabei nicht um ausgedehnte Zerreißungen mit stürmi- 
schen Blutungen handelt, sondern um schleichend eintretende. Zersprengung der 
Kapsel. Gelegentlich machen die Kranken auch Angaben über Schmerzen und Blut- 
abgänge, die auf den Zeitpunkt des erfolgten Austritts der Frucht hinweisen. 
Gelegentlich aber ist dieser auch völlig symptomlos erfolgt. 

Durchbricht die Frucht die sie schützende Hülle, die in manchen Fällen, z. B. 
beim Sitz des Eies auf der Fimbria ovarica oder im Eingang in die Ampulle, nur 
eine sehr dünne ist, so tritt sie in den Eihäuten, oder wenn auch diese gleichzeitig 
mit zerreißen, vollständig ohne Bedeckung in die Bauchhöhle aus. Bekommt man 
sie bald danach bei einem operativen Eingriff zu Gesicht, so kann man sie voll- 
ständig nackt zwischen den Därmen in der Bauchhöhle liegend finden. Wird die 
Bauchhöhle erst einige Zeit nach erfolgtem Durchbruch eröffnet, so ist die Frucht 
nicht selten in eine Membran eingehüllt, die man früher ohne weiteres als Eihäute 
gedeutet hat. Zweifellos handelt es sich aber in vielen solcher Fälle nicht um die 
Eihäute, sondern um eine sekundäre Membranbildung, die erst durch den perito- 
nealen Reiz der ausgetretenen Frucht selbst in der Bauchhöhle entstanden ist. 
Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, daß man zuweilen zwischen diesen Membranen 
noch echte Eihautfetzen gefunden hat, während die Reste der Eihäute in der Riß- 
stelle der Tube in geschrumpftem Zustande nachgewiesen werden konnten. Ist der 
Austritt der Frucht in die Bauchhöhle hinein erfolgt, ein Ereignis, das gewöhnlich 
schon in der ersten Hälfe der Gravidität eintritt, dann zieht sich die überdehnte 
Tube zusammen und verkleinert damit die Rißstelle und das Placentarbett oft so 
stark, daß man später die Austrittsstelle an der Tubenwand nur noch als einen 
schmalen Spalt erkennt, der in eine kleine geschrumpfte Höhle hineinführt, die von 


174 O. Pankow. 


der Placenta ausgefüllt wird. In anderen Fällen findet man jedoch auch die Placenta 
im Abdomen liegen und durch feste Verwachsungen mit den Organen der Bauch- 
 höhle verbunden. Es ist dann manchmal recht schwer zu entscheiden, ob diese Ver- 
bindung wirklich eine Implantation darstellt, ob es sich also um eine echte primäre . 
Bauchschwangerschaft handelt, oder ob die Placenta nur sekundär mit dem Organ 
verklebt ist. Wird das Ei in toto aus der Rupturstelle herausgerissen und aus seiner 
Trophoblastschale gelöst, so ist nicht anzunehmen, daß es noch implantationsfähig 
in der Bauchhöhle bleibt. Feste Verwachsungen, die man in solchen Fällen auch an 
der Placenta gefunden hat, sind dann wohl ebenso wie die schwartigen Kapsel- 
bildungen bei Hämatocelen als peritoneale Reizerscheinungen aufzufassen. An eine 
erneute Implantation des Eies auf dem Bauchfell mit der Möglichkeit der Weiter- ` 
entwicklung der Frucht ist nur dann zu rechnen, wenn bei einem schleichend auf- 
tretenden Fruchtkapselaufbruch zunächst nur Teile der Placenta aus dem ursprünglichen 
Bett heraustreten, während noch ein genügender Rest in dem alten Fruchtbett haften 
bleibt, der im stande ist, die Ernährung und Weiterentwicklung der Frucht zu 
gewährleisten. Wird dann bei weiterem Wachstum, nachdem nun auch der in der 
Bauchhöhle zur Haftung gekommene Teil der Placenta zur Erhaltung der Frucht 
mit beiträgt, der Abschnitt der Tube, in dem das Ei sich eingebettet hat, durch 
Ausziehung oder Torsion von dem übrigen Teil des Eileiters abgeschnürt, wie das 
tatsächlich beobachtet ist, so kann das Ei tatsächlich, obwohl es ursprünglich in der 
Tube gelegen hat, bei der Operation völlig isoliert von den Adnexen in der Bauch- 
höhle gefunden werden und tatsächlich den Eindruck eines primär auf dem Peritoneum 
implantierten Eies machen. | 

Stirbt, wie häufig, die ausgetretene Frucht oder das ganze Ei ab, so kann ihr 
Schicksal ein verschiedenes sein. War die Frucht nackt in den Eihüllen vor dem dritten 
Monat ausgestoßen, so geht sie meist rasch dem Zerfall entgegen und verschwindet 
bald restlos aus der Bauchhöhle. Je älter die Schwangerschaft war, je fester das 
Skelet der Frucht und seine äußere Hülle, umso leichter kann die völlige Auf- 
saugung ausbleiben. Wie bei der intrauterin abgestorbenen, tritt auch bei der 
extrauterinen Frucht eine Maceration ein. Infolge der Verklebung der ausgestoßenen 
Frucht oder der Eihüllen mit den Nachbarorganen kann dann durch Überwanderung 
von Darmkeimen, aber wohl auch durch Verschleppung von Bakterien auf dem 
Wege der Blutbahn eine Infektion und Verjauchung eintreten. In günstigen Fällen 
kann dann der Herd nach außen, nach dem Darm, in die Blase oder nach der 
Scheide durchbrechen und es sind in solchen Fällen stückweise die Skeletteile ent- 
leert und so Spontanheilungen beobachtet worden. Bricht die Entzündung in die 
Bauchhöhle durch, so geht die Frau an Peritonitis zu grunde. 

Treten Entzündungen oder Verjauchungen des Eies nicht ein, so trocknet die 
Frucht allmählich ein, mumifiziert und es kann schließlich zu Kalkablagerungen 
auf den Eihäuten oder der Frucht selbst und damit zu Bildungen der sog. Stein- 
kinder, Lithopädien, kommen. Küchenmeister*? hat drei Arten der Verkalkung 
unterschieden: 

1. Verkalkt nur die die Frucht umhüllende Schicht, bleibt der Foetus dagegen 
frei davon und liegt frei in der Schale, so spricht er von einem Lithokelyphos. 

2. Greift die Verkalkung auf den mit der Fruchthülle verwachsenen Foetus 
über, so bezeichnet er das als Lithokelyphopädion. 

3. Verkalkt die frei in der Bauchhöhle liegende Frucht selbst, indem die Kalk- 
ablagerungen mit der Vernix caseosa als Grundlage den schrumpfenden Foetus wie 
eine Kruste umhüllen, so spricht er von einem echten Lithopädion. 


Die Extrauteringravidität. 175 


Am häufigsten von diesen dreien ist die zweite Form, bei der Kalkablagerungen 
der Eihüllen auf die Frucht übergreifen. Die Verkalkung ist nur dadurch erklärlich, 
daß die Kalksalze aus der mütterlichen Blutbahn an Ort und Stelle abgelagert werden. 
In der Kalkschale findet man manchmal nur die nackten Knochen. Es sind aber 
auch Fälle beobachtet worden, bei denen die Skeletteile noch mehr oder weniger 
von Weichteilen umhüllt werden. Derartige Lithopädien in weiterem Sinne sind 
verhältnismäßig recht oft als Ausgang einer Ovarialschwangerschaft beobachtet worden. 
Sie brauchen die Trägerinnen gar nicht zu belästigen und sind gelegentlich jahr- 
zehntelang bis zum Tode von den Kranken getragen worden. Interessant ist, daß 
ganz selten sogar trotz des Vorhandenseins eines solchen Lithopädions noch eine 
normale Schwangerschaft eingetreten und ausgetragen ist. 

Erwähnt sei schließlich noch, daß man Veränderungen, die man bei Intrauterin- 
schwangerschaften beobachten kann, auch bei der extrauterinen findet, nämlich die 
Bildung von Blasenmolen und schließlich auch die Entstehung eines Chorionepithelioms. 

Haben wir bisher nur von den häufigsten Arten der Tubargravidität, von der 
Einnistung des Eies im ampullären und isthmischen Teil der Tube, gesprochen, so. 
müssen wir jetzt noch einige. seltenere Arten erwähnen. 


Die interstitielle Tubenschwangerschaft. 


Von einer interstitiellen Tubenschwangerschaft sprechen wir dann, wenn das Ei 
sich in dem je nach der Dicke der Uteruswand etwa 1 —1t/, cm langen und !/,— 1 mm 
breiten, leicht bogenförmig durch die Uteruswand durchziehenden Teil der Tube fest- 
setzt. Die anatomischen Verhältnisse dieser Form der interstitiellen Tubargravidität sind 
zum Teil noch recht unklar, vor allem auch bezüglich der Ursache für die Ansiedlung 
des Eies in diesem Tubenstück. Da wir aus vergleichend anatomischen Forschungen 
doch wohl annehmen müssen, daß eine wirkliche Vergrößerung des Eies während 
seiner Entwicklung bis zur Nidationsreife nicht stattfindet, so kann man die Enge des 
Kanals allein für die Implantation an dieser Stelle nicht verantwortlich machen. Wäre 
das der Fall, dann müßte man ja eigentlich die Mehrzahl aller Fälle von Tubar- 
gravidität in diesem Abschnitt erwarten, in dem sie aber tatsächlich nur außerordentlich 
selten zu finden ist. Wahrscheinlich muß man auch die Entstehung der interstitiellen 
Tubargravidität auf das Hineingelangen des Eies in Divertikelbildungen zurückführen. 
Gerade an dieser Stelle finden sich ja nicht selten meist mit Wandverdichtungen ein- 
hergehende, als Tubenwinkeladenome bekannte Gebilde, an denen man zahlreiche 
Schleimhautgänge findet, die mit dem Tubenlumen in Verbindung stehen und die 
das wandernde Ei auffangen können. Gelegentlich will man auch Polypen im inter- 
stitiellen Teil der Tube gefunden haben, und man hat sie mit der Entstehung der 
interstitiellen Tubenschwangerschaft in Verbindung gebracht, indem man annahm, 
daß durch sie das Ei an seinem Eintritt in den Uterus verhindert und zur Implan- 
tation in der Tube gezwungen würde. Beweisen hat sich diese Annahme bisher nicht 
lassen. Ebenso unbewiesen ist die Annahme einer sog. inneren Überwanderung des 
Eies, die man ebenfalls mit der interstitiellen Tubargravidität in ursächlichen Zu- 
sammenhang gebracht hat. Man versteht darunter, daß das z. B. aus der rechten Tube 
in den Uterus gelangte befruchtete Ei entlang dem Fundus uteri in den Anfangsteil 
der linken Tube hineingerät und hier zur Haftung kommt. 

Das implantierte Ei entwickelt sich auch bei der Graviditas interstitialis in 
der Muscularis, und auch hier fehlt die Bildung einer Decidua für gewöhnlich mehr 
oder minder gänzlich. Bei weiterem Wachstum treibt dann das Ei das betreffende 
Uterushorn in charakteristischer Weise vor sich her, u. zw. meist in der Richtung 


176 O. Pankow. 


nach hinten und oben. Es entsteht dadurch ein diagnostisch wichtiges Merkmal, 
das darin besteht, daß an dem durch die Eiimplantation steil- oder schiefgestellten 
Uterushorn die Adnexe und besonders die Tuben eine höher gelegene Abgangs- 
stelle haben als die der gesunden Seite und nicht am Scheitel des Uterushornes 
ansetzen, sondern an seiner Seite. Ebenso wie die Graviditas tubaria isthmica und 
ampullaris erfährt auch die interstitielle Gravidität ihre Unterbrechung am häufigsten 
in der ersten Hälfte der Schwangerschaft, u. zw. entsprechend der charakteristischen 
Entwicklungsrichtung durch äußeren Fruchtkapselaufbruch in die freie Bauchhöhle 
hinein. Gerade bei diesen Rupturen sind die Blutungen meist sehr heftig, so daß 
die Frauen rasch zu grunde gehen, wenn nicht operative Hilfe gebracht werden 
kann. Nur in ganz seltenen Fällen hat man auch hier eine schleichende Ruptur 
und die Entstehung einer sekundären Bauchschwangerschaft beobachtet. Gelegent- 
lich hat man bei der interstitiellen Gravidität auch gesehen, daß das Ei sich nach 
unten in die Uteruswand hineingrub. Es ist dann die Möglichkeit gegeben, daß 
durch inneren Fruchtkapselaufbruch die Frucht in den Uterus und von da nach 
außen geboren wird. Derartige Fälle scheinen aber doch nur verhältnismäßig sehr 
selten zu sein. In solchen Fällen von Mitbeteiligung des Uterus an dem Fruchtbett 
des Eies hat man von einer Graviditas tubo-uterina gesprochen. Wenn man 
aber unter Graviditas tubo-uterina nur solche Fälle verstehen will, bei denen die 
Implantation des Eies und die Placentarbildung zum Teil in der Tube und zum 
Teil auf der Schleimhaut des Uterus in der Tubenecke erfolgt war, so sind solche 
Fälle mit Sicherheit noch nicht beobachtet worden. 


Die Ovarialschwangerschaft. 


Das Vorkommen einer echten Ovarialgravidität, das früher vielfach abgeleugnet 
worden ist, ist heute nicht mehr zu bestreiten. Es sind einwandfreie Fälle aus allen 
Zeiten der Gravidität, auffallend oft sogar mit ausgetragener Frucht, beobachtet worden. 
Das könnte wundernehmen, da in dem Ovarium eine dehnbare elastische Muskel- 
hülle vollkommen fehlt, und es läge nahe anzunehmen, daß gerade eine im Eier- 
stock entwickelte Schwangerschaft besonders früh und leicht zur Ruptur der Frucht- 
kapsel führen müsse. Es sei aber daran erinnert, daß dem Eierstock eine ganz 
ungewöhnliche Fähigkeit zu Gewebsbildung innewohnt, die besonders auffallend 
bei den rasch wachsenden Ovarialtumoren zutage tritt, deren oft gewaltige Cysten 
immer noch von einer relativ dicken und festen Wand umhüllt sind. Selbst bei 
den sog. Riesentumoren, bei denen die Ovarialgeschwulst schwerer ist als die von 
dem Tumor befreite Frau, haben sich immer noch auffallend dicke Wandungen 
gefunden, die eben eine ganz ungeheure Gewebebildungsfähigkeit voraussetzen. 
Diese. Fähigkeit des Ovarialgewebes ist es wohl auch, die so verhältnismäßig oft 
das Austragen einer Eierstockschwangerschaft ermöglicht hat. Für die Entstehung 
einer Ovarialgravidität sind zwei Möglichkeiten gegeben. Bei der häufigeren wird 
beim Platzen des Follikels das Ei nicht mit herausgerissen und die in dem Follikel 
eindringenden Spermatozoen befruchten es an Ort und Stelle. Der zuletzt geplatzte 
Follikel, der sich dann auch zum Corpus luteum graviditatis umbildet, 
gibt also das Eibett ab. In sehr schöner Weise sind diese Verhältnisse an dem 
von van Tussenbroek**? veröffentlichten Falle zu erkennen, in dem man sehen 
kann, wie das Ei in dem einen Pol des Corpus luteum sitzt und von dessen Haupt- 
masse durch eine feine fibrinöse Membran abgeschlossen ist (s. Fig. 60). Ähnliche 
Befunde sind auch von späteren Untersuchern erhoben worden. Ist das Ei im Follikel 
befruchtet, so gräbt es sich im subepithelialen Gewebe ein. 


Die Extrauteringravidität. 177 


Bei den selteneren Formen der Ovarialgravidität handelt es sich um eine 
Ansiedlung des eben aus dem Follikel ausgetretenen und befruchteten Eies auf der 
Oberfläche des Ovariums, wahrscheinlich in irgendeiner der zahlreichen Ober- 
flächeneinsenkungen, in die es hineingerät. An der Anlegungsstelle der freien Ober- 
fläche durchbricht das Ei dann die Epithelschicht und kommt auch hier wiederum 
im subepithelialen Bindegewebe zur weiteren Entwicklung. Bei dieser Implantationsart 
ist die das Ei nach der freien Bauchhöhle zu umhüllende Schicht wesentlich dünner 
als bei der Implantation im Follikel selbst, und es ist deshalb auch die Gefahr der 
frühzeitigen ZerreiBung größer. Die Art der Eieinbettung und Entwicklung unter- 
scheidet sich im übrigen kaum von der in der Tube. Auch im Ovarium fehlt die 
Deciduabildung und die Zotten dringen nach allen Seiten hin in das Gewebe ein. 


Fig. 60. 
Eihöhle Chorionzotten 


Eisack, gebildet durch 
Ausweitung der Wand 
des Corpus luteum 


Blutcoagula 


Divertikel des Corpus luteum 


Hilus ovarii 


Offnung des Corpus luteum mit 
Fibrinbelag 





Follikel Divertikel des Corpus luteum 


Graviditas ovaria nach Kouwer van Tussenbroek. 


Sie können dann, wie das an dem beigegebeneu Bilde ersichtlich‘ ist, zum Kapsel- 
aufbruch nach der freien Bauchhöhle hin führen. Erfolgt die Bildung der Placenta 
mehr nach dem Plus zu und wohl gar in das Ligamentum latum hinein, also 
basiotrop im Sinne Lichtensteins, so ist verständlich, daß dann der Fruchtkapsel- 
aufbruch fehlen und das Ei sich weiter bis ans Ende der Zeit entwickeln kann, 
zumal.dann eben die große Gewebevermehrungsfähigkeit des Eierstocks die Frucht 
vor der ZerreiBung der Kapsel durch Überdehnung schützen kann. Es wäre inter- 
essant festzustellen, ob bei den verhältnismäßig zahlreichen ausgetragenen Ovarial- 
graviditäten tatsächlich die von Lichtenstein für die Persistenz der Tubenschwan- 
gerschaft angenommene basiotrope Implantation sich auch hier findet. Bei der weiteren 
Entwicklung des im Ovarium implantierten Eies kann das Wachstum des Eierstocks 
so vor sich gehen, wie bei den Ovarialtumoren auch. Das ganze Ovarium kann gut 
gestielt in der freien Bauchhöhle liegen und den Uterus überlagern, der dann meist 
nach unten verdrängt ist. Erfolgt dagegen, wie das auch bei Ovarialtumoren beob- 
achtet wird, die Entwicklung zum Teil wenigstens zwischen die Blätter des Liga- 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 12 


178 O. Pankow. 


mentum latum hinein, dann sitzt das gravide Ovarium dem Uterus breitbasig an, 
füllt das kleine Becken mehr oder minder aus und drängt den Uterus nach der 
entgegengesetzten Seite hin. 

Die Frage, ob es sich im gegebenen Falle um eine Ovarialgravidität handelt, 
die ja klinisch kaum je zu entscheiden ist, ist manchmal sogar anatomisch nicht 
sicher zu beantworten. Eine Eierstocksschwangerschaft darf nur dann angenommen 
werden, wenn neben dem schwangeren Gebilde das Ovarium fehlt, wenn die Tube 
einschließlich der Fimbria ovarica wohlerhalten geblieben ist und wenn auch 
eine Schwangerschaft in einer Nebentube mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen 
werden kann. 

Die Abdominalgravidität. 

Das Vorkommen einer echten Abdominalgravidität, d. h. eine primäre Implan- 

tation des Eies auf dem Peritoneum der Bauchhöhle, ist noch bis vor kurzem 


Fig. 61. 





Richters Fall von primärer Abdominalschwangerschaft auf der vorderen Wand des Rectum am Boden des 
Douglasschen Raumes. 
bezweifelt worden. Die Tatsache der Implantationsmöglichkeit des Eies auf der 
Oberfläche des Ovariums mit Entwicklung in die freie Bauchhöhle hinein ließ schon 
theoretisch die Möglichkeit der Implantation des Eies auf dem Peritoneum trotz des 
immerhin anatomisch anders gestalteten Implantationsbodens nicht mehr ganz 
unmöglich erscheinen. Inzwischen sind nun auch in jüngster Zeit Fälle von primärer 
Abdominalgravidität mitgeteilt worden, die jeder Kritik standhalten können. So die 
Fälle von Richter, Czyzewicz,2° Köhler,” Walker?® u. A. Die Autoren, die diese 
Fälle veröffentlicht haben, geben ausdrücklich an und bringen auch den anatomischen 
Beweis dafür, daß nirgends ein Zusammenhang mit der Tube und dem Ovarium 
bestand und daß auch das Ei in lebender Verbindung mit dem Boden gefunden 
wurde, aus dem es bei der Operation herausgeschält werden mußte. Fig. 61. zeigt 
den Fall vonRich ter, der als primäre Bauchhöhlenschwangerschaft wohl kaum bestritten 
werden kann. Wahrscheinlich erfolgt die Implantation des Eies so, daß es auch hier in 
das subepitheliale Bindegewebe eindringt. Es ist dann nach der Bauchhöhle zu nur von 





Die Extrauteringravidität. 179 


einer sehr dünnen Schicht umhüllt, die bei dem weiteren Wachstum leicht platzen 
kann, wenn nicht frühzeitige Verklebungen in dem Nachbarorgan die Hülle verstärken 
helfen. Der klinischen Diagnose werden sich solche Fälle von echten primären 
Abdominalschwangerschaften entziehen und sie werden immer erst entdeckt werden, 
wenn der Fruchtkapselaufbruch zu einer Blutung führt und zur Operation zwingt. 

Der größte Teil der früher als primäre Abdominalgravidität gedeuteten Fälle gehört 
aber zweifellos in die Reihe der sekundären Bauchschwangerschaften, die wir oben 
bereits erwähnt haben und auf deren weiteren Verlauf wir schon eingegangen sind. 


Einige Besonderheiten bei der Extrauteringravidität. 


Bleibt die Extrauteringravidität über die ersten Monate hinaus erhalten und 
entwickelt sie sich gar bis ans Ende, dann finden sich nicht selten Abweichungen 
im Verhalten der Placenta, der Eihäute, des Fruchtwassers und der Frucht selbst. 

Die Placenta kann sich in gleicher Weise als runder Kuchen entwickeln wie 
bei der Intrauteringravidität. Wie man aber schon auf dem ungeeigneteren Placen- 
tationsboden bei der Placenta praevia im Isthmus uteri eine nicht selten mehr flächen- 
hafte gelegentlich rund um die Isthmusinnenfläche herum sich entwickelnde Placenta 
beobachtete, die dann meist auch dünner ist als normal, so sieht man diese Art 
eines mehr flächenhaften Wachstums auch bei der Tubargravidität. Ebenso ist hierbei 
die Bildung lappiger Placenten öfter beobachtet worden. Die besonders kräftige 
Entwicklung der Placenta ähnlich der im Corpus uteri scheint bei der zentrifugalen 
basiotropen Implantation Lichtensteins zu überwiegen. Der Gefäßreichtum an 
dieser Stelle würde diese Entwicklung erklären. 

Die Eihäute brauchen, solange die Entwicklung im geschlossenen Frucht- 
sack erfolgt, keine Abweichungen zu zeigen. Wird die Fruchtkapsel dagegen durch- 
brochen und entsteht dann aus der tubaren eine tubo-abdominale Gravidität, dann 
können dabei auch die Eihäute mit zerreißen. Reste davon können gelegentlich an 
der Frucht hängen bleiben und dann später inmitten peritonealer Adhäsions- 
membranen gefunden werden, wie das bereits oben erwähnt worden ist. 

Das Fruchtwasser ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle länger 
dauernder oder ausgetragener Extrauteringraviditäten auffallend spärlich vorhanden 
gewesen. Es hängt das doch wohl mit der mangelhaften Durchblutung des dem 
Uterus gegenüber minderwertigeren Fruchtsackes und mit ihrer Bedeutung für die 
Amnionfunktion zusammen. In manchen Fällen ist auch eine Vermehrung des Frucht- 
wassers sogar in ausgesprochenem Hydramnion beobachtet worden. Solche Fälle 
von sog. Hydramnion bei in der Bauchhöhle liegenden Früchten müssen jedoch mit 
Vorsicht gedeutet werden. Es kann sich dabei sehr wohl auch um Sekundär- 
ansammlung von Flüssigkeit infolge einer exsudativen Entzündung des Bauchfells 
gehandelt haben. Auf diese Weise werden jedenfalls alle die Fälle gedeutet werden 
müssen, in denen die das „Fruchtwasser“ umkleidende Hülle nicht von den Eihäuten, 
sondern von entzündlichen Membranen gebildet war. 

Die Frucht zeigt bei der ektopischen Schwangerschaft, worauf v. Winckel 
besonders hingewiesen hat, sehr häufig, in etwa 50%, Verunstaltungen und Miß- 
bildungen. Am häufigsten sind sie an den Eipolen, am Kopf und Beckenende 
gefunden worden. Bei dem Bestreben des extrauterinen Fruchtsackes, Kugelgestalt 
anzunehmen, ist der verstärkte Druck auf die Fruchtpole verständlich und man hat 
auch nicht selten die Frucht wie zusammengerollt (sog. Igelform) im Fruchtsack 
liegend gefunden. Die geringe Menge Fruchtwasser, die Dünne der Fruchtsackwand, 
die den Gegendruck der harten Beckenwände oder solider Nachbarorgane nicht 

12* 


180 O. Pankow. 


genügend abhalten kann, wirken zweifellos als ungeeignete Belastungen, die imstande 
sind, solche Belastungsdeformitäten hervorzurufen. Solche Verunstaltungen können 
sich auch noch an dem in die freie Bauchhöhle ausgestoßenen Kinde auswirken und 
so erst post mortem Verunstaltungen erzeugen. Ob die beobachteten Mißbildungen 
und Verunstaltungen erst in späteren Monaten entstanden sind, ist zweifelhaft. Es wäre 
lohnend, Früchte, die durch inneren und äußeren Fruchtkapselaufbruch in den ersten 
drei Monaten ausgestoßen sind, daraufhin zu untersuchen, ob nicht bei ihnen schon 
die abnorme Form und Lagerung in der Eihülle zu Deformitäten geführt hat. 

Wir glauben, das bestimmt annehmen zu können auf Grund einer Beobachtung 
einer Graviditas tubo-abdominalis. Hier fand sich in dem Fruchtsack, der teils im 
ampullären Teil der Tube, teils zwischen den Blättern des Ligamentum latum und 
teilweise am Colon pelvinum saß, eine lebende Frucht von 10 cm Länge. Sie zeigte 
deutlich schon Verunstaltungen am linken Fuß und am linken Knie und eine tiefe 
Impression am linken Unterkieferwinkel, in die die kleine Schulter hineinpaßte. 
Die ganze Frucht war seitlich gewissermaßen abgeknickt und hatte in der engen 
Höhle eine ausgesprochene Igelform*. 


Zwillingsschwangerschaft bei Extrauteringravidität. 


Ebenso wie bei Intra- sind auch bei Extrauteringraviditäten Zwillinge und in 
selteneren Fällen sogar auch Drillinge beobachtet worden. Dabei sind — nach ihrer 
Häufigkeit geordnet — beide Früchte in einer Tube, oder je eine Frucht in jeder 
Tube, oder eine Frucht im Uterus und eine in einer Tube gefunden worden. 
MacDonald?? konnte sogar über eine Drillingsschwangerschaft berichten, bei der 
ein Ei im Uterus, das zweite in der einen und das dritte in der anderen Tube ent- 
wickelt war. Erwähnt sei hierbei, daß auch ein Fall von gleichzeitiger Uterin- und 
Ovarialschwangerschaft bekannt geworden ist. Dieser Fall ist dadurch besonders 
bemerkenswert, daß 6 Tage nach der Geburt des uterinen Zwillings der andere 
durch Operation noch lebend entwickelt werden konnte. Die anatomischen Ver- 
hältnisse bei der Zwillingsgravidität in einer Tube sind die gleichen wie bei der 
einfachen Tubenschwangerschaft. Dabei können die Eier in einem Fruchtsack liegen 
oder sich in zwei durch eine Strecke normalen Tubengewebes getrennten Eihöhlen 
vorfinden. Der Fruchtkapselaufbruch nach innen oder außen kann nur in einem oder 
in beiden Eibetten erfolgen. Es ist aber auch neben dem Absterben der einen Frucht 
die Fortentwicklung der anderen beobachtet worden. Noch häufiger als bei intra- 
uterinen, besonders zweieiigen Zwillingen sind ungleichmäßig entwickelte Früchte 
bei extrauterinen Graviditäten festgestellt worden. Sicher nicht mit Recht hat man 
solche Beobachtungen früher gern als Beweise für eine Superfoetatio angesehen, 
d. h. für eine Befruchtung des zweiten Eies, nachdem die Implantation des zuerst 
befruchteten Eies der vorhergehenden Ovulationsperiode bereits erfolgt war. Nach 
allem, was wir bis heute über die Beziehung von Schwangerschaft und Eierstock- 
funktion wissen, müssen wir jedoch annehmen, daß nach erfolgter Gravidität die 
Ovulation und damit auch die weitere Ausstoßung befruchtungsfähiger Eier aufhört. 
Schon aus diesem Grunde ist also die Annahme einer Superfoetatio bei ungleich- 
mäßig entwickelten Früchten nicht berechtigt. 

Besteht gleichzeitig eine Intra- und Extrauteringravidität, so kann der Ablauf 
ein verschiedener sein. Im Anschluß an das Absterben der ektopischen Frucht und 

* Anmerkung bei der Korrektur: Im Ztb. f. Gyn. 1923, p. 1567, hat Katz über Beob- 
achtungen „an unbehandelt gebliebenen ektopischen Schwangerschaften mit tötlichem Ausgang“ be- 


richtet. Dabei gibt er an, daß er bei keinem der Föten, die eine Nacken-Steißlänge von 10-260 mm 
aufwiesen, eine „offenkundige Mißbildung“ beobachtet habe. 


Die Extrauteringravidität. 181 


an Blutungen infolge eines Fruchtkapselaufbruches tritt nicht selten auch der Abort 
der intrauterinen Frucht ein. In einer weiteren Reihe von Fällen ist die Ausstoßung 
des Eies aus dem Uterus im Anschluß an die operative Entfernung des extrauterinen 
Zwillings beobachtet worden. Dabei muß es immer unentschieden bleiben, ob der 
zur Operation führende Blutverlust oder der Eingriff selbst die Ursache für den 
intrauterinen Abort abgegeben hat. Wissen wir doch, daß auch nach anderen Ein- 
griffen in der Bauchhöhle, ohne daß sie mit Blutungen verbunden waren, ein Abort 
nicht so ganz selten die Folge ist. In einer Reihe von Fällen ist aber auch nach 
Absterben der extrauterinen Frucht oder nach ihrer operativen Behandlung die intra- 
uterine Schwangerschaft bis zum normalen Ende ausgetragen worden. In selteneren 
Fällen ist sogar beobachtet worden, wie nach Geburt des intrauterin gelegenen 
Kindes das andere noch eine Zeitlang weiterlebte und dann wie in dem oben 
erwähnten Falle von gleichzeitiger Uterus- und Ovarialgravidität durch Operation 
sogar noch lebend zur Welt gebracht werden konnte. Betont sei, daß der gleich- 
zeitige Nachweis einer Gravidität in beiden Tuben nicht immer als Zwillings- 
schwangerschaft gedeutet werden darf, sondern daß es sich dabei gelegentlich um 
Graviditäten handelt, die monate- und jahrelang auseinanderliegen können und bei 
denen das Ei der älteren Gravidität nur noch nicht resorbiert worden war. 


e Wiederholte Tubargraviditäten. 


Wiederholte Tubenschwangerschaften, erst in der einen, dann in der anderen Tube, 
sind häufig, u. zw. in etwa 7%, beobachtet worden. Es ist deshalb von manchen Opera- 
teuren die unseres Erachtens übertriebene Forderung aufgestellt worden, bei der Opera- 
tion einer Tubenschwangerschaft grundsätzlich auch die andere Tube mit zu entfernen. 
In einer Reihe von Fällen war sogar das Implantat der einen Tube noch nicht ver- 
schwunden, als die Gravidität der anderen Tube eintrat, Fälle, von denen bereits 
gesagt wurde, daß sie nicht als Zwillingsschwangerschaft gedeutet werden dürfen. 
Aber auch in der gleichen Tube sind wiederholte Graviditäten beobachtet worden. 
Wenn wir daran denken, daß die Tubargravidität zumeist dadurch entsteht, daß das 
Ei sich in einem Divertikel angesiedelt hat und oft genug das Tubenlumen bis auf 
die Durchbruchsstelle des inneren Fruchtkapselaufbruchs völlig freiläßt, so ist ohne 
weiteres zu verstehen, daß eine solche Perforationsstelle ausheilen kann und für die 
Vereinigung von Ei und Sperma kein Hindernis zu bilden braucht. Diese Annahme 
der vollfunktionsfähigen Ausheilung solcher Tube hat erst recht nichts Gesuchtes, 
wenn wir daran denken, wie häufig nach Unterbindungen und selbst nach Unter- 
bindung und Durchschneidung der Tube, die zwecks Sterilisierung vorgenommen 
wurden, sich doch wieder der Tubenkanal hergestellt hat und Schwangerschaften 
beobachtet worden sind. Wir selbst haben ebenfalls einen Fall beobachtet, bei dem 
ein Jahr vorher die linke Tube wegen Tubenschwangerschaft entfernt wurde und nün 
bei der noch kinderlosen Frau die rechte Tube schwanger wurde. Der Befund war 
so eindeutig, daß an der Richtigkeit der Diagnose nicht gezweifelt werden konnte. 
Unter wochenlanger konservativer klinischer Behandlung, die gewählt wurde, um 
der Frau die Conceptionsfähigkeit noch zu erhalten, heilte die Tubenschwanger- 
schaft aus. Im nächsten Jahr wurde die Patientin intrauterin schwanger, abortierte 
aber leider im A Monat der Gravidität. Schließlich sind wiederholte Schwanger- 
schaften in derselben Tube dann beobachtet worden, wenn man bei der Operation 
die gravide Tube nicht völlig entfernte, sondern einen Stumpf stehen ließ. Auch 
wir verfügen über einen Fall, bei dem dann in dem uterinen Stumpf der Tube eine 
Gravidität eintrat und eine erneute Operation nötig machte. 


182 O. Pankow. 


Der Einfluß der Extrauteringravidität auf den Gesamtorganismus. 
Von den Veränderungen, die der übrige Körper der Frau beim extrauterinen 
Sitz des Eies durchmacht, sind die des Uterus besonders bemerkenswert. Obwohl 
das Ei nicht in ihm sitzt, ist doch die prämenstruelle Schwellung, die der ausge- 
bliebenen Periode vorausging, unter dem Einfluß des befruchteten Eies in gleicher 
Weise gesteigert, wie das bei der Intrauteringravidität der Fall ist. Gleichzeitig zeigt 
die Schleimhaut die für die Intrauterinschwangerschaft charakteristische deciduale 
Umwandlung, die allerdings in manchen Fällen bei der extrauterinen Schwanger- 
schaft nicht so stark ausgebildet sein soll wie bei der intrauterinen. Außerdem 
findet eine ausgesprochene Vergrößerung und Auflockerung des ganzen Organs 
statt, so daß der Palpationsbefund des Uterus in der ersten Zeit einer intra- und 
extrauterinen Gravidität ein vollkommen gleicher sein kann. Erst vom dritten Monat 
ab pflegt öfters wieder eine geringe Verkleinerung des Uterus einzutreten. Es sei 
aber betont, daß ebenso wie die Dicke der Deciduabildung auch die Größen- 
zunahme des Uterus bei der Extrauteringravidität keine 
Pero; gleichmäßige ist. Neben Fällen mit starker Vergrößerung 
und Auflockerung des Uterus, der die Hegarschen 
Schwangerschaftszeichen, vor allem die supracervicale 
Erweichung, deutlich tasten läßt, finden sich andere, 
allerdings seltenere, in denen die Gebärmutter atffallend 
wenig vergrößert ist und eine ausgesprochene Auflocke- 
‘rung kaum erkennen läßt. Die Decidua zeigt meistens 
dasselbe Verhalten wie beim intrauterinen Sitz des Eies 
und bildet die beiden Schichten, die innere nach dem 
Lumen zu gelegene kompakte und die der Muskulatur 
angelegene spongiöse. Ebenso wie die Dicke der Decidua 
manchmal bei extrauterinen Schwangerschaften eine ge- 
ringe ist, kann auch die Ausbildung dieser beiden Schichten 
a a Extra- zuweilen eine weniger vollkommene sein. Wird die Gra- 
vidität spontan oder durch Operation unterbrochen, so stößt 
der Uterus die Decidua stückweise oder im ganzen aus. Ist das letztere der Fall, so kann 
man sie als einen dreizipfligen Sack mit drei Öffnungen erkennen, von denen die größere 
den Eingang in die Cervix, die beiden feineren den Eingängen in die Tuben entsprechen 
(s. Fig. 62). Derart ausgestoßene, zusammenhängende Deciduaausgüsse des Uterus haben 
insofern auch eine praktische Bedeutung, als sie von der sachunkundigen Hebamme oder 
von der Patientin selbst als Frucht angesprochen werden. Es kommt dann nicht so ganz 
selten vor, daß der bei fortdauernder Blutung hinzugezogene Arzt auf dieser Angabe 
fußend, ohne genügend gesicherte Diagnose eine Ausschabung der Gebärmutter vor- 
nimmt. Das ist aber nicht ungefährlich, weil damit einmal einer Infektion die Wege ge- 
bahnt werden können, und weil anderseits durch die Manipulationen gelegentlich eine 
Ruptur ausgelöst werden kann. Erwähnt sei noch, daß man bei allen Arten ektopischer 
Schwangerschaft Deciduabildungen auch an den verschiedensten Stellen des Perito- 
neums und des Netzes beschrieben hat. Solche Bildungen sind aber nicht etwa nur der 
Extrauteringravidität eigentümlich, sondern sie können häufig auch bei der Intrauterin- 
schwangerschaft nachgewiesen werden. Im übrigen findet man bei der Extrauterin- 
schwangerschaft alle die objektiven und subjektiven Schwangerschaftszeichen, die von 
der Intrauteringravidität her bekannt sind, die aber zuweilen weniger deutlich in die 
Erscheinung treten. Selbst Schwangerschaftstoxikosen und die schwerste Form der- 
selben, die Eklampsie, ist bei der Extrauteringravidität beobachtet worden. 





Die Extrauteringravidität. 183 


Klinischer Verlauf und Diagnose. 

Die Diagnose einer Extrauteringravidität ist in den ersten Wochen, solange 
das Ei in der Tube, im Ovarium oder in der Bauchhöhle intakt ist, nicht zu stellen. 
Kommt eine solche Frau nach Ausbleiben der ersten Menses zum Arzt, um fest- 
stellen zu lassen, ob sie gravid ist, so ist um diese Zeit das Tubenei noch so 
klein, daß es der Palpation entgeht, umsomehr, als die Einlagerung des Eies charak- 
teristische Konsistenzunterschiede in diesem Abschnitt der Tube nicht erkennen läßt. 
Man wird vielmehr, da auch der Uterus eine Graviditätsvergrößerung zeigt, stets 
die Diagnose auf eine Intrauterinschwangerschaft stellen. Subjektive Beschwerden, 
die nicht als gewöhnliche Schwangerschaftsbeschwerden gedeutet werden können, 
fehlen um diese Zeit vollständig. Selbst bei ausgetragener Extrauteringravidität 
können in günstig gelegenen Fällen, bei denen die Frucht im geschlossenen Frucht- 
sack liegen bleibt, sogar auffallende, direkt auf den pathologischen Sitz des Eies 
hinweisende Erscheinungen vollkommen fehlen. Leichte oder stärkere ziehende 
Schmerzen in der Seite des Schwangerschaftssitzes oder Verdrängungs- und Druck- 
erscheinungen seitens der Blase und des Mastdarms werden zwar hinterher, wenn 
die Abnormität der Situation erkannt ist und man nun daraufhin gerichtete Fragen 
stellt, von den Frauen meist angegeben, bleiben vorher aber öfters völlig unbe- 
achtet. In solchen Fällen setzt dann am normalen Ende der Oravidität eine regel- 
mäßige Wehentäligkeit des Uterus ein, durch die die Decidua ausgestoßen wird und 
die dann allmählich wieder vollkommen aufhört. Erst dadurch oder durch das Auf- 
hören der Kindsbewegungen werden dann Patientin, Arzt und Hebamme auf die 
Vermutung gebracht, daß etwas nicht in Ordnung sei und vielleicht eine Extra- 
uteringravidität vorliege. 

Für gewöhnlich aber lenken die mit dem inneren oder äußeren Fruchtkapsel- 
aufbruch einhergehenden Blutungen die Aufmerksamkeit auf eine Extrauteringravi- 
dität hin. Der Verlauf beim inneren Fruchtkapselaufbruch ist dann gewöhnlich fol- 
gender:- Die Menses sind ein- oder zweimal ausgeblieben. Die Frau fühlt sich 
schwanger. Beschwerden im Unterleib bestehen zunächst nicht oder die Frauen 
geben an, daß sie von Zeit zu Zeit in der betreffenden Seite ein Ziehen verspürten. 
Mit einem Male treten dann meist leichte Blutabgänge nach außen auf. Die Frauen 
empfinden häufig ohne besondere äußere Ursache, nicht selten aber auch im An- 
schluß an körperliche Anstrengung, stechende Schmerzen in der einen Seite des 
Unterleibs, die zuweilen mit einem gewissen Gefühl von Schwäche oder einer 
leichten Ohnmachtsanwandlung begleitet sind. Nur in ganz seltenen Fällen ist 
gelegentlich auch bei vorgeschritteneren Fällen die Angabe gemacht worden, daß 
mit dem Auftreten dieser subjektiven Beschwerden nicht Blut, sondern eine wäßrige 
Flüssigkeit (Fruchtwasser) abgegangen sei. Schwäche und Ohnmachtsgefühl deuten 
darauf hin, daß ebenso wie nach außen auch nach innen in die Bauchhöhle hinein 
eine Blutung erfolgt ist. Die Frau selbst glaubt in solchem Falle gewöhnlich, sie 
bekommt eine Fehlgeburt, legt sich ins Bett oder schont sich wenigstens und die 
= Blutungen hören dann nicht selten wieder auf. War dabei der Bluterguß nach 
innen reichlicher, so kann man leichte Temperatursteigerungen um 38° herum 
beobachten. Veit meint zu diesen Temperatursteigerungen, sie wiesen darauf hin, 
daß in der Ätiologie der Tubargravidität die Infektion eine gewisse Rolle spiele. 
Das ist aber bestimmt nicht richtig, vielmehr sind diese Temperaturerhöhungen 
nur als ein Zeichen der Resorption des ergossenen Blutes aufzufassen. Sind die 
Blutungen nach außen hin erheblicher gewesen, dann entdeckt die aufmerksame 
Patientin darin vielleicht die ausgestoßene Decidua, hält sie für das Ei und glaubt, 


184 O. Pankow. 


die Schwangerschaft sei erledigt. Bald aber setzen von neuem Blutungen ein, die 
wiederum mit Schmerzen in der Seite verbunden sind, und nun erst kommen viel- 
fach die Patientinnen zum Arzt. Charakteristisch ist bei diesen Blutungen die Angabe 
der Frauen, daß das abgegangene Blut zunächst hellrot, dann dunkelrot war und 
daß die abzegangenen Massen schließlich ein mehr bräunliches oder schwarzes, 
teerartiges Aussehen zeigten. Diese Beobachtung, die auf einen Zerfall des ausge- 
stoßenen und länger in der Tube gelegenen Blutes hinweist, kann man bei der 
Untersuchung häufig bestätigen. Infolge der gleichzeitig fortbestehenden Resorption 
des ergossenen Blutes kommt es dann bei manchen Frauen auch zu einem meist 
aber nur leicht ikterischen Aussehen, das nur selten stärkere Gerade erreicht. Sind 
die bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch in die Bauchhöhle ergossenen Blut- 
mengen erheblicherer Art gewesen und haben sie bereits zu einer größeren An- 
sammlung in der Bauchhöhle geführt, dann tritt auch eine deutliche Blässe der 
Haut und Schleimhaut ein und auch der Puls erfährt gewöhnlich eine leichte 
Beschleunigung und wird kleiner, als er früher war. Gelegentlich können solche 
Blutungen in die Bauchhöhle hinein eintreten, ohne daß überhaupt ein Tropfen 
Blut nach außen abgeht, und dann sind die damit verbundenen Schmerzen in der 
Seite eigentlich das einzige, das auf die Möglichkeit einer Extrauterinschwanger- 
schaft hinweist. Diese Schmerzen sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß 
infolge der Blutung in die Eihöhle hinein eine erhöhte Spannung der Tubenwände 
eintritt und daß gleichzeitig Contractionen der Tubenwand einsetzen, die darauf 
hinzielen, die im Tubenlumen liegende Blutmole oder das Ei herauszubefördern. - 
Derartige Schmerzen können zuweilen ganz ungewöhnlich intensiv auftreten. Es 
sind Fälle beobachtet worden, bei denen mit den heftigsten Koliken Tenesmen, 
Drängen nach unten und Sphincterkrämpfe verbunden waren. Wir haben erst vor 
kurzem eine Patientin beobachtet, bei der die erste stärkere Blutung von so heftigen 
Darmkoliken und sicht- und fühlbaren Darmsteifungen seitlich und oberhalb eines 
links dicht unter dem Nabel tastbaren Tumors begleitet war, der vor einer Tubo- 
abdominalgravidität gebildet wurde, und so heftige Tenesmen und so außerordentlich 
schmerzhafte Sphincterkrämpfe bestanden, daß vom Gynäkologen und Chirurgen 
zunächst die Vermutung ausgesprochen wurde, es handelte sich um einen Obtura- 
tionsileus, bis der Nachweis der retrouterinen Hämatocele, die sich dann allmählich 
bildete,’ die richtige Diagnose auf Extrauteringravidität ermöglichte. Besteht gleich- 
zeitig noch infolge des peritonealen Reizes des ausgetretenen Blutes eine ausge- 
sprochene Empfindlichkeit der Bauchdecken und ist daneben auch noch, wie nicht 
selten, ein Meteorismus nachweisbar, so kann auch der Verdacht auf eine Per- 
forationsperitonitis sehr leicht geweckt werden. Das Gefühl des Drängens nach 
unten und der Tenesmen tritt besonders dann auf, wenn es infolge wiederholter 
Blutungen zu einer Ansammlung größerer Blutmengen im Douglas, zur Ausbildung 
der Haematocele retro-uterina, gekommen ist. | 

Das sind die klinisch leichteren Erscheinungen, die bei der Tubargravidität 
auftreten und die man als typisch für den meist langsamer verlaufenden inneren 
Fruchtkapselaufbruch ansehen kann. 

Ganz anders dagegen ist der Verlauf bei dem äußeren Fruchtkapselaufbruch, 
der Tubenruptur. Bei oft bestem Wohlbefinden, nachdem zuweilen ziehende und 
stechende Schmerzen in der kranken Unterleibsseite vorausgegangen waren, kann 
sich die Katastrophe, die Zerreißung der Tubenwand mit heftiger Blutung in die 
freie Bauchhöhle, einstellen. Sie ist gewöhnlich mit einem intensiven Schmerzanfall 
in der betreffenden Seite verbunden und die Patientinnen geben manchmal direkt 


Die Extrauteringravidität. 185 


an, daß sie das Gefühl gehabt hätten, als sei innerlich etwas zerrissen. Die Patien- 
tinnen brechen oft ohnmächtig zusammen, da das in die Bauchhöhle stürzende Blut 
zugleich einen heftigen peritonealen Chok auslöst. War der Blutverlust nur ein 
geringer, dann geht die Ohnmacht bald wieder vorüber, und die Blässe weicht 
wieder einer gesünderen Rötung der Haut und der Schleimhaut. Auch der Puls, 
der anfänglich klein und stark beschleunigt war, wird wieder voller und kräftiger. 
War die Blutung sofort eine sehr starke oder hält sie fortdauernd an, dann bleibt 
nach Abklingen des peritonealen Choks die Anämie bestehen, der Puls wird all- 
mählich immer kleiner und erneute Ohnmachten stellen sich ein. Dabei ist der 
Leib gewöhnlich stark aufgetrieben und bei der leisesten Berührung so außer- 
ordentlich schmerzhaft, daß eine genaue Palpation ganz unmöglich ist. Das Cha- 
rakteristische des ganzen klinischen Bildes ist, daß es aus zwei Erscheinungen zu- 
sammengesetzt ist, aus denen der Blutungen mit nachfolgender Anämie und denen 
der peritonealen Reizung, die durch das ausgetretene Blut hervorgerufen wird. 
Erlangt der anhaltende Blutverlust gefährliche Grade, so bekommt die Patientin 
Lufthunger, fängt an zu gähnen und wirft sich im Bett umher. Haut und Lippen 
werden immer blasser, Schweiß bedeckt das kalte spitze Gesicht, die Pupillen 
werden weit, der Blick unbestimmt und trübe und der Tod tritt ein, wenn nicht 
noch rechtzeitig durch einen operativen Eingriff die Blutung zum Stehen gebracht 
werden kann. 

Die Diagnose dieses äußeren Fruchtkapselaufbruches ist gewöhnlich leicht. Im 
Zusammenhang mit der Anamnese, die gerade bei der Diagnose der Tuben- 
schwangerschaft von allergrößter Bedeutung ist, und durch den Perforationsschmerz 
auf der entsprechende Seite wird ein Zweifel an der Erkrankung kaum möglich 
sein. Gewiß können in seltenen Fällen Blutungen aus einem geplatzten Ovarial- 
follikel oder aus einem Ulcus des Intestinaltractus oder in ganz seltenen Fällen 
auch durch eine geplatzte Vene, wie man das z.B. bei Uterusmyomen beobachtet 
hat, zu den gleichen Erscheinungen führen. In allen Fällen aber steht das Bild der 
akuten inneren Verblutung so stark im Vordergrund, daß das therapeutische Handeln, 
die sofortige Operation, dadurch in jedem Falle diktiert ist. Beträgt nun ein solcher 
Blutverlust mehr als 12, dann kann man ihn meist durch die Perkussion nach- 
weisen. Charakteristisch ist, daß, wenn das Blut in der Bauchhöhle schon teilweise 
geronnen ist, die Dämpfung über dem ergossenen Blut oft weniger deutlich in 
abhängigen Partien des Abdomens ist, als vielmehr oberhalb des Schambeinastes 
der erkrankten Seite.. Es kommt das daher, daß die geronnenen Blutklumpen, nach- 
dem das kleine Becken ausgefüllt ist, auf der Seite der Tubenschwangerschaft den 
Schambeinast überragen und dadurch diese charakteristische Dämpfungslinie be- 
dingen. Selbstverständlich darf eine volle Blase bei derartigen Untersuchungen nicht 
übersehen und falsch gedeutet werden. Mit der Palpation von außen ist gewöhnlich 
in solchen Fällen nichts zu erreichen, weil infolge der hochgradigen Spannung 
und Schmerzhaftigkeit der Bauchdecken ein genaues Durchtasten unmöglich ist. 
Zuweilen, jedoch nicht immer, fühlt man bei der vaginalen Untersuchung eine 
leichte schwappende Vorwölbung des hinteren Vaginalgewölbes, die durch die Blut- 
ansammlung im Douglas bedingt ist. In manchen Fällen kann, worauf Cullen zu- 
erst hingewiesen hat, eine bläulich durchschimmernde Verfärbung des Nabels auf 
eine intraabdominelle Blutung hinweisen. Besonders bei Nabelhernien, bei denen 
die Bauchwand an der Bruchstelle zuweilen sehr dünn ist, kann dieses Zeichen 
von Bedeutung sein. In zweifelhaften Fällen muß man unter Umständen eine 
Punktion des Douglas vornehmen. Doch soll man mit einer solchen Punktion nicht 


186 O. Pankow. 


zu freigiebig sein, da sie unter Umständen den Anlaß zur Infektion der im Douglas 
_ angesammelten Blutmassen geben kann. Daß dieses ganze Krankheitsbild gelegent- 
lich, wenn der Bluterguß mit heftigen Darmkoliken verbunden ist, mit einer Per- 
forationsperitonitis verwechselt werden kann, haben wir bereits erwähnt. Differen- 
tialdiagnostisch von besonderer Wichtigkeit ist auch hier wiederum die Anamnese, 
zumal das Verhalten der Temperatur und des Blutbildes häufig im Stich lassen. 
Findet man doch einmal ebenso wie bei der Perforationsperitonitis auch bei intra- 
abdominellen Blutungen sehr häufig erhöhte Temperaturen, die ja übrigens gerade 
bei den schwersten Formen der Peritonitis fehlen können, und kann man doch 
anderseits, ebenso wie bei der Peritonitis, auch bei intraperitonealen Blutungen 
regelmäßig eine oft sehr starke Hyperleukocytose nachweisen. Auch die Prüfung 
der Senkungsgeschwindigkeit der roten Blutkörperchen ist in solchen Fällen nicht 
eindeutig. Ist die Senkungsgeschwindigkeit nicht beschleunigt, dann kann man unter 
gewöhnlichen Verhältnissen einen entzündlichen Prozeß wohl ausschließen. In der 
Schwangerschaft tritt eine Änderung im Verhalten der Senkungsgeschwindigkeit 
insofern ein, als sie normalerweise von der Mitte der Gravidität an beschleunigt 
ist. Aber auch in den früheren Monaten der Schwangerschaft, in denen die Ruptur 
der Tube meist erfolgt, ist die Verwertung dieser Probe deshalb unsicher, weil bei 
starken Anämien, wie sie mit der Tubenruptur stets verbunden sind, eine erheb- 
liche Beschleunigung der Senkungsgeschwindigkeit gewöhnlich vorhanden ist. 
Schließlich sei daran erinnert, daß auch die Stieldrehung eines Ovarialtumors zu 
den gleichen Erscheinungen führen kann, besonders wenn zugleich auch eine starke 
Blutung in den Tumor hinein damit verbunden ist. Auch die Stieldrehung hat fast 
regelmäßig Temperatursteigerung und Hyperleukocytose zur Folge. Ist der Ovarial- 
tumor größer und liegt er oberhalb des kleinen Beckens, dann gelingt es jedoch 
meist, ihn trotz der Bauchdeckenspannung herauszutasten und bei vorsichtiger 
Perkussion die charakteristische nach oben konvexe Dämpfungslinie festzustellen. 
Handelt es sich um einen kleinen, im Becken liegenden Tumor, dann fühlt man 
bei der vaginalen Untersuchung einen so prallen Widerstand neben oder hinter 
dem Uterus, wie er bei der frischen Ruptur nie vorhanden ist. 

Gegenüber diesem äußeren Fruchtkapselaufbruch ist die Diagnose des inneren 
Fruchtkapselaufbruches oftmals wesentlich schwieriger. Vielfach kommen die Kranken 
erst zur Untersuchung, wenn die Blutungen bereits einige Zeit angehalten hatten. 
Man hat auf die Wichtigkeit der Blutungskurve in solcnen: Fällen hingewiesen. 
Werth hat drei Hauptgruppen unterschieden: 

1. Das Einsetzen einer Dauerblutung mit der ersten nach erfolgter Befruch- 
tung rechtzeitig einsetzenden Menstruation. 
| 2. Verfrühter Eintritt solcher Blutungen schon vor Ablauf des letzten Menstrua- 
tionsintervalles und vor Einsetzen der nächsten zu erwartenden Periode. 

3. Einsetzen der Dauerblutung nach ein- oder mehrmaligem Ausbleiben der 
Menses. 

Es ist zweifellos richtig, daß man in vielen Fällen solche Kurven bei der 
Extrauterinschwangerschaft beobachten kann. Andererseits muß aber betont werden, 
daß derartige Blutungen doch nicht pathognomonisch für einen Tubarabort sind. Man 
hat auch bei Ovarialtumoren, besonders bei den Follikelcysten, derartige anhaltende 
Blutabgänge ebenso beobachtet, wie man sie gelegentlich selbst bei einfachen ent- 
zündlichen Adnexerkrankungen sehen kann. Ebenso muß man bedenken, daß auch 
bei einem intrauterinen Abort nicht selten derartig protrahierte Blutungen vorkommen, 
besonders dann, wenn sich zu dem Abort noch eine Infektion mit Übergreifen auf 


Die Extrauteringravidität. 187 


die eine oder die andere Tube hinzugesellt hat. In frischem Stadium einer solchen 
Entzündung ist zwar für gewöhnlich höheres Fieber vorhanden, während das Resorptions- 
fieber bei der intraabdominellen Blutung meist 38° nicht übersteigt. Häufig kommen 
aber solche Patientinnen nicht zu Beginn solcher akuten Entzündung zur Unter- 
suchung, sondern erst einige Zeit später, nachdem eine gewisse Abkapselung bereits 
erfolgt ist. Dann aber sind auch Temperaturerhöhungen meistens nur in mäßigem 
Grade oder gar nicht vorhanden und unterscheiden sich nicht von denen der intra- 
abdominellen Blutungen. Auch das Verhalten der Leukocyten läßt dann für gewöhnlich 
im Stich, da nach erfolgter Abkapselung entzündlicher Prozesse in der Tube die 
Vermehrung der weißen Blutkörperchen meistens ebenfalls nur eine geringe ist oder 
auch ganz fehlen kann. Auch der palpatorische Nachweis nur einseitiger Verände- 
rungen ist diagnostisch nicht zu verwerten. Wenn auch die gonorrhoischen Adnex- 
entzündungen stets und die Tuberkulosen überwiegend doppelseitig auftreten, so 
sind doch die septischen Adnexerkrankungen, wie 
sie besonders auch nach intrauterinen Aborten 
auftreten, sehr häufig nur einseitig und lassen auch 
Unterschiede in der Größe und Konsistenz gegen- 
über dem Tubarabortbefund nicht erkennnen. 

Auf einen Punkt sei jedoch bei der Diffe- 
rentialdiagnose zwischen entzündlicher Adnex- 
erkrankung und Tubarabort besonders hinge- 
wiesen. Bei allen entzündlichen Erkrankungen 
der Tube ist das Tubenrohr in seiner ganzen 
Ausdehnung verhärtet oder mehr oder minder 
stark verdickt. Man fühlt deshalb die Tube schon 
unmittelbar an ihrem Abgang vom Uterus als 
hartes derbes Rohr von Bleistift- bis Fingerdicke, 
das nach dem abdominellen Ende zu meist noch p” 
allmählich weiter aufschwillt. Bei der Tubar- Schwangere Tube. Der uterine Teil ist schlank und 
gravidität dagegen pflegt der Anfangsteil dr irn Pe de fapa talich 
Tube neben der Uteruskante für gewöhnlich ganz 
weich und nicht verdickt zu sein, um dann ganz plötzlich und unvermittelt im 
Bereich der Eiimplantation und der Hämatombildung zu einem hühnereigroßen 
oder noch größeren Tumor aufzuschwellen (s. Fig. 63). Sitzt die Schwangerschaft 
wie in selteneren Fällen dagegen im Anfangsteil der Tube nahe der Uteruskante, 
dann kann dieses palpatorische Merkmal allerdings versagen. 

Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose Tubargravidität und Fruchtkapselaufbruch wird 
noch wesentlich vergrößert, wenn man die schwangere Tube in Verbindung mit 
einem weicheren Tumor fühlt, der im Douglas oder in den seitlichen Beckenpartien 
gelegen ist und von dem sich die schwangere Tube selbst durch eine größere 
Derbheit abhebt. Man fühlt dann den Douglas ausgefüllt von einer prallen Geschwulst, 
die das hintere Scheidengewölbe vorbuchtet, aber durchaus nicht immer das Gefühl 
der Fluktuation gibt. Die Berührung dieser Geschwulst ist bei der bimanuellen 
Palpation manchmal fast unempfindlich, häufig aber sehr schmerzhaft, u. zw. besonders 
in den oberen Partien, wo die gravide Tube dem Bluterguß aufliegt und wo das 
durch sie selbst und die mit ihr verwachsenen Nachbarorgane (Darm, Uterus, Netz) 
gebildete Dach der Hämatocele unter erheblicher Spannung steht. Der Uterus selbst 
erscheint durch diese Blutansammlung im Douglas gewöhnlich nach oben oder 
auch nach der gesunden Seite hin verdrängt. Zuweilen kann man ihn deutlich noch 


Fig. 63. 








188 O. Pankow. 


vergrößert und aufgelockert fühlen, nicht selten aber ist er klein und von normaler 
Konsistenz. Sehr unklar können die Verhältnisse und schwierig kann die Diagnose 
dann sein, wenn bei diesem Befund im Douglas hohes Fieber besteht und die 
Hämatocele bereits in Verjauchung übergegangen ist. Mit diesem Ereignis muß 
man bei länger fortbestehender Blutansammlung zwischen Mastdarm und Uterus 
immer rechnen. Dann ist es oft ganz unmöglich, ohne weiteres zu entscheiden, ob 
es sich in einem solchen Falle um einen septischen, vom Generationsorgan oder 
vom Darm ausgehenden Douglasabsceß oder um eine vereiterte Hämatocele handelt. 
Die Diagnose wird dann um so schwieriger, weil — und das ist besonders schön 
durch die kombinierte Recto- und Vaginaluntersuchung festzustellen — in solchen 
Fällen häufig ein sekundäres entzündliches Ödem oder auch eine Exsudatbildung 
im retroperitonealen Bindegewebe der Ligamenta sacro-uterina und ihrer Umgebung 
eintritt, wodurch dann die Annahme, daß es sich nicht um eine Extrauteringravidität, 
sondern um eine entzündliche Erkrankung handelt, noch bestärkt wird. Erst eine 
Punktion kann in solchen Fällen Klärung bringen, die dann bei einer reinen Ent- 
zündung reinen Eiter, bei der verjauchten Hämatocele blutige oder blutigeitrige 
Massen ergeben wird. 

Schwieriger als bei der retrouterinen Hämatocele wird die Diagnose dann, 
wenn die Blutansammlung mehr in der seitlichen Beckenhälfte liegt und nur teil- 
weise oder gar nicht auf den Douglas übergegangen ist. Dann fühlt man neben 
dem Uterus eine gänseei- bis faust- oder kindskopfgroße Geschwulstmasse, die 
ebenso wie bei der retrouterinen Hämatocele häufig von ungleicher Konsistenz ist, 
weil sie zum Teil aus frischerem Blut, zum Teil aus älteren eingedickten Blutungs- 
resten und dem prallen Fruchtsack selbst gebildet wird. Eine sorgfältige Anamnese 
und die Angabe, daß häufig einseitige Schmerzen auftreten, deuten auch hier 
wiederum auf eine Extrauteringravidität hin. Ist an den Erguß von der Scheide aus 
heranzukommen, so wird auch hier gegebenenfalls wiederum die Probepunktion 
Klärung bringen können. Warnen möchten wir vor der Ausschabung der Uterus- 
höhle zu differentialdiagnostischen Zwecken. Wenn auch der Nachweis einer Decidua- 
bildung in der ausgeschabten Masse bei vollständigem Fehlen von Zotten und 
fötalen Zellen dann mit einiger Sicherheit auf die Diagnose Extrauteringravidität 
hinweist, so ist doch die Ausschabung selbst, wie schon erwähnt, nicht ungefährlich, 
da sie in unsauberen Fällen zur Infektion führen und anderseits Rupturblutungen 
auslösen kann. Sehr schwierig kann die Diagnose dann werden, wenn die Frauen 
erst verhältnismäßig: spät in die Beobachtung kommen und wenn nun voraus- 
gegangene, teilweise bereits zurückgebildete Blutergüsse zu ausgedehnten Ver- 
wachsungen im ganzen kleinen Becken und vor allem auch an den Adnexen der 
anderen Seite geführt haben. Fehlen dann einigermaßen zuverlässige anamnestische 
Angaben, so sind Verwechslungen mit entzündlichen Adnexerkrankungen, post- 
appendicitischem Senkungsabsceß, Tuboovarialcysten u. s. w. sehr leicht möglich. 
In derartigen Fällen ist es dann zuweilen ganz unmöglich, aus dem Palpations- 
befund allein die richtige Diagnose zu stellen, und sicherlich ist manche Tuben- 
schwangerschaft schon bei solchem Befund als entzündliche Adnexerkrankung gedeutet 
und unter konservativer Behandlung zur Ausheilung gebracht worden. Diagnostisch 
sehr kompliziert liegen die Verhältnisse auch dann, wenn es sich um eine interstitielle 
Tubargravidität handelt. Bekanntlich erfolgt die physiologische Einsenkung des Eies 
im Uterus meist extramedian auf der Vorder- oder Hinterwand des Corpus uteri. 
Ist die extramediane Lagerung eine starke oder kommt das Ei nahe der Einmündung 
des Eileiters an der Tubenecke zur Haftung, dann ist palpatorisch diese Uterus- 


Die Extrauteringravidität. 189 


kante oft so stark vorgewölbt und so weich, die andere Uterushälfte dagegen so 
deutlich von ihr abgesetzt und so viel derber, daß nicht selten schon dieser Befund 
als Extrauterinschwangerschaft und besonders als eine interstitielle gedeutet warden 
ist. Wiederholt ist in dieser irrtümlichen Ansicht sogar schon die Bauchhöhle ge- 
öffnet worden. Es wird in solchen Fällen oft nur sehr schwer möglich sein, die 
richtige Diagnose zu stellen. Im Anfang der Gravidität fühlt man in beiden Fällen 
die betreffende Tubenecke ausgebuchtet und man kann den Abgang der Tube, und 
das ist das palpatorisch wichtige Merkmal, zunächst in beiden Fällen an dem 
Scheitel der Ausbuchtung palpieren. Bei der Tubeneckenplacenta bleibt der Tast- 
befund auch bei fortschreitender. Gravidität der gleiche. Bei der interstitiellen Tuben- 
schwangerschaft dagegen ändern sich die anatomischen Verhältnisse, indem das 
wachsende Ei, wie im anatomischen Teil bereits geschildert, die Uteruswand nach 
oben und nach außen ausbuchtet und immer weiter über den Tubenansatz hinaus 
in die Höhe steigt. Dadurch wird der Tubenansatz vom Scheitel des Uterus nach 
der Seite abgedrängt, steht aber infolge der Wachstumsstreckung der entsprechenden 
Uterushälfte höher als der Tubenansatz der anderen Seite. Dabei nimmt der Uterus 
selbst durch das überwiegende Wachstum der Implantationshälfte eine ausgesprochene 
Schiefstellung an. 

Immerhin sind diese bei der Operation häufig in typischer Weise ausgebildeten 
Erscheinungen klinisch nicht leicht herauszupalpieren, so daß die Diagnose einer 
interstitiellen Tubargravidität stets schwierig bleibt. Nicht selten endet übrigens die 
interstitielle Tubargravidität durch den äußeren Fruchtkapselaufbruch schon früher, 
bevor noch die charakteristische Umgestaltung des Uterus stattgefunden hatte. 

Recht schwierig kann unter Umständen die Erkennung der Tubenschwanger- 
schaft in der Zeit vom A bis 6. Monat der Oravidität sein. 

Gerade in diesen Monaten kann die oft sehr starke Aussackung bei der Tuben- 
eckeninsertion des Eies leicht mit einer Extrauteringravidität verwechselt werden. 
Indessen liegen die Dinge hier so, daß häufiger eine Intrauterinschwangerschaft für 
eine Extrauteringravidität gehalten wird als umgekehrt. Man muß versuchen nach- 
zuweisen, ob die Tube tatsächlich in diese Aussackung aufgegangen ist, oder ob 
nicht vielmehr Tube und Ovarium erst von der Seitenwand dieser Ausbuchtung 
ihren Abgang nehmen. Das ist selbstverständlich nicht immer leicht und nötigen- 
falls muß eine Narkosenuntersuchung vorgenommen werden, um die Sachlage zu 
klären. Es kommt hinzu, daß hier differentialdiagnostisch noch eine Anomalie mit 
in Frage kommt, die wir am Schluß noch besonders besprechen werden, das ist die 
Schwangerschaft in einem Nebenhorn des Uterus. Das Nebenhorn sitzt dem Uterus 
gestielt auf. Wird es schwanger, so geht der Fruchtsack nicht breitbasig unabgrenzbar 
in den Uterus über, sondern es ist ein deutlicher, meist 1—2querfingerdicker Ver- 
bindungsstiel zwischen Uterus und Fruchtsack zu tasten, während man erst an der 
Seitenkante des Nebenhornes den Abgang des Ligamentum ovarii proprium und 
der Tube fühlen kann. Gelingt der Nachweis der Adnexe nicht, dann wird das 
schwangere Nebenhorn meist für einen gestielten Ovarialtumor, oder, wenn Anamnese 
und Beschwerden auf eine Gravidität hindeuten, für eine Schwangerschaft im 
istnmischen Teil der Tube gehalten. Ebenso wie mit dieser seitlichen Ausbuchtung 
oder einer ausgesprochenen Lateralflexion des Uterus ist nicht selten auch eine 
Verwechslung zwischen Tubargravidität und der Retroflexio uteri gravidi beobachtet 
worden. Sie kann um so leichter erfolgen, als der extrauterine Fruchtsack für ge- 
wöhnlich nicht wie der schwangere Uterus in die freie Bauchhöhle hinauifsteigt, 
sondern häufig den Douglas mehr oder minder vollkommen ausfüllt und dadurch 


190 O. Pankow. ` 


den Uterus so stark nach vorn und oben verdrängt, daß der Palpationsbefund der 
Portio und der Cervix dem bei der Retroflexio uteri gravidi sehr ähnlich wird. 
Bei der Retroflexio uteri gravidi ist ja die Portio immer sehr stark nach oben ver- 
lagert und steht oft hinter der Symphyse. Die von ihr ausgehende Cervix liegt 
dann dem retroflektierten Corpus uteri auf, ist häufig elongiert und derber als der 
UÜteruskörper und wird deshalb nicht selten für den ganzen nicht graviden Uterus 
gehalten. Bei der genauen Palpation, nötigenfalls wiederum in Narkose, kann man 
jedoch an diesem vermeintlichen Corpus den Abgang der Adnexe nicht nachweisen. 
Man kann ferner, wenn man gleichzeitig die Portio anhakt und vorsichtig nach 
unten zieht, den Zusammenhang mit dem Corpus fühlen, dessen vorsichtige Auf- 
richtung dann in der Narkose oft möglich ist. Des weiteren gibt, wenn man die 
angehakte Portio nach unten zieht, das Verhalten der Ligamenta sacro-uterina einen 
Anhaltspunkt dafür, ob der gefühlte derbe Körper tatsächlich den ganzen Uterus 
darstellt oder nur die Cervix. Untersucht man rectal, so kann man den Abgang 
der Ligamenta sacro-uterina vom Uterus nachweisen, die ja bekanntlich von der 
Cervix aus nach hinten ziehen. Fühlt man den Abgang der Ligamenta sacro-uterina 
etwa 1—2querfingerbreit oberhalb des äußeren Muttermundes und über ihrem 
Ansatz noch ein Stück des fraglichen Körpers, so muß der darüberliegende Abschnitt 
das Corpus uteri sein. Setzen dagegen die Ligamenta sacro-uterina an dem oberen 
Rande des derber gefühlten Körpers an, dann besteht dieser ganze Teil tatsächlich 
aus der Cervix uteri. Jedenfalls soll man immer, wenn anamnestisch Schwanger- 
schaft vorliegt und wenn das kleine Becken durch einen Tumor ausgefüllt oder 
eine starke einseitige, dem Uterus breit aufsitzende weiche Schwellung nachweisbar 
ist, an die Möglichkeit dieser beiden Anomalien, der Ausbuchtung der Tubenecken 
und der Retroflexio uteri gravidi, denken, ehe man sich zur Diagnose Tubar- 
gravidität entschließt. 

Auch die Diagnose der Extrauteringravidität der letzten Monate kann große 
Schwierigkeiten verursachen. Lebt die Frucht, sind Kindsbewegungen deutlich und 
die kindlichen Herztöne mit Sicherheit zu hören, steht also die Diagnose Gravi- 
dität als solche fest, dann ist es manchmal nicht leicht, ihren extrauterinen Sitz 
nachzuweisen. In vielen Fällen fällt die seitliche Lagerung des ganzen Uterus im 
Abdomen auf. Fühlt man dabei gleichzeitig die Portio stark nach unten gedrängt, 
und von ihr ausgehend nach hinten und nach der entgegengesetzten Seite ver- 
lagert, die Cervix ziehen und hat man dabei gar das deutliche Gefühl, daß der 
Cervix noch ein breiteres kleineres Corpus aufsitzt, dann liegt die Diagnose Ex- 
trauteringravidität sehr nahe. Man denke jedoch daran, daß auch bei Mißbildungen 
des Uterus sehr leicht der gleiche Befund erhoben werden kann, so vor allem beim 
Uterus duplex separatus, bei dem die Verschmelzung der Müllerschen Gänge aus- 
geblieben ist und zwei getrennte Uteri nebeneinander liegen, und beim Uterus 
bicornis unicollis, bei dem die Uteruskörper getrennt geblieben, die beiden Hals- 
teile des Uterus aber zu einer Cervix verschmolzen sind. Beim Uterus duplex wird 
der Nachweis zweier Scheidenteile und zweier Muttermundsöffnungen leicht auf 
die richtige Diagnose hinleiten, besonders wenn gleichzeitig noch eine doppelte 
Vagina nachweisbar ist. Diese Merkmale fallen jedoch bei dem Uterus bicornis 
unicollis for. Hier kann es direkt unmöglich sein zu bestimmen, ob eine Intra- 
oder Extrauteringravidität vorliegt. Handelt es sich um eine Intrauteringravidität 
mit einem solch mißbildeten Uterus, so zeigt die Geburt, wenn sie auch infolge 
ungenügender Wehenarbeit des halben Uteruskörpers häufig verlangsamt ist, doch 
insofern keine Abweichungen, als die Spontangeburt oder die artifizielle Geburt 





Die Extrauteringravidität. 191 


auf natürlichem Wege tatsächlich möglich ist und meist erfolgt. Bei der Extrauterin- 
gravidität wird dagegen nach erfolgloser Wehenarbeit die Geburtstätigkeit wieder 
aussetzen und nun wird meistens die Sachlage erst geklärt. Besonders hingewiesen 
sei in solchen Fällen, bei denen es fraglich ist, ob die Frucht innerhalb oder 
außerhalb des Uterus sitzt, auf das Gefühl, das der Fruchtsack bei der Untersuchung 
selbst gibt. Die Unklarheit der Sachlage bringt es ja mit sich, daß die Palpation 
hier eine besonders genaue und länger dauernde ist. Während der Untersuchung 
wird man nun bei intrauterinem Sitz der Frucht sehr häufig einen Konsistenz- 
wechsel des Uterus nachweisen können, bedingt durch wechselnde Contractions- 
zustände, die man an den Fruchtsackwandungen des extrauterin sitzenden Eies nicht 
wahrnehmen kann. Das ist ein Merkmal, an das man stets denken soll, 
wenn man die Entscheidung in solchen Fällen zu treffen hat. Findet sich 
bei der einseitigen Lagerung des Fruchtsackes die Portio nicht, wie oben besprochen, 
nach unten, sondern vielmehr nach oben und nach der dem Fruchtsack entgegen- 
gesetzten Seite hinter die Symphyse oder dem Schambeinast verlagert, dann ist in 
den späteren Schwangerschaftsmonaten dieser Befund außerordentlich verdächtig 
auf einen extrauterinen Sitz des Eies. Die Diagnose wird um so wahrscheinlicher, 
wenn irgend ein anderer Tumor, der den ganzen schwangeren Uterus nach oben 
verdrängt haben könnte, nicht nachweisbar ist. Wird in allen diesen Fällen die 
Diagnose nicht rechtzeitig gestellt, so wird unter allen Umständen die Aufmerk- 
samkeit auf den extrauterinen Sitz dadurch gelenkt, daß, wie wiederholt erwähnt, 
am Ende der Zeit nach vergeblicher Wehenarbeit, durch die nur die Decidua aus 
dem Uterus ausgestoßen wird, die Kindsbewegungen aufhören. 

Ist das Absterben der Frucht dagegen nicht erst im Anschluß an solche ver- 
gebliche Wehentätigkeit am Ende der Zeit, sondern bereits im Laufe der Gravidität 
erfolgt, wie das ja auch beim intrauterinen Sitz der Frucht oft genug zu beobachten 
ist, so fehlt zunächst jeder Hinweis auf eine Extrauteringravidität. Sucht die Frau 
dann, weil sie überhaupt keine Kindsbewegungen gefühlt hat oder nicht mehr fühlt, 
den Arzt auf, so wird wiederum die oben erwähnte Lagerung des Fruchtsackes im 
Abdomen und die Verschiebung der Portio und Cervix den Verdacht auf eine 
Extrauterinschwangerschaft erwecken müssen. Recht schwierig aber können die Ver- 
hältnisse werden, wenn die Frucht nicht mehr in dem geschlossenen Fruchtsack, 
sondern bereits in der Bauchhöhle gelegen ist. Neben der Heranziehung der 
Röntgenuntersuchung wird dann auch die Perkussion des Abdomens von Bedeu- 
tung sein und auf die richtige Diagnose hinleiten, wenn über dem vermeintlichen 
Fruchthalter teils gedämpfter, teils tympanitischer Schall nachweisbar ist. Ob die 
Frucht nackt und frei zwischen den Därmen liegt oder in den Eihäuten, oder ob 
sie erst sekundär durch peritoneale Membranbildungen an einer Hülle umkleidet 
wird, stets werden die die Frucht überlagernden oder ihr anliegenden und mit ihr 
verwachsenen Därme zur Folge haben, daß eine unregelmäßige Dämpfungszone, 
unterbrochen von tympanitischen Stellen, perkutorisch festzustellen ist. Auch die 
Anamnese wird gerade in diesem Falle wieder von besonderer Wichtigkeit sein. 
Oft geben die Frauen an, daß die Kindsbewegungen, solange sie bestanden, ganz 
besonders schmerzhaft waren. Ist das Kind abgestorben und ist es nun Verwach- 
sungen mit dem Nachbarorgan eingegangen, dann können zuweilen erst von da 
an 'hochgradige Beschwerden eintreten, und sich selbst ileusartige Erscheinungen 
bemerkbar machen. Sind also in Zweifelsfällen derartige Symptome vorhanden, so 
wird dadurch die Vermutungsdiagnose einer Extrauteringravidität sehr viel wahr- 
scheinlicher gemacht. Sind Zweifel darüber vorhanden, ob es sich in solchen Fällen 


192 O. Pankow. 


überhaupt um eine Schwangerschaft oder um irgend einen Tumor im Abdomen 
handelt, so muß vor allem wiederum die Röntgenuntersuchung zu Hilfe genommen 
werden, durch die man die Skeletbildung der Frucht in der zweiten Hälfte der Gravidität 
meist ohne weiteres erkennen kann. Zum Schlusse unserer Erörterungen über die Dia- 
gnose der Extrauteringravidität sei noch daran erinnert, daß man in fraglichen Fällen, 
in denen überhaupt unsicher ist, ob eine Schwangerschaft besteht oder nicht, auch 
die Reaktionen diagnostisch heranziehen kann, die die Schwangerschaft als solche 
erkennen lassen. Die wichtigste dafür ist die serologische Untersuchung nach 
Abderhalden?®. In jeder Schwangerschaft sind im Blute der Mutter Eiweißstoffe 
vorhanden, die von fötalen Zellelementen herstammen. Sie führen zur Bildung der 
von Abderhalden als Abwehrfermente bezeichneten Stoffe im mütterlichen Blut, 
durch die das fötale resp. das Placentaeiweiß abgebaut und unschädlich gemacht 
wird. Diese Abwehrfermente sollen schon 8 Tage nach Eintritt der Befruchtung 
eintreten und bis 2—3 Wochen nach Ausstoßung der Placenta nachweisbar bleiben. 
Auf deren Nachweis, für den Abderhalden zwei Methoden, das Dialysier- und das 
Polarisationsverfahren, angegeben hat, beruht die Abderhaldensche Schwanger- 
schaftsdiagnose. Diese Verfahren sind jedoch für die Durchführung in der allgemeinen 
Praxis nicht geeignet und können nur in Instituten vorgenommen werden, umso- 
mehr, als sie die allersorgsamste und peinlichste Arbeit bei der Gewinnung des 
Materials und der Anstellung der Reaktionen verlangen. Fällt die Abderhalden- 
sche Schwangerschaftsreaktion negativ aus, so ist mit einer sehr großen Wahr- 
scheinlichkeit eine, Gravidität ausgeschlossen. Fraglich ist nur, wieweit man diese 
Methode gerade in unsicheren Fällen von Tubargravidität verwerten kann, bei 
denen das ganze Ei aus der Tube herausgestoßen in der Bauchhöhle liegt und die 
Placenta nicht mehr in organischer Verbindung mit der Blutbahn der Mutter steht. 
Untersuchungen über derartige Fälle liegen bisher nicht vor Fällt die Abder- 
haldensche Schwangerschaftsuntersuchung positiv aus, so wächst dadurch die 
Wahrscheinlichkeit, daß eine Gravidität vorliegt, obwohl die Reaktion nicht für die 
Schwangerschaft absolut specifisch zu sein scheint. 

Eine andere Methode, die Schwangerschaft nachzuweisen, baut sich auf der 
Erfahrung auf, daß während der Oravidität nicht selten eine alimentäre Glykosurie 
renalen Ursprungs sich ausbildet. Auf der künstlichen Erzeugung einer solchen rein 
renalen Glykosurie beruht die Methode, die auch von dem Praktiker leicht aus- 
geführt werden kann und keinerlei komplizierte Untersuchungen verlangt, und die 
von Kamnitzer und Joseph?! zuerst für den Schwangerschaftsnachweis angewandt 
wurde. Sie wiesen darauf hin, daß bei Injektion von 5 mg Phloridzin eine Glykos- 
urie entsteht. Bei der schwangeren Frau konnten sie diese Glykosurie schon bei 
einer Injektion von 2 mg erzielen, bei Nichtschwangeren dagegen war sie mit dieser 
Dosis nur in Einzelfällen nachweisbar. Kamnitzer und Joseph folgern daraus, 
daß eine Schwangerschaft nicht vorliegt, wenn 1'/, Stunden nach der Injektion von 
2 mg Phloridzin keine Glykosurie auftritt, und sie meinen, daß ihr Auftreten nach 
dieser Zeit zum mindesten eine Gravidität wahrscheinlich macht. Für die Tubar- 
gravidität hat allerdings bereits Zondek? betont, daß nur „bei vollständig 
erhaltenem Placentarkreislauf“ die Methode anwendbar sei. Die Ausführung ist sehr 
einfach: Hat man festgestellt, daß eine Zuckerausscheidung bei der zu unter- 
suchenden Frau nicht vorhanden ist, so werden 2 mg Phloridzin, das unter dem 
Namen Maturin in Ampullen von Schering-Berlin geliefert wird, morgens nüchtern 
injiziert. Darnach läßt man die Frau 1/, l Wasser oder Tee trinken. In Pausen von 
einer halben Stunde wird der Urin auf Zucker untersucht. Ist er bis spätestens 





Die Extrauteringravidität. 193 


II Stunden im Harn nachweisbar, dann soll es sich um eine Schwangerschaft 
handeln. f 

Andere Untersuchungen des Blutes, das Verhalten des Hämoglobins, die Zahl 
der roten Blutkörperchen, der Gerinnungsablauf, die Alkalescenz, die Senkungs- 
geschwindigkeit der roten Blutkörperchen us w. sind für die Diagnose der Gra- 
vidität als solche nicht zu verwerten, da die Schwangerschaft keinen specifischen 
Einfluß auf diese Dinge ausübt. 


Therapie. 


Die Anschauungen über die Behandlung der Extrauteringravidität haben sich 
im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich geklärt. Einheitlich ist die Auffassung 
bezüglich der Therapie des katastrophal einsetzenden äußeren Fruchtkapselaufbruches, 
der sog. Tubenruptur. Hier steht man auf dem Standpunkt, daß grundsätzlich sofort 
operiert werden soll, u.zw. am besten per laparotomiam. Dabei wird man den kranken 
rupturierten Eileiter vollständig entfernen und ihn am besten aus der Uteruskante 
exzidieren. Ob man dabei das Ovarium der betreffenden Seite mitnehmen soll, ist 
eine rein technische Frage. Wenn irgend möglich, wird man selbstverständlich darauf 
verzichten. Der Zustand solcher Kranken verlangt jedoch sehr oft eine möglichste 
Abkürzung der Operation. Man wird deshalb, wenn irgendwie Verklebungen zwischen 
Ovarium und rupturierter Tube vorhanden sind, deren Lösung und Versorgung 
den Eingriff ungebührlich verzögern würde, den: Eierstock mit entfernen können, 
wenigstens wenn das andere Ovarium noch vorhanden ist. Ausdrücklich sei darauf 
hingewiesen, daß man in solchen Fällen von Tubenruptur mit schwerster Blutung 
die Gefährlichkeit des Zustandes wegen der Kleinheit des Pulses nicht überschätzen 
und als zu schlecht für einen Transport ins Krankenhaus oder für eine Notoperation 
im Hause auffassen darf. Es sei noch einmal betont, daß der schwere Allgemein- 
zustand und der schlechte Puls nicht allein auf Kosten des Blutverlustes zu setzen, 
sondern zum großen Teil auf den schweren peritonealen Chok zurückzuführen 
sind, den die starke intraabdominelle Blutung hervorruft. Es ist immer wieder über- 
raschend zu sehen, wie sich bei derartigen Kranken nach Eröffnung der Bauch- 
höhle und mit der damit verbundenen Entlastung des Bauchfells der Puls noch 
während der Narkose und Operation zuweilen auffallend bessert. Der Erfolg wird 
noch größer und oft überraschender, wenn man zugleich bei der Operation die von 
Thies? empfohlene intravenöse Reinfusion des in der Bauchhöhle befindlichen 
flüssigen Blutes vornimmt. Das Verfahren ist einfach und bedeutet entschieden einen 
großen Fortschritt in der Behandlung schwer entbluteter Kranker, wie sie der 
Gynäkologe ja gerade bei der Tubenruptur so häufig sieht. Es ist immer wieder 
verblüffend zu beobachten, von wie hervorragender Wirkung diese Reinfusionen 
sind und wie überaus rasch sich solche Kranke gegenüber anderen, bei denen 
die Reinfusion nicht vorgenommen werden konnte, erholen. Mehr als 300, höchstens 
500 cm? soll man dabei nicht in die Vene einfließen lassen. Wir verfahren in letzter 
Zeit so, daß wir das aus der Bauchhöhle geschöpfte Blut durch eine Gazefilter in 
einen Trichter und von hier aus ohne -jeden Zusatz sofort wieder in die Cubital- 
vene einfließen lassen. Hat man schwere Blutungen im Privathause zu operieren 
und die Apparatur zur Reinfusion nicht zur Hand, so kann man kleinere Mengen 
unter Umständen subcutan oder intramuskulär injizieren oder schließlich auch sie 
der Kranken rectal wieder zuführen. 

Warnen möchten wir davor, diese Reinfusionen gewissermaßen dadurch vor- 
nehmen zu wollen, daß man das Blut in der Bauchhöhle beläßt. Auf alle Fälle 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 13 


194 O. Pankow. 


müssen bei der Operation die dicken Blutgerinnsel entfernt werden, da ihre Resorption 
doch nur außerordentlich langsam vor sich geht und_sie anderseits einen sehr guten 
Bakteriennährboden abgeben. Aber auch das flüssige Blut entfernt man am besten 
soweit wie möglich. Trotz aller Asepsis können wir doch nicht immer mit einer 
absoluten Keimfreiheit des Operationsfeldes rechnen und wir schaffen durch das 
zurückgelassene Blut unter Umständen Bedingungen, die eine trotz aller Vorsicht 
eingetretene Infektion begünstigen und die Entstehung einer allgemeinen Peritonitis 
erleichtern können. 

Vielfach ist die Frage erörtert worden, ob man grundsätzlich bei der operativen 
Behandlung der Tubargravidität die andere Tube mit entfernen soll. Wir haben 
bereits betont, daß wiederholte Schwangerschaften erst in der einen, dann in der 
anderen Tube vorkommen. Sie sind in etwa 7% aller Fälle beobachtet worden. 
Manche Operateure haben daraus die Folgerung geschlossen, grundsätzlich auch 
die nicht erkrankte Tube mit zu entfernen. Da dadurch die Fortpflanzungsfähigkeit 
überhaupt aufgehoben wird, erscheint uns diese Forderung nicht berechtigt zu sein. 

Einheitlich wie in der Therapie der Tubenruptur war bis vor kurzem auch 
die Behandlung der Tubenschwangerschaft mit lebender Frucht, indem man auch 
hier auf dem Standpunkt stand, grundsätzlich durch Operation den abnormen Zustand 
zu beenden. Dagegen haben sich vor kurzem Sittner®* und Lichtenstein gewandt. 
Lichtenstein, der ja für das Austragen der Schwangerschaft die basiotrope Implan- 
tation des Eies in der Tube verantwortlich macht, kommt zu der Schlußfolgerung, 
daß er sagt: „Wenn wir heute wissen, daß bei einer einmal bis in die zweite Hälfte 
gediehenen Extrauterinschwangerschaft meistens eine basiotrope Placenta vorhanden 
ist, die eine ungestörte Weiterentwicklung gewährleisten kann, hat der Gedanke 
nicht so sehr Abschreckendes mehr, bei klinischer Beobachtung bis zu Ende abzu- 
warten, wenn sich die Mutter wohl befindet, das Kind lebt und ein lebendes Kind 
gewünscht wird, oder so lange zu warten, bis ein unreifes Kind wenigstens als 
frühreifes, aber lebensfähiges entwickelt werden kann. Gewiß eine kühne, aber ideale 
Indikationsstellung.“ Gegen diese Indikationsstellung hat schon Zweifel?, der Chef 
Lichtensteins, seine Bedenken geäußert. Er betonte, daß er einen Fall erlebt habe, 
bei dem die Gravidität fast bis zur Reife des Kindes gediehen war, die Frau operiert 
werden sollte und noch am Tage vor der festgesetzten Operation durch Berstung 
des Fruchtsackes und große Blutung zugrunde ging. Auch uns scheint die Forderung 
Lichtensteins übertrieben zu sein, und der eine von ihm selber beobachtete Fall 
spricht außerordentlich dagegen. Hier handelte es sich um eine Frau, die ihre letzte 
Periode im September 1917. hatte. Im Oktober, November, Dezember traten unregel- 
mäßige Perioden auf. Im Januar 1918 erfolgte plötzlich Abgang von blutigen Schleim, 
der mit starken Leibschmerzen verbunden war. Der damals zugezogene Arzt stellte 
eine Schwangerschaft im vierten Monat mit Verdacht auf Geschwulstbildung fest: 
Im Mai 1918 bekam die Frau wieder heftige Schmerzen im Leib und in den Beinen, 
die nach mehrtägiger Bettruhe besser wurden. Anfang Juni traten dann plötzlich 
heftige Leibschmerzen auf, die längere Zeit anhielten. Der Arzt stellte eine Quer- 
lage bei uneröffnetem Muttermund fest und schickte die Frau, da Ödem und Ikterus 
bestand, 5 Tage später in die Klinik. Hier fand man bei der Operation den Fruchtsack 
geborsten, das Kind frei in der Bauchhöhle liegend. Es dürfte doch wohl ein sehr 
glückliches Ereignis sein, daß hier die Ruptur des Fruchtsackes ohne schwere und 
tödliche Blutungen abgegangen ist. Lichtenstein müßte eigentlich aus dem Ablauf 
dieses Falles sehen, daß doch auch die basiotrope Implantation, um die es sich in 
diesem Falle gehandelt hat, nicht vor der Ruptur sichert. Daß aber in solchen Fällen 


Die Extrauteringravidität. 195 


selbst unter klinischer Beobachtung eine ganz abundante Blutung rasch zum Tode 
führen kann, ist doch nicht zu bestreiten. Wir glauben deshalb, daß man an dem 
Standpunkt festhalten soll, jede Extrauteringravidität mit lebender Frucht durch 
Operation zu beenden, umsomehr, als diese wenigen seltenen Fälle volkswirtschaftlich 
von gar keiner Bedeutung sind. Nur wenn unter vollem Hinweis auf die schweren 
Gefahren, denen sie sich aussetzt, von der Frau selbst aus Sehnsucht nach einem 
lebenden Kinde, die Aufschiebung der Operation gewünscht wird, könnte man 
davon absehen. | 

' Einheitlich ist drittens das therapeutische Handeln in den Fällen, in denen 
eine Hämatocele in Verjauchung übergegangen ist. In diesen Fällen wird man von 
der Scheide her den Herd eröffnen und drainieren, dagegen von einer Exstirpation 
der kranken Tube selbst absehen. 

Einheitlich ist schließlich das therapeutische Vorgehen auch dann, wenn eine 
extrauterine Frucht am Ende der Zeit oder vorher abgestorben war und nun als 
solche in der Bauchhöhle liegend erkannt wird. Bestehen Beschwerden seitens der 
Abdominalorgane dann noch nicht, so wird man doch daran denken müssen, daß 
Verjauchungen, Vereiterungen und Verwachsungen mit den Nachbarorganen ein- 
treten können, die nun lebensbedrohliche Zustände hervorzurufen geeignet sind, 
und man wird deshalb gut tun, die in der Bauchhöhle gelegene Frucht zu entfernen. 
Man wird den Weg erst recht gehen, wenn Beschwerden bestehen, die die Frauen 
zum Arzt führen und die auf die Verklebung mit den Nachbarorganen zurück- 
geführt werden müssen, unter denen Verwachsungen mit den Därmen und Ileus- 
erscheinungen eine besondere Rolle spielen. Sind dann peritoneale Erscheinungen 
noch nicht vorhanden, besteht kein Fieber, so wird man auch hier den ganzen Frucht- 
sack entfernen. Hierbei kann die Herausnahme der Placenta besondere Schwierig- 
keiten machen, wenn sie, sei es bei primärer, sei es bei sekundärer Bauchhöhlen- 
implantation, in feste Verbindung mit den Organen der Bauchhöhle eingetreten ist. 
In solchen Fällen, besonders wenn die Placenta auch mit der Leber in organische 
Verbindung getreten ist, ist es zu schweren und tödlichen Blutungen gekommen. 
Man hat deshalb vorgeschlagen, dann nur die Frucht zu entfernen, den Fruchtsack 
aber in die Bauchdecken einzunähen und tamponieren. Aber selbst dann sind noch 
tödliche septische Arrosionsblutungen beobachtet worden. Für derartige Fälle ist 
eben ein einheitliches Verfahren nicht anzugeben und der Operateur muß sich den 
gegebenen Verhältnissen anpassen und entscheiden, ob er nur die Frucht oder auch 
die Placenta mit herausnehmen kann und will. 

Nicht so einheitlich wie bei den eben besprochenen Zuständen ist dagegen 
das therapeutische Vorgehen bei den zahlreichen Fällen von innerem Fruchtkapsel- 
aufbruche, durch den die Schwangerschaft so oft in den ersten Monaten beendet 
wird. Ein Punkt sollte auch hier entscheidend auf die therapeutischen 
Maßnahmen einwirken. Das ist die Tatsache, daß trotz erfolgten inneren 
Fruchtkapselauibruches, ja trotz Ausstoßung der Frucht das Ei weiter- 
leben und weiterwachsen und durch Arrosion größerer Gefäße oft ganz 
unerwartet noch das Bild des schweren äußeren Fruchkapselaufbruches 
hervorrufen kann. Wir selbst haben drei Fälle gesehen, bei denen unter klinischer 
Beobachtung und konservativer Therapie ein deutlicher Rückgang der Hämatocele 
und auch der Tubenschwellung nachweisbar war und bei denen einmal 6, einmal 7 
und einmal 9 Wochen nach Beginn der klinischen Behandlung ganz plötzlich eine 
schwere Rupturblutung sich einstellte, die eine sofortige Operation nötig machte. 
Diese Tatsache der Möglichkeit einer Ruptur trotz erfolgter Hämatocelenbildung 

13: 


196 O. Pankow. 


sollte zum mindesten dazu zwingen, jeden Fall von Extrauteringravidität der klini- 
schen Behandlung zuzuführen. Hier wird man dann wählen können, ob man 
operativ oder konservativ vorgehen soll. Im allgemeinen stehen wir heute auf dem 
Standpunkt, in jedem Fall operativ einzugreifen, u. zw. aus drei Gründen: Der erste 
ist die Möglichkeit der sekundären Ruptur, die wir eben erwähnt haben. Der zweite 
ist die Tatsache, daß die konservative Behandlung sehr lange Zeit erfordert und 
daß die Frau oft wochen- und monatelang liegen muß, eine Forderung, die gerade 
in unserer Zeit schwer durchzuführen ist. Der dritte ist der, daß die Hämatocele 
bei längerem Bestand nicht ganz selten infiziert werden und in Verjauchung oder 
Vereiterung übergehen kann, indem Keime von dem Darm oder der Blutbahn her 
in sie eindringen. Diese Komplikation bedeutet ebenso wie die sekundäre Ruptur 
eine erhebliche Gefährdung für die Frau. Dem steht gegenüber, daß die operative 
Therapie des inneren Fruchtkapselaufbruches bei nichtinfizierten Fällen außer- 
ordentlich günstige Resultate ergibt und die Behandlungsdauer auf durchschnittlich 
zwei Wochen abkürzt. 

Aus allen diesen Tatsachen heraus stehen wir heute auf dem Standpunkt, auch 
bei dem inneren Fruchtkapselaufbruch das operative Vorgehen zu bevorzugen. Eine 
Ausnahme wird man nur dann machen, wenn bei wiederholter Schwangerschaft 
auch in der zweiten Tube noch keine Kinder vorhanden sind und der Kinder- 
wunsch die Frauen selbst dazu führt, um die Unterlassung der Operation zu bitten. 
Wir haben, wie bereits erwähnt, in einem solchen Falle in der Tat eine dritte 
Schwangerschaft intrauterin eintreten gesehen, die allerdings im vierten Monat durch 
Abort endete. 

Hat man sich zur Operation entschlossen, so ist die Frage, welchen Weg man 
wählen soll, den abdominellen oder den vaginalen. Wir stehen auf dem Standpunkt, 
grundsätzlich abdominell vorzugehen. Die topischen Verhältnisse der Organe werden 
durch die Bildung der Hämatocele, durch die Heranziehung der Nachbarorgane, 
vor allem des Darmes und des Netzes zu ihrer Abdachung und durch die damit 
verbundenen ausgedehnten Schwartenbildungen so verwaschen und unklar, daß 
man beim Vorgehen von der Scheide aus niemals eine so klare Übersicht über 
die Dinge hat und so sorgfältig die Blutung stillen kann, wie das von oben der 
Fall ist. Gerade die Blutstillung ist bei solchen Operationen aber von großer 
Bedeutung, weil es sonst nicht selten wiederum zu Ansammlungen im Douglas 
kommt, die dann infolge der fast unvermeidlichen Keimübertragung bei der Opera- 
tion sehr leicht in Verjauchung übergehen und dann für die Frauen gefährlich 
werden können. 

Die Durchführung aller operativen Maßnahmen wird allerdings dadurch 
manchmal unmöglich werden, daß die Kranke sie aus Angst vor dem Messer ab- 
lehnt. Immerhin sollte auch in diesen Fällen der behandelnde Arzt die Über- 
weisung in die Klinik verlangen. Er muß zum mindesten die Angehörigen auf 
die Gefahr hinweisen, die mit einer doch noch möglichen Ruptur verbunden ist, 
und sollte stets die Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge ablehnen, 
wenn seinem Wunsche nach Überführung ins Krankenhaus nicht gefolgt wird. Hat 
er dann die Behandlung zu Haus durchzuführen, so muß der oberste Grundsatz 
absolute Bettruhe sein. Daneben muß er durch eine leichte Diät und unter Um- 
ständen durch regelmäßige Einläufe und Abführmittel dafür sorgen, daß bei der 
bettlägerigen Frau Verstopfung nicht eintritt, die einmal Schmerzen verursachen 
und zweitens durch das damit verbundene Pressen zu Blutungen und damit zur 
Gefahr der Zerreißung führen kann. Im Anfange der Behandlung wird man daneben 








Die Extrauteringravidität. 197 


kalte Umschläge oder eine Eisblase auf das Abdomen legen lassen und, wenn ein- 
seitige Schmerzen auftreten, Opium oder Morphium verabfolgen. Mit dieser ein- 
tönigen Therapie muß so lange fortgefahren werden, bis nicht bloß ein Stillstand 
im Anwachsen der Hämatocele und des Tubentumors, sondern ein deutliches Rück- 
gehen derselben zu beobachten ist. Erst wenn das der Fall ist und wenn gleich- 
zeitig auch in den uterinen Abgängen die ausgestoßene Decidua auf den Frucht- ` 
tod hingewiesen hat, kann ganz vorsichtig zu Prießnitzschen Umschlägen über- 
gegangen werden. Haben sich unter dieser Behandlung die Hämatocele und der 
Tubentumor weiter verkleinert und bleiben schließlich nur noch eine Verdickung 
der Tube und Verwachsungen der Adnexe als Reste der Erkrankung übrig, so kann 
dann zu einer resorbierenden Hitzebehandlung übergegangen werden in der gleichen 
Weise, wie das bei chronisch entzündlichen Adnexerkrankungen der Fall ist. Immer 
aber muß sich der Arzt bewußt sein, daß er bei der konservativen Therapie mit 
Überraschungen rechnen muß, und es muß unter allen Umständen bei Zeichen 
innerer Blutung eine Überführung der Kranken in die Klinik vorgenommen oder 
ein Operateur sofort ins Haus gerufen werden. Operationen der Tubenruptur sind 
häufig unter primitivsten Verhältnissen ausgeführt worden und haben auch da 
manche Fälle gerettet, die sonst verloren gewesen wären. 


Die Nebenhornschwangerschaft. 


Anhangsweise muß hier noch einer Implantationsanomalie des Eies gedacht 
werden, die zwar nicht zu der eigentlichen Extrauteringravidität gehört, ihr aber 
in den ganzen klinischen Erscheinungen und ihrem Verlauf so ähnelt, daß sie 
ihr praktisch gleichgestellt werden kann. Das ist die Gravidität in einem Neben- 
horn des Uterus. 

Bei einem Uterus mit Nebenhorn hat nur der eine der beiden Müllerschen 
Gänge, aus deren Verschmelzung der normale Uterus entsteht, eine volle Aus- 
bildung erfahren, während der Teil des anderen, dem die Bildung des Corpus uteri 
obgelegen hätte, mehr oder minder unvollkommen entwickelt geblieben ist. Dieses 
als Nebenhorn bezeichnete Gebilde kann alle Grade der Entwicklungshemmung 
vom dünnen, lumenlosen Muskelstrang bis zu einem verhältnismäßig kräftigen, mit 
einer Schleimhaut ausgekleideten Hohlmuskel zeigen. Das Ei kann selbstverständ- 
lich in ihm nur zur Implantation kommen, wenn ein Lumen vorhanden ist. Je 
vollkommener die Schleimhaut ausgebildet ist, um so eher wird das implantierte Ei 
in ihr allein das Nest bilden können. In solchen Fällen kann die Nebenhorn- 
schwangerschaft ausgetragen werden, ohne daß es zur Zerreißung des Fruchthalters 
zu kommen braucht, umsomehr, als die Muskelwand, die viel kräftiger ist als die 
der Tube, eine starke Hypertrophie erfahren kann. Je kümmerlicher dagegen die 
Schleimhaut entwickelt und je geringer dann ihre deciduale Reaktionsfähigkeit ist, 
umsoweniger wird sie als Eibett allein genügen und um so ausgedehnter und tiefer 
werden die Zotten in die Muskulatur selbst eindringen, sie zerstören und dadurch 
den gewöhnlichen Ausgang der Nebenhornschwangerschaft, die Ruptur, begün- 
stigen. Erleichtert wird der Fruchtkapselaufbruch dadurch, daß das Nebenhorn meist 
eine sehr ungleichmäßige Beteiligung an der Schwangerschaftshypertrophie und 
Dehnung zeigt. Für gewöhnlich ist es so, daß der nach außen und unten gelegene 
Teil des Fruchthalters verhältnismäßig dick und kräftig ist und an der Entfaltung 
kaum oder nur geringen Anteil hat, während die nach oben und innen zu gelegenen 
Wandabschnitte eine mächtige, immer mehr fortschreitende Verdünnung erfahren. 
Ist dabei gleichzeitig die allgemeine Schwangerschaftshypertrophie des Nebenhorns 


198 O. Pankow. 


nicht stark genug, um diese Überdehnung auszugleichen, so erfolgt die Ruptur, 
` die sich deshalb meist an der nach oben und innen gerichteten Seite findet. Da 
aber die Wand des Nebenhorns von vornherein dicker ist als die der Tube, und 
in geringer Weise wohl stets eine Hypertrophie erfährt, so tritt die Ruptur nicht 
wie bei der Tube am häufigsten im zweiten und dritten, sondern erst im vierten 
` und fünften Monat der Schwangerschaft ein. Hierbei ist die Blutung im allgemeinen 
viel stärker als bei der Tubenruptur und deshalb sind Verblutungen beim Platzen 
des Fruchtsackes einer Nebenhornschwangerschaft auch besonders gefährlich. Bei 
der Ruptur wird gewöhnlich auch die Fruchtblase zerreißen, und die Frucht wird in 
die Bauchhöhle geschleudert. Das entleerte Nebenhorn zieht sich zusammen. Dabei 
kann die Placenta ebenfalls abgelöst und in die Abdominalhöhle ausgestoßen 
werden. Löst sie sich jedoch nicht, dann kann man sehen, wie sie aus dem Rup- 


Fig. 64. 





Nebenhornschwangerschaft. — Uterus mit linken Adnexen, N. = Nebenhorn, M. = subseröses, intraligamentär entwickeltes 
Myom des Uterus, P.= eege über dem Myom, er = Placenta, die aus der Rupturstelle ( R.) des Nebenhorns 
herausquillt. 


turloch teilweise herausgedrängt wird und es wallartig überragt. Das ist sehr schön 
an einem Fall von geplatzter Nebenhornschwangerschaft, den wir vor kurzem operiert 
haben, zu erkennen (s. Fig. 64). Die Placenta selbst kann bei der Gravidität im 
Nebenhorn wohlgebildet sein wie bei der normalen Haftung des Eies im Uterus. 
Sehr häufig aber zeigt sie ein mehr flächenhaftes Wachstum und kann unter Um- 
ständen die ganze Innenwand des Nebenhorns auskleiden. Das ist wahrscheinlich 
dann der Fall, wenn eine mangelhaft gebildete Schleimhaut EEN ist, die 
nicht im stande ist, in normaler Weise decidual zu reagieren. 

Die Entstehung der Nebenhornschwangerschaft kann dann leicht erklärt werden, 
wenn der Verbindungsstiel zwischen Nebenhorn und Uterus kanalisiert ist und das 
Lumen des Uterus in direkter Verbindung mit dem des Nebenhorns steht. In den 
meisten Fällen ist das aber nicht der Fall, sondern das Verbindungsstück stellt 
einen soliden Strang dar. Dann sind zwei Möglichkeiten für die Entstehung der 





Die Extrauteringravidität. 199 


Nebenhornschwangerschaft gegeben. Sitzt das Corpus luteum graviditatis in dem zum 
Nebenhorn gehörenden Ovarium, so kann die Befruchtung nur dadurch erfolgt 
sein, daß die Spermatozoen durch die normale Uterushälfte und die ihr zugehörige 
Tube in die Bauchhöhle und von da auf die andere Seite hinüber gelangt sind. 
Verhältnismäßig häufig aber hat man bei der Nebenhornschwangerschaft das Corpus 
luteum graviditatis in dem Ovarium der anderen Seite gefunden. In allen diesen 
Fällen ist die Enstehung der Nebenhornschwangerschaft durch die sog. äußere 
Überwanderung, deren wir schon oben gedacht haben, zu erklären. 

Der klinische Verlauf der Nebenhornschwangerschaft ist ganz wie der einer 
Extrauteringravidität. Die meisten Fälle enden vorzeitig, wie gesagt, im vierten bis 
fünften Monat durch den äußeren Fruchtkapselaufbruch. Andere Fälle können bis 
Ende der Schwangerschaft ausgetragen werden und machen dann die gleichen Er- 
scheinungen wie jede andere Extrauteringravidität mit ausgetragener Frucht im ge- 
schlossenen Fruchthalter. | 

Die Diagnose bei der Nebenhornschwangerschaft wird sehr häufig nicht ge- 
stellt und die allermeisten Fälle werden erst bei der Operation als solche erkannt. 
Es gibt aber bestimmte Merkmale, die schon verhältnismäßig frühzeitig auf die richtige 
Diagnose hinleiten können. Dadurch, daß es nicht zur Verschmelzung der Müller- 
schen Gänge gekommen ist, sondern der vorhandene, eigentlich nur halbe Uterus 
von einem Müllerschen Gang gebildet worden ist, zeigt er sehr häufig eine charakte- 
ristische seitliche Verziehung, und man kann in günstigen Fällen bei der Palpation 
auch fühlen, daß die Form des Uterus eine andere ist als sonst. Die Abweichung von 
dem normalen besteht darin, daß der aus einem Müllerschen Gang gebildete Uterus 
gewöhnlich nicht die birnenförmige Figur mit der Abplattung und Verbreiterung 
des Fundus zeigt, sondern konisch nach oben zu läuft und in die Tube übergeht. 
Das zweite Zeichen, das für die Diagnose wichtig ist, ist das Verhalten des ge- 
tasteten Tumors zum Uterus und den ihm zugehörigen Adnexen. Man kann ge- 
wöhnlich feststellen, daß das Verbindungsstück zwischen Uterus und Nebenhorn 
nicht das Gefühl der schlanken Tube gibt, neben der dann noch das Ligamentum 
ovarii proprium zu tasten ist, sondern einen gleichmäßig entweder fingerdicken, 
runden oder mehr flachen Strang darstellt, der breit auf dem Tumor übergeht. 
Tastet man den Tumor selbst ab, so kann man unter Umständen einen Konsistenz- 
wechsel während der Palpation nachweisen, der schon darauf hindeutet, daß der 
Fruchtsack nicht von der Tube gebildet wird. Kann man dann noch den Abgang 
der Tube und des Ovariums von seiner Seite her nachweisen, dann ist die Diagnose: 
Nebenhornschwangerschaft sicher. In den späteren Monaten, wenn die Neben- 
hornschwangerschaft schon das kleine Becken ausfüllt, wird man allerdings die 
Adnexe neben ihm kaum noch fühlen und es ist dann auch, wenn man überhaupt 
an.Schwangerschaft außerhalb des Uterus denkt, kaum zu entscheiden, ob es sich 
um eine Eileiter- oder Nebenhornschwangerschaft handelt. Ist, wie das in manchen 
Fällen geschehen ist, die Nebenhornschwangerschaft als solche erkannt worden, so 
muß man selbstverständlich operativ vorgehen. Man darf nicht darauf rechnen, daß 
sich vielleicht die Frucht bis zur Lebensfähigkeit in dem Fruchtsack entwickeln 
kann, um dann erst operativ vorzugehen, da jederzeit infolge der eigenartigen, 
oben beschriebenen Entwicklung des Fruchtsackes die Ruptur eintreten kann, die 
dann wegen der außerordentlichen Blutungen sehr rasch den Tod der Frau 
herbeiführt. 

Tritt, wie meist, in früheren Monaten die Ruptur ein, dann muß selbstver- 
ständlich sofort operiert werden. 


200 O. Pankow. 


Literatur: ! O. Hertwig, Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Teilung des 
Tiereies. Morph. Jahrb. 1876, I u. 1877, II. — ?Hubrecht s. Selenka, Menschenaffen, 5. Lief., 
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schaft in v. Winckels Handb. d. Geb., Wiesbaden 1904, II, 2.T. — 5J. Veit, Die Extrauterin- 
gravidität in A. Döderleins Handb. d. Geb., Wiesbaden 1916, II, p. 327ff. — *Schönholz, Über 
angeborene Tubenanomalien, Ztschr. f. Geb. u. Gyn., LXXXVII. — ’Chiari, Zur pathologischen Anatomie 
des Eileiterkatarrhs, Ztschr. f. Heilk., VIII. — 8Schauta, Über die Diagnose der Frühstadien chronischer 
ee A. f. Gyn., XXXIII. — ?v. Recklinghausen, Die Adenome und Cystadenome der Uterus- 
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weiblichen Adnexe, ihrer Änfangsgebilde und der Adenomyome des lateralen Tubenabschnittes. 
Virchows A., CLXIX. — "R. Meyer, Uber Drusen, Cysten und Adenome im Myometrium bei Er- 
wachsenen. Ztschr. f. Geb. u. Gyn., XLII u. XLIV. — % Opitz, Über die Ursachen der Ansiedlung 
des Eies im Eileiter. Ztschr. f. Geb. u. Gyn., XLVIII, H. 1. — 3 Höhne, Intramuskuläre Abzweigungen 
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den Bau der menschlichen Tube, Leipzig 1906 und A. f. Gyn., LXVII, H.1. — 2 Bland Sutten, zit. nach 
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1906, p. 1201. — ® P. Zweifel, Zbl. f. Gyn. 1920, p. 1483. 

Ausführliche Literaturangaben über die Extrauteringravidität finden sich in Werth, Die Ex- 
trauterinschwangerschaft, v. Winckels Handb. d. Geb. 1904, II; J. Veit, Die Extrauteringravidität, 
Döderleins Handb. d. Geb. 1916, II, p.327. — Spätere Literatur mut eingehenden Literatur- 
angaben: Höhne, Die Atiologie der Oraviditas extrauterina. A. f. Gyn., CVII; Grieser, Zur 
Atiologie der Tubargravidität, Zbl. f. Gyn. 1921, p. 495; Kratzeisen, Zur Pathologie der Tubar- 
gravidität. A. f. Gyn. 1923, CXVI; Löhnberg, Zur Klinik der Tubargravidität insbesondere über 
das spätere Schicksal der operierten Fälle u. s. w. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1922, LXXXIV. 
A. Ausgetragene Extrauteringravidität: Höhne, Uber die weiter und weitest vorgeschrittene 
Tubenschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 4; Hisgen, Ausgetragene Extrauteringravidität. Zbl. f. 
Gyn. 1921. Nr. 14; John Olow, Zur Frage der exspektativen Behandlung der fortgeschrittenen ex- 
trauterinen Schwangerschaft. Zbl. 1921, p. 488; Runge, Ausgetragene Extrauteringravidität. Zbl. 1921, 
p. 1107; Tschamer, Extrauteringravidität mit skeletierter Frucht im IX. Lunarmonat. Mon. f. Geb. 
u. Gyn. 1922, LIX. B. Beiderseitige Tubargravidität: Borell, Gleichzeitige Schwangerschaft 
beider Tuben (mit spontaner Rückbildung der einen Seite). Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 4; Fink, lntra- 
tubare Untergangsformen der Eileiterschwangerschaft. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1922, LVIII; Schiffmann, 
Uber die Spontanheilung junger Tubargraviditäten, zugleich ein ne zur Kenntnis der interstitiellen 
Schwangerschaft. A. f. Gyn., CXII, H. 1; Brossmann, Ein Fall von beiderseitiger Eileiterschwanger- 
schaft. Zbl. f. Gyn. 1920, p. 174. C. Zwillinsschwangerschaft bei Tubargravidität: B. Leslie 
Arey, The cause of tubal pregnancy and tubal twinning (Die Ursache der Tubargravidität und der 
Tubenzwillinge). Americ. journ. of. obstetr. gyn. 1923, V, Nr. 2. Two embryologically important 
specimens of tubal twins. Includinc critical summaries of all known cases (Zwei embryologisch 
wichtige Präparate von tubaren Zwillingen mit einem kritischen Referat über alle bekannten Fälle). 
Surg. gynecol. a. obstetr. 1923, XXXVI. D. Wiederholte Extrauteringravidität: Benzel, Wieder- 
holte Tubenschwangerschaft bei derselben Frau. D. med. Woch. 1923, p. 687; Gudden, Über die 
Fälle wiederholter Extrauteringravidität an der Universitätsfrauenklinik Kiel. Zbl. 1921, p. 1479; 
Hanak, Ein Fall von Ileus, kombiniert mit zum zweitenmal auf derselben Seite aufgetretener Tubar- 
gravidität. Wr. kl. Woch. 1920, Nr. 46; Joseph, Ein Fall von dreimaliger Tubargravidität. Berl. kl. 
Woch. 1921, p. 452; Sigwart, Wiederholte Extrauteringravidität der gleichen Seite Zbl. f. Gyn. 1922, 
p. 690. E. Interstitielle Gravidität: Eckpardt, Zur Frage der interstitiellen Gravidität. D. med. 
Woch, 1921, Nr. 34; Albert Stein, Interstitielle Gravidität. Inaug.-Diss., Halle 1918; Littauer, 
Interstitielle Schwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 23; Rübsamen, Zwei Fälle von interstitieller 
1921, LVII; Robert Meyer, Zur Frage der Behandlung der Tube der gesunden Seite bei Operation 
Gravidität. Zbl. f. Gyn. 1920, p. 131; Zuntz, Interstitielle Gravidität. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1923, LXXXVI, 
p. 1. F. Tubenstumpfgravidität: Diemer, Uber Dee Mon. f. Geb. u. Gyn. 
der graviden anderen Seite. Zbl. f. Gyn. 1919, p. 1001; H. A. Dietrich, Zur Therapie der Tubargravidität. 
Zbl. f. Gyn. 1921, Nr. 14. G. Nebentubenschwangerschaft: Ekler, Gravidität in einer Neben- 
tube. A. f. Gyn., CXII, H. 3. H. Intraligamentäre Tubenschwangerschaft, Graviditas 
ovarica — fimbriae ovaricae et — Be und Tuboovarialgravidität: Burghardt, 
Über einen Fall von ausgetragener Tuboovarialgravidität mit basiotroper Placentation. A. f. Gyn., 
CXX; Höhne, Über echte intraligamentäre und parametrane Tubenschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 
1923, Nr. 2. Uber Graviditas ovarica, über Graviditas fimbriae ovaricae und über Graviditas para- 
tubaria. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 1; Kuncz, Ein Fall von ausgetragener Tuboovarialgravidität. Mon. 
f. Geb. u. Gyn. 1919, XLIX. J. Ovarialgravidität: Boeing, Klinische und anatomische Betrach- 
tungen über ara dan Ovarialgravidität. Mon. f. Geb. u. Gyn. 1923, LXII; Dorsch, Ein Fall von 
ausgetragener Ovarialgravidität. Inaug.-Diss, Würzburg 1921; Jaeub, Ein Fall von ausgetragener 


Die Extrauteringravidität. 201 


Ovarialschwangerschaft. Zbl. f. Gyn. 1923, Nr. 5; v. Jaschke, Ovarialgravidität mit wohl erhaltenem 
Embryo. Ztschr. f. Geb. u. Gyn. 1916, LXXVIII; Liebe, Echte Eierstocksschwangerschaft. Mon. f. Geb. 
u. Gyn. 1921, LIV; Sfakianakis, Über Graviditas ovarica. Kl. Woch 1923, Nr. 19. X. Gleich- 
zeitige Schwangerschaft in Uterus und Tube: Sippel, Heterotope Zwillingsschwangerschaft 
in Uterus und Tube mit nachfolgender Tubenschwangerschaft der anderen Seite. D. med. Woch. 1922, 
p. 1202. 2L.Abdominalschwangerschaft: Broer, Fünf Fälle von selteneren Extrauteringraviditäten. 
Mon. f. Geb., L, p. 1919; Brugnatelli, Primäre ausgetragene Abdominalschwangerschaft. Zbl. 1922, 
p. 1831; Czyzewicz, Die Bauchhöhlenschwangerschaft im Lichte neuer Beobachtungen. A, f. Gyn., 
XCVII; Fleischhauer, Primäre Abdominalschwangerschaft. Zbl. 1917, Nr. 27; Köhler, Primäre 
Abdominalschwangerschaft. Mon. f. Gyn. 1918, XLVIII; Reifferscheid, Primäre Abdominalschwanger- 
schaft. Zbl. 1921, p. 38; Seeligmann, Über primäre Abdominalgravidität. Zbl. 1923, Nr. 5; Walker, 
Ein Fall von primärer Abdominalschwangerschaft. A. f. Gyn. 1919, CIX/3. M. Nebenhornschwanger- 
schaft: Benthin, Zwillingsschwangerschaft im atretischen rudimentären Horn bei Uterus duplex. 
Zbi. f. Gyn. 1921, Nr. 6; Conrad, Schwangerschaft im rudimentären Nebenhorn. Zbl. f. Gyn. 1923, 
p. 1402; Carl Justi, Uber Schwangerschaft im verkümmerten Nebenhorn der einhornigen Gebär- 
mutter. Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre, CXI, H. 3/4; Thaler, Über eine 
ungewöhnliche Schwangerschaftskomplikation (Lithohelyphos, ausgehend von einem rupturierten atre- 
tischen Nebenhorn, als Komplikation einer Vollhornschwangerschaft). Zbl. f. Gyn. 1919, p. 828; 
Vischer, Ausgetragene Gravidität in der verschlossenen Hälfte eines Uterus bilocularis. Ztschr. f. 
Geb. u. Gyn. 1918. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der 
Gallensteinkrankheit. 


Von Dr. Thorkild Rovsing, Professor der klinischen Chirurgie an der Universität in 
Kopenhagen. 


Mit 7 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln. 


Wenn wir heutzutage die Probleme der Indikationsstellung und der Operations- 
wahl für die chirurgische Behandlung der Gallensteinkrankheit zu lösen versuchen 
wollen, dann müssen wir uns erst eindringlich mit dem Pathogeneseproblem be- 
schäftigen. Denn die gewaltigen Fortschritte der ärztlichen Wissenschaft im letzten 
halben Jahrhundert verdanken wir ja eben dem Studium der Ätiologie und Patho- 
genese der Krankheiten, welches durch Pasteurs Entdeckung der Bakterien als 
Krankheitserreger inauguriert wurde. Es wurde hierdurch ermöglicht, bei zahlreichen 
Erkrankungen an die Stelle einer rein symptomatischen Therapie die kausale Behand- 
lung treten zu lassen. 

Was nun die Therapie der Gallensteinkrankheit anbelangt, hat man dasselbe 
angestrebt, und die heutige Oallensteintherapie, speziell die chirurgische, so wie sie 
von der Majorität der Chirurgen aller Welt heutzutage geübt wird, beruht auf der 
schon im Jahre 1886 vom französischen Arzt Galippe aufgestellten, später von 
Naunyn ergriffenen und weiter ausgebauten Pathogenesetheorie, gemäß welcher jede 
Gallensteinbildung auf einer infektiösen Cholecystitis in einer Stauungs- 
blase beruht. Infektion und Gallenstase sind die notwendigen Bedingungen jeder 
Gallensteinbildung. 

Im Vertrauen auf die Naunynsche Theorie haben die Chirurgen konsequent 
die Cholecystektomie als Normalverfahren, als den einzig indizierten radikalen 
Eingriff angenommen. Die von verschiedenen Seiten erhobenen Bedenken gegen die 
Entfernung eines vielleicht wichtigen Organs wurden durch die von Langenbuch 
verfochtene Annahme, daß die Gallenblase ein ganz unnützes und überflüssiges 
Organ sei, beseitigt. 

Es hat sich nun aber gezeigt, daß die Naunynsche Theorie in jeder Beziehung 
ganz unrichtig ist: daß weder Infektion, Cholecystitis noch Stauung in der Gallen- 
blase für die Gallensteinbildung von Bedeutung sind, ja daß die Gallensteine in der 
Leber entstehen und in der Gallenblase nur weiter wachsen, wie sie es auch in 
den Gallengängen tun können. 

Endlich hat eine Reihe von Experimenten und klinischen Erfahrungen dargetan, 
daß die Annahme, die Gallenblase sei ein überflüssiges, nutzloses Organ, gar nicht 
stichhaltig ist. | 

Unter diesen Umständen wird es natürlich notwendig, die ganze Lehre von 
der Jndikationsstellung und der Operationswahl in der chirurgischen Behandlung 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 203 


der Gallensteinkrankheit zu revidieren, nachdem wir uns den heutigen Standpunkt 
des Pathogeneseproblems möglichst klar gemacht haben. 

Ich werde zuerst eine kurze] kritische Darstellung der bisherigen Theorien über 
die Entstehungsweise der Gallensteine vorausschicken. 


Theorien über die Entstehungsweise der Gallensteine. 


I. Meckel von Hemsbachs Theorie. 


Die erste zuverlässige, wirklich wissenschaftliche Grundlage zum Aufbau einer 
haltbaren Theorie des Ursprungs der Gallensteine verdanken wir Meckel von 
Hemsbach. Dieser studierte die Mineralogie der Gallensteine, wies nach, daß sie 
in der Hauptsache aus Cholesterin oder Pigmentkalk oder diesen beiden Bestand- 
teilen zusammengesetzt seien, daß aber diese krystallinischen Substanzen durch ein 
organisches Bindemittel zu einem Stein verkittet wären. Zur Erklärung der Herkunft 
dieses Bindemittels stellte Meckel die Theorie vom „steinbildenden Katarrh“ als 
einer notwendigen Voraussetzung jeder Steinbildung auf. 

Dabei blieben nun zwei wichtige Fragen offen: was verursachte diesen stein- 
bildenden Katarrh, und was die Ausfällung von Cholesterin und Pigmentkalk? 

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, wo es Mode war, Krankheiten unbe- 
.kannter Ursache durch eine dem Patienten innewohnende „Diathese“, d. h. eine 
angeborene oder ererbte Disposition, zu erklären, suchte man auch hier die Deutung 
in einer Gallensteindiathese, ebenso wie man Nierensteine durch „harnsaure Diathese« 
erklärte. Wie man Harngrieß oder Nierensteine in ganzen Geschlechterfolgen gewisser 
Familien auftreten sah, so auch Gallensteine, und in solchen Fällen hielt man es 
für richtig und berechtigt, die Bildung von Gallensteinen als Ausdruck einer ange- 
borenen Diathese anzusehen, worunter man sich eine angeborene Stoffwechsel- 
anomalie, d. h. Regelwidrigkeiten bei den im Körper sich vollziehenden chemischen 
Umwandlungen, vorstellte. Die zahlreichen Fälle, wo außer dem Patienten kein 
anderes Familienmitglied an Gallensteinen gelitten hatte und somit eine erbliche 
Disposition auszuschließen war, erklärte man damit, daß der Patient sich die 
Disposition durch eine verkehrte Lebensweise erworben habe: zu kräftige, namentlich 
zu fette Kost, zu wenig Bewegung und infolgedessen Obstipation. Die ärztliche 
Behandlung war daher wesentlich diätetisch. Nun sind allerdings die Diathesen 
längst aus der Mode gekommen, verhaßt und verachtet, wie alle entthronten 
Tyrannen, — eine undankbare und sicherlich nicht ganz zu rechtfertigende Behand- 
lung; denn, wie ich später nachweisen werde, können wir sie letzten Endes doch 
nicht immer ganz entbehren. Sie werden wieder auftauchen, wenn die Theorie, die 
sie verdrängte, sich als mehr oder weniger unhaltbar erwiesen hat. | 

Es war die Infektionstheorie, welche beim Aufblühen der Bakteriologie 
auf diesem wie auf so zahlreichen anderen Gebieten sich der Geister bemächtigte 
und alle früheren Vorstellungen beiseite warf. 


IL Galippe-Naunyns Infektionstheorie. 


Im Jahre 1886 stellte der Franzose Galippe die Behauptung auf, daß jede 
Konkrementbildung, sowohl in den Gallen- wie in den Harnwegen, auf Infektion 
zurückzuführen sei. Diese in Wirklichkeit ganz lose Behauptung griff der ange- 
sehene deutsche Kliniker Naunyn auf, und es ist merkwürdig zu sehen, wie dieser 
Kliniker im Glauben an jene Lehre alsbald der klinischen Beobachtung den Rücken 
wandte und ihre Diathesen und Stoffwechselanomalien in Acht und Bann tat, um 


204 Thorkild Rovsing. 


mit Hilfe von Mikroskop und Tierexperimenten eine überaus künstliche Theorie 
der Entstehungsweise der Gallensteine aufzubauen. 

Nach dem natürlichen Gang der Dinge hätte nun Naunyn ungesäumt eine 
systematische Untersuchung darüber anstellen müssen, ob sich denn nun auch 
wirklich bei einer großen Anzahl von Gallensteinkrankheitsfällen Infektion nach- 
weisen ließe oder nicht. Dazu macht er jedoch gar keinen Versuch; ja, er läßt sich 
auch dadurch nicht beirren, daß Gilbert und Dominici bei systematischen Unter- 
suchungen an der Leiche nur bei einem Drittel der Fälle von Gallensteinerkrankung 
Bakterien fanden, — ein Umstand, der wohl geeignet gewesen wäre, ernste Zweifel 
an der Richtigkeit seiner Theorie zu wecken. Noch in seinem Werk von 1921 be- 
schränkt er sich auf ganz nichtssagende Bemerkungen darüber, daß der Gehalt 
des Duodenums an Bacterium coli, das leicht in die Gallenwege eindringen könne, 
seiner Theorie in hohem Grade zur Stütze gereiche. Auch hat er selbst eine Anzahl 
Gallensteine, besonders schwarze Pigmentkalksteine, untersucht, aber nur ein einziges 
Mal Mikroben darin gefunden. Nicht einmal dieser Befund scheint seine Überzeugung 
erschüttern zu können. Tatsächlich nimmt Naunyn das, was zu beweisen ist, als ge- 
geben an und sucht nun durch die mikroskopische Untersuchung von Galle aus 
entzündeten Gallenblasen zu zeigen, wie die Steinbildung von Anbeginn vonstatten geht. 

Naunyn behauptet, daß die Gallensteine in ihrem ersten Stadium aus Chole- 
sterin beständen, daß dieses aber nicht aus der Galle ausgefällt sei, sondern einfach ` 
ein Produkt der durch die Entzündung geschwollenen und abgestoßenen Epithel- 
zellen der Gallenblasenschleimhaut darstelle. Während in einer normalen Gallen- 
blase die Kerne der Epithelzellen unter dem Mikroskop in klarem Protoplasma 
liegen, findet man bei Cholecystitis und namentlich bei Patienten mit Gallensteinen 
das Protoplasma um den Kern herum mit Fetttropfen oder Myelinkonglomeraten 
erfüllt. Unter dem Mikroskop glaubte Naunyn zu bemerken, wie diese Myelin- 
konglomerate von den Zellen ausgestoßen wurden und frei in der Galle umher- 
schwammen, wo sie sich zu größeren Klumpen einer stark lichtbrechenden, glas- 
artigen, strukturlosen Masse zusammenballten. Von diesen Myelinklumpen behauptet 
nun Naunyn, daß sie aus reinem Cholesterin beständen und die erste Anlage der 
Gallensteine darstellten. Er schließt dies daraus, daß sich neben diesen weichen 
Klumpen andere fänden, worin das Cholesterin in beginnender Krystallisation 
erscheine. „Es handelt sich hier“, sagt Naunyn, „schon um kleine, echte Steine, 
von denen viele zum Teil aus Bilirubinkalk zusammengesetzt sind." 

Die weitere Entwicklung der Konkremente ist nach Naunyn auf zwei ver- 
schiedene Prozesse zurückzuführen: 1. Auflagerung neuer Schichten, und 2. eine 
fortgesetzte Infiltration der Steine mit auskrystallisierendem Cholesterin. Die Voraus- 
setzung für die Ablagerung von Pigmentkalk ist, daß die Galle in die Gallenblase 
hineingelangt, während Cholesterinbildung sehr wohl in einer Gallenblase erfolgen 
kann, deren Verbindung mit dem Gallenstrom aufgehoben ist. 

Die großen krystallinischen Cholesterinsteine, die man nicht gerade 
selten antrifft: eiförmig, die ganze Gallenblase oder deren Hals ausfüllend, die schon 
Meckel von Hemsbach für sekundäre Bildungen erklärte, werden auch von 
Naunyn als sekundäre Umbildung eines gewöhnlichen Gallensteins durch Infitra- 
tion mit Cholesterin betrachtet, das durch Infiltrationskanäle in den Gallenstein ein- 
gedrungen ist und den Bilirubinkalk verdrängt hat, um an dessen Stelle seinerseits 
in den Kanälen auszukrystallisieren. 

Naunyn behauptet, daß die Gallensteinbildung nur in der Gallenblase vor 
sich gehe, u. zw. nur in solchen Gallenblasen, die der Sitz einer infektiösen Ent- 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 205 


zündung und in ihrer Entleerung behindert seien: sog. „Stauungsgallenblasen«. Für 
Naunyn ist es eine conditio sine qua non, daß die Gallenblase sich nicht auf 
normale Weise entleeren kann, weil sonst die kleinen Myelinklümpchen, bevor sie 
Gallensteine werden könnten, fortgespült werden würden. Nach einem Beweise dafür, 
daß wirklich eine solche Stauung oder erschwerte Entleerung der Steinbildung vor- 
hergehe, sucht man vergebens. 

Seltsam genug eroberte sich Naunyns neue Lehre sozusagen im Handumdrehen 
die ganze Welt. Nur von zwei Seiten erhob sich ein nennenswerter Widerstand. Von 
klinisch-bakteriologischer Seite widersprach Chauffard, der geltend machte, 
daß Naunyns Theorie der alltäglichen klinischen Beobachtung widerstreite, wobei 
er besonders auf die Erfahrungen bei Febris typhoidea und Icterus catarrhalis hinwies. 
Bakteriologisch untersuchte er einen Gallensteinkern, ohne Mikroben nachweisen zu 
können. Von seiten der physiologischen Chemie richtete der deutsch- 
gebürtige Professor der pathologischen Chemie in London, Thudichum, einen 
heftigen Angriff gegen Naunyns Theorie, wobei er zunächst geltend machte, daß 
das Cholesterin in menschlichen Gallenblasen von einer Galle herrührte, deren 
Cholesterinlösungsvermögen infolge von Spaltung der Glykocholsäure in Cholal- 
säure und Glykokoll herabgesetzt sei; sodann wies er auf die für Naunyn unerquick- 
liche Tatsache hin, daß bei Ochsen und Schweinen niemals Cholesterin in Gallen- 
steinen gefunden werde, ein Umstand, der Naunyns Theorie von der Pathogenese 
der Gallensteine bei diesen Tieren unmöglich und für den Menschen unwahr- 
scheinlich mache. | 

Im übrigen aber wurde Naunyns Theorie überall mit kritikloser Begeisterung auf- 
genommen, nicht zum mindesten von den Chirurgen, erst und vor allen von Langen- 
buch, denen sie aus dem Grunde besonders zusagte, weil sie die Gallensteinbildung 
für einen streng auf die Gallenblase lokalisierten Prozeß erklärte, so daß also nicht 
nur die Krankheit, sondern auch die Anlage dazu mit der Gallenblase radikal beseitigt 
werden könnte. 

Il. C. Langes Theorie. 

C. Lange äußerst sich 1893 im speziellen Teil seiner Pathologischen Ana- 
tomie über die Pathogenese der Gallensteine und warnt im Hinblick auf die In- 
fektionstheorie davor, alle Gallensteine über einen Kamm zu scheren. Er betont, 
daß die drei Hauptformen der Gallensteine: die Pigmentkalksteine, die ge- 
schichteten multiplen und die solitären Cholesterinsteine, nicht nur in 
Aussehen und Struktur verschieden seien, sondern auch unter so verschiedenen 
Verhältnissen angetroffen würden, daß sie wahrscheinlich auch eine verschieden- 
artige Pathogenese hätten. Lange macht erstmalig darauf aufmerksam, daß die 
Pigmentsteine in der Regel in gesunden Gallenblasen vorkommen, während Cho- 
lesterinsteine vorzugsweise in entzündeten, stark veränderten Gallenblasen anzu- 
treffen sind. Lange konnte sich daher allenfalls denken, daß die Cholesterin- 
steine ihren Ursprung einer Infektion verdankten, nicht aber die Pig- 
mentkalksteine.. Indem er zwischen den aseptischen Uratsteinen und den auf 
infektiösem Wege entstandenen Phosphatsteinen der Harnwege und den Pigment- 
kalk- und Cholesterinsteinen der Gallenwege eine Parallele zieht, führt er diesen 
Vergleich in sehr verführerischer Weise weiter, wobei er die geschichteten Gallen- 
steine von gemischter Struktur den gemischten Steinen der Harnwege mit einem 
Kern von Urat oder Oxalat und einem Mantel von Tripelphosphat an die Seite stellt. 

C. Lange äußert hier seine Meinung auf Grund allgemeiner Eindrücke aus 
einer großen Erfahrung als pathologischer Anatom; er hat sich nicht weiter in 


206 Thorkild Rovsing. 


diese Frage vertieft und traut sich nicht zu, eine eigene Theorie aufzustellen, aber 
er spricht klare, kluge Worte, die blitzartig Naunyns Theorie als ein Luftschloß 
entschleiern, das auf einer Idee, einem Einfall aufgebaut ist, bei welchem Naunyn 
vergaß, was die Klinik und der Sektionstisch uns gelehrt haben. 


IV. Boysens Theorie. 


Boysens Abhandlung „Über die Struktur und Pathogenese der Gallen- 
steine“ erschien 1900 als Doktordissertation; sie steht unter entschiedener Ein- 
wirkung zweier älterer Forscher, Meckel von Hemsbach und C. Lange. Der 
erstere hat seine Kritik und sein Mißtrauen gegen Naunyns Theorie geweckt, 
während des letzteren „mineralogische« Methode der Gallensteinuntersuchung ihm 
als ein aussichtsvollerer Weg zur Lösung der Frage nach der Pathogenese er- 
schienen ist als die chemische Analyse. So ist es denn wesentlich die mikroskopi- 
sche Untersuchung der Struktur der Gallensteine an Dünnschliffen, womit Boysen 
seine interessanten Resultate erzielte. 

Sein Material umfaßte Gallensteine aus etwa 200 Gallenblasen und stammte 
im wesentlichen aus dem Sezierzimmer des Städtischen Krankenhauses in Kopenhagen. 

Mit einer sehr dünnen, stark erwärmten Messerklinge schnitt oder vielmehr 
schmolz er die Steine entzwei, u. zw. so, daß der Schnitt den Kern traf. Zu einem 
richtigen Strukturbild gehört nämlich auch der Kern. Dieser sowie die gesamte 
übrige Struktur treten besonders klar bei geschliffener Oberfläche zutage. Den 
Schliff bewirkte Boysen auf einer Glasplatte mit einer Aufschlämmung des gröbsten 
Schmirgels. Zur Entfernung der Schmirgelreste polierte er zuletzt den Dünnschliff 
mit feinem Seidenstoff. Mit diesem Verfahren gelang es Boysen, so dünne Einzel- 
schnitte ganzer Steine herzustellen, daß sie mikroskopisch untersucht werden konnten, 
nachdem sie mit Kanadabalsam auf einem Objektträger befestigt worden waren. 

Boysen ging nun bei seiner Arbeit von folgender logischen Erwägung aus: 
Will man auf mineralogischem Wege Klarheit über die Pathogenese der Gallen- 
steine erhalten, dann muß man die Untersuchung zuerst und vor allem auf die 
kleinsten, die jüngsten Konkremente richten. Als kleinste erwiesen sich nun 
die stacheligen, schwarzen, in der. Größe zwischen feinem Grieß und Stecknadel- 
kopfgröße schwankenden Pigmentsteine. Bei der Untersuchung am Schnitt erwiesen 
sich diese als aus reinem Pigmentkalk bestehend und als gleichmäßig durch orga- 
nische Substanz zusammengekittet, ohne Schichtung und ohne Cholesterin. Diese 
Objekte sind alle von gleicher Größe und Form, so daß man vermuten darf, sie 
seien alle gleichzeitig infolge einer mehr oder minder akuten, vorübergehenden 
Abnormität bei der Galleerzeugung entstanden. Daß sie die einfache Folge von 
Ausfällung aus normaler Galle einer Gallenblase mit erschwertem Abfluß sein 
sollten, glaubt Boysen ausschließen zu können, teils weil er jederzeit Pigment- 
steine in gesund aussehenden Gallenblasen gefunden hat, teils weil der Haupt- 
bestandteil der Pigmentsteine, das Bilihumin, in normaler Galle nicht vorkommt. 
Die Pigmentsteine sind nach Boysens Meinung auch gar nicht in der Gallenblase, 
sondern weiter rückwärts in den Lebergängen entstanden und mit dem Gallenstrom 
in die Gallenblase gelangt. In dieser können sie nach Boysen nicht in der bis- 
herigen Weise weiter wachsen, sondern nur noch durch geschichtete Anlagerung 
anderer Substanzen, wodurch sie ihre charakteristische Form und Farbe verlieren. 
Zu diesem Ergebnis gelangte er durch die Untersuchung der nächsten Größen- 
klasse, der kleinsten unter den facettierten Steinen. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 207 


Die Prüfung dieser Steine zeigte nämlich, daß deren Kerne regelmäßig aus 
schwarzem Pigmentkalk bestehen, um welchen herum Cholesterin und Bilirubinkalk 
abgelagert ist. Werden die Steine älter und größer, so sieht man, daß der Pigment- 
kern sich verkleinert, in eine centrale Höhlung zu liegen kommt und von einer 
halbflüssigen, weichen Masse umhüllt ist. In Spalten, die radiär vom Centrum aus- 
strahlen, bemerkt man Pigmentstreifen und daneben am Rande auskrystallisiertes 
Cholesterin (vgl. Tafel II). 

Nach Boysens Auffassung handelt es sich hier um osmotisches Eindringen 
von Cholesterinlösung in den Stein. Das Cholesterin infiltriert das Stroma und der 
Stein schwillt und platzt. Dann löst und verdrängt das Cholesterin das Pigment, 
wobei letzteres durch die entstandenen Risse und Spalten austritt, während das 
Cholesterin auskrystallisiert und im Inneren des Steines feste Form einnimmt. 

Diese Substitution von Pigmentkalk durch Cholesterin kann nun einen solchen 
Grad erreichen, daß der erstere nahezu oder vollständig aus dem Stein verdrängt 
wird. So kann ein Gallenstein, der als kleiner schwarzer Pigmentstein begonnen 
hat, als ein großer, weißer, reiner Cholesterinstein enden! 

Mag nun diese Boysensche Theorie richtig sein oder nicht, so ist sie doch 
unstreitig die erste Theorie, die insofern voll befriedigt, als sie alles erklärt, nichts 
bei ihr ganz unverständlich und nichts mit ihr unvereinbar bleibt, während es bei 
der Naunynschen Theorie gänzlich an einer Erklärung des Ursprungs und der 
Bedeutung der reinen Pigmentkalksteine fehlt. Tatsächlich hat Naunyn sich gar 
nicht getraut, sich mit diesen Steinen zu befassen in dem klaren oder vielleicht 
unklaren Bewußtsein, daß sie mindestens zwei Hauptsätzen seiner Lehre den Garaus 
machen würden: 1. daß alle Gallensteine sich in der Gallenblase bilden, und 2. daß 
sie anfangs aus reinem Cholesterin bestehen, das von den abgestoßenen Epithel- 
zellen der Gallenblasenschleimhaut herstammt. Denn Pigmentsteine entstehen nicht 
in der Oallenblase und enthalten kein Cholesterin. An einer Stelle seiner ersten 
Abhandlung sagt Naunyn selbst, daß. man in den Lebergängen oft kleine Kon- 
kremente aus schwarzem Pigmentkalk antreffe. 

Wie stellt sich nun Boysen zur Frage der Infektion? Hier stoßen wir 
allerdings auf eine schwache Stelle seiner Arbeit. Da er nur Steine, aber niemals 
die zugehörigen Gallenblasen untersucht hat, da er ferner keine bakteriologische 
Untersuchung ausgeführt und ebensowenig die Krankengeschichten der betreffenden 
Patienten studiert hat, kann er sich hier nur mit großer Zurückhaltung äußern. 
Immerhin vertritt er einen bestimmten Standpunkt, der sich teils auf eigene, teils 
auf fremde, hauptsächlich C. Langes Beobachtungen stützt. Daß die Gallensteine 
einer Entzündung ihren Ursprung verdanken sollen, hält er für ganz unwahr- 
scheinlich, weil er die primären Pigmentkalksteine stets in vollkommen gesund aus- 
sehenden Oallenblasen gefunden hat. 

Wenn er weiterhin sagt, daß die facettierten und die Cholesterinsteine in der 
Regel in entzündeten Gallenblasen anzutreffen seien, und es daher für wahrscheinlich 
hält, daß die Infektion die Ursache der Weiterentwickelung der Steine 
sei, so stützt er sich dabei offenbar einzig und allein auf die Autorität C. Langes 


V. Aschoffs und Bacmeisters Theorie. 


Aschoff ist bekanntlich von den lebenden pathologischen Anatomen Deutsch- 
lands der angesehenste, und Bacmeister ist einer seiner vormaligen Assistenten. 
Dies ist die natürliche Erklärung dafür, daß diese beiden Forscher die Frage von 


208 Thorkild Rovsing. 


einem sehr einseitigen, pathologisch-anatomischen Standpunkt aus angefaßt haben. 
In der Einleitung schreiben sie folgendes: 

„Die nachfolgenden Mitteilungen gründen sich auf ein Material von rund 250 
lebenswarm oder doch sehr bald nach der Operation fixierten Gallenblasen. Leider 
wurden die meisten vor dem Einlegen in die Fixierungsflüssigkeit ihres Inhalts, 
soweit es sich wenigstens um Steine handelte, beraubt. Nur in Ausnahmefällen war 
der Chirurg so opferwillig, auch die Steine zur vorläufigen Orientierung mitzu- 
geben. Insofern steht das Material noch nicht durchweg auf der Höhe, doch 
konnten die etwaigen Lücken durch ein sorgfältig kontrolliertes Leichenmaterial 
von ca. 50 Gallenblasen in erwünschter Weise ergänzt werden. Leichenmaterial 
allein ist natürlich ebensowenig zuverlässig wie bei der Appendicitis. Es empfiehlt 
sich auch hier, die verschiedenen Entwickelungsstufen nacheinander zu betrachten.“ 

Es handelt sich hier also um makro- und mikroskopische Untersuchung ge- 
härteter Gallenblasen, deren Inhalt die betreffenden Chirurgen bei der Operation 
entleert und zurückbehalten hatten. Von einer Krankengeschichte oder auch nur ` 
einem Operationsprotokoll mit Angabe von Aussehen, Form und Lage der Gallen- 
blase und des Ductus cysticus, ihrer Beziehungen zu den benachbarten Organen, 
vor allem aber von einer Angabe über dieLage und Anordnung der Gallensteine in 
der Gallenblase, in deren Hals und im Ductus cysticus ist nicht die Rede, ebenso- 
wenig von einer ziffermäßigen Feststellung, wie oft der eine oder andere Gallen- 
blasentypus bzw. die eine oder andere Gallensteinform im Material vertreten war. 
Bakteriologische Untersuchungen sind überhaupt nicht vorgenommen worden. Aus- 
nahmsweise ist ein Chirurg so „opferwillig“ gewesen, ihnen die Steine zur „vor- 
läufigen Orientierung“ zu leihen. Die wirkliche Grundlage für Aschoffs und Bac- 
meisters weitgehende Folgerungen muß daher das erwähnte Material von 50 Gallen- 
blasen aus dem Sezierzimmer abgeben. 

Die Theorie der Entstehung der Gallensteine, die die beiden Forscher auf 
dieser Basis aufstellen, schließt sich derjenigen Naunyns insoweit an, als sie mit 
der Behauptung beginnen, daß Gallenstauung in der Gallenblase infolge 
von behindertem Abfluß die DEER und jede Gallensteinbildung 
begleitende Ursache sei. 

Hier sowohl wie bei Naunyn sucht man vergebens nach dem Beweis für 
die Richtigkeit dieser Behauptung, oder auch nur nach einem Operations- oder 
Sektionsbefund, der sie erklären oder stützen könnte. Statt dessen müssen wir uns 
daran genügen lassen, daß die Verfasser eine Reihe von Ursachen aufzählen, von 
denen sich denken ließe, daß sie eine Stauung verursachen könnten: senile 
Atrophie der Gallenblase, unzweckmäßige Kleidung, Wanderniere. 
Gastrocoloptose u.s.w. (vgl. Aschoff und Bacmeister: Die Cholelithiasis, 
1909, p. 20). 

Damit ist indessen die Übereinstimmung mit Naunyn zu Ende; denn 
Aschoff-Bacmeister sind der Ansicht, daß die Gallensteinbildung im Beginn 
stets ein aseptischer Prozeß sei. Einfache Stase in der Gallenblase genügt, um 
das Cholesterin aus der Galle auszufällen, wodurch dann ein runder oder ein- 
förmiger Solitärstein im Gallenblasenhals entsteht. In dem Verhältnis, wie dieser 
an Größe zunimmt, legt sich der Gallenblasenhals fester und fester um ihn herum, 
so daß er eine Sperre gegen die Gallenblase bildet und zu einem „Verschluß- 
stein“ wird. Als solcher bleibt er nun nach Aschoff und Bacmeister wie ein 
„harm- und symptomloser Fremdkörper“ liegen, sofern keine Komplikationen hin- 
zutreten; in Wirklichkeit bildet er aber nur das Vorspiel „zu dem eigentlich ent- 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 209 


zündlichen Gallensteinleiden mit allen seinen Qualen und Komplikationen“. Denn 
die durch den „Verschlußstein« verursachte, dauernde oder vorübergehende Ab- 
sperrung von der Gallenblase „erleichtert die bakterielle Infektion“, die zur Chole- 
cystitis und zur Bildung multipler Gallensteine führt, von denen Aschoff und 
Bacmeister also meinen, daß sie stets auf Infektion zurückzuführen seien. 

In der Einleitung zu ihrem Buch bemerken die Verfasser, den Anstoß zu 
ihrer Arbeit habe ihnen das häufige Vorkommen eines eiförmigen Cholesterin- 
steins im Blasenhals mit einer dahinter gelagerten, größeren oder geringern Menge 
von facettierten Steinen gemischter Zusammensetzung gegeben. Sie haben sich 
selbst die Frage vorgelegt, wie wohl der von allen anderen Steinen gänzlich ver- 
schiedene Aufbau des „Verschlußsteines* aus Cholesterin, der ihnen mit Naunyns 
Lehre von der gleichartigen Bildungsweise aller Gallensteine im Widerspruch zu 
stehen und auch der Naunynschen Lehre von der Umwandelbarkeit der Gallen- 
steine zu widerstreiten scheint, zu erklären sei. In Wahrheit ist denn auch ihre 
oben wiedergegebene Theorie der Gallensteinbildung nur eine Erklärungshypothese, 
für deren Richtigkeit sie nachträglich Beweise beizubringen versucht haben, was 
ihnen, wie sie offenbar selbst überzeugt sind, auch gelungen sei. 

Da Aschoff und Bacmeister mit ihrer Theorie die Grundlage von Naunyns 
Theorie, die ja überall in der Welt als wissenschaftlich begründet gilt, umstürzen, 
so haben sie es für notwendig gehalten, seinen grundsätzlich abweichenden Stand- 
punkt zu entkräften, nach welchem Cholesterin nicht aus Galle ausgefällt werden 
kann, sondern von den durch eine infektiöse Cholecystitis veränderten und abge- 
stoßenen Schleimhautzellen herrührt. Ähnlich wie eine Reihe von Schülern und 
Anhängern Naunyns (Jankau, Kausch) sich zur Aufgabe machten, die sehr not- 
wendigen wissenschaftlichen Beweise für Naunyns Theorie herbeizuschaffen, und 
bewiesen, daß Galle kein Cholesterin ausscheiden könne, und ferner durch Experi- 
mente schlagend den Nachweis führten, daß echte, cholesterinhaltige Gallensteine 
nur auf künstlichem Wege bei Tieren zu erzeugen seien, wenn Naunyns Voraus- 
setzungen, Stauung in der Gallenblase und infektiöse Cholecystitis, zuträfen, ebenso 
haben auch Aschoffs Schüler die höchst notwendigen „wissenschaftlichen« Beweise ` 
für das gerade Gegenteil beigebracht (Bacmeister, Kramer und Aoyama). 

Sowohl Aschoff und Bacmeister wie Aoyama bekennen sich auf Grund 
dieser Forschungsergebnisse, insbesondere des nach subcutaner Injektion von Cho- 
lesterin erhöhten Cholesteringehalts der Galle, von neuem zu der alten Diathesen- 
theorie, die Naunyn und Miyake gerade für alle Zeit abgetan zu haben 
glaubten. 

Sie sind der Ansicht, daß jede Gallensteinbildung mit der Entstehung eines 
Cholesterinsteins in aseptischer, in der Gallenblase stagnierender Galle beginne, 
und da man ja oft genug Gallenstase ohne Steinbildung beobachtet hat, so suchen 
sie die Erklärung dafür, daß ein gewisser Prozentsatz solcher Patienten Gallenstein 
bekommt,.in einer Cholesterindiathese. 

Anderseits und gleichsam als Trost für Naunyn erklären Aschoff und Bac- 
meister alle facettierten Gallensteine mit Wechsellagerung von Cholesterin und 
Pigmentkalk für Erzeugnisse einer infektiösen, eiterigen Entzündung in der Gallen- 
blase. Sie haben das deutliche Empfinden, der Welt eine Erklärung dafür schuldig 
zu sein, wo der viele Kalk in den facettierten Steinen eigentlich herstammt. Ihre 
Erklärung läuft darauf hinaus, daß der Kalk in der Hauptsache aus dem Sekret der 
Schleimdrüsen stamme, das einen Gehalt an kohlensaurem Kalk aufweist. Ein Kri- 
tiker könnte hier den Einwand machen, die Verfasser hätten in einem früheren 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 14 


210 Thorkild Rovsing. 


Abschnitt ihres Buches darauf hingewiesen, daß die Schleimdrüsen ausschließlich 
im Gallenblasenhals lokalisiert seien, wobei sie eine Parallele mit der Harnblase 
ziehen, wo man ja ebenfalls Schleimdrüsen nur im Blasenhals findet. Es würde 
daher logischer erscheinen, wenn der im Gallenblasenhals entstandene und ein- 
geklemmte „Verschlußstein“, anstatt aus reinem Cholesterin ohne eine Spur von 
Kalk zu bestehen, reich an Kalk wäre, und man vermag schwer einzusehen, wes- 
halb gerade die hinter dem „Verschlußstein“ in dem drüsenlosen Teil der Gallen- 
blase entstandenen facettierten Steine so überwiegend aus Kalk bestehen sollen. 
Man fühlt sich nicht nur nicht überzeugt, sondern faßt unwillkürlich ein starkes 
Mißtrauen gegen die Richtigkeit jener Erklärung der ganzen Theorie. 

Es ist nun interessant zu sehen, wie Aschoff und Bacmeister die dritte 
Gruppe von Gallensteinen, die schwarzen Pigmentsteine, behandeln, die ebenso- 
wenig in ihre wie in Naunyns Theorie hineinpassen. Ganz wie Naunyn schieben 
sie daher diese Steine als bedeutungslos mit folgender, etwas gewagter Redewendung 
beiseite: „Ihre praktische Bedeutung scheint keine große zu sein, da gewöhnlich 
ihre in frischem Zustande weiche Konsistenz und geringe Größe keine klinischen 
Komplikationen hervorzurufen vermögen.“ Diese geringschätzige Behandlung der 
reinen Pigmentsteine ist um so auffallender, als beide Naunyn und Aschoff- 
Bacmeister, das häufige Vorkommen dieser Konkremente in den intrahepatischen 
Gallengängen erwähnen, was ihnen schon allein ein sehr großes Interesse verleihen 
müßte. Bei Aschoff und Bacmeister erscheint dieses Verhalten ganz unzulässig, 
weil diese beiden Verfasser am Schluß ihres Buches (p. 107) ihre Bekanntschaft mit 
Boysens Abhandlung offenbaren, obschon sie sagen, sie sei erst nach dem Abschluß 
ihrer Arbeit in deutscher Sprache erschienen. Die fundamentale und wohlbegrün- 
dete Bedeutung, die Boysen den primären schwarzen Pigmentsteinen beilegt, hätte 
sie eigentlich zu ernstem Nachdenken und zu einer gründlichen Revision ihrer 
unklaren und allen anderen Theorien widerstreitenden Erklärung der Pathogenese 
der Gallensteine veranlassen müssen. 


Zusammenfassende Kritik der verschiedenen Theorien. 


Nachdem ich im vorstehenden die verschiedenen Theorien dargelegt habe, 
halte ich es für nützlich, ja für nötig, sie zusammenfassend zu kritisieren. Wir 
wollen untersuchen, worin sie übereinstimmen und in welchen Punkten sie aus- 
einandergehen; wir wollen ferner den Wert der Versuche, Beobachtungen und 
Erörterungen, auf welche die Folgerungen sich stützen, prüfen und auf diese Weise 
uns darüber klar zu werden suchen, was sie uns mit Sicherheit lehren, und welche 
Fragen noch ungelöst bleiben. 

Eigentlich ist es nur ein einziger Punkt, über den vollständige Einigkeit 
herrscht, nämlich daß die gänzliche oder teilweise Behinderung des Ab- 
laufs aus der Gallenblase und die dadurch bedingte Stauung der Galle 
in derselben eine notwendige Begleitursache oder Bedingung jeder 
Gallensteinbildung sei. Seitdem Naunyn vor einem Menschenalter diese Behaup- 
tung aufstellte, kehrt dieselbe bei allen Verfassern und in allen Handbüchern wieder, 
und Aschoff und Bacmeister, die ja im übrigen Naunyns Lehre so energisch 
angegriffen haben, stellen den gleichen Satz in Sperrdruck als eine unerschütterliche 
Tatsache hin. Da sollte man doch annehmen, daß dieser Lehrsatz auf einem großen 
und zuverlässigen Beweismaterial beruhe. Leider sucht man nach einem solchen 
ganz vergebens. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 211 


Die obenerwähnte Behauptung von der Stauung in der Gallenblase als con- 
ditio sine qua non hängt ja mit einer anderen von Naunyns weitgehenden Behaup- 
tungen zusammen, nämlich daß die Gallensteinbildung ein ganz lokaler 
Prozeß sei, der sich ausschließlich in der Gallenblase vollziehe und auf 
deren infektiöse Entzündung zurückzuführen sei. Alle die früheren Theorien von 
Diathese und Stoffwechselanomalien werden daher für ganz veraltet erklärt. Diese 
Behauptungen haben nicht nur in aller Welt Glauben gefunden, sondern auch die 
Grundlage für die Therapie — sowohl die medizinische wie die chirurgische — der 
letzten 30 Jahre abgegeben. Da ist es doch sehr wichtig zu untersuchen, ob diese 
Behauptungen auch wohlbegründet sind. 

Die bestbegründete scheint bei oberflächlicher Betrachtung die von der 
Gallensteinbildung als einem auf die Gallenblase beschränkten Krankheitsprozeß 
zu sein. Aschoff anerkennt und wiederholt sie in seinem Buch von 1909, aber 
Naunyn hat in seiner letzten Abhandlung zugeben müssen, daß Gallenstein sich 
überall in den Gallenwegen bilden könne, wenn er auch daran festhalten muß, 
daß „Gallensteine in der Regel ihr Heim in der Gallenblase haben“. Mittler- 
weile hat er noch ein zweites Zugeständnis machen müssen, nämlich daß die 
schwarzen Pigmentsteine stets in den intrahepatischen Gängen entstehen; aber 
da nun Boysen behauptet, alle Formen von Gallensteinen entwickelten sich 
aus Ablagerungen von Cholesterin und Bilirubinkalk um einen Pigmentstein 
herum, so folgt daraus, daß, wenn Boysen mit seiner Behauptung, jede Gallen- 
steinbildung beginne in der Leber, recht behält, damit auch das ganze theoretische 
Gebäude Naunyns zusammenfällt und die älteren Theorien wiederum ihr Haupt 
erheben dürfen. 

Bei der Untersuchung eines geeigneten, d. h. eines großen, alle die verschie- 
denen Gallensteintypen naturgetreu veranschaulichenden Materials ist es daher 
von größter Wichtigkeit festzustellen, ob Boysens Beobachtungen richtig sind 
oder nicht. 

Gehen wir nun schließlich zu der dritten fundamentalen Frage nach der 
Bedeutung der Infektion über, so zeigt sich, daß mit Bezug auf diesen Punkt 
alle diese Theorien in unlösbarem Widerspruch zueinander stehen! 

Nach Naunyns Theorie ist ja die Infektion eine conditio sine qua non. In 
seiner ersten Arbeit, die ja bis 1921 Geltung hatte, war eine infektiöse Chole- 
cystitis absolut notwendig; aber nachdem Naunyn in seiner letzten Veröffent- 
lichung hat zugeben müssen, daß Gallensteine überall in den Gallenwegen ent- 
stehen können, erklärt er für diese Fälle eine infektiöse Cholangitis als not- 
wendig. 

Infektion ist und bleibt also für Naunyn die unerläßliche Voraussetzung für 
die Bildung von Gallensteinen. 

Auf welches wissenschaftliche Beweismaterial stützt sich nun diese Behauptung, 
die in der Ärztewelt so allgemein Glauben gefunden hat? Ja, es ist bedauerlich, 
es sagen zu müssen: bei Naunyn findet sich absolut nichts, was diesen Namen 
verdiente, nicht einmal der schwächlichste Anlauf, Beweismaterial beizubringen, 
auch kein Versuch, die Probe auf die Richtigkeit seiner Behauptung zu machen. 
Man vermißt ferner eine systematische Untersuchung der bei der Operation von 
Gallensteinkranken frisch entnommenen Galle auf Mikroben. Noch merkwürdiger 
ist es, daß dieser Kliniker gar nicht daran gedacht hat, eine klinische Probe auf 
die Brauchbarkeit der Theorie anzustellen, indem er untersuchte, ob die Gallen- 
steinpatienten nun auch mit einiger Regelmäßigkeit oder doch wenigstens regel- 

14* 


212 Thorkild Rovsing. 


mäßig beim ersten Anfall neben den eigentlichen Gallensteinsymptomen die 
gewöhnlichen Infektionssymptome aufwiesen. Was ihm, abgesehen von Galippe, 
seine Idee eingegeben hat, ist das häufige Vorkommen entzündlicher Zustände 
bei Cholelithiasis, zugleich das einzige, was er zur Stütze seiner Behauptung 
anführt. 

Aber es geht doch nicht an, dies, wie geschehen, als Beweis dafür zu betrachten, 
daß Infektion eine notwendige Voraussetzung für die Gallensteinbildung beim 
Menschen ist. 

C. Langes Theorie geht davon aus, daß Pigmentsteine in normalen 
Gallenblasen vorkommen, während Cholesterinsteine und die gemischten 
facettierten Steine in infizierten, entzündeten Gallenblasen zu finden seien. 
Seine Theorie hat vor derjenigen Naunyns zwei große Vorzüge: 1. daß Lange 
sich auf die Eindrücke einer langjährigen anatomisch-pathologischen Erfahrung im 
Sektionszimmer stützt, und 2. daß er seine Theorie glaubhaft macht durch eine 
geistreiche Parallele zwischen der Steinbildung in den Harn- und Gallenwegen, 
indem er die Pigmentkalksteine mit den Harn- und Oxalatsäuresteinen vergleicht, 
deren Bildung in den aseptischen Harnwegen vor sich geht, die Cholesterinsteine 
hingegen mit den Tripelphosphatsteinen, die durch Infektion mit harnstoffzersetzenden 
Entzündungsmikroben entstehen. Schließlich vergleicht er die facettierten, zusammen- 
gesetzten Steine mit den zusammengesetzten Steinen der Harnwege, bei denen ein 
Harnsäurekern von Tripelphosphat umgeben ist. Aber auch diese viel vertrauen- 
erweckendere Theorie ermangelt des zuverlässigen wissenschaftlichen Fundaments. 
Statt des weniger zuverlässigen Augenscheins, von welchem Lange sich leiten 
läßt, möchte man eine genaue, zahlenmäßige Angabe darüber wünschen, wie oft 
Pigmentsteine in normalen und wie oft Cholesterinsteine in unzweifelhaft entzün- 
deten Gallenblasen gefunden wurden. Hier wie bei Naunyn fehlt die ganze bak- 
teriologische und klinische Probe auf die Richtigkeit der Theorie. 

Boysen schließt sich hinsichtlich der Infektionsfrage Lange an, stützt sie 
aber nicht weiter durch eigene Untersuchungen, weder pathologisch-anatomische 
noch klinische oder bakteriologische. 

Was nun schließlich Aschoff und Bacmeister betrifft, so geraten diese in 
unlösbaren Widerspruch mit allen übrigen Forschern, wenn sie behaupten, daB 
die Cholesterinsteine, die nach allgemeiner Überzeugung der anderen 
Untersucher auf Infektion zurückzuführen sein sollen, stets in einer asep- 
tischen Gallenblase entstehen, während die facettierten, gemischten 
Steine stets die Folge von Infektion seien. 

Ist diese Behauptung nun so gut begründet, daß sie vor der Kritik bestehen 
kann? Keineswegs. Denn sie fußt ausschließlich auf der pathologisch-anatomischen 
Untersuchung von Gallenblasen, die von einem einzigen Operateur, Kehr, bei der 
Operation entfernt wurden, der bekanntlich nur bei weit fortgeschrittenen, ernsten 
Fällen von Gallenstein operierte, also einem sehr einseitigen Material, bei dem die 
frühen, unkomplizierten Fälle ganz fehlen, Dazu kommt, daß die Verfasser nur aus- 
nahmsweise die Gallensteine zu sehen und niemals den übrigen Gallenblaseninhalt 
zur mikroskopischen und bakteriologischen Untersuchung bekommen haben. Gleicher- 
maßen vermißt man gänzlich einen Bericht über den klinischen Verlauf der Fälle, 
von denen die untersuchten Gallenblasen herrühren. 

Da hiernach alle diese Theorien von der Bedeutung der Infektion für die 
Gallensteinbildung in absolutem Gegensatz zueinander stehen und keine davon 
durch Beweise gestützt ist, die uns auch nur notdürftig von ihrer Richtigkeit 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 213 


überzeugen könnten, so muß die ganze Frage von neuem in Angriff genommen 
werden. 

Wenn trotz der großen Arbeit, die den besprochenen Theorien der Gallen- 
steinbildung zu grunde liegt, nur Verwirrung und einander widerstreitende Ergeb- 
nisse zutage gefördert worden sind, so liegt das zuerst und vor allem daran, daß 
diese Forscher die Frage nach der Infektion ohne bakteriologische Untersuchungen 
lösen zu können geglaubt haben. Weiter — und dies ist ein Vorwurf, der namentlich 
den Kliniker Naunyn trifft — liegt es daran, daß er diejenige Untersuchungs- 
methode, von der man glauben sollte, daß sie dem Kliniker am nächsten liege, die 
klinische Beobachtung, ganz versäumt hat. Eine wissenschaftliche, methodisch- 
klinische Bearbeitung einer langen Reihe von Gallensteinfällen würde Naunyn 
wahrscheinlich vor großen Irrtümern bewahrt haben. 


Eigene Untersuchungen. 


Schon in meinen Vorlesungen über die Gallensteinkrankheit im Jahre 1899 
sprach ich die Überzeugung aus, daß Naunyns und andere Therrien von infektiösem 
Ursprung der Gallensteine gänzlich verkehrt seien, wobei ich mich teils auf das 
klinische Bild der Krankheit, teils auf die bakterielle Untersuchung der Galle in 
den wenigen Fällen stützte, die ich damals operiert hatte. Meine Erfahrungen schienen 
mir damals zu gering, um im Auslande den eingewurzelten Anschauungen gegen- 
über Eindruck zu machen. Ich fuhr deshalb geduldig fort mit diesen Forschungen 
und mit dem gesamten Studium der Gallensteinkrankheit, ihren Ursachen und 
deren Bedeutung für die Behandlung dieses Leidens. 

Diese 23jährigen Forschungen haben die Richtigkeit des Standpunktes, den 
ich 1899 gegenüber Naunyns Theorie einnahm, durchaus bestätigt, ja sie haben 
mich in den Stand gesetzt, eine andere und nach meiner Meinung richtigere Lehre 
von der Pathogenese der Gallensteine aufzustellen und die Frage nach den wahren 
Beziehungen zwischen den Gallensteinen und der bei ihnen so häufig eintretenden 
Infektion zu klären. Die Resultate dieser Forschungen habe ich im September 1922 
in einer Festschrift der Universität Kopenhagen und später in deutscher Sprache in 
den Acta chirurgica Scandinavica veröffentlicht und werde darüber hier so kurz wie 
möglich referieren. 


I. Untersuchungen über Anzahl, Form und Struktur der von 530 Patienten 

durch Operation entfernten Gallensteine, sowie über die bei Sektionen 

im Reichshospital von 1910 bis 1920 an der Leiche gefundenen Gallen- 
konkremente. 


Ich habe von Anbeginn meines 30jährigen Studiums der Gallensteinkrankheit 
bei jedem operierten Fall alle entfernten Gallensteine in einer besonderen Glasschale 
aufbewahrt, mit genauer Aufschrift des Namens des Patienten, des Datums der 
Operation, so daß ich noch heute die Steine von meinen sämtlichen 530 operierten 
Patienten zur Verfügung habe. Wir werden nun sehen, was die systematische 
Untersuchung derselben uns lehren kann. 

1. Anzahl der Steine. Ein einzelner Stein fand sich in 84 Fällen. 

Multiple Steine fanden sich in 442 Fällen. 

Gallengrieß oder Grießkonglomerate fanden sich in 27 Fällen; in 4 der- 
selben als einziger Befund, in den übrigen 23 Fällen zusammen mit teils wohl- 
erhaltenen, teils im Zerfall begriffenen Steinen. 


214 Thorkild Rovsing. 


Die Zahl der multiplen Steine war folgende: 
In 140 Fällen fanden sich 2— 20 Gäallensteine 


„ #3 u 7 „  11— 20 n 
„n 38 u n n 21 —, 30 „ 
pI ó po a 31= 40 
„ 29 n n n 41— 50 n 
" 19 nu n „ 51— 60 n 
7) 18 n n n 61— 70 nm 
„n 15 ,ẹ n „  71— 80 n 
„n 20 „n 7 wv  81- 90 n 
u d ” n nu 91—100 7 
„ 66 u 7 „ 101—200 n 
„ 5 » » „ 201—300 n 
n 3 n n „ 301—400 n 
" 1 Fall n „ 401—500 7 
" 3 Fällen „ „ 501—600 „ 
nv 3 e „ „ 601—700 7 
„ 1 Fall nm „ 1050 n 
u 1 " nu n 1259 n 
nu 1 n n n 4600 nu 


Wir sehen also, daß in 162% der Fälle sich nur ein einzelner Stein vorfand; 
in 264% fanden sich 2—10, in 258% zwischen 11 und 50 Gallensteinen, in 152% 
zwischen 51 und 100 und in 158% von 100 bis hinauf zu 4600. 


2. Größe der Steine. Untersuchen wir nunmehr an diesem Gesamtmaterial 
von Gallensteinen die Größenverhältnisse, so finden wir, daB sie zwischen 
Stecknadelknopf- und Hühnereigröße Schwanken. 

Die großen Steine sind in zwei Gruppen vertreten; die meisten finden wir 
unter der Gruppe der Solitärsteine. Diese bestand aus 84 Fällen; in 77 davon 
war der Stein groß, u. zw. wechselte seine Größe zwischen einer großen Nuß und 
einem Hühnerei. In den übrigen 7 Fällen war er von der Größe einer Erbse. Die 
zweite Gruppe, in welcher wir den Rest der großen Steine antreffen, ist die bei 
der Aschoff-Bacmeisterschen Theorie so eingehend besprochene, wo wir im 
Blasenhals einen großen, runden „Verschlußstein“ und dahinter multiple kleine Steine 
antreffen. Mein Material enthält 20 Fälle dieser Art. 

Sehr interessante Verhältnisse finden wir nun, wenn wir in jedem Einzelfall 
die Größe der multiplen Steine untersuchen, wobei sich nämlich ergibt, daß in 
der großen Mehrheit der Fälle die Steine von gleicher Größe sind, woraus 
wir schließen dürfen, daß sie alle zu gleicher Zeit entstanden und zusammen 
auf ganz gleichartige Weise gewachsen sind. In einer Minderheit von Fällen 
finden wir Steine von zwei, drei, sehr selten auch von mehr Größenklassen, so daß 
wir also offenbar eine entsprechende Anzahl Bruten von Gailensteinen vor uns haben. 
Anderseits finden wir niemals alle möglichen Größenklassen vereinigt, mit allmählichem 
Übergang der einen in die andere, wie man es erwarten sollte, wenn die bestimmende 
Ursache zur Gallensteinbildung ununterbrochen wirksam wäre. 

Bezüglich der Pathogenese geben uns also die Größenverhältnisse die sehr 
wichtige Aufklärung, daß die bestimmende Ursache oder Bedingung der Gallen- 
steinbildung in den meisten Fällen nur in einem einzelnen Zeitpunkt von recht 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 215 


kurzer Dauer wirksam ist, daß sie in kürzerem oder längerem zeitlichen Abstand 
wiederkehren kann, aber niemals dauernd wirksam zu sein scheint. 

Selbst in dem Falle, wo ich 4600 Steine fand und entfernte, schienen diese 
zu einer einzigen Brut zu gehören. | 

Diese Tatsache, daß sämtliche Steine in einer Gallenblase am häufigsten gleich- 
alterig sind, ist, wie ich später zeigen werde, von der größten Bedeutung für die 
Erklärung.der Pathogenese, wie auch für die Behandlung. 

Auf Tafel I veranschaulichen Fig. 2 und 7 Fälle, wo alle Steine von einerlei 
Art, von einer Generation sind, während Fig. 6 unter den 7 Steinen, die sich bei 
dem betreffenden Patienten fanden, zwei Generationen- zeigt. 

3. Form und Bau der Steine. Die Untersuchungen über die äußere 
Form und den inneren Bau bei meinem Gallensteinmaterial haben mir gezeigt, 
daß die Beschreibungen, die man nicht nur in großen Lehrbüchern, sondern auch 
bei Forschern findet, die, wie Naunyn, Aschoff und Bacmeister, Boysen, 
Kehr u. s. w., sich am eingehendsten mit dem Gegenstand beschäftigt haben, mehr 
oder minder, meist aber sehr mangelhaft sind. In der Hauptsache werden da nur 
zwei Formen erwähnt: erstens die großen, runden, ei- oder kugelförmigen, die 
gleichsam einen Abguß des Gallenblasenhalses darstellen und wesentlich aus Chole- 
sterin bestehen, und zweitens die facettierten multiplen Steine. Diese Facettierung 
stellt man sich als eine notwendige Folge des Druckes vor, womit die Gallenblase 
die Steine, solange sie noch weich und nachgiebig sind, gegeneinander preßt. 
Naunyn behauptet dies mit der größten Bestimmtheit. Boysen findet mit dieser 
Erklärung schwer vereinbar die Regelmäßigkeit, die in jedem Einzelfalle die Facet- 
tierung auszeichnet, und auf der anderen Seite die sehr verschiedene Form, die die 
Facettierung in den verschiedenen Fällen annimmt: bald als sechsseitige Prismen, 
bald pyramiden- oder würfelförmig. Nichtsdestoweniger schließt Boysen sich 
Naunyn an, indem er sagt: „Es besteht kaum ein Zweifel, daß der Druck der 
wesentlichste Faktor bei der Bildung der Facetten ist. Wenn Gallensteine von der- 
selben Struktur wie facettierte Steine solitär sind, so wird die Form rundlich, oder 
sie richtet sich nach der Form der Gallenblase.“ 

Daß diese Auffassung unrichtig ist, geht aus meinem Material in mehrfacher 
Hinsicht hervor. In vier von den Fällen, wo nur ein einziger Gallenstein angetroffen 
wurde, war derselbe facettiert, und in sieben Fällen fanden sich nur vereinzelte oder 
ganz kleine Steine, in einzelnen Fällen allerdings zahlreiche, aber so kleine Steine, 
daß sie die Gallenblase nur zum Teil ausfüllten. In allen diesen zahlreichen Fällen 
kann, kurz gesagt, von einem nennenswerten Druck nicht die Rede sein. 

Aber noch deutlicher spricht gegen die Theorie der Facettierung durch Druck 
die Beobachtung, daß in nicht weniger als 117 meiner Fälle von multiplen 
Gallensteinen diese kugelrund waren. Die multiplen runden Steine kommen 
in zwei verschiedenen Typen vor; in 44 Fällen war ihre Oberfläche wie die einer 
zusammengesetzten Frucht gestaltet, und da diese Steine bei ihrer Größe und gelben 
Farbe ganz der Himbeere oder Maulbeere gleichen, so habe ich diese Gruppe als 
die himbeer- oder maulbeerähnlichen Gallensteine bezeichnet. In den 
übrigen 73 Fällen waren die Steine ganz rund und glatt, in der Regel von Senf- 
korngröße und oft sehr zahlreich. Alles dies beweist, daß die Form der multiplen 
Gallensteine nicht einfach dadurch modelliert wird, daß die Gallenblase sie durch 
ihre Contractionen gegeneinanderpreßt, sondern daß sie wahrscheinlich ein Aus- 
druck der Eigentümlichkeit des Stoffes ist, aus welchem der Stein besteht — eine 
Tatsache, die uns ja aus der Steinbildung in den Harnwegen wohlbekannt ist, wo 


216 Thorkild Rovsing. 


z. B. oxalsaurer Kalk kugelrunde, oft maulbeerähnliche Steine im Gegensatz zu den 
flach-ovalen Uratsteinen bildet. Eigentümlich ist der Umstand, daß die runden, 
multiplen Gallensteine in der Regel eigelb aussehen. 

Aber abgesehen von diesen Formen, habe ich in einer Anzahl von Fällen 
einen eigentümlichen Gallensteintypus angetroffen, den ich noch nie beschrieben 
gefunden und Tikal-Stein genannt habe, weil er genau so gestaltet ist, wie die 
siamesische Silbermünze, der Tikal, der bei U-förmiger Gestalt ein konvexe Außen- 
fläche und eine kokave Innenfläche aufweist. In meiner Statistik habe ich diese Steine 
mit zu den facettierten gezählt, weil man sehr wohl die Außen- und Innenflächen 
als Facetten bezeichnen kann, wenngleich sie sich im übrigen erheblich von allen 
anderen facettierten Steinen unterscheiden. Daß im übrigen die facettierten Gallen- 
steine sowohl in bezug auf Form wie auf Farbe reich sind an charakteristischen 
Varianten, will ich hier nur nebenbei bemerken. Diese Varietäten sind oft von höchster 
Schönheit, so die schneeweißen, perlmutterglänzenden Steine, die meistens 
würfelförmig sind, oder die Steine in Form eines dreieckigen Hutes, deren glatt- 
geschliffene Seitenflächen auf buntem oder einfarbigem, sanft abgetöntem Untergrund 
ein Muster verschlungener Linien zeigen, das an moderne Keramik erinnert. 

Schließlich muß ich nun noch etwas länger bei einem weiteren Vorwurf ver- 
weilen, der gegen die früheren Forscher auf diesem Gebiet — jedoch mit alleiniger 
Ausnahme von Boysen! — erhoben werden muß, nämlich die vollständige Ver- 
nachlässigung oder oberflächliche Behandlung, welche sie einer sehr charakteristischen 
und bedeutsamen Gruppe von Gallenkonkrementen zuteil werden lassen, nämlich 
den schwarzen, reinen Pigmentsteinen. 

Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, werden die Pigmentsteine immer 
nur im Vorbeigehen als ganz bedeutungslose Gebilde bezeichnet, die meistens in 
den intrahepatischen Gallengängen entstehen und angetroffen werden und wegen 
ihrer geringen Größe und weichen Beschaffenheit ohne klinische Bedeutung sind. 
Die großen facettierten Steine und die großen eiförmigen Cholesterinsteine haben 
eben alles Interesse für sich in Anspruch genommen. 

Wenn ich mich im Gegensatz dazu schon früh für diese schwarzen Pigment- 
steine interessiert habe und geneigt gewesen bin, ihnen große Bedeutung zuzu- 
schreiben, so liegt dies daran, daß ich zu Anfang des Jahres 1899 zum ersten Male 
unter sehr interessanten Umständen auf diese eigenartigen Gebilde gestoßen bin. 
Es war bei der Operation eines kaum 1'/, Jahre alten Kindes — soviel ich weiß, 
des jüngsten Menschenkindes, das jemals an Gallenstein operiert worden ist —, wo 
ich das unterste Ende des Ductus choledochus durch eine Menge kohlschwarzer, 
fein verästelter Konkremente verstopft fand (s. Fig. 65). Oberhalb davon war der 
Ductus choledochus bedeutend erweitert, und der kleine Patient hatte starken 
Ikterus. Die Galle war steril; nicht das geringste Anzeichen von Entzündung war 
nachweisbar. Das Alter des Patienten veranlaßte mich, an die Möglichkeit zu denken, 
daß hier die primäre Form von Gallenstein vorliege, das Anfangsstadium 
zu den allgemein bekannten Formen, die man im späteren Leben antrifft. 

In dieser Auffassung wurde ich bestärkt, als ich ein Jahr später Boysens 
Doktordissertation kennen lernte. Wie die Leser aus dem im vorigen Abschnitt 
gegebenen Bericht über diese Arbeit wissen, kam Boysen auf Grund „mineralogischer“ 
Untersuchung der Gallensteine von etwa 200 Leichen aus dem Sektionszimmer des 
Städtischen Krankenhauses gerade zu dem Resultat, daß ein kleines Konkrement von 
schwarzem Pigmentkalk den Anfang: zu jedem Gallenstein mache. Boysens Aus- 
gangspunkt ist die einfache, logische Erwägung, daß derjenige, der den Ursprung 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 217 


der Gallensteine erforschen will, nach den kleinsten Konkrementen suchen muß, 
die selbstredend auch die jüngsten sein müssen — während man erwarten muß, 
in den älteren, großen Konkrementen die ursprüngliche Struktur verwischt zu finden. 
Als die kleinste Konkremente fand er die reinen, schwarzen Pigmentsteine. Er fand 
sie in etwa 20 Gallenblasen — also in 10% der Fälle — als einzige Steinform vor; 
später aber zeigte er, daß der Kern aller facettierten Gallensteine aus schwarzem 
Pigmentkalk gebildet werde, und daß, je kleiner, d. h. je jünger diese Steine sind, 
um so größer und schwärzer der Kern ist. Boysen behauptet — wie übrigens 
auch Naunyn —, daß die Pigmentkalksteine unter gewissen, bis jetzt noch unauf- 
geklärten Umständen in der Leber entstehen und mit dem Gallestrom in die Gallen- 
blase gelangen; hier können sie weder sich bilden noch wachsen, weil Bilihumin- 
kalk, aus dem diese Konkremente bestehen, in der Galle nicht vorkommt. 
Deshalb finden sich nur kleine Steine dieser Art; wachsen können sie in der Gallen- 
blase nur durch Auflagerung von Cholesterin sowie von Bilirubin- und Biliverdin- 
kalk, der in der Gallenblase ausgefällt werden kann. Die facettierten Gallensteine 
— deren Zusammensetzung aus regelmäßigen, konzentrischen Lagen verrät, daß 
der Stein durch einfache Apposition gebildet wurde, durch Ablagerung der einen 
Schicht um die andere herum, teils von Cholesterin, teils von verschiedenen Pigment- 
kalkverbindungen, die dem Stein ihre oft außerordentlich schöne, farbige Zeichnung 
verleihen —, können nun nach und nach ihre Form und Farbe verändern, ja sie 
können sich sogar in runde, weiße oder weißgelbe Cholesterinsteine verwandeln. 
Dies ist eine Folge der sog. inneren Strömungen in den Steinen, wobei Chole- 
sterin durch enge Spalten bis zum Kern vordringt und dessen Pigmentkalk auflöst, 
der nun nach außen strömt, ein Vorgang, der sich in einer radiär vom Centrum 
ausstrahlenden Streifung kundgibt. Auf diese Weise verkleinern sich und schwinden 
der Pigmentkern und die Pigmentringe, und zuletzt kann aller Pigmentkalk ver- 
schwunden sein, womit die Verwandlung eines reinen Pigmentkalksteins 
in einen reinen Cholesterinstein vollzogen ist. 

Um zur Lösung dieser Frage beizutragen, habe ich eine mineralogische Unter- 
suchung und Gruppierung der Gallensteinkonkremente von meinen sämtlichen 
530 operierten Fällen vorgenommen. 

In 30 Fällen — also bei 56% — fanden sich reine, schwarze Pigment- 
kalksteine. Ä 

In 290 Fällen fand ich multiple facettierte Gallensteine, jedoch in 20 von 
diesen Fällen zusammen mit einem großen, eiförmigen Blasenhalsstein, Aschoffs 
„Verschlußstein“, und in 23 Fällen waren sie von Gallengrieß begleitet und selbst 
mehr oder minder im Zerfall begriffen. 

In 117 Fällen fand ich multiple runde Steine, die in 44 Fällen „zusammen- 
gesetzt“, maulbeerähnlich, in den übrigen 73 aber glatt waren. 

In 84 Fällen fand sich nur ein einziger, „solitärer“ Stein, der in 77 Fällen 
dem Typus der großen Cholesterinsteine angehörte, in 4 Fällen facettiert, in einem 
cylindrisch-oval, in einem damenbrettsteinförmig und in einem wurmförmig war. 

Endlich fand sich in 4 Fällen nur Gallengrieß. 

Es sei bemerkt, daß die kleinen, schwarzen Pigmentsteine nur in 56% aller 
Fälle gefunden wurden, also nur wenig mehr als halb so oft, wie Boysen sie bei 
der Leiche fand. Das könnte vielleicht diesen und jenen verleiten, die Bedeutung 
der Pigmentsteine als Grundlage jeglicher Gallensteinbildung etwas skeptischer zu 
betrachten; in Wirklichkeit scheint mir dieser Umstand aber eine Stütze dafür zu 
sein. Es ist ja einleuchtend, daß wir im allgemeinen nur bei einer Minderzahl von 


218 Thorkild Rovsing. 


Fällen erwarten dürfen, das Anfangsstadium in seiner ganzen Reinheit anzutreffen, 
aber besonders bei einem klinischen und vor allem chirurgischen Material dürfen 
wir verhältnismäßig selten darauf rechnen, ihm bei unseren Operationen zu begegnen, 
die ja meistens an sehr alten, vorgeschrittenen und oft komplizierten Fällen aus- 
geführt werden. Auf dem Sektionstisch anderseits, wo wir auch diejenigen Steine 
antreffen, die niemals Symptome gemacht haben, darf man viel häufiger Pigment- 
steine zu finden erwarten als auf dem Öperationstisch. Es scheint daher gut mit 
der Theorie übereinzustimmen, daß Boysens Prozentzahl von Pigmentsteinen doppelt 
so groß ist wie die meinige. Boysens Sektionsstatistik ist ja freilich nicht sehr um- 
fangreich, und es erschien mir daher als wünschenswert, größere Zahlen als Unter- 
lage zu erhalten. Leider hat Scheel in seiner Statistik von 1911 diesen Punkt un- 
berücksichtigt gelassen. Anderseits hatSvend Hansen in einer neuerdings erschienenen 
Arbeit die diesbezüglichen Verhältnisse bei etwa 300 in den Jahren 1920 und 1921 
im Sektionszimmer des Städtischen Krankenhauses festgestellten Gallensteinfällen 
eigens. zu dem Zweck ermittelt, um seine Zahl mit meiner im Operationszimmer 
gewonnenen zu vergleichen. Hansen verzeichnet unter seinen 293 Fällen 58 mit 
Pigmentsteinen, also 197% oder etwa viermal soviel. Zur größeren Sicherheit habe 
ich mit Prof. Fibigers Erlaubnis und freundlicher Unterstützung das ganze Sektions- 
material des Reichshospitales von seiner Eröffnung im Jahre 1910 an bis heute, 
also aus 12 Jahren, daraufhin durchgesehen und im Hinblick auf die vorliegende 
Frage folgendes gefunden: 

Die Gesamtzahl der Gallensteinfälle betrug 285, und unter diesen fanden sich 
48mal nur kleine, schwarze Pigmentsteine in der Gallenblase, also in 168% der 
Fälle. Diese Zahl liefert somit einen weiteren Beleg dafür, daß, während die reinen 
Pigmentsteine bei Gallensteinoperationen recht selten gefunden werden, in etwa 5% 
der Fälle, sie als zufälliger Sektionsbefund recht häufig sind. Chirurgen wie Kehr, 
die nur in sehr bedenklichen, fortgeschrittenen Fällen operieren, werden wohl niemals 
die reinen, schwarzen Pigmentsteine antreffen, und dies erklärt vielleicht von seiten 
der deutschen Kliniker die Beurteilung dieser Konkrementform als äußerst selten 
und klinisch ganz bedeutungslos; aber wenn ein pathologischer Anatom wie Aschoff 
das gleiche Urteil abgibt, dann kann das wohl nur darauf beruhen, daß er sich 
mit dem begnügen mußte, was er von den Chirurgen bekam, aber eine systematische 
Untersuchung seines Sektionsmaterials ganz unterlassen hat. 

Es ist doch nicht zu leugnen, daß der häufige Befund von Pigmentsteinen im 
Sektionszimmer und ihre Seltenheit bei Operationen in hohem Grade dafür spricht, 
daß wir hier das jüngste Stadium der Gallensteine vor uns haben. Die Frage 
steht nun so, ob Boysen darin recht hat, daß die Pigmentsteine den Kern, den 
Anfang zu allen anderen Gallensteinformen, bilden, oder ob sie nur eine andere, 
nebensächliche, seltenere Art von Gallensteinen sind. 

Im Vergleich mit anderen Steinen und ganz abgesehen von ihrer chemischen 
Zusammensetzung, sind ja die schwarzen Pigmentsteine in mehrfacher Hinsicht sehr 
eigenartig. Erstens scheinen sie, solange sie alle ganz klein und von gleicher Größe 
sind, in der Gallenblase gar nicht durch Auflagerung von Pigmentkalk zu wachsen. 
Bisweilen hat es den Anschein, als fänden sich einzelne größere Konkremente; sieht 
man aber genauer zu, dann erweisen sie sich als einfache Anhäufung der kleinen, 
spitzzackigen, verästelten Konkremente, die sich miteinander verfilzt haben und ohne 
Schwierigkeit wieder voneinander zu trennen sind. Diese Verhältnisse hat Boysen 
so gedeutet, daß Pigmentsteine in der Gallenblase weder entstehen noch wachsen 
können. Er befindet sich hier in Übereinstimmung mit Naunyn, Aschoff und 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 219 


vielen anderen Forschern, die die Pigmentsteine in den intrahepatischen Gängen 
beobachtet haben und der Ansicht sind, daß sie allemal hier entstünden. Es ist 
daher kein Zweifel, daß die Pigmentsteine intrahepatisch entstehen können und 
in der Regel entstehen, unter gewissen vorübergehenden krankhaften Zuständen im 
Organismus, deren Natur noch unklar ist. | 

Eine zweite bedeutsame Eigentümlichkeit der Pigmentkalksteine ist ihre Form 
und der Charakter ihrer Oberfläche. Während alle anderen Gallensteine, seien 
sie nun rund oder facettiert, eine glatte Oberfläche besitzen, sind die Pigmentsteine 
rauh, stachelig, oft verästelt (Fig. 65). Wenn die Gallenblase sich zusammenzieht, 
um die Galle zu entleeren, dringen diese Spitzen und Verästelungen in die 


Fig. 65. 


k 
, SS. 


- ai = a nn 














Bilihuminkalkkonkremente, gefunden in Choledochus und Gallenblase 
eines Patienten, der an einer lange dauernden Pyonephrose gestorben war. 


Schleimhaut ein und verhindern mit ihren Widerhaken, daß das Konkrement zu- 
gleich mit der Galle die Blase verläßt. Es bleibt also zurück und erzeugt dabei die 
häufig wiederholten Verletzungen und die ständige Reizung der OGallenblasenschleim- 
haut: den traumatischen, aseptischen, „steinerzeugenden“ Katarrh, den 
ich seinerzeit bei den Nieren geschildert habe. Dort ist es die Ausfällung 
der spitzen Harnsäurenadeln und der scharfen Oxalatkrystalle, hier die spitzen Pigment- 
kalkbildungen, die kleine Blutergüsse und Epithelsabschürfungen hervorrufen und 
damit das zur Verkittung der Krystalle und zum Aufbau der Steine erforderliche 
Material liefern. 

Wie man sich erinnern wird, war es ja eine von den großen Schwierigkeiten, 
die Naunyn hatte, um seine Theorie von den kleinen Myelintropfen als Anfangs- 
stadien jeder Gallensteinbildung einigermaßen wahrscheinlich zu machen, zu erklären, 
weshalb diese ganz glatten, kleinen Gebilde nicht mit der Galle fortgespült würden, 
sondern in der Blase verblieben und Zeit fanden, zu richtigen Oallensteinen heran- 
zuwachsen. Er mußte daher eine neue und seltsame Voraussetzung für die Oallen- 
steinbildung ausfindig machen, die „Stauungsgallenblase“, um die Retention jener 
Körperchen zu erklären, ebenso wie er genötigt war, seine Zuflucht zu der Hypothese 
von der infektiösen Gallenblasenentzündung zu nehmen, um den steinbildenden 
Katarrh zu erhalten, den die kleinen Myelintropfen allerdings ganz und gar nicht 
zuwege bringen konnten. Hätte Naunyn nur das Glück gehabt, bei seiner Theorie 
mit den Pigmentkalksteinen anstatt mit den Cholesterinsteinen zu beginnen, dann 


220 Thorkild Rovsing. 


hätte er sich zwei von seinen Hypothesen sparen können, denn die Besonder- 
heiten der Pigmentkalksteine machen alle künstlichen Erklärungen über- 
flüssig. 

Es läßt sich doch nicht bestreiten, daß alles, was wir beim Studium der äußeren 
Form der Gallensteine und der Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen 
Formen vermuten und folgern können, es sehr wahrscheinlich macht, daß die reinen 
Pigmentkalksteine in der Leber entstehen, mit der Galle in die Gallenblase gelangen, 
wo sie vermöge ihrer stacheligen Oberfläche zurückgehalten werden, einen stein- 
bildenden Katarrh hervorrufen und zu Centren der Entstehung der gewöhnlichen 
Gallensteinformen werden, wobei die normalen Gallenbestandteile, Cholesterin und 
Bilirubin- bzw. Bilverdinkalk, um den Pigmentkern herum ausgefällt werden. Der 


Fig. 66. 





Großer Solitärstein (a) scheint von außen gesehen ganz von Cholesterin gebildet; 
der Durchschnitt (b) zeigt aber einen Pigmentkalkkern im Begriff der Auflösung. 


Beweis dafür kann allerdings nur durch die Untersuchung der inneren Struktur der 
Gallensteine geliefert werden. 

So habe ich denn auch Gallensteinschnitte von jedem einzelnen 
meiner 530 Fälle untersucht mit dem Ergebnis, daß in sämtlichen Steinen 
— facettierten wie rundlichen — mit einer einzigen Ausnahme ein Kern 
von schwarzem Pigment angetroffen wurde. Die einzige Ausnahme bildete 
ein großer, eiförmiger Cholesterinstein (Tafel I und II, Fig. 1). Es ist durchaus richtig, 
wie Boysen betont, daß der Pigmentkern in den kleinsten Steinen am größten 
und dichtesten ist, während er in den großen an seiner Peripherie in Auflösung 
begriffen ist und vom Centrum aus in Gestalt von dunklen, radiär verlaufenden 
Streifen in den Kanälen und Spalten austritt, durch welche das Cholesterin ein- 
getreten ist. Am schönsten erscheint der schwarze Pigmentkern in den sog. reinen 
Cholesterinsteinen, wo offenbar um den Pigmentkalkstein herum sich reines Cholesterin 
abgeschieden hat. Diese Steine sind fast schneeweiß, bald multipel, facettiert und 
dann mit einer glänzenden, glatten, perlmutterartigen Schale versehen, bald solitär, 
groß, eiförmig, oft mit einer welligen, unebenen, matten, gelbweißen Oberfläche. 
Schneidet man nur eine Scheibe oder nur die Kuppe eines solchen Steines ab, so 
hat man den Eindruck, daß er durch und durch gleichmäßig weiß sei; spaltet man 
ihn aber bis zum Centrum, dann findet man — das erstemal zu großer Über- 
raschung — den kohlschwarzen Kern (Tafel I und II, Fig. 9 und Fig. 66 a und b). 
Es ist möglich, daß der einzige Stein meiner Sammlung, der keinen Pigmentkern 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 221 


aufwies und durch und durch aus Cholesterin zu bestehen schien, die Tatsache 
veranschaulicht, daß in seltenen Fällen ein Cholesterinstein primär entstehen kann; 
viel annehmbarer scheint mir aber die Deutung zu sein, daß es sich um einen Stein 
handelt, dessen Pigmentkern im Laufe der Zeit restlos aufgelöst und ausgelaugt 
worden ist. In dieser Auffassung bin ich nachdrücklich bestärkt worden bei der 
Verfolgung der verschiedenen Stufen der Auflösung des Pigmentkalks bis zu dem 
Stadium, wo keine Spur von Pigment mehr zu entdecken war. Für mich ist es 
daher nicht zweifelhaft, daß die Umwandlung reiner Pigmentkalksteine 
in reine Cholesterinsteine, wenn sie auch in der Regel unvollständig 
bleibt, bisweilen doch ganz zu Ende geführt wird. 

Wir können daher diesen Abschnitt meiner eigenen Untersuchungen mit der 
Feststellung schließen, daß Konkremente von reinem Pigmentkalk, die in der Leber 
entstehen, in der Regel den Kern für die andersgeformten Steine abgeben, die sich 
in der Gallenblase finden. Inwieweit es zur Ausfällung von Cholesterin und Kalk- 
verbindungen, aus denen die in der Gallenblase um den Pigmentkern herum 
abgelagerte Schicht besteht, noch besonderer Bedingungen bedarf, wie nament- 
lich Naunyn und Aschoff behaupten, wollen wir im nächsten Abschnitt unter- 
suchen. 

Ich kann dieses Kapitel nicht verlassen, ohne noch kurz darauf hinzuweisen, 
welche Bedeutung ich dem Gallengrieß beilege, der in meiner Statistik als Befund 
in 27 Fällen figuriert. Ich muß darauf zu sprechen kommen, weil Naunyn und 
andere in diesem Material die Anfänge von Gallensteinen erblickt haben wollen, 
die chaotische Masse, aus welcher die Steine sich bilden sollen. Ich bin indessen 
im Gegenteil der Ansicht, daß die Sache sich in der Regel genau umgekehrt ver- 
hält, daß nämlich der Gallengrieß die Überreste zerfallener, aufgelöster 
Steine darstellt. Ich schließe dies daraus, daß in den 23 Fällen, wo Steine 
gleichzeitig mit Grieß vorgefunden wurden, der größte Teil derselben im Zerfall 
begriffen war, u. zw. handelte es sich dabei um größere Steine oder um Bruchstücke 
solcher, während man, wenn der Grieß der Anfang der Steinbildung wäre, erwarten 
sollte, daneben einige ganz kleine, frisch entstandene Steine zu finden. Anderseits 
habe ich in einzelnen Fällen eine oder mehrere stachelige, den ganzen Blasenhals 
ausfüllende schwarze Pigmentsteine mit einer Umhüllung von dicklichem, fest- 
weichem, hellgelbem Gallengrieß vorgefunden. Hier handelte es sich jedenfalls um 
einen rasch wachsenden Gallenstein bei massenhafter Ausfällung von Cholesterin 
um die Pigmentsteine herum. 


Il. Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Infektion und Gallen- 
steinen, mit besonderer Berücksichtigung von deren Pathogenese. 


Bezüglich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Infektion und Gallensteinen 
gibt es, wie früher erwähnt, drei Theorien, die der Infektion der Gallenblase und 
der Gallenwege eine größere oder geringere Bedeutung für die Entstehung der 
Gallensteine zuschreiben: 1. Naunyns Theorie, die die Infektion als eine conditio 
sine qua non für alle Formen der Gallensteine erklärt, 2. Boysens und C. Langes 
Theorie, die die Pigmentkalksteine als Bildungen auf aseptischer Grundlage betrachtet, 
während Cholesterinsteine ihren Ursprung stets einer infektiösen Entzündung ver- 
danken sollen, und 3. Bacmeisters und ÄAschoffs Theorie, nach welcher die 
Cholesterinsteine regelmäßig in aseptischen, Pigmentkalksteine in infizierten und 
entzündeten Gallenblasen entstehen. 


222 Thorkild Rovsing. 


Es leuchtet ja ohneweiters ein, daß diese drei Theorien in hoffnungslosem 
Widerspruch zueinander stehen. Es fragt sich nun, ob eine dieser Theorien — und 
welche — richtig ist, eventuell wieviel Richtiges jede für sich enthält. 

Von allen diesen Theorien gilt, daß sie reine Hypothesen sind, die wohl in 
gewissen vereinzelten Tatsachen ihre Stütze suchen, wofür jedoch der endgültige 
Beweis vollständig fehlt. Im Hinblick auf Naunyns Theorie kann man, wie ich 
bereits vor 23 Jahren in meinen Vorlesungen gezeigt habe, schon aus der klinischen 
Erfahrung heraus seine Behauptung, daß die infektiöse Cholecystitis eine notwendige 
Voraussetzung für die Gallensteinbildung sei, als ganz unwahrscheinlich, um nicht 
zu sagen: unmöglich, bezeichnen. Wenn er nämlich recht hätte, dann müßten in 
der Regel die Gallensteinpatienten die sehr charakteristischen Symptome der infektiösen 
Cholecystitis schon lange vorher gezeigt haben, vor allem aber konstant nach ein- 
getretener Gallensteinbildung. Nun verhält sich aber die Sache im Gegenteil so, 
daß die meisten Gallensteinträger niemals Symptome von seiten ihrer 
Gallenblase gezeigt haben. Sie gehen zu Grabe, ohne eine Ahnung von ihren 
Gallensteinen gehabt zu haben. Wir wissen das aus Zufallsfunden von Gallensteinen 
bei Obduktionen. Je mehr die Aufmerksamkeit auf diese interessante Frage hin- 
gelenkt, je sorgfältiger bei den Sektionen nach Gallenstein gesucht wird, desto 
häufiger zeigt sich das Vorkommen symptomloser, bei Lebzeiten unbeachtet ge- 
bliebener Gallensteine. 

Bei uns in Dänemark war Kristian Poulsen der erste, der eine Sektions- 
statistik aus dem Städtischen Krankenhaus veröffentlichte und beim Studium der 
Sektionsprotokolle aus den Jahren 1870—1890 fand, daß 37% der Leichen Gallen- 
steine gehabt hatten, u. zw. von männlichen Leichen 33%, von weiblichen 59%. 
Als dann später Scheel sich eigens vornahm, während der vier Jahre 1906—1910 
alle Leichen auf Gallensteine zu untersuchen, fand er solche bei nicht weniger als 
15% der Sektionen. Endlich hat Svend Hansen bei einer womöglich noch sorg- 
fältigeren Untersuchung des Sektionsmaterials des Städtischen Krankenhauses aus den 
Jahren 1920 und 1921 bei 25% aller Leichen Gallenstein gefunden. In den aller- 
meisten Fällen fanden sich hier die Gallensteine in Gallenblasen, die keinerlei An- 
zeichen von Entzündung aufwiesen. 

Aber selbst bei dem geringen Prozentsatz von Gallensteinträgern, die wirklich 
dazu kommen, „an Oallenstein zu leiden“ und auf Grund genauer Untersuchung 
an dieser Krankheit behandelt zu werden, finden wir, daß bei einer großen Zahl 
von diesen Patienten weder vor- noch nachdem die Gallensteine ihre Gegenwart 
durch ausgesprochene Symptome verraten haben, Anzeichen von Infektion oder 
Entzündung an der Gallenblase aufgetreten sind. Bei den zahlreichen Gallenstein- 
patienten, die gerade deshalb in Behandlung kommen, weil sie Fieber oder sonstige 
Entzündungssymptome darbieten, sind diese sehr häufig erst nach jahrelangem, 
fieberfreiem Gallensteinleiden aufgetreten. Obwohl diese einfachen und klaren klini- 
schen Erfahrungen, deren Richtigkeit jeder Kliniker von einiger Praxis bestätigen 
muß, für Naunyns Theorie vollständig vernichtend waren, haben meine Argumente 
die klinischen Kollegen im In- und Auslande nur wenig anzufechten vermocht. Das 
fanatische Zutrauen der meisten zur Theorie des großen deutschen Klinikers war so 
eingewurzelt, daß sie immer noch darauf schwören und darnach handeln, d h. ihre 
Patienten behandeln. Einzelne sind freilich durch meine Einwände zum Nachdenken 
und zu einer wenn auch nur vorsichtigen Opposition gegen Naunyn veranlaßt 
worden. Als eine solche vorsichtige Opposition muß jedenfalls auch Aschoffs und 
Bacmeisters Theorie von 1909 betrachtet werden. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 223 


Diese beiden Forscher sind sich ganz klar darüber gewesen, daß Naunyns 
Theorie ganz unhaltbar ist, weil sowohl Klinik wie Sektionstisch dafür zeugen, daß 
Gallensteine auf aseptischer Grundlage entstehen können. Ebenso wie C. Lange 
und Boysen gewinnen sie daraus die Überzeugung, daß die primären Gallensteine 
in der aseptischen Gallenblase entstehen, aber bei ihrer Verstrickung in Naunyns 
Gedankengang betrachten sie es als Tatsache, daß Cholesterin die primäre Grund- 
lage der Gallensteinbildung darstellt, und kommen nun auf die eigentümliche Idee, 
daß, wenn die aseptischen Cholesterinsteine sich vergrößern, sich im Gallenblasen- 
hals festklemmen und zu dem Gebilde werden, was Aschoff „Verschlußstein“ nennt, 
dies Infektion und Entzündung in der dergestalt mehr oder weniger abgesperrten 
Gallenblase bewirke. In dieser sollen dann infolge der infektiösen Cystitis multiple, 
facettierte, aus Cholesterin und Pigmentkalk bestehende Mischlingssteine entstehen. 
Hätte Aschoff, als er seine Theorie aufzustellen begann, Boysens Arbeit gekannt, 
dann würden ihm wahrscheinlich auch die Augen darüber aufgegangen sein, daß 
er gerade in den so verachteten, kleinen schwarzen Pigmentsteinen die aseptischen, 
primären Gallensteine vor sich habe. 

Wie dem auch sei, — der Gedanke, daß gewisse Formen von Gallensteinen 
oder daß die äußeren Schichten bei den zusammengesetzten Steinen auf Infektion 
zurückzuführen seien, ist a priori nicht von der Hand zu weisen. Vielmehr hat dieser 
Gedanke a priori eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, wenn man, wie C. Lange, 
ganz unbefangen die Konkremente der Gallen- und Harnwege vergleicht. Neben der von 
mir in meiner Dissertation (1889) nachgewiesenen Befähigung der harnstoffzersetzenden 
Mikroben zu rapider Tripelphosphatbildung könnte man sehr wohl an eine ähnliche 
Fähigkeit gewisser anderer Mikroben denken, Galle zu zersetzen und dadurch Stein- 
bildung oder Ablagerung: neuer Schichten auf primären aseptischen Steinen zu be- 
wirken. 

Das entscheidende Kriterium für den Wert der drei Theorien kann uns nur 
die systematische bakteriologische Untersuchung der in einer großen Anzahl von 
Fällen bei der Operation unter allen antiseptischen Kautelen entnommenen Galle 
liefern. Das war mir von vornherein klar, als ich vor 30 Jahren begann, Gallenstein- 
operationen auszuführen und dabei genötigt war, mich für die Pathogeneseprobleme 
zu interessieren; und deshalb habe ich bei jeder Operation Galle zur bakteriologi- 
schen Untersuchung nach folgendem Verfahren entnommen: Nachdem die Gallen- 
blase freigelegt und vom übrigen Peritonealraum durch Gazekompressen abgegrenzt 
ist, fasse ich den Fundus mit zwei Moynihanschen Pinzetten und punktiere da- 
zwischen die Gallenblase mit einem Troikart, wobei die Galle unmittelbar in einem 
sterilen Reagensglas aufgefangen wird, das sogleich ins Laboratorium gelangt, wo 
unverzüglich Impf- und andere Kulturen angelegt werden. 

Wenn die Wandungen der Gallenblase verändert, verdickt oder entzündet 
erscheinen, werden Stücke davon für die mikroskopische Untersuchung entnommen. 
Im letzten Semester habe ich außerdem einige von den Gallensteinen in sterilen 
Gläsern aufgefangen, abgespült, getrocknet, zerschnitten und von ihrem Kern auf 
verschiedene Nährböden abgeimpft. 


Die Ergebnisse dieser Untersuchungsreihe werde ich im folgenden für jede | 
einzelne Steingruppe besonders angeben. 


Gruppe I: Solitäre Steine fanden sich in 84 Fällen. 


In 48 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 57:1 % 
„ 36 n u n n „ n u „infiziert = 429% 


224 Thorkild Rovsing. 


Gruppe Il: Multiple runde Gallensteine fanden sich in 117 Fällen. 
In 73 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 624% 
„ 44 " " mn n " n „ infiziert = 376% 
Gruppe II: Multiple facettierte Steine fanden sich in 247 Fällen. 
In 144 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 58:3 % 
„ 103 n n v » ny À n v infiziert = 417% 
Gruppe IV: Kleine schwarze Pigmentkalksteine fanden sich in 30 Fällen. 
In 17 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril =566% 
„ 13 " " nv » ” n n „ infiziert = 43:4 % 
Gruppe V: Ein solitärer runder „Verschlußstein“ und multiple facet- 
tierte Steine fanden sich in 20 Fällen. 

In 14 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 700% 
„ 6 " " n » „on " „ infiziert = 300% 
Gruppe VI: Gallengrieß und Steintrümmer fanden sich in 23 Fällen. 
In 13 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril=565% 
„ 10 n n non » n " „infiziert = 435% 
Gruppe VII: Gallengrieß fand sich in 4 Fällen. 
In 1 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 250% 
„3 ” nm " ” n ” nu n infiziert = 750% 
Gruppe VIII: In 5 Fällen waren die Steine vor der Operation abgegangen: 
In 4 derselben erwies sich der Inhalt der Gallenblase als steril = 800% 
„ 1 „ " nn n n " „ infiziert = 20:0 % 
Somit war der Inhalt der Gallenblase bei 530 Operationen 

steril in 314 Fällen = 593% 

infiziert in 216 Fällen = 407% 


Betrachten wir nun diese Zahlen näher, so müssen wir konstatieren, daß sie 
von erfreulicher Klarheit sind. Sie lassen sich nicht mißverstehen oder wegdeuten. 

Naunyns Theorie, daß jede Gallensteinbildung auf infektiöse Cystitis zurück- 
zuführen sei, muß hiernach als endgültig widerlegt aus der Erörterung ausscheiden. 
Auf die an und für sich schwerwiegenden, rein klinischen Einwände gegen seine 
Theorie, daß alle die gewöhnlichen klinischen Symptome bei Infektion und Ent- 
zündung in so zahlreichen Fällen sowohl vor- wie nachdem die Gallensteinbildung 
sich durch Schmerzanfälle offenbarte, hat Naunyn geantwortet, daß die Bakterien 
eben die ganz schwach virulenten Kolibacillen seien und die von ihnen erzeugte 
Cholecystitis so geringfügig, daß sie oft gar keine Symptome mache. Nun ist aller- 
dings keine Mikrobe so leicht durch Impfung und Mikroskopie nachzuweisen wie 
gerade Bacterium coli, das, virulent oder nicht, eine enorme Vermehrungsfähigkeit 
und eine fast störende Neigung hat, auf den gewöhnlichen Nährböden zu wachsen. 
Sicherlich sind es denn auch Anhänger Naunyns gewesen — der oben erwähnte 
Japaner Miyake gehört z. B. auch dazu —, die angesichts früherer, sowohl umfang- 
reicher wie auch spärlicher bakteriologischer Untersuchungen mit negativem Resultat 
den Einwand gewagt haben, daß die Bakterien, die die Steinbildung verursacht 
hätten, unter der bactericiden Wirkung der Galle bereits vor der Operation abge- 
storben gewesen seien. Die Untersuchung der Galle sollte daher keine Beweiskraft 
haben; wenn man aber einen Stein durchschnitte und von seiner centralen Partie 
abimpfe, dann würde man schon Bakterien finden. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 225 


Dazu ist folgendes zu bemerken. Ohne Zweifel können Mikroben in einer ent- 
zündeten Gallenblase ausnahmsweise einmal bei Empyemen, die lange Zeit hindurch 
völlig abgekapselt gewesen sind, aus Nahrungsmangel oder als Opfer ihrer eigenen 
Toxine abgestorben sein, aber anderseits darf es wohl als eine der bestbegründeten 
Erfahrungstatsachen der Pathologie bezeichnet werden, daß nichts mehr geeignet 
ist, Infektion und Entzündung in einem Organ zu unterhalten als die Anwesenheit 
von Konkrementen oder anderen Fremdkörpern. Noch niemals hat man es erlebt, 
daß bei Harnstein eine komplizierende Infektion abheilte, ohne daß der Stein entfernt 
wurde. Denn die Steine halten den Infektionsstoff fest und unterhalten durch ihre 
Irritation der Gewebe die Entzündung. Ganz die gleichen Verhältnisse machen sich 
naturnotwendig auch bei den Gallensteinen geltend. Mit Rücksicht auf Miyakes 
Behauptung haben wir im letzten Semester auch das Innere der Steine durch Impfung 
und Mikroskopie untersucht, aber niemals Mikroben darin gefunden, wenn die Galle 
steril war. 

Naunyn selbst hat bis jetzt alle in der Literatur erschienenen Mitteilungen 
über negative Befunde bei bakteriologischer Untersuchung des Gallenblaseninhalts 
unbeachtet gelassen. Das geht aber nun nicht länger mehr an. 

Jeder Unbefangene wird doch begreifen, daß, wenn eine sorgfältig aus- 
geführte bakteriologische Untersuchung von 530 Gallensteinfällen in 
60% der Fälle die Galle als steril erweist, damit Naunyns Infektions- 
theorie widerlegt ist. 

Es bleibt nun noch die Frage nach der Haltbarkeit der übrigen Theorien zu 
beantworten, die davon ausgehen, daB gewisse Formen von Gallenstein zu 
ihrer Entstehung oder zu ihrem Wachstum einer infektiösen Cholecystitis 
bedürfen. 

Nehmen wir zunächst die Lange-Boysensche Theorie, daß die Chole- 
sterinsteine auf infektiöser Basis entstehen, so finden wir die Antwort darauf 
in unserer Gruppe I, die 84 Fälle von solitärem Cholesterinstein umfaßt. Es zeigt 
sich nämlich, daß in nicht weniger als 48 (= 571%) dieser Fälle die Galle steril 
war. Die Cholesterinsteine verhalten sich bis auf einige Dezimalen genau so wie 
die kleinen schwarzen Pigmentsteine, die nach Lange und Boysen im Gegensatz 
zu den Cholesterinsteinen immer nur in aseptischen Gallenblasen zu finden sein 
sollen. Bei den Pigmentsteinen war die Galle nämlich in 58°6% steril und in 414% 
infiziert. Damit ist auch Lange und Boysens Infektionstheorie gefallen. 

Es bleibt nun noch Aschoffs und Bacmeisters Theorie übrig, die davon 
ausgeht, daß die Cholesterinsteine in der aseptischen Gallenblase ent- 
stehen, während alle gemischten facettierten Gallensteine einer infektiösen 
Chelecystitis ihren Ursprung verdanken sollen, die oft davon herrührt, daß 
ein großer Cholesterinstein sich zum „Verschlußstein“ ausgebildet hat, während hinter 
ihm in der Gallenblase eine infektiöse Entzündung entstanden ist. 

Das Schicksal dieser Theorie entscheidet sich nach Gruppe HI und V. 

Gruppe IlI enthält 247 Fälle von multiplen facettierten Gallensteinen; in 144 
Fällen (= 583%) erwies sich der Gallenblaseninhalt als steril. 

Gruppe V betrifft die 20 Fälle, die mein Material von jenem Typus enthält, 
auf dem Aschoff hauptsächlich seine Theorie aufgebaut hat: ein großer solitärer 
„Verschlußstein« und multiple facettierte Steine. Aber auch diese lassen ihn im 
Stich, indem hier nicht weniger als 70% der Fälle einen sterilen Gallenblasen- 
inhalt zeigten. 

Damit ist schließlich auch Aschoffs-Bacmeisters Theorie erledigt. 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 15 


226 Thorkild Rovsing. 


Diese Untersuchungen haben also mit Sicherheit gezeigt: erstens, daß bei 
der Mehrzahl der zur Operation gelangenden Fälle gar keine Infektion 
besteht, und zweitens, daß alle die verschiedenen Steinformen sich gegen- 
über der Frage „Infektion oder Sterilität« ganz gleichartig verhalten. 

Damit erscheint auch bewiesen, daß die Infektion, wo sie vorkommt, nur als 
eine oft recht unangenehme Komplikation des Gallensteinleidens aufzufassen ist, 
und dies stimmt, wie ich schon wiederholt hervorgehoben habe, damit überein, 
was die tägliche Beobachtung am Krankenbett uns lehrt. Ganz ausgeprägte Gallen- 
steinanfälle verlaufen im Beginn, ja oft viele Jahre lang vollständig afebril, bis plötzlich 
mitten in einem Anfall Frostschauer oder Schüttelfrost und Temperaturerhöhung 
auftreten. Dies namentlich dann, wenn der Anfall zum erstenmal von Ikterus begleitet 
ist, was als Anzeichen dafür gilt, daß ein Stein endlich in den Ductus choledochus 
gelangt ist und sich dort eingeklemmt hat. Wie ich im Jahre 1899 in meinen Vor- 
lesungen ausführte, hat dies zur Folge, daß der Sphincter choledochi erschlafft und 
der Weg für das Eindringen von Bakterien aus dem Duodenum in die Gallenwege 
frei wird. So kommt es zur Infektion, die in der hinter dem Stein stagnierenden Galle 
die besten Entwicklungs- und Ausbreitungsbedingungen findet. 

In einem einzelnen Punkte hat Naunyns Theorie insofern eine klinische Stütze 
gehabt, als gewisse Beobachtungen am Krankenbett dazu beitrugen, die Auffassung 
zu begünstigen und zu verbreiten, daß der Typhusbacillus eine gallensteinbildende 
Mikrobe par excellence sei. Es hat sich ja gezeigt, daß, wenn Patienten nach Ablauf 
des typhoiden Fiebers „Typhusbacillenträger“ blieben, dies daher rührte, daß die 
Bacillen einen dauernden Aufenthalt in der Gallenblase gefunden hatten, und bei 
Operationen solcher Bacillenträger hat es sich weiter gezeigt, daß sie in der Regel 
Gallensteine haben. Unter dem Einfluß der Naunynschen Theorie hat man da 
gefolgert, daß diese Steine durch die Tätigkeit der Typhusbacillen in der Gallen- 
blase entstanden seien. Wie aus einem späteren Kapitel hervorgehen wird, ist mir 
der Gedanke, daß ein typhoides Fieber zur Gallensteinbildung führen könne, keines- 
wegs fremd, jedoch in einem ganz anderen Sinne. Nach allem, was meine Unter- 
suchungen über das Verhältnis zwischen Infektion und Gallenstein uns gelehrt haben, 
gestaltet sich nach meiner Auffassung das Verhältnis zwischen Typhusbacillen und 
Gallenstein ganz natürlicherweise so, daß die Bacillen, mögen nun die Gallensteine 
schon vor dem typhoiden Fieber vorhanden gewesen oder während desselben ent- 
standen sein, für die Gallensteine ganz ohne Bedeutung sind, während im Gegenteil 
die Gallensteine schuld daran sind, daß die Typhusbacillen in der Gallenblase zurück- 
gehalten werden und den Patienten zu einer Gefahr für seine Umgebung machen. 
Ein triftiger Beweis dafür ist die Tatsache, daß bei meinen Fällen die Entfernung 
der Steine durch Cholecystotomie genügte, um den Patienten von seinem Gallen- 
steinleiden zu befreien und seine Rolle als Bacillenträger zum Abschluß zu bringen, 
während nach Naunyns Theorie die Entfernung der Gallenblase dazu nötig sein 
sollte, weil sonst die Typhusbacillen in der Gallenblase alsbald neue Gallensteine 
bilden würden. 

Die Infektion ist also nur eine Komplikation, allerdings eine sehr ernste, 
namentlich weil sie oft zur Operation nötigt und ihre Prognose so sehr von der 
Art der Infektion abhängt. Der günstigste Fall ist der, wo es sich um eine reine 
Infektion mit Bacterium coli handelt, und dies kommt wohl am häufigsten vor; 
oft aber sind auch pyogene Staphylokokken und Streptokokken vorhanden, und sehr 
oft finden sich im Gegensatz zu Naunyn überhaupt keine Colibacillen, sondern 
Strepto- und Staphylokokken in Reinkultur. 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 227 


Obwohl ohne direktes Interesse für die Frage nach der Pathogenese, ist es 
doch als Korrektiv für die Naunynschen Angaben wichtig festzustellen, daß ich unter 
. meinem Material als einzige Mikrobe den Streptococcus pyogenes in 28 Fällen 
und den Staphylococcus aureus in 36 Fällen angetroffen habe. 


IL Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Gallenstase und 
Gallensteinbildung. | 


Schon lange vor Naunyn hat man die Vorstellung gehabt, daß Gallenstase 
für die Gallensteinbildung von Bedeutung sein könnte. Sehr natürlich, da bei der 
Stagnation die Galle sich verdickt und dieser Prozeß als die Ursache der Aus- 
fällung der festen Gallenbestandteile betrachtet werden konnte, die sich sonst in 
der normalen Galle in Lösung befinden und die wir in den Gallensteinen antreffen. 

Anderseits ist Naunyn der erste gewesen, der die Gallenstase, insbesondere 
in der Gallenblase (die „Stauungsgallenblase“), als eine unerläßliche Bedingung 
für die Gallensteinbildung hingestellt hat. Freilich bringt Naunyn nicht den ge- 
ringsten Beweis dafür bei, daß Stauungsblase für die Bildung von Gallensteinen 
notwendig sei. 

Nichtsdestoweniger findet sich die Behauptung von der Stauungsgallenblase 
als conditio sine qua non als Dogma nicht nur in jedem Lehrbuch, angefangen 
von Langenbuchs Monographie in der „Deutschen Chirurgie“ bis zu den neuesten ` 
Lehrbüchern, sondern sozusagen in allen wissenschaftlichen Spezialwerken oder 
-abhandlungen. Selbst Aschoff und Bacmeister, die in anderen Punkten Naunyns 
Lehre so energisch angreifen, beginnen ihr Buch mit dem Satz, „daß Stauung in 
der Gallenblase infolge behinderter Entleerung die notwendige Begleitursache jeder 
Gallensteinbildung“ sei. 

Im Jahre 1913 beginnt Helene Zellweger in der Zeitschrift für angewandte 
Anatomie und Konstitutionslehre eine Abhandlung über „die Bedeutung des 
Lymphatismus und anderer konstitutioneller Momente für Gallensteinbildung“ mit 
folgenden Sätzen: | 

„Die Entstehung der Gallensteine ist durch Naunyn, Aschoff, Bacmeister u.a. 
klargelegt worden. Wenn auch die Autoren nicht in allen Punkten einer Meinung 
sind, so stimmen sie doch darin überein, daß das Hauptmoment für das erste 
Zustandekommen der Cholelithiasis die Gallenstauung ist.“ 

Dieses Zitat ist ein Beispiel von vielen; so wie hier geht einstimmig aller- 
wegen das Gerede, ein neuer, bedauerlicher Beleg dafür, wie eine ganz oberfläch- 
liche Arbeitshypothese in die Literatur übergeht und überall als wissenschaftlich 
bestätigte Tatsache hingenommen wird. 

Es ist nun sehr interessant zu beobachten, wie sich die Sache weiter ent- 
wickelte, als viele Jahre später verschiedene Chirurgen und pathologische Anatomen 
sich veranlaßt sahen, dieses „Vorstadium“ der Gallensteinblase, die „Stauungsblase*“, 
zu studieren. 

Man sollte ja erwarten, zum mindesten in weit vorgeschrittenen Fällen von 
„Stauungsblasen“ die Anfänge der Gallensteinbildung zu finden, in jedem Falle 
aber dann, wenn Infektion bestand. Aber nur bei einer einzigen der veröffentlichten 
Beobachtungen hat man das erwartete Anfangsstadium gefunden (J. Berg). Aber 
nicht einmal dieser Fall läßt sich in Wirklichkeit in diesem Sinne verwerten; denn 
John Berg fand nur die kleinen, reinen Pigmentsteine, welche gar nicht in der 
Gallenblase, sondern in der Leber entstehen. 

15* 


228 Thorkild Rovsing. 


v. Schmieden und C. Rohde haben die Frage zunächst in einer kleinen 
Arbeit im Zentralblatt für Chirurgie 1912, Nr. 41 und später in der Festschrift für 
Bier im Archiv für klinische Chirurgie, Bd. 118 in einer größeren Abhandlung ` 
„Die Stauungsgallenblase mit besonderer Berücksichtigung der Ätiologie der Gallen- 
stauungen“ erörtert. Darin führen die Verfasser 14 Fälle von typischer. Stauungs- 
blase an, die zu einem nach ihrer Meinung charakteristischen Krankheitsbilde 
führten, welches jedoch bei näherer Betrachtung von demjenigen bei Gallensteinen 
oder Cholecystitis nicht verschieden zu sein scheint. In allen diesen Fällen war die 
Gallenblase stark dilatiert, aber in keinem dieser Fälle fand sich auch nur 
eine Spur von Gallensteinanlage. Nichtsdestoweniger werden diese Stauungs- 
blasen als „Vorstadium", ja sogar als „Latenzstadium der Gallensteinblase“ bezeichnet. 
In Wahrheit können diese Fälle besser als Beweis des Gegenteils dienen, nämlich 
daß Stauungsblase und Gallenstein nichts miteinander zu tun haben; in jedem 
Falle zeigen sie, daß Gallenstase lange bestehen und weit fortgeschritten sein, ja 
sogar gallensteinähnliche Symptome machen kann, ohne daß sich auch nur eine 
Andeutung von Gallensteinbildung nachweisen ließe. Es ist dies eine interessante 
kleine Gruppe von Fällen, die jeder mit der Chirurgie der Gallenwege vertraute 
Operateur kennt, weil sie ihn dann und wann zur Operation verleitet haben in der 
Erwartung, daß es sich um Gallenstein handle. Nur wer für die Stasetheorie ganz 
voreingenommen und auf sie eingeschworen ist, kann solche Beobachtungen als 
Stütze für diese Theorie anführen, aber Fälle dieser Art, die deutliche Gallenstein- 
symptome darbieten, ohne daß sich in Wirklichkeit eine Spur von Gallenstein 
findet, als das „Latenzstadium der Gallensteinblase“ zu bezeichnen, scheint doch 
jeder Logik zu widerstreiten. 

Alle Forscher, die für die Gallenstauungstheorie plädieren, suchen eine wesent- 
liche Stütze dafür in der Tatsache, daß die Frauen sich unter den Gallenstein- 
patienten in so großer Mehrheit befinden. Es erscheint ihnen als naheliegende An- 
nahme, daß die Enteroptose, jene häufige Folge von Korsettmißbrauch, Schnü- 
rung und Hängebauch nach Geburten, die Ursache von Zerrungen und Knickungen 
beim Ductus cysticus abgibt, von denen man annehmen dürfte, daß sie die 
Entleerung der Gallenblase hindern und Stauungsblase hervorrufen könnten, und 
daß die Häufigkeit von Gallenstein bei Frauen gerade diesen Umständen zu- 
zuschreiben sei. 

Ich habe übrigens selbst den Gedanken erwogen, ob nicht die Enteroptosen, 
besonders die Hepato- und Gastroptosen bei der Verlagerung, die die Gallenblase 
und die großen Gallenwege dadurch so oft erfahren, und die man häufig als die 
Ursache eines erschwerten Übertritts der Galle aus der Gallenblase in den Darm 
ansehen muß, die Erklärung für das Überwiegen der Frauen unter den Gallenstein- 
patienten abgeben könnte. Ich habe daher in den 25 Jahren, während deren sowohl 
die Gallenstein- wie die Ptosekrankheit Gegenstand meines unausgesetzten Studiums 
waren, den Beziehungen zwischen Gallenstein und Hepato-Gastroptose meine be- 
sondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Ergebnis, zu welchem ich bei der Unter- 
suchung der Tausende von Ptosefällen, die ich behandelte, bezüglich dieser Frage 
gelangte, hat mich sehr überrascht. Denn entgegen meiner Erwartung hat es sich 
gezeigt, daß Ptosen auffallend selten mit Gallenstein kompliziert sind. 
Für die große Mehrheit der Ptosefälle, wo ich in der Lage war, der Ptose mit 
Bandagen und Diät wirksam abzuhelfen, kann ich nur sagen, daß keiner derselben 
auch nur das geringste Anzeichen von Gallenstein dargeboten hat. Deshalb kann 
natürlich sehr wohl der eine oder andere dieser Patienten symptomlose Gallensteine 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 229 


mit sich herumgetragen haben. So oft ich bei einzelnen Ptosepatienten Gallenstein- 
symptome fand, habe ich ihm allemal zur Operation geraten, weshalb diese Fälle 
auch unter meinen Gallensteinoperationen figurieren. 

Besonders zuverlässige Aufklärungen habe ich anderseits bei meinen ope-- 
rierten Fällen gewinnen können. Ich weiß genau: erstens, bei wie vielen meiner 
wegen Ptosesymptome operierten Fälle ich zufällig Gallensteine fand, und zweitens, 
bei wie vielen meiner wegen Oallensteine operierten Fälle ich Ptose fand. 

Bei 8 von 300 Gastro-Coloptose-Patienten fand sich bei der Opera- 
tion gleichzeitig Gallenstein, also bei 26%. Wenn man bedenkt, daß dies nur 
die allerernstesten Enteroptosefälle waren, wo die Operation nur als ultimum refu- 
gium ausgeführt wird, nachdem alle medizinische und Bandagebehandlung sich als 
wirkungslos erwiesen hat, dann versteht man erst richtig, wie auffallend gering 
dieses Vorkommen von 26% Gallenstein ist. Noch deutlicher tritt dies hervor, 
wenn wir uns aus der Statistik von Scheel und Hansen erinnern, daß das Gallen- 
steinprozent bei Frauen im ganzen 21:6 und 31% beträgt. Ptosepatientinnen neigen 
also weit weniger zu Gallenstein als Frauen im allgemeinen. 

Untersuchen wir nun weiter, bei wie vielen von meinen 530 an Gallenstein 
operierten Patienten sich zufällig Gastro-Coloptose fand, so war das nur bei 18 Frauen 
und einem Manne der Fall, und in keinem derselben wurde die Operation der 
Ptose für notwendig befunden. 

Diese Zahlen sind interessant und nicht mißzuverstehen. Sie zeigen uns, daß 
Enteroptose nicht nur nicht zu Gallenstein disponiert, sondern daß 
dieses Leiden sogar auffallend selten bei Ptosepatienten auftritt, d.h. 
bei Frauen, die an ihrer Ptose schwer leiden. Es verdient Beachtung, daß Gallen- 
stein bei den virginellen Ptosepatientinnen noch seltener war als bei den mater- 
nellen, ungeachtet der stets vorhandenen Formveränderungen, der starken Knickung 
des Ductus cysticus und choledochus und der oft ausgedehnten Adhäsionen, die 
man gerade bei den ersteren antrifft. 

Auch dieser Befund deutet darauf hin, daß Korsett und Ptose nicht das starke 
Überwiegen der Frauen bedingen, namentlich nicht in den jüngeren Altersklassen 
der Gallensteinpatientinnen. 

Er zeigt uns ferner, daß die „Stauungsgallenblase“, eine so häufige Erschei- 
nung gerade bei Ptosepatienten, für die Oallensteinbildung nicht die Bedeutung 
hat, die man ihr hat beimessen wollen. 

Warum ist denn aber Gallenstein seltener bei Ptosepatientinnen als bei anderen 
Frauen? Ohne irgendwie Anspruch darauf zu erheben, diese Frage endgültig beant- 
worten zu können, möchte ich mir doch erlauben, auf die Möglichkeit hinzuweisen, 
daß der meist elende Ernährungszustand der Ptosepatienten hier von Bedeutung 
sein könnte; denn während Naunyn kurzerhand alles Gerede von Diathese, 
Ernährung und Konstitution als Ursachen beiseite schob zu gunsten einer zufälligen 
Infektion, waren sich die Lehrbücher ganz einig darüber, daß besonders die fetten 
Individuen zu Gallensteinen disponiert seien. Auch nach meiner Erfahrung ist eine 
große Menge von Gallensteinpatienten sehr fett und überernährt, die meisten wohl- 
genährt und sehr wenige von magerem Typus. 

Wie schon früher bemerkt, ist es ganz eigenartig, daß ein Kliniker wie 
Naunyn gar nicht den Weg über die Klinik, über seine und anderer klinische 
Erfahrungen gewählt hat, um Stützen für seine Theorie zu suchen oder die Probe 
auf ihre Richtigkeit anzustellen. So auch dem Staseproblem gegenüber. Hier ver- 
säumte er dasStudium der zahlreichen Fälle von chronischem oder lang- 


230 | Thorkild Rovsing. 


dauerndem Ikterus, der durch das eine oder andere mechanische Hindernis für 
den Galleabfluß bedingt ist — natürlich abgesehen von Steinokklusion. 

Wäre Gallenstase das entscheidende Moment, dann müßten wir hier allemal 
Konkremente oder doch Anfangsstadien solcher in den mächtig erweiterten „Stauungs- 
gallenblasen“ finden, die wir in solchen Fällen antreffen, oder in den erweiterten 
Gallengängen, sowohl den intra- wie den extrahepatischen. 

Und wenn es richtig ist, daß zur Gallensteinbildung Infektion und 
Gallenstauung gehört, dann müßte doch Gallenstein eine häufige Folge 
von epidemischem, infektiösem Ikterus sein, und wir müßten doch bei 
der Operation oder Sektion von Patienten mit langdauerndem, infek- 
tiösem Ikterus bestimmt auf Gallensteine rechnen können, u. zw. Gallen- 
steine in allen Entwicklungsstadien als Resultat dieses langdauernden 
Zusammenwirkens von Gallenstauung und Infektion. 

Daß Gallenstauung allein, selbst bei langer Dauer, nicht immer zur Bildung 
von Gallenstein führt, wissen wir aus einigen vereinzelten Berichten. Treves 
operierte ein 16jähriges Mädchen, das seit der Geburt Ikterus infolge angeborener 
Atresie des Ductus choledochus hatte, fand aber keinen Stein. Körte fand bei einer 
Frau, die infolge von Kompression des Ductus choledochus durch ein Aneurysma 
26 Jahre lang Ikterus gehabt hatte, farbige Galle, aber keinen Stein. Kausch hat 
einen Fall von mächtiger Dilatation der Gallenblase und der Gallenwege als Folge 
eines kleinen Tumors an der Mündung des Ductus choledochus in das Duodenum 
veröffentlicht, wobei nicht die Spur von Steinen gefunden wurde, vielmehr Gallen- 
blase und Gallenwege durch hydropische „weiße Galle“ erweitert waren. 

Derartige Angaben sprechen natürlich an und für sich durchaus dagegen, der 
pathologischen Gallenstase irgendwelche entscheidende Bedeutung für die Gallen- 
steinbildung beizulegen, aber noch viel überzeugender würde eine systematische 
Untersuchung eines großen Materials solcher Fälle sein. 

Ich habe daher gesammelt: 

L alle von mir selbst behandelten Fälle von aseptischem und infek- 
tiösem Ikterus, der auf Hindernisse in den Gallenwegen, ausgenommen Gallen- 
steine, zurückzuführen war; 

Il. alle im Pathologisch-anatomischen Universitätsinstitut seit Er- 
öffnung des Reichshospitals im Jahre 1910 obduzierten Fälle von aseptischem oder 
infektiösern Ikterus, der auf Hindernisse in den Gallenwegen, ausgenommen Gallen- 
steine, zurückzuführen war. 

Es dreht sich hier im ganzen um 62 Fälle von langdauerndem Ikterus, 
und in keinem einzigen dieser fand sich bei der operativen oder postmortalen Autopsie 
auch nur eine Andeutung von Gallensteinbildung. In 18 Fällen handelte es sich 
um eine infektiöse Cholangitis und Cholecystitis. Die Naunynsche Theorie fordert 
ja eben die Kombination von Stase und Infektion. Nichts kann sich daher besser 
als Gegenprobe auf die Naunynsche Theorie eignen als eine solche Anzahl Fälle 
von infektiösem Staseikterus. 

Auf Grund dessen darf daher wohl gesagt werden, daß die hier dargelegten 
Tatsachen in hohem Grade dagegen sprechen, daß pathologische Gallenstase — 
mit oder ohne Infektion — für die Bildung von Gallensteinen bei Menschen eine 
irgendwie bedeutende Rolle spiele. Und wenn wir unsere Untersuchungsergebnisse 
mit dem vollständigen Mangel an positiven Beweisen für die Richtigkeit der Stase- 
theorie bei den Vätern und Vorkämpfern der Theorie in Verbindung bringen, dann 
kommen wir sowohl bezüglich jener Theorie wie auch der Infektionstheorie zu der 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 231 


Feststellung, daß es die reinsten Schreibtischphantasien sind, zu welchen man sich 
durch die Häufigkeit der Gallenstase („Stauungsblase“ und Dilatation der Gallen- 
wege mit begleitendem Ikterus) bei Gallenstein verleiten ließ, ebenso wie der 
häufige Befund von Infektion bei Gallenstein Naunyn dazu verleitete, darin die 
Ursache der Gallensteinbildung zu erblicken. Die Sache verhält sich in Wirk- 
lichkeit genau umgekehrt: Gallenstein ist die häufigste Ursache der 
Gallenstase und der Infektion der Gallenwege. 


Des Verfassers Theorie der Pathogenese der Gallensteine. 


Die Gallensteinbildung beginnt nach meiner Meinung stets oder doch der 
Regel nach in der Leber mit der Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk, der 
sich in den engen intrahepatischen Gallengängen zu den eigentümlich verästelten, 
stacheligen und knotigen Konkrementen formt, die oft im Sektionszimmer, weniger 
oft bei Operationen in ihrer reinen, ursprünglichen Gestalt in der Gallenblase 
gefunden werden. Ihre Ausfällung verdanken sie in der Regel einer vorübergehenden 
„Diathese“, entsprechend der periodischen Ausfällung von Harnsäure, harnsauren 
Salzen und oxalsaurem Kalk in den Nieren. Ein Teil, vermutlich der größte, dieser 
Pigmentsteine nimmt seinen Weg durch den Ductus hepaticus und choledochus 
direkt in den Darm; ausnahmsweise bleibt einer oder einige davon hier und da 
in diesem oder in den intrahepatischen Gallenwegen hängen oder richtiger gesagt: 
mit seinen Stacheln stecken; in großer Zahl gelangen sie in die Gallenblase mit 
der Galle, wo sie zu Boden sinken und sich zusammenballen, wobei ihre Veräste- 
lungen, Knoten und Zacken sich miteinander verfilzen; dabei erlangen sie eine 
solche Größe, daß sie den Ductus cysticus nicht mehr passieren können. Dazu 
tragen auch ihre stacheligen Prominenzen bei, die sich in dem System von Klappen, 
das den Ausgang im Gallenblasenhals versperrt, festhaken und verfangen. 

In der Gallenblase wachsen sie nun zu typischen Oallensteinen heran, indem 
die stacheligen Pigmentkonkremente durch Schleimhautreizung Epithel- 
verlust und kleine Blutergüsse verursachen, d.h. den erforderlichen, „stein- 
bildenden Katarrh“, der das organische Material zum Aufbau der Steine liefert, das 
die normalerweise in der Galle gelösten festen Stoffe: Cholesterin und Bilirubin- 
oder Biliverdinkalk, die nun um die Fremdkörper herum ausgefällt werden, zu- 
sammenbindet. Das ist der gleiche Prozeß und die gleiche Gesetzlichkeit wie in 
der Harnblase, wo ein aseptischer Fremdkörper sich unweigerlich mit den im Harn 
gelösten Salzen inkrustiert und, mag es sich nun um einen Nierenstein oder um ein 
abgebrochenes Stück eines Katheters oder anderen Instruments handeln, schließlich 
zum Kern eines Blasensteins wird. 

In der Gallenblase sind die Bedingungen zur schnellen Ausfällung der festen 
Stoffe ganz besonders günstig, indem daselbst während des Verweilens der Galle 
in der Blase durch Resorption von Wasser eine sehr bedeutende Kon- 
zentration der Galle eintritt, wie es seinerzeit durch Hammarstens bekannte 
Untersuchungen nachgewiesen wurde. Ich habe diese Verhältnisse auf meiner Ab- 
teilung bei einer großen Anzahl von Gallensteinpatienten untersuchen lassen, u. zw. 
durch Vergleichung der Konzentration der bei der Operation aufgefangenen mit 
der in den darauffolgenden Tagen durch das Drain in das Sammelgefäß abge- 
flossenen Galle, die ohne Aufenthalt die Gallenblase passierte. 

Dabei zeigte sich, daß die während der Operation durch Punktion 
entnommene Galle 5-10mal mehr konzentriert war als die frei aus- 
fließende. Das erklärt uns vielleicht die viel häufigere Steinbildung in der Gallen- 


232 Thorkild Rovsing. 


blase im Vergleich zur Harnblase, die im Gegenteil die Aufgabe hat, so wenig 
wie möglich zu resorbieren. Die durch die starke Konzentration bedingte schnelle 
und intensive Ausfällung der festen Normalbestandteile der Galle ist wahrscheinlich 
die Ursache, daß es so verhältnismäßig selten gelingt, reine schwarze Pigment- 
steine in der Gallenblase aufzufinden. 

Meine Theorie hat vor den anderen den großen Vorzug, daß sie im Gegen- 
satz zu jenen in keinem Punkt unklar oder mit den tatsächlichen Verhältnissen im 
Widerspruch ist. Die Gallensteinbildung hat hier eine einfache, ungekünstelte Er- 
klärung, die nicht ihre Zuflucht zur Infektion oder zur pathologischen Stase oder 
zu anderen unhaltbaren oder leichtfertigen Phantasien zu nehmen braucht. 

Den Beweis dafür, daß beim Menschen ein schwarzer, aus Bilihuminkalk 
bestehender Pigmentstein den Kern und Anfang eines jeden Gallensteins bildet, 
habe ich mit der Tatsache geliefert, daß mit einer einzigen Ausnahme sämt- 
liche von meinen 530 operierten Gallensteinpatienten herrührenden 
Gallensteine, soweit sie nicht reine Pigmentsteine waren, einen Kern 
von schwarzem Pigmentkalk zeigten und daß, je kleiner der Stein, um 
so größer und dichter dieser Kern war. 

Der Beweis dafür, daß die Pigmentkalkausscheidung und der sie 
verursachende krankhafte Zustand vorübergehend ist, liegt in der eben- 
falls allgemein anerkannten Tatsache, daß die Gallensteine, wo sie multipel 
auftreten, entweder sämtlich von gleicher Größe und Form sind, oder 
verschiedenen Bruten angehören, deren Individuen alle von einerlei Art sind 
und, kurz gesagt, den Stempel gleichzeitiger Entstehung an sich tragen (Tafel I und Il). 
Wenn es sich um eine bei dem betreffenden Patienten ständig vorhandene Diathese 
zur Gallensteinbildung handelte, müßte die letztere gleichmäßig und ständig vor 
sich gehen, und man würde dann in jeder Gallenblase mit multiplen Steinen alle 
möglichen Größen und Entwicklungsstufen vertreten finden. Aber dergleichen beob- 
achten wir niemals, nicht einmal in den Fällen, wo wir Tausende von Steinen in 
derselben Gallenblase antreffen. 

Es bleibt nun noch die schwierige Frage nach der Natur und den Uer- 
sachen der vorübergehenden Stoffwechselanomalie zu beantworten, die 
die Leber veranlassen, Bilihuminkalk auszuscheiden. Mein erster Gedanke 
bei der Erwägung dieser Frage war, ob ein Fingerzeig zu ihrer Lösung nicht 
zu finden wäre beim Studium des sehr verschiedenartigen Verhaltens der 
Gallensteine bei den beiden Geschlechtern: ihr im allgemeinen weit häufigeres 
Auftreten beim weiblichen Geschlecht, besonders aber ihre ganz überwiegende 
Häufigkeit bei der Frau im jüngeren, zeugungskräftigen Alter. Ich habe daher — 
und mit sehr befriedigendem Erfolge — ein vergleichendes Studium meiner 
Operationsstatistik und dreier dänischer Obduktionsstatistiken vorgenommen. 


Des Verfassers Operationsstatistik. 


Altersklasse weiblich männlich , insgesamt 

1-10 Jahre... . 2.2.2... 1 0 l 
10-20 a ee 1 0 1 
20—30 » o she 75=914% 7—= 80% 82 
30240: u, un Se A 110 = 859% 18 = 141% 128 
40—50 n ren 95 = 785% 26 = 215% 121 
50—69 5 ware see 103 = 763% 32 = 237% 135 
60—70 n re. 36 = 607:9 % 17 = 321% 53 
T080 n ae Ne el e Zë TTT % 2 = 223 % 9 
428 = 807% 102 = 19 3% 530 


Verlag voj 


Tafel II, Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 


Thorkild Rovsing: Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 


EEE AE 


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EEN E, 
EEE EN a a 





1-10 entsprechen den Nummern der Tafel I, indem dieselben Gallensteine hier durchgeschnitten ge- 
zeigt werden: / reiner Cholesterinstein; 74 reine Pigmentkalksteine. Die übrigen zeigen Mischung von 
Pigmentkalk und Cholesterin, mit einem Kern aus Pigmentkalk und die von diesem irradiierenden Spalten. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


ZZ, Z—1"Ö“ÖÖÖee een 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 233 


Von sämtlichen Operierten waren also 4283—=807% Frauen, während nur 
102 oder 193% auf das männliche Geschlecht entfielen. Bei einer Sonderung in 
Privat- und Krankenhauspatienten finde ich die sehr interessante Tatsache, daß 
unter den mehr wohlhabenden Patienten der Privatklinik sich ein bedeutend 
höherer Prozentsatz Männer befindet als unter den hauptsächlich der arbeitenden 
Klasse angehörigen Hospitalpatienten, indem nämlich die Privatklinik 275%, das 
Krankenhaus dagegen nur 138% Männer aufweist. 

Man hat nun behauptet, diese Operationsstatistiken bewiesen gar nicht, daß 
Gallensteine bei Frauen häufiger seien als bei Männern, sondern nur, daß Oallensteine 
bei ersteren viel häufiger zu Erkrankungen führten, die eine Operation nötig machten. 
Das ist ja auch in der Tat richtig, und man muß hier umsomehr auf der Hut sein, 
als das stärkste Überwiegen bei den Frauen in das Alter zwischen 20 bis 50 fällt, in 
welches hauptsächlich die Geburten fallen, und es ist ja auch nicht zu leugnen, 
daß die Erklärung, die ich in meinen Vorlesungen vom Jahre 1899 gab (p. 9): 
„daß der Zusammenhang lediglich darin besteht, daß die angestrengte Geburtsarbeit 
und der intraabdominale Druck Gallensteine, die vielleicht jahrelang ruhig in der Gallen- 
blase gelegen haben, in die Gallenwege hineingeschoben haben“, sehr plausibel 
klingt. Aber wie aus dem folgenden hervorgeht, bedarf es einer viel kritischeren und 
genaueren Vergleichung der Operationsstatistik mit den Sektionsstatistiken, wenn 
man nicht durch die eine oder die andere irregeführt werden will. Wie bei einer 
viel früheren Gelegenheit betont, gilt es hier zu allererst die kleinen Statistiken zu 
verwerten, die auf der persönlichen Sektionsarbeit des an einer Einzelfrage besonders 
interessierten Forschers beruhen, anstatt der vielleicht größeren, bei denen Auszüge 
alter Sektionsprotokolle als Grundlage gedient haben. Wir besitzen ja glücklicher- 
weise bei uns in Dänemark zwei derartige Statistiken aus dem Sektionszimmer des 
Städtischen Krankenhauses von Viktor Scheel und Svend Hansen. 

Ich werde nunmehr die Statistiken von Victor Scheel und Svend Hansen 
hier zum Abdruck bringen und im Anschluß daran eine Statistik über 3503 Sektionen 
mitteilen, die von September 1910 bis 31. Dezember 1921 im Pathologisch-anatomi- 
schen Institut der Universität ausgeführt worden sind. 


L Viktor Scheels Statistik über 2753 Sektionen von Individuen über 20 Jahren mit 
406 Fällen von Gallenstein, d.h. ca. 15% ausgeführt im Sektionszimmer des Städti- 
schen Krankenhauses in Kopenhagen in den Jahren 1907-1910. 


Männer Frauen 

Alter Sektionen Oallensteine o Sektionen Gallensteine % 
20—30 Jahre 137 0 0 128 7 6 
30-40 „ 291 10 3 157 17 10 
40-50 „ 349 24 6 207 29 14 
50-60 , 334 37 9 176 44 25 
60-70 u 260 34 13 189 55 29 
über 70 » 219 60 27 256 89 35 


Von 1640 Männern hatten 165 Oallensteine, d. h. 10:1 %. 
Von 1113 Frauen hatten 241 Gallensteine, d. h. 216%. 


IL Svend Hansens Statistik über 1191 Sektionen. 


Männer Frauen 

Alter Sektionen Oallensteine Ki Sektionen Gallensteine Kl 
21-30 Jahre 55 1 1:8 48 6 12:5 
31-40 , 75 5 6:7 51 10 19:6 
41-50 , 94 12 12:8 78 22 28:2 
51-60 ,ẹ 135 10 14:0 94 34 36:2 
61—70 , 155 39 25:1 131 43 32:8 
über 70 ,„ 135 47 34-8 140 55 39:3 


Es fanden sich also Gallensteine in 25% aller Fälle, bei 19% der Männer und bei 
31% der Frauen. 


234 Thorkild Rovsing. 


HI. Statistik über 3503 Sektionen des Pathologisch-anatomischen Unversitäts- 
instituts von September 1910 bis 31. Dezember 1921. 


Männer Frauen 

Alter Sektionen Gallensteine? % Sektionen Gallensteine % 
0-9 Jahre 425 1 0:23 328 1 0:3 

10—20 „ 123 0 0 138 0 0 
21-30 „ 177 2 1-1 258 14 D'A 
31-40 „ 201 6 30 236 23 9:7 
41-50 „ 249 19 T6 265 40 15:0 
51—60 » 322 28 8-6 235 46 195 
61-70 e 227 21 92 135 46 33-8 
über 70 » 64 12 19:0 56 18 32:1 
Alter unbekannt 21 1 4:7 42 4 95 


Von sämtlichen 3503 Individuen hatten also 281 Gallensteine, d. h. 8%. 
Von 1809 Männern hatten 90 Gallensteine, d. h. 49%. 
Von 1694 Frauen hatten 191 Gallensteine, d. h. 11'27%. 


Wir wollen nun die drei Sektionsstatistiken unter dem Gesichtspunkt studieren, 
von dem wir ausgegangen sind: Stammt die überwiegende Mehrheit der Frauen 
in den Operationstatistiken nur daher, daß die Gallensteine wegen der Besonderheiten 
des weiblichen Geschlechts bei der Frau häufiger Erkrankungen verursachen, die 
eine Operation erfordern, als beim Manne? Zum Teil scheint diese Annahme unzweifel- 
haft richtig zu sein, da nach den Operationsstatistiken das Überwiegen der Frauen . 
mehr als doppelt so groß ist als nach den Sektionsstatistiken; aber wir finden doch 
auch in Sektionsstatistiken unter den Gallensteinfällen nicht nur prozentual doppelt 
soviel Frauen als Männer, sondern auch die außerordentlich interessante und in 
bemerkenswertem Grade unterschätzte Tatsache, daß, während der Mann vor 
dem 30. Jahre nur ganz ausnahmsweise Gallensteine produziert, die 
Frau schon vom 20. Jahre an plötzlich so stark damit einsetzt, daß die 
Sektionsstatistiken bei5—12% aller weiblichen Leichen Gallensteine nach- 
weisen, und daß von diesem Zeitabschnitt an das Prozentverhältnis un- 
unterbrochen bis zum Lebensende ansteigt, wobei es sich ständig über 
das Gallensteinprozent des Mannes erhebt. 

Was kann jeder von uns mit Sicherheit den Statistiken entnehmen? Daß 
Gallenstein auf allen Alterstufen vorkommt. Wie ich schon in meinen Vorlesungen 
im Jahre 1899 gezeigt habe, gibt es in der Literatur eine kleine Anzahl von Beob- 
achtungen von angeborenem Gallenstein bei Kindern im zarten Alter. Ich selbst 
habe schon einen Fall mitgeteilt, wo ich bei einem 1'/, jährigen Kinde durch 
Operation ein Menge schwarzer Pigmensteine entfernte, die den Ductus choledodus 
verstopft hatten. Svend Hansen gibt an, er habe ähnliche Gallensteine bei der 
Sektion eines einjährigen Kindes vorgefunden. In der von mir hier mitgeteilten Statistik 
aus dem Pathologisch-anatomischen Universitätsinstitut finden sich zwei derartige 
Fälle: einer bei einem drei Monate alten und einer bei einem sieben Monate alten 
Kinde. Damit ist festgestellt, daß wir Gallensteine in jedem Alter finden können. 
Aber ebenso sicher ist es, daß bis zum 20. Jahre Gallensteine sowohl auf dem 
Operations- wie auf dem Sektionstisch nur ganz vereinzelt angetroffen werden, so 
selten, daß Scheel und Hansen sich veranlaßt gesehen haben, die beiden ersten 
Dezennien unberücksichtigt zu lassen und ihre Statistik erst mit dem 20. Jahre zu 
beginnen. 

Diese Statistiken sprechen eine ganz überzeugende Sprache zu gunsten der 
großen Bedeutung der Schwangerschaft für die Gallensteinbildung. Wir 
finden Gallensteine bei ganz vereinzelten jungfräulichen Patientinnen in den 
Zwanzigerjahren, ebenso wie bei vereinzelten Männern des gleichen Alters, was nur ein 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 235 


Ausdruck dafür ist, daß es noch andere gemeinsame Ursachen der Gallensteinbildung 
bei beiden Geschlechtern gibt; aber daß die große Mehrheit der Frauen unter den 
Gallensteinpatienten dieser Altersklasse gerade von denjenigen gebildet wird, die 
schwanger sind oder geboren haben, macht doch die besondere Bedeutung der 
Gravidität evident. Und das gleiche Verhältnis zwischen virginellen und maternellen 
Frauen in allen Altersklassen der weiblichen Gallensteinpatienten spricht über- 
zeugend dafür, daß an und für sich das Überwiegen der Frauen im Hinblick auf 
Gallensteine dem Einfluß der Schwangerschaft zuzuschreiben ist. 

Schon im Jahre 1912 erschien eine von Grube und Graff ausgeführte Unter- 
suchung über das Verhältnis zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen mit 
Gallensteinen, welche ergab, daß auf jede unverheiratete sechs verheiratete Frauen 
kamen, und daß von 657 verheirateten Frauen 613 geboren hatten, 44 aber nicht. 
Noch deutlicher tritt dieses Verhältnis bei Operationsstatistiken hervor, zweifellos 
aus dem Grunde, weil die Geburtsarbeit die Steine in Bewegung bringt und des- 
halb besonders häufig bei dieser Gruppe von Gallensteinträgern Gallensteinleiden 
erzeugt, die eine Operation erforderlich machen. So hat William Mayo eine Operations- 
statistik über 3075 Frauen veröffentlicht, von denen 90% geboren hatten, unter diesen 
hatten 90% die ersten Symptome während oder gleich nach der Schwangerschaft 
bemerkt. | 

Ich selbst habe gefunden, daß 344 von den 428 Frauen, die ich wegen Gallen- 
stein operierte, geboren hatten, also über 80%. 

Wie läßt sich nun der Zusammenhang zwischen Schwangerschaft und Gallen- 
steinbildung erklären? In meinen Vorlesungen habe ich auf zwei Momente hingewiesen, 
die jedes einzeln oder vielleicht in Verbindung miteinander die Ausfällung von 
Pigmentkalk in der Leber, worum es sich ja eigentlich handelt, verursachen 
könnten. Das eine ist die zu geringe Flüssigkeitszufuhr zur Leber infolge 
der großen Wassermengen, die der Foetus und die Milchabsonderung für sich in 
Anspruch nehmen. Viele schwangere Frauen, namentlich diejenigen, welche an 
Schwangerschaftserbrechen leiden, wären gar nicht imstande, durch Trinken dieses 
Wasserdefizit in der Leber zu decken, was man sich als mitwirkende Ursache dafür 
denken kann, daß der Pigmentkalk nicht länger in Lösung bleiben kann und daher ` 
ausgefällt wird. Wir kennen ja den entsprechenden Vorgang von den Harnorganen 
her, wo bei Durstkuren oder habituellem Mangel an Durst Nierengrieß ausgefällt wird. 

Eine zweite Möglichkeit besteht im Übertritt toxischer Stoffe aus dem 
Foetusin den mütterlichen Kreislauf als Ursache zu Stoffwechselveränderungen, 
die dann zur Ausfällung von Pigmentkalk führen. Solche werden in hohem Grade 
wahrscheinlich gemacht durch Forschungen der letzten Jahre über die sowohl bei 
pathologischer wie bei normaler Schwangerschaft in der Leber vor sich gehenden 
Veränderungen. Es ist ja schon lange — u.a. durch Albecks und Lohses Arbeiten 
— bekannt gewesen, daß bei Eclampsia gravidarum, der schwersten Graviditäts- 
intoxikation, die wir kennen, die Leber hochgradig affiziert wird, aber neuerdings 
haben namentlich französische und amerikanische Forscher gezeigt, daß die Leber 
bei der Elimination giftiger Stoffwechselprodukte eine weit wichtigere Rolle spielt, 
als man früher annahm, ja man glaubt sogar, eine wichtigere als die Niere. 
Milescu hat festgestellt, daß die Leber selbst während einer anscheinend normalen 
Schwangerschaft eine Stätte von Degenerationsherden ist, wobei die Leberzellen 
mit Fett infiltriert und ein Sitz für andere Veränderungen sind; er nennt 
diesen Zustand „Graviditätsleber“. Hofbauer, der ebenfalls Lebern von Schwangeren, 
die keine Symptome von Leberleiden gezeigt hatten, einer Untersuchung unter- 


236 Thorkild Rovsing. 


zogen hat, gibt folgende Charakteristik der Graviditätsleber: 1. Fettinfiltration im 
centralen Teil der Acini und Mangel an Glykogen; 2. Gallenstase und Pigment- 
ablagerung im Inneren der Lobuli mit Erweiterung der Gallencapillaren; 3. Ektasie 
der Venae centrales und der darin einmündenden Capillaren. 

Der sog. Graviditätsikterus, den man früher allgemein als einen durch den 
graviden Uterus hervorgerufenen Kompressionsstase-Ikterus auffaßte, wird gegen- 
wärtig von vielen (Braun, v. d. Velden, Kehrer) als Folge einer embryogenen 
Toxämie betrachtet. 

Es sei bemerkt, daß diese Untersuchungen, namentlich aber Hofbauers 
Hinweis auf Pigmentauflagerung in der Leber bei anscheinend normaler Gravidität, 
die besten Stützpunkte abgeben für das Verständnis der Gallensteinbildung während 
der Gravidität und als Wirkung einer embryonalen Toxämie, die zur Ausfällung 
von Pigmentkalk in der Leber führt. 

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die nun noch übrig bleibt: Welche 
für Männer und Frauen gemeinsamen Ursachen liegen der Gallenstein- 
bildung bei Männern und virginellen Frauen zugrunde? 

Ich halte es für logisch, aus den Erfahrungen bei Graviditätsgallensteinen zu 
schließen, daß krankhafte Zustände, die eine Verarmung des Körpers an Flüssig- 
keit und gleichzeitig eine Toxämie bedingen, Pigmentkalkausscheidung in der Leber 
und infolge davon Gallensteinbildung nach sich ziehen müssen. Ich bin in dieser 
Anschauung dadurch bestärkt worden, daß eine große Anzahl dieser Patienten früher 
eine oder mehrere langdauernde Infektionskrankheiten durchgemacht hatte. 

Es ist ein altbekannter Lehrsatz, daß Üppigkeit, Überernährung und 
Mangel an Bewegung zu GOallensteinen disponieren. Meine klinische Erfahrung 
hat bei mir den Eindruck erweckt, daß es damit, trotzdem Naunyn und seine 
Anhänger die Bedeutung der konstitutionellen und diätetischen Momente durchaus 
bestreiten, doch seine Richtigkeit hat. Es hat sich ja gezeigt, daß gerade die fetten, 
wohlgenährten Frauentypen mit überwiegender Häufigkeit unter den Gallenstein- 
patienten vertreten waren, während ich Gallenstein auffallend selten bei Ptose- 
patienten fand. Ferner ergab sich das interessante Verhältnis, daß unter meinen 
privaten, der besitzenden Klasse angehörigen Patienten der männliche Prozentanteil 
doppelt so groß war als unter den Krankenhauspatienten: 275% gegen 138%. 

Inwieweit diese Momente die Pigmentausfällung in der Leber, die in der Regel 
als notwendige Voraussetzung der Gallensteinbildung anzusehen ist, bedingen können, 
getraue ich mich nicht zu sagen; jedoch erscheint es nach allen experimentellen 
Erfahrungen als sicher, daß der Cholesteringehalt der Galle in hohem Grade von 
der Ernährung abhängt. Und vom Gehalt der Galle an Cholesterin hängt auch 
die Schnelligkeit ab, mit welcher das kleine Pigmentkorn zu einem richtigen Gallen- 
stein heranwächst, ja oft genug auch die Aussicht, überhaupt zu einem solchen zu 
werden. Man kann sich in jedem Fall sehr wohl denken, daß die kleinen Pigment- 
steine in den Fällen, wo sie sich nicht so schnell inkrustieren, die Gelegenheit 
wahrnehmen, die Gallenblase wieder mit der Galle zu verlassen. 

Es gibt leider keine systematische Reihe von Untersuchungen dieser Frage von 
der Hand eines internen Klinikers, dafür aber Einzelbeobachtungen sehr angesehener 
Internisten, die deutlich darauf hinweisen, daß Diätfehler bei dazu disponierten, 
fetten Individuen sogar eine akute Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk 
direkt ins Leberparenchym zur Folge haben können, die sich durch Erbrechen 
und mit „Leberkolik“ bezeichnete Schmerzen in der ganzen Lebergegend kundgeben, 
wobei gleichzeitig große Mengen kleiner Körner und Klumpen von 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 237 


schwarzem Pigmentkalk entleert werden. Schon Frerichs, der sich so große 
Verdienste um die Klinik der Leberkrankheiten erworben hat, hat derartige Beobach- 
tungen mitgeteilt und bei der Sektion solcher Fälle Massen von kleinen, schwarzen 
Pigmentkonkrementen in allen Gallengängen der Leber bis in die Capillaren ange- 
troffen. Vor einigen Jahren hat Aufrecht in Magdeburg einen Fall beschrieben, 
wo eine 48jährige, sehr korpulente Dame nach einem reichlichen Mittagessen an 
akuter Intoxikation mit Aufstoßen, Durchfall und heftigen Schmerzen in der Leber- 
gegend erkrankte, und wo die Untersuchung der Faeces eine Menge typischer, 
kleiner schwarzer Pigmentkonkremente bis zu Hirsekorngröße ergab. In einem 
zweiten Falle, wo bei der Sektion in den feinen Gallengängen der Leber kleine 
Pigmentkonglomerate vorgefunden wurden, hat Aufrecht das Lebergewebe mikro- 


Fig. 67. 





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a Ausscheidung von Bilihuminkalk in den Leberzellen; 
b Übertreten des Pigmentkalkes in die Gallencapillären (Aufrecht). 


skopisch untersucht und Ausfällung von schwarzem Pigmentkalk in den Leber- 
zellen selbst nachgewiesen, von denen einige in seiner Abhandlung abgebildet sind 
(Fig. 67 a und b). 

Dies ist also genau die gleiche Beobachtung, die Hofbauer an der OGraviditäts- 
leber machte, und dies bestätigt in hohem Grade meine Erklärung der Gallenstein- 
bildung bei Männern und jungfräulichen Frauen als auf einer vorübergehenden Toxämie 
beruhend, die zwar anderen Ursprungs ist, aber in Übereinstimmung mit der Graviditäts- 
toxämie von einer ÄAusfällung von Pigmentkalk in den Leberzellen begleitet ist. 

Diese Pigmentausfällungen werden wohl in der Regel mit dem Gallenstrom, 
nachdem dieser wieder normal geworden ist, in den Darmkanal befördert; bisweilen 
bleibt die eine oder die andere in den Gallengängen der Leber hängen und erzeugt 
hier einen aseptischen, „steinbildenden Katarrh“ (Epithelverlust, kleine Blutergüsse), 
und wir verstehen, weshalb wir dann und wann Gallensteinbildung sich in der 
Leber, im Ductus hepaticus und choledochus vollziehen sehen; in vielen Fällen aber 
bleiben die Pigmentsteine wegen ihrer stacheligen, verästelten Gestalt in der Gallen- 
blase zurück und geben hier die Kerne ab für die Gallensteinbildungen, die wir 
gewöhnlich bei Operationen und Sektionen antreffen. Die vielen Verschiedenheiten 
derselben in Farbe, Form und Zusammensetzung sind von dem bei den verschiedenen 
Individuen und zu den verschiedenen Zeiten wechselnden Gehalt der Galle an 
Cholesterin, Kalk und Farbstoff abhängig, und diese hängen natürlich wiederum 
von der Lebensweise des betreffenden Individuums ab. 


238 Thorkild Rovsing. 


II. Die Bedeutung des Pathogeneseproblems für die Behandlung der 
Gallensteinkrankheit und die Bedeutung des Kurerfolges als Gegen- 
probe auf die Richtigkeit der Pathogenesetheorie. 


Wie schon in der Einleitung hervorgehoben und im weiteren Verlauf der 
Darstellung gelegentlich angedeutet, hat die Frage nach der Entstehungsweise der 
Gallensteine nicht nur eine wissenschaftliche, sondern zugleich im hohen Grade 
eine praktische Bedeutung, indem sie einen entscheidenden Einfluß auf die Behand- 
lung, sowohl die medizinische wie die chirurgische, gehabt hat und haben muß. 
In Übereinstimmung mit der Naunynschen Theorie mußte die medizinische Be- 
handlung in erster Linie darauf ausgehen, durch die Verabreichung antiseptischer 
Medikamente die Infektionsstoffe zu vernichten, vielleicht auch durch Impfung und 
Serumbehandlung den Organismus unangreifbar zu machen gegenüber den 
Mikroben, um die es sich in der Regel dabei handelt: die Gruppe des Bacterium 
coli. Merkwürdig genug scheinen Naunyn und seine Kollegen diese naheliegende, 
oder richtiger gesagt: zwingende Konsequenz der Infektionstheorie nicht gezogen 
zu haben. Nach wie vor läuft die Gallensteinbehandlung der Mediziner darauf 
hinaus, die Gallensteine aus der Blase herauszubefördern, namentlich mit Hilfe der 
Karlsbader Kur. 

Ganz anders haben die Chirurgen, die ohne Zögern und mit Begeisterung 
der Naunynschen Theorie ihre Zustimmung gaben, die Konsequenzen aus dieser 
Theorie gezogen. 

Der deutsche Chirurg Langenbuch, der, obwohl bei weitem nicht der erste, 
der Gallenstein operativ behandelte, mit einem gewissen Recht der Vater der 
Gallensteinchirurgie genannt wird, weil er zuerst die Forderung aufstellte, daß die 
Cholelithiasis als ein ausschließlich chirurgisches Leiden zu betrachten sei, hatte 
bereits im Jahre 1882 die Cholecystektomie — die totale Entfernung der Gallen- 
blase — ausgeführt und als einen zulässigen Eingriff empfohlen, weil die Gallen- 
blase seiner Meinung nach ein ganz unnützes Organ sei — was er daraus folgerte, 
daß das Pferd und gewisse andere Tiere gar keine Gallenblase hätten. Nachdem 
Naunyn seine Theorie aufgestellt hatte, die Langenbuch in seiner „Chirurgie der 
Leber und Gallenblase« 1897 begeistert als wissenschaftlich fundiert behandelt, 
bezeichnet er als notwendige Konsequenz dieser Theorie die Gallenblasenexstirpation 
als einzig rationelle und radikale Therapie bei Gallenstein. Da nach Naunyns 
Theorie die Gallenblase die einzige Bildungsstätte für alle Gallensteine ist — ohne 
Gallenblase kein Gallenstein — können wir nur durch ihre Beseitigung den Patienten 
gegen ein Rezidiv schützen. 

Dieser wirklich logische Standpunkt begegnete anfangs, namentlich von 
Riedels, aber auch von Kehrs und anderer Seite, starkem Widerspruch, nicht weil 
diese Forscher die Richtigkeit der Infektionstheorie anzweifelten, sondern weil sie 
angesichts der physiologischen Funktion, die man vernünftigerweise der Gallenblase 
als Reservoir der Galle im Körperhaushalt zuschreiben mußte, die Folgen von 
deren Beseitigung fürchteten. Dazu kam, daß die Cholecystotomie ein sehr kleinerer 
und weniger gefährlicher Eingriff war. Darauf entgegneten jedoch Langenbuch 
und die anderen Vorkämpfer der Cholecystektomie, daß die operierten Patienten. 
die Gallenblase nicht im geringsten zu entbehren schiener, sowie mit dem erneuten 
Hinweis darauf, daß auch gewisse Tiere keine Gallenblase hätten. Hier erhebt 
Langenbuch sich zu hohem dichterischen Fluge mit folgenden Ausführungen: 

„Der arme Mensch hat zwar ein größeres Gehirn als die Geier und Eulen, 
diese können aber fliegen, haben immer zu essen und sind in Sachen des Gallen- 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 239 


abflusses weit besser gestellt als der Mensch, vermutlich auch glücklicher als so 
viele der homines sapientes. Wenden wir uns jetzt zur Abwechslung einmal dem 
Pferde zu. Dieses Tier dürfte vielfältig weniger glücklich sein als viele Menschen 
oder teilt wenigstens mit diesen nur zu häufig die Mühseligkeiten einer unter- 
geordneten sozialen Lage, aber — auch dieses hat keine Gallenblase!« 

Diese Betrachtungen und die nicht sehr logische Folgerung, daß die mensch- 
liche Gallenblase ein ganz sinnloses und überflüssiges Gebilde sei, weil die Geier, 
Eulen und Pferde dieses Organ nicht besäßen, hat merkwürdigerweise starken 
Eindruck gemacht; insbesondere wird jene Folgerung immer wieder in Diskussionen 
zu gunsten der Cholecystektomie geltend gemacht. Ja ich habe sogar kürzlich die 
peinliche Wahrnehmnng machen müssen, daß dieser Glaubenssatz als wissenschaft- 
liche Tatsache bei dem angesehenen schwedischen Anatomen und Embryologen 
Ivar Broman umgeht, der in seiner kleinen Abhandlung „Über die Phylogenese 
der Gallenblase« im Jahre 1921, in der Hauptsache gestützt auf den Chirurgen 
Lennander, den Satz schreibt: „Die Gallenblase scheint also vom funktionellen 
Standpunkt aus ein gleichgültiges Organ zu sein“, und die Hypothese aufstellt, daß 
die.Gallenblase nur als „rudimentäres Organ“ zu betrachten sei, ungeachtet dessen, 
daß Broman zugeben muß, daß die frühzeitige Anlage der Gallenblase im 
übrigen dafür sprechen würde, daß sie gerade ein funktionell wichtiges Organ 
darstellt. 

Dies ist, neben dem bereits oben angenagelten, ein neues Beispiel dafür, wie 
eine ganz leichtfertige Hypothese, wenn sie nur ein gewisses Alter erreicht hat, 
als wissenschaftlich feststehende Tatsache weiterlebt, auf der dann neue, leere 
Hypothesen errichtet werden, die nach etwas aussehen und als Beweise für die 
Richtigkeit der früheren dienen müssen — die „wissenschaftliche Zwickmühle“. Ich 
habe es für sehr nötig gehalten, dieses letzte Beispiel aufzudecken, weil Bromans 
Name als eines Vertreters der Wissenschaft dafür bürgt, daß seine kleine Abhand- 
lung von den begeisterten Anhängern der Gallenblasenexstirpation als ein „rein 
wissenschaftliches«, höchstwillkommenes Argument für die Überflüssigkeit der 
Gallenblase verwertet werden wird. 

Beruhigt durch die Behauptungen von der Bedeutungslosigkeit der Gallen- 
blase, ging die Mehrheit. der Chirurgen in aller Welt, nachdem Naunyns Infek- 
tionstheorie allgemeinen Glauben gefunden hatte, zur Cholecystektomie über. 
Selbst Kehr und Wm. Mayo, die lange Zeit hindurch die Cholecystotomie als 
die richtige Normalmethode bezeichneten, gingen zur Ektomie über. Folgendes 
waren die drei Beweggründe für diesen Standpunkt: 

1. Jede Gallensteinbildung vollzieht sich in der Gallenblase, des- 
halb muß deren Beseitigung uns absolut gegen Rezidive schützen. 

2. Da die Steinbildung in der Gallenblase auf eine Entzündung der 
Schleimhaut zurückzuführen ist, die der Steinbildung vorausgegangen und von 
der deshalb nicht zu erwarten ist, daß sie durch die Entfernung der Steine ver- 
mittelst Cholecystotomie werde geheilt werden, so muß diese letztere Operation 
in allen oder doch den meisten Fällen ein Rezidiv zur Folge haben. 

3. Die Gallenblase ist ein ganz unnützes Organ, welches zu schonen 
zwecklos ist, da ihre Beseitigung für die Patienten keine schädlichen Folgen 
haben kann. | 

Indem wir nun die Probe auf die Richtigkeit dieser drei Behauptungen an- 
stellen, können wir gleichzeitig die Gegenprobe auf die Richtigkeit der Theorien 
machen, die die unbestreitbare logische Konsequenz jener Behauptungen sind. 


340 Thorkild Rovsing. 


Zu 1. Es ist bisher schwierig gewesen, sich aus der Literatur Material zur 
Beurteilung der Frage zu verschaffen, wie oft nach der Exstirpation der Gallenblase 
Rezidive vorkommen, u. zw. infolge eines bedauerlichen Mangels an Nachunter- 
suchungen seitens der Chirurgen, die über ein großes Material von Cholecystek- 
tomien verfügen. Das kann daran liegen, daß die große Mühe des Aufsuchens der 
oft weit zerstreut wohnenden Patienten abschreckend gewirkt hat, oder daran, daß 
man ein Rezidiv für unmöglich und daher die Nachuntersuchung für überflüssig 
gehalten hat. Daß aber derartige Nachuntersuchungen keineswegs überflüssig sind, 
geht aus dem Einblick hervor, den man vor kurzem in das Material einer Cystek- 
tomiecentrale, nämlich der Chirurgischen Uhniversitätsklinik in Gießen, hat tun 
können, deren Leiter Professor Popper ist. Die von Dr. Otto Specht besorgte 
Durchsicht des Materials ist keineswegs in der Absicht vorgenommen worden, nach 
Rezidiven zu suchen, sondern um die Cystektomie gegen eine von vielen Seiten 
erhobene unbequeme Behauptung zu verteidigen, auf die ich später noch zurück- 
kommen werde, nämlich daß sich nach Cystektomie häufig eine neue 
Gallenblase an der Stelle bilde, wo der Ductus cysticus in den Ductus chole- 
dochus mündet. Zur Beleuchtung dieser Frage hat Specht den Fällen nachgehen 
müssen, in denen man auf Grund rezidivierender Gallensteinsymptome genötigt 
war, die Relaparotomie zu machen. 

In der Gießener Universitätsklinik wurden 3032 Cholecystektomien wegen 
Gallenstein ausgeführt, bei 502 von diesen Fällen gleichzeitig Choledochotomie. In 
68 Fällen, also in 224% sämtlicher Fälle, mußte auf Grund rezidivierender Anfälle 
die Relaparotomie gemacht werden. Bei 55 derselben war bei der ersten Operation 
nur die Cholecystektomie, bei den übrigen 12 gleichzeitig die Choledochotomie 
gemacht worden. Da die ganze Arbeit nur darauf hinausläuft, zusammenzuzählen, 
wie oft eine Dilatation des Cysticusstumpfes vermerkt ist, so findet sich keine genaue 
Angabe darüber, wie oft Steine angetroffen wurden, aber eine solche wird gelegent- 
lich beim Bericht über diesen oder jenen der Fälle gemacht, so daß man in 
wenigstens 18 Fällen einen Steinfund konstatieren kann. Nun muß man 
ja bei der Deutung dieser Funde sehr vorsichtig sein und wohl beachten, daß 
Choledochussteine oft übersehen oder vielmehr bei denjenigen Operationen nicht 
gefühlt werden, wo der Ductus choledochus unberührt bleibt. Solche falsche 
Rezidive darf man unter keinen Umständen mit den echten verwechseln, was aber 
im Einzelfalle sehr schwierig sein kann. In 10 jener Fälle hatte man bei der ersten 
‘Operation den Ductus choledochus normal angetroffen und trotz sorgfältiger 
Palpation keinen Stein darin finden können, während man bei der Relaparotomie 
ihn stark dilatiert und ausgebuchtet fand. Wenn Specht schreibt: „Da der Ductus 
choledochus damals nicht eröffnet worden war, muß angenommen werden, daß die 
Steine früher übersehen worden waren“, so lautet dies sehr unwahrscheinlich nach 
der genauen Untersuchung bei der ersten Operation und der bestimmten Angabe 
von dem vollständig negativen Befund im Gegensatz zu dem sogleich in die Augen 
fallenden Befund der Dilatation und der Steine bei der zweiten. Es ist ja möglich, 
daß einige falsche Rezidive sich unter diesen Fällen befinden, aber das Wahr- 
scheinlichste ist doch, daß es sich bei den meisten um echte Rezidive gehandelt 
hat, um Steine, die seit der letzten Operation im Choledochus entstanden sind. In 
zwei Fällen hatte man bei der Cholecystektomie infolge von Verwachsungen die 
Gallenwege nicht sondieren oder palpieren können. Hier muß man es für das 
Wahrscheinlichste halten, daß die Gallensteine schon bei der ersten Operation vor- 
handen waren, wenn auch die Möglichkeit eines echten Rezidivs nicht ausge- 


Die Pathogenese und die operative Behandiung der Gallensteinkrankheit. 241 


schlossen werden kann. In den übrigen 6 Fällen war aber bei der ersten Operation 
die Choledochotomie mit Entfernung von Steinen und anschließender Drainage 
des Choledochus ausgeführt worden, worauf zunächst Heilung, dann aber nach 
Verlauf eines Jahres Rezidiv eingetreten war. Bei der Relaparotomie wurden in der 
Regel mehrere Steine im Choledochus angetroffen. In einem dieser Fälle fand man 
zuerst nur einen Stein im Choledochus, nach Verlauf zweier Jahre traten neue 
Schmerzanfälle auf, und diesmal fanden sich nicht weniger als neun Chole- 
dochussteine. Bei dieser ganzen Gruppe können wir nicht darüber im Zweifel 
sein, daß es sich um echte Rezidive gehandelt hat. Nun ist zu bedenken, daß 
diese 68 Patienten mit Rezidiven nur diejenigen darstellen, die aus eigenem Antrieb 
sich in der gleichen Klinik wieder vorgestellt haben und sicherlich nur einen 
Bruchteil der rezidivierten Fälle bilden, die zu Hause geblieben waren oder wegen 
der bei der ersten Operation gemachten ungünstigen DE sich anderweitig 
in Behandlung begeben hatten. 

Dieser Einblick in das Material einer großen Cystektomiecentrale hat uns also 
gezeigt, daß es mindestens 224%, wahrscheinlich aber weit mehr „Rezidivfälle« 
gibt, und daß es sich bei einer bedeutenden Prozentzahl derselben um echte Rezi- 
dive handelt. 

Daß solche vorkommen, kann ich übrigens durch einen Fall aus meiner 
eigenen Erfahrung bekunden, der so instruktiv ist, daß ich die Krankengeschichte 
in aller Kürze hier wiedergeben will. 


Charlotte N., 68 Jahre alte Gutsbesitzerswitwe. Abteilung C des Reichshospitals. Aufgenommen 
am 17. September 1921. Begann zu Weihnachten 1912 an typischen Gallensteinanfällen ohne 
Ikterus zu leiden. Am 27. Februar 1913 erfolgte ihre Aufnahme ei Abteilung C. Empfindlichkeit in 
der Gallenblasengegend, Achylia gastrica. Am 5. März 1913 wurde die Cholecystektomie ausge- 
führt, weil die Gallenblase im Stadium beginnender Gangrän angetroffen wurde. Es wurden zwei 
kugelförmige, maulbeerähnliche Konkremente entfernt, das eine von Nuß-, das andere von Erbsen- 

öße. Galle sterıl. Weder im noch am Choledochus etwas Abnormes zu fühlen. Darnach gesund 
is vor 2!/, Jahren, wo die Schmerzanfälle wiederkehrten, aber nun in Begleitung von Ikterus. 

Am 9. Juli 1915 wurde die Choledochotomie ausgeführt und dabei ein Don langes, 
schwarzes, festweiches Konkrement von Pigmentkalk entfernt. Darnach war Patientin 
sung bis zum Oktober 1918, wo sie abermals mit starken Schmerzen und Ikterus aufgenommen 
wurde 

Am 27. Januar 1918 wurde zum zweiten Male die Choledochotomie gemacht und 
dabei mit der Curette eine Menge kleiner, facettierter Gallensteine sowie Gallengrieß 
entfernt. Darnach blieb die Patientin 1'/, Jahre gesund, erkrankte dann aber wiederum an schwachen 
Anfällen mit Ikterus. In den letzten drei Wochen hat sie infolge von sieben schweren Anfällen das 
Bett hüten müssen. Sie wurde daher von neuem zur Operation auf die Abteilung verlegt. Es besteht 
starker Ikterus und heftiges Aufstoßen, in dessen Verlauf die Patientin plötzlich zwei linsengroße 
Gallensteine erbricht, worauf Schmerzen, Ikterus und Fieber schnell verschwanden, so daß auf 
Operation verzichtet und die Patientin am 4. November 1921 als gesund entlassen wurde. 


Dieser Fall ist ein sicherer Beweis dafür, daß die Gallensteinbildung keines- 
wegs an die Gallenblase gebunden ist, und zeigt recht anschaulich, wie in Über- 
einstimmung mit meiner Theorie die Gallensteinbildung vor sich geht. Bei dem 
ersten Anfall, zwei Jahre nach der Cholecystektomie, finden wir nur ein frisches 
Agglomerat von schwarzem Pigmentkalk, später mehr oder minder ausgebildete 
Gallensteine, die sich in der Zwischenzeit durch Ablagerung aus den normalen 
festen Gallenbestandteillen um Pigmentkerne von derselben Brut wie die bei der 
ersten Operation entfernten entwickelt haben. 

Außer diesem Rezidivfall nach eigener Cholecystektomie habe ich drei Patienten 
wiederholt operiert, deren Gallenblase von anderen Chirurgen entfernt 
worden war. 

Der erste betrifft eine 59jährige Dame, bei der vor 15 Jahren die Gallen- 
blasenexstirpation ausgeführt worden war. Die Anfälle kehrten schon sehr bald 
wieder, und seitdem wurde die Patientin in zunehmendem Grade davon heim- 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 16 


242 Thorkild Rovsing. 


gesucht. Bei der Choledochotomie am 20. Oktober 1920 wurden vier facettierte 
Gallensteine entfernt. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß hier ein falsches 
Rezidiv vorliegt, Steine, die bei der ersten Operation übersehen wurden. 

Im zweiten Falle war es gleichfalls eine 59jährige Dame; aber hier war außer 
der Cholecystektomie auch die Choledocholithotomie mit vorläufig gutem 
Resultat ausgeführt worden. Nach Verlauf eines Jahres traten von neuem Schmerzen 
auf, und es wurden bei der Reoperation eine Anzahl Steine nebst Gallengrieß ent- 
fernt. Wahrscheinlich ein echtes Rezidiv. | 

Im dritten Falle war bei einer 6ljährigen Frau ein Jahr zuvor die Chole- 
cystektomie gemacht worden, aber ohne Erfolg; es bildete sich eine Fistel, und 
jedesmal, wenn sie sich schließen wollte, entstanden Schmerzen, Ikterus und Fieber. 
Bei der Reoperation fand ich den Choledochus und Hepaticus stark erweitert und 
mit Steinen und Grieß angefüllt, nach deren Entfernung die Patientin sich schnell 
erholte. Ohne Zweifel ein falsches Rezidiv: Choledochus- und Hepaticussteine, 
die bei der ersten Operation übersehen worden waren. 

Schließlich habe ich bei zweien meiner eigenen Patienten mit Choledochus- 
steinen, wo die Oallenblase bei der Cholecystotomie geschrumpft und leer ange- 
troffen wurde, und nach der Entfernung eines solitären, eiförmigen Steines aus dem 
Choledochus schnelle, vollständige Heilung eintrat, nach mehreren Jahren echtes 
Rezidiv mit totalem Ikterus als Folge von Verstopfung des Choledochus mit 
Steinen beobachtet. 

Es könnte scheinen, als wenn der Ductus choledochus nach Entfernung oder 
Schrumpfung der Gallenblase die Funktion der Gallenblase als Bildungsstätte für 
Gallensteine übernähme, was auch gar nicht verwunderlich wäre, da er, wie im 
folgenden näher ausgeführt werden wird, in zahlreichen Fällen auch deren Rolle 
als Gallenreservoir übernimmt. Im übrigen ist es noch sehr die Frage, ob nicht 
die Choledochussteine im ganzen genommen häufig primär im Choledochus 
um direkt aus der Leber kommenden Pigmentkalk herum gebildet werden. 
Bisher ist man bei Choledochussteinen, selbst wenn in der Gallenblase oder im 
Cysticus keine Steine gefunden wurden, stets davon ausgegangen, daß sie in der 
Gallenblase entstanden und von da in den Choledochus befördert worden seien, 
im Vertrauen auf Naunyns Theorie. Jetzt, da wir wissen, daß .die Gallenstein- 
bildung in der Leber beginnt, sind wir vielleicht geneigt, diese Frage etwas anders 
aufzufassen. 

Die Verehrer der Gallenblasenexstirpation, die das Pferd als Beweis für die 
Überflüssigkeit der Gallenblase ins Treffen zu führen pflegen, will ich aber doch 
auf etwas aufmerksam machen, was sie nicht zu wissen scheinen, nämlich daß das 
Pferd nichtsdestoweniger oft an Gallenstein leidet. 

Die hier angeführten Tatsachen beweisen, daß die Gallensteinbildung 
nicht an die Gallenblase gebunden ist, und daß die Entfernung der 
Gallenblase nicht vor Rezidiven schützt. 

Zu 2. Wäre Naunyns Infektionstheorie richtig, dann müßten die Operationen, 
bei denen die Gallenblase erhalten bleibt, eine Unzahl von echten Rezidiven auf- 
weisen, was ja auch der Hauptpunkt der Argumentation gegen die Cholecystotomie 
seitens der Ektomiefreunde ist. Eine Untersuchung der wirklichen Verhältnisse klärt 
uns jedoch bald darüber auf, daß Naunyns Theorie hier auch nicht die schwächste 
Stütze findet. Soweit meine Literaturkenntnis reicht, besitzen wir keinen vollgültigen 
Beweis dafür, daß echte Steinrezidive in der Gallenblase überhaupt vorkommen. 
Wohl fehlt es nicht an Mitteilungen über „Rezidive“, aber die betreffenden Ver- 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 243 


fasser scheinen es sich niemals klar gemacht zu haben, wie schwer es ist, zwi- 
schen einem Rezidiv und einem bei der Operation übersehenen Stein 
zu unterscheiden. Wenn einzelne Verfasser diejenigen Fälle, wo die Patienten 
auf die schematische Frage antworten, daß sie nach der Operation Gallenstein- 
schmerzen gehabt hätten, als Rezidiv buchen, dann gehen sie dabei gänzlich fehl, 
weil derartige Schmerzen viele andere Ursachen haben können: Neuralgien der 
Narbe, Adhäsionsbildungen, Suturen, kleine Hernien u.s. w. Verständlicher ist es, 
wenn Abgang von Steinen mit dem Stuhlgang nach Schmerzanfällen manche 
Forscher verleitet hat, solche Fälle als Rezidive aufzuführen, aber in Wirklichkeit ist 
das nicht zulässig, denn es beweist ja lediglich das Vorhandensein von Steinen, 
läßt aber unentschieden, inwieweit diese Steine bei der vorigen Operation über- 
sehen oder seitdem neu gebildet wurden. Nun darf man nicht vergessen, daß auch 
die Chirurgen Menschen sind, die natürlich, solange es geht, die wiederholte Er- 
krankung lieber der Natur als ihren eigenen Kunstfehlern zur Last legen. Wir 
müssen daher gegenüber den Angaben der Chirurgen über Gallensteinrezidive 
besonders kritisch sein. 

Ohne Autopsie bei wiederholter Operation oder bei Obduktion läßt sich die 
Frage: Rezidiv oder vergessener, übersehener Oallenstein? im Einzellfall überhaupt 
nicht entscheiden, und auch dann kann die Entscheidung noch schwierig genug 
sein. Finden wir in der Gallenblase oder im Ductus cysticus einen oder ganz wenige 
Steine vom gleichen Typus wie bei der vorhergegangenen Operation, oder finden 
wir Steine im Ductus choledochus oder hepaticus, wo diese bei der ersten Operation 
geöffnet und genau untersucht worden waren, dann brauchen wir nicht daran zu 
zweifeln, daß es sich um Steine handelt, die der Operateur nicht bemerkt hatte —, 
ein in vielen Fällen sehr unschuldiges Versehen. Nur wenn wir in einer Gallen- 
blase, die wir das letztemal ihrer Steine entleert hatten, eine ganz neue Brut 
von Gallensteinen finden, die die Gallenblase ausfüllen oder doch in solcher 
Menge vorlıanden sind, daß von einem Übersehenwordensein nicht die Rede sein 
kann, dann können wir von einem echten Rezidiv in der Gallenblase sprechen —, 
ebenso wie wir von einem Rezidiv im Choledochus sprechen dürfen, wenn wir 
nach sorgfältiger Entfernung der Steine bei der ersten Operation ihn neuerdings 
mit einer frischen Brut angefüllt finden. 

Was nun mein eigenes Material betrifft, so habe ich für alle vor dem 1. Januar 1921 
nach Gallensteinoperation entlassenen Patienten eine Nachuntersuchung veranstaltet. 
Es ist mir gelungen, von 340 Auskunft zu erhalten, von 163 der Universitätsklinik 
und von 177 meiner Privatklinik, deren Patienten natürlich leichter wiederzufinden 
waren. Von diesen 340 handelte es sich bei 302 um Cholecystotomie. 


Die Resultate waren bei diesen 302 cystotomierten Gallensteinpatienten folgende: 


Ganz gesund seit der Operation. . . 2. 2 2220. 280 
Es klagten über Schmerzen nach der Operation. . . . 22 
Davon sicher echte Rezidive. . . . 2.22.2220... e] 
Zweifelhaft echte Rezidive. . .. . 2.22 220... 2 
Unzweifelhaft falsche Rezidive . . . . 2. 2. 2 22200. 19 


Was die letzte, von mir als unzweifelhaft falsche Rezidive bezeichnete Gruppe 
betrifft, so bemerke ich zur Aufklärung, daß elf derselben auf Grund der 
rezidivierenden Schmerzen teils von mir, teils in einigen wenigen Fällen von 
anderen Chirurgen reoperiert wurden. Bei der Reoperation wurden nur in zwei 
Fällen Steine in der Gallenblase gefunden; beidemale war eine Fistel zurück- 

16* 


244 Thorkild Rovsing. 


geblieben, weshalb ich bei der Reoperation einen bzw. zwei übersehene Steine 
entfernte. In neun Fällen war die Gallenblase leer. Bei drei dieser Fälle 
fand sich ein Stein im Ductus cysticus eingeklemmt, bei drei weiteren ein Stein 
im Choledochus, und bei den letzten drei wurde überhaupt kein Stein angetroffen. 

Was nun die übrigen acht nicht reoperierten Fälle anbetrifft, so handelte es 
sich hier nur um Schmerzen unbestimmten Charakters nach Cystotomie. 

Die beiden als zweifelhaft echte Rezidive bezeichneten Fälle zeigten 
folgende Verhältnisse. Der eine Patient war eine Dame, die 15 Jahre später, nach- 
dem ich durch Cystotomie 17 Steine aus der Gallenblase, fünf aus dem Cysticus 
und drei aus dem Choledochus entfernt hatte, plötzlich wieder Schmerzen und 
Ikterus bekam, und wo ich bei der Reoperation einen kleinen facettierten Stein 
von ganz demselben charakteristischen Typus wie früher — weiß, perlmutterglänzend 
— in der Gallenblase fand, während ein nußgroßer des gleichen Typus im Chole- 
dochus angetroffen wurde. Die geringe Anzahl und der Typus der Steine machen 
es in hohem Grade wahrscheinlich, daß dies zwei seinerzeit zurückgebliebene Steine 
waren, von denen sich der Choledochusstein nun zufällig eingeklemmt und durch 
Ikterus und Schmerzen seine Gegenwart verraten hatte; aber einen zwingenden 
Beweis dafür, daß die Sache sich wirklich so verhält, kann ich natürlich nicht 
führen. Der zweite Patient war eine Dame, bei welcher zwei Jahre zuvor durch 
Cystotomie 54 Gallensteine aus der Blase entfernt worden waren. Zwei Jahre nach- 
dem bekam sie wieder Schmerzen, und diesmal wurde ein Konkrement von der 
Größe eines Sperlingseies in der Gallenblase vorgefunden. 

Bei 302 mit Cholecystolithotomie behandelten Gallensteinpatienten 
habe ich also nur ein einziges, zweifellos echtes Rezidiv zu verzeichnen. 
Bei diesem Patienten entfernte ich im Jahre 1905 einen solitären, runden, 
pflaumengroßen Stein; im Jahre 1919, also 14 Jahre später, kehrten die Anfälle 
wieder, und bei der Operation in einem anderen Krankenhaus wurden diesmal 
sechs facettierte Steine entfernt. 

Außerdem habe ich in einem anderen Falle, wo ein Chirurg in der Provinz 
bei der ersten Operation zahlreiche facettierte Steine entfernt hatte, drei Jahre später 
bei einem Rezidiv drei maulbeerförmige Steine in der Gallenblase gefunden. 

Es zeigt sich also, daß echte Rezidive nach Cholecystolithotomie so 
selten sind, daß sie, selbst wenn wir die zweifelhaften Fälle mitrechnen, 
nur 1—2% und, wenn wir uns an die sicher konstatierten halten, in 
weniger als 1% der Fälle eintreten. 

Die große Seltenheit des echten Rezidivs bei Gallensteinkrankheit zeigt uns 
aufs neue, daß die Infektion bei der Gallensteinbildung gar keine Rolle spielt; sie 
befindet sich auch in guter Übereinstimmung mit meiner Theorie, daß die Stein- 
bildung einer ganz vorübergehenden Ursache zuzuschreiben ist, was seinen Ausdruck 
darin findet, daß in der Regel alle Steine von gleicher Größe, Form und Farbe 
sind. Bisweilen findet man zwei Bruten, oft mit bedeutendem Größenunterschied, 
als Ausdruck dafür, daß die vorübergehende Ursache sich wiederholen kann. Daher 
mußte man auch erwarten, daß nach der operativen Entfernung von Gallensteinen 
in einer bestimmten Anzahl von Fällen Rezidive eintreten würden, und es hat mich 
nur in Erstaunen gesetzt, daß Rezidive so selten sind, wie es nach obigem den 
Anschein hat. 

Zu 3. Wir kommen nun zum letzten Argument der Ektomisten, daß nämlich 
die Gallenblase ein ganz unnützes Organ sei, dessen Beseitigung niemals Schaden 
anrichten könne. Viele Jahre lang stand ich recht allein mit meiner Behauptung, 


A 





Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit! 245 


ganz bedeutungslos könne eine so komplizierte und sinnreiche Einrichtung wie die 
Gallenblase kaum sein, da doch in ihr, wie uns Hammarsten schon 1894 gelehrt 
hat, die Galle eingedickt wird, so daß sie 8— 10mal reicher an festen Bestandteilen 
wird als die Lebergalle, und da aus ihr doch die Galle in großer Menge und 
gleichzeitig in starker Konzentration in den Darm entleert werde, u.zw. in dem 
Augenblick, wo sie im Körperhaushalt gebraucht werde. Allgemein wurde mir 
entgegnet, daß die cholecystektomierten Patienten sie niemals entbehrten und, 
ebenso wie das Pferd, auch ohne Gallenblase glücklich seien. Seit 1912 beginnt 
man aber Nachuntersuchungen des Befindens cholecystektomierter Patienten anzu- 
stellen, und nun zeigt es sich, daß eine große Anzahl derselben an Dyspepsie, 
Kardialgie, Aufstoßen, Verstopfung und Diarrhöe leidet. Ich selbst hatte oft in meinen 
Vorlesungen auf das bemerkenswert häufige Auftreten von Achylia gastrica bei 
Gallensteinpatienten aufmerksam gemacht und gerade einen meiner Assistenten mit 
Untersuchungen über den Magensaft bei Cystektomie betraut, als Hohlweg mit 
seinen Untersuchungen cholecystektomierter Patienten hervortrat und 
zeigte, daß diese sehr oft an Achylie leiden. Er untersuchte dann die Magen- 
tätigkeit bei einer Reihe von Patienten, bei denen die Gallenblasenfunktion infolge 
von Oallenstein oder Cholecystitis aufgehört hatte, und fand bei 97% derselben 
Achylie oder Hypochylie. Auf Grund dessen, sowie von Tierversuchen stellte Hohl- 
weg die Lehre auf, daß der Verschluß des Ductus cysticus Achylie zur Folge habe. 
Von vielen verschiedenen Seiten kamen darauf hin Mitteilungen, die Hohlwegs 
Beobachtungen bestätigten (Ohly, v. Aldor, Wohl, Magnus, Boss und Miyake). 
Bei uns in Dänemark brachte 1918 Carl Wessel die Frage stark in Fluß durch 
eine Anzahl bemerkenswerter Beobachtungen von Patienten mit Cysticussperre durch 
Gallenstein. Von 22 Patienten mit Cysticussperre hatten 16 totale Achylie, zwei 
Hypochylie und vier Normochylie. Im Jahre 1919 zeigten Mogens Fenger und 
Ludwig Krafft, daß Achylie bei Cysticussperre oft fehlt, und leugneten daher die 
Richtigkeit von Wessels Behauptung, daß Cysticussperre stets Achylie verursache. 
Anfangs 1920 veröffentlichte Frode Rydgaard eine bedeutsame Arbeit „Chole- 
lithiasis und Achylie“, worin er zunächst über eine Untersuchung meines Materials 
berichtet, soweit dabei eine gründliche Magenuntersuchung vorgenommen worden 
war, d. h. von 158 Fällen, worauf er an der Hand meiner und aller veröffentlichten, 
daraufhin untersuchten Reihen von Fällen eine Samm elstatistik über insgesamt 
471 operierte Gallensteinpatienten aufstellt. Er findet bei im ganzen 52% 
derselben Achylie oder Hypochylie, dann aber analysiert er die Achyliefälle, um zu 
ermitteln, durch welche Verhältnisse die Achylie bedingt ist. Er zeigt, daß Geschlecht, 
Alter und die Anwesenheit von Ikterus gar keine, hingegen der Sitz der Gallensteine 
die größte Bedeutung hat. In der Gruppe der Fälle, wo Steine nur in der Gallen- 
blase gefunden wurden, hatten 25% der Patienten Hypo- oder Achylie, wo Steine 
im Cysticus oder Choledochus gefunden wurden, stieg das Verhältnis auf 558% 
und wo endlich der Cysticus ganz gesperrt war, auf 749%. 

Es zeigt sich also, daß Cysticussperre bei einer sehr großen Anzahl von Fällen, 
jedoch keineswegs bei allen, zu Achylie oder Hypochylie führt. 

Können wir uns nun erklären, weshalb die Salzsäuresekretion in 25% der Fälle 
wirkungslos bleibt? Ich halte es für sehr naheliegend, die Ursache in der sehr 
wechselnden Suffizienz des Sphincter choledocho-duodenalis zu suchen. 

Dieser Schließmuskel ist beim Menschen, wie die Untersuchungen von Oddi, 
Hendrickson, Helly und Broman gezeigt haben, bald schmal, schwach und 
unvermögend, die Galle im Choledochus zurückzuhalten, bald breit und kräftig. 


246 Thorkild Rovsing. 


Den gleichen Befund haben wir bei Hunden, und welche Bedeutung dies bei 
Cysticussperre gewinnt, lernen wir aus Franz Rosts ausgezeichneter experimenteller 
Arbeit „Die funktionelle Bedeutung der Gallenblase«. Es zeigte sich nämlich, 
daß sich bei Insuffizienz des Sphincter oft oder ständig ein schwacher Gallenstrom 
in das Duodenum ergießt, während die Galle bei leistungsfähigem Schließmuskel 
im Choledochus und in den größeren Lebergängen, die dabei tagtäglich erweitert 
werden, zurückgehalten wird. Wenn nun auch die Gallenblase regelrecht arbeitet, 
dann wird die gesamte Gallenmenge reflektorisch auf einmal ins Duodenum entleert, 
sobald der Chymus nach der Mahlzeit aus dem Magen in den Darm hinüberzu- 
treten beginnt, wo alsdann die Salzsäure neutralisiert wird. 

In einem Falle von Cysticussperre bei vollkräftigem Sphincter wird also alles 
auch weiter normal verlaufen, und die Natur hat ihrerseits keine Veranlassung, durch 
besondere Maßregeln die ätzende Wirkung von der Schleimhaut des Duodenums 
fernzuhalten; ist aber der Schließmuskel teilweise insuffizient, dann entsteht eine 
Gefahr, welcher, wie ich mir denke, der Organismus durch reflektorische Unter- 
brechung oder Verminderung der Salzsäureerzeugung im Magen begegnet. 

Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Verdauungsstörungen: 
Kardialgie, Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Erbrechen, die wir so oft bei Gallenstein- 
erkrankung und nach Cholecystektomie beobachten, dem Aufhören oder der Störung 
der physiologischen Funktion der Gallenblase durch gänzliche oder teilweise Cysticus- 
sperre zuzuschreiben sind. 

Daraus erhellt, daß die Gallenblase keineswegs ein unnützes oder überflüssiges 
Organ ist, und daß der Chirurg die Gallenblase nur dann entfernen darf, wenn 
ganz besondere Verhältnisse es notwendig machen. 

Ein weiterer Beweis für die Bedeutung der Oallenblase für den Organismus 
liegt in der bei Rosts Tierversuch nachgewiesenen interessanten Tatsache, daß die 
Entfernung der Gallenblasse zu einer sehr bedeutenden Sekretionsverminderung 
nicht nur der Galle, sondern auch des Pankreassaftes führt. Bei cholecystekto- 
mierten Hunden wurde nur ein Drittel soviel Galle-+ Pankreassaft ent- 
leert wie bei normalen Hunden (bei gleichzeitig ein und derselben Er- 
nährung). 

Endlich haben sowohl Tierversuche von Oddi, Nasse, de Vogt, Clairmont 
und Haberer, als auch Beobachtungen am Menschen von v. Stubenrauch, Kehr, 
Riedel, Flörken, Rost, Wessel und Specht gezeigt, daß, sofern nach Oallenblasen- 
exstirpation nur ein kurzer Stumpf vom Cysticus zurückbleibt, sich daraus eine 
neue Gallenblase entwickelt. Specht, der selbst acht derartige Fälle unter 
reoperierten Patienten aufzuweisen hat, bemüht sich sehr darum zu beweisen, daß 
es sich, wie aus dem Epitheltypus hervorgehen soll, nicht um eine wirkliche, neu- 
gebildete Gallenblase, sondern nur um eine Erweiterung des Ductus cysticus handelte. 
Wenn Specht, ein eifriger Anhänger der Cystektomie, hierauf soviel Gewicht legt, 
so deshalb, weil er auch an Naunyns Theorie glaubt, daß Gallensteine nur in der 
Gallenblase entstehen können, und weil er dadurch die Cholecystektomie als die 
ein Gallensteinrezidiv absolut ausschließende Radikaloperation rehabilitieren zu 
können vermeint. Für uns aber, die wir wissen, daß die Gallensteinbildung allemal 
in der Leber beginnt und in den großen Gallenwegen fortgesetzt werden kann, ist 
dieser Punkt ja ganz gleichgütig, und ich muß sagen, daß es mir niemals eingefallen 
ist, daß es sich hier um etwas anderes handeln könnte als um eine durch Erweiterung 
des Cysticusstumpfes geschaffene neue Gallenblase. Aber dieses Faktum an und für 
sich, nämlich daß der Organismus sofort ein neues Gallenreservoir bildet, wenn die 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 247 


Chirurgen das naturgegebene entfernt haben, ist ja ein interessanter Ausdruck dafür, 
wie wichtig ein Organ die Gallenblase ist. 

Der Hinweis auf die Achylie als häufige Folge aufgehobener Gallenblasen- 
funktion und das Studium der damit verbundenen Verhältnisse hat auch Licht auf die 
Frage geworfen, wie die Infektion, die bei so zahlreichen, zur Operation 
kommenden Gallensteinfällen die Krankheit kompliziert und sowohl 
Krankheitsbild und Prognose in hohem Grade ungünstig beeinflußt, 
entsteht. Wessel hat nämlich gefunden, daß 15 von 18 Patienten mit In- 
fektion der Gallenwege Achylie oder Hypochylie hatten, und daß bei 15 von 25 
Patienten mit Achylie Infektion bestand. Dies ist in Wirklichkeit sehr natürlich, da wir 
ja wissen, daß die Salzsäure das wirksamste Antisepticum des Magens ist, das unter 
normalen Verhältnissen die Nahrung so gut sterilisiert, daß der Inhalt des Duodenums 
nach Überimpfung auf die gewöhnlichen Nährböden kein Wachstum ergibt. Bei 
Achylie ändert sich das sofort; es wimmelt von lebenskräftigen und oft sehr patho- 
genen Mikroben, die, wenn derSphincter choledochi von Natur oder aus pathologischen 
Ursachen schlaff ist, in die normalerweise sterilen Gallenwege eindringen können. 
Rydgaard hat mein Material auf diese Frage hin untersucht und bei 59% der 
infizierten Fälle Achylie oder Hypochylie angetroffen, während nur 27 von 66 Patienten 
mit Achylie Infektion hatten, also ein bedeutend geringerer Prozentsatz als bei 
Wessel. Rydgaard erklärt dies zum Teil damit, daß es sich bei einem wesentlichen 
Prozentsatz der nicht infizierten Fälle um Hydrops oder totalen Verschluß der 
Gallenblase gehandelt habe. Die Infektion hat einfach keinen Zutritt gehabt. Es er- 
scheint mir übrigens als sehr erklärlich, daß in vielen Fällen von Achylie die Infektion 
der Gallenwege ausbleibt, nämlich als Ausdruck der wechselnden Suffizienz der 
Sphincter choledochi. Wo dieser einigermaßen kräftig ist und einen zuverlässigen 
Abschluß herstellt, wird die Infektion ferngehalten; wo er aber schlaff ist und offen 
steht, da dringt die Infektion ein. | 

Ich habe mich übrigens schon im Jahre 1899 in meinen Vorlesungen mit 
dieser Frage beschäftigt und die Wanderung der Steine durch den Chole- 
dochus als einen für die Pathogenese der Infektion sehr wesentlichen 
Faktor bezeichnet. Zu dieser Anschauung gelangte ich damals auf dem Wege der 
klinischen Beobachtung, indem ich zeigte, das die erste Temperatursteigerung, der 
erste Schüttelfrost, kurz die ersten Anzeichen einer Infektion, bei Gallensteinpatienten 
während der Wanderung eines Steines durch den Ductus choledochus aufträten, 
zumal wenn diese Erscheinungen von Ikterus begleitet seien. Das Eindringen der 
Infektion erklärte ich in der Weise, daß die Einklemmung eines Steines im Chole- 
dochus zwei Folgen habe, die den Übertritt von Bakterien aus dem Duodenum in 
hohem Grade begünstigten: 1. eine Erschlaffung des Sphincter in der Art, wie wir 
sie bei Verschluß von anderen muskulösen Kanälen im Körper beobachten: Offenstehen 
des Anus bei Ileus oder der Ureterenmündung bei Steineinklemmung im Ureter und 
2. Unterbrechuug des Gallenstromes, der sonst die Gallenwege reinspült und das Ein- 
dringen von Darminhalt in die Gallenwege verhindert. Was es in einem solchen Augen- 
blick bedeutet, ob vorher, als Folge der Cysticussperre, Achylie bestanden hat und 
aus diesem Grund das Duodenum von Mikroben wimmelt liegt nun klar zutage. 

Ich glaube, daß es mir durch diese Untersuchungen im wesentlichen gelungen 
ist, die Pathogenese der komplizierenden Infektionen bei Oallensteinen klarzulegen. 

Was nun speziell die Cholecystektomie betrifft, so wird deren bedenkliche 
Wirkung gegenüber einer Infektion nun auch wohl klar sein. Bei schon zuvor be- 
stehender Infektion ist es einleuchtend, daß diese Operation in allen Fällen, wo der 


248 | Thorkild Rovsing. 


Sphincter suffizient ist, die Infektion aufrechterhält, die dann auf die mehr oder 
weniger erweiterten Lebergänge übergreift, mit Cholangitis und Hepatitis als un- 
vermeidlichem Folgezustand. Bei aseptischen Gallenwegen führt sie bei erschlafftem 
Sphincter sehr leicht zu sekundärer Infektion vom Duodenum her, das in der Regel 
wegen der Achylie, die auf die Cholecystektomie folgt und auf Grund von Cysticus- 
sperre bei Gallenstein oft schon lange vorher bestanden hat, reich an virulenten 
Mikroben ist. Ebenso wie Inkontinenz der Harnblase bei Frauen allemal schnell zu 
Bakteriurie führt, weil die beweglichen Bakterien dem langsam ablaufenden Urin 
entgegen durch den erschlafften Sphincter hindurch wandern, ebenso bildet auch der 
schwach sickernde Gallenstrom ein Brücke zwischen Duodenum und Choledochus, 
einen bequemen Verbindungskanal, durch welchen die Mikroben in die Gallenwege 
eindringen. Daraus ergibt sich, daß es ganz unverantwortlich ist, die Gallenblase 
zu entfernen, wo nicht ernsthafte Indikationen dazu zwingen. Deren gibt es kaum 
mehr als drei: totale Gangrän, impermeable Stenose des Ductus cysticus 
und Krebs in der Gallenblase. 

Die Cholecystotomie hat, ganz abgesehen von der Erhaltung der Gallenblase, 
den Vorteil, daß wir durch sie hindurch die infizierten Gallenwege drainieren 
können, bis sie wieder aseptisch sind. In Fällen von Choledochotomie entlastet sie 
den Choledochus vom Gallendruck und gibt weit günstigere Bedingungen für die 
Heilung. Die Rezidivgefahr, von welcher so viel geredet wird, ist, wie gezeigt, sehr 
gering, 1—2%, und erscheint geringer, jedenfalls nicht größer als bei Gallenblasen- 
exstirpation. Endlich hat man geltend gemacht (Borelius und viele andere), daß 
bei einer Gallenblase, die Steine enthalten habe, nicht daran zu denken sei, daß sie 
ihre Funktionsfähigkeit wiedergewinnen werde. Das ist ein großer Irrtum. In allen 
Fällen, wo ich aus dem einen oder anderen Grunde Jahr und Tag nach einer Chole- 
cystotomie bei einer wiederholten Operation oder bei der Sektion die Gallenblase 
wieder zu Gesicht bekam, fand ich sie funktionsfähig und, abgesehen von Adhäsionen, 
von ganz normalem Aussehen. Für die Mehrzahl der Fälle, die nicht durch Infektion 
kompliziert waren, und wo die Gallenblasenwandung nicht ernstlich gelitten hatte, 
ist dabei ja auch nichts Merkwürdiges, aber selbst in Fällen, wo man die Gallen- 
blasenwandungen diffus entzündlich infiltriert, steif und verdickt findet, schwinden 
diese Veränderungen nach Entfernung der Gallensteine und nach Drainage von 
einiger Dauer, und man kann dann eine vollständig normale Gallenblase antreffen, 
die von dem überstandenen schweren Krankheitsprozeß keine Spur mehr erkennen 
läßt. Bei einer der sehr zahlreichen Diskussionen über diesen Gegenstand in der 
Dänischen chirurgischen Gesellschaft (1921) teilte Hartmann ein ganz schlagendes 
Beispiel dafür mit. Eine 75jährige Frau mit Gebärmutterkrebs bekam schwere 
Gallensteinkolik und mußte dieserhalb operiert werden. Bei der Operation fand sich 
die Gallenblase stark entzündet und in Adhäsionen .eingelagert. Als die Patientin 
sechs Wochen später an ihrem Krebsleiden starb, wurde die Gallenblase in 
natürlichem Zustand, ohne Adhäsionen und offenbar im Wiederbesitz ihrer 
vollen Funktionsfähigkeit vorgefunden. 

Auf pathologisch-anatomischer Seite sind von Aschoff eingehende Unter- 
suchungen dieser Frage vorgenommen worden mit dem Ergebnis, daß in der Regel 
vollständige Restitutio ad integrum eintritt, selbst nach phlegmonöser und ulceröser 
Cholecystitis. Im letzteren Falle schiebt sich das Epithel vom Grunde der Luschka- 
schen Kanäle nach und nach über das Granulationsgewebe hinüber. 

Nur wenn die Gallenblasenwandung in ganzer Ausdehnung gangränös ist, 
erscheint die 'Exstirpation indiziert, während man sich bei partieller Gangrän 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 249 


mit einer Resektion begnügen kann, die den noch lebenskräftigen Teil be- 
stehen läßt. 

Aber je weniger angegriffen dieGallenblase ist, desto größer ist natür- 
lich die Aussicht, daß die Gallenblase ihre volle Funktionsfähigkeit 
wiedergewinnt, und deshalb gilt es — im Gegensatz zu Kehr und seiner Schule, 
die die Operation nur in fortgeschrittenen Fällen für indiziert halten —, so zeitig wie 
möglich zu operieren, namentlich bevor Anzeichen von Infektion vor- 
liegen; ist aber eine solche erst konstatiert, dann darf auch nicht länger 
gezögert werden. 


Die Technik der Gallensteinoperationen. 


Die Ductus hepatici und choledochus liegen immer sehr tief und schwer zu- 
gänglich, ja selbst der Ductus cysticus und die Gallenblase können bei den oft sehr 
fettleibigen Gallensteinpatienten schwer zu erreichen sein. Um die Organe dem 
Operateur näher entgegenzuführen, ist die von Mayo-Robson erst angegebene 
Lagerung des Patienten eindringlich zu empfehlen: an der Grenze der dorsalen und 
lumbalen Wirbel wird ein hohes, festgestopftes Kissen eingeschoben und dadurch 
der Leberrand gehoben, während die Därme nach unten verschoben und die Ductus 
hepatici et choledochus wesentlich näher an die vordere Bauchwand gebracht werden. 

Sehr wichtig ist es, danach einen guten Bauchschnitt zu wählen, der eine 
ausgiebige Freilegung des Operationsfeldes gestattet, ohne die Muskeln und Nerven 
der Bauchwand schwer zu verletzen. Kochers Schrägschnitt, parallel mit dem 
Rippenrande verlaufend, sowie Sprengels Querschnitt schonen die Nerven, aber 
führen wegen der vollkommenen Durchtrennung der Muskeln oft zu großen, lästigen 
Ventralhernien. Dies gilt noch mehr von Kehrs sog. Wellenschnitt, der eigentlich 
mehr bajonettförmig mit einem Längsschnitt in der Mittellinie beginnend in einem 
Querschnitt, welcher den Rectusmuskel ganz quer durchtrennt, fortsetzt und in 
einem Längsschnitte an dem äußeren Rand des Rectus, womit die an den Rectus 
tretenden Nerven kupiert werden, endet. 

Aus dreißigjähriger Erfahrung empfehle ich folgende Schnittführung als auf 
einmal sehr schonend und reichlich Raum gebend: | 

Winkelschnitt durch Haut und subcutanes Fettgewebe, beginnend als ein 
Schrägschnitt parallel mit und zwei Fingerbreiten entfernt von dem Rippenbogen 
von der Linea media bis zu der Mittellinie des rechten Musculus rectus, und von hier 
als Längsschnitt beliebig nach unten fortgesetzt. Diese longitudinale Incision 
spaltet gleich die vordere Rectusscheide, und stumpf wird dann der eigentliche Muskel 
in zwei Seitenhälften geteilt und endlich die hintere Rectusscheide samt dem Peritoneum 
mit zwei Pincetten gefaßt und gehoben und zwischen diesen geöffnet. Sind die 
Gallensteine noch in der Gallenblase und Ductus cysticus lokalisiert und liegen 
diese bequem, reicht die longitudinale Teilung des Muskels aus. Liegt aber die 
Gallenblase retrahiert, in Adhärenzen eingebettet, und kommen Choledochussteine 
in Frage, dann wird die mediane Hälfte des Muskels von dem oberen Ende des 
Längsschnittes schräg nach innen nach Bedarf durchgeschnitten. 

Die Abgrenzung des Operationsgebietes von der Abdominalhöhle geschieht am 
besten mittels einer einzigen großen Serviette, welche an der äußeren Seite mit 
Gummizeug (Macintosh oder Mosetigbatist) bekleidet ist, um jede Adhärenzbildung 
befördernde Irritation der Peritonealbekleidung der Eingeweide zu vermeiden. 

Die linke Hand wird dann zu vorläufiger diagnostischer Abtastung der Gallen- 
wege durch die Wunde eingeführt. Hat man Gallensteine in der Gallenblase gefühlt 


250 Thorkild Rovsing. 


und die Diagnose insoweit gesichert, werden zwei Fädenzügel im Fundus ange- 
bracht zum Fixieren und Hervorziehen der Gallenblase, während die explorierende 
Hand weiter längs Ductus cysticus zum Choledochus und den Hepatici gleitet. Diese 
werden nun systematisch genau durchgetastet, am besten nach Kehrs Anweisung, 
indem der Operateur dem Patienten den Rücken wendet. Besondere Schwierig- 
keiten sind mit der Palpation der Pars pancreatica choledochi und der Ductus hepa- 
tici verbunden und eben an diesen Stellen verstecken sich oft Gallensteine. Bei 
Einklemmung von Gallensteinen in der Pars pancreatica liegt die Schwierigkeit darin, 


Fig. 69. 


Fig. 70. Fig. 71. 


Fig. 68. 


Troikart zur Punktion der Gallenblase. 





Mayos- Löffel. Oallensteincuretten. 


daß wir durch das dicke, knotige Pankreasgewebe palpieren sollen, wobei es oft 
sehr schwierig ist, Steine und Gewebsknoten voneinander zu unterscheiden. Fühlt 
man eine verdächtige harte Verdickung, soll man medialwärts den Choledochus 
fest zwischen zwei Fingern zuklemmen, um den Stein aus seiner Nische auszu- 
hebeln und in den zugänglichen Teil des Choledochus hinzutreiben. 
Cholecystotomie. Zwischen den zwei Fädenzügeln wird nun die Gallenblase 
punktiert (Fig. 68) und ihr flüssiger Inhalt in sterile Gläser aufgefangen zu bakterio- 
logischer und mikroskopischer Untersuchung. Nach Anbringung des von Wm. Mayo 
(Fig. 69) angegebenen Löffels zur Aufnahme der ausströmenden, vielleicht eitrigen 
Galle wird der Fundus der Gallenblase mit Messer oder Schere so weit geöffnet, 
daß die Gallensteincurette (Fig. 70 und 71) eingeführt werden kann. Ich benutze 


Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 251 


immer die alte, löffelförmige Curette Recamiers (Fig. 71), in deren längliche Ver- 
tiefung die Gallensteine sich schön reihenweise anordnen. Nachdem die Gallenblase 
nun vollkommen frei von Gallensteinen geworden, palpiert der Operateur nochmals 
den Ductus cysticus, und befinden sich hier Gallensteine auf Wanderung, werden 
diese in die Gallenblase zurückbefördert in der Weise, daf der Operateur eben 
hinter den weitest vorgerückten Stein den Ductus zwischen zwei Fingern fest zu- 
sammendrückt und nun immer klemmend die Finger gegen die Gallenblase hervor- 
schiebt. Bei der Ankunft in die Gallenblase werden die Steine in der Curette auf- 
gefangen und herausbefördert. Wenn Gallensteine auch im Choledochus gefunden 
sind, gelingt es auch sehr oft, diese in den Ductus cysticus zu leiten und dann 
weiter in die Gallenblase zu verschieben. 

Nachdem nun alle Steine entfernt sind, wird ein Gummidrainrohr dicht in 
der Gallenblase mittels Catgutnähte eingenäht oder es wird ein Pezzer-Katheter ein- 
gelegt und die Wunde rings um denselben dicht genäht. 

Die Gallenblase wird in ihre normale Lage reponiert, die Drainstelle und das 
Drainrohr werden durch eine gummibekleidete Serviette von der Abdominalhöhle 
abgegrenzt und nun die Wunde nach oben und unten von der Drainstelle in drei 
Etagen vereinigt: Peritoneum. mit Catgut, Fascie und Haut mit Aluminiumbronze. 
Das Drainrohr wird verlängert und in ein an der Seite des Bettes fixiertes Glas 
geleitet. 

Nachbehandlung: Zur Durchspülung der Leber und Verdünnung der Galle 
werden in den ersten Tagen, bis die Patienten selbst reichlich trinken können, 2 / 
physiologische Kochsalzlösung subcutan gegeben. Am fünften oder sechsten Tage 
wird die gummibekleidete Serviette aus der Wunde entfernt. Nach 14 Tagen werden 
die Hautnähte und das Drainrohr entfernt. 

Cholecystotomie mit Choledochotomie: In Fällen, wo Steine in den 
Hepatici und dem Choledochus gefunden wurden, wo es aber nicht gelang, die- 
selben in den Ductus cysticus zurückzuleiten, muß eine Choledochotomie angeschlossen 
werden. Unter Traktion auf der Gallenblase und Ductus cysticus, wobei der Chole- 
dochus dem Operateur näher gebracht wird, werden mitten an der freigelegten 
Vorderwand des Choledochus zwei Catgutschlingen einander gegenüber angebracht 
und zwischen diesen eine Längsincision gemacht, durch welche die Steine, wenn 
sie frei beweglich sind, ausgedrückt oder, wenn sie in der Pars pancreatica einge- 
keilt sind, mittels der Curette herausbefördert werden. l 

Nachdem der Operateur sich mittels Einführung von Bougies der freien 
Passage ins Duodenum vergewissert hat, wird die Choledochusincision mittels Cat- 
gutnähte genau vereinigt. Wie oben beschrieben, wird die Gallenblase drainiert, 
wobei die primäre Heilung der Choledochusincision gesichert und die schwierige, 
oft zu Striktur führende Drainierung von Choledochus vermieden wird. 

Ideale Cholecystotomie oder Cholecystendysis, die von Meredith im 
Jahre 1883 zuerst ausgeführte Cholecystotomie mit Primärvereinigung und Ver- 
senkung der Gallenblase nach Entfernung der Gallensteine, wurde ganz natürlich in 
den Bann getan, nachdem die Naunynsche Infektion allgemein Zutrauen erworben 
hatte Nun wird diese Operation, bei welcher natürlich postoperative Adhäsionen 
am besten vermieden werden, wahrscheinlich neue Anerkennung erwerben und in 
den häufigen Fällen, wo die Galle aseptisch und die Gallenblase funktionstüchtig 
gefunden wird, Anwendung finden. 

Cholecystektomie. Diese Operation, welche von Langenbuch 1882 erst 
angegeben und als Normaloperation empfohlen wurde, ist, nachdem die Naunyn- 


252 Thorkild Rovsing. 


sche Theorie gefallen ist, nur bei Carcinomverdacht, Gangrän der Gallenblase oder 
des Ductus cysticus indiziert. 

Der Peritonealüberzug wird durch eine hufeisenförmige Incision, deren bogen- 
förmiger Beginn am Fundus sich in zwei Längsincisionen seitlich der Gallen- 
blase fortsetzt, abgelöst und dann die Gallenblase ausgeschält, bis sie als eine 
Birne an ihrem Stiel — dem Cysticus — hängt. Nach Unterbindung der Arteria cystica 
wird der Ductus cysticus so nahe wie möglich am Choledochus mit Catgut unter- 
bunden und der Stumpf mit Peritoneum oder Oment übergenäht. Bei Verdacht auf 
Choledochusstein wird allgemein empfohlen, dünne Sonden durch den Cysticus- 
stumpf vor dessen Abbindung in den Choledochus einzuführen. Man darf sich aber 
nicht auf diese Untersuchung verlassen, denn die Sonde kann teils an dem Stein 
vorbeigleiten, teils günstig gelegene Steine auf sehr ungünstige Stellen verschieben. 
Daher ist es vielmehr rationell, den Choledochus zu inzidieren, um dann mit einer 
Curette die ganze Passage zu explorieren und eventuell gefundene Steine damit 
gleich zu entfernen. 


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Die Pathogenese und die operative Behandlung der Gallensteinkrankheit. 253 


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des Lymphatismus und anderer konstitutioneller Momente für die Gallensteinbildung. Ztschr. f. angew. 
Anatomie u. Konstitutionskrankheiten 1915. I, H. 1. 


Die Behandlung der Phlegmone. 
Von Prof. Dr. Ernst Unger und Dr. Heinz Heuß!". 
Mit 5 Abbildungen im Text. 


Als Phlegmone bezeichnet man eine meist flächenhaft fortschreitende Ent- 
zündung, welche bei der Anwesenheit von Eitererregern zur Eiterbildung, beim 
Vorhandensein von Fäulniserregern zu Gasbildung und Gangrän neigt und 
das lockere Bindegewebe der Subcutis sowie alle anatomischen Zwischenräume 
mit lockerem Bindegewebe (z.B. zwischen den Muskeln, in der Umgebung der 
Speiseröhre, das Mediastinum) befällt (Lexer). Die Behandlung einer solchen phleg- 
monösen Entzündung kann sein: 1. konservativ; 2. operativ und 3. sero- oder chemo- 
therapeutisch. 

Allgemeine Behandlung. 


Konservative Maßnahmen können wir bei phlegmonösen Prozessen im 
allgemeinen nur als Unterstützung oder Vorbereitung zu der operativen Behandlung 
ansehen; nur wenige, ausgesuchte Fälle machen von dieser Regel eine Ausnahme 
(z. B. Gesichtsphlegmonen). Von dem Rüstzeug der alten Chirurgen, den anti- 
phlogistischen Mitteln, den Adstringentien und Derivantien ist heute nichts mehr 
geblieben; die Behandlung mit Blasenpflaster, mit Zinksulfat oder Bleiacetat, mit 
Höllenstein, Jodtinktur und Moxen, mit gekochten Pflaumen und gekautem Butter- 
brot gehört der Geschichte an. Zum Schaden der Kranken ist aber die Behandlung 
mit stark wirkenden Antisepticis noch nicht restlos verschwunden; trotz wiederholter 
Warnungen werden heute noch Verbände mit Carbolwasser, Lysol- oder Sublimat- 
lösung verordnet. Es’ kann nicht dringend genug vor diesen schweren Gewebs- 
giften gewarnt werden! Eine ähnliche — wenn auch nicht so intensive — Wirkung 
schreibt Klapp den Dauerumschlägen mit essigsaurer Tonerde zu und fordert, daß 
diese aus der Behandlung der Phlegmone verschwinde, eine Forderung, die sicher 
zu weit geht. Allgemeine, für alle Fälle passende Richtlinien zur Behandlung einer 
in Form, Ausdehnung und Schwere so sehr variierenden Erkrankung wie der Phleg- 
mone zu geben, ist unmöglich; stets muß die besondere Eigenart und die Kon- 
stitution des Kranken berücksichtigt werden. Im Vordergrunde steht meist der 
Schmerz; er kann fehlen bei Rückenmarkerkrankungen, Somnolenten und Geistes- 
kranken. Ein zweckmäßiger Verband, der das betroffene Glied ruhigstellt, ohne 
es zu drücken, wird diesen Schmerz lindern. Stets sei man aber darauf bedacht, diese 
Ruhigstellung nicht zu weit und nicht zu lange auszudehnen; manches gesunde 
Gelenk ist schon unter einem unnötigen oder unzweckmäßigen Schienenverband 
versteift! Die schmerzhafte Schwellung, das Ödem, in der Umgebung der Entzündung 
kann durch Suspension oder Hochlagerung des betreffenden Gliedes vermindert 
werden. Das Gefühl der Spannung der Haut wird gemildert durch Bedecken der 





1 Ein kleiner Teil der Abhandlung stammt von Herrn Dr. Wohlgemuth. 


e 


Die Behandlung der Phlegmone. 255 


betroffenen Partie mit Salbenlappen; man nehme aber nur indifferente Salben, nicht 
solche, die mit stark wirkenden Chemikalien versetzt sind. — Um das Gefühl der 
Hitze zu beseitigen, werden Umschläge mit verdünnter essigsaurer Tonerde oder 
Alkohol oft angenehm empfunden; empfehlenswert ist folgende Mischung: '/, / 
Alkohol + !/, ¿ Wasser mit Zusatz von 2—4 EBlöffel essigsaurer Tonerde. Kurze Zeit 
angewandt schaden sie nicht und wirken schmerzstillend; wir können sie daher nicht 
wie Klapp und Beck völlig verwerfen. Längere Anwendungssdauer dagegen ist wegen 
der starken Maceration der Haut nicht- zweckmäßig. Oft werden diese feuchten Ver- 
bände viel zu klein angelegt; sie müssen weit über das entzündete Gebiet hinaus- 
reichen. — Von der Behandlung mit Eisblase raten wir wegen der Gefahr der 
Nekrose ab. — Unter günstigen Bedingungen, bei geringer Virulenz der Erreger 
können beginnende Phlegmonen unter Ruhigstellung, Lagerung, Salben- oder feuchtem 
Verband völlig zurückgehen. 

Ein seit langer Zeit bewußt oder unbewußt als Heilmittel bei entzündlichen 
Prozessen angewandtes Verfahren ist die Erzeugung. von Hyperämie, sowohl aktiver 
wie passiver. Bier war der erste, der die Hyperämiebehandlung systematisch aus- 
gearbeitet, ihr die theoretischen Unterlagen gegeben und ihre Anwendungsmethoden 
ausgebaut hat. Durch Verstärkung des nützlichen Vorgangs der Entzündung will 
Bier eine Steigerung der natürlichen Abwehrvorgänge bewirken und so das Gewebe 
in stand setzen, selbst mit der Infektion fertig zu werden. Operative Maßnahmen 
sollen durch die Hyperämiebehandlung nicht völlig ausgeschaltet, aber auf ein not- 
wendiges Minimum reduziert werden. Zur Erzeugung aktiver Hyperämie bedient 
man sich der Wärme. Ihre Anwendung kann in verschiedenen Formen geschehen: 
durch heiße Umschläge (Leinsamen, Kamillen, Haferflocken), Bäder, heißen Sand, 
Thermophore und heiße Luft. Wir bedienen uns aller dieser Mittel bei beginnenden 
Phlegmonen, die noch keine Einschmelzung an irgend einer Stelle zeigen; leichtere 
Infektionen können sich ganz zurückbilden, schwerere lassen meist schon nach 
kurzer Zeit eine fluktuierende Stelle erkennen, an der wir dann sofort die Incision 
vornehmen. Man hüte sich davor, zu lange mit dem Einschnitt zu warten! Fällt die 
Temperatur nicht, werden die Schmerzen größer oder breitet sich der phlegmonöse 
Prozeß weiter aus, dann inzidiere man, auch ohne daß deutliche Fluktuation fest- 
zustellen ist. — Die Bäderbehandlung spielt eine größere Rolle in der Behandlung 
der Phlegmone nach der Incision besonders derjenigen der Hand, des Armes und 
des Fußes. Die warmen Bäder werden von den Kranken sehr angenehm empfunden. 
Da gleichzeitig die Tamponade auf ein Minimum beschränkt wird, fällt der schmerz- 
hafte Verbandwechsel fort. Das Austrocknen der Wunde wird verhindert, und schließ- 
lich können wir frühzeitig mit Bewegungen beginnen. Wenn Sachs glaubt, jede 
Phlegmone nur durch Bäderbehandlung ohne jede Incision ausnahmslos heilen zu 
können, so hat sich diese Behauptung bei Nachprüfung (Tietze) als unrichtig 
erwiesen. — Die Behandlung in den für jedes Glied besonders konstruierten Heiß- 
luftkästen hat im allgemeinen keine besonderen Vorzüge und konnte sich daher 
in der Praxis auch nicht einbürgern, mit einer Ausnahme: dem Kopflichtkasten. 
Dieser mit 2—4 elektrischen Lampen zu heizende Kasten erzeugt eine Wärme bis 
100° und spielt bei der Behandlung phlegmonöser Prozesse im Gesicht eine bedeut- 
same Rolle. 

Wichtig ist ferner die Stauungshyperämie nach Bier (passive Hyperämie). Sie 
findet besonders Anwendung bei Phlegmonen der Extremitäten, kann aber auch 
am Hoden und am Kopf erzeugt werden. Zur Änlegung der Stauung an Arm oder 
Bein bedient man sich einer etwa 6 cm breiten Gummibinde, die central von der 


256 Unger-Heuß. 


erkrankten Partie unter mäßigem Druck um die Extremität herumgelegt wird; die 
Bindentouren sollen sich nicht ganz decken sondern einen größeren Teil des Gliedes 
umfassen. Die Binde soll gerade so fest liegen, daß der venöse Rückfluß gehemmt, 
der arterielle Zustrom aber nicht behindert ist; der Puls an den Gefäßen der betref- 
fenden Extremität muß also stets zu fühlen sein. Das gestaute Glied bekommt eine 
blaurote Farbe, es schwillt mäßig an und wird heiß. Daß die Binde richtig liegt, 
soll daran zu erkennen sein, daß der Entzündungsschmerz bald schwindet. Werden 
die Schmerzen stärker, wird der gestaute Gliedabschnitt kühl oder verschwindet der 
arterielle Pulsschlag, dann ist die Binde sofort zu entfernen. Bei richtiger Anwendung 
soll die Stauungsbinde 20—22 Stunden liegen bleiben, dann 4 (bzw. 2) Stunden 
abgenommen werden; während dieser Zeit lagert man die Extremität hoch, um das 
Ödem zum Verschwinden zu bringen. Hat sich unter der Behandlung eine Stelle 
des entzündlichen Infiltrats erweicht, dann wird hier eine kleine Stichincision 
gemacht; die Wunden werden nicht tamponiert; vom ersten Tag an werden aktive 
und passive Bewegungen ausgeführt. Für die Stauungsbehandlung phlegmo- 
nöser Prozesse am Kopf (Lippenfurunkel, Nasenfurunkel, Orbitalphlegmone u. a.) 
wird eine etwa 3 cm breite Gummibinde um den Hals gelegt. Am Hoden 
bedient man sich zur Stauung eines Gummischlauches, der um die Radix scroti 
gelegt wird. 

Soweit sich aus der Literatur ersehen läßt, wird -die Stauungsbehandlung bei 
akut entzündlichen Prozessen nicht viel angewendet, und es sind schwerwiegende 
Bedenken gegen sie geltend gemacht worden; Lexer hält daran fest, daß „der Haupt- 
nachdruck auf die frühzeitige Beseitigung oder Verminderung der Infektionsstoffe“ 
zu legen sei; man soll dem Gewebe den Kampf gegen die Bakterien und ihre Toxine, 
deren Resorption durch die Stauung noch künstlich vermehrt wird, nicht allein über- 
lassen, sondern man soll ihm nach Möglichkeit diesen harten Kampf ersparen; d. h. 
praktisch gesprochen: Die Stauungsbehandlung eignet sich nur für leichte Fälle; 
mittelschwere und schwere erfordern ausgiebige und frühzeitige Incisionen; 
in der weiteren Behandlung kann die Stauungshyperämie von Nutzen sein. Lexer 
hat eine Reihe von Fällen beobachtet, bei denen trotz frühzeitig einsetzender Stauungs- 
behandlung schwere Verschlimmerungen und Komplikationen eingetreten sind, die 
nach seiner Auffassung der Methode zur Last gelegt werden müssen. 

Wir sind der Ansicht, daß die Stauungshyperämie eine Behandlungs- 
methode darstellt, die sich für den Praktiker nur selten eignet. Die Tech- 
nik ist nicht einfach. Es bedarf großer praktischer Erfahrung, um den richtigen 
Grad der Hyperämie zu erzeugen, und es ist unbedingt erforderlich, daß man einen 
Patienten mit einer schweren Phlegmone, dem man eine Stauungsbinde angelegt hat, 
dauernd unter Aufsicht behält; schließlich müssen wir uns darüber klar sein, 
daß diese Behandlungsmethode durchaus keine einfache und harmlose ist, daß die 
komplizierten Vorgänge, die sich in dem gestauten Glied abspielen, unserer Erkennt- 
nis noch sehr fern sind. — Leichte Infektionen können unter frühzeitig einsetzender 
Stauungsbehandlung völlig zurückgehen; aber auch unter einem einfachen, ruhig- 
stellenden Verband und einem feuchten Umschlag sehen wir ja beginnende Phleg- 
monen sich noch zurückbilden. Wenn wir also über den Wert der Stauungstherapie 
nicht Biers Ansicht sind, so stimmen wir doch völlig mit ihm überein in der For- 
derung des Fortlassens der Tamponade und des frühzeitigen Beginnes 
mit aktiver und passiver Bewegung. 

Um eine Stauung von einer bestimmten Dauer mit einer ebenso bestimmten 
staufreien Zeit abwechseln zu lassen, hat Thies einen Apparat zur rhythmischen 


Die Behandlung der Phlegmone. 257 


Stauung beschrieben. Das Verfahren, so geistreich es auch ist, ist für die Praxis 
zu kompliziert. — 

Um an allen Stellen des Körpers, an denen eine Stauungsbinde nicht angelegt 
werden kann, auch eine passive Hyperämie erzeugen zu können, hat Klapp vor- 
geschlagen, sich der Sauggläser zu bedienen. Es sind das starke Glasflaschen von 
verschiedener Größe, in denen durch einen aufgesetzten Gummiball oder eine ange- 
schlossene Luftpumpe ein luftverdünnter Raum hergestellt werden kann. Damit die 
Gläser der Haut gut anhaften, wird ihr Rand dick mit Vaseline bestrichen. Die Saug- 
behandlung soll etwa 30—45 Minuten täglich angewandt werden, nach je 5 Minuten 
nimmt man die Glocke ab und läßt eine Pause von 1—2 Minuten eintreten. Dieses 
Verfahren wird besonders zur Behandlung der eitrigen Mastitis (mit und ohne gleich- 
zeitige Incision), von Furunkeln und Karbunkeln empfohlen; besondere, für die 
Finger passende Saugcylinder sind zur Behandlung von Paronychien und Panaritien 
angegeben. Über den Wert dieses Saugverfahrens können wir uns Lexers Ansicht 
anschließen, der es geeignet hält für „alle abgekapselten Herde ohne Fieber 
und ohne Neigung zum Fortschreiten“; diese werden durch die Saugung „rasch 
und schonend ihres Eiters und der Infektionsstoffe beraubt“. Abzulehnen ist die 
Saugbehandlung, „wenn die Infiltrate noch nicht erweicht sind und Neigung zum 
raschen Fortschreiten unter Fieber haben oder in der Nähe deutliche Zeichen von 
Thrombophlebitis (meist bei Gesichtsfurunkeln) vorhanden sind“. Die Saugbehand- 
lung der Panaritien wird in der Praxis kaum geübt. 

Als das Normalverfahren bei der Behandlung phlegmonöser Entzündungs- 
prozesse ist die frühzeitige, genügend große operative Spaltung anzusehen. 
Wir inzidieren dort, wo wir beginnende oder schon eingetretene Erweichung fest- 
stellen können; tritt aber unter den besprochenen konservativen Maßnahmen eine 
Erweichung nicht ein und verschlechtert sich das Allgemeinbefinden, steigt die 
Temperatur und nehmen die Schmerzen zu, dann verliere man keine unnütze Zeit, 
sondern verschaffe den Infektionsstoffen durch Incision Abfluß nach außen. Denn es 
gibt eine große Anzahl phlegmonöser Prozesse, bei denen es nicht zur Erweichung 
kommt. Von den großen Incisionen bis ins gesunde Gewebe hinein, die man früher 
empfahl, ist man abgekommen; die Eröffnung muß aber ausgiebig genug sein, um 
dem Eiter freien Abfluß zu gewähren; Stichincisionen genügen bei fort- 
schreitenden Phlegmonen nicht, sie haben nur Berechtigung bei abgekapselten 
Abscessen. Die-Operationen sollen im allgemeinen in Voll- oder Rauschnarkose 
vorgenommen werden; man operiere, wenn irgend möglich, nicht allein, sondern 
mit genügend Assistenz; an den Extremitäten wende man in allen zweifelhaften 
Fällen die Esmarchsche Blutleere an. Vor dem Gebrauch der Infiltrations- 
anästhesie bei phlegmonösen Prozessen ist dringend zu warnen! Die Anästhe- 
sierung durch Äthylchloridspray ist meist schmerzhafter als die Operation selbst. 
Ausgedehnte, fortschreitende Phlegmonen gehören in klinische Behandlung. 

Während man früher die Operationswunden bis in alle Winkel hinein tam- 
ponierte, beschränkt man seit Biers Arbeiten die Tamponade auf ein Minimum. Der 
Tampon wirkt als störender Fremdkörper, er trocknet die Gewebe aus, ruft Nekrosen 
hervor und verursacht bei jedesmaligem Wechsel dem Kranken große Schmerzen. 
Wir begnügen uns meist damit, bei kleineren Incisionswunden zwischen die Wund- 
ränder nach der Operation einen kleinen lockeren Gazestreifen zu legen, um das 
Verkleben der Hautwunde zu verhüten. Dieser "Tampon wird nach Möglichkeit 
bereits am nächsten Tag — am besten im warmen Bad — entfernt und nicht mehr 
erneuert. Bei tiefen Wunden ist bisweilen Einlegung eines Drains erforderlich. Um 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 17 


258 Unger-Heuß. 


die Wundränder ohne Tamponade offen zu halten, hat Tiegel Spreizfedern und 
Schmerz Drahtschlingen angegeben; diese Hilfsmittel sind unnötig. Auch das Ver- 
fahren von Chiari, die Wundränder an die benachbarte gesunde Haut durch Nähte 
zu fixieren, erscheint für phlegmonöse Prozesse nicht sehr zweckmäßig, da man 
eine Eintrittspforte für die Erreger schafft und die Fäden bald durchschneiden. Besser 
ist der Vorschlag von Schubert, „aus dem den Eiterherd von der Außenwelt 
trennenden Gewebe kreisrunde Fenster auszuschneiden“. 

Stark wirkende Chemikalien (Carbolsäure, Sublimat, Jodtinktur etc.) bringe man 
nicht in die Wunde. Sie zerstören unnötig Gewebe, ohne ihren eigentlichen Zweck, 
die Abtötung aller Bakterien, zu erreichen. Ist sehr reichliche eitrige Sekretion vor- 
handen, so kann man die Wunde vorsichtig mit möglichst indifferenten Flüssig- 
keiten ausspülen (Kochsalzlösung, Borwasser, Wasserstoffsuperoxyd). 

Während des Krieges hat man ausgiebig Gebrauch gemacht von der verband- 
losen oder offenen Wundbehandlung. Einige Autoren (Braun, Schmerz u. a.) 
empfahlen, diese Art der Behandlung auch in der Friedenspraxis anzuwenden. Das 
Wesentliche der Methode besteht darin, daß der typische geschlossene Wundver- 
band fortgelassen wird. Das erkrankte Glied wird auf einer Schiene fixiert, die 
Wunde bleibt entweder ganz frei (zum Schutze gegen Fliegen wird höchstens ein 
dünner Gazeschleier herübergelegt), oder sie wird mit feuchten Kompressen bedeckt, 
um die Austrocknung zu vermeiden; auch eine Dauerberieselung der Wunde kann 
unter Umständen angebracht werden. Sichere Vorteile dieses Vorgehens sind: die 
Ersparnis an Verbandmaterial und der Fortfall der schmerzhaften Verbandwechsel. 
Dagegen muß betont werden, daß die offene Wundbehandlung mehr Sorgfalt und 
Aufsicht verlangt als der geschlossene Verband. Für die Nachbehandlung der inzi- 
dierten Phlegmone scheint sie uns im allgemeinen keine großen Vorteile zu bieten; 
auf jeden Fall aber kann sie nur in einem Krankenhaus, nicht im Privathaus oder 
ambulant durchgeführt werden. 

Der letale Ausgang phlegmonöser Prozesse ist nicht selten auf eine vom 
Erkrankungsgebiet ausgehende thrombophlebitische Pyämie zurückzuführen. 
Für derartige Fälle hat man vorgeschlagen (Bumm, Küttner, Lexer u.a.), die 
abführenden Venenstämme — unter Umständen sogar prophylaktisch — zu 
unterbinden. Hierfür kämen in Betracht die Unterbindung der Vena angularis 
nasi oder Vena jugularis bei Gesichtsphlegmonen, die der Venae spermaticae, hypo- 
gastricae und Vena cava bei Eiterungen des Beckenraumes und schließlich die Unter- 
bindung der Vena subclavia und der Vena iliaca externa oder interna bei Phlegmonen 
der Extremitäten. Der Wert dieser Operationen ist mangels größerer Erfahrungen nicht 
sichergestellt, wenn auch eine Reihe desolater Fälle nach der Operation geheilt ist. 

In ganz wenigen Fällen, die jeder Behandlung trotzen, bei denen trotz aus- 
giebiger Incisionen, trotz Stauung, Venenunterbindung oder sonstiger Maßnahmen 
der phlegmonöse Prozeß nicht zum Stillstand kommt, bei denen hohe intermittierende 
Temperaturen und Schüttelfröste eine Pyämie anzeigen, bei denen der Kranke von 
Tag zu Tag elender und widerstandsloser wird, ist man genötigt, die Absetzung 
eines Gliedes vorzunehmen. Der Entschluß hierzu ist gewiß stets schwer; man soll 
aber in absolut notwendigen Fällen ihn nicht lange hinausschieben. 

Während die Serumtherapie bei phlegmonösen Erkrankungen in Deutsch- 
land — im Gegensatz zu anderen Ländern, speziell Frankreich — nur eine ganz 
untergeordnete Rolle spielt, hat die Chemotherapie in Form der Tiefenantisepsis 
an Bedeutung gewonnen. Die von Morgenroth und seinen Mitarbeitern (Abraham, 
Schnitzer u. a.) hergestellten Antiseptica (Vucin, Eukupin, Rivanol) bilden den Mittel- 


Die Behandlung der Phlegmone. 259 


punkt des Interesses. Die stark bakterientötende Kraft dieser Stoffe, besonders Strepto- 
kokken gegenüber, ist durch Morgenroths Versuche bewiesen; im Tierversuch 
gelang es ihm, künstlich erzeugte Streptokokkenphlegmonen durch Vucininfiltration 
(1:500) „in einem hohen Prozentsatz der Fälle, aber nicht regelmäßig... zu heilen, 
wenn die Behandlung 4—6 Stunden nach der Infektion einsetzt“. Die Erfahrungen 
am Menschen haben die Erwartungen, die man auf das Vucin bei der Behandlung 
der fortschreitenden Phlegmone gesetzt hat, enttäuscht. Nur wenige Chirurgen 
(Rosenstein) haben diese Behandlungsmethode empfohlen. Weitaus die Mehrzahl 
der Autoren (Keppler und Hoffmann, Brunner und v. Gonzenbach, Keysser 
u.a.) stehen ihr ablehnend gegenüber. Die intravenöse und intraarterielle Injektion, 
meist verbunden mit gleichzeitiger Abschnürung der Extremität, stellen Experimente 
dar, vor denen die meisten Autoren warnen. 

Mit Rivanol gelang es Morgenroth, bei der Maus eine vollentwickelte 18stün- 
dige Streptokokkenphlegmone durch dreimalige Infiltration des entzündeten Herdes 
mit je 3 cm? Rivanol 1:4000 fast immer zu heilen. Die Erfolge beim Menschen stimmen 
mit dem Tierexperiment bis heute nicht überein. Allerdings schreibt Rosenstein: 
Eine der auffälligsten Eigenschaften des Rivanols zum Unterschied vom Vucin ist 
die geringe Reizung des Gewebes. Injiziert man z. B. in ein akut entzündetes Gebiet 
der Haut oder etwas tieferer Phlegmonen Vucin 1:500, so entsteht zunächst eine 
ziemlich erhebliche Steigerung aller Entzändungserscheinungen, das betreffende Organ 
schwillt an, wird etwas stärker ödematös durchtränkt, die Rötung steigert sich und 
der Schmerz ist am ersten Tag ziemlich erheblich, läßt vom nächsten Tag an aber 
nach. Aber trotz der guten Erfolge, die wir mit der Rivanolbehandlung abgekapselter 
Eiterungen (besonders Gelenkempyeme und Peritonitis) erzielen konnten, müssen 
wir in Übereinstinmung mit der Mehrzahl der anderen Autoren die Infiltrations- 
behandlung bei fortschreitenden phlegmonösen Prozessen ablehnen. Da 
die Injektionen in das entzündete Gewebe selbst äußerst schmerzhaft sind, müssen 
‚sie in Narkose ausgeführt werden; man müßte also den Kranken täglich oder jeden 
zweiten Tag narkotisieren. Häufig gehen phlegmonöse Eiterungen unter dieser Be- 
handlung nicht zurück, es sind sogar Fälle besonders schnellen Fortschreitens beob- 
achtet; kommt der akut entzündliche Prozeß aber zum Stillstand, dann bleiben, wie 
= wir beobachten konnten, große, schmerzhafte Infiltrate zurück, die jeder weiteren 
Behandlung trotzen. 

Am eingehendsten hat sich Brunner am Tier und Menschen mit der Frage 
der Tiefenantisepsis befaßt. Auf seine außerordentlich lehrreichen Ausführungen 
(s. Literaturangaben) kann hier nur hingewiesen werden. Es dürfte die beste Arbeit 
sein, die wir zurzeit auf diesem Gebiet besitzen. Nicht nur die Frage der modernen 
Chemotherapie wird von Brunner eingehend studiert, sondern auch an einer Reihe 
von Beispielen schwerer phlegmonöser Prozesse gezeigt, was von einer zielbewußten 
Behandlung zu fordern ist. Das Problem, wie weit können Antiseptica, in das Gewebe 
gespritzt, helfen, scheitert an dem Dilemma: zu geringe Desinfektionskraft hemmt 
die Entwicklung der Bakterien nicht, zu starke Konzentration schädigt das Gewebe 
des Organismus selbst; das lehren uns die Untersuchungen von Schöne, Brunner 
und v. Gonzenbach u.a. Die Sache liegt aber anders, wenn es sich um Reinigung 
von vorhandenen Hohlräumen (Gelenke, Schleimbeutel, geschlossene Abscesse, Pleura) 
handelt. Da tritt die Oberflächenwirkung und die direkte Vermischung des Anti- 
septicums mit dem Eiter in deri Vordergrund. 

‚In einigen Fällen von Sepsis im Anschluß an schwere Phlegmonen haben wir 
den Kranken Rivanol in Form der intravenösen Dauertropfinfusion einverleibt. 

17° 


260 Unger-Heuß. 


Wir haben den Eindruck, mit diesem Verfahren den Krankheitszustand günstig be- 
einflußt zu haben; ein abschließendes Urteil steht uns nicht zu. 

In neuester Zeit sind Präparate hergestellt worden, die eine Kombination 
von Vaccine- und chemo-therapeutischen Mitteln darstellen. Wir prüften 
von diesen das Staphyloyatren und das Streptoyatren, das wir in steigenden 
Dosen intravenös injizierten. Es scheint, daß diese Mittel eine wirksame Unter- 
stützung unserer anderen Maßnahmen bilden können, und daß sie besonders 
bei septischen Prozessen eine günstige Wirkung entfalten. 

Ein Wort noch über Farbstoffe, deren Anwendung bei septischen Prozessen 
an Bedeutung gewinnt. Es sei darüber ausführlicher berichtet, weil hier ein weiteres 
Feld für neue Forschungen in Aussicht steht (vgl. Baumann, Wattwil). Die anti- 
septische Kraft der Farbstoffe beruht auf der Färbung der Bakterien, die in der 
Regel der Konzentration der Farblösung parallel geht. Schwächer gefärbte Bak- 
terien können sich noch vermehren und die Farbstoffe wieder abgeben, stärker 
gefärbte werden in ihrer Entwicklung gehemmt. Stilling, Wortmann, Jaenicke, 
Zurakowski haben insbesondere das Methylviolett geprüft. Im Handel ist Pyo- 
ktanin (Methylviolett Merck) und Trypaflavin (ein Methylacridiniumchlorid), letz- 
teres gehört aber zur Reihe der Acridinfarbstoffe, aus denen Morgenroth das 
Rivanol gewonnen hat. Trypaflavin ist nicht lichtbeständig, muß dunkel aufbewahrt 
werden, bei innerer Darreichung Erbrechen, kann Harndrang und Nierenreizung 
verursachen — Eigenschaften, die dem Pyoktanin nicht anhaften. So hat sich in 
mehrjährigem Gebrauch bei Baumann das Pyoktanin anderen Farbstoffen über- 
legen erwiesen; man hat den Farbstoff auch mit anderen Medikamenten kombiniert: 
MethylenblausSilber (Argochrom) oder Trypaflavin-Silber (Argoflavin. Baumann 
gibt an, mit Argochrom intravenös besonders gute Erfolge bei Bakteriämien erzielt 
zu haben. Bei eiternden Wunden benützt er Blaugaze (in Rollen von 5 cm Breite, 
Firma Hartmann), stark gequetschte, verunreinigte, zerfetztee Wunden betupft Bau- 
mann mit 2—3%iger Pyoktanintinktur und drainiert mit 1—2 Blaugazedochten. Alte, 
vernachlässigte Wunden werden locker tamponiert; die Verbände können Hinger 
liegen bleiben als bei anderer Behandlung (bis zu 7 Tagen). Tiefere Kanäle, eiternde 
Gänge, Sehnenscheidenphlegmonen werden mit 2—3 % iger Pyoktanintinktur ausge- 
spritzt (bei Sehnenscheidenphlegmonen Durchziehen von Gummistreifen, aus dünnem 
Gummischlauch geschnitten, oder in Vaseline getauchte Blaugazestreifen). Nebenbei 
sei erwähnt, daß Baumann bei Sehnennähten die Nahtstelle mit Blaugaze ein- 
wickelt ohne Schaden für das sehr empfindliche Sehnengewebe. (Die Entfernung 
der Flecke in der Wäsche geschieht wie folgt: Halbstündiges Behandeln mit warmem 
Wasser [30— 40°], dem 1% Wasserstoffsuperoxyd [30%] und 2% Soda beigefügt 
ist, mit nachherigem Auswaschen im kalten Wasser und Trocknen. Farbbeschmutzte 
Hände werden sofort rein durch Abreiben mit 3%igem Salzsäurealkoho|.) 

Wenn wir unsere allgemeinen Richtlinien kurz zusammenfassen, können wir 
folgendes sagen: Für die Mehrzahl der fortschreitend phlegmonösen Pro- 
zesse ist die frühzeitige Incision die Methode der Wahl. Leichte Infek- 
tionen mit geringer Virulenz der Erreger können unter konservativen 
' Maßnahmen (Ruhigstellung, feuchte Verbände, aktive und passive Hyper- 
ämie) völlig zurückgehen. Führt die konservative Behandlung nicht in 
24—48 Stunden eine wesentliche Besserung herbei, dann operiere man. 
Die Infiltrationsbehandlung mit Antisepticis ist abzulehnen. Intravenöse 
Injektionen von sero- oder chemotherapeutischen Mitteln können die 
Heilung begünstigen. | 


Die Behandlung der Phlegmone. 261 


Eine gewisse Ausnahme von diesen allgemeinen Regeln macht die Behandlung 
der Phlegmonen bei Diabetikern. Die — meist durch Staphylokokken hervor- 
gerufenen — phlegmonösen Prozesse der Zuckerkranken haben eine äußerst geringe 
Heilungstendenz und führen häufig zu jauchig-schmieriger Nekrose des befallenen 
Gewebes. Als oberster Grundsatz gilt hier, so enthaltsam wie möglich mit chirur- 
gischen Eingriffen zu sein; es ist bekannt, daß in direktem Anschluß an die 
Operation in manchen Fällen ein Koma aufgetreten ist. Diese Gefahr ist am größten 
bei schon bestehender Acetonurie. Ist der Eingriff einige Zeit hinauszuschieben 
dann raten wir, die Behandlung mit Diät und Insulin, wie sie Wilder, Boothly 
und Woodyatt (zit. nach Staub) anwenden, vorzunehmen: zuerst Diät ohne Insulin. 
Wird der Patient damit zuckerfrei, verschwindet Hyperglykämie und können noch 
500 Calorien über den Grundumsatz zugelegt werden, dann kein Insulin. Wird mit 
Diät Zucker ausgeschieden, so wird aus der Differenz der zugeführten Kohlenhydrate 
und des ausgeschiedenen Zuckers (Grundtoleranz) die erste Insulindosis berechnet. 
Nach der Erfahrung vermag eine Insulineinheit beim schweren Diabetiker 2—2'/, g, 
beim leichten 5—6 g Zucker mehr auszunützen. Die benötigte Dosis wird auf 2 bis 
3 Portionen verteilt und am besten 30 Minuten vor der Mahlzeit gegeben. Muß sofort 
operiert werden oder besteht ein präkomatöser bzw. komatöser Zustand, dann muß 
Insulin subcutan oder intravenös in hohen Dosen, 100 und mehr Einheiten, kom- 
biniert mit gleichzeitiger peroraler oder parenteraler Kohlenhydratzufuhr, gegeben 
werden ohne Rücksicht auf die Zuckerausscheidung und Hyperglykämie (zit. nach 
Staub). Bei schnell fortschreitendeh Phlegmonen an den Extremitäten entschließt 
man sich beim Diabetiker früh zur Amputation. (Kurzdauernde Narkose, keine 
Infiltrationsanästhesie.) Über die Vaccinetherapie nach Wolfsohn und ihre Erfolge 
fehlen größere Erfahrungen. Jede Phlegmone ist für den Diabetiker eine lebens- 
gefährliche Komplikation. 

Es sei darauf hingewiesen, daß beim Syphilitiker Phlegmonen oft schlecht 
heilen und die chirurgische Behandlung mit antisyphilitischer zu verbinden ist”. 


Phlegmonen der einzelnen Körpergegenden. 


Phlegmonen des Gesichtes und Halses. 


Jeder phlegmonöse Prozeß im Gesicht ist als eine ernste, das Leben 
gefährdende Krankheit zu betrachten. Die meisten Gesichtsphlegmonen gehen 
von Lippen- oder Nasenfurunkeln aus. Das Ausdrücken von Furunkeln ist ein 
schwerer Fehler, der nicht nur von Laien, sondern auch von Ärzten noch begangen 
wird. Wir halten jede von furunkulösen Prozessen ausgehende Gesichts- 
phlegmone für ein absolutes noli me tangere für die Hände und In- 
strumente des Chirurgen. Die erkrankte Partie wird mit einem Salbenlappen 
bedeckt, der öfters zu erneuern ist; Tag und Nacht lassen wir Hitze einwirken am 
besten in Form von Breikompressen (Leinsamen oder Kamillen), die das halbe 
Gesicht bedecken, oder eines weichen Thermophors. Ein- bis zweimal täglich erhält 
der Kranke ein Kopflichtbad, 20—40 Minuten lang. Die Temperatur in dem Licht- 
kasten soll etwa 80° betragen (damit die einmal erreichte Temperatur nicht weiter 
steigt, schalte man die Hälfte der Lampen aus). Die Augen bedecke man mit einem 
dunklen, feuchten Tuch. Unter keinen Umständen lasse man den Kranken, solange 

* Anmerkung während der Korrektur: Auf dem Chirurgenkongreß 1924 berichteten 


Heidenhain und Fried über sehr günstige Resultate, die sie mit ganz kleinen Röntgendosen bei 
der Behandlung von phlegmonösen Prozessen sahen. 


262 Unger-Heuß. 


er unter dem Lichtkasten liegt, allein; es kommen plötzliche Erregungszustände vor, 
bei deren Eintritt — oder möglichst schon vorher — der Kasten sofort entfernt 
werden muß. — Ist der phlegmonöse Prozeß im Rückgang begriffen, und zeigt sich 
an einer oder mehreren Stellen umschriebene Fluktuation, dann kann man an diesen 
Stellen eine kleine Incision vornehmen. 

Die Stauungsbehandlung und Sauggläser wenden wir nicht an. Die rein 
konservative Behandlungsweise, wie wir sie geschildert haben, will Lexer nur bei 
den Fällen . ‚ohne schwere Begleiterscheinungen“ angewandt wissen; bei rascher 
Vergrößerung, hohem Fieber, Schüttelfrösten soll man nach seiner Ansicht „nicht 
zögern mit dem einzigen Mittel, das noch retten kann, mit großen Incisionen, 
welche den Lippenraum in ganzer Ausdehnung spalten und quer zu diesem Schnitte 
das Infiltrat der Oberlippe und Wange durchtrennen“. Während wir früher eben- 
falls diese großen Incisionen machten, verhalten wir uns jetzt absolut. abwartend. 
Daß auch ganz schwere Fälle unter konservativer Behandlung heilen können, zeigt 
folgende Beobachtung: 


Ein 21jähriger Arbeiter bemerkt seit 6 Tagen einen kleinen Furunkel dicht unterhalb der 
Unterlippe; wegen Ausbreitung der schmerzhaften Schwellung Krankenhausaufnahme (14. Juli 1923). 
Befund: Kräftiger junger Mann; Sensorium frei; Temperatur 39°, Puls 90. Die Unterlippe ist — 
besonders in der Nähe des linken Mundwinkels — geschwollen und gerötet; dicht unterhalb des 
Lippenrots ein fünfmarkstückgroßer Furunkel; Submaxillardrüsen beiderseits geschwollen und schmerz- 
haft. Behandlung: Heiße feuchte Umschläge, Thermophor. — 15. Juli. Unterlippe auf etwa Daumendicke 
angeschwollen; das entzündliche Infiltrat erstreckt sich bis zum Kinn. — 17. Juli. Temperatur 39°, 
Puls 140. Auch die Halsgegend unterhalb der Kiefer beiderseits phlegmonös intiltriert. — Kopflicht- 
kasten; Omnadin intramuskulär. — 18. Juli. Die Unterlippe ist noch mehr geschwollen, ganz starr, 
mit Eiterpusteln übersät. Die Infiltration erstreckt sich auch über die rechte Wange. Ulceröse Stoma- 
titis. — Kopflichtbad, Omnadin. — 20. Juli. Leichte Nackensteifigkeit. Lumbalpunktion: Ablassen von 
etwa 20 cm? Liquor, Injektion von 10 em? Eucupin. hydrochlor. (1'0:1000'0). — Rechtes Auge voll- 
kommen zugeschwollen; sehr starke ulceröse Stomatitis. 3mal Kopflichtbad. — 21. Juli. Im Liquor 
0:25% Alb. Im Eiterabstrich: Staphylokokken, Streptokokken, Bacillus fusiformis, Anaerobier. — Kopf- 
lichtbad. Excitantien. — 23. Juli. Allgemeinbefinden etwas gebessert; Schwellung des rechten Auges 
zurückgegangen. — 26. Juli. Am rechten Mundwinkel und unterhalb des Kinns an 4 Stellen Fluk- 
tuation; 4 Stichincisionen,; im ganzen entleert sich etwa ein Teelöffel dicker gelber Eiter. Stomatitis 

ebessert. — 30. Juli. Abscedierung unterhalb des rechten Auges; Stichincision. — 17. August. Die 
esichtsphlegmone ist vollkommen abgeheilt. (Patient bekam im Anschluß hieran eine Osteomyelitis 
des Unterkiefers, die nach Sequestrotomie heilte.) 


Daß operative Spaltungen großer Gesichtsphlegmonen nur in Narkose vor- 
genommen werden sollen, ist selbstverständlich. Klinger schlägt vor, eine Leitungs- 
anästhesie herzustellen durch Einspritzen von 2 cm? 1%iger Novocainlösung in die 
Gegend der Fossa canina von der oberen Umschlagsfalte der Schleimhaut des Vesti- 
bulum oris aus. Wir möchten vor jeder Injektion in die Nähe des Entzündungs- 
herdes dringend warnen. Für ausgedehnte Prozesse kann diese Anästhesie auch gar 
nicht genügen. | 

Weiter bilden Insektenstiche den Ausgangspunkt phlegmonöser Gesichtsprozesse. 
Auch in diesen Fällen raten wir durchaus zu konservativer Behandlung mit heißen 
Umschlägen und Kopflichtbad. Wie verhängnisvoll unangebrachte Incisionen sein 
können, dafür folgende Beobachtung: 


Ein 19jähriger Lehrling wurde am 29. Juli 1922 von einer Mücke am Kinn gestochen; in den 
nächsten Tagen schwoll die Gegend stark an. Am 2. August schnitt er sich selbst mit einer ausge- 
kochten (?) Schere eine rundliche Offnung in die Schwellung; keine Besserung. Am 3. August erweiterte 
ein Arzt diesen Schnitt und legte einen zweiten unterhalb des Kiefers an. 5. August. Krankenhaus- 
überweisung. Befund: Sensorium frei; Temperatur 39°, Puls 130. Die ganze linke Gesichtshälfte vom 
unteren Augenlid bis zur Submaxillargegend stark gerötet und geschwollen; Lippen ödematös, mit 
Borken bedeckt. Dicht unterhalb des linken Mundwinkels eine linsengroße, schmierige Wunde, die 
von einer Incisionswunde quer durchschnitten wird; in der Submaxillargegend eine fast verheilte 5 em 
lange Incisionswunde. Der Mund kann kaum geöffnet werden. Atmung stark beschleunigt, etwas 
mühsam. — Behandlung: Salbenverband, Thermophor. — 6. August. Allgemeinbefinden verschlechtert ; 
Benommenheit, große Unruhe. Puls 150; zunehmende Cyanose. AderlaB von 100 em? In der Nacht 
vom 6. zum 7. August Exitus. Die Obduktion zeigte ungewöhnlich zahlreiche septische In- 
farkte und embolische Abscesse in den Lungen. 


Die Behandlung der Phlegmone. 263 


In seltenen Fällen schließen sich schwere Phlegmonen an kleine Verletzungen 
des Gesichtes an. Wie schwer auch solche zunächst ganz harmlos erscheinende 
Infektionen verlaufen können, lehrt folgende Beobachtung: 


Ein 35jähriger Lehrer hat sich 10 Tage vor Krankenhausaufnahme beim Rasieren in die linke 
Wange geschnitten; seitdem schmerzhafte Anschwellung in der Umgebung; wegen auftretender Schüttel- 
fröste Krankenhausaufnahme. Befund: Patient ist leicht benommen; Temperatur 39°, Puls 100. An der 
linken Wange eine kleine, schmierig belegte Wunde; Umgebung stark entzündlich infiltriert; nirgends 
Fluktuation. Behandlung: Feuchtwarme Umschläge, Thermophor, Excitantien. — Nachts Exitus. — 
Die Sektion ergab als Todesursache allgemeine Sepsis. 


Vor kurzer Zeit hat Läwen ein neues Verfahren zur Behandlung fortschreitender 
pyogener Prozesse im Gesicht angegeben: die U mspritzung mit Eigenblut. Das 
gesunde Gewebe um die erkrankte Partie herum, in die ausgiebige Incisionen gemacht 
werden, wird mit frisch aus der Vena cubitalis entnommenem Blut prall infiltriert; es 
genügen im allgemeinen 30—40 cm?. Unter den von Läwen mitgeteilten geheilten 
Fällen befindet sich bisher nur ein wirklich schwerer Prozeß. Weitere Erfahrungen 
liegen über diese Behandlungsmethode noch nicht vor. 

In einigen Fällen von eitriger Thrombophlebitis bei Gesichtsphlegmonen gelang 
es Lexer u.a,durch Venenunterbindung (Vena angularis, Vena jugularis interna) 
den Prozeß zum Stillstand zu bringen. 

Eine seltenere, aber sehr schlimme Lokalisation progredient eitriger Prozesse im 
Gesicht bilden die Phlegmonen der Orbita. Als Behandlung wird im allgemeinen 
frühzeitige Incision (Lexer, Schwarzkopf u.a.) empfohlen, auch wenn noch 
keine Einschmelzung des Gewebes erfolgt ist; in ganz schweren Fällen hat man 
bisweilen die Exenteratio orbitae vorgenommen. Wir glauben, daß Incisionen vom 
Lid aus diesen schweren Prozeß nicht aufhalten können; wir raten daher zu möglichst 
konserativer Therapie mit heißen Umschlägen und Kopflichtbad; intravenöse 
Vaccineinjektionen können die Behandlung unterstützen. Wie schnell trotz Incisionen 
solche Phlegmonen tödlich verlaufen können, lehrt folgender Fall: 


Bei einem 6jährigen Kinde bemerkt die Mutter 4 Tage nach Abheilung eines Gerstenkorns 
zunehmende Schwellung des rechten Augenlids und Vortreibung des SE Bei der Aufnahme 
(12. Dezember 1922) schwerstes Krankheitsbild; Temperatur 39°. Protrusio bulbi. Mehrfache Incisionen 
am rechten Oberlid (vom Augenarzt), Eröffnung der Periorbita, Tamponade 13. Dezember. Verlegun 
auf chirurgische Abteilung, Temperatur 39°, Puls 140; Protrusio bulbi beiderseits. Salbenverband, Kopf- 
lichtbad. 14. Dezember. Meningitische Erscheinungen. Mittags Exitus. 


Prognostisch nichtso ungünstig wie die bisher geschilderten Gesichtsphlegmonen 
sind die Parotisphlegmonen zu beurteilen. Wenn durch die geschilderten kon- 
servativen Maßnahmen die Entzündungserscheinungen nicht bald zurückgehen, werden 
wir bei dieser Art der Phlegmone eher zur Incision raten als bei den anderen. 
Der Einschnitt wird meist am besten parallel zum horizontalen Unterkieferast gelegt 
und muß stets die derbe Fascia parotideo-masseterica durchtrennen; man hüte sich 
vor Verletzungen des Facialis und Ductus Stenonianus! 

Die Phlegmonen der Schädelkapsel schließen sich an Kratzeffekte (Läuse!), Schädel- 
wunden u.s.w.an und müssen wegen der Gefahr eines Übergreifens auf den Knochen 
und die Venen (Sinusthrombose!) frühzeitig gespalten werden. Es ist nicht ratsam, 
mit der Incision zu warten, bis deutliche Einschmelzung feststellbar ist. 

Die oberflächlichen Phlegmonen des Halses stellen leichtere Infektionen dar, 
die nach einfacher Incision heilen. Schwerer zu behandeln und in ihrer Prognose 
viel ernster ist die tiefe Halsphlegmone, die ihren Ausgang von den submaxillären 
Drüsen nimmt (Angina Ludovici). Diese Erkrankung bedarf frühzeitigen und fach- 
kundigen chirurgischen Eingreifens, da bei längerem Bestehen die entzündliche 
Schwellung auf die Rachenwand übergehend zum Glottisödem führen kann. Die 
Incision, die stets in tiefer Narkose mit genügender Assistenz auszuführen ist, muß 


264 Unger-Heuß. 


Haut, Platysma und oberflächliche Halsfascie durchtrennen; dann dringt man weiter 
stumpf mit einer Kornzange in die Tiefe auf die Glandula submaxillaris vor und 
legt diese vollkommen frei. Nerven- und Gefäßverletzungen sind sorgfältig zu ver- 
meiden! — Trotz dieser ausgiebigen und frühzeitigen Incision hat Rehn 3 Fälle von 
Angina Ludovici verloren und hält daher diese Methode noch für nicht genügend. 
Er fordert, daß stets die Submaxillardrüse mit allen ihr anhaftenden Lymphknoten 
völlig exstirpiert wird. 

Gefährlich sind die Phlegmonen, die entlang dem Gefäßspalt der Carotis 
und Jugularis weiterkriechen. Hier nützen nur ausgedehnteste Incisionen mit Freilegung 
der Gefäßscheiden und eventuell deren Eröffnung. Küttner und de Quervain 
empfehlen große musculocutane Lappenschnitte, durch die das ganze seitliche Hals- 
dreieck aufgeklappt wird. Man hüte sich davor, Drainröhren direkt auf die Gefäße 
zu legen (Arrosionsblutungen!). 

Sitzt die Eiterung tiefer, zwischen Pharynx und Wirbelsäule, dann sprechen 
wir von einer retropharyngealen Phlegmone. Wir inzidieren diese meist vom 
Munde aus mit einem Messer, das wir bis 1cm vor die Spitze mit Pflaster umwickeln; 
nach Incision der Schleimhaut an der Stelle der größten Druckempfindlichkeit und 
Ödems (vorher mit 10% iger Cocainlösung bepinselt), gehe man nur stumpf in die 
Tiefe. Der Mund wird durch einen Sperrer offengehalten oder dadurch, daß man 
mit einem Finger der linken Hand von außen her die Wange zwischen die Zahnreihen 
einstülpt. Entleert sich Eiter, dann lasse man den Kopf nach vorn beugen und den 
Mund mit Wasserstoffsuperoxyd spülen. Sehr große retropharyngeale Phlegmonen 
kann man auch von der seitlichen Halsgegend aus eröffnen, wenn sie hier durchzu- 
brechen drohen. (Es fehlt in dieser Arbeit an Raum für die perioesophagialen und 
mediastinalen Phlegmonen.) 

Im Nacken kommt es häufig zu phlegmonösen Prozessen im Anschluß an 
Furunkel und Karbunkel. Diese Phlegmonen haben meist eine große Tiefenausdehnung;; 
sie durchbrechen fast immer die Fascie und greifen bisweilen auf die tiefe Nacken- 
muskulatur über. Wenn nach einer kurzen konservativen Behandlung durch heiße 
Kompressen u.s. w. nach 24 bis höchstens 48 Stunden der Prozeß nicht deutlich 
zurückgeht (was nur selten der Fall ist), dann muß diese Phlegmone ganz ausgiebig 
gespalten werden; oberflächliche und kleine Incisionen nützen gar nichts. Man eröffnet 
am besten durch einen Kreuzschnitt oder einen ——4—}—- förmigen Schnitt; die 
Incisionen müssen bis in das gesunde Gewebe (auch in der Tiefe!) hinein geführt 
werden; die von miliaren Abscessen durchsetzten, der Nekrose verfallenen Hautlappen 
werden abgetragen. Die vielen spritzenden Gefäße zu fassen, hat keinen Sinn, da in 
dem morschen Gewebe keine Unterbindung hält; man bedecke die stark blutende 
Wundfläche kurze Zeit mit einer mit heißer Kochsalzlösung getränkten Kompresse 
und tamponiere die Wunde für etwa 24 Stunden mit steriler oder antiseptischer Gaze 
(uns hat sich Albertangaze sehr bewährt). Manche Autoren raten, um die Blutung 
zu verringern, anstatt mit dem Messer mit dem Glühbrenner zu operieren. Injektionen 
von Vucin oder Rivanol in das phlegmonöse Gewebe lehnen wir ab. Die 
Klappsche Saugglocke kommt nur in Betracht bei völlig begrenzten Prozessen ohne 
Neigung zum Fortschreiten. Man vergesse nie, jeden Kranken mit von Furunkeln 
oder Karbunkeln ausgehenden Phlegmonen auf Diabetes zu untersuchen! 


Phlegmonen des Rumpfes. 


Eitrige Entzündungen der Brustdrüse kommen hauptsächlich in drei Lebens- 
perioden zur Beobachtung: 1. in den ersten Tagen nach der Geburt (Mastitis neonatorum), 


Die Behandlung der Phlegmone. 265 


2. während der Pubertät (Mastitis adolescentium) und 3. im Wochenbett (Mastitis 
puerperalis). Die erste Form geht meist ohne Behandlung zurück; selten bildet sich 
ein kleiner Absceß, der nach Incision schnell ausheilt. Auch die zweite — nicht 
häufige — Form verlangt selten einen chirurgischen Eingriff (feuchtwarme Umschläge, 
Thermophorbehandlung). Anders ist es mit der phlegmonösen Form der Mastitis 
puerperalis. Wenn wir auch ganz beginnende Mastitiden durch Hochbinden der 
Brust und feuchte Hitze zum Schwinden bringen können, so verlangt die aus- 
gebildete Phlegmone stets einen operativen Eingriff. Die Saugbehandlung 
(Bier, Klapp) können wir mit Küttner u.a. bei der nicht abgekapselten Form der 
Mastitis weder für sich allein noch in Verbindung mit kleinen Stichincisionen für 
eine geeignete Therapie halten. Größere, radiär zur Mamilla gestellte Incisionen, die 
den Herd genügend freilegen, sind notwendig. Um die narbige Entstellung der Brust 
nach dieser Operation zu verringern, hat v. Angerer vorgeschlagen, die Incisionen 
bis auf ein Drainrohr wieder zu vernähen. Besser ist wohl noch die Methode von 
Bardenheuer (v. Hopmann), den Schnitt halbkreisförmig unter der Mamma an- 
zulegen, diese von der Fascie abzulösen und hochzuklappen; von hier aus kann 
man Drainröhren nach jeder Richtung hinführen. 

Die Injektionsbehandlung der infiltrativen Form der Mastitis mit 
Vucin oder Rivanol, wie sie Klapp, Rosenstein, Steichele empfehlen, üben 
wir nicht aus. Die Nachteile, die wir dabei feststellen konnten, sind folgende: Die 
Injektionen sind sehr schmerzhaft, erfordern daher jedesmal Narkose; die Behandlungs- 
dauer ist nicht kürzer als bei der operativen Behandlung; der kosmetische Erfolg 
ist nicht wesentlich besser als nach der Incision, da derbe, schmerzhafte Infiltrate 
zurückbleiben, die die Brust auch entstellen; schließlich mußten wir nach längerer 
Injektionsbehandlung doch inzidieren. Handelt es sich um abgekapselte Eiterherde, 
dann kann man mit der Saug- oder Injektionstherapie Erfolge erzielen; ein besonderer 
Nutzen scheint uns aber auch nicht vorzuliegen, da wir ÄAbscesse der Brust auch 
nach einfacher Punktion oder Füllung der Höhle mit steriler Kochsalzlösung heilen 
sahen. 

Sind bei einer Mastitis am Körper Kratzeffekte zu sehen, so fahnde man auf 
Scabies! Manche beginnende Mastitis kann durch eine Schwefelsalbenkur noch zur 
Heilung gebracht werden. 

Die subpectorale Phlegmone muß sofort inzidiert werden; nur schnelles Ope- 
rieren kann die schlechte Prognose dieses Leidens bessern. Man inzidiert parallel 
mit dem lateralen Rand des Pectoralis maior. Die Phlegmonen können sich bis zum 
Brustbein und zur Fossa supraclavicularis erstrecken (cave Arteria subclavia!). 

Die Eiterungen in der Achselhöhle haben ihren Sitz in der Haut mit ihren 
Anhangsgebilden (Lymphgefäßen, Haarbälgen, Schweißdrüsen) und in den tiefer 
gelegenen Achseldrüsen, die ihrerseits wieder durch Lymphstränge mit den sub- 
pectoralen Drüsen in Verbindung stehen (subpectoraler Absceß!). 

Da die Achseldrüsen das Lymphfilter für die Brust (Mamma und Haut), die 
seitliche Thoraxwand und den ganzen Arm darstellen, sind sie bei jeder Eiterung 
in diesem Quellgebiet mitbeteiligt. Diese Lymphadenitis kann auch dann noch be- 
stehen, wenn die periphere Eingangspforte für die Eitererreger abgeklungen ist. 
(S. auch Bubo inguinalis!) Durch das Weiterschreiten der Lymphdrüsenentzündung 
auf das umgebende Gewebe entsteht die Achselphlegmone. Ihre Behandlung besteht 
in der Spaltung der Haut und des erkrankten Gewebes parallel mit den Hautfalten. 
Das Schultergelenk stellt man ruhig. Die einfache Lymphdrüsenschwellung ver- 
schwindet nach Abheilen des peripheren Herdes spontan. Durch konservative Maß- 


266 Unger-Heuß. 


nahmen (feuchte Wärme, Proteinkörpertheranie, s. allgemeiner Teil) kann man das 
Abklingen der Lymphadenitis beschleunigen. 


Die Eiterungen der Haut und Hautanhangsgebilde gehören zwar nicht zu den Phlegmonen, 
wegen ihrer praktischen Bedeutung seien die Schweißdrüsenabscesse aufgeführt. Sie haben keinen 
gelben Pfropf wie die Furunkel und zeichnen sich durch ihren chronischen Verlauf aus, der sie 
zu einer wahren Crux für Arzt und Patienten stempelt. Talke und Rost wiesen nach, daß es sich 
bei den Schweißdrüsenabscesen um eine Lymphangitis um die Drüsen herum handelt, von der 
aus die Schweißdrüsen erst sekundär befallen werden. Man behandelt die Schweißdrüsenphlegmonen 
erst konservativ, kleine Absceßbildungen werden inzidiert. Nicht immer kommt man damit zum Ziel, 
es bilden sich neue Infiltrate, wir raten dann zu einer Röntgenbestrahlung (!/;—'!/, der Hauteinheits- 
dosis; wie alle Bestrahlungen von einem erfahrenen Röntgenologen auszuführen!), nach der der Prozeß 
überraschend schnell verschwinden kann. Auch Proteinkörpertherapie leistet nach monatelangem 
Bestehen noch Gutes. Verhalten sich die Schweißdrüseninfiltrate gegen jegliche Behandlung refraktär, 
dann bleibt als ultima ratio die radikale Exstirpation des ganzen infiltrierten Gebietes übrig, ein 
großer Eingriff, zu dem man sich erst nach reiflicher Überlegung entschließt. 


Für die von Furunkeln und Karbunkeln des Rückens ausgehenden Phleg- 
monen gelten dieselben Behandlungsgrundsätze wie für die Nackengegend. 

Die oberflächlichen Phlegmonen der Bauchdecken, die ihren Sitz im Unter- 
hautbindegewebe haben, bieten der Therapie, die in einer einfachen Incision besteht, 
keinerlei Schwierigkeit. Anders ist es mit den phlegmonösen Prozessen, die sich in 
den tieferen Schichten, also innerhalb der Rectusscheiden oder zwischen Bauch- 
muskulatur und Peritoneum, abspielen; bei ersteren muß die Rectusscheide eröffnet, 
bei letzteren die Muskulatur noch stumpf durchtrennt werden, um auf den Eiter- 
herd zu gelangen. Die operative Eröffnung soll möglichst frühzeitig erfolgen. Nicht 
selten gehen diese Phlegmonen von eitrigen Entzündungen innerer Organe (Wurm- 
fortsatz, Gallenblase, Niere etc.) aus oder entstehen postoperativ; die Behandlung 
dieser Erkrankungen zu schildern, würde unser Thema überschreiten. 

Retroperitoneale Phlegmonen sind meistenteils Folgezustände eitriger 
Prozesse von inneren Organen (besonders Pankreas, Niere, Gallenblase, Wurmfort- 
satz); sie erfordern breite Eröffnung durch lumbale Incisionen; wegen ihres stark 
progredienten Charakters haben sie eine schlechte Prognose. 

In seltenen Fällen kommt es nach nicht (oder falsch) behandelten eingeklemmten 
Hernien durch Darmgangrän und -perforation zu einer kotigen Phlegmone der 
Bauchwand. Sofortige weiteste Eröffnung ist hierbei notwendig. Dauerbäder können 
die Behandlung wesentlich unterstützen und abkürzen. Die fast immer zurückbleibende 
Kotfistel erfordert eine spätere Operation. 


Beckenphlegmonen. 


Die Phlegmonen des Beckens schließen sich an Erkrankungen 1. der Weichteile 
und Knochen des Beckens und 2. der im Becken liegenden Organe, des männlichen 
und weiblichen Urogenitalapparats und des Mastdarms, an. Ihrer Lage entsprechend 
teilt man sie in oberflächliche und tiefe Beckenabscesse ein. 


Zu den oberflächlichen Weichteilphlegmonen ist der Decubitus bzw. die phlegmonöse Ein- 
schmelzung des Gewebes im Anschluß an Decubitalgeschwüre zu rechnen. Sie nehmen bei kachektischen 
Patienten und besonders solchen mit Rückenmarksläsionen oft riesige Ausdehnung an und trotzen 
sehr häufig jeder Behandlung. Charakteristisch ist ihre Taschenbildung und ihre Progredienz nach 
der Tiefe bis auf den Knochen. Therapeutisch steht an erster Stelle die Prophylaxe: also keine Falten 
im Bett, Luftring oder Wasserkissen, häufiger Lagewechsel und peinlichste Sauberkeit dieser der Be- 
schmutzung durch Urin und Stuhl ausgesetzten Gegend. Häufiges Abwaschen mit kaltem Wasser und 
nachfolgendes Pudern sowie spirituöse Einreibungen dienen zur Härtung der Haut. Kontraindiziert 
sind feuchte Verbände, weil sie die Haut macerieren. Ist es zum Decubitus gekommen, bestreut man 
die Wunde mit antiseptischem Puder (Dermatol, Airol u.s. w.) und wendet Heißluft (Fön) an. Greift 
der Decubitus trotz aller Sorgfalt weiter um sich, so helfen noch Dauerbäder auf einem untergespannten 
Laken oder Fischernetz (Nordmann), die so lange durchgeführt werden, als es der Patient verträgt, 
also über Stunden und Tage hinaus. Während des Dauerbades ist die Verabreichung von Alkohol per os 
empfehlenswert. In der Zwischenzeit suche man durch häufigen Lagewechsel und Pudern eine Reinigung 
der Wundhöhle zu erreichen. Sehr geeignet sind auch Verbände mit Campherwein oder Campherwein 
und Chlorwasser aa. Wenn sich das Grundleiden nicht bessern läßt, sind alle Mittel vergeblich. 


Die Behandlung der Phlegmone. 267 


Am Gesäß kommen ferner oberflächliche und tiefe Phlegmonen nach Injek- 
tionen, Quetschungen u. s. w. vor. Zur Eröffnung kann man sich der Schnittführung 
von Melchior (s. Fig. 72) bedienen, die den Glutäus schont, oder man in- 
zidiert die Haut und geht im Faserverlauf des Glutäus in die Tiefe, wie das Till- 
manns für die tiefen Glutäalabscesse angegeben hat. Man vermeidet es jedenfalls, 
den Schnitt über die Incisura ischiadica anzulegen (Blutungen aus der Arteria glu- 
taea superior und inferior). Nach Tillmanns legt man den Schnitt etwa 3 cm lateral 
von der Articulatio sacroiliaca 3 Querfinger oberhalb des Trochanter maior in der 
Verbindungslinie zwischen Spina iliaca anterior superior und posterior. Zur Ab- 
kürzung des Heilungsverlaufes sind Sitzbäder 1—2mal 
täglich bei allen Phlegmonen im Bereich des Beckens Rig: 12. 
angebracht. 

Die häufigste oberflächliche Phlegmone stellt am 
Becken der Bubo inguinalis und cruralis dar. Als Lymph- 
filter für das ganze Bein, die Genitalien, den Unterbauch 
und die Haut des Gesäßes sind sie fast stets sekundär 
befallen und oft ist die Eintrittspforte (Scheuerwunde am 
Fuß, venerische Infektion) schon abgeheilt, bis es zur 
Periadenitis kommt. 

Bei Abscedierung sind schräge Incisionen, etwa dem 
Leistenband entsprechend, besser als Punktionen mit In- 
jektion von Antisepticis. Stets muß man sich vor der 
Incision über den Verlauf der großen Gefäße orientieren. m= Schnittführung zur Eröffnung 
Den scharfen Löffel wendet man in der Leistengegend (et Glutialabscesse (nach Melchior); 
lieber nicht an. 

Differentialdiagnostisch wichtig. ist die Tatsache, daß sich hinter einem ober- 
flächlichen Leistendrüsen- und Glutäalabsceß eine unter die Haut durchgebrochene 
tiefe Beckenphlegmone verbergen kann. Am Leistenband kann ein Psoas- und lliacal- 
absceß, eine Phlegmone der Bursa iliaca, ein parametraler und paravesicaler Ab- 
sceß zum Vorschein kommen. Eine Verwechslung mit einer Schenkelhernie ist bei 
oberflächlicher Untersuchung möglich, besonders dann, wenn es infolge Incarceration 
und Gangrän zur Kotphlegmone gekommen ist. Eine genaue Untersuchung und 
Vorsicht bei der Operation ist also auch beim „gemeinen Bubo“ notwendig. Nach 
der Glutäalgegend können Iliacal- und paraproktitische Phlegmonen durchbrechen. 

Dem Verlauf des Psoas folgen meist die kalten Abscesse (Spondylitis tuberculosa), 
mitunter handelt es sich um eine Wirbelkörperosteomyelitis oder Phlegmone retro- 
peritonealer Lymphdrüsen. Gegen die Psoasabscesse sind die Iliacalabscesse abzugrenzen, 
die sich innerhalb des Beckengürtels zwischen dem Musculus iliacus und der Darm- 
beinschaufel bilden (Beckenknochenosteomyelitis, Vereiterung der tiefen Beckendrüsen, 
Phlegmone der unter dem Musculus iliacus auf dem Schambein gelegenen Bursa iliaca). 


Sie können bei ihrem Durchbruch 4 Wege einschlagen (Tillmanns): 1. entlang dem Musculus 
iliacus bis unter die Haut der Leistengegend; 2. Durchbruch durch die Incisura ischiadica in die Glu- 
täalmuskulatur und Oberschenkelbeuger; 3. entlang der Kreuzbeinaushöhlung mit Perforation in das 
Cavum ischiorectale und Rectum; 4. kranialwärts nach der Lumbalgegend. Bei einer Kommunikation 
der Bursa iliaca mit dem Hüftgelenk kann es zur Sekundärinfektion in diesem kommen. 





Schließlich kommen in der Leistengegend noch Phlegmonen von zum Teil 
extraperitonal gelegenen Bauchorganen zur Beobachtung (subseröse Abscesse nach 
Tillmanns: Appendix, Parametrium, Blase). 

Die Eröffnung der Beckenphlegmonen geschieht am Leistenband durch Schräg- 
schnitt. Man geht schrittweise durch die Haut und Muskulatur unter peinlichster 


268 Unger-Heuß. 


Schonung des Peritoneums und drainiert entlang dem Psoas oder Iliacus. Bei Per- 
foration nach der Glutäalgegend wählt man die im Kapitel Glutäalphlegmone ange- 
gebene Schnittführung. Nach Tillmanns kann man bei einer Iliacalphlegmone auch ` 
durch Trepanation des Darmbeins dem Eiter Abfluß verschaffen und behandelt 
durch die Aufmeißelung gleichzeitig eine etwa bestehende Darmbeinosteomyelitis. 
Schließlich führt ein Weg durch die Fossa ischiorectalis zu den tiefen Beckenphleg- 
monen. Zur Eröffrrung einer prävesicalen Phlegmone wählt man den unteren Median- 
schnitt zwischen Nabel und Symphyse (Zuckerkand|). Sitzt die Phlegmone am 
Blasenboden, so kann man entweder suprapubisch oder vom Perineum bzw. von 
der Vagina aus eingehen. Tillmanns empfiehlt bei diesen mit dem retroperitonealen 
Bindegewebe kommunizierenden Phlegmonen eine Gegenincision in der Lumbal- 
gegend zu machen. 


Beispiele für Iliacalabsceß. 16jähriger Junge, 8 Tage vor Krankenhausaufnahme plötzlich mit 
heftigen Schmerzen in der linken Hüfte erkrankt. Temperatur 39 und darüber. Keine Verletzung am 
Bein, keine Angina. Wirbelsäule ohne krankhaften Befund. Linkes Bein etwas außenrotiert. Hüftgelenk 
frei. Intensiver Druckschmerz handbreit oberhalb des linken Trochanter maior in der Glutäalmuskulatur, 
geringere Druckempfindlichkeit lateral vom linken Sartorius unterhalb der Spina iliaca anterior superior. 
Unterbauch beiderseits nicht erheblich schmerzhaft. Beckengürtel links etwas klopfempfindlich. Rectal: 
linke Beckenhälfte etwas geschwollen und druckempfindlich; Röntgenaufnahme kein krankhafter Befund. 
Incision handbreit oberhalb des linken Trochanters in der Mitte zwischen Spina iliaca anterior superior 
und posterior, reichlich Eiter aus der Gegend der Incisura ischiadica. Probepunktion unterhalb der 
Spina iliaca anterior superior lateral vom Sartorius, gleichfalls Eiter. Von hier aus führt ein Gang nach 
dem kleinen Becken unter dem Leistenband hindurch. Mit der Kornzange gelangt man auf rauhen 
Knochen. Darauf Schnitt parallel und oberhalb des Leistenbandes, Abschieben des Peritoneums, Frei- 
legen der ventra'en Darmbeinschaufel und Trepanation des Darmbeins. Heilung. 

lliacalabsceß mit Perforation nach allen 4 Richtungen. 26jähriger Mann. Plötzlich mit Schmerzen 
am linken Unterbauch und hohem Fieber erkrankt. Nach 10 Tagen Schwellung am linken Oberschenkel, 
besonders auf der Beugeseite. Vom behandelnden Arzt für Ischias gehalten. Hüftgelenk links frei. Zu- 
nehmende Schmerzen am linken Glutäus. Mehrfache Probepunktionen im Bereich der linken Adduc- 
toren ergaben angeblich keinen Eiter. Etwa 3 Wochen nach Beginn der Beschwerden Odem und 
Schmerzen in der Lumbalgegend links. Bei der Aufnahme: Deutliche Fluktuation in der linken Lumbal- 
gegend. Linker Unterbauch etwas schmerzhaft. Schwellung und Fluktuation an der medialen Ober- 
schenkelseite im proximalen Drittel, im Bereich der Beuger. Schwappende Schwellung der linken 
Glutäalgegend. Rectal: Links deutliche Fluktuation und Schwellung. Linkes Hüftgelenk frei. Operation: 
Schrägschnitt in die linke Lumbalgegend. In hohem Bogen entleert sich gelber Eiter. Man gelangt in 
eine Höhle, die kranialwärts bis über die Niere hinausreicht. Linkes Darmbein an mehreren Stellen von 
Periost entblößt. Zirka 40 cm langer Kanal zwischen Darmbein und Musculus iliacus, in dem eine Uterus- 
sonde bis zum Heft verschwindet, die Spitze wird handbreit unterhalb des Sıtzbeins an der Beugeseite 
des Oberschenkels gefühlt. Gegenincision. Im Bereich der Oberschenkelbeuger etwa zweifaustgroße Höhle, 
die sich bis unter die Glutäen erstreckt. Röntgenaufnahme ergab Be des Darmbeins. Darauf- 
hin Freilegen des linken Darmbeins durch Schnitt 2 Querfinger unterhalb des Beckenkamms, breite 
Aufmeißelung der osteomyelitischen Knochen mit gleichzeitiger Perforation des Darmbeins zur Drai- 
nage nach der Beckeninnenwand. 


Die Behandlung der Parametritis, Pelveoperitonitis und des Douglasabscesses 
gehört nicht zum Thema. 


Paraurethrale Phlegmone. 


Die paraurethrale Phlegmone (Folge von Harnröhrenstrikturen, Vereiterung der 
Cowperschen und Skeneschen Drüsen) wird durch Incision am Scrotum, Damm 
oder vaginal eröffnet. Am Damm wählt man entweder einen Mittelschnitt in der Raphe 
oder einen queren bzw. bogenförmigen Schnitt zwischen beiden Sitzbeinhöckern und 
geht stumpf in die Tiefe. Die Behandlung der Strikturen geschieht besser im nicht 
entzündlichen Stadium entweder durch Bougierung oder Exstirpation der Striktur mit 
nachfolgender Naht der Harnröhre. 


37jähriger Mann, vor 12 Jahren Gonorrhöe. In der letzten Zeit erschwertes Urinlassen, starkes 
Pressen notwendig. Erkrankt 5 Tage vor der Einlieferung an Schüttelfrost, heftigem Fieber bis 40°, un- 
bestimmten Beschwerden. Im Laufe der nächsten Tage Schmerzen am Damm. Inspektion: Damm nicht 
gerötet, nicht geschwollen. Palpation: Nur an einer pfenniggroßen Stelle links neben der Scrotalwurzel 
intensiver Druckschmerz. Rectal: o. B. Schichtweises Vorgehen links neben der Raphe eröffnet einen 
kleinen paraurethralen Absceß dicht oberhalb der Pars bulbosa urethrae, ein Fingerhut voll Eiter. Am 
gleichen Tag Fieberabfall. Heilung. Harnröhre war nur für filiformen Katheter durchgängig. 


Die Behandlung der Phlegmone. 269 
Prostataphlegmone. 


Die Vereiterung der Prostata (häufig verkannt, daher bei unklarem Fieber stets 
rectal untersuchen!) führt, nicht rechtzeitig erkannt, zu Phlegmonen in der Umgebung 
des Rectums, des Damms und durch das Cavum pelvirectale weiter aufwärts zu 
Phlegmonen am Bauch und der Lendengegend (oft genug als kryptogenetische 
Sepsis behandelt). 

Die Eröffnung der Phlegmone kann erfolgen: a) vom Mastdarm aus, 5) vom 
Perineum. Zur rectalen Incision eignet sich die angeschärfte Vogel-Rottersche 
Kornzange, die man auf einer vorher in den Absceß eingestochenen Punktions- 
kanüle vorschiebt. (Die Arme der Zange nicht zu weit spreizen, nicht unnötig im 
Prostatagewebe bohren, sonst Gefahr heftiger Blutungen.) 

Bei multiplen kleinen Prostata-Abscessen sei vor Massage gewarnt, besser ist 
es, die Vorsteherdrüse wie zur Prostatektomie perineal freizulegen (Zuckerkand)). 

Phlegmonen am Scrotum bzw. Testis werden durch Längsincisionen über der 
betreffenden Scrotalhälfte eröffnet. Sitzbäder, täglich 2mal 1 Stunde, kürzen den 
Heilungsverlauf wesentlich ab. Stets lagere man im akuten Entzündungszustand den 
Hodensack hoch durch ein Suspensorium oder ein ausgeschnittenes gepolstertes 
Hodenbrettchen. 

Urinphlegmone. 


Wegen ihrer deletären Folgen ist die Urinphlegmone besonders gefürchtet. 
Sie schließt sich an eine Perforation (Verletzung, fehlerhafte Bougierung u. s. w.) 
der Blase und Harnröhre an. Man unterscheidet: a) Stadium der Urininfiltration, 
b) Stadium der Phlegmone, d Stadium der Urosepsis. Häufig besteht eine Misch- 
infektion mit gasbildenden Bakterien. 

Hauptziel der Behandlung ist, den Urin abzuleiten, um eine weitere Infiltration 
zu verhüten, und das infiltrierte Gewebe zu drainieren. Zur Orientierung, ob die 
Harnröhre verletzt ist, empfehlen wir, einmal vorsichtig und ganz aseptisch zu 
katheterisieren (sofort aufhören, wenn es blutet). Im Stadium der Infiltration legt 
man die Blasen- bzw. Harnröhrenwunde frei und versucht, sie zu übernähen. Die 
extraperitoneale Blasenfreilegung nimmt man durch unteren Mittelschnitt zwischen 
Nabel und Symphyse vor; liegt die Verletzungsstelle am Blasenhals oder der Urethra, 
macht man eine Urethrotomia externa vom Perineum aus. In beiden Fällen wird 
der Urin aus der Blase durch einen Dauerkatheter abgeleitet, der 8-14 Tage 
liegen bleibt. 

Besteht schon eine Phlegmone, so verzichtet man auf jede Naht und leitet 
den Urin, falls die Einlegung eines Dauerkatheters mißlingt, durch eine Blasenfistel 
(Sectio alta) ab. Weniger gut und nur im Notfall bei unzureichenden äußeren Ver- 
hältnissen ist eine Blasenpunktion, zu der man eine mitteldicke Kanüle dicht ober- 
halb der Symphyse in die Blase sticht, die man nach der Urinentleerung entfernt, 
oder man stößt einen dicken gebogenen Troikar in die Blase und schiebt durch 
die Troikarhülse einen Gummikatheter, der als Verweilkatheter in den Bauchdecken 
liegen bleibt, nachdem die Troikarhülse über ihm herausgezogen ist. Wir bevor- 
zugen die Sectio alta und binden in die Blasenwunde ein fingerdickes Gummidrain 
ein. Zum ÄAbsaugen des Urins hat sich die Barthsche Heberdrainage sehr bewährt 
(Nordmann, Philipovicz u.a.), mit der es möglich ist, den Patienten lange Zeit 
trockenzuhalten. | 


Die Barthsche Heberdrainage (Fig. 73) besteht aus drei 2-3/ enthaltenden Flaschen, von denen 
zwei einen Glastubus am Boden besitzen. Dieser Tubus der Flasche 2 und 3 wird mit einem Gummi- 
schlauch verbunden, die Flasche 2 mit Wasser gefüllt und Flasche 3 tiefgestellt; Flasche 2 steht durch 


270 Unger-Heuß. 


einen Schlauch luftdicht mit Flasche 1 in Verbindung, die den Urin durch einen weiteren Schlauch 
vom Patienten aufnimmt. Fließt nun das Wasser der Flasche 2 in die Flasche 3, so entsteht in 
Flasche 2 und 1 ein negativer Druck, der den Urin aus der Blase aspiriert. Wenn Flasche 2 leer 
gelaufen ist, tauscht man sie gegen die Flasche 3 aus und setzt nur den Stopfen b von Flasche 2 
auf 3. Die Heberdrainage funktioniert gut und bedarf keiner groBen Wartung, wenn die Stopfen a 
und b dicht sind. Man schließt die Heberdrainage entweder an den Dauerkatheter (Harnröhre) oder 
den in die Blasenfistel eingebundenen Schlauch an. 





Barthsche Heberdrainage. 


Dem zweiten Behandlungsziel, der Entfernung des im Gewebe befindlichen 
Urins bzw. Eiters, genügt man durch breite Spaltung und Drainage des ganzen 
phlegmonösen Gewebes (Damm, Scrotum, Penis, Unterbauch, Lumbalgegend); gleich- 
zeitig Herzmittel und Harndesinfizientien geben! Je nach der bestehenden Cystitis 
spülen wir die Blase durch den Dauerkatheter oder den Schlauch in der Blasenfistel 
1—2mal täglich. Zur schnelleren Säuberung der Wunden empfehlen wir vom 
4.—5. Tag ab tägliche Vollbäder. 


Mastdarm. 


Die. Phlegmonen in der Umgebung des Mastdarms breiten sich subperitoneal 
im Cavum pelvirectale (oberhalb des Levator ani) mit direkter Kommunikation zum 
retroperitonealen Bindegewebe oder in der Fossa ischiorectalis (unterhalb des Levator 
ani) aus. Sie können auch in den Wandschichten des Rectums (submukös) oder vor 
dem Sphincter ani subcutan liegen. Man teilt sie (A. Borchard) in die diffusen 
Eiterungen und die circumscripten periproktitischen Entzündungen ein. 


„Zu den diffusen gehört die diffus septische Phlegmone nach zufälligen Verletzungen oder Mast- 
darmoperationen, sie sind dann am gefährlichsten, wenn sie im Cavum pelvirectale entstehen, und 
enden meist letal. Neben dieser foudroyanten Phlegmone gibt es noch eine durch Gasbildung aus- 
gezeichnete Zellgewebsentzündung (Kraske), die durch das Bacterium coli verursacht wird und einen 
milderen Verlauf zeigt... . Von dieser mit Gasbildung einhergehenden Zellgewebsentzündung ist der 
Gasbrand — die Gasphlegmone — zu unterscheiden. Eine andere Form — die diffus gangränöse Zell- 
gewebsentzündung — entsteht gewöhnlich scheinbar spontan (man untersuche auf Diabetes!) oder 
nach schweren Infektionen, z. B. nach Einspritzung eines Klysmas in das pelviproktale Gewebe anstatt 
ins Rectum (A. Borchard).“ . 

„Zu den circumscripten periproktitischen Entzündungen gehören die oberflächlichen Abscesse unter 
der Haut am Rande des Afters. ..... Die submukösen sitzen dicht über dem Aftereingang und können sich 
nach unten in das subcutane, nach oben in das höher gelegene submuköse Gewebe der Pars pelvina recti 
ausbreiten... . Die Abscesse in der Fossa ischiorectalis entstehen entweder auf dem Lymphwege vom 
Mastdarm oder durch direkte Verletzung, oder von Abscessen aus der Nachbarschaft (Prostata, Blase, 
weibliches Genitale). . . . Werden solche Abscesse nicht rechtzeitig eröffnet, so können Durchbrüche nach 
verschiedenen Richtungen stattfinden, wenn es glücklich geht, nach der Haut oder zwischen Sphincter 
externus und internus, oder über dem Sphincter internus in das Rectum. Der Eiter kann sich im 
Cavum ischiorectale seitlich ausbreiten und die Mittellinie überschreitend in das Cavum ischiorectale 
der anderen Seite eindringen, und so unterhalb des Levators den Sphincterteil ringförmig als sog. 
dissezierende Phlegmone umgreifen..... Die schlimmsten Folgen zieht die Perforation in den pelvi- 
rectalen Raum wegen der Fortleitung in das retroperitoneale Bindegewebe nach sich (A. Borchard).* 

„Der pelvirectale Absceß kann von Erkrankungen der Rectumschleimhaut (Geschwüren, Strik- 
turen), durch Perforation benachbarter Abscesse, bei weitem am häufigsten in mehr als der Hälfte 
der Fälle von der pyogenen und tuberkulös entzündeten Prostata (Zeller 1888), selten von Eiterungen 
der Wirbel- und Beckenknochen her entstehen.“ 


Die Behandlung der Phlegmone. 271 


„Die Behandlung (A. Borchard) kann nur eine operative sein und soll so 
frühzeitig wie möglich statthaben, um Durchbrüchen und Unterwühlungen vorzubeugen. 
Bei den subcutanen und submukösen Abscessen ist die bedeckende Haut und Schleim- 
haut in ganzer Ausdehnung mit einem zum After radiären Schnitt — unter Schonung 
des Sphincters — zu spalten. Der ischiorectale Absceß wird mit einem von vorn nach 
hinten dem Sphincter parallel verlaufenden Schnitt eröffnet. Ist der AbsceB bereits 
über die Mittellinie auf der anderen Seite vorgedrungen, dann wählt man am besten 
einen Schnitt in der hinteren Raphe, der zwischen After und Steißbein verläuft 
und den Sphincter externus durchschneidet. Von diesem Schnitt aus spaltet man 
seitlich die Absceßhöhlen und drainiert nach beiden Seiten.“ Da die pelvirectalen 
Abscesse meist von der Prostata ausgehen und vor dem Rectum liegen, eröffnet 
man sie wie bei der perinealen Prostatektomie oder per rectum (Borchard). Bei 
der Behandlung der diffusen Formen empfehlen wir Spülungen und Tampons: mit 
Farbstoffen (Trypaflavin, Pyoktanin), von denen wir in einzelnen Fällen recht gute 
Erfolge sahen. 


Phlegmonen der Extremitäten. 


Bei jeder Phlegmone an den Extremitäten ist als erste Behandlungsmaßnahme 
die Ruhigstellung notwendig. Da mit jeder Immobilisierung die Gefahr der Gelenk- 
- versteifung verknüpft ist — bei Erwachsenen ist sie größer als bei Kindern — soll 
jedes Gelenk in einer Stellung fixiert sein, die selbst bei Ankylosierung die beste 
Gebrauchsmöglichkeit gewährleistet. Die Schulter wird am geeignetsten in recht- 
winkliger Abduction immobilisiert, das Ellbogengelenk in fast rechtwinkliger 
Beugung und halber Supination. Das Handgelenk fixiert man in leichter Dorsal- 
flexion, nur in dieser Stellung können die Finger bei einer Versteifung des Hand- 
gelenks kräftig zur Faust geschlossen werden. Zur Ruhigstellung des Beines wählt 
man eine leichte Abduction im Hüftgelenk, das Knie soll etwas gebeugt sein und 
der Fuß zur Vermeidung von Spitzfußcontracturen rechtwinklig zum Unterschenkel 
stehen. Nur bei vorhandener Verkürzung des Beines ist eine Immobilisierung in Spitz- 
fußstellung angebracht, da der Patient zum Ausgleich der Verkürzung einen Spitz- 
fuß notwendig hat. Die Immobilisierung selbst kann durch einfache Lagerung oder 
gut gepolsterte Schienen vorgenommen werden und soll nur während der akut 
entzündlichen Erscheinungen durchgeführt werden. Zur Schienung des Unterschenkels 
ist zu bemerken, daß die Ferse stets hohl liegen muß, sonst entsteht neben Schmerzen 
ein Decubitus an der Ferse, der manchmal länger zur Heilung braucht als der ganze 
phlegmonöse Prozeß. 

Mit der Ruhigstellung verbindet man die Hochlagerung durch Kissen, Sus- 
pension (Arm) oder schiefe Ebene (Bein). Bei der Suspension des Arms ist darauf 
zu achten, daß der Verband nicht schnürt. Es ist falsch, einfach eine Schlinge um 
das Handgelenk zu legen und den Arm daran aufzuhängen, vielmehr soll die Binden- 
schlinge, in der der Arm suspendiert wird, auch bei der Suspension des Unterarms 
am Oberarm angreifen. Ferner muß auch die Hand an dieser Aufhängeschlinge ange- 
wickelt werden, da ihr schlaffes Herabhängen für den Kranken unangenehm und 
schmerzhaft ist. Schließlich soll der Oberarm durch untergeschobene Kissen so weit 
gehoben werden, daß der Unterarm im Verband weniger hängt als schwebt. Bei der 
Hochlagerung des Beins mit oder ohne Schiene bzw. schiefer Ebene soll stets das 
Knie leicht gebeugt gelagert werden. 

In jedem Fall ist bei den Weichteilphlegmonen an den Extremitäten die Ursache 
klarzustellen (Osteomyelitis, perforiertes Gelenkempyem, Senkungsabsceß u. s. el 


272 Unger-Heuß. 


wichtig auch Urinuntersuchung: Eiweiß, Zucker (Koma, Insulinbehandlung!), und 
schließlich ist der Eiter steril aufzufangen und zu untersuchen. 

Die Phlegmonen an den Extremitäten breiten sich subcutan, subfascial, inter- 
muskulär bzw. entlang den Sehnen oder subperiostal aus. Als Kriegsfolgen entstehen 
sie auch in der Umgebung alter Schußverletzungen, die jahrelang reaktionslos ver- 
narbt waren. Durch eine Gelegenheitsursache (Stoß, Überanstrengung, Angina) 
werden die im Narbengewebe latent ruhenden Eitererreger wieder virulent und 
führen zu Phlegmonen und Abscessen. Bei der Eröffnung solcher Abscesse entleeren 
sich mit dem Eiter manchmal Sequester und Geschoßsplitter. 

Zur Sicherung der Diagnose sind in unklaren Fällen Probepunktionen beson- 
ders bei tief gelegenen Phlegmonen und Abscessen oft notwendig. Sie sind aber 
mit Vorsicht zu verwenden bei paraartikulären Phlegmonen wegen der Gefahr der 
Gelenkinfektion. In solchen Fällen ist eine Stichincision und vorsichtiges Eingehen 
bis auf die Gelenkkapsel zur Diagnose gefahrloser. 

An den Extremitäten sind Längsincisionen die Regel; wo es notwendig ist, 
werden Gegenincisionen gemacht. Nach Möglichkeit vermeidet man es, die Incisions- 
wunden und Drains in die Nähe der großen Gefäße zu legen (Arrosionsblutungen), 
war man aber dazu gezwungen, in unmittelbarer Nähe der Gefäße zu operieren, 
muß ein Esmarchscher Schlauch am Bett hängen, um bei einer Blutung zur Hand 
zu sein. | 


Phlegmonen am Arm. 


Primäre Phlegmonen am Oberarm kommen selten zur Beobachtung, sie 
schließen sich an direkte Verletzungen der Haut, Weichteile und des Knochens an. 
Meist entsteht die Oberarmphlegmone sekundär aus einer Humerusosteomyelitis, 
einer aufsteigenden Unterarmphlegmone oder Lymphangitis, ganz selten kann es sich 
um eine Erkrankung im Muskel selbst handeln. Von circumscripten Eiterungen sind 
die eitrigen Schleimbeutelentzündungen (die Bursitis subdeltoidea, subcoracoidea, sub- 
acromialis, olecrani u. s. w.) und Spritzenabscesse zu erwähnen. Diese tief gelegenen 
Schleimbeutel erkranken wie an sämtlichen Extremitäten, seltener nach Traumen 
(vereiterte Hämatome u. s. w.), häufiger lokalisieren sich in ihnen pyämische Meta- 
stasen. 

Die Schleimbeutelabscesse am Schulter- und Ellbogengelenk entleert man durch Längsincisionen, 
die dem Faserverlauf des Deltoideus bzw. Triceps entsprechen, oder durch mehrfache Punktionen (kos- 
metisch besser). Mit der Punktion verbindet man eine Injektion von Rivanol (1:1000), Jodoformglycerin, 
Trypaflavin, nicht so gut ist Jodtinktur. (Über die Nachteile dieser Absceßbehandlung s. allgemeiner Teil). 

Von chirurgischen Eingriffen am Oberarm erwähnen wir die Nößkesche Ope- 
ration zur Behandlung schnell fortschreitender Lymphangitiden, die die Gefahr einer 
Septicopyämie in sich schließen. Insbesondere bei infizierten Bißwunden (Ratten-,. 
Schlangen-, Menschenbiß) leistete uns die Methode Gutes. Nordmann, Eden u.a. 
empfehlen sie gleichfalls. Die Nößkesche Operation besteht in der circulären Durch- 
trennung der Haut am Oberarm bis auf die Fascie, dadurch werden sämtliche ober- 
flächlichen Lymphgefäße quer durchschnitten. Die Wunde bleibt offen und heilt per 
secundam. Lymphstauungen haben wir als Folge der Operation nicht gesehen. 


Als Besonderheit muß für die Ellbeuge das Salvarsaninfiltrat erwähnt werden, da es bei Un- 
kenntnis der Anamnese leicht mit einer Phlegmone verwechselt werden kann. Es ist außerordentlich 
hartnäckig und verursacht lange dauernde Induration. Seine Behandlung ist konservativ. Über eine 
an des Unterarms nach intravenöser Salvarsaninjektion in die Cubitalvene berichtete vor kurzem 
Schlosser. 

Findet man am Unter- und Oberarm sowie in der Ellbeuge kleine perivenöse Phlegmonen, so 
handelt es sich meist nicht um eine Thrombophlebitis bzw. Periphlebitis unklarer Ätiologie, sondern 
um intravenös spritzende Morphinisten. 


Die Behandlung der Phlegmone. . 273 


Wir können innerhalb des Rahmens dieser Arbeit nicht auf die Differential- 
diagnose der verschiedenen Zellgewebsentzündungen an den Extremitäten eingehen, 
insbesondere nicht auf die Abgrenzung des Panaritiums in subcutane Phlegmone, 
Sehnenscheidenphlegmone mit oder ohne Beteiligung der Knochen und Gelenke. 
Wir verweisen auf die ausgezeichnete Arbeit von Klapp und Beck (mit ausge- 
dehntem Literaturverzeichnis). Für die Behandlung liegen die Fälle günstig, in denen 
sich die Eiterung auf das subcutane Gewebe beschränkt, ohne die Sehnenscheiden 
oder die Sehnen selbst zu erreichen. Das ist der Fall bei den Interdigitalphlegmonen, 
die den Raum der „Schwimmhautlagen“ (Klapp) einnehmen. Im Chloräthylrausch 
unter Blutleere Einschnitt an der Stelle, die am schmerzhaftesten ist (man findet 
diese Stelle bei der Untersuchung des nichtnarkotisierten Kranken oft besser, wenn 
man mit einer Knopfsonde vorsichtig das entzündete Gebiet abtastet, und dabei 
einen leichten Druck ausübt, als mit der Fingerpalpation), spreizt mit der Kornzange 
die Haut und macht, falls die Eiterung die Gegenseite erreicht hat, hier eine Gegen- 
incision. (Außer Messer und Schere scharfe Instrumente vermeiden, nicht mit scharfen 
Haken das Gewebe. aufreißen, alles behutsam!) Einlegen eines etwas eingefetteten 
oder feuchten Tupfers für 24 Stunden, dann warme Handbäder, ist die Methode, die 
wir im allgemeinen befolgen. Klapp und Beck empfehlen Mulltupfer mit Rivanol 
1:1000°0, jeden 1.—2. Tag gewechselt. Die Behandlung derjenigen Hohlhandphleg- 
monen, bei denen die Sehnenscheiden noch intakt sind, ist in entsprechender Form 
vorzunehmen. Man tut gut, nicht allzugroße Incisionen in der Hohlhand zu machen, 
sondern nach Entleerung des Eiters, mit der Kornzange in die Eiternische eingehend, 
die Haut an weiteren 1—2 Stellen zu spalten und für guten Abfluß zu sorgen (hier. 
zu auch ein Einlegen feinster Glasdrains geeignet). Es ist von außerordentlicher 
Wichtigkeit, bei der Freilegung rechtzeitig zu erkennen, daß die Sehnenscheiden selbst 
noch intakt sind: denn eröffnet man eine Sehnenscheide, die zwar außen vom Eiter 
umspöült, aber innen noch frei ist, so trägt man die Infektion erst hinein und gefährdet 
die Sehne. 

Zur Behandlung der Sehnenscheidenphlegmonen gehören genaue anatomische 
Kenntnisse und eine exakte Diagnose; wir sind ferner der Ansicht, daß wirklich 
schwere Sehnenscheidenphlegmonen gut nur klinisch behandelt werden können und 
zur Operation genügende Assistenz vorhanden sein muß. Erst nachdem wir uns aus 
den Angaben des Kranken und dem objektiven Befund genau orientiert haben, wo 
die größte Schmerzhaftigkeit, welche Sehnenscheide und in welcher Ausdehnung 
sie ergriffen ist (die ganze Sehnenscheide ist in der Minderzahl der Fälle befallen 
[Klapp und Beck]), gehen wir an die Operation heran. Längst sind wir von aus- 
gedehnten Spaltungen mit weiter Freilegung der Sehnen selbst abgekommen, denn 
eine völlig freiliegende Sehne geht — man kann fast sagen — ausnahmslos zu 
grunde. Es ist Biers Verdienst, dies nachdrücklichst betont zu haben; kleine Inci- 
sionen, Verzicht auf Tamponade und Antiseptica, in der Nachbehandlung die Stauung 
und frühe Bewegungsübungen. Klapp fügte die Eröffnung der Sehnenscheiden 
durch laterale Schnittführung hinzu (Fig. 74; auch von Nordmann empfohlen). 

„Die Sehne wurde niemals von der Beugeseite, sondern immer von der seit- 
lichen Fläche des Fingers eröffnet, wie das früher schon oft ausgeführt wurde. Der 
Hautschnitt hat nicht die ganze Länge der entsprechenden Phalanx. Im Bereich einer 
jeden Phalanx wurde das Sehnenfach lang eingeschnitten, so daß die Sehne stets gut, 
und soweit der Hautschnitt reichte, sichtbar war. War an der einen Seite eröffnet, 
so wurde eine Hohlsonde durch die Sehnenscheide gegen die andere Seite des 
Fingers geführt und von außen mit gleich langem Schnitt eingeschnitten oder auch 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 18 


274 Unger-Heuß. 


ein schmales Scalpell vor der Sehne durchgeführt und nach der anderen Seite durch- 
gestoßen. War das an allen Phalangen ausgeführt, so wurde noch an den drei 
mittleren Fingern von der Handfläche aus schräg gegen das centrale Ende der 
Sehnenscheide eingeschnitten und ebenfalls nach der anderen Seite geöffnet. 

An den langen Scheiden der Beugesehnen von Daumen und kleinem Finger 
wurden je nach Bedarf noch ein bis zwei paarige Schnitte von der Länge der 
vorigen angebracht.“ 

„Durch die in der Länge der Phalanx geführten seitlichen Schnitte, die noch 
dazu paarig angelegt sind, wird der beste und reichlichste Abfluß gewährleistet. 
Beugt man einen so behandelten Finger, so sperren sich die in Streckstellung angelegten 
Schnitte weit auf und der Eiter fließt 
ohne Hindernis ab. Die Sehnenscheide wird 
schließlich von allen Öffnungen aus mit 
warmer physiologischer Kochsalzlösung aus- 
gespült, die Wunden werden mit Salben- 
lappen bedeckt, aber weder drainiert noch 
tamponiert. Hand und Arm können mit 
einem Alkoholverband umgeben werden. 
Der Patient kommt dann am besten ins Bett, 
der Arm wird horizontal gelagert. Täglich 
Verbandwechsel und in den ersten 2 bis 
3 Tagen !/,stündiges Bad mit warmer physio- 
logischer Kochsalzlösung. Aktive und passive 
Bewegungen vom ersten Tage an. Sobald 
die Eiterung versiegt und die Entzündungs- 
erscheinungen abgeklungen sind, füge ich 
zur Erhöhung der Mobilisierung Heißluft- 
behandlung im Kasten oder mit dem Heiß- 
luftstrom hinzu, was von den Patienten sehr 
gerühmt wird und die Funktion zusehends 

ER mine e a ren hebt“ (Klapp und Beck). 

E nn So eröffnet man also zuerst die Sehnen- 
scheide an der Stelle, die am meisten schmerzhaft ist, macht den Schnitt auf der 
Gegenseite, indem man sich mit einem Elevatorium von der inzidierten Seite aus 
die Haut abhebt und darüber inzidiert. Ubt man nun von distal oder proximal 
einen Druck aus, so erkennt man, aus welcher Richtung der Eiter quillt, und kann 
dann das nächstfolgende Sehnenfach eröffnen; man schont soviel als möglich die 
straffen Bänder, die die Sehnen festhalten, die Sehnen selbst läßt man unberührt in 
ihrem Fach liegen. Haertel schlägt vor, etwas abweichend von Klapp, den Schnitt 
nicht in der Mitte des Gliedes, also über der Diaphyse anzulegen, sondern über der 
Gelenkgegend. Lexer wählt statt zweier gegenüberliegender Schnitte die Spaltung 
abwechselnd; ein Fach wird rechts, das andere links gespalten, ein Vorgehen, das 
Klapp verwirft. Klapp spült dann mit physiologischer Kochsalzlösung, führt unter 
jede Hautbrücke zwei dünne in Rivanol 1:4000'0 getränkte Mullstreifen und ver- 
bindet in leichter Beugestellung. Die Streifen werden alle 2 Tage gewechselt, der 
übrige Verband entsprechend der Eiterung bisweilen täglich. Bei großen Schmerzen 
wird die Wunde erst mit 2—3 % iger Novocainlösung durchgespült, dann ein neuer 
Streifen durchgezogen. Wir selbst ziehen lang ausgedehnte Bäder vor, vom 2. oder 
3. Tage ab, wenn sorgsames Pflegepersonal vorhanden ist. Der Arm des liegenden 


Fig. 74. 





Die Behandlung der Phlegmone. 275 


Kranken wird so bequem wie möglich in großer Armbadewanne gelagert, heißes 
Wasser — bei starker Infektion 2—3 Krystalle Kalium permanganicum — zugesetzt 
und ermahnen den Kranken immer wieder, leichte Bewegungen auszuführen. Bei 
sehr verständigen Kranken geben wir die Bäder auch nachts und glauben, daß wir 
mehreren Kollegen mit dieser Behandlung trotz erheblicher Infektion Sehnen und 
Finger beweglich erhalten haben. Läßt die Eiterung nach, dann Salbenverbände, 
Heißluftbehandlung, Massage. Auch bei günstigem Verlauf ist mit einer mehr- 
wöchigen Behandlung zu rechnen. (Über das Verfahren Baumanns mit Blaugaze 
s. p. 260). 

Zeigte sich beim Eröffnen der Sehnenscheide die Sehne mißfarben und ohne 
ihren natürlichen Glanz, so ist von vornherein mit einer Nekrose zu rechnen. 
Trotzdem soll man sie nicht abtragen, sondern warten, bis sie sich allein abstößt, 
oder wenigstens ein großer Teil ihrer Fasern aus der Wunde heraushängt, und 
diese dann abtragen. Wir stimmen hier mit Klapp und Beck überein, während 
Nößke die Extraktion der nekroseverdächtigen Sehne empfiehlt. 


Nößke unterscheidet zwei prinzipiell verschiedene Stadien der Sehnenscheidenphlegmone: die 
durch die bakterielle Infektion hervorgerufene eitrige Entzündung der Sehnenscheide und die im Anschluß 
an die Zerstörung der Sehnenscheide eintretende demarkierende Eiterung. Die letztere bringt bei längerem 
Bestande ernste Gefahren für die befallene Extremität mit sich. Sie begünstigt hauptsächlich den Einbruch 
in benachbarte gesunde Gewebe und führt, besonders bei den von Daumen und Kleinfinger ausgehenden 
Phlegmonen, häufig zur Entwicklung der sog. „V“-Phlegmone. 

In der möglichst frühzeitigen Kupierung der demarkierenden Eiterung sieht Nößke eine der 
wichtigsten Aufgaben in der Behandlung dieser Phlegmonen. Im allgemeinen ist beim Erwachsenen 
das Schicksal einer Sehne schon nach 4—5tägigem Bestande einer schweren Infektion entschieden. 
Selbst wenn es durch entsprechende Incisionen noch gelingt, einen Teil der in Sequestrierung be- 
griffenen Sehnen zu erhalten, ist ein solches Glied infolge der anhaltenden Eiterung und entzündlichen 
Infiltration der Umgebung funktionell meistens ungünstiger daran als ein Finger, dem frühzeitig die 
ganze Sehne entfernt wird, und der dadurch im Besitze normaler Gelenke und Bänder bleibt. 

NößBke demonstriert das günstige funktionelle Resultat nach frühzeitiger Extraktion der Sehne 
des Flexor pollicis longus bei einem 52jährigen Manne, bei dem die Phlegmone bereits in die radiale 
Bursa vorgedrungen war und auf den Kleinfinger überzugreifen drohte. Die Sehne wurde oberhalb 
des Handgelenks durchschnitten und über der Grundphalanx extrahiert. Der Daumen hat im Grund- 
gelenk seine normale Beweglichkeit behalten, und das Endglied ist passiv gut beweglich geblieben. 

Ebenso günstig gestaltete sich der Verlauf einer schweren fortgeschrittenen „V“- Phlegmone bei 
einem älteren Diabetiker. Hier wurden die Flexorensehnen des Kleinfingers und Daumens oberhalb 
des Handgelenks durchschnitten und im Handteller extrahiert. 

Bei der Incision bedient sich Nößke fast ausschließlich der queren und schrägen Schnitte, 
die die besten Narben geben. 

Für alle volaren Phlegmonen empfiehlt Nößke als das technisch einfachste und zuverlässigste 
Anästhesierungsverfahren die Injektion von je 2-3cm? einer 4%igen Novocainlösung an den Medianus 
und Ulnaris unmittelbar am oder etwas oberhalb des Handgelenks und unter gleichzeitiger Anlegung 
eines im Sinne der Stauung wirkenden Gummischlauches dicht vor der Injektionsstelle. Die Anästhesie 
tritt nach ca. 15 Minuten ein und ist stets komplett. Die Nachschmerzen sind auffallend gering. 


Nößke empfiehlt zur Behandlung der volaren Phlegmonen die Injektion von 
2—3 cm? einer 4%igen Novocainlösung an den Medianus und Ulnaris. Wir warnen 
vor Operationen in Lokalanästhesie bei phlegmonösen Prozessen. 

Handelt es sich aber nicht nur um eine Sehnenscheideneiterung mit Sehnen- 
nekrose, sondern ist bereits der Knochen oder eines der Fingergelenke ergriffen, 
bemerkt man ein Fortschreiten der Rötung und Schwellung in der Hohlhand, so 
ist ein Erhalten der Fingerfunktion nicht zu erwarten; im günstigsten Fall kommt 
es zur Versteifung des Fingers, er wird funktionsunfähig. Da empfehlen wir, soweit 
der 2.—5. Finger in Betracht kommt, frühzeitige Abtragung, während beim Daumen 
alles daran zu setzen ist, ihn, wenn auch versteift, zu erhalten. Die Ansichten gehen 
darüber auseinander, ob man frühzeitig die Finger abtragen soll oder warten. Wir 
haben den Eindruck, daß der Prozeß schneller zum Stillstand kommt, wenn man 
nach der Erkenntnis, daß doch nichts Brauchbares aus dem Finger wird, ihn frühzeitig 
abnimmt; und weiter ist man sich nicht einig, ob man in solchen Fällen exartikulieren 
(zwischen Metacarpus und Grundglied) oder das Köpfchen des ersteren gleich mit 

18* 


276 Unger-Heuß. 


fortnehmen soll. Wir empfehlen, zunächst einfach zu exartikulieren und erst später, 
wenn die Wunde gesäubert und mit Granulationen bedeckt ist, das Köpfchen fort- 
zunehmen. Bei der Abnahme der Finger und Sehnen zerre man die Sehne nicht 
hervor, sondern trage sie einfach im Niveau der Wunde ab. 

Falls die Sehnenscheiden im Bereich der Hohlhand infiziert sind, so legt 
man (ebenfalls in Blutleere) die Sehnenscheiden frei und macht kleine Einschnitte; 
entleert sich nur etwas trübe Flüssigkeit, so hebt man mit stumpfen Häkchen die 
Sehne etwas an, führt ein dünnes Gummirohr ein und spült mit Rivanol 1: 10000 
oder H,O, sowohl aufwärts wie abwärts, legt rivanolgetränkte Tupfer ein und beginnt 
am nächsten Tag mit Bädern. Schwimmen aber die Sehnen völlig in Eiter, müssen 
die Scheiden weit eröffnet werden. Allerdings ist damit in den meisten Fällen das ` 
Schicksal der Sehne besiegelt. 

Die Sehnenscheiden des 2.— 4. Fingers reichen bis etwa 2cm proximal von den 
Metacarpophalangealgelenken und kommunizieren nicht miteinander, während die 
Sehnenscheiden des kleinen Fingers und Daumens mit dem Hohlhandschleimbeutel 
und untereinander in Verbindung stehen. Dies erklärt das Zusammentreffen von Sehnen- 
scheidenphlegmonen am 1. und 5. Finger gleichzeitig („V“-Phlegmone). Klapp und 
Beck empfehlen, bei dieser Form einen Einschnitt im Bereich der Hohlhand zu 
machen u. zw.in Form der einfachen Spaltung. 


„Das Auffinden der carpalen Schleimbeutel im Bereich des Daumens und des kleinen Finger- 
ballens erleichtern wir uns, indem wir von der Incision über dem Handfach eine Sonde centralwärts 
vorschieben und auf sie inzidieren. Am Daumenballen darf man den Schnitt nicht zu nah an das 
Ligamentum carpi transversum heranführen, da man sonst Gefahr läuft, den zum Daumenbailen führenden 
wichtigen Ast des Nervus medianus zu verletzen. Bei der voll ausgebildeten „V“-Phlegmone genügt eine 
Incision hart distal des queren Hohlhandbandes, da ja die Scheidewand zwischen beiden Synovialsäcken 
durch die Eiterung zerstört ist. Bei der isolierten Bursitis radialis bzw. ulnaris muß man dagegen mehr 
radial bzw. ulnar auf den erkrankten Synovial:ack einschneiden. 

Eine Durchtrennung des queren Hohlhandbandes, wie sie früher geübt wurde und wie sie 
Forsell zur Entlastung wieder vorgeschlagen hat, erscheint bei ausgiebiger Eröffnung der Synovial- 
säcke distal und hart proximal des Ligamentes unnötig. 

Um ein Verkleben der Incisionen, das bei der tiefen Lage besonders des radialen Synovialsackes 
rasch eintreten würde, zu vermeiden, führen wir auch hier wieder nach Rivanoldurchspülung mit Rivanol 

etränkte Mulldochte von einer Incision zur andern. Das Wechseln dieser Streifchen geschieht in ein- 
acher Weise dadurch, daß wir den neuen Streifen mit einem Seidenfaden an das Ende des alten 
knüpfen und so beim Entfernen des einen den andern gleich durchführen. Die weitere Behandlung 
entspricht der oben angegebenen; vor allen Dingen legen wir auch dabei Wert auf frühzeitige aktive 
Bewegung“ (Klapp und Beck). 


Über progrediente Phlegmonen des Unterarms. 


„Am Unterarm sind lange und richtig angelegte Schnitte am Platze, die klare 
und übersichtliche Wundverhältnisse schaffen“ (Klapp und Beck). Diesem Satze 
kann man nur zustimmen; der Chirurg, der an schwere Eiterungen am Vorderarm 
herangeht, muß über genaue anatomische Kenntnisse verfügen und sich dessen 
bewußt sein, daß es oft schwerer ist, Eiterungen der Muskeln und Sehnen an Arm 
und Hand zu behandeln, als einen entzündeten Wurmfortsatz zu entfernen. Handelt 
es sich primär um eine Sehnenscheideneiterung der Hand, die zum Unterarm fort- 
schreitet, so geht die Eiterung entlang der Sehnen, Muskeln und innerhalb der 
Muskelbündel weiter; liegt der leichtere Fall vor, daß die Eiterung nur das sub- 
cutane Gewebe betrifft, oder in der Form, daß die Muskeln lediglich von außen 
umspült werden (es ist dies bei metastatischen Eiterungen oder im Anschluß an 
Erysipel gelegentlich der Fall), so genügen größere Stichincisionen mit Drainage. 
Man hüte sich, Räume zu eröffnen, die noch gesund sind. Die Muskeln des Vorder- 
armes sind in Logen zusammengeschlossen: auf der Streckseite die Strecker, an der 
Radialkante die lateralen Strecker, auf der Beugeseite a) oberflächlich: der Flexor 


Die Behandlung der Phlegmone. 277 


digitorum sublimis, 5) tief: der Flexor digitorum profundus, Pronator quadratus und 
Flexor pollicis longus (Fig. 75). 

„In dieser Beugerloge, u. zw. meist zwischen dem oberflächlichen und dem 
tiefen Fingerbeuger finden wir die Eiterung. Wir müssen also radial der Palmaris- 
longus-Sehne bleiben, wenn wir eine Nervenverletzung vermeiden wollen. Von 
einem Längsschnitt an dieser Stelle kommen wir leicht und ohne stärkeren Blut- 
verlust an die Stelle der Eiterung, in den Paronaschen Raum. Von hier aus läßt 
sich leicht ein Drain unter dem Handgelenksband zur Hohlhand führen. Die Abfluß- 
bedingungen sind aber nicht sehr günstig. 

Zweckmäßiger geht man in der von Kanavel und Klapp empfohlenen Weise 
vor: Die Incision wird an der radiovolaren Seite des Unterarms hart volar der 


Fig. 75. 


Loge der dorsalen Strecker 


Tiefe Beugerloge 
Loge des lateralen Sireckers 
Nervus und Arteria ulnaris— 

Arteria und Nervus radialis 


Nervus interosseus internus und 
Arteria interossea volaris 


Nervus medianus 





Oberflächliche Beugerloge 


` Fascienlogen des linken Vorderarmes. Halbschematisch. (Aus Corning, Topogr. Anatomie.) 


deutlich tastbaren Radiuskante in einer Ausdehnung von etwa 4 cm parallel zum 
Radius angelegt. Nach Durchtrennung der Haut schiebt man eine Kornzange hart 
am Knochen entlang in die Tiefe, so daß Radius und Ulna mit dem Pronator 
quadratus dorsal der Kornzange, sämtliche Gefäße, Nerven und Sehnen volar von 
ihr liegen. Man kann mühelos das Instrument bis zur ulnaren Seite durchschieben 
und auf dasselbe parallel zur Ulna eine Gegenincision anlegen. Ein in dieser Weise 
eingeführtes Drainrohr wirkt günstiger als das neben der Palmaris-longus-Sehne 
eingeführte, da die Weichteile bei leichter Beugestellung der Hand keinen Druck 
ausüben, ja die Wunde von selbst klafft, während das quere Handgelenksband bei 
der Drainage vom Unterarm nach der Hohlhand sich straff über das Drain spannt 
und leicht Schmerzen und Druckerscheinungen macht. Nach Kanavels Ansicht kann 
man diese seitlichen Incisionen beliebig weit nach oben verlängern. Das erscheint 
aber nicht zweckmäßig, da bei weiter Verlängerung der radialen Incision man auf den 
Musculus brachioradialis und Flexor carpi radialis und die mit ihnen verlaufenden 
Gefäße stößt. Auch an der ulnaren Seite stößt man bei der Incision entlang der 
Ulna auf Schwierigkeiten. Zweckmäßiger erscheint, wenn es sich darum handelt, 
eine Phlegmone des ganzen Unterarms freizulegen, das Eingehen in der Mitte der 
Vola, also die zuerst angegebene Schnittführung. Diesen Schnitt kann man beliebig 
nach proximal verlängern, ohne in Kollision mit Nerven oder Gefäßen zu kommen. 

Der Schnitt beginnt hart proximal des queren Hohlhandbandes und hat eine 
Länge von 15—25 cm je nach der Ausdehnung der Eiterung. Eine Verletzung des 
Nervus medianus können wir bei diesem Schnitt sicher vermeiden, wenn wir ihn 
erst nach den Incisionen in der Hohlhand auf ein von da unter dem Ligament 


278 Unger-Heuß. 


‚bis hart unter die Haut geführtes Instrument anlegen. Nach der Spaltung der Haut 
und oberflächlichen Fascie gehen wir stumpf vor und lösen erst den radialen 
Handbeuger von dem Rest des oberflächlichen Muskelpaketes ab, was entlang der 
die Beugerloge umgebenden Fascie ohne Schwierigkeiten gelingt. Der Rest der 
oberflächlichen Beuger läßt sich nun ebenso leicht stumpf von der tiefen Muskel- 
schicht ablösen bis zum ulnaren Rand hin, wo wir eine Gegenincision in gleicher 
Länge anlegen. 

Die anatomischen Verhältnisse sind dann etwa folgende: radial der ersten 
Incision verlaufen Muskel und Sehne des radialen Handbeugers und die Arteria 
und Nervus radialis. Den Boden der so geschaffenen Wundhöhle bilden proximal 
die Muskelbäuche des Flexor pollicis longus und Flexor digitorum profundus, distal 
ihre Sehnen und der Pronator quadratus. In der abgelösten Hautmuskelbrücke ver- 
laufen von radial nach ulnar zu nebeneinander: Palmaris longus, Nervus medianus, 
Flexor digitorum sublimis, Arteria und Nervus ulnaris und der Flexor carpi ulnaris“ 
(Klapp und Beck). 

(Wir haben die Ausführungen von Klapp und Beck hier ganz entnommen, 
weil nur wenige Autoren sich so eingehend geäußert haben.) Wir drūcken dann 
heiße Kochsalzkompressen auf die Wunde, lösen die Blutleere, versorgen spritzende 
Gefäße, führen lockere Mullstreifen ein und lagern den ganzen Arm auf eine Schiene- 
(Kramerschiene, von der Schulter bis zur Hand reichend, in der Ellbogengegend 
leicht gebeugt). Statt den Arm vollkommen mit einer Binde einzuwickeln, genügt 
oft das Herumlegen breiter Tücher. Je nach dem Allgemeinbefinden bleibt der 
Verband 1—2 Tage liegen, dann wenn möglich heiße Bäder (s. ol Bei jedem Ver- 
band ist auf Eiterverhaltung genau zu achten, besonders an der Innenseite des Ober- 
arms. Monatelange Nachbehandlung ist oft erforderlich. Ferner muß der Arzt vom 
ersten Tag an darauf achten, die Beweglichkeit der Gelenke weitgehend zu erhalten, 
um Versteifungen zu verhüten. 

Kurz hingewiesen sei auf das Verhalten und die Behandlung der Sehnen- 
scheidenphlegmonen bei Syringomyelie (Rost), weil es selten vorkommt. Das starke 
Ödem an den Händen und die hohe Temperatur lassen an eine ausgedehnte Phleg- 
mone denken, man inzidiert, findet nur wenige Tropfen trübserösen Exsudats; auch 
in der Nachbehandlung ist man erstaunt, wie gering die Eiterung bleibt. Zur Be- 
seitigung der Ödeme empfiehlt Rost das sog. Schrotbad, er läßt den Patienten die 
Hand täglich 1—2mal 1—2 Stunden in einen mit Schrotkugeln gefüllten Kasten 
stecken und die Hand bzw. die Finger in dem Kasten bewegen. Das Ödem wird 
dann durch das Gewicht der Schrotkugeln beseitigt. Nach dem Schrotbad Umwickeln 
der Hand mit Gummi- oder Idealbinde. 

Schließlich seien noch die Tintenstiftphlegmonen erwähnt (Erdheim, Glas), 
die nach Verletzungen mit Tintenstiften entstehen, besonders wenn die Spitze ab- 
gebrochen im Gewebe steckengeblieben ist. Die Wunden fisteln nicht, verkleben, 
durch den Gewebssaft wird der Tintenstift aufgelöst, und es entwickelt sich eine 
Gewebsnekrose mit sehr verlangsamter Heilungstendenz. Bei einer solchen Verletzung, 
die wir beobachteten, kam es zur teilweisen Gangrän des verletzten Fingers. Thera- 
peutisch wird radikale Exstirpation bzw. Exkochleation des ganzen blau-imbibierten 
Gewebes empfohlen. 

Bei Phlegmonen nach Bißverletzungen muß neben der Behandlung der Phleg- 
mone noch die Ätiologie des Bisses beachtet werden. Bei einem Hundebiß ist stets 
der Verdacht auf Lyssa gegeben. Recht gefährlich kann ein Menschenbiß werden 
(Fiebernde, Geisteskranke, Betrunkene). Eine von ihrem grippekranken Kinde ge- 


Die Behandlung der Phlegmone. 279 


bissene Mutter bekam eine Gangrän des gebissenen Zeigefingers und Pyämie mit 
Metastasen in beiden Schultergelenken und rechtem Knie. Neben Syphilis können 
beim Menschenbiß unter anderm auch die Erreger der Angina Plaut-Vincent 
(Henessy und Fletcher, Schelenz) auf die Wunde geimpft werden (therapeutisch 
für beide Salvarsan). 

Treten nach einer Rattenbißverletzung 1—3 Wochen später unklare Fieber- 
anfälle, Exanthem, Lymphangitis auf, so handelt es sich um die durch die Spiro- 
chaeta morsus muris hervorgerufene Rattenbißkrankheit Sodoku, die außer in Japan 
auch in Europa vorkommt (Vorpahl, Fasiani, Miyake, eigene Beobachtung u. a.). 
Zur Behandlung der Rattenbißinfektion ist Salvarsan empfohlen. 


Phlegmonen am Bein. 


Für die Entstehung der oberflächlichen und tiefen Phlegmonen am Ober- und 
Unterschenkel gelten sinngemäß die im Kapitel Oberarm gemachten Ausführungen. 
Als besondere Erkrankungen sind für den Oberschenkel die oberflächlichen Spritzen- 
abscesse und die Senkungsabscesse auf der Beugeseite (s. tiefe Beckenabscesse!), 
für Ober- und Unterschenkel die Lymphangitis und Thrombophlebitis sowie die 
Vereiterung von Varixknoten zu erwähnen. Am Unterschenkel müssen die von einer 
Fußphlegmone aufsteigenden intermuskulären und Sehnenscheidenphlegmonen her- 
vorgehoben werden. Die Grundzüge der Therapie sind schon geschildert. 

Bei der Behandlung der Lymphangitis und Thrombophlebitis der unteren Ex- 
tremität beschränken wir uns auf absolute Ruhigstellung und feuchte Umschläge. 
Zur Vermeidung unnötiger Bewegungen geben wir dem Patienten mehrmals täglich 
Morphium und sorgen für leichten Stuhlgang, um unnötiges Pressen zu vermeiden. 
Schreitet eine oberflächliche Thrombophlebitis am Oberschenkel fort, so ist die Unter- 
bindung der Saphena an der Einmündungsstelle in die Femoralis angezeigt. Die 
Unterbindung muß weit von der Thrombose entfernt erfolgen, sonst kann während 
der Operation die tödliche Embolie entstehen. 

Die am Bein entstehenden Abscesse werden durch Längsincisionen eröffnet; wie 
am Oberarm vermeidet man es auch am Bein, die Schnitte und Drains in die Nähe 
der großen Gefäße zu legen. Blutet es infolge Arrosion aus der Arteria femoralis, 
so unterbindet man die Arterie wenn möglich distal vom Abgang der Arteria femo- 
ralis profunda, weil sich dann häufig ein genügender Collateralkreislauf ausbildet. 
Für Arrosionsblutungen am Unterschenkel ist zur Unterbindung der Ort der Wahl 
die Kniekehle. 

Die am Unterschenkel aufsteigenden Phlegmonen, die vom Fuß den Sehnen 
folgen, spaltet man über den ergriffenen Sehnen. Wenn es geht, schont man das 
Ligamentum cruciatum am Fußgelenk, sonst verlieren die Sehnen ihre Fixation. Gegen 
die Austrocknung der Sehnen sind Salbenverbände und Fußbäder empfehlenswert. 


Einer kurzen Besprechung bedürfen die am Hüft- und Kniegelenk gelegenen Schleimbeutel- 
entzündungen. 

Die Bursitis subiliaca hat schon bei den Beckenabscessen Erwähnung gefunden. Um den Tro- 
chanter maior liegen an den Ansätzen der Glutäen die Bursa trochanterica profunda, die Bursa 
glutaei medii und minimi, die Bursa tendinis obturatorii und auf dem Trochanter noch die Bursa 
trochanterica subcutanea. Bei einer eitrigen Erkrankung begnügt man sich mit einer Längsincision 
oberhalb oder hinter dem Trochanter über der Stelle des intensivsten Druckschmerzes. Häufiger beob- 
achtet man die Phlegmone der Bursae praepatellares (Bursa praepatellaris subcutanea, subfascialis, sub- 
tendinea), die bisweilen auf die Umgebung des Knies übergreifen. Spaltung der Phlegmonen ist besser 
als Punktion und Injektion von Rivanol (etwa gleich der Hälfte des abgesaugten Eiters). Man inzidiert 
entweder beiderseits neben der Patella oder längs mitten über der Kniescheibe oder bogenförmig quer 
zum Ligamentum patellae. Nach Bier genügt eine Stichincision mit folgender Stauung. Das gleiche 
gilt für die Bursitis infrapatellaris subcutanea und profunda. Die tiefe spaltet man beiderseits neben dem 

igamentum patellae, da sie Zwerchsackform hat. 


280 Unger Heup, 


Von untergeordneter Bedeutung sind die Eiterungen in der Bursa bicipitis (cave Nervus 

eroneus), anserina, semimembranosa und poplitea, die bei Perforation zu Eiterungen in der Kniekehle 
ühren. Phlegmonen der Kniekehle entstehen ferner aus vereiterten Lymphdrüsen (selten), Varixknoten 
oder gehen von einer epiphysären Osteomyelitis aus. Bei alten Schußverletzungen und nach Traumen 
hüte man sich vor Verwechslung von Aneurysma, abscediertem Aneurysma und Phlegmone, Zur Eröff- 
nung der Kniekehlenphlegmone empfehlen wir den Schnitt über dem medialen und lateralen Condylus 
femoris zu legen (Schnittführung nach Payr oder Kroh für Kniegelenkempyeme), um dem Getäß- 
nervenbündel aus dem Wege zu gehen. 

Die paraartikuläre Fußgelenkphlegmone inzidiert man auf dem Dorsum unter 
möglichster Schonung des Ligamentum cruciatum oder bogenförmig hinter beiden 
Malleolen. Der Phlegmone der Bursa achillea anterior und posterior verschafft man 
durch Längsschnitte auf bzw. neben der Achillessehne Abfluß. 

Die tiefe Fußsohlenphlegmone schließt sich meist an eine Zehenphlegmone 
oder Zehengangrän (Diabetes!) an und bereitet mitunter diagnostische Schwierigkeiten 
(Fig. 76). 

Fig. 76. 


Aponeurosis plantaris und . 
Arteria plantaris lateralis Spatium plantare mediale Arcus plantaris 







Arteria plantaris medialis 


Spatium plantare laterale Spatium plantare mediale 


j A Verbindung der Arteria plantaris 
lateralis mit der Arteria dorsalis 
pedis 


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E eg 7 =, 


= Be ` we a Ee: esche SE , 
"ee w / 
e E 


Arteria dorsalis pedis 


Spatia intermetatarsalia 


Fascia pedis dorsalis Spatium pedis dorsale 


(Aus Corning.) 


Sie kann in 3 Fascienlogen lokalisiert sein, die von der Plantaraponeurose gebildet werden: der 
Großzehen-, Kleinzehenloge und dem Fascienraum zwischen diesen beiden Logen, der unter anderm 
den kleinen Zehenbeuger und die langen Flexorensehnen enthält. Plantarwärts sind diese Logen durch 
die feste Plantaraponeurose abgeschlossen, über der noch das derbfaserige subcutane Gewebe und 
schwielige Fußsohlenhaut liegt. Die anatomischen Verhältnisse sind wichtig für Diagnose und Behand- 
lung. Der unter Druck stehende Eiter bahnt sich seinen Weg entlang den Flexorensehnen bis zum 
Fußgelenk und Unterschenkel hinauf, oder er bricht nach dem Dorsum durch, und kann die Mittel- 
fuß- und Fußwurzelgelenke und -knochen infizieren. Wie bei der Hand täuscht sehr häufig das kolla- 
terale Fußrückenödem über den eigentlichen Sitz der Phlegmone auf der Planta pedis. 


Die chirurgische Behandlung der tiefen Fußsohlenphlegmone kann nur in 
einer radikalen Eröffnung der infizierten Fascienlogen liegen, man darf sich also 
nicht mit einer Incision der Haut und Subcutis begnügen, sondern muß auch die 
Plantaraponenrose in ihrer ganzen Ausdehnung, also bis zu ihrem Ansatz am 
Calcaneus eröffnen. Am besten operiert man in Blutleere und tamponiert für 
24—48 Stunden die Wunde, später reichlich Fußbäder. Zur Eröffnung der Fascien- 
logen kann man entweder den Längsschnitt über die Fußsohle wählen, oder man 
dringt nach Becker von einem lateralen und medialen Schnitt am Fußrand unter 
das Fußskelett und schiebt die Weichteile ab. Der Vorteil der letzteren Methode 
liegt in der günstigeren Lage der Narben. Die Wunden pflegen nur langsam zu 
heilen, wiederholte Incisionen können notwendig werden. Insbesondere sind Arrosions- 


Die Behandlung der Phlegmone. 281 


blutungen und Miterkrankung der Knochen und Gelenke bei protrahiertem Verlauf 
gar nicht so selten, so daß man sich schließlich genötigt sehen kann, den Fuß zu 
amputieren. 

Gegenüber der tiefen Phlegmone an der Fußsohle verlieren die oberflächlichen 
und die Sehnenscheidenphlegmone am Fußrücken wegen ihrer leichteren Diagno- 
stizierbarkeit an Bedeutung. Die nötigen Incisionen legt man am Fußrücken parallel 
mit den Strecksehnen und Nerven an. 

Von lokalisierten Abscessen sind noch die Interdigitalphlegmonen und die 
Vereiterung der normalen und pathologischen Schleimbeutel (Hallux valgus!) zu 
erwähnen. 

Zehenphlegmonen. 


Die Zeheneiterungen entsprechen in ihrem Verlauf und ihrer Behandlung im 
großen und ganzen denen der Finger, auch hier kann es sich um subcutane, Sehnen- 
und Knochenpanaritien handeln. Im Gegensatz zur Hand wird man sich aber bei 
einem langwierigen eitrigen Prozeß am Fuß eher zur Opferung einer oder mehrerer 
Zehen entschließen. Die Bedeutung der Zehenphlegmone liegt mehr in der Gefahr 
des Übergreifens auf den Fuß (Fußsohlenphlegmone). Eine Sonderstellung nehmen 
die Zehen durch das häufige Ergriffensein bei Gangrän jeder Ätiologie ein. Neben 
der Sicherstellung der Herkunft einer Gangrän (Diabetes, Arteriosklerose, Endarteriitis 
obliterans, Raynaud, Ergotismus, Carbol, Erfrierung, Verbrennung, Embolie und 
Thrombose u. s. w.) muß man bestrebt sein, die Gangrän in ein trockenes Mumi- 
fizieren zu überführen durch Heißluft, Puderverbände u. s. w. (keine feuchten Ver- 
bände). Daneben sucht man die Circulationsverhältnisse zu bessern (Hochlagerung, 
Heißluft, Wechselbäder, Gefäßoperationen wie Sympathektomie oder Transplantation 
der Arteria femoralis in die Vene nach Wieting; beide noch umstritten). Bei der 
Diabetesphlegmone Insulinbehandlung und Diät. Man wartet bei der Gangrän die 
Demarkierung ab, nur bei Phlegmonen im Anschluß an den Brand soll man bald 
amputieren. Bei Arteriosklerose und Diabetes stehen wir auf dem von Heidenhain 
gekennzeichneten und von v. Bergmann stets vertretenen Standpunkt, die Amputation 
im Oberschenkel vorzunehmen, wenn der Brand bis zur Fußwurzel fortgeschritten 
ist (glatte Amputation ohne große Hautplastik). 


Anhang: Gasödemerkrankung. 


Hier: ist unsere Handlungsweise nach den Kriegserfahrungen so aktiv wie nur 
möglich. Die Gasödemerkrankung stellt sich in der Friedenspraxis durch schwere, 
mit Erde verschmutzte Verletzungen (Überfahrung, Explosionen u.s.w.) ein (Brunner); 
als seltene Komplikation ist sie in letzter Zeit nach Injektionen von Ampulleninhalt 
(Knauer, Kemkes, Koopmann, Nauwerk u. a.) beschrieben worden, nach deren 
Applikation (Asthmolysin, Afenil, Coffein u.s.w.) sich in 24—48 Stunden typischer 
Gasbrand entwickelte, Die Gasödemerkrankung ist eine Mischinfektion von Anaerobiern 
aus der Gruppe der Rauschbrand-, Pararauschbrändbacillen und des Fränkelschen 
Gasbacillus, von denen Aschoff die Pararauschbrandbacillen, Zeißler den Fränkel- 
schen Gasbacillus für die Haupterreger hält. Die klinische Einteilung in Gasbrand 
(Fränkel) und malignes Ödem hat sich nach Aschoff auf Grund der Kriegs- 
erfahrungen nicht bewährt, da beide Krankheitsbilder sich vermischen, er empfiehlt 
die Bezeichnung „Gasödemerkrankung“. Wegen der kurzen Inkubation (3— 12 Stunden 
nach Wieting, 11—20 Stunden nach Schöne) und des rapiden Fortschreitens ist 
schnellstes chirurgisches Eingreifen am Platze. An erster Stelle steht die Prophylaxe: 


282 Unger-Heuß. 


Excision des ganzen Wundkanals unter breiter Freilegung aller Taschen und Ent- 
fernung aller Nekrosen bei jeder verschmutzten und verdächtigen Wunde (Garre, 
Ritter, Sauerbruch, Kroh). Tappeiner, Bier, Sehrt empfehlen Dauerstauungen, 
bei denen die Binde bis 14 Tage nicht gelöst wird. Klapp, Dönitz u.a. wandten 
die Tiefenantisepsis (Vuzin) an. Gute Erfolge hat man während des Krieges mit 
dem „Fränkel-Serum Höchst 1001“, das gegen den Fränkelschen und die Para- 
rauschbrandbacillen wirksam ist, bei prophylaktischer Infektion gesehen; von nicht 
prophylaktisch gespritzten starben 74%, von gespritzten nur 9% an Gasödem 
(Klose zitiert nach Aschoff). Weinberg berichtet über 50 Heilungen bei 60 Gas- 
ödempatienten, die er mit seinem französischen Serum (Serum antiperfringens, anti- 
vibrion septique, antioedematiens und antihistolyticum) behandelte. Zeißler empfiehlt 
die prophylaktische intravenöse Seruminjektion z. B. auch bei mit Gasödembacillen 
infizierten Aborten, wenn die Erreger im Blut nachgewiesen sind. 

Bei ausgebildeter Gasphlegmone (braunroter oder bläulicher erysipelartiger 
Schwellung, Lymphangitis, Knistern im Gewebe, ikterischer Verfärbung) ist von der 
Serumtherapie nicht mehr viel zu erwarten. Man kann dann die ergriffenen Weich- 
teile rücksichtslos bis auf die Knochen inzidieren mit möglichster Entfernung des 
befallenen Gewebes. Spülungen mit sauerstoffreichen Lösungen (H,O,, Kalium per- 
manganicum, Dakinscher Lösung) und damit getränkte Tampons sind geeignet, die 
Wachstumsbedingungen der Anaerobier zu verschlechtern. Machen sich trotzdem 
die geringsten Zeichen des Fortschreitens bemerkbar, so ist die hohe Amputation 
bzw. Exartikulation das Verfahren, das das Leben noch retten kann. Da in den 
seltensten Fällen Fränkel-Serum zur Hand sein wird, dürfte es für die Praxis stets 
am besten sein, bei Nachweis von Gasentwicklung gleich zu amputieren, u. zw. 
hoch im Oberarm, wenn der Unterarm ergriffen ist, und hoch im Oberschenkel 
bei Gasbrand der unteren ‚Extremität. Aber auch dann sind die Resultate quoad 
vitam nach unseren Erfahrungen schlecht. Nachahmenswert scheint uns der Vor- 
schlag Coenens, bei Gasödemerkrankungen eine vitale Bluttransfusion vorzunehmen, 
mit der es ihm gelang, zwei aussichtslose Fälle zu retten: „Was nach der Absetzung 
der gasfaulen Extremität Ströme von Campher, Koffein, Kochsalzlösung, Digipurat 
nicht vermocht hatten, vollbrachte das übergeleitete lebende Blut mit einem Gchlage 
Auch Heim berichtet einen geheilten Fall (Gasbrand des Uterus), dem er nach der 
Totalexstirpation Blut transfundierte. 

Literatur. Aschoff, K1. Woch. 1923, Nr. 49. — Baecker, Zbl. f. Gyn. 1922, Nr.31. — Baumann, 
Münch. med. Woch. 1916, Nr. 51; 1918, Nr. 47; 1923, Nr. 23/24. — Becher, Münch. med. Woch. 1918, 
Nr. 47. — Bertelmeyer, Münch. med. Woch. "1906, Nr. 14. — Bier, Hyperamie als Heilmittel. B. z. kl. 
Chir. C; Berl. kl. Woch. 1917. — Bier, Braun, Kümmel, Chir. Operat ehre 1923. — Braun, B.z.kl. 
Chir. XCVIII: Zbl. f. Chir. 1916, Nr.3. — Breslauer, Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 17. — Brunner, Zbl. f. Chir. 
1922, Nr. 39; "1923, Nr. 12; KI. Woch. 1924, Nr. 7. — Brunner, v. Gonzenbach u. Ritter, A.f. kl. Chir. 
CXI, H. 3. — Brunner u. v. Gonzenbach, AÀ. f. kl. Chir. CXXV/2; CXXX;/2. — Brunner u. Ritter, 
Kl. Woch. 1923, Nr. 27. — A. Borchard, Hdndb. f. d. pr. Chir. — Bumm, Med. Kl. 1923, Nr. 1. — 
Busch, A. f. kl. Chir. CIX. — Chiari, Zbl. f. Chir. 1922, Nr. 35. — Coenen, B. z. kl. Chir. CII, H. 3; 
Erg. d. Chir. u. Orth. 1919, XI. — Dönitz, Berl. kl. Woch. 1918, p. 175. — Eden, Handb. d. 
pr. Chir. V. — Erdheim, A. f. kl. Chir. CVI, H. 1; CXIII, H.4. — Fasiani, Rif. med. Jahrg. 38, Nr. 13. — 
Felber, Ztschr. f. ur. Chir. IX, H. 4/5. - Fründ, B. z. kl. Chir. CXIV. — Garre, B. z. kl. Chir. XCVI. — 
Glas, D. med. Woch. 1922, Nr. 41. — Guisez, Bull. d’oto-rhino-laryng. XX, Nr. 1. — Hamant, 
R. med. de l'est L, Nr. 2. — Heim, Ztschr. f. Geb. LXXXVII. — Haertel u. v. Kishalmy, D. med. 
Woch. 1921, Nr. 48. - Henessy u. Fletcher, Lanc. CIC, Nr. 5055. — Hofmann, Zol. f. Chir. 
1903, Nr. 31; 1918, Nr. 51. — Kemkes, D med. Woch. 1923, Nr. 18. — Kepler u. Hoffmann, 
A. f. kl Chir. 'CXIII, HA — Keysser, D. Z. f. Chir. CLXII, H. 1/2; B. z. kl. Chir. CXVI, H. 1. — 
Klapp, Münch. med. Woch. 1905, Nr. 16; B. z. kl. Chir. CXHI, H. 1; D. med. Woch. 1921, Nr. 40. — 
Klapp u. Beck, Das Panaritium (Hirzel 1923). — Knauer, KI. Woch. 1924, Nr. 5. — Koopmann, 
Med. KI. 1921, p. 465. — Krabbel, D. med. Woch. 1921, Nr. 12. — Kroh, Zbl. f. Chir. 1919, Nr 3; 
B. z. kl. Chir. CHL — Küttner, Bier, Braun, Kümmel, Chir. Operat. -Lehre 1923. — Laewen, Zbl. f. 


Chir. 1923, Nr. 22; 1923, Nr. 39. — Láng, D. Z. f. Chir. CLVIII, H. 5/6; Erg. d. Chir. u. Orth. 
1922, XV. — Lexer, Münch. med. Woch. 1906, Nr. 14; Handb. d. pr. Chir. 1922; Allg. Chir. 1920. - 


Die Behandlung der Phlegmone. 283 


Martens, A. f. kl. Chir. CXV1/4. — Melchior, B. z. kl. Chir. XCV. — Miyake, Mitt. a. d. Gr. V. — 
Morgenroth, Kl. Woch. 1922, Nr.8. — Morgenroth u. Abraham, D. med. Woch 1920, Nr.3. — 
Morgenroth u. Schnitzer, D. med. Woch. 1923, Nr. 23. — Morgenroth, Schnitzer u. Rosen- 
berg, D. med. Woch. 1921, Nr. 4. — Nauwerk, Münch. med. Woch. 1918, p. 945. — Neufeld, 
A. f. kl. Chir. CXXI. — Nordmann, Prakticum d Chir. — Nötzel, Zbl. f. Chir. 1918, Nr. 3. — 
Nößke, Münch. med. Woch. 1913. — Payr, D. Z. f. Chir. CXXXIX. — Philipowicz, A. f. kl. Chir. 
CX. — Pika u. Billroth, Handb. d. Chir. 1865. — Rehn, Kl. Woch. 1922, Nr. 43. — Ritter, 
B. z. kl. Chir. XCVII; Münch. med. Woch. 1918, Nr. 2; Kl. Woch. 1923, Nr. 2. — Rosenstein, 
D. med. Woch. 1921, Nr. 44; Berl. kl. Woch. 1918, Nr. 7. — Rost, Münch. med. Woch. 1918, 
Nr. 51; Kl. Woch. 1922, Nr. 46. — Sachs, Berl. kl. Woch 1920, Nr. 14; 1921, Nr. 33. — 
Sauerbruch, Kriegschir. Erfahrungen, Berlin 1916. — Sauerbruch, Bier, Braun, Kümmel, Operat.- 
Lehre 1923. — Sehrt, Münch. med. Woch. 1915, Nr. 37; Med. Kl. 1916, Nr. 28. — Schelenz, Berl. 
kl. Woch. 1921, Nr. 40. — Schloffer, Zbl. f. Chir. 1924, Nr. 3. — Schöne, D Z. f. Chir. CXLIII; 
Handb. d. ärztl. Erfahrungen im Weltkrieg 1914/18. — Schubert, Zbl. f. Chir. 1923, Nr.3. — Staub, 
Kl. Woch. 1924, Nr. 2/3. — Steichele, Zbl. f. Gyn. 1922, Nr. 27. — Steinthal, Handb d pr. Chir. — 
Tappeiner, D. Z. f. Chir. CXLVII. — Thies, Münch. med. Woch. 1916, Nr. 32. — Tillmanns, 
D. med. Woch. 1908, Nr. 42. — Völker-Wossidlo, Urol. Operat.-Lehre 1918. — Vorpahl, Münch. 
med. Woch. 1921, Nr. 9. — Wieting, D. Z. f. Chir. CXLI. — Wolfsohn, A. f. kl. Chir. CXIV/3. — 
Zeißler, Kl. Woch. 1923, Nr.33. — Zuckerkandl, Handb. d. pr. Chir. 


Das Schielen und seine Behandlung. 
Von Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und Prof. W. Meisner, Berlin. 
Mit 5 Abbildungen im Text. 


Inhaltsübersicht. 


I. Begriff des Schielens: Konkomitierendes Schielen und Lähmungsschielen. 
I. Physiologisches über Augenbewegungen und binokulares Sehen: 


Die Augenbewegungen (Einfach koordinierte und symmetrisch koordinierte Bewe- 
gungen); Augenbewegungen und binokularer Sehakt; verschiedene Grade 
des binokularen Sehaktes. 


IL Die gewöhnlichen Schielformen: Ein- und Auswärtsschielen; latentes Schielen; 
scheinbares Schielen. Zeitweises und dauerndes Schielen; monokulares und alternierendes 
Schielen. 

IV. Qualitative Schielgrade: Verhalten der Richtungsgemeinschaft; Verhalten des Schiel- 
augenbildwertes; Verhalten der Fusion. 

V. Klinisches Bild der gewöhnlichen Schielformen: Strabismus convergens; Strabis- 
mus divergens. 

VI. Heterophorie; Insuffizienz der Konvergenz. 


VII. Ursache des Schielens: Der Standpunkt von Albrecht v. Gräfe, von Donders, Javal, 
Alfred Gräfe, Worth, Bielschowsky und Tschermak; Bedeutung der Erblichkeit. 


VIII. Untersuchungsmethoden des Schielens: Feststellung des Schielwinkels; Prüfung 
des Binokularsehens; Prüfung der Fusion und des Tiefensehens; Prüfung von Adduction 
und Abduction. Praktischer klinischer Untersuchungsgang. 


IX. Therapie: Allgemeines. 
Korrektion der Ametropie. 
Besserung der Schielamblyopie. 
Hebung des Fusionsvermögens. 
Schieloperationen. 
Behandlung der Heterophorie. 


I. Begriff des Schielens. 


Mit dem Worte Schielen verbindet jeder Laie einen ganz bestimmten Begriff: 
ein Auge schielt, wenn es abseits steht und nicht richtig auf den betrachteten Gegen- 
stand hinblickt. Man wird sich solcher einfacher Definition im wesentlichen anschließen 
können. Ein Auge schielt, wenn seine Einstellung bei der beidäugigen Betrachtung 
von Dingen fehlerhaft ist. Während des normalen binokularen Sehaktes schneiden 
sich beide Gesichtslinien, d h. die durch Fovea und optischen Mittelpunkt (den Knoten- 
punkt) gehenden Graden, genau in dem fixierten Punkt. Dieser wird also beiderseits 
in der Fovea abgebildet. Der Bewegungsmechanismus der Augäpfel ist so fein ein- 
gestellt, daß mit jeder Blickänderung automatisch eine passende Neueinstellung der 


Das Schielen und seine Behandlung. 285 


beiden Gesichtslinien einhergeht. Bei Betrachtung ferner Gegenstände sind sie parallel, 
bei Nahfixation in wechselndem Grade konvergent, aber stets bleibt die Anpassung 
die richtige. 

Zieht nun eine der beiden Gesichtslinien nicht direkt zu dem fixierten Objekt- 
punkte hin, sondern an diesem vorbei, so spricht man vom Schielen. Das Schielen 
kann bedingt sein: | 

1. Durch eine Lähmung der Augenmuskeln. Dieses sogenannte Lähmungs- 
schielen ist zurückzuführen auf bestimmte organische Erkrankungen des motorischen 
Apparats und muß in einem besonderen Abschnitt zusammen mit der Lehre von 
den Augenmuskellähmungen behandelt werden (Lähmungsschielen, Strabismus para- 
Iyticus). 

2. Durch einen funktionellen Einstellungsfehler, ohne daß eine Muskellähmung 
vorhanden ist. Daß in diesem Falle keine Lähmung der Grund der Abweichung 
ist, zeigt sich daran, daß die Bewegungen des Schielauges nach Zudecken des andern 
bei allen frischen Erkrankungen ungehindert sind und daß das Auge dem vor- 
gehaltenen Finger zu folgen vermag. Das schielende Auge begleitet deshalb auch 
das andere in einer festen Schielstellung (Strabismus concomitans; Begleitschielen). 
Diese Art des Schielens ist die gewöhnliche und dem Laien als „Schielen“ bekannt. 
Das konkomitierende Schielen kann sich aus anatomischen Ursachen (fehlerhafter 
Bau der Augenhöhlen und des Muskelapparates), aus physiologischen Gründen im 
Zusammenhang mit Refraktionsfehlern (falsche Konvergenzimpulse bei Kurzsichtigen 
oder Weitsichtigen) oder aus einer Dysfunktion des Nervensystems (mangelhafte Aus- 
bildung höherer Centren) herleiten. Es sind zwei wesentliche Unterschiede gegen- 
über dem Lähmungsschielen vorhanden: 

a) Der Grad der Abweichung beim konkomitierenden Schielen ist im Gegen- 
satz zum Lähmungsschielen für alle Blickrichtungen (z. B. geradeaus, rechts, links) 
in einem mittleren Blickbereich genau der gleiche. Die Exkursionen des Schielauges 
sind nicht gehindert wie bei Lähmungen; das Schielauge begleitet das andere, daher 
der Name konkomitierendes Schielen. 

b) Der primäre und der sekundäre Schielwinkel sind beim konkomitierenden 
Schielen gleich, beim Lähmungsschielen verschieden. Unter primärem Schielwinkel 
versteht man den Grad der Abweichung des gewöhnlich schielenden Auges beim 
freien Blick, unter sekundärem Schielwinkel die Abweichung des gewöhnlich nicht 
schielenden Auges, die eintritt, wenn man dieses mit der Hand bedeckt und das 
andere zur Einstellung bringt. Wenn man beim konkomitierenden Schielen einen 
Gegenstand fixieren läßt und das nichtschielende Auge verschließt, so daß das vor- 
her schielende Auge nun in Fixierstellung geht, dann zeigt sich an dem jetzt ab- 
geblendeten Auge der gleiche Schielwinkel wie vorher am andern. Bei Lähmungen 
ist dagegen der sekundäre Schielwinkel deshalb größer als der primäre, weil zur 
Fixiereinstellung des gelähmten Auges ein viel stärkerer Impuls gehört und dieser 
sich dem verdeckten Auge mitteilt. 


II. Physiologisches über Augenbewegungen und binokulares Sehen. 


Die Stellung der Augen beim beidäugigen Sehen ist außer von gewissen 
anatomischen Vorbedingungen hauptsächlich abhängig von den Bewegungen der 
Augenmuskulatur und den zugehörigen nervösen Impulsen. Zum Verständnis des 
Schielens wird es notwendig, hier zunächst einiges über die Physiologie der Augen- 
bewegungen und den binokularen Sehakt vorauszuschicken. 


286 Comberg-Meisner. 


- Charakteristik der Augenbewegungen. Man könnte die Stellungsänderung 
eines Punktes der Augapfeloberfläche bei jeder Bewegung mit Hilfe der drei Raum- 
koordinaten bestimmen. Da der Augapfel jedoch einer Kugel vergleichbar ist, die 
ihre Bewegungen in der Augenhöhle nur durch Drehungen auszuführen vermag, so 
ist es am einfachsten, jede dieser Bewegungen eben wie die Bewegung einer Kugel 
in einem Lager auf Grund der Drehung um verschiedene Achsen zu beschreiben. 
Man hat dabei am besten 3 Hauptachsen zu unterscheiden: Eine, die in frontaler 
Richtung horizontal verläuft, eine vertikale und eine sagittale Achse. Mit Hilfe der 
Kombination von Bewegungen in diesen drei Achsen läßt sich jede Bewegung des 
Augapfels darstellen. An der sichtbaren Vorderfläche des Augapfels markieren sich 
die Bewegungen um diese Achsen entweder als Hebung oder Senkung, als Links- 
oder Rechtswendung oder bei Drehung um die sagittale Achse als sogenannte 
„Rollung“, die entweder im Sinne des Uhrzeigers oder in gegenläufiger Richtung 
gehen kann. Die Achsen aller Bewegungen schneiden sich im Drehpunkt des Auges, 
der etwa 1'/,—2 mm hinter der Mitte der sagittalen Augenachse liegt. 

Die Bewegungen der Augäpfel unterliegen den Gesetzen einer Koordi- 
nation. Es kann nicht ein Augapfel in eine bestimmte Richtung bewegt werden, 
ohne daß der zweite Augapfel eine zugehörige, für die Einstellung zum beidäugigen 
Sehen passende Mitbewegung macht. Die Gesetze, nach denen diese Bewegungen 
verlaufen, sind ziemlich genau bekannt; man unterscheidet: die einfach koordinierten 
und die symmetrisch koordinierten Bewegungen. 

Einfach koordinierte Bewegungen der Augen sind solche, bei denen der 
Abstand des Blickpunktes unverändert bleibt, z. B. solche, bei denen die Augen das 
Gesichtsfeld in der Ferne absuchen. In diesem Falle nehmen beide Augen in jedem 
Punkt ihrer Bahn stets die gleiche Stellung ein, u.zw. eine solche, als wäre diese 
nach dem Listingschen Gesetz aus der Primärstellung heraus zu stande gekommen. 
Dabei ist Bewegungsrichtung, Bewegungsgrad und eventuelle Drehung für jeden 
Augapfel gleich. Waren die Augenachsen parallel, so bleiben sie es auch, hatten sie 
eine bestimmte Konvergenz, so wird diese nicht geändert, kommt eine Drehung 
zu stande, so erfolgt sie beiderseits in gleichem Sinne; beide Netzhäute bleiben 
gleich orientiert. 

Anders verhält es sich bei den symmetrisch koordinierten Bewegungen; 
das sind solche, die mit einer Änderung der Konvergenz der Gesichtslinien einher- 
gehen. Hierbei wird die Gesichtslinie jedes Auges in annähernd symmetrischer Weise 
zu der Gesichtslinie des mitten zwischen beiden zu denkenden Cyklopenauges derart 
verschoben, daß sie mit dieser mehr oder weniger konvergieren. Dabei treten häufig 
symmetrische Rollungen der Augäpfel hinzu, derart, daß die anatomischen Vertikal- 
meridiane der Netzhäute dann nicht mehr parallel stehen: 

Bedeutung der Augenbewegungen für das binokulare Sehen. Der 
physiologische Reiz, der bei den einfach koordinierten Bewegungen die Augäpfel 
leitet, ist also ein anderer als der der symmetrischen Impulse. Jedoch sind 
beide Arten der Bewegung unerläßlich zur korrekten binokularen Orientierung 
im Raum. Während für die fernen Gegenstände das Einhalten der Augenstellung 
mit parallelen Achsen genügt, um die beiderseitige genaue Abbildung der fixierten 
Punkte auf der Stelle des schärfsten Sehens zu gewährleisten, muß bei näherer, 
wechselnder Entfernung mit dem genauen Hinblicken von Punkt zu Punkt auch ein 
wechselnder Konvergenzgrad verbunden werden, d. h. die Augenachsen müssen in 
wechselndem Grade wohl reguliert zueinander hingeneigt werden. Der Zweck dieser 
mit großer Genauigkeit betätigten Stellungsregulation ist die Erlangung größter Fein- 


Das Schielen und seine Behandlung. 287 


heit beim binokularen Sehen und die Vermeidung von störenden Doppelbildern. Denn 
wenn stets beide Maculae auch beim schnellen Umherblicken im Raum das Bild der 
fixierten Objektpunkte erhalten und identische oder nahezu identische, d. h. gleich 
weit und gleichsinnig von den Maculae auf der Netzhaut orientierte Punkte das Bild 
der im gleichen Horopterkreise liegenden Außendinge empfangen, dann vermag die 
Psyche auf Grund dieser gleichsinnigen Netzhautorientierung ein einheitliches Bild 
aufzunehmen (einfaches binokulares Sehen), das meistens auch noch mit großer 
Genauigkeit bezüglich der.Tiefe ausgedeutet werden kann (binokulares Tiefensehen). 

Die Leichtigkeit, mit der die genaue Einstellung unterhalten wird, ist anderer- 
seits wieder abhängig von der Güte des beidäugigen Sehens. Je besser das 
beidäugige Sehen ist, je müheloser und je präziser der damit verbundene psychische 
Akt abläuft, um so genauer fallen auch in jedem Augenblick die automatischen 
Impulse aus, die zur Korrektion der dazugehörigen Augenbewegungen dienen. Ähn- 
lich wie die gute Funktion der sensiblen Bahnen zum sicheren Gehen und Greifen 
nötig ist und man z. B. beim Tabiker die hier allerdings in der Zuleitung liegende 
Störung des sensiblen Reizempfanges sofort an der Unsicherheit des Ganges und 
der Hantierungen untrüglich erkennen kann, so spiegelt sich auch die Ungenauig- 
keit in der psychischen Aufnahme der binokularen Netzhautbilder sofort in einer 
Unsicherheit und Ungenauigkeit der zugehörigen binokularen Augeneinstellung 
wider. In der Erkenntnis dieses Umstandes liegt eins der wichtigsten Momente 
zum Verständnis des konkomitierenden Schielens. 

Abstufung des binokularen Sehens. Die Leistung des binokularen Sehens 
läßt sich in verschiedene Grade einteilen, u. zw. kann man sie danach ab- 
stufen, inwieweit die Augen befähigt sind, die auf identische und benachbarte 
Punkte der beiden Netzhäute fallenden Bilder zu einem psychischen Gesamtbild 
umzuarbeiten. Besteht ein völliger Mangel dieser Fähigkeit, so ist häufig geradezu 
eine Abwehrtendenz der Psyche vorhanden, die sich gegen die gleichzeitige Auf- 
nahme der Bilder beider Augen richtet; da das eine dieser Bilder wegen der Ver- 
schiedenheiten der Details nur stören würde, so wird es meist im Bewußtsein unter- 
drückt. Besteht aber die gut ausgebildete Fähigkeit zur Vereinigung auch solcher 
Bilder, die sich zwar ähnlich sind, aber relativ geringe Verschiedenheiten zeigen, die 
durch den verschiedenen Standpunkt beider Augen zu dem gesehenen Gegenstand 
bedingt sind, dann kommt es zu einer höheren Ausbildung des binokularen Sehaktes, 
d. h. es werden dann mit Hilfe dieser Bildverschiedenheiten die Tiefenunterschiede 
erkannt, und es entsteht die Fähigkeit zum stereoskopischen Sehen. Die Psyche hat 
es gelernt, aus dem Grade der Verschiedenheit ein Urteil über die Stellung der Dinge 
im Raume abzuleiten und die Tiefe plastisch zu empfinden. Natürlich muß zu dieser 
höchsten Leistung auch die muskuläre Einstellung besonders genau geregelt sein. 

Man kann bezüglich der Verhältnisse, die bei der Verarbeitung beider Netzhaut- 
bilder gültig sind, folgende Einteilung vornehmen: 

1. Die Fähigkeit zum binokularen Sehakt ist überhaupt nicht vorhanden. Als- 
dann finden sich stets Einstellungsfehler eines Auges, und beim beidäugigen Hin- 
blicken wird zur Vermeidung von Doppelbildern die Wahrnehmung der mit einem 
Auge gesehenen Dinge mehr oder weniger psychisch gehemmt oder, wie man 
sagt, „unterdrückt“. 

2. Es besteht die Fähigkeit zum einfachen Binokularsehen, aber Unfähigkeit, 
die bei dem natürlichen Sehen vorkommenden Abweichungen von der identischen 
Lage auf der Netzhaut beider Augen genügend zu verarbeiten, es fehlt also das 
binokulare Tiefensehen. Auch hierbei ist die binokulare Einstellung häufig mangelhaft. 


288 Comberg-Meisner. 


3. Es besteht binokulares Sehen mit lebhafter Tendenz, durch angepaßte Be- 
wegungen die nötige Stellung der Augenachsen automatisch zu korrigieren und das 
Bild beider Augen zu einem einheitlichen zu verschmelzen (Fusionstendenz). Man hat 
hier zwei weitere Grade zu unterscheiden: 

a) Das Tiefensehen ist nicht richtig entwickelt oder es wird wegen häufiger 
Unterdrückung des Bildes einer Netzhaut nicht ausgenutzt. 

b) Es besteht fein entwickeltes Tiefensehen; bei dem höchsten Grade dieses 
Tiefensehens sind beide Augen ganz oder nahezu gleichwertig. 

Eine feste Klassifikation dieser für das Verständnis des Schielens wichtigen 
Stufen des binokularen Sehens wird deshalb schwierig, weil selbst bei gut ausge- 
bildetem und unter günstigen Bedingungen vorzüglichem Tiefensehen eine gewisse 
Tendenz bestehen. kann, das Bild eines Auges gelegentlich zu unterdrücken. Der 
Normale hat diese Tendenz nur, wenn beide Augen ganz verschiedene Bilder sehen, 
wie z.B. beim Mikroskopieren. Bei Minderwertigkeit des binokularen Sehaktes tritt 
diese „Exklusion“ indes auch auf, wenn beide Augen gleiche oder nahezu gleiche 
Bilder erhalten; sie dient zunächst dazu, bei fehlerhafter Stellung die Wahrnehmung 
von Doppelbildern zu verhindern. Die Unterdrückung des Bildes an einem Auge ist 
daher als eine Art psychischer Fähigkeit zu betrachten, die, einmal erlernt, nicht so 
leicht wieder verlernt werden kann. Leider spielt diese „Kunst“ bei den Schielenden 
eine große Rolle, und alle Bemühungen unserer Therapie können daran scheitern, 
daß es nicht gelingt, eine Verstärkung der Tendenz zu gleichzeitiger psychischer 
Ausdeutung der beidäugigen Eindrücke zu erwecken, die bei jedem Normalsehenden 
ohne weiteres vorhanden ist und spielend betätigt wird. 


III. Übersicht über die verschiedenen Schielformen. 


Man muß sich vorstellen, daß die vorher charakterisierte Fähigkeit der Augen 
zur Einstellung für den binokularen Sehakt häufig aus einer Reihe von später zu 
erörternden Gründen nicht erlernt, mangelhaft ausgebildet oder sogar wieder ver- 
lernt wird, und daß die physiologischen Kräfte, welche die Augenachsen sonst 
einrichten, alsdann nicht mehr genügend wirksam werden. In diesem Falle kommt 
es nur noch zur richtigen Einstellung eines, u. zw. gewöhnlich des Auges, welches die 
besseren Sehbedingungen hat, während das andere zugleich mit der richtigen 
Einstellung auch die feine Kontrolle durch den nervösen Apparat verliert und sich 
aus diesem Grunde in auffallender Weise der Wirkung der richtenden Kräfte ent- 
zieht. Die Einstellung des Auges wird falsch, das Auge schielt. Im folgenden soll 
zunächst eine kurze Übersicht über die verschiedenen Formen des Schielens gegeben 
werden. 

Einwärts- und Auswärtsschielen. Die häufigste Art des Schielens ist durch 
eine Abweichung des Auges in der Horizontalebene gekennzeichnet. Man spricht 
von Konvergenzschielen (Strabismus convergens), wenn die Blicklinien schon 
für die Ferne gekreuzt sind und bei Betrachtung näher gelegener Gegenstände stets 
eine stärkere Einwärtswendung aufweisen, als notwendig ist. Die Gesichtslinie des 
Schielauges zieht nasenwärts an der Richtung zum Objekt vorüber. Diesem Einwärts- 
schielen entgegengesetzt ist das Auswärts- oder Divergenzschielen (Strabis- 
mus divergens). Während beim Einwärtsschielen die Verschiebung der Gesichts- 
linie des schielenden Auges in derselben Richtung erfolgt wie beim natürlichen 
Sehen unter der Konvergenz und man diese Schielform somit auch durch eine über- 
mäßige Einmischung eines physiologischen Vorganges, nämlich des Konvergierens, 


Das Schielen und seine Behandlung. 289 


erklären könnte, findet sich die beim Divergenzschielen vorhandene Einstellung der 
beiden Blicklinien, wenigstens soweit sie sich beim Blick in die Ferne zeigt, während 
des physiologischen Sehens niemals. Die Gesichtslinie des schielenden Auges zieht 
nach temporalwärts von der fixierten Stelle des Objektes vorbei, und die Blicklinien 
schneiden sich hinter dem Auge des Schielenden. 

Der quantitative Grad des Schielens zeigt sich an der Größe des Schielwinkels, 
d. h. des Winkels, welchen die Gesichtslinie des Schielauges beim Blick in die Ferne 
mit der normalen Fixierlinie einschließt. Da beim konkomitierenden Schielen, wie 
vorher erwähnt, das Schielauge das normale Auge in allen Stellungen mit annähernd 
gleichem Schielwinkel begleitet, so resultiert daraus, daß das schielende Auge beim 
Konvergenzschielen in der entsprechenden seitlichen Blickrichtung eine vermehrte 
Adduction, beim Strabismus divergens eine vermehrte Abduction zeigt. Der Grad 
dieser Adductions- und Abductionsvermehrung richtet sich nicht nur nach dem 
Schielwinkel, sondern ist, auch aus anatomischen Gründen, individuell verschieden. 
Bei länger bestehendem Schielen tritt auch öfter ein Mangel an Beweglichkeit beim 
Blick in der entgegengesetzten Richtung auf, d.h. auch bei monokularer Prüfung 
folgt das Auge dem vorgehaltenen Finger nicht bis in die normale Endstellung 
(verminderte Abduction beim Konvergenzschielen, verminderte Adduction beim 
Divergenzschielen). Diese Beweglichkeitsverminderung wird durch Mangel an Übung 
erklärt. 

Höhenschielen. Es gibt auch Schielformen mit mehr oder weniger starker 
Höhenabweichung; indes ist Höhenschielen ohne Seitenabweichung höchst selten. 
Meist handelt es sich nur um eine Höhenablenkung, die mit einem Konvergenz- 
und Divergenzschielen verknüpft ist. 

Die Erscheinungen, die man bei diesem Höhenschielen beobachtet, sind zum 
Teil recht komplizierte. Nicht alle Fälle zeigen nämlich bezüglich der Höhenkomponente 
das anfangs erwähnte Merkmal des konkomitierenden Schielens, daß nach Verdecken 
des gewöhnlich fixierenden Auges mit der Einstellung des Schielauges das andere 
denselben Schielwinkel zeigt. Es müßte bei der Höhenablenkung, wenn vorher eine 
Abweichung des Schielauges nach oben bestand, nunmehr das andere Auge um 
denselben Betrag nach unten abweichen. Das tut es aber nur in einem Teil der 
Fälle. Man hat vielmehr den Eindruck, als ob die Höhenabweichung eines Auges 
häufig durch einen isolierten reflektorischen Impuls veranlaßt sei, und spricht in 
solchen Fällen von nicht konkomitierenden dissoziierten Vertikalablenkungen (Biel- 
schowsky). 

Latentes Schielen. Den manifesten Schielformen sind die latenten gegenüber- 
zustellen. Beim latenten Schielen (der sogenannten „Heterophorie“) besteht 
nur eine gewisse Neigung zur falschen Einstellung des Auges; beim gewöhnlichen 
binokularen Sehen kommt es aber nicht zum Schielen, weil eine starke physiolo- 
gische Tendenz vorhanden ist, diese Neigung zu überwinden, nämlich eben die 
schon vorher gekennzeichnete, für das gute binokulare Sehen so förderliche Fusions- 
tendenz. Auch die Heterophorie läßt sich meist als latentes Einwärts- und Aus- 
wärtsschielen charakterisieren. Manchmal kann sich aus dem latenten Schielen 
später ein manifestes Schielen entwickeln. Meist besteht nur eine erschwerte 
Einstellung für bestimmte Blickrichtungen und bei bestimmter Entfernung des Ob- 
jektes. Das letztere zeigt sich als Insuffizienz der Konvergenz, falls für entfernte 
Objekte die Augenstellung zwanglos richtig ist, dagegen auf dynamischem Wege 
ein Widerstand überwunden werden muß, wenn die Augenachsen bei Betrachtung 
naher Objekte stärker konvergent gemacht werden sollen. 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 19 


290 Comberg-Meisner. 


Die latenten Schielformen treten äußerlich gewöhnlich nicht in Erscheinung; 
man sieht es den daran Leidenden ohne nähere Untersuchung nicht an, daß ein 
Fehler vorliegt. Trotzdem kann das latente Schielen sehr unangenehm sein, da die 
Neigung zu falscher Einstellung dauernd durch eine entgegenwirkende Muskel- 
anspannung wettgemacht werden muß und da der hierzu nötige Mehraufwand an 
Innervation häufig als starke Anstrengung empfunden wird. | 

Scheinbares Schielen. Schielen kann dadurch vorgetäuscht werden, daß die 
Stelle des schärfsten Sehens weiter als gewöhnlich von der geometrischen Achse des 
Auges entfernt liegt. Dann entsteht zwischen Gesichtslinie und Augenachse ein meß- 
barer Winkel (Winkel Gamma). Obzwar sich Augenachse und Gesichtslinie niemals 
völlig decken, ist dieser Winkel für gewöhnlich so klein, daß das Auge schein- 
bar stets mit der optischen Achse annähernd auf die fixierten Gegenstände gerichtet 
ist. Liegt die Fovea exzentrischer, dann geht die Gesichtslinie an der Pupillenmitte 
vorbei und der vordere Pol des Augapfels weicht deutlich nach auswärts oder ein- 
wärts ab. Hierdurch wird fälschlich der Eindruck des Schielens hervorgerufen. 

Liegt die Macula zu weit nasal, dann sieht das Auge scheinbar nach auswärts, 
und man spricht von positivem Winkel Gamma; im entgegengesetzten Falle nennt 
man den Winkel negativ. Geringe Positivität des Winkels Gamma ist so häufig, daß 
das entsprechende geringfügige scheinbare Divergenzschielen auch vom Laien meist 
nicht als Schielen angesehen wird. Die Augen scheinen etwas verträumt in die Ferne zu 
schauen, und der Fixierpunkt scheint stets etwas weiter zu liegen, als er in Wirklich- 
keit ist. Während der positive Winkel Gamma meist keinen Schönheitsfehler bedeutet, 
vielmehr oft einen interessanten Blick verleiht, macht das scheinbare Einwärtsschielen 
einen auffallend unangenehmen Eindruck. Es ist viel seltener als das scheinbare Aus- 
wärtsschielen. Ob ein Auge nur scheinbar schielt, läßt sich sehr leicht feststellen, 
wenn man während des Fixierens das andere zudeckt; macht das scheinbar abge- 
wichene alsdann keine Einstellung und besteht keine Schwachsichtigkeit, dann handelt 
es sich nur um scheinbares Schielen. 

Verschiedene Arten des Schielens. Nach der Art des Auftretens und der 
Verteilung des Schielens auf beide Augen unterscheidet man verschiedene Formen, 
u. ZW.: 

1. Gelegenheitsschielen; 


2. periodisches Schielen; 

3. dauerndes Schielen. 

Bezüglich der Beteiligung der einzelnen Augen unterscheidet man: 
1. Monokulares Schielen; 

2. alternierendes Schielen. 


Die erste hier genannte Form des Schielens, das Gelegenheitsschielen, 
braucht nur sehr selten bemerkbar zu werden. Es kommt zu stande aus den ver- 
schiedensten Ursachen. Manchmal ist eine mangelhafte Einstellungslage der Augen, 
d. h. also latentes Schielen, die Ursache. Bei irgend einer Gelegenheit kann jeder, 
der eine Heterophorie besitzt, für einen kurzen Augenblick eine mangelhafte Ein- 
stellung zeigen. Bei den meisten dieser Menschen ist das aber nur der Fall, wenn 
ein Auge zufällig vorher vom Sehen ausgeschlossen wurde, oder bei abnormer An- 
spannung der Konvergenz etc. Auch bei nahezu normaler Ruhelage können Gelegen- 
heitsursachen ein Schielen hervorrufen, wenn der binokulare Sehakt nicht gut aus- 
gebildet oder noch nicht eingeübt ist. Mangelhafte Einübung des binokularen Sehaktes 
ist vor allen Dingen bei den Säuglingen vorhanden, bei denen jeder, der sie beob- 


Das Schielen und seine Behandlung. 291 


achtet, ab und zu eine Schielstellung wahrnehmen kann, ohne daß ein dauerndes 
Schielen daraus resultiert. Ungenügend ist der binokulare Sehakt dauernd, wenn eine 
Exklusionstendenz für ein Auge besteht, oder wenn optische Hindernisse vorliegen 
(Hornhauttrübungen, Star, fehlerhafte Refraktion), oder wenn aus andern Gründen 
Schwachsichtigkeit auf einem Auge besteht. Bei all diesen Menschen kann, auch wenn 
sie nicht dauernd schielen, hin und wieder eine Schieleinstellung sichtbar werden, da 
hier die gute reflektorische Kontrolle für den motorischen Apparat nicht vorhanden 
ist. Unmittelbarer Anlaß zum zeitweisen Auftreten des Schielens ist das Vorhandensein 
abnormer Reize im Nervensystem, wie es bei starker körperlicher Ermüdung, während 
starker Erregungen etc. vorkommt. Wenn eine latente Abweichung besteht, so kann auch 
im Anschluß an stärkere Ermüdung, z. B. beim Lesen nach vorhergehender anstren- 
gender Tagesarbeit oder beim Lesen kleiner Druckschrift unter schlechter Beleuchtung, 
das Schielen zeitweise manifest werden. 

Das echte periodische Schielen kann eine Abart des hier gekennzeichneten 
Gelegenheitsschielens sein, wenn abnorme Reize periodisch auftreten. Manchmal findet 
sich auch ein periodisch zur Erscheinung gelangendes Schielen als Vorläufer des 
dauernden Schielens. 

Das dauernde Schielen entsteht aus den ersten beiden hier genannten Formen, 
wenn die Schielursache in verstärktem Maße oder andauernd weiter wirkt, u. zw. 
namentlich bei jugendlichen Individuen und bei ungünstiger Art des Augengebrauchs. 
Bevorzugt für die Erkrankung am konkomitierenden Schielen sind solche Menschen, 
bei denen die Beanspruchung der Konvergenz während des gewöhnlichen Sehens 
eine zu starke oder eine zu geringe ist, wie das namentlich bei Refraktionsfehlern 
vorkommt. Der Übersichtige muß zum scharfen Sehen auf alle Dinge stärker ak- 
kommodieren als der Normale, und da mit der Akkommodation die Konvergenz 
physiologisch zusammengekuppelt ist, so wird mit den Akkommodationsimpulsen 
stets automatisch ein stärkerer Konvergenzimpuls einhergehen, als nötig wäre. Es 
entsteht eine dynamische latente Konvergenz, die erst durch einen weiteren Muskel- 
impuls paralysiert werden muß. Zur Einhaltung des richtigen Konvergenzgrades hat 
also der Übersichtige erst eine besondere Anstrengung aufzubringen. Geht die An- 
strengung über einen gewissen Grad hinaus, oder ist das Mißverhältnis zwischen 
der natürlichen und der nötigen Konvergenzeinstellung zu groß, so tritt schließlich 
Ermüdung ein, und das Einhalten des richtigen Konvergenzgrades wird nicht möglich. 
Das Auge folgt dann dem mit der Akkommodation verbundenen starken primären 
Konvergenzimpuls und geht in konvergente Schielstellung über. Umgekehrt ist es 
bei der Kurzsichtigkeit; bei dieser wird die Akkommodation weniger und manchmal 
gar nicht gebraucht, wenn der Fernpunkt so nahe liegt wie die fixierten Gegen- 
stände. Die natürliche Einstellung ist hier die einer relativen Divergenz und auch aus 
dieser primären Einstellung muß derrichtige Konvergenzgrad erst dynamisch erzwungen 
werden. Auch hier tritt schließlich Ermüdung ein oder bei stärkerem Mißverhältnis 
zwischen natürlicher und zum binokularen Fixieren gebrauchter Einstellung ist 
die Aufrechterhaltung der nötigen Konvergenz schließlich nicht mehr möglich. Es 
entsteht zunächst Divergenzschielen beim Blick in die Nähe; dieses wird häufig 
später dauernd und bleibt auch beim Blick in die Ferne. 

Sowohl beim latenten Konvergenz- wie beim latenten Divergenzschielen kommen 
häufig akzidentelle Ursachen vor, die dann daraus schließlich ein manifestes Schielen 
entstehen lassen; solche sind vorübergehende Lähmungen mit zurückbleibenden 
Schwächezuständen, das Auftreten von Hornhautflecken im Anschluß an Erkran- 
kungen des Auges, Störung der scharfen Abbildung aus anderen Ursachen, wie das 

19* 


292 Comberg-Meisner. 


Auftreten von grauem Star, Glaskörpertrübungen us e Auch das Auftreten ein- 
seitiger Kurzsichtigkeit, das Vorhandensein von Astigmatismus kann das Schielen 
begünstigen. Schließlich gibt es auch dauernd wirkende Störungen für die Zusammen- 
arbeit beider Augen noch anderer Art, z. B. die verschiedene Bildgröße auf den Netz- 
häuten nach der Staroperation eines Auges oder nach der Korrektion einseitiger starker 
Kurzsichtigkeit. 

Das Schielen tritt weniger leicht auf, wenn vorher schon ein sehr guter bin- 
okularer Sehakt bestand und die Augen auf Fusion gut eingeübt waren; es kann 
aber die Neigung zum Schielen auch in kurzer Zeit sich fest einnisten, wenn das 
gute binokulare Sehen noch nicht ausgebildet war, wie z. B. beim kleinem Kind- 

Monokulares Schielen. Bei. diesem schielt immer dasselbe Auge. Deckt man 
das nichtschielende Auge zu, so geht das vorher schielende in die Fixierstellung 
über, falls es noch eine genügende Sehschärfe hat. Gibt man das gute Auge jetzt 
wieder frei, so übernimmt dieses aber sofort aufs neue die Fixation und das Schielen 
zeigt sich wieder am anderem Auge. 

Alternierendes Schielen. Weniger häufig als das einäugige Schielen ist das 
abwechselnde beider Augen. Der Patient schielt zeitweise mit dem einen, zeitweise 
mit dem anderen Auge. Es ist das daran zu erkennen, daß entweder spontan oder 
jederzeit nach Zudecken des zunächst nichtschielenden Auges das andere dauernd die 
Fixation übernimmt und auch beibehält, wenn man das zuerst nichtschielende wieder 
freigibt. Indes ist auch bei dieser Art des Schielens meist ein Auge bevorzugt. Es 
schielt das Auge häufiger, welches die schlechteren optischen Bedingungen hat. Oft 
entwickelt sich auch aus dem alternierenden Schielen schließlich noch ein 
einseitiges Schielen, indem das anfangs nur in geringem Maße bevorzugte Auge 
schließlich allein fixiert und das andere dauernd schielt. Das sieht man vor allen 
Dingen häufiger bei zunehmender Kurzsichtigkeit, wo das schielende Auge schließ- 
lich auch bedeutend schwachsichtiger wird. 

Es gibt aber auch ein besonderes Bild des alternierenden Schielens bei fast 
normaler oder gänzlich normaler Refraktion beider Augen. Das Schielen tritt als- 
dann in den ersten Lebensjahren auf, bleibt das ganze Leben hindurch bestehen 
und trotzt jeglicher Therapie. Beide Augen haben volle Sehschärfe, aber eine richtige 
Zusammenarbeit beider Augen (Fusion) läßt sich durch kein Mittel erzielen. Weil 
diese Art des Schielens meist sehr früh entsteht, weil trotz guter Selhschärfe beider 
Augen der binokulare Sehakt durch nichts therapeutisch beeinflußt werden kann, 
hat man angenommen, daß bei diesen Patienten ein angeborener Mangel des Fusions- 
vermögens besteht. 


IV. Die qualitativen Schielgrade. 


Man kann sich die verschiedenen Schielfälle in mehrfacher Beziehung qualitativ 
als abgestuft vorstellen. Diese Abstufungen betreifen: 


1. das Verhalten des Schielaugenbildwertes; 
2. das Verhalten der Richtungsgemeinschaft; 
3. das Verhalten des Fusionsvermögens. 


1. Das Verhalten des Schielaugenbildwertes. 


Der Wert des Netzhautbildes für den psychischen Sehakt kann wechseln, meist 
geht eine Änderung des Bildwertes mit der Ausbildung der anomalen Sehrichtungs- 





Das Schielen und seine Behandlung. 293 


gemeinschaft Hand in Hand. Es ist lange Zeit darüber gestritten worden, ob eine 
mangelhafte Anlage der zum binokularen Sehen dienenden Bahnen und Centren das 
Schielen verursache, oder ob man anzunehmen habe, daß diese bei jedem Menschen 
zunächst in annähernd normaler Weise vorhanden sind und erst durch das Sehen 
in der Schielstellung eine mangelhafte Entwickung erfahren bzw. verkümmern. 


Bei normalen Augen entspricht für gewöhnlich das Aufmerksamkeitscentrum 
jederseits dem fovealen Gebiet. Beim Auftreten des Schielens würden zunächst 
äußerst störende Doppelbilder zustande kommen, da sich die Bilder der Foveae nicht 
mehr decken. Das Sehorgan kann sich nur helfen durch: 


a) Unterdrückung der Aufmerksamkeit für die Wahrnehmungen eines Auges. 
Hiervon wird fast stets das optisch schlechtere Auge betroffen; der Schielende 
erlernt die Exklusion des zugehörigen Bildes. Bei nicht voll ausgebildeter Exklusion 
wird das Bild nur dunkler gesehen, ist aber infolgedessen schon weniger störend, 
so daß Doppelbilder für gewöhnlich nicht mehr empfunden werden; bei stärkeren 
Graden der Exklusion ist die Wahrnehmung des Bildes gänzlich unterdrückt. (Auch 
bei normalen Augen kann man bekanntlich das Bild des einen Auges nach einiger 
Übung leicht unterdrücken, wenn es dem andern gar nicht ähnlich ist, wie das 
z. B. beim Mikroskopieren oder beim Augenspiegeln vorkommt. Hier lernt jeder, 
auch der Ungeschickteste, sehr bald vom Bilde des nicht gebrauchten Auges gänzlich 
zu abstrahieren.) Die Erlernung der Exklusion ist anscheinend aber eine Fähigkeit, 
die nicht alle Schieler gleich leicht zu stande bringen. Wenn es sich um zwei gleich 
gute oder zwei nahezu gleich gute Netzhautbilder handelt und besonders wenn die 
Bilder nicht allzuweit voneinander liegen, würden doch störende Doppelbilder auf- 
treten können; deshalb kommt es 


b) im Laufe des Schielens häufig zu einer Abstandsvergrößerung der beiden 
Doppelbilder, indem der Schielwinkel zunimmt. Dadurch wird das Bild des vom 
führenden Auge fixierten Gegenstandes im schielenden Auge weiter von dem Kern- 
punkt der Aufmerksamkeit (d. h. dem Fixierpunkt des richtig eingestellten Auges) 
fortgerückt. Mit der Macula des nichtschielenden Auges kommt alsdann eine 
periphere Netzhautstelle des Schielauges zur Deckung; je peripherer sie ist, um so 
weniger mengt sie sich beim Sehen durch Wettstreit ein. Durch die Zunahme des 
Schielwinkels, die augenscheinlich muskulären Impulsen zuzuschreiben ist, wird 
also insofern indirekt eine qualitative Änderung des Bildwertes für das Schielauge 
herbeigeführt. 


Mit der muskulären Anspannung zugleich kann unter Umständen beim 
Schielen eine krampfartige Betätigung der Augenmuskeln entstehen — vielleicht 
ist das die Ursache des Nystagmus, den man bei Schielenden öfter wahrnehmen 
kann. Man müßte sich dann vorstellen, daß hier eine Tendenz zur Vereinigung 
der Bilder und gleichzeitig eine weitere Tendenz besteht, welche bestrebt ist, 
durch Abstandvergrößerung das minderwertigere Netzhautbild weiter von dem 
Bilde des richtig eingestellten Auges fortzuverlagern, und daß zwischen diesen 
beiden Tendenzen eine Art Wettstreit besteht, der das Augenzittern herbeiführt. 


c) Bei längerer Dauer des Schielens wird nicht nur die Aufmerksamkeit für 
das Bild des Schielauges überhaupt unterdrückt, sondern es geht auch häufig die 
Fähigkeit verloren, mit dem Schielauge selbst nach Zudecken des besseren Auges 
kleinere Details zu sehen. Es leidet also die Sehschärfe des Auges, auch wenn der 
optische Apparat unterdessen nicht schlechter geworden ist. Auf diese Weise kommt 
es zur Ausbildung der Schielamblyopie. 


294 Comberg-Meisner. 


2. Das Verhalten der Sehrichtungsgemeinschaft. 


Bei völlig normalen Augen besteht eine Sehrichtungsgemeinschaft zwischen 
den sog. identischen Netzhautpunkten. Solche identischen Punkte sind z. B. die 
Foveae centrales und alle gleich weit und gleich gerichtet von ihnen entfernt auf der 
Netzhaut liegenden Punkte. Die Richtung, in der ein Reiz lokalisiert wird, ist für 
alle identischen Punkte an beiden Augen dieselbe. Die Lokalisation am Schielauge 
zeigt aber sehr häufig ein abweichendes Verhalten; es bildet sich unter dem Einfluß 
der Schielstellung eine neue Lokalisation aus, d.h. es kommt zu einer Verlagerung 
der Raumwerte. Das Verhalten der Richtungsgemeinschaft bei den Schielenden läßt 
sich in mehreren Abstufungen darstellen; man kann dann folgende Grade unter- 
scheiden: 

a) Schielen mit normaler Lokalisation; 

b) Schielen mit anomaler Lokalisation, die dem Schielwinkel entspricht; 


c) Schielen mit anomaler Lokalisation, die dem Schielwinkel nicht mehr ent- 
spricht, bei Erhaltensein monokularer Centralfixation; 


d) Verlust der monokularen centralen Fixation am Schielauge und weitestgehende 
Umänderung der Richtungsgemeinschaft. 


Durch Versuche hat man ziemlich gut Einblick gewonnen (Tschermak, 
Bielschowsky u. a.) in welchem Grade die ursprüngliche normale Richtungs- 
gemeinschaft der Augen bei Schielenden noch vorhanden ist resp. wie weit sie sich 
verändert hat. Man hat gefunden, daß auch bei weitestgehender Änderung fast 
immer noch mit bestimmten Methoden eine Andeutung der normalen Lokalisation 
nachzuweisen ist. Bei allen hierher gehörigen Versuchen gilt aber die Tatsache, 
daß die Resultate immer nur für die Bedingungen des betreffenden Versuchs gültig 
sind und sich stark ändern können, wenn man andere Bedingungen wählt. 

Zur klinischen Prüfung des Verhaltens der Richtungsgemeinschaft eignet sich 
am besten die Nachbildmethode von Hering. Man läßt einen Glühfaden mit in 
der Mitte gelegenem Fixierpunkt monokular erst vom normalen Auge so fixieren, 
daß er als vertikaler leuchtender Strich erscheint, alsdann vom Schielauge bei 
horizontaler Darbietung. (Es ist wichtig, daß die hier angegebene Reihenfolge ein- 
gehalten wird.) Die Lokalisation der im Anschluß entstehenden Nachbilder erfolgt 
in einer für die vorhandene Richtungsgemeinschaft der Augen charakteristischen 
Weise. Werden die Nachbilder normal lokalisiert, dann muß vertikaler und horizon- 
taler Strich zusammen im Nachbild als Kreuz mit gleich langen Schenkeln erscheinen. 
Wird aber auf einem Auge anomal lokalisiert (wodurch auch eine Anomalie der 
Richtungsgemeinschaft angezeigt wird), dann steht das horizontale Nachbild seitlich 
zu dem vertikalen Nachbild des Fadens verschoben. Man kann nun hierbei die schon 
oben aufgezählten Grade unterscheiden, u. zw.: 

a) Unter den Bedingungen dieses Versuchs zeigt sich normale Lokalisation 
der Nachbilder; es erscheint ein Kreuz. Es ist möglich, daß trotz dieses Resultats 
beim Sehen unter den gewöhnlichen Verhältnissen schon eine anomale Lokalisation 
mitspielt, aber die normale Korrespondenz ist dann doch meist, wenn auch latent, 
in deutlicher Weise erhalten, und der Schluß ist erlaubt, daß nach operativem Ausgleich 
der falschen Augenstellung die Wiederherstellung der normalen Sehrichtungsgemein- 
schaft ziemlich leicht von statten gehen wird. 

b) Das Auge zeigt anomale Lokalisation, d. h. der an den einzelnen Augen 
vorher in der Maculagegend abgebildete vertikale und horizontale Glühfaden 
werden im binokularen Nachbilde nicht zu einem Kreuz vereinigt, sondern das 





Das Schielen und seine Behandlung. 295 


Bild des Schielauges, d. h. der horizontale Faden, wird seitlich von dem vertikalen 
lokalisiert, u. zw. entspricht der Grad der Lokalisationsabweichung genau dem 
Grade des Schielwinkels. Es wird damit dargetan, daß sich eine neue Beziehung 
zwischen den Netzhäuten ausgebildet hat, wobei von dem Schielauge die Dinge so 
lokalisiert werden, wie es dem Grade der Abweichung entspricht (es besteht 
Harmonie der motorischen und sensorischen Anomalie [Tschermakl)). 

c) Es besteht ebenfalls anomale Lokalisation, doch entspricht diese nicht mehr 
dem Grade des bei der Untersuchung meßbaren Schielwinkels (Diskrepanz der 
motorischen und sensorischen Anomalie [Tschermak]). Dies Verhalten ist wohl so 
zu erklären, daß vorher einmal längere Zeit hindurch ein anderer Schielwinkel 
bestanden hat, und daß sich unter dem Einfluß dieses Schielwinkels eine neue 
Richtungsgemeinschaft ausbildete, daB aber später der Schielwinkel sich weiter 
änderte und mittlerweile das Bild des Schielauges aus irgend welchen Gründen so 
minderwertig geworden war, daß nur für die vorhergehende Schielablenkung eine 
feste, auch jetzt noch bestehende neue lokalisatorische Beziehung zur Ausbildung 
gekommen ist. Das kann entweder dadurch verursacht sein, daß der Schielwinkel 
zu groß wurde, so daß das Bild des Schielauges mit seinem macularen Teil zu 
weit seitlich im Sehfelde und damit zu weit vom Centrum der Aufmerk- 
samkeit entfernt lag, oder daß die Amblyopie des Schielauges, resp. die Fähigkeit, 
dessen Bild zu unterdrücken, unterdessen so zugenommen hat, daß die Ausbildung 
neuer lokalisatorischer Zusammenhänge aus diesem Grunde unterblieb. 

d) Die weitestgehende Umänderung der Richtungsgemeinschaft findet sich 
zusammen mit hoher Schwachsichtigkeit des Auges; die Schielamblyopie ist alsdann 
so stark, daß auch bei Verdecken des besseren Auges keine foveale Einstellung mehr 
erfolgt und beim monokularen Sehen mit dem Schielauge exzentrisch fixiert wird. 
In diesem Falle kann natürlich der Nachbildversuch mit dem Glühfaden unter 
den gestellten Bedingungen nicht mehr ausgeführt werden. 


3. Das Verhalten des Fusionsvermögens. 


Das Fusionsvermögen ist die Fähigkeit, die Netzhautbilder des binokularen 
Sehens so aufzunehmen und so zu verarbeiten, daß ein gemeinschaftliches richtiges 
Bild daraus entsteht. Dabei kann man eine sensorische Komponente, eine motorische 
Komponente und den eigentlich psychischen Akt der Fusion unterscheiden. Die 
motorische Komponente ist beim Schielen immer gestört, denn normale Einstellung 
kann nur vorhanden sein, wenn die normale muskuläre Leistung aufgebracht wird, 
die nötig ist, um Doppelbilder zu vermeiden und die Netzhautbilder zur bestmöglichen 
Deckung zu bringen. Die sensorische Komponente des Fusionsvermögens ist aber 
ebenfalls häufig gestört, denn (wie weiter unten noch näher darzulegen ist) man findet 
bei Schielaugen sehr häufig mangelhafte Sehschärfe auf einem Auge oder Unter- 
drückung eines Netzhautbildes. Es zeigt sich ferner, daß auch nach künstlicher Kor- 
rektion des Einstellungsfehlers und nach Besserung der Sehschärfe durch korrigierende 
Gläser das Fusionsvermögen durchaus ungenügend ist, weil es nicht richtig ausge- 
bildet oder während des Schielens nicht mehr geübt wurde. Es hat als Regel zu gelten, 
daß die Störung des Fusionsvermögens um so schlimmer und um so weniger repa- 
rabel ist, je frühzeitiger sie entstand. Bei älteren Kindern, die von früher Jugend her 
dauernd geschielt haben, gelingt es nicht so leicht, durch Übungen später noch das 
Fusionsvermögen zu wecken. Beim Divergenzschielen dagegen, das fast immer viel 
später auftritt, war das Fusionsvermögen vorher fast stets schon so gut ausgebildet, 


296 Comberg-Meisner. 


daß nach der operativen Richtigstellung der Augen auch die normale Fusion und 
das Tiefensehen wieder leicht zu erlernen ist, 

Trotz guter Fusionstendenz ist die Verschmelzung gestört oder erschwert bei 
(manifesten oder latenten) Einstellungsfehlern. Geringe Fehler werden dynamisch 
durch Muskelaktion ausgeglichen. In der Stärke der Prismen, die noch überwunden 
werden, erhält man ein Maß der Fusionsbreite. Die normale Adductionsbreite beträgt 
50°, die Abductionsbreite 8°, die vertikale Fusionsbreite 1— 2°. 


V. Klinisches über die gewöhnlichen Schielformen. 


1. Strabismus convergens. Der Strabismus convergens tritt schon häufig in 
der ersten Jugend auf; über 30% aller Fälle entstehen vor dem zweiten Lebensjahr 
und die meisten anderen in der Zeit vom zweiten bis vierten Jahre. Es ist ganz augen- 
scheinlich, daß dabei die Konvergenz der Sehachsen eine Rolle spielt, die jedesmal 
auftritt, wenn das kleine Kind einen ihm besonders interessierenden nahen Gegen- 
stand fixiert. Da die Akkommodation eine sehr weitgehende Annäherung gestattet, 
und da der Arm des kleinen Kindes sehr kurz ist, so wird der Gegenstand sehr 
dicht vor das Auge gehalten, und mit der Akkommodation entsteht zugleich ein sehr 
starker Konvergenzimpuls. Wie durch diese Konvergenzimpulse schließlich das 
Schielen zu stande kommt, wurde an anderer Stelle (s. p. 291) geschildert. 

Die Entstehung des Konvergenzschielens bleibt zunächst leider häufig unbemerkt 
oder wird nicht genügend beachtet, da alle Säuglinge und kleinen Kinder gelegentlich 
einmal schielen. Deshalb merken nur die aufmerksameren Mütter wirklich früh genug, 
wenn ein Auge häufiger abweicht. Es wurde wohl beobachtet, daß bei irgend einer 
Beschäftigung in der Nähe das Auge nicht richtig stand, aber es wurde kein besonderer 
Wert darauf gelegt. Erst im Anschluß an schwächende Krankheiten, an Masern, 
Scharlach u. s. w., fällt auf, daß das Kind nun wirklich häufiger oder gar dauernd 
schielt. Wieviel bei den Angaben dem Tatsächlichen entspricht, ist manchmal schwer 
zu beurteilen; daß aus der schon vorher bestehenden Schielneigung unter dem 
schwächenden Einfluß von Erkrankungen, unter der Wirkung abnormer Darmreize 
(Würmer) tatsächlich das Schielen manifest werden kann, darüber liegen viele 
Zeugnisse vor. 

In der ersten Zeit ist das Schielen fast regelmäßig ein Gelegenheitsschielen, 
das mehr oder weniger periodisch auftritt. Es kann vorkommen, daß der Arzt 
zunächst gar nichts findet; er soll sich aber hüten, deswegen zu glauben, daß das 
Kind nicht geschielt habe. Manchmal gelingt es doch mit gewissen Kunstgriffen, 
in solchen Fällen bei der Untersuchung das Schielen hervorzurufen. Das Einwärts- 
schielen tritt vor allen Dingen leichter auf beim Blick nach unten und bei der 
Nahfixation. Man nimmt also am besten irgend einen kleinen Gegenstand, der 
die Aufmerksamkeit des Kindes ersichtlich auf sich zieht, ein kleines Papier- 
schnitzelchen oder den Augenspiegel und hält dem Kinde dies so vor, daß es 
dabei nach unten sieht. Alsdann läßt man durch einen Gehilfen die Augen nach- 
einander verdecken; dabei zeigt sich dann an einem schielenden Auge deutlich 
eine Einstellung. Man kann diese Probe auch so anstellen, daß man mit dem 
Augenspiegel, der dicht vor den Kopf des Kindes gehalten wird, durch Zuspiegeln 
auf beide Augen zunächst die Aufmerksamkeit erweckt und alsdann zunächst 
das eine, darauf das andere Auge spiegelt und beobachtet, ob beim Übergang von 
einem zum anderen Auge eine passende Stellungsänderung des zweiten Auges 
auftritt. 


Das Schielen und seine Behandlung. 297 


Es ist bekannt, daß das Konvergenzschielen im allgemeinen im frühern Alter 
entsteht als das Divergenzschielen. Das entspricht der Erfahrung jedes Augenarztes 
und hat sich auch aus vielen Statistiken ergeben. Aus einer besonders groß angelegten 
Statistik von Worth kann man zur besseren Veranschaulichung für das Konvergenz- 
schielen folgende Prozentsätze bezüglich des Eintritts in den verschiedenen Lebens- 
altern berechnen. | 


Prozent 


Vor dem 1. Lebensjahr . . 2: 2: 2 EEE nn. 16 
Zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr . .. 22:2 2 2200. 181 
’ „ 2 u» A Pe EEE Er éi 22:1 
In A en en 18 
4 u 5 gege ei A ae 11:9 
„ „» Be 6. SEENEN 6°5 
In späteren Lebensjahren . . . . aoao a 1:35 


Es zeigte sich dabei ein auffallender Unterschied bezüglich der Zeit der 
Entstehung für die Fälle von einseitigem Schielen und alternierendem Schielen. 
Von dem einseitigen Schielen entstanden nur 32% vor dem zweiten Lebensjahr, 
von den alternierenden Fällen in der gleichen Zeit über 53%. Nach Worth spricht 
dieser Unterschied dafür, daß es sich bei dem alternierenden Schielen um ein an- 
geborenes Fehlen der Fusion handelt. 

Es zeigt sich aus der Statistik auch, welche wesentliche Bedeutung die 
Hyperopie für das Zustandekommen des Konvergenzschielens hat; die große 
Mehrzahl der Fälle von Strabismus convergens ist mit Hyperopie verbunden. Aus 
der Umrechnung einer Worthschen Statistik auf die Prozentzahlen ergibt sich 
folgendes: 


Unter 1D Hyperopie 7'2% der Schielkinder 5— 6D Hyperopie 145% der Schielkinder 


1-2D ,„ 109% „ : 6- 71D , 55% n i 
2-3D » 4g» » 7- 8D , 22% ! 
3-D 20 e, i 8- 9D) , 12% » , 
4-5D 20 ë , e 9-0D , 07% » i 


Auch der Astigmatismus spielt beim Konvergenzschielen eine gewisse Rolle, 
wie das ebenfalls aus Statistiken zu ersehen ist. Unter 1384 Schielfällen fand Worth 
am schielenden Auge Astigmatismus von weniger als 05D 628mal, von mehr als 
05 756mal; am nicht schielenden Auge Astigmatismus unter 0'5 D 836mal, über 
05D 547mal. 

Gegenüber der großen Zahl der Fälle mit hyperopischer Refraktion spielen 
die anderen kaum eine nennenswerte Rolle. Worth fand unter 1636 Einwärts- 
schielenden nur 23=1'/,% mit beiderseits myopischen Augen. Meist sind das dann 
Menschen mit starken anatomischen oder neurogenen Einstellungsfehlern oder 
solche, bei denen eins der Augen oder beide ganz schwachsichtig sind, bei denen 
ein Mikrophthalmos besteht u. s. w. 

Wenn das Schielen nicht bald behandelt wird, so nimmt es in dem Durch- 
schnitt der Fälle insofern einen vom therapeutischen Standpunkt aus unangenehmen 
Verlauf, als es späterhin fast regelmäßig zu einer schwereren Störung in den 
normalen Beziehungen zwischen den Netzhäuten kommt. Sehr häufig wird der 
Wert des Schielaugenbildes auch dadurch noch weiter herabgesetzt, daß sich 
Schwachsichtigkeit ausbildet. An den Kindern, bei welchen das Schielen erst in 
etwas späterem Alter beginnt, kann man recht gut beobachten, daß diese Entwick- 


2983 Comberg-Meisner. 


lung eine allmähliche ist, und daß in der ersten Zeit allemal noch eine gewisse 
Tendenz zur Rückkehr in die normale Stellung besteht. Sehr häufig haben optische 
Hilfsmittel, d. h. die Korrektion der Hyperopie, wie im therapeutischen Teil weiter 
ausgeführt werden wird, alsdann allein schon einen guten Erfolg. Wenn eine richtige 
Brille verordnet wird, kehrt das Auge entweder dauernd für die Zeit des Gläser- 
tragens in die richtige Stellung zurück, oder das Schielen tritt nur bei besonderen 
Gelegenheiten auf. Dieser Zustand kann stationär bleiben, und Patient wie Arzt 
können davon nicht unbefriedigt sein, wenn der Operation aus irgend welchen 
Gründen Schwierigkeiten entgegenstehen und wenn das Tragen des Glases wegen 
der Stärke des Refraktionsfehlers ohnehin erforderlich wäre. 

Erst der gänzliche Mangel an Übung des richtigen Binokularsehens führt zu 
der weiteren unangenehmen Entwicklung. Findet das Auge eine einigermaßen 
bestimmte neue Einstellung und bleibt der Schielwinkel für einige Zeit derselbe, 
dann besteht ein gewisser Anreiz zur Ausbildung einer neuen Beziehung zwischen 
den Netzhäuten, die als anomale Lokalisation vorher schon gekennzeichnet wurde. 
Es muß dabei festgehalten werden, daß diese neue Beziehung an Festigkeit keines- 
wegs mit der normalen irgendwie zu vergleichen ist. Diese Art der Lokalisation 
bleibt stets ziemlich ungenau, und wenn durch sekundäre Muskelcontraction oder 
durch eine Veränderung des Schielwinkels infolge Brillentragens eine andere Ein- 
stellung gefunden wird, dann kann sich auch die Lokalisation wieder ändern. 

Sehr häufig bleibt auch die alte Lokalisation — ein Glück für die Therapie 
— noch neben der neuen Lokalisation erhalten, so daß manchmal mit ent- 
sprechenden Übungen und Gläsertragen die Rückbildung des normalen Zustandes 
gelingen kann. 

Am schlimmsten für die Behandlung ist es, wenn auch die Sehschärfe des 
Schielauges stark gelitten hat, was bei längerem Fehlen des binokularen Sehaktes 
schließlich häufig die Folge ist. Man kann die stärksten Amblyopien daran erkennen, 
daß alsdann das Auge, auch bei Verdecken des guten Auges, nicht mehr zur richtigen 
Fixation gebracht wird, sondern sich auf die betrachteten Dinge exzentrisch einstellt. 

Was die Größe des Schielwinkels anbelangt, so steht dieser in keiner festen 
Beziehung zu- den einzelnen Faktoren, welche das Schielen hervorrufen. Ist das 
Auge einmal von dem binokularen normalen Sehakt ausgeschaltet, dann irrt es, 
mehr oder weniger sich selbst überlassen und zufälligen anatomischen und nervösen 
Einflüssen preisgegeben, ab, ohne daß man, unter noch so sorgfältiger Berück- 
sichtigung aller Umstände, anzugeben vermöchte, wie die schließliche Einstellung 
sein wird. In den Kinderjahren nimmt der Schielwinkel meist mit der Zeit mehr 
oder weniger zu, doch nach unseren Erfahrungen beim Einwärtsschielen gewöhnlich 
nur bis zum 12. bis 15. Lebensjahre. 

Manchmal scheint es, als ob für das Schielauge sogar eine gewisse Flucht 
vor der annähernd richtigen Einstellung vorhanden wäre, falls die Sehschärfe des 
Schielauges noch gut ist und die richtige Lokalisation noch in gewissem Sinne 
mitwirkt. Es würde sich das dadurch erklären lassen, daß bei annähernd richtiger 
Stellung nahe nebeneinander liegende Doppelbilder vorhanden sind, während bei 
einem größeren Schielwinkel die Doppelbilder weiter voneinander entfernt liegen. 
Nahe zusammenliegende Doppelbilder stören aber wesentlich mehr als Doppel- 
bilder, bei denen das eine ganz weit seitlich liegt. 

Vielleicht ist diese Tendenz zur Vermeidung nahe aneinander liegender Doppel- 
bilder der Grund, weswegen der Schielwinkel in den ersten Jahren des Schielens 
schnell zunimmt. Ist das Auge nach einigen Jahren stärker schwachsichtig geworden, 


Das Schielen und seine Behandlung. 299 


so kann man, namentlich bei älteren Kindern und in der Zeit der Pubertätsjahre, 
doch häufiger beobachten, daß der Schielwinkel wieder abnimmt; mindestens 
ist das häufiger der Fall, wenn gleichzeitig die korrigierenden Gläser getragen 
werden. 

Abgesehen von dieser mit hochgradiger Minderwertigkeit des Schielauges ein- 
hergehenden „Selbstheilung“, ist sie aber sehr selten. Einer idealen Forderung ent- 
spricht die Selbstheilung mit Schwachsichtigkeit auch nicht. 

Sowohl die weitgehende Umänderung der normalen Sehrichtungsgemeinschaft 
wie das Vorhandensein einer Schielamblyopie sind eine ernstliche Erschwerung 
für die augenärztliche Therapie. Alle therapeutischen Bestrebungen sollten deshalb 
sobald wie möglich einsetzen; wenn das Schielauge so weit geschädigt ist, daß nur 
noch Handbewegungen gesehen werden und daß exzentrische Fixation besteht, 
dann wird es nicht mehr möglich sein, den normalen binokularen Sehakt wieder- 
herzustellen. 

2. Strabismus divergens. Während die Mehrzahl der Konvergenzschieler aus 
Hyperopen besteht, haben die meisten Menschen, die an Divergenzschielen leiden, eine 
myopische Refraktion. Bei den Kurzsichtigen mit Divergenzschielen zeigt sich die Ab- 
hängigkeit des Schielens von dem Refraktionszustande womöglich noch deutlicher als 
bei den Hyperopen. Der Strabismus beginnt durchschnittlich viel später als das Einwärts- 
schielen der Hyperopen, u. zw. sehr häufig mit zunehmender Kurzsichtigkeit. Meist 
sind es Schulkinder, die mit Strabismus divergens zum erstenmal in Behandlung 
kommen. Auffallend ist, daß sie sehr häufig noch keine Brille getragen haben. Die 
Zeit, in der das Auswärtsschielen am häufigsten auftritt, ist nach Worth die Zeit 
etwa zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr. 

Daß das Divergenzschielen fast immer mit der Myopie vergesellschaftet ist, 
weiß jeder Arzt. Daß der Zusammenhang von Akkommodation und Konvergenz 
dabei eine Rolle spielt, wird ebenfalls leicht ersichtlich. Zunächst tritt das Divergenz- 
schielen regelmäßig beim Nahesehen auf, während beim Blick für die Ferne noch 
die richtige Stellung eingehalten wird, auch wenn das Auge nicht korrigiert ist. 
Später ändert sich das häufig, insofern als dann dauernd die Schielstellung eingehalten 
wird. Setzt man solchen Kindern das richtige Glas auf, so gelingt es aber manch- 
mal noch nur durch diese Maßnahme, die Augenstellung zu regulieren und den 
normalen binokularen Sehakt wieder herbeizuführen. Die Ursache ist sehr einfach; 
durch das Brillenglas muß der Kurzsichtige zum erstenmal wieder in richtigem 
Maße akkommodieren, damit stellt sich auch der richtige Konvergenzimpuls 
ein, und die Augenachsen erhalten ihre normale Stellung wieder zurück. Das 
Divergenzschielen ist also zunächst fast immer nur ein relatives für den Blick in 
die Nähe, wird erst später mit der Zunahme des Schielwinkels dauernd und bleibt 
dann auch beim Blick in die Ferne bestehen. 

Wichtig für die Entstehung des Divergenzschielens ist häufig der Astigmatis- 
mus; astigmatische Augen weichen beim Lesen besonders leicht ab, da sie ohne 
Korrektion unter keiner Bedingung ein scharfes Netzhautbild bekommen. Wenn 
später das zweite Auge stärker kurzsichtig wird, so kann es vorkommen, daß das 
Schielauge den geringeren Refraktionsfehler hat, aber unterdessen so amblyopisch 
geworden ist, daß das stärker kurzsichtige trotzdem die Führung behält und weiter- 
hin richtig fixiert. 

Der Schielwinkel nimmt mit dem längeren Bestehen des Divergenzschielens 
oft weiter zu; es liegt dies im gewissen Sinne im Interesse des Schielers, insofern 
dadurch eventuelle Doppelbilder weniger störend werden. 


200 Comberg-Meisner. 
Divergenzschielen findet sich außer bei Myopen 


a) sehr selten bei Hyperopen. Meist sind das sehr starke Hyperopien, und 
das Schielen besteht von der ersten Kindheit an. Diese Patienten haben oft nur in 
Zerstreuungskreisen gesehen und es ist bei ihnen nie zu einer richtigen Akkommo- 
dation gekommen. Da das Schielen nicht unter dem Einfluß der verstärkten Akkommo- 
dation, wie bei den übrigen Hyperopen, entstanden ist, konnte sich hier trotz der 
Hyperopie ein Divergenzschielen entwickeln. Daß Schielen auftrat, wird verständlich, 
weil scharfe Netzhautbilder niemals vorkamen; diese sind aber zur Fusion und zur 
Aufrechterhaltung richtig koordinierter Augenbewegungen unerläßlich. 


b) Bei Neuropathen. Es handelt sich hier meistens um Patienten, die keinen 
Refraktionsfehler haben; es besteht aber eine gesteigerte Erregbarkeit von Jugend 
an. Das Schielen ist in diesen Fällen ersichtlich auf den veränderten reflektorischen 
Tonus der Muskulatur zurückzuführen. 


c) Bei erblindeten Augen. Man sieht das Schielen nicht so sehr nach doppel- 
seitiger Erblindung, sondern meist nach Schädigung nur eines Auges, ja auch nach 
einseitig auftretender stärkerer Schwachsichtigkeit, wie beim grauen Star u. s. w. 
Es kommt alsdann auch Konvergenzschielen vor, aber das Divergenzschielen ist 
häufiger, weil in der Ruhelage die Mehrzahl der Augen zur Divergenz neigt. 


VI. Die Heterophorie und Insuffizienz der Konvergenz. 


Mit dem Ausdruck Heterophorie wird der Zustand des latenten Schielens 
bezeichnet. Es besteht alsdann eine Tendenz zur Schielabweichung, doch wird diese 
Tendenz beim binokularen Sehen durch das Fusionsbestreben dynamisch ausgeglichen. 
Der Anreiz zur dynamischen Korrektur fällt aber fort, wenn man z.B. en Auge ver- 
deckt. Das bis dahin latente Schielen wird alsdann manifest und damit meßbar. 

In allen Fällen, wo angeborene oder erworbene Schwachsichtigkeit die Güte 
des Netzhautbildes bei einem Auge stärker herabsetzt, auch in den Fällen zu- 
nehmender Anisometropie, wo beide Augen nicht gleichzeitig auf ein Objekt optisch 
gleichwertig eingestellt sein können, wird mit der Herabsetzung des Fusionsanreizes 
die Gefahr akut, daß aus dem latenten ein manifestes Schielen entsteht. 

Die Störung in der Gleichgewichtslage der ruhenden Augen ist in der Mehr- 
zahl der Fälle angeboren und alsdann meist durch eine Anomalie des Knochenbaues 
oder eine Anomalie der Muskulatur resp. der Lage der Muskelansätze begründet; 
es kann aber auch infolge der geänderten dynamischen Verhältnisse bei Vorhanden- 
sein eines Refraktionsfehlers der Zusammenhang zwischen Akkommodation und Kon- 
vergenztätigkeit einen ungünstigen Einfluß auf die dynamische Einstellung bekommen 
und eine Art dynamischer Heterophorie hervorrufen. Vom echten Schielen unterscheidet 
sich jedoch die Heterophorie dadurch, daß eine lebhafte Tendenz zum binokularen Sehen 
besteht, die so stark ist, daß die vorhandenen Fehler noch verhältnismäßig gut über- 
wunden werden, so daß sich beim gewöhnlichen Sehakt kein Schielen zeigt. 

Infolge der besonderen dynamischen Innervation, die dauernd aufgebracht werden 
muß, um den Fehler auszugleichen, kommt es relativ leicht zur Ermüdung. Das Lesen 
kleiner Schrift, aufmerksames und schnelles Verfolgen kleiner Objekte, wie es bei 
manchen technischen und wissenschaftlichen Hantierungen unbedingt nötig ist, aber 
auch zur Anfertigung von Handarbeiten etc. schon häufig gebraucht wird, kann stark 
ermüdend wirken. Das zeigt sich häufig erst in den letzten Arbeitsstunden und nament- 
lich gegen Abend bei schlechtem Lampenlicht. 


Das Schielen und seine Behandlung. 301 


Von großer Bedeutung ist auch der allgemeine Gesundheitszustand. Robuste 
Menschen sind besser imstande, den Fehler ohne Beschwerden zu ertragen als zart 
gebaute, nervöse Personen. Krankheiten wirken oft auf lange Zeit hinaus schwächend 
ein. Alles, was den reflektorischen Mechanismus in stärkeren Tonus versetzt, wird 
häufig auch die Beschwerden einer Heterophorie vergrößern oder überhaupt zum 
erstenmal merkbar machen. oo. 

Arten der Heterophorie. Man unterscheidet: 

a) Latentes Auswärtsschielen: Exophorie. 

b) Latentes Einwärtsschielen: Esophorie. 

c) Latentes Höhenschielen: Hyperphorie. 

d) Latentes Rollungsschielen: Cyclophorie. 

Mäßige Grade von Exophorie und Esophorie kommen sehr häufig vor; voll- 
kommene Ausgeglichenheit der Ruhelage beider Augenachsen ist keineswegs die Regel. 
Die Beschwerden sind aber nicht gleich stark für die gleichen Grade latenter Innen- und 
Außenabweichung. Das hängt damit zusammen, daß die Außenabweichung wegen der 
starken willkürlichen und erlernbaren Beeinflussung der Konvergenz leichter dynamisch 
korrigiert und dadurch erträglich gestaltet werden kann, wenn nur ein genügendes 
Fusionsbestreben vorhanden ist. Man findet bei genauer Untersuchung die Exophorie 
wohl ziemlich häufig; die Beschwerden sind aber meist gering oder ganz unmerklich. 

Anders bei der Esophorie. Die normale Divergenzbreite beträgt nur 6—8 Grad 
und eine Esophorie von 4 bis 5 Grad erfordert also schon eine relativ starke, eine 
solche von 6 bis 7 Grad eine nahezu maximale Einengung der Divergenzimpulse. 
Der damit verbundenen Anspannung folgt bald ein ausgeprägtes Gefühl von Un- 
behagen mit Benommenheit und Kopfschmerz, und vor allen Dingen stellt sich leicht 
Ermüdung ein. Noch schlimmer ist es, wenn nicht die normale Divergenzbreite 
besteht. Darum muß man den Fusionsbereich feststellen, falls man ein präzises Urteil 
abgeben will. 

Neben dem Fehler in der seitlichen Ausrichtung der ruhenden Gesichtslinien 
kommt ein Fehler in der Höhenausrichtung vor. Auch diese Patienten, bei denen 
dynamisch während des binokularen Sehens allezeit der Ausgleich erzwungen werden 
muß, stellen einen Teil der Fälle, welche über asthenopische Beschwerden klagen, 
u. zw. umsomehr, als keine Art der Muskelaktion möglich ist, durch die eine Kor- 
rektion dynamisch erzwungen werden kann, wenn der Fehler einen etwas stärkeren 
Grad überschreitet. | 

Man unterscheidet zwischen der eigentlichen Heterophorie und einer Insuffizienz 
der Konvergenz. Unter Heterophorie versteht man im strengeren Sinne nur eine 
Störung des Muskelgleichgewichtes für den Blick in die Ferne, während bei unge- 
nügender Konvergenzleistung in den Fällen, wo für die Ferne keinerlei Störung besteht, 
eine Störung des symmetrischen Einstellungsimpulses als Ursache angenommen werden 
muß. Geht man allerdings von der Voraussetzung aus, daß ein Konvergenz- und ein 
Divergenzcentrum bestehe (Hofmann, Bielschowsky), dann könnte man sich 
vorstellen, daß die Ruhelage auch für den Blick in die Ferne einem tonisch 
unterhaltenen Gleichgewicht zwischen Konvergenz und Divergenz entspricht, nicht 
anders als beim Blick in die Nähe. Aus dieser Auffassung würde sich ergeben, daß 
Übergänge zwischen Heterophorie und Insuffizienz der Konvergenz vorkommen 
können. Man kann jedoch eine Reihe von Veränderungen als Ursache für die Kon- 
vergenzstörung in Betracht ziehen; neben einer Lähmung des Konvergenzaktes 
könnte eine muskuläre Schwäche oder auch eine anatomische Behinderung (wie z. B. 
Donders für die langgebauten Augäpfel der Myopen angenommen hat) vorliegen. 


302 Comberg-Meisner. 
VII. Ursache des Schielens. 


Albrecht v. Gräfe hat als erster auf den grundlegenden Unterschied zwischen Lähmungsschielen 
und Konvergenzschielen hingewiesen. Er wußte, daß die Exkursion des Schielauges in einem mittleren 
Bereich des konkomitierenden Schielens stets die gleiche ist, wie die des nichtschielenden Auges, 
und ebenfalls, daß die Sekundärablenkung gleich der Primärablenkung bleibt. Aus diesen beiden Tat- 
sachen zog er den Schluß, daß der Strabismus concomitans mit einer Lähmung nichts zu tun habe. 
Er glaubte, daß überhaupt keine Innervationsstörung vorliege, wobei er allerdings noch nicht unsere 
heutige Kenntnis von den symmetrisch koordinierten Augenbewegungen hatte. Ihm schien nach Aus- 
schluß aller anderen Möglichkeiten nur denkbar, daß es sich um ein Mißverhältnis der Muskellängen 
und Anomalien der Befestigung handeln könne. Damit schien in Übereinstimmung zu sein, daß das 
Bewegungsgebiet des schielenden Auges häufig nach einer Seite hin verschoben ist, wie das besonders 
beim Einwärtsschielen hervortritt, wenn verminderte Abduction und vermehrte Adduction besteht. 

Donders hat das bleibende Verdienst, auf den plıysiologischen Zusammenhang zwischen Akkom- 
modation und Konvergenz hingewiesen zu haben und auf die Bedeutung, die dieser Zusammenhang 
bei Refraktionsfehlern für die Entstehung des Schielens gewinnt. Das Schielen entsteht nach Donders 
ungefähr folgendermaßen: Mit jeder Akkommodationsanstrengung ist zunächst eine ganz bestimmte natür- 
liche Konvergenzeinstellung verbunden, die nur in gewissem Grade dynamisch verändert werden kann. 
Wird die Akkommodation auf einen bestimmten Punkt eingestellt, dann kann in dem Bereich der so- 
genannten Konvergenzbreite der Konvergenzgrad vermehrt werden (positive Konvergenz) oder ver- 
mindert werden (negative Konvergenz). Bei Emmetropen mit normaler Ruhelage für die Ferne ist auch 
beim Blick in die Nähe eine solche dynamische Umänderung gewöhnlich nicht nötig, da die Kon- 
vergenz alsdann dem natürlichen Bedürfnis angepaßt ist, so daß, wenn das Auge z. B. auf einen Gegen- 
stand in 20 em akkommodiert, auch automatisch die nötige Konvergenz der Sehachsen hergestellt wird. 
Es entsteht aber sofort ein Mißverhältnis zwischen den benötigten Akkommodations- und Konvergenz- 
graden, wenn ein Refraktionsfehler vorhanden ist. Der unkorrigierte Weitsichtige muß bekanntlich zur 
Einstellung auf irgendeinen Punkt stärker akkommodieren als der Normale und der Kurzsichtige ohne 
Glas akkommodiert auf alle Dinge, die hinter seinem Fernpunkt liegen, gar nicht und auf alle näher- 
gelegenen Punkte viel zu schwach. Beim Weitsichtigen werden deshalb die Konvergenzimpulse stets zu 
stark ausfallen und beim Kurzsichtigen werden sie zu gering sein. Bei allen fehlerhaften Brechungs- 
zuständen des Auges muß also der zur richtigen Einstellung der Sehachsen nötige Konvergenzgrad 
erst durch einen weiteren .regulatorischen Impuls dynamisch richtiggestellt werden. Ist die dazu nötige 
Anstrengung eine übermäßige, sind die Bedingungen zum Sehen für ein Auge ungünstig, ist irgendein 
Fehler vorhanden, der die Zusammenarbeit beider Augen beeinträchtigt, dann kann der nötige Kon- 
vergenzgrad schließlich nicht mehr aufrecht erhalten werden und ein Auge weicht ab. Aus der latenten 
Schielneigung des Ametropen kann auf diese Weise dauerndes Schielen entstehen. `, ` 

Javal konnte sich, wie die meisten Autoren, die sich nach Donders mit der Ätiologie des 
Schielens beschäftigt haben, der Wichtigkeit der Dondersschen Darlegungen nicht gänzlich ver- 
schließen. Trotzdem glaubte Javal, daß in dem zen mit dem Refraktionsfehler wenigstens 
beim Konvergenzschielen nur ein sekundäres Moment für die Entstehung gegeben sei, welches nicht 
als die eigentliche direkte Ursache des Schielens angesehen werden dürfe, u. zw. umsoweniger, als 
man Menschen mit allen möglichen Graden von Refraktionsfehlern findet, die niemals schielen, und 
als die Häufigkeit des Schielens ganz offensichtlich nicht mit der Verbreitung und Stärke des Refrak- 
tionsfehlers parallel geht. Es müssen noch besondere schwächende Ursachen angenommen werden, durch 
die plötzlich der Strabismus manifest wird. Als Ursache für die Entstehung des Schielens sieht Javal 
eine Akkommodationsparese an und er glaubt, daß eine so'che namentlich bei Kindern häufig im 
Anschluß an Scharlach, Masern u. s. w. entstehe. Alsdann ist eine stärkere Akkommodationsanstrengung 
nötig und mit dieser zugleich geht eine verstärkte Konvergenz einher. Diese Erklärung gilt natürlich 
nur für den Strabismus convergens; für das Divergenzschielen hält sich Javal an Erklärungen, die 
der Dondersschen ziemlich ähnlich sind. Es entstehe zunächst eine relative Insuffizienz oder eine Ver- 
minderung der Konvergenz infolge mangelnder Akkommodationsimpulse, und bei schwachsichtigen 
Augen und namentlich solchen, die an Astigmatismus leiden, komme es alsdann zunächst während des 
Lesens und später dauernd zum Schielen. Daß die Störung des reflektorischen Tonus der Augenmusku- 
latur nach vorhergehenden Krankheiten und bei Schwächezuständen eine Umstellung des Muskelgleich- 
gewichts auslösen kann, befindet sich in Übereinstimmung mit vielfachen anderen Konstatierungen. 
Jeder Augenarzt wird wissen, daß auch von gewissenhaften und gut beobachtenden Eltern häufig die 
Angabe gemacht wird, daß ein Kind erst im Anschluß an eine Erkrankung zu schielen begonnen habe; 
man kann an dieser Tatsache nicht ganz vorübergehen. Außerdem sieht man doch auch manchma 
sogar bei älteren Patienten, daß im Anschluß an eine Lähmung eine Störung zurückbleibt, die schließ- 
lich in echtes konkomitierendes Schielen übergeht. 

Alfred Gräfe machte als erster verschiedene Beobachtungen über die abweichende Lokalisation 
des schielenden Auges. Er glaubte aber, daß die Lokalisation nicht von der Stellung der Netzhaut bzw. 
der Einstellung des Augapfels, sondern daß sie von dem motorisch:n Impulse abhängig sei, und kam 
so zu der anfechtbaren Annahme, daß nicht nur bei Lähmungen, sondern auch bei dem seiner Ansicht 
nach ebenfalls auf Innervationsstörungen zurückzuführenden Strabismus die falsche Lokalisation auf 
diese Weise entstehe. Er stellte weiterhin fest, daß das Netzhautbild des Schielauges mehr oder weniger 
stark unterdrückt werden kann, daß aber die Stelle der Fovea des Schielauges im gemeinschaftlichen 
Sehfelde überwiegt und es also zu einer Art regionärer Exklusion kommen kann. Schließlich machte 
er auch bemerkenswerte Feststellungen über die neuen Jdentitätsverhältnisse, die sich bei dauernder Ein- 
haltung eines bestimmten Schielwinkels zwischen vorher nicht identischen Netzhautpunkten ausbilden. 
Er erkannte, daß die Störungen des binokularen Sehens häufig von der Exklusion oder der Heran- 
bildung neuer Netzhautbeziehungen abhängig sein müsse, und wies schon vor Tschermak darauf hin, 
daß dies Verhalten individuell ein ganz verschiedenes ist. 


Das Schielen und seine Behandlung. 303 


Worth ging noch einen Schritt weiter; er gelangte zu der Annahme, daß dem Akt der binoku- 
laren Verschmelzung bzw. den dabei vorliegenden Störungen eine ganz besondere Bedeutung für das 
Auftreten des Schielens zukomme. Er betonte, daß es für die mühelose, richtige binokulare Einstellung 
von besonderer Wichtigkeit ist, wenn das Fusionsvermögen eine möglichst hohe Ausbildung erfährt. Von 
ihm stammt die statistische Feststellung, daß der Durchschnitt der Fälle mit alterjerendem Schielen 
besonders frühzeitig erkrankt, und er betonte, daß bei diesen eine gänzliche Unfähigkeit zur Vereinigung 
der Bilder beider Augen bestehe. Weil in diesen Fällen ein gänzlicher Fusionsmangel vorhanden ist, 
das Schielen von der ersten Jugend an auftritt und jeder Therapie trotzt, zog er weiterhin den Schluß, 
daß hier ein angeborener Fehler des Fusionsvermögens vorliegt; er vertrat auch die Ansicht, daß eine 
fehlerhafte Entwicklung des Fusionsvermögens ganz allgemein die wichtigste Ursache des Schielens sei. 

Von den neueren Untersuchungen kommt denen Bielschowskys und Tschermaks eine be- 
sondere Stellung zu; beide konnten die Lehre vom Schielen noch in vielen Punkten erweitern und 
vervollständigen. 

Bielschowsky hat im wesentlichen alle die Momente zusammengestellt, die auch nach der 
modernen Auffassung für die Entstehung des Schielens einen stichhaltigen Wert haben. Er unterschied 
schärfer zwischen der Wirkung der topographisch-anatomischen Verhältnisse und deren Beziehung zu 
der Nachbarschaft, d.h. den mechanischen Faktoren und der nervösen Beeinflussung der Augenstellung, 
unter der er die Umänderungen durch Willensimpulse, Fusionstendenz, Assoziation von Akkommodation 
und Konvergenz sowie durch Veränderung des Muskeltonus versteht. Während am normalen Auge ein 
natürliches Gleichgewicht aufrecht erhalten wird, kommen unter pathologischen Veränderungen viel- 
fache Abweichungen vor, die sich entweder als latente Schielneigung oder als manifestes Schielen aus- 
wirken können. Tschermak, der selbst an einem alternierenden Schielen mit äußerst kompliziertem 
Verhalten leidet, konnte auf Grund eigener Beobachtungen unter Anwendung sehr genauer Methoden 
eine Reihe von wichtigen Feststellungen machen. Vor allen Dingen zeigte er, daß die anomale Seh- 
richtungsgemeinschaft sehr veränderlich war, und daß die Sehschärfe des Schielauges größer wurde, 
wenn Fixationsabsicht für das Bild des Schielauges bestand, auch falls die Güte der Netzhautbilder 
nicht geändert wurde. Die Leistung des Schielauges und die Art seiner binokularen Betätigung wechselt 
also unter dem Einfluß psychischer Einstellungen und Hemmungen. Besonders wertvoll sind die Unter- 
suchungen über das Verhallen der neuen Sehrichtungsgemeinschaft. Tschermak glaubt, daß in Uber- 
einstimmung mit der Auffassung Herings an der alten strengen Identitätslehre im Sinne Müllers 
nicht festgehalten werden könne. Identität bestehe gewiß insofern, als zwei korrespondierende Stellen 
auf Grund angeborener sensorischer und motorischer Einrichtungen a priori eine identische Sehrichtung 
zukomme; damit stehe aber nicht in Widerspruch, daß unter anomalen Bedingungen eine anomale 
Sehrichtungsgemeinschaft auftreten könne, die der fakultativen Sehrichtungsgemeinschaft ähnlich sei, 
welche Hering für das stereoskopische Sehen angenommen hat. 


Überschaut man rückblickend, wie weit unsere Kenntnisse über das Schielen 
durch die hier angeführten Autoren gefördert wurden, so sieht man schon aus der 
kurzen Aufstellung, wie mühsam der Weg der Forschung gewesen ist. Albrecht 
v. Gräfe drang, trotz genauester Erkenntnis vieler symptomatischer Erscheinungen 
des Schielens, nicht über eine gewisse mechanische Betrachtung hinaus vor, weil er 
den Einfluß der symmetrischen Augenbewegungen nicht mit in Rechnung stellen konnte; 
er hielt deshalb auch daran fest, daß die Ursache des Schielens in einem Miß- 
verhältnis der Muskellängen zu suchen sei. Donders brachte eine glänzende Theorie 
von größtem Wert hervor; indes hat sich später gezeigt, daß man damit allein die 
Entstehung des Schielens auch nicht erklären kann. Wenn auch das Mißverhältnis 
zwischen den zur richtigen Einstellung benötigten Akkommodations- und Konvergenz- 
impulsen bei den Ametropen besteht und latentes Schielen hervorruft, so ist damit 
noch nicht erklärt, weshalb es nur bei einem kleinen Teil der Hyperopen tatsächlich 
zum Schielen kommt. Hier gab Javal als erster richtige Fingerzeige, indem er auf das 
schwächende Moment von Krankheitszuständen und die Bedeutung des allgemeinen 
reflektorischen Tonus hingewiesen hat. Wesentlich sind auch zweifelsohne für die 
Manifestation des Schielens die Störungen des Binokularsehens, die Alfred v. Gräfe 
in den Vordergrund gestellt hat, und als eine der interessantesten Theorien muß 
zurzeit jedenfalls die Ansicht von Worth diskutiert werden, der einen angeborenen 
Fusionsmangel als Hauptursache des Schielens ansieht. 

In letzter Zeit hat man einer Tatsache besondere Aufmerksamkeit geschenkt, 
die schon den ältesten Ärzten, z.B. Hippokrates, aufgefallen war. Dieser sagte einmal, 
es sei bekannt, daß der Sohn eines Schielers gleichfalls ein Schieler werden würde. 
Bei sehr vielen späteren Autoren finden wir dann gelegentlich eine Notiz über familiär 
gehäuftes Auftreten von Strabismus, 10% —70% der Fälle sollen erblich sein. Wenn 


304 Comberg-Meisner. 


man aber mit den streng wissenschaftlichen Forderungen der modernen Erbforschung 
an die Frage nach dem Erbgang des Strabismus herantritt, ergeben sich sehr große 
Schwierigkeiten, die bisher noch von einer Lösung weit entfernt sind. Wir können 
aus dem bisher vorliegenden erbkundlich genau durchgearbeiteten Material nur den 
Schluß ziehen, daß man von einer Vererbung des Schielens in dem Sinne, wie man 
sie bisher vielfach verstanden hat, überhaupt nicht reden darf (Clausen). Selbst 
die vielfach als vererbbar angesprochenen Teilfaktoren (Refraktionsanomalien, Hetero- 
phorie, Fusion, anatomische Varietäten der orbitalen Topographie und der Muskulatur) 
dürfen keineswegs ohne weiteres als einfache Vererbungsmerkmale betrachtet werden. 
Um zu Klarheit zu kommen, bedarf es nicht nur einer weit ausgedehnteren Stamm- 
baumforschung, als sie uns heute zur Verfügung steht, sondern auch genauer Unter- 
suchungen sowohl der Schielenden selbst als auch ihrer nichtschielenden Angehörigen. 
Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei den meisten Schielfällen um einen 
sehr komplizierten EENEG dessen Erforschung beim Menschen große 
Schwierigkeiten macht. 

Für unsere allgemeinen Ansichten über die Ätiologie des Strabismus haben 
wir aus den erbkundlichen Betrachtungen wenigstens den Gewinn gezogen, daß 
wir wohl kaum je eine einzelne von der Norm abweichende Eigenschaft des Seh- 
organs als Ursache anzusehen haben, sondern einen ganzen Komplex, der im Einzel- 
falle auch durchaus nicht immer der gleiche zu sein braucht. 


VIII. Untersuchung des Schielens. 


Die Unvollständigkeit und vor allem die Ungleichmäßigkeit des Untersuchungs- 
programms sind, wie Bielschowsky hervorhebt, zum guten Teile schuld daran, 
daß man noch immer so divergierenden Auffassungen über das Wesen des Schielens, 
über die Grundsätze der Therapie und auch über die zu erreichenden oder angeblich 
erreichten Erfolge begegnet. Doch darf nicht verkannt werden, daß auch die 
Schwierigkeit des Schielproblems hierfür als Ursache angesehen werden muß. Die 
Verhältnisse sind häufig so kompliziert, daß nur ein sehr bewanderter Spezialist 
alle Details überschauen kann; ebensowenig wie die Therapie wird auch die genaue 
Untersuchung der Schielfälle jemals Sache des nicht spezialistischen Arztes werden. 

Schon aus diesem Grunde allein, nicht minder auch wegen des gebotenen 
Raumes, kann eine eingehende Schilderung des Untersuchungsganges und der 
zugehörigen Methodik hier nicht gegeben werden. Wir beschränken uns auf eine 
kurze Darstellung der wichtigsten Fragen für den Untersuchungsgang in der Form, 
wie sie von modernen Kennern des Schielens empfohlen wurde (Bielschowsky), 
und geben weiterhin eine etwas nähere Schilderung von den wichtigsten einzelnen 
Untersuchungsmethoden, soweit diese die Messung des Schielwinkels, die Prüfung 
der Lokalisation und des binokularen Sehaktes zum Gegenstand haben. 


A. Anhaltspunkte für den Gang der Untersuchung. 


Die Anamnese hat etwaige in der Familie des Patienten, besonders bei Eltern 
oder älteren Geschwistern, vorkommende Schielfälle zu berücksichtigen. Wichtig ist 
Art und Verlauf des Leidens bei diesen, insbesondere ob das Schielen in späterer 
Jugend spontan geheilt ist. Auch nach neuropathischer Belastung muß gefragt werden. 

Am Kranken selbst interessieren die Zeit des Auftretens sowie unmittelbar 
vorhergegangene Krankheiten oder Unfälle. Wir fragen, ob das Schielen zunächst 
periodisch, bzw. unter welchen Bedingungen es aufgetreten ist: ob nur morgens 


Das Schielen und seine Behandlung. 305 


früh (Anomalie der Ruhelage, die durch Einfluß der Fusion ausgeglichen wird) 
oder abends oder bei Erregung, Ängstlichkeit u. s. w. (nervöse Komponente); ob es 
anfangs alternierend oder gleich einseitig war, ob der Schielwinkel größer oder 
kleiner geworden ist, ob anfangs Doppelbilder vorhanden waren. Auch eventuelle 

frühere Behandlung muß beachtet werden. | 

Bei der Untersuchung muß das allgemeine physische und psychische Befinden 
des Patienten beachtet werden. Asymmetrien von Schädel und Gesicht sind zu 
notieren. Sodann verschafft man sich einen vorläufig orientierenden Überblick über 
die Art des Schielens, während der Patient ein feines Objekt fixiert. Handelt es sich 
um wirkliches oder scheinbares Schielen (großer Winkel Gamma)? Ist das Schielen 
manifest oder tritt es erst bei Verdecken eines Auges auf? Besteht Strabismus con- 
vergens oder divergens? Ist die Beweglichkeit normal? Findet sich ein Überschuß 
an Exkursionsfähigkeit nach der einen, ein Zurückbleiben eines Auges in der ent. 
gegengesetzten Richtung? Ist das Schielen alternierend, vorwiegend oder ausschließ- 
lich monolateral? 

Es folgt die objektive und subjektive Bestimmung des Brechzustandes und der 
Sehschärfe, sodann vielfach mit und ohne Gläser (bei Strabismus convergens jüngerer 
Individuen stets), dasselbe nach ausgiebiger Atropinisation. Anzuschließen ist die 
Messung des Schielwinkels (eventuell vor und nach Atropinisierung, mit und ohne 
Korrektion, auch in verschiedenen Blickrichtungen). Beachtung verdienen besondere 
Eigentümlichkeiten, vor allem eine eventuelle Höhenkomponente. 

Sodann forscht man nach subjektiven Symptomen, vor allem Diplopie unter 
verschiedenen Bedingungen (rotes Glas, Höhen ablenkendes Prisma vor einem Auge), 
man prüft die Lokalisation mit einer der angegebenen Methoden. Wird der Schiel- 
winkel auch subjektiv festgestellt, so achte man darauf, ob er dem objektiven ent- 
spricht. Eine Inkongruenz deutet auf anomale Lokalisation. Endlich ist auf Binokular- 
sehen und Fusion zu untersuchen (s. p. 308), falls das möglich ist. 

Diese Untersuchungen müssen von Zeit zu Zeit wiederholt werden, um den 
Einfluß der inzwischen angewendeten Behandlung zu kontrollieren. 


B. Wichtige klinische Untersuchungsmethoden. 


1. Feststellung des Schielwinkels. 


a) Prüfung nach Albrecht v. Gräfe. Dieser legte eine kleine Platte an das 
Unterlid, welche in der Mitte einen Nullpunkt und daran anschließend nach jeder 
Seite eine kleine Skala hatte. Es mußte die Stelle des vertikalen Hornhautmeridians 
am Schielauge auf der Skala abgelesen werden; natürlich ergaben sich große Fehler 
wegen des verschiedenen Baues der Augen. 

b) Prüfung nach Hirschberg. Diese großen Fehler wurden von Hirsch- 
berg zum Teil vermieden, indem er die Linie des horizontalen Hornhautdurchmessers 
als eine Art Skala benutzte. Er ließ eine Kerze anvisieren und beobachtete mit seinem 
dicht über der Flamme gehaltenen Auge die Lage des Reflexbildchens auf der Horn- 
haut des Schielauges. Liegt das Bildchen in der Mitte der Hornhaut, so ist der Schiel- 
winkel gleich Null; Lage des Bildchens am Limbus entspricht einem Schielwinkel von 
etwa 45°. Liegt das Bildchen mitten zwischen Centrum und Limbus, so würde also 
ein Schielwinkel von 221/,° vorhanden sein. Falls der Reflex bei mittelweiter Pupille 
auf dem Pupillenrand liegt, so soll der Schielwinkel nach Hirschberg zirka 15° 
betragen. Natürlich wird bei dieser Methode der Winkel Gamma (vgl. oben über 
scheinbares Schielen) gar nicht berücksichtigt. 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 20 


306 Comberg-Meisner. 


c) Prüfung am Perimeter. Der Patient wird so vor das Perimeter gesetzt, 
daß das Schielauge genau im Centrum des Bogens ist, alsdann richtet man das 
nichtschielende auf eine normale Primärstellung ein, u. zw. am genauesten ohne 
Akkommodation, indem man ein Licht fixieren läßt, das in der entsprechenden Rich- 
tung mehrere Meter entfernt angebracht wurde. Bequemer, jedoch weniger genau ist es, 
den Untersuchten auf die Fixiermarke blicken zu lassen, die am Drehpunkt des Perimeter- 
bogens steht. Sind die Augen des Patienten auf diese Weise in die richtige Stelluug 
gebracht, dann kann man den Schielwinkel des abweichenden Auges messen, ohne ` 
daß eine weitere Änderung in der Blickrichtung des Untersuchten nötig ist. Dazu 
nimmt der Arzt eine Kerze oder eine kleine elektrische Lampe und hält sie so an 


Fig. 77. 





Bestimmung des Schielwinkels an der Tangentenskala von Maddox. 
(Diese Abbildung wurde aus dem im gleichen Verlage erscheinenden Lehrbuch von Römer entnommen.) 


den Perimeterbogen, daß ein Reflexbildchen auf der Hornhaut des untersuchten 
Auges entsteht, und beobachtet die Lage dieses Bildchens, indem er sein eigenes 
Auge unmittelbar über die Lichtquelle bringt; man führt das Licht so lange an dem 
horizontal gestellten Perimeterbogen entlang, bis man die Stelle gefunden hat, bei 
welcher das Reflexbild mitten auf der Pupille des Schielauges liegt. Der an diesem 
Punkt des Bogens angegebene Winkel ist der Schielwinkel des Patienten. 

Wenn man kein passendes Licht hat, so kann man zur Hervorbringung des 
Reflexbildchens auch einfach den Augenspiegel nehmen und damit das Licht eines 
Fensters in das untersuchte Auge werfen. 


d) Prüfung an der Maddoxschen Tangententafel. Diese Tangententafel 
hat die Form eines Kreuzes mit zwei seitlichen und zwei vertikalen Armen; in der 
Mitte befindet sich als Fixierpunkt eine kleine Lichtquelle und auf den Armen sind 
seitlich Zahlen angegeben, die für 1 und 5 Meter Untersuchungsabstand gelten. 
Diese Zahlen geben den Winkel an, um welchen das auf sie eingerichtete Auge von 


Das Schielen und seine Behandlung. -+ 307 


der Richtung gegen die Mitte abweicht (vgl. Fig. 77). Zur Messung des Schielwinkels 
mit Hilfe der Tangententafel kann man mehrere Verfahren benutzen: 

1. Man stellt in ähnlicher Weise, wie das vorher für das Perimeter beschrieben 
ist, die Zahl fest, welche das Schielauge mit seiner Gesichtslinie berührt, während das 
normale Auge den Mittelpunkt fixiert, indem man mit einer Lichtquelle oder einem 
Spiegel von der Skala aus an dieser entlanggehend dem Schielauge Licht zuwirft. Am 
einfachsten für diesen Zweck ist es, die Tangententafel frei im Raum aufzustellen, oder 
man kann auch in eleganterer Weise (Krusius) die Zahlen auf einer Glastafel an- 
bringen lassen. 

2. Eine einfache, allerdings etwas ungenaue Methode, die aber recht häufig 
angewandt wird, besteht darin, daß man mit dem normalen Auge eine seitliche Zahl 
fixieren läßt, bei der der Reflex des im Kreuzmittelpunkt befindlichen Lichtes mitten 
auf der Pupille des Schielauges liegt. Diese Art der Messung geht von der Annahme 
aus, daß es sich stets um ein konkomitierendes Schielen handelt, bei dem der Grad 
der Abweichung für alle seitlichen Blickstellungen des normalen Auges der gleiche 
ist. Das ist aber keineswegs immer der Fall; wie schon vorher erwähnt, macht sich 
namentlich bei den stärkeren Schielgraden eine Insuffizienz der Abduction für das 
Konvergenzschielen und der Adduction für das Divergenzschielen bemerkbar. In allen 
diesen Fällen ist das Resultat der Messung nicht ganz genau. 

3. Recht bequem ist die subjektive Methode, bei welcher der Patient den Schiel- 
winkel selbst ablesen kann. Diese Methode basiert darauf, daß man Doppelbilder 
von dem Licht erzeugt, welches sich in dem Centrum der Maddox-Skala befindet. 
Anwendbar ist ein solches Verfahren zur Messung des Schielwinkels aber immer nur, 
wenn eine normale Lokalisation vorhanden ist. (Betreffend Prüfung der Lokalisation 
vgl. p. 294). 

Die Doppelbilder macht man bei der subjektiven Methode z. B. dadurch sicht- 
bar, daß man ein Prisma mit horizontaler brechender Kante vor das Schielauge hält 
und dadurch dem Bild dieses Auges einen Höhenabstand vor dem anderen gibt. 
Dann wird das Bild auch den meisten Schielaugen bemerkbar. Es liegt über oder 
unter einer Zahl der Skala, die zugleich den Schielwinkel bezeichnet und die der 
Patient dann selbst ablesen kann. Bielschowsky nimmt zur Ablenkung des Bildes ein 
einfaches Prisma; man kann auch das Maddoxsche Doppelprisma nehmen, bei dem 
zwei Prismen mit den Kanten zusammengelagert sind und zwei 
Bilder entworfen werden, von denen das eine über und das 
andere unter die Skala zu liegen kommt. Noch bequemer ist die 
Anwendung des sog. Maddox-Streifens (vgl. Fig. 78). In einer 
Brillenglasfassung liegen mehrere kleine parallele Glascylinder, 
welche das Bild einer Lichtquelle als einen vertikal zur Achse 
orientierten Lichtstreifen erscheinen lassen. Ist dieser Lichtstreif 
durch Färbung des Glases noch auffallender gemacht, dann 
wird er auch von ziemlich minderwertigen Schielaugen deut- 
lich wahrgenommen. Die Messung ist sehr einfach, denn die 
Zahl, durch die dieser vom Schielauge gesehene Lichtstreif für 
das nicht schielende zu gehen scheint, gibt den Schielwinkel an. 





2. Das Verhalten der Lokalisation. 


Zu seiner Prüfung und Beurteilung dient der schon vorher eingehend ge- 
schilderte Nachbildversuch (vgl. p. 294). 
| 20* 


308 Comberg-Meisner. 
3. Die Prüfung des Binokularsehens, der Fusion und des Tiefensehens. 


Für die Therapie besonders bedeutungsvoll ist die Feststellung, ob und in 
welchem Grade das binokulare Sehen bei den Schielenden vorhanden ist. Die Ver- 
hältnisse sind ziemlich kompliziert; man kann sich vorstellen, daß zwei einander 
entgegenarbeitende Tendenzen bestehen können, welche sich im wechselnden Grade 
bei den einzelnen Fällen bemerkbar machen. Es handelt sich um 

a) die Fusionstendenz, d. h. die psychische Verarbeitungstendenz für binokulare 
Eindrücke, und | | 

b) die Exklusionstendenz, d. h. eine im negativen Sinne wirkende Fähigkeit, das 
eine der beiden Bilder zu unterdrücken. 

Die beste Entwicklung der Tendenz a) kann häufig nicht den vollen Nutzen 
bringen und beim binokularen Sehen nicht die Höchstleistungen ergeben, wenn die 
Tendenz 5) in stärkerem Maße entwickelt ist. Ist die durch 5) entstehende Hemmung 


Fig. 79. 





Amblyoskop nach Worth. 


aber nur unwesentlich und besteht die normale Beteiligung beider Netzhautbilder am 
Aufbau des binokularen Sehfeldes, dann wird auch schon bei einer geringgradigen 
Entwicklung von a) wenigstens das einfache Binokularsehen unter allen Umständen 
vorhanden sein. Ist aber a) dabei gut ausgebildet, dann geht regelmäßig damit Hand 
in Hand die Fähigkeit zur höchstwertigen Ausdeutung des binokularen Bildes, das 
heißt, es ist gutes Tiefensehen vorhanden. 


Auf einfaches Binokularsehen prüft man folgendermaßen: 


1. Man setzt dem Patienten eine Brille mit einem roten und einem grünen Glas 
auf und läßt eine Fläche mit roten und grünen Glasfenstern ansehen. Durch das 
rote Brillenglas kann nur das rote Fenster, durch das grüne nur das grüne Fenster 
erkannt werden, da die gegenfarbigen Lichter die Brillengläser nicht passieren können. 
Sieht der Untersuchte gleichzeitig rotes und grünes Fenster, so besteht auch binoku- 
lares Sehen. Eine ähnliche Probe benutzt rote und grüne Buchstaben auf Papier. 

2. Man nimmt ein Stereoskop und zeigt darin Bilder, die auf jeder Seite ganz 
verschiedene Details enthalten; z. B. ist auf dem rechten Teilbilde ein vertikaler 
Strich, auf dem linken ein horizontaler angebracht. Wenn binokulares Sehen vor- 
handen ist, dann müssen beide Striche gleichzeitig sichtbar sein. 

3. Besonders brauchbar bei Schielenden ist das Amblyoskop (Fig. 79), ein 
Apparat mit zwei verstellbaren Röhren, in welchem jedem Auge in der Richtung 
seiner Gesichtslinie zueinander passende Teilbilder dargeboten werden, z. B. das Bild 


Das Schielen und seine Behandlung. 309 


eines Mannes, welcher nur auf einem Teilbild in der rechten Hand einen Schirm 
hält und nur auf dem anderen Teilbild auf seinem Kopf einen Hut trägt. Bei 
binokularem Sehen muß dann sowohl der Hut wie der Schirm an dem Bilde 
gesehen werden. 

Die Fusionsbreite (d.h. den Winkelbereich, innerhalb dessen Doppelbilder durch 
dynamische Muskelaktion beseitigt werden) prüft man durch Feststellung der stärksten 
Prismen, die noch überwunden werden können oder durch Messung der Einstellungs- 
breite am Amblyoskop und Haploskop. 

Die Fusionstendenz prüft man am Stereoskop oder am Amblyoskop z. B. mit 
dem stereoskopischen Bild von zwei in verschiedenen Entfernungen liegenden Ringen. 

a) Bei einfachem binokularen Sehen mit leidlicher Fusionstendenz, aber unvoll- 
kommener Ausbildung des Tiefensehens wird an solchem Bilde der fixierte Punkt 
und der zugehörige Ring binokular einfach gesehen. Der zweite Ring zerfällt in 
Doppelbilder, von denen das eine unterdrückt werden kann. 

b) Bei ausgeprägten Tiefensehen erscheint ein eindeutiges plastisches Bild. 
Die beiden Ringe werden gleichzeitig gesehen, u. zw. in einer bestimmten zu- 
gehörigen Tiefenentfernung. 


Das Vorhandensein des stereoskopischen Sehens prüft außerdem: 


1. Der Stäbchenversuch. Man läßt durch ein Blendenvisier (am besten ist dazu 
ein leicht konisches Rohr von 20cm Länge, 15 cm Durchmesser der größeren und 10cm 
Durchmesser der kleineren Öffnung) nach drei vertikalen Stäben blicken, die so auf- 
gestellt sind, daß man den Fußpunkt nicht sehen kann. Die Stäbe stehen zunächst in 
einer frontalen Ebene nebeneinander. Geringgradiges Verschieben des mittleren Stabes 
zum Beobachter hin oder vom Beobachter weg muß sofort richtig erkannt werden. 
Der Kopf des Untersuchten darf dabei nicht bewegt werden. 


2. Herings Fallversuch. Der Patient sieht durch einen horizontal gestellten 
Spalt nach einer an einem Faden aufgehängten und meist mit dem Blendenkasten, 
der zur Beobachtung dient, fest verbundenen Glasperle. Man läßt die Glasperle an 
dem Faden fixieren und andere Glasperlen dicht davor oder dicht dahinter herunter- 
fallen. Der Patient muß angeben können, ob es davor oder dahinter war. 


4. Prüfung der Abduction und Adduction. 


Das normale Auge soll bei forcierter Abduction, d. h. bei stärkstmöglicher 
Wendung nach der temporalen Seite, mit dem Limbus gerade den äußeren 
Lidwinkel erreichen, bei forcierter Adduction dagegen mit der Hornhaut so weit 
hinter der Carunkel verschwinden, daß die mittelweite Pupille mit ihrem nasalen 
Rande gerade über dem unteren Tränenpunkt steht. Bei länger bestehendem 
Schielen ändert sich häufig die Abductions- und Adductionsfähigkeit des Auges. 
Beim Konvergenzschielen ist die Adduction häufig vermehrt, so daß die Hornhaut 
manchmal ganz hinter der Carunkel verschwindet, wenn man nach einwärts blicken 
läßt, und, allerdings weniger häufig, auch manchmal die Abduction vermindert. 
Beim Divergenzschielen dagegen findet sich häufiger eine vermehrte Abductions- 
fähigkeit. 

Meist genügt schon die Feststellung, daß ein Plus oder Minus an Adduction 
oder Abduction vorhanden ist. Es läßt sich aber auch messend das Verhalten 
dieser Fähigkeiten verfolgen; man kann sich dann mit dem Millimetermaß auf den 
inneren und äußeren Lidwinkel beziehen. 


310 Comberg-Meisner. 


C. Praktischer klinischer Untersuchungsgang. 


Wünschenswert für alle praktischen Bestrebungen ist die Einhaltung eines ein- 
` fachen klinischen Untersuchungsganges. Die Untersuchung wird am besten 
folgendermaßen vorgenommen: 

1. Anamnese: Wann ist der Augenfehler zuerst bemerkt? Schielte der Patient 
zeitweise oder dauernd, einseitig oder alternierend? Traten Doppelbilder auf? 

2. Art des Schielens, convergens oder divergens, periodisch oder ständig, mono- 
lateral oder alternierend, Beweglichkeit der Augen (+ an Adduction, — an Abduction, 
besondere Höhenkomponente u. s. el 

3. Messung des Schielwinkels, objektiv (Tangentenskala, Perimeter), subjektiv 
(Doppelbilder durch Höhen ablenkendes Prisma oder Maddox-Streifen), dasselbe mit 
Korrektion (s. sp.). 

4. Funktionsprüfung beider Augen ohne und mit Gläsern, Bestimmung der Re- 
fraktion, eventuell unter Atropin. 

5. Untersuchung der relativen Lokalisation; diese läßt sich bereits erschließen 
aus dem Verhältnis des objektiv festgestellten Schielwinkels zu der subjektiven 
Lokalisation des Bildes des Schielauges unter 3. Stimmen beide nicht überein, so 
besteht anomale Lokalisation, allerdings muß immer wieder betont werden, daß die 
Zahlen nur gelten für die besonderen Verhältnisse, unter denen geprüft wurde. Diese 
Methode wird ergänzt durch die Nachbildprüfung mit dem Glühfaden (s. p. 294). 

6. Untersuchung auf Binokularsehen und Fusion am Haploskop oder Amblyoskop. 

Die hierdurch gefundenen, im Einzelfalle sehr verschiedenen Verhältnisse sind 
bestimmend für die Therapie. 


IX. Therapie. 


Vorbedingung für Anwendung einer jeden rationellen Therapie ist die genaue 
‚Kenntnis der Ursachen des betreffenden Leidens. Eine solche besitzen wir aber vom 
Schielen, wie früher ausgeführt ist, noch keineswegs. Wohl kennen wir verschiedene 
Momente, die das Auftreten einer Schielablenkung begünstigen bzw. die bei der 
Mehrzahl derartiger Patienten festzustellen sind, aber ihre ursächliche Bewertung 
ist noch immer Gegenstand der Diskussion. 

Wir beschäftigen uns zunächst mit der Behandlung des Strabismus convergens. 

Die älteste Ansicht über seine Entstehung ging aus von dem hervorstechendsten 
Symptom, der falschen Stellung des Schielauges, das bei geradeaus in die Ferne ge- 
richtetem Blick nasenwärts abgelenkt ist. Es lag nahe, dafür eine angeborene Störung 
der beiden Muskeln anzunehmen, die den Augapfel in der Horizontalebene bewegen, 
also ein Überwiegen des Musculus rectus internus über den rectus externus (muskuläre 
Theorie v. Gräfes) (s. p. 302). Als geeignete Abhilfe erschien Schwächung des einen 
oder Stärkung des Antagonisten oder beides zugleich. So behandelte man seit 
Dieffenbach (1839) den Strabismus convergens durch eine Tenotomie des Rectus 
internus. Man durchschnitt die Sehne desselben an ihrem Ansatz an der Sclera, der 
Muskel zog sich etwas zurück und verwuchs mit dem Augapfel etwas hinter der 
ursprünglichen Insertionsstelle. Oder man durchtrennte den Rectus externus und nähte 
ihn näher am Limbus wieder an, wodurch seine Zugkraft verstärkt wurde. 

Donders zuerst lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß der Strabis- 
mus convergens in weitaus der Mehrzahl der Fälle mit Hyperopie verbunden war, 
die er in dem oben dargelegten Sinne für die falsche Augenstellung verantwortlich 
machte (s. p. 302). Die logische Folge für die Behandlung bestand in der Vollkor- 
rektion der Hyperopie. 


Das Schielen und seine Behandlung. 311 


Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß ein ideales Muskelgleichgewicht, eine 
Orthophorie, zu den Ausnahmen gehört, daß aber trotzdem normalerweise stets eine 
Einstellung beider Augen auf den fixierten Gegenstand durch das Fusionsvermögen 
erreicht wird, sah Worth in dessen angeborenem Fehlen oder wenigstens dessen 
rudimentärer Ausbildung den Hauptgrund zur Abweichung eines Auges. In diesem 
Falle befinden sich die beiden Augen gewissermaßen in einem labilen Gleichgewicht, 
und es bedarf nur eines geringen Anstoßes, um ein Schielen eintreten zu lassen. 
Dieser Anstoß kann sowohl in einer abnormen Ruhelage (Heterophorie) als in einer 
Hyperopie oder in der geringeren Sehschärfe eines Auges oder in einer Kombination 
mehrerer dieser Momente bestehen. Abhilfe kann nur geschaffen werden, wenn es 
gelingt, das Fusionsvermögen durch zweckmäßige Übungen wieder zu heben. 

Die moderne Schielbehandlung hat alle die genannten Mittel zu benutzen, um 
zum Ziel zu kommen. Worin besteht dieses? Der Laie, d.h. der Patient, hält sich 
an das vorstechendste Merkmal des Schielens, die abnorme Augenstellung, die äußerst 
entstellend ist. Diesen Schönheitsfehler will er beseitigt haben. Genügt das dem 
Arzt? Für diesen steht ebenso in erster Linie die Funktionseinbuße des Sehorgans, 
die dem Kranken kaum zum Bewußtsein kommt. Schon die häufige, manchmal 
außerordentlich beträchtliche Verminderung der Sehschärfe des Schielauges wird 
von den wenigsten Schielenden wahrgenommen, selbst wenn sie älter sind. Meist 
sind sie vielmehr sehr erstaunt, wenn sich bei monokularer Sehprüfung die geringe 
Leistung des einen Auges herausstellt. Kaum jemals sind sie sich über das 
Fehlen des körperlichen Sehens im klaren, das an den binokularen Sehakt 
geknüpft ist. Der Arzt dagegen muß gerade auf die weitestmögliche Wieder- 
erlangung dieser Funktionen das größte Gewicht legen, weil nur dann auch ein 
kosmetischer Dauererfolg sicher gewährleistet ist. Wir müssen also als das Ideal 
erstreben eine möglichst weitgehende Herabminderung der Schwachsichtigkeit des 
Schielauges, die ja fast stets nicht congenital oder durch Fundusveränderungen 
bedingt, sondern eine sog. Amblyopia ex anopsia, d. h. durch Nichtgebrauch, 
entstanden ist, und eine Hebung des Fusionsvermögens. Genügt beides nicht zur 
Wiederherstellung normaler binokularer Einstellung, dann erst tritt die operative 
Korrektion in ihre Rechte. Meist haben wir Mühe, den Patienten oder seine Ange- 
hörigen, die zu schneller Beseitigung des kosmetischen Fehlers und damit zur Ope- 
ration drängen, auf diesem etwas mühevollen und umständlichen Wege zum Ziele 
zu führen. Es muß aber, von ganz besonderen Umständen abgesehen, als Kunstfehler 
gelten, einen Schielenden nach der ersten Untersuchung gleich zu operieren. Unser 
Vorgehen ist verschieden, je nach der Lage des einzelnen Falles, nach dem Alter des 
Patienten u. s.w. ` 

Vorbedingung für eine erfolgreiche Behandlung ist eine genaue Untersuchung 
nach der oben angegebenen Weise. Sind wir dann orientiert über Art des Schielens, 
monokular, alternierend, Größe des Schielwinkels, Refraktion, Sehschärfe und Fusions- 
vermögen, so muß, je nachdem, was wir gefunden haben, die Behandlung beginnen. 


Korrektion der Ametropie. 


Besteht eine Hyperopie bzw. ein Astigmatismus, so muß der Brechungsfehler 
auskorrigiert werden. Da der Übersichtige — es wird sich stets um jüngere Individuen 
handeln — gewohnt ist, ständig zu akkommodieren, muß der Ciliarmuskel völlig ge- 
lähmt werden. Das geschieht durch Einträufeln von 1—2 Tropfen 1% iger Atropin- 
lösung an mehreren Tagen hintereinander. Worth empfiehlt sogar, 3mal täglich 3 bis 


312 Comberg-Meisner. 


8 Tage hindurch Atropin zu geben. Das kann zu Hause geschehen; bei kleinen Kindern, 
die das Einträufeln manchmal sehr erschweren, ist es besser, eine Salbe von gleicher 
Konzentration einstreichen zu lassen. 

Es ist zu beachten, daß gelegentlich leichte Vergiftungserscheinungen nach Atro- 
pin beobachtet werden. Diese äußern sich in ihren Anfängen in fliegender Röte des 
Gesichts und Trockenheit im Halse, in höherem Grade können leichte Verwirrtheits- 
stadien auftreten. Dann muß natürlich das Medikament abgesetzt werden, und man 
muß sich mit geringeren Dosen begnügen. Eventuell kann man eine zu starke Re- 
sorption dadurch verhindern, dad man nach Einbringung des Tropfens in den 
Bindehautsack etwa fünf Minuten den Tränensack durch den daraufgelegten Finger 
fest komprimieren läßt und so ein Eindringen des Giftes in Nase und Rachen 
verhindert. 

Die Bestimmung der Refraktion geschieht dann im Dunkelzimmer mit Hilfe 
der Skiaskopie. Auch ein etwa vorhandener Astigmatismus muß. genau festgestellt 
werden. Selbst bei Säuglingen gelingt auf diese Weise eine genaue objektive Ermitt- 
lung des Brechzustandes. Ältere Kinder fordert man auf, den Spiegel zu fixieren, 
kleinere blicken schon von selbst nach diesem leuchtenden Punkt im dunklen Zimmer. 
Die Untersuchung des Schielauges geschieht am besten bei Verdeckung des führenden. 
Nur die wenigen Fälle, bei denen die centrale Fixation bei verdecktem besseren Auge 
nicht möglich ist, machen größere Schwierigkeiten. Man kommt aber auch dort ge- 
wöhnlich noch zum Ziel, sonst muß man sich zunächst begnügen, dessen Refraktion 
angenähert zu bestimmen, eventuell unter Berücksichtigung des besseren. Man ver- 
schiebt dann die exakte Feststellung auf eine spätere Untersuchung, wenn es viel- 
leicht gelungen ist, durch die gleich zu SEH Methode die Amblyopie zu 
bessern. 

Wenn die Kinder schon Zahlen lesen Können oder doch einigermaßen die 
besonders für jüngere bestimmten Tafeln mit Figuren erkennen können, schließt sich 
an die objektive Bestimmung die subjektive an. Wenn die Augen unter Atropin- 
wirkung stehen, so gibt auch diese Prüfung die totale Hypermetropie wieder, muß 
also mit der objektiv gefundenen übereinstimmen. Als Brille verschreibt man dann 
um 0'5 D niedrigere Gläser, also z. B. bei + 5'0 gibt man + 4'5. Unter der Atropin- 
einwirkung ist nämlich auch der normale Tonus des Ciliarmuskels erschlafft, so daß 
man mit den ‚unter Atropin angenommenen Gläsern nach Abklingen der Atropin- 
wirkung eine geringe Überkorrektion und damit eine etwas schlechtere Fernseh- 
schärfe erhalten würde. Bestmögliche Sehschärfe ist aber eine Vorbedingung für 
Hebung der Funktion. 

Kinder von 3—4 Jahren können schon, wenn man sie zu interessieren versteht 
und die Untersuchung nicht bis zur Ermüdung ausdehnt, ganz gute Angaben 
machen, wie weit sie die gebotenen Sehzeichen erkennen. Es sind verschiedene Proben 
im Gebrauch, schwarze und farbige Bilder von Gegenständen in verschiedenen Größen, 
die dem Kinde vertraut sind, eine Uhr, eine L£iter, ein Vogel, ein Kochtopf, eine Tasse 
u. s. w. Mir hat meist ausgezeichnete Dienste geleistet der sog. Snellensche Haken, 
der auch für erwachsene Analphabeten in Gebrauch ist, ein lateinisches E, das nach 
oben, nach unten, nach rechts oder links geöffnet ist. Man gibt dem Kind einen 
gleich gestalteten Haken, an dem ein Stab zum Anfassen ist, etwa in dieser Form I 
in die Hand, zeigt ihm, daß der Käfig oder die Falle oder wie man es sonst nennen 
will, an einer Seite offen ist und dort der Vogel oder die Maus hereinschlüpfen kann, 
und zeigt ihm das an der Figur, die es in der Hand hält. Dann zeigt man ihm zunächst 
an der Sehprobentafel aus der Nähe die größte Figur, die es sicher erkennen kann, 


Das Schielen und seine Behandlung. 313 


und fordert es auf, dem Zeichen, das es in der Hand hält, dieselbe Richtung zu geben 
wie der Figur, die man ihm an der Tafel zeigt. Nach kurzem Üben geht die Prüfung 
meist sehr schnell und sicher vor sich. Man darf sich natürlich nie mit einer Probe 
allein begnügen, sondern muß sich aus jeder Reihe der Tafel mehrere Figuren zeigen 
lassen. 

Sind die Gläser ermittelt, so werden sie aufgesetzt, solange die Atropinwirkung 
noch nicht abgeklungen ist, nötigenfalls gibt man nochmals 1—2 Tropfen. Die Brille 
soll ständig getragen werden, sie wird morgens nach dem Waschen aufgesetzt und 
erst vor dem Schlafengehen abgelegt. Die Kinder machen meist keine Schwierig- 
keiten, sie selber sind noch nicht eitel, höchstens ihre Eltern. 

Großer Wert muß auf richtigen Sitz der Brille gelegt werden, die Gläser müssen 
groß und rund sein, so daß der Träger nicht darüber weg oder seitlich daran vorbei- 
sehen kann. Manche geben kleinen Kindern aus diesem Grunde senkrecht ovale 
Gläser. Die Fassung ist am besten aus gutem Material, das nicht rostet. Mit zu- 
nehmendem Wachstum muß die Fassung erneuert werden. Die Gläser müssen für 
die Ferne zentriert sein und sollen nahe genug vor dem Auge sitzen, allerdings 
ohne die Wimpern zu berühren. Der Nasensteg muß breit und flach sein und der 
Form der Nasenwurzel sich anpassen. Biegsame Reitfedern sollen das ganze Ohr 
umfassen; es muß von den Eltern stets darauf geachtet werden, daß die Brille nicht 
von der Nase abrutscht, so daß dann die Kinder doch darüber weg sehen. Für ganz 
kleine Kinder unter drei Jahren empfiehlt Worth seitlich kurze, nur bis vor das Ohr 
reichende, sog. Damenfedern mit einem Schlitz hinten, durch diesen werden Bändchen 
hindurchgezogen, die um den Kopf herumgebunden werden. Vor dem Ohr werden 
die Federn mit Wolle umwickelt, um das Wundscheuern der Haut zu verhüten. 

Selbst Kinder von mehreren Monaten können schon Brillen tragen (sie sollen 
es auch aus gleich zu erörternden Gründen). Da das Sehvermögen dadurch gebessert 
wird, gewöhnen sie sich ohne Schwierigkeiten daran, hindurchzusehen. Die Be- 
fürchtung der Eltern, daß sehr lebhafte Kinder die Brillengläser zerbrechen und die 
Glasscherben das Auge verletzen, ist gänzlich unbegründet. Ich habe nie einen 
Schaden dadurch gesehen, und auch die Autoren, die besonders Gewicht auf 
frühes Brillentragen legen, wie Worth, Bielschowsky u. a., berichten ausdrücklich 
gleiches. | 

Findet man keine Hyperopie, sondern eine Myopie bzw. einen myopischen 
Astigmatismus, so soll auch dieser voll auskorrigiert und die Korrektion ständig 
getragen werden. Es kommt eben alles darauf an, eine möglichst gute Sehschärfe 
zu erreichen. Freilich kann eine Akkommodationsanstrengung schon beim Fernsehen 
hier nicht als Ursache für den Strabismus angesehen werden, es muß vielmehr eine 
abnorme Ruhelage im Sinne einer Konvergenzstellung oder eine nervöse Ätiologie 
angeschuldigt werden, die neben einer Fusionsschwäche in seltenen Fällen auch bei 
myopischer Refraktion zum Konvergenzschielen führen können (s. p. 297). 

Warum muß großer Wert auf frühestmögliche Korrektion der Ametropie gelegt 
werden? Schon eine geringe Unterwertigkeit des Netzhautbildes im Schielauge, wie 
es durch dessen häufig stärkeren Refraktionsfehler gegenüber dem führenden Auge 
gegeben ist, erschwert die Fusion der beidäugigen Eindrücke zu einem Bilde und 
erleichtert die Unterdrückung des unschärferen (Exklusion). Wir haben gesehen, daß 
die unverhältnismäßig schlechte Sehschärfe des schielenden Auges, die wir, je länger 
der Zustand besteht, um so ausgeprägter finden, fast niemals auf objektiven Sehnerven- 
oder Netzhautveränderungen beruht, sondern größtenteils eine Folge des Schielens 
ist; je eher also das Schielauge ein scharfes Netzhautbild bekommt, desto besser. 


314 Comberg-Meisner. 
Die zweite Aufgabe der Behandlung besteht in der 


Besserung der Sehschärfe. 


Wo schon ein manifester Strabismus besteht, würde allein die Verordnung einer 
passenden Brille nur in den wenigsten Fällen genügen, dieses Ziel zu erreichen, 
denn die fortbestehende Ablenkung verhindert ja das abgelenkte Auge überhaupt 
an der Wahrnehmung des auf der Netzhautmitte Abgebildeten. Wir haben aber ein 
sehr einfaches Mittel, das zu erzwingen, nämlich den Ausschluß des führenden 
Auges. Wenn die nachfolgend beschriebenen Übungen zur Verbesserung des Fusions- 
vermögens Erfolg haben sollen, so muß das sehschwächere Auge nach Worth mindestens 
eine Sehschärfe von etwa °/,, haben. Viele sehen aber bedeutend weniger, können 
sogar die centrale Fixation überhaupt verloren haben. Wie bereits früher hervor- 
gehoben, ist aber diese Schielamblyopie einer wesentlichen Besserung fähig. Am 
sichersten ist es, zunächst für 2—3 Wochen das führende Auge durch eine gut sitzende, 
lichtdicht schließende Klappe aus weichem schwarzen Tuch, die das Tragen der 
Brille nicht verhindert, völlig anszuschalten. Auch das Einklemmen von einem Bausch 
Watte hinter das Glas, der eventuell durch Heftpflaster oder einige Bindentouren 
fixiert wird, ist empfohlen worden. Adam hat besondere Brillen angegeben, die nach 
der Art einer Autobrille anschließen, aber an der Seite des nicht schielenden Auges 
vorne mit undurchsichtigem Glas versehen werden, während von dem Schielauge das 
korrigierende Glas getragen wird. In den ersten Tagen ist große Achtsamkeit der Ange- 
hörigen von nöten, die dafür sorgen müssen, daß dieser Abschluß des besseren Auges 
völlig durchgeführt wird. Das Kind ist also auf das amblyopische Auge allein ange- 
wiesen. Wenn nach 2—3 Wochen eine bedeutende Besserung der Amblyopie festzu- 
stellen ist, empfiehlt Worth, das bessere Auge wieder freizugeben, aber noch einige 
Zeit in dieses einen Tropfen Atropin täglich einzuträufeln. Ist die Schwachsichtigkeit 
‘noch wenig verringert, wird die Behandlung durch Verbinden fortgesetzt, aber nicht 
länger als 2 Monate. Das atropinisierte bessere Auge wird dann meist für die Ferne 
gebraucht, für die Nähe aber, zum Spielen, Lesen u. s. w., ist das Kind zur Benutzung 
des schwächeren Auges gezwungen, das bei einer Sehschärfe von !/,„— '/, nahe Gegen- 
stände besser erkennt als ein atropinisiertes. Manche verzichten auch überhaupt auf 
vollständige Okklusion eines Auges und geben nur Atropin in das bessere Auge. Das 
Kind wird alle Monate etwa einmal kontrolliert. Eine nutzlose Quälerei aber ist es, wenn 
man, wie es früher wohl empfohlen wurde, beide Augen atropinisiert. Die zwecklosen, 
im Interesse des deutlich Sehens von dem Kinde unternommen Versuche zur Akkom- 
modation vergrößern höchstens die Schielstellung. 

Wenn die Sehschärfe beider Augen etwa die gleiche wird, zeigt sich das meist 
darin, daß das bisher führende Auge während der Atropinbehandlung in Schiel- 
stellung geht. Mitunter tritt das bereits nach dem einseitigen Verbinden ein. Wir 
müssen dann in der Behandlung haltmachen, meist wird dann in kurzem doch 
wieder das ursprünglich bessere Auge die Führung übernehmen, sonst kann das 
alte Schielauge auch einmal Atropin bekommen. Anderenfalls atropinisiert man das 
bessere Auge nochmals. Durch diesen Wechsel wird es doch nicht selten gelingen, 
die Schielamblyopie auf dem besseren Auge hintanzuhalten und meist die des 
schlechten zu heben. Ist das gelungen, so beginnt man mit den 


Übungen des Fusionsvermögens. 


Wir bedürfen dazu eines Stereoskops und passender Bilder. Die gewöhnlichen 
Stereoskope haben den Nachteil, daß die Entfernung der Halbbilder nicht in ausreichen- 


Das Schielen und seine Behandlung. 315 


dem Maße geändert werden kann, d.h. nicht entsprechend dem Schielwinkel. Es 
muß nämlich jedes Halbbild in die Sehachse des betreffenden Auges gebracht werden. 
Die meisten Apparate können daher nur gebraucht werden, wenn der Schielwinkel 
sehr klein bzw. durch Operation fast beseitigt ist. Auch das von Tornier-Leipzig 
verbesserte Modell gestattet gerade beim Strabismus convergens keine ausreichenden 
Verschiebungen. Die Übungen sollen aber nicht erst nach einer solchen gemacht 
werden, sondern schon vorher. Am besten ist das sog. Amblyoskop von Worth, 
dem bereits mehrfach genannten Londoner Augenarzt, dem wir gerade in der Schiel- 
therapie wertvolle Hilfe verdanken. 


Er selber beschreibt dieses folgendermaßen: 


Der Apparat besteht aus zwei durch ein Scharnier in A (Fig. 79) verbundenen Hälften, deren 
jede von einem sehr kurzen Messingtubus gebildet wird, an welchem sich ein längerer Tubus unter 
einem Winkel von 120° ansetzt. Der Durchmesser dieser Rohre beträgt 3:75 cm. Jede Hälfte des Apparats 
wird in AX von einer flachen, ovalen Messingplatte verschlossen; in AX befindet sich innen in beiden 
Hälften ein ovaler Spiegel. GH, GH sind die Träger für die Figurenplatten, die aus Vorlagen bes chen, 
welche auf durchsichtigem Papier gezeichnet und auf Glasstreifen aufgeklebt sind. In AB befindet sich 
eine Konvexlinse mit einer Brennweite von 10:5 cm, der Entfernung des reflektierten Bildes von GH 
entsprechend. AB, AB sind Nuten, die bei vertikaler Ablenkung Prismen, Basis oben bzw. unten, 
aufnehmen können. 


D, E, F stellt einen Messingbogen mit zwei Schlitzen vor, einem kurzen Schlitz mit der Klemm- 
schraube D und einem langen mit der Schraube F. Wird letztere gelockert, dann lassen sich die beiden 
Hälften des Apparats zusammenbringen, um einer Konvergenz der Sehachsen bis zu 60° zu entsprechen 
oder sich trennen, um einer Divergenz bis zu 30° zu entsprechen. Wird jedoch die Schraube E fest- 
gezogen und die Schraube D in dem kurzen Schlitz gelockert, dann beschränkt sich die Beweglichkeits- 
amplitude auf nicht mehr als ca. 10°. 


Die Beleuchtung der durchsichtigen Bilder geschieht durch zwei Lampen und 
wird je nach Bedarf für das rechte oder linke Halbbild durch Annäherung oder Ent- 
fernung der zugehörigen Lampe gesteigert oder vermindert. In Deutschland hat 
Krusius einen gleichen Apparat und eine bequemere, freilich auch kostspieligere 
Art der Beleuchtungsveränderung angeben. Die Vorlagen — die von Worth und 
Krusius eignen sich dazu, ebenso andere auf durchsichtigem Papier gedruckte — 
enthalten drei Klassen je nach dem Grade des vorhandenen Fusionsvermögens. 

Die der ersten verlangen noch keine Verschmelzung, sondern nur gleichzeitige 
Wahrnehmung der beidäugigen Eindrücke, zeigen z. B. einen Vogel auf einem, den 
Käfig auf dem andern Bild, oder eine Maus und eine Falle u.s.w. Die Probe wird 
bestanden, wenn beide Gegenstände zugleich wahrgenommen werden. 

Bei der zweiten Klasse haben beide Bilder eine Figur oder einen wesentlichen 
Teil einer solchen gemeinsam, dem einen Halbbild fehlt ein wichtiger Teil, auf dem 
anderen ist dieser vorhanden, dagegen ist ein anderer auf dem ersten vorhandener 
ausgelassen. So zeigen hierher gehörende Bilder von Worth links einen Mann mit 
einem Hut auf dem Kopf und einem Regenschirm in der Hand, aber ohne ein linkes 
Bein, auf dem rechten Halbbild ist dieses vorhanden, nicht aber Hut und Regen- 
schirm. Das doppelt vorhandene Objekt muß einfach gesehen, also rechts- und links- 
äugiger Eindruck verschmolzen werden. Daß dem so ist und nicht etwa: nur das 
Netzhautbild eines Auges wahrgenommen wird, geht daraus hervor, daß die jedem 
Bilde besonderen Merkmale gleichfalls an dieser Figur vorhanden sind, im oben er- 
wähnten Falle also beide Beine, Hut und Regenschirm. 

Vorlagen der dritten Klasse werden richtig nur dann gesehen, wenn die Betrachter 
über stereoskopisches Sehen verfügen, also das Gesamtbild in Tiefendimension erscheint 
(z. B. Bild eines aufrecht oder umgekehrt stehenden Eimers). 

Alle Figuren müssen sehr einfach und dem Verständnis der Kinder, denn um 
solche handelt es. sich fast stets, angepaßt sein. 


316 Comberg-Meisner. 


Nach Worth soll mit diesen Übungen schon bei Patienten von 3—3'/, Jahren 
begonnen werden. Es gelingt dann, in wenigen Wochen zum Ziele zu kommen; 
zwischen dem 5. und 6. Jahr dauert es wesentlich länger, später sind sie nur noch 
ausnahmsweise von Erfolg. 

Vorbedingung ist eine genügende Sehschärfe des Schielauges; besteht starke 
Amblyopie (DOLL, so muß zunächst in der oben angegebenen Weise die Sehschärfe 
gehoben werden. Je kürzer das Schielen dauert, desto günstiger die Aussichten. Ein 
Refraktionsfehler muß korrigiert sein. Man beginnt mit den Bildern der Klasse I und 
bringt durch Verschieben der Amblyoskoparme jedes Bild in die Sehrichtung des 
betreffenden Auges. Zunächst wird nur das Bild des führenden Auges wahrgenommen 
werden. Dann wird durch Änderung der Beleuchtung dieses abgeschwächt, das andere 
erhellt, worauf meist das erstgesehene verschwindet, zu gunsten des zweiten Halb- 
bildes. Nach Anpassung der Beleuchtung gelingt es dem Kinde, allmählich beide 
Bilder wahrzunehmen. Durch Änderung des Abstandes wird allmählich der Vogel in 
den Käfig, die Maus in die Falle schlüpfen u. a. m. 

Dann wird Serie II vorgenommen. Werden beide Bilder been SO 
sucht man durch langsames Hin- und Herbewegen der Bilder die Fusionsbreite 
zu erhöhen. 

Wenn das Kind eine etwas größere Fusionsamplitude erworben hat, so besitzt 
es meist auch stereoskopisches Sehen, d. h. es erkennt die Bilder der UL Serie 
richtig. 

Ist das erreicht, so versucht man langsam die Belichtung beider Bilder auszu- 
gleichen. All dies läßt sich in der Regel bei jüngeren Kindern in 5—6 Sitzungen, 
je eine in der Woche, erreichen. In manchen Fällen kommt es dann zu spontaner 
Heilung des Schielens, da in dem Patienten der Trieb, einfach zu sehen, stark genug 
geworden ist, um die etwaigen Widerstände (Anomalie der Ruhelage etc.) auszugleichen. 
Sonst gelingt es wenigstens durch in größeren Zwischenräumen, etwa allmonatlich, 
vorgenommene Übungen, das wieder erworbene Fusionsvermögen zu erhalten. 
Nimmt trotz Korrektion des Brechungsfehlers und leidlicher Fusionsbreite der Schiel- 
winkel nicht mehr ab, so kann eine Operation die Geradestellung erleichtern, eine 
Vorlagerung des Externus mit oder ohne Tenotomie des Internus. Der Rest des Schiel- 
winkels wird dann in der Regel durch Fusion überwunden und diese sichert den 
Erfolg des Eingriffs. 

Während ein großer Teil der Fälle von Strabismus convergens unilateralis durch 
diese Übungsmethoden das Fusionsvermögen wieder erlernen kann, besteht diese Aus- 
sicht bei dem alternierenden Schielen weniger. Hier ist auch häufig keine Amblyopie 
vorhanden, dagegen eine Schwäche oder nach Worth ein congenitales Fehlen der 
Fusion überhaupt, das auch durch Übungen nicht zu beheben ist. 

Wir müssen in diesen Fällen die Refraktionsfehler korrigieren und, wenn der 
Patient etwas älter geworden ist, operieren. Die Prognose ist schlechter als bei vor- 
handener Fusion, manchmal tritt hartnäckiges lästiges Doppelsehen ein; ein Operations- 
erfolg kann, da die gute Stellung nicht durch Fusion erhalten wird, wieder zurück- 
gehen. 


Die Operation 


deren Indikation in obigen Ausführungen bereits zum Teil gegeben ist, soll grundsätz- 
lich nicht zu früh erfolgen, wenn nicht ein wiedererlangtes Fusionsvermögen ein 
Dauerresultat wahrscheinlich macht. Sie soll tunlichst unter Lokalanästhesie vorge- 
nommen werden, da in der Narkose der Schielwinkel sich manchmal wesentlich 


Das Schielen und seine Behandlung. 317 


verändert und also keinerlei Dosierung möglich ist. Als Regel soll nicht die tech- 
nisch einfachere Tenotomie des Internus vorgenommen werden, weil sie durch 
Zurücksinken der Carunkel kosmetisch schlechter ist und manchmal durch Er- 
schwerung der Konvergenz auch funktionelle Beschwerden beim Nahsehen her- 
vorruft. Es muß wenigstens ein Plus an Adduction vorhanden sein, d. h. die 
Hornhaut muß bei Einwärtswendung zum Teil hinter der Carünkel verschwinden. 
Eine Vorlagerung kann einen Schielwinkel von 15 Grad ausgleichen, ist dieser 
noch größer, so muß die Tenotomie des Internus hinzugefügt, eventuell auch am 
‘anderen Auge der Externus vorgelagert werden. 


Die Tenotomie des Musculus rectus medialis wird (nach Bielschowsky im 
„Lehrbuch und Atlas der Augenheilkunde“ von Axenfeld, dem auch die nach- 
folgenden Skizzen Fig. 80 und 81 entnommen sind) folgendermaßen ausgeführt 
(Fig. 80): 





Tenotomie (Rücklagerung). 


1. Durchtrennung der Conjunctiva über dem Sehnenansatz, d. i. ca. 3 mm ent- 
fernt vom Limbus. 

2. Aufsuchen der in die Fascia eingehüllten Sehne und Abtrennung der- 
selben an ihrer Insertionsstelle; man behält die Sehne in der (chirurgischen) Pinzette 
und führt 

3. einen feinen schwarzen Seidenfaden von der hinteren (bulbären) Fläche des 
Muskels nach vorne hindurch (von a nach b) und sodann in gleicher Weise durch 
die Bindehaut, die ihn deckt. Sodann geht man mit demselben Faden von der Hinter- 
fläche aus durch die Limbusbindehaut bei d. 

Die Fadenenden werden nicht angezogen, sondern lose geschlungen. 

Diese Naht wird gelegt, um den Muskel durch Anziehen des Fadens etwas mehr 
der alten Insertionsstelle zu nähern, falls in den nächsten Tagen die Wirkung der Rück- 
lagerung sich als zu stark erweist, d. h. falls schon bald Parallelstellung oder gar 
leichte Divergenz des operierten Auges auftritt. Es muß vielmehr, da der Effekt 
der Tenotomie sich noch etwas steigert, zunächst eine leichte Konvergenz bestehen 
bleiben. 

4. Anlegung eines einseitigen Verbandes für 3—4 Tage. 


318 Comberg-Meisner. 


Die Vorlagerung nimmt Bielschowsky in dieser Weise vor (s. Fig. 81): 

1. Die Bindehaut über dem Sehnenansatz wird, wie oben beschrieben, ein- 
geschnitten. 

2. Die Sehne wird mit chirurgischer Pinzette gefaßt, am Ansatz abgetrennt 
und sodann mit einer Klemmpinzette festgehalten. 

3. Ein doppeltarmierter Seidenfaden wird bei a und a! am Limbus etwas ober- 
und unterhalb des horizontalen Meridians durch Bindehaut und oberste Skleral- 
lamellen eingeführt und in der Bindehautwunde vor der alten Insertionsstelle aus- 
gestochen (b und 51), der mittlere Teil des Fadens bleibt auf der Hornhaut liegen. - 

4. Beide Nadeln werden bei c und c! von hinten durch Sehne und Binde- 
haut gestochen. 

5. Hierauf die Sehne, je nach Bedarf, um ein gewisses vor den Fäden ge- 
legenes Stück gekürzt (Vorsicht, dabei die Fäden nicht durchschneiden). 


Fig. 81. 





Vorlagerung. 


6. Die eine Nadel wird durch die auf der Hornhaut liegende Schlinge geführt, 
dann beide Fädenenden angezogen, geknotet und abgeschnitten. Die Sehne kommt 
dadurch auf b, bt zu liegen. 

7. Binokulus für 5—6 Tage. Entfernung des Fadens nach 8 Tagen. 

Da der Effekt der Vorlagerung in einigen Tagen noch beträchtlich zurück- 
geht, so muß anfänglich eine Überkorrektion vorhanden sein. 

Bei beiden Fällen muß man beim Verbandwechsel kontrollieren, ob die Horn- 
haut nicht durch ein auf ihr liegendes Fadenende gescheuert wird. 

Es ist selbstverständlich, daß die Eingriffe nur bei sauberen Lidrändern und 
Bindehaut vorgenommen werden dürfen. Es kann sonst zu unangenehmen Horn- 
hautgeschwüren, ja selbst zu Panophthalmie und Verlust des Auges kommen. 

Strabismus divergens, der sich vielfach bei myopischer Refraktion findet, 
bedingt ebenso wie der convergens zunächst Vollkorrektion des Brechungsfehlers. 
Bei guter Sehschärfe des Schielauges gelingt es so, das Divergenzschielen in Früh- 
fällen, namentlich wenn es erst zeitweise auftritt, wieder zum Verschwinden zu bringen. 
Auch Übungen können versucht werden, das Fusionsvermögen ist meist gut; da diese 
Abweichung meist wesentlich später eintritt als das Konvergenzschielen, haben beide 
Augen geraume Zeit zusammengearbeitet. Häufig aber wird man erst durch eine Vor- 
lagerung eines oder beider Interni die binokulare Einstellung ermöglichen müssen. 


Das Schielen und seine Behandlung. 319 


Da der Effekt einer Vorlagerung erfahrungsgemäß im Laufe der Zeit etwas zurückgeht, 
im Gegensatz zur Tenotomie, so muß anfangs ein leichter Übereffekt vorhanden sein, 
im Sinne einer geringen Konvergenz. Ist kein Brechungsfehler vorhanden oder ist das 
abgewichene Auge schwachsichtig — meist handelt es sich nicht um eine Schiel- 
amblyopie, sondern die schlechte Sehschärfe ist durch krankhafte Veränderungen 
des Auges, Maculae corneae, Linsentrübungen oder Aphakie, Verletzungsfolgen, Hinter- 
grundveränderungen bedingt — so muß gleichfalls die operative Geradestellung 
versucht werden. Bei Sehschwäche ist die Prognose für eine Dauerheilung nicht sehr 
gut, allzu häufig tritt eine Divergenz später wieder auf. In all diesen Fällen ist unser 
Ziel wesentlich niedriger gesteckt als bei Konvergenzschielen, wir müssen uns mit 
einem kosmetischen Erfolg begnügen, der freilich dem Patienten fast stets völlig genügt. 

Eine Behandlung der Heterophorie wird in den meisten Fällen durchaus 
unnötig sein, da diese von der weitaus größten Anzahl der Träger gar nicht empfunden 
wird. Sie ist jaauch, wie erwähnt, als das Häufigere und die Orthophorie als Selten- 
heit anzusehen. 

Eine Störung der Funktion tritt bei latenter Divergenz (Exophorie) meist erst 
bei höheren Graden ein, bei latenter Konvergenz (Esophorie), wie oben erwähnt, 
sehr viel eher und häufiger. Die Gründe sind bereits dargelegt. Die Beschwerden 
äußern sich besonders bei Naharbeit, also beim Lesen, Schreiben, feineren mechani- 
schen, also auch Handarbeiten, in vorschneller Ermüdung, Ineinanderlaufen der 
Zeilen und Doppelbildern. Besteht eine Ametropie, so wird deren Korrektion nicht 
selten helfen, namentlich wenn wie gewöhnlich die Exophorie mit Myopie, die Eso- 
phorie mit Hyperopie verknüpft ist. In beiden Fällen wird durch Tragen des den 
Brechungsfehler ausgleichenden Glases das Verhältnis von Konvergenz und Akkom- 
modation dem bei Emmetropie bestehenden normalen genähert, wie dies schon 
beim Strabismus erklärt ist. Sehr unangenehm können aber die Fälle von Divergenz 
bei Hyperopen und Konvergenz bei Myopen sein, beide Male steigern wir durch 
Korrektion der Ametropie die Neigung zu fehlerhafter Divergenz bzw. Konvergenz. 

Wir besitzen ferner in den Prismengläsern ein Mittel, die Abweichung der 
Augen bis zu einem gewissen Grade auszugleichen, indem wir bei Exophorie die. 
Basis des Prismas nasal, die brechende Kante temporal setzen. Bei Esophorie ist 
die umgekehrte Lage erforderlich. Die Gläser werden in gleicher Stärke vor beide 
Augen gegeben, und es ist durchaus nicht nötig, auch vielfach gar nicht möglich, 
die Abweichung voll auszugleichen, der Abstand der Doppelbilder wird aber doch 
wesentlich verringert, und es wird dem Patienten in vielen Fällen gelingen, den 
Rest mit Hilfe seines Fusionsvermögens auszugleichen. Die Verordnung von mehr 
als 3, allerhöchstens 4 Grad Prismen vor jedem Auge ist wegen der bei stärkeren 
Prismen auftretenden farbigen Zerstreuung des Lichtes meist nicht tunlich. Gelegent- 
lich werden auch noch stärkere Grade vertragen. 

Die Prismengläser können zusammen mit sphärischen Gläsern verordnet werden. 
Prismatische Wirkung wird auch durch Dezentrierung der sphärischen Gläser er- 
reicht; indem wir z. B. bei Konkavgläsern die Pupillardistanz etwas größer an- 
geben (etwa 2—3 mm), als den Verhältnissen entspricht, erreichen wir dasselbe wie 
mit einem schwachen Prisma, Basis nasal. Umgekehrt empfiehlt sich bei Hyperopie 
mit Exophorie eine etwas geringere Distanz der Gläser. Sinngemäß ist bei Höher- oder 
Tieferstand eines Auges zu verfahren, verschiedene Höheneinstellung der Gläser, 
ein Hilfsmittel, das bisweilen vom Patienten selbst aufgefunden und benutzt wird. 
Anderseits ist eine schlechtsitzende Brille im stande, durch störende Prismenwirkung 
dieselben Beschwerden hervorzurufen wie eine Heterophorie. 


320 Comberg-Meisner. 


Bezüglich der Wirkung der Dezentration merke man sich folgende Regel: 
Die Dezentration einer Linse um 1 cm hat eine prismatische Wirkung von eben- 
soviel Dioptrien, als die Linse Brechkraftsdioptrien zählt. 

Die genannten friedlichen Mittel genügen meist, wenn die Divergenz erst bei 
Naharbeit lästig wird, es sich also genau genommen, um eine Insuffizienz der Kon- 
vergenz handelt. Zerfallen aber bereits bei Blick in die Ferne die Objekte leicht in 
Doppelbilder (gekreuzte), so muß man sich gelegentlich zu einer vorsichtigen Vor- 
lagerung eines oder beider Interni mit einem anfänglichen Übereffekt entschließen. 
Von einer Tenotomie der Antagonisten ist hier stets abzusehen. 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen 
Formen der Tuberkulose. 


Von Dr. H. Ulrici, Ärztlicher Direktor des Städtischen Tuberkulosekrankenhauses 
Waldhaus-Charlottenburg, Sommerfeld-Osthavelland. 





So häufig die beiden schlimmsten Geißeln der zivilisierten Völker, die Tuber- 
kulose und die Syphilis, in ihrer nosologischen Form als chronische infektiöse Seuchen 
und in den Phasen ihrer Pathogenese zueinander in Parallele gestellt worden sind, 
so wenig verfolgt die therapeutische Idee bei beiden gleiche Ziele oder geht gar 
gleiche Wege. Die Heilung der Syphilis, deren infektiösen Charakter man freilich 
von jeher sozusagen vor Augen hatte, wird auf dem Wege der Abtötung der 
Infektionserreger gesucht, systematisch allerdings erst, nachdem Schaudinn vor 
20 Jahren den Erreger gefunden hatte; da der Primäraffekt auf der äußeren Haut 
liegt und in der Regel bemerkt und erkannt wird, kann die kausale Therapie kurze 
Zeit nach der Infektion und vor dem Stadium der Generalisation oder doch zu 
seinem Beginn einsetzen. Bei der Tuberkulose aber bestehen große Schwierigkeiten, 
den rechten Zeitpunkt für ein radikales Vorgehen gegen die Krankheitserreger ab- 
zupassen, da der Primäraffekt in den inneren Organen, meist in der Lunge, liegt 
und fast niemals frühzeitig bemerkt wird. Es bestände wohl die Möglichkeit, die 
Infektion mit Tuberkelbacillen alsbald festzustellen, doch wäre heute der einzige Weg 
die regelmäßig in kurzen Abständen wiederholte Prüfung der Tuberkulinempfind- 
lichkeit vom Säuglingsalter an, also ein umständliches Verfahren, das zweifellos höchst 
unpopulär sein und sich deshalb für die planmäßige Anwendung bei der Bekämpfung 
der Tuberkulose nicht eignen würde. Aber der Schwierigkeiten einer kausalen Therapie 
sind noch mehr. Während der syphilitische Primäraffekt unbehandelt regelmäßig 
in das Stadium der Generalisation übergeht, das sich durch multiple Schleimhaut- 
herde und Drüsenschwellungen als Zeichen der hämatogenen und Iymphogenen Ver- 
breitung der Spirochäten und außerdem recht auffällig durch das Exanthem als 
Ausdruck der eingetretenen Allergie dokumentiert, bleiben etwa */, der tuberkulösen 
Infekte ohne jede Behandlung im Stadium des Primärkomplexes — Primärinfekt + 
Infekt der regionären Lymphdrüse — endgültig stecken, überschreiten also niemals 
die Schwelle klinischer Bedeutung und bedürfen keiner Behandlung. Da wir aber 
keinerlei Möglichkeit haben, zu erkennen, ob ein tuberkulöser Infekt stecken bleiben 
wird oder nicht, müßte die frühzeitige kausale Therapie alle Infektionen umfassen, 
hätte also gleichsam mit 80% Leerlauf zu arbeiten, eine unökonomische Methode, 
die mit dem energischen Widerstand der Eltern der gesunden Kinder zu rechnen 
hätte. Schließlich sind die Spirochäten sehr empfindliche Bakterien, und wenn ihnen 
gegenüber das Problem der Therapia sterilisans magna noch nicht restlos gelöst 
ist, so sind die Aussichten, den Tuberkelbacillus, der durch seinen Wachsmantel 
gegen äußere Schädigungen aller Art so gut geschützt und deshalb recht widerstands- 
fähig ist, im lebenden Organismus durch specifische oder unspecifische Gifte ab- 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 21 


322 H. Ulrici. 


zutöten, nicht gerade gut. Da aus den geschilderten Gründen der Angriff nicht gegen 
wenige frisch eingedrungene Bacillen gerichtet, sondern erst eingeleitet werden kann, 
wenn die tuberkulöse Infektion klinisch als tuberkulöse Erkrankung erkennbar wird, 
so ist der geeignete Zeitpunkt für die kausale Therapie umsomelır verpaßt, als der 
ohnehin resistente Bacillus inzwischen in Schlupfwinkeln liegt, wo er schwer zu er- 
reichen ist, z.B. in mortifiziertem oder abgekapseltem Gewebe, das nur sehr be- 
schränkt am Säfteaustausch teilhat, und die große Zahl der Bacillen würde zu 
ihrer Vernichtung sicherlich eine so große Dosis des Heilmittels erfordern, daß der 
Organismus darunter leiden oder gar daran zu grunde gehen müßte; auch könnte 
die plötzliche Abtötung großer Mengen von Bakterien Toxinmengen frei machen, 
die für den Organismus eine Gefahr bedeuten (Tuberkulinchoktod!). 

So steht die kausale Therapie der Tuberkulose heute vor Aufgaben, die viel 
komplizierter sind, als sie vor vier Jahrzehnten nach der Klärung der Ätiologie der 
Tuberkulose zunächst erscheinen mochten, und es kann daher nicht wundernehmen, 
daß wir bisher nur bescheidene Ansätze zu dem großen Unternehmen der Radikal- 
behandlung zu verzeichnen haben, rudimentäre Versuche specifischer und chemo- 
therapeutischer Art, auf die näher einzugehen für den Kliniker sich nicht verlohnt. 

Zum Glück besitzt der menschliche Organismus, in den tuberkulosedurch- 
seuchten Zonen wenigstens, eine große Widerstandsfähigkeit gegen die Tuberkulose, 
die sich in der eminenten Neigung tuberkulöser Herde zur Spontanheilung zeigt. 
Wäre das nicht der Fall, so müßten die Völker Europas und der Neuen Welt von 
dieser chronischen Seuche längst vom Erdboden getilgt sein. Der Weg dieser Selbst- 
heilung ist merkwürdigerweise nicht der der Erregereliminierung. Was wir klinisch 
an solcher Eliminierung beobachten, ist ein Pyrrhussieg des Organismus, der sich 
zwar durch die Gewebseinschmelzung ungeheurer Massen von Bakterien entledigt, 
dabei aber eine so schwere Schädigung der eigenen Organe und ihrer Funktion 
erfährt, daß er häufig daran zu grunde geht. Der Weg der Heilung ist vielmehr 
die Demarkation gegen das kranke Gewebe, die bindegewebige Induration der 
kleineren und die schwielige Abkapselung der größeren Herde. So isoliert der 
Organismus im Krankheitsherd den eingedrungenen Feind, macht ihm schranken- 
lose Ausbreitung unmöglich und findet zugleich einen eigenartigen Modus vivendi 
mit dem Bacillus in der relativen Immunität, die von den Tuberkelbacillen und 
den von ihnen gesetzten Gewebsveränderungen unterhalten wird und die den 
Organismus gegen die endogene Metastasierung und gegen die exogene Super- 
infektion schützt. Welcher Art freilich die Abwehrkräfte sind, die der Organismus 
aus sich heraus oder unter dem gegnerischen Anreiz aufbringt, ob die etwa Iymphogen 
oder hämatogen vagabundierenden Bacillen durch humorale Antikörper abgetötet 
werden, ob sie oder intrakanalikulär neu aufgenommene Bacillen durch celluläre 
Kräfte am Eindringen in das Gewebe gehindert und so der Möglichkeit der Ver- 
mehrung beraubt oder ob sie nach dem Eindringen in die Zellen abgebaut werden, 
das alles sind offene Fragen, in denen die Therapie einstweilen vom Organismus 
noch nichts lernen und deshalb noch nicht speziell unterstützend eingreifen kann. 
Die Antikörper, die vielleicht in diesem grandiosen, aber geheimnisvollen Kampfe 
eine Rolle spielen, sind vorerst hypothetische Gebilde, die noch nicht dargestellt 
sind, und es ist durchaus zweifelhaft, ob eine Antikörperbildung durch specifische 
Reize (Tuberkulin) hervorgerufen oder gesteigert werden kann. Auch die specifische 
Therapie kann daher als eine kausale Behandlung nicht angesprochen werden, und 
die Erforschung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen der mehr geglaubten 
als bewiesenen klinischen Heilung der Tuberkulose durch Tuberkulinbehandlung 





Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 323 


und den Vorgängen im kranken Gewebe sowie im Gesamtorganismus und dem 
Schicksal der Krankheitserreger ist nach der Aufstellung einer Anzahl interessanter 
Tuberkulintheorien (Sahli, Wassermann und Bruck, Wolff-Eisner, Selter) ins 
Stocken geraten. 

Für das ätiologisch einheitliche Krankheitsbild der Tuberkulose hat die Therapie 
heute kein einheitliches Heilverfahren. Es liegt das aber keineswegs allein an der 
Unzulänglichkeit der ärztlichen Wissenschaft und der Heilkunst insbesondere, sondern 
ist tief in der Natur der Krankheit verankert. Die Tuberkulose ist eben keine ein- 
fache Infektionskrankheit mit akutem Beginn und typischem Ablauf, sondern ein 
langwieriger komplexer Vorgang, der zwar bestimmte Entwicklungsphasen, aber 
innerhalb dieser Phasen einen außerordentlichen Reichtum der Formen zeigt, 
der zweitens die Eigentümlichkeit hat, lokal abzuheilen und alsbald an anderer Stelle 
weiterzuschreiten, also von der Regression zur Progredienz übergeht und umgekehrt. 
Schließlich ist für die therapeutischen Bestrebungen von größter Bedeutung, daß 
die Tuberkulose neben rückbildungsfähigen entzündlichen Veränderungen in der 
Hauptsache Herde setzt, die morphologisch und vor allem klinisch in gewissem 
Grade den Charakter der Neubildung bieten, indem sie das Organgewebe durch- 
setzen und zerstören. So wird das Wesen der Infektionskrankheit oft ganz und gar 
verdeckt durch die klinischen Erscheinungen der chronischen Organerkrankung und 
die Therapie hat immer die doppelte Aufgabe, die Infektionskrankheit zu bekämpfen 
und das beschädigte Organ in den bestmöglichen Zustand zu versetzen. 

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die frühzeitige Behandlung der Tuberkulose 
die besten Aussichten für ihre Heilung bietet. Hier steckt die Schwierigkeit. Die 
klinische Beobachtung der Einwirkung der Tuberkulose auf den Organismus und 
die Ermittlung des tuberkulösen Herdes hat gröbere Veränderungen zur Voraus- 
setzung; die klinisch sicher nachweisbare Tuberkulose ist also immer über den ersten 
Beginn der Krankheit schon ein Stück hinaus. Man hat seinerzeit große Hoffnungen 
auf den diagnostischen Wert des Tuberkulins gesetzt, aber neben der Bedeutung 
der Tuberkulinproben für die wissenschaftliche Erkenntnis des Tuberkuloseablaufs 
und der Verbreitung der Infekte verschwindet fast ihr praktischer Wert. Die Lokal- 
reaktion und die Allgemeinreaktion weisen jeden tuberkulösen Infekt, auch den seit 
10 Jahren latenten, nach und sind deshalb für die Diagnose der tuberkulösen Er- 
krankung nicht zu brauchen. Die Herdreaktion aber fällt nur sehr ausnahmsweise, 
bei welchem Organ es auch sei, unzweideutig positiv aus und wenn man mit größerer 
Dosis eine deutliche Antwort erzwingen wollte, würde man Gefahr laufen, erheblichen 
Schaden anzurichten. Zuverlässig ist die Tuberkulindiagnostik nur im negativen 
Ausfall der exakten Cutanprobe und auch das noch mit Einschränkungen, sowie 
allenfalls im Säuglingsalter. Neuerdings sucht man das Problem serologisch zu lösen 
(Besredka, v. Wassermann u. a.). Aber die alternative Fragestellung der „Aktivitäts- 
diagnostik“ entspringt doch mehr dem Bequemlichkeitsbedürfnis der Praxis als der 
wissenschaftlichen Betrachtung des Ablaufs der Tuberkulose. Wenn die relative 
Tuberkuloseimmunität auf der Anwesenheit virulenter Erreger im Organismus und 
den durch sie gesetzten Gewebsveränderungen beruht (Neufeld, v. Wassermann), 
so besteht beim klinisch Gesunden bereits eine Wechselwirkung zwischen Wirts- 
organismus und Bacillus und zwischen dieser Beziehung und der schweren Tuber- 
kulosekrankheit gibt es nur fließende Übergänge, aber keine qualitative Differenz. 
Das außerordentliche feine biologische Reagens, das wir im Tuberkulin besitzen — 
spricht doch der durch die Tuberkelbacillen sensibilisierte Organismus bereits auf 
die Intracutanprobe mit 0'1 cm? der Alttuberkulinverdünnung 1:10 Millionen deutlich 

21* 


324 | H. Ulrici. 


an — gestattet keine Unterscheidung zwischen der sog. latenten und aktiven Tuber- 
kulose, vielmehr zeigt die allergische Kurve, das heißt die kurvenmäßige Darstellung 
der Tuberkulinempfindlichkeit über lange Perioden, bei der klinisch latenten Tuber- 
kulose ungefähre Übereinstimmung mit der Kurve der fortschreitenden Tuberkulose 
bis in das weit vorgeschrittene Stadium der tertiären Phthise hinein (Lange). Auch 
der Versuch von Deycke und Much, mit einem differenzierten Tuberkulin, den 
Partialantigenen, den pathologischen Vorgang für therapeutische Zwecke zu analysieren, 
kann nicht als geglückt angesehen werden. Nach diesen Erfahrungen erscheint es 
zweifelhaft, ob es möglich ist, eine biologische Reaktion so einzustellen, daß wir 
eine für die Tuberkulosetherapie auszuwertende Antwort erhalten. Anderseits zeigen 
die Versuche, aus der Morphologie des Blutes (weißes Blutbild) oder dem Chemismus 
des Serums (Blutkörperchensenkung, Lipasebestimmung, Globulin-Albumin-Titer) für 
die Diagnose der aktiven Tuberkulose Nutzen zu ziehen, daß diese unspecifischen 
sekundären Veränderungen, in denen sich die pathologische Physiologie der Tuber- 
kulose widerspiegelt, nicht durch eine den Organismus überschwemmende Noxe . 
im Beginn der Erkrankung plötzlich hervorgerufen werden, sondern sich ganz all- 
mählich entwickeln und Abstufungen zeigen, die weniger der Ausdehnung der 
Krankheitsherde als der Intensität des pathologischen Vorgangs zu entsprechen 
scheinen; können doch tuberkulöse Herde von erheblicher Ausdehnung in der Lunge 
z. B. vorhanden sein, ohne daß solche Veränderungen den Krankheitsvorgang deutlich 
anzeigen, und die Kurven aller dieser Reaktionen steigen weiterhin gradatim an. 
Während also die specifische Reaktion jede Infektion nachweist, weiterhin aber keine 
Unterscheidung der Krankheitsvorgänge zuläßt, treten die unspecifischen humoralen 
Veränderungen erst im Laufe der weiteren Entwicklung der Tuberkulose allmählich 
auf, u. zw. in der Regel so spät, daß sie für das frühzeitige Einsetzen der Therapie 
nicht brauchbar sind. In diesen specifischen und unspecifischen Anzeichen markiert 
sich der Beginn einer Periode der Aktivität nicht und es ergibt sich auch kein 
Anhalt dafür, daß sie sich regelmäßig von dem vorausgegangenen Spiel und Wider- 
spiel scharf abhebt. Was sich uns klinisch — selten genug übrigens — als akuter 
Beginn einer Tuberkulose präsentiert, entpuppt sich bei näherer Betrachtung, ab- 
gesehen von der außerordentlichen Beobachtung primärer Infektionen, als eine häma- 
togene oder intrakanalikuläre Dissemination, die von einem älteren, in der Regel 
als aktiv anzusehenden Herde ausgeht; das, was wir als den typischen klinischen 
Hergang bezeichnen müssen, ist die schleichende Entwicklung der Tuberkulose, 
deren Anfänge nicht bemerkbar sind. Bis heute ist die Bedeutung der Complement- 
bindung nach Besredka oder v. Wassermann für die Ermittlung der „aktiven“ 
Tuberkulosen noch strittig (Jacob und Moeckel, Schloßberger, Hartsch, 
Lusene und Prigge) und sie wird es voraussichtlich bleiben. Biologisch gibt 
es, außer dem Zeitpunkt der Infektion, der klinisch in der Regel nicht interessiert, 
keinen Beginn der Tuberkulose und die Erfahrung der Klinik stimmt damit überein; 
die scharfe Grenze, die von der Aktivitätsdiagnostik gesucht wird, ist im chronischen 
Ablauf der Tuberkulose nicht vorhanden. Nicht als ob die manifeste Tuberkulose 
und der seit Jahrzehnten latente Primärinfekt sich nicht serologisch unterscheiden 
sollten; aber die allmähliche Entwicklung des tuberkulösen Prozesses muß sich auch 
serologisch abgestuft zu erkennen geben. Was die Klinik braucht, ist daher wohl- 
verstanden nicht die Alternativprobe: hie aktiv, hie latent, sondern der Ausbau der 
Methoden für die Abschätzung der Bedeutung tuberkuläser Infekte und Herde. 

Mehr noch, als es heute schon der Fall ist, sollte die Klinik sich zum Ziel 
setzen, anatomisch und physiologisch den pathologischen Vorgang zu differenzieren. 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 325 


Denn wenn der Tuberkulose gegenüber eine einheitliche Therapie nicht zur Ver- 
fügung steht, so ergibt sich von selbst, daß die Art der Behandlung sich der vor- 
liegenden Erkrankungsform anzupassen hat. Pathogenetisch und pathologisch-ana- 
tomisch hat die Arbeit des letzten Jahrzehnts immerhin schon wichtige Fortschritte 
für die Diagnostik und damit auch die Therapie gebracht. Ranke hat, wenn nicht 
als erster, so doch am klarsten und überzeugend, auf Grund sorgfältiger anatomi- 
scher und klinischer Studien die mannigfachen Erscheinungen der Tuberkulose in 
ihre pathogenetischen Zusammenhänge eingeordnet, den Formenkreis der drei 
Phasen fest umschrieben und damit ein übersichtliches Bild des Tuberkuloseablaufs 
geschaffen. Die Rankesche Stadieneinteilung kann heute als bekannt vorausgesetzt 
werden und es mögen daher einige kurze Bemerkungen über die Bedeutung der 
drei Stadien, soweit sie für die Therapie von Interesse ist, genügen. Vorausgeschickt 
sei noch, daß die Frage, ob eine Infektion mit humanen oder bovinen Tuberkel- 
bacillen vorliegt, für die Therapie ohne Belang ist, nicht nur weil sie klinisch 
kaum jemals, jedenfalls nicht nach dem klinischen Bilde, zu beantworten ist, son- 
dern auch weil die Behandlung der beiden Tuberkulosearten sich nicht unter- 
scheiden würde; selbst die specifische Therapie kann aus der Unterscheidung heute 
nicht mit einiger Sicherheit einen Nutzen ziehen. 

Der tuberkulöse Primäraffekt sitzt nach Ghon, der die umfangreichsten und 
gründlichsten darauf gerichteten Untersuchungen angestellt hat, weit überwiegend 
in der Lunge; Ghon fand bei etwa 750 Kindersektionen nur etwa 21/,% sichere 
und einzige extrapulmonale Primärherde. Ghons Zahlen werden zwar neuerdings 
angezweifelt (Hübschmann, Engel u. a.), doch bleibt unter allen Umständen 
bestehen, daß die Lunge die weitaus wichtigste Einfallspforte für die Tuberkelbacillen 
ist. Für das Weiterschreiten der Tuberkulose vom Einfallsort aus — wo er auch 
sei — gilt zunächst Cornets Lokalisationsgesetz, indem regelmäßig auf dem Lymph- 
wege die nächstgelegene Lymphdrüse von Tuberkulose befallen wird. Diesen 
Abschnitt: Primärinfekt und Erkrankung des regionären Lymphknotens, bezeichnet 
Ranke als Primärstadium oder Primärkomplex. Es wurde schon erwähnt, daß 
die specifische Diagnostik zwar die eingetretene Infektion nachweisen kann, u. zw. 
nach einer Inkubationszeit von etwa 2—4 Wochen, daß sie aber keine Auskunft 
darüber gibt, ob die Infektion progredient oder längst latent ist. Selbst bei Säug- 
lingen bedeutet nach neueren Erfahrungen keineswegs jede Infektion fortschreitende 
Erkrankung (Langer, Harms). Klinisch macht die frische tuberkulöse Infektion 
kaum irgendwelche Erscheinungen, jedenfalls keine, die auch nur eine Wahrschein- 
lichkeitsdiagnose gestatteten. Der frische tuberkulöse Primärherd wird höchst selten 
einmal gefunden, u. zw. nur bei röntgenologischen sog. Umgebungsuntersuchungen, 
d. h. Untersuchungen der Kinder offen Tuberkulöser, wie sie gelegentlich in Kliniken 
oder großen Fürsorgestellen zu wissenschaftlichen, neuerdings wohl auch zu prak- 
tisch-diagnostischen Zwecken vorgenommen werden (Harms, Langer, Grass). In 
diesen bis heute vereinzelten Fällen vermag die Behandlung zwar durch besonders 
gute Ernährung und sorgfältige Haltung des Kindes und Fernhaltung anderer 
Infekte unterstützend zur Überwindung der Infektion eingreifen, aber von einer 
eigentlichen Therapie kann nicht wohl die Rede sein. Das Primärstadium ist also 
— leider — für die Therapie heute noch so gut wie bedeutungslos. Der gelegentlich 
gemachte Vorschlag, alle Kinder mit nachweisbarem Infekt (Tuberkulinprobe) speci- 
fisch zu behandeln, kann, ganz abgesehen von der Frage der Notwendigkeit und 
der Kosten, nicht ernst genommen werden, weil der Beweis fehlt, daß eine solche 
Therapie der frischen Infektion die Abheilung unterstützt. 


326 H. Ulrici. 


Mit der Ausbreitung der Infektion über den angegebenen Bezirk hinaus leitet 
sich Rankes zweites Stadium der Tuberkulose ein. Es ist charakterisiert durch 
die Empfindlichkeit des Organismus gegen die Tuberkelbacillen und ihre Toxine; 
durch die mehr oder weniger hemmungslose Ausbreitung der Tuberkulose in den 
Lymph- und Blutbahnen (Generalisation), die Allgemeinreaktion auf die Infektion 
und die exsudative Gewebsreaktion sowie die Überempfindlichkeit gegen Tuber- 
kulin. Wir können von der Proliferation vom Primärherd aus hier absehen, weil 
sie klinisch erst in einem weit vorgeschrittenen Stadium der allgemeinen Tuber- 
kulose erkennbar wird. Wichtig ist aber für die Therapie die Vorstufe der Generali- 
sation, die tuberkulöse Erkrankung der ganzen Drüsengruppe, weil sie die erste 
Etappe darstellt, die eine klinische allgemeine und topische Diagnose gestattet. Die 
Diagnose der Tuberkulose einer Halsdrüsengruppe macht diagnostisch zwar 
keine Schwierigkeiten; ob sie aber regelmäßig von einem Primärherd im Zufluß- 
gebiet dieser Drüsen ausgeht, ist noch nicht geklärt, weil der Primärherd nur ganz 
ausnahmsweise zu finden ist. Außerdem ist zu bemerken, daß heute in der Praxis 
so manches als Halsdrüsentuberkulose angesehen wird, was mit Tuberkulose sicherlich 
nichts zu tun hat, sondern als Drüsenschwellung anderer Ätiologie zu deuten ist. 
Viel komplizierter liegen die Verhältnisse bei der Tuberkulose der centralen Drüsen- 
gruppen, sowohl bei den Mesenterialdrüsen wie besonders bei den Bronchialdrüsen. 
Die isolierte Mesenterialdrüsentuberkulose, bei der in der Regel der Primär- 
herd klinisch wie auch autoptisch so wenig gefunden wird wie bei der Halsdrüsen- 
tuberkulose, kommt zwar wohl nicht so ganz selten vor, aber die Allgemeinerschei- 
nungen und die Herderscheinungen sind so unbestimmt, daß die sichere Diagnose 
erst möglich wird, wenn die Tuberkulose in ihrer weiteren Entwicklung, z. B. bei 
Übergreifen auf das Bauchfell, ausgesprochene Allgemein- und Organerscheinungen 
macht, oder wenn die lokalen Erscheinungen infolge irriger Diagnose zur Operation 
etwa wegen Verdachts auf Appendicitis und damit zur Autopsie in vivo geführt haben. 
Während aber die Mesenterialdrüsentuberkulose nicht so sehr viel häufiger diagnosti- 
ziert wird, als sie tatsächlich vorkommen mag, ist die Diagnose Bronchialdrüsen- 
tuberkulose geradezu ein Steckenpferd vieler Praktiker, Kinderärzte und auch 
Fürsorgestellen für Tuberkulöse geworden, obwohl auch diese Diagnose ganz außer- 
ordentliche Schwierigkeiten bietet und mit hinreichender Sicherheit nicht häufig 
und nur mit allen klinischen Mitteln gestellt werden kann. Da der tuberkulöse 
primäre Herd so gut wie regelmäßig in der Lunge sitzt und der Infektionsweg 
von desem Herd aus stets zur regionären Bronchialdrüse führt, kommt den Bronchial- 
drüsen im pathogenetischen Bilde der Tuberkulose fast immer eine gewisse Bedeu- 
tung zu. Es fehlen uns aber alle Unterlagen für die Beurteilung, wie oft anatomisch 
diese Etappe der Bronchialdrüsentuberkulose einen Umfang erreicht, der deutliche 
Allgemeinerscheinungen und Herdsympiome nicht ganz unwahrscheinlich macht. 
Bei der großen Mehrzahl der Lungenkranken, auch der intelligenten und ärztlich 
gut beobachteten Kranken, fehlen in der Anamnese alle Anzeichen für ein Stadium 
der Bronchialdrüsentuberkulose, durch das sie doch fast alle hindurchgegangen sein 
müssen. Es mag indessen hier der Hinweis auf die oft betonten Schwierigkeiten 
der Diagnose genügen (Voigt, Kleinschmidt, Engel, Ulrici u. a.). 

Das ausgebildete Sekundärstadium Rankes bietet die Merkmale der Generali- 
sation des tuberkulösen Virus. Wir können heute drei Grade dieser Generali- 
sation unterscheiden: die akute und subakute hämatogene Miliartuberkulose, die sog. 
milde generalisierte Tuberkulose und die peripheren Tuberkulosen hämatogenen 
Ursprungs; ihnen schließen sich noch die universellen Erscheinungen an, die nicht 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 327 


durch den Bacillus selbst, sondern durch seine Toxine hervorgerufen werden. Während 
die hämatogene Miliartuberkulose, zu der man in diesem Sinne auch Lan- 
douzys Typhobacillose und Neumanns Septicotuberkulose rechnen mag, als 
abgeschlossenes Krankheitsbild keiner weiteren Erörterung bedarf, ist die milde 
generalisierte Tuberkulose in den wenigen Jahren, die man sie zu kennen 
glaubt, ein Sammeltopf diagnostischer Irrtümer und Irrlehren geworden, in den jeder, 
der diesen Begriff zu umschreiben unternahm, etwas anderes hineintat (Ranke, 
Much, Liebermeister, v. Hayek, Hollo u. a.). Es ist für unsere Frage nicht 
notwendig, auf die Einzelheiten des umstrittenen Gebiets einzugehen; es sei aber 
hervorgehoben, daß weder die mannigfachen Störungen im Bereiche des vegetativen 
Nervensystems, die ein wesentliches Kontingent der Symptome dieser Krankheits- 
gruppe stellen, die Diagnose der generalisierten Tuberkulose stützen können, wenn 
sie nicht an nachweisbare Metastasierungen geknüpft sind, noch eine erfolgreiche 
Tuberkulinbehandlung als eine Therapie, die sowohl specifische als auch unspecifische 
Reize setzen kann, die Diagnose ex juvantibus begründet. Zu den peripheren 
Tuberkulosen des sekundären Stadiums gehören die multiplen Knochen-, 
Gelenk- und Weichteiltuberkulosen und die multiple hämatolymphogene Drüsen- 
tuberkulose, während die isolierten, vielfach sehr chronischen Erkrankungen im 
Knochensystem bereits auf der Grenze zum dritten Stadium Rankes stehen, in das 
sie oft übergehen. Zur letzten Gruppe, den toxischen Fernwirkungen tuber- 
kulöser Herde, gehören die sog. skrofulösen Hauterkrankungen und Schleim- 
hautkatarrhe, vielleicht auch der tuberkulöse Gelenkrheumatismus Poncets, dessen 
Beziehung zur Tuberkulose aber noch nicht endgültig geklärt ist. 

Auf der Grenze zum Tertiärstadium stehen neben der Nierentuberkulose und 
den erwähnten Knochentuberkulosen gewisse - Lungenphthisen der Kinder und 
Jugendlichen, die neben der ÖOrgantuberkulose noch Reste der Iymphogenen 
Generalisation aufweisen und durch die von vornherein und meist im ganzen 
Verlauf exsudative Gewebsreaktion bei in der Regel chronischem Verlauf ausge- 
zeichnet sind. Ihnen sind anzureihen Lungentuberkulosen Jugendlicher, bei denen 
die Reste Iymphogener Generalisation zwar fehlen, die aber durch ihren morpho- 
logisch exsudativen Charakter jener Gruppe nahestehen. 

Das Tertiärstadium der Rankeschen Einteilung, das Stadium der iso- 
lierten Organtuberkulose, wird im wesentlichen repräsentiert durch das Heer 
der chronischen Lungenphthisen. Es ist charakterisiert durch die Beschränkung des 
tuberkulösen Prozesses auf das eine besonders anfällige Organ, in dem er in der 
Hauptsache im vorgebildeten Kanalsystem fortschreitet, während die Iymphogene 
und hämatogene Ausbreitung nicht mehr zur Entstehung neuer Krankheitsherde 
führt, sondern abortiv bleibt. Der vorwiegend produktiven Gewebsreaktion mit ihrer 
Neigung zur Induration entspricht der chronische Ablauf, vielleicht auch eine gewisse 
Unempfindlichkeit gegenüber dem Tuberkulin. Wenn dieser Beschränkung der Tuber- 
kulose auf ein Organ und eine bestimmte Ausbreitungsweise wirklich eine sog. 
relative Immunität, also die Wirksamkeit specifischer Abwehrkräfte, zu grunde liegt, 
so ist doch das Wesen dieser Immunität und die Natur der Abwehrkräfte noch 
durchaus umstritten. Demnach ist auch das Erlahmen der Abwehrkräfte während 
interkurrenter Krankheiten und schließlich im Endstadium der Phthise, das häufig 
eine erneute hemmungslose Ausbreitung des tuberkulösen Prozesses zeigt, nicht 
mehr als eine brauchbare Hypothese. 

Die Rankesche Einteilung als eine genetische Betrachtung des ganzen Ablaufs 
der Tuberkulose befriedigt klinisch um deswillen nicht ganz, weil von dem, was 


328 H. Ulrici. 


wir klinisch als Tuberkulose weitaus am häufigsten sehen und als einheitliches, 
dabei aber äußerst mannigfaltiges und in Perioden und mit Remissionen ablaufendes 
Krankheitsbild kennen, eben den Lungenphthisen, nur ein Vortrupp dem zweiten 
Stadium angehört, das Gros aber dem Tertiärstadium, in dem es eine weitere Unter- 
teilung nicht mehr erfährt. Dem Bedürfnis nach einer solchen Unterteilung entsprechend, 
setzt nun hier die neuere klinische Gruppierung der Lungenphthisen ein. 
Wenn sie mit ihrer Anlehnung an die anatomischen Grundprozesse die phthisio- 
genetischen Zusammenhänge nicht immer zu respektieren scheint, so entspricht sie 
doch dem klinischen Zweck, indem sie die Möglichkeit schafft, das Zustandsbild 
seiner Morphologie gemäß zu beurteilen und dem Wesen des vorliegenden Prozesses, 
sonach auch der prognostischen Wertung und den therapeutischen Erfordernissen 
näher zu kommen. Freilich ist die Klinik heute noch nicht in der Lage, die patho- 
logisch-anatomische Differenzierung zu erreichen, sie muß sich mit einer ziemlich 
groben Annäherung an die anatomische Erkenntnis genügen lassen. Die morpho- 
logischen Veränderungen, die durch den vom Tuberkelbacillus ausgehenden Reiz 
entstehen, stellen sich, in der Lunge zumal, als exsudative und produktive dar, 
also kurz angedeutet, als akut entzündliche Anfüllung der Alveolen mit Exsudat 
oder als chronisch entzündliche verdrängende und infiltrierende Neubildung. Nicht 
immer sind diese Vorgänge scharf zu trennen, vor allem begleiten exsudative Erschei- 
nungen häufig den produktiven Prozeß und das autoptische Bild zeigt nicht selten 
exsudative und produktive Herde scheinbar regellos nebeneinander. Aber für die 
Klinik hat sich die prinzipielle Feststellung des überwiegenden Prozesses doch als 
überaus fruchtbringend erwiesen und vor allem hat sich gezeigt, daß die physikalische 
Untersuchung, das Röntgenbild und die klinische Beobachtung vielfach die beiden 
Typen räumlich zu unterscheiden vermögen und häufig in der Lage sind, das Neben- 
einander, das sich dem Pathologen präsentiert, im klinischen Ablauf in ein Nach- 
einander, in Einzelvorgänge, aufzulösen, für die zuweilen die Ursachen oder aus- 
lösenden Momente zu erkennen sind und Aussichten auf therapeutische oder vor- 
beugende Maßnahmen sich ergeben können. Für klinische Zwecke genügt die 
Unterscheidung folgender Haupttypen: 


1. Die acinös-nodöse produktive Tuberkulose (chronisch); 

2. die cirrhotische Phthise (exquisit chronisch); 

3. die lobuläre exsudativ-käsige Phthise (akut bis subchronisch) ; 
4. die lobäre käsige Pneumonie (perakut). 


Während die lobuläre exsudative Phthise eine außerordentlich häufige, in 
ihren klinischen Erscheinungen sehr mannigfaltige Form der Lungentuberkulose 
darstellt, die sich zudem im Verlauf und besonders im Endstadium der produktiven 
Tuberkulose, dem Typus des chronischen Krankheitsverlaufs, recht häufig zuge- 
sellt, ist die lobäre käsige Pneumonie zwar ein seltenes Krankheitsbild, aber in 
ihrem klinischen Verlaufe so wohlcharakterisiert, daß ihr eine Sonderstellung ein- 
geräumt werden muß. Auch die Aufstellung der cirrhotischen Phthise als eigenes 
Bild ist nicht in ihrer Morphologie begründet, da die bindegewebige Induration 
lediglich einen in der Entwicklungsrichtung des tuberkulösen Herdes liegenden 
sekundären Vorgang darstellt. Aber das Vorwiegen der indurativen Form verändert 
den klinischen Charakter so wesentlich und führt durch die Schrumpfungsvorgänge 
zu so prägnanten Erscheinungen und Folgezuständen, daß die Abtrennung der 
cirrhotischen von der produktiven Tuberkulose, aus der sie in der Regel hervor- 
geht, klinisch notwendig erscheint. Ebenso gut wie die cirrhotische Induration 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 329 


könnte die Erweichung und Kavernenbildung als besonderes Krankheitsbild auf- 
gestellt werden; wie die Induration als Abheilungsprozeß, so hat die Erweichung 
als progressiver und destruktiver Sekundärvorgang entsprechende klinische Bedeu- 
tung. Aber einmal kommt die Verkäsung und Erweichung bei allen Formen der 
Lungentuberkulose vor, und zweitens ist die erweichende käsige Pneumonie mit 
der gereinigten Kaverne in klinischer Hinsicht nicht gleichzustellen. Es ist des- 
halb klinisch zweckmäßig, die Kavernenbildung ebenso wie die, wenn man will, 
quartäre Ausbreitung der Tuberkulose in Kehlkopf und Darm als Komplikation 
der Lungentuberkulose anzusehen; alle drei Komplikationen sind übrigens für die 
Prögnose wie für die Therapie von größter Wichtigkeit. Die klinischen Bilder der 
einzelnen Lungentuberkuloseformen können als bekannt vorausgesetzt werden; ein- 
gehende Darstellungen finden sich in den einschlägigen neueren Arbeiten von 
Aschoff, Nicol, Fraenkel und Gräff, Gräff und Küpferle, Bacmeister, 
Romberg, Ulrici, sowie in den neuesten Auflagen der Lehr- und Handbücher 
von Brauer, Schröder und Blumenfeld, Bandelier und Roepke, Bacmeister, 
Ulrici. 

Dem Reichtum der Formen der Tuberkulose steht eine große Mannigfaltig- 
keit therapeutischer Methoden gegenüber. Grundsätzlich sind bei der Tuberkulose- 
therapie zu unterscheiden einerseits die operative Entfernung des Krankheits- 
herdes, anderseits die Allgemeinbehandlung und die Behandlung des kranken 
Organs und des einzelnen tuberkulösen Herdes. 

Die operative Entfernung des Krankheitsherdes kommt nur in Be- 
tracht, wenn es sich um einen Herd oder doch um einzelne Herde handelt. Von 
den Erkrankungen des Sekundärstadiums eignet sich die isolierte Tuberkulose 
der Halsdrüsen für die Radikaloperation und hier zeitigt sie schöne Erfolge, 
wenn sie rechtzeitig, das heißt vor der völligen Erweichung der Drüsen, vorge- 
nommen wird. Von den zentralen Drüsengruppen sind die Bronchialdrüsen, die 
am häufigsten befallen sind, operativ nicht zu erreichen, wenigstens nicht so, daß 
an eine Radikaloperation zu denken wäre, und auch bei den Mesenterialdrüsen ist, 
ganz abgesehen von der erwähnten Schwierigkeit der sicheren Diagnose, die voll- 
ständige Entfernung aller erkrankten Drüsen kaum möglich, auch ist bei der rela- 
tiven Outartigkeit dieser Erkrankungsform eine so mißliche Operation nicht ange- 
zeigt. Die peripheren tuberkulösen Erkrankungen, die häufig die Indikation zur 
Radikaloperation geben, stehen auf der Grenze des zweiten zum dritten Stadium 
der Rankeschen Einteilung oder gehören ganz dem dritten Stadium an. Es sind 
dies neben der Tuberkulose der Sehnenscheiden und manchen Formen des 
Lupus und der Haut- und Weichteiltuberkulose vor allem manche Knochen- 
tuberkulosen, so die des Schädeldaches, auch des Jochbeins und der Rippen, 
ferner von den Tuberkulosen der Extremitätenknochen die isolierten Herde der 
Diaphysen, namentlich dann, wenn nach ihrer Lage ein Durchbruch nach dem 
benachbarten Gelenk zu befürchten oder röntgenologisch ein Sequester nachzu- 
weisen ist. Die Tuberkulose der größeren Gelenke, die stark beansprucht, vor allem 
belastet werden, also die der unteren Extremitäten, gibt bei der konservativen 
Therapie bei Erwachsenen so fragliche Aussichten auf dauernde Heilung, erfordert 
außerdem eine so langwierige Behandlung im Streckverband, daß vielfach die 
Resektion des kranken Gelenkes vorzuziehen ist. Schwere Gelenkzerstörungen sind 
bei Erwachsenen weder durch konservative Behandlung noch durch Resektion zur 
Heilung zu bringen; sie erfordern wegen der Gefährdung des Organismus durch 
Überschwemmung mit Virus (Miliartuberkulose, Bildung neuer tuberkulöser Herde) 


330 H. Ulrici. 


oder mit Toxinen (dauerndes Fieber mit Kachexie, Amyloidosis) dringend die recht- 
zeitige Absetzung des Gliedes. Bei Kindern sind einerseits die Aussichten, Tuber- 
kulose der größeren Gelenke, auch solche mit größeren Knochenherden durch 
konservative Behandlung zur auch funktionell befriedigenden Ausheilung zu bringen, 
wesentlich besser als bei Erwachsenen, und führt anderseits die Gelenkresektion 
durch die Zerstörung der Epiphysenlinie zu einer schweren Wachstumshemmung 
der beteiligten Röhrenknochen und damit zu einem funktionell ganz unbefrie- 
digenden Ergebnis; die Radikaloperation kommt daher bei Kindern kaum in Be- 
tracht, ebensowenig wegen der besseren Heiltendenz auch der schweren Prozesse 
kaum jemals die Amputation. Die Tuberkulose der kleineren Gelenke und auch 
der Gelenke der oberen Extremität gibt auch bei Erwachsenen bei konservativer 
Behandlung bessere funktionelle Resultate als die Resektion und ist deshalb vorzu- 
ziehen, zumal sie allenfalls auch ambulant durchzuführen ist. Von den Tuberkulosen 
der inneren Organe ist bei der einseitigen Nierentuberkulose die Entfernung 
des kranken Organs die Methode der Wahl, ebenso bei der einseitigen Hoden- 
tuberkulose, weil beide eine geringe Spontanheilungstendenz haben, vielmehr 
per continuitatem fortzuschreiten pflegen und therapeutisch anderweit nur wenig zu 
beeinflussen sind; die Heilungen durch Tuberkulinbehandlung sind wenigstens noch 
sehr umstritten. Bei der tuberkulösen Pyosalpinx dagegen läßt die Größe des not- 
wendigen Eingriffs und die Gefahr, das Peritoneum tuberkulös zu infizieren, die 
Operationsanzeige gegenüber anderen Verfahren, vor allem der Röntgenbestrahlung, 
zurücktreten. Schließlich bleibt von Operationen zur Exstirpation des tuberkulösen 
Herdes zu erwähnen die Resektion des Coecums wegen tuberkulösen Ileo- 
coecaltumors und die Excision oder kaustische Spaltung der tuberkulösen Mast- 
darmfistel sowie die operativen Eingriffe am Kehlkopf (Excisionen, Kaustik, 
Amputation des Kehldeckels u. s. w.), bei denen die Indikationsstellung aber weit- 
gehend von dem Status und der Prognose der begleitenden Lungentuberkulose 
abhängt. 

Jede tuberkulöse Erkrankung ist, auch wenn nur ein Krankheitsherd vor- 
handen ist, eine Allgemeinerkrankung und bedarf daher der Allgemeinbehand- 
lung, auf die auch nicht verzichtet werden kann, wenn die operative Ausschaltung 
des Herdes möglich ist; der Zustand des Kranken entscheidet, ob diese Behand- 
lung schon vor der Operation einzusetzen hat, um die unmittelbare Gefahr des 
Eingriffs herabzusetzen; zur endgültigen Überwindung der Infektion ist längere 
Behandlung nach der Operation unter allen Umständen erforderlich. 

Allgemeinbehandlung der Tuberkulose ist ein ziemlich verschwommener Be- 
griff, der einer Erläuterung bedarf. Das Ziel ist die Kräftigung des Organismus zur 
Unterstützung der Spontanheilung der Tuberkulose, das Mittel die Herstellung best- 
möglicher äußerer Bedingungen für die Genesung, die Verhütung interkurrenter 
Erkrankungen, die Regelung der gesamten Lebensführung unter dem Gesichts- 
winkel der speziellen Erkrankung, die Hebung des Körperzustandes durch geeignete 
Ernährung und der Widerstandskraft durch roborierende Maßnahmen sowie schließ- 
lich die Stärkung des Willens: zur Gesundung. 

Von den Aufgaben der Allgemeinbehandlung gilt ein Teil für alle Formen 
der Tuberkulose, in erster Linie die Herstellung der bestmöglichen Bedingungen 
für die Heilung, die wir unter dem Begriff der Hygiene des Wohnens und Schlafens, 
der Kleidung und der allgemeinen Körperpflege zusammenfassen können und hier 
nicht näher zu erläutern brauchen; ferner die Verhütung interkurrenter Erkrankung 
durch Fernhaltung der Infektionsmöglichkeit (Masern, Keuchhusten, Grippe u. s. w.). 





Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 331 


Ob dieses Ziel im Rahmen häuslicher Behandlung zu erreichen ist oder bereits 
Ortswechsel oder gar Anstaltsbehandlung nötig macht, richtet sich nach dem 
sozialen Milieu, in dem der Kranke lebt. 

Alle weiteren Maßnahmen der Allgemeinbehandlung machen eine Differen- 
zierung nach den Erscheinungsformen der Tuberkulose notwendig. Sowohl für die 
Regelung der Ernährung, im engeren Sinne die diätetische Behandlung, .die der 
Hebung des Kräftezustandes dienen soll, wie insbesondere für die Entscheidung, 
was dem Körper an Ruhe und Bewegung zu verordnen ist, gelten zwei grund- 
sätzlich verschiedene Prinzipien, das der Schonung des kranken Organismus 
und das der Übung, welch letzteres allmählich zur Leistungssteigerung der Arbeit 
leistenden Organe, also der Skelettmuskulatur und insbesondere des Herzens, und 
im Verein mit der Erhöhung der Widerstandskraft gegen äußere Einflüsse durch 
Abhärtung zur völligen Gesundung führen soll, zur Wiederherstellung eines nütz- 
lichen Mitgliedes der menschlichen Gesellschaft, gleich fähig für die Arbeit wie 
für verständigen Lebensgenuß. 

Entscheidend ist dabei, wie weit der Organismus unter den Toxinwir- 
kungen des tuberkulösen Prozesses steht und in welchem Grade der Allge- 
meinzustand unter der Erkrankung gelitten hat. Die Tuberkulosen des sekundären 
Formenkreises mit ihrer Überempfindlichkeit gegen das Virus selbst und gegen 
die von ihm produzierten Toxine gehen großenteils auch mit toxischen Krankheits- 
erscheinungen einher; das gleiche gilt für die Mehrzahl der exsudativen Lungen- 
tuberkulosen, gleichgültig, ob der Prozeß von vornherein in der exsudativen Form 
aufgetreten oder die akute Form auf eine chronische aufgepfropft ist. Bei vielen 
chronischen tertiären Tuberkulosen dagegen, sowohl bei monoartikulären Knochen- 
tuberkulosen, manchen Tuberkulosen des Urogenitalsystems und vor allem bei den 
produktiven und den cirrhotischen Lungentuberkulosen treten die toxischen Er- 
scheinungen zurück oder beherrschen doch keineswegs das Krankheitsbild. 

Unter den toxischen Symptomen steht in vorderster Reihe das Fieber, nicht 
nur, weil es den pathologischen Vorgang auf das deutlichste charakterisiert, sondern 
weil es auch einen exakten Maßstab gibt für die klinische Beurteilung und für die 
therapeutische Maßnahme. Freilich bestehen nicht geringe Schwierigkeiten bei der 
Bewertung der subfebrilen Temperaturen, die etwa 37:5° C (Mundmessung) nicht 
überschreiten. Denn so bekannt diese erhöhten Temperaturen als Symptom der 
Tuberkulose sind, so häufig gibt es subfebrile Zustände anderer Ätiologie; ja es 
können diese Fieberbewegungen bei Tuberkulösen unabhängig sein vom tuberkulösen 
Prozeß. Diese erhöhten Temperaturen sind vielfältig die Ursache irriger Diagnosen, 
insbesondere der unrichtigen Diagnose Tuberkulose, und häufig eine wahre Crux 
für den Therapeuten, denn wenn sie durch die Tuberkulose bedingt sind, geben 
sie den Maßstab für die Allgemeinbehandlung, sind sie aber unspecifisch, so be- 
dürfen sie im Rahmen der Tuberkulosetherapie keiner direkten Berücksichtigung. 
Das Charakteristische der Fieberbewegungen bei den sekundären Formen 
der Tuberkulose ist der Wechsel, indem längere oder kürzere ganz fieberfreie 
Perioden abgelöst werden durch Fieberbewegungen ganz verschiedener Höhe und 
Dauer; eine gewisse Regelmäßigkeit der Fieberkurve pflegt sich erst einzustellen, 
wenn sich größere Herde gebildet haben, die in Erweichung übergehen, z. B. bei 
den abscedierenden Knochentuberkulosen. Regelmäßige subfebrile Tempera- 
turen sind in dieser Phase der Tuberkulose selten, finden sich aber um so häufiger 
bei vorgeschrittenen tertiären Prozessen und zeigen hier im allgemeinen 
übernormale Tagesschwankungen (etwa 36'2—375), starke Beeinflussung durch 


332 H. Ulrici. 


körperliche Bewegung einerseits, durch Antifebrilia anderseits, und werden bei fort- 
schreitender Besserung abgelöst durch einen Zustand der Fieberbereitschaft, d. h. 
durch große Tagesschwankungen der Körpertemperatur, die normale Werte bei 
vollkommener Ruhe des Kranken nicht überschreiten (36'0—37'1° C), bei körper- 
licher Bewegung und kleinen Störungen aber (Menses, Obstipation, Bad, Auf- 
regungen) sofort in subfebrile oder höhere Temperaturen übergehen. Ergibt die 
klinische Beobachtung subfebrile Temperaturen, aber auch die sorgsamste Unter- 
suchung mit allen Mitteln keinen sicheren tuberkulösen Herd, so bleibt die Diagnose 
Tuberkulose in suspenso und es ist an andere Infekte zu denken (Gonorrhöe, Lues, 
Erkrankungen der Rachenorgane, chronische kryptogenetisch-septische Prozesse, 
schwere Anämien, Malaria u. s. w.), bei denen diese leichten Fieberbewegungen 
vorkommen; sie gleichen dem durch Tuberkulose bedingten leichten Fieber durch 
die Größe der Tagesschwankungen und die Reaktion auf körperliche Bewegung, 
sprechen aber auf Antifebrilia weniger an. Schließlich sind die Hyperthermien bei 
neuropathischen Personen, die auch bei Kindern nicht selten sind, diagnostisch und 
therapeutisch zu berücksichtigen, sowie die Temperatursteigerungen, die bei Frauen, 
auch bei gesunden Frauen, im Zusammenhang mit den Menses auftreten; diese 
Hyperthermien zeigen eine erhöhte Lage der ganzen Tagestemperatur bei geringen 
Tagesschwankungen und kaum Beeinflussung durch körperliche Bewegung und 
durch Antifebrilia. 

Neben dem Fieber sind die anderen toxischen Symptome bei der Tuber- 
kulose von untergeordneter Bedeutung. Die Neigung zu lokalen oder allgemeinen 
Schweißen bei geringer Anstrengung sind als ein Anzeichen toxischer Störung der 
Wärmeregulierung auch dann zu werten, wenn die Körpertemperatur ganz normales 
Verhalten zeigt, während die Nachtschweiße meist mit ausgesprochenen Störungen 
des Temperaturablaufs in Zusammenhang stehen oder ein Symptom der Kachexie 
sind. Die Circulationsstörungen toxischer Natur sind außerordentlich schwer zu 
beurteilen. Der Blutdruck ist meist normal, wenn er sich auch häufig an der unteren 
Grenze des Normalen hält; die Pulskurve zeigt regelmäßige und regelrechte Aus- 
schläge und nur selten Arhythmien, die aber nichts Charakteristisches haben; bei 
der außerordentlich häufigen Tachykardie ist die toxische von der psychischen 
Komponente kaum zu trennen. Auch ist es kaum möglich, eine Kurzatmigkeit, die 
außer Verhältnis zur Quantität der Lungenschädigung steht, also wohl als kardial- 
toxisch aufzufassen ist, oder die Appetitlosigkeit, die Mattigkeit und mancherlei 
Unlustgefühle, die immerhin toxisch bedingt sein mögen, klinisch-therapeutisch 
auszuwerten, da auch diese Erscheinungen vielfach von der krankhaften psychischen 
Einstellung überlagert sind. 

Neuere morphologische und chemisch-physikalische Blutuntersuchungen geben 
indessen die Möglichkeit, die Einwirkung der Tuberkulose auf den Gesamtorganismus 
genauer abzuschätzen und zu verfolgen; als klinisch brauchbare Methoden haben 
die Differentialzählung der Leukocyten und die Senkungsprobe zu gelten. Das weiße 
Blutbild, dessen Bedeutung für die Beurteilung der Tuberkulose von Romberg 
studiert ist, zeigt bei günstig verlaufenden Tuberkulosen Normalwerte oder Lympho- 
cytose und Eosinophilie mäßigen Grades, bei progredienten Erkrankungen Leuko- 
cytose, die im Endstadium wieder verschwindet, Neutrophilie. Lymphopenie und 
Linksverschiebung. Die Senkung der Erythrocyten nach Fahräus, am besten zu 
beurteilen nach der Methode von Westergren, erfährt bei der Tuberkulose eine 
Beschleunigung bis über 100 mm in der Stunde, je nach der Schwere der Erkran- 
kung. Beide Blutveränderungen, sowohl die des weißen Blutbildes wie die der Blut- 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 333 


körperchensenkung, entsprechen in ihrem Grade mehr der Progredienz als der 
Ausdehnung des tuberkulösen Prozesses, sind also abhängig von der toxischen 
Einwirkung der Tuberkulose auf den Organismus und geben daher einen guten 
Maßstab für die prognostische Beurteilung. Auch die Flockungsreaktionen nach 
Daranyi und nach Matefy zur Feststellung der Vermehrung der Serumglobuline 
auf Kosten der Albumine, die vielleicht eine der Ursachen der Senkungsbeschleuni- 
gung ist, scheinen toxische Veränderungen durch die Tuberkulose anzuzeigen, ebenso 
die Verminderung der Blutlipasen (Kollert und Frisch, Kremer), die durch Ermitt- 
lung der Zeit des Abbaus einer Tributyrinlösung stalagmometrisch nachgewiesen 
wird, doch sind diese Methoden klinisch noch nicht genügend erprobt, auch ist 
die letztere Untersuchung recht umständlich. 

Gerade bei der Tuberkulose ist die Grenze zwischen Krankheit und praktischer 
Gesundheit schwer zu ziehen. Aber für den therapeutischen Zweck kann man den 
Begriff des kranken Organismus nach der positiven Seite schon einigermaßen sicher 
umschreiben. Solange toxische Allgemeinsymptome der beschriebenen Art bestehen, 
die klinisch mit hinreichender Bestimmtheit auf die Tuberkulose zu beziehen sind, 
muß der Organismus im ganzen als krank angesehen werden; damit soll natürlich 
nicht gesagt sein, daß mit der Überwindung dieser Erscheinungen die Gesundung 
erreicht wäre. Der in diesem Sinne kranke Körper bedarf der Schonung, u. zw. 
je nach dem Maße dieser toxischen Symptome. Die vollständigste Schonung besteht 
in der Bettruhe;; sie schützt den Körper vor Wärmeverlusten, die durch eine Steigerung 
der Verbrennungsvorgänge ausgeglichen werden müßten, ebenso aber auch vor 
Wärmeüberproduktion durch körperliche Bewegung, sie reduziert die Leistung des 
Herzens auf das Minimum und bringt durch Ausschaltung des Leistungsumsatzes 
den Stoffwechsel auf den Grundumsatz herunter. Durch eine geeignete leicht ver- 
dauliche Diät werden auch die Verdauungsvorgänge im weitesten Sinne erleichtert, 
so daß auch hier Kräfte gespart und Reize verschiedener Art ausgeschlossen werden 
können. In diesem Zusammenhang kann vielleicht auch die Herabsetzung des Fiebers 
durch Antifebrilia als Einschränkung des Energieverbrauchs, somit als Schonungs- 
behandlung aufgefaßt werden. 

Diese absolute Schonung ist nur für die akuten fieberhaften Phasen der oben 
genannten Tuberkuloseformen angezeigt. Der leider viel verbreitete ärztliche Miß- 
brauch des Prinzips der Schonung, der dem Verständnis und manchen unterbewußten 
Wünschen des Kranken, und nicht nur des Schwerarbeiters, so weitherzig entgegen- 
kommt, richtet im übrigen gerade bei der Behandlung der Tuberkulose recht viel 
Schaden an, u. zw. nicht nur im Sinne einer Vergeudung von Kräften und Mitteln, 
sondern entgegen dem wohlverstandenen Interesse des Kranken, dem die Rücksicht- 
nahme auf seinen Gesundheitszustand schließlich nicht Lebensziel werden darf. 
Darum müssen wir von der Schonung so bald wie möglich zur Methode der 
Leistungssteigerung durch Übung gelangen. Das ist möglich, sobald die akute 
Phase überwunden ist, d. h. die toxischen Erscheinungen, vor allem das Fieber 
abgeklungen sind. Natürlich muß die Gewöhnung an Leistung jeder Art ganz 
allmählich und unter steter Berücksichtigung der Krankheitserscheinungen vor sich 
gehen. Indem man von der Schonungsdiät zur Normaldiät, von der Bettruhe zur 
Freiluftliegekur übergeht, den Kranken langsam wieder an körperliche Bewegung 
und nach und nach an wirkliche körperliche Leistung gewöhnt, schließlich durch 
eine Art allgemeiner Reizbehandlung (Klimatotherapie, Freiluftbäder, Kaltwasser- 
behandlung u. s. w.) einen möglichst hohen Grad von Widerstandsfähigkeit zu erreichen 
sucht, wird man eine Kräftigung des Organismus erzielen können, die schließlich 


334 H. Ulrici. 


im Rahmen der Behandlung zu tüchtiger körperlicher Leistung ohne Gefährdung 
des Patienten ausgebaut werden kann. Die Heilanstalt soll aus ihren Mauern, 
ebenso die Privatbehandlung aus ihrer Fürsorge soweit irgend möglich frische 
und leistungsfähige Menschen zur Arbeit zurückkehren lassen; es bleiben genug 
Kranke übrig, bei denen dieses Ziel wegen der Art und der Ausdehnung ihres Leidens 
nicht erreicht werden kann, auch genug solche, die Hypochondrie und Furcht vor 
dem Schaden der Arbeit zu Stammgästen der Heilstätten oder Sanatorien werden 
läßt. Je nach den klinischen Erscheinungen der Tuberkulose und dem Umfang und 
der Art der Organveränderungen hat die Allgemeinbehandlung an verschiedenen 
Punkten einzusetzen, ihr Tempo einzurichten, Pausen einzuschalten und ihr Ziel zu 
stecken. Es wäre verfehlt, für solche Therapie ein Schema aufzustellen; wenn irgendwo, 
so ist hier Individualisieren der Inhalt der ärztlichen Kunst, freilich ein Individuali- 
sieren, das nach strengen klinischen Indikationen handelt. Auf die Darstellung der 
Technik der Allgemeinbehandlung kann hier verzichtet werden. 

Die Behandlung des tuberkulosekranken Organs hat auch ihrerseits zum 
Ziel, die bestmöglichen Bedingungen für die Ausheilung zu schaffen und die 
Leistungsfähigkeit des Organs soweit möglich wiederherzustellen. Auch hier 
begegnen wir also dem Prinzip der Schonung einerseits, der Übung anderseits, 
aber im engeren Rahmen: die Aufgabe ist spezialisiert und die Methoden sind daher 
andere. Freilich erfüllt die Allgemeinbehandlung schon einen Teil dieser Spezial- 
aufgabe, denn die Schonung, die sie dem ganzen Organismus auferlegt, kommt 
natürlich in einem gewissen Grade auch dem kranken Organ zugute, desgleichen 
die Übung. Indessen die Therapie will und kann hier doch mehr erreichen, indem 
sie das kranke Organ noch vollständiger und für längere Zeit ruhig stellt, ohne 
die absolute Ruhe des ganzen Körpers nötig zu machen, und indem sie bei der 
Übung spezielle Ziele verfolgt. Nehmen wir als Beispiel die Gelenktuberkulose. 
Durch den fixierenden Verband, sei es das Gipsbett, den Gipsverband oder die 
Lagerung nach Rollier-Bier, wird jede Bewegung im kranken Gelenk ganz und 
gar oder doch bis auf bestimmte passive Beugung und Streckung ausgeschaltet; 
bei der Tuberkulose der Gelenke der oberen Extremität gestattet diese Behandlung 
dem Kranken nicht nur körperliche Bewegung, sondern in gewissem Umfang auch 
Arbeit, so daß die Allgemeinbehandlung sich ganz unabhängig von der Organ- 
behandlung lediglich nach den Allgemeinsymptomen richten kann; bei der Erkran- 
kung der Wirbelsäule und der Gelenke der unteren Extremität ist das freilich nur 
in sehr beschränktem Maße möglich, da eine Belastung der Gelenke selbst unter 
Anwendung von Stützverbänden nicht angängig ist, solange klinisch noch Zeichen 
der Entzündung oder der Progredienz bestehen. Hier sind auch die fixierenden 
Operationen zu nennen, die das kranke Gelenk für immer außer Funktion setzen 
wollen, um die dauernde Heilung sicher zu erreichen; solche Operationen sind die 
Aufpflanzung eines knöchernen Tibiaspanes auf die Dornfortsätze der erkrankten 
und der oben und unten benachbarten gesunden Wirbel nach Albee und die 
Fixierung des besonders schwer zur Ausheilung zu bringenden Hüftgelenks durch 
Einheilung einer Knochenleiste vom Trochanter major zwischen Becken und Femur- 
hals nach Lorenz. , 

Aber auch bei der Lungentuberkulose spielt die Ruhigstellung des erkrankten 
Organs heute eine große Rolle. Während man sich früher damit begnügen mußte, 
die Bewegung und Beanspruchung der kranken Lunge durch völlige körperliche 
Ruhe stark einzuschränken, ist man heute in der Lage, durch die sog. Kollaps- 
therapie wenigstens bei den einseitigen Erkrankungen die ergriffene Lunge von der 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 335 


Beteiligung an der Atmung auszuschließen und die Blut- und Lymphcirculation in 
ihr stark zu verlangsamen. Die dafür in Betracht kommenden Methoden unter- 
scheiden sich grundsätzlich insofern, als die Pneumothoraxbehandlung eine vor- 
übergehende Ruhigstellung der Lunge bewirkt, die Thorakoplastik aber und die 
Paraffinplombierung nach extrapleuraler Lösung der verwachsenen Lunge einen irre- 
parablen Zustand setzen. Merkwürdigerweise wird dieser wichtige, ja grundlegende 
Unterschied nicht, wie er verdiente, in erster Linie berücksichtigt, vielmehr die 
Pneumothoraxbehandlung, hauptsächlich, weil sie ein verhältnismäßig leichter, un- 
blutiger und nicht entstellender Eingriff ist, fast immer vorgezogen, wenn ein freier 
Pleuraspalt sie ermöglicht, die Thorakoplastik aber nur dann in Betracht gezogen, 
wenn die Pneumothoraxbehandlung wegen totaler Verwachsung der Lunge nicht 
möglich ist. 

Als Indikation für die Kollapsbehandlung gilt kurz gesagt die schwere 
Erkrankung einer Lunge bei praktisch gesunder anderer Lunge. Aber so einfach 
liegen die Verhältnisse nicht, daß solche diagnostische Feststellung mittels der 
physikalischen Untersuchung und der Röntgenaufnahme genügen könnte, vielmehr 
ist es nötig zu erwägen, ob nach der physikalischen Beschaffenheit der kranken 
Lunge und nach dem Charakter des vorliegenden Lungenprozesses von der Kollaps- 
behandlung ein günstiger Einfluß auf den Heilungsvorgang erwartet werden kann. 
Fragen wir zunächst nach den mechanischen Verhältnissen, so ist Voraus- 
setzung, daß die Lunge kollabieren kann. Die durch dichtstehende produktive Herde, 
durch derbes cirrhotisches Gewebe oder gar durch konfluierende Pneumonie prall 
infiltrierte Lunge kann nicht kollabieren; bei der Pneumothoraxanlegung erhält man 
besten Falles einen schmalen, mantelförmigen Pneumothorax, einen sog. Verdrän- 
gungspneumothorax, bei dem die Lunge nach der anderen Seite ausweicht, und 
durch die Thorakoplastik wird natürlich auch nichts anderes erreicht, als daß die 
Lunge mitsamt dem Mediastinum und den in ihm liegenden Organen nach der 
anderen Seite verschoben wird. Das Gewebe der ganz infiltrierten Lunge hat auch 
keine Neigung und Möglichkeit zu erheblicher Schrumpfung, so daß auch nach- 
träglich ein wesentlicher Erfolg der Kollapstherapie nicht erwartet werden kann. 

Von größter Wichtigkeit für die Frage der Kollapsbehandlung ist der Cha- 
rakter der vorliegenden Lungenerkrankung. Die produktive Tuberkulose, 
insbesondere die zur Induration neigende Form gibt ohneweiters die Anzeige für 
den Eingriff; bei dieser Form kann die Behandlung auch noch angezeigt sein, 
wenn die andere Lunge praktisch nicht ganz frei ist, z. B. disseminierte Herde in 
einem Teil des Oberlappens zeigt (Röntgenplatte). Die exsudativen Phthisen sind 
nur ausnahmsweise für die Kollapsbehandlung geeignet. Die lobäre käsige Pneu- 
monie kommt hierfür gar nicht in Betracht, weil sie gar keinen Kollaps der 
erkrankten Partie zuläßt und weil sie keinerlei Heilungstendenz besitzt; mit der 
konfluierenden lobulären käsigen Pneumonie steht es aus denselben Gründen nicht 
viel besser. Die sublobuläre oder acinöse disseminierte exsudative Phthise bietet 
schon etwas bessere Chancen, doch kommt es auch bei dieser Form auf das gesamte 
Krankheitsbild an. Die mit dauerndem höheren Fieber einhergehenden Phthisen, 
die von vornherein in der akuten Form aufgetreten sind (galoppierende Schwind- 
sucht der Jugendlichen), haben eine schlechte Prognose und geben auch für die 
Kollapsbehandlung kaum Aussichten; ebenso refraktär verhalten sich ähnliche Formen 
älterer Personen. Etwas günstiger steht es mit exsudativen Prozessen, die sich auf 
ältere produktive Tuberkulosen aufgepfropft haben, wenn es sich um subakute 
Schübe geringeren Umfangs handelt. Es empfiehlt sich, in solchen Fällen neben 


336 H. Ulrici. 


dem klinischen Bilde auch das weiße Blutbild und die Senkungsprobe zur Gewinnung 
prognostischer Anhaltspunkte zu berücksicktigen. Exsudative Herde der besseren 
Seite schließen die Kollapstherapie jeder Form unter allen Umständen aus, da sie . 
bei Überlastung der besseren Seite zu raschester Progredienz neigen. Ein scheinbar 
günstiger Allgemeinzustand, der sich bei diesen akuten Formen der Lungentuber- 
kulose gar nicht selten findet und selbst ein fast blühendes Aussehen solcher 
Kranken darf übrigens nicht zu einer optimistischen Auffassung der Prognose und 
zum voreiligen Versuch der Kollapstherapie verleiten. Und immer muß man im 
Auge behalten, daß gerade bei den exsudativen Phthisen neben wenigen schönen 
Erfolgen die Mißerfolge in Gestalt der schweren Komplikationen des künstlichen 
Pneumothorax (Exsudatbildung mit hartnäckigem hohen Fieber, tuberkulöses Empyem, 
Spontandurchbruch in den Pneumothorax mit Sekundärinfektion und Bildung eines 
heißen Empyems) weit überwiegen, wenn die Indikation nicht mit aller erdenk- 
lichen Sorgfalt gestellt wird. 

Die Frage, ob Pneumothoraxbehandlung, ob plastische Operation gegebenen- 
falls die Methode der Wahl ist, wird von den Chirurgen anders beantwortet wie 
von den innern Medizinern. Das hat wohl in der Hauptsache darin seinen Grund, 
daß der Chirurg verhältnismäßig oft die erwähnten schweren Komplikationen in 
die Hände bekommt, Fälle also, die für diese Behandlung meist von vornherein 
ungeeignet waren, deren unglücklicher Verlauf und Ausgang ihn aber gegen die 
ganze Methode mißtrauisch macht. Richtig angesehen, liegen die Dinge aber so, 
daß die beiden Methoden der Kollapstherapie gar nicht Konkurrenten sind, sondern 
verschiedene Indikationen haben. Die Pneumothoraxbehandlung ist angezeigt, wenn 
der tuberkulöse Prozeß die Lunge noch nicht in großem Umfang ergriffen oder 
gar zerstört hat; denn nach Ausheilung der tuberkulösen Herde, die stets mit 
erheblicher Schrumpfung einhergeht, soll die Lunge den Pleuraraum wieder aus- 
füllen, ohne durch zu starke Verziehung des Mediastinums nach der kranken Seite 
hin zur Überdehnung, zum vikariierenden Emphysem der anderen Lunge zu führen, 
ohne also eine schwere funktionelle Schädigung der besseren Lunge zu setzen. 
Allerdings bedarf es zum Ausgleich dieses meist unterschätzten Nachteils nicht 
immer plastischer Operationen, vielmehr kann zunächst durch die Exairese des 
Nervus phrenicus der kranken Seite nach Sauerbruch Lähmung und Hochstand der 
Zwerchfellhälfte bewirkt und damit der Thoraxraum dieser Seite für die Dauer in 
einem Grade verkleinert werden, der die nicht allzu erhebliche Schrumpfung der 
kranken Lunge genügend ausgleicht. Ist freilich die Lunge in großer Ausdehnung 
erkrankt, sind insbesondere größere Kavernen vorhanden, so ist nach der Aus- 
heilung dieser Lunge eine so erhebliche Schrumpfung zu erwarten, daß weder die 
Lunge den Thoraxraum wieder ausfüllen, noch die Lähmung der Zwerchfellhälfte 
eine genügende Verkleinerung dieses Raumes herbeiführen kann. In diesen Fällen 
sollte der Versuch der Pneumothoraxbehandlung überhaupt nicht unternommen, 
sondern sogleich die plastische Operation vorgeschlagen werden; in praxi läuft die 
Sache freilich anders, indem der Kranke der Operation nicht zustimmt und nun- 
mehr nichts anderes übrigbleibt, wie den Versuch der Pneumothoraxbehandlung 
zu machen, ein Versuch, der auch um deswillen zu mißlingen pflegt, weil fast 
immer erhebliche Verwachsungen vorhanden sind, die einen genügenden Kollaps 
der Lunge nicht zulassen. Die Kavernen liegen häufig lateral oder reichen durch 
ihre Größe an die laterale Thoraxwand heran; in diesen Fällen besteht in der 
Umgebung der Kaverne fast immer eine derbe Verwachsung der Pleurablätter, und 
wenn der Pneumothorax auch im übrigen einen guten Kollaps der Lunge bewirkt, 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 337 


so bleibt doch gerade die Kaverne ausgespannt; damit ist das wichtigste Ziel dieser 
Therapie, die Schrumpfung der Kaverne, unerreichbar geblieben und der Kranke 
bleibt den schweren Gefahren, die ihm von seiner Kaverne drohen, ausgesetzt. 
Zuweilen, aber nicht häufig, sind solche Verwachsungen strangförmig; dann können 
sie unter Umständen nach Jacobaeus unter Leitung des Thorakoskops endo- 
thorakal kaustisch durchtrennt werden, wodurch vereinzelt der gewünschte Kollaps 
noch erreicht wird. Als Kriterium, ob der erzielte Kollaps ausreicht, muß das ` 
Postulat gelten, daß der Auswurf keine Tuberkelbacillen mehr enthält. In der Regel 
aber machen diese Fälle partielle oder ganzseitige plastische Operationen oder 
Paraffinplombierung nach extrapleuraler Pneumolyse notwendig. Ist die Pneumo- 
thoraxbehandlung wegen völliger Verwachsung der Pleurablätter von vornherein 
unmöglich, so tritt die Plastik in ihr Indikationsgebiet ein, ebenso wenn der 
Pneumothorax nur partiell möglich war und vor Erreichung der klinischen Aus- 
heilung verödet. Ist in solchen Fällen die Lunge nur disseminiert erkrankt, so 
genügt zur Erzielung eines ausreichenden Kollapses die typische paravertebrale 
Resektion nach Sauerbruch, die sich mit der Resektion von etwa je 5 cm der 
l. bis 11. Rippe begnügt; ist die Lunge aber schwer erkrankt, sind insbesondere 
größere Kavernen vorhanden, so ist die Lunge weitgehend zu mobilisieren, z. B. in 
Form der subscapularen paravertebralen Resektion nach Brauer, bei der die 11 Rippen 
in von oben nach unten zunehmender Länge von 3—15 cm fortgenommen werden. 
Riesenkavernen lassen übrigens eine Operation nur zu, wenn die Tagesauswurf- 
mengen nicht gar zu groß sind (etwa bis 60 crn?); bei sehr großen Auswurfmengen 
ist die Gefahr der Aspiration von Kaverneninhalt nach der gesunden Lunge eine 
Kontraindikation jedes operativen Eingriffs. Zweckmäßig wird nach Sauerbruch 
jeder plastischen Operation die Exairese des Nervus phrenicus der kranken Seite 
als Belastungsprobe der besseren Lunge vorausgeschickt. 

Bei der Kehlkopftuberkulose wird die Ruhigstellung des erkrankten Organs 
durch das Schweigegebot erstrebt; in häuslicher Behandlung dürfte eine solche 
Therapie kaum jemals durchzuführen sein. Vereinzelt ist die Ruhigstellung durch 
die Tracheotomie erzwungen worden; da die Kehlkopftuberkulose meist eine Be- 
gleiterscheinung der schweren Lungentuberkulose ist, verbietet sich dieser Eingriff 
in der Regel, weil die Entleerung größerer Auswurfmengen durch die Kanüle dem 
Kranken unerträgliche Qualen schafft. Der Ruhigstellung sowohl der kranken Lunge 
wie insbesondere des Kehlkopfs dient bis zu einem gewissen Grade die symptoma- 
tische Erziehung zur sog. Hustendisziplin wie auch die EES der SES 
dienlichen Narkotica. 

Der Versuche, den tuberkulösen Herd direkt oder indirekt therapeutisch 
anzugehen, sind eine große Zahl. Da sind zunächst chirurgische Eingriffe zu nennen; 
nicht die Radikaloperationen sind hier gemeint, von denen oben die Rede war, 
sondern Eingriffe zur Entfernung von Krankheitsprodukten und zur Reinigung und 
Desinfektion von Körperhöhlen oder Abscessen. Man kann diese Eingriffe als 
symptomatische Operationen bezeichnen. Eine typische Operation dieser Art 
ist die Laparotomie bei exsudativer Peritonitis tuberculosa, bei der bekanntlich unter 
breiter Eröffnung des Peritoneums in der Regel lediglich das Exsudat abgelassen, 
jeder weitere Eingriff aber vermieden wird; nur ausnahmsweise werden etwa schon 
vorhandene Verwachsungen gelöst. Der Erfolg der Operation ist nicht nur in der 
Vermeidung von Verwachsungen der Darmschlingen zu erblicken, sondern bekannt- 
lich heilt die tuberkulöse Peritonitis, merkwürdigerweise muß man sagen, nach 
diesem Eingriff in der Regel aus, ohne irgend welche Spuren zurückzulassen. Bei 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 22 


338 H. Ulrici. 


der Pleuritis exsudativa wird die breite Eröffnung vermieden. Die Indikation zur 
Punktion der Exsudate wird mit Recht erheblich weiter gezogen, seit man dazu 
übergegangen ist, das Exsudat durch Luft zu ersetzen. Es muß heute die Ablassung 
jedes größeren Pleuraexsudates gefordert werden, soll nicht nur die Bildung dicker 
und derber Pleuraschwarten, die der Funktion der Lunge schweren Abbruch tun, 
verhindert, sondern bei Anfüllung des Pleuraraumes mit Luft auch die völlige Ver- 
wachsung der Pleurablätter hintangehalten werden; partielle Verwachsungen treten 
allerdings regelmäßig ein und der Einfluß der Punktion auf den Krankheitsablauf 
ist nicht immer deutlich. Auch das tuberkulöse Empyem ist nicht breit zu eröffnen, 
sondern zu punktieren und mit Kali hypermanganicum oder Preglscher Lösung 
auszuwaschen und durch Luft zu ersetzen. Ist das Exsudat sehr fibrinreich, so daß 
die Kanüle sich immer wieder mit Gerinnseln verstopft, so empfiehlt sich die Ver- 
dauung des Fibrins durch Pepsin-Salzsäure nach dem Vorgange von Sauerbruch. 
Ein im Prinzip ähnlicher Eingriff, bei dem aber die Druckentlastung ganz im 
Vordergrund seiner klinischen Bedeutung steht, ist die Lumbalpunktion bei der 
Meningitis tuberculosa; die Besserung der Erscheinungen nach der Punktion ist oft 
augenscheinlich, ihr therapeutischer Wert aber trotz einzelner Berichte von Heilungen 
problematisch. Eine große Rolle spielt die entlastende Punktion bei den tuber- 
kulösen Gelenkergüssen und den tuberkulösen Abscessen; über Wert oder Unwert 
der Füllung solcher Höhlen mit desinfizierenden Lösungen, insbesondere mit Jodo- 
formglycerin, sind sich die Chirurgen heute nicht einig. Die breite Eröffnung wird 
nur bei nachgewiesener Mischinfektion als angezeigt angesehen. | 

Die indirekten Methoden, auf den tuberkulösen Herd einzuwirken, fassen wir 
heute unter dem Begriff der Reizbehandlung zusammen, eine Bezeichnung, die 
ganz richtig vieles Gemeinsame der verschiedenen Verfahren hervorhebt; wir haben 
bei der Tuberkulose eine unspecifische und eine specifische Reizbehandlung zu 
unterscheiden. 

Als unspecifische Reizbehandlung wird dieProteinkörper- und die Chemo- 
therapie sowie die Bestrahlung heute in sehr großem Umfang geübt; ob sich 
diese Methoden ihrer Beliebtheit nicht allzu sehr der bequemen Applikationsweise 
halber erfreuen, die auch ambulante Behandlung gestatten, zum Teil auch des 
imponierenden äußeren Effekts wegen, den man mit der Bestrahlung erzielen kann, 
ist noch recht zweifelhaft. Es ist seit Robert Koch bekannt, daß körperfremde 
Substanzen, z. B. Albumosen, dem Organismus parenteral beigebracht, Fieber er- 
zeugen. Da der Tuberkulöse sich vielfach in einem labilen Temperaturgleichgewicht 
befindet, spricht er auf jeden Reiz besonders leicht an und antwortet er mit starkem 
Ausschlag. Die Stoffe, mit denen man solchen Reiz ausüben kann, sind fast beliebig 
zu variieren, da nicht nur mit Eiweißarten, sondern auch mit anderen organischen, 
ja sogar mit anorganischen Substanzen, z. B. mit Schwermetallen in kolloidaler 
Form, Reaktionen auszulösen sind. Solche Allgemeinreaktionen treten auch auf, 
wenn die Injektionen wegen anderer Erkrankungen vorgenommen werden. Ob 
aber neben dem Allgemeinreiz auch ein Reiz auf den tuberkulösen Herd aus- 
geübt wird, ist für die Proteinkörper, die für diese Tuberkulosetherapie ange- 
wendet werden, nicht erwiesen; für diejenigen Stoffe, die zur sog. Chemo- 
therapie der Tuberkulose dienen, im wesentlichen Salze von Schwermetallen und 
Farbstoffe, wird die Herdwirkung als eine Art specifischer Reaktion von manchen 
Autoren behauptet, von anderen angezweifelt. Eigene umfangreiche Unter- 
suchungen mit den verschiedensten Substanzen (Aolan, Caseosan, Milch, Eigen- 
serum und artfremdem Serum, Elektrokollargol, Krysolgan, Triphal u. s. w.) haben 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 339 


wohl häufig Allgemeinreaktionen, jedoch keine einwandfreien Herdreaktionen er- 
geben; es ist allerdings hervorzuheben, daß klinisch die sichere Feststellung einer 
Herdreaktion auf die größten Schwierigkeiten stößt, mit einziger Ausnahme des 
Lupus. Die Reiztherapie der Tuberkulose mit Proteinkörpern wie auch mitSchwer- 
metallsalzen oder mit Farbstoffen hat als eine allgemeine Reizbehandlung ihr In- 
dikationsgebiet in den tertiären torpiden Formen der Tuberkulose, bei denen zwar 
biologisch zwischen Erreger und Wirtsorganismus ein Gleichgewichtszustand, eine 
Art Waffenstillstand zu bestehen scheint, zugleich aber durch die chronische Krank- 
keit der Allgemeinzustand mehr oder minder erheblich gelitten hat und sich nicht 
recht ändern will, von der Allgemeinreaktion also der Anstoß zu lebhafterem Stoff- 
umsatz erwartet werden kann. 

Wichtiger als Proteinkörper- und Chemotherapie der Tuberkulose ist die 
Reizbehandlung durch Bestrahlung. Es ist zu unterscheiden zwischen der 
- Allgemeinbestrahlung (Sonne und künstlicher Ersatz) und der Herdbestrahlung 
(hauptsächlich Röntgenstrahlen). Seit Bernhard (St. Moritz) und Rollier (Leysin) 
über glänzende Heilerfolge der Sonnenlichtbehandlung bei der Tuberkulose 
der Knochen und Gelenke berichtet haben, ist der therapeutische Wert der Sonnen- 
bestrahlung nicht mehr angezweifelt worden, vielmehr die Besonnung — und nicht 
nur im Hochgebirge — ein wesentlicher Bestandteil der Tuberkulosetherapie ge- 
worden. Die Besonnung setzt nicht nur einen sehr intensiven Allgemeinreiz, sondern, 
wie die Lungenblutungen und das Aufbrechen alter Fisteln nach unzweckmäßiger 
Bestrahlung beweisen, auch einen Herdreiz; beides kann therapeutisch ausgenutzt 
werden. Geeignet für die Sonnenbestrahlung sind in erster Linie die Tuberkulosen 
der Drüsen und der Knochen und Gelenke, also Formen, die zum Teil der zweiten, 
zum Teil auch schon der dritten Phase der Rankeschen Einteilung angehören. 
Diese klinische Erfahrung scheint auf den ersten Blick der Rankeschen Auffassung 
insofern zu widersprechen, als die Überempfindlichkeit des zweiten Stadiums gegen- 
über dem Virus und seinen Toxinen jeden neuen Reiz als Störung, als kontra- 
indiziert erscheinen lassen sollte. In der Tat ist auch das akute Stadium dieser Er- 
krankungsformen mit seinen an den Fieberbewegungen kenntlichen Toxinwirkungen 
von der Besonnung auszuschließen, da die Sonnenwirkung das Fieber nicht etwa 
beseitigt, sondern steigert, eine Beschleunigung des Heilungsvorgangs unter diesen 
Umständen nicht zu erwarten ist und eine klinische Besserung, die auf die Bestrah- 
lung zu beziehen wäre, auch tatsächlich nicht erkennbar wird, solange diese Fieber- 
attacken immer wiederkehren. Für die Bestrahlung eignen sich daher nur die sub- 
akuten und chronischen Stadien jener Tuberkuloseformen. Die Allgemeinbestrahlung 
ist ohne Zweifel von weit größerer Bedeutung als die lokale Besonnung. Die 
Reaktion, auch die Herdreaktion, ist ja nicht etwa eine direkte Strahlenwirkung, da 
die Tiefe, bis zu der das Licht direkt wirkt, sehr gering ist, sondern eine Reaktion 
des Organismus und des Herdes auf die Erhöhung des Stoff- und Wärmeumsatzes 
in der Haut durch den intensiven Hautreiz; immerhin mag die lokale Besonnung 
als Ergänzung der Allgemeinbestrahlung durch die lokale Erwärmung den Herdreiz 
herbeiführen helfen. 

Über die Sonnenbestrahlung bei der Lungentuberkulose liegen noch recht wenig 
Erfahrungen vor. Unsere eigenen Beobachtungen an einem größeren Material sind 
nicht ganz eindeutig oder lassen doch wenigstens Art und Grad der Wirkung nicht 
recht erkennen. Während die oben erwähnten Tuberkuloseformen regelmäßig in 
den Sommermonaten erheblich schnellere Besserung zeigen als in den Winter- 
monaten, ist das bei der Lungentuberkulose keineswegs so überzeugend der Fall. . 

22° 


340 H. Ulrici. 


Sichere Herdreaktionen haben wir ebensowenig beobachtet wie imponierende 
Besserung des lokalen Befundes, doch zeigten unsere besonnten Kranken sonst in 
jeder Hinsicht besonders gute und zuverlässige Fortschritte, so daß man wohl an ` 
eine günstige Allgemeinwirkung glauben mag. Für die Besonnung kommen die 
exsudativen Phthisen, bei denen der Kranke ohnehin schon unter dem Toxinreiz 
steht, gar nicht in Betracht, vielmehr nur die ganz fieberfreien produktiven und 
cirrhotischen Phthisen von nicht zu großer Ausdehnung mit gutem Allgemein- 
zustand; Kavernen schließen die Sonnenbestrahlung wegen der Blutungsgefahr aus, 
es sei denn, daß sie durch einen gut wirkenden Pneumothorax zum mindesten 
gut entspannt und in Schrumpfung begriffen sind. Lokale Besonnung wirkt auf die 
Tuberkulose des Kehlkopfs günstig ein, indem die begleitenden Entzündungs- 
erscheinungen sich zurückbilden; bei Darmtuberkulose, Peritonitis tuberculosa, 
Pleuritis wirkt die lokale Erwärmung schmerzlindernd. 

Jede künstliche Bestrahlung ist ein kümmerlicher Ersatz der Sonnenwirkung. 
Wir haben bei der Knochentuberkulose zwischen gar nicht bestrahlten und den mit 
künstlichen Lichtquellen bestrahlten Kindern kaum einen Unterschied gesehen; noch 
weniger ist es uns gelungen, Indikationen für die verschiedenen Strahlengemische 
zu finden. Daß die Quarzlampe mit ihrem Reichtum an ultravioletten Strahlen 
anderen Lampen in der Wirkung überlegen sei, ist unbewiesen; Grad und Art der 
Pigmentierung dürfen dabei natürlich nicht als Maßstab‘ dienen, aber gerade dank 
dieser auffälligen Pigmentierung erfreut sie sich bei Ärzten und Kranken einer 
Beliebtheit, die im krassen Mißverhältnis zur Heilwirkung steht. Andere Lampen 
(Heliollampe ungefähr Sonnenspektrum, Aureollampe und Kischlampe vorwiegend 
rote Strahlen) stehen der Quarzlampe nicht nach, leisten aber auch nicht mehr, als 
daß sie einen gelinden Allgemeinreiz von zweifelhafter Wirksamkeit setzen. Die 
Indikationen der künstlichen Bestrahlung decken sich mit denen der Sonnen- 
bsstrahlung; fiebernde Kranke sind höchstens lokal zu bestrahlen. 

Die Röntgenbestrahlung der Tuberkulose unterscheidet sich von den 
anderen Methoden der unspecifischen Reizbehandlung dadurch, daß sie unter Aus- 
schließung des Allgemeinreizes die sichere Applikation des Reizes am Krankheits- 
herd gestattet. Während man bis vor kurzem der Röntgenbestrahlung der Tuber- 
kulose die Idee zu grunde legte, wenn nicht die Tuberkelbacillen selbst, so doch 
das tuberkulöse Gewebe wie bei der Carcinombestrahlung so zu schädigen, daß 
die Zellen absterben, mindestens aber die Gewebsproliferation abgestoppt wird, 
hat man nach bösen Erfahrungen durch Einschmelzung der bestrahlten Herde und 
akute Ausbreitung der Tuberkulose sich darauf beschränkt, kleine Dosen Röntgen- 
strahlen im Sinne des Arndt-Schulzschen Gesetzes gerade zur Anregung der 
Gewebsproliferation und damit weiter zur bindegewebigen Induration zu benutzen. 
Für diese streng lokalisierte, immerhin noch intensive und deshalb nicht gleich- 
gültige Herdreiztherapie kommen nur die chronischen fieberfreien Drüsen- und 
Knochentuberkulosen, Tuberkulose der weiblichen Genitalorgane und chronische 
indurierende Lungenphthisen ohne Kavernen "ohne Fieber und Kachexie in Betracht; 
die Erfolge sind nach den neuesten Berichten recht gut (Strauß, Bacmeister, 
Stephan, Schröder u. a.). 

Je torpider ein Krankheitsprozeß ist oder im Laufe der Behandlung geworden 
ist, desto intensiver darf der allgemeine und der Herdreiz sein, von dem man eine 
günstige Wirkung erwarten kann; in der untenstehenden Reihe wird man demnach 
im Verlaufe einer langen erfolgreichen Behandlung von unten nach oben steigen 
müssen. 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 341 



























































BE | Lokaler Reiz | ee Ke 
Rönigenbestrehlung u | fehlt WI mäßig stark, sekundär ` SE cke E 
Sonnenbestrahlung . . ... sees sehr stark ; ' stark o deutlich EZ 

hb = ER ne 
Chemotherapie... . .. . | fehlt mäßig stark nicht sicher nachzuweisen 
Proteinkörper . . | Se ` 1 tenit í deutlich. 5 zweifelhaft 

el en Ir re mh AEAN SE GE 
Künstliche Bestrahlung . . | stark | deutlich | nicht nachzuweisen 


Die specifische Reiztherapie der Tuberkulose ist ein viel umstrittenes 
Gebiet. Es besteht bei jedem Tuberkuloseinfizierten eine Empfindlichkeit gegenüber 
dem Tuberkulin, von v. Pirquet als Allergie bezeichnet. Diese Allergie ist der Zank- 
apfel der Tuberkulintherapeuten. Die einen (Krämer, Bandelier und Roepke, 
v. Hayek u. a.) erblicken in der hohen Allergie ein Zeichen der Toxinwirkung, 
also der Aktivität des Prozesses, und suchen sie durch eine einschleichende Tuber- 
kulinisierung, die Reaktionen ganz vermeidet, zu überwinden; sie erstreben eine 
Unempfindlichkeit gegen hohe Dosen Tuberkulin, eine sog. positive Anergie 
(anergisierende Methode). Die anderen (Schröder, Selter) halten hohe Allergie 
für den Ausdruck einer hohen Immunität und erstreben mit ihrer Reiztherapie mit 
kleinsten Tuberkulindosen diesen Allergiegrad zu erhalten, wenn möglich noch zu 
steigern (anaphylaktisierende Methode). 

Die reaktionslose Tuberkulinisierung mit steigenden Dosen ist eine Giftgewöh- 
nung, eine Mithridatisation. Eigene Erfahrungen bewiesen uns, daß man mit der 
einschleichenden Methode bei hochallergischen schwerkranken Phthisikern reaktionslos 
zu sehr hohen Dosen gelangen kann (300 — 400 mg Alttuberkulin); eine solche Tuber- 
kulingewöhnung hat aber auf den Krankheitsablauf gar keinen Einfluß: über kurz 
oder lang gehen die Kranken an der fortschreitenden Phthise zu grunde. Der Ein- 
wand, es handle sich hier um negative Anergie, um ein völliges Erlahmen der Ab- 
wehrkräfte sub finem, ist nicht berechtigt, denn man kann doch nicht aus hoher 
Allergie durch Tuberkulinisierung eine negative Anergie machen. Nach diesen Be- 
obachtungen, wie sie ähnlich Schröder schon berichtet hat, muß der therapeutische 
Wert der reaktionslosen anergisierenden Tuberkulinisierung angezweifelt werden. 
Es gibt nur eine Krankheitsgruppe, bei der sie vielleicht indiziert ist, das sind die 
Fernwirkungen tuberkulöser Herde, die sich als sog. skrofulöse Ekzeme, Schleimhaut- 
katarrhe, Phlyktänen u. s. w. äußern und wahrscheinlich auf einer Überempfindlich- 
keit gegenüber dem Tuberkulin oder tuberkulinähnlichen Toxinen beruhen. In der 
Tat sind die Erfolge der anergisierenden Tuberkulintherapie bei diesen Krankheits- 
zuständen gut. 

Aber wie die Überwindung der starken Tuberkulinempfindlichkeit als Zeichen 
der klinischen Besserung, so ist auch die Annahme hoher Allergie als Ausdruck 
vorhandener Immunität eine Hypothese, die mit der praktischen Erfahrung nicht 
immer übereinstimmt, denn wir finden hohe Allergie, wie oben bereits erwähnt, 
gar nicht selten auch bei vorgeschrittener Tuberkulose, die bei noch erhaltener 
gewisser Erholungsfähigkeit doch eine ganz schlechte Prognose hat. Hohe Allergie 
bleibt nach unseren Untersuchungen (Lange) nicht selten bis wenige Wochen vor 
dem Tode bestehen, kann also nicht als therapeutisches Leitmotiv dienen. Dazu 
kommt, daß bei den kleinsten Dosen der anaphylaktisierenden Methodik nur aus- 


342 H. Ulrici. 


nahmsweise eine Reizwirkung erkennbar wird, mithin auch die Erhaltung oder gar 
Erhöhung der Allergie durch diese Dosierung oft ein Versuch mit untauglichen 
Mitteln ist. Eine Indikation dieser Form der Tuberkulinbehandlung für bestimmte 
Formen der Tuberkulose läßt sich nicht aufstellen, weil ihre Wirksamkeit lediglich 
abhängig ist von der Tuberkulinempfindlichkeit, die bei derselben Tuberkuloseform 
verschieden, aber bei verschiedenen Formen gleich sein kann. 

Immerhin steckt in der anaphylaktisierenden Methodik als Kern das ursprüng- 
liche Kochsche Prinzip der Reaktionsbehandlung, wenn auch in unzweckmäßig 
modifizierter Form. Es muß gerade für die therapeutische Auswertung daran fest- 
gehalten werden, daß nur für die Herdreaktion die sicheren Unterlagen vorhanden 
sind, die eine genaue Beobachtung von Heilungsvorgängen gestatten. Die Tatsache, 
daß der tuberkulöse Herd auf einen genügenden Tuberkulinreiz mit perifokaler 
Hyperämie und Exsudation antwortet, ist tierexperimentell, klinisch (Lupus!) und 
auch autoptisch (Virchow) sichergestellt. Daß solche Reaktion den Heilungsvorgang 
einleiten kann, indem sie zur perifokalen Iymphocytären Infiltration und weiter zur 
bindegewebigen Induration, somit zur Abkapselung des Herdes führt, entspricht 
nicht nur pathologisch-physiologischer und anatomischer Beobachtung, sondern auch 
klinischer Erfahrung; leben doch heute noch Leute, die von einer manifesten Lungen- 
tuberkulose während der ersten Tuberkulinära durch eine Behandlung mit heftigen 
Reaktionen geheilt worden sind. Ebenso zweifellos freilich — auch das lehrte die 
erste Tuberkulinära — können starke Tuberkulinreaktionen klinisch irreparablen 
Schaden anrichten, wenn die perifokale Exsudation nicht in Induration, sondern in 
fortschreitende Verkäsung übergeht. 

In Robert Kochs Prinzip der Tuberkulinanwendung steckte zweifellos die 
richtige Idee: die Erzielung der Herdreaktion; aber zwei Fehler der Ausführung 
ließen es zunächst nicht zur systematischen, therapeutisch zuverlässig gewinnbringenden 
Ausnutzung des Gedankens kommen: Fehler der Dosierung und Fehler der Indi- 
kationsstellung. Die ersten Dosen schon lagen zu hoch und die Festlegung einer 
Dosierung für alle Formen der Tuberkulose ist ein Unding. Der Indikationsstellung 
aber war die Klinik vor dreißig Jahren überhaupt nicht gewachsen, weil ihr die 
diagnostischen Hilfsmittel und Kenntnisse fehlten, über die wir heute verfügen. 

Sieht man als das wirksame Prinzip der Tuberkulintherapie die Herdreaktion 
an, so verliert der in seinem Wesen und in seinen Äußerungen noch keineswegs 
erkannte Allergiegrad seine therapeutische Einschätzung, und die Dosierungsfrage 
hat nicht mehr grundsätzliche, sondern nur methodische Bedeutung; übrig bleibt 
nur die Notwendigkeit, die Reizschwelle zu erreichen, überflüssig aber erscheint es, 
sie künstlich in die Höhe zu treiben. 

Die Tuberkulintherapie erfährt durch diese Auffassung keineswegs eine Verein- 
fachung. Die Indikationsstellung für die Herdreiztherapie hat vielmehr zur Voraus- 
setzung eine qualitativ und quantitativ spezialisierte Diagnose, die Klarheit darüber 
schafft, ob im gegebenen Fall eine Herdreaktion zum Guten oder zum Schlimmen 
ausschlägt, das heißt, ob die zu setzende Entzündungszone in Induration oder in 
fortschreitende Verkäsung übergehen wird. Die Dosierungsfrage für diese Therapie 
aber ist bis heute noch nicht gelöst, denn wir wissen nicht, ob jede Allgemein- 
reaktion mit einer Herdreaktion einhergeht und ob nicht die Herdreaktion schon 
mit einer kleineren Dosis zu erzielen ist als die Allgemeinreaktion, haben also an 
der Allgemeinreaktion keinen zuverlässigen Führer und sind auf tastendes Suchen 
angewiesen. Den physikalischen Nachweis der Herdreaktion als Maßstab zu nehmen, 
ist nicht angängig, denn er hat eine so erhebliche perifukale Entzündung zur Vor- 


Die Indikationen für die Behandlung der verschiedenen Formen der Tuberkulose. 343 


aussetzung, daß der therapeutisch zweckmäßige Grad der Reaktion weit über- 
schritten sein muß. Der Kreis der Tuberkuloseformen, die sich für die Behandlung 
mit specifisch herbeigeführten Reaktionen eignen, ist nicht groß, denn es kommen 
nur die zur bindegewebigen Induration neigenden chronischen Tuberkulosen, nicht 
aber diejenigen Formen in Betracht, bei denen exsudativ-entzündliche Vorgänge 
eine Rolle spielen. Demnach sind von den sekundären Äußerungen der Tuberkulose 
nicht die unter den toxischen Zeichen der frischen Generalisation stehenden, son- 
dern die stationär gewordenen Phasen für die specifische Reiztherapie geeignet; 
dabei scheiden die Knochen- und Gelenktuberkulosen noch aus, da man bei ihnen 
von der Tuberkulinbehandlung im allgemeinen keine wesentlichen Erfolge erwarten 
zu können scheint. Von den Lungentuberkulosen können die exsudativen Formen 
nicht Gegenstand einer solchen Therapie sein, weil sie ohnehin schon unter der 
Reizwirkung toxischer, dem Tuberkulin ähnlicher Substanzen stehen und weil sie 
den Gewebsreiz mit fortschreitender Entzündung beantworten. Die produktiven 
Tuberkulosen, die subchronisch verlaufen und zu rascher konfluierender Verkäsung 
neigen, werden durch intensive Reizbehandlung meist ungünstig beeinflußt, indem 
die perifokale Entzündung das Konfluieren der Herde begünstigt, statt die Demar- 
kierung herbeizuführen. Nur die chronischen indurierenden Formen, die ohne Fieber 
verlaufen, nicht zu weit vorgeschritten sind, insbesondere keine größeren Zerfallsherde 
und keine Impfherde in Kehlkopf und Darm und keine Kachexie gesetzt haben, lassen 
den Versuch der intensiven Reizbehandlung zu. Es kann sich immer nur um einen 
Versuch handeln, weil erstens die spezielle Diagnose nicht immer vollkommen exakt 
gestellt werden kann, weil zweitens die Möglichkeit besteht, inaktive Herde, insbesondere 
nicht bekannte Herde in anderen Organen zu mobilisieren, und weil drittens ein 
schädliches Überschreiten des Reizes nicht sicher zu vermeiden ist. Die Herdreiz- 
behandlung der Tuberkulose begegnet also mancherlei Schwierigkeiten und Be- 
denken und ist keineswegs die gegebene Lösung der therapeutischen Aufgabe. 

Haben die verschiedenen Tuberkulinpräparate auch verschiedene Indikationen ? 
Es ist, leider muß man sagen, in drei Jahrzehnten in Deutschland viel wissenschaft- 
licher Fleiß auf die Gewinnung des überlegenen Präparates verwendet worden. 
Und immer wieder hat sich herausgestellt, daß es sich bei dem neuen Heilmittel 
eben auch nur um die bekannte Tuberkulinwirkung handelte. Das gilt sowohl für 
die Partigene von Deycke und Much wie auch nach den letzten Arbeiten für das 
neueste Präparat von Toeniessen. Wir sind bis heute nicht einen Schritt über die 
Kochschen Präparate hinaus. 

Nachdem die Modifikation des Präparates sich erschöpft hatte, ist man auf 
die Modifikation der Beibringungsart verfallen. Aber auch das hat die specifische 
Therapie nicht wesentlich gefördert. Daß die Haut die Aufgabe hat, den Orga- 
nismus vor äußeren Schädlichkeiten, auch solchen bakterieller und toxischer Art zu 
schützen, kann nicht bezweifelt werden; bleibt doch die Berührung der Haut mit 
allen möglichen chemischen und bakteriellen Giftstoffen, die von der Schleimhaut 
aus höchst intensiv wirken, ohne jeden Effekt. Daß diesem Schutz neben der 
besonderen, dem speziellen Zweck glänzend angepaßten morphologischen Struktur 
dieses Organs eigene biologische Funktionen dienen, die auf dieses Ziel eingestellt 
sind, ist nach mancherlei klinischen Erfahrungen bei Erkrankungen, die auf und in 
der Haut sich abspielen (Erysipel, Pemphigus, Furunkel, Milzbrand, Lupus, Tetanus 
u. s. w.), zum mindesten nicht wahrscheinlich. Mit dieser Hypothese aber fällt die 
wissenschaftliche Begründung der cutanen Tuberkulintherapie und übrig bleibt nur 
die technische Modifikation. Sahli versucht seine Intracutanbehandlung durch die 


344 H. Ulrici. 


Notwendigkeit der Beobachtung der Reaktion zu motivieren; er bleibt nur den 
Beweis schuldig, daß Lokal. Allgemein- und Herdreaktion jeweils parallel gehen. 
Nach eigenen Beobachtungen liegen die Reizschwellen auf sehr verschiedenen Höhen, 
u. zw. nicht nur der absoluten Dosis, sondern auch im Vergleich der drei Reak- 
tionsarten untereinander; darnach wäre die Cutanreaktion ein recht schlechter Indi- 
kator für die therapeutische Dosis. Petruschkys Präparate dringen, wie wir nach- 
gewiesen zu haben glauben (Ulrici, Kremer), überhaupt nicht in solcher Menge 
durch die intakte Haut, daß irgend eine Reaktion zu stande käme; sie sind un- 
schädlich und unwirksam. Das Ektebin von Moro setzt zwar Lokalreaktionen; ob 
es aber darüber hinaus eine therapeutisch zweckmäßige Wirkung hat, steht dahin. 
Daß ihm unter den Tuberkulinen eine Sonderstellung zukäme, weil es abgetötete, 
aber noch färbbare Tuberkelbacillen enthält, soll erst noch bewiesen werden. Die 
Applikationsweise des Ektebins ist ein Notbehelf, weil sie auf die exakte Dosierung 
verzichtet. Schließlich Ponndorfs Verfahren verglich unlängst Grau sehr hübsch 
mit dem Herumtappen des Elefanten im Porzellanladen; in der Tat kann eine 
gröbere Methode nicht gefunden werden. Es leuchtet ohneweiters ein, daß den 
cutanen Tuberkulinanwendungen ein eigenes Indikationsgebiet nur insoweit zukommt, 
als kleine und große Kinder jede Injektion verweigern. 

Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, befriedigt der Versuch, zwischen den 
uns bekannten Formen der Tuberkulose und den praktischen therapeutischen Verfahren 
obligate Beziehungen zu finden, einstweilen nicht recht. Von der pathologischen Physio- 
logie der Tuberkulose ist viel zu wenig bekannt, um von hier die Brücke zur Therapie 
zu schlagen. Die therapeutischen Methoden sind vielmehr teils empirisch, teils ex- 
perimentell gefunden; und wenn der Empirie die wissenschaftliche Grundlage nach- 
gehinkt kommt, so fehlt der experimentellen Pathologie, mag sie vom chemischen 
Versuch oder vom Tierexperiment herkommen, der unmittelbare Anschluß an den 
pathologischen Vorgang im menschlichen Organismus. Es resultiert immer eine ge- 
wisse Disharmonie, die für die wissenschaftliche Betrachtung schwer zu eliminieren ist. 

Literatur: Aschoff, Z. f. Tb. XXVII, p. 28. — Bacmeister, D. med. Woch. 1918, p. 340; 
Lungenkrankheiten. 3. Aufl., Thieme 1923. — Bacmeister u. Rickmann, de e ee d. 
Lungentb. Thieme 1924. — Bandelier u. Roepke, Klinik d. Tb. 1924, 3. u. 4. Aufl. — Bernhard, 
Sonnenlichtbehandlung i. d. Chirurgie. Enke 1917. — Besredka, Annales de l'institut Pasteur 1921. 
— Brauer u. Spengler, Handbuch d. Tb. von Brauer, Schröder, Blumenfeld, 3. Aufl. 1923, 
II, p. 449. — Brunner, Die Oe dE Behandlung der Lungentuberkulose. Barth 1924. — Cornet, 
Die Tuberkulose. 2. Aufl. 1907. — Deycke, Lehrbu.h der Lungentuberkulose. 2. Aufl. 1922. — Engel, 
Tub.-Bibliothek, H. 12. — Feldt, Beitr. 7. Klin. d. Tb., LVII, p. 269. — Fraenkel u. Gräff, Münch. 
mei. Woch. 1921, p. 445. — Gräff u. Küpferle, Beitr. z. Klin. d. Tb., XLIV, p. 165. — Grass, 
Tuberkuloseärzteversammlung Coburg 1924. — Harms, Beitr. z. Klin. d. Tb., LVI, p. 318. — v. Hayek, 
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1924. — Jacob u. Moeckel, Münch. med. Woch. 1924, p.539. — Kleinschmidt, Handbuch d Tb. 
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Die Entzündungen am weiblichen Genitale 
mit Ausnahme der Gonorrhöe. 


Von Fritz Heimann, a. o. Universitätsprofessor in Breslau. 


Mit 6 Abbildungen im Text und einer farbigen Tafel. 





Wie das Thema anzeigt, sollen in diesem Artikel die Entzündungen der weib- 
lichen Genitalien von der Vulva bis zum Pelveo-Peritoneum besprochen werden. Bei 
dem innigen Zusammenhang der einzelnen Organteile ist ein Übergreifen von einem 
zum anderen selbstverständlich, und so werden sich natürlich Hinweise bei der Be- 
sprechung der Entzündung eines Teiles auf die eines anderen nicht umgehen lassen. 
Die Genitalien gehören ja sowohl in ihrer arteriellen wie venösen, ihrer Iymphati- 
schen wie nervlichen Versorgung zu einem Ganzen, und so sehen wir täglich, daß 
entzündliche Affektionen der Vulva Reaktionen im Uterus hervorrufen, und um- 
gekehrt. Die Gonorrhöe als solche wird nicht besonders besprochen, trotzdem wird 
auf die gonorrhoische Infektion in gleicher Weise wie auf die tuberkulöse, syphilitische 
und septische Bezug genommen werden, da ja der Gonokokkus bei den entzünd- 
lichen Affektionen der Genitalien eine ungeheure Rolle spielt. Die pathologisch- 
anatomische Bedeutung der Entzündung sei nur kurz gestreift. Sieht man von jenen 
Entzündungen ab, die durch mechanische, chemische, thermische Schädlichkeiten 
hervorgerufen werden, wobei die Bakterien in letzter Linie eine dominierende, wenn 
auch sekundäre Rolle spielen, so ist es die Infektion, das primäre Eindringen der 
Krankheitserreger, die für die Entzündung hauptsächlich in Betracht kommt. Das 
Eindringen der Bakterien, mögen es Kokken, mögen es Bacillen sein, ist zwar der 
intakten Haut oder Schleimhaut gegenüber nicht ganz leicht, da die gesunde Haut 
oder Schleimhaut alles daran setzt, um den Eintritt zu erschweren, jedoch die kleinste 
Läsion macht jeden Widerstand unmöglich, und ist erst der Erreger im Körper, so 
entfaltet er, sei es durch Produktion von Toxinen, sei es durch Zerfall seiner Nähr- 
substrate oder durch seinen eigenen Tod und die dadurch frei werdenden giftigen 
Endotoxine sofort seine verheerende Wirkung. Wir wissen ja leider zu genau, wie 
häufig unter solchen Umständen die lokale Reaktion in die allgemeine Entzündung, 
d. h. in Allgemeininfektion, übergehen kann. Noch heute bestehen die 4 Symptome, 
die die älteren Pathologen als die charakteristischen Zeichen einer Entzündung an- 
gegeben haben, völlig zu Recht: Tumor, Dolor, Calor und Rubor, wozu noch später 
als 5. Symptom die Functio laesa hinzugerechnet wurde. Die makro- und mikro- 
skopischen Bilder bei dem Entstehen einer Entzündung sind zu bekannt, als daß 
hier ausführlich darauf eingegangen zu werden brauchte. Wir wissen heute besonders 
durch die Studien unserer hervorragendsten deutschen Forscher Virchow und 
Rokitansky, wie es am Orte der eingedrungenen Bakterien zur Reaktion kommt. 
Mit dem Plasma des Blutes treten Leukocyten und Erythrocyten heraus, das Trans- 
sudat wird durch stärkere Beimengung der weißen Blutkörperchen zum Exsudat, 
die Gewebsinfiltration geht in das Nachbargewebe weiter und übt dort ihre zer- 
störende, degenerative Wirkung aus. Mit aller Macht versucht der Organismus dem 


346 Fritz Heimann. 


weiteren Eindringen durch Errichtung eines Schutzwalles Einhalt zu tun; nicht nur 
die Nachbarschaft des erkrankten Herdes beteiligt sich mit ihren Fibroblasten, Leuko- 
cyten u.s.w. an der Errichtung des Walles, der Organismus bringt seine gesamten 
Abwehrkräfte heraus, hauptsächlich um den Prozeß zu lokalisieren, ihn oberflächlich 
zu halten. Handelt es sich bei der oberflächlichen Entzündung nur um einen sog. 
Katarrh, bei dem wir im mikroskopischen Bild Teile des oberflächlichen Epithels 
mit weißen und roten Blutkörperchen angefüllt finden, so sehen wir bei tiefen 
Entzündungen bereits abgestorbene und abgestoßene Teile des Gewebes. Von hier 
aus ist es zur Allgemeininfektion zuweilen nur ein kleiner Schritt. Der Wall wird 
von den Erregern durchbrochen, die Lymph- und Blutgefäße sind offen und der 
Weg ist den Bakterien frei. Ob es dann zu den Erscheinungen, die wir als Sepsis 
oder Pyämie bezeichnen, kommt, hängt von den Umständen ab, auf die hier nicht 
näher eingegangen werden soll, da sie für unsere Besprechung nicht von Bedeutung 
sind. Ein Wort noch zur Heilung der Entzündung. Erste Bedingung ist dafür, daß 
die Erreger kampfunfähig gemacht werden. Erst wenn der Organismus mit seinen 
Abwehrkräften, wobei die Phagocyten die erste Rolle spielen, die Oberhand ge- 
wonnen hat, kann mit der Regeneration begonnen werden. Die Resorption des 
Exsudates, der im Entzündungsherd liegenden nekrotischen Massen von Gewebe 
besorgen auch hier wieder vornehmlich die Phagocyten. Gewisse lösende Fermente 
werden abgeschieden, um die Aufsaugung zu erleichtern. Defekte im Gewebe werden 
durch die Bindegewebszellen neu aufgebaut. Das Narbengewebe zeigt schließlich 
an, wo die Entzündung früher gesessen hat. Diese Vorgänge sollten kurz gestreift 
werden, ehe wir an die Besprechung der einzelnen Kapitel herangehen. 

Zunächst sei die Entzündung der Vulva besprochen. Die Anatomie dieses Teiles 
zeigt mit einigen Abweichungen das Bild der normalen Haut. Der Pigmentreichtum 
ist hier größer als an anderen Stellen, und die Verteilung der Schweißdrüsen an 
den einzelnen Teilen der Vulva verdient Beachtung. So zeigt die Gegend um die 
Klitoris besonders reichlich Talgdrüsen, deren starke Sekretion eine Erkrankung 
vortäuschen kann. Im großen und ganzen sind die Vorbedingungen für eine Vulvitis 
gegeben. Die Hautpartien sind mit Bakterien mannigfacher Art besiedelt, die im 
gegebenen Augenblick virulent werden und ihre verheerende Wirkung ausüben 
können. Glücklicherweise ist dies im Leben seltener, als man darnach annehmen 
könnte. Das Epithel schützt einerseits in ausgezeichneter Weise, andererseits wirkt, 
wie Menge nachweisen konnte, das Scheidensekret bactericid und vermindert da- 
durch die Anzahl der Mikroben. Kommt es aber zur Entzündung, so ist die Ver- 
letzung, die Aufquellung des Epithels erste Bedingung für die Entstehung der Vulvitis. 
Mancherlei Faktoren sind von Bedeutung. Rein mechanisch kann das Epithel durch 
Onanie, rohe Cohabitation, Kratzeffekte u. s. w. verletzt werden. Die Infektion spielt 
eine große Rolle. Nicht aseptisch ausgeführte Operationen, die gewöhnlichen Geburts- 
vorgänge können schwerste Entzündungen hervorrufen. Die Gonorrhöe muß Er- 
wähnung finden, wenn auch hier das Epithel dem Eindringen der Gonokokken er- 
hebliche Schwierigkeiten bereitet; anders ist es bei der Vulvovaginitis der kleinen 
Mädchen, wo das zarte Epithel dem Erreger das Eindringen erleichtert. Der Soor- 
pilz ist ferner zu nennen. Beim Diabetes sieht man häufig, daß der zuckerhaltige 
Urin, der dauernd die Vulva benetzt, Macerationen des Epithels hervorruft. Das 
gleiche ist der Fall bei Erkrankungen der höher gelegenen Teile der Genitalien 
mit ihren ätzenden und beißenden Sekreten, bei Fisteln nach Darm oder Blase. Wir 
sehen, daß bei allen ätiologischen Faktoren die Verletzung des Epithels die Conditio 
sine qua non ist. 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 347 


Die Symptome einer Vulvitis bestehen in einer intensiven Rötung der ge- 
samten Partien, deren leichte Berührung außerordentliche Schmerzen hervorruft. 
Starke ödematöse Schwellung verleiht der Haut ein glänzendes Aussehen. Allmählich 
kommt es zu einer serösen, schleimigen, eventuell eitrigen Sekretion, die häufig mit 
Blut untermischt ist. Jetzt bilden sich besonders an den kleirmen Labien kleinste 
Wärzchen aus, die nicht mit spitzen Kondylomen verwechselt werden dürfen. Es 
handelt sich um einfache Hyperplasien der Schleimhaut. 

Die Diagnose der gewöhnlichen Vulvitis ist leicht und aus den Symptomen 
sofort zu erkennen. Schwierig gestaltet sich die Erkenntnis, welche Form der Erkran- 
kung vorliegt. Die Untersuchung auf Gonokokken ist unerläßlich, und bei Vor- 
handensein der Erreger ist die Diagnose geklärt. Es soll jedoch hervorgehoben werden, 
daß auch der: Nachweis erhebliche Schwierigkeiten machen kann. Häufige, zu ganz 
verschiedenen Zeiten ausgeführte Untersuchungen ergeben stets ein negatives Resultat, 
bis endlich das Kulturverfahren die Diagnose klärt. Auch die Bartholinsche Drüse 
mit ihren Sekreten, die ja den Lieblingssitz der Gonokokken darstellt, muß ein- 
gehend untersucht werden. Bei der aphthösen Form sehen wir, daß die Pilzfäden 
nicht tief hineingehen. Die diphtherische Form ist eine Erkrankung, die wir neben 
der Scharlach- und Masernvulvitis besonders im Kindesalter beobachten. Der 
Nachweis der Bacillen gelingt meist. Die Erkrankung kann auftreten, auch ohne 
daß eine solche des Rachens vorliegt. Schwerste Excoriationen und Beläge treten 
als Begleiterscheinungen auf und sind besonders in ihren Folgeerscheinungen, der 
späteren Verklebung dieser Partien, der Atresie, zu fürchten. Die Aktinomykose, 
Infektionskrankheiten, wie Typhus, Ruhr u.s. w., können ebenfalls zu Geschwürs- 
bildungen an der Vulva führen. 

Die Therapie muß natürlich in allererster Linie die Grundkrankheit berück- 
sichtigen. Lokal wird man die Teile ruhig stellen, d. h. die Patientinnen streng zu 
Bett liegen lassen. Jedes differente Mittel, Sublimat, Carbol, Lysol, ist zu vermeiden. 
Je indifferenter die Abrieselungen, Spülungen, Sitzbäder sind, also abgekochtes 
Wasser, Borsäure-, ganz dünne Kaliumpermanganatlösung u. s. w., desto eher führt 
die Behandlung zum Ziel. Prophylaktische Maßnahmen sind bei der gewöhnlichen 
Vulvitis, da sie außerordentlich leicht rezidiviert, sehr zu empfehlen. Auch hier wird 
die Grundkrankheit natürlich die erste Rolle spielen. Häufige warme Sitzbäder mit 
Bolus alba (zwei gehäufte EBlöffel pro Sitzbad), Abreibungen mit 2% igem Salicyl- 
spiritus verrichten gute Dienste. 

Die akute Vulvitis kann in die chronische übergehen. Man findet klinisch 
dann eine derbe, spröde Haut, die zahlreiche Excoriationen, von Kratzeffekten her- 
rührend, zeigt. Histologisch sieht man in einer solchen Haut die Charakteristica 
der überstandenen Entzündung, also in erster Linie die kleinzellige Infiltration, 
daneben sind Neubildungen von Gefäßen zu beobachten. Die chronische Vulvitis 
ist eine Erkrankung, die die Patientinnen außerordentlich in ihrem körperlichen und 
seelischen Zustand herunterbringt. Das Hauptsymptom, das Jucken, auf das ich 
unten noch ausführlich zu sprechen komme, ist so quälend und aufreibend, daß 
man häufig gezwungen wird, zu Narkotica zu greifen, nur um den Frauen wenig- 
stens für kurze Zeit Ruhe und Erholung zu schaffen. Selbstverständlich wird man 
in dieser Hinsicht allergrößte Vorsicht walten lassen. Die übrige Behandlung muß 
auch hier eine eventuelle Grundkrankheit berücksichtigen, vor allen Dingen aber 
auf möglichste Erleichterung in den Beschwerden sehen; mit indifferenten Mitteln 
kommt man zunächst am besten zum Ziel. Sitzbäder, Umschläge, bei starker Sekretion 
eventuell Trockenbehandlung mit Boluspräparaten, peinlichste Sauberkeit verrichten 


348 Fritz Heimann. 


oft gute Dienste. Man wird ausprobieren müssen, welches Mittel der Kranken am 
besten hilft, niemals darf man sich auf die Durchführung einer bestimmten Kur 
versteifen. Wie ich bereits bei der akuten Vulvitis erwähnte, kann es besonders 
leicht bei der chronischen Form zu Ulcerationen kommen, die der Therapie erhebliche 
Schwierigkeiten machen. Die venerischen Erkrankungen seien nur kurz gestreift. 
Ich nenne hier das Ulcus molle, das durch den Ducreyschen Streptobacillus hervor- 
gerufen wird und an seinem scharfen Rande und seinem speckigen Geschwürs- 
grund gut zu erkennen ist. Die Schmerzhaftigkeit ist groß und dadurch differential- 
diagnostisch leicht vom syphilitischen Ulcus zu unterscheiden. Die Lymphdrüsen 
(Glandulae inguinales) werden zeitig befallen und zeichnen sich durch ihre große 
Schmerzhaftigkeit aus (Bubonen). Auch die Gonorrhöe kann bei sehr reichlichem 
Sekret Geschwüre an der Vulva hervorrufen. Hier wird man im Abstrich natürlich 
Gonokokken finden. Der Lues sei gedacht, die in allen 3 Stadien: als Primär- 
affekt, als maculo-papulöses Syphilid und in ihrer tertiären Form an der Vulva vor- 
kommt. Schließlich tritt (zit. nach Schröder) ein von Lipschütz zuerst beschrie- 
benes sog. Ulcus vulvae acutum bei Virgines auf; die Innenflächen der großen und 
kleinen Labien zeigen am häufigsten diese Erkrankung, die im großen und ganzen 
eine gute Prognose dartut. 

Drei Geschwürsformen müssen gemeinsam besprochen werden, da sie patho- 
logisch-anatomisch große Ähnlichkeit besitzen können, d. i. das Ulcus rodens vulvae, 
die Elephantiasis und die Tuberkulose, soweit die beiden letzteren Formen ulce- 
rierend auftreten. 

Unter dem Ulcus rodens vulvae oder Esthiomene versteht man ein schleichend 
beginnendes serpiginöses Geschwür, das von der Fossa navicularis oder Urethral- 
mündung ausgeht und sich durch seine durch nichts zu beeinflussende, in die Tiefe 
vordringende Tendenz auszeichnet. .Fistelbildung nach Blase und Mastdarm. Histo- 
logisch findet man ein zellreiches Gewebe mit vielen Leukocyten und Plasmazellen, 
im übrigen das Bild der chronischen Entzündung. Sehr häufig ist diese Erkrankung 
gepaart mit einer Mastdarmstriktur, auf einer Stauung in den Lymphgefäßen beruhend, 
und gerade dieser Vorgang hat die Erkrankung in Zusammenhang mit der Lues 
bringen lassen, obwohl an und für sich das Ulcus rodens nichts mit der Lues zu 
tun hat. Gleichwohl kommt die Krankheit meist bei Prostituierten zwischen dem 
20. und 40. Lebensjahre vor, und eine gewisse Basis können Syphilis und Tuberkulose 
abgeben. Der Verlauf ist ein außerordentlich quälender. Brennen und Jucken, 
Blutungen, Beschwerden beim Wasserlassen bringen die Patientin bald enorm her- 
unter. Die Diagnose hat gegen Lues, Tuberkulose, Carcinom und eventuell ulcerös 
auftretende Elephantiasis zu unterscheiden. In letzter Linie hilft das Mikroskop. Die 
Prognose ist schlecht. Die Therapie wird versuchen, das stark sezernierende Geschwür 
möglichst trocken zu halten. Aufstreuen von trockenen Pulvern und Pudern, eventuell 
Ätzungen mit Argentum, Chromsäure u. s. w. In manchen Fällen wird man mit der 
Excision der erkrankten Partien nützen können (s. Tafel III, Fig. 1). 

Die Elephantiasis vulvae tritt meistens in der sog. hypertrophischen Form auf. 
Es handelt sich um eine Stauung im Lymphgefäßapparat, die zum Teil durch ent- 
zündliche Erkrankungen, zum Teil, besonders in den Tropen, durch das Einwandern 
der Filaria in die Lymphgefäße hervorgerufen wird. Die Stauung kann so bedeutend 
sein, daß Tumoren von ungeheurer Größe (Siedentop) resultieren. Die großen und 
kleinen Labien hängen als enorme Geschwülste herab und belästigen die Trägerin 
außerordentlich. Histologisch handelt es sich hauptsächlich um eine Hypertrophie 
der Hornschicht, die Cutis zeigt die Entzündung, also besonders kleinzellige In- 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 349 


filtration. Zuweilen treten Ulcerationen auf, und in diesem Zustand kann die 
Differentialdiagnose gegen das Ulcus rodens sehr schwer sein. Die Therapie muß 
eine chirurgische sein. 

Schließlich sei die Tuberkulose erwähnt, die als einfache Hauttuberkulose, als 
Lupus vulgaris, recht selten vorkommt. Etwas häufiger ist die ulceröse Form, die 
dann mit den beiden oben erwähnten Erkrankungen große Ähnlichkeit haben kann. 
Das Geschwür selbst sieht wie angefressen aus. Die Ränder sind nicht infiltriert, 
der Belag meist käsig. Tuberkelbacillen werden zuweilen nachzuweisen sein, beweisen 
jedoch noch nicht die tuberkulöse Ätiologie, da sie von höheren Orten mit dem 
Sekret heruntergekommen sein können. Erst die mikroskopische Untersuchung, die 
die Anwesenheit von Tuberkeln mit Riesenzellen und nun- 
mehr das Vorhandensein von Bacillen feststellt, sichert die 
Diagnose. Die Infektion ist stets sekundär, entweder vom 
Blutweg aus oder per continuitatem vom Darm aus. Die 
Therapie wird die für Hauttuberkulose üblichen Maß- 
nahmen, Licht-, Strahlen-, Salbenbehandlungen, eventuell 
Tuberkulin, berücksichtigen. 

In engem Zusammenhang, vielleicht auf dem Boden 
einer chronischen Vulvitis, entstehen einige nicht ganz 
seltene Krankheitsbilder. Zunächst seien die spitzen Kondy- 
lome genannt (Fig. 82). Hat man diese Erkrankungen 
früher mit der Gonorrhöe in einen direkten ätiologischen 
Zusammenhang gebracht, so weiß man heute, daß dies 
absolut nicht der Fall zu sein braucht. Gewöhnlich ist es 
das ätzende, beißende Sekret einer Vaginitis oder eines 
Uteruskatarrhs, das diese Bildung hervorruft. Histologisch 
findet man bei diesen die großen und kleinen Labien be- 
deckenden, papillär aufsitzenden, leicht blutenden Wärz- 
chen eine starke Wucherung des Papillarkörpers. Die 
Zeichen der chronischen Entzündung, mächtige An- 
häufungen von Leukocyten und Plasmazellen, sind vor- 
handen. Häufig werden die Excrescenzen durch Druck a Hd E 
rein mechanisch abgeplattet und sind dann den breiten 
luetischen Kondylomen nicht ganz unähnlich. Klinisch klagen die Kranken über sehr 
starkes Brennen und Jucken. Kommt es zur Sekretion, dann entsteht übler Geruch. 
Therapeutisch hat man Ätzungen mit Chrom- oder Salpetersäure, Vereisung mit Chlor- 
äthyl empfohlen. Ist die Erkrankung ausgedehnter, kommt man mit diesen Methoden 
nicht zum Ziel. Hier hilft nur chirurgisches Vorgehen. Abschneiden jedes Wärzchens mit 
der Schere und sofortiges Betupfen der blutigen Stellen mit dem Paquelin. Die Rönt- 
genbehandlung hat nach meiner Erfahrung nicht sehr günstige Erfolge aufzuweisen. 

Histologisch bietet das gegenteilige Bild der soeben beschriebenen Erkrankung 
die Craurosis vulvae, die Schrumpfung, die zuerst Breisky 1885 beschrieben hat. 
Hier handelt es sich in erster Linie um eine narbenähnliche Beschaffenheit des 
Papillarkörpers, Talg- und Schweißdrüsen fehlen, das Pigment schwindet und gibt 
auch klinisch diesen Partien ein weißliches, narbenähnliches Bild. Hauptsächlich 
die Labia minora und Damm werden betroffen, und durch ihre Schrumpfung kann 
eine sehr starke Verengerung der Vagina eintreten. Die Kraurosis stellt das End- 
produkt einer Entzündung dar. Häufig geht dieser Erkrankung eine Epithelver- 
dickung, die besonders das Stratum corneum betrifft und sich klinisch ebenfalls in 


Fig. 82. 





350 Fritz Heimann. 


weißlichen Flecken äußert, voraus, die sog. Leukoplakie, die mit Syphilis in keinem 
Zusammenhang zu stehen braucht. Die Kranken klagen dabei über Spannung und 
unerträgliche juckende und fressende Empfindungen. Da es leicht zu Fissuren kommt, 
stellen sich auch erhebliche Beschwerden ein. Cohabitationsbeschwerden treten 
infolge Stenosierung auf. Die Behandlung macht Schwierigkeiten. Von Salben und 
Schüttelmixturen hat man wenig Erfolg gesehen, obwohl ein Salbenverband diese 
Stellen vor dem Sekret der Vagina schützt. Auch die Röntgenstrahlen lassen häufig im 
Stich, obwohl man sie versuchen soll (3-mm-Aluminiumfilter höchstens 30 X bei 
26 cm F. H., alle 3—4 Wochen wiederholen. Küstner hat die Excision der 
erkrankten Partien mit eventueller Transplantation empfohlen (s. Tafel UL Fig. 2). 

Schon bei der ersten Affektion wurde als ein Symptom das Jucken, der Pru- 
ritus vulvae, genannt, eine Erkrankung, die die Patientin außerordentlich quälen und 
körperlich und seelisch herunterbringen kann. Wir unterscheiden einen sympto- 
matischen und einen essentiellen Pruritus. Ersteren sehen wir bei allen Katarrhen 
der Genitalien. Das Carcinom mit seinen ätzenden und beißenden Sekreten kann 
ebenfalls unerträgliches Jucken hervorrufen. Beim Diabetes wird der zuckerhaltige 
Urin die Ursache abgeben. Ekzem, Soor, Acne seien ferner ätiologisch genannt. 
Der essentielle Pruritus tritt auf, ohne daß irgendwelche Ursachen aufzufinden wären. 
Olshausen ebenso wie Walthard nehmen eine Neurose an. Die Veränderungen 
der Haut sehen sie als eine Folge des Kratzens an. Die Haut selbst ist beim Pruritus 
lederartig verändert. Hypertrophie des Bindegewebes bei gleichzeitiger Atrophie des 
Epithels. Subepithelial ist reichlich kleinzellige Infiltration zu beobachten. Die 
Therapie hat in erster Linie die Grunderkrankung zu behandeln. Beim essentiellen 
Pruritus soll man sich heute auf lokale Behandlung (Pinselung mit 5%iger Carbol- 
lösung, Mesothan mit Oleum olivarum ana u. s. w.) nicht einlassen, da wir in der 
Röntgenbehandlung ein ausgezeichnetes Verfahren in die Hand bekommen haben. 
Technik wie bei der Kraurosis. 

Schließlich müssen bei der Entzündung der Vulva auch die Erkrankungen 
genannt werden, die in erster Linie den Dermatologen interessieren. Ich nenne hier 
das Ekzem, besonders das intertriginöse, die Furunculose und den Herpes genitalis. 
Die Behandlung besteht nach den in der Dermatologie üblichen Grundsätzen, d. h. 
neben peinlichster Sauberkeit Behandlung mit trockenen Pudern. Ist die Entzündung 
recht hervortretend, so wird man zunächst durch Umschläge mit essigsaurer Ton- 
erde diese zurückbringen. 

Spricht man von der Entzündung der Vagina, so sind die anatomischen Kennt- 
nisse zum Verständnis erste Vorbedingung. Die Scheide hat ein vielschichtiges Pflaster- 
epithel, das normalerweise ein Eindringen der Keime verhindert; Drüsen fehlen, die 
Mikroflora der Vagina ist außerordentlich zahlreich. Neben grampositiven und -negativen 
Kokken und Bacillen findet man in der normalen Scheide in erster Linie kürzere 
oder längere grampositive Stäbchen, die von Döderlein als die typischen Bewohner 
der Scheide erkannt worden sind. Sie sind es, wie wir noch hören werden, die 
infolge der Milchsäurebildung im Kampf gegen die eingedrungenen Bakterien 
siegreich die Gesundheit der Scheide garantieren. Auch die Trichomonas vaginalis 
muß unter den Scheidebewohnern genannt werden. Nicht viel größer als ein 
weißes Blutkörperchen mit einem Geißelfaden ruft sie nach Höhne — im Gegen- 
satz zu Schröder und Löser — starke Entzündung hervor. Die Gonokokken 
dringen in das gesunde Scheidenepithel der Erwachsenen nicht ein, obwohl Wert- 
heim am Schnittpräparat auch dieses zeigen konnte; kommt es jedoch zu Ver- 
letzungen des Epithels durch ätzende Sekrete, dann ist es dem Gonokokkus ein 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 351 


leichtes, in das Gewebe einzudringen. Das zarte Epithel der Kinder bietet dem 
Gonokokkus absolut keinen Widerstand. Die gonorrhoische Vulvovaginitis der kleinen 
Mädchen ist eine sehr unangenehme, therapeutisch schwierig zu beeinflussende 
Erkrankung. Wir sehen aus diesen kurzen Auseinandersetzungen, daß es beim Ent- 
stehen einer Vaginitis auf zwei Momente besonders ankommt, erstens welche Arten 
von Bakterien die Oberhand gewinnen und ihren unheilvollen Einfluß ausüben, und 
zweitens wie sich die Nährböden — in diesem Falle Epithel und Scheidenwand — den 
Bakterien gegenüber. verhalten. Durch irgend welche deletären Einflüsse, mögen diese 
mechanischer, chemischer oder thermischer Art sein, kann die Mikroflora sich ver- 
mehren, der normale Nährboden geschädigt werden und dadurch dem Eindringen 
der Bakterien keinen Widerstand mehr leisten. Wir sehen dann das Bild entstehen, 
das wir mit Vaginitis bezeichnen. Ätiologisch spielen die mannigfachsten Faktoren 
eine Rolle. In erster Linie ist es die Infektion; auf die Gonorrhöe gehe ich nicht näher 
ein. Schon oben wurde erwähnt, daß die Gonokokken zwar normalerweise dem Scheiden- 
epithel nichts anhaben können, daß aber jede Schädigung desselben die Entzündung 
hervorruft. In noch stärkerem Maße geschieht dies durch nicht aseptisch ausgeführte 
Operationen; der Streptokokkus ist in erster Linie die Ursache der Infektion. Auch 
der Soorpilz, besonders bei Diabetes und in der Oravidität, kommt ätiologisch für 
eine Vaginitis. in Betracht. Man erkennt die Erkrankung an den weißen Pilzrasen 
und der stark geröteten Schleimhaut. Auch die Nähe des Darmes gibt zuweilen 
Veranlassung zu Entzündungen der Scheide, mögen es Darmbakterien sein, die in 
die Scheide einwandern, mögen andere Parasiten die Vaginitis hervorrufen. In. 
erster Linie sind die Oxyuren zu nennen, die die Scheide besiedeln. Vielleicht sind 
es gar nicht die Würmer selbst, die die Erkrankung hervorrufen, eher die Folge- 
erscheinungen; durch das infolge des Juckens bewirkte Kratzen entstehen Epithel- 
effekte, die zu unangenehmen Entzündungen führen. Auch chemische Ätzwirkungen 
sind als ätiologische Faktoren zu nennen, zum Teil können dies Sekrete sein, die 
durch Erkrankung der oberen Teile des Genitales, also besonders des Uterus, ab- 
gesondert werden, hauptsächlich spielen aber Medikamente eine Rolle, die man 
zu therapeutischen Zwecken verwendet. Ich nenne hier besonders Carbol, Sublimat, 
Lysol u.s. w. Auch bei der Verwendung der heißen Spülungen ist Vorsicht geboten, 
der Temperaturgrad ist genauestens der Patientin anzugeben. Ich habe schon nach 
ungenauen Angaben schwerste Verbrühungen gesehen. Entzündungen in der 
Umgebung der Vagina können sehr leicht auf die Scheide übergreifen. Wir wissen 
heute, daß die Infiltration der Parametrien beim Uteruscarcinom häufig auf einer 
Infektion beruht und nichts anderes als eine Phlegmone darstellt, hervorgerufen 
durch die im Affekt sitzenden Streptokokken. Wir haben uns bei der Röntgen- 
bestrahlung derartiger Fälle überzeugt, daß beim Verschwinden des Ulcus auch 
die Phlegmone zurückgeht, da den Bakterien gewissermaßen der Nährboden entzogen 
wird (Küstner, Heimann). Auch sonst kann ein eitriger Prozeß, der sich z. B. im 
Wochenbett im Paravaginalgewebe abspielt, auf die Scheide leicht übergreifen. Schwere 
Veränderungen, zum Teile entzündlicher Natur zeigt die Vagina bei großen Prolapsen. 
Hier geben Ernährungsstörungen oder mechanische Insulte der Scheide das ursäch- 
liche Moment für die Vaginitis ab; die Schädigung kann so weit gehen, daß schwere 
Ulcerationen, sog. Decubitalgeschwüre resultieren. Schließlich darf der Verletzungen 
nicht vergessen werden, mögen sie durch therapeutisch eingelegte Instrumente (Pessare) 
hervorgerufen sein oder handelt es sich um masturbatorisch oder infolge Perversion 
in die Scheide eingebrachte Fremdkörper. Auch beim Stuprum hat man Verletzungen 
mit anschließenden Entzündungen häufig gesehen. 


352 Fritz Heimann. 


Pathologisch-anatomisch unterscheidet man eine Vaginitis granularis und eine 
Vaginitis simplex. Bei der ersteren sind hauptsächlich die Papillenspitzen ergriffen, 
wodurch die ganze Scheide ein rotgesprenkeltes Aussehen erhält. Bei der simplex 
ist die gesamte Scheide entzündet. Hier sieht die Vagina flammenrot aus, das Epithel 
zeigt Verletzungen und Macerationen und die Folge des Epithelverlustes ist eine leb- 
hafte Sekretion, herrührend aus dem Transsudat des großen Venenplexus, der sich 
unter der Epidermis der Scheide befindet. Ist der Prozeß nur oberflächlich, so haben wir 
es mit der katarrhalischen Form zu tun. Geht die Erkrankung in die Tiefe, so kann 
es zur Abstoßung ganzer Membranen kommen (Vaginitis pseudomembranacea). Hier 
spielen in der Ätiologie außer schweren Infektionskrankheiten, wie Typhus, Scharlach 
u. s.w., auch chemische Agenzien, Sublimat, Carbol u. s. w., eine- wichtige Rolle. 
Auch unter dem Einfluß der Lues 
kann es, abgesehen vom Primär- 
affekt, zu tiefgreifender Zerstö- 
rung und Entzündung der Scheide 
kommen (Vaginitis gummosa). 
Von der Diphtherie ist dieser Zu- 
stand bekannt. Erst kürzlich ist an 
unser Klinik ein Fall von Fräulein 
Dr. Kühn beschrieben worden, 
bei dem es sich um eine Aus- 
stoßung des gesamten Vaginal- 
rohres bei echter Diphtherie ge- 
handelt hat. 

Unter den Symptomen sehen 
wir den Ausfluß in erster Linie, 
der von milchig weißer Be- 
schäffenheit alle Grade bis zu 
reinem Eiter annehmen kann. Auf 
diesen „Ausfluß“ sei etwas näher 
eingegangen. 

Die Anatomie zeigt, daß im 
ganzen Oenitalschlauch nur die 
Vulva und die Cervix echte Sekrete hervorbringen. Die Scheide hat ein mehrschichtiges 
Pflasterepithel und besitzt keine Drüsen, und in dem normalen Corpus uteri sehen wir, 
wie ich bei der Besprechung des normalen menstruellen Cyclus zeigen werde, nur 
in der Sekretionsphase ein schleimähnliches Produkt, das nur selten exzessive 
Formen annimmt. Trotzdem kann außer von Cervix und Vulva noch Flüssigkeit 
in der Scheide abgesondert werden, u.zw. handelt es sich um ein Transsudat aus 
den unter dem Epithel der Scheide liegenden, sehr ausgedehnten venösen Plexus- 
bildungen; geringste Hindernisse im Abfluß des venösen Blutes werden also sofort 
eine seröse Durchtränkung des Epithels und damit eine Transsudation zur Folge 
haben. Sehen wir also, daß der Fluor zunächst aus Flüssigkeit besteht, so ist der 
zweite Hauptbestandteil die Epithelien, die vom Pflasterepithel der Scheide stammen, 
die dritte, vielleicht die wichtigste Komponente stellen die Bakterien dar, die von 
außen schon 8—12 Stunden nach der Geburt in die Scheide einwandern. Der 
Bakteriengehalt der Scheide nimmt eine Sonderstellung ein. Untersucht man die 
Scheide gesunder Frauen, so findet man nur eine Form von Bakterien, kurze oder 
längere, grampositive Stäbchen,' die sog. Vaginalbacillen nach Döderlein. Dieser 


Fig. 83. 





Erster Reinheitsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder). 


Tafel II. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Fritz Heimann: Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 


La $ 
TN 


DEA 


ge Lacerationsectropiums, Fluor 


klagt seit einem Jahre über kontinuier- 


Fig. 2. 


re alt, 
ervixkatarrh infol 
(nach Küstner). 


an 


48 
n. 


ie 





Craurosis vulvae. Frau T. 
liches Jucken an den Genital 


Fig. 1. 


(nach Küstner). 


Esthiomene. — Ulcus rodens vulvae 





Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 353 


Befund ist nach Manu af Heurlin als erster Reinheitsgrad (Fig.83) bezeichnet worden. 
Je mehr die pathogenen Keime, wie Kokken, Diplokokken, Staphylokokken und 


Fig. 84. 





Zweiter Reinheitsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder). 


Streptokokken, überwiegen und die Vaginalbacillen verdrängen, wobei auch 
Epithelien und Leukocyten in stärkerem Grade auftreten, umsomehr müssen wir 


Fig 85. 





Dritter Reinhei tsgrad des Scheideninhalts (nach Schröder). 


von pathologischen Bildern sprechen. Manu af Heurlin hat diese Bilder als 

zweiten und dritten Reinheitsgrad bezeichnet (Fig. 84 und 85). Wie erklärt sich dieses Ver- 

halten der Scheide? Hier setzen die Untersuchungen von Löser, Schröder u.a. ein. 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 23 


354 Fritz Heimann. 


Die Selbstreinigung der Scheide gelang auch im Reagensglas nachzuweisen. Menge 
und Krönig wiesen nach, daß der Vaginalinhalt pathogene Keime abzutöten ver- 
mag, eine Tatsache, die um so größere Bedeutung hat, da wir sonst in der Bakterio- 
logie nichts Ähnliches kennen, daß irgend ein Produkt gegen alle Keime bactericid 
wirkt. Löser war es, der zuerst den Schluß zog, daß bestimmte Beziehungen zwischen 
den Bakterien, also Vaginalbacillen, und dem Plattenepitbel der Scheide bestehen müssen, 
was er als latenten Mikrobismus bezeichnet. Dadurch ist man der Lösung bedeutend 
näher gekommen. Die Plattenepithelien enthalten ein zuckerartiges Nährmaterial in 
der Form des Glykogens. Das Glykogen ist das Nährsubstrat, aus dem die Vaginal- 
bacillen große Mengen von Milchsäure bilden, und die Anwesenheit der Milchsäure, 
ihre vermehrte oder verminderte Menge, ist für den Reinheitsgrad maßgebend. Es soll 
hervorgehoben werden, daß die Bildung des Glykogens in den Epithelien dauernd 
variiert. Gräfenberg ist es gelungen, den Säuretiter unter verschiedenen Bedingungen 
festzustellen. Wir kennen heute die Beziehungen, die zwischen Ovarialtätigkeit bzw. Men- 
struation und Säuregehalt des Vaginalsekretes bestehen. Schädigungen des Epithels 
werden also den Säuregehalt brechen, dadurch die Selbstreinigung der Scheide aufheben. 

Neben dem Ausfluß ist das Wundsein ein Symptom, das die Patientin außer- 
ordentlich belästigt. Gewöhnlich ist es mit sehr unangenehmem Brennen und Jucken 
verbunden. 

Die Prognose hängt von der Schwere des Prozesses ab, die Diagnose ist 
leicht und bei der Untersuchung immer zu stellen. 

Die Therapie wird zunächst die Grundursache angehen. Handelt es sich um 
mechanische Schädlichkeiten, so sind diese zu beseitigen. Ein drückendes Pessar 
wird entfernt. Bet Spülungen mit differenten Mitteln sind diese zu verbieten. Man 
wird zunächst lokal behandeln, darf jedoch, um dies gleich zu betonen, die Allgemein- 
behandlung nicht vernachlässigen. Wie Schröder betont, muß das Ziel der Be- 
handlung sein, den ersten Reinheitsgrad wiederherzustellen, also einerseits die Mikro- 
flora umzustellen, anderseits die Scheidenwand wieder mit glykogenhaltigen Epi- 
thelien zu versehen. Peinlichste Sauberkeit und Ruhestellung der erkrankten Teile, 
strengste Bettruhe ist also bei der akuten Entzündung selbstverständlich. Um die 
Sekretion einzuschränken, hat man drei Arten von Behandlungen, die Spülung, die 
Trocken- und die Tamponbehandlung. Spülungen müssen mit dem Irrigator mit 
auskochbarem Mutterrohr, am besten in liegender Stellung, ausgeführt werden. Man 
wird bei einer akuten Entzündung mit ganz indifferenten Mitteln (Kochsalz 1 Eßlöffel, 
Alaun 1 Kinderlöffel, Soda 30 g auf 1/ Wasser) arbeiten, niemals sind Sublimat, 
Lysol, Chlorzink u. s. w. zu verwenden. Je indifferenter ein Mittel ist, um so schneller 
kommt man zum Ziel. Handelt es sich um chemische Prozesse, wird man es zunächst 
mit 1 —2 % iger Borsäure versuchen; Milchsäurespülungen (1 —5 % ig) führen häufig zum 
Erfolg. Zu empfehlen sind ferner 10% iges Perhydrol (50 g auf 1), 50% iges Alsol (1 EB- 
löffel auf 1/). Mit Bepinselung der Schleimhaut (1% iges Zinkchlorid oder Jodtinktur) 
sei man vorsichtig. Die Trockenbehandlung ist durch Nassauer in die Medizin ein- 
geführt worden. Häufig sieht man Gutes von dieser Behandlung. Ich mache es ge- 
wöhnlich so, daß ich im Milchglasspeculum Bolus alba mit oder ohne Zusatz von 
Lenicet, Argentum, Protargol u.s. w. in die Vagina einbringe und nun mit einem 
Wattebausch das Pulver in die Scheidenwand einreibe. Nach 3— 4 maliger Einreibung 
wird eine heiße Kamillenspülung von 3—4 / gemacht. Diese Behandlung, 2 bis 
3 Wochen durchgeführt, gibt häufig gute Erfolge. Bei diesem Vorgehen sind Instrumente 
zum Einblasen nicht notwendig, ja ich glaube sogar, daß die Methode wirksamer 
zum Ziel führt als der „Siccator“, der das Pulver zu sehr verklumpt. Auch die 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 355 


Tamponbehandlung erwähne ich. Mit Glycerin als Grundlage in gewisser Verbindung 
mit Ichthyol, Teer, Thigenol werden Wattebäusche getränkt in die Vagina eingeführt 
und 24 Stunden darin gelassen. Nach Entfernung des Tampons wird eine Spülung mit 
Kamillen oder ganz dünner Kalium-permanganat-Lösung gemacht. Um die Milchsäure- 
bildung zu verbessern, ist von Kuhn das Einbringen einer konzentrierten Zuckerlösung 
empfohlen worden. Von dem gleichen Gedanken ging Löser mit seinem sog. Bacillosan 
aus, das aus Milchzucker und lebenden Milchsäurebakterien besteht. Aus dem Milch- 
zucker entsteht durch die Bakterien Milchsäure, die normale Verhältnisse schafft. 
Schließlich habe ich sehr gute Erfahrungen mit dem Thyoparametron gemacht. Diese 
Tabletten enthalten hauptsächlich Thigenol und Jothion in eigenartiger Bindung. Drei- 
mal wöchentlich wird abends 1 Tablette in die Scheide eingeführt, am nächsten Morgen 
schließt sich eine heiße, ganz dünne Kalium-permanganat-Spülung an. 

Bespricht man die Scheidenentzündung, so darf man die Erwähnung der 
Folgezustände, die sich unter bestimmten Voraussetzungen entwickeln, nicht ver- 
gessen. In erster Linie sind es die Stenose und Atresie der Scheide. Die Ätiologie 
der Stenose ist einleuchtend. Eine Verletzung oder Entzündung bringt das Scheiden- 
epithel zum Schwinden und dort, wo es fehlt, kommt es zu Obliterationen. Die 
Prädilektionsstellen sind die Gegenden der Scheide, wo der Beckenbodenmuskel 
die Scheide umschließt, also die obere Hälfte der Scheide. Auch instrumentelle oder 
chemische Verletzungen können die Verengerung hervorrufen; der Fremdkörper, 
der Pessare, sei gedacht. Die Indolenz der Patientinnen läßt die Pessare monate-, 
ja jahrelang liegen, Druckgeschwüre sind die Folge, die bei ihrer Heilung die 
Stenose verursachen. Schließlich sei des physiologisch auftretenden senilen Scheiden- 
ringes gedacht, bei dem es sich um eine narbenähnliche Veränderung des Binde- 
gewebes handelt. Viel komplizierter ist die Ätiologie des völligen Scheidenverschlusses, 
der Atresie. Wir wissen, daß gewisse Infektionskrankheiten des Kindesalters, be- 
sonders Masern und Scharlach, eine Scheidenentzündung hervorrufen, die zum Ver- 
lust des Epithels und zu völliger Verklebung der Scheide führt. Glaubte man bis- 
her, daß eine Atresie auch dadurch bedingt sein kann, daß der untere Teil des 
Müllerschen Ganges solid geblieben ist, so ist diese Ansicht durch die Unter- 
suchungen von Robert Meyer, Veit und Nagel erschüttert worden, da diese 
Autoren auf dem Standpunkt stehen, daß nur dann eine Atresie entstehen könne, 
wenn die Verwachsung der beiden Müllerschen Gänge ausbleibt. Küstner schließt 
sich dieser Ansicht nicht an. Auch die fötale Entzündung Kußmauls als Ätiologie 
der Atresie war Gegenstand eifriger Studien. Hat Veit alle derartigen Entzündungen 
für postnatal erklärt, so teilt Kermauner keineswegs diesen Standpunkt. Zu einer 
Zeit des fötalen Lebens, gewöhnlich bei der Verschmelzung der Gänge, kommt es 
durch chemische Einflüsse zu einer Koagulationsnekrose der Zellen, und die Folge 
ist die Atresie. Schließlich muß der gonorrhoischen Vulvovaginitis der Kinder, die 
für den Scheidenverschluß eine höchst wichtige Rolle spielt, gedacht werden. Von 
großem Interesse, auch hinsichtlich der Ätiologie, ist ein Symptom, die Hämatosal- 
pinx, die Blutansammlung in der Tube. Man findet dabei das Fimbrienende ver- 
schlossen, und Nagel und Veit schließen daraus, daß es sich um eine Entzündung 
bei der Atresie handeln müsse. Dieselbe Schädlichkeit, die in der Scheide zur Atresie 
führt, hat auch den Verschluß des Fimbrienendes hervorgerufen. Andere Autoren, be- 
sonders Hofmeier, glauben, daß das Blut, das gewisse infektiöse Stoffe enthält, peri- 
toneale Exsudationen und Verklebungen veranlaßt. Die Symptome der Stenose er- 
strecken sich meist auf Hindernisse bei der Cohabitation und unter der Geburt. Die 
Atresie wird in der Pubertät Erscheinungen machen, wenn das Blut sich in der Scheide 

REN 


356 Fritz Heimann. 


(Hämatokolpos) im Uterus (Hämatometra) und in der Tube (Hämatosalpinx) sammelt. 
Die Diagnose ist leicht und sofort bei der Untersuchung zu stellen. Die Therapie 
wird bei der Stenose eine Erweiterung beabsichtigen, eventuell durch Incision und 
geeignete Vernähung der Wundränder. Bei der Atresie kommt es darauf an, wie tief 
dieselbe geht; hier müssen eventuell Transplantationen vorgenommen werden. 

Bei der Entzündung des Uterus ist zunächst eine Trennung zwischen Corpus 
einerseits und Cervix bzw. Portio anderseits zu machen. Die Vorgänge in beiden 
Teilen sind so verschieden, die histologischen Veränderungen so differenziert, daß 
eine gemeinsame Besprechung nicht möglich ist. Der Isthmus uteri Aschoffs, das 
obere Cervixsegment Küstners, das untere Uterinsegment Schröders, derjenige 
Teil am Uterus, der zwischen Cervix und Corpus liegt, soll hierbei vernachlässigt 
werden. Zunächst sei die Entzündung am Corpus uteri besprochen. Es ist bekannt, 
daß am Uterus eine Submucosa fehlt. Die Erkrankungen des Endometriums werden 
daher meist auf die Muskulatur übergehen, in gleicher Weise die Affektionen des 
Myometriums die Schleimhaut affizieren. Eine Trennung von Endometritis und 
Metritis ist eigentlich gar nicht möglich, und so hat es sich im Laufe der Zeit ein- 
gebürgert, von einer Endometritis-Metritis zu sprechen, beide Ausdrücke synonym 
für einander zu gebrauchen. Schröder, Robert Meyer, Hitschmann und Adler 
haben in den letzten Jahren die Erkrankung des Endometriums zum Gegenstand 
eifrigster Studien gemacht. Ihnen ist es, das können wir ruhig heute behaupten, 
gelungen, die alte Lehre der Endometritis auf eine neue Basis zu stellen. Es ist 
notwendig, auf die Mikroflora des Genitalkanals noch einmal kurz zu sprechen zu 
kommen. Wie ich schon oben sagte, ist die normale Scheide von einer bunten 
Flora von Bakterien besiedelt. Ein leichtes Eindringen von hier in die höheren 
Regionen, also in den Uterus, ist leicht möglich, sobald der normalerweise die Cervix 
verschließende, bactericid wirkende Schleimpfropf ausgestoßen wird. Es brauchen gar 
nicht besondere Umstände vorzuliegen, damit dies geschieht. Nicht die Geburt oder 
Fehlgeburt allein, nicht nur der operative Eingriff entfernt den Schleimpfropf, die 
Menstruation macht alle 4 Wochen durch Ausstoßung dieser Barriere den Weg für 
die Bakterien nach dem Endometrium frei. Man muß demnach im Genitalkanal 
einen bakterienhaltigen und einen bakterienfreien Abschnitt unterscheiden. Zu ersterem 
rechnen wir Vulva und Scheide, zu letzterem Uterus und Tube. Die Untersuchungen 
des Cervixhalsstückes auf Bakterien haben kein eindeutiges Resultat ergeben. Wäh- 
rend Döderlein, Menge und Krönig in diesem keine Bakterien fanden, glaubt 
Winter auf Grund seiner Befunde den bakterienfreien Abschnitt erst vom inneren 
Muttermund an rechnen zu dürfen. In gleicher Weise wie das Scheidensekret bac- 
tericid wirkt, tut dies auch der Schleim der Cervix. Experimentelle Studien hier- 
über ergaben, daß Pyocyaneus, in. die normale Cervix gebracht, zu grunde ging, 
da das Uteruscavum später steril gefunden wurde. 

Die akute Endometritis entsteht durch das Eindringen von Bakterien bzw. 
durch die Schädigung durch die von den Bakterien produzierten Toxine. In erster 
Linie sind zu unterscheiden die septische und saprophytische, wenn diese Trennung 
überhaupt noch erlaubt ist, da die gleichen Erreger diese „verschiedenen“ Erkran- 
kungsformen hervorrufen können, ferner die gonorrhoische, tuberkulöse, luetische 
und diphtherische. Bei der septischen Endometritis sind es Streptokokken oder 
Stap!ıylokokken, die in die verletzte Schleimhaut eindringen. Meist ist das Puer- 
perum die Gelegenheit, doch auch im Anschluß an Operationen oder instrumen- 
telle Eingriffe kommt es zu jenen Erkrankungen. Im Gegensatz zu der pyogenen 
Form glaubte man, daß die saprophytische durch obligate- anaerobe Bakterien, die 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 357 


nur auf totem Material (Placenta, Tumor u. s. w.) gedeihen, hervorgerufen wird. 
Hier seien die ausgezeichneten Untersuchungen Heinz Küstners erwähnt, der 
fand, daß alle Krankheitsprozesse, bei denen sich abgestorbenes, mit Fäulniskeimen 
besiedeltes Gewebe im Erkrankungsherde befindet, zu schweren Allgemeininfek- 
tionen prädisponiert, wenn gleichzeitig Streptokokken vorhanden sind, da diese durch 
die Verwesungsvorgänge in ihrer Virulenz gesteigert werden können. Krönig sah, 
daß beim Einbringen von Streptokokken und Saprophyten letztere im Kampf unter- 
liegen. Wie ich schon andeutete, haben die Untersuchungen besonders von Schott- 
müller und dem leider so früh verstorbenen Oskar Bondi ergeben, daß auch die 
Saprophyten invasive Eigenschaften erringen können. Mikroskopisch sieht man bei 
der pyogenen Form die Bakterien weit ins Gewebe eindringen. Der Granu- 
lationswall, der sich zur Abwehr bildet, ist durchbrochen, und die Bakterien haben 
die Muskulatur erreicht. Die gonorrhoische Endometritis ist verhältnismäßig selten, 
meist siedeln sich die Gonokokken in der Cervix an, die Ascension findet beim . 
Fehlen des Schleimpfropfes statt. Das anatomische Bild der akuten gonorrhoischen 
Endometritis zeigt die Charakteristica der akuten Entzündung, starke, kleinzellige 
Infiltration, die Schleimhaut selbst ist 4—5 mm dick, succulent, mit Eiter bedeckt. 
An vielen Stellen fehlt das Oberflächenepithel. Der Nachweis der Gonokokken im 
Gewebe ist schwierig, obwohl ihr Vordringen bis in die Muskulatur beobachtet 
wurde. Eine Eigentümlichkeit der gonorrhoischen Infektion hat Küstner zuerst 
beobachtet, die Umwandlung von Cylinder- in Plattenepithel. Die tuberkulöse Endo- 
metritis kann primär durch Eindringen von tuberkulösem Sperma — darauf wird 
weiter unten noch genauer eingegangen — oder sekundär von einer tuberkulösen 
Peritonitis oder Salpingitis entstehen. 3 Formen unterscheidet man, die akute miliare, 
die interstitielle und die ulceröse Form. Mikroskopisch sind diese Formen am 
charakteristischen Bau der miliaren Knötchen, an den Riesenzellen, eventuell am 
Vorhandensein der Bacillen leicht zu erkennen. Die syphilitische Erkrankung der 
Schleimhaut tritt an Bedeutung gegenüber den Erscheinungen am Gesamtorganismus 
zurück. Sekundärerscheinungen und gummöse Ulcera sind beschrieben worden. Auch die 
diphtherische Endometritis ist selten. Meist sind bei bakteriologischen Untersuchungen 
als Erreger Streptokokken gefunden worden, doch haben Bumm und Küstner echte 
Diphtheriebacillen nachweisen können. Schließlich sei der Formen gedacht, die bei 
akuten Infektionskrankheiten, Typhus, Ruhr u. s. w., auftreten. Meist handelt es sich 
hierbei um Toxinwirkung, da die Mikroben im Endometrium nicht nachzuweisen 
sind, mikroskopisch sieht man das Bild der hämorrhagischen Erkrankung. 
Selbstverständlich kann jene oben erwähnte akute Erkrankung ins chronische 
Stadium übergehen. Meist wird man unter diesen Umständen die Erreger nicht 
mehr nachweisen können, da die eigenen Stoffwechselprodukte sie zum Absterben 
bringen. Trotzdem wird sich anatomisch der Nachweis leicht erbringen lassen, daß 
eine Entzündung vorliegt, da wir im Gewebe die Zeichen der überstandenen Ent- 
zündung sehen. Anderseits finden wir — und das ist das Bedeutsame bei den Affek- 
tionen des Endometriums — eine Form der Erkrankung, die nicht durch Bakterien 
hervorgerufen wird. Hier spielen chemische, thermische, mechanische Momente, also 
nichtinfektiöse Prozesse, eine Rolle. Man wird natürlich unter diesem Gesichtspunkt 
niemals eine akute Erkrankung zu Gesicht bekommen.: Der Begriff der Entzündung 
— der Endometritis — ist für diese Formen eigentlich nicht mehr zu verwenden. 
Tut man es doch noch, so ist es nur die Gewohnheit von alters her. Will man 
diese Formen richtig verstehen, so sind kurz die Vorgänge bei der Menstruation, 
wie sie uns die neue Forschung gezeitgt hat, zu besprechen. Nachdem Pflüger 


358 


Fritz Heimann. 


seine Theorie aufgestellt hatte, wonach ein und derselbe Anlaß eine starke Blut- 
überfüllung des ganzen Unterleibes verursacht, Menstruation und Ovulation also 
dadurch hervorgerufen wird, war Leopold der erste, der in systematischer Weise 


die Beziehungen studierte, die zwisch 


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en Ovulation und Menstruation beständen. 


Er glaubt, aus seinen Untersuchungen 
schließen zu müssen, daß beide Vorgänge 
sich fast kontemporär abspielen, das Eichen 
ca. 2—3 Tage vor der Menstruationsblutung 
ausgestoßen werde. 

Nachdem Born und besonders L.Fraen- 
kel die Bedeutung des Corpus luteum für 
die Menstruation zuerst erkannt hatten, wobei 
sie behaupteten, daß das Corpus luteum die 
Menstruationsblutung hervorriefe und die 
Schleimhaut für die Nidation des Eies vor- 
bereite, waren es besonders Schröder, 
Hitschmann und Adler, Robert Meyer, 
die sich eingehend mit diesem Thema be- 
faßten. Als Resultat ihrer Studien kann heute 
zunächst festgestellt werden, daß Ovulation 
und Menstruation keineswegs kontemporär 
verlaufen, sondern der erstere Vorgang ca. 
14 Tage — kleine Schwankungen sind mög- 
lich — vor dem zweiten stattfindet. In aus- 
gezeichneten Untersuchungen konnte Fraen- 
kel diese Behauptung beweisen, indem er 
systematisch bei Operationen den Zusammen- 
hang zwischen Periode und Corpus-luteum- 
Bildung studierte. Glaubt also Fraenkel, 
daß es das Corpus luteum sei, das inner- 
sekretorisch die Wandlung der Gebärmutter- 
schleimhaut veranlaßt, so schreibt Schröder 
dem reifenden Follikel diese Rolle zu. Das 
ausgestoßene Eichen bleibt 14 Tage am 
Leben, d. h. befruchtungsbereit, um die Samen- 
fäden aufzunehmen; geht es zu grunde, so 
wird sein Tod durch die neue Menstruation 
angezeigt. Hitschmann und Adler und 
besonders Robert Schröder waren es, die 
das mikroskopische Bild des Endometriums, 
das unter dem Einfluß von Follikelreifung 
und Corpus luteum einem ständigen, sich 
cyclisch wiederholenden Wechsel unterworfen 


ist, studierten. Nach Schröder unterscheidet man im Endometrium 2 Schichten, 
die Basalis, die mit den Veränderungen der Schleimhaut nichts zu tun hat, und die 
Functionalis, die den Hauptbestandteil bildet (Fig. 86). Blutet es infolge der Men- 
struation 4 Tage, so beobachtet man das Wachstum des Follikels vom 5. Tage an. 
Gleichzeitig beginnt die Erneuerung der Functionalis, die während der Menstruation 
abgestoßen war. Diese Phase bezeichnet man als Proliferationsphase der Schleim- 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 359 


haut. Die Drüsen vergrößern sich, deutliche Kernteilungsfiguren, am 14. Tage hat 
die Functionalis bereits ein Vielfaches der Dicke der Basalis angenommen. Nun 
wird das Eichen ausgestoßen, der Follikel wandelt sich zum Corpus luteum um, 
im Endometrium beginnt die Phase der Sekretion, die Drüsen hypertrophieren, 
füllen sich stark mit Sekret, die Zellen werden Ödematös größer, die Färbbarkeit 
des Kernes ist besonders stark, gleichzeitig hat sich das Corpus luteum zur vollsten 
Blüte entwickelt (Vascularisation). Das Eichen selbst ist am Leben und befruchtungs- 
bereit. Tritt die Befruchtung nicht ein, so stirbt das Ei ab, sein Tod wird, wie bereits 
erwähnt, durch die Blutung angezeigt; Stroma und Epithel zerreißen, die strotzend 
gefüllten Capillaren sprengen die Umgebung und ergießen ihr Blut nach außen. 
Die Functionalis wird ausgestoßen. Auch über diesen letzteren Punkt herrschte lange 
unter den Autoren Uneinigkeit; während die einen, besonders Möricke, West- 
falen, Gebhard, glaubten, daß Uterusschleimhaut bei dem Menstruationsvorgang 
nicht verloren gehe, stehen andere — hier sind die Untersuchungen von Käte Lindner 
aus der Fraenkelschen Klinik besonders zu nennen — auf dem eben auseinander- 
gesetzten Schröderschen Standpunkt. Der 2. Tag der Menstruation zeigt nur noch 
die Basalis, von wo aus die weitere Regeneration stattfindet, das Corpus luteum 
bildet sich zurück, der neue Follikel kann reifen. Diese Vorgänge muß man sich 
vor Augen halten, will man die neue Lehre der Endometritis verstehen. Die Auf- 
fassung von Ruge und Veit, die eine Endometritis glandularis und interstitialis 
unterschieden, besteht nicht mehr zu Recht. Hitschmann und Adler waren es, die 
dieser Lehre eine neue Basis gaben. Bei der chronischen Endometritis muß man 
unterscheiden, ob es sich um eine tatsächliche Entzündung oder einen hyperplasti- 
schen Zustand handelt. Ich hebe hierbei hervor, daß wohl nirgends im Organismus 
Entzündung und Tumorbildung so innig ineinander übergehen, wie es an der 
Schleimhaut der Gebärmutter der Fall ist. Die mikroskopische Untersuchung läßt 
diese beiden Zustände sicher erkennen. Die Entzündung spielt sich im Bindegewebe, 
die Hyperplasie an den Drüsen ab. Die Entzündung muß ihre Charakteristica auf- 
weisen: Plasmazellen, eine besondere Form der Exsudatzellen, über deren Herkunft 
noch nicht völlige Klarheit herrscht, ob es sich um ausgewanderte Bindegewebs- 
zellen oder veränderte Leukocyten handelt, müssen vorhanden sein, Herde klein- 
zelliger Infiltration, Atheromatose der Gefäße, Bindegewebshyperplasie machen die 
Diagnose „Entzündung“ sicher. Küstner hat zuerst beschrieben, wie unter ent- 
zündlichem Einfluß — besonders ruft der Gonokokkus diese Veränderung hervor — 
es zu einer Umwandlung von Cylinderzellen in Plasterepithel kommt. Ein ganz 
anderes Bild zeigt die Endometritis hyperplastica oder glandularis. Hier ist von einer 
Entzündung keine Rede, also darf eigentlich der Name Endometritis hierfür nicht 
gebraucht werden. Wir haben es mit einer tatsächlichen Neubildung zu tun. Hitsch- 
mann und Adler glauben nun, daß die hyperplastische Endometritis nichts anderes 
sei als die prämenstruelle Schleimhaut. Sie haben darin recht, da der prämenstruelle 
Zustand dasselbe mikroskopische Bild zeigt wie die glanduläre Endometritis; nur 
ist dieser Zustand nicht ein vorübergehender wie im Cyclus, sondern ein dauernder, 
und damit ein pathologischer geworden. Sowohl die chronische Endometritis wie 
den hyperplastischen Zustand beobachten wir bei einer Reihe von Erkrankungen. 
Die erstere Form finden wir bei Lageveränderungen des Uterus, letztere kommt 
bei Geschwülsten, beim submukösen Myom, beim Carcinom der Cervix und Portio, 
wo sie von Landau sogar für ein Sarkom gehalten wurde, beim Abort als die von 
Küstner und Opitz in ihren mikroskopischen Feinheiten studierte Endometritis 
post abortum, bei entzündliche Adnexen und häufiger Schädigung des Genitalkanals 


360 Fritz Heimann. 


vor. Damit habe ich schon eine große Reihe ätiologischer Faktoren genannt. 
Zuweilen ist nichts davon zu eruieren. Pankow hat blutende Uteri mikroskopisch 
untersucht und fand keinerlei Veränderungen, die die Blutung erklären ließen. Er 
‘ nannte das Krankheitsbild Metropathia haemorrhagica; die Ursache der Erkrankungen 
liegt wohl in einem übergeordneten Centrum, d. h. Störungen in der Funktion der 
Ovarien oder anderer innersekretorischer Drüsen müssen ätiologisch in Anspruch 
genommen werden. 

Die Symptome der akuten Endometritis werden häufig bei dem schweren 
Krankheitsbild, das die Allgemeinerkrankung hervorruft, in den Hintergrund treten. 
Wie bei jeder akuten Entzündung werden hohe Temperaturen vorhanden sein, mag 
es sich um eine septische oder gonorrhoische Form, die häufigsten Ursachen, 
handeln. Schmerzen treten gewöhnlich erst auf, wenn das Peritoneum beteiligt ist, 
doch kann der Druckschmerz des Uterus schon sehr frühzeitig sich bemerkbar 
machen. Starke Sekretion ist meist vorhanden. Der gonorrhoische Eiter zeichnet 
sich durch seine Dünnflüssigkeit aus. Auch die Erkrankung der Bartholinschen 
Drüse sichert die Diagnose auf Gonorrhöe. Bakteriologischer Nachweis ist notwendig. 
Die Entnahme geschieht bei Verdacht auf septische Ätiologie am besten mit einem 
dünnen gebogenen, von Döderlein empfohlenen Glasröhrchen. Die Technik ist 
einfach, jedoch ist streng darauf zu achten, daß das Sekret auch tatsächlich aus 
dem Uterus und nicht aus der Scheide entnommen wird. Querbett der Patientin 
und Sichtbarmachung der Portio bzw. des Muttermundes ist erste Bedingung. Bei 
der Gonorrhöe wird das Sekret mit einem von Asch angegebenen kleinen scharfen 
Löffel entnommen. Selbstverständlich müssen Cervix und Urethra untersucht werden. 
Bei der letzteren Untersuchung ist 3 Stunden vorher kein Urin zu lassen. Nur die 
Gramsche Färbung gibt zuverlässige Resultate, Methylenblau genügt nicht. Die 
Behandlung der akuten Endometritis ist kurz abgetan. Auch hier wird sie sich 
in dem Rahmen der Allgemeinbehandlung einfügen, da ja schon diese strikteste 
Bettruhe erfordert. Eine lokale Behandlung ist unter allen Umständen zu unterlassen. 

Symptomatisch wird man versuchen, die einzelnen Beschwerden zu lindern. 
| Bei der chronischen Endometritis handelt es sich bezüglich der Symptome 
in erster Linie um Menstruationsanomalien. Starke Blutungen, unregelmäßig und 
atypisch auftretend, stehen im Vordergrund. Daneben kann jede Menstruation von 
starken Schmerzen begleitet sein. Recht häufig sieht man als ein Charakteristicum 
der Endometritis den sog. Mittelschmerz auftreten. Hierbei handelt es sich um 
Beschwerden, die rechts oder links im Bauch zwischen zwei Menstruationen vor- 
handen sind. Glaubt Fehling, daß es sich hierbei um die Flutwelle der neuen 
Menstruation handelt, so ist die Ansicht Fraenkels, daß die Beschwerden auf die 
Ovulation zurückzuführen sind, nach den heutigen Anschauungen mehr gerecht- 
fertigt. Schwere im Unterleib, lästige Empfindungen in der Tiefe des Beckens, die 
zur Zeit der Periode besonders empfunden werden, Beschwerden von seiten der 
Blase und des Mastdarms, Erschwerungen der Conceptionsfähigkeit gehören zu den 
typischen Bildern der Erkrankung. Ein Symptom belästigt die Kranken ganz besonders, 
das ist der Ausfluß, eine Erscheinung, die in der Pathologie der weiblichen Sexual- 
organe, wie ich bereits erwähnte, eine recht große Rolle spielt. Die mehr oder 
minder starke Sekretion empfinden die Kranken als besonders lästig, und häufig ist 
es überhaupt nur dieses Symptom, das die Patientin in die Sprechstunde des Arztes 
führt. Hieran schließt sich eine Reihe von nervösen Beschwerden, die wir sonst als 
hysterische Stigmata kennen, Migräne, Clavus, Globus, Ovarie u. s. w. Die Diagnose 
der Endometritis ist leicht. Andere Erkrankungen, Lageveränderungen, Tumoren, 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 361 


Entzündungen der Adnexe werden durch die bimanuelle Tastung ausgeschlossen, 
und so wird die Diagnose hauptsächlich per exclusionem gestellt. Die Untersuchung 
mit der Sonde ist nur dem Geübten erlaubt, im großen und ganzen zu widerraten, da 
Verletzungen leicht vorkommen. Die Austastung mit dem Finger ist weit ungefährlicher, 
doch stellen sich der Erweiterung des Muttermundes erhebliche Schwierigkeiten 
entgegen. Mit Hilfe der Metalldilatatoren ist eine so erhebliche Durchgängigkeit 
des Muttermundes nur auf Kosten starker CervixzerreißBungen zu erreichen. Das 
Einlegen von Quellstiften, sog. Laminaria, hat ebenfalls gewisse Nachteile, da der 
Infektion Vorschub geleistet wird. Die blutige Erweiterung, d. h. die Discission des 
Muttermundes, ist ein operativer Eingriff, zu dem die Beherrschung der Asepsis 
unbedingt gehört. Eine Forderung muß strengstens beachtet werden. Vor jedem 
intrauterinen Eingriff ist die genaueste Untersuchung auf Anwesenheit von Gono- 
kokken notwendig. Auch nur bei Verdacht auf eine gonorrhoische Erkrankung ist 
jeder intrauterine Eingriff strengstens kontraindiziert. Unterläßt man diese Vorsicht, 
so rächt sich der Eingriff bitter. Die Ascension der Gonokokken ist unvermeidlich, 
und die Patientin hat den an und für sich harmlosen Eingriff mit schwerstem 
Krankenlager und eventuell dauernder Verstümmelung erkauft. Um sich über Menge 
und Art und besonders mikroskopische Beschaffenheit des Sekretes zu orientieren, 
wurde früher die Einlegung des Schulzeschen Probetampons empfohlen. Es handelt 
sich hierbei um einen mit Glycerin und Tannin zu gleichen Teilen getränkten 
Wattebausch, der 24 Stunden vor die Cervix gelegt wird. Bei normaler Beschaffen- 
heit soll der Tampon nach 24 Stunden trocken sein, bei Erkrankung des Uterus 
befindet sich das Sekret auf dem Tampon und kann für die mikroskopische Unter- 
suchung verwendet werden. Leider läßt der Tampon bei der Hyperplasie im Stich, 
d2 hierbei nur sehr wenig Sekretion stattfindet. Er zeigt vor allen Dingen die 
Erkrankungen der Cervix an. Die zuverlässigste Methode, um Aufschluß über die 
Beschaffenheit der Schleimhaut zu bekommen, ist die Herausnahme von Schleim- 
hautstücken, die Abrasio. Dieser Eingriff stellt schon unter gewissen Voraussetzungen 
eine therapeutische Maßnahme dar, da häufig das Curettement allein die Heilung 
der Endometritis herbeiführt. Damit gehe ich zur Behandlung über. Hier muß 
besonders betont werden, daß die Abrasio keineswegs ambulant gemacht werden 
darf. Es handelt sich um eine Operation, die nicht nur die notwendigen Vorbereitungen, 
sondern auch die gewissenhafteste Nachbehandlung erheischt. Zur Dilatation des 
Muttermundes sind Metalldilatatoren zu verwenden. Laminaria lehne ich ab. Das 
Curettement selbst mache ich mit der halbscharfen Curette. Ätzungen mit Jod- ` 
tinktur, zu der ich die Playfair-Sonde benütze, ein leicht gebogenes, mit Watte 
umwickeltes Metallstäbchen, schließe ich an die Abrasio an und wiederhole diese 
am 4. und 6. Tage. So lange ist die Patientin als behandlungsbedürftig anzusehen. 
Steht keine Klinik zur Verfügung, so wird der Eingriff im Hause gemacht. Im 
übrigen muß die Behandlung eine symptomatische sein. Ist die Sekretion aus dem 
UÜteruscavum sehr stark, so kann die Einlegung eines Rohres, das dem Sekret 
günstigen Abfluß verschafft, schon gut wirken. Kommt man damit nicht zum Ziel, 
so wird man sich zur intrauterinen Behandlung entschließen müssen. Noch einmal 
sei hier das, was ich schon oben sagte, ausdrücklich betont, daß vor jedem Eingriff 
die absolute Gonokokkenfreiheit garantiert sei. Hier genügt nicht das einmalige 
Nachsehen; mehrfache Untersuchungen, zu verschiedener Zeit ausgeführt, müssen 
ein negatives Resultat ergeben. Auch die Adnexe sollen völlig frei sein. Ist das nicht 
der Fall, so rächt sich der intrauterine Eingriff durch eine Exacerbation des Prozesses. 
Für die Behandlung des Cavums empfehle ich Lugolsche Lösung, 50% Carbol- 


362 Fritz Heimann. 


säure, 5—10% Alumnol u.s. w. Chlorzink ist wegen seiner tiefgreifenden Ätzung zu 
vermeiden. Schwere Ulcerationen, die die Drüsenfundi, von denen die Regeneration 
der Schleimhaut wieder ausgeht, zerstören, beobachtet man. Die Folge sind Ob- 
literationen des Cavums, die ihrerseits unangenehme Erscheinungen zeitigen. Die 
Applikation der Medikamente geschieht entweder mit der bereits erwähnten Playfair- 
Sonde oder dem Senger-Stäbchen, einem elastischen, mit Watte umwickelten Metall- 
stäbchen. Siegwart empfiehlt ein von ihm angegebenes Instrument, das das Medika- 
ment recht intensiv in das Cavum hereinbringt. Ich bin der Ansicht, daß die Stäb- 
chen genügen. Eine Methode hat besondere Vorteile, ist in ihrer Anwendung 
bequem und Wirkung ausgezeichnet, die Ätzung mit Formalin nach Menge. Menge 
hat für diese Zwecke mit Watte umwickelte Hartgummistäbchen empfohlen, die 
in 30—50 %ige Formalinlösung tauchen. Die Methodik ist so, daß unter strengster 
Asepsis eine Erweiterung des Muttermundes von 4—5 mm genügt, um mit dem 
Stäbchen hineinzukommen. Die Einwirkung geschieht einige Sekunden. Nach 3 und 
6 Tagen, eventuell öfter, findet eine Wiederholung statt, Überschüssiges Formalin 
ist sorgsam aus der Scheide durch Tupfen zu entfernen. Der Eingriff selbst sei nie 
ambulant gemacht. Die Anwendung der Braunschen Spritze halte ich wegen ihrer 
unkontrollierbaren Dosierung für gefährlich. Zu leicht geschieht es dabei, daß das 
Medikament durch die Tube in die Bauchhöhle tritt. Schwere Komplikationen 
sind die Folge, wenn das Medikament nicht indifferent ist. Das gleiche gilt von 
den Ätzstiften, deren Wirkungsweise ebenfalls nicht zu beobachten ist. Uterus- 
spülungen sind von Vorteil, doch besteht auch hier wie bei der Braunschen Spritze 
die Gefahr, daß bei zu hohem Druck die Spülflüssigkeit durch die Tuben ins 
Peritoneum kommt. Gegen die Blutungen, die in Form der Meno- oder Metrorrhagien 
auftreten, anzukämpfen, ist erste Bedingung. Man versucht zunächst mit Secale- 
Präparaten auszukommen. Secacornin, Tenosin, Erystyptikum, Gynergen und viele 
andere verrichten häufig gute Dienste. Während der Blutung ist strengste Bettruhe 
einzuhalten. Eisblase auf den Leib ist nützlich. Recht zu empfehlen sind sog. Wechsel- 
spülungen. -Mit einem Irrigator werden hintereinander Spülungen mit Wasser von 
38—40° und solche von 20—22°C gemacht. Zusatz eines leichten Adstringens 
(Kochsalz) ist anzuordnen. Zur Tamponade des Uterus oder der Vagina entschließe 
ich mich wegen der Infektionsgefahr nur sehr schwer. Länger als 24 Stunden darf 
der Tampon unter keinen Umständen liegen bleiben. Auch bei der Endometritis 
soll man die Einverleibung von Ovarialsubstanzen, besonders von Luetoglandol, 
versuchen. Sehr häufig sah ich darnach ein Aufhören der Blutung. Das beste Ver- 
fahren, wenn auch in letzter Zeit dagegen Stellung genommen wird, ist die bereits 
erwähnte, 1874 von Olshausen angegebene Abrasio. Das Curettement hat nur das 
Succulente der Schleimhaut zu entfernen. Die Drüsenfundi sind zu erhalten, da von 
ihnen die neue Regeneration ausgeht. Werths Untersuchungen haben unsere Kennt- 
nisse über die Schleimhaut naclı der Ausschabung wesentlich bereichert. Zuerst 
bildet sich das fibrilläre Bindegewebe wieder, und in dieses wachsen die Drüsen 
von ihren Fundi aus gegen die Oberfläche zu. Erst ganz zuletzt bildet sich das 
Oberflächenepithel. Die Schorfe, die sich unmittelbar nach der Auskratzung bilden, 
werden natürlich zuerst abgestoßen und entfernt. Leider gibt es eine Reihe von 
Fällen, die auf diese Maßnahmen nicht reagieren. Die Blutung geht weiter. Mehr- 
fache Curettements, Injektion von Serum, am besten Menschenserum, 10—20 cm? 
1—2mal intraglutäal injiziert, die früher vielgeübte, jetzt aber wegen der Gefahr 
der Obliteration völlig verlassene Atmokausis von Snegireff und Pinkus, d.h. das 
Einbringen von heißem Dampf in das Uteruscavum, versagen, und so haben wir 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 363 


heute in den Röntgenstrahlen ein Mittel in die Hand bekommen, das als souverän 
bezeichnet werden kann. Auch junge Frauen können der Strahlentherapie zugeführt 
werden. An großem Material habe ich bei Nachuntersuchungen nach 5jährigem 
Zwischenraum gesehen, daß gerade bei jungen Frauen nach einigen Jahren die 
Menstruation wieder auftritt, niemals mehr so exzessiv wie früher, sondern in 
normaler Stärke. Es werden eben bei jungen Frauen nicht alle Follikel zerstört, 
ein kleiner Teil bleibt erhalten und kommt nach einigen Jahren wieder zur Reifung. 
Scheut man sich trotzdem, bei jungen Frauen die Ovarien zu bestrahlen, so hat die 
in der letzten Zeit vielfach angewendete Milzreizbestrahlung gute Erfolge zu ver- - 
zeichnen. Theoretisch ist die Wirkung wohl so zu erklären, daß der Untergang der 
Lymphocyten die Anregung zur Bildung des Gerinnungsfermentes gibt. Selbst- 
verständlich muß bei alten Frauen vor der Bestrahlung ein Corpuscarcinom aus- 
geschlossen werden. Ich bestrahle derartige Patientinnen nur, wenn ich mich vor 
der Bestrahlung durch eine Ausschabung und mikroskopische Untersuchung des 
Geschabsels von der absoluten Carcinomfreiheit überzeugt habe. Die Technik der 
Bestrahlung ist sehr einfach. Bei den gutartigen Erkrankungen kommt man mit der 
einfachsten Apparatur aus. Die modernen Tiefentherapieapparate sind nicht not- 
wendig. Auch die Anwendung der Hydrotherapie ist zu empfehlen, die in Form 
von Bädern, Umschlägen u.s.w. zu Hause angewendet werden kann. Ausgezeichnete 
Dienste verrichten Moorbäder in gut eingerichteten Badeorten. 

Über die Metritis brauche ich nach den eingangs erwähnten Bemerkungen, 
daß die,Erkrankungen des Myo- und Endometriums aufs engste zusammenhängen, 
ja stets ineinander übergehen, nicht mehr viel zu sagen. Die Eingangspforten im 
Myometrium sind die gleichen wie bei der Erkrankung der Schleimhaut. Ist der 
Prozeß chronisch geworden, so fällt im mikroskopischen Bild die starke Blut- 
überfüllung, die Abnahme der Muskulatur und Zunahme des Bindegewebes auf. 

Besonderes Interesse erwecken die Entzündungen der Cervix bzw. der Portio. 
Hier handelt es sich um rein entzündliche Vorgänge, da es eine Hyperplasie der 
Schleimhaut, wie wir sie im Corpus gesehen haben, nicht gibt. Diese Erkrankung 
kann sowohl kombiniert mit einer Affektion der Corpusschleimhaut auftreten als 
auch ohne sie völlig selbständig. An der Portio beobachtet man die Affektion 
klinisch in Gestalt eines roten Hofes, der sich rings um den äußeren Muttermund 
bildet. Die Portio selbst ist dick, geschwollen, succulent. Man hat dieser Erkrankung 
den Namen Erosion gegeben, fälschlicherweise, da es sich hierbei keineswegs um 
ein Geschwür, wie es leider auch noch heute von vielen bezeichnet wird, handelt, 
nicht um eine epithelentkleidete, sondern um eine statt mit Pflasterepithel mit 
Cylinderepithel bekleidete Stelle. Schon am kindlichen Uterus können wir, durch 
congenitale Ursachen bedingt, diese Anomalie sehen. Robert Meyer hat diese 
Vorgänge genauer studiert. Bis in die zweite Hälfte des Fötallebens hinein ist die 
untere Hälfte der Cervix mit Pflasterepithel bekleidet. Erst dort beginnt das Cylinder- 
epithel. Normalerweise sieht man, daß die Cylinderzellen das Plattenepithel der unteren 
Cervixpartie verdrängen, so daß beim Neugeborenen, wie ja auch im späteren Leben, 
die Grenze zwischen Cylinderzellen und Plattenepithel am äußeren Muttermund 
liegt. Macht das Cylinderepithel dort nicht halt, geht der Prozeß über den Mutter- 
mund hinaus, dann sehen wir beim Neugeborenen die Affektion, die man als Erosion 
bezeichnet. Amann hat den sehr guten Vorschlag gemacht, statt von einer Erosion, 
von einer Pseudoerosion zu sprechen. Im Leben der Erwachsenen sind es ätzende 
und beißende Sekrete, die aus höheren Partien dauernd über die Portio laufen und 
das Epithel zum Schwinden bringen. Wir sehen daraus, daß also zu einer bestimmten 


364 Fritz Heimann. 


Zeit eine wirkliche Erosion, eine tatsächlich epithelentkleidete Stelle, sich bildet. Nur 
sehen wir diesen Vorgang sehr selten. Erst im Stadium der Heilung, wie Fraenkl 
meint, wo dieser wirkliche Defekt mit Cylinderzellen von der Nachbarschaft aus 
bekleidet wird, bekommen wir die Erosion zu Gesicht. Spontane Ausheilung ist 
möglich. Es ist bedeutungsvoll, daß es sich bei diesem Heilungsvorgang nicht um 
eine Metaplasie des Epithels handelt, indem sich die Schleimzellen in Pflaster- 
epithel umwandeln, sondern letzteres unterwächst, hebt jenes ab. Häufig handelt es 
sich bei der Pseudoerosion um einen ganz anderen Vorgang. Die Erosion wird 
‘ dargestellt durch hervorgequollene Cervixschleimhaut, da infolge starker Geburts- 
einrisse der Muttermund zum Klaffen gebracht wird. Die Diagnose ist leicht im 
Speculum zu stellen. Kleine Retentionscysten, deren Entstehen so zu erklären ist, 
daß das wuchernde Epithel eventuell auch die begleitende Entzündung, die Aus- 
führungsgänge der Cervixdrüsen verlegt, sog. Ovula Nabothi, erleichtern bei dieser 
Affektion die Diagnose. Unter den Symptomen ist es besonders die Sekretion des 
Schleimepithels, die die Patientin in die Sprechstunde des Arztes führt; zuweilen können 
Blutungen auftreten. Die Therapie hat die Aufgabe, die Ursache zu beseitigen, also 
die Sekrete in Wegfall zu bringen. Spülungen mit Borsäure, Alaun, Alsol u.s. w. sind 
zu empfehlen. Werden sie lange genug fortgesetzt, so ist tatsächlich eine Heilung zu 
beobachten. Schneller gelangt man zum Ziel, wenn man das Schleimepithel rein 
mechanisch entfernt. Betupfen mit verdünnter Salzsäure, Holzessig, Formalin, Argen- 
tum nitricum zerstört die Cylinderzellen, schafft eine richtige Erosion und gibt dem 
Plattenepithel Gelegenheit, über das Ulcus herüberzuwachsen. Vielleicht noch besser 
wirkt der Paquelin. Landau hat für die Behandlung der Erosion 1899 die Hefe- 
therapie empfohlen, von der Ansicht ausgehend, daß in derartigen Scheiden Milch- 
säure fehle und daher den pathogenen Keimen Gelegenheit gegeben wurde, ihre 
Wirkung auszuüben. Die Bedeutung dieser Therapie liegt in verschiedenen Momenten. 
Zum Teil werden durch das Einbringen von Hefe in die Scheide infolge des Gärungs- 
prozesses den Bakterien Stoffe entzogen, die sie zum Leben brauchen. Die Hefe selbst 
aber produziert Stoffe, die die Bakterien schädigen. Vielleicht handelt es sich dabei 
um die Entstehung besonders von Alkohol und Kohlensäure. Auch die autolytische 
Kraft der Hefe soll eine Rolle spielen. Schließlich wird auch, wie ich bereits erwähnte, 
Milchsäure gebildet, und alles dies wirkt mit, um die pathogenen Bakterien zum 
Absterben zu bringen. Bei der Behandlung empfiehlt Landau, derart vorzugehen, 
daß 2—-3mal wöchentlich die mit Bier verdünnte Hefe, ca. 20 cm?, in die Scheide 
eingebracht und 24 Stunden darin belassen wird. Auch die direkte Einbringung 
von Milchsäurebacillen — das Verfahren von Schröder und Löser, das ja der 
Hefebehandlung biologisch. recht gibt — in Form des Bacillosans wird zuweilen 
bei der Behandlung der Erosion gute Dienste verrichten. Evermann empfiehlt die 
Biersche Stauung der Portio, zunächst alle paar Tage, dann täglich. Das Vorgehen 
ist derart, daß nach 5 Minuten Stauung eine Pause von 5 Minuten einsetzt. Sechsmal 
soll die Stauung vorgenommen werden. Manche Autoren versprechen sich von der 
Blutentziehung mancherlei. Entweder durch die Scarification, d.h. die Stichelung der 
Portio mit dem spitzen Messer, etwas, was bei ausgedehnten Ovula Nabothi ohnehin 
notwendig ist, oder durch das Ansetzen von Blutegeln, eine Maßnahme, die heute 
ganz verlassen ist. Handelt es sich um tiefe Cervixrisse, die die Ursache der Erosion 
abgeben, so kommt man mit diesen Maßnahmen nicht aus. Hier muß das operative 
Verfahren einsetzen. Der Roser-Emmetschen Operation sei gedacht, die die An- 
frischung der Risse und ihre Vernähung zum Ziel hat. Sind mehrere Risse vor- 
handen, ist die Portio im ganzen dick und geschwollen, so würde die Emmetsche 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 365 


Operation eine neue Mißstaltung der Portio hervorrufen, und muß man sich zu ihrer 
Amputation entschließen. Man wird aber selbst bei dieser kleinen Operation die 
Indikation sehr streng stellen, namentlich wenn es sich um Frauen handelt, die 
noch im conceptionsfähigen Alter stehen. Man darf über dieser Therapie natürlich 
nicht die Behandlung des Grundleidens vergessen. Liegt die Ursache in einer sehr 
starken Sekretion der Corpusschleimhaut, so wird man mit der Behandlung der 
Erosion die Therapie des Uteruscavums kombinieren. Am schnellsten und sichersten 
wird in solchen Fällen die Auskratzung zum Ziel führen. 

Im Kapitel der Entzündungen der weiblichen Sexualorgane spielt wohl die der 
Tuben und Ovarien die wichtigste Rolle, da die Folgen für die Trägerin überaus 
traurige und häufig irreparable sind. Die Erkrankungen der Eileiter und Eierstöcke 
treten meist gemeinsam auf; infolge der topographischen Lage dieser Organe geht 
die Affektion des einen auf das andere über. Trotzdem will ich besonders in patho- 
logisch-anatomischer Hinsicht eine Trennung machen. Zunächst seien die Tuben- 
erkrankungen besprochen. Auf diejenigen nichtentzündlichen Ursprungs, die jedoch 
im ersten Augenblick wie entzündlich aussehen, sei nur kurz hingewiesen. Hier 
handelt es sich um Circulationsstörungen, die bei Erkrankungen des Respirations- 
bzw. Circulationsapparates, bei Lebererkrankungen auftreten. Akute Infektionen, Ver- 
giftungen, von denen ich die mit Phosphor besonders hervorhebe, Lageveränderungen 
bei Stieldrehungen des Ovars, wo es zu Torsionen und Strangulationen der häufig 
bis zu 20 cm verlängerten Tube kommt, seien genannt. Ich betone, daß bei diesen 
Affektionen die Pars isthmica am stärksten betroffen wird. Die starke Hyperämie 
der Tube mit Blutaustritten, die trübe Schwellung der Epithelien mit Untergang 
der Flimmerung lassen an eine entzündliche Ursache denken. Das Fehlen der Mikro- 
organismen, die zum Bilde der Entzündung gehören, läßt jedoch diese Zustände 
zu den nichtentzündlichen rechnen. Von den Mikroben, die bei der Entzündung die 
Hauptrolle spielen, nenne ich in erster Linie die Gonokokken und Tuberkelbacillen. 
Die Tube gehört ja zu den keimfreien Organen der Sexualorgane. Ist der Wall 
durchbrochen, konnten die Bakterien — besonders sind es die Gonokokken — nach 
Ausstoßung des bactericiden Schleimpfropfes in den Uterus gelangen, so steht der 
weiteren Ascension kein Hindernis mehr entgegen. Sie finden in den festweichen 
Spalten der Uterusschleimhaut einen ausgezeichneten Nährboden und dringen von 
da mit Leichtigkeit höher hinauf. Daß die Gonokokken auch die Tiefe des Gewebes 
besiedeln, hat Wertheim bewiesen. Beim Gonokokkus ist es also die Ascendenz, 
die bei der Infektion der Tube in Betracht kommt. Beim Tuberkelbacillus handelt 
es sich um mehrere Wege. Hat man früher der Ascendenz (Eindringen von tuber- 
kulösem Sperma) große Bedeutung beigemessen, so ist durch Untersuchungen, 
besonders Baumgartens, gezeigt worden, daß dem descendenten Weg, sei es durch 
Kontaktinfektion vom Darm oder von der Peritonealhöhle aus, sei es auf dem Blut- 
oder Lymphwege von weitab gelegenen Organen, die größere Rolle zuzuschreiben 
ist. Noch andere Erreger sind zu nennen. Bei Puerperalerkrankungen sind es die 
Streptokokken und Staphylokokken, die die Entzündung der Tube hervorrufen. Das 
Bacterium coli, überhaupt die Mikroflora des Darmes sei genannt, da bei Ver- 
wachsungen von Darm und Tube, sei es bei Durchgängigkeit der Wand, sei es bei 
Perforation und Fistelbildung, jene Bakterien in die Tube einwandern. Schließlich 
sei der obligaten Anaerobier gedacht. Während der Entzündung sind die Keime 
leicht nachzuweisen. Später gehen sie an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zu 
grunde, der Eiter an sich wird steril. Wenn auch eine mechanische, chemische, 
thermische Ursache nicht geleugnet werden kann, so spielen doch auch hier in letzter 


366 Fritz Heimann. 


Linie die Bakterien eine ausschlaggebende Rolle, es kommt zunächst zu einer 
Schädigung des Gewebes, meist wird die Einwanderung der Bakterien bei der 
Nähe des Darmes dann erfolgen. Daß Schädlichkeiten ebengenannter Art gerade 
bei den Tubenerkrankungen von Bedeutung sind, ist ohneweiters klar, wenn wir 
uns überlegen, wie häufig differente Mittel zu Behandlungszwecken in das Uterus- 
cavum gebracht werden. Ist der Druck, unter dem diese Applikation geschieht, zu 
groß, so wird das Medikament in die Tuben gespritzt. 

Bevor ich auf die pathologische Anatomie der Tubenerkrankungen eingehe, muß 
ich zwei Eigentümlichkeiten im Bau der normalen Tuben besprechen (Lahm). Dort, 
wo das Peritoneum auf die Fimbrie übergeht, bildet es, wie Opitz nachwies, einen 
festen, unnachgiebigen Ring. Die Schleimhautfalten durchziehen die Tube vom 
Uterus bis zum abdominalen Ende, stets höher werdend. Hier sitzt das Flimmer- 
epithel auf. Beim Transport des Eies spielen außer der Flimmerbewegung auch 
Contractionen der Tubenmuskulatur eine Rolle Kommt es zu Entzündungen der 
Tube, so wird zuerst die Schleimhaut betroffen. Jetzt tritt die Bedeutung des Opitz- 
schen Peritonealringes besonders in Erscheinung. Ist es schon im Anfang der 
Schädigung durch die Blutstauung zu einer Einrollung der Fimbrie gekommen, 
so legen sich jetzt, infolge der Starrheit dieses Ringes, die den Blutabfluß enorm 
erschwert, die Falten völlig aneinander und verkleben. Das ist das Bedeutungsvolle 
jedes endosalpingitischen Prozesses, der sofortige Verschluß der Fimbrien und damit 
die Lokalisierung der Affektion. 

Bei der Entzündung der Tube kann sowohl die Schleimhaut wie die Muskulatur 
betroffen sein. Man unterscheidet also eine Endosalpingitis und eine interstitielle 
Salpingitis. Diese Unterscheidung ist eigentlich im strengen Sinne kaum möglich, 
da beide Prozesse stets ineinander übergehen, besonders wenn wir uns überlegen, 
daß auch der Tube eine Submucosa fehlt, die Schleimhaut also direkt der Musku- 
latur aufsitzt. Makroskopisch ist eine derartige Tube stark gerötet und geschwollen. 
Verläuft sie sonst ziemlich gerade, so findet jetzt eine mehr oder minder starke 
Schlängelung statt. Die Sekretion ist erheblich. Mikroskopisch sind die Schleimhaut- 
falten stark geschwollen und verdickt, es kommt zur Verklebung der einzelnen Falten, 
und nichts läßt mehr den zartgeästelten Bau der normalen Tube erkennen. Aus- 
gedehntes Ödem mit starker Hyperämie, die Epithelien verlieren die Flimmerung 
und befinden sich im Zustand der trüben Schwellung und Verfettung, das Sekret 
dieser Zellen ist zuerst weißlich glasig, wird aber später rein eitrig, starke Rund- 
zelleninfiltration. Durch die Verklebung der oberflächlichen Schichten kommt es zur 
Bildung von Hohlräumen, die mit Epithel ausgekleidet sind. Gerade dieser Befund 
erfordert eine strenge Unterscheidung zwischen entzündlicher oder angeborener 
Ätiologie. Schönholz (Zt. f. Geb., 87, 1) hat sich eingehend mit diesem Thema 
beschäftigt und kommt auf Grund experimenteller Untersuchungen zu dem Ergebnis, 
daß es Anomalien an der Tube Erwachsener gibt, deren anatomischer Bau durch 
einen entzündlichen Vorgang nicht zu erklären ist. Derartige Epitheleinstülpungen 
in der Tubenmuskulatur lassen sich in vielen Fällen nur durch eine Entwicklungs- 
störung erklären. Daß es sich um Mißbildungen handelt, hat Schönholz durch 
Befunde an Neugeborenen bewiesen. Es müssen also die Charakteristica der Ent- 
zündung absolut nachzuweisen sein. Bei entzündlichen Vorgängen ist das Über- 
greifen auf die Muskulatur nur ein kleiner Schritt. Sind die Cysten der Schleimhaut 
schon mit Eiter gefüllt, so kommt es meist auch zur Absceßbildung in der Musku- 
latur. Aus dem endosalpingitischen Prozeß ist eine Salpingitis interstitialis geworden. 
Der Inhalt der Tube ist dann ebenfalls Eiter — Pyosalpinx, Sactosalpinx purulenta. 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 367 


Das Fimbrienende hat sich gemäß den obigen Ausführungen geschlossen, so daß 
wenigstens zunächst das Bauchfell nicht direkt mit dem eitrigen Inhalt der Tube in 
Berührung kommt. Die Wand der Tube ist, wie erwähnt, an dem Entzündungs- 
prozeß stark beteiligt, und so kommt es sekundär zu Verlötungen mit den Nachbar- 
organen. Die Form der Tube ist charakteristisch; posthornartig umgibt der dick- 
geschwollene Eileiter das gewöhnlich mitbeteiligte Ovar (Fig. 87). Besteht der Zustand 
längere Zeit, findet man den Eiter meist keimfrei, die Mikroben sind, wie ich erwähnte, 
an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zu grunde gegangen. Trotzdem läßt sich 
auf Grund der histologischen Bilder die Entscheidung treffen, welche Mikroben die 
Ursachen der Erkrankung sind. Schridde fand bei den durch Gonokokken hervor- 
gerufenen Affektionen ganz typische Befunde, wobei er der Anwesenheit der Plasma- 
zellen direkt pathognonomische Bedeutung zuschreibt. Der Eiter selbst zeichnet sich 


Fig. 87. 


J e ern graser 





UE 


Doppelseitige Pyosalpinx mit ausgedehnten perisalpingitischen und perioophoritischen Verwachsungen (nach Schröder). 


durch die Anwesenheit großer Mengen von Lymphocyten und Lymphoblasten aus. 
Handelt es sich um septische Prozesse, so findet man im Eiter fast nur Leukocyten. 

Der Inhalt einer entzündeten Tube kann aber auch eine helle seröse Flüssig- 
keit darstellen: Hydrosalpinx. Das Aussehen einer solchen Tube ist ein ganz mar- 
kantes. Das Fimbrienende ist verschlossen, die Tube ist enorm dilatiert, bis zur 
Größe einer Faust kann diese Dilation gehen. Die Wand ist enorm verdünnt, doch 
ist meist das Epithel, zuweilen sogar noch Flimmerung nachzuweisen. De Ent. 
stehung dieser Hydrosalpinx hat manches Kopfzerbrechen verursacht. Die einen 
Autoren glauben, daß sie die Folge der katarrhalischen Salpingitis ist. Ist es wirklich 
gestautes Tubensekret, dann muß man als bewiesen voraussetzen, daß die Tuben- 
zellen normalerweise Sekrete absondern. Der zweiten Anschauung, daß die Hydro- 
salpinx eine Folgeerscheinung der Pyosalpinx darstelle, ist besonders Menge ent- 
gegengetreten. Das Aussehen der Wand der Hydrosalpinx spricht allein schon 
gegen diese Auffassung, aber auch die absolute Unmöglichkeit, daß sich Eiter in 
seröse Flüssigkeit umwandeln kann. Ein Krankheitsbild in der Pathologie der Adnex- 


368 Fritz Heimann. 


erkrankung — ich muß hier die Erkrankungen des Eierstocks mit einschließen — inter- 
essiert besonders, da sich hierbei Tube und Ovarium zu gleichen Teilen beteiligen: 
die Tuboovarialcyste. Verschiedene Enstehungstheorien werden geltend gemacht. Die 
Ovulationstheorie besagt, daß der geplatzte Follikel mit der Tube verwächst. Die 
sog. Katarrhtheorie Veits ist der Ansicht, daß es sich um einen Katarrh der Tube 
und des Graffschen Follikels handelt, wobei es zu einer Verlötung beider Organe 
kommt. Schließlich glaubte man an eine Verklebung einer Hydrosalpinx mit einem 
Follikel, wobei in der Folgezeit die Wand an der Verklebungsstelle usurierte. 
v. Rosthorn hat sich besonders mit dieser Anomalie beschäftigt, er glaubt an eine 
entzündliche Ätiologie und unterscheidet 2 Hauptgruppen: entweder entsteht eine 
Kommunikation zwischen einem Hohlraum im Ovarium und dem Tubenlumen oder 
Eierstock und Eileiter nehmen in gleicher Weise an dem Aufbau der Cyste teil. 
Schließlich kann der Inhalt der Tube auch Blut sein: Hämatosalpinx. Zu Blutungen 
in der Tube kann es entweder infolge Torsion oder Abknickung kommen, oder es 
besteht eine Atresie der Scheide, so daß das Menstruationsblut nicht abfließen kann. 
Nach einem Hämatokolpos, einer Hämatometra kommt es schließlich zur Ausbil- 
dung der Hämatosalpinx. Ich bin bei den Erkrankungen der Scheide darauf näher 
eingegangen. Mikroskopisch treffen wir je nach der Entstehung der Erkrankung 
verschiedene Bilder an. Bei entzündlicher Genese weist die Muskulatur zahlreiche 
Blutungen auf, das Epithel ist zerstört, die Gefäße thrombosiert. Kleinzellige Infil- 
tration beweist die entzündliche Herkunft. Ob bei der Hämatosalpinx auf Grund 
der Atresie nicht auch eine entzündliche Ursache vorhanden sei, die zum Ver- 
schluß des Fimbrienendes geführt hat, eine Ansicht, die besonders Veit aus- 
gesprochen hat, ist nicht sicher zu entscheiden. Daß das Blut von einer Tuben- 
menstruation herrührt, ist eine Meinung, die noch nicht bewiesen ist. — Kurz soll ein 
Krankheitsbild gestreift werden, die Salpingitis isthmica nodosa, die knotenförmige 
Anschwellung des Isthmus. Wie der Name sagt, hat man auch hier die entzünd- 
liche Ätiologie betont und die Knoten als. eine entzündliche Muskelhyperplasie 
angesprochen. Die Knoten selbst sind scharf abgesetzt. Einzelne oder mehrere Aus- 
stülpungen des Tubenlumens sind beschrieben. v. Recklinghausen führt dieses 
Gebilde auf Abkömmlinge des Wolffschen Ganges zurück. Diese Theorie ist 
widerlegt, da man in allen Fällen Zeichen einer bestehenden oder abgelaufenen 
Entzündung fand. Die Hohlräume in der Muskelschicht kommunizieren mit dem 
Tubenlumen, es handelt sich also wahrscheinlich um durchgebrochene Abscesse; 
unter dem Einfluß der Gonorrhöe entsteht dieses Krankheitsbild. Gegen diese Auf- 
fassung hat sich besondets Lahm gewendet. Er steht auf dem Standpunkt, daß die 
Salpingitis isthmica mit einer Salpingitis zunächst gar nichts zu tun hat. „Sie stellt 
eine Entwicklungsanomalie am isthmischen Ende der Tube dar, bei der es zur Ein- 
senkung der Tubenschleimhaut in die hypertrophische Muskulatur nach Art eines 
Adenoms kommt.“ An und für sich ist dieser Zustand nach Lahm bedeutungslos. 
Erst wenn es zur Infektion kommt, dann treten in diesem Gewirr von Hohlräumen 
jene Zustände auf, die die knotigen Verdickungen hervorrufen. Von jener Isthmica 
nodosa ist die pseudofollicularis (Martin) streng zu trennen, bei der die Hohlräume 
ihren Sitz nicht in der Muskulatur, sondern in der Schleimhaut haben. Hier handelt 
es sich um die Folgen einer Pyosalpinx (Lahm), die Hohlräume sind entstanden 
durch die Verklebung der entzündeten Falten und kommunizieren mit dem Tuben- 
lumen nicht. Meist tritt die Pseudofollicularis am abdominalen Ende auf. 

Auf die Tuberkulose der Tuben, die ich schon oben kurz streifte, sei wegen der 
Wichtigkeit des Krankheitsbildes noch etwas näher eingegangen. Die Tuben werden 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 369 


am häufigsten befallen. Bei allgemeiner Genitaltuberkulose kann man mit Recht 
behaupten, daß die erste Infektion sich im Eileiter abgespielt habe. Hansemann 
fand unter 7000 Sektionen 18 Genitaltuberkulosen, Fredrichs unter 96 Sektionen 
tuberkulöser Frauen 12mal eine Tubentuberkulose, v. Rosthorn bzw. Bondi konnten 
unter 103 Pyosalpingen in 10% der Fälle Tuberkulose nachweisen. Die primäre 
Tuberkulose ist außerordentlich selten. Wie ich schon sagte, kommt hier der ascen- 
dierende Weg von der Vagina aus in Betracht (Coitus, Instrumente). 

In zweiter Linie kann es sich bei der primären Tuberkulose darum handeln, 
daß die Infektion an einer anderen Stelle geschieht, dort jedoch keine Erscheinungen 
macht und zur Tube gelangt. 

Die Anschauung des Zustandekommens einer primären Infektion hat durch die 
experimentellen Untersuchungen der letzten Jahre eine Revision erfahren. Schon 
Baumgarten hat den sog. ascendierenden Weg geleugnet. Dieser Ansicht trat 
Bauereisen entgegen, welcher gerade aus seinen Versuchen am Meerschweinchen 
bewiesen haben will, daß die Ascension doch möglich ist. Lahm steht auf dem 
Standpunkt, daß es eine intracanaliculäre Ascension nicht gibt, bzw. daß sie eine ganz 
untergeordnete Rolle spielt. Von der Scheide aus gelangt fast nur auf dem Lymph- 
wege die Infektion zum Uterus bzw. zu den Tuben. Auch die zweite Auffassung 
vom Zustandekommen der primären Infektion muß nach den Untersuchungen 
Römers und Ghon (zitiert nach Lahm) abgelehnt werden. Der Primärherd wird 
bei sorgfältiger Autopsie doch stets zu finden sein. Schließlich ist noch ein Punkt 
von ungeheurer Bedeutung für die tierexperimentellen Untersuchungen, auf den 
Lahm und Müller zuerst aufmerksam gemacht haben, die Tuberkuloseimmunität: 
„Bei bestehender Tuberkulose ist die Infektion an einer zweiten Stelle ungemein 
erschwert. Beim Menschen spielt die Drüsentuberkulose der Kinderjahre, beim 
Meerschweinchen, das experimentell infiziert wird, die auf irgend eine Weise akqui- 
rierte leichte Organtuberkulose diese Rolle.“ Die primäre Tuberkulose muß also 
bis auf ganz seltene Ausnahmen abgelehnt werden. Am häufigsten erfolgt die 
Infektion auf dem Blut-, seltener auf dem Lymphwege und durch Kontakt- 
infektion. Letztere geschieht vom Peritoneum, vom Darm, eventuell vom uropoeti- 
schen System her. Beim Blutweg handelt es sich meist um Herde in der Lunge 
oder in den Bronchen, beim Lymphweg wird es Uterus oder Scheide sein. 

Pathologisch-anatomisch ist hervorzuheben, daß meist beide Tuben ergriffen 
sind, sie haben sich zu starren, häufig Fingerdicke erreichenden Wülsten umge- 
wandelt, der Inhalt ist käsig, die Wand mehr oder weniger verdickt, das Fimbrien- 
ende offen oder geschlossen. Umfängliche Verwachsungen mit der Umgebung 
treten frühzeitig auf. Zwei Formen, die akute und die chronische, unterscheidet man. 
Bei der ersteren tritt ein rascher Zerfall der Schleimhaut ein, der bald auch die 
Muskulatur ergreift, das Fimbrienende bleibt lange offen, die Wand zeigt starke 
Rundzelleninfiltration, Tuberkelbacillen sind nachweisbar. Bei der chronischen Form 
schließt sich das abdominale Ende relativ zeitig, so daß das Bild der Pyosalpinx 
entsteht. Zahlreiche Tuberkeln sind zu sehen, Schleimhaut und Muskulatur werden 
meist spät befallen. Bacillen sind selten nachzuweisen. 

Die Symptome der Tubenerkrankung sind ganz verschieden. Hierbei fällt 
häufig der Gegensatz zwischen subjektiven Beschwerden und objektivem Befund auf. 
Die Patientinnen klagen über außerordentlich heftige Empfindungen, wobei der 
objektive Befund nur gering ist, während anderseits große Pyosalpingen zuweilen 
sehr wenig Belästigung hervorrufen. Meiner Ansicht spielt. die Beteiligung des 
Peritoneums eine große Rolle. Verwachsungen mit demselben rufen unangenehme 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 24 


370 Fritz Heimann. 


Erscheinungen hervor. Die akute Erkrankung geht mit schwerem Krankheitsgefühl 
einher. Meist im Anschluß an eine Geburt oder einen Abort, wenn eben die 
Ascension der Mikroben möglich ist, treten starke Temperaturerhöhungen auf; der 
Leib, besonders die Unterbauchgegend, sind ungemein empfindlich und schmerz- 
haft. Die bimanuelle Untersuchung ist nur in zartester Weise möglich. Schon die 
Berührung der Portio ruft furchtbare Schmerzen hervor. Dieser ungeheure Druck- 
schmerz ist für die Salpingitis direkt pathognomonisch. Einzelheiten sind fast nie- 
mals zu tasten. Fühlt man Resistenzen, so haben dieselben zunächst eine teigige, 
nur schwer von der Umgebung zu unterscheidende Konsistenz. Ausfluß braucht 
zu dieser Zeit nicht allzu heftig zu sein, höchstens bei gonorrhoischer Infektion 
wird die Sekretion stärkere Grade annehmen. Bei der chronischen Salpingitis stehen 
die Störungen der Menstruation im Vordergrunde. Meno- und Metrorrhagien, häufig 
sehr schwer zu bekämpfen, dysmenorrhoische Beschwerden sind die typischen 
Begleiter. Daneben heftige Schmerzen im Kreuz und Leib, die besonders bei etwas 
stärkerer Beschäftigung unerträgliche Grade annehmen. Spannung und Druckgefühl 
in der Tiefe des Beckens. Sterilität führt die Patientin häufig in die Sprechstunde 
des Arztes. Gerade bei der Salpingitis sehen wir als ein Symptom die sog. Ein- 
kindsterilität, die Frau hat eine normale Gravidität und Geburt durchgemacht, im 
Wochenbett ist es zur Ascension gekommen, die die eben geschilderten Erschei- 
nungen gemacht hat und damit jede weitere Conception ausschließt. Erscheinungen 
von seiten der Nachbarorgane, besonders Blase und Mastdarm, treten auf. Durch- 
bruch der Pyosalpinx in diese oder nach außen in die Vagina sind kein seltenes 
Ereignis. Der Hydrops tubae profluens, d. i. die plötzliche Entleerung des Tuben- 
inhalts durch das uterine Ende in den Uterus und von da nach außen, ist für die 
Besserung des Leidens zu begrüßen. Die drohende Peritonitis, besonders wenn es 
zum Durchbruch eines Eiterherdes in die Bauchhöhle gekommen ist, macht die 
Prognose ernst. l 

Die Diagnose ist wichtig, häufig recht schwierig bezüglich der einzelnen 
Krankheitsformen. Die Untersuchung vom Rectum aus wird gute Dienste tun. 
Unter Umständen muß die Narkose zu Hilfe genommen werden, obwohl sie 
den großen Nachteil hat, daß der Schmerz, der bei der Tubenentzündung dia- 
enostisch von Bedeutung ist, fortfällt. Die Doppelseitigkeit des Prozesses spricht 
stets für Entzündung der Tube. Selbst wenn man nur einen einseitigen Prozeß 
tastet, sehen wir bei der Laparotomie fast stets, daß die andere Seite mitbefallen 
ist. Recht schwer kann bei solchen Vorkommnissen, wenn nur die rechte Seite 
tastbar ist, die Differentialdiagnose gegen die Appendicitis sein. Man wird sich 
hierbei besondere Mühe geben müssen, das Befallensein oder Freisein der anderen 
Seite zu konstatieren, denn leider läßt die Lage der entzündlichen Tumoren für die 
Diagnose häufig im Stich. Ein appendicitischer Prozeß kann weit nach unten in 
das kleine Becken gehen, anderseits ist es möglich, daß der entzündliche Tuben- 
tumor bis zum Mac Burneyschen Punkt reicht. Die Doppelseitigkeit hilft die Diagnose 
klären. Ein eigentlich charakterischer Befund fehlt bei der Salpingitis, wenn man 
vielleicht von der rosenkranzartigen Auftreibung bei Tuberkulose absieht. Sind Tube 
und Ovar gesondert als sehr schmerzhaft zu tasten, hat man es mit einer einfachen 
Entzündung zu tun. Das Prallelastische spricht für Hydrosalpinx oder Tuboovarial- 
cyste. Ein in seinen Einzelheiten undeutlicher Tumor läßt auf Pyosalpinx schließen. 
Die Vermehrung der Zahl der Leukocyten im Blut kann bei eitrigen Prozessen 
gewisse Hinweise geben. Auch die Methode der Blutkörperchen-Senkungsgeschwin- 
digkeit nach Fahraeus und Linzenmeyer soll unter allen Umständen zur Klärung 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 371 


der Diagnose angewendet werden. Eine Senkungsbeschleunigung läßt auf entzündliche 
Affektionen schließen. Auch die Röntgenphotographie mit Hilfe des Pneumoperi- 
toneums ist von Dietel und Polano besonders für gynäkologische Zwecke zur 
Erkennung von Veränderungen im kleinen Becken ausgearbeitet worden. Durch 
Einblasen von Luft in die Bauchhöhle mittels einer feinen Kanüle werden die 
betreffenden Organe mit Luft umgeben und zeichnen sich auf der photographischen 
Platte bis in die feinsten Einzelheiten ab. Wenn auch die bimanuelle Tastung in 
den meisten Fällen genügt, wird die Röntgenphotographie zuweilen gute Dienste 
zur Klärung der Diagnose leisten. Natürlich wird die Diagnose die ätiologischen 
Faktoren, ob es sich um eine Gonokokken- oder tuberkulöse, um eine septische 
Infektion im Wochenbett handelt, eingehend berücksichtigen. Die Differentialdiagnose 
gegen eine Eileiterschwangerschaft kann schwierig sein, besonders da bei dieser 
Erkrankung gar nicht selten auf der anderen Seite eine Hämatosalpinx sich bildet, 
der Prozeß also doppelseitig auftritt. Eine vorsichtige Probepunktion wird klärend 
wirken, wenn Eiter oder altes Blut in der Punktionsspritze sich befindet. Ich rate 
dringendst, die Punktion nur vorzunehmen, wenn zu einer sich sofort anschließenden 
Operation alles vorbereitet ist. Keineswegs darf die Punktion in der Sprechstunde 
gemacht werden. Von.einer Uterussondierung rate ich bei Tubenentzündung dringend 
ab, wie ich überhaupt jeden intrauterinen Eingriff dabei perhorresziere. Ein sehr 
unangenehmes Aufflackern des Prozesses, abgesehen von Verletzungen, die das 
Peritoneum mitaffizieren können, werden die Folgen dieses Eingriffes sein. Aus 
diesem Grunde soll man beim Verdacht eines entzündlichen Prozesses auch mit 
einer Methode vorsichtig sein, die zur Feststellung eines Tubenverschlusses jetzt 
viel angewendet wird, ich meine die Tubendurchblasung nach Rubin, die von 
Graff, Sellheim, Guttmann u. a. weiter ausgebaut und modifiziert worden ist. 
Es handelt sich dabei um die Einblasung von atmosphärischer Luft durch den Uterus 
bzw. die Tube ins Peritoneum. Mit Hilfe eines kleinen, zu diesem Zwecke kon- 
struierten Rohres, das in das Uteruscavum eingeführt wird, wird Luft unter einem 
bestimmten Druck, der am Manometer abgelesen wird und nicht über 150 mm 
Quecksilber nach meinen Erfahrungen betragen soll, eingeblasen. Sind die Tuben 
offen, so hört man bei dem Durchstreichen von Luft durch die Fimbrien ein eigen- 
tümlich blasendes Geräusch, wenn man das Stethoskop auf den Bauch aufsetzt. 
Wie in letzter Zeit Volkmann in Halle experimentell zeigte, ist die Durchblasung 
doch nicht so harmlos, wie man sie zuerst darstellte. Besonders darf auch nur bei 
Verdacht auf entzündliche Vorgänge niemals die Durchblasung gemacht werden. 

Bei der Therapie spielt die Prophylaxe eine wesentliche Rolle. Man wird eine 
frische gonorrhoische Infektion sofort behandeln und alles tun, um die Ascension 
zu vermeiden. Für die akute Entzündung ist strengste Bettruhe unbedingt notwendig. 
Eine Eisblase auf den Leib wird die Schmerzen bald lindern. Ist dies nicht der Fall, 
so kann — wegen der Obstipation nur für kurze Zeit gegeben — Opiumtinktur, 
3mal täglich 10 Tropfen, Linderung verschaffen. Bei großen Schmerzen hat sich 
mir das Kodein (0:03 3mal täglich 1 Pulver) recht gut bewährt. Eine lokale Behandlung 
darf erst beginnen, wenn die Patientin mindestens 7 Tage unter 37° sich befindet. 
Ganz anders ist die Behandlung der chronischen Adnexitis. 

Hierbei treten alle resorbierenden Maßnahmen in Aktion. Warme Sitzbäder, 
35—40° C mit Staßfurter Salz, heiße Scheidenspülungen, 40-45° C, Tampon- 
behandlung mit 10% eem Ichthyolglycerin, Leibprießnitz u. s. w. werden zu Hause 
bei sorgfältiger Anwendung sehr gute Dienste verrichten. Ich erwähne ferner die 
Heißluftbehandlung, Schwitzbäder. Die Diathermie hat besonders bei lange bestehen- 

24° 


372 Fritz Heimann. 


den chronischen Erkrankungen, wenn die Gefahr der akuten Exacerbation nicht mehr 
besteht, recht gute Erfolge. Jede aktive lokale Behandlung ist zu unterlassen. Die 
Schulzesche Trennung der Adhäsionen, Massage nach Thure-Brand, Entleerung 
der Tuben nach dem Uterus zu, Abrasionen sind strengstens kontraindiziert und 
können schwersten Schaden hervorrufen. Die Röntgenbehandlung gewinnt in 
letzter Zeit bei der Therapie der Adnexitis wieder an Bedeutung. Hatten wir in der 
ersten Zeit diese Behandlungsmethode abgelehnt, so ist jetzt durch die Erlanger 
Schule (Flaskampf) erneut darauf aufmerksam gemacht worden. Flaskampf 
berichtet über gute Erfolge. Man bleibt natürlich mit seiner Dosis unter derjenigen, 
die zur völligen Kastration notwendig ist. Die Amenorrhöe ist also nur eine vor- 
übergehende. Durch Ausschalten der Ovarialfunktion für eine gewisse Zeit glaubte 
Flaskampf die Ausheilung der entzündlichen Veränderungen zu fördern. Daß die 
Zerstörung des Follikelapparates durch diese Dosen keine völlige ist, hat Flaskampf 
angeblich durch spätere Conceptionen und normale Schwangerschaften und Geburten 
bei derariigen Fällen gezeigt. Obwohl die Schilderungen dieser Therapie mit ihren 
Erfolgen besonders verheißungsvoll klingen, bin ich nicht so optimistischer Ansicht. 
Natürlich ist die genaue Kenntnis der Apparatur ein unbedingtes Erfordernis. Das 
gehört überhaupt zur Ausübung der Strahlenbehandlung, aber wir wissen leider, 
daß eine so exakte Dosierung, wie sie Flaskampf für die temporäre Kastration 
vorschreibt, kaum möglich ist. In sehr vielen Fällen wird die Amenorrhöe nicht 
eine temporäre, sondern eine dauernde sein, und wir haben die Blutungsfreiheit 
der Patientin mit anderen, recht unangenehmen Erscheinungen erkauft. Die Indikation 
für die Strahlenbehandlung bei entzündlichen Adnexen muß also sehr streng gestellt 
werden. Wie Küstner ganz richtig hervorhebt, muß das Schmerzgefühl der Kranken 
maßgebend für unsere Behandlung sein. Hier sind mehrwöchige Badekuren, die auch 
eine Trennung der Ehegatten bewirken sollen, von außerordentlicher Bedeutung. Moor- 
- bäder, verbunden mit vorsichtigen Abführkuren, die nach dem Darm zu ableiten, sind 
von allerbestem Erfolge. Betont muß dabei werden, daß nur die alljährliche Wieder- 
holung der Kuren, solange noch Beschwerden vorhanden sind, eine endgültige Heilung 
schafft. Besonderes Interesse hat in letzter Zeit die Behandlung der Tuben- und Eierstocks- 
entzündung durch die Reizkörpertherapie gewonnen. Ich will auf das Theoretische 
nur kurz eingehen. Weichardt konnte als erster zeigen, daß bei parenteraler Ein- 
bringung von bestimmten Eiweißarten Erscheinungen einer Leistungssteigerung sich 
einstellten. Es handelt sich, wie von ihm tatsächlich gesehen werden konnte, um 
eine wirkliche Steigerung, die sich auf den ganzen Organismus erstreckte, niemals 
um das Hervortreten einer einzelnen Organgruppe. Weichardt spricht infolgedessen 
von einer specifischen Leistungssteigerung, einer Protoplasmaaktivierung. Es werden 
dann von ihm die Vorgänge besprochen, die zu einer solchen Leistungssteigerung 
führen können, u. zw. gibt es zwei Möglichkeiten, die von ihm als aktive und 
passive Leistungssteigerung bezeichnet werden. Bei letzterer tritt die Wirkung 
erst ein, wenn gewisse Ermüdungssymptome sich zeigen, während erstere auch 
beim unermüdeten Organ deutlich zu sehen ist. Die Unspecifität dieser Wirkung 
ist besonders daran kenntlich, daß ganz verschiedene Eiweißarten dieselben Effekte 
hervorrufen, daß sogar bei Einspritzungen von Kolchsalz es gelungen ist, eine gleiche 
Wirkung wie bei Eiweißeinverleibung zu beobachten. Leider sind wir über die 
Reaktion der lebenden Zellen noch nicht genügend aufgeklärt. Aus der klinischen 
Wirkungsweise geht hervor, daß es sich um eine unspecifische Erscheinungsform 
handelt, sehen wir doch, wie Starkenstein, Weichardt und Schader, Lindig, 
Schittenhelm, Müller, besonders Rudolf Schmidt zeigen konnten, Entfieberung 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 373 


bei Infektionskrankheiten, lokale Herdreaktion, Leukocytose, Ansteigen des Blutzucker- 
spiegels, des Immunkörpertiters und Fibrinogenvermehrung. Starkenstein vergleicht 
die Therapie mit der Chemotherapie, er glaubt an gewisse innere Beziehungen zwischen 
den Stoffen der Proteinkörpertherapie und den entzündungshemmenden Stoffen. Der 
Begriff der ersteren soll ganz fallen gelassen und durch einen ergänzt werden, der 
sich nicht auf die angewendeten Mittel bezieht, sondern dem Angriffspunkt der 
Mittel, dem Protoplasma, sowie der omnicellulären Wirkung Rechnung trägt. 
Lindig fordert, Milch- und Proteinkörpertherapie nicht auf eine Stufe zu stellen, da 
man nicht weiß, welche Teile der Milch die Wirkung hervorrufen. Er glaubt, daß 
das hauptsächlich wirksame Prinzip der Milch im Casein zu suchen sei; mit dem 
von ihm hergestellten Caseosan, einer 5%igen Caseinlösung, sind vielfach Versuche 
angestellt worden. Zunächst wurde nur intramuskulär gespritzt; die erste Injektion 
wurde auch bei hoher Temperatur vorgenommen, die Anzahl der Einspritzungen 
betrug im Mittel 5—6 alle 2—3 Tage. In manchen Fällen erhöhte sich diese Zahl 
auch auf das Doppelte. Anaphylaktische Erscheinungen wurden bei dieser Technik 
niemals gesehen. Leider ließen jedoch die Erfolge meist im Stich. Wenn auch 
vielleicht im Moment eine gewisse subjektive Besserung einsetzte, so war von 
Dauererfolgen nichts zu merken. Ich bin daher in der letzten Zeit zur intravenösen 
Injektion übergegangen und benutze mit Vorliebe das Novoprotin (Grenzach). Die 
Reaktionen sind, obwohl ich mit !/, cm? beginne, stark, nach 3—4 Stunden setzt ein 
erheblicher Schüttelfrost ein, allgemeines Unbehagen, Gliederschmerzen u. s. w. Im 
Verlaufe des Tages klingen die Beschwerden völlig ab. Nach 3—4 Tagen Wieder- 
holung der Injektion mit steigenden Dosen (1/,—?/, —1 cm?). Erst wenn die Reaktion 
nicht mehr auftritt, was bei Erfolg versprechender Therapie nach 4—5 Injektionen 
geschieht, höre ich mit den Injektionen auf. Wird die erste Injektion reaktionslos 
vertragen, sind meist die Einspritzungen nutzlos. Ich wende diese Behandlung seit 
vielen Monaten an und glaube, sie durchaus empfehlen zu können. Selbstverständlich 
wird daneben die oben erwähnte lokale Behandlung durchgeführt. Leider sehen 
wir ja trotz aller häufig durchgeführten Behandlungen, daß das Leiden immer 
wieder rezidivier, und so ist man gezwungen, sich in einem Teil der Fälle 
doch zur Operation zu entschließen, die mitunter recht radikal wird ausfallen 
müssen. Natürlich ist die Indikation für die Operation so streng wie möglich 
zu stellen. 

Die Entzündung des Eierstockes ist von der der Eileiter gar nicht zu trennen. 
Bei der unmittelbaren Nähe dieser beiden Organe sehen wir, wie ich oben schon 
sagte, fast stets, daß Affektionen des einen Organes söfort das andere angreifen, 
abgesehen davon, daß auch zahlreiche Lymph- und Blutgefäße, die den Weg der 
Infektion vermitteln, beide Organe miteinander verbinden. Ich werde also häufig auf 
das im Kapitel „Tubenerkrankung“ Gesagte hinweisen müssen. Man unterscheidet eine 
akute und eine chronische Oophoritis. Bei der akuten Erkrankung kann es sich 
zunächst um eine septische Oophoritis handeln, wobei als Erreger Streptokokken 
und Staphylokokken in Betracht kommen. Hier spielen Geburt und Abort oft eine 
verhängnisvolle Rolle. Operative Eingriffe können gleichfalls eine septische Infektion 
hervorrufen, schließlich darf man bei der Ätiologie gewisse Infektionskrankheiten 
(Scharlach, Masern, Gelenkrheumatismus) nicht vergessen. Zu beachten ist, daß die 
Oophoritis meist eine Teilerscheinung der Infektion des gesamten Organismus ist 
und bei der Schwere der Grunderkrankung im Hintergrunde steht. Habe ich schon 
bei der akuten Entzündung die Beziehungen zwischen Appendicitis und Adnexen 
erwähnt, so gilt dies ganz besonders für die akute Oophoritis, die sich häufig an 


374 Fritz Heimann. 


eine akute Erkrankung des Wurmfortsatzes anschließt. Stroma und Parenchym werden 
meist zu gleichen Teilen befallen, weitgehende Zerstörungen sind die Folge. Besonders 
in letzterem sehen wir einen mehr oder weniger ausgebildeten Zerfall der Follikel. 
Das Epithel geht zu grunde, starkes Ödem bringt eine allgemeine Schwellung des 
Organs. Je nach dem Grade der Entzündung beobachten wir in den zerfallenen 
Höhlen serösen, hämorrhagischen oder eitrigen Inhalt. Oft stellt der Eierstock eine 
einzige große Absceßhöhle dar. Daß sich die Erkrankung auch auf das Keimepithel 
ausdehnt und von da die Nachbarschaft (Tube, Uterus, Darm) mitbefällt, ist natürlich. 
Ist der Erreger der Gonokokkus, so geschieht die Infektion meist vom Uterus bzw. 
den Tuben aus, jedoch kann bei sehr schwerer Erkrankung, wie Wertheim und 
Menge zeigten, auch der Blut- und Lymphweg vom Uterus aus in Frage kommen. 
Pathologisch-anatomisch ähnelt dieses Bild sehr der septischen Oophoritis. Die 
parenchymatöse Entzündung steht im Vordergrund, obwohl das Stroma zahlreiche 
kleinzellige Infiltrate aufweist. Trübe Schwellung, fettige Degeneration der Epithelien; 
der Liquor folliculi wird trübe, schließlich eitrig, das Ei geht zu grunde, und so 
kommt es auch hier zur Absceßbildung, die später das ganze Organ ergreift und 
auf die Umgebung übergeht. Der Nachweis der Bacillen ist schwer, da sie meist 
an ihren eigenen Stoffwechselprodukten frühzeitig zu grunde gehen. Die tuber- 
kulöse Oophoritis ist selten, die Wege der Infektion sind, wie ich schon bei der 
Tuberkulose der Tuben hervorhob, Blut- und Lymphbahnen und die direkte Kontakt- 
infektion geht von Tube oder Peritoneum aus. Von manchen Autoren wird die heute 
nicht mehr aufrecht zu erhaltende Unterscheidung zwischen einer tuberkulösen 
Perioophoritis und der Ovarialtuberkulose gemacht, wobei betont wird, daß die 
erstere eine Teilerscheinung der tuberkulösen Peritonitis ist, während die letztere 
als genuin, die käsig abscedierende oder miliare Form zeigt. Wie schon erwähnt, 
kommt die Ovarialtuberkulose fast nur im Bild der allgemeinen Genitaltuberkulose 
vor. Erwähnt soll werden, daß es auch eine Aktinomykose des Ovariums gibt. Die 
Erkrankung ist jedoch außerordentlich selten. 

Die Symptome der akuten Oophoritis werden häufig bei der Schwere der 
Allgemeinerkrankung, wie es besonders bei der septischen Infektion der Fall ist, 
in den Hintergrund treten. Wenn dies auch nicht geschieht, wird die akute Oopho- 
ritis sich mit der Salpingitis derart vergesellschaften, daß ein isoliertes Symptom- 
bild nicht zu bekommen ist. Das gleiche gilt für die Diagnose. Auch hier wird 
diese meist auf Adnexitis lauten, was ja das Befallensein von Tube und Ovarium 
ausdrückt. Die Therapie wird sich eng an die Behandlung der Salpingitis anschließen. 
Ich darf auf das dort Gesägte verweisen. Strengste Bettruhe, Eisblase auf den Leib, 
Opium oder Kodein stellen die Hauptverordnungen dar; bevor nicht die akuten 
Erscheinungen mindestens eine Woche lang abgeklungen sind, darf an eine lokale 
Behandlung nicht gedacht werden. Kommt es zur Absceßbildung, was die hohe 
Continua in der Temperaturkurve und das Schlechterwerden des Allgemeinbefindens 
anzeigen, wird man sich zur Eröffnung des Absceßes entschließen müssen. 

Die Ätiologie der chronischen Oophoritis zeigt auch heute noch manche 
Unklarheiten, sofern die chronische Erkrankung nicht aus einer akuten hervorgegangen 
ist. Hier sieht man im mikroskopischen Bild die Charakteristica der Entzündung, 
die starke Hyperämie, die kleinzellige Infiltration, die Atheromatose der Gefäße und 
vieles andere, was auf die überstandene akute Infektion schließen läßt. Andere 
Faktoren, die für die chronische Oophoritis angeschuldigt werden, sind schwer in 
ihrer Dignität zu beurteilen. Ich nenne die sexuelle Überreizung, die Erkältung und 
manches andere. Pathologisch-anatomisch tritt die Erkrankung meist doppelseitig 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 375 


auf, die derbe Konsistenz des Organes fällt auf, sie ist auf eine Schrumpfung des 
Bindegewebes zurückzuführen. Mit diesem Prozeß sehen wir ein Bild auftreten, 
das als kleincystische Degeneration bezeichnet wird. Das Keimepithel als solches 
ist vorhanden, die Albuginea ist stark verdickt. Mangel an Primordialfollikeln. Im 
übrigen sind die Follikel cystisch erweitert. der Hilus selbst ist verbreitert, an den 
Gefäßen beobachtet man Wandverdickung. Die Struktur der Follikel kann ziemlich 
normal sein; man gewinnt den Eindruck, daß der physiologische Ablauf der Ver- 
änderungen zu rasch vor sich geht; der Streit geht auch heute noch darüber, ob 
der Prozeß zu den chronischen Entzündungen zu rechnen ist oder nicht. Zeichen 
der Entzündung, wenn man von der hyalinen Degeneration an manchen Gefäßen 
absieht, findet man nicht (Aschhoff), im Gegenteil sieht man, daß diese Verände- 
rungen auch ganz normale Ovarien von Frauen im conceptionsfähigen Alter aufweisen. 

Auch hier muß ich bezüglich der Symptome, Diagnose und Therapie 
auf die chronische Salpingitis hinweisen, da die chronische Oophoritis außerordent- 
lich selten ein gesondertes Krankheitsbild darstellt. Döderlein warnt mit Recht 
davor, mit der Diagnose „chronische Eierstockentzündung“ allzu freigebig zu sein. 
Bei einer großen Reihe von Patientinnen findet man bei der Untersuchung einen 
lokalisierten Schmerz in der Gegend des Eierstocks, der von Charcot mit Ovarie 
und als ein rein nervöses Symptom bezeichnet wird. Keineswegs gibt dieser Schmerz 
das Recht, von einer chronischen Eierstockentzündung zu sprechen. Aus diesem 
Grunde ist auch die Therapie möglichst einzuschränken. 

Schließlich soll die Entzündung des Beckenbindegewebes, des Parametriums, 
besprochen werden. Unter dem parametrischen Gewebe versteht man das Binde- 
gewebe, in welches sämtliche Organe des kleinen Beckens mit Gefäßen und Nerven 
eingebettet sind und das nach oben vom Peritoneum, nach unten vom Becken- 
bodenmuskel, dem sog. Diaphragma pelvis, begrenzt ist. Der Abschluß ist kein 
absoluter, im Gegenteil geht das Bindegewebe in den Sehnen- und Gefäßscheiden 
auch über die angegebenen Grenzen hinaus, ein bedeutsames Moment, das bei der 
Weiterleitung von infektiösen Prozessen eine ungeheuer wichtige Rolle spielt. Zu 
unterscheiden ist im parametrischen Gewebe der paravesicale Raum, der die Blase 
umgibt, der parasakrale, der um das Rectum liegt, und schließlich das eigentliche 
Parametrium, das vom Uterus zwischen den Blättern der Ligamenta lata zum Becken 
hinzieht und die Gefäße und Nerven des Uterus umhüllt. Im oberen Teile wird 
das Gewebe in der Gegend des Collums straffer und enthält auch einige Bündel 
glatter Muskulatur. Wir unterscheiden eine akute und eine chronische Entzündung. 
Pathologisch-anatomisch findet man bei der akuten Parametritis je nach der Virulenz 
der Erreger mehr oder minder starkes Ödem, Thrombosierung der Blutgefäße, 
Anfüllung der Lymphgefäße mit Eiter. Schließlich kommt es zur eitrigen Ein- 
schmelzung dieser Partien, zur sog. Exsudatbildung. Auch hierbei gibt es mehrere 
Grade; im günstigsten Falle bleibt das Exsudat auf das eigentliche Parametrium 
beschränkt; leider findet es jedoch in dem lockeren Gewebe eine ausgezeichnete 
Ausbreitungsmöglichkeit, die paravesicalen und rectalen Räume werden mit ergriffen 
und erhöhen damit die Schwere der Erkrankung. Die großen Gefäße, die Vena 
hypogastrica, iliaca, externa communis, ja sogar die cava, liegen in nächster Nähe, 
und Thrombosierungen dieser Gefäße gefährden die -Patientin aufs schwerste. 
Ätiologisch kommen nur Bakterien in Betracht; in erster Linie Strepto- und 
Staphylokokken. Geburt und Wochenbett, kriminelle Eingriffe zur Unterbrechung 
der Schwangerschaft, jedoch auch Operationen bringen die Erreger in die Blut- 
und Lymphbahn des parametrischen Gewebes hin. Hierbei sei festgehalten, daß 


376 , Fritz Heimann. 


stets Verletzungen des Epithels vorhanden sein müssen. Auch vom Darm, von der 
Blase her können die Bakterien in das benachbarte Bindegewebe einwandern, jedoch 
ist auch hier die Verletzung des Epithels eine Conditio sine qua non (Neisser, 
Opitz). Auch die Appendicitis muß Berücksichtigung finden. 

In manchen Fällen kommt der Gonokokkus als Erreger in Betracht; gewöhn- 
lich ist es so, daß vom infizierten Uterus aus der Gonokokkus gewissermaßen den 
Boden vorbereitet, d. h. schädigt, um den nachfolgenden Streptokokken die Arbeit 
zu erleichtern. Der Sitz des Exsudats kann bis zu einem gewissen Grade die 
Entscheidung herbeiführen, von wo aus die Infektion stattgefunden hat. Bei Infektion 
vom Uterus aus sitzt das Exsudat hoch im Ligament, bei Affektionen des Collum 
uteri breitet sich die Phlegmone an der Basis des Ligaments aus, und schließlich 
wird von der Scheide aus das paravaginale Gewebe infiziert; besonders bei ersterem 
sehen wir die Mitbeteiligung des Peritoneums, die sich von der einfachen flächen- 
haften Ausschwitzung bis zur eitrigen Einschmelzung ausbilden kann. 

Jedenfalls werden die Folgen jeder peritonitischen Affektion mehr oder minder 
erhebliche Verwachsungen mit Uterus und Adnexen sein, die günstigste Lösung, da 
die allgemeine Peritonitis meist einen letalen Ausgang herbeiführt. Der Verlauf, wenn 
nicht jenes unglückliche Ereignis eintritt, ist meist ein recht langwieriger. Die Exsudate 
bilden sich sehr langsam zurück, wenn es nicht zu plötzlichkem Durchbruch nach 
Blase, Mastdarm oder Scheide kommt. Leider sehen wir, daß dieser für die Ab- 
kürzung des Leidens oft glückliche Ausgang in vielen Fällen die Erkrankungszeit 
nicht abkürzt. Das Exsudat ist häufig nicht einkammrig, so daß die Entleerung des 
Eiters eine vollständige ist, sondern zahlreiche größere oder kleinere Eiterherde 
setzen den Befund zusammen, so daß die Entleerung einer Höhle noch nicht die 
Heilung bedeutet. Bricht der Absceß nach dem Peritoneum zu durch, so ist der 
unglückliche Ausgang meist nicht abzuwenden. Um das zu vermeiden, versucht 
man, dem Eiter rechtzeitig Abfluß zu verschaffen. Das Befinden der Kranken ist 
außerordentlich gestört. Hohe Temperaturen, zuweilen septischer Natur, bringen 
die Patientin sehr herunter, umsomehr als diese Erscheinungen wochenlang an- 
halten; der Puls ist hoch, Komplikationen von seiten des Herzens und der Lunge 
sind zu befürchten, der Verdauungstractus ist häufig stark in Mitleidenschaft gezogen, 
Erbrechen oder Durchfälle schwächen die Kranke. Bei sehr großem Exsudat ist der 
Druck auf die Nerven des Kreuzbeins, eventuell auf den Ichiadicus sehr quälend. 
Die Thrombosierung der großen Gefäße, die Phlegmasia alba dolens verursacht recht 
erhebliche Schmerzen. Die Mitbeteilung des Bauchfells spricht in der Frage der 
Schmerzen eine große Rolle; leider sehen wir, daß eine nicht ganz kleine Anzahl 
von Fällen nach langem Krankheitslager doch noch einer der oben erwähnten 
Komplikationen zum Opfer fällt. Günstig dagegen steht es quoad vitam, wenn die 
Abkapselung des Exsudates von statten geht. Wenn auch hier das Leiden sich 
Wochen und Monate hinzieht, so tritt doch allmählich die Gesundung ein. 

Die Diagnose kann mitunter sehr schwierig sein. Man nimmt die Anamnese 
zu Hilfe und berücksichtigt besonders den Beginn der Erkrankung. Handelt es sich 
zunächst um die Parametritis ohne Einschmelzung, so ist rechts oder links eine teigige 
Schwellung. zu tasten, die vom Uterus bis zum Becken sich hinzieht. Mit beiden 
Organen ist sie fest und unmittelbar verbunden, so daß eine Abgrenzung kaum 
möglich ist. Diese Begrenzung fehlt auch gewöhnlich nach oben und unten. Ganz 
allmählich geht der entzündliche Tumor in seine Umgebung über. Dabei schweres 
oder schwerstes Krankheitsbild, was davon abhängt, ob zu dieser Zeit schon das 
Bauchfell ergriffen ist. Ist das der Fall, dann zeigt die Kranke das typische Aus- 


Die Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der Gonorrhöe. 377 


sehen. Ungeheure Schmerzhaftigkeit schon bei leichter Berührung sowohl des 
Abdomens als auch bei vaginaler Untersuchung der befallenen Partien. Die Tempera- 
turen sind hoch, der Puls klein, frequent, mehr oder minder ausgesprochene 
Cyanose. Beginnt der Einschmelzungsprozeß, so wird der Befund zunächst etwas 
besser abgrenzbar. Seine Konsistenz ist prall elastisch, eventuell deutliche Fluktuation 
nachweisbar. Auch jetzt noch besteht innige Verbindung mit Uterus und Becken. 
Küstner wendet sich mit Recht dagegen, ein derartig eitriges parametranes Exsudat 
mit „Beckeneiterung“ zu bezeichnen, da diese Ausdrucksweise in höchstem Grade 
unkorrekt ist. Er betont den Unterschied, ob eine Eiterung sich in der Tube oder 
Ovar oder im Parametrium lokalisiert. Während bei der Tubeneiterung der Prozeß 
sich in einem mit Schleimhaut bekleideten Organ abspielt, es sich also, wie Küstner 
meint, um ein „Empyem“ handelt, sehen wir bei der Parametritis einen Prozeß im 
Bindegewebe, einen „Absceß“. Differentialdiagnostisch entstehen zuweilen große 
Schwierigkeiten. Liegt die Entzündung rechts, so ist die Unterscheidung gegen 
einen perityphlitischen Absceß manchmal recht schwierig, umsomehr als das para- 
metrische Exsudat häufig einseitig auftritt. Genaueste Berücksichtigung der Ana- 
mnese ist notwendig. Auch die Adnexerkrankung kommt für die Differentialdiagnose 
in Betracht. Findet man bei der Untersuchung des Sekretes Gonokokken, so kann 
die Diagnose Adnexitis fast als gesichert gelten. Die Doppelseitigkeit des Prozesses 
bei der Adnexitis muß auch Berücksichtigung finden. Schließlich ist hierbei eine 
gewisse, zuweilen recht geringe Beweglichkeit des Tumors vorhanden, der außerdem 
häufiger hinter dem Uterus als vor ihm liegt. Auch die extrauterine Hämatocele, 
besonders die Haematocele retrouterina, kann der Parametritis sehr ähnlich sein. 
Die Anamnese ist ebenfalls hier sehr wichtig. Die Punktion vom hinteren Scheiden- 
gewölbe schafft Aufklärung. Auch die Beschleunigung der Blutkörperchen-Senkungs- 
geschwindigkeit weist auf Eiterung hin. Die Leukocytose ist nicht verläßlich, obwohl 
sie als unterstützendes Moment auch berücksichtigt werden sollte. 

Die Therapie soll möglichst konservativ sein. Handelt es sich nicht um einen 
Einschmelzungsprozeß, so versucht man, durch strengste Bettruhe, Eisblase und 
schmerzstillende Mittel den Herd zu lokalisieren und zum Abklingen zu bringen. 
Daneben bedarf das Allgemeinbefinden größter Aufmerksamkeit. Die Ernährung ist 
zu regeln, Alkohol verrichtet gute Dienste, das Herz bedarf genauester Kontrolle; 
jede lokale aktive Behandlung unterläßt man zunächst. Es ändert sich die Methode, 
sobald es zur Eiterung kommt. Fühlt man jetzt bei der bimanuellen Untersuchung 
der Fluktuation vom hinteren oder seitlichen Scheidengewebe aus, so kommt das 
Ablassen des Eiters in Frage. Auch hier ist der Zeitpunkt der Incision von Bedeutung. 
Eine Reihe von Autoren sind für möglichst frühzeitige Operation, da sie glauben, 
durch dauernden Abfluß des Eiters den Prozeß einerseits abzukürzen, andererseits 
besser zu lokalisieren. Andere warten bis zur völligen Absceßbildung ab, da dann 
mit der Incision der ganze Eiter zum Abfluß kommt. Ich möchte das letztere Ver- 
fahren empfehlen. Die Punktion gibt uns Aufschluß, wo der Herd sitzt, abgesehen 
davon, daß in diesem Stadium der Douglas sich vorwölbt und die Auffindung des 
Herdes sehr leicht ist. Auch hierbei ist das Vorgehen verschieden. Mit einem 
Troikart, der in seiner Form von Ludwig Fränkel angegeben worden ist, wird der 
Absceß breit eröffnet, ein Gummi- oder Glasrohr sorgt für guten Abfluß des 
Eiters. In letzter Zeit hat man mit der Entleerung des Eiters durch Punktion und 
nach ganzer Auffüllung der Absceßhöhle mit Rivanol (Morgenroth), 1%ig, einem 
Streptokokken tötenden Chinaalkaloid, sehr gute Erfolge gesehen. Diese Maßnahme 
ist mehrere Male vorzunehmen, bis es zur Ausheilung kommt. 


378 Fritz Heimann. 


Mit dem Aufhören der Eiterung ist die Parametritis noch nicht geheilt. Meist 
machen die Narben und Schwielen, die sich im Anschluß an den Prozeß bilden, 
recht erhebliche Beschwerden und erfordern langwierige Behandlung. Jetzt setzt die 
lokale Therapie ein, die ich schon oben bei der Behandlung der chronischen 
Adnexitis beschrieben habe. Hydrotherapie, Wärme, Licht, Moorbehandlung seien 
nochmals in erster Linie genannt. 

Im Vergleich zu den schweren Erscheinungen der akuten Parametritis tritt 
die chronische Erkrankung in den Hintergrund. Meist handelt es sich um langsam 
einsetzende, schrumpfende Abscesse, von denen die Parametritis posterior (Schulze) 
und die Parametritis atrophicans (Freund) zu nennen sind. Man sieht diese Prozesse 
auch bei jungfräulichen Personen auftreten. Die Symptome können unangenehm sein, 
Menstruationsstörungen, Schmerzen im Kreuz, Störungen von seiten des Magen- und 
Darmkanals stehen im Vordergrunde. Die Diagnose wird bei der bimanuellen Unter- 
suchung, eventuell unter Zuhilfenahme der Narkose, gestellt. Die Behandlung ist auch 
hier eine resorbierende. Nur im Notfalle entschließt man sich zum operativen Eingreifen. 


Literatur. Folgende Hand-, Lehrbücher und Zeitschriften wurden benützt: Fehling Franz, 
Lehrbuch der Frauenkrankheiten. — Frankl, Pathologische Anatomie und Histologie der weiblichen 
Genitalorgane; A. f. Gyn.; Mon. f. Geb. u. Gyn.; Ztschr. f. Geb .u. Gyn.; Zbl. f. Gyn. -— Halban- 
Seitz, Biologie und Pathologie des Weibes. — Küstner, Lehrbuch der Gynäkologie. — Lahm, Die 
Pe ao oain h analomi hen Grundlagen der Frauenkrankheiten. — Menge-Opitz Handbuch der 

rauenheilkunde. — Schröder, Lehrbuch der Gynäkologie. — Veit, Handbuch der Gynäkologie. 





Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Von Dozent Dr. Arnold Josefson, Oberarzt, Stockholm. 
Mit 12 Tafeln. 





Bei einer Untersuchung über den Zusammenhang zwischen den innersekre- 
torischen (inkretorischen) Organen und der sog. Konstitution, der individuellen 
Sonderart, der persönlichen körperlichen und seelischen Entwicklung muß stets mit 
größtenteils ungelösten wichtigen Problemen a priori gerechnet werden. Wäre auch 
die Physiologie der inkretorischen Organe vollständig bekannt, käme doch in jedem 
Falle immer noch hinzu die Frage von dem Wachstums- und Entwicklungstriebe. 
Dieser Trieb, rein individuell wie er ist, kann weder qualitativ noch quantitativ 
angegeben werden. Gibt es doch keine zwei individuell vollständig ähnliche In- 
dividuen, fehlen uns doch immer exakt festgestellte biologische Normalwerte. 
Gleichen einzelne Geschwister einander äußerlich noch so viel, funktionell sind sie 
verschieden. 

Wiegen zwei gleichartige Organe auch gleich viel und zeigen sie histologisch 
auch dieselbe Struktur, ihre Funktionskraft braucht deshalb nicht gleichwertig zu 
sein. Allein aus der Größe eines Organes kann man die Funktionsmöglichkeit ja 
nicht ablesen. Diese muß durch besondere Proben geprüft werden. Die Vergröße- 
rung der Schilddrüse z. B. ist oft ein Zeichen der funktionellen Insuffizienz und 
eine Organvergrößerung einer Keimdrüse kann durch eine Hypertrophie der exkre- 
torischen Elemente auf Kosten der inkretorischen Zellen entstehen und vice versa. 
Wird die Hypophyse adenomatös vergrößert, entsteht die Akromegalie als Folge 
einer Hyperfunktion (Tafel XIII, Fig. 2); bei anderen neoplastischen Vergrößerungen 
tritt diese Krankheit nicht auf. In letzterem Falle geht das funktionierende Gewebe 
zu Grunde. — Kommt noch hinzu, daß die Inkretorgane als Glieder eines Inkret- 
systemes aufgefaßt werden müssen, in welchem die einzelnen Organe in gewisser 
gegenseitiger Korrelation stehen. 

Trotz alledem und trotz Mangel an sicheren Kenntnissen über die Stoffe, 
welche die Entwicklung ab ovo und weiter treiben, kann es doch heute als be- 
wiesen gehalten werden, daß sowohl die körperliche wie auch die seelische Ent- 
wicklung und Wirksamkeit von den Inkreten in bedeutendem Grade beeinflußt 
werden. Klinisch wie auch experimentell gibt es für allemal festgestellte Tatsachen, 
welche dies bekräftigen. 

Allgemein wird es anerkannt, daß ein jeder Mensch ein Organismus für sich 
ist, und die Verteilung der Menschen in verschiedene Gruppen und Typen wird 
stets willkürlich. Denn biologisch sind sie doch immer streng individuell. Die Art, 
auf welche der Organismus reagiert, die Anpassungsmöglichkeiten, die angeborenen 
wie die erworbenen Abwehrkräfte sind persönlicher Art und als inkretorisch be- 
dingt bezeichnet. In der Therapie ist die goldene Regel das Individualisieren. Ohne 
Kenntnis über die Reaktionsnorm wird die Therapie immer nur ein Versuch. Jeder 


380 Arnold Josefson. 


Mensch, aber auch jedes Organ reagiert in individueller Weise und so auch das 
Inkretsystem und dessen Glieder. 

Schon erblich wird der Mensch mit einem gewissen Quantum Lebensenergie 
geboren. Das Altern, d. h. der Verbrauch des Organismus und seiner Teile, geht 
in verschiedenem Tempo. In einigen Familien kommen die Alterszeichen z. B. 
regelmäßig sehr früh, in anderen wieder sehr spät. Ich erinnere hier an die grund- 
legenden Versuche Brown-Sequards sich selbst durch Inkretenzufuhr zu ver- 
jüngen. 8 

Für die Gesamtkonstitution, also auch für die Inkretion, bedeutet es u.a. viel, 
mit welchen Anlagen man geboren worden ist. 

Daß es einen Zusammenhang zwischen der menschlichen Entwicklung (der Per- 
sönlichkeit) und den inkretorischen Organen gibt, unterliegt keinem Zweifel. Wie 
groß die Rolle des Inkretsystems dabei aber ist, ist schwer exakt festzustellen. Be- 
sonders schwer zu deuten ist diese Frage bei dem Embryo. Während des Em- 
bryonallebens, einer Zeit, in welcher die fötalen Inkretorgane nicht funktionsreif sind, 
wird der mütterliche Organismus doppelt in Anspruch genommen. 

Im lebenden Organismus herrscht nie Ruhe. Aufbau und Verbrauch, Rege- 
neration und Atrophie sind u. a. Zeichen des Lebens. Das Inkretsystem, von einer 
Menge in gegenseitiger Beziehung stehender Organe zusammengefügt, wird während 
des ganzen Lebens oft auf die Probe gestellt. 

Funktionelle Schwäche ebenso wie abnorme Steigerung irgendwo in diesem 
Systeme werden von körperlichen oder seelischen Störungen verschiedener Art 
leicht begleitet. Während besonderer Perioden des Lebens sind die Ansprüche an 
das Inkretsystem besonders groß. 

Als eine solche Periode können die Kinderjahre, die Zeit des Wachstums, zuerst 
genannt werden. Bei Hemmungen gewisser Inkretorgane besteht oft Unreife, bei 
Steigerung Frühreife. Der Eintritt der Pubertät und wahrscheinlich auch ihre Duration 
ist von inkretorischen Einflüssen abhängig. Über den näheren Zusammenhang zu 
berichten, würde zu weit führen. Eine lebhafte Anspornung der Inkretorgane im 
allgemeinen scheint zu dieser Zeit einzutreten. Die Thymus, auch sie hier zu den 
inkretorischen Organen gerechnet, übt ihre stärkste Funktion wahrscheinlich während 
der frühesten Lebenszeit aus. 

Daß die Ansprüche während der Schwangerschaft besonders groß werden, ist 
schon gesagt worden. | 

Diese kurze Einleitung mag genügen, um zu zeigen, welche dominierende Rolle 
im menschlichen Dasein das Inkretsystem spielt. 


In jedem Alter setzt also Gesundheit u.a. die Existenz einer gesunden Endo- 
krinie voraus. Die physische sowie die psychische Vitalität wechselt unter den In- 
dividuen. Bei Allen aber stehen sie mit dem Status incretorius in Zusammenhang. 
Es gibt nämlich, daran müssen wir festhalten, eine individuelle, noch unaufmeB- 
bare, inkretorische Formel, einen Index incretorius. Wo das Normale aufhört und das 
Kranke beginnt, können wir nicht sagen. Den Index incretorius überhaupt genau 
bestimmen zu können, ist ein Ziel der Zukunft. Was jetzt die Beurteilung der 
Funktion einzelner Inkretorgane anbelangt, sind wir aber schon ein gutes Stück vor- 
wärts gekommen. In gewissen Fällen kann doch die klinische Untersuchung zu einer 
richtigen quantitativen Auffassung eines Sonderorganes leiten. Durch den Effekt 
der Behandlung können wir diese Tatsache bestätigen. Ich erinnere an den erstaun- 
lichen Effekt von der Behandlung z. B. mit Schilddrüse, Insulin resp. Pituitrin. 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 381 


Svedenborg, der schwedische Forscher und Fernseher, sprach schon über 
die innersekretorischen Organe als „innere chemische Laboratorien des Körpers“ 
und die führende Rolle der Schilddrüse war ihm schon im großen ganzen klar. 
Auch der Hypophyse und dem Zirbel, diesen im Innern des Schädels sorgfältig ver- 
borgenen Organen, maß er funktionelle Bedeutung zu. Diese seine Vermutungen 
erwiesen sich richtig. Dem Inkretsysteme wird heute aus guten Gründen die Rolle 
eines Reglers des Lebensablaufes zugemessen. Auf welchen Wegen man zu dieser 
Auffassung gekommen ist und durch welche geniale Forscher aller Länder die 
moderne Lehre der inneren Sekretion gebaut wurde, muß hier übergangen 
werden. Ich muß auf die reichlichen vortrefflichen Handbücher! über diese Themen 
hinweisen und mich mit einer kurzen Darstellung von dem Zusammenhange der 
Inkretorgane mit der Persönlichkeit begnügen. 

Um die Bedeutung der Inkrete für die menschliche Entwicklung und Persön- 
lichkeit sicher beurteilen zu können, muß in erster Hand die Physiologie der In- 
kretorgane bekannt sem Es muß offen gesagt werden, daß die Forschung in 
dieser Hinsicht noch an der Schwelle steht. Zwar ist etliches über die Funktionen 
der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Nebenniere (Mark), der Keimdrüsen, 
der Bauchspeicheldrüse und der Hypophyse erforscht worden — es fehlt uns aber 
auch manches. Die Chemie der Inkrete ist ein weit offenes Feld der künftigen 
Forschung. Bisher kennen wir chemisch nur die Inkrete der Nebennieren und der 
Schilddrüse. Das gegenseitige Verhältnis der Vitamine und der Inkrete ist auch 
nicht sicher bekannt, obschon manches angeführt wird, was zeigen sollte, daß die 
Vitamine als Vorstufen der Inkrete bezeichnet werden können. 

Von den Beziehungen zwischen dem vegetativen Nervensystem und den Inkreten 
wissen wir noch wenig Exaktes und die gegenseitige Abhängigkeit der Inkrete ist bei 
weitem noch nicht klargelegt worden. Daß gewisse Inkrete wachstumfördernd sind, daß 
die seelische Entwicklung auch von dem Inkretsystem abhängt, wird zwar anerkannt. 
Über den näheren Mechanismus wird noch eifrig gestritten. Gegen die Annahme, 
daß z.B. die Thymus und der Zirbel inkretorische Funktion haben, kommen Ein- 

wendungen immer vor. | 

| Wie gesagt muß ich darauf verzichten, alle die verschiedenen klinischen 
und experimentellen Forschungsmethoden aufzuzählen, durch welche die Kenntnis 
von den inkretorischen Funktionen vergrößert worden ist. Entschiedene Bedeutung 
für die Lösung der Frage von der Organfunktion hatten besonders die vielen Fälle, 
in welchen Ausfallssymptome nach der Organexstirpation durch Organotherapie wieder 
schwanden oder in welchen Symptome einer inkretorischen Hyperfunktion nach 
Organexstirpation gewichen sind. 

Für die Lehre von der Organotherapie waren Bertholds Versuche 1849 an 
jungen Hähnchen grundlegend. Er entfernte die Hoden und brachte sie dann an 
anderer Stelle des Körpers zur Anheilung. Der Hahnencharakter, welcher .ja sonst 
nach der Kastration den Kastratentypus annimmt, wurde jetzt nicht verändert. 


Zwischen Krankheit und Gesundheit fließt die Grenze. Es ist am schwierigsten, 
die leichten Abweichungen von dem Normalen zu entdecken. Wie so oft anderswo in 
der Medizin, kam hier die führende Rolle dem klinischen und pathologischen Studium 
zu. So war es z.B. der Fall bei dem Morbus Addisonii, bei der Akromegalie, dem 
Myxödem und der Basedowschen Krankheit. Durch die kritische Zusammenstellung 
der klinischen Data mit dem Erfolg der Therapie sind wir den funktionellen Störun- 


1 Literatur siehe Biedl, Innere Sekretion, 1922. 


382 Arnold Josefson. 


gen verschiedenen Grades auf die Spur gekommen. Auch ohne sichere Kenntnisse 
von demjenigen, was als Normales bezeichnet werden soll, ohne die Kenntnis also 
von dem Index incretorius gelang es, das Bild der funktionellen Hemmung, Steigerung 
oder Veränderung pathologischer Art (Hypo-, Hyper-, Dysfunktion) ziemlich genau 
festzustellen. Interessant ist sich dabei zu erinnern, wie das Bild der Hypofunktion 
(bei Hypothyreose, Hypovarie, Hyporchie) aus dem Vergleich mit den bekannten 
Ausfallserscheinungen nach der Totalexstirpation entstanden ist. 

Von eminenter Bedeutung war auch die Tatsache, daß funktionelle Hemmung 
und Steigerung klinische Gegenbilder hervorrufen (Unreife — Frühreife; Verzöge- 
rung — Beschleunigung). 

In unserer technisch vollendeten Zeit werden beim Menschen inkretorische 
Organe mit gutem Resultate (wenn auch vorübergehend) überpflanzt (Schilddrüse, 
Nebenschilddrüsen, Keimdrüsen, [Tafel XV, Fig. 2]) und das Material wird nicht nur von 
anderen Menschen (lebenden oder gerade gestorbenen) genommen. Affenorgane taugen 
auch. Die Ausfallserscheinungen nach der partiellen bzw. totalen Organexstirpation beim 
Menschen sind schon lange bekannt (Schilddrüse, Nebenschilddrüsen, Keimdrüsen). 
Schwinden diese nach der Anheilung der Transplantate oder nach anderen opo- 
therapeutischen Eingriffen, kann doch von einem Experimentum crucis gesprochen 
werden. Für die Entlarvung latenter inkretorischer Störungen wird die Organo- 
therapie heutzutage zuweilen sogar als Adjuvans benutzt. Mit der Entdeckung des 
Insulins wurde unsere Auffassung von der Pathogenese des Diabetes mellitus in 
genialer Weise genauer festgestellt. 

Aus der Klinik der inkretorischen Störungen sind auch Schlüsse über die 
Physiologie der Inkretorgane gezogen worden. Als Beispiel nenne ich die hypo- 
physären Störungen. Dem Studium der Akromegalie und der Dystrophia adiposo- 
genitalis folgte die energische Erforschung der Hypophyse als Wachstumförderer. 

Eine Zusammenstellung der experimentellen und der klinischen Forschungs- 
resultate zeigt vor allem, wie die ganze Entwicklung von den Inkreten beeinflußt, ja 
beherrscht wird. Es wird dabei mit Einflüssen sowohl befördernder wie auch 
hernmender Art gerechnet. 

Die normale Entwicklung setzt eine gewisse Bilanz der inkretorischen Stoffe 
wahrscheinlich voraus. Übergewicht in der einen oder anderen Richtung zeichnet 
sich durch Abweichungen vom Normalen aus. 

Der Skeletbau kann zwar anthropometrisch gefolgt werden. Durch die Rönt- 
genologie bekamen wir eine objektive Methode das körperliche Wachstum besser 
als früher zu beurteilen. Das Studium des Epiphysenschlusses (normal, verfrüht, 
verzögert) gibt sichere Auskünfte. Ein Stillstand des Skeletwachstums, ein verfrühter 
oder verzögerter Epiphysenschluß läßt sich röntgenologisch bei gröberen Störungen 
sehr leicht nachweisen. Durch Serienuntersuchungen kann man der Skeletentwicklung 
gradatim folgen. Auch therapeutische Erfolge können in dieser Weise studiert werden. 
Von besonderem Interesse ist es, daß man von der Körperlänge an sich nicht mit 
Sicherheit darüber schließen kann, wie weit es mit dem Skeletbau gekommen ist. 
Riesen kommen vor mit noch weit offenen Epiphysenfugen (bei z. B. Hyporchie). 
sowie Kleinwüchsige mit frühgeschlossenen Epiphysenfugen (Pubertas praecox). 

Von dem Wachstumtriebe hängt die Entwicklung im einzelnen Falle ab. Es 
kann als sicher bewiesen gehalten werden, daß dieser Trieb inkretorisch beeinflußt 
wird. In welcher Weise aber und in welchen Inkretorganen die Wachstumstoffe 
gebildet werden, ist eine offene Frage, so auch die vom gegenseitigen Verhältnisse 
der verschiedenen Inkrete. Wie gesagt, sind die Meinungen über die Thymus noch 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 383 


geteilt!. Von einigen Verfassern wird sie sogar als die centrale Wachstumdrüse be- 
zeichnet. Und in welchen Zellen der Keimdrüse das spezielle Inkret gebildet wird, 
wird auch debattiert. Daran kann aber festgehalten werden, daß bei der Hypo- 
funktion der Schilddrüse und der Hypophyse Wachstumstoffe fehlen und daß bei 
Hyperfunktionen in diesen selben Organen Wachstumsteigerungen mehrerenteils vor- 
kommen. Bei den Kastraten (und bei der Hyporchie [Tafel XI) und der Hypovarie 
[Tafel XIII, Fig. 1]) dauert das Offenbleiben der Epiphysenfugen weit länger als normal 
(Hochwuchs); bei den sexuell Frühreifen wieder ist der Epiphysenschluß verfrüht 
(Kleinwuchs). 

Es ist nicht möglich, hier auf die interessante Frage über den näheren Einfluß der 
Inkrete auf das Skeletwachstum und dessen Dimensionierung einzugehen. Gesammelte 
Erfahrung deutet darauf hin, daß das thyreoidale Inkret auf die Bildung der Anlage 
von den Knochenkernen einwirkt, während die Hypophyse und die Keimdrüsen mehr 
das epiphysäre Wachstum beeinflussen. 

Daß die verschiedenen Wachstumsstörungen in besondere Typen je nach der 
primären Lokalisation in irgend einem Inkretorgane eingeteilt worden sind, ist 
schon angedeutet worden. 


Daß es hinsichtlich der Entwicklung viel und vielleicht hauptsächlich darauf 
ankommt, wie man endokrin geboren, wie die endokrine Konstitution ist, zeigt 
u. a. das Myxoedema: angeborener Mangel an Schilddrüse, tiefe körperliche und 
seelische Entwicklungshemmung. 

Exogene Momente (Umweltwirkungen) können zwar auch den Zuwachs beein- 
flussen. Die Frage ist aber die: in welcher Art und auf welchem Wege? Familiär 
vorkommende Skeletvariationen können doch kaum als exogen entstanden erklärt 
werden. 

Ebenso wie das Skelet sind auch andere Körperteile vom Inkretsystem ab- 
hängig. 

Und ein normaler Stoffwechsel setzt auch ein gesundes Inkretsystem voraus. 
Wie verhängnisvoll inkretorische Störungen auf diesen einwirken können, lehrt z. B. 
die Kenntnis über den Diabetes mellitus. 

Wie innig die Empfindung des Wohlseins mit der Endokrinie verbunden ist, 
ergibt sich aus der entscheidenden Rolle der Inkrete für die Wärmeregulation 
des Körpers. Die subnormale Temperatur bei der Hypothyreose resp. Athyreose 
und die prompte Erhöhung derselben nach Schilddrüsenzufuhr, die erhöhte Tem- 
peratur bei der Hyperthyreose sind als Beweise für die Abhängigkeit der Wärme- 
bildung von der Schilddrüse oft genug erwähnt?. (Als Beispiel gebe ich hier kurz 
einen extremen Fall von Myxödem an, welcher leider nicht früher richtig erkannt 
worden war. Die Kranke mußte ihren dicken Pelz anhaben, als sie in meinem warmen 
Empfangszimmer saß, um nicht zu frieren. Die Respirationsfrequenz = 9—11. Nach 
Behandlung während einiger Tage fühlte sie sich wieder „warm“.) Seitdem die Methodik 
jetzt vereinfacht worden ist, werden heutzutage überall Untersuchungen über den Gas- 
stoffwechsel bei den inkretorischen Störungen eifrig betrieben. Besonders die Vermin- 
derung des Gasstoffwechsels ist von diagnostischem Werte. Einer Erhöhung kann 
bisher nur relativer Wert zuerkannt werden. 


ı Als Beweis für die inkretorische Thymusfunktion wird klinisch auf Fälle von geheilter Myasthenie 
nach Thymusexstirpation hingewiesen. 

2 Auf die Abhängigkeit des Winterschlafes von dem Inkretsystem und auf die künstliche Er- 
weckung aus demselben kann ich hier nicht eingehen. 


384 Arnold Josefson. 


Die Bedeutung der Bauchspeicheldrüse für den Zuckerstoffwechsel und der 
Schilddrüse für den Eiweißstoffwechsel sind auf immer festgestellte Tatsachen. 

Der Einfluß der Inkretion auf den Fettumsatz kann auch als sichergestellt be- 
zeichnet werden. In welchem Grade dieser Umsatz aber inkretorisch bedingt wird, ist 
schwieriger festzustellen. Die Klinik war für die Lösung dieser Frage von größerem 
Wert als die experimentellen Erfahrungen. Ich erinnere an die vom Publikum miß- 
brauchten Entfettungskuren durch Schilddrüsenzufuhr, an die bekannte Fettsucht 
bei den Kastraten (seit uralten Zeiten werden Haustiere ja aus kulinarischen Gründen 
kastriert) und an die schon genannte Dystrophia adiposogenitalis (Tafel XII, Fig. 2, 3) bei 
den Störungen in gewissen Teilen der Hypophyse. In diesem Zusammenhange sei es 
mir gestattet, an eine Tatsache zu erinnern, auf welche ich schon früher die Aufmerksam- 
keit gelenkt habet. Bei der Pubertät, dieser Periode einer Steigerung gewisser inkretori- 
scher Funktionen, wird im allgemeinen das Körperfett bei den Knaben reduziert; 
bei den Mädchen nimmt es im Gegensatz zu. Frühreife Knaben sind in der Regel: 
mager, frühreife Mädchen fett. Bei dem Hyporchismus mehrenteils Fettbildung (weib- 
liche Körperfülle), bei dem Hypovarismus vielmehr Magerkeit (männlicher Habitus). 
Wieder also Gegenbilder bei Hemmung oder Steigerung der inkretorischen Funktion. 

Auch auf den Kalkstoffwechsel meint man, daß die Inkrete (Thymus, Epithel- 
körperchen) einwirken. Was die Inkrete für den Wasserhaushalt bedeuten, ist um- 
stritten; die Lösung dieses Problems: gehört zu den allerschwierigsten. Das Vor- 
kommen eines Diabetes insipidus mit hypophysärer Genese wird mehr und mehr 
bezweifelt. 

Schon vor mehr als 20 Jahren kamen in der Literatur Angaben vor über das 
Vorhandensein eines cerebralen, inkretorisch beeinflußbaren trophischen Zentrums. 
Diese Theorie, in Vergessenheit geraten, ist heutigentags wieder erschienen. 


Vor allem muß die dominierende Rolle des Inkretsystems für die ektoder- 
malen Bildungen (die Haut und ihre Adnexe, die Drüsen, die Dentition) als ge- 
sichert angesehen werden. Es genügt, auf die Klinik hinzuweisen. 

Auch auf die glatte Muskulatur haben die Inkrete großen Einfluß und eine 
Beziehung zwischen dem Tonus der Capillaren und dem Inkretsysteme scheint 
höchstwahrscheinlich zu bestehen. 

Normales Wachstum und eine durchschnittlich normale Körperform setzt also 
u. a. ein normales Inkretsystem voraus. Besonders der Mangel an nötigen Inkreten 
verursacht leichtkenntliche Störungen. 

Daß das Inkretsystem auch die Psyche beeinflußt, wurde schon gesagt. In 
der Psychiatrie findet diese Lehre mehr und mehr Gehör. Als Grund für diese 
Annahme nenne ich die bekannte Tatsache, daß Schilddrüsenschwächlinge oft tiefe 
psychische Störungen zeigen. Durch Schilddrüsenzufuhr können sie oft aus ihrem 
winterschlafähnlichen seelischen Dämmerzustand erweckt werden? Aber auch das 
psychische Bild bei gewissen Hyperfunktionen der Inkretorgane weist auf diese 
gegenseitige Beziehung hin. Nochmals erinnere ich an einen gegensätzlichen 
psychischen Effekt bei der Hemmung resp. Steigerung der inkretorischen Funktion. 
Bei dem Myxödem eine Apathie und psychische Trägheit, bei dem Hyperthyreoidismus 
eine erhöhte Empfindlichkeit und psychische Unruhe. 


ı In meiner Arbeit: Endokrina skelett- och utvecklingsrubbningar, Stockholm 1915. 

2 Die in einigen Fällen vorkommende Katalepsie (bei Myxödem), die ich bald nach dem 
Beginne der Behandlung verschwinden sah, habe ich als eine Äußerung der enormen motorischen 
Trägheit gedeutet. 


Tafel V. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Skelet von Tafel IV, Fig. 1 vor, während und nach der Behandlung. 





2.|VIII. 1921 (vor). 18./VIII. 1921. 





3./1. 1922. 23./1. 1923, 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien 


Tafel IV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Fig. 1. 


Myxödem. 19 Jahre. Im 9. Jahre wurde er vom Arzte als schilddrüsenloser Idiot bezeichnet, wurde aber nicht be- 
handelt. Vor 3 Jahren bekam er (unregelmäßig) Schilddrüsentabletten 0:10 X 1. Ist enige Zoll jährlich gewachsen. 
Wurde von mir 1921 mit sehr großen Schilddrüsendosen behan 


elt. 





13 Jahre. Nils 79 Jahre. 8./VIII. 1921. 15./VIII. 1921. 3./1. 1922. 


Fig. 2. 


Myxödem. 10 Jahre. Die Schwester litt an Myxödem. Wurde im Alter von 5 Jahren ca. 1 gaor mit Schilddrüsen- 
tabletten 0'10 X 1~2 behandelt. Wurde von mir 1914 mit großen Dosen behandelt. 





3./VIII. 1914. 17./VIII. 1914. ' 27./X1. 1914. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel VI. 


Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 


Myxoedema +- Acrocyanosis. 


39 Jahre. Wurde mit großen Dosen behandelt. Die Akrocyanose schwand. Cutane und subcutane Adrenalin- 
probe schwach vor der Behandlung, stark nach derselben. Als die Schilddrüsendosen vermindert wurden, kam 





16./11. 1923. 


die Akrocyanose zurück. 









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27./11. 1923 (11 Tage behandelt). 





Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien 


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Tafel VII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Myxödem. 
5 Jahre. Zwei Jahre vor ihrer Geburt wurde die Mutter wegen Cystoma ovarii operiert. Das 
yxödem seit ihrem 1. Lebensjahre. Als sie von mir behandelt wurde, konnte sie nur 
einzelne Wörter sprechen. Wurde mit großen Schilddrüsendosen behandelt. Nach 
14 Tagen ist das Myxödem verschwunden. Sie lernte rasch sprechen. Nachdem ich sie 
6 Jahre behandelt habe, spricht sie jetzt anrora CH gut: Sie ist fortwährend intellektuell 
etwas schwach. 





20./V. 1917. 20.|V. 1917. 





30./VII. 1917. 30.|VII. 1917. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel VII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Kretinismus. 


Seit dem 11. Lebensmonate Kretin. Wurde von mir zuerst 2 Monate lang mit Hypophyse behandelt. Später Schilddrüsenbehandlung. 
Große Dosen. Die Haare fielen zuerst vollständig aus. Neues Haar. Konnte zuerst gar nicht sprechen. Lernte ihren Namen sagen. 


10 Jahre. 





11./V. 1916 (Behandelt). 13./V. 1916. 29./VII. 1916. August 1916. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel IX. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Hypothyreose (infantil). 


10jähriger Knabe mit großen Schilddrüsendosen behandelt. In 1 Jahr wuchs er für 
3 Jahre (röntgenologische Kontrolle). 





. 20.|X. 1918. 





23./X. 1919, 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel X. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Familiäre Struma durch Schilddrüsenbehandlung geheilt. Auch die Mutter leidet an Struma. Die 
Kinder wurden mit großen Dosen behandelt. Cutane Adrenalinempfindlichkeit vor der Behandlung 
schwach bei beiden ; stark beim Mädchen nach der Behandlung. 





30./IV. 1917. AN. 1917 (3 Tage behandelt). 





10./1. 1921. 24.|1. 1921. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel XI. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Typischer Hyporchismus. 





Verlag von Urban & Schwarzenberg,in Berlin u. Wien. 


Tafel XII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Fig. 1. 
Struma permagna während 5 Wochen mit Schilddrüse behandelt. 








Fig. 2. Fig. 3. 
Tumor hypophyseos. Dystrophia adiposogenitalis. 
Dystrophia adiposogenitalis. Kleinwuchs (Hypophysäre Störung). 





13 Jahre. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel XIII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Fig. 1. 
Hypovarismus (rechts). 


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Fig. 3. 


Akromegalie ohne Sehstörungen. Bei der Sektion großer Tumor hypophysis. 
Die Sella turcica röntgenologisch vergrößert. 


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24 Jahre. 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel XIV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Pseudoepiphysen („Stigma endocrine“). 





Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tafel XV. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
Arnold Josefson: Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 


Fig. 1. 


Cutane Adrenalin- und Pituitrinreaktion (mit Wasser- 
reaktion verglichen). 


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Fig. 2. 
Ein halber Menschentestikel 1921 an einem Kastraten implantiert; später mit Testestabletten behandelt. 





1921 (vor). i 1923 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 288 


Der körperlichen, inkretorisch bedingten Un-, resp. Frühreife geht öfters eine 

seelische Un-, resp. Frühreife parallel. 

` Daß bei gewissen psychischen Störungen Organotherapie wunderbar viel 
leisten kann, ist schon gesagt worden. Wahrscheinlich ist es nicht zu viel gesagt, 
wenn ich die geistige Tätigkeit mit der Inkretion in Zusammenhang stelle (Tafel VII). Das 
Denken und Handeln, die Phantasie wie auch die Energie setzen also höchstwahr- 
scheinlich eine gewisse Menge gesunder Inkrete voraus. Ist diese Annahme nun 
richtig — und ich berufe mich hauptsächlich auf die Klinik — so wird es leicht 
verständlich, daß es auch ein gewisses inkretorisches, vielleicht zum großen Teile 
angeborenes Optimum geben muß. Durch das weitere Studium der psychischen 
Schwächlinge, aber auch durch die Untersuchung des Inkretsystems der psychisch 
abnorm kräftigen und genialen Menschen kann diese Frage vielleicht erläutert 
werden. Endlich muß an die gegenseitige Relation zwischen dem vegetativen Nerven- 
systeme und dem Inkretsysteme erinnert werden. Daß die Erregbarkeit dieses 
Systemes durch in dem Organismus selbst entstandene Pharmaka, die Inkrete, 
reguliert wird, steht fest. Über die nähere Mechanik dieser Erregung aber sind die 
Meinungen verschieden. Erfolgreichere Arbeit auf diesem Gebiete setzt vor allem 
bessere Kenntnis über die Chemie der Inkrete voraus. Kendalls Entdeckung des 
Thyrotoxins ist rücksichtlich dieser Frage von der höchsten Bedeutung. 

Oft wurde das Wort Reife genannt. Wir sind daran gewöhnt, bei diesem Worte 
gern an die Geschlechtsdrüsen zu denken. Der Zusammenhang der sexuellen Reife 
mit dem Inkretsystem liegt aber doch nicht ganz klar. Ich erinnere nur an die 
interessanten Fälle von Frühreife bei Tumoren in der Nebenniere und in der Zirbel- 
drüse. Und fortwährend wird wie gesagt darüber gestritten, welche Zellen (die 
epithelialen oder die interstitiellen) inkretorisch funktionieren. Die Bedeutung der Keim- 
drüsen für den Organismus ist doch vielleicht etwas unterschätzt worden. Das Studium 
der Eunuchen (Kastraten) bzw. der vielen bekannten Fälle von sexueller Frühreife 
sowie die vielen Experimente haben zwar Licht auf diese Frage geworfen; die 
Deutung der Tatsachen bleibt doch immer schwierig. Unter dem Bilde der Dys- 
trophia adiposogenitalis kommen Entwicklungsstörungen vor mit verschiedener Genese. 
Veränderungen der Hypophyse oder solche in der hypophysären Gegend z.B. er- 
zeugen dieses Krankheitsbild. Ich erinnere weiter an die bekannten Ausfallserscheinun- 
gen bei den hypophysären Schußverletzungen. Die Deutung der Tatsache wird 
unter anderm dadurch erschwert, daß man immer mit der Wirkung eines Systems, 
nicht nur eines Organs rechnen muß. Öfter als man es versteht, werden inkretorische 
Störungen viel zu einseitig beurteilt. Zwischen den Inkretorganen gibt es einen 
innigen funktionellen Zusammenhang, welcher auch antagonistisch sein kann. Die 
Inkretorgane sind voneinander abhängig. Das eine Organ kann das andere an- 
spornen (hormonale Wirkung); eine gegenseitige Hemmung kann aber auch vor- 
kommen. Bei dem Ausfalle des einen Organes kann ein anderes kompensatorisch 
eintreten. Bei den paarigen Organen genügt zuweilen die Hypertrophie des anderen. 
Bei der thyreogenen Hemmung wurde oft eine vergrößerte und funktionell wahr- 
scheinlich gesteigerte Hypophyse gefunden. 

(Bei dieser Gelegenheit müssen wir uns erinnern, daß eine Organvergrößerung an 
sich nicht unbedingt ein Zeichen der Hyperfunktion sein muß. Eine Struma der Schild- 
drüse ist im Gegenteil oft ein Zeichen der Minderwertigkeit (Tafel X). Zufuhr von Schild- 
drüsenextrakt bringt sogar eine Abschwellung der Struma mit sich. In solchen Fällen fasse 
ich die Organvergrößerung als ein Zeichen einer funktionellen Anstrengung auf. Bei 
der Minderwertigkeit des Organes SR es also eine Möglichkeit der Selbstregulation.) 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 25 


386 Arnold Josefson. 


Aus organotherapeutischen Erfolgen können wir auch auf: ein gegenseitiges 
Verhältnis zwischen den Inkretorganen schließen. Bei der Amenorrhöe z.B. kann die 
Pituitrinbehandlung menstruationsfördernd wirken. In schweren Fällen von Hypo- 
thyreose mit langjähriger Sterilität der Frau kann nach Schilddrüsenzufuhr Fertilität 
eintreten. 

Zwar kann in einigen Fällen auf die Funktionsart gewisser Inkretorgane in- 
direkt geschlossen werden; es fehlt uns aber noch die Möglichkeit, die Blutdrüsen- 
formel, den Index incretorius, genau abzulesen. Die Reaktion Abderhaldens ver- 
sprach mehr, als sie halten konnte. 

Durch die Organotherapie, deren Umfang rasch zunimmt und deren Geschichte 
auf die ältesten Zeiten zurückgeht, wenn sie auch erst durch Brown-Sequards 
Mitteilungen 1889 wissenschaftlich begründet wurde, kann der inkretorische Zustand 
wie bekannt stark beeinflußt werden. Wieder stehen wir vor Verjüngungsversuchen 
durch Eingriffe auf die Keimdrüse!. Bei Tieren konnten Steinach und Sand tat- 
sächlich einen artefiziellen Geschlechtswechsel ausführen und von verschiedenen 
Forschern wird über gelungene Testistransplantationen bei Homosexuellen mit einer 
Umstimmung des Gefühlslebens berichtet (Tafel XV, Fig. 2 zeigt den schönen Erfolg 
einer Testisimplantation bei einem kastrierten Manne). Der Weg scheint kurz zu der 
Eugenik, zu Eingriffen in die Inkretion mit rassenbiologischem Ziele. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der ganze Organismus vom Anfange des 
Lebens bis zum Tode von dem Inkretsystem intim abhängt. Die individuelle Ent- 
wicklung, die Persönlichkeit, ist in der individuellen Natur dieses Systemes fundiert. 
Die Inkrete sind gewissermaßen als Träger der sog. Konstitution bezeichnet worden. 
„Alle Konstitution ist geworden unter dem wesentlichen Einfluß des endokrinen 
Systemes“ (Hart)... In der Klinik finden wir außerdem Stütze für die Auffassung, 
daß die sog. Disposition, d.h. die Krankheitsbereitschaft mit dem inkretorischen 
Zustande in Zusammenhang steht. Inkretorisch gesund zu sein, ist also unschätzbar. 
Wo die Grenze zwischen dem Kranken und dem Gesunden aber geht, ist unmög- 
lich zu sagen. Von höchstem Wert wäre es, wie schon gesagt wurde, den Index 
incretorius bei jeder Person kennen zu lernen. Teilweise ist dies möglich. Durch 
die klinische Untersuchung, durch anthropologische Methoden nebst Röntgendurch- 
leuchtungen? bekommt man einen gewissen Begriff von der Wachstumintensität. 
Sichere Belastungsproben der Inkretorgane besitzen wir aber noch nicht. Die Toleranz 
gegen Schilddrüsenzufuhr wechselt zwar (und so auch öfters die bisher gebrauchten, 
nicht standardisierten Organpräparate). Nach meiner Meinung scheint die Abwesen- 
heit von Nebenerscheinungen bei dem fortdauernden Gebrauche von großen Dosen 
Schilddrüsenextrakt als ein Zeichen von Hypothyroidie angenommen werden zu. 
können. 

Versuche, den individuellen Index incretorius pharmakodynamisch abzulesen, sind 
gemacht worden. Sie müssen aber als sehr unsichere bezeichnet werden. Aus der Prüfung 
der Haut für verschiedene inkretorische Substanzen durch cutane Proben? kann bis- 
her nur der Schluß gezogen werden, daß der Organismus individuell cutan ver- 
schiedenartig reagiert. Methoden, die Inkrete in den Körperflüssigkeiten (quantitativ 
wie qualitativ) zu bestimmen, gibt es keine. Die meisten Inkrete sind ja übrigens 
chemisch unbekannt. 

! Die klassischen Versuche Brown-Sequards ergaben ja eine Verjüngung nach Hoden- 
extraktinjektionen. 

2 Als ein Zeichen der inkretorischen Hemmung, ein stigma endocrine, habe ich das Vorkommen 


der Pseudoepiphysen (Tafel XIV) bezeichnet. 
3 Josefson, Dermatologische Wochenschrift 1915. 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 387 


Jede Beurteilung der inkretorischen Funktion wird also, ohne daß wir den 
durchschnittlichen Index kennen, mehr weniger subjektiv. 

Das Bedürfnis des Organismus an normalen Inkreten bei pathologischen Zu- 
ständen wechselt natürlicherweise. Es ist auch bekannt, daß ein inkretorisch ge- 
schwächter auf andere Weise auf schädliche Einflüsse reagiert als ein vollständig 
gesunder Mensch. Diese Verschiedenheit der Disposition, streng persönlich wie sie 
ist, wird wenigstens teilweise mit dem funktionellen Zustande des Inkretsystems in 
Zusammenhang gestellt. 


Zuletzt eine Frage. Kann die Entwicklung des Inkretsystems und der Index 
incretorius künstlich beeinflußt werden? Gibt es vielleicht eine Prophylaxe gegen 
inkretorische Störungen und kann durch diese vielleicht die Persönlichkeit frühzeitig 
günstig beeinflußt werden? ‚Die Antwort ergibt sich aus dem schon Gesagten. Durch 
das Fernhalten schädlicher Einflüsse und durch organotherapeutische Eingriffe kann 
manches vorgebeugt und geheilt werden. 

Sowohl endogen wie exogen kann das Inkretsystem frühzeitig geschädigt werden. 
Es heißt also zuerst, diese Schädlichkeiten soweit wie möglich zu entfernen. 

Die Bedeutung der Quantität wie auch der Qualität der Nahrung für die 
Inkretion besonders während der Entwicklungsjahre, aber auch später, wird heute 
allgemein anerkannt und mit den klimatischen Einflüssen muß auch gerechnet 
werden. Es liegen Gründe vor, auch beim Menschen mit einem funktionellen 
Saisonwechsel der Endokrinie zu rechnen. „Der Frühling ist die Zeit der inneren 
Sekretion.“ 

Infektionskrankheiten rufen nicht so selten inkretorische Störungen hervor. 
(Mc Carrison verlegt die Ursache der Basedowschen Krankheit zu dem er- 
krankten Darmkanale.) 

Psychisches Trauma scheint inkretorische Störungen wenigstens auslösen zu 
können. Als Beispiele der Folgezustände der Verletzungen der Inkretorgane führte 
ich schon das Kastratenbild und die Dystrophia adiposogenitalis an. 

Endogen muß mit erblichen Anlagen, Rassendifferenzen, eventuell mit dem 
Einflusse der Konsanguinität der Eltern, mit den Wirkungen der Früh-, resp. 
Zwillingsgeburt und mit der Überjährigkeit der Mutter gerechnet werden. (Diabetes 
kommt oft familiär vor, so auch die Schilddrüsenstörungen. Man könnte geneigt 
sein, an einen ererbten Locus minoris resistentiae zu denken.) 

Wie es schon gesagt worden ist, muß zuletzt die embryonale Entwicklung 
von den mütterlichen Inkreten abhängen und Tatsachen liegen auch vor, welche 
es höchst wahrscheinlich machen, daß Inkrete von der Mutter auf das Kind durch 
die Milch übergehen können. Von verschiedenen Forschern und auch von mir 
wurde es wiederholt betont, wie oft geistige Schwächlinge (Mongoloiden) sowie 
körperliche solche (Blutdrüsenschwächlinge) von überjährigen Müttern oder von 
Frauen, welche durch wiederholte Schwangerschaften geschwächt waren, herstammen. 
Mit der mütterlichen inkretorischen Schwäche scheint ein unabweisbares 
Risiko für die Kindesentwicklung einzutreten. In diesem Zusammenhange 
nenne ich den schädlichen Einfluß hereditärer Krankheiten mit der Syphilis an der 
Spitze. Denn auch zu den Inkretorganen scheint das syphilitische Virus eine gewisse 
Affinität zu haben. Von Interesse ist es auch zu erfahren, daß unter Geschwistern mit 
Lues hereditaria in der Anamnese Veränderungen in verschiedenen Inkretorganen auf- 
treten können und ungleichartige Krankheitsbilder erzeugen können. (Die Rolle einer 
Zufälligkeit muß immer beachtet werden.) Sogar die Effektivität der antiluischen Be- 

25° 


388 Arnold Josefson. 


handlung soll inkretorisch bedingt sein und von einigen Forschern wird Schild- 
drüse gleichzeitig mit dem Quecksilber auch gegeben. 

Auch während des Fötallebens, während welcher Zeit der Embryo auf das 
mütterliche Inkretsystem hingewiesen ist, gibt es sicherlich ein inkretorisches Optimum. 
Die Rolle der Milch als Inkretenträger kann nicht sicher beurteilt werden, verdient 
aber größere Aufmerksamkeit als früher. Ich erinnere an die bekannte Tatsache, 
daß das kongenitale Myxödem in der Regel nicht auftritt, solange das Kind von 
der Mutter gestillt wird. Mutter. und Kuhmilch haben sicherlich, inkretorisch beur- 
teilt, auch verschiedenen Wert. 

Experimentell ist der inkretorische EinfluB auf den Embryo vielleicht am 
schönsten von Guddernatsch und seinen vielen Nachfolgern "gezeigt worden. 
Durch Ernährung der Kaulquappen- und Axolotllarven (Hart u. a.) mit verschieden- 
artigen Inkreten wurden unwidersprochene Einwirkungen auf die Entwicklung und 
auf die Metamorphose demonstriert. (Organexstirpationen bei den Larven sind auch 
vorgenommen und die Ausfallserscheinungen studiert worden.) — Von anderen 
Forschern wurde die Nachkommenschaft inkretorisch geschwächter Tiere mit der- 
jenigen verglichen, welche von Tieren abstammte, die während der Trächtigkeit 
organotherapeutisch oder in anderer Weise behandelt wurden. Die therapeutischen 
Einwirkungen auf die Brut fielen günstig aus. 

Auch beim Menschen sind Versuche gemacht worden Inkrete von der Mutter 
auf den Embryo via utero oder durch die Muttermilch zu übertragen. Gute Erfah- 
rungen über die prophylaktische Jodbehandlung der strumösen Schwangeren in 
den Strumadistrikten mögen in diesem Zusammenhange angeführt werden. 

Seinerzeit schloß ich mich denjenigen Forschern an, welche forderten, daß 
in schilddrüsenschwachen Familien die Mutter während der Schwangerschaft mit 
Schilddrüse behandelt wird. 

Zwar ist es viel zu frühzeitig ein Urteil über den Wert dieser prophylakti- 
schen Behandlung zu fällen. Theoretisch wenigstens scheint es mir höchst wahr- 
scheinlich, daß man in dieser Weise die Kindesentwicklung in guter Zeit günstig 
beeinflussen kann. 

Wie aus meinen Bildern Tafel IV—X und Tafel XII, Fig. 1, hoffentlich zu ersehen 
ist, gibt es eine Menge Entwicklungsstörungen verschiedener Art, welche organo- 
therapeutisch mit schönem Erfolge behandelt werden können. Die geradezu specifische 
Wirkung gewisser Inkrete ist ein schon lange sicherstehendes Ergebnis. 

Das Ziel der modernen prophylaktischen Jodtherapie gegen Struma ist eine 
Ausrottung derselben. Durch eine Strumaprophylaxe während der Kinder- und Wachs- 
tumsjahre kann die Insuffizienz der Schilddrüse vielleicht vorgebeugt und dadurch 
eventuelle Entwicklungsstörungen vermieden werden. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele heilbare Fälle von Störungen der 
Inkretion gar nicht oder zu spät entdeckt werden. Leider möchte ich sagen. Eine 
erfolgreichere Bekämpfung der inkretorischen Störungen setzt bessere Kenntnisse 
bei den Ärzten voraus. Die Rolle der schulärztlichen Institution muß mehr betont 
werden und es muß von den Schulärzten eine besondere Ausbildung in den Ent- 
wicklungsstörungen gefordert werden. (Es scheint mir lächerlich, daß man in ge- 
wissen Schulen die ärztliche Leitung Ärzten anvertraut hat, welche Kinderpraxis 
überhaupt nicht üben). 


Auf Grund des hier Mitgeteilten scheint es berechtigt auszusprechen, daß die 
Persönlichkeit von dem Inkretsysteme intim abhängt. Es gibt ein inkretorisches, 


Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit. 389 


individuelles, noch unbestimmbares Optimum. Je näher diesem Optimum der Orga- 
nismus sich befindet, desto normaler die körperliche und seelische Entwicklung, 
desto kräftiger die Abwehrkräfte gegen innere und äußere Schädlichkeiten. 

Das Inkretsystem bestimmt zum großen Teile die Persönlichkeit, und inkre- 
torische Störungen sind besonders während der Entwicklungsjahre von der größten 
Bedeutung und Gefahr. (Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß funktionelle 
Steigerung einzelner Inkretorgane auch entwicklungsbefördernd sein kann.) Wie 
viel die Inkretion für die Persönlichkeit aber — bei dem Vergleiche mit anderen 
Faktoren — bedeutet, ist unmöglich zu sagen. Der ganze Habitus steht unter dem 
Einflusse der Inkretion. Die Wachstumgeschwindigkeit steht in inniger Beziehung 
zu dem Inkretsysteme. Besonders die Klinik gibt einwandfreie Stütze für die Lehre 
von der Beziehung der Persönlichkeit zu diesem Systeme. Auf indirektem Wege 
sind wir zur richtigen Auffassung gewisser Fragen von den Funktionswechslungen 
in den inkretorischen Organen gekommen. 

Verschiedene Entwicklungsstörungen, welche dem Individuum eine persönliche 
Eigenart geben, können erfolgreich behandelt werden. Die körperliche wie die 
seelische Reife ist von dem Zustande des Inkretsystems abhängig und kann organo- 
therapeutisch zuweilen merkbar beeinflußt werden. Je früher die inkretorischen 
Störungen entdeckt werden, um so viel besser. Mit größter Wahrscheinlichkeit 
kann sogar die embryonale Entwicklung via der Mutter beeinflußt 
werden. 

Auf die kindliche Entwicklung muß fortwährend acht gegeben werden und 
Abweichungen von dem Normalen besser als bis jetzt beobachtet werden. Die 
Rolle der Hausärzte ist in dieser Hinsicht größer, als man es heute anerkennt. 

Wenn in der Zukunft die inkretorische Formel genau bestimmt werden kann, 
werden wir auch bessere Auskünfte über die Art der Persönlichkeit gewinnen. Das 
weitere Studium der Inkretion gehört zu den allerwichtigsten medizinischen Auf- 
gaben, die es gibt. 





Cyclothymie. 
Von Friedrich Mauz, Tübingen. 
Mit 4 Abbildungen im Text. 


L Die Cyclothymie, eine Unterform des manisch-depressiven Irreseins. 


Der manisch-depressive Formenkreis hat seit seiner ersten Aufstellung durch 
Kräpelin mancherlei Umwandlung erfahren, in erster Linie Erweiterungen nach 
den verschiedensten Richtungen. Eine Fortbildung des manisch-depressiven Irre- 
seins nach der Seite des Psychopathischen und Normalen bedeutete die Heraus- 
hebung der Cyclothymie. Wilmanns, der dieses Krankheitsbild unter Anlehnung 
an Kahlbaum und Hecker ausführlich darstellte, will darunter die leichtesten 
Formen manisch-depressiver Temperamentsverstimmungen verstanden wissen, deren 
Kurve sich im allgemeinen nur in seichten Wellenschlägen von der Normallinie 
entfernt, ohne für gewöhnlich die Höhe der Geisteskrankheit zu erreichen. Die Ab- 
grenzung dieser im allgemeinen leicht verlaufenden Verstimmungszustände von 
den eigentlich manisch-depressiven Psychosen entsprach einem praktischen Be- 
dürfnis. Die Schwierigkeit der Umgrenzung lag von Anfang an weniger nach der 
Seite des Circulären als nach der Seite des Psychopathischen und Nervösen. Die 
meisten Stimmungsanomalien zeigten Neigung zu periodischem Auftreten und 
schienen so einen gewissen Anspruch auf Einreihung in den erweiterten manisch- 
depressiven Formenkreis zu haben. Als Specht dann Krankheitsbilder. wie Paranoia 
und Querulantenwahn in das manisch-depressive Irresein einzureihen versuchte, 
verzichtete man auch auf die Periodizität als typisches manisch-depressives Merkmal, 
wie man schon vorher die Forderung der Heilbarkeit aufgegeben hatte. So schien 
allmählich die Cyclothymie in der großen Gruppe des Entartungsirreseins aufzu- 
gehen, d. h. ihre Abgrenzung war mehr oder weniger der Willkür des einzelnen 
überlassen. Homburger weist mit Recht darauf hin, daß die Diagnose der Cyclo- 
thymie teils eine Bequemlichkeitsdiagnose, teils eine Frage der Sympathie oder 
Antipathie wurde: „Die Cyclothymie ist eine sympathische Erkrankung. Sympathische 
Hysterische und Psychopathen werden gerne als Cyclothyme abgestempelt; der auf 
manisch-depressive Symptome nicht näher betrachtete nörgelnde, lästig fallende 
Mischzustand wird ebenso gern der Hysterie zugewiesen.“ 

Französische Autoren sprachen sich dann eindeutig dahin aus, daß der 
. Cyclothymiebegriff eine Zusammenfassung aller mit Stimmungsschwankungen über- 
haupt einhergehenden Veranlagungen sei. Klinische Sammelbegriffe, wie Neu- 
rasthenie, Psychopathie, Hysterie, konstitutionelle Verstimmung, selbst Epilepsie, 
schillertten allmählich bunt ineinander. Die häufige Durchmischung und Über- 
lagerung cyclothymer Verstimmungen mit körperlichen Beschwerden, auf die 
Wilmanns, Römheld u. a. besonders hingewiesen haben, brachte eine Reihe 
Autoren zu der Ansicht, daß sehr viele Cyclothymien eigentlich als Neurosen zu 
werten seien. Friedmann u. a. sprechen von Übergängen zwischen Neurose und 


Cyclothymie. 391 


Psychose!. Auch nach der Seite des Paranoids bestehen zweifellos Übergänge. Gaupp 
hat in seiner Darstellung der abortiven Paranoia auf eigenartiger depressiv-paranoischer 
Veranlagung Fälle geschildert, die das Randgebiet des Charakterologischen und Psycho- 
tischen, die fließenden Übergänge vom Depressiven zum Paranoid und zur Zwangs- 
neurose eindrucksvoll beleuchten. Damit war von neuem eindringlich auf die Bedeutung 
der Veranlagung für das Verständnis des krankhaften Seelenlebens hingewiesen. 

Angeregt durch Gaupp versuchte dann Reiß in einer gründlichen Studie 
die verschiedenartigen, dem Entartungsirresein angehörigen Depressionszustände 
und die circulären Psychosen nach der individuellen charakterologischen Veranla- 
gung und deren Beziehung zu Verlauf und Eigenart in einzelne Gruppen zu 
sondern. Reiß schildert eine lange Kette von Krankheitsbildern, von den einfachen 
reaktiven Verstimmungen bis zu den echten circulären Psychosen. Nach allen Seiten 
muß er Beziehungen und fließende Übergänge feststellen, nach der Seite des 
Geisteskranken ebenso wie nach der hysterischen und psychopathischen Veranlagung 
hin. Gerade bei der Gruppe der konstitutionellen Verstimmungen konnte Reiß 
eingehend zeigen, wie diese auf der einen Seite zu den hysterischen Psychosen, 
auf der anderen zu den endogenen periodischen Verstimmungen und weiterhin zu 
den echten circulären Psychosen eine kontinuierliche Reihe bilden. Die Einteilung 
und Umgrenzung der verschiedenen Temperamentsverstimmungen war so immer 
mit mancherlei Schwierigkeiten verknüpft; vor allem hatte man in manchen Fällen 
keine Möglichkeit, über ihre Zugehörigkeit zum circulären oder schizophrenen 
Formkreis etwas Sicheres auszusagen. 


IL Der cyclothyme Konstitutionskreis. 


Wir haben im ersten Abschnitt zu zeigen versucht, wie die Cyclothymie aus 
dem Bedürfnis entstanden ist, die Abortivformen manisch-depressiver Psychosen, 
wie sie in den leichten Temperamentsverstimmungen zutage treten, und ihre zahl- 
reichen Varianten bis in die psychopathischen Persönlichkeiten hinein von den aus- 
gesprochen circulären Psychosen abzutrennen. Je mehr die Literatur über dieses 
anfangs einigermaßen wohl umschriebene Krankheitsbild anwuchs, desto größer 
wurden die Schwierigkeiten, die Grenzen des circulären Formenkreises klar aufzu- 
zeigen. Symptome wie Periodizität oder depressive Verstimmung genügten, um die 
Zugehörigkeit zu dem immer größer werdenden circulären Formenkreis zu erweisen 
und als wenn auch noch so seichte Variante einer manisch-depressiven Psychose 
zu gelten. Wir hatten eine Schilderung: der manischen und depressiven Verstim- 
mung, aber wir hatten keine Grundlagen für die Zeichnung der Persönlichkeits- 
typen des circulären Gesamtgebiets. Es fehlte die umfassende Idee für all die Spiel- 
arten einer manisch-depressiven Persönlichkeit, es fehlte vor allem nach Kretsch- 
mers eigenen Worten „das breite charakterologische Verbindungsstück zwischen 
dem, was man hypomanisches, und dem, was man konstitutionell depressives Tempera- 
ment nennt; die Schilderung der Menschen in der Stimmungslage zwischen hypo- 
manisch und depressiv, soweit sie zum circulären Formenkreis in Beziehung stehen, 
und damit die Heraushebung der dem Hypomanischen und dem Depressiven, somit 
dem ganzen circulären Formenkreis gemeinsamen Temperamentszüge“. 

Diese Zusammenfassung und zugleich Herausstellung des einzelnen Krank- 
haften in den großen Kreis allverbreiteter biologischer Konstitutionsgruppen hat uns 
Kretschmer in seinem bekannten Buch „Körperbau und Charakter“ gegeben. 


1 Diese atypischen Fälle führten zur Aufstellung der „neurasthenischen Melancholie“ Friedmanns 
und der „Hysteromelancholie« Spechts. 


392 Friedrich Mauz. 


Kretschmer ging den umgekehrten Weg; er schuf den schizothymen und 
cyclothymen Konstitutionskreis, in dem die jeweilige Psychose nur „als Karikatur 
bestimmter normaler Persönlichkeitstypen“ erschien. Wir fragen uns, auf welchem 
Wege Kretschmer zur Aufstellung dieser beiden Konstitutionskreise kam. Kretsch- 
mer verschaffte sich auf dem Wege der Statistik einen Überblick über die häufig- 
sten und immer wiederkehrenden Temperamentsmerkmale manisch-depressiver 
Patienten. Aus ihrer Zusammenstellung entstanden: 


die cyclothymen Temperamente. 


Der Ausdruck „cyclothym“ ist hier nicht wie im bisherigen Sprachgebrauch 
als Bezeichnung für die leichteren Grade einer circulären Psychose aufzufassen, 
sondern als allgemeiner Konstitutionsbegriff, der die den circulären Psychosen ent- 
sprechenden Menschen, u. zw. kranke und gesunde gleichermaßen umfaßt. Die Über- 
gangsformen zwischen krank und gesund sind dann die cycloiden. Für sie gilt die 
diathetische oder Stimmungsproportion. Kretschmer bezeichnet damit die ver- 
schiedenen Mischungsverhältnisse hypomanischer und depressiver Komponenten, 
wie sie in der cyclothymen Einzelpersönlichkeit vorkommen. Der Hypomanische 
kann auch einmal traurig sein und umgekehrt ebenso. Trotzdem werden wir, der 
fließenden Übergänge uns bewußt, drei Gruppen unterscheiden können, u. zw.: 

1. die hypomanischen Temperamente; 

2. die syntonen! Temperamente; 

3. die schwerblütigen Temperamente. 

Als die Grundmerkmale aller 3 Gruppen haben wir bestimmte Eigenschaften, 
die den Heiteren und ebenso den Schwerblütigen gleichermaßen auszeichnen. Diese 
Menschen sind vorwiegend gesellig, gutherzig, freundlich, gemütlich. 

Was nun die rein hypomanischen Temperamente anbelangt, so hat ja Kretsch- 
mer bereits durch seine diathetische Proportion angedeutet, daß sie alle einen Schuß 
Schwerblütigkeit in sich haben. Im übrigen sind sie die lebensfrischen naiven 
Egoisten, haben eine natürliche wohltuende Freude an allen „guten Gaben“ des Lebens, 
wie Essen und Trinken, sie sind die geborenen Lebensgenießer. Die Arbeit geht 
ihnen flott und sicher; von sich selbst sind sie überzeugt, sie sind von einer er- 
staunlichen Vielseitigkeit. Diese hypomanischen Temperamente haben nun fließende 
Übergänge vom flotten bis zum stillvergnügten warmen sonnigen Typ. 

Auch bei den Schwerblütigen fühlen wir das Gutherzige, Freundliche und 
Gemütliche immer wieder durchschimmern. Sie sind traurig, aber meist nicht nervös 
verstimmt, sie sind weich und aussprachebedürftig, die Tränen kommen ihnen leicht. 
Freud und Leid müssen sie langsam verarbeiten,‘ alles geht tief. Hierher gehören 
auch die schwerfälligen, etwas ängstlichen Naturen, sie haben von sich aus wenig 
Verkehr, leben meistens beschaulich in der Stille. Sie gelten leicht als schizoid. 
Kommt man mit ihnen zusammen, so ist man erstaunt, wie natürlich und umgäng- 
lich sie sind und mit welch humorvoller und sorgender Liebe sie ihren Mitmenschen 
gegenüberstehen. 

Von den Menschen der Stimmungsmittellage, für die wir Bleulers Ausdruck 
„synton“ gebrauchen möchten, sagt Kretschmer, daß gerade bei ihnen das Ge- 
sellige, Menschenfreundliche, Realistische und Anpassungsfähige besonders schön 


ı Bleuler möchte die Bezeichnung „Syntonie“« überhaupt an die Stelle des Ausdrucks „Cyclo- 
thymie“ setzen. Wir schlagen in Übereinstimmung mit Kretschmer vor, diese Bezeichnung speziell 
für die Stimmungsmittellagen zu wählen, wofür sie ausgezeichnet paßt. Für den ganzen Konstitu- 
tionskreis möchten wir die Bezeichnung cyclothym beibehalten, um schon durch die Wahl des Wortes die 
biologische Zusammengehörigkeit des Gesunden und des entsprechend Krankhaften klar aufzuzeigen. 


Cyclothymie. 393 


zu sehen ist. „Weil ihr Temperament mit dem Milieu mitschwingt, gibt es für sie 
keinen schroffen Gegensatz zwischen Ich und Umwelt, kein prinzipielles Ablehnen, 
kein starres Korrigierenwollen nach festgefaßten Richtlinien, keinen tragisch zu- 
gespitzten Konflikt, sondern ein Leben in den Dingen, ein Aufgehen in den Dingen, 
ein Mitleben, ein Mitfühlen, Mitleiden.“ Ich benütze hier die wörtliche Schilderung 
Kretschmers, weil sie in unnachahmlicher Weise eine Idealzeichnung der Syntonie 
Bleulers gibt. Wir brauchen nur kurz noch einige Typen zu nennen, um den 
Kreis der cyclothymen Temperamente schließen zu können. Da sind die geschwätzig 
Heiteren, die ruhigen Humoristen, die stillen Gemütsmenschen, die bequemen Ge- 
‚nießer, die tatkräftigen Praktiker. Das sind die Menschen des täglichen Lebens, die 
in ihrer Temperamentsanlage und, wie wir gleich sehen werden, auch im Körper- 
bau mit den manisch-depressiven Kranken vorwiegend übereinstimmen. 

Der cyclothyme Konstitutionskreis ist durch die Schilderung der cyclothymen 
Temperamente keineswegs erschöpft. Kretschmer fand, daß zwischen der seelischen 
Anlage manisch-depressiver Kranker und einem bestimmten Körperbautypus, den er 
den pyknischen nennt, eine deutliche biologische Affinität besteht. 


Die cyclothyme Körperkonstitution. 


Seit dem Erscheinen der ersten Auflage von Kretschmers „Körperbau und 
Charakter“ sind eine Reihe von Nachuntersuchungen zum Körperbauproblem durch- 
geführt worden, deren Prozentzahlen nachfolgende Tabelle zeigt. 





Tabelle I. 
Be del g |82] 25E | gls] 5 |, 8 
APR: SIDEC EN EE E 
Se Bon See GE vie 18 BS) "e SS Sei BEI akj 05” 
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x arlo Js | ZE |s 2122| a 
Schizophrene 

asthenisch-athletisch | 70:3 . 6T% | 64:8 | 59:3 |86 |542] 66 745| 747| 723 
dysplastisch . . . | 19:4 | 20:5 93 | 72|108|11 |125 64| 82| 155 

nur Sa 
pyknisch .. . . - 2'9 en | 232 232|229| 2 |149| 4| 4S] 184| 109| 68 

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E ES 

Circuläre ar E 
asthenisch-athletisch | 10°6 Sec 166 15:2 |301| 83| 12 258 12:1 
dysplastisch ..] 0 Tezej 0 0/0710 0 0 
pyknisch .... . 847 "sc 833 845 1576[875| 77 142 84:6 


Alle sind sich darüber einig, daß der pyknische Körperbau bei den Circulären, 
die asthenisch-athletische Gruppe bei den Schizophrenen stark vorwiegt. In ihren 
prozentualen Zahlenangaben sind die einzelnen Ergebnisse zum Teil untereinander 
etwas verschieden, Abweichungen, die sich großenteils durch die verschwimmenden 
Übergänge unserer klinischen Diagnosen erklären lassen. 

Der pyknische Körperbau ist gekennzeichnet durch die starke Umfangsent- 
wicklung der Eingeweidehöhlen (Kopf, Brust, Bauch) und die Neigung zum Fett- 
ansatz am Stamm, bei mehr graziler Ausbildung des Bewegungsapparates (Schulter- 
gürtel und Extremitäten). Bleiben wir bei unserer Betrachtung zunächst beim Rumpf, 


394 Friedrich Mauz. 


so ist hier die Brustschulterproportion das am meisten Charakteristische, abgesehen 
von der Art des Fettansatzes: das Verhältnis von der mäßigen Schulterbreite zu 
dem großen Brustumfang wie 200: 048 springt sofort in die Augen; beim athleti- 
schen Typ dagegen ordnet sich der mächtig beherrschenden Schulterbreite der 
Brustumfang unter (39°9:91'7).. Der Fettansatz der Pykniker hält sich in mäßigen 
Grenzen, er tritt hauptsächlich am Stamm auf, bei den Männern vorwiegend als 
kompakter Fettbauch. Die Fettsucht des Pyknikers muß scharf unterschieden werden 
von der gewisser dysplastischer und dysglandulärer Typen, die in keiner Weise 
etwas mit der pyknischen Körperkonstitution zu tun haben. Es ist überhaupt gänz- 
DS = a = zen = 
nischen Habitus aus der Stärke 

ch Fettablagerungen stellen zu 
: wollen. Auch ohne das Vorhan- 
densein eines stärkeren Fettan- 
satzes ist die Diagnose des pykni- 
schen Habitus erlaubt. Die Glied- 
maßen sind weich, rundlich, mit 
wenig Muskel- und Knochenrelief 
geformt, öfters ganz zierlich, die 
Hände weich, mehr kurz und breit. 
Das pyknische Gesicht hat 

die Tendenz ins Breite, Weiche, 
Abgerundete. Die Gesichter älte- 
rer Pykniker zeigen eine schöne, 

‚ ausdrucksvolle - Modellierung. 
Über dem geröteten Gesicht der 
große, runde Schädel, breit und 
tief, aber nicht sehr hoch. Ein 
Doppelkinn und reichlicher Fett- 













ITS 










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DIREREZREDEEE 


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Kopfarbeiter Handarbeiter „ 
Kopfumfangskurven. 


ansatz an den unteren Wangen- 
partien vervollständigen das Bild. 
Das Mittelgesicht zeigt in seinem 


Verhältnis zu Stirn, Nase und Kinn 
eine harmonische Höhe und erzielt dadurch den Eindruck des Ebenmäßigen. Der 
Frontalumriß der pyknischen Gesichter variiert von der flachen Fünfeckform bis 
zur ausgesprochenen breiten Schildform, die von den massiven, etwas plumpen Breit- 
gesichtern der athletischen Typen scharf zu trennen ist. 

Es ist mir schon von mancher Seite gesagt worden, die Körperbaudiagnostik 
sei doch eine etwas mühsame und schwierige Sache und müsse ihrer Umständ- 
lichkeit wegen den einzelnen Fachkreisen vorbehalten werden. Eines ist richtig: 
Körperbaudiagnostik muß genau so gelernt und studiert werden wie die neurolo- 
gischen Untersuchungsmethoden; umständlicher und zeitraubender aber als eine 
neurologische Untersuchung ist sie sicher nicht. Mit Rücksicht auf die Bedeutung, 
die die Konstitutionstypen für die Psychiatrie, aber auch für die allgemeine Medizin 
immer mehr gewinnen, würde die Aufnahme der Körperbaumessung in das Inventar 
unserer klinischen Untersuchungsmethoden wohl heute schon von manchen Seiten 
aufs freudigste begrüßt werden. Körperbaudiagnostik im allgemeinen nur nach dem 
optischen Eindruck zu betreiben, ist Stückwerk und hat keinen Anspruch auf wissen- 
schaftliche Gültigkeit. 


Cyclothymie. 36 


Im folgenden gebe ich die von 
Kretschmer! zusammengestellten 
Häufigkeitskurven einiger wichtiger 
Körpermaße wieder, da sie auf ein-. 
fache Weise charakteristische Unter- 
schiede zwischen dem Körperbau der 
Circulären und Schizophrenen dar- 
stellen. 

Fig. 88 (s. p. 394) zeigt uns, 
wie die Kurve der Circulären gegen- 
über der der Schizophrenen sich in 
charakteristischer Weise nach rechts, 
d.h. nach den höheren Kopfumfangs- 
werten hin verschiebt. Die Eintei- 
lung der Kurve in 3 Abschnitte, 
die die kleinen (unter 55 cm), mitt- 
leren (zwischen 55 und 56 cm) und 
großen (über 56 cm) Kopfumfänge 
von einander trennt, ergibt das Ver- 
hältnis klein : mittel: groß = 2'9 : 20) 
:710% bei den Circulären, dagegen 
260:397:343% bei den Schizo- 
phrenen. 

Fig. 89, die Brustumfangskurve, 
zeigt wiederum die charakteristische 
Rechtsverschiebung der circulären 
und diesmal auch Linksverschiebung 
der schizophrenen Kurve. Das Ver- 
hältnis enger: weiter Brustumfang ist 
also ganz charakteristisch: bei den 
Circulären ungefähr !/,:3/, dagegen 
bei den Schizophrenen gerade um- 
gekehrt ungefähr ?/,: 1/3. 

Bei Fig. 90, den Kurven der 
Schulterbreiten, sieht man, daß hier 
eine wesentliche Verschiebung nicht 
eintritt. Die Pykniker erheben sich 
eben mit ihren Umfangmaßen, nicht 
aber mit ihrer Schulterbreite stark 
über die Astheniker. 

Fig.91 ist eine Darstellung des 
Pignetschen Konstitutionsindex, 


I Kehrer u. Kretschmer: „Die Ver- 
anlagung zu seelischen Störungen.“ Berlin, 
Springer. Monographien aus dem Gesamt- 
gebiet der Neurologie und Psychiatrie. (Er- 
scheint in diesem Jahre.) 

2 In Fig. 89 u. 91 sind die Jugendlichen 


unter 30 Jahren) schraffiert. Die Älteren (über ` 


Jahre) schwarz. Man sieht, daß die Kon- 
stitutionsunterschiede in beiden Lebensaltern 
je dieselben sind. 


TI SHauna og Tai >sa ELTEIEKTERTLINTERER 





Fig. 89, 
| č engr | weiter 
pi CTC. 
2497 fa 76,3 Ss 





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Fig. 90. 
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Kurven der Schulterbreiten. 


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396 | Friedrich Mauz. 


bei dem die Summe von Brustumfang und Gewicht von der Körpergröße ab- 
gezogen wird. Dadurch entsteht ein ungefähres zahlenmäßiges Bild von der größeren 
oder geringeren Körperfülle einer Person. Auch hier die Rechtsverschiebung der 
Circulären nach den sehr voluminösen Körperformen zu, und die Linksverschiebung 
der Schizophrenen nach den grazilen Körperformen. 

Die Betrachtung der Kurven zeigt, wie wir aus den Hauptmaßen bereits wieder 
das Grundgerüst der Körperbautypen gleichsam synthetisch gewinnen können. 

Neben der Messung ist die exakte diagrammäßige Beschreibung von großer 
Wichtigkeit. Gerade die Schilderung der Körperoberfläche, worunter wir im wesent- 
lichen Haut, Gefäße und Behaarung 
verstehen, ist für die feinere Diffe- 
renzierung der Konstitutionstypen 
unerläßlich. 

Die cyclothyme Konstitution 
kann nun die verschiedenartigsten 
Überkreuzungen und Legierungen 
mit heterogenen Konstitutionsfak- 
toren eingehen, die für die klinische 
Psychopathologie von größter Be- 
deutung sind. 

Zu den vollkommenen Über- 
kreuzungen rechnen wir die Fälle, 
bei denen ein cyclothymer Charak- 
ter asthenischen oder athletischen 
oder ein schizoider pyknischen Habi- 
tus aufweist. Beide Konstitutions- 
formeln treffen wir unter unserem 
Psychosenmaterial dann und wann, 
wobei dann die jeweilige Psychose 
durch die zu grunde liegende Konsti- 
tution im Symptombild und Ver- ` 
lauf ihr ganz bestimmtes Gepräge 
erhält. Auch unter den Gesunden 
sind diese vollkommenen Über- 
kreuzungen leicht zu finden. Neben den nicht gerade häufig vorkommenden Über- 
kreuzungen haben wir die große Zahl der körperbaulichen und charakterologischen 
Mischformen, deren biologisches und klinisches Studium man sich in letzter Zeit hat 
besonders angelegen sein lassen. Aus einer großen Zahl von mehreren 100 Körperbau- 
diagrammen habe ich mühelos und ohne Zwang vom pyknischen bis zum astheni- 
schen Typ mehrere Gruppen herausstellen können, deren Abgrenzung trotz der 
fließenden Übergänge leicht und zweckmäßig ist. Denn eine feinere konstitutionelle 
Differenzierung ist gerade für exakte klinische Untersuchungen unerläßlich. Wir 
unterscheiden folgende Gruppen: der reine pyknische Typ, die pyknischen Misch- 
formen, die pyknisch-athletische und pyknisch-asthenische Mischgruppe, die astheni- 
schen Mischformen und die reine asthenische, athletische und dysplastische Gruppe. 

Die pyknischen und asthenischen Mischformen sind die vorwiegend pykni- 
schen oder vorwiegend asthenischen. Sie sind bei einiger Schulung leicht zu dia- 
gnostizieren. Wir kennen bestimmte Prädilektionsstellen für das Auftreten von 
heterogenen Konstitutionseinschlägen. So vor allem Behaarung (in erster Linie Art 


Fig. 91. 


EE 





f 


Pignetscher Konstitutionsindex. 


Cyclothymie. 397. 


und Weise des Haaransatzes am Schädel), Vasomotorium und Länge und Form von 
Hand und Nase. Unter den pyknischen Mischformen kehren folgende Formen immer 
wieder: ein breites, weiches, rundes Gesicht, blühend rot, stattliche Körperfülle, der 
Gesamteindruck also vorwiegend pyknisch, nur das buschige und an Stirn und 
Schläfe tief hereinwachsende Haupthaar ist uns ein feiner Index für heterogene 
Konstitutionseinschläge. Bei einem anderen Pykniker die schmale, feingliedrige und 
stark cyanotische Hand, die fahle, blasse Gesichtsfarbe mit unreiner, derber Haut 
oder die langgezogene, dünne spitze Nase. Oder über einem schönen pyknischen 
Gesicht wölbt sich ein leichter Blasen- oder Turmschädel. 

In der Mittelgruppe finden wir die Formen, bei denen z. B. der Kopf ganz 
vorwiegend pyknisch, der Rumpf vorwiegend asthenisch oder athletisch erscheint. 
Die Legierung pyknisch-athletisch ist prozentual häufiger als die pyknisch-asthenische. 

Bei den asthenischen Mischformen sehen wir die pyknische Komponente öfters nur 
noch durch das Vasomotorium vertreten. Es sind vorwiegend Astheniker und Athletiker, 
aber sie haben die schöngerötete Gesichtsfarbe vielleicht mit einer stark in die Länge 
gezogenen Fünfeckform des Gesichts und einer breiten, weichen, runden Hand. 
Im großen cyclothymen Konstitutionskreis können wir nun alle Typen vom 
pyknischen, der prozentual stark überwiegt, bis zum asthenischen Habitus aufweisen. 
Sehr bemerkenswert ist, daß sich im reinen manisch-depressiven Formenkreis 
so gut wie keine ausgesprochen dysplastischen oder eunuchoiden Typen 
finden. 

Il. Untergruppen und Randgebiet!. 


Die Heraushebung und Zeichnung der cyclothymen Temperamente und ihrer 
affinen Körperkonstitution gibt uns neue Möglichkeiten einer sinnvollen und unge- 
zwungenen Gruppierung und Umgrenzung der „Cyclothymie«. Die Cyclothymen 
und die Cycloiden, d. h. die zwischen krank und gesund fluktuierenden Persön- 
lichkeiten, spiegeln die psychologischen Grundsymptome der circulären Psychose 
in dem leichteren Grade einer Persönlichkeitsspielart wieder. Die Gesamtheit aller 
rein cyclothymen Temperamente liegt zwischen dem hypomanischen und dem 
schwerblütigen Typus; die Mittellagen, die zwischen beiden Polen liegen, sind 
gegenüber diesen Typen selbst wohl in der Mehrzahl. In der cyclothymen Kon- 
stitution haben wir also den reinen Kern der Temperamentsverstimmungen, die 
zum circulären Formkreis nähere Beziehungen haben. Der cyclothymen steht die 
schizothyme Konstitutionsform gegenüber, die im asthenischen, athletischen und 
dysplastischen Habitus ihre affinen Körperkonstitutionen hat. Die Durcharbeitung 
eines großen und vielseitigen Materials mit der kombinierten Methode einer ver- 
gleichenden Betrachtung des somatischen, psychischen und hereditären Konstitu- 
tionsaufbaues, wie sie an der Tübinger Klinik durchgeführt wird, scheint mir auch 
für die Klärung und Reinigung des Cyclothymiebegriffes wertvolle Hinweise zu 
geben. Über die Arbeitsmethode ist bereits das Nötigste gesagt. Eingangs jeder kon- 
stitutionellen Betrachtungsweise muß ausdrücklich betont werden, was Kretschmer 
schon klar gesagt hat: „Körperbau und Psychose stehen nicht in einem direkten 
klinischen Verhältnis zueinander. Der Körperbau ist nicht ein Symptom der Psychose 
sondern: Körperbau und Psychose, Körperfunktion und innere Krankheit, gesunde 
Persönlichkeit und Heredität sind jedes für sich Teilsymptome des zu grunde 


! Die Ausführungen dieses Abschnitts fußen zum Teil auf klinisch-konstitutionellen Unter- 
suchungen, die ich an einem großen und vielseitigen Klinik- und Anstaltsmaterial durchführen 
konnte. Unabhängig von der klinischen Diagnosestellung und ohne Kenntnis derselben wurden die 
Körperbaudiagramme schriftlich festgelegt. Ich werde an anderer Stelle über diese klinisch-konstitu- 
tionellen Untersuchungen ausführlich berichten. 





398 Friedrich Mauz. 


liegenden Konstitutionsaufbaus, zwar untereinander durch affine Beziehungen ver- 
knüpft, aber nur im großen Zusammenhang aller Faktoren richtig zu beurteilen.” 
Das Folgende ist ein Versuch einer konstitutionellen Darstellungsweise der „Cyclo- 
thymie« und ihrer Randgebiete. e 

Unter den mehr heiteren cyclothymen Temperamenten gibt es alle Übergänge 
vom flotten bis zum stillvergnügten Typus. Die gemäßigten Formen, heitere, liebens- 
würdige, sonnige, bewegliche und gesellige Leute, aber sozial vollkommen be- 
sonnen und unauffällig, finden wir häufig im Umkreis circulärer Familien. Be- 
stimmte Berufsarten sind unter den reinen hypomanischen Temperamenten mit Vor- 
liebe vertreten, z. B. Rechtsanwälte, Kaufleute, Journalisten, Direktoren, überhaupt 
Männer des realen Lebens. Sie kommen im allgemeinen nicht in die Behandlung 
des psychiatrischen Facharztes, dagegen sind sie in der Sprechstunde des internen 
Arztes eine bekannte Erscheinung. Otfried Müller spricht von dem „kleinen, 
dicken Hypomanicus, der bei jeder Gelegenheit in rasch aufbrausendem, freilich 
auch rasch wieder verfliegendem Zorn seinen roten Kopf bekommt". Die soziale 
Wertung des Hypomanischen hängt, wie Kretschmer betont, sehr von der kom- 
pensierenden Legierung des hypomanischen Elements: mit den anderen Charakter- 
eigenschaften in der Erbanlage ab; dann natürlich auch von Erziehung und Milieu. 
Schwere soziale Entgleisungen haben wir unter den reinen Hypomanischen nicht 
gefunden; immerhin fallen sie nicht selten der Trunksucht und Verschwendung an- 
heim. Es empfiehlt sich nochmals mit wenigen Strichen das Gesamtkolorit der 
pyknischen Hypomaniker anzudeuten, um desto leichter späterhin die grundlegenden 
Unterschiede der überkreuzten und gemischten Typen zu verstehen. 

Der pyknische Hypomaniker „weiß nicht, was Nerven sind“. Offen, gerade 
sagt er frei heraus, was ihm nicht paßt. Er kann auch einen kräftigen Spaß ver- 
tragen. Empfindlichkeit und Intrige, alles starr Konsequente, Überspannte, Fanati- 
sche sind ihm fremd. „Vielgeschäftig, umtriebig, unternehmend“ kennt er keine ge- 
reizte Übermüdung, natürlich und selbstverständlich nimmt er die Menschen und 
die Verhältnisse, wie sie sind, weiß allem und jedem im Leben die gute und ge- 
mütliche Seite abzugewinnen; die mehr negativen Seiten sind rasch verfliegender 
Jähzorn, Oberflächlichkeit und naive Taktlosigkeit. 

Dem reinen Hypomaniker mit pyknischer Körperkonstitution steht ein anderer aller- 
dings weit seltenerer hypomanischer Typ gegenüber, der bei aller Ähnlichkeit doch ein 
wesentlich anderes Kolorit bietet. Rein äußerlich fallen diese Typen dem guten Beobachter 
durch ihre andersartige Körperkonstitution auf. Es sind nicht die kleinen, dicken und 
runden Typen mit dem roten Kopf und der ausdauernden Beweglichkeit, sondern meist 
lang aufgeschossene, schmale Menschen mit einem hohen, schmalen Kopf, einem 
scharf geschnittenen Gesicht oder auch kleine, zarte, infantile Geschöpfe mit einem 
bartlosen Kindergesicht und allerlei dysgenitalen Stigmen im körperlichen Habitus. 
Neben diesem asthenischen findet sich auch gelegentlich athletischer Habitus. Diese 
asthenischen oder athletischen Hypomaniker, also richtige überkreuzte Typen, sind 
trotz ihres relativ sehr seltenen Vorkommens für den Arzt überaus wichtig, der bei 
diesen Naturen mit der Diagnose einer einfachen Cyclothymie oder Hypomanie 
sehr vorsichtig sein muß. Zwar zeigen sie wie der reine Hypomaniker die un- 
ruhige Beweglichkeit, die gehobene Stimmungslage, die leicht ideenflüchtigen Ge- 
dankenreihen, aber bei feinerer Beobachtung sieht oder fühlt man in dem scheinbar 
rein hypomanischen Bild nun doch eine gewisse Färbung oder Dissonanz, die sich 
nicht in das rein pyknisch-hypomanische Temperament einfügen läßt. Schon der 
Blick solcher Menschen entbehrt das Offene, strahlend Heitere, dagegen ist er 


Cyclothymie. 399 


leicht unruhig, flackernd, verlegen, ausweichend. In der Redeweise fallen Anklänge 
von Maniriertheit auf, im Wesen etwas Gekünsteltes, Überspanntes und Fahriges, 
in der Haltung oft etwas Steifes, Ungemütliches. Wie die meisten Hypomaniker 
haben auch sie ihre depressiven Tage und Wochen. Doch sind sie dann viel 
weniger traurig als nervös, gereizt-verstimmt, mißmutig und launisch. In ihrer 
Anamnese finden wir vielfach Angaben über sexuelle Anomalien, langdauernde 
Pubertätskonflikte oder allgemeine Pubertätsentwicklungshemmungen. Die weitere 
Entwicklung bringt oft Überraschungen. Die scheinbare Cyclothymie oder Hypomanie 
kann in ein chronisches Stadium mit allmählich sich einschleichendem Defekt oder 
aber auch in sichere Schizophrenie übergehen. | | 

Eine andere ebenfalls seltene, aber wichtige Variante vorwiegend hypomani- 
scher Stimmungslage bei asthenischer oder athletischer Körperkonstitution zeigt 
auffallend flegelhafte, stark an die Pubertät erinnernde Züge. Sexuelle Haltlosigkeit 
und Ungeniertheit, taktloses und ungezogenes Benehmen, leicht frivoler und zwei- 
deutiger Humor, Jähzorn und Brutalität, Faulheit und Arroganz sind weitere Züge, 
die das Bild dieser hypomanischen Abart vervollständigen. Diese Typen sind 
kriminell besonders wichtig, scheinen eine Legierung von Schizoid und Hypomanie 
zu sein und berühren sich in vielen Punkten mit einer bestimmten Gruppe hyste- 
rischer Persönlichkeiten. Die Untersuchung der geisteskranken, vorwiegend astheni- 
schen oder athletischen Hypomaniker hat interessante klinische Gesichtspunkte, vor 
allem in prognostischer Richtung, ergeben. Wir haben bereits erwähnt, daß diese 
Typen, wenn sie geisteskrank werden, mit Vorliebe in ein chronisches Stadium mit 
Defekt oder in eigentliche Schizophrenie übergehen, ein Verlauf und Ausgang, den 
ich unter den reinen hypomanischen Pyknikern nie gefunden habe. 

Weitere hypomanische Sondergruppen und Übergangsformen sind die Hypo- 
manien mit Wahnbildung und die querulierenden und krakeelenden Hypomaniker, 
die eine bestimmte Gruppe des Querulantenwahns bilden und Specht seinerzeit 
wohl bestimmten, von einer Querulantenmanie zu reden; auch gewisse Erfinder- 
und Prophetentypen gehören hierher. Die ersteren führen nicht selten die Diagnose 
„chronische Paranoia“, entsprechen wohl auch dem von Kräpelin geschilderten 
Krankheitsbild der Paraphrenia expansiva! mit hypomanischem Untergrund und 
manischer Symptomfärbung. Die konstitutionelle Betrachtung dieser Gruppe gibt 
interessante Aufschlüsse. Konstitutionell sind es stark legierte Formen, körperlich 
vielfach reine Pykniker, pyknische Mischformen oder ausgesprochene Mittelgruppen 
(pyknisch-asthenische, pyknisch-athletische); die Analyse der Heredität ergibt in den 
meisten Fällen schizophrene Belastung, während die im klinischen Bild, Temperament 
und Körperbau so deutlich durchkommenden cylcothymen Komponenten in der 
Heredität meist nicht in Form von belastenden circulären Psychosen, sondern in 
Form von gesunden, pyknisch-cyclothymen Blutsverwandten erscheinen. 

Bei der Umgrenzung der Cyclothymie spielt das Auftreten des paranoiden 
Syndroms immer wieder eine Rolle; es mag daher angebracht sein, auf einige 
Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich aus unserer konstitutionellen Betrachtungsweise 
hinsichtlich des endogenen Paranoids ergeben haben. Die paranoiden Veranlagungen 
und Geistesstörungen stellen konstitutionell gesehen vorwiegend ein Rand- und 





! Die expansive Form der Paraphrenie ist nach Kräpelin durch die Entwicklung eines 
üppigen Größenwahns mit vorwiegend gehobener Stimmung und leichter Erregung gekennzeichnet. 
Von der Schizophrenie unterscheidet sie sich durch die auch nach vieljähriger Dauer trotz Fort- 
bestehens der Krankheitserscheinungen auffallend geringe Schädigung der psychischen Persönlichkeit 
un ee anderm durch die dauernd gehobene Stimmung, das zugängliche, freundliche, natür- 
iche Wesen. 


400 Friedrich Mauz. 


Mischgebiet dar, in das von beiden Seiten der cyclothyme und schizothyme Kon- 
stitutionskreis einstrahlt. Wir können von der pyknischen zur asthenischen Gruppe 
eine kontinuierliche Reihe des Paranoids bilden, auf der einen Seite zugängliche 
und aufgeschlossene Typen, von ihrem Wahn nicht völlig überzeugt und einge- 
nommen, auf der anderen Seite die starren, in sich verbissenen, von ihrem Wahn 
gänzlich absorbierten, autistischen Formen. Hier interessiert uns nur das Randgebiet 
des Paranoids zur Cyclothymie. Wir werden sagen dürfen, daß, wo im Umkreis 
des cyclothymen das paranoide Syndrom in Erscheinung tritt, wir in den meisten 
Fällen in Körperbau und Heredität heterogene Konstitutionseinschläge feststellen 
können. Ein weiterer Gesichtspunkt zur Frage des Paranoids scheint mir noch 
erwähnenswert: In der somato-psychischen Struktur der Konstitutionslegierungen 
finden sich häufig Anzeichen einer anormalen Sexualentwicklung im Sinne einer 
infantilen Triebunsicherheit und Unentwickeltheit, wie wir sie im Rahmen des rein 
Cyclothymen nicht kennen, dagegen um so häufiger und konstanter im schizo- 
thymen Formkreis finden können. Der Hinweis auf diese sexuellen Triebanomalien 
und Pubertätsentwicklungshemmungen der konstitutionellen Mischformen ist deshalb 
so besonders wichtig, weil meistens das allgemeine charakterologische Eindrucks- 
bild, das uns z. B. nicht selten vorwiegend cyclothym erscheint, diese infantile 
Phantasiewelt nicht entfernt ahnen läßt. Der Körperbau gibt uns oft eher einen 
Fingerzeig: wir finden nicht selten eunuchoide Züge (Hochwuchs, mangelnde 
Geschlechtsbehaarung u. dgl.), leichte Feminismen (breites Becken, Fettansatz u. dgl.) 
oder allgemeine dysgenitale Stigmen. 

Wir werden bei unserem Versuch einer Umgrenzung der Cyclothymie noch 
öfters diese Randbeziehung zum Paranoid antreffen. 

Die Diagnose der Mittellagen, der syntonen Temperamente, ist in den aus- 
gesprochenen Fällen leicht. Wir brauchen auf die charakteristischen Züge der Mittel- 
lagen hier nicht nochmals einzugehen. Wir finden diese syntonen Temperamente 
vielleicht mit leicht hypomanischer Tönung häufig in der präpsychotischen Persön- 
lichkeit unserer schönen klassischen circulären Depressionen wieder. Gerade bei diesen 
Syntonen mit leicht manischer Verstimmung treten um die Zeit des Klimakteriums, 
u.zw. bei Männern und Frauen, depressive Verstimmungen leichterer oder schwererer 
Art auf, die öfters zu einem Klinik- oder Sanatoriumsaufenthalt führen. Auch äußere 
Anlässe, wie Verlobung, Hochzeit, berufliches Mißgeschick od. dgl., verursachen bei 
diesen Naturen gerne einmal eine depressive Verstimmung leichterer Art, nicht 
selten kommt eine Verschiebung auf das somatische Gebiet vor in Form von Kopf- 
druck, Schlafstörungen, Verstopfung, schlechtem Geschmack u. dgl. Bei genauerem 
Zusehen wird man jedoch meistens auf die gemütliche Störung aufmerksam werden. 
All diese depressiven Phasen haben das Gemeinsame, daß ihre Prognose unbedingt 
günstig ist, falls nicht eine schwere Arteriosklerose den Verlauf kompliziert. Des 
öfteren kehren diese Typen aus der Depression über eine leichte Hypomanie zu ihrer 
syntonen Grundstimmung zurück. Die Syntonie zeigt nun auch alle Schattierungen, 
die sich aber vorwiegend zwischen dem hypomanischen und depressiven Pol 
bewegen. Aber auch nach der Seite des Schizothymen findet sich ein diagnostisch 
wichtiges Randgebiet. Die Legierungen cyclothymer und schizothymer Komponenten 
finden wir im normalen Seelenleben in den verschiedensten Abstufungen und 
Mischungsverhältnissen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß für diese kom- 
plexen Typen die Neigung zu paranoider Reaktion und wahnbildenden Krankheits- 
formen charakteristisch ist. In günstigen Legierungen bilden cyclothyme und schizo- 
thyme Erbeinschläge besonders hochwertige Charaktere. Viele vorwiegend Cyclothyme 


Cyclothymie. 401 


verdanken gerade ihren schizoiden Erbeinschlägen eine wertvolle Bereicherung ihrer 
Persönlichkeit. Kretschmer hat u. a. auch angeführt, daß der Typus des Lebens- 
künstlers eine Legierung bestimmter cyclothymer und schizothymer Proportionen 
ist, indem sich behaglicher Lebensgenuß mit hyperästhetischem Selbstschutz vor Ver- 
wundung kombinieren. 

Der Übergang von der Syntonie zur Schizoidie ist oft ein unmerklicher. Jeden- 
falls läßt eine wenig differenzierte charakterologische Schilderung öfters kaum eine 
Trennungslinie erkennen. Was hier als Gutmütigkeit, Wohlwollen und freundliches 
Gewährenlassen gegenüber den Nebenmenschen erscheint, ist dort Scheu und Affekt- 
lahmheit, Indolenz. (Beides nennt die oberflächliche Charakterschilderung „gutmütig“.) 
Auf der einen Seite die syntone Harmonie mit ihrer inneren Wärme und ihrer 
gleichmäßigen Liebe zu den Menschen und Dingen, auf der anderen die zufriedene 
autistische Seelenruhe. Dazwischen alle nur möglichen Übergänge. Ein gutes und 
unentbehrliches Hilfsmittel für die feinere Differenzierung ist uns auch hier die 
Beachtung der Körperkonstitution. Ein asthenisch-infantiler oder massiver athleti- 
scher Habitus wird uns hinter dem scheinbar syntonen Charakterbild eine ganz 
andersartige Affektivität vermuten lassen. 

Gerade bei den teilweise oder vollkommen überkreuzten Typen ist uns eine 
der Charakterologie nicht entsprechende Körperkonstitution ein sicherer Index für 
heterogene Konstitutionseinschläge. Wir kennen den „syntonen“ Astheniker oder 
Athletiker mit der schizoiden „seelischen Tiefensensibilität“, jenem „asthenischen 
Stachel“, der ständig die äußere Syntonie zu untergraben und zu durchstoßen sucht. 
Oder die leichten cycloiden Verstimmungen der konstitutionellen Mischformen, wo 
jeweils in der Verstimmung auf dem Boden einer triebschwachen und gehemmten 
Sexualität wahnhafte Eifersucht gegen die Ehefrau erwächst, um mit Abklingen der 
Verstimmung wieder in ihren latenten Zustand eines allgemeinen Insuffizienzgefühles 
zurückzusinken. 

Die depressiven Temperamente bei rein cyclothymer Konstitution haben in 
dem oben geschilderten weichen Schwerblütigen ihren typischen Vertreter. Bei 
genauer Differenzierung findet man unter ihnen verhältnismäßig wenig solche kon- 
stitutionell Verstimmte, bei denen gerade die traurige Stimmungslage dauernd starr 
im Vordergrund steht. Diejenigen Depressiven, die ihrer ganzen Veranlagung nach 
dem cyclothymen Konstitutionskreis zugehören, haben ein schwingungsfähiges Tem- 
perament, ihre Schwingungsebene ist eine ausgeprägte, nämlich zwischen heiter und 
traurig. Sie schwingen auch nach der heiteren Seite, nur nicht so oft und so stark, 
dagegen sehr nachhaltig nach der traurigen. Auch im Depressiven gruppiert sich um 
das Centrum der cyclothymen Gruppe eine Reihe von Varianten. Wir können hier noch 
viel besser als im Bereich des Hypomanischen und Syntonen eine kontinuierliche 
Reihe bilden, die in allmählich abgestuften Mischungsverhältnissen (was Charaktero- 
logie, Körperbau und zugehörige Psychose betrifft) vom ausgesprochen Cycloiden 
bis zum ausgesprochen Schizoiden hinüberführt. 

Am Anfang der Reihe steht die einfache cyclothyme Depression. Allgemeines 
psychisches Hemmungs- und Insuffizienzgefühl, verschwommenes Unbehagen, allerlei 
vegetativ-nervöse Verstimmungen, Verdauungs- und Schlafstörung kennzeichnen 
dieses Krankheitsbild. Gerade bei diesen einfachen Depressionen können die körper- 
lichen Klagen ganz im Vordergrund stehen. Vorwiegend handelt es sich um Stö- 
rungen des Magen-Darmkanals. Sehr leicht werden ihre Klagen über Verstopfung, 
Appetitlosigkeit, faden Geschmack in hypochondrischer Weise ausgebaut. Auffallende 
und eigenartige Körpersensationen vor allem sexueller Natur finden wir im allge- 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 26 


402 Friedrich Mauz. 


meinen bei den einfach Depressiven nicht, dagegen um so häufiger bei begin- 
nenden schizophrenen Erkrankungen. Mitunter spielen auch allerlei nervöse und 
hysterische Mechanismen in das depressive Bild mit herein. Wo ihr Vorhandensein 
nachzuweisen ist, sind sie meistens auf eine latent nervöse Veranlagung zurückzu- 
führen, die durch die depressive Phase herausgeholt wird, um nachher wieder ganz 
zu verschwinden. Hinsichtlich der präpsychotischen Persönlichkeit dieser einfachen 
Depressionen, die vom leichten Gehemmtsein bis zur tiefen Schwermut variieren 
können, haben wir schon erwähnt, daß sich unter ihnen überaus häufig die syntonen 
Temperamente finden, viel weniger die eigentlich konstitutionell Schwerblütigen. 

Mit dem Begriff der konstitutionellen Verstimmung umfassen wir verschie- 
denerlei Gruppen, die großenteils dem schizoiden Formkreis näherstehen als dem 
cycloiden. Die konstitutionell Depressiven der cyclothymen Gruppe haben alle das 
gutmütige, schwerfällig weiche Kolorit. Im weiteren Umkreis des Cyclothymen 
bereits mit engen Beziehungen zum schizoiden Formkreis heben sich einige gut 
umrissene Gruppen konstitutioneller Verstimmung hervor. Unter unserem schwä- 
bischen Bauernschlag finden wir nicht selten Persönlichkeiten, ja ganze Familien, 
die uns als konstitutionell Verstimmte bekannt sind und einen eigenartigen Habitus 
aufweisen. Es sind Menschen mit scharf geschnittenen, glatt rasierten Gesichtern, 
mit scharfem Mund und ernster, unbeweglicher Miene. Etwas Starres und Schweres 
spricht aus ihnen. Die Augen blicken oft seltsam weich und stehen in auffallendem 
Kontrast zur Schärfe des Gesichts. Auch im übrigen Habitus sind sie ganz vor- 
wiegend asthenisch. Charakterologisch sind es ernste, gerechtigkeitsliebende, religiöse 
Naturen, nach außen verschlossen, scheu und starr, innerlich unendlich weich und 
mitschwingend. Sie tragen schwer am Leben und dieses Gefühl der Schwere kann 
so stark werden, daß es zu einer lähmenden Starre der Seele und des Körpers 
führt. Suicid durch ganze Generationen hindurch ist in diesen Familien nicht selten. 

Eine andere Variante konstitutioneller Verstimmung gehört ganz ausge- 
sprochen in das Bereich des Schizoiden. Bei dieser Art von Verstimmung schwingt 
keine Traurigkeit mit. Es sind mißmutige, übellaunig-nervöse Menschen, unstet und 
sprunghaft, von innerlicher Gereiztheit und Spannung, von hypochondrischer Welt- 
und Menschenfeindlichkeit. Auch die lahmen, humorlosen und trockenen Nörgler 
mit ihrer dauernden Verstimmtheit und Antriebslosigkeit (nicht Gehemmtheit) und 
ihrer schlappen Haltung mit den eckigen, linkischen Bewegungen gehören hierher. 
Diese Verstimmtheit (nicht Schwermut) in der verschiedensten affektiven Tönung 
mitunter mit leichten, abortiven paranoiden Zügen ist öfters das für lange Zeit auf- 
fallendste und einzige Symptom beginnender Schizophrenie. Mitunter bleibt sie 
überhaupt das einzige sichtbare Zeichen eines schleichenden schizophrenen Schubes. 
Ab und zu passiert es, daß eine derartige ausdruckslose Verstimmung für eine ein- 
fache leichte Depression vielleicht sogar reaktiver Natur gehalten wird. Man ist 
dann unangenehm überrascht, wenn nach einiger Zeit ein Defekt, eine Abknickung 
der Persönlichkeit zutage tritt. Im Körperbau solcher Typen finden sich öfters 
reichlich infantile und eunuchoide Stigmen. 

Die Beziehungen der depressiven Gruppe zum Paranoid sind ebenfalls reichlich 
und vielverzweigt. Der reine Circuläre ist im Durchschnitt arm an Wahnideen. Um 
so häufiger ist ihr Auftreten bei den atypischen Fällen. Eine zahlenmäßige Aus- 
zählung unserer depressiven Kranken nach ihren Körperbauformen ergibt auch hier 
das interessante Ergebnis, daß die Wahnbildung mit ihren verschiedenen Abstu- 
fungen sich vorwiegend auf dem Boden konstitutioneller Legierung findet. Dagegen 
sehr selten bei reiner pyknisch-cyclothymer Konstitution. 


Cyclothymie. 403 


Gerade auf dem Grenzgebiet vom Charakterologischen zum Psychotischen 
bewegen sich Fälle, die unter einem großen Material depressiver Kranken immer 
wieder auftauchen und dem Arzt durch ihren abnormen Verlauf viel zu schaffen 
machen. Diese Fälle berühren sich in vielen Punkten mit der von Gaupp aufge- 
stellten „abortiven Paranoia“ auf eigenartiger depressiv-paranoischer Veranlagung; 
ich meine die starren, morosen, torpiden, wenig zugänglichen Formen, öfters mit 
reichlichem Hervortreten von Verfolgungsideen, richtigen Zwangsvorstellungen oder 
stark hypochondrisch-ängstlicher Einstellung. Sie haben einen ganz ausgesprochen 
protrahierten, unerfreulichen Verlauf, da sie noch lange Zeit nach ihrer Entlassung 
aus der Klinik sich auf der Grenze zwischen krank und gesund bewegen, ohne 
eines von beidem in ausgesprochenem Maße zu sein. Das Lebensalter zwischen 
30 und 40 Jahren scheint mit Vorliebe davon betroffen zu sein. Übergang in Schizo- 
phrenie weisen diese Formen, soweit ich bis jetzt übersehen kann, nicht auf. Kon- 
‚stitutionell betrachtet sind sie körperbaulich und charakterologisch sehr interessant. 
Keine dieser Formen weist pyknischen Habitus auf, alle gehören der asthenisch-athletisch- 
hypoplastischen Gruppe an. Es sind vorwiegend stille und ernste Naturen, sehr gewissen- 
haft, ja skrupulös, peinlich genau, wenig selbstsicher, eher ängstlich, meist sehr religiös, 
mitunter still gereizt, verschlossen, empfindsam, innerlich oft sehr weichherzig. 

Anhangsweise sei hier nur erwähnt, daß auch die prognostisch ungünstigen 
Melancholien mit starkem Hervortreten massenhafter Wahnideen in Körperbau und 
Heredität deutlich heterogene Einschläge aufzeigen, die auf enge Beziehungen zum 
schizophrenen Formkreis hinweisen. Ausgang in Schizophrenie oder Defektzustand 
kommt bei diesen Formen öfters vor. 

Eine Darstellung der cyclothymen Konstitution wäre nicht vollständig, wenn 
man nicht einer hie und da vorkommenden Überkreuzung Erwähnung tun würde, 
deren Studium für das Verständnis des normalen und krankhaften Seelenlebens 
interessante Gesichtspunkte eröffnet hat: die schizoiden Pykniker. Sie sind im all- 
gemeinen nicht die menschenfeindlichen, starren und ablehnenden Naturen, sondern 
mehr die gemütlichen und gutmütigen Eigenbrödler, die verschrobenen Spaßvögel, 
die kinderlieben und sorgenden Sonderlinge, die autistischen und scheuen Schwer- 
blütigen, die lahmen und triebschwachen Gemätsmenschen. Andererseits fehlt ihnen 
vielfach die Oberflächlichkeit des Cyclothymen; hinter der heiteren geselligen Art 
lodert ein Feuer idealer Begeisterung oder wirkt tiefschürfende Gedankenarbeit. 

Eine dieser Formen soll uns hier besonders beschäftigen, u. zw. die autistischen 
und scheuen sensitiven Schwerblütigen. Ihre Konstitution ist ein unglückliches Produkt 
hereditärer Durchmischung und Überkreuzung. Zu ihrer gutmütigen weichen Schwer- 
lebigkeit gesellt sich eine quälende Schüchternheit und mimosenhafte Überempfind- 
lichkeit, deren Ursache wiederum in manchen Fällen in einem mangelhaften Sexual- 
leben zu suchen ist. Es sind Menschen, die ohne daß der andere Mensch etwas 
davon ahnt, innerlich Qualen erdulden. Aus ihrer Veranlagung erwächst wie von 
selbst zwangsmäßig der paranoide Konflikt. Jahrelang ziehen sie mitunter von Arzt 
zu Arzt mit allerlei neurasthenischen Beschwerden und depressiven Klagen, bekommen 
diesen und jenen Rat, gelten als depressive Neurastheniker, bis dann einmal ein 
kleiner Anstoß von außen, eine scheinbar erlittene Ungerechtigkeit, ein unbedeuten- 
des Mißverständnis, den Stein ins Rollen bringt und der dauernde Konflikt mit dem 
Leben und der Umwelt sich nicht mehr bloß als körperliches Mißbehagen, sondern 
als schwerer, aus dem Konflikt entstandener Wahn nach außen zeigt. 

Unter meinem Material habe ich die schizoid-pyknische Konstitutionsform vor- 
wiegend bei zwei Krankheitsgruppen gefunden, eben den chronischen wahnbildenden 

26° 


404 Friedrich Mauz. 


Formen und den akuten Schizophrenien mit periodischem Verlauf und jeweilig 
guten, berufsfähigen Remissionen 1 

Das Randgebiet zur Psychopathie wurde schon öfters gestreift und bedarf keiner 
gesonderten Darstellung, zumal es beim fertigen Psychopathen in vielen Fällen nicht 
mehr möglich sein wird, die verschiedenen konstitutionellen Teilkomponenten in ihrer 
Durchmischung und Überlagerung mit exogenen Faktoren aus dem mosaikartigen Bild 
eines bestimmten Psychopathentypus auszusondern und nach ihrer Wertigkeit für den 
Aufbau des vorliegenden Typus darzustellen. Der Begriff des cycloiden Psychopathen 
wird vielfach noch zu weit ausgedehnt. Auch hier verlangen wir zur Diagnose das 
typische Kolorit des cyclothymen Pyknikers. Hierher gehören bestimmte hypomanische 
Typen, die Kräpelin als konstitutionell Erregte geschildert hat. Sie zeigen all die 
Varianten, die wir als typisch für den cyclothymen Konstitutionskreis geschildert haben. 
Im allgemeinen werden diese Typen nicht schwer kriminell, der Betrieb ist ihnen die 
Hauptsache. Die depressiven Psychopathen werden vielfach noch nicht scharf unter- 
schieden von den mißmutigen, mürrischen, unsteten und paranoischen Typen. 

Alkoholismus und pyknisch-cyclothyme Konstitution ist eine immer wieder zu 
findende Kombination. Besonders zwei Gruppen gehören hierher: die genießerischen, 
gemütlichen Stammtischphilister, bei denen der Alkoholismus einem weichen, zer- 
fließend gutmütigen Charakter entspringt. Sodann eine Gruppe unter den periodi- 
schen Dipsomanen, die nach einer Statistik von Economo etwa zu 1 epileptische, 
IG eirculäre, zu '/, eine uncharakteristische psychopathische Belastung zeigen. 

Zur Diagnose der cyclothymen Konstitution und ihrer verschiedenen Varianten 
und Übergangsformen ist die Erblichkeitsforschung eine wertvolle, oft unentbehrliche 
Hilfe. „Im Charakterologischen wie im Körperbau werden wir die klassischen Züge 
eines Konstitutionstypus zuweilen bei den nächsten Angehörigen klarer gekennzeichnet 
finden als beim Patienten selbst.“ Gerade bei den teilweisen und vollkommenen 
Überkreuzungen ist uns die Heredität eine wertvolle Stütze unserer Auffassung, ja oft 
ermöglicht erst sie das Verständnis für das vorliegende mosaikartige Konstitutionsbild. 

An einigen klinischen Beispielen, wie wir sie unter unserm Material jederzeit 
finden können, ist der praktische Wert der Erblichkeitsforschung am besten zu er- 
läutern: eine vorwiegend pyknische Patientin bietet seit Jahren das Bild einer 
chronischen Hypomanie mit wüsten, ausfallenden Schimpfperioden, vielleicht auch 
richtigen halluzinatorischen Phasen. Einzelne atypische Züge im Körperbau, herein- 
wachsendes Haupthaar, spitze, dünne Nase, weisen auf latente heterogene Konsti- 
tutionskomponenten hin. Die Betrachtung der Heredität ergibt eine ausgesprochen 
schizophren-degenerative Belastung auf der einen Elternseite, während die cyclothyme 
Komponente in Form von gesunden pyknisch-cyclothymen Blutsverwandten sich zeigt, 
Oder ein anderer Fall, den ich unter den „Schizophrenen mit pyknischem Körperbau“ 
ausführlich geschildert habe: ein vorwiegend hypomanisches Temperament mit pykni- 
schem Körperbau erkrankt im mittleren Lebensalter mit starker Wahnbildung, im Sinne 
eines blühenden religiösen Größenwahns, bei ausgesprochen hypomanischerStimmungs- 
lage und leichten Phasenschwankungen. Diese wahnbildende Form einfach in den circu- 
lären Formkreis einzuordnen, befriedigt trotz der manischen Gesamttönung nicht. Die 
Analyse der Heredität gibt hier schönen Aufschluß über die Zusammensetzung der 
konstitutionellen Faktoren: die Mutter pyknisch-cyclothym, gesund, der Vater asthe- 
nisch, schizoider Sonderling; eine Vaterschwester erkrankte mit ca. 50 Jahren mit einer 
Spätschizophrenie, religiösen Größenideen, später typisch schizophren verblödet. So 


! Fr. Mauz, Über Schizophrene mit pyknischem Körperbau. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. 
LXXXVI, H. 1 u. 2, p. 96. 


Cyclothymie. ` 405 


könnte man eine lange Reihe von Fällen bilden, die alle die Wichtigkeit der Erblichkeits- 
forschung eindrucksvoll aufzeigen; gerade auch bei manchen Verstimmungszuständen 
etwas verschwommener Natur weist mitunter eine schizoide Belastung auf die end- 
gültige Diagnose hin. Die schönen hereditären Ergebnisse Economos bei den 
periodischen Dipsomanen habe ich schon erwähnt. Rüdin und Hoffmann nehmen 
für den cyclothymen Konstitutionskreis dominante Vererbungsmechanismen, wenn 
auch in komplizierter Form, an. Gegenüber der Dementia praecox zeigt das manisch- 
depressive Irresein eine weit höhere direkte Erblichkeit. 

Hier interessiert uns noch der von Hoffmann beschriebene Erscheinungs- 
wechsel. Seitdem man die beiden großen Konstitutionsgruppen, den schizothymen 
und den cyclothymen Formkreis, aufgestellt hat, ist von verschiedenen Seiten darauf 
hingewiesen worden, daß bei einem Individuum sich die Schizoidie und Syntonie 
im Laufe der Entwicklung gegenseitig ablösen können, derart, daß zunächst im 
Persönlichkeitsbild mehr die cyclothyme Anlage vorherrscht, während späterhin sich 
eine vorwiegend schizothyme Färbung durchsetzt, und umgekehrt (Hoffmann). Die 
Pubertät ist ein besonders häufiger Einsatzpunkt für eine derartige Persönlichkeits- 
umwandlung. Auch im Körperbau tritt mitunter entsprechend der charakterologischen 
Umwandlung eine Veränderung ein: schwere endokrine Störungen, die mit der Pubertät 
einsetzen, sind oft die ersten Anzeichen einer tiefgreifenden Charakterveränderung. 


IV. Die Bedeutung der cyclothymen Konstitution im Kranken und 
Gesunden. 


Die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer klaren und eindeutigen Erfassung 
der cyclothymen Konstitution leuchtet ein: die Herausarbeitung und feinere Diffe- 
renzierung der einzelnen Teilkomponenten, die am hereditären Aufbau einer Per- 
sönlichkeit beteiligt sind, hat uns wertvolle Hinweise für das Verständnis der 
einzelnen Krankheitsgruppen gegeben, darüber hinaus vor allem klare Grundlagen 
und Anhaltspunkte für unsere spezielle klinische Systematik und vor allem Pro- 
gnostik. Die reine pyknisch-cyclothyme Konstitution und ihre zugehörige Psychose, 
das manisch-depressive Irresein, stellt eine ziemlich gut umrissene, jegliches De- 
struktive entbehrende Konstitutionsgruppe dar; aber nicht nur das: wir besitzen 
heute eine Anzahl von festen Tatsachen, nach denen die cyclothyme Konstitution, 
teils hemmend, teils färbend an der Entstehung atypischer Schizophrenien beteiligt 
ist. Die starke Beteiligung pyknischer Komponenten am hereditären Aufbau der 
periodisch Katatonen und Paraphrenen wurde schon erwähnt. Ebenso finden sich 
unter den gut und öfters remittierenden Schizophrenien in der präpsychotischen 
Persönlichkeit wie im Körperbau häufig deutlich pyknisch-cyclothyme Einschläge. 

Kretschmer hat die Untersuchungen, die über die Beziehungen der psychia- 
trischen Konstitutionstypen zu anderen medizinischen Disziplinen vorliegen, in der 
schon erwähnten Monographie über Veranlagung zu seelischen Störungen zusammen- 
gestellt. Soweit sie die pyknisch-cyclothyme Konstitution betreffen, sollen sie hier 
noch angeführt werden. Hirsch findet unter den Dysmenorrhoischen Schizoide 
mit asthenischem Körperbau 85%, mit dysplastischem Körperbau 13%, dagegen 
pyknisch-cyclothyme Persönlichkeiten nur 2%. Dagegen gehören nach seinen Unter- 
suchungen die meisten Myomkranken dem pyknisch-cyclothymen Typus an. Auf 
die somatische wie psychische infantile Geschlechtlichkeit der Schizoiden weisen 
die Arbeiten des Gynäkologen Mathes und der Fränkelschen Schule eindringlich 
hin. Anderseits bestätigen sie die durchschnittlich gute sexuelle Differenziertheit 
der pyknisch-cyclothymen Konstitution. 


406 Friedrich Mauz. 


Von den Internisten haben schon einige namhafte Forscher die psychiatrischen 
Konstitutionstypen für ihre speziellen Forschungsgebiete in Anwendung gebracht. 
Otfried Müller beschreibt das Gefäßbild des cyclothymen Pyknikers: gerötetes 
Gesicht bis zur Ausbildung grob und weithin sichtbarer capillärer bzw. venöser 
Gefäßerweiterungen, besonders im Bereich der Wangen und der Nase; capillar- 
mikroskopisch nachweisbare starke Gefäßinjektionen an der oberen Brusthaut bei 
geringerer Neigung zum Erythema pudicitiae; in der Gürtelgegend und an den 
unteren Extremitäten häufig kleine Venektasien; an den Händen seltener intensive 
Capillarveränderungen. Seine weichen, breiten, aber kurzen Hände sind meist gleich- 
mäßig warm und normal gefärbt. Die peripheren Arterien erscheinen viel länger 
zart und geradlinig verlaufend, wie beim Astheniker, und doch kommt es viel 
häufiger zu schweren Zwischenfällen infolge von Hirn-, Herz- oder Nierensklerose. 
Es liegt in diesem Konstitutionstyp, daß er zu prämaturen, degenerativen Prozessen 
an den inneren Gefäßen neigt. Er stellt dementsprechend die Hauptzahl der echten 
Arteriosklerotiker. Infolge seines Mangels an Nervosität wird der Pykniker weniger 
durch Ermüdungsgefühle gewarnt und geht darum manchmal früher zu grunde 
als der Nervenschwache. Demgegenüber steht ein anderer vasoneurotischer Sym- 
ptomenkomplex beim asthenischen Typ, den außer O. Müller auch Peritz klar 
gezeichnet hat. Es sind Menschen mit der spasmophilen Übererregbarkeit der peri- 
pheren Muskulatur und nervöser Hypertonie der Blutgefäße oder, wie Müller sagt, 
die Individuen mit den nervös gespannten Arterienrohren, der spastischen Schein- 
anämie des Gesichts und den blauen, kalten und feuchten Händen mit dem er- 
weiterten subpapillären Venenplexus. Die Charakterzüge der Spasmophilen ähneln 
nach Peritz weitgehend denen, welche Kretschmer bei den Schizophrenen schildert. 

Die spezielleren Dispositionen der Pykniker und Astheniker zu inneren Erkran- 
kungen finden: sich bei J. Bauer eingehend dargestellt. 

Auch konstitutionspsychologische Untersuchungen an Gesunden liegen vor; 
sie haben großenteils allgemeines Interesse. Ich erwähne eine experimentelle Unter- 
suchung mit Hilfe des Rorschachschen Formdeuteversuchs', die Munz an 100 
psychisch Gesunden (59 Pykniker, 41 vorwiegend leptosome bzw. asthenische Typen) 
durchführte. Es ergaben sich tiefgreifende Unterschiede in den Anschauungs- und 
Vorstellungstypen wie in der begleitenden Affektivität beider Gruppen. Munz findet 
bei 93% seiner gesunden Pykniker cyclothymes Temperament. 

Eine weitere umfassende experimentalpsychologische Durchprüfung der Kon- 
stitutionstypen hat van der Horst an der Klinik von Wiersma in Groningen vor- 
genommen (u. zw. nebeneinander eine Gruppe circulärer Psychosen und eine Gruppe 
gesunder Pykniker, ebenso bei den Schizophrenen). Es ergibt sich nach Horst wieder 
die enge Gemeinsamkeit in der psychologischen Reaktionsweise zwischen Gesunden 
und Kranken desselben Konstitutionstypus. Auch in der Psychotechnik haben die 
Konstitutionstypen Anwendung gefunden. Tramm verwendet sie zur Erforschung 
des „Gruppengeistes“ der Betriebe. Es fanden sich unter den Betriebsräten insgesamt 
52% Astheniker, 13% Athletiker und 35% Pykniker. Viernstein hat ein großes 
Material von Zuchthausinsassen charakterologisch und körperbaumäßig durchgeprüft 
und kommt in seinen Abhandlungen über das Stufensystem im Strafvollzug zu dem 
Resultat, daß die Typisierung nach cyclothymer und schizothymer seelischer Anlage 
zusammen mit den korrespondierenden Erscheinungen am körperlichen Habitus 
„den wertvollsten, zuverlässigsten Anhaltspunkt bieten zur Beantwortung der Frage 


! Deutung klexographischer Zufallsformen. 


Cyclothymie. 407 


der Besserungsfähigkeit oder Unverbesserlichkeit“ des Verbrechers. „Der schizo- 
thyme Reaktionstypus ist unter normalen wie psychopathischen Rechtsbrechern 
seltener der Resozialisierung zugänglich als der cyclothyme.“ | 

Diese Beobachtungen sind unschwer aus gewissen Grundeigenschaften des 
Schizothymen und Cyclothymen abzuleiten. 

Diese letzten Ausführungen schienen mir notwendig zur Abrundung und Ver- 
vollständigung des cyclothymen Konstitutionskreises. Jetzt erst gewinnen wir die 
richtige Übersicht: die pyknisch-cyclothyme Konstitution ist nicht nur ein psychia- 
trischer, sondern ein allverbreiteter biologischer Konstitutionstyp. Die Cyclothymie 
erscheint uns nicht mehr bloß als eine leichte manisch-depressive Variante, deren 
verschwimmende Diagnostik sich in den verschiedensten Krankheitsgruppen verliert, 
sondern als die natürliche Äußerungsform normaler Temperamentstypen, als das 
Querschnittsbild einer biologisch vorgezeichneten und gebahnten Lebenslinie. An 
die Stelle der Cyclothymie tritt die cyclothyme Persönlichkeit, deren typische 
somatische und psychische Konstitution eine sichere und im Körperbau jederzeit 
leicht faßbare Grundlage bildet für unsere allgemeine Menschenkenntnis wie für 
unsere klinische Systematik und vor allem Prognostik. 


Literatur: Beringer u. Düser, Über Schizophrenie und Körperbau. Zeitschr. f. d. ges. 
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A. Weil, Körperbau und psychosexueller Charakter. Fortschr. d. Medizin. 1922, XL. — Wilmanns, 
Die leichten Fälle des manisch-depressiven Irreseins (Cyclothymie) und ihre Beziehungen zu Störungen 
der Verdauungsorgane. Sammlung klinischer Vorträge. Nr. 434, p. 765. 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 


Von Prof. Dr. O. Polano, Vorstand der Gynäkologischen Universitäts-Poliklinik München, 
und Dr. C. Dietl, München. 


Mit 5 Abbildungen im Text. 





Für den Praktiker eine brauchbare Arbeit über die Behandlung der Uterus- 
blutungen zu schreiben, begegnet heute den größten Schwierigkeiten. An Stelle der 
früher üblichen Organpathologie und -therapie ist eine allgemein biologische, mehr 
humorale Betrachtungsweise getreten, die den Uterus als untergeordneten Teil des 
Gesamtorganismus wertet und für Störungen seiner Funktion, die sich ja physiologischer- 
weise an erster Stelle bei den normalen Menses äußern, inkretorische, nervöse, konstitu- 
tionelle Einflüsse in den Vordergrund rückt. Dies Abrücken vom Organ läßt sich bei der 
Erklärung pathologischer Uterusblutungen beinahe topographisch verfolgen: Gebär- 
mutter, Ovarium, Hypophyse, Zwischenhirn mit drittem Ventrikel, „der Hauptübergangs- 
stelle zwischen seelischen und körperlichen Vorgängen“, wurden in letzter Zeit der Reihe 
nach zur ätiologischen Erklärung mitherangezogen. Wenn man die für den Praktiker in 
jüngster Zeit geschriebenen Abhandlungen liest, die sich mit unserem Thema befassen, 
so möchte man zweifeln, ob die Mehrzahl derselben dem Leser Klarheit und feste Richt- 
linien bei der Behandlung seiner Kranken gibt. Dies ist weniger Schuld der Verfasser als 
der heutigen, noch völlig im Fluß befindlichen Forschung, bei der Theorie und Praxis sich 
oft nicht vereinigen lassen. Auch wir sind natürlich nicht im stande, diesem Übel abzu- 
helfen, wollen aber den Versuch machen, gerade bei der Behandlung der Uterusblutun- 
gen unsere Ratschläge wenn möglich in fest umschriebener Form zu geben, auf die Gefahr 
hin, in manchem hierbei nicht ganz modern zu erscheinen. Wir lassen hierbei die Blutun- 
gen aus Portio und Cervix, über die ja nicht viel Neues zu sagen ist, außer Betracht. 

In unserem medizinisch-therapeutischen Handeln haben wir die beiden Mög- 
lichkeiten, die Ursachen einer pathologischen Erscheinung zu bekämpfen oder uns 
die Beseitigung der Erscheinung selber als nächstes Ziel zu setzen. Die letztere, die 
symptomatische Behandlung, muß dann als Notbehelf angewendet werden, wenn 
wir die Ursache des Leidens entweder nicht erkennen oder nicht beeinflussen 
können. Was wissen wir nun eigentlich über die Ursachen der krankhaften 
Blutungen aus der (nicht graviden) Gebärmutter, die wir bekanntlich nach 
ihrer Erscheinungsform in Menorrhagien, d. h. abnorm starke oder abnorm lang- 
dauernde, aber in typischen Zwischenräumen wiederkehrende Blutungen von den 
Metrorrhagien trennen, die diese Periodizität nicht innehalten? Die von R. Schröder, 
dem verdienstvollen Erforscher dieses Gebiets, vorgeschlagene weitere Differenzierung 
der Menorrhagien in Hypermenorrhoen (Störung der Muskelkraft und abnorme 
Blutfülle) und in Polymenorrhoen, d. h. zu häufig wiederkommende Menstruation 
infolge ovarieller Dysfunktion, ist zwar theoretisch interessant, aber praktisch zu 
kompliziert und kaum verwendbar, da sich diese Typen im klinischen Bilde mit- 
einander verschmelzen (Polyhypermenorrhoen). Die Lehre von der Menstruation wird 
von der neuen Erkenntnis beherrscht, daß der normale cyclische Ablauf der menstruellen 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 409 


Blutung abhängt von der normalen physiologischen Arbeit der Eierstöcke, die sich uns 
grob anatomisch darstellt als Reifung und Berstung eines Follikels, der sich zum Corpus 





Blütestadium eines Corpus luteum. (Aus L. Fraenkel: Physiologie der 
weiblichen Genitalorgane im Handbuch von Halban-Seitz.) 


Fig. 93. 





Ruhende Uterusschleimhaut. (Aus Fraenkel: Physiologie der weiblichen 
Genitalorgane im Handbuch von Halban-Seitz.) 


luteum, einer inkretorischen Drüse, umwandelt (Fig. 92) und zum Corpus fibrosum 
rückbildet. Diesem Werden und Vergehen am Follikel entspricht ein cyclischer Wandel 
der Gebärmutterschleimhaut, die sich aus einem Ruhestadium (Fig. 93) umwandelt 


410 Polano-Diet!l. 


in einen Zustand hoher biologischer Aktivität mit starker Vermehrung der jetzt 
sekretorisch arbeitenden Epithelialelemente im Drüsensystem der Körperschleimhaut 
(Fig. 94). Die Rückbildung bei fehlender Befruchtung erfolgt unter dem äußeren 
Zeichen der Blutung, d. h. der Menstruation. Hierbei blutet es aus der Gebär- 
mutterkörperhöhle durch Abstoßung der gesamten oberflächlichen secernierenden 
Schleimhautschicht (Functionalis), die also der Decidua compacta entspricht, durch 
Zerreißung der Schleimhautgefäße. Das auslösende Moment für den Eintritt der 
menstruellen Blutung ist das Absterben der unbefruchteten Eizelle (R. Meyer). 
Der Follikelsprung erfolgt zwischen 2 Menstruationen, die Blutung 14 Tage nach 
dem Follikelsprung bei fehlender Befruchtung. Soweit nun unsere anatomischen 


Fig. 94. 





Prämenstruelle Uterusschleimhaut in ihrer höchsten Entwicklung. 
(Aus Fraenkel: Physiologie der weiblichen Genitalorgane 
im Handbuch von Halban-Seitz.) 


Kenntnisse über die einzelnen histologischen Veränderungen im Leben der Uterus- 
schleimhaut und des Follikels gediehen sind, so wenig Klarheit herrscht über 
die letzten physiologischen Gründe, die den uterinen und ovariellen Cyclus be- 
dingen. Wir wissen mit Sicherheit nur, daß eine regelmäßige menstruelle Blut- 
ausscheidung abhängig ist von einer ungestörten ovariellen Tätickeit, denn das 
Entfernen der Eierstöcke hat Aufhören der Periode, Erkrankung der Eierstöcke 
Veränderung der Periode zur Folge. Wir nehmen neuerdings an, daß im Eier- 
stock zwei antagonistische Kräfte miteinander ringen: das menstruationshemmende 
Corpus luteum mit der die Menstruation auslösenden Follikelflüssigkeit. Als dritte 
Kraft käme die Eizelle hinzu, die, solange sie lebt, sich auf die Seite des 
Corpus luteum schlägt und plastisch aktivierend auf die Gebärmutterschleimhaut, 
d. h. menstruationshemmend wirkt, sobald sie aber abgestorben ist, den biologi- 
schen Effekt der Follikelflüssigkeit verstärkt und gewissermaßen katalytisch auf das 
Corpus luteum und die Uterusschleimhaut wirkt, also die menstruelle Blutung her- 
vorruft. (Grundlegende Arbeiten zu diesem Thema von L. Fraenkel, R. Meyer, 
Hitschmann, Adler, Seitz, Jaffe, Berberich, Ruge u. a.) Wir sehen also, daß 
es in erster Linie hormonale Einflüsse sind, durch die der Eierstock die Gebär- 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 411 


mutter regiert, wie uns dies auch die Ergebnisse der ovariellen Transplantationen 
beweisen. Diese Erkenntnis schafft nun keineswegs eine Vereinfachung des Men- 
struationsproblems. Zunächst müssen wir, um eine gewisse Vorstellung von den 
cyclischen Wandlungen im Eierstock und Uterus zu gewinnen, die wechselnde Blut- 
versorgung hinzuziehen, die abhängig ist von dem vegetativen Nervensystem, 
das seinerseits mit dem Cerebrospinalsystem in Verbindung steht; sodann wissen 
wir heute, daß die Eierstöcke alles andere als selbständige, gewissermaßen autonome 
Organe sind. Vielmehr werden sie bewacht, gezügelt oder angespornt durch das 
komplizierte System der anderen endokrinen Drüsen, in erster Linie Nebenniere, 
Thyreoidea und Hypophyse. Sie alle sind abhängig vom vegetativen Nervensystem, 
das mit seinen doppelten Zügeln Sympathicus und Parasympathicus funktionsstei- 
gernd oder funktionshemmend wirken kann. Als besonderes Eingeweidecentrum 
gilt das Zwischenhirn und der dritte Ventrikel (Aschner), die Brücke, die 
zum animalen Nervensystem führt. Wenn wir uns nun klarmachen, daß Störungen 
an irgend einer Stelle dieses vielverzweigten Leitungsnetzes auf dem Wege über 
das Ovarium eine Veränderung der normalen menstruellen Blutung herbeiführen 
können, wird uns die große Schwierigkeit für eine exakte ätiologische Diagnostik und 
Therapie verständlich. 


Ätiologische Einteilung der Uterusblutungen. 


Wenn wir den Versuch machen, die krankhaften uterinen Blutungen aus dem 
Corpus nach ihren Ursachen einzuteilen, so scheint uns die Trennung in 1. primäre 
Schleimhautblutungen und 2. sekundäre Schleimhautblutungen die einfachste und ver- 
ständlichste. Hierbei verstehen wir unter den primären Blutungen solche, die ihren 
Grund in einer krankhaften Veränderung der Gebärmutterschleimhaut allein haben, 
unter sekundären solche, bei denen die Ursache für die pathologische Blutung 
außerhalb der Schleimhaut zu suchen ist, mag letztere verändert sein oder nicht. 


L Primäre Schleimhautblutungen. 


Wenn wir die alten Lehrbücher der Gynäkologie durchmustern, so finden 
wir als Hauptursache für diese Blutungsart die Endometritis, also die Schleimhaut- 
entzündung, angegeben. Wir werden später noch darauf zurückkommen, daß eine 
derartige chronische, nicht infektiöse, primäre Schleimhauterkrankung heute von der 
Forschung im allgemeinen abgelehnt wird. Eine gewisse Rolle spielt nur noch die 
chronische infektiöse Endometritis, die in der Regel durch Gonokkoken oder 
durch pyogene Mikroorganismen bedingt ist, in seltenen Fällen durch den Tuberkel- 
bacillus. Als charakteristisch gilt im mikroskopischen Bilde die Durchsetzung der 
Schleimhaut bis auf die Muscularis mit Leukocyten und die Anwesenheit eigen- 
tümlicher Exsudatzellen, nämlich der specifisch färbbaren Plasmazellen. Die Infektion 
ergreift die tiefste basale Schleimhautschicht, setzt sich auf die anstoßende Muskel- 
wand fort, hieraus resultiert ein funktionell insuffizienter, bindegewebig indurierter, 
also wirklich metritischer Uterus, der außer zu Blutungen zu dem hystero-neur- 
asthenischen Symptomenkomplex (Lahm), den bekannten Unterleibsbeschwerden 
führt. Diese Entzündung kann auch auf das benachbarte Peritoneum (Perimetritis), 
ebenso wie ascendierend auf Tube und Ovarien übergreifen, wobei in frischeren 
Stadien mehr atypische Blutungen, bei älteren Fällen durch die ovarielle Beteiligung 
Menorrhagien ausgelöst werden. 

Als häufigste primäre Schleimhauterkrankung ist aber dieEndometritis post 
abortum, bisweilen auch post partum zu erwähnen, bei der sich die Mucosa 


412 Polano-Dietl. 


infolge der Retention von Schwangerschaftsteilen in einem dauernden Reizzustande 
befindet. Als weitere Ursache können polypöse Schleimhautwucherungen im 
Corpus und endlich maligne Neubildungen, vor allem das Carcinom des Corpus, 
die Ursache der primären Blutung abgeben (Veränderungen der Portio und Cervix: 
Erosionen, Polypen, Carcinome müssen natürlich in jedem Falle als Quelle der 
Blutung ausgeschlossen werden). Die meisten in diese Gruppe gehörigen Fälle 
haben das Gemeinsame, daß sie einer klinischen Diagnose in der Regel leicht zu- 
gängig sind. Hierbei wird gerade in neuester Zeit das Hauptaugenmerk auf eine 
genaue Berücksichtigung der Anamnese gelegt, die den Typus der Blutungen genau 
festzustellen versucht. Aile primären Schleimhautblutungen des Uterus 
pflegen als atypische Blutungen, also als Metrorrhagien aufzutreten. Bei 
den Blutungen nach Abort oder Geburt ist es klinisch wichtig, zu erkennen, ob 
dieselben durch eine ungenügende Rückbildung der Decidua oder durch die 
Retention von Zotten bedingt sind. Ersteres ist ein verhältnismäßig harmloser Vor- 
gang und leicht therapeutisch zu beeinflussen, während Placentarreste schwerere 
Erscheinungen machen und sich unter Umständen zu größeren, nur operativ ent- 
fernbaren Polypen entwickeln. Je weniger sich nun der Uterus gut zurückbildet, je 
größer und weicher er ist, je weiter die Cervix, umso wahrscheinlicher ist die 
Retention von Zottenelementen. 

An dieser Stelle muß kurz die bekanntlich auch zu äußeren Blutungen führende 
Extrauteringravidität erwähnt werden, die in ihrer chronisch verlaufenden Form des 
tubaren Abortes zu Verwechslungen mit dem uterinen inkompletten Abort führen 
kann. Auch hier ist die Anamnese ungemein charakteristisch: die von dem üblichen 
Menstruationseintritt zeitlich abweichend eintretende Blutung, die in der Regel 
kürzere oder längere Zeit nach dem erwarteten Termin eintritt, entsprechend der 
Dauer der ungestörten Eientwicklung in der Tube. Der Nachweis einer Blutung 
im Douglasschen Raum sichert die Diagnose, aber hierbei laufen auch dem 
Geübten Verwechslungen mit entzündlichen Adnexveränderungen unter, die bei 
dem Wechsel des anatomischen Befundes bei Tubargravidität durchaus ver- 
ständlich sind. Das beste differentialdiagnostische Mittel ist in diesen Fällen nach 
dem Vorschlag von Wagner (Prag) das Pituitrin, das bei 2—3tägiger Anwendung 
auf die uterine Blutung bei Tubargravidität im Gegensatz zur Adnexentzündung 
keine Einwirkung hat. Erwähnung verdient noch die Tatsache, daß eine bei Extra- 
uteringravidität ausgestoßene Decidua uterina verwechselt werden kann mit einem 
uterinen Abort bei ungenügender makroskopischer oder mikroskopischer Unter- 
suchung. Diese Verwechslung kann dann bei fortbestehender Blutung die Veran- 
lassung zu einer bei Tubargravidität aufs strengste kontraindizierten intrauterinen 
Therapie geben, die natürlich bei entzündlichen Adnextumoren ebenso fehlerhaft ist. 

Was die polypösen Neubildungen angeht, so macht ihre Diagnose, vor allem 
wenn sie klein und in den Tubenecken sitzen, die größten Schwierigkeiten, da 
sie selbst bei der Ausschabung ausweichen können. Die digitale Austastung, die 
auch heute noch für unklare Fälle empfehlenswert ist, vermag dann die Diagnose 
zu sichern. Über das Uteruscarcinom sei hier nur kurz gesagt, daß unregelmäßige 
Blutungen jenseits des 40.Jahres an die Möglichkeit denken lassen müssen, daß es 
sich um eine maligne Neubildung handelt und zunächst eine vaginale Unter- 
suchung erfordern, im Zweifelsfalle die Ausschabung der Gebärmutter. Für viele 
Corpuscarcinome ist ja die Anamnese, Blutung nach kürzerer oder längerer Meno- 
pause, bekanntlich pathognomonisch. Die Sklerose uteriner Gefäße führt nur in 
seltenen Fällen, die dann meist im höchsten Alter stehen, zu Metrorrhagien. Die 





Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 413 


früher als sklerotisch aufgefaßten Gefäßveränderungen konnte Pankow als normale 
Geburtsfolge nachweisen, ohne daß sie für Blutungen ätiologisch in Frage kommen. 

Eine Art Mittelstellung zwischen den vorhin kurz skizzierten primären Schleim- 
hautblutungen und den sekundären, durch extrauterine Ursachen bedingten bilden 
die infolge von Anomalien des Gebärmuttermuskels entstehenden Meno- 
und Metrorrhagien. Pankow hat uns zwar bewiesen, daß die früher diagnostisch 
so beliebte Metritis keineswegs als ausschlaggebende Ursache für die pathologischen 
Blutungen angesehen werden kann, da bei diesem chronischen Infarkt, der sich 
anatomisch durch den Ersatz der vollwertigen Muskulatur durch minderwertiges 
und unelastisches Bindegewebe äußert, die Blutungen ebenso fehlen wie vorhanden 
sein können. Es ist aber das Verdienst von Theilhaber, auf eine wohl im wesent- 
lichen konstitutionell bedingte Asthenie der Gebärmutter hingewiesen zu haben. 
Durch eine ungenügende Contractionsfähigkeit seiner muskulösen Elemente versagt 
in diesen Fällen der Uterus bei der physiologischen Blutstillung am Ende der 
Menses ähnlich wie bei der Atonie post partum durch die Unfähigkeit, die blu- 
tenden Gefäße zu konstringieren. 

Eine Art Mittelstellung nehmen ferner die submukösen Myome ein; die ur- . 
sprünglich als Menorrhagie auftretende Blutung wird später zur atypischen, zuletzt 
bluten die Frauen dauernd, so daß überhaupt ein Cyclus sich nicht mehr fest- 
stellen läßt. Lahm hat unter Zugrundelegung der Größe des normalen Uterus- 
cavums (15 cm?) und der Menge des ausgeschiedenen normalen Menstrualbluts 
(40—100 cm? nach Theilhaber) ausgerechnet, daß bei der normalen Periode in 
12 Stunden pro cm? 10 minimale Bluttröpfchen ausgeschieden werden; die physio- 
logische Blutung ist also nur eine ganz geringe, tropfenweise aus den eröffneten 
Capillaren und fließt erst ab, nachdem sie sich längere Zeit im Uteruskörper 
angesammelt hat. Nun ist bei größeren submukösen Myomen die Schleimhautober- 
fläche leicht um das 10fache vermehrt, so daß schon hieraus allein eine ungeheure 
Vermehrung der Blutmenge bedingt ist, ohne daß in der Art der Blutausscheidung 
eine Änderung eingetreten zu sein braucht. Ähnlich liegen wohl auch die Verhält- 
nisse bei stark gebuchteter hypoplastischer Schleimhaut. Ebenso erklärt sich die 
bei einigen interstitiellen Myomen zu beobachtende vermehrte Blutung, wenn auch 
als konkurrierende Ursache ovarielle Einflüsse — bekanntlich scheint eine Hyper- 
funktion der Ovarien für die Myomentwicklung ursächlich mit in Frage zu kommen 
— und eine partielle Unfähigkeit der Muscularis zur Contraction als Erklärung 
mit herangezogen werden müssen. 


IL Die sekundären Uterusblutungen. 


Die sekundär im Uterus hervorgerufenen Blutungen werden zum 
großen Teil durch Funktionsstörungen im Eierstock ausgelöst. Wir wissen 
heute, daß die meisten der unter dem Bilde der Menorrhagien verlaufenden Blutungen, 
die früher als chronische Endometritis bezeichnet wurden, hierher gehören, und wir 
haben gelernt, daß die einst als charakteristisch für diesen Entzündungsprozeß an- 
gesprochenen Bilder einer Drüsenvermehrung nur das histologische Bild des physio- 
logischen Anschoppungsvorganges wiedergeben, den die normale Schleimhaut 
nach dem Follikelsprung, also ungefähr 14 Tage vor der Menstruation, durchmacht. 
Unsere Kenntnisse über die letzten Ursachen einer ovariellen Dysfunktion sind noch 
ungemein lückenhaft. Je tiefer wir in das verschlungene Rankenwerk der Organ- 
beziehungen hereinschauen, umso deutlicher wird uns, daß auch der Eierstock, wenn 
er auch dem Uterus übergeordnet ist, abhängig ist von den mannigfachsten humo- 


414 Polano-Dietl. 


ralen, endokrinen und nervösen Einwirkungen. Es gibt gewisse anatomische Bilder, 
die uns eine Störung im normalen Follikelreifungsprozeß zeigen; es handelt sich 
hierbei um eine überstürzte Reifung der Follikel, die aber nicht zur Ovulation führt 





Uterus mit cystisch-glandulärer Schleimhauthyperplasie. 
(Aus R. Schroeder: Pathologie der Menstruation im Handbuch von Halban-Seitz.) 


Fig. 96. 


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Mikroskopisches Bild einer cystisch-glandulären Be E Es 
(Aus R. Schroeder: Pathologie der Menstruation im Handbuch von Halban-Seitz.) 


und die Bildung von gelben Körpern vermissen läßt. Diese „Persistenz der reifenden 
Follikel« (R. Meyer) übt einen dauernden Proliferationsreiz auf das Endometrium 
aus und führt zu starken Schleimhautwucherungen, der alten „Endometritis fungosa“ 
(Fig. 95 und 96). Ebenso wirkt die chronische Hyperämie des Uterus hierbei auf die 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 415 


Muscularis, die hypertrophisch wird und das Bild der alten Scanzonischen „Metritis“ 
hervorruft. In ähnlicher Weise können auch Ovarialtumoren, vor allem maligne, auf das 
Endometrium wirken; wir selber beobachteten mehrfache Menorrhagia praecox bei 
einem °/,jährigen Mädchen mit Ovarialsarkom. Neben diesen Befunden mit positiven 
anatomischen Grundlagen gibt es nun bei abnormen Blutungen zahlreiche Fälle, 
bei denen sich keine Abweichung feststellen läßt. Vor allem sind es zwei Lebens- 
abschnitte, die für Menorrhagien bevorzugt sind: Pubertät und Klimakterium. Die 
hierbei einsetzende biologische Umstellung der Eierstöcke macht die Veränderung 
des Menstruationsvorganges leicht begreiflich. Wenn durch diese Erkenntnis nun 
sicherlich auch ein Fortschritt gewonnen ist, so wissen wir doch wie gesagt über 
die letzten Ursachen der ovariellen Dysfunktion nichts. Daher ist es auch einleuchtend, 
daß eine praktische Auswirkung der Lehre von dieser „Metropathia haemorrhagica“ 
(Aschoff-Pankow) nur in beschränktem Maße bis heute möglich ist. 

Über die Korrelation des Ovariums zu den anderen endokrinen Drüsen ist 
uns ebenfalls nicht allzuviel bekannt; wir sprechen zwar von einem Parallelismus 
zwischen Ovar, Schilddrüse und einem Teil der Hypophyse, von einem Antagonis- 
mus zwischen Eierstock, Nebenniere und einem andern Teil der Hypophyse, aber 
hieraus geht nur hervor, daß eine Beseitigung des physiologischen Gleichgewichts- 
zustandes im endokrinen System das Ovarium und damit indirekt auch die Men- 
struation beeinflussen kann. Zugleich müssen wir uns daran erinnern, daß die durch 
den Eitod ausgelöste normale Menstruation an und für sich eine weit über das 
Genitale hinausreichende Gleichgewichtsstörung im „psycho-physischen Kern der 
Frau“ (Brugsch) mit sich bringt, wie dies außer anatomischen Veränderungen ver- 
mehrte Ausscheidung von Stoffwechselprodukten aus der Haut, die unzutreffend als 
Menotoxine bezeichnet werden (Polano-Dietl), beweisen. Eine besondere Rolle 
spielt sicherlich die Schilddrüse, deren im Blutbilde erkennbare Hypofunktion ` 
Menorrhagien im Gefolge hat. Auch die Chlorose, die man heute auf ovarielle 
Hypofunktion zurückführt, erklärt manche Pubertätsblutung. Endlich hat man bei 
anderen endokrinen Störungen (Akromegalie, Addison) ebenfalls Menorrhagien be- 
obachtet. 

Bei den innigen Wechselbeziehungen zwischen endokrinem und nervösem 
System ist es verständlich, daß die dem vegetativen Nervensystem unmittelbar 
unterstehende vasomotorische Regelung gerade zur Zeit der Menses Störungen in ihre 
Erscheinung treten läßt, wenn, „aus psychisch affektiven Ursachen oder auf Grund 
pathologischer Verschiebung der corticalen Erregbarkeit vasomotorische Störungen 
eintreten“ (Binswanger). So finden wir Menorrhagien bei hysterischen Erregungs- 
zuständen und bei starken Gemütsbewegungen; die häufig vor der Zeit einsetzenden 
Menses beim Aufsuchen des Arztes gehören ebenso hierher wie die auf sexueller 
Reizung beruhenden abnormen Blutungen. Bei letzteren kann ein Zuviel ebenso wie 
ein Zuwenig (z. B. Coitus interruptus) im einzelnen Falle die Ursache darstellen. 

Ferner können alle mit Stauungserscheinungen in den Beckengefäßen ver- 
bundenen Anomalien zu Menorrhagien führen, die durch eine Rückwärtslagerung 
der Gebärmutter dann besonders verstärkt werden. Die Ursachen für solche Stauungs- 
hyperämien sind recht zahlreiche: in erster Linie ein auf konstitutioneller Basis be- 
ruhender asthenischer Zustand mit enteroptotischen Erscheinungen, die durch un- 
hygienische Lebensweise, schnürende Korsetts, chronische Obstipation verstärkt 
werden (Aschner). Besonders macht sich diese konstitutionelle Schwäche in Form 
der Menorrhagien vorübergehend nach schweren Allgemeinerkrankungen bemerkbar 
(z. B. nach Infektionskrankheiten, Tuberkulose). Endlich ist noch die große Gruppe 


416 Polano-Diet!i. 


von Beckenhyperämien zu erwähnen, die mechanisch bedingt sind und sich vor 
allem bei dekompensierten Herzfehlern, Nieren- und Lebererkrankungen finden. Da 
auch bei chronischen Intoxikationen, die vom Intestinaltractus ausgehen, und bei 
sonstigen Allgemeinvergiftungen (Morphium, Nicotin) ebenfalls Menorrhagien be- 
obachtet werden, so gibt es eigentlich kaum eine Extragenitalerkrankung 
der Frau, die nicht zu einer Störung der ovariellen Funktion und damit 
zu einer pathologischen Form der Menstruation führen kann. Allerdings 
braucht dieselbe sich nicht immer in einer Verstärkung der Menses zu äußern; 
häufig schädigt sie den follikulären Apparat und führt zu Hypo- bzw. Amenorrhoen. 
Diese paradoxe Erscheinung ist ja besonders bei Tuberkulose und Chlorose in die 
Augen fallend. 

Wenn wir nun die für die Diagnose aus dieser kurzen Übersicht praktisch 
verwendbaren Folgerungen ziehen wollen, so lassen sich dieselben in folgenden 
Sätzen wiedergeben: Blutungen aus dem Uterus, die zeitlich atypisch, also 
als Metrorrhagien verlaufen, sprechen von vornherein für eine primäre 
Erkrankung der Gebärmutterschleimhaut, dieentweder palpatorisch oder 
mikroskopisch durch Probeabrasio im einzelnen Falle genauer bestimmt 
werden muß. Alle als Menorrhagien verlaufenden abnormen Blutungen 
sind wahrscheinlich sekundärer Natur und deuten auf eine Funktions- 
störung im Eierstock. Da die Ursachen für diese ovarielle Dysfunktion 
ebenso häufig außerhalbalsinnerhalbdesEierstocks gelegen sind, müssen 
Gesamtkonstitution, extragenitale Erkrankungen, endokrine Störungen, 
psychisch-nervöse Einflüsse bei der ätiologischen Diagnose mitberück- 
sichtigt werden. Eine Art Mittelstellung zwischen diesen beiden Haupt- 
gruppen nehmen endlich die Uterusblutungen ein, bei denen die Musku- 
. latur der Gebärmutter Anomalien aufweist, die zwar ursprünglich durch 
hormonale ovarielle Einflüsse bedingt sind, aber durch ihre Anwesen- 
heit den normalen Verlauf der Menses, insbesondere die physiologische 
Blutstillung, erschweren und auch zu pathologischen Schleimhautver- 
änderungen im Corpus führen können. Es läßt sich also durch eine ge- 
naue Anamnese über den Typus der Blutung bis zu einem gewissen 
Grade eine ätiologische Differenzierung erreichen, wenn auch oft genug 
Übergänge und Verschmelzung von primärer und sekundärer Schleim- 
hautblutung dieses Schema stören. 


Therapie der uterinen Blutungen. 


Bei einer Zusammenstellung der verschiedenen therapeutischen Methoden zur 
Bekämpfung uteriner Blutungen, zunächst ohne Berücksichtigung von klinischen 
Einzelheiten, ist als erste die medikamentöse Behandlung zu nennen. 

Die blutstillende Wirkung der Mutterkornpräparate beruht auf ihrer Fähig- 
keit, stimulierend, kontrahierend auf glatte Muskelfasern, insbesondere auf den massigen 
Uterus einzuwirken, den Blutdruck zu steigern, die sympathischen Nervenendigungen 
in den Gefäßen zu lähmen. Die zum Teil enorm toxischen Eigenschaften der in 
der Droge enthaltenen Amine haben Veranlassung gegeben, Präparate herzustellen, 
bei denen die giftigen Stoffe ausgeschaltet, die wirksamen Bestandteile in optimaler 
Kombination isoliert oder ganz synthetisch dargestellt sind. 

Es ist nicht Aufgabe dieser Abhandlung, das ganze Heer einschlägiger pharma- 
kologischer Präparate anzuführen; es seien lediglich die angegeben, die sich uns 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 417 


im klinischen Betriebe bewährt haben, womit aber nicht gesagt sein soll, daß sich 
mit manchen anderen Präparaten ein gleich günstiger Erfolg hätte erzielen lassen. 

Secacornin in Tropfenform erweist sich vielfach als brauchbar, es kann 
eventuell mit Extr. Sec. corn. zwecks rascherer Wirkung kombiniert werden (Opitz). 
Einen Extraktivstoff aus dem Mutterkorn, der 4mal so stark als die Droge wirkt, 
stellt das Secalysat dar, das in Tropfen oder als Injektion verabreicht werden kann. 
Secalysat + N + S (Novocain + Suprarenin) bringt raschere, nachhaltigere Wirkung. 

Einen großen Erfolg hatte die Pharmakologie mit der Einführung des Gyner- 
gens (lösliches Ergotamintartrat) zu verzeichnen. Bei Injektion schon von 0'1 bis 
02 mg ist die contractive Wirkung äußerst prompt. Es steigert die Sensibilität 
schlaffer Uteri ganz erheblich, eine erwünschte Erscheinung bei Abortblutung. In 
Tablettenform kann es ebenfalls verabreicht werden, doch soll zur Vermeidung 
unangenehmer Nebenerscheinungen (Augenflimmern, Schwindel) nach dem Ein- 
nehmen Bettruhe verordnet werden. 

Von den synthetisch hergestellten Secalepräparaten ist das Tenosin das be- 
kannteste. Als Tropfen verabreicht wirkt es langsamer als nach Injektion, jedoch 
hält die Wirkung länger an. 

Aus Hydrastis canadensis dargestellt, erhöhen Hydrastinin und Liqui- 
drast den Uterustonus. Doch ist ihre Wirkung langsam, mehr wellenförmig. Das 
geruch- und geschmacklose synthetische Hydrastinin. hydrochloricum ist den 
Drogenpräparaten in der Wirkung mindestens ebenbürtig. 

Bei mäßigen Blutungen wirkt als vasoconstrictorisches Mittel Stypticin (salz- 
saures Cotarnin) oft recht günstig. 

Von den Präparaten aus Capsella bursae pastoris — Styptisat und Sicco- 
stypt — ist vorerst nur eine beschränkte Wirkung zu erwarten. 

Unter den Organpräparaten nehmen die Ovarialpräparate die erste Stelle 
ein. Seitz und Wintz konnten aus dem Corpus luteum einen Stoff, das Luteolipoid 
darstellen, dem eine ausgesprochen blutungshemmende Wirkung innewohnt. Von 
den im Handel befindlichen Ovarialpräparaten hat sich das Luteoglandol noch 
am besten bewährt. 

Die Wirkung der aus den Extrakten von Hypophysenhinter- und -mittellappen 
hergestellten Mittel ist ähnlich wie beim Gynergen keine centrale, sie greifen viel- 
mehr an: den Nervenendigungen im Organ selbst an, bewirken Blutdrucksteigerung, 
Tonuserhöhung und Contraction im Uterus. Ist jedoch eine bestimmte optimale 
Wirkung erreicht, so vermögen auch weitere Dosen diese nicht mehr zu steigern. 
Von einer Toxizität der Präparate kann kaum gesprochen werden. Sie sind unter 
der Bezeichnung Hypophysin, Pituitrin, Pituglandol erhältlich. 

Adrenalin wirkt mittels Watteträger auf die Schleimhaut in 1%iger Lösung ca. 
1 Minute appliziert. Injiziert wird es am besten unter Kombination mit einem Secale- 
präparat. Zu lokalen Ätzungen der Uterusschleimhaut werden 20% alkoholische 
Carbolsäurelösung, 30% Formalin, reine Jodtinktur Anwendung finden. 

Als zweite Gruppe der therapeutischen Methoden ist die Strahlenbehand- 
lung zu nennen, die das ovarielle Parenchym funktionell schwächt oder aus- 
schaltet. 

Auf die biologisch-physikalischen Einzelheiten der Röntgentherapie einzu- 
gehen, ist nicht der Zweck dieser Mitteilung. Es sollen lediglich grundlegende 
Beobachtungen erwähnt werden, aus denen sich die Wirkungsweise und die Brauch- 
barkeit der Röntgentherapie von selbst ergibt. Die Strahlenempfindlichkeit der ein- 
zelnen Zellgruppen im Ovar ist je nach ihrem Reifungsgrad verschieden. Am 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 27 


418 Polano-Dietl. 


 empfindlichsten ist der reife oder der der Reife nahe Follikel, weniger die Pri- 
mordialfollikel, am wenigsten die Zellen des Corpus luteum. Die Dosis, die genügt, 
den ganzen Follikelapparat dauernd zu vernichten, die Kastrationsdosis, beträgt nach 
Seitz und Wintz 35% der Hauteinheitsdosis. Von der Dosis ist die Schnelligkeit 
der Wirkungen abhängig, auch von der Zeit, innerhalb welcher die Dosis verab- 
reicht wird. Da es beim Ovar als einem in der Tiefe liegenden Organ technisch 
nicht möglich ist, die zur akut funktionsvernichtenden Wirkung benötigte Dosis zu 
applizieren, wird sich die Wirkung einer ÖOvarialbestrahlung erst mit dem Aus- 
klingen langsam verlaufender Nekrosevorgänge bemerkbar machen. Wir müssen 
also mit einer Latenzzeit rechnen, die je nach der Technik der Strahlenbehandlung 
bis mehrere Wochen betragen kann. Die optimale Wirkung. einer Bestrahlung kann 
ferner nur dann erwartet werden, wenn es gelingt, die Ovarien wirklich voll zu 
treffen, was nicht in jedem Fall möglich ist. 

Bei älteren Frauen wird vielfach die einmalige Bestrahlung den erwünschten 
Erfolg garantieren, falls zwischen der Bestrahlung und der zu erwartenden neuen 
Blutung ein Zeitraum von 3—4 Wochen liegt. Andernfalls wird die Sitzung nach 
4—6 Wochen wiederholt. Die Kastrationsdosis soll der prompteren Wirkung halber 
möglichst einzeitig gegeben werden, eventuell noch auf 2—3 Tage verteilt; die 
Applikation noch weiter zu verzetteln, hat sich als untunlich erwiesen, da die 
Wirkung der Bestrahlung sich dabei wesentlich verringert. Bei jüngeren Individuen 
muß naturgemäß die Ausschaltung der Ovarialfunktion sich schwieriger gestalten, 
eine Wiederholung der Dosis wird fast immer nötig sein. Für die Strahlenbehand- 
lung ungeeignet sind: große Myome, die schon Druckerscheinungen hervorrufen, 
erweichte Myome, submuköse, gestielte Myome oder solche mit gleichzeitig be- 
stehenden Adnextumoren. 

Der Nachteil der Kastrationsbestrahlung, die Ovarialfunktion ein für allemal 
auszuschalten, hat Anlaß zum Ausbau weniger eingreifender Verfahren gegeben. 
Die halbseitige Kastration wird, wenn die Lage des betreffenden Ovars derartig ist, 
daß es sicher getroffen werden kann, gerade in Fällen von Pubertätsblutungen und 
Blutungen jüngerer Individuen in Betracht zu ziehen sein. Das von Gauss ange- 
` gebene Verfahren der temporären Kastration, bei dem die Ovarien mit 26—28 % 
H. E. D. angegangen werden, zum Zweck der Vernichtung reifer und reifender 
Follikel ohne Schädigung der Primordialfollikel ist für junge Frauen bei der heute 
möglichen genauen Dosierung eine sehr brauchbare Methode. Ihr haftet aber der 
Nachteil an, daß die Dauer der Amenorrhoe nicht im voraus zu bestimmen ist. 
Sie kann unerwünscht lange und unerwünscht kurz anhalten. Außerdem ist natur- 
gemäß die Wirkung nicht sehr prompt. Eine Keimschädigung, die sich bei einer 
späteren Gravidität bemerkbar machen könnte, ist nach den bisherigen Erfahrungen 
kaum zu erwarten. 

All den genannten Bestrahlungsarten hängt der Nachteil an, daß sie die Keim- 
drüse mehr oder weniger schädigen. Es sind deshalb Verfahren ausgearbeitet worden, 
die abseits vom Ovar zur Regulierung seiner Tätigkeit an den Drüsen mit innerer 
Sekretion angreifen. Die Hypophysenbestrahlung oder, vielleicht besser, die 
Bestrahlung der Hypophysengegend, scheint eine brauchbare Methode zu werden. 
Bis heute ist aber trotz anfänglicher, vielversprechender Ergebnisse die Technik 
nicht so weit ausgebaut, daß sie als schadlos und stetig erfolgreich bezeichnet 
werden kann. Durch vorsichtige Bestrahlung der Nebennieren kann Senkung 
des Blutdrucks und damit günstige Einwirkung auf Uterusblutungen bewirkt werden. 
Wegen der hohen Empfindlichkeit der Nebennierenrinde wird aber diese Behand- 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 419 


lungsart über einen tastenden Versuch vorerst nicht hinauskommen. Dagegen scheint 
die Milzreizbestrahlung wegen ihrer außerordentlich raschen Wirkung ein 
wirksames Mittel gegen Menorrhagien, besonders gegen Polymenorrhoe zu sein. 
Es handelt sich dabei wohl hauptsächlich um eine Erhöhung der dem Ovar antago- 
nistischen Fähigkeiten der Milz. Das Verfahren hat sich auch uns in einer Anzahl 
von Fällen bewährt. Am besten wird die Milzbestrahlung 8 Tage nach der Regel 
vorgenommen. Wird während einer Blutung bestrahlt, kann unter Umständen diese 
erheblich verringert werden. Es sei nur noch d@rauf hingewiesen, daß die Dauer 
der einzelnen Bestrahlungen immer von der Art der Applikation, ob Großfernfeld- 
oder Kleinfelderbestrahlung, und von der verwendeten Apparatur abhängig ist. 
Moderne Instrumente gestatten die Ausführung der Kastration schon mit 90, sogar 
mit 50 Minuten Bestrahlungsdauer. 

Die Behandlung von Uterusblutung durch intrauterine Radiumeinlage 
hat sich besonders für die klimakterischen Formen als sehr brauchbar erwiesen, 
auch ist mit ihr die Kastration durchführbar. Wird letztere nicht gewünscht, so ist 
das Verfahren weniger geeignet, da eine Schädigung der Ovarien nicht absolut 
auszuschließen ist. Da außerdem als Folge der Radiumbestrahlung, insbesondere 
bei vaginaler Applikation, häufig Schrumpfungserscheinungen, vor allem der Scheide, 
auftreten, wird bei jungen Frauen von dieser Behandlungsart wohl nur selten Gebrauch 
gemacht werden. Kontraindiziert ist sie auch bei den submukösen Myomen und bei 
Komplikation mit Adnextumoren. 

Was nun die Anwendung der übrigen physikalischen Heilmethoden anlangt, 
so wurde die eingreifende Atmokausis wegen ihrer Unsicherheit von den meisten 
aufgegeben. Das ganze übrige Rüstzeug der physikalischen Therapie wirkt ja 
fast ausschließlich hyperämisierend, ist nur in blutungsfreier Zeit anwendbar und 
verspricht nur durch die Abheilung entzündlicher oder degenerativer Veränderung 
der Genitalorgane Besserung etwaiger Blutungen. Für diese Art von Therapie können 
die Diathermie, Ultrasonnenbehandlung, Hydrotherapie, eventuell auch Bäderbehand- 
lung herangezogen werden, doch wird man mit allen diesen Mitteln bei patho- 
logischen Blutungen äußerst zurückhaltend sein. 

Wir kämen zur letzten Gruppe unserer Therapie: die operative Behandlung. 

An operativen, kleineren Eingriffen stehen die Scarification der Portio und die 
Abrasio der blutenden Schleimhaut zur Verfügung. 

Die Scarification der Portio wird bei Stauungsblutungen und bei Blutungen ` 
infolge Metritis oft von Erfolg begleitet sein, wenn sie mehrmals, besonders auch 
kurz vor Eintritt der Regel, vorgenommen wird. 

Eine absolut prompte, wenn auch nicht immer dauernde Wirkung gestattet 
nach vorheriger Cervixerweiterung die Abrasio zu erzielen, besonders wenn auch 
Fundus und Tubenecken sauber abgekratzt werden. Da das Stehenbleiben unver- 
sehrter Schleimhautinselchen nie mit Sicherheit zu vermeiden ist, sollte an die Aus- 
schabung regelmäßig eine Ätzung des Uteruscavums angeschlossen werden. Wir 
verwenden dazu eine 10% ige alkoholische Carbolsäurelösung, von der 10 cm? mittels 
einer Braunschen Spritze langsam injiziert werden. Eine gleichzeitige Scheidenspülung 
verhütet Verätzung der Scheidenschleimhaut oder des Anus durch rückfließende 
Säure. Dem Vorschlage Hofmeiers folgend, werden vom 3. Tag nach der Abrasio 
mit 2—3 Tagen Pause die Ätzungen wiederholt, so daß die Regeneration der Schleim- 
haut sich unter dem Einfluß dieser Spülungen vollzieht. 

Für die Blutungsformen, die sich jedem der besprochenen Therapiezweige 
gegenüber refraktär verhalten, bleiben noch die großen operativen Eingriffe übrig. 

27° 


420 Polano-Dietl. 


Als verhältnismäßig wenig eingreifend kann noch die von Thaler empfohlene 
Resektion kleincystisch degenerierter Ovarialabschnitte bezeichnet werden, 
die, falls die Ursache der Blutungen lediglich in der Ovarialveränderung bedingt 
war, äußerst befriedigende Erfolge zu verzeichnen hat (Köhler). Die Conceptions- 
fähigkeit wird bei ihr nicht gestört. 

Anders bei allen anderen Operationen. Sie haben den Endzweck, den blutenden 
Uterus zu entfernen. Bei Frauen, die schon geboren haben und vor dem Klimak- 
terium stehen, wird die vaginale#*Totalexstirpation unter Belassung der Ovarien 
vorgenommen. Oestattet die Enge der Scheide ein vaginales Operieren nicht, so wird 
abdominal vorgegangen. Bei Frauen, die noch mitten in der Geschlechtsreife stehen, 
sollte zur Erhaltung der für die Scheidenbiologie so wichtigen Cervix supra- 
vaginal amputiert werden. Auch kann in solchen Fällen durch Belassung eines 
kleinen Stückes Uterusschleimhaut noch die Möglichkeit einer späteren Menstruation 
offen gelassen und der Patientin so das bedrückende Bewußtsein einer Verstümme- 
lung erspart werden. Ist die Ursache der Uterusblutungen in Veränderungen der 
Adnexe bedingt und muß operiert werden, so wird natürlich das Bestreben dahin 
gerichtet sein, wenn irgend möglich wenigstens einen Teil Ovarialsubstanz zu 
erhalten und lieber den blutenden Uterus zu opfern, als die Frau durch Exstirpation 
beider Ovarien zu kastrieren. 

Wenn wir diese zahlreichen Methoden betrachten, mit denen man die uterinen 
abnormen Blutungen zu bekämpfen versucht, so denkt man an die alte Erfahrung: 
je mehr Mittel, umso weniger zuverlässig ihre allgemeine Brauchbarkeit; und in der 
Tat läßt sich trotz unserer durch wissenschaftliche Arbeit gewonnenen Erkenntnis 
über die zahlreichen Ursachen der uterinen Blutung nur in beschränktem Maße eine 
wirkliche ätiologische Therapie durchführen. Die Gründe hierfür sind: 1. Schwierig- 
keiten in der Diagnostik des speziellen ätiologischen Faktors, 2. vielfache Unwirk- 
samkeit einer specifischen Organtherapie, 3. die Unmöglichkeit, eine langsam wirkende 
kausale Therapie wegen alarmierender Allgemeinerscheinung durchzuführen. Es 
wirkt fast tragikomisch, wenn jede moderne Abhandlung über Uterusblutungen 
sich stolz der wissenschaftlichen Erkenntnis rühmt: Die alte Lehre von der Endo- 
metritis ist abgetan, die frühere kritiklos angewendete Abrasio ist überwunden, um 
hinterher bei der Besprechung der Therapie die Curettage aus diagnostischen oder 
palliativen Gründen mehr oder minder verschämt wieder zu empfehlen. Wir 
müssen eben die Fälle bei der Behandlung nicht nur nach ihrer Ätio- 
logie, sondern auch nach ihrem Gesamtzustand abwägen. Ein junges 
Mädchen, das erst einigemale stärkere Menorrhagien gehabt hat, ist natürlich 
anders zu werten als eine infolge von jahrelanger Metropathia haemorrhagica 
völlig ausgeblutete Frau. Eines darf man trotz aller Anathemata, die man gegen 
die Auskratzung hört, nie vergessen: Die gründliche Abrasio des Uterus mit 
nachfolgender mehrmaliger gründlicher Ätzung des Cavums ist auch 
heute noch von allen kleinen Eingriffen das sicherste Verfahren, um 
eine primäre oder sekundäre Uterusblutung augenblicklich zum Stehen 
zu bringen. Wir haben seit Jahren bei einem reichlichen poliklinischen Material 
grundsätzlich in allen Fällen schwerer Uterusblutungen, wenn keine Kontraindikation 
bestand und nicht die sofortige Totalexstirpation nötig war, die Ausschabung und 
Ätzung durchgeführt, u. zw. meistens, durch äußere Gründe gezwungen, ambula- 
torisch, d. h. Narkose, Operation, Östündige Bettruhe, Entlassung und Wieder- 
bestellung zur wiederholten ambulatorischen Ätzung. Die Augenblickserfolge waren 
durchaus gute. Daß damit die Behandlung nicht beendet, sondern erst eingeleitet 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 421 


wird, ist selbstverständlich; aber wir haben jetzt Zeit gewonnen und können bei 
stehender Blutung viel leichter und wirksamer die Allgemeinbehandlung anschließen. 
Trotzdem wir also die Auskratzung als palliative Operation ungeheuer hoch ein- 
schätzen, bestreiten wir keineswegs, daß früher in leichten Fällen überflüssigerweise 
curettiert wurde und vor allem oft genug bei derselben Patientin in kurzen Zwischen- 
räumen in zweckloser Weise die Abrasio wiederholt wurde. Daß dies verkehrt und 
aussichtslos ist, verdanken wir den neuen Forschungen über die sekundären Uterus- 
blutungen. 

Wenn wir nun in folgendem festumschriebene Richtlinien für die Behand- 
lung der pathologischen Uterusblutungen zu geben versuchen, so würde sich die 
Therapie der primären uterinen Blutungen mit einer lokalen Behand- 
lung decken. Endometritis post abortum et partum müssen durch Entfernung der 
fötalen Elemente mittels Curette behandelt werden. Sind die Blutungen gering, 
beruhen sie also wahrscheinlich nur auf einer ungenügenden decidualen Rückbil- 
dung, so kann der Versuch gemacht werden, durch Darreichung von Secale- 
präparaten und Auswischung des Uteruscavums mit Ätzmitteln (10%iger Carbol- 
alkohol, 30% iges Formalin) eine Abstoßung der erkrankten Schleimhaut zu erreichen. 
Schneller führt auch hier jede Abrasio zum Ziel, die bei Retention größerer 
Zottenreste und Placentarpolypen überhaupt notwendig ist, am besten mit nach- 
folgender einmaliger Ätzung des Uteruscavums (z. B. 10 cm? 10% igen Carbolalkohols 
mittels Intrauterinspritze). Auf die Gefahr, daß kleine Polypen in den Tubenecken 
sich der Curette entziehen, wurde bereits hingewiesen; die digitale Austastung muß 
in solchen Fällen Klarheit schaffen. Auf die Behandlung der Myome und Carcinome 
einzugehen, liegt natürlich außerhalb des Rahmens dieser Mitteilung. Wir möchten 
nur darauf hinweisen, daß von vorneherein jede Abrasio aus diagnostischen Gründen 
so gründlich ausgeführt werden muß, daß sie gleichzeitig therapeutisch wirkt. End- 
lich sei nochmals bemerkt, daß jede frische Entzündung am Uterus und seiner Um- 
gebung jede lokale Therapie im Uterusinriern contraindiziert. 

Die Therapie der sekundären Uterusblutungen stellt ein praktisch un- 
gleich schwierigeres Kapitel dar. Neben der Vielheit der Ätiologie ist hier die ver- 
schiedene Schwere des Krankheitsbildes für die Art der Behandlung entscheidend. 
Es ist sicherlich richtig, daß das Weib ungleich leichter Blutverlust erträgt als der 
Mann. Ebenso sicher ist es aber, daß periodisch immer wiederkehrende schwere 
Blutungen auch bei der Frau diese relative Toleranz völlig aufheben können, so 
daß unvermutete Todesfälle die Folge sein können, u. zw. auch bei jugendlichen 
Personen. Blutuntersuchung, Anamnese, klinischer Gesamteindruck beeinflussen ent- 
scheidend die Therapie. Es ist ferner praktisch unerläßlich, die Verhältnisse bei jugend- 
lichen virginellen Personen von denen bei älteren Frauen und Mädchen zu sondern. 
Solange es irgend angängig ist, wird man gerade bei jungen Mädchen von jeder 
lokalen Therapie Abstand nehmen und bestrebt sein, durch allgemeine Maßnahmen 
die ovarielle Dysfunktion und Gleichgewichtsstörung im noch nicht vollreifen 
Organismus zu beseitigen. Hygiene des täglichen Lebens muß vor allem berück- 
sichtigt werden, d. h. Schlaf, Ernährung, Stuhlgang, körperliche und geistige Arbeit 
und Erholung müssen in gesundheitsmäßige Form gebracht werden, überflüssige 
Excitantien (Tee, Kaffee, Nicotin, schlechte Lektüre u. s. w.) ausgeschaltet werden, 
um jede vasomotorische Erregbarkeit herabzusetzen. Eisen-, Arsen-, Calciumpräparate 
werden verordnet. Auch der von Aschner empfohlene Aderlaß verbunden mit 
purgierenden Mitteln hat uns mehrmals Erfolg gebracht. Alles in allem: bei 
jugendlichen Patientinnen tritt die Allgemeinbehandlung, die sich natür- 


422 Polano-Dietl. 


lich den sozialen Verhältnissen anpassen muß, bei den leichteren Menorrhagien 
als Haupttherapie in den Vordergrund und wird unterstützt durch die Be- 
handlung mit Stypticis: Bettruhe am 1. bis 2. Menstruationstag, Secalepräparate, wo- 
möglich 3 Tage vor der Menorrhagie beginnend und während derselben 3mal 
täglich genommen. Eine vorzügliche Förderung findet in schwereren Fällen diese 
Therapie durch die während der Blutung täglich angewandte subcutane Injektion 
einer Ampulle Pituglandol. Auch Adrenalin hat sich uns in gleicher Weise ange- 
wendet ebenfalls gut bewährt (1 cm? einer 1%igen Lösung). 

Hiermit sind wir zu den organtherapeutischen Mitteln gekommen, die, soweit 
es sich um ovarielle Präparate handelt, eine große Enttäuschung bereitet haben. 
Nur einige Corpus luteum-Präparate bilden in günstigen Fällen eine vorteilhafte 
Ausnahme; am besten bewährt sich das Luteoglandol (in Tablettenform 3mal täglich 
8 Wochen lang 1 Tablette, während der Menorrhagie die doppelte Menge; noch 
wirksamer sind subcutane Injektionen). Inwieweit es sich bei allen organtherapeuti- 
schen Mitteln um eine wirkliche specifische Wirkung handelt, ist recht fraglich 
(Zondek). Tatsache ist, daß man auch mit nichtspecifischen Injektionen (Nicht- 
schwangeren- oder Schwangerenserum, Pferdeserum, Terpentinöl und anderen proto- 
plasmaaktivierenden Stoffen) auch bei Menorrhagien bisweilen eine erfolgreiche Reiz- 
körpertherapie treiben kann. Eine gute Kombination von Eisen- und Organtherapie 
bildet das Ovaridentriferrin Knoll 3 Tabletten täglich 2 Monate lang. 

Eine ausgesprochene specifische Wirkung müssen wir aber den Schilddrüsen- 
. präparaten zusprechen, die uns bei Zeichen einer Unterfunktion dieses Organs (s. o.) 
mehrfach ausgezeichnete Dienste geleistet haben. Hierbei wird man nach den neuesten 
Erfahrungen bei der Kropftherapie auch versuchen, mit weit kleineren Dosen, als 
bisher üblich, zum Ziele zu kommen. Wir selber haben allgemein mit einer halben 
Tablette täglich von 0'1 Thyreoidin Erfolg gehabt ohne unangenehme Nebenwirkung. 
Die früher vielfach erfolgreich angewendete Jodkalibehandlung beruht wohl eben- 
falls auf der gleichen Voraussetzung der Jodzufuhr. (Auch von ihr wird man heut- 
zutage in mehr homöopathischer Dosis Gebrauch machen. 

Nur in schweren Fällen wenden wir bei jugendlichen virginellen 
Personen die Abrasio als palliative Operation an, die bei roborierender 
Nachbehandlung in 50% aller Fälle zur Dauerheilung führt (R. Schröder), 
während wir bei älteren Mädchen und Frauen aus diagnostischen und 
therapeutischen Gründen die einmalige Auskratzung als den gegebenen 
Weg zur Einleitung einer rationellen Therapie betrachten. Ganz beson- 
ders gilt dies für alle klimakterischen Fälle von Metropathia haemorrha- 
gica, bei denen man ebenfalls allein durch die Ausschabung bei 50% 
einen Dauererfolg erzielt. Läßt sich die Abrasio aus irgend einem Grunde 
nicht durchführen, so kann durch vaginale Tamponade, durch eine in 1% Adre- 
nalinlösung getränkte, mit Watte umwickelte Playfair-Sonde, die 2—3 Minuten in 
der Cervix liegen bleibt (Mannsfeld), bisweilen ebenfalls ein guter Augenblicks- 
erfolg bei der Blutstillung erzielt werden. Es bleibt aber leider eine noch recht 
beträchtliche Zahl von Kranken übrig, in denen wir mit dieser konservativen 
Therapie nicht zum Ziele kommen. 

Wenn wir zunächst von der Resektion der Eierstöcke als einem zwar viel ver- 
sprechenden, aber klinisch noch nicht ausreichend erprobten Verfahren absehen, 
kommt bei diesen Fällen nur die Strahlenbehandlung oder die Uterusexstirpation in 
Frage Im allgemeinen wird die Röntgenkastration, vor allen Dingen bei 
älteren Frauen nach vorheriger erfolgloser Abrasio das gegebene Ver- 


Über Uterusblutungen und ihre Behandlung. 423 


fahren sein. Für die Mehrzahl aller Blutungen, die nicht gerade lebensbedrohlich 
sind, ist auch bei Jugendlichen sicherlich die Milzbestrahlung oder die temporäre 
Kastration mittels Röntgenstrahlen das gegebene. So zurückhaltend sich wohl jeder 
instinktiv einer derartigen Ausschaltung der Eierstöcke aus dem Körperhaushalt Jugend- 
licher gegenüber verhält, die klinische Erfahrung beweist doch, daß bei richtiger Technik 
sich die Ovarien wieder erholen, daß dann auch bedenkliche Folgen für die Nach- 
kommenschaft nicht zu befürchten sind, während natürlich die verstümmelnde Operation 
irreparable Verhältnisse schafft. Aber auch hier muß von Fall zu Fall entschieden 
werden. Wir erinnern nur an die eindrucksvolle Mitteilung eines unserer führenden 
Gynäkologen, der 2 junge Mädchen verlor, bei denen er sich zur Operation nicht 
entschließen konnte. Wir selber haben in jüngster Zeit bei einer 22jährigen rhachiti- 
schen Zwergin wegen schwerer Menorrhagien nach erfolgloser Anwendung von 
Abrasio, Organtherapie u. s. w. die supravaginale Amputation durchgeführt, als das 
technisch einfachere Verfahren, weil diese verkrüppelte Patientin, wie sie selber 
angab, zur Fortpflanzung unfähig war. Bei älteren Frauen wird man sich, zumal 
wenn submuköse Myome in Frage kommen, zur vaginalen Totalexstirpation 
bei Frauen mit weiter Vagina entschließen, während bei enger Scheide die supra- 
vaginale Amputation von oben her der technisch einfachere Weg ist. Daß sich 
diese Frauen dann ungemein schnell erholen, u. zw. schneller als nach der Röntgen- 
bestrahlung, möchten wir in Übereinstimmung mit Sellheim ausdrücklich hervor- 
heben. Sollten die günstigen Erfahrungen Thalers und Köhlers mit der Resek- 
tion der Ovarien sich an einem größeren Material weiter bestätigen, so wäre 
hiermit ein Verfahren gegeben, das gerade bei Jugendlichen die temporäre Kastration 
und die dauernde Verstümmlung umgehen läßt. 

Wir haben in Vorstehendem versucht, auf Grund eigener und fremder Erfah- 
rungen einen gedrängten Überblick über den jetzigen Stand der Lehre ‘von den 
Uterusblutungen und ihre Behandlung zu geben, ein wichtiges Kapitel der Gynä- 
kologie, das, wie wir gesehen haben, für Diagnostik und Therapie, für Wissenschaft 
und Praxis auch heute noch manche Fragen unbeantwortet läßt. 


Das Hirschsprungsche Syndrom 
(Megacolon congenitum). 


Von Prof. Dr. Kj. Otto af Klercker, Lund. 
Mit 4 Abbildungen im Text. 


Begriffsbestimmung. 


Als der bekannte dänische Pädiater im Jahre 1888 zuerst die Aufmerksamkeit 
auf das später nach ihm benannte Krankheitsbild hinlenkte, hatte er ein paar Fälle 
im Auge, an denen, gleich von der Geburt, Schwierigkeiten bei der Abführung in 
Verbindung mit kolossaler Auftreibung des Unterleibs vorhanden waren, und wo 
nach dem Tod im Alter von 11 bzw. 8 Monaten eine bedeutende Erweiterung des 
Kolons mit starker Hypertrophie der Muskelwandung bei der Sektion gefunden wurde, 
ohne daß als Ursache hierfür eine Verengerung im unteren Teil des Darmes sich 
feststellen ließ. In einer zusammenfassenden Darstellung (1904), wo Hirschsprung 
seine gesamte, auf die eigene Beobachtung von 10 Fällen sich stützende Erfahrung 
vorlegt und nun auch die von Mya im Jahre 1894 vorgeschlagene Benennung 
Megacolon congenitum akzeptiert, hebt er ausdrücklich hervor, daß es sich hier 
um eine Krankheit sui generis handle, die scharf zu trennen sei von einer Reihe 
Dilatationen mit Hypertrophie infolge Beeinträchtigung der Darmperistaltik durch 
fötal entstandene Hindernisse, und daß das am meisten Charakteristische gerade 
das Vorhandensein von Passageschwierigkeiten sei, trotzdem das Darmlumen überall 
frei und geräumig sei. Inzwischen hatte es nämlich nicht an Bestrebungen gefehlt, 
die Dilatation und Hypertrophie auf ein unten im Darme gelegenes Hindernis 
irgendeiner Art zurückzuführen. In der Folge wird die „Hirschsprungsche Krank- 
heit“ auch immer mehr in diesem erweiterten Sinn gefaßt, so daß Konjetzny (1911) 
sogar die Existenz einer Megakolie im Sinne Hirschsprungs in Zweifel ziehen 
wollte. Wenn man nun auch im allgemeinen nicht so weit gegangen ist, die Möglich- 
keit des Vorkommens von Fällen ohne bestimmt feststellbare Darmhindernisse ab- 
zulehnen, ist diese erweiterte Fassung des Begriffes doch immer mehr durchgedrungen 
(Kleinschmidt [1912], Marfan [1923] u.a.). Hierzu kann man ja einwenden, daß 
es als unangebracht erachtet werden muß, Krankheitsfälle nach Hirschsprung zu 
benennen, welche er selbst ausdrücklich für nicht angehörend hielt. Die nämlichen 
Fälle sollten vielmehr je nach der Art der organischen Hindernisse bezeichnet werden, 
z.B. Abknickung, Achsendrehung, Strangulation, Darmstenose u. s. w. (Ishikawa). 
Zugegeben, es sei das Ideal, wonach wir immer streben müssen, schon im Leben 
eine präzise anatomische Diagnose stellen zu können, erreichen läßt sich dieses 
Ideal jedoch bei weitem noch nicht. Wenigstens wenn wir nicht mit unserer Diagnose 
bis zu einer eventuellen Autopsie zurückhalten wollen, und als praktischer Arzt können 
wir das nicht tun, so müssen wir uns in den meisten Fällen gewiß mit weniger 
bescheiden und uns zufrieden geben, wenn es gelingt festzustellen, ob überhaupt 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 425 


ein obstruierendes Hindernis sich vorfindet oder nicht. Und sogar über diesen 
Kardinalpunkt dürfte manchmal auch erst eine Operation oder Sektion die sichere 
Entscheidung bringen können. Wenn somit die klinischen Symptome, unbeschadet 
der einen oder der anderen Entstehungsart, identisch sein können, muß es vom 
klinischen Standpunkt aus ganz richtig erscheinen, daß die Fälle auch unter eine 
gemeinsame Benennung eingereiht werden, wobei es wohl am nächsten liegt, sich 
des schon vielerorts eingebürgerten Fachworts der „Hirschsprungschen Krankheit“ 
oder des Megacolon congenitum zu bedienen, umsomehr als Hirschsprung selbst 
auf die Schwierigkeiten, während des Lebens eine scharfe Grenze ziehen zu können, 
aufmerksam macht und sogar einräumt, daß gewisse seiner eigenen, nur klinisch 
beobachteten Fälle vielleicht unrichtig klassifiziert worden seien. Nur möchte ich 
vorschlagen, in der ersten Bezeichnung das Wort „Krankheit“ mit „Syndrom“ zu 
ersetzen, damit gleich in der Benennung die erweiterte Fassung zum Ausdruck 
gebracht werde. Theoretisch sind also gewiß zwei Formen zu unterscheiden, eine 
primäre (idiopathische, Hirschsprungsche Krankheit sensu strictiori), wo die Darm- 
höhle vollständig frei und durchgängig ist, und eine sekundäre (symptomatische, 
die auch wenig gut Pseudomegakolon genannt worden ist), deren Entstehung auf 
ein obstruierendes Hindernis zurückgeführt werden muß. Praktisch kommt aber, 
wie wir sehen werden, hier noch die Schwierigkeit hinzu, daß es im einzelnen Fall, 
auch bei sicher festgestelltem Hindernis, nicht immer möglich ist zu entscheiden, 
inwieweit dasselbe tatsächlich etwas Ursprüngliches darstellt und nicht erst nach 
Ausbildung des Megakolons sich entwickelt hat. Von verschiedenen Seiten wird 
nicht selten der Vorbehalt gemacht, daß das Hindernis nicht in einer am auf- 
geschnittenen Darm nachweisbaren Verengerung bestehen darf. Klinisch muß aber 
gegen eine solche Einschränkung Einspruch gemacht werden, da ja, wie gesagt, 
eine derartige Präzisierung ohne Autopsie meistens nicht möglich ist. Unbedingt 
muß aber die Forderung gestellt werden, daß das Hindernis schon fötal entstanden 
sein soll oder wenigstens auf fötal vorhandene Anomalien zurückgeführt werden 
kann. Bezüglich der Erwachsenen sind darum auch höchstens diejenigen Fälle hier- 
her hinzurechnen, deren Symptome erweislich bis zur allerfrühesten Kindheit zurück- 
verfolgt werden können, alle anderen, wo das Megakolon erst im späteren Leben 
entstanden ist, bilden eine Gruppe für sich, die nicht mit der soeben besprochenen 
zusammen behandelt werden darf, und welcher lieber keine auf Hirschsprung 
hindeutende Bezeichnung zuteil werden sollte. Jedenfalls werde ich diese Fälle, die 
wir als Megacolon acquisitum bezeichnen können, in der folgenden Übersicht 
nicht mit berücksichtigen. 


Folgendes Schema mag das Gesagte kurz erläutern: 


I. Megacolon congenitum 
(=Hirschsprungsches Syndrom). 
Praktisch 1. Primäre (Idiopathische) Form 
nicht immer (—=Morbus Hirschsprung sensu strictiori). Darmlumen frei. 
voneinander | 2. Sekundäre (Symptomatische) Form. Infolge eines obstruierenden 
zu scheiden. Darmhindernisses. 


II. (Megacolon acquisitum). 


Klinik des Syndroms. 


Das klinische Bild ist im allgemeinen sehr deutlich ausgeprägt und in den 
verschiedenen Formen im großen und ganzen ziemlich gleich. Knaben werden 


426 Kj. Otto af Klercker. 


öfter befallen als Mädchen. In bezug auf den Zeitpunkt des Erscheinens der 
ersten Symptome findet sich aber in den verschiedenen Fällen keine vollkommene 
Übereinstimmung. Da man nun nicht immer so genau die primären und sekundären 
Formen hat auseinanderhalten können, ist es nicht möglich zu sagen, von 
welcher Bedeutung die Entstehungsweise hier sein kann. Nur eine eingehende 
Bearbeitung möglichst vieler sowohl klinisch als pathologisch-anatomisch genügend 
untersuchter Fälle würde hier weiterführen können. Angesichts der immer sehr 
begrenzten Erfahrung des einzelnen müßten offenbar einschlägige Literaturfälle 
hierfür verwertet werden. Soviel ich weiß, ist eine Zusammenstellung von solchem 
. Gesichtspunkt aus bisher von niemand gemacht worden. Sie wäre doch sehr 
wünschenswert und würde wahrscheinlich auch sonst unser Verständnis für die 
klinischen Vorgänge in vielen Beziehungen erweitern können, so z.B. in bezug auf 
Einzelheiten des weiteren Verlaufes u.s.w. Vorderhand muß also die klinische 
Schilderung ohne Bezugnahme auf eventuelle Eigenarten im Verlauf der verschiedenen 
Formen gemacht werden. 

In der Regel handelt es sich um rechtzeitig geborene, bei der Geburt gut 
entwickelte Kinder, an denen anfangs nichts Pathologisches wahrzunehmen ist. Das 
am frühesten beunruhigende Zeichen ist gewöhnlich eine sehr hartnäckige Ver- 
stopfung. Am öftesten tritt diese schon unmittelbar nach der Geburt ein, so daß 
der Arzt schon in den ersten Tagen zu Rate gezogen wird, weil die Entleerung 
des Mekoniums auf sich warten läßt. In anderen Fällen wird aber ausdrücklich an- 
gegeben, daß das Kind eine Zeitlang regelmäßig normale Stühle gehabt hatte, und 
daß sich erst nach Wochen oder Monaten, zuweilen offenbar im Anschluß an eine 
Veränderung des Ernährungsregimes, bei dem Übergang zur künstlichen Nahrung, 
eine plötzliche Stuhlverhaltung eingestellt habe. Die Verstopfung erreicht sofort den 
höchsten Grad, so wie es sonst nie vorkommt. Spontane Entleerungen kommen 
nicht zu stande, höchstens gehen dann und wann Winde ab, die bald stark stinkend 
werden. Laxantia wirken sehr wenig oder gar nicht. Klistiere haben mitunter etwas 
besseren Erfolg, wenn auch immer einen sehr unvollständigen. 

Zu dieser Verstopfung tritt nun binnen kurzem, als die andere diesen Krank- 
heitszustand charakterisierende Veränderung, die meteoristische Auftreibung 
des Bauches hinzu. Schon nach ein paar Tagen kann sie bemerkt werden, und 
spätestens nach einigen Wochen hat sie den Umfang erreicht, daß sie unmöglich 
zu übersehen ist, um sehr bald ganz enorm zu werden. Kugelförmig wölbt sich 
nun der Bauch hervor, mit seinem größten Umfang ein wenig oberhalb des Nabels. 
Man bekommt zunächst den Eindruck eines kolossalen Bauchtumors (Fig. 97). Die 
Bauchdecken werden ungemein gespannt, die Haut ist dünn, glatt und glänzend, 
dilatierte Venen schimmern durch, mitunter erscheinen Ödeme in den lateralen 
Bauchpartien, ja sogar in den Beinen. Bei genauer Inspektion kann man, wenn die 
Bauchwand sich sehr verdünnt hat, die Konturen eines oder mehrerer gewaltig er- 
weiterten Darmteile deutlich wahrnehmen. Nicht selten sieht man auch peristaltische 
Bewegungen aufkommen, entweder spontan oder erst nach Bestreichung der Bauch- 
haut. Sie werden häufig als sehr charakteristisch hingestellt. So wird z. B. von 
Kleinschmidt? die sichtbare oder fühlbare Darmperistaltik den beiden 
anderen Kardinalsymptomen, der Obstipation und dem Meteorismus, als ein drittes 
gleich wichtiges Zeichen an die Seite gestellt. Hirschsprung wiederum bemerkt 
ausdrücklich: „que le mouvement p£ristaltique n'est pas trop prononcé.“ Die einzelnen 
Fälle können offenbar in dieser Beziehung ein verschiedenes Verhalten aufweisen. 
Vielleicht kommt sichtbare Peristaltik nur beim Vorhandensein eines Passagehinder- 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 427 


nisses vor. Jedenfalls kann es sich kaum um einen mit dem Hirschsprungschen 
Syndrom unbedingt verknüpften Vorgang handeln. 

Infolge des hochgradigen Meteorismus fühlt man bei der Palpation die Bauch- 
decken außerordentlich straff gespannt, und bei der Perkussion bekommt man 
einen stark ausgeprägten tympanitischen Schall, der sich bis weit auf den Thorax 
hinauf erstrecken kann. Die Leberdämpfung verschwindet meistens vollständig, und 
ebensowenig läßt sich die Milz durch Perkussion nachweisen. Zeitweilig kann eine 
erweiterte Kolonschlinge so von festen oder weichen Exkrementen ausgefüllt werden, 
daß ein förmlicher Kottumor zu stande kommt. Eine entsprechend umschriebene 
Dämpfung und ein charakteristischer Palpationsbefund ergeben sich dann als Zeichen. 
Sind die Kotmassen dagegen dünn, kann sich Flüssigkeit in den abhängigen Teilen 


Fig. 97. 





Hirschsprungsches Syndrom bei einem 6 Wochen alten SE 
Beobachtung von Dr. G. Grund, Flensburgsches Kinderkrankenhaus zu Malmö. 


ansammeln und hier eine bewegliche Dämpfung veranlassen. Da die meteoristischen 
Darmschlingen außerdem viel Gas enthalten, kann man in diesen Fällen durch 
Schütteln des Kindes oder stoßweise Perkussion des Bauches Plätschergeräusche 
hervorrufen und hierdurch Ascites ausschließen. 

Bei der Palpation per rectum zeigt sich der After durchgängig und meistens 
wird der Finger leicht durchgelassen. Gewisse Beobachter beschreiben jedoch das 
Vorkommen von Sphincterkrampf. Näheres hierüber später. In vereinzelten Fällen 
war der After im Gegenteil klaffend. Meistens dürfte er doch nicht von der Norm 
abweichen. Der Mastdarm kann sich verschieden verhalten. Bisweilen ist er von 
Kot angefüllt und bedeutend weit, gewöhnlich findet man ihn aber vollständig 
leer und zusammengefallen, normal weit, oder vielleicht ein wenig zusammen- 
gezogen. Weiter hinauf im Darm kann der Finger auf einen Widerstand stoßen. 
Auf die Bedeutung hiervon, wie auch die von den ergänzenden Untersuchungen durch 
Sondierung, Rectoskopie und Röntgenographie werden wir unten des weiteren 
zurückkommen. Durch bimanuelle Palpation, per rectum und am Bauch, lassen sich 
eventuelle Kottumoren oft besser umgrenzen. 

Neben den jetzt geschilderten, mehr lokalen Symptomen kommen immer eine 
Reihe anderer zum Vorschein an mehr oder weniger entfernten Organen oder von 


' 428 Kj. Otto af Klercker. 


mehr allgemeiner Natur. Dieselben können zurückgeführt werden entweder auf die 
rein mechanische Druckwirkung des hochgradigen Meteorismus auf angrenzende 
Körperteile oder auf die Giftwirkung gewisser aus dem stagnierten Darminhalt 
resorbierten „toxischen“ Produkte. Die Vergrößerung und Aufblähung des Leibes 
wirkt in erster Linie deformierend auf den Thorax. Die untere Brustapertur erweitert 
sich, wird mehr kreisrund, der epigastrische Winkel macht sich stumpfer und kann 
sich so verflachen, daß die Rippenbogen eine quer verlaufende Gerade zu bilden 
scheinen. Der Brustkasten erscheint kurz und klein im Verhältnis zu dem riesenartigen 
Leib. Durch bedeutendes Höhertreten des Zwerchfells wird der Brustraum sehr 
eingeschränkt, hierdurch werden die Lungen- und Herzbewegungen erschwert und 
Respirations- bzw. Circulationsstörungen ausgelöst. Mehr oder weniger ausgesprochene 
Dyspnöe und Cyanose gehören auch mit zu den regelmäßigsten Symptomen jedes 
Hirschsprungschen Syndroms auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Das Herz 
wird nach oben, mitunter sogar nach rechts hinüber verschoben, die Dämpfungs- 
figur verbreitert sich. 

Die Harnorgane werden weniger in Mitleidenschaft gezogen. Albuminurie 
und Cylindrurie können vorkommen, Indikanurie ist beinahe immer vorhanden. 

Das Allgemeinbefinden bleibt wohl nie unbeeinflußt. Die Verstopfung 
braucht nur eine kurze Zeit anzuhalten, damit sich Veränderungen hierin zeigen. 
Die Kinder werden unruhig und schlaflos, erblassen, verlieren den Appetit, die Zunge 
wird belegt, auch AufstoBen kann hinzutreten. Eigentliches Erbrechen oder stärker 
ausgesprochene Kolikschmerzen sind meistens nicht vorhanden, und sollen immer 
Verdacht auf irgendwelche Komplikationen erwecken, z. B. dazwischenkommenden, 
akuten Ileus. Kleinschmidt?’ hat einen interessanten Fall von „Hirschsprungscher 
Krankheit“ beschrieben, der klinisch unter dem Bilde „unstillbaren Erbrechens“ 
verlief, während Verstopfung und Meteorismus sehr wenig in Erscheinung traten, 
so daß die Diagnose erst bei der Sektion gestellt werden konnte. Das Erbrechen 
war offenbar durch Druckwirkung der geblähten Flexura sigmoidea auf das Duodenum 
verursacht worden. 

Die Kinder magern allmählich ab, bleiben im Wachsen und auch psychisch 
zurück, nur der „Magen wächst“. 

Der weitere Verlauf kann sich verschieden gestalten, je nachdem die Ver- 
stopfung in derselben Hartnäckigkeit unverändert anhält oder, sei es spontan, sei 
es als Folge der Behandlung, auf kürzere oder längere Zeit mehr oder weniger 
nachläßt. In dieser Beziehung spielt sicherlich auch der verschiedene Entstehungs- 
modus eine nicht geringe Rolle, wenn wir auch, wie gesagt, vorderhand den 
Zusammenhang nicht im einzelnen überblicken können. Spontane Remissionen sind 
aber mehrmals beobachtet worden, während deren die Stuhlbeschwerden weniger 
oder überhaupt nicht hervortreten, der Meteorismus abnimmt und der Bauchumfang 
wieder normal werden kann. Auch durch Behandlung, vor allem mit Sondierungen 
oder Wassereinläufen, läßt sich oft Darmentleerung herbeiführen und hierdurch 
die Kotansammlung und die Gasauftreibung hintanhalten. Wenn dies nur der Fall 
wird, kann der Verlauf sich sehr in die Länge ziehen, und die Krankheit kann so, 
eventuell unter Perioden der Verschlimmerung und der Besserung, viele Jahre ver- 
folgt werden, in einzelnen Fällen sogar bis in das erwachsene Alter hinein, und 
sie kann sogar in Heilung übergehen. Die nicht behandelten Fälle erreichen aber 
im allgemeinen kein hohes Alter. Die meisten sterben wohl schon im Säuglingsalter. 
Die Symptome steigern sich schnell mehr und mehr, die Kinder werden immer 
mehr elend und unter dem Bilde einer hochgradigen Atrophie gehen sie schließlich 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 429 


cachectico modo zu grunde. Oder sie erliegen hinzutretenden Komplikationen. So 
kommt nicht selten eine ulceröse Kolitis mit schleimisch-hämorrhagischen Stühlen 
und Intoxikationssymptomen dazu und wird zur Todesursache, eventuell unter Ver- 
mittlung einer Perforationsperitonitis. In anderen Fällen, besonders in den mehr 
schleichend verlaufenden, können Attacken von akutem Ileus entstehen, die zwar 
einmal über das andere wieder rückgängig werden können, zuletzt aber doch einen 
schlimmen Ausgang nehmen. Bronchopneumonien bilden schließlich auch nicht 
ganz selten die Todesursache. 


Pathologische Anatomie. 


So wie im klinischen Bild die Verstopfung und der Meteorismus, so überwiegen 
pathologisch-anatomisch die Dilatation und Hypertrophie des Dickdarms. Beim 


Fig. 98. 


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Megacolon nach der Leichenöffnung des Patienten in Fig. 97. 


Öffnen des bedeutend ausgespannten Bauches, wölben sich gewöhnlich ein paar 
enorm erweiterte Darmschlingen hervor, die die anderen Bauchviscera vollständig 
verdecken (Fig. 98). Die Erweiterung kann das Kolon in mehr oder weniger weiter 
Ausdehnung betreffen. Beinahe immer ist die Flexura sigmoidea mitbeteiligt, 
entweder allein, oder die Dilatation erstreckt sich weiter hinauf auf das Colon descendens 
und transversum, ja kann sogar ascendens und das Coecum mit umfassen. Nach oben 
bildet aber der Valvula Bauhini eine Grenze, die in der Regel nicht überschritten wird. 
Nur vereinzelt sind die unteren Teilen des Ileum mit dilatiert gefunden worden. In 
bezug auf Rectum gilt ebenfalls, daß es nur selten an der Dilatation mit beteiligt 
ist. An den dilatierten Kolonteilen sind meistens keine Haustra zu sehen, und die 
Längsmuskelschicht hat sich derartig gleichförmig um den Darmumfang herum ver- 
breitet, daß irgend welche Taeniae nicht zu unterscheiden sind. Hierdurch verlieren 
die betreffenden Kolonteile vollständig das charakteristische Dickdarmaussehen und 
bekommen die Gestaltung eines großen, glattwandigen Sackes, derjenigen eines sehr 
vergrößerten Ventrikels nicht unähnlich. Die erweiterten Teile brauchen doch nicht 
immer ganz gleichförmig erweitert sein, gewisse Partien können mehr, andere weniger 


430 Kj. Otto af Klercker. 


betroffen sein. Sehr oft sind die dilatierten Darmschlingen auch deutlich länger als normal 
und besitzen abnorm entwickelte Mesenterien. So beobachtet man nicht nur, daß das 
Mesosigmoideum abnorm lang ist, auch an Darmabschnitten, wie Coecum, Colon ascen- 
dens und descendens, die normalerweise keine Mesenterien besitzen, können wahre Ge- 
kröse vorhanden sein. Das gesamte Kolon kann auf diese Weise mit einem gemeinschaft- 
lichen Mesenterium versehen sein und hierdurch eine einheitliche, abnorm bewegliche 
Darmschlinge bilden. Goebel!! beschreibt einen Fall, wo das Dünndarmgekröse sich 
direkt in dasjenige des Kolons fortsetzte, ein gemeinsames Mesenterium ileo-colicum 
bildend. Ausdrücklich ist aber hervorzuheben, daß die erwähnten Veränderungen keine 
konstante Erscheinung ausmachen, daß in gewissen Fällen der Dickdarm in bezug so- 
wohl auf Länge als Anheftung vollständig normale Verhältnisse gezeigt hat. Wie oft 
und in welchen Formen das eine oder andere der Fall ist, läßt sich leider nicht sagen, 
da in vielen Fällen bezügliche Angaben fehlen. Es muß also diesen Verhältnissen in 
künftigen Fällen immer viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher. 

Bei näherer Besichtigung des Gebiets, wo der erweiterte Darmteil ins normale 
Intestinum übergeht, findet man den Übergang in gewissen Fällen ganz allmählich, 
die Weite wird immer kleiner, um ohne bestimmt markierte Grenze wieder normal 
zu werden. In anderen Fällen markiert sich die Grenze dagegen sehr scharf, nicht 
selten durch eine stark ausgeprägte Knickung. Wir werden auf diese Einzelheiten 
bei Erörterung der Pathogenese zurückkommen. 

Beim Aufschneiden des dilatierten Kolons entweichen viel Gase und entleeren 
sich große, teils weiche, teils mehr harte Faezesmassen, mitunter förmliche Koprolithen. 
Das Gewicht des Inhalts kann mehrere Kilogramm betragen. Am Schnitt präsentiert 
sich die Darmwand als bedeutend verdickt, und schon mit bloßem Auge kann man 
erkennen, daß die Ringmuskelschicht für diese Verdickung vor allem verantwort- 
lich ist. Zuweilen findet man aber die verdickte Wand stellenweise von verdünnten, 
vollständig atrophischen Partien unterbrochen. Die Serosa zeigt makroskopisch keine 
Veränderungen, die Mucosa ist aber immer mehr oder weniger verändert, sie ist 
gerötet, geschwollen, zuweilen pigmentiert. Oft finden sich an derselben zahlreiche 
kleine Erosionen, zuweilen auch, mehr oder weniger zahlreich und mehr oder weniger 
weit verbreitet, wirkliche Geschwüre, die die Schleimhaut durchsetzen, die Muscularis 
erreichen und sogar perforierend sein können. Submuköse Abscesse sind gelegentlich 
beobachtet worden (Hirschsprung). 

Mikroskopische Untersuchungen liegen nicht in allzu großer Zahl vor. 
Dem makroskopischen Befund entsprechend läßt sich in den verdickten Partien eine 
oft bedeutende Hypertrophie der Ringmuskelschicht feststellen. Aber auch die 
übrigen Schichten können hypertrophieren. Besonders von italienischen Autoren (Mya, 
Concetti) wird eine Verdickung und Sklerosierung der Submucosa beschrieben; 
rings um die Gefäße soll diese Sklerosierung besonders ausgesprochen sein, die 
Gefäße selbst sollen nicht selten thrombosieren, wodurch Nekrose und ulcerativer 
Zerfall an der Schleimhaut die Folgen werden. Diese Enteritis chronica inter- 
stitialis (Mya) kann auch die Ring- und Längsmuskelschicht befallen, die Muskel- 
zellen werden dann durch mit Rundzellen mehr oder weniger infiltrierte Bindegewebs- 
streifen getrennt. In den verdünnten Darmpartien findet man Atrophie sämtlicher 
Schichten, die Muskelschichten können beinahe völlig verschwunden sein. 


Pathogenese. 


In den sekundären Fällen ist die Pathogenese ohneweiters durchsichtig, 
insofern hier ja immer irgendwelches Passagehindernis im Darm vorliegt, und die 





Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 431 


Dilatation und die Hypertrophie des oben gelegenen Darmabschnitts schlechterdings 
als eine vom Hindernis ausgelöste Kompensationsbestrebung aufgefaßt werden kann, 
ungefähr in Analogie zu setzen mit den kompensatorischen Dilatationen am Herzen. 
Es kann sich selbstverständlich um keine absoluten Hindernisse handeln, da ja durch 
Einlauf Entleerung bewirkt werden kann. Vor allem sind es Ventilbildungen irgend- 
welcher Art, wie durch Knickungen, Torsionen, abnorm entwickelte rectale Falten, 
oder auch Darmspasmen, die gewöhnlich verantwortlich gemacht werden. 
Besonders ist die Bedeutung der Knickungen von deutschen Autoren in den 
Vordergrund gestellt worden. Tatsächlich sind auch Knickungen mehrmals bei Sekti- 
onen von an „Hirschsprungscher Krankheit“ gestorbenen Kindern einwandfrei fest- 
gestellt worden. Am häufigsten wurde die Einknickung an der Übergangsstelle der 
Flexur in das Rectum gefunden, demnächst an der Grenze zwischen Colon descendens 
und Flexur, vereinzelt auch an der Flexur selbst. Es ist auch kaum zu bezweifeln, daß 
diese Knickungen wirkliche Klaffbildungen bedingen können. Der hierbei wirkende 
Mechanismus soll mit dem schon 1874 von Roser für das Rectum beschriebenen 
übereinstimmen (Göppert, Blochmann, Saucke, Perthes, Pfisterer). Dünne oder 
breiige Exkremente passieren, dickere haben leicht Kotstauung oberhalb der Abknickung 
zur Folge. Der hierdurch erweiterte Darmteil wird bei stärkerer Füllung den unten 
gelegenen engeren zusammendrücken und somit an der Knickungsstelle einen klaff- 


Fig. 9. 


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S b 


Klappenmechanismus nach Rose 
a Darm im leeren Zustand; 5 Darm gefüllt (nach Göppert). 


artigen Verschluß bewirken (s. Fig. 99). Wenn durch Wassereinlauf per rectum der 
untere Darmteil genügend erweitert wird, kann natürlich dieser Ventilverschluß 
geöffnet und Stuhl entleert werden. Es ist auch sehr erklärlich, daß, wenn sehr ` 
große Wassermengen eingeführt werden, sie wohl durch den Ventilverschluß von 
unten her hindurchkönnen, bei schnellem Wiederauslaufen aus dem Rectum aber 
zum großen Teil über den Verschluß zurückgehalten werden. Daß auch durch 
Laxantia, wenn sie nur eine hinreichende Verdünnung bewirken, mitunter Entleerung 
zu stande kommen kann, läßt sich ebenfalls mit dem fraglichen Mechanismus ver- 
einbaren. 

Bedeutend schwieriger ist es zu entscheiden, auf welche Weise die Knickung 
selbst zu stande kommt, inwieweit sie wirklich die primäre, ursächliche Erscheinung 
bildet und nicht bloß die Rolle einer sekundären Komplikation spielt. Hierüber ist 
man verschiedener Ansicht gewesen, und die Akten sind auf diesem Punkt keines- 
wegs als geschlossen anzusehen. Nun ist es schon längst bekannt, daß das Kolon 
und vor allem das Sigmoideum bei dem Neugeborenen im allgemeinen relativ 
bedeutend länger ist als im späteren Alter, und man hat darum gemeint, eine 
Prädisposition zur Abknickung könnte gesucht werden in einem stärkeren Ausprägen 
dieses physiologischen Verhaltens, einem sog. Makrokolon bzw. Makrosigmoideum, 
wodurch vermehrte Schlingenbildung und Ortsbewegung besonders bei gleichzeitig 
bestehendem, abnorm breitem Mesosigmoideum erfolgen müßten. Anderseits darf 
aber nicht übersehen werden, daß eine Darmabknickung, die bei der Sektion eines 


432 Kj. Otto af Klercker. 


Kindes, das auf dem Höhepunkt der krankhaften Veränderungen gestorben ist, nicht 
ohneweiters als die Ursache dieser hingestellt werden kann. Bei dem hier gewaltig 
aufgetriebenen Unterleib werden die Bauchdecken ja bis zum Äußersten gedehnt, 
wodurch die Bauchmuskeln beinahe vollständig atrophieren und außer Funktion 
gesetzt werden. In dem hierdurch bedingten Wegfall dieser vielleicht wichtigsten 
Stütze für die Bauchviscera liegt ein gewiß ebenso wirksamer Faktor, wodurch 
erhebliche Lageveränderungen derselben veranlaßt werden können. Voraussetzung 
zu sekundären Knickbildungen fehlt somit hier keinesfalls. Tatsächlich sind Fälle 
von „Hirschsprungscher Krankheit“ mitgeteilt worden, in denen alles dafür zu 
sprechen scheint, daß die Knickung erst gegen das Ende des Lebens entstanden 
ist, während das Megakolon ganz bestimmt von dieser unabhängig und von anderen 
Ursachen verursacht war. 

Als Beweis für die genetische Rolle der Knickungen in den fraglichen Fällen 
wird nicht selten darauf hingewiesen, daß der Übergang zwischen der oberen, 
erweiterten und hypertrophischen Darmpartie in die untere normale ein ganz scharfer 
ist, und daß auch mikroskopisch die Dicke der Darmwand in der Richtung zur 
Abknickungsstelle zunimmt, um hier plötzlich wieder zur Norm zurückzugehen. Aber 
dieses Verhalten kann doch höchstens als Beweis dafür dienen, daß zur Zeit, wo 
Exitus eintrat, ein Passagehindernis an dieser Stelle seit einiger Zeit vorhanden war, 
hat dagegen an und für sich nicht viel zu besagen betreffend den ursprünglichen 
Entstehungsmodus des pathologischen Vorgangs. Stellen wir uns z. B. ein primäres 
Megakolon vor. Hier müßte also das Darmlumen von Anfang an vollständig frei und 
wegsam gewesen sein, der erweiterte Darmabschnitt und seine verdickte Wandung 
hätten folglich auch ohne scharfe Grenze ganz allmählich in die normalen Teile 
übergehen sollen. Würde es aber später zu einer Abknickung der letzteren mit davon 
bedingter Klaffbildung kommen, brauchte dieser sekundär entstandene Verschluß 
wahrscheinlich nicht lange zu bestehen, ehe das anatomische Bild durch Weiter- 
entwicklung der Dilatation und der Hypertrophie sich derart verändern würde, daß 
man sehr gut den Eindruck bekommen könnte, derselbe hätte auch das Megakolon 
von Anfang an verursacht. 

Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß das „Hirschsprungsche Syndrom« 
überhaupt nie durch eine Darmabknickung ausgelöst werden kann. Nur darf man 
nicht allzu schematisch urteilen, so daß eine vorhandene Knickung schlechterdings 
nur deshalb als die primäre Ursache hingestellt wird, weil sie an geeigneter Stelle 
zu liegen scheint. Erst eine genaue Prüfung aller vorliegenden Umstände unter 
möglichst vollständigem Ausschluß aller anderen Entstehungsmodi kann die nämliche 
Genese annehmbar machen. Über einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit hinaus 
dürfte es gleichwohl in den meisten Fällen nicht kommen. Man ist, wie mir scheint, 
bisher im allgemeinen zu leicht über die Schwierigkeiten hinweggegangen, und es 
ist auch kaum möglich, aus der vorliegenden Kasuistik sich eine richtige Vorstellung 
zu bilden über die tatsächliche Bedeutung der Darmabknickungen in ätiologischer 
Beziehung. Daß sie aber schon früh primär entstehen können, scheint sicher, 
fraglich ist es indessen, inwieweit ein Makrokolon oder ein Makromesosigmoideum 
ihre Entstehung hinreichend erklären kann, und inwieweit nicht das Vorhandensein 
von Mißbildungen anderer Art hierzu erforderlich ist. In dieser Beziehung ist eine 
neulich von Saucke mitgeteilte Beobachtung sehr belehrend. Hier war „Hirsch- 
sprungsche Krankheit“ im Alter von ungefähr 4 Monaten festgestellt worden. Durch 
Sondierungen und Darmspülungen ließ sich der Meteorismus jedoch leidlich hint- 
anhalten, und bei der Sektion nach einigen Monaten fand man eine lange Flexura 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 433 


sigmoidea mit Knickung, ein abnorm langes Mesokolon, eine nur mäßige Dilatation 
des oberhalb der Knickung gelegenen Flexurabschnitts, dessen Wand nicht hyper- 
trophisch war. Das Darmstück unterhalb der Knickung war dagegen eng, im Präparat 
etwa bleistiftdick. An der Stelle der Knickung war das Mesosigmoideum so verkürzt, 
daß auch bei maximaler Streckung des Darmes der Knick nicht ausgeglichen wurde. 
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß das Hirschsprungsche Syndrom auf diese 
Knickung zurückzuführen ist. Die anatomischen Veränderungen, die starke Dilatation 
und die kompensatorische Hypertrophie haben sich noch nicht ausgebildet, sicherlich 
weil, wie es Saucke hervorhebt, infolge der sofort einsetzenden Behandlung die 
Gase und Kotmassen dauernd abgelassen wurden. Das wichtigste Moment wiederum 
für die Ausbildung der Knickung haben wir wohl sehr wahrscheinlich in den 
Anomalien des distalen Flexurteils und des Mesosigmoideums zu suchen. Schon die 
vorhandene Stenose allein, die doch eine angeborene Mißbildung darstellen muß, 
kann wahrscheinlich durch Vermittlung einer Stagnation oberhalb ihrer die erste 
Bedingung zur Abknickung gebildet haben. 

Volvulus der Flexura sigmoidea ist mehrmals bei Megakolon beobachtet 
worden. In bezug auf den genetischen Zusammenhang liegen die Sachen hier der 
Abknickung so ziemlich analog. Es handelt sich hier natürlich nicht um einen 
akuten Volvulus mit plötzlich einsetzender, völliger Verlegung des Darmlumens und 
Nekrose der Darmwand, sondern um eine eigentümliche Form des chronischen 
Volvulus, die nach Konjetzny meist nicht über eine Überkreuzung der Flexur- 
schenkel hinausgeht, also einer Achsendrehung des Colon sigmoideum um 90 bis 
180° entspricht. Die Darmpassage wird hierdurch nicht vollständig blockiert, es 
bildet sich aber eine enge Stelle, über welche breiige Faeces leicht stagnieren 
können, und durch Druck des hierdurch bald dilatierten Darmteils auf die Über- 
kreuzungsstelle des abführenden Schenkels kann also ein ähnlicher Ventilverschluß 
wie bei der Abknickung zu stande kommen. Wie bei dieser hat man auch hier in 
einer abnormen Länge der Flexur und ihres Mesokolons ein wichtiges prädisponierendes 
Moment sehen wollen. Ein Überkreuzen in gewissem Grade der beiden Flexurschenkel 
findet sich aber oft bei Sektionen an Neugeborenen und Säuglingen mit übergroßen 
Flexuren, ohne daß im Leben ein Passagehindernis sich bemerkbar machte. Man 
hat sogar von einem „physiologischen“ Volvulus der Flexur gesprochen (v. Samson). 
Offenbar muß die Achsendrehung sich hier bei einer gewissen Füllung des Darmes 
wieder aufdrehen, ein Vorgang, den übrigens Leichtenstern durch Lufteinblasen 
vom Kolonschenkel her an der Leiche eines l11ljährigen Knaben mit chronischer 
Achsendrehung der Flexur direkt demonstrieren konnte. Es müssen also noch 
weitere Momente, die der Volvulusbildung förderlich bzw. der Aufdrehung hin- 
derlich sind, hinzukommen. Die nähere Einsicht in die anatomischen Bedingungen 
der Volvulusbildung ist jedoch recht unklar und mangelhaft (vgl. z.B. v. Samson). 
Als ein sehr wichtiges prädisponierendes Moment gilt aber eine Annäherung der 
beiden Fußpunkte des Flexurschenkels, so daß die Flexur Q-förmig wird, wodurch 
selbstverständlich sowohl die Achsendrehung selbst als vielleicht vor allem die 
Ausbildung des Ventilverschlusses erleichtert wird. Beim Säugling stehen die Fuß- 
punkte indessen normal relativ ziemlich weit voneinander ab, und der von der 
Haftlinie des Mesosigmoideums gebildete Winkel liegt höher und ist größer als 
beim Erwachsenen (v. Samson). Eine Annäherung der Fußpunkte kann nun auf 
verschiedene Weise zu stande kommen. Sie kann durch eine chronische, schrump- 
fende Mesenterialperitonitis bedingt sein. Bei jeder Erweiterung des Darmlumens 
muß aber der Darm sich in gewisser Ausdehnung zwischen die Blätter des Meso- 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 28 


434 . Kj. Otto af Klercker. 


sigmoideums hinein entwickeln. Konjetzny, dem ich in der Darstellung der hier 
in Frage kommenden Umstände hauptsächlich gefolgt bin, zeigte durch Experimente 
an Kinderleichen mit übergroßen Flexuren, daß bei maximaler Aufblähung des 
Colon sigmoideum am Mesosigmoidalansatz eine Trennung der beiden Mesenterial- 
blätter in der Ausdehnung von 4—6 mm, von der Darmwand gerechnet, zu stande 
kommen kann, so daß zwischen diesen und der Darmwand ein dreieckiger Spalt 
entsteht. Eine allmählich zunehmende Dilatation des Colon sigmoideum muß also 
an und für sich dahin wirken, daß seine Fußpunkte sich einander immer mehr 
nähern, und bei zugleich übernormaler Größe der Flexur auch eine Prädisposition 
zur Torsion abgeben. Jedes Megakolon trägt also in sich sozusagen den Keim zu 
einer Achsendrehung, zumal auch entzündliche, schrumpfende Prozesse am Meso- 
sigmoideum von demselben ausgelöst werden können. So wie die Abknickung, 
kann somit wahrscheinlich auch der Volvulus eine sekundäre Komplikation dar- 
stellen, und in der Beurteilung seiner genetischen Rolle müssen wir also mit der- 
selben Umsicht verfahren wie dort. Durch Untersuchungen an Föten hat aber 
Konjetzny festgestellt, daß eine Nahestellung der Flexurfußpunkte schon congenital 
bestehen kann, und wahrscheinlich kann das Hirschsprungsche Syndrom mitunter 
auf der Grundlage eines chronischen Volvulus entstehen. Häufig dürfte aber ein 
derartiger Vorfall nicht sein. Nur in einer Minderzahl der veröffentlichten Hirsch- 
sprungfälle wurde dieser Entstehungsmodus direkt behauptet. . 

Eine dritte Art des Ventilverschlusses soll nach Josselin de Jong und Mit- 
arbeiter durch abnorm entwickelte Plicae transversae recti veranlaßt werden. 
Im Jahre 1910 wurde diese Auffassung zum ersten Male in einer Mitteilung von 
Josselin de Jong und Muskens ausgesprochen. Ausgangspunkt bildete eine 
Beobachtung an einem 12jährigen Knaben mit Hirschsprungschem Syndrom und 
klinischen Zeichen eines Ventilverschlusses an der Grenze zwischen Sigmoideum 
und Rectum, wo bei der Sektion kräftig entwickelte Plicae transversae 
im Rectum gefunden wurden. Besonders war die oberste Klappe sehr 
groß und kräftig und lag am Übergang von Flexur ins Rectum an 
der hinteren Darmwand unmittelbar über einer kleineren Klappe oder 
Falte an der vorderen Wand (s. Fig. 100). Nach der Meinung der Autoren 
war die Abschließung eben durch die Größe und Lage dieser beiden 
Falten verursacht. „Die Falte n:o 5 war von vornherein abnormal groß 
Kiappenmechanis. entwickelt und ließ eine kleine Öffnung zwischen sich und der gegen- 
mi a PETA überliegenden Wand frei. Füllte sich die Flexura, dann wurde die 
lin deJongund Klappe herabgedrückt und stieß gegen Falte 4, wodurch der Zugang 

zum Rectum abgeschlossen wurde.“ Wie die Autoren aber selbst her- 
vorheben, war außerdem eine starke Einknickung der Vorderwand an der recto- 
sigmoidalen Grenze vorhanden, die Flexur bildete hier eine beutelförmige Ver- 
größerung und hierdurch wurde die Falte z:o 4 tiefer in das Lumen hinein- 
geschoben. „Die Knickung der Vorderseite und die beutelförmige Anschwellung 
der Flexur waren der Abschließung förderlich“, erklären die Verfasser. Man muß 
unbedingt Konjetzny und Kleinschmidt?? recht darin geben, daß kein Beweis 
dafür beigebracht worden ist, daß die Rectalfalten wirklich allein das Megakolon 
hier verursacht haben und nicht bloß einen unterstützenden Faktor abgegeben 
zum eigentlich tätigen Moment, der Abknickung. Hier stoßen wir wieder auf die 
schon erwähnten Schwierigkeiten, die genetische Bedeutung einer Darmabknickung, 
die bei einer „Hirschsprungschen Krankheit“ auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung 
angetroffen wird, richtig zu beurteilen. Mehr beweisend sind aber zwei spätere von 


Fig. 100. 





Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 435 


Josselin de Jong bzw. Josselin de Jong und Plantenga mitgeteilte Beobach- 
tungen. Diese beziehen sich auf zwei im Alter von 9 respektive 4 Wochen ge- 
storbene Kinder, die bei der Geburt völlig normal waren, an denen aber bald 
nachher das Hirschsprungsche Symptombild immer mehr hervortrat, und post 
mortem ein Ventilverschluß infolge einer kräftig entwickelten Falte am Übergang 
von Flexur ins Rectum festgestellt wurde. In beiden Fällen war Kolon, besonders 
auch Flexura sigmoidea, von normaler Länge, das Mesosigmoideum war ebenfalls 
normal breit, und von Abknickungen war nichts zu sehen. Dilatation und Hyper- 
trophie war in dem einen Fall überhaupt nicht feststellbar, in dem anderen nur 
wenig ausgeprägt. Offenbar handelt es sich hier also um zwei Frühstadien des 
Hirschsprungschen Syndroms. Es ist also kaum mehr daran zu zweifeln, daß 
angeborene abnorm große bzw. abnorm gelegene Plicae rectales wirklich die erste 
Veranlassung zur Entstehung des Hirschsprungschen Syndroms bilden können. 
Bei länger dauerndem Krankheitsverlauf muß die Flexur oberhalb der abschließenden 
Falten sich immer mehr füllen und erweitern, und diese stark dilatierte und mit 
Fäkalien gefüllte Flexur kann sich dann leicht unter scharfer Abknickung ins kleine 
Becken hineinsenken, zumal bei bedeutender Ausspannung des Leibes die Stützen 
der Bauchdecken wegfallen. Durch Druck des herabgesunkenen Flexurbeutels auf 
das Rectum werden die Passageschwierigkeiten verstärkt, und es ist leicht verständ- 
lich, daß man den Eindruck bekommen kann, daß das Megakolon durch den von 
der Knickung bewirkten Ventilverschluß veranlaßt sei. Ja es ist sogar möglich, daß 
die Falten bei der exzessiven Darmerweiterung sich später mehr oder weniger aus- 
gleichen können. 

Um überhaupt den richtigen Zusammenhang klarmachen zu können, ist es 
selbstverständlich eine unerläßliche Bedingung, daß die Bauchorgane in situ unter- 
sucht werden. Am besten verfährt man so, daß der gesamte Darmkanal in seiner 
topographischen Lage freiseziert und in 10% igen Formalin fixiert wird. Daß es den- 
noch schwierig sein kann, zu entscheiden, was primär und was sekundär ist, versteht 
sich wohl nach Vorstehendem von selbst. Hierzu kommt noch, daß man in älteren 
Fällen mit vollständig ausgebildetem Megakolon nicht mit Sicherheit wissen kann, 
ob vorhandene, übergroße Rectalfalten wirklich primäre Bildungen darstellen und 
nicht von einem Megacolon congenitum sekundär veranlaßt worden sind. Hierüber 
weiter unten. Außerdem ist es vielleicht auch in Frage zu stellen, inwieweit bei 
einem durch Rectalfalten bedingten Klappenmechanismus eine Muskelwirkung nicht 
mit hineinspielen könnte. Am Bau der Rectalfalten nehmen ja auch die Muskel- 
schichten der Darmwand teil, wenigstens die Ringmuskelschicht. 

Hiermit kommen wir zu einem anderen Hauptproblem in der Pathogenese des 
Hirschsprungschen Syndroms, zur Frage von der Bedeutung der Darmspasmen. 
Seitdem Fenwick in einem Fall von .Megacolon congenitum einen gleichzeitig 
vorhandenen Krampf des Sphincter ani für dessen Entstehung verantwortlich machen 
wollte, ist diese Genese wiederholt behauptet worden. In Fällen, wo ein Sphincter- 
krampf sich tatsächlich nachweisen läßt, braucht der Kausalnexus aber nicht unbe- 
dingt der nämliche sein. Sphincterkrampf, gewöhnlich in Verbindung mit Fissura ani, 
kommt ja nicht ganz selten auch sonst bei obstipierten Säuglingen vor, und hierbei 
dürfte wohl. immer die Obstipation das Primäre sein, und die Fissur und Contractur 
kommen erst sekundär zu stande infolge des stetigen Reizes der harten Stühle bzw. der 
wiederholten Klistiere. Offenbar verhält es sich beim Hirschsprungschen Syndrom 
ebenso. Wenn wirklich vorhanden, kann also der Sphincterkrampf hier ebensogut sekun- 
därer Natur sein und also keinen sicheren Beweis für die spastische Genese abgeben. 

28° 


436 Kj. Otto af Klercker. 


Größere Bedeutung muß jedenfalls dem Nachweis höher oben im Darme ge- 
legener Contractionsringe beigelegt werden. Eine Mehrzahl einschlägiger Beob- 
achtungen sind veröffentlicht worden. Es handelt sich um intra vitam festgestellte 
Darmhindernisse, die als Muskelcontracturen aufgefaßt wurden. Diese Deutung 
gründet sich hauptsächlich auf zwei Momente: 1. einen charakteristischen Befund 
bei der rectalen Fingerpalpation bzw. der Sondenuntersuchung, worüber Näheres 
im Kapitel Diagnose; 2. auf die Besserung bzw. das Zurückgehen der Symptome 
durch Behandlung mit krampflösenden Mitteln, wie Opium und Belladonna resp. 
Atropin (vgl. Kapitel Behandlung). Die ausschließlich funktionelle Natur des Hinder- 
nisses ist jedoch nur in zwei Fällen (dem Falle Köppes und dem 2. Falle Mosers) 
durch die vorgenommene Autopsie und das hierbei konstatierte Fehlen jedes Zeichens 
einer anatomischen Striktur völlig sicherfestgestellt. In einigen Fällen lagen unleug- 
bar organische Strikturen vor, wahrscheinlich narbige Reste einer operierten Darm- 
atresie; in zwei von diesen (Goebel, Moser) war die hierdurch verursachte 
Stenose jedoch nicht so eng, daß durch sie allein ein genügend schweres Passage- 
hindernis zu stande kommen konnte, das angeblich durch einen hinzutretenden 
Darmspasmus bewirkt wurde. Behring und Klercker haben neulich eine Beob- 
achtung mitgeteilt, die das besondere Interesse darbot, daß die offenbar lange Zeit 
permanent bestehende Muskelcontractur sich allmählich in einer sozusagen morpho- 
logisch ausdifferenzierten Sphincterbildung fixiert hatte. Bei der Sektion fanden wir 
nämlich auf dem Platz des schon intravital festgestellten Hindernisses eine Ein- 
schnürung und derselben gegenüber im Darminnern einen circulär verlaufenden 
Wall, an dem sich die Schleimhaut in zahlreichen längsgerichteten Falten gelegt 
hatte. Offenbar hatte die Schleimhaut hier früher ein geräumigeres Lumen aus- 
gekleidet. Die nähere mikroskopische Untersuchung lehrte, daß die Ursache der 
Verengerung ziemlich sicher in einer Contractur der Ringmuskulatur zu suchen 
war, welche durch eine scharf auf die Falten beschränkte sklerotische Umwandlung 
des mukösen und submukösen Bindegewebes fixiert worden war. Möglicher- 
weise war diese sekundäre Bindegewebsbildung durch den Reiz eines hinunter- 
geschluckten und über dem Contractionsring während wenigstens 3 Monate liegen 
gebliebenen und bei der Sektion hier angetroffenen metallenen Knopf ausgelöst 
worden. 

Daß organische Stenosen, z. B. narbige Einschnürungen, infolge operierter 
Atresien sich durch eine örtliche Darmcontractur komplizieren können, ist ja nicht 
so sonderbar. Die Bindegewebsinfiltration kann hier einen stetigen Reiz zur Muskel- 
contraction abgeben. Merkwürdiger scheint es, daß ohne derartige anatomische 
Grundlage ein rein funktioneller Dauerspasmus aufkommen kann. Solche an einer 
Stelle stehen bleibende Contractionsringe sind der glatten Muskulatur wesensfremd, 
kommen außer in Betreff der Sphincteren bei derselben nicht vor. Wie wir es in 
unserer oben erwähnten Arbeit näher auseinandergesetzt haben, wäre es auch sehr 
verlockend anzunehmen, daß es sich bei diesen Contractionsringen in der Tat um 
eine Hyperfunktion irgend eines schon präformierten, funktionellen oder virtuellen 
Sphincters (vgl. A. Keith) handeln könnte. Die Lage des Contractionsrings in den 
einschlägigen Fällen würde ziemlich gut mit derjenigen eines rectosigmoidalen 
Sphincters, eines sog. Sphincter tertius, übereinstimmen. Wir haben weiter die Ver- 
mutung ausgesprochen, daß ein derartiger „Sphincter tertius“ gerade im Fötalleben 
besonders wirksam sei, um den Zugang des Meconiums zum Rectum zu sperren und 
somit Defäkationen zu verhindern, und daß ihm infolgedessen eine gewisse Krampf- 
bereitschaft innewohnen könnte. 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 437 


Über die besonderen Momente, die außerdem bei der Entstehung des Spasmus 
wirksam sind, wissen wir nichts Sicheres. Oswald Meyer hat denselben in Zu- 
sammenhang mit Spasmophilie setzen wollen. Eine schon congenital bestehende 
Spasmophilie ist aber nicht sehr wahrscheinlich und bisher völlig unbekannt. Eben- 
sowenig wissen wir, inwieweit die übrigens recht unklaren Zustände der sog. Vago- 
bzw. Sympathicotonie hierbei irgendwas zu bedeuten haben. Systematische, pharma- 
kologische Prüfungen des autonomen Nervensystems sind, soviel ich weiß, nur 
2mal an Fällen von Megakolie vorgenommen worden, von Retzlaff und von 
Käckel. Der erste fand, daß Adrenalin eine kräftige Wirkung entfaltete, während 
Physostigmin und Atropin ohne Wirkung waren, weshalb er das Vorliegen einer 
Sympathicotonie bzw. „Vagasthenie“ meint annehmen zu müssen. Käckel wiederum 
bekam sowohl mit Adrenalin als Pilocarpin und Atropin ungefähr gleich geringe 
Wirkung. In beiden Fällen fehlen aber sichere Anhaltspunkte für eine spastische 
Genese, und in Retzlaffs Fall ist nicht einmal der congenitale Ursprung des Mega- 
kolons sicher. 

In bezug auf die pathogenetische Bedeutung angeborener, von anatomischen 
Wandveränderungen bedingter organischer Darmstenosen können wir uns kurz 
fassen. Es handelt sich hier um unvollständige Analatresien, röhrenförmige oder 
mehr membranartige, congenitale Strikturen des Rectums oder Sigmoideums. Es ist 
klar, daß, wenn die Stenose sehr hochgradig ist, die Durchgangsbehinderung so 
groß werden kann, daß lleussymptome binnen kurzem erscheinen, und es zum Tod 
kommt, bevor es noch zur Ausbildung eines Megakolons kommen konnte. In anderen 
Fällen wiederum hat die Stenose an und für sich offenbar kein zur Auslösung des 
Hirschsprungschen Syndroms hinreichendes Hindernis gebildet. Dasselbe kam, 
wie schon erwähnt, erst zum Vorschein, wenn auf Grundlage der Stenose Kompli- 
kationen, wie Darmabknickungen (vgl. Saucke) oder Spasmen, hinzukamen. Hieraus 
ist ersichtlich, wie schwierig es ist, eine scharfe Grenze zwischen „organischen“ und 
„funktionellen“ Stenosen zu ziehen. Beide können sich so miteinander vermischen, 
daß es im Einzelfalle vollständig unmöglich wird zu entscheiden, welche die ausschlag- 
gebende war. Als Beispiel einer gewiß sehr seltenen Ursache eines sekundären 
Hirschsprungschen Syndroms kann ein von Gurnemanz Hoffmann mitgeteilter 
Fall erwähnt werden. Hier war die Stenose bedingt durch einen wahrscheinlich von 
einer fötalen Peritonitis hervorgerufenen fibrösen Schnürring am Übergang des 
Sigmoideums zum Rectum. Bei der Laparotomie ließ sich dieser Schnürring mittels 
einer Sonde leicht vom Darme lösen. 

Aus dem, was hier über Darmhindernisse als Ursache eines Megacolon con- 
genitum gesagt worden ist, geht hervor, daß jene, mögen sie der einen oder der 
anderen Art sein, vorzugsweise an der rectosigmoidalen Grenze ihren Sitz haben. 
Schon ‘unter normalen Verhältnissen bildet aber sehr wahrscheinlich diese Grenze 
während des Fötallebens eine Sperre für den Inhalt des Kolons. Hierauf hat bereits 
Fleiner aufmerksam gemacht. Immerhin kann ein an dieser Stelle gelegenes Hindernis 
eigentlich erst nach der Geburt sich geltend machen. Das resultierende Megakolon 
kann also nur in uneigentlichem Sinne „congenitum“ benannt werden. Angeboren 
sind ja, streng genommen nur die Voraussetzungen. 

Es erübrigt nur noch die Frage des primären Megacolon congenitum, 
das also durch kein obstruierendes Darmhindernis verursacht sein sollte. Von ver- 
schiedenen Seiten ist das Vorkommen einer derartigen Form bezweifelt worden. 
Man hat darauf hingewiesen, daß eine schon vor der Geburt ausgebildete Dilatation 
und Hypertrophie des Kolons noch nicht bei einer Sektion nachgewiesen worden 


438 Kj. Otto af Klercker. 


sei. Zwei früher nicht selten als Beweis hierfür angeführte Beobachtungen v. Ammons 
haben vor der Kritik nicht standgehalten (Johannessen, Konjetzny). Unter 1600 
Obduktionen von Totgeborenen und 2491 von Säuglingen bis zu einem Jahre, also 
im ganzen bei 4091 Kinderleichen, fand Heller nie derartige Veränderungen. Die 
jüngsten gestorbenen Kinder mit Hirschsprungschem Syndrom waren im allge- 
meinen einige Monate alt, ein bei ihnen gefundenes Megakolon habe also Zeit 
gehabt, sich sekundär zu entwickeln, und da die anatomischen Daten oft unzureichend 
sind, um zu entscheiden, inwieweit ein Ventil- oder Klappenmechanismus vorhanden 
war, so meint z. B. Konjetzny, daß der Ansicht des Vorkommens von einem 
„idiopathischen“, congenitalen Megakolon „nur der Wert einer unbewiesenen Hypo- 
these zuzusprechen ist“. 

Konjetzny konnte indessen selbst bei der Sektion eines am dritten Lebenstage ge- 
storbenen Neugeborenen ein unleugbares Megakolon konstatieren, das also sicherlich 
schon intrauterin entstanden war. Da er aber zugleich stark entwickelte rectale Falten 
fand, glaubt er, hier nur einen Beweis dafür bekommen zu haben, daß im fötalen 
Leben entwickelte Passagestörungen im unteren Dickdarm schon intrauterin zu einer 
Dilatation des Dickdarms mit sekundärer Hypertrophie führen können. Das Ange- 
borensein komme also keineswegs einem idiopathischen Charakter der Störung gleich. 
Während des Fötallebens kann aber, wie gesagt, ein wie hier gelegenes Hindernis 
sich nicht geltend gemacht haben, das Megakolon muß also hier primärer Natur 
sein, und das Zusammentreffen mit übergroßen Rectalfalten ist nur wieder ein 
Beispiel, wie kompliziert die Dinge sich hier verhalten können. Die Plicae rectales 
kommen wohl immer durch harmonikaartiges Zusammenfalten des Rectums zu 
stande. Möglich wäre es vielleicht, daß gerade durch die übergroße Füllung des 
obenliegenden Darmteils ein Druck ausgeübt werden könnte, wodurch dieser nor- 
male Faltungsvorgang verstärkt würde, eine Umkehrung also von Ursache und 
Wirkung. 

In aller Kürze sei auch erwähnt, daß die beiden oben abgebildeten Figuren 
(Fig. 97 und 98), die ich der Liebenswürdigkeit meines Kollegen und Freundes 
Dr. G. Grund, Direktors des Flensburgschen Kinderkrankenhauses zu Malmö, zu 
verdanken habe, von einem jungen, erst 6 Wochen alten Säugling stammen, an dem 
bei der Sektion kein mechanisches Hindernis festgestellt werden konnte. Der Fall 
ist von Grund in „Sydsvenska pediatriska föreningen“ hierselbst demonstriert worden 
und wird später von ihm ausführlich veröffentlicht. 

Die klinische Erfahrung, daß es in vielen Fällen nicht möglich war, trotz 
genauester Untersuchung intra vitam, auch nicht bei der Laparotomie, einen Ventil- 
mechanismus oder überhaupt ein Hindernis nachzuweisen, darf wohl auch nicht 
ganz übersehen werden. Von Neugebauer ist z.B. ein derartiger mit negativem 
Resultat sehr eingehend untersuchter Fall mitgeteilt worden. 

Das Vorkommen von primären, congenitalen Megakola kann also meines 
Erachtens nicht länger bezweifelt werden. Eine andere Sache ist es, wie wir ihre 
Entstehung erklären sollen. Hier sind wir vorderhand auf lauter Hypothesen hin- 
gewiesen. Nach der Annahme Hirschsprungs sollte es sich um eine Art Mißbildung 
handeln. „Ausschlag eines lokalen, üppigen Entwickelungsprozesses“, in Analogie zu 
setzen mit angeborenem Riesenwuchs anderer Körperteile. Freilich muß zugegeben 
werden, daß diese Erklärung sehr wenig befriedigend wirkt, sie bedeutet tatsächlich 
ein „ignoramus“. Nach dem gleichzeitigen Bestehen von Mißbildungen an anderen 
Stellen wurde vielfach gesucht, jedoch mit sehr geringer Ausbeute. Neulich hat in- 
dessen Goebel!! auf das nicht seltene Zusammentreffen von Megacolon congenitum 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 439 


mit anomal entwickelten Mesenterien aufmerksam gemacht und hierin, wenn ich ihn 
recht verstanden habe, gewissermaßen einen Indizienbeweis für die Mißbildungs- 
hypothese sehen wollen. Derselbe lautet doch nicht sehr überzeugend. Es handelt 
sich ja hier um das Ausbleiben sekundärer Verwachsungen des ursprünglichen, 
medianen, hinteren Mesokolons, also um eine klare Hemmungsbildung. Ein Mega- 
kolon kann aber schwerlich durch Hemmung entstehen. Klarheit über die Ursache 
des Ausbleibens der sekundären Verwachsungen ist erst durch eine richtige Einsicht 
in die Faktoren, die den normalen Vorgang bedingen, zu gewinnen. Hierüber wissen 
wir erst noch so ziemlich wenig. Nach Broman (S. 379) sollen indessen zwei ein- 
ander berührende Peritonealflächen, wenn sie längere Zeit unbeweglich und mit 
gewisser Intensität gegeneinander gedrückt werden, eine Tendenz zu verwachsen 
haben, und während der fötalen Entwicklungsperiode, wo die physiologischen Ver- 
wachsungen stattfinden, soll gerade der unbedeutende und noch leere Dickdarm relativ 
unbeweglich sein. Die Richtigkeit dieser Auseinandersetzungen vorausgesetzt, könnte 
man vielleicht versucht sein, die Hemmung auf eine verfrühte und vermehrte Füllung 
und Motilität des Kolons zurückzufühen. Hierdurch ließe sich also sowohl die Er- 
weiterung als die Hypertrophie erklären. Tatsächlich läßt sich eine schon intrauterin 
bestehende Kolondilatation ohne gleichzeitige Vermehrung des Inhalts nicht denken, 
da ja die Darmwand sich eng um den Inhalt anschmiegen muß und eine Gasent- 
wicklung nicht vorhanden ist. Auf die Bedeutung einer intrauterinen Überproduktion 
von Mekonium für die Entstehung des Megacolon congenitum hat meines Wissens zuerst 
Fleiner aufmerksam gemacht. Schwer zu erklären bleibt dennoch, warum die ab- 
norme Füllung und Dilatation sich nicht nach der Geburt wieder zurückbilden. 
Wiederholt wurde auf das Paradoxe hingewiesen, daß eine hypertrophische Darm- 
muskulatur nicht befähigt sein sollte, den Inhalt zu entleeren, wenn die Passage 
durch kein Hindernis blockiert würde. Unmöglich ist es ja auch nicht, daß in gewissen 
Fällen, in Übereinstimmung mit der Annahme Neugebauers, ein Ventilverschluß 
sekundär zur Entwicklung gelangen könnte. Ein schon fötal ausgebildetes Megakolon 
kann ja möglicherweise die Veranlassung sowohl zu einer Abknickung als einer 
verstärkten rectalen Faltenbildung geben. Spasmus des „Sphincter tertius“ kann viel- 
leicht auch hierbei ausgelöst werden. Es bleibt, wie Fleiner sagt, der Dauertonus 
des intrauterinen recto-analen Verschlusses nach der Geburt bestehen. Die gesteigerte 
Muskeltätigkeit, welche man gern als Voraussetzung für die Hypertrophie betrachten 
will, braucht indessen nicht ausschließlich oder vorzugsweise in analwärts gerichteten 
Kotbewegungen bestehen. Durch Untersuchungen der letzten Jahre kann es nunmehr 
als festgestellt angesehen werden, daß gerade im Kolon außerdem eine rückläufige, 
durch aktiven Contractionsvorgang bedingte Kotverschiebung eine wichtige Rolle spielt. 
Nach Lenz soll es sich bei der „echten« Hirschsprungschen Krankheit eben um 
eine Steigerung dieses retrograden Transports handeln. Das primäre Hirschsprung- 
sche Syndrom „würde sich danach also vor allem auf eine myodynamische 
Grundstörung aufbauen, die bald regionär begrenzt, bald über den ganzen Dick- 
darm ausgebreitet auftritt“. Das Megakolon „bietet dann gleichsam später das anatomisch 
erstarrte Bild einer dauernden retrograden Dyskinese dar. Die veränderte Funktion 
schafft sich das abnorme Organ«, sagt Lenz. Über die Auslösungsbedingungen des 
retrograden Transports wissen wir vorläufig sehr wenig. In seinen grundlegenden, 
experimentellen Untersuchungen über die Antiperistaltik des Kolons bei der Katze 
fand Cannon, daß antiperistaltische Wellen immer von einer tonischen Constriction 
ausgingen und durch Herbeiführung eines Contractionsringes (mit BaCl,) konnten 
sie immer hervorgerufen werden. Beim Vorhandensein eines Tonus gewisser Stärke 


440 Kj. Otto af Klercker. 


im Kolon und eines örtlichen, tonischen Contractionsrings hatte auch eine Vermehrung 
des Innendrucks zugleich das Aufkommen antiperistaltischer Wellen zur Folge. Wahr- 
scheinlich verhält es sich mit dem zwar nicht der äußeren Form, wohl aber dem 
Wesen nach gleichartigen, retrograden Transport des menschlichen Kolons auf die- 
selbe Weise. Im Fötalleben stellt der muskuläre Abschluß zwischen Sigmoideum 
und Rectum („Sphincter tertius“) schon normal den erforderlichen tonischen Con- 
tractionsring dar. Wenn bei vermehrter Meconiumbildung eine abnorme Füllung 
des unteren Kolons zu stande kommt, entstehen hierdurch stetige Dehnungs- 
reize, wodurch vom Sphincter ausgehende, retrograde Transportbewegungen sehr 
gut ausgelöst werden können. Somit würde schon frühzeitig gerade diese Bewegungs- 
form sich stark ausprägen, und hierdurch die nämliche Dyskinese grundgelegt werden. 
Dies alles ist zwar lauter Hypothese. Immerhin wird durch dieselbe deutlich zum 
Ausdruck gebracht, daß im Lichte unserer jetzigen Kenntnisse von den Darm- 
bewegungen die Entstehung eines primären Megakolons wenigstens nicht völlig so 
mystisch wie vor Jahren vorzukommen braucht. 

Die Möglichkeit, daß eine pathologisch geänderte Innervation mit hineinspielen 
könnte, ist selbstverständlich auch nicht ohneweiters abzulehnen, und es wurde 
auch mehrmals darauf hingewiesen. Vorderhand ist aber unser Wissen von dem 
intimeren Zusammenhang zwischen den nervösen Apparaten und den verschiedenen 
Arten der Darmmotilität allzu mangelhaft (vgl. z. B. Alvarez), als daß man sich etwas 
Präzises hier vorstellen könnte. Hierauf bezügliche Aussprüche der Autoren sind 
auch meistens so allgemein und unbestimmt gehalten (vgl. z.B. Bing), daß ein 
weiteres Eingehen hierauf füglich unterbleiben kann. Nur soll auf einen neulich von 
Ishikawa gemachten, sehr interessanten Versuch, die Frage experimentell anzu- 
gehen, hingewiesen werden. Es gelang ihm nämlich durch Durchschneiden der 
zum Dickdarm sich hinziehenden sakralautonomen Nerven beim Hunde ein wirkliches 
Megakolon hervorzurufen, während Sympathicusdurchschneidung (Plexus mesentericus 
inferior) vollständig negativ ausfiel. Da er weiter an einem 4jährigen Mädchen mit 
Hirschsprungschem Syndrom seit bald nach der Geburt bei der postmortalen 
Untersuchung trotz genauester Präparation die Verlaufsbahn der sakralautonomen 
Fasern zum Dickdarm (Ramus colicus plexus sacralis nach Autor) nicht finden konnte, 
glaubt er annehmen zu müssen, daß ein Megakolon infolge angeborenen Fehlens der 
nämlichen Verlaufsbahn entstehen könne. Sowohl in diesem als in den experimentellen 
Fällen war es jedoch charakteristisch, daß die Darmwand des stark dilatierten Darm- 
abschnitts nicht deutlich verdickt war, die Hypertrophie vielmehr die oberhalb der 
Dilatation gelegenen Abschnitte betraf. Das Bild stimmt also nicht völlig mit dem 
beim Megacolon congenitum gewohnten überein, und die nämliche Genese dürfte 
darum auch höchstens in vereinzelten Sonderfällen in Frage kommen. Dagegen scheint 
es nach den Untersuchungen des Autors nicht unwahrscheinlich, daß erworbene 
Megakola bei Erwachsenen nicht so ganz selten durch Läsion des fraglichen 
Nervenastes unter Vermittlung einer postentzündlichen Narbenbildung am Mesosig- 
moideum verursacht werden können. 

Ebensowenig gemeingültig ist die genetische Rolle gewisser anderen angeborenen 
Defekte der Darmwand, wie Muskelhypoplasie des untersten Kolonabschnitts (Con cetti), 
Hypoplasie der elastischen Elemente des Darms (Petrivalsky). 

Kurz zusammenfassend können wir also folgendes über die Pathogenese sagen. 
Erstens ist es nicht in Abrede zu stellen, daß ein Megakolon sekundär entstehen 
kann infolge von Obturationsbehinderungen an der recto-sigmoidalen Grenze, welche 
entweder wie bei den abnorm entwickelten Rectalfalten und den Darmspasmen 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 441 


schon vor der Geburt ausgebildet sein können, oder, wie bei den Abknickungen 
und Torsionen, auf angeborene Anomalien des Kolons bzw. des Mesosigmoideums 
zurückführbar sind. Zweitens ist es auch sehr wahrscheinlich, daß ein Megakolon 
sich schon während des Fötallebens primär ohne Vermittlung eines mechanischen 
Hindernisses entwickeln kann, obgleich unsere Einsicht in die näheren Entstehungs- 
bedingungen hier noch sehr mangelhaft ist. Welche von diesen beiden Hauptformen 
des Megacolon congenitum die häufigere ist, die primäre oder die sekundäre, läßt 
sich nicht bestimmt sagen. Die Sache wird auch dadurch weiter kompliziert, daß, 
wie gesagt, ein primär im Fötalleben. entstandenes Megakolon wahrscheinlich gerade 
zur Ausbildung der nämlichen Passagehindernisse zu disponieren scheint und sich 
also sekundär mit einem oder mehreren von ihnen kombinieren kann. Wenn also 
die Einteilung in eine primäre und eine sekundäre Form auch theoretisch als völlig 
berechtigt angesehen werden muß, so ist es, glaube ich, in dem einzelnen Falle 
recht schwer, ja nicht immer möglich, die richtige Entscheidung intra vitam zu 
treffen, und trotz möglichst genauer und allen Anforderungen genügender Sektions- 
technik nicht einmal post mortem. Eine größere Kasuistik klinisch und post mortem 
möglichst genau untersuchter Frühfälle wäre doch vielleicht vor allem geeignet, 
hier gewisse Klarheit zu bringen. 


Diagnostik. 

Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung dürfte das Hirschsprungsche Syndrom 
im allgemeinen keine diagnostischen Schwierigkeiten bieten. Die hartnäckige, seit 
der Geburt bestehende Verstopfung bildet im Verein mit dem enorm meteoristisch 
aufgetriebenen Bauch ein typisches Bild, das nicht zu verkennen ist. In den ersten 
Tagen nach der Geburt, wenn der Meconiumabgang auf sich warten läßt, kann ja 
zwar leicht eine Atresia ani vermutet werden, dieser Verdacht ist aber durch eine 
einfache Rectalpalpation sofort zu beheben. Hat sich Meteorismus schon ausgebildet, 
könnte vielleicht beim ersten Blick eine tuberkulöse Peritonitis, ein sog. rachitischer 
Froschbauch, oder bei einem Kinde im Alter über ein Jahr ein sog. intestinaler 
Infantilismus vorgetäuscht werden. Durch Beachtung der Vorgeschichte, des Ver- 
haltens des Stuhlgangs u. s. w. sind diese Fehlerquellen doch leicht auszuschließen. 
Verwechslungen mit übergroßen, congenitalen Ovarial- und Mesenterialtumoren sind 
auch mitunter denkbar. Weiche Kottumoren lassen sich zwar durch den charakte- 
ristischen Palpationsbefund (Gersunysches Klebephänomen) unschwer erkennen. 
Haben sich aber harte, wahre Koprolithen gebildet, und füllen diese z. B. das kleine 
Becken aus, kann die Entscheidung durch Palpieren allein gewiß fraglich bleiben. 
Erst gründliche Darmspülungen, eventuell in Verbindung mit vorausgegangenem 
Eingießen von Öl bzw. manueller Ausräumung können hier Klarheit bringen. 

Nach Feststellung eines Hirschsprungschen Syndroms gilt die nächste Frage, 
inwieweit ein Passagehindernis vorhanden ist oder nicht, und wenn ja, von welcher 
Art. Wertvolle Aufschlüsse hierbei gewähren uns verschiedene klinische Unter- 
suchungsmethoden und Hilfsmittel, wie z. B. Rectalsondierung, Röntgenunter- 
suchung, Recto-Romanoskopie. 

Wie vorher erwähnt, stößt nicht selten der ins Rectum eingeführte Finger 
auf einen Widerstand. In gewissen Fällen gelingt es mehr oder weniger leicht den 
Finger durch das Hindernis hindurchzuführen, welches sich hierbei deutlich als eine 
Art Falten- oder Klaffbildung herausstellt. In anderen Fällen glaubte man deutlich 
fühlen zu können, daß die Fingerspitze sich gleichsam in eine Striktur hineinbohrte 
und wie von einen schmalen straffen Gummiband umschnürt wurde (Koeppe), oder 


442 Kj. Otto af Klercker. 


auf eine fest angespannte Membran stieß (Moser), und daß die Spannung nach 
kurzer Zeit aufhörte und das Hindernis vollständig verschwand, so daß der 
Finger nunmehr ohne Schwierigkeit hindurchkommen konnte. Ein derartig charakte- 
ristischer Palpationsbefund wird gewöhnlich als Zeichen einer Muskelcontractur 
gedeutet. | 

Die gewöhnliche Lage des Hindernisses an der recto-sigmoidalen Grenze, im 
allgemeinen mindestens 10 cm oberhalb des Anus, dürfte aber meistens außerhalb 
der Reichweite des palpierenden Fingers fallen. Hier bietet dann die Rectalson- 
dierung ein gutes Hilfsmittel dar. Am besten braucht man eine gewöhnliche, weiche 
Magensonde. Findet sich an der nämlichen Stelle ein Hindernis, geht die Einführung 
der Sonde zwar zunächst leicht. Dann stößt sie aber in gewissem Abstand vom Anus auf 
deutlichen Widerstand, der bald plötzlich nachgibt, wobei das Rohr mit einem Ruck hin- 
durchgleitet und zugleich Kot und Gase massenhaft durch dasselbe hinausströmen. 
Das Rohr läßt sich nunmehr ohne Behinderung leicht weiter in den Darm hinauf- 
schieben, und auffallend große Wassermengen lassen sich ohne Schwierigkeit und 
mit großer Schnelligkeit durch dasselbe in den Darm hineingießen. Schon hierdurch 
gewinnt man einen gewissen Eindruck der Erweiterung der dilatierten Darmabschnitte. 
Wenn früher nicht sichtbar, treten sie jetzt mitunter deutlich durch die Bauchdecken 
hervor. Noch deutlicher wird dies der Fall nach Lufteinblasung. Schwerer ist es, 
durch Sondierung die Art des Hindernisses zu entscheiden. Ein wechselndes Resultat 
der Sondierungsversuche, so daß es z.B. bald sehr leicht geht, bald überhaupt nicht 
gelingt, das Hindernis zu passieren, wird öfters als Ausdruck eines Darmspasmus 
gedeutet, was jedoch als sehr unsicher zu betrachten ist, da ja ein Umbiegen der 
Sonde auch ohnedies gelegentlich eintreten kann. Charakteristisch, wenn auch nicht 
beweisend für das Vorliegen eines Klappenverschlusses ist nach Perthes, daß beim 
Einlauf von Flüssigkeit ins Rectum große Mengen rasch in den Darm hineingehen, 
aber nur unter Schwierigkeiten wieder entleert werden, besonders wenn beim Ein- 
lauf verschieden großer Mengen die unmittelbar nach der Injektion zurückfließende 
Menge stets ungefähr gleich klein bleibt. Für Ventilverschluß soll nach Perthes 
außerdem sprechen, daß das spontane Abgehen der Darmgase nur in bestimmter 
Körperlage erfolgt. In einem Falle Neugebauers verhielt sich der Gasabgang aber 
trotz des Fehlens eines Passagehindernisses genau auf dieselbe Weise. 

Durch Röntgenuntersuchung kann man sicheren Aufschluß erhalten über 
Ausdehnung, Größe, Länge und Form des erweiterten Darmabschnitts und mitunter 
auch durch eine quere Unterbrechung in der Schattenbildung einen Anhaltspunkt 
für Vorhandensein und Lagebestimmung eines eventuellen Darmhindernisses. Über 
die Art des Hindernisses kann die Röntgenuntersuchung aber keine Aufklärung geben. 
Das Kontrastmittel kann entweder per os, in der Milchspeise einer Reihe von Mahl- 
zeiten verteilt, oder auch in Form von Klistieren per rectum eingeführt werden. Die 
beiden Methoden können einander komplettieren. Voraussetzung, um überhaupt wirklich 
belehrende Bilder zu bekommen, ist aber, daß durch vorhergehende gründliche Darm- 
ausspülungen der Kot annähernd vollständig entleert worden ist, so daß das Darm- 
lumen vom Kontrastmittel ganz ausgefüllt werden kann. Bei Verdacht auf ausgedehnte 
Ulcerationen im Kolon sollte wegen Gefahr der Resorption besser auf diese Unter- 
suchung verzichtet werden. Nach Marfan soll aber auch eine Röntgenuntersuchung 
ohne Kontrastmittel gewisse Aufklärungen geben. 

Bei etwas älteren Kindern mit Hirschsprungschem Syndrom wurde wiederholt 
die Rectoskopie ausgeführt. Nicht selten konnte im Rectoskop am Übergang des 
Rectums zur Flexur eine Falte oder Klappe gesehen werden (Marfan). 





Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 443 


Unter Zuhilfenahme der nun erwähnten Untersuchungsmethoden gelingt es 
gewiß nicht selten, das Vorliegen eines obstruierenden Darmhindernisses festzustellen 
und mitunter auch vielleicht bezüglich dessen Natur wenigstens gewisse Anzeige 
zu bekommen. Eine präzise anatomische Diagnose ist aber, wie gesagt, meistens nicht 
möglich. Besonders läßt sich die Frage, inwieweit das Hindernis rein funktioneller 
Natur ist, oder ob es auf Grundlage einer organisch bedingten Stenose entstanden ist, 
gewöhnlich nie hierdurch beantworten. Aufschlüsse hierüber würde uns aber eine 
Probelaparotomie gewähren. Dieselbe ist aber bei hochgradig entwickeltem Hirsch- 
sprungschen Syndrom mit so großer Lebensgefahr verbunden, daß man lieber darauf 
verzichten sollte. Nach Schneiderhöhn starben von 15 Probelaparotomierten 10, 
davon 8 in direktem Anschluß an die Operation. | 

Bei den in jüngster Zeit immer mehr vorgenommenen Röntgenuntersuchungen 
an obstipierten Säuglingen wurde Kolon oder Sigmoideum nicht selten bedeutend 
dilatiert gefunden, ohne daß klinisch von einem Hirschsprungschen Syndrom die 
Rede sein konnte (A. E. Meyers). Möglicherweise haben wir in solchen Fällen mit 
anatomisch weniger ausgeprägten, klinisch larvierten Formen des Megacolon con- 
genitum zu tun. Das typische Hirschsprungsche Syndrom würde sozusagen nur das 
eine Extrem dieser Zustände darstellen. Da aber meines Wissens bisher keine Sektion 
an einem derartigen „larvierten“ Fall vorliegt, kann es sich hier höchstens um Ver- 
mutungen handeln. 

Prognose und Behandlung. | 

Die Prognose ist selbstverständlich in hohem Grade von der Behandlung ab- 
hängig. Schneiderhöhn machte im Jahre 1915 eine Zusammenstellung von 358 ' 
“ Hirschsprungfällen aus der Literatur. Wenn nur die 283 mit bekanntem Ausgang 
behandelten in Betracht gezogen werden, wurden von diesen 38:5% geheilt, 84% 
verbessert, 54'7% starben an direkten Folgen des Hirschsprungschen Syndroms; bei 
den übrigen blieb entweder die Behandlung ohne Erfolg, oder hatte das Hirsch- 
sprungsche Syndrom keine direkte Schuld an dem Tode. (Die abweichenden Prozent- 
zahlen bei Schneiderhöhn beziehen sich auf die Gesamtsumme 358.) Diese Statistik 
ist zwar nicht als ganz zutreffend zu betrachten, da sie auch Fälle von erworbenem 
Megakolon bei Erwachsenen umfaßt, möge jedoch eine ungefähre Vorstellung von 
dem bisher Erreichbaren geben. Hiernach sollte also ungefähr die Hälfte der be- 
handelten Fälle sterben, und nicht viel mehr als ein Drittel geheilt werden können, 
gewiß kein glänzendes Resultat, aber dennoch nicht so schlecht, daß es nicht dazu 
anregen sollte, in jedem Falle zu versuchen, eine möglichst wirksame und andauernde 
Behandlung durchzuführen. Darin kann man auch Schneiderhöhn völlig bei- 
stimmen, daß das Resultat sich wahrscheinlich viel besser würde herausgestellt haben, 
wenn man nicht zuweilen ungeeignete Mittel angewendet oder die Behandlung zu 
spät angefangen oder zu schnell abgebrochen hätte. | 

Selbstverständlich kann die interne Behandlung keine direkt kausale sein. 
Nur in den durch Darmspasmus verursachten Fällen wäre dies vielleicht möglich, 
und tatsächlich liegen Mitteilungen über günstige Resultate von sog. antispas- 
modischen Mitteln in einigen Fällen vor. So sah Oswald Meyer die Symptome 
schwinden nach einer Opiumbehandlung. Ein früherer Versuch mit Extr. Belladonnae 
(1—2mal 1 mg täglich bei einem 2—-3jährigen) hatte dagegen keinen Erfolg gehabt. 
Goebel bekam ein günstiges Resultat mit Belladonnasuppositorien bei einem 
2jährigen, während in Mosers früher erwähntem „spastischen“ Fall kleine Opium- 
gaben ohne Wirkung waren. A E. Meyers ist besonders für die Anwendung von 
Atropinum sulfuricum eingetreten, wodurch ein 4jähriger Knabe, bei dem die Sym- 


444 Kj. Otto af Klercker. 


ptome jedoch, wie es scheint, nicht sehr hochgradig entwickelt waren, angeblich ge- 
heilt wurde. Er wendete eine Lösung von 1: 1000 an, gab hiervon anfangs 5 Tropfen 
täglich, für jeden Tag wurde mit 1 Tropfen gesteigert, bis zu 10 Tropfen dreimal 
täglich. Obwohl die Erfahrung hierüber also noch sehr gering ist, müssen wir uns 
für verpflichtet halten, in Fällen, wo eine spastische Genese vermutet werden kann, 
wenigstens einen Versuch mit diesen Mitteln zu machen. 

In allen anderen Fällen kann die interne Behandlung nur darauf hinzielen, der 
Retention von Kot und Gasen entgegenzuwirken. Da Gefahr gerade durch die Gas- 
auftreibung bzw. die Resorption toxischer Produkte aus der Darmretention droht, 
ist es klar, daß ein Hintanhalten dieser Vorgänge von großer, quasi prophylaktischer 
Bedeutung sein muß. Die üblichen Laxantia und Kiysmen sind aber für diesen 
Zweck nicht sehr geeignet. Denn wenn auch mitunter eine, gewöhnlich diarrhoische, 
Abführung hierdurch erfolgen mag, so ist eine vollständige Entleerung des retinierten 
Darminhalts auf diese Weise nicht zu stande zu bringen. Bei den Klysmen kann sogar 
durch teilweises Zurückhalten der Flüssigkeit der Inhalt vermehrt werden. Hierzu 
kommt nun hinzu, daß diese Mittel durch ihre darmreizenden bzw. peristaltik- 
anregenden Eigenschaften leicht schaden und besonders bei Vorhandensein eines 
Passagehindernisses eine zu starke Dehnung der Darmschleimhaut bewirken können. 
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in gewissen Fällen, wo der Tod sehr rasch unter 
den Zeichen einer akuten Kolitis und Perforationsperitonitis eintrat; gerade diese 
Therapie daran schuld gewesen sei (Schneiderhöhn). Aus denselben Gründen wird 
allgemein von sog. Obstipationsdiät abgeraten. 
| Am besten wird die gestellte Indikation durch regelmäßige Darmspülungen 
erfüllt. Ein gut eingeöltes Darmrohr wird bis hinauf in die erweiterte Darmpartie 
hinaufgeführt, unter Vorbeigehen eines eventuellen Hindernisses. Darmgase und 
flüssiger Kot gehen nun von selbst ab, eventuell sucht man durch vorsichtigen Druck 
und Massage an dem Bauch nachzuhelfen. Danach wird mit Wasser gründlich aus- 
gespült, so daß möglichst sämtliche Rückstände beseitigt werden. In Anschluß zu 
der Ausspülung kann man eine Dauerdrainage anlegen, um hierdurch Gas und 
Kot stetig abzuleiten. In älteren Fällen mit großen Ansammlungen von festen Fäkalien 
ist es oft nötig, dieselbe zuerst durch Öleinläufe zu erweichen, und es gelingt dann 
erst allmählich, den Darm leer zu stellen, zuweilen erst unter Zuhilfenahme manueller 
Ausräumung. Wegen Gefahr des Kollapses wird allgemein davor gewarnt, in Fällen 
mit extrem gespanntem Bauch die Darmgase zu schnell herausströmen zu lassen. 
Göppert und Langstein raten, in solchen Fällen das Darmrohr abzuklemmen, wenn 
der Bauch sich etwa um die Hälfte verkleinert hat, sodann eine Injektion von Coffein 
zu machen und erst nach einer halben Stunde das Darmrohr wieder zu Öffnen. 

Ist es erst einmal gelungen, den gestauten Darm von allen Kotansammlungen 
zu befreien, wird es gewiß oft möglich, durch regelmäßig fortgesetzte Darmspülungen, 
eventuell in Verbindung mit Dauerdrainage, die gefahrbringende Retention hintan- 
zuhalten und ein gutes Allgemeinbefinden wiederherzustellen. Aber nicht nur das, 
in vielen Fällen kann auch eine wirkliche Verbesserung zu stande kommen, die sich 
darin zeigt, daß die Spülungen, die anfangs täglich vorgenommen werden mußten, 
allmählich immer größere Zwischenpausen zulassen, ja nach Monaten oder Jahren 
kann es sogar zu einer wenigstens relativen Heilung kommen, so daß also nur ein 
gewisser Grad von Verstopfung zurückbleibt. 

Massage und Faradisation der Bauchmuskeln können mit Vorteil als Unter- 
stützungsmittel zur Anwendung kommen, um die infolge des bedeutenden Meteoris- 
mus gedehnten und atrophischen Bauchmuskeln zu kräftigen. Selbstverstänlich dürfen 


Das Hirschsprungsche Syndrom (Megacolon congenitum). 445 


diese Maßnahmen nicht bei noch bestehender Bauchauftreibung angewendet werden. 
Lennander glaubte in einem Falle günstige Einwirkung von sog. elektrischen 
Lavements gesehen zu haben. Ein Liter physiologische Kochsalzlösung wurde per 
rectum eingegossen, die eine faradische Elektrode wurde durch den Anus ungefähr 
25 cm hoch in den Darm hinaufgeführt und mit der anderen wurde auf der Vorder- 
seite des Bauchs gestrichen. Die Ströme wurden so stark genommen, als der Patient 
ertragen konnte. Sitzung 10 Minuten. Die Behandlung wurde täglich drei Jahre hin- 
durch fortgesetzt. Vollständige Heilung trat ein, ob infolge der Faradisation ist jedoch 
zweifelhaft. Das günstige Resultat läßt sich ebenso gut auf Rechnung der täglichen 
Wassereinläufe schreiben. Die Indikation, eine zu grunde liegende Innervationsstörung 
des Darmes zu beeinflussen, scheint jedenfalls sehr unsicher. 

Offenbar bildet eine permanente Entlastung der erweiterten Darmteile die beste 
Voraussetzung für eine allmähliche Zurückbildung derjenigen Momente, die in erster 
Hand das Megakolon bedingen. Ein Ventilverschluß vom Typus des Roserschen 
Mechanismus muß selbstverständlich hierdurch außer Funktion gesetzt werden, und 
hierdurch wird esauch der Abknickung bzw. Torsion ermöglicht, sich zurückzubilden. 
Daß das Wegschaffen der Belastung ebenfalls die Klaffwirkung abnorm entwickelter 
rectaler Falten bzw. Darmspasmen zu erleichtern vermag, leuchtet ein. Bei jenen 
kommt außerdem hinzu, daß mit dem Wachsen des Rectums und Vergrößerung 
seines Lumens, die Falten immer mehr zurückbleiben. Wahrscheinlich ist auch das 
primäre Megakolon rückbildungsfähig, und bildet auch hier die erwähnte Entlastung 
die notwendige Bedingung. 

Gewiß gibt es aber auch Fälle, wo durch die erwähnten Maßnahmen keine 
bleibenden Resultate zu erreichen sind, wo, sooft man versucht, dieselben den einen 
oder anderen Tag auszusetzen, das Syndrom wieder in derselben Stärke erscheint, 
und wo man also einen operativen Eingriff erwägen muß. Auch dann kann 
aber die vorhergehende Behandlung nur von Nutzen gewesen sein. Erst durch diese 
wird es möglich, das Kind in einer solchen Verfassung und in einem solchen Lebens- 
alter der operativen Behandlung zu übergeben, daß ein glücklicher Ausgang der- 
selben überhaupt in Aussicht stehen kann. Je älter das Kind, je besser ist die Aussicht 
hierzu. Wenn möglich, sollte man wenigstens immer versuchen, mit der Operation 
bis über das erste Lebensjahr zu warten. Nicht selten hat man die operative Behandlung 
in bestimmten Gegensatz zur internen setzen wollen, und den Vorzug dieser oder 
jener auf statistischem Wege bestimmen zu können geglaubt. Ein derartig allgemein 
gehaltener Vergleich ist aber ganz illusorisch. Da schwer heruntergekommene, ganz 
hoffnungslose Fälle wohl eo ipso für die operative Behandlung ausscheiden, während 
von der internen dagegen keine abgewiesen werden können, folgt schon hieraus, 
daß eine geringere Mortalität der Operierten gegenüber den intern behandelten 
keineswegs als Beweis für die absolute Überlegenheit der operativen Behandlung 
dienen kann. Es handelt sich auch nicht um einander ausschließende, sondern viel- 
mehr um einander komplettierende Methoden. Wenn immer möglich, ist die interne 
zuerst zu versuchen, und erst wenn sie sich als unzureichend erweist, sollte zur 
Operation gegriffen werden. In bezug auf den dann zu wählenden Eingriff will ich 
mich nur auf einige kurze Bemerkungen beschränken. 

Bei Vorhandensein eines lokalen Hindernisses im Darm liegt es nahe, das 
operative Vorgehen auf die Beseitigung desselben einrichten zu wollen. So hat man 
Rectalfalten durch Valvidotomie nach Gant (Göbell, Neugebauer pag. 663) oder 
Galvanokaustik durchtrennt und Torsionen bzw. Abknickungen reponiert, und 
durch Kolopexie ein Wiedereintreten zu verhindern gesucht. Diese Methoden haben 


446 Kj. Otto af Klercker. 


vor anderen das voraus, daß der Darm hierbei nicht geöffnet wird und daß dadurch 
die Gefahr einer Peritonitis gering ist. In Schneiderhöhns Zusammenstellung kam 
Kolopexie 15mal zur Anwendung mit nur einem Todesfall. Daß die Methoden auch 
erfolgreich sein können, lehrt die Erfahrung. Nach Schneiderhöhn trat Heilung nach 
Kolopexie in 11 Fällen ein. Wenn wir aber die Schwierigkeiten bedenken, in casu zu 
entscheiden, inwieweit ein gefundenes Hindernis auch von genetischer Bedeutung 
gewesen ist, wird uns auch das gelegentliche Fehlschlagen verständlich. Einiger- 
maßen hinlängliche Sicherheit wird jedenfalls allein durch Ausschalten des gesamten 
erweiterten Darmabschnitts gewährleistet, also entweder durch Resektion oder 
Enteroanastomose zwischen zwei Stellen oberhalb bzw. unterhalb der dilatierten 
Flexur. Das Risiko dieser Eingriffe darf aber nicht unterschätzt werden. So starben 
nach Schneiderhöhn von 29 Enteroanastomisierten 9 und von 50 resezierten 15. In 
bezug auf die Resektion wird aber die Gefahr offenbar durch zweizeitige Ausführung 
wesentlich vermindert. Von 9 derartig Operierten starb nach Schneiderhöhn nur 
einer. Bei den am Leben Gebliebenen versagte die Enteroanastomose in 8 Fällen, 
die Resektion nur in 2. Die beiden betreffenden Eingriffe dürften wohl also trotz 
ihres unleugbar vorhandenen Risikos als die chirurgischen Normalmethoden bei 
Megacolon congenitum zu betrachten sein. Welcher von beiden bevorzugt werden soll, 
muß in jedem einzelnen Falle je nach den vorliegenden Umständen bestimmt werden. 
Näher hierauf kann ich jedoch, als Nichtchirurg, nicht eingehen, ebensowenig wie 
auf technische Einzelheiten und Schwierigkeiten der bezüglichen Methoden. 

Nur sei zuletzt hervorgehoben, daß in Fällen, wo die Darmspülungen keinen 
ausreichenden Erfolg hatten, oder wo die Verhältnisse sonst nicht ganz klar sind, 
der Rat Perthes’, zunächst einen provisorischen Anus praeternaturalis am Colon 
descendens anzulegen, befolgenswert scheint. In den folgenden Tagen werden die 
Flexur und das Kolon durch vorsichtige Spülungen vom Rectum aus entleert. Die definitive 
Operation wird erst nach einigen Wochen oder Monaten vorgenommen, wenn die 
Auftreibung des Leibes sich völlig zurückgebildet und zugleich der ganze Zustand 
des Patienten sich verbessert hat. 


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höhn, Ztschr. f. Kinder. 1915, XII, p. 321. 


Primäre Cholangitis. 


Von Privatdozent Dr. Stanislaus Klein, Primararzt, Warschau. 


In den letzten Jahren lenkte das gehäufte Auftreten an Lebererkrankungen 
meine Aufmerksamkeit auf sich. Während in der Vorkriegszeit der Prozentsatz der 
Leberfälle in meinem Krankenhausmaterial kaum 1 erreichte, machte er im Jahre 
1923 73% aus (auf 755 Fälle 55); unter den Frauen stieg er sogar bis auf 112%. 
Eine ähnliche Häufung von Lebererkrankungen wurde schon vor einigen Jahren 
in Deutschland bemerkt und der schweren Not und den schlechten Ernährungs- 
verhältnissen während der Kriegszeit zugeschrieben. Nach den ganz plausiblen Er- 
klärungen Umbers, der zugleich mit anderen deutschen Klinikern auf diesen Auf- 
stieg aufmerksam wurde, liegt die Ursache des gegenwärtigen gehäuften Auftretens 
von Lebererkrankungen in der durch die mangelhafte Ernährung bedingten Ver- 
armung der Leber an Glykogen, welches im gewissen Sinne als Schutzsubstanz der 
Leber aufzufassen ist — eine Tatsache, die mit den experimentellen Erfahrungen 
Rogers im Einklang zu stehen scheint. Die Leberzelle, auf diese Weise geschädigt, 
erliegt leichter verschiedenen Schädlichkeiten, dazu kommt noch die außerordentlich 
schlechte Qualität vieler Nahrungsmittel, die dabei auch jetzt noch öfters gefälscht 
und verunreinigt werden. 

Unter meinem Material machten einen großen Prozentsatz Fälle aus, die vor- 
wiegend mit Ikterus verliefen und deren Diagnose gewisse Zweifel verursachte, 
sofern wir uns nicht mit der schablonmäßigen Diagnose Cholelithiasis oder Icterus 
catarrhalis befriedigen wollten. Da aber die genaue Beobachtung dieser Fälle uns 
eine ganze Reihe interessanter und wichtiger, bisher wenig bekannter und nicht 
richtig eingeschätzter Tatsachen ergab, so halte ich es für zweckmäßig, sie einem 
breiteren Leserkreise bekanntzugeben. Ich hoffe, daß dadurch manche dunkle Fälle, 
die bisher falsch oder überhaupt nicht diagnostiziert wurden, verständlicher er- 
scheinen. 

Unter diesen so häufigen Lebererkrankungen erregte meine spezielle Auf- 
merksamkeit eine nicht geringe Zahl von Cholangitisfällen, u. zw. wegen ihres 
außerordentlich wechselvollen Anfangs, Krankheitsbildes, Verlaufs und Ausgangs. 
Was das Krankheitsbild betrifft, so wich es so weit ab von dem. bekannten 
Bilde der eitrigen, sehr selten primär, meistens aber im Verlauf von Cholelithiasis 
sekundär auftretenden Entzündung der Gallenwege, daß die Kenntnis dieses 
Krankheitsbildes für die Diagnose unserer Fälle sich ganz ohne Nutzen erwies. In 
dieser Hinsicht ähnelte es in gewissem Maße der Pyelitis, die ebenfalls ein proteus- 
artiges Bild und einen sehr wechselvollen Verlauf bietet und öfters nicht diagnosti- 
ziert wird. Die Zeitdauer unserer Fälle schwankte zwischen einigen Wochen und 
mehreren Jahren, wobei der Ausgang entweder in Genesung erfolgte, oder der Tod 
infolge verschiedener Ursachen eintrat, die mit dem eigentlichen Leiden nicht im 
Zusammenhang zu stehen schienen, aber doch dessen unmittelbare Folge waren. 


448 Stanislaus Klein. 


Wegen der großen Mannigfaltigkeit der klinischen Bilder und des Verlaufs 
des Leidens ist es schwierig, für dasselbe eine gemeinsame, für alle Fälle gültige 
Schilderung zu geben. Ich glaube deshalb, daß eine Einteilung in Gruppen die 
Orientierung wesentlich erleichtern würde, wobei zu berücksichtigen wäre, daß die 
einzelnen Gruppenbilder keineswegs als scharf umgrenzte Krankheitsbilder zu gelten 
bestimmt sind, da sie häufig untereinander Übergänge aufweisen. 

1. Der einfachste und häufigst vorkommende Typus ist folgender. Das 
Leiden beginnt plötzlich ohne Vorboten, manchmal aber schleichend, bei ganz 
belangloser Anamnese, wobei als erstes wahrnehmbares Symptom Gelbsucht erscheint. 
In akut einsetzenden Fällen zeigt Patient eine ganze Reihe akuter gastrointestinaler 
Störungen (Erbrechen, Druckgefühl im Epigastrium, Durchfall), die öfters, aber nicht 
regelmäßig, mit einem nicht sehr hohen und nicht lange dauernden Fieber ver- 
gesellschaftet sind. Nach einigen Tagen entwickelt sich Ikterus, dessen Intensität 
gering bleiben kann, gewöhnlich aber nimmt er allmählich an Stärke zu und wird 
von Hautjucken begleitet. Die anfänglich gefärbten Stühle entfärben sich öfters 
stark, weisen aber regelmäßig deutliche Gallenpigmentreaktion auf. Im Harn tritt 
sehr früh eine starke Urobilinogenreaktion auf, mit der Zeit gesellt sich auch eine 
Bilirubinurie dazu. Objektiv findet sich eine deutlich vergrößerte, in ihrer linken 
Hälfte etwas druckempfindliche Leber, sowie manchmal eine deutlich palpable und 
etwas schmerzhafte Gallenblase. Mitunter gesellt sich noch dazu eine deutliche Milz- 
vergrößerung, sowie Symptome von Nierenbeckenentzündung oder Nierenreizung 
(Leukocyten, Cylinder). Das Fieber verliert sich rasch, der Patient fühlt sich aber 
entkräftet, verliert den Appetit und wird sichtlich anämisch. Das mikroskopische 
Blutbild zeigt keine charakteristischen Symptome, öfters aber tritt eine beschleunigte 
Blutkörperchensenkung auf. Die Gelbsucht dauert einige Wochen an und verschwindet 
manchmal ohne jede Therapie, und der Patient genest allmählich. Oft jedoch tritt 
ein Rezidiv der Gelbsucht, häufig ohne jede erkennbare Ursache, auf, meistens aber 
nach Diätfehlern, nach einem Trauma, oder nach einem Infekt. Es kommen aber 
Fälle vor, die mehrere Monate sich hinschleppen, zeitweise Schwankungen der Gelb- 
suchtintensität aufweisen und endlich in Genesung übergehen. Manche seltenere 
Fälle können in akute Leberatrophie übergehen, selten auch tritt nach einigen 
Krankheitswochen unter Sepsissymptomen der Tod ein. 

Solche leicht verlaufende Fälle werden meistens als Icterus catarrhalis diagnosti- 
ziert. Wird hier aber der Duodenalinhalt vermittels der Duodenalsonde ausgehebert, 
so zeigt sich, daß derselbe sehr oft Eiter enthält, u. zw. als flockige Beimengung 
oder diffuse Trübung. Der Gallenblaseninhalt (gewonnen durch Einführung ins 
Duodenum von Pepton oder MgSO,) kann ebenfalls Eiter enthalten. Wir haben 
hier also unzweifelhaft nicht einen katarrhalischen Ikterus in dem alten Sinne vor uns, 
sondern eine primäre, idiopathische, eitrige Entzündung der Oallenwege, 
manchmal in Verbindung mit eitriger Entzündung der Gallenblase (Cholangitis et 
Cholecystitis purulenta). 

Relativ selten enthält der Duodenalinhalt keinen Eiter, hier stößt die Diagnose 
auf Schwierigkeiten. Manchmal findet man zeitweise Eiter, u.zw. zu einer Zeit, wo 
das Hindernis für den Gallenabfluß verschwunden ist. Es kommen aber zweifellos 
Fälle vor, bei denen wir während des ganzen oben geschilderten Krankheitsverlaufes 
keinen Eiter in der Galle finden. Für diese Fälle (und auch für andere, wovon 
weiter unten), die meistens als katarrhalischer Ikterus diagnostiziert werden, prägte 
Naunyn den Namen Cholangie. Er verstand darunter einen Infekt des gesamten 
Gallengangsystems, von der Leberzelle beginnend bis zur Papilla Vateri und Gallen- 


Primäre Cholangitis. Ä 449 


blase, wobei deutliche Zeichen von Eiterung fehlen und nur eine entzündliche In- 
filtration um die Leberacini und die feineren OGallenwege herum und die Gegen- 
wart von Bakterien (Bakteriocholie) zu finden ist. 

Naunyn und mehrere andere Forscher vertreten gegenwärtig den Standpunkt, 
daß die Entstehung von Icterus catarrhalis infolge Verstopfung der Mündung der 
Papilla Vateri durch einen Schleimpfropf weder pathologo-anatomisch noch klinisch 
einen Anhaltspunkt findet. Zwar kann in seltenen Fällen eine solche Verstopfung 
eintreten, aber nur infolge entzündlicher Schwellung des die Papille umgebenden 
Lymphgewebes — einer Angina papillae Vateri (Eppinger). 

Die ausgedehnten Untersuchungen Eppingers zeigten dagegen, daß die 
primären Veränderungen sich oft in der Leberzelle etablieren, u. zw. tritt infolge 
der Krankheitsnoxe (Infekt) Degeneration und Zerfall dieser Zellen ein, wodurch 
die Gallencapillaren ihren Stützpunkt verlieren, was einen Übertritt der Galle in die 
Gefäßcapillaren zur Folge hat. Dieser Vorgang kann die erste Etappe der akuten 
gelben Leberatrophie bilden, in welche die scheinbar ganz leichten Fälle von sog. 
Icterus catarrhalis oft übergehen können. 

Die Ansicht Eppingers steht eigentlich in keinem Widerspruche zu der 
Naunyns; denn wenn wir die Leberzellen als die Wandungen der ersten Gallen- 
wege auffassen, so unterscheidet sich die Hepatitis Eppingers sehr wenig von der 
Cholangie Naunyns. Auf diese Weise kommen wir zum Schluß, daß der sog. 
Icterus catarrhalis in zwei pathologo-anatomische Bider zerlegt werden muß: 1. in 
Cholangie, eventuell Hepatitis und 2. in Cholangitis purulenta. Sache weiterer 
Forschung wird es sein festzustellen, ob bei der ersten Form nicht doch entzünd- 
liche Vorgänge in den feineren Gallengängen im Spiele sind: ich glaube nämlich, 
daß darauf bisher recht wenig geachtet wurde. 

Das oben beschriebene Bild der Cholangitis purulenta tritt manchmal in Form 
von mehr oder weniger ausgedehnten Epidemien auf, mit vorwiegend gutem Aus- 
gang (Anigstein und Milinska). 

Ätiologisch kommt für diese Fälle oft die Paratyphusinfektion in Betracht: am 
häufigsten jedoch finden wir das Bacterium coli, wie es die bakteriologischen 
Untersuchungen von Gorke, sowie unsere eigenen, beweisen. Die Paratyphusinfektion 
verläuft mehr akut, endet manchmal letal, die Infektion mit Bacterium coli hat dagegen 
einen milderen Verlauf, mit Neigung zum Chronischwerden. Der Infektionsweg 
kann ein zweifacher sein: ascendierend, vom Darmkanal zur Leber hinauf — dieser 
Modus findet am häufigsten nach Diätfehlern statt —, oder descendierend, auf dem 
Blutwege, wie das die experimentellen Untersuchungen Fränkels beweisen. Seltener 
wird die Krankheit hervorgerufen durch andere in verschiedenen Organen seß- 
hafte Erreger, wie Strepto-, Staphylo- oder Pneumokokken, die durch verschiedene 
Einflüsse ins Blut und hernach in die Gallenwege und Leber übergehen. 

2. Der zweite Typus des Leidens hat einen eminent chronischen Verlauf: 
es ist möglich, daß sein Ausgangspunkt der erste Typus ist, die Ätiologie ist 
meistens dieselbe wie dort. Die Krankheit beginnt meistens mit intermittierendem 
Fieber, verbunden mit Schüttelfrösten und Schweiß; seltener nimmt das Fieber 
einen remittierenden Charakter an. In manchen Fällen tritt die Erkrankung als 
Rezidiv des ersten Typus auf, wobei das Fieber nicht besonders hoch ist. Gewöhnlich 
aber dauert das Fieber Wochen hindurch, verliert aber im Laufe der Zeit seinen 
typischen Charakter, wobei die fieberlosen Intervalle immer länger werden und 
das Fieber selbst seine ursprüngliche Höhe nicht erreicht: es treten aber von Zeit 
zu Zeit Schüttelfröste mit hohen Temperaturen und Schweiß auf, zugleich mit 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 29 


450 Stanislaus Klein. 


Schmerzen in der Leber- und Milzgegend, wonach wieder ein fieberfreies Inter- 
wall folgt. 

Schon am Krankheitsbeginn finden wir eine deutlich vergrößerte Milz: 
diese Vergrößerung schreitet rasch fort und nach einigen Krankheitswochen tritt die 
Milz 3—4 Finger breit unter dem linken Rippenbogen hervor. Die Milzvergrößerung 
und das Fieber geben oft Aniaß zur falschen Diagnose einer Malaria und zur 
Chinintherapie, die den Krankheitsverlauf gar nicht beeinflußt, 

In dieser frühen Krankheitsperiode finden wir gewöhnlich eine deutlich ver- 
größerte und verhältnismäßig wenig schmerzhafte Leber, eine nicht 
immer vergrößerte Gallenblase und, was das Wesentliche ist, eine deutliche Schmerz- 
empfindlichke&it der Milz, besonders während des Fiebers. In dieser Periode 
fehlt der Ikterus sehr oft, in manchen Fällen jedoch tritt der Ikterus sehr früh- 
zeitig auf und hält unter verschiedenen Intensitätsschwankungen während des 
ganzen Krankheitsverlaufes an. In anderen Fällen wieder tritt der Ikterus viel später 
und nicht sehr intensiv auf (in einenı meiner Fälle erst nach einem Gei 
und wechselnd in seiner Intensität. Hautjucken tritt sehr selten auf. 

Die Farbe der Stühle ist sehr wechselnd: gefärbte wechseln mit entfärbten; 
die genaue Untersuchung der Faeces auf Gallenfarbstoffe erweist jedoch oft ihre 
Gegenwart in größerer oder geringerer Menge. Der Harn zeigt außer Gallenfarb- 
stoff- auch häufig deutliche Urobilinogenreaktion; in gewissen Perioden tritt jedoch 
das Urobilinogen in geringer Menge auf. 

Die Kranken verlieren den Appetit und die Kräfte und werden rasch anämisch 
(in einem meiner Fälle fand ich 2:5 Millionen Erythrocyten und 56% Hämoglobin). 
Im Blute fehlt gewöhnlich eine deutliche Leukocytose, öfters, u. zw. in länger 
dauernden Fällen, ist eine Leukopenie vorhanden. Das Blutserum enthält einen ver- 
mehrten Bilirubingehalt (Diazoreaktion direkt positiv), die Senkung der Erythrocyten 
ist beschleunigt. Die Magenuntersuchung ergibt eine deutliche Verringerung des 
HCI-Gehalts. Auch kann man bei einer Anzahl von Fällen Symptome eine Nieren- 
becken- und Nierenentzündung feststellen, die ihre Gegenwart durch keine 
subjektiven Symptome verraten und nur durch die Untersuchung des Harnsediments 
nachzuweisen sind. 

Das auf diese Weise sich entwickelnde Leiden kann verhältnißmäßig sehr 
lange dauern. Ich beobachtete Fälle, die 2, 4, jasogar 9 Jahre lang 
dauerten, wobei oft die Kranken, trotz einer so langen Krankheitsdauer, außer 
‘'Gelbsucht, Anämie, Leber- und Milzvergrößerung, keine subjektiven Symptome 
verrieten, ja sogar während mancher Krankheitsphasen ihrem Beruf nachgingen. In 
den Fällen jedoch, wo die Patienten durch hohes Fieber gequält sind, bleiben sie 
monatelang an das Bett gefesselt und zu jeder Tätigkeit unfähig. 

Die Diagnose dieser Fälle ist ohne Untersuchung des Duodenal- 
inhaltes absolut unmöglich. Ich muß gestehen, daß ich in manchen, besonders 
fieberlosen Fällen, anfänglich eine falsche Diagnose gestellt habe, und erst, durch 
die mikroskopische Untersuchung der Duodenalgalle belehrt, stellte ich den wahren 
Charakter des Leidens fest. Am meisten Ähnlichkeit hat dieses Leiden mit Icterus 
haemolyticus, besonders dann, wenn Schmerzanfälle in der Leber- und Milzgegend 
zusammen mit Stärkerwerden des Ikterus auftreten. Diese Anfälle sind zum Ver- 
wechseln den Deglobulisationsanfällen, die gelegentlich bei dieser Krankheit auf- 
treten, ähnlich; eine irrtümliche Diagnose scheint hier öfters auch noch in einer 
leichten, mit Anämie verbundenen, stationären Gelbsucht ihre Stütze zu finden — 
Symptome, die für Icterus haemolyticus so charakteristisch sind. Die Resistenz- 


Primäre Cholangitis. 451 


bestimmung der roten Blutkörperchen zeigt aber nicht nur keine Verminderung, 
sondern sogar eine Erhöhung der Resistenz, außerdem finden wir keine für diese 
Krankheit charakteristische Anisocytose und Mikrocytose, außerdem keine vermehrte 
Substantia reticulofilamentosa. 

Die Malariadiagnose, welche am Krankheitsbeginn im Fieber und in der Milz- 
vergrößerung eine gewisse Stütze findet, läßt sich leicht durch die Blutuntersuchung 
ausschließen. In Fällen mit geringem Fieber und Ikterus, bei gleichzeitig bestehender 
Leber- und Milzvergrößerung wird öfters Pseudoleukämie oder Anaemia splenica 
diagnostiziert, wofür meistens eine gleichzeitig bestehende Leukopenie mit relativer 
Lymphocytose zu sprechen scheint. Die Röntgentherapie aber bleibt in diesen Fällen 
erfolglos. Protrahierte Fälle werden oft als Bantische Krankheit diagnostiziert; dieser 
Irrtum unterlief einmal sogar Umber; die von ihm eingeleitete Splenektomie blieb 
natürlich erfolglos. Ich glaube, daß diese Diagnose sich leicht ausschließen läßt, 
hauptsächlich auf Grund des sehr früh erscheinenden Fiebers und Ikterus, die bei 
der Bantischen Krankheit am Krankheitsbeginn nie auftreten. Wer weiß übrigens, 
ob nicht eine gewisse Anzahl von verschiedenen Autoren beschriebener Fälle dieser 
Erkrankung nicht gewöhnliche primäre Cholangitis war? Gegen diese Annahme 
spricht eine später hier auftretende Lebercirrhose keineswegs — ein Ausgang, der 
den Fällen des später zu besprechenden Typus eigen ist. Überhaupt ist die Banti- 
sche Krankheit bei uns äußerst selten — ich selbst sah bisher keinen typischen 
Fall — und schon deshalb muß diese Krankheit bei der Differentialdiagnose zu 
allerletzt in Betracht gezogen werden, u. zw. erst dann, wenn bereits alle ähnlichen 
Krankheitszustände ausgeschlossen worden sind. 

Bei heftigen Schmerzanfällen in der Leber- oder Gallenblasengegend wird oft 
die Diagnose Cholelithiasis gestellt. Dazu muß ich bemerken, daß das Bedürfnis einer 
Abgrenzung dieser Krankheit von primärer Cholangitis nicht wesentlich ist, da die 
Cholelithiasis, sofern sie mit Fieber und Ikterus verläuft, meistens schon eine mit 
Cholangitis oder auch Cholecystitis komplizierte Erkrankung ist; eine unkomplizierte 
Cholelithiasis gibt die oben beschriebenen Symptome nicht, und die Therapie beider 
Krankheitszustände ist fast identisch. Ich muß aber hier gleich beifügen, daß im Ver- 
laufe einer idiopathischen Cholangitis und infolge einer solchen sich eine Cholelithiasis, 
die auf das Krankheitsbild komplizierend einwirkt, entwickeln kann. Allenfalls sind 
die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten selten bedeutend; auftreten können sie 
nur dort, wo die Cholelithiasis keine heftigen Schmerzanfälle und keinen intensiven 
ikterus hervorruft; in solchen Fällen ist der Zustand der Milz ausschlaggebend (bei der 
reinen Cholelithiasis ist sie äußerst selten vergrößert), außerdem das Ergebnis der mikro- 
skopischen Untersuchung der Galle, welche bei einer sogar mit Cholangitis kompli- 
zierten Cholelithiasis eine geringe Eiterbeimengung zeigt, abgesehen von jenen seltenen 
Fällen, wo eine die Cholelithiasis komplizierende Erkrankung der Gallenwege einen 
stürmischen Verlauf aufweist und sehr ausgebreitet ist. Hier hat aber die Differential- 
diagnose ein mehr theoretisches Interesse — die einzige Rettung für den Patienten 
ebenso wie bei der primären Cholangitis, bleibt der chirurgische Eingriff. 

Oftmals verläuft die primäre Cholangitis beinahe ohne Ikterus, dagegen mit 
monatelang anhaltendem Fieber unter dem Bilde einer allgemeinen schweren Sepsis, 
deren Ausgangspunkt schwer festzustellen ist. Diese Fälle werden öfters als krypto- 
genetische Sepsis diagnostiziert, verlaufen meistens letal — Löwenhardt-Umber 
beschrieben sie als Cholangitis lenta. 

Wegen der ungemeinen Vielgestaltigkeit des klinischen Krankheitsbildes, das 
die Orientierung besonders erschwert, bleibt als einzige diagnostische Stütze 

29° 


452 Stanislaus Klein. 


die Untersuchung des Duodenalinhalts auf Eiter, die für die Diagnose ent- 
scheidend bleibt (eine seltene Ausnahme macht nur die Cholangie Naunyns). Außer 
Eiter finden wir im Duodenalinhalt deutliche Spuren von Eiweiß und sehr oft eine 
starke Urobilinogenreaktion. Die Gegenwart von Eiter in der Galle ist ein ständiges 
Symptom, dessen Intensität verschiedenen, nicht sehr großen Schwankungen unter- 
liegt; wir konnten uns davon tatsächlich durch die mehrmalige Einführung der 
Duodenalsonde in verschiedenen Krankheitsphasen überzeugen. 

Manchmal jedoch ergibt die Untersuchung auf Eiter keine unbedingt sicheren 
Resultate. Diese Eventualität kommt vor bei mit Cholangitis komplizierten Fällen 
von Cholelithiasis oder bei den sehr seltenen Fällen von Cholangie Naunyns, 
worauf wir noch weiter unten zurückkommen. In diesem letzteren Falle müssen wir 
uns ausschließlich auf das gesamte klinische Bild und den Krankheitsverlauf stützen, 
wobei die wichtigsten Symptome Lebervergrößerung, Ikterus und eine oftmals be- 
sonders ausgeprägte Urobilinurie sind. 

Die bakteriologische Untersuchung der Galle (Epidemiologisches Institut) 
erwies vorwiegend das Bacterium coli, u. zw. in sämtlichen Fällen, niemals aber 
Typhus- oder Paratyphusbacillen, auch nicht bei Kranken, die Bauchtyphus schon 
durchgemacht hatten oder denselben im Verlaufe der Krankheit bekamen. Andere 
Autoren fanden in den Gallenwegen Typhusbakterien, die sich dort nach Über- 
stehen des Typhus festsetzten. Ich muß bemerken, daß in einer gewissen Anzahl 
von Fällen sich überhaupt keine Bakterien finden ließen; es hängt dies vielleicht 
von einer ungeeigneten Methodik ab, u. zw. von einer verspäteten Untersuchung 
der Galle nach ihrer Ausheberung, weswegen die in derselben enthaltenen Bakterien 
(hauptsächlich Bacterium coli) durch die Galle abgetötet werden, oder von der 
Unterlassung eines Anreicherungsverfahrens. | 

Manche Autoren (Umber) schreiben der bakteriologischen Untersuchung keine 
groBe Bedeutung bei, da ihrer Meinung nach normale Gallenwege Bakterien 
(hauptsächlich Bacterium coli) enthalten können (womit ich auf Grund meiner eigenen 
und Gorkes Untersuchungen nicht einverstanden sein kann), und hauptsächlich des- 
wegen, weil eine Bakteriocholie der Gallenwege noch nicht mit Infekt identisch sei. 
Umber rät daher, mit den aus der Galle gezüchteten Bakterien die Agglutinin- 
reaktion auszuführen. In unseren Fällen fiel diese Reaktion negativ aus. Ich halte 
die bakteriologische Untersuchung der Galle für bedeutungsvoll, nicht nur in 
diagnostischer (reine Kolikultur), sondern auch in therapeutischer Hinsicht. Diese 
Ansicht wird durch die Tatsache gestützt, daß dort wo wir während des Krankheits- 
verlaufes reichlich Bacterium coli in Reinkultur fanden, nach der Heilung die Galle steril 
erschien, und auch dadurch, daß die aus diesen Bakterien gewonnene Vaccine bei 
den Patienten eine heftige Cutanreaktion hervorruft, was übrigens therapeutisch 
verwertet werden könnte (s. u.). 

In einer Anzahl von Fällen läuft die Krankheit relativ rasch, in 2—4 Monaten 
ab. Diese Fälle gehören eigentlich der ersten Gruppe an. In der Mehrzahl (im 
Laufe eines Jahres beobachteten wir 4 solche Fälle) zieht sich die Krankheit in die 
Länge und kann unbehandelt jahrelang andauern (bis zu 9 Jahren in einem Falle). 
Diese Patienten bieten nach längerer Krankheitsdauer folgendes Bild: fieberloser 
Zustand, mehr oder weniger intensiver Ikterus mit deutlicher Anämie, 
eine große, nicht besonders harte, wenig schmerzhafte Leber und eine 
häufig, wenn auch nicht immer, vergößerte Milz; der Harn enthält wenig 
Gallenfarbstoffe und regelmäßig eine bedeutende Urobilinmenge; das Serum zeigt 
deutliche Bilirubinreaktion; zeitweise stellen sich hohe Temperaturen und eine 


Primäre Cholangitis. 453 


leichte Schmerzhaftigkeit der Leber ein. Der Allgemeinzustand läßt, außer einem 
gewissen Schwächegefühl und Appetitmangel, wenig zu wünschen übrig. Die 
Diagnose ist in solchen Fällen sehr schwierig: solche Patienten suchen im Laufe 
von Jahren einen Arzt nach dem anderen, ein Spital nach dem anderen auf und 
erliegen zuletzt verschiedenen Komplikationen oder einer allgemeinen Sepsis; jeden- 
falls ist der Ausgang in Lebercirrhose äußerst selten, am häufigsten ist ein langsamer 
Verlauf mit Neigung zu zeitweiser, leichter Besserung. 

Und tatsächlich bessern sich die Fälle dieser Gruppe bei entsprechen- 
der Therapie deutlich, aber nicht so weit, daß man sie als geheilt betrachten 
könnte. Nicht sehr verschleppte Fälle verlieren relativ schnell (binnen einigen 
Wochen) den Ikterus, aus dem Harn verschwindet das Urobilinogen, im Blute zum 
Teil das Bilirubin, die Leber verkleinert sich bedeutend, der Eiter verschwindet aus 
der Galle allmählich, zuletzt finden wir in ihr nur Granulationszellen und ver- 
einzelte Leukocyten; die Galle wird jedoch selten steril. Mit der Zeit bessert sich 
der Zustand der Patienten so weit, daß sie sich als gesund betrachten; jedoch bei 
dem geringsten Diätfehler oder ohne sichtbaren Grund kann ein Rezidiv erfolgen. 

Auch in veralteten, 4—9 Jahre sich hinziehenden Fällen gelang es uns, durch 
eine systematische und konsequente Behandlung eine Besserung, ähnlich der oben 
beschriebenen, zu erzielen. Allerdings ließ sich die Anämie weniger beeinflussen, 
der Ikterus blieb sichtbar und, was das Wichtigste, fand sich immer in der Galle 
eine deutliche Eiterbeimengung. Die Patienten fühlten sich dabei relativ wohl und 
gingen teilweise ihrer Arbeit nach. Es kommen aber auch Fälle vor, wo die Patienten 
ständig fiebern und durch öftere Schüttelfröste, verbunden mit Intensivwerden der 
Gelbsucht, belästigt werden. So beobachtete z.B. Umber bei einem Patienten im Laufe 
von 5 Jahren 100 solche Anfälle. Zeitweise treten Ödeme, Aszites und Durchfall auf. 
Die Erschöpfung wird immer stärker und führt zum letalen Ausgang. Die Sektion 
ergibt eine purulente Cholangitis in Verbindung mit Pericholangitis und entzünd- 
lichen Veränderungen des Leberbindegewebes, zuweilen auch miliäre Abscesse. 

3. Zur dritten Gruppe rechnen wir jene Fälle, die sich in ihrem klinischen 
Bilde und in ihrem Verlaufe deutlich von den vorhergehenden unterscheiden. Der 
Krankheitsbeginn ist gewöhnlich ein plötzlicher: die Krankheit beginnt mit 
täglich sich wiederholenden Schüttelfrösten, Fieber und Schweißausbruch, mit einer 
Vergrößerung der Leber und Milz, welche rasch einen bedeutenden Umfang an- 
nehmen. Ein auffallendes Symptom ist eine bedeutende Schmerzhaftigkeit der 
Milz und oft auch der Leber. Der Ikterus tritt sehr frühzeitig auf und erreicht ge- 
wöhnlich eine bedeutende Intensität, in manchen Fällen jedoch erscheint der Ikterus 
ziemlich spät, oft erst im 2. Krankheitsjahre. Das Fieber verschwindet mit der Zeit, 
kehrt aber manchmal wieder, Leber und Milz werden immer größer und reichen 
bis zur Nabellinie; die Stühle haben normale Färbung, zeitweilig aber werden sie 
acholisch. Der Ikterus wird immer intensiver, das Hautjucken ist dann äußerst 
lästig, die Haut an den Beinen erscheint entzündlich hypertrophisch. In manchen 
Fällen jedoch ist der Ikterus äußerst gering und hauptsächlich an den Skleren an- 
gedeutet. Im Harn findet man bei starkem Ikterus Gallenfarbstoffe reichlich und 
stets Urobilinogen in reichlicher Menge, bei leichtem Ikterus nur Urobilinogen. 
Die Anämie ist selten bedeutend. Das Blut zeigt selten bedeutende Veränderungen, 
gewöhnlich findet sich eine Leukopenie. Bei geringem Ikterus erinnert das Krank- 
heitsbild an das des Icterus haemolyticus, bei stärkerem vermutet man einen 
Verschluß der Gallenwege durch einen Stein oder Tumor. Der weitere Verlauf und 
die genaue Untersuchung des Patienten schließen diese Vermutung aus. 


454 Stanislaus Klein. 


Auf diese Weise kann das Krankheitsbild Monate oder Jahre ohne Änderung 
bleiben. Die längste Dauer betrug in meinen Fällen 3 Jahre, die kürzeste, durch 
einen chirurgischen Eingriff (Splenektomie) unterbrochen, 1 Jahr. 

Eine gewisse Anzahl von Patienten fühlt sich verhältnißmäßig nicht schlecht 
und außer einer Schmerzhaftigkeit in der Milzgegend äußern sie keine Klagen über 
irgend welche Beschwerden. Manche Patienten sind jedoch infolge der Schmerzen, 
des Ikterus und des damit verbundenen Hautjuckens und der Fieberanfälle bei- 
nahe ständig an das Bett gefesselt. Bei diesen Patienten findet man zeitweise auf- 
tretende Symptome der hämorrhagischen Diathese, wie Hautblutungen und hart- 
näckige Blutungen aus der Nase und Mundhöhle. Bei der Untersuchung finden wir 
das Leede-Rumpelsche Symptom sehr deutlich ausgeprägt, die Blutungszeit und 
Gerinnungszeit verlängert, die Blutplättchenzahl verringert (bis auf 40.000). Bei 
fortlaufender Untersuchung fällt die immer mehr zunehmende Vergrößerung 
und Härte der Leber auf; der Leberrand fühlt sich mehr rund an, besonders der 
linke Leberlappen ist deutlich vergrößert und sehr hart. In diesem Stadium unter- 
liegt es keinem Zweifel mehr, daB wir es mit einer hypertrophischen, megalo- 
splenischen, biliären Lebercirrhose zu tun haben. 

Untersuchen wir jedoch den Dwuodenalinhalt mit Hilfe der Sonde, dann 
überzeugen wir uns, daß in sämtlichen Fällen (wir sahen 3 solche) während des 
ganzen Krankheitsverlaufes und bei jeder Untersuchung sich eine beträchtliche 
Eiterbeimengung findet. 

Leider reagieren diese Fälle auf therapeutische Eingriffe nicht so günstig wie 
jene der obigen Gruppe: die Patienten sterben an Komplikationen, entweder an 
hämorrhagischer Diathese oder an Cholämie. 

Die Ätiologie dieses Leidens läßt sich zur Zeit schwer feststellen, da die 
bakteriologische Untersuchung der Galle durch verschiedene, oben erwähnte Gründe 
uns keine Resultate ergab. Der Verlauf des Leidens läßt jedoch keine Zweifel zu, 
daß wir es hier mit einer primären infektiösen Erkrankung der Gallenwege, mit 
vielleicht specifischer Ätiolgie zu tun haben, welche zugleich die Leber und Milz 
affiziert. Es kann auch sein, daß eine gewisse Zahl dieser Fälle einen für die 
Gruppe 1 und 2 charakteristischen Beginn und gleiche Ätiologie haben, aber von 
mehr bösartigem Charakter — diese Meinung vertreten Eppinger und Umber. 
Es sind dies Fragen, die auf Grund des bisher vorliegenden Tatsachematerials nicht 
entschieden werden können; hier sind weitere Forschungen notwendig. Manche 
Autoren (Minkowski) vertreten die Meinung, daß in diesen Fällen die Cirrhose 
durch Cholangitis kompliziert ist. Jedoch die ständige Gegenwart von Eiter in der 
Galle, auch in den Frühstadien der Erkrankung, in allen bisher von uns und anderen 
beobachteten Fällen gibt viel zu denken, umsomehr als viele hervorragende 
Forscher (Fraenkel, Eppinger) und selbst Minkowski der Meinung sind, daß 
eine eitrige Entzündung der Gallenwege Ausgangspunkt einer Lebercirrhose sein 
kann. Dafür, daß hier Oallenstauung und eine durch dieselbe verursachte Reizung 
des Lebergewebes keine Rolle spielt, spricht die Tatsache, daß in Fällen von hoch- 
gradiger Gallenstauung, wie wir sie beim Krebs des Pankreaskopfes begegnen, 
niemals Cirrhose auftritt. 

Die Diagnose dieser Fälle ist im Anfangsstadium, bei Berücksichtigung der 
Ergebnisse der Duodenalsondierung verhältnismäßig leicht. Anders steht es hier 
mit der Prognose. Man kann nie vorhersehen, ob der gegebene Fall wie einer der 
zweiten Gruppe verlaufen oder in eine Lebercirrhose übergehen wird. Durch meine, 
wenige Fälle betreffende, Erfahrungen habe ich den Eindruck gewonnen, daß die 


Primäre Cholangitis. 455 


Fälle, bei denen vom Beginn an eine vergrößerte, schmerzhafte Milz, ein starker 
Ikterus und Fieber bestehen, die Neigung zum Ausgang in Lebercirrhose besitzen. 
Mit Sicherheit jedoch kann ich das nicht behaupten, dazu gehört die sorgfältige 
Beobachtung eines größeren Materials. Die Feststellung dieser Tatsachen jedoch ist 
sehr wichtig, denn von ihr hängt die Art der Therapie ab, worauf wir noch zurück- 
kommen werden. | 

4. Zur vierten Gruppe der Erkrankungen der Gallenwege gehören jene Fälle, 
die Naunyn als Cholangie bezeichnete. Diese Fälle — ich muß daß von vorn- 
herein betonen — unterscheiden sich in ihrem klinischen Verlaufe fast durch nichts 
von den Fällen der vorigen Gruppen, besonders der Gruppe 1 und 2. Naunyn be- 
zeichnet sie jedoch nicht als Cholangitis, da er weder während der Krankheit noch 
nach dem Tode irgend welche Zeichen einer Entzündung der Gallenwege, sondern 
entzündliche Veränderungen desLebergewebes um dieLeberaciniund um die capillaren 
Gallengänge herum gefunden hat. Die Krankheitsursache bilden Bakterien verschiedener 
Art, in erster Linie Bacterium coli, dann Paratyphusbacillen, Streptokokken, Strepto- 
coccus viridans u.s.w. Anatomisch verläuft die Krankheit anfänglich als eine Hepatitis, 
welche schon das erste Stadium der Cholangie bildet, wobei de Leberzellen als 
Epithel der capillaren Gallenwege zu betrachten sind (Bittorf). Auf diesem Wege 
entwickelt sich entweder eine akute gelbe Leberatrophie oder eine eitrige Ent- 
zündung der Gallenwege mit miliaren Absceßen in der Leber oder auch eine 
Hanotsche Lebercirrhose (Naunyn, Umber). Da eine Cholangie nach Naunyn in 
eine Cholangitis übergehen kann, ist es nicht ausgeschlossen, daß die Fälle unserer 
zweiten Gruppe anfänglich als solche sich entwickeln können; persönlich jedoch 
haben wir gewisse Zweifel, da wir bei Fällen gewöhnlicher Cholangitis, mit einem 
der der Cholangie klinisch ähnlichen Bilde, schon in den ersten Krankheitstagen 
Eiter in der Galle gefunden haben. 

Die Entstehungsart der Krankheit sieht Naunyn in einer Infektion, die sich 
folgendermaßen abspielt: 1. Die durch keine klinischen oder pathologisch-anatomischen 
Symptome sich verratende Gegenwart von Bakterien in den Gallenwegen (Bakteriocholie) 
wird durch Trauma oder mechanische Hindernisse in den Gallenwegen zur Ursache 
eines ernsten Infektes der letzteren, ohne dabei entzündliche Veränderungen hervor- 
zurufen; 2.dieoben erwähnte Bakteriocholiekann bei verminderter Resistenz der Leber 
infolge ungünstiger Lebensbedingungen (z. B. der Kriegsjahre) einen bösartigen 
Charakter annehmen und eine Infektion der Gallenwege hervorrufen; 3. verschiedene 
Infekte des Organismus können zur Bakteriocholie der Gallenwege führen und 
unter günstigen Bedingungen eine Cholangie hervorrufen. 

Der Krankheitsbeginn kann ein plötzlicher oder ein allmählicher sein. Der 
erste Fall tritt bei Infektionen auf dem Blutwege auf, der zweite, wenn die Infektion 
vom Magendarmtractus ausgeht. Im letzterem Fall kann nach Magendarmstörungen 
das Bild eines katarrhalischen Ikterus auftreten. In akut beginnenden Fällen kann 
sich auch das Bild einer Sepsis entwickeln. Eine gewisse Zahl von Fällen kann 
nach mehrwöchiger Dauer ohne Spur vorbeigehen, in anderen Fällen jedoch wechseln, 
wie bei der zweiten Gruppe, Perioden von Fieber und Ikterus mit solchen ohne 
diese Erscheinungen ab. Diese Krankheit kann ebenso wie die Cholangitis jahre- 
lang (selten über 2 Jahre) dauern und belästigt die Patienten verhältnismäßig 
wenig. 

Eine ausführliche Schilderung dieses Krankheitsbildes erübrigt sich eigentlich, 
denn dasselbe unterscheidet sich von dem oben beschriebenen Bilde der Cholangitis 
durch nichts. Das gleiche gilt vom Krankheitsverlauf und der Prognose Es muß 


456 Stanislaus Klein. 


jedoch hinzugefügt werden, daß in septisch verlaufenden Fällen oftmals der Strepto- 
coccus viridans (Löwenhardt) festgestellt und bei langsam verlaufenden Fällen eine 
Analogie mit Fällen von Endocarditis lenta gefunden wurde (Cholangitis lenta). 
Die Fälle Löwenhardts (1 und 2) kann man aber nicht als eine primäre Entzündung 
der Gallenwege betrachten, da der Ausgangspunkt ein vorher durchgemachter 
Gelenkrheumatismus war. 

Leider kann man aus den Berichten Naunyns, Umbers und Löwenhardts 
nicht entnehmen, ob eine genaue Untersuchung der Duodenalgalle durchgeführt 
worden war; ich glaube, daß das nicht überall der Fall war, denn einige ihrer 
Fälle, die bei der Sektion Eiter in den Gallenwegen oder in der Leber aufwiesen, 
figurieren als Cholangie und nicht als Cholangitis; dasselbe gilt für den Fall von 
Fraenkel. Dies schließt jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß am Anfang der 
Krankheit kein Eiter in der Galle zu sein braucht, besonders dann, wenn bloß die 
capillären Gallengänge betroffen sind. Anderseits mögen gewisse Fälle von Cholangie, 
wie z.B. Fall3 von Umber, als Ausgangspunkt eine Infektion der Porta hepatis 
haben, eine Möglichkeit, die nach Umber sogar eine anatomische Untersuchung 
nicht im stande ist auszuschließen. 

Nach dem Gesagten könnte es scheinen, als ob die Unterscheidung von 
Cholangie und Cholangitis durch die mikroskopische Untersuchung der Galle mög- 
lich wäre, u. zw. so, daß beim klinischen Bilde einer Cholangitis die Gegenwart 
von Eiter für dieses Leiden, das Fehlen — für eine Cholangie sprechen würde. Leider 
ist das klinische Bild der Cholangitis nicht immer typisch, und bei einem unklaren 
klinischen Bilde und dem Fehlen von Eiter in der Galle ist die Diagnose äußerst 
schwierig. Naunyn behauptet zwar, der Ikterus sei das wichtigste Symptom der 
Cholangie; es kommen jedoch Fälle dieser Krankheit ohne Ikterus vor (Umber), 
besonders wenn die gröberen Gallenwege betroffen sind. Einen wichtigen Stütz- 
punkt dagegen bieten eine Leber- und Milzvergrößerung, die besonders in akuten 
Fällen deutlich ausgeprägt ist, und eine Empfindlichkeit der Lebergegend, die deutlich 
auf den Sitz des Leidens hinweist. Sehr schwierig ist die Unterscheidung der Cholangie 
von Cholelithiasis in Fällen, die zwar selten sind, aber mit Leberkoliken verlaufen. 

Aus der obigen Schilderung des Krankheitsbildes der primären Cholangitis sehen 
wir, daß dieses Leiden, trotz seines sehr oft wechselvollen Bildes und Verlaufes, 
Symptome aufweist, die öfters und gemeinsam auftreten können und die, auch 
ohne Untersuchung der Galle, die Diagnose zu stellen erlauben. Wir stellen diese 
Symptome in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit zusammen. 

1. Die Lebervergrößerung. Dieses Symptom ist das häufigste und kon- 
stanteste. Die Leber unterliegt frühzeitig einer Schwellung, die sich nur selten und 
nur auf kurze Zeit im weiteren Verlaufe der Krankheit verringert. Das Fehlen einer 
. Leberschwellung bietet eine Ausnahme. Seltener tritt eine bedeutende Schmerz- 
haftigkeit der Leber auf; anfallsartige Schmerzen sind selten und nicht stark. Gewöhn- 
lich klagen die Patienten nur über ein Gefühl der Völle und über eine gewisse 
Empfindlichkeit der Lebergegend. Die dem Leberabsceß eigentümliche Schmerz- 
haftigkeit beim Zusammendrücken der unteren Rippen wird hier meistens vermißt. 

2. Milzvergrößerung kommt häufig vor, tritt frühzeitig auf, namentlich in 
etwas länger dauernden Fällen. Eine bedeutende Schwellung weist auf ein chronisches 
und hartnäckiges Leiden hin. Das Fehlen von Milzvergrößerung ist eine Ausnahme. 

3. Fieber kommt öfters vor, u.zw. am Krankheitsbeginn. Es kann aber mit 
der Zeit verschwinden oder sich auf geringer Höhe erhalten. Es gibt jedoch ganze 
Jahre währende Fälle ohne Fieber. Bei einer Infektion mit Bacterium coli kommt 


Primäre Cholangitis. 457 


ein remittierendes Fieber vor, es können aber solche Fälle ganz ohne Fieber ver- 
laufen. Ein längere Zeit anhaltendes Fieber ist für die Prognose ungünstig. 

4. Ikterus ist ein sehr häufiges, aber nicht obligates Symptom. Es gibt Fälle 
auch ohne Ikterus und auch ohne jede geringste Verfärbung der Skleren. Sogar 
eine eitrige Entzündung der Gallenwege mit einem Ausgang in Abscedierung der 
Leber kann ohne jeden Ikterus verlaufen, wie ich mich davon tatsächlich 2mal, 
während der Operation überzeugen konnte. Dasselbe sah auch schon früher Kehr. 
Dieses Fehlen von Ikterus ist schuld, daß die Cholangitis öfters nicht diagnostiziert 
wird. Es sind das aber sehr seltene Fälle; gewöhnlich ist ein mehr oder weniger 
intensiver Ikterus Regel. 

5. Urobilinogenurie ist ein äußerst wertvolles Symptom und kommt kon- 
stant vor; selten fehlt sie. Man muß jedoch vorsichtig sein, auf dieses Symptom 
allein die Diagnose stützen zu wollen. 

6. Eine Anämie ist ein häufiges und frühzeitig auftretendes Symptom. 
Zusammen mit anderen Symptomen bestätigt sie die Diagnose. 

7. Symptome von Pyelitis- und sogar von Nephritis sind sehr häufig und 
sprechen für eine auf dem Blutwege zu stande gekommene Infektion. 

8. Die Blutveränderungen sind wenig charakteristisch und ergeben fast 
gar nichts zur Stütze der Diagnose. Eine bedeutende Leukocytose spricht für eine 
Eiterung, eine bei diesem Leiden häufig vorkommende Leukopenie gibt keine Finger- 
zeige. Eine beschleunigte Sedimentierungsgeschwindigkeit der Erythrocyten bei Ikterus 
spricht für einen entzündlichen Prozeß. Die bakteriologische Untersuchung des Blutes 
gibt selten positive Resultate und muß öfters wiederholt werden. Dasselbe betrifft 
die Agglutinationsproben mit fremden Kulturen, einzig die Probe mit aus der Galle 
gezüchteten Bakterien kann eine Bedeutung haben. 

9. Der Verlauf. Ein Krankheitsbild, bestehend aus den oben erwähnten 
Symptomen 1—6, das über 4—5 Monate anhält, bei gleichzeitigem Mangel irgend- 
welcher Symptome von Lebercirrhose, spricht mit großer Wahrscheinlichkeit für 
eine Cholangitis. 

10. Die Gegenwart von Eiter in der Galle spricht mit gewissem Vorbehalt 
für eine Cholangitis; ein Fehlen desselben, bei ausgeprägtem klinischen Bilde, spricht 
für Cholangie. 

Die Behandlung des in Rede stehenden Leidens besteht bei leichten Fällen 
besonders der ersten Gruppe vorwiegend in Ruhe, Diät und Anwendung von feuchten, 
heißen Umschlägen (Kataplasmen von Leinsamen) auf die Lebergegend und die 
Verabfolgung von Urotropin- und Salicylpräparaten. Solche Patienten verlieren im 
Verlauf von einigen Wochen den Ikterus, die Leber schwillt ab, der Appetit kehrt 
wieder zurück und die Patienten genesen. Da man jedoch den Verlauf der Krank- 
heit von vornherein nie vorhersehen kann, ist es angezeigt, sich bei dieser Therapie 
nicht lange aufzuhalten, sondern zu versuchen, die Infektion mit anderen Mitteln zu 
bekämpfen. Die besten Resultate gab mir die intravenöse tägliche Injektion 
von Utropin (5—10cm? einer 40%igen Lösung). Nach 10—20 Injektionen beginnt 
bei Fällen der Gruppe 1 der Ikterus zu verschwinden und gleichzeitig verschwinden 
der Eiter und die Bakterien aus der Galle. In chronischen Fällen bewirkt diese 
Therapie eine deutliche Besserung, bei Unterbrechung jedoch derselben verschlim- 
mert sich das Leiden sichtbar. Umber empfiehlt statt Urotropin, Saliformin (Hexa- 
methylentetraminum salicylicum) 3mal täglich je 1'0, Bittorf dagegen Salicyl in 
groBen Gaben (6'8—8'0 pro die). Läßt sich die intravenöse Therapie nicht durch- 
führen, kann man dem Patienten Urotropin per clysma (4:0 in 100:0 Wasser gelöst) 


458 Stanislaus Klein. 


oder folgende Mischung: Salis Carolin., Natr.. salic., Urotropin aa. 100, Aqua dest. 
200:0, 4mal täglich je einen Eßlöffel in einem Glase heißen Wassers, vor dem Essen 
zu verabfolgen. Von verschiedenen, in der letzten Zeit angepriesenen Mitteln, beson- 
ders von Choleval, habe ich keinen wesentlichen Nutzen gesehen. In hartnäckigen 
Fällen empfiehlt Umber die Einführung von 20—40 cm? einer 20% igen Magnesium- 
sulfatlösung mittels Sonde in das Duodenum, andere empfehlen die Einführung 
von Olivenöl. Interessant ist die Beobachtung von Gorke, der nach Eingießungen 
in das Duodenum von 50cm? einer 10%igen Bicarbonat- und Magnesiumsulfat- 
lösung ein Verschwinden des Bacterium coli aus der Galle sah. In unseren Fällen 
gab die Anwendung dieser Therapie keine deutlichen Erfolge. 

Einen besonderen Nachdruck lege ich auf die systematische Anwendung von 
Kataplasmen; es ist dies ein sehr erfolgreiches Mittel zur Einwirkung auf die Leber, 
die sich in der Folge verkleinert. Anfänglich müssen diese Kataplasmen den ganzen 
Tag hindurch appliziert werden, später jedoch genügt eine Anwendung von je 2mal 
zu 2—3 Stunden. Dieselbe Wirkung übt auch die Diathermie der Lebergegend aus. 

Was die Diät betrifft, so muß man sich in akuten Fällen auf eine vorzugsweise 
kohlenhydratreiche Kost beschränken (Schleimsuppen, rein oder mit Milch verdünnt, 
Obstsäfte). Chronische Fälle zwingen zu einer Vergrößerung der verabreichten 
Nahrungsmengen; hier können Eiweißstoffe und Fette in geringen Mengen, aber öfters 
verabreicht werden, um auf diesem Wege einen Sekretionsstrom von Galle anzuregen. 
Für jeden Fall ist jede Nahrung kontraindiziert, die nicht frisch zubereitet verabreicht 
werden kann, wie z. B. Heringe, Sardinen, geräuchertes Fleisch und Fisch, Wurst- 
waren, tagsvorher zubereitete und aufbewahrte Speisen. Für tägliche Stuhlentleerung 
ist zu sorgen, am besten mit Hilfe von Klistieren. 

Leider gibt es Fälle, die durch eine solche Therapie sich nicht beeinflussen 
lassen oder die spät in die Behandlung treten, in einem schweren Zustand mit 
anhaltendem Fieber und bedeutender Milzvergrößerung. In solchen Fällen kann 
man, außer Anwendung von Urotropin, noch die Abwehrkräfte des Organismus 
durch eine Proteintherapie steigern, am besten durch intravenöse Injektionen von 
Argentum colloidale (5—10 cm? einer 2%igen Lösung). Führen 10—20 Injektionen 
nicht zum Ziele, dann kann man noch eine Therapie mit Eigenvaccine versuchen, 
namentlich wenn Bacterium coli die Ursache ist. Ich selbst sah bei dieser Therapie keine 
wesentliche Besserung; vielleicht gibt hier die intracutane Anwendung bessere Resultate; 
augenblicklich kann ich darüber nichts Positives aussagen, da ich die Versuche in 
dieser Richtung noch nicht abgeschlossen habe. 

Schleppt sich die Erkrankung in die Länge und sieht man trotz einer syste- 
matischen Therapie keine Besserung, auch in solchen Fällen, in denen der Ikterus 
gleich am Beginn sehr ausgeprägt und das Fieber hoch und ständig ist, oder wenn 
eine Cholelithiasis das Leiden kompliziert, dann muß man seine Zuflucht zu einer 
Öffnung der Gallenwege und deren Drainierung nehmen. Bei Eiterung, die nur in 
den großen Gallenwegen lokalisiert ist, ist dies die sicherste und erfolgreichste 
Therapie. Anders verhalten sich jene Fälle, bei denen hauptsächlich die kleinen 
Gallenwege (Cholangie), befallen sind. Hier ist zweifelhaft, ob eine Operation 
einen normalen Zustand der Leber wieder herbeiführen kann (Umber). Ein solcher 
Eingriff jedoch muß versucht werden, da solche Patienten sonst meistens letal enden. 
Auf jeden Fall darf eine längere Dauer des Ikterus nicht zugelassen werden, da 
ein: solcher Zustand die Chancen eines Eingriffes wesentlich verschlechtert. Es ist 
noch sehr zweifelhaft, ob ein solcher Eingriff die Entstehung einer Lebercirrhose 
verhindern kann. 


Primäre Cholangitis. 459 


Auf den Ikterus selbst wirkt hier öfters die Milzexstirpation ein (Eppinger), 
es betrifft dies jedoch Fälle von hypertrophischer Lebercirrhose, die aber weiterhin 
bestehen bleibt; die Kranken bessern sich jedoch deutlich. In einem meiner Fälle 
von Lebercirrhose mit Milzvergrößerung und Symptomen von eitriger Cholangitis 
verschwand nach der Splenektomie der Ikterus und die Urobilinogenurie, die 
Leber verkleinerte sich, der Eiter in der Galle verschwand jedoch nicht gänzlich. 

Ob in Fällen von Cholangitis mit bedeutender Splenomegalie eine Splenektomie 
einen heilsamen Einfluß auf den Verlauf der Lebererkrankung haben kann, ist zweifel- 
haft; in Anbetracht unserer Vermutung aber über den bestehenden Zusammenhang 
zwischen hypertrophischer Lebercirrhose und Cholangitis muß man darüber nach- 
denken, ob nicht eine Eröffnung der Gallenwege mit nachfolgender Splenektomie 
den Krankheitsverlauf unterbrechen könnte. In dieser Richtung sind weitere For- 
schungen angezeigt. 


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Med. 1922, I. — Naunyn, Klinik der Cholelithiasis 1892; Mitt a. d Gr. 1917, XXXIX. — Tietze u. 
Winkler, A. f. kl. Chir. 1924, CXXIX. Umber, KI Woch. 1922, Nr.32; Kl. Woch. 1923, Nr. 13. — 
Unger, Cholangitis putrida, Spez. Path. v. Kraus u. Brugsch 1923, VI. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 


Von Prof. Dr. P. Kranz, München. 
Mit 24 Abbildungen im Text. 





Die Resultate der klinischen Beobachtung der Forscher auf dem Gebiete der 
sog. Alveolarpyorrhöe sind ziemlich einheitliche: Hyperämie der Gingiva, Auf- 
lockerung des Zahnfleisches und Loslösung desselben, Vertiefung der physiologischen 
Zahnfleischtasche, mehr oder weniger ausgedehnter, durch Palpation leicht fest- 
stellbarer Knochenschwund, tiefe pathologische Taschenbildung, Lockerung der 
Zähne, als Begleitsymptom sehr häufig Zahnsteinablagerungen und in den meisten 
Fällen Eiterausfluß aus der Tasche. So sehen wir diese Erkrankung bei allen 
Bevölkerungsschichten, bei beiden Geschlechtern gleich häufig, bei allen Alters- 
klassen auftreten, wenn vielleicht auch das mittlere Alter vorzüglich befallen ist; wir 
finden sie bei anscheinend ausgesprochen gesunden Leuten, wie bei solchen mit 
eklatanten Allgemeinerkrankungen, u. zw. an einzelnen Zähnen, an Zahngruppen oder 
allen Zähnen; hinzugefügt sei noch: auffallenderweise an vornehmlich gesunden Zähnen. 

Natürlich haben wir Abstufungsprozesse der verschiedensten Art zu ver- 
zeichnen, die die einzelnen Autoren nach den verschiedensten Gesichtspunkten in 
Gruppen einteilen. Zwei Grundformen aber der sog. Alveolarpyorrhöe führen fast 
alle Autoren getrennt als vermeintliche Sondergruppen auf: 1. jene Form der 
Pyorrhöe, auf die zuerst Fauchard und Tomes hinwiesen, für die das so hervor- 
ragende Symptom der Eiterung, so paradox es klingt, durchaus nicht immer als 
charakteristisch angeführt ist, weil die Eiterung oft sehr minimal und nur in gewissen 
Intervallen festzustellen ist, bei der auch Ablagerungen in vielen Fällen kaum zu 
finden sind, jene destruktive Form, bei der die Vitalität des Alveolarfortsatzes im 
allgemeinen herabgesetzt und die Auflösung desselben primär zu sein scheint und bei 
der das Lockerwerden der Zähne oft als das einzige und Hauptmerkmal beschrieben 
wird, jene prognostisch ungünstigere Form, die neben sorgfältigster Lokalbehand- 
lung zumeist eine gründliche Allgemeinbehandlung erheischt, da sie sonst überhaupt 
nicht zur Heilung kommt; 2. die prognostisch günstigeren Formen, bei denen eine 
Gewebsschädigung im Zahnfleisch mit darauffolgender Entzündung, sei sie nun 
mechanischen, bakteriellen oder toxischen Ursprungs, als das Primäre und für den 
Knochenbau vom Rande her verantwortlich resp. mit ihm im unmittelbaren Zusammen- 
hang stehend von fast allen Autoren zugegeben wird. Nur möchte ich schon hier 
bemerken, daß nach meinem Dafürhalten auch für das Entstehen der ersten Form 
die exogene Ursache im Vordergrund steht: eine Schädigung der Epitheldecke mit 
folgender Lymphocytenanhäufung im darunter liegenden Gewebe. Gewiß spielen 
endogene Ursachen einmal für die leichtere Etablierungsmöglichkeit, zum anderen aber 
auch für das hartnäckige Fortbestehen und Fortschreiten der Erkrankung eine nicht zu 
unterschätzende Rolle: Wachstumstörungen, Störungen der inneren Sekretion, Ver- 
kalkungsstörungen, Circulationsstörungen in Gestalt von mangelnder Gefäßversorgung 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 461 


oder Arterienwandveränderungen zeitigen eine gewisse Bereitschaftstellung im Alveo- 
larknochen — es kommt nach Loos zu Dystrophien — und der Prozeß entwickelt 
sich demzufolge schneller und ist ein hartnäckiger. Aber auch diese Bereitschaftstellung 
wird immer eine allerdings auf Grund von Konstitutionsanomalien erworbene sein 
und sie wird außer vom Allgemeinzustand in erster Linie wieder von lokalen Ver- 
hältnissen, z. B. von Stellungsanomalien, falschen Belastungsmomenten, abhängig sein). 

Das ist das klinische Bild, das sich beim Studium der seit beinahe 400 Jahren 
periodisch wiederkehrenden literarischen Ergüsse des In- und Auslandes über die 
alte zahnärztliche Crux „Älveolarpyorrhöe“ immer wieder herauskrystallisiert, und 
darnach erscheint es auf den ersten Augenblick, als müsse es leicht sein, bei einem 
so präzisierten klinischen Bild mit Hilfe pathohistologischer und bakteriologischer 
Untersuchungen das Wesen der Alveolarpyorrhöe zu klären. Ein kurzer Überblick, 
soweit er im Rahmen dieses Referates möglich ist, wird überzeugen, daß die 
Problemlösung doch nicht ganz so leicht ist. 

Zunächst einige geschichtliche Daten: 

Bereits ums Jahr 1550 hat Ambrosius Pare von einer pyorrhoischen Erkrankung 
der Mundhöhle, verursacht durch Zahnsteinablagerungen, geschrieben. Einige Autoren 
verlegen die erstmalige Erwähnung der Alveolarpyorrhöe noch bedeutend weiter 
zurück. 1746 finden wir bei Fauchard die Krankheit als eine Art Skorbut des 
Zahnfleisches beschrieben, und 1846 hat Toirac zum erstenmal den Namen Alveolar- 
pyorrhöe (Pyorrhoe intraalveolo-dentaire) geprägt und in die Literatur eingeführt. 
Seither sind die verschiedensten Nomenklaturen für diese Erkrankung in Vorschlag 
gebracht und die widersprechendsten Angaben über die Ätiologie, ebenso wie über 
die anzuwendende Therapie gemacht worden. Bis auf den heutigen Tag ist die 
Ätiologie der Alveolarpyorrhöe noch nicht ganz geklärt. Nach einer Statistik von 
Blessing sind nicht weniger als 350 verschiedene Ansichten über die Ursachen 
ihrer Entstehung zu verbuchen. 

Arkövy hat 1894 die Vertreter der verschiedenen Theorien über die Entstehung 
der Alveolarpyorrhöe zu Gruppen geordnet; er unterscheidet 1. Lokalisten, anstatt 
Lokalisten vielleicht besser und umfassender: Autoren, die sie von rein exogenen 
Ursachen ableiten, 2. Konstitutionalisten, die nur an endogene Ursachen glauben 
und das Wesen der Erkrankung im Allgemeinleiden sehen, 3. Fusionisten, die einen 
vermittelnden Standpunkt einnehmen. Diese Einteilung finden wir noch heute in 
den meisten Lehrbüchern vertreten, wenn sie uns auch in keiner Weise in der Er- 
forschung der Erkrankung vorangebracht hat. 

Unter den sog. Lokalisten, die ja bei weitem die größte Anhängerschaft haben, 
haben sich wieder verschiedene Untergruppen gebildet, aus denen 4 besonders 
heraustreten: a) solche, die einzig und allein in örtlichen Entzündungen durch 
Zahnsteinablagerungen die Ätiologie zur Alveolarpyorrhöe suchen, b) Autoren, die 
an specifische Infektionen glauben, c) die Anhänger von Karolyi und Arkövy, die 
in falscher Belastung das gravierende Moment suchen, d) solche, die eine Schädi- 
gung der Ernährung des Zahnfleisches und des Alveolarfortsatzes für die Haupt- 
entstehungsursache der Alveolarpyorrhöe halten. 

Erst die letzten 20 Jahre und ganz besonders die Kriegs- und Nachkriegszeit 
haben uns eine Anzahl sehr wertvoller klinischer, pathohistologischer und bakterio- 
logischer Untersuchungen gebracht, die wenigstens einigermaßen Licht in das Dunkel 
der Alveolarpyorrhöefrage bringen. 


1) Loos will in 1. die primäre Atrophie des Paradentiums und ihre Folgezustände, 2. die 
primäre Entzündung des Paradentiums mit ihren Folgen geschieden wissen. 


462 P. Kranz. 


Bevor ich nun eine genauere Definition über den Ort des Beginnes, den Ver- 
lauf, das Wesen der Erkrankung und über das ganze Krankheitsbild schon hier 
eingangs gebe, möchte ich erst einmal in Kürze eine anatomisch-physiologische 
Betrachtung über den Zahn und die ihn umgebenden Knochen und Weichteile als 
Grundlage für das Verständnis der nachfolgenden Betrachtung geben. 


Anatomisch-physiologische Betrachtungen. 


Topographisch betrachtet spielen sich die Vorgänge bei der Alveolarpyorrhöe 
am Zahnfleischsaum, in der Wurzelhaut bzw. im alveolodentalen Ligament und am 
Zement des Zahnes sowie am Knochen ab. Ob das eine oder das andere primär 
ergriffen ist, bleibe vorläufig unberücksichtigt. Wir wollen uns zunächst einmal 
genauestens orientieren über die anatomischen Verhältnisse und die funktionelle 
Bedeutung der einzelnen in Betracht kommenden Gewebsteile. 


Fig. 101. 





Substantia adamantina- —$ 







Substantia eburnea — — 4 


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interglobularia ” 


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Gingiva-- n Zë KÉ KS K 
Normaler Tiefstand Pulpa Pria EE 
des Epithels = dentis- — l 


Periosteum ` Si 
alveolare 
Substantia 
spongiosa — — 

maxillae 
 Alveolo-dentales Ligament 
resp. Periodontium 


Spatia 
interglobularia — — 
Körnerschicht) 


Haeerg scher Kanal- — 


Substantia ossea — 


Gefäße und Nerven 
für die pulpa dentis 


Sagittalschnitt eines oberen Schneidezahnes mit der Umgebung. (Aus Spalteholz.) 


Das Zahnfleisch, Gingiva!. 


Das Zahnfleisch bildet denjenigen Teil der Mundhöhle, welcher sowohl am Oberkiefer wie "am 
Unterkiefer den Alveolarfortsatz sowohl an der buccalen bzw. ‚abialen, wie an der lingualen bzw. pala- 
tinalen Seite überzieht. Es ist mit dem Periost des Alveolarfortsatzes verbunden und mit ihm zusammen 
unverschieblich auf der knöchernen Unterlage befestigt. Das Bindegewebe des Zahnfleisches ist sehr dicht 
und fest, arm an elastischen Fasern, es besitzt keine Drüsen und besitzt lange Papillen. Die Zwischen- 
räume zwischen den Papillen werden durch das Epithel ausgefüllt. An der Oberfläche erscheint das 





1 Nach Wetzel, Anatomie für Zahnärzte. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 463 


Zahnfleisch daher nur leicht gekörnt. An der dem Zahn anliegenden Fläche fehlen die Papillen. Das 
Zahnfleisch sitzt dem freien Rande der Alveolen und den Septa interalveolaria auf und umgibt somit 
den Hals des Zahnes, an dem es befestigt ist. Es trägt wesentlich zur Vertiefung der Alveole bei. Auf den 
Septa interalveolaria bildet es die Zahnfleischsepten oder interdentalen Papillen. Am freien Rande der 
Alveole, am Beginn der Zahnwurzel, geht das Zahnfleisch in die Wurzelhaut des Zahnes über. Da- 
durch ist die Möglichkeit für die Ausbreitung entzündlicher Prozesse vom Zahnfleisch auf die Wurzel- 
haut und umgekehrt gegeben. Das Zahnfleisch ist an den Zahnhals mit besonderen Fasern befestigt, 
mit dem Beginn des Schmelzrandes hört die Befestigung auf. Das Zahnfleisch umkleidet nicht nur 
den Zahnhals, sondern bildet auch einen zur Befestigung der Zähne sehr wesentlichen Bestandteil. 
Die in ihm enthaltenen Fasern, welche der Befestigung dienen, sind bei der Wurzelhaut mit dem 
gesamten Befestigungsapparat des Zahnes gemeinsam beschrieben. Im Zahnfleisch neugeborener Kinder 
findet man noch epitheliale Reste der Zahnleiste in Gestalt der Epithelperlen. 

Das Zahnfleisch verhält sich im Alter anders als in der Jugend. In der Jugend besitzt es größere 
Fülle, bedeckt noch einen Teil der Krone und füllt die interdentalen Spalten größtenteils aus. Später 
vermindert sich die Fülle des Zahnfleisches, es zieht sich wurzelwärts zurück. Die dadurch freigelegten 
Stellen geben geeignete Angriffsflächen für die Caries im Alter ab. Auch bei starker Abmagerung 
zieht es sich von der Krone zurück. 


Fig. 102. 


Alveolo-dentales Ligament (Periodontium) Markräume Knochen 


Zement 


Zement Die Verankerung der 
Sharpeyschen Fasern 
im Knochen und Zement 


des Zahnes. 





Feinerer Bau des Alveolarfortsatzes und der angrenzenden Teile im Ober- und 
Unterkiefer. 


Ober- und Unterkiefer haben den mechanischen Wirkungen Widerstand zu leisten, denen sie 
durch den Kaudruck ausgesetzt sind. Bei der Benutzung der Zähne zum Kauakt handelt es sich ent- 
weder um einen Druck, der sich von den Zähnen auf die Wandung der Alveole fortpflanzt, oder einen 
Zug, der an der Bandmasse der Wurzelhaut ausgeübt wird, die ebenfalls an der Wandung der Alveole 
ihre Festigung findet (s. Fig. 101 und 102). In beiden Fällen nimmt also die Wandung der Alveole mit Ein- 
schluß der ihren Eingang umgebenden Knochensubstanz in erster Linie die mechanischen Wirkungen 
auf. In letzter Linie übertragen sie sich auf die äußeren corticalen Knochenschichten des Ober- und 
Unterkiefers. Umgekehrt treffen die Muskelwirkungen als Zug zunächst die corticalen Knochenschichten 
der Kiefer, und wenn ihre Wirkung zum Kauakt verwendet wird, so pflanzt sie sich ebenfalls durch 
Vermittlung der Alveolenwand auf die Zähne fort. Die mechanische Verbindung zwischen Alveolen- 
wand und den kompakten Rindenschichten beider Knochen wird durch die spongiöse Substanz der 
Kiefer übernommen. 

Die Knochenschicht der Alveolenwand selbst ist zwar auch als eine Substantia corticalis zu 
bezeichnen, man kann ihr aber den Namen einer Substantia compacta nur mit Einschränkung geben, 
da sie an beiden Kiefern von Kanälen durchsetzt ist. Besonders ist der freie Rand der Septa inter- 
alveolaria dicht mit feinen Poren besetzt. An der Innenwand wird die Durchlöcherung in der Tiefe 
der Alveole schwächer, ganz im Grunde der Alveole sind jedoch mehr Kanäle vorhanden. Dies hängt 
mit dem hier liegenden Eintritt der Nerven und Gefäße in den Zahn zusammen; die Abnahme der 
Durchlöcherung vom freien Rande nach dem Grunde zu ist im Unterkiefer bedeutender als im Ober- 
kiefer. Im Oberkiefer ist überhaupt die Porosität der Alveolenwand stärker. Durch Einführung von 
feinen Sonden kann man sicham Knochen überzeugen, daß diese Porenkanäle zum Teile direkt von 
der Außen- oder Innenseite des Alveolarfortsatzes in die Alveole hineinführen. Ihre Richtung geht 
selten ganz quer zur Oberfläche, sondern sie stehen überwiegend schräg. Sehr schräg gerichtet findet 
man sie besonders an der palatinalen Seite des Oberkiefers und ebenso an der Innenwand der Alve- 
olen der Schneide- und Eckzähne desselben Kiefers. 

Betrachten wir das Verhalten der Bälkchen der Spongiosa, so finden wir sie durchschnittlich 
ungefähr senkrecht zur Wandung der Alveolen aufgesetzt. Mit Rücksicht auf die ganze Alveole können 
wir daher sagen, daß sie radiär zur Alveole stehen. Hierdurch wird am zweckmäßigsten eine mecha- 


464 P. Kranz. 


nische Stütze für die Alveolenwand geliefert. Es folgt hieraus, daß die Knochensubstanz zwischen 
den Alveolen, also die Septa interalveolaria, aus drei Schichten besteht, zwei corticalen Grenzschichten 
gegen die Alveolen hin und einer dazwischenliegenden Schicht spongiöser Substanz. 

Die spongiöse Substanz ist nicht überall rings um die Alveole herum vorhanden. Sie fehlt 
nämlich an allen denjenigen Stellen, wo die Alveolenwandung direkt mit der äußeren Corticalis des 
Kiefers verschmilzt. | | 


Zement, 


In der Kronenhälfte der Wurzel und am Halse wird das Dentin nur von einer dünnen Zement- 
schicht überzogen, in der die Zementhöhlen vollständig fehlen. In dieser dünnen Schicht besitzen 
die kurzen Fibrillen des Zements eine Anordnung senkrecht zur Oberfläche. Wir finden hier außer- 
dem noch eine Zusammensetzung der dünnen Zementlagen aus 2 bis 3 Schichten. Die Fibrillen sind 
zu Bündeln zusammengelagert, wodurch das Zement, von der Fläche her gesehen, eine polygonale 
Felderung enthält. Im Zement finden sich bis zur Wurzelspitze hin überall zahlreiche Sharpeysche 
Fasern. Sie setzen sich in die Hauptfasern der Wurzelhaut fort und dringen jenseits der Wurzelhaut 
in den Knochen ein oder setzen sich von den Kronenabschnitten des Zements aus im Zahnfleisch 
fest. Die das Zement unmittelbar begleitende Schicht der Wurzelhaut entspricht dem Periost und wird . 
als Pericementum bezeichnet. Den Osteoblasten der Knochenoberfläche entsprechen die Zementoblasten 
an der Zementoberfläche, von denen die Auflagerung neuer Zementschichten ausgeht. 

Aus der Anzahl der Lamellen des Zements läßt sich eine ungefähre Schätzung des Alters des 
Zahnes entnehmen. Mindestens ist die Zahl der Lamellen bei älteren Personen immer erheblich größer 
als bei jüngeren, indessen werden die Lamellen nicht mit der Regelmäßigkeit von Baumringen ab- 

elagert. Die Bildung von Lamellen steht im Zusammenhang mit der Stellungsveränderung des Zahnes. 

er Zahn verändert seine Stellung während des ganzen Lebens, und dementsprechend muß auch 
seine Befestigung durch die Fasern des Periosts anders werden, womit eine Veränderung der Schichten 
des Zementes verbunden ist. Da die erste festere Verbindung des Zahnes mit der Umgebung erst nach 
seinem Durchbruch erfolgt, so bildet sich z. B. im Anschluß an diesen Vorgang eine neue Zement- 
lage, Ks durch befestigende Fasern mit der Innenfläche der Alveole verbunden ist (s. Fig. 101 
un ). 

Die Aufgabe des Zements ist in erster Linie die Aufnahme. der den Zahn haltenden Faser- 
massen der Wurzelhaut, also eine mechanische. Die Lebensfähigkeit des Zements ist abhängig von der 
Erhaltung einer normalen Wurzelhaut. Geht die Wurzelhaut, z. B. durch Vereiterung, zu grunde, so 
Sek au das Zement ab und muß als toter Körper im Gewebe ausgestoßen werden. (Ist nur bedingt 
richtig!) 

Das Zement ist ebenso wie der Knochen umbildungsfähig und besitzt vermöge der ihm außen 
auflagernden Zementoblastenschicht auch die Fähigkeit der Regeneration. Ordnet man die Hartsub- 
stanzen des Zahnes nach ihrer vitalen Energie, so gelangen wir in ansteigender Linie vom Schmelz 
über das Zahnbein zum Zement. 


Die Wurzelhaut‘. 


Die Wurzelhaut ist eine einheitliche bindegewebige Membran, die den Raum zwischen der 
Zahnwurzel und dem Zahnhals einerseits und der Alveolarwand andererseits ausfüllt.e Am Zahn- 
hals geht sie ohne Unterbrechung in das Zahnfleisch und in das äußere Periost des Alveolarfort- 
satzes über. An der Wandung der Alveole geht sie ebenso in das Gewebe über, welches die in der 
knöchernen Alveolenwand befindlichen feinen Poren ausfüllt, am Grunde der Alveole in das Gewebe 
der Knochenkanäle, durch welche die Gefäße und Nerven in die Alveole und zum Zahn gelangen. Durch 
das Gewebe in den Poren des Alveolarfortsatzes ist zugleich auch die Verbindung mit dem Knochen- 
mark in den Räumen der spongiösen Substanz des Alveolarfortsatzes gegeben. We die knöcherne Wand 
der Alveole fein ist, steht die Wurzelhaut durch das Gewebe in den Poren in unmittelbarem Zusammen- 
hang mit dem Alveolarperiost an den Außenflächen des Alveolarfortsatzes. Endlich geht die Wurzel- 
haut am Foramen apicale in die Wurzelpulpa des Zahnes über. 

Die praktische Wichtigkeit dieser Verbindungen beruht darauf, daß alle diese Zusammenhänge 
zugleich die Brücken zur Fortpflanzung von Entzündungen aller benachbarten Teile auf die Wurzel- 
haut und umgekehrt bilden können. 

Topographisch unterschaidet man einen gingivalen, einen alveolären und einen apikalen Ab- 
schnitt der Wurzelhaut. Von diesen ist der apikale Abschnitt am dicksten, während die Wurzelhaut 
am Eingang in die Alveole die geringste Stärke besitzt. 

Die Wurzelhaut enthält zahlreiche Nerven und Gefäße mit dem sie umgebenden ungeformten 
Bindegewebe, ferner die Fasern, welche den Zahn an der Umgebung befestigen, sowie das innere, die 
Wandung der Alveole auskleidende Periost des Alveolarfortsatzes und endlich das Pericementum. 

Von sehr wesentlicher Bedeutung ist die Tatsache, daß die Dicke der Wurzelhaut in der Jugend 
beträchtlich ist und beim Erwachsenen bedeutend abnimmt. Aus diesem Grunde ist auch die Wurzel- 
haut der jugendlichen Zähne viel nachgiebiger. 

Untersuchen wir die Funktionen der Wurzelhaut, so ergibt sich folgendes: Die Wurzelhaut er- 
füllt vor allem die mechanische Aufgabe, den Zahn zu befestigen. Ein Teil dieser Aufgabe wird auch 
vom Zahnfleisch übernommen. Infolge ihres Nervenreichtums ist die Wurzelhaut der Träger von Druck- 
empfindungen, Bewegungsempfindungen und Schmerzempfindungen, die bei dem Gebrauch des Zahnes 
in krankem und gesundem Zustande ausgelöst werden. Sie vermittelt infolge ihres Reichtums an Blut- 
und Lymphgefäßen die Ernährung des Zahnes. Endlich bildet sie neues Zement und neue Knochen- 
substanz. 


t Nach Wetzel, Anatomie für Zahnärzte. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 465 


Für den eben beschriebenen Komplex (Zahnfleisch, Periodontium und Alveolar- 
fortsatz) hat Weski die Bezeichnung „Paradentium“ vorgeschlagen, und diesem 
„Paradentium“ werden wir bei allen Betrachtungen über die Ätiologie, die Patho- 
histologie und die Therapie unser Hauptaugenmerk zuzuwenden haben. 

Alle vom Zahn ausgehenden mechanischen Reize werden durch das Periodontium 
(alveolodentale Ligament) direkt auf.den Alveolarfortsatz übertragen; aber nicht nur die 
mechanischen, sondern auch die bakteriellen und eventuell chemischen Reize gehen 
diesen Weg, wie die pathohistologischen Bilder zeigen, und werden vom Knochen durch 
Umbau bzw. Abbau beantwortet. Fällt mit der Extraktion des Zahnes der Reiz und 
die Reizleitung weg, so kommt auch der Prozeß im Knochen spontan zum Stillstand. 

-Dieser bindegewebige Halteapparat des Zahnes ist bisher von vielen Autoren 
fälschlich als „Ligamentum circulare“ und „Periodontium“ getrennt beschrieben 
worden. Das sogenannte „Ligamentum circulare“ ist keineswegs, wie seither zumeist 
beschrieben, ein Sondergebilde, das als Schutzwall gegen eindringende Schädlich- 
keiten vom Zahnhals her aufgebaut ist, sondern es handelt sich dabei lediglich um 
einen Teil des gesamten Halteapparates, dessen derbe Bindegewebsbündel ohne 
Grenzen in die ebenfalls an elastischen Fasern arme Gingiva hinüberreichen und auf 
diese Weise eine enge Verbindung darstellen, daß wir also auch noch in der Gingiva 
einen wesentlichen Bestandteil des Befestigungsapparates der Zähne mit sehen. 
Dadurch ist die Möglichkeit für die Ausbreitung entzündlicher Prozesse vom Zahn- 
fleisch auf die Wurzelhaut und den Aufhängeapparat gegeben. Tritt dieser Fall ein und 
kommt es zur mehr oder weniger ausgedehnten Zerstörung dieser oberen Anschluß- 
partien und des Aufhängeapparates, so sprechen wir von einer Zerstörung des „Liga- 
mentum circulare“. Hat diese stattgefunden, so ist der Zahn eines Teiles seines Halte- 
apparates, eben der Verankerung mit der Gingiva beraubt, den aber die bei einem 
späteren Heilerfolg jeweilig auf jeder Querschnittshöhe des Zahnes nach Verlust der 
bisherigen neu sich bildende Zahnfleischperiostfaserlage, die gleichfalls im Zement 
inseriert, bis zu einem gewissen Grade ersetzen kann. 

Nun wollen die einen den Beginn des Leidens in einer marginalen chronischen 
Entzündung des Zahnfleisches suchen, mit anschließender Osteomalacie oder Hali- 
sterese, die anderen in einer eitrig-destruktiven Periodontitis verbunden mit Rand- 
nekrosen, wobei es in beiden Fällen nach primärer Gewebsläsion durch das Eindringen 
von pyogenen infektiösen Keimen zur Lockerung der Gingiva, zu atypischen Epithel- 
wucherungen, Granulationsbildungen und Gefäßneubildungen kommt, die mehr und 
mehr in die Tiefe dringen, den Aufhängeapparat und den Knochen durchsetzen, so 
daß die Zähne zu wackeln beginnen, während schließlich eine kleinere Anzahl von 
Autoren den Beginn und den eigentlichen Sitz der Erkrankung in den Knochen selbst 
verlegt. 

Dieser letzteren Ansicht huldigen namentlich zwei Forscher auf dem Gebiete der 
Alveolarpyorrhöe, Fleischmann und Gottlieb. Gottlieb vertritt die Talbotsche 
Ansicht, daß nach Abschluß der Wurzelbildung der Alveolarfortsatz seine Bedeutung 
verloren hat; infolgedessen müßte ein physiologischer Abbau desselben eintreten, 
der aber durch den vom Zement ausgehenden vitalen Reiz kompensiert werde. 
Sinkt nun der vitale Reiz des Zementes, dann tritt nach Gottlieb auch Atrophie 
des Knochens in Erscheinung; liegt aber ein leistungsfähiges Zement vor, so kann 
dieses nach Belieben der Störung insofern einen Ausgleich schaffen, als der durch 
den Knochenschwund verbreiterte Interdentalraum infolge Verdickung des Zementes 
wieder auf die normale Breite zurückgeführt wird. Gottlieb unterscheidet in diesem 
Zusammenhang zwei Gebißtypen: er spricht von einem sogenannten „wehrhaften« 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 30 


466 P. Kranz. 


Gebiß mit reaktionsfähigem Wurzelzement, das im stande ist, „den physiologischen 
Abbau des Knochens“ durch Apposition von Wurzelzement wieder gut zu machen, 
und einem „wehrlosen“ Gebiß mit „reaktionslosem“ Wurzelzement, wo der Patient 
unbedingt den Zahn verlieren muß. (Die Arbeiten Gottliebs müssen im Original 
nachgelesen werden.) 

Dagegen sprechen einmal die Befunde bei der Untersuchung von Schädel- 
sammlungen, zum anderen Male die Erfahrungen in der zahnärztlichen Praxis, die 
unbedingt sich decken mit dem alten Wolfschen Satz, wenn wir auch am Alveolar- 
fortsatz etwas andere Verhältnisse haben wie am Röhrenknochen. Der aus der Funktion 
(dem Kauakt) resultierende Reiz wirkt sich hier durch den Kaudruck in einer mehr weniger 


Fig. 103. 


linguale Seite 





starken Beeinflussung des gesamten Aufhängeapparates aus. Die Auswertung der appli- 
zierten Reize kann sich natürlich, wie sich aus den bei der Schienung anzustellenden 
statischen Betrachtungen ergeben wird, verschieden gestalten. Jedenfalls müssen wir 
Zahnärzte vorläufig daran festhalten, daß der Alveolarfortsatz für die Zähne geschaffen 
ist, und normaliter wird er vom biologischen Gesichtspunkt aus auch so lange erhalten 
bleiben, wie Zähne in normaler Funktion vorhanden sind. Selbstverständlich darf eine 
gewisse Bereitschaftsform des Knochens, wie schon eingangs betont, als für den Ver- 
lauf der Erkrankung von Bedeutung nicht unterschätzt werden. Im übrigen scheint 
den Autoren auch nur in vereinzelten Fällen der einwandfreie Beweis einer primären 
Atrophie des Alveolarknochens bei Alveolarpyorrhöe gelungen; bei weitaus den 


meisten Fällen kann davon keine Rede sein. 

Erläuterung zu den Fig. 103, 104 und 105. Es handelt sich um einen sog. „Normalfall“ aus der 
Gasserschen Sammlung in Marburg, wenigstens soweit es die labiale Seite anlangt. Fig. 104 zeigt uns 
normale Verhältnisse: wir sehen unterhalb der normalen Zahnfleischtasche (auf der Fig. mit „Taschen- 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 467 
bildung“ bezeichnet) das Schmelzoberhäutchen und das Epithel der Mundschleimhaut ineinander über- 
gehen und sich dann gemeinsam noch auf eine kurze Strecke auf das Wurzelzement ausbreiten. Auch 
normalerweise sehen wir die Epithelschicht etwas infiltriert, wie es auch von anderen Autoren 


Fig. 104. 
Schmelzoberhäutchen Taschenbildung 


Schmelz 
Epithel 


Infiltriertes Epithel 


Schmelzoberhäutchen 


Epithel 





Zement 
Labiale Seite. 


Fig. 105. 


- i — Schmelzoberhäutchen 
"` Zahnsteinablagerungen 


_ Epitheldefekt 


Taschenbildung 


Infiltration 


Epitheltiefenwucherung 


Normaler Knochen 





Linguale Seite. 


beschrieben ist. Während wir auf der labialen Seite normale Verhältnisse vorfinden, die uns als Richt- 

schnur für die Beurteilung unserer pathologischen Präparate dienen sollen, sehen wir auf der lingualen 

Seite (Fig. 105) bereits eine ausgesprochene tiefe Taschenbildung, Zahnsteinauflagerungen, Epitheltiefen- 

wucherung, Epitheldefekt und ausgedehnte Infiltration. Dieser mikroskopische Befund (Fig. 105) entspricht 
30° 


468 P. Kranz. 


im wesentlichen dem Bild, das wir in der Folge von den von uns klinisch einwandfrei als Alveolar- 
pyorrhöe diagnostizierten Fällen zeigen können. | 


Es würde zu weit führen, hier nun alle die einzelnen Theorien bis ins kleinste 
zu besprechen. Da sich in den Kardinalfragen wenigstens die Resultate der neueren 
Forschung mit meinen Befunden decken, lasse ich hier kurz meine eigenen Befunde 
folgen: 

Normalerweise reicht das Epithel der Interdentalpapille etwas unter den Beginn 
des Zementes herunter, bleibt aber mit seinen tiefsten Ausläufern etwa !/, cm ober- 
halb des Alveolarrandes! (s. Fig. 101). Schon in der Norm scheinen sich in den 
Papillen, welche den Übergangswinkel zwischen Kuppe und Tasche bilden, Rund- 
zelleninfiltrate zu zeigen? In allen Fällen sehen wir von marginal her sich den Prozeß 
ausbreiten. Wir finden eine Rundzellenanhäufung im subepithelialen Bindegewebe 
(s. Fig. 104) und eine Tiefenwucherung des Epithels (s. Fig. 105)3. Wir treffen Infiltrationen 
sowohl sub- als intraepithelial und können sie als Reizmoment für das Tiefertreten 
des Epithels einerseits, wie vor allen Dingen für die sich anschließende Auflösung 
des Knochens andernteils ansprechen. Die subepithelialen Zellwucherungen ähneln 
denen bei einer Gonorrhöe. 


Fig. 106. 


s u y Co A nn 
, Wa Gët, 


bé, ler E 


We. A 
SE s 
om 4 y 4 A Py 


= ée ` i 


Taschenbildung i Taschenbildung 


Knochenabbau 


Zement- 
hypertrophie 





Erläuterungen zu den Fig. 106, 107, 108 und 109. Es handelt sich um einen 32jährigen 
Patienten, der schon lange wegen „Zahnfleischeiterung“ behandelt wird. Nach Entfernung der Zahnsteinauf- 


1 Nach Orban-Köhler (Gottlieb) soll der Epithelansatz ununterbrochen tiefer wandern auch 
ohne jede äußere oder innere Ursache. 

2 Nach Euler sind diese beim Tier normaliter kaum zu beobachten, beim Menschen aber fast 
immer, weil hier die Kontinuität der Epitheldecke in den meisten Fällen gelitten hat. 

3 Es gibt drei Auffassungen über die Ursache des Epitheltiefenwachstums: die einen glauben 
in dem Schwund des Alveolarfortsatzes die Ursache zu sehen, die anderen in der Nekrose des Zementes 
und die dritten, zu denen ich mich bekenne, sehen sie in entzündlichen Reizen. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 469 


lagerung zeigt sich tiefe Taschenbildung, auf Druck entleert sich Pus, die Zähne sind stark gelockert. 
Das Röntgenbild weist starken Knochenabbau, speziell im Prämolarenbereich auf. Besonders deutlich 
sind hier die netzartig verflochtenen Epithelstränge und Epithelzüge, wie auch entzündliche Infiltrate 


Fig. 107. 


Eipthelzapfen 


Zahnsteinablagerungen 


Epitheldefekt 


Infiltrationen 








Zahnstein- | 


i e e 
ablagerungen | E i Epitheltiefenwucherung 


Infiltration 


Taschenbildung 


Epitheldefekt 


Knochenabbau 


zu erkennen. Wir haben geringe bis größere oberflächliche Epitheldefekte mit diffuser Infiltration des 
subcutanen Bindegewebes (Fig. 107 und 108) mit teilweise sehr tiefer Zapfenbildung und Wucherung des 
Epithels. Die im Bereich der Infiltration liegenden Knochenbälkchen sehen wir in Auflösung begriffen. 
An der Wurzelspitze sehen wir auf der einen Seite eine besonders starke Zementhypertrophie (Fig. 106). 
Pulpa bindegewebig verändert. 





470 P. Kranz. 


Alle von mir beobachteten Fälle von Alveolarpyorrhöe zeigen im frischen Stadium 
eine intakte Knochenalveole; auch in vorgeschrittenen Fällen sind die am Knochen 
zu beobachtenden Umbauten immer nur im Bereich der entzündeten Taschen zu finden. 
Nirgends macht es den Eindruck, daß eine Atrophie oder eine primär osteomalacische 
Knochenveränderung vorausgeht. Vielmehr zeigt sich überall, daß eine eigenartige, 
sog. „atypische“ Epithelwucherung, wie wir sie bei chronischen Reizen, z. B. in der 
Umgebung eines Ulcus cruris am Hautepithel, bei chronischem Hydrocephalus am 
Ventrikel, an der Magenschleimhaut bei Ulcusbildung beobachten können, auch 
hier das Entscheidende ist. Es ist noch besonders hervorzuheben, daß diese Erkrankung 
des Taschenepithels häufig nur auf einer Seite zu sehen ist, während die andere voll- 
kommen intakt ist. Diese „atypische“ Epithelwucherung dringt vor allem am Zahn- 
hals in die Tiefe und zerstört dabei rücksichtslos das sog. Ligamentum circulare 
und weiter das alveolodentale Ligament (Paradentium); dabei finden gleichzeitig 
horizöntale Sproßbildungen des Epithels nach der Papille zu statt. Durch gleichzeitige 
Umwandlung des Bindegewebes in ein zellreiches Granulationsgewebe entsteht ein 
Bild, welches genau dem der epithelführenden Wurzelgranulome gleicht. In den 
gebildeten Taschen findet sich stets reichlich Zahnstein, derselbe enthält Kokken, 
Faden-, Schimmel- und Sproßpilze aller Art. Nie sieht man diese Pilzwucherungen 
u. s. w. in das Epithel vordringen oder gar vor dem Epithel in das Periodontium 
einwuchern (s. Fig. 106, 107, 108). 

Wo starke Zahnsteinablagerungen sind, zeigt die Zahnfleischpapille eine besonders 
starke Entzündung. Daß solche Entzündungsvorgänge ihrerseits dann wieder sehr 
viel zu vermehrter Zahnsteinablagerung beitragen, ist selbstverständlich. Die Rund- 
zelleninfiltration ist bis in die Tiefe zu verfolgen. Die Gefäße sind erweitert und 
vermehrt, und allerwege treffen wir Granulationsgewebe, das zuweilen in den Knochen 
eindringt (s. Fig. 107 und 108). Die Entzündungsreize greifen einerseits auf den Knochen 
über und führen dessen Schwund herbei (s. Fig. 108): wir sehen entzündliche Osteo- 
phyten sowie eine Gefäßfülle; andernteils veranlassen sie das zapfenartige Tiefen- 
wuchern des Epithels, das, wie schon oben betont, die Taschenbildung_ zeitigt, 
Ohne Frage begünstigen den Knochenschwund und die daraus resultierende falsche 
Belastung des Zahnes die Vertiefung der Tasche (s. Fig. 106). 

Die Knochenerkrankung zeigt das Bild einer rarefizierenden Ostitis, deren Beginn 
in der Entzündung des Zahnfleisches, bzw. in der dieser wahrscheinlich voraus- 
gegangenen primären Gewebsläsion mit anschließender atypischer Epithelwucherung 
und daraus resultierender Taschenbildung zu suchen ist. An vielen Stellen sehen 
wir die Markräume breit eröffnet, eine indirekte Metaplasie des Markes, an Stelle 
des Fettmarks ist Fasermark getreten. Der Knochen wird lakunär resorbiert und 
teilweise neu gebildet, so daß die Corticalis auf große Strecken ein gezacktes Aus- 
sehen zeigt (s. Fig. 110). 


Die mannigfaltigen Bezeichnungen, die von den verschiedenen Autoren für den pathologischen 
Knochenbefund gewählt werden — Atrophie, Caries alveolaris idiopathica u. s. w. —, sind nach Euler 
darauf zurückzuführen, daß die beiden Gruppen: Bereitschaftsform auf der einen Seite und krank- 
hafter Prozeß am Knochen während des Ablaufes auf der anderen Seite, nicht streng genug geschieden 
werden. 


Das Granulationsgewebe, das im alveolodentalen Ligament (Paradentium) vor- 
dringt, sowohl nach dem Knochen hin wie in die Markräume, lockert einesteils den 
Aufhängeapparat auf und zeitigt andernteils einen lakunären Knochenschwund. Die 
Infiltrationen können wir allmählich bis hierher verfolgen sowie eine sehr häufig zu 
beobachtende außerordentlich starke Gefäßvermehrung. Halisteresis, Trypsis oder 
Osteolyse muß ich ebenso wie Weski für mein Material in Abrede stellen. 


EN 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 471 


Die bei den vorgeschrittenen Pyorrhöefällen beobachteten, mehr oder weniger 
hochgradigen Pulpenveränderungen sind Sekundärerscheinungen und wohl in der 
Hauptsache a conto der sich einstellenden falschen Belastung zu setzen. 

Die Auffassung Fleischmann-Gottliebs, daß nur nebenbei ein gegen den 
Knochen fortschreitender Entzündungsherd den Knochen affizieren kann, besteht 
sicherlich zu Unrecht. Es ist vielmehr die Regel, daß in den fortgeschrittenen 
Stadien der Alveolarpyorrhöe der Granulationsherd den Alveolarknochen erreicht 
und ihn zum Schwund bringt. Es handelt sich keineswegs um eine diffuse Knochen- 
atrophie. 

Eine experimentelle Arbeit von Roos verdient hier erwähnt zu werden; sprechen 
doch die Resultate aus dem Tierexperiment sehr beredt für die Richtigkeit meiner 
pathohistologischen Befunde. 


Fig. 109. Fig. 110. 
Epitheldefekt Epitheltiefenwucherungen 





Më 
N 
A ` 
Zement Defi, 
` Wa, Infil- 
D N ration 
Erläuterung zu Fig. 110. Ein aus =? 
einem vorgeschrittenen Prozeß unter starker 
Vergrößerung wiedergegebenes Knochen- 
bälkchen. Besonders deutlich ist hier, daß 
die den Infiltraten zugekehrte Seite des 
Knochens an der Oberfläche unscharf und Knochen- 


schwach tingiert ist, während die abgekelhhrten abbau 


Knochenränder scharf konturiert sind und 
gute Färbbarkeit der Kerne und der Zellen 
im Gegensatz zu der gegenüberliegenden 
Seite aufweisen. In dem Originalpräparat 
ist der Ausdruck des pathologischen Vor- 
ganges bedeutend deutlicher zu erkennen. 





Roos hat in einer Arbeit über die Anatomie, Physiologie und Pathologie des 
Interdentalraumes sowohl seine klinischen Erfahrungen, wie vor allem auch seine patho- 
logischen und pathohistologischen Befunde bei chronischen Zahnfleischreizen be- 
schrieben und seine Resultate durch tierexperimentelle Versuche bestätigt gefunden. 
Nach ihm hat der pathologisch-anatomische Befund am Tier gezeigt, daß durch 
den chronischen Reiz überstehender Füllungen z. B. ein entzündlicher Vorgang sich 
einstellt, der bindegewebige Degeneration(?) des interdentalen Gewebes, Osteoklasten- 
bildung im Periost und Atrophie des knöchernen Interalveolarseptums zur Folge hat. 

Er sah seine klinischen und röntgenologischen Befunde infolge chronischer, 
mechanischer, chemischer und bakterieller Einflüsse, die sich darin äußern, daß 
Hyperämie der Interdentalpapillen, Gingivitis, Perizementitis, Nekrose der Papillen, 
Zahnfleischtaschen, Atrophie der Papillen und des knöchernen Septums, Infektion, 
Alveolarpyorrhöe und Verlust des Zahnes eintreten, durch das Tierexperiment (am 
Hund) vollkommen bestätigt. Auch der bakteriologische Befund, der neben den 


472 P. Kranz. 


gewöhnlich vorkommenden Bakterien des Mundes vorwiegend Kokken und Spiro- 
chäten aufwies, wurde im Tierexperiment bestätigt. 

Ich füge hier einige meiner pathohistologischen Bilder mit illustrierendem 
Röntgenogramm ein (Fig. 106-110). 

Das Röntgenbild ist, wie die ihm beigegebenen pathohistologischen Bilder 
zeigen, ein für die einzuschlagende Behandlung der Erkrankung sehr wertvolles, ich 
möchte sagen, unentbehrliches Hilfsmittel, denn die mit seiner Hilfe leicht zu er- 
mittelnde Tiefe der Taschen (Knochen-Zahnfleisch-Tasche) ist das ausschlaggebende 
Moment für unsere therapeutischen Maßnahmen. 

Bevor wir nun zur Besprechung der therapeutischen Maßnahmen übergehen, 
sei nochmals kurz ein klinisches Allgemeinbild gegeben; es werden die subjektiven 
und objektiven Befunde besprochen und auf die für eine sichere Diagnosenstellung 
wertvollen Hilfsmittel hingewiesen: 

Subjektive Beschwerden treten bei der Alveolarpyorrhöe meist in den 
Hintergrund. Es fehlen neben kaum nennenswerter Empfindlichkeit der freiliegenden 
Zahnhälse zumeist stärkere Beschwerden bei Aufbiß und beim Kauen. Die Lockerung 
einzelner oder mehrerer Zähne und der bekannte gelblichweiße Eiteraustritt sind 
gewöhnlich die ersten Alarmsignale für den Patienten. Selbst bei erheblicher 
Lockerung und fast stark zerstörter Alveole sind manche Zähne immer noch bis 
zu einem gewissen Grade funktionsfähig und stören den Patienten nur wenig. 
Gelegentlich macht sich an den kranken Stellen, zuweilen auch im ganzen Kiefer, 
ein Kribbeln oder Ziehen bemerkbar. Hervorstechender sind die objektiven 
Befunde. In der Mehrzahl ist mangelhafte Mundpflege zu konstatieren. Der Zahn- 
fleischsaum der erkrankten Zähne ist vielfach gewulstet; es kann das Zahnfleisch 
aber auch bei ausgesprochenen Pyorrhöefällen ganz normal aussehen; zuweilen 
ist es auch blaurot verfärbt. Es läßt sich leicht von der Wurzel abheben. Nach 
Reinhold ist das Frühsymptom der Alveolarpyorrhöe eine marginale Gingivitis, 
nach anderen das erste klinische Symptom eine Hyperämie, und zwar eine Stauungs- 
hyperämie in den Papillen und der Gingiva, die sie auf Circulationsstörungen zurück- 
führen. Die sich zuerst am Zahnhals vorfindenden, dann aber auch in die Tiefe dringen- 
den Zahnsteinablagerungen finden wir in mehr oder weniger großen Mengen an fast 
allen pyorrhöekranken Zähnen. Der Zahnstein kann je nachdem gelb bis gelblich- 
weiß oder dunkel aussehen. Das hauptsächlichste Merkmal für die Alveolarpyorrhöe 
ist die Zahnfleischtasche, die mit Epithel ausgekleidet ist, aus der sich gewöhnlich 
auf Druck von der Wurzelspitze her ein geruch- und geschmackloser Eiter von weiß- 
lichgelber Farbe entleert. Die befallenen Zähne werden, sobald die Erkrankung auch 
auf den Knochen übergegriffen hat, locker; es können sowohl einzelne Zähne wie 
auch das ganze Gebiß von der Alveolarpyorrhöe heimgesucht werden. Zum Unter- 
schied von der senilen Atrophie oder von der Atrophia alveolaris praecox bleiben bei 
der Alveolarpyorrhöe, abgesehen von gewissen Spätstadien, die Zahnfleischpartien 
erhalten. Auffallend ist, daß es sich zumeist um gesunde Zähne handelt, die von der 
Erkrankung heimgesucht werden. Das Symptom der Eiterung ist in bezug auf die 
Pathogenese der Alveolarpyorrhöe nebensächlich; der Eiter entstammt zumeist nicht 
dem granulierenden Periodontalgewebe, auch nicht etwa dem Knocheneinschmelzungs- 
herd, sondern kleinen Geschwürsflächen der Taschenwand. 

Neben der Epitheltiefenwucherung mit anschließender Taschenbildung ist die 
Erkrankung des Knochens, die, wie sich aus den pathohistologischen Präparaten 
(s. Fig. 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110) ergibt, das Bild einer rarefizierenden Ostitis 
zeigt, wohl das wichtigste Charakteristicum bei der Pyorrhöe. Ob sie nun als vertikale 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 473 


oder horizontale. Erkrankung sich breit macht, oder ob sie in beiden Formen auf- 
tritt, ist letzten Endes einerlei. 
Der bakteriologische Befund ergibt, was den Eiter anlangt, Spirochäten in 


Fig. 111. 


Sog. „Spirochaeta 
pyorrhoica“ 





Aus dem Belag einer Epulis. Burri-Färbung. 


den verschiedensten Formen, fusiforme Bacillen, Amöben, Pilze und vor allen Dingen 
Kokken der verschiedensten Art. Während wir die Kokken auch im Gewebe an- 
treffen, finden wir die Spirochäten in den Schnitten nur den Taschen aufgelagert vor. 


474 P. Kranz. 


(Fig. 111, 112, 113, 114, 115.) Zur Erhellung des objektiven Befundes ist das Röntgen- 
bild unerläßlich. Ich muß auch hier nochmals besonders darauf hinweisen, daß zur 
Sicherstellung der klinischen Diagnosen, wie vor allem als Fingerzeig für die ein- 
zuschlagende Therapie, das Röntgenbild von außerordentlicher Bedeutung ist, wenn- 
gleich ich nicht verhehlen kann, daß es manchmal zu Trugschlüssen führt. Ich lasse 
aber trotzdem keine Pyorrhöebehandlung einleiten, ohne zuvor Röntgenaufnahmen 
zu machen. | 

Der röntgenologische Befund (s. Fig. 109) bringt doch sehr häufig patho- 
logische Zustände ans Licht, die klinisch kaum oder nicht konstatiert werden 
konnten, und deren Beseitigung uns leicht über die pathologischen Zustände 
Herr werden läßt, und ist so für die therapeutischen Maßnahmen wertvoll. Hat 


Fig 113. 







Sog. „Spirochaeta ` 
pyorrhoica® =—— 


_ Spirochaeten 


Spirillum 
sputigenum 





Bacillus 
fusiformis 


Mikroorganismen vom Zahnhals eines normalen Mundes, 
(Färbung mit Krystallviolett.) 


uns der Patient seine subjektiven Beschwerden geschildert, haben wir unseren 
klinischen Befund erhoben und unsere Diagnose durch das Röntgenbild mehr 
weniger sichergestellt, so beginnen wir mit unseren therapeutischen Maßnahmen; 
unsere pathohistologischen Feststellungen haben uns erneut gezeigt, was uns unsere 
klinischen Erfolge schon oft bewiesen, daß unsere therapeutischen Maßnahmen, die 
chirurgische Teilbehandlung im Anfangsstadium oder die Behandlung der Alveolar- 
pyorrhöefälle nach Neumann im weiter vorgeschrittenen, die einzig richtigen sind. 
Und auf Grund unserer klinischen Erfahrungen und unserer pathohistologischen 
Studien geben wir einen kritischen Bericht über die seither von den einzelnen Autoren 
geübte Therapie und berichten über unsere eigene Behandlungsmethode bei der 
sogen. Alveolarpyorrhöe und die dabei erzielten Erfolge. 

Wir können bei der Besprechung der im Laufe der Zeit geübten therapeutischen 
Maßnahmen von rein symptomatischen reden und von dem Versuch einer speci- 
fischen Therapie sprechen. 

Symptomatische Therapie. Riggs hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
zuerst als Therapie die sorgfältige Entfernung des Zahnsteins mit einem besonders 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 475 


dazu konstruierten Instrumentensatz vorgeschlagen, und den guten, damit erzielten 
Erfolgen’ zum Dank nannten die Amerikaner die Krankheit „Riggs Disease“, welche 
Bezeichnung in den Vereinigten Staaten noch heute geläufig ist. Die Zahnsteintheorie 


Fig. 114. 


- Leukocyten 
Entamoeba buccalis 


Abgestoßene 
Epithelzellen 


Vakuole 


Aufgefressener 
Leukocyt 


Vorgestrecktes 

Pseudopodium ~ 

der Entamoeba 
buccalis 





hat sich im Laufe der Jahrhunderte nicht verdrängen lassen, und wir haben heute 
noch die weitaus größte Anzahl von Autoren, die in der Zahnsteinablagerung das 
ursächliche Moment für Alveolarpyorrhöe sehen, die deshalb auch zum Hauptgegen- 


476 P. Kranz. 


stand ihrer Therapie eine gründliche Entfernung des Zahnsteins, aller krankhaften 
Partien des Zahnfleisches und des Alveolarfortsatzes machen, damit die patho- 
logisch tiefen Taschen in eine normal tiefe Tasche überführen und die nach einer 
solchen sorgfältigen Behandlung über vollkommene Heilung berichten. Es wurden 
neue Instrumentensätze geschaffen, um den Ablagerungen besser und gründlicher zu 
Leibe rücken zu können, von denen die gebräuchlichsten die von Younger-Sachs, 
Senn, Neumann und Rhein sind. Fast alle Autoren berichten einheitlich, daß die 
gründliche und energische Ausräumung der Zahnfleischtaschen Vorbedingung für 
eine gute Heilung ist; nur wie man dies erreichen soll, darüber gehen die Meinungen 
auseinander. Die Zahnreinigungen werden in Lokalanästhesie vorgenommen. Nach 
der sorgfältigen Reinigung wird auch noch eine Politur der Zahnwurzel empfohlen, 
um dadurch neuen Ablagerungen vorzubeugen. Diese als sog. chirurgische Teil- 
behandlung in der Literatur bekannte Behandlungsmethode wird auch von uns seit 
Jahren bei allen Anfangsstadien von Alveolarpyorrhöe mit Erfolg angewendet; hierauf 
folgt die medikamentöse Weiterbehandlung, wobei Paramono-Chlorphenol, Presojod, 
Trypaflavin mit gleich gutem Erfolg zur Taschenbehandlung genommen werden. 
Das Zahnfleisch schwillt sehr schnell ab, legt sich straff an den Zahn an, und wir 
können mit der in den meisten Fällen eintretenden starken Narbencontraction einen 
Taschenschwund feststellen und haben so eine Heilung vor uns. Allerdings werden 
wir auch hier schon im Ausmaß der bereits zerstörten Knochenpartie sog. „lange Zähne“ 


bekommen. 


In neuerer Zeit hat man der chirurgischen Behandlung allein mehr und mehr den Vorzug ge- 

genen, Partsch hat schon 1900 über eine gute Heilung rein chirurgisch behandelter Fälle berichtet, 

ei denen entweder nach Jodoformgaze-Drucktamponade oder nach Spaltung der Zahnfleischtaschen 
die Ausräumung des Zahnsteins und der Granulationen vorgenommen wurde. 


Römer verlangt ein energisches, zielbewußtes Vorgehen; nie kann zu viel, immer nur zu wenig 
entfernt werden. Er brennt, nachdem er die Konkremente sorgfältig entfernt hat, mittels Paquelins 
das ganze Zahnfach zwischen Wurzel und Alveolarrand aus und entfernt damit auch die affizierten 
Dentalpapillen, um so aller Mikroorganismen Herr zu werden. 


Berten spaltet, um das Wiederauftreten der Eiterung zu verhindern, die Zahnfleischtaschen der 
Länge nach, um die Wurzel besser reinigen zu können, und will damit auch ein gründlicheres Ver- 
narben des gelockerten Gewebes erzielen. 

Senn, der behauptet, daß 90% aller Alveolarpyorrhöen durch den Zahnstein verursacht werden, 
redet der rein chirurgischen Behandlung das Wort und verwirft, ebenso wie Schröder, jegliche An- 
‚wendung von Ätzmitteln, da sie nur so lange Heilung vortäuschen, bis der Ätzschorf abgestoßen ist. 

Jedoch auch die medikamentöse Behandlung hat eine große Zahl von Anhängern, die allerdings 
größtenteils eine mit der chirurgischen kombinierte Behandlungsmethode vorschlagen, da sie gesehen 
haben wollen, daß sie mit der medikamentösen Behandlung die Heilung außerordentlich fördern. Die 
Zahl der empfohlenen Medikamente, für deren Anwendung verschiedene Richtlinien maßgebend sind, 
geht ins Unbegrenzte. Es gibt Autoren, die lediglich zur Reinigung der Zahnfleischtaschen von Bak- 
terien und sonstigen da eingelagerten Schädlichkeiten Medikamente anwenden, andere zur Zerstörung 
der nicht ganz beseitigten Granulationen oder zur Bekämpfung der Entzündungen, und wieder andere 
` gebrauchen z. B. scharfe Säuren als Adjuvans bei der Entfernung der subgingivalen Konkremente. 
Ich denke hier vor allem an die von Head 1909 empfohlene Flußsäurebehandlung, die bei uns 
besonders Wunschheim eingeführt hat. Es wird hier Ammoniumbifluorid (tartar solvent) nach Head 
2-3 Minuten, nach Wunschheim 5-10 Minuten in die Zahnfleischtaschen gebracht. „Während 
Schmelz, Zement und Periost merkwürdigerweise nicht angegriffen werden“, werden nach Erfahrung der 
Autoren die mikroskopisch kleinsten Reste von Zahnstein durch Bifluorid gelöst, und je nach der 
Schwere des Falles ist nach der zweiten bis dritten Sitzung ein deutliches Seichterwerden der Tasche 
zu konstatieren. Wunschheim schreibt am Schlusse seiner Ausführung, daß Bifluorid dasselbe leistet 
wie die chirurgische Behandlung, nur schonender und elektiver, und auch da anwendbar, wo die 
chirurgischen Instrumente unzulänglich seien. -Milchsäure, Salzsäure, Schwefelsäure, rauchende Salpeter- 
säure, Paramonochlorphenol, schwarze Chlorzinklösung, Preglische Jodlösung sind Hilfsmittel, die 
wohl zum Teil auch noch zur Erleichterung der Zahnreinigung, in erster Linie aber doch wohl zur 
Zerstörung der Granulationen und Bekämpfung der Entzündungen angewandt werden. 

Feiler hat, um die Zwecklosigkeit der Anwendung scharfer Säuren zu demonstrieren, mit ver- 
schiedenen Säuren an extrahierten, mit Zahnstein behafteten Zähnen Versuche angestellt, konnte aber 
die den Säuren zugedachte Wirkung hinsichtlich der Lösung des Zahnsteins nicht bestätigt finden. 

Jod, Methylenblau, Chlorphenol, Argentum nitricum, Wasserstoffsuperoxyd und neuerdings die 
oben genannten Presojod und Trypaflavin haben sich bei der Behandlung der Alveolarpyorrhöe den 
ersten Platz erobert. Die besonders von Reich empfohlene Pyocyanase ist als vollständig wirkungs- 
los wieder aus der Reihe der Alveolarpyorrhöemedikamente verschwunden. Die Amerikaner empfehlen 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 477 


die Lugolsche Lösung, da sie einmal ein mildes Antisepticum mit adstringierender Wirkung ist, 
anderseits den Zahnstein und andere Zahnablagerungen färbt und so den Patienten reizt, sich selbst 
die Zähne tüchtig zu reinigen, ohne dazu zahnärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. 


, Massage. Die schon von A. Witzel empfohlene Zahnfleischmassage, ausgedehnt 
auch auf den Alveolarrand, als Nachbehandlung, ist mehr und mehr zur Geltung 
gekommen, und es werden dazu schon die verschiedensten medikamentösen Mittel 
als besonders wirksam empfohlen, von dem in Alkohol getauchten Wattefinger oder 
der Gummibürste nach Sörup angefangen bis hinauf zu den kompliziertesten Salben. 
Auch Vibrationsapparate haben im zahnärztlichen Instrumentenschrank ihren Einzug 
gehalten (Kieffer, Fleischmann, Ash & Sons) und werden bei der Nachbehand- 
lung der Alveolarpyorrhöe als gute Hilfsmittel gerühmt. 


Durch die Arbeiten von d’Arsonval, Charrin und Dubois, die mittels Hochfrequenzströme 
den Staphylococcus pyogenes aureus und seine Abarten innerhalb 30 Minuten abtöten, wurde die 
d’Arsonvalisation auch in der Zahnheilkunde und speziell bei der Behandlung der Alveolarpyorrhöe 
angewandt. Parker kombinierte die Röntgenbehandlung mit Hochfrequenzströmen und berichtet über 
verschiedene Heilerfolge. Ebenso Satterlee, Toussey und Morel. Langsdorf und Zilz haben, an- 

eregt durch diese Publikation, etwa 40 Fälle von Alveolarpyorrhöe in verschiedenen Stadien mit Hoch- 

equenzströmen behandelt. Zilz schreibt: „Wir haben bei richtiger therapeutischer Anwendung, denn 
gerade auf diese will ich den Schwerpunkt gelegt wissen, im d’Arsonvalismus ein überaus wertvolles 
und verläßliches Heilmittel in der Therapie der Alveolarpyorrhöe.* 


Wir haben in unserem Institut die Hochfrequenzströme als gutes Hilfsmittel 


kennengelernt. 


Zu erwähnen wäre hier noch die Röntgen-, kombiniert mit der Ultraviolettbestrahlung, mit 
denen Winkler gute Erfolge erzielte, sowie die von Michel erwähnte Kohlenbogenlichtbehandlung. 

Die Quarzlichtbestrahluung, die ich 1908 und 1909 gemeinsam mit dem verstorbenen Kollegen 
Schulz monatelang durchführte, hat uns keine besonders günstigen Resultate gezeitigt. 

Auch die Radiumbehandlung hat in der Zahnheilkunde ihren Eingang gefunden. Wie so oft, 
finden wir auch hier die widersprechendsten Resultate in der Literatur. Walkhoff (1890) war einer 
der ersten, die auf die Wirkung der Radiumbestrahlung im allgemeinen aufmerksam machten. Die 
systematische Anwendung von Radium in der Stomatologie finden wir von Levy und Trauner un- 
gefähr gleichzeitig vorgeschlagen. Es haben sich dann Mamlok, Neumann, Windmüller u. a. 
damit befaßt, Radium in den verschiedensten Formen und Dosierungen bei Alveolarpyorrhöe zu ver- 
suchen; während Mamlok gleich Levy bedeutende Erfolge gesehen hat, sind die Urteile von Neu- 
mann und Windmüller keineswegs zufriedenstellend. Auch ich habe gemeinsam mit Kollegen 
Schulz Radium in den verschiedensten Formen und Dosierungen versucht und keine nennenswerten 
Resultate bei der Alvolarpyorrhöebehandlung erzielt. 

Versuche einer specifischen Therapie. Schon sehr früh wurde von verschiedenen 
Forschern versucht, aus den erkrankten Partien oder dem Eiter einen specifischen Erreger der Krank- 
heit festzustellen. Galippe (1888) war wohl der erste, der von einem Parasiten schreibt, der eine 
infektiöse arıhrodentäre Gingivitis verursacht habe; er hat auf Meerschweinchen überimpft und nach 
Verlauf von 14 Tagen „eine Serie eigentümlicher Äbscesse erhalten“. Sodann war es kein geringerer 
als Miller, der sich eifrig mit dem Studium der Mundbakterien und speziell der bei der Alveolar- 
pyorrhöe gefundenen Bakterien beschäftigte. Er beschreibt zahlreiche Formen von Kokken, Spiral- 
und Fadenformen, Kommaformen, Bacillen; am zahlreichsten fand er auch schon die bekannten 
Staphylo- und Streptokokken, den Bacillus fusiformis und spiralförmige Bakterien; 1906 berichtet er 
über eine scheinbar pathogene Wirkung der Spirochaeta dentium. 

Sims und Goadby setzten die bakteriologischen Forschungen fort und kamen zu dem Resul- 
tat, daß die spiralförmigen und fusiformen Bacillen mit der Entstehung der Erkrankung in ursäch- 
lichen Zusammenhang zu bringen sind; 1910 hat dann Gerber in verschiedenen Arbeiten auf die 
Mundspirochäten als bei der Alveolarpyorrhöe mitverantwortlich hingewiesen und Salvarsan bezw. 
Neosalvarsan als therapeutische Maßnahme (lokal und intravenös) vorgeschlagen; ihm folgten Plaut 
und Zilz, die beide über günstige Wirkungen von Salvarsan bei Alveolarpyorrhöe berichten. 

Die Serumbehandlung, die Payne-Philpot als erster angeblich mit Erfolg in die Zahnheil- 
kunde eingeführt hat, haben wir von Amerika übernommen. Fenchel hat sich als erster in Europa 
mit der Serumtherapie beschäftigt und verwandte nicht wie die Amerikaner das Behringsche Diphthe- 
rieserum, sondern das polyvalente Deutschmann-Serum. Möller hat in einer sehr interessanten 
experimentellen Studie „Über Serumbehandlung bei Alveolarpyorrhöe” sich eingehender mit der 
Serumtherapie befaßt und kommt zu dem Schluß, daß „immerhin ein ganz günstiger Einfluß des 
Deutschmann-Serums bei Alveolarpyorrhöe wahrzunehmen ist“. Bei 30 mit Serum behandelten 
Fällen berichtet er von 19 sichtbaren Erfolgen. 

In der amerikanischen Literatur bringen Smith und Barrett die Mitteilung, daß nach ihrer 
Meinung gewisse amöboide Parasiten des Mundes (Entamoeba gingivalis, Entamoeba pyogenes) von 
außerordentlich pathogener Bedeutung für die Alveolarpyorrhöe seien. Sie schlagen Emetinum hydro- 
chloricum in '/,°/,iger Lösung vor, u. zw. Bass und Johns subcutan, während Smith und Barrett 
von einer lokalen Eech bessere Erfolge gesehen haben wollen; als Ideal bezeichnen sie eine 
kombinierte Methode. Sheriff empfiehlt gleichfalls die von Barrett empfohlene Methode und hat 
dabei sehr bemerkenswerte Erfolge, während die von Johns und Bass nicht solche Wirkung hatte. 


478 P. Kranz. 


Als Beweis hiefür führen sie an, was sie selbst beobachtet haben: daß diese Amöben jedesmal in 
Pyorrhöetaschen vorhanden waren, und wo sie nicht waren, war der Mund immer frei von Eiterung ; 
ferner die Tatsache, daß die Amöben nach Gebrauch von Emetin verschwanden und daß mit ihrem 
Verschwinden die Eiterung aufhörte, daß das Zahnfleisch wieder normal wurde, die losen Zähne sich 
wieder befestigten, und den subjektiven Befund der Besserung der Mundverhältnisse durch die 
Patienten selbst. 

Smith und Barrett behaupten nicht, daß jede Pyorrhöe durch Amöben verursacht sei, sie 
‘geben zu, „unter den verschiedenen Mikroorganismen bei einer kleineren Anzahl von Fällen, ähnlich 
wie andere Autoren, außer Amöben oder neben einigen Amöben eine große Anzahl von Spirochäten 
— in unseren Fällen glauben wir, es mit denen von Vincent zu tun zu haben, aber wir sind dessen 
nicht sicher — gesehen zu haben. Ein schneller Anfall, große Ausdehnung, schnelles und tiefes Ein- 
dringen längs der Wurzeln, markante Röte, geschwollene Partien und Schmerzhaftigkeit und Ent- 
zündlichkeit charakterisieren diese Fälle. Die lokale Applikation von Neosalvarsan zuerst als Puder 
aufgetragen, später als Lösung in destilliertem Wasser, zeitigte in diesen Fällen glänzende Erfolge.” 
Smith und Barrett bezeichnen diese Fälle als Ausnahmefälle; sie schlagen für ihre Fälle den Namen 
„Amöbenpyorrhöe“, für diese die Bezeichnung „Spirochätenpyorrhöe“ vor. 


Ich habe diese Untersuchungen nachgeprüft, habe auch Amöben in den meisten 
untersuchten Alveolarpyorrhöefällen gefunden, dieselben auch, allerdings ohne Erfolg, 
zu züchten begonnen; in einer derartigen Überzahl, wie sie Smith und Bass berichten, 
konnte ich die Amöben nicht finden. Vor allem war der Gegensatz, den die Autoren 
so hervorhoben: daß bei gesunden Patienten überhaupt nie und bei Alveolarpyorrhöe- 
Kranken in 100% der Fälle Amöben vorhanden seien, kein derartiger. Ich habe auch in 
normalen Mundhöhlen, allerdings schlecht gepflegten, in 72% Amöben gefunden. 
Daß nach einer Emetinbehandlung jemals Heilung der Alveolarpyorrhöe (auch der 


sog. Amöbenpyorrhöe) eingetreten wäre, konnte ich nicht feststellen (s. Fig. 114, 115). 


© Chiavaro faßt seine Forschungsresultate über Entamoeba dahin zusammen, daß er sagt: „Die 
Entamoeba hat keine pathogene Wirkung; im Gegenteil: da sie sich von Bakterien nährt, ist sie höchst- 
wahrscheinlich ein Adjuvans bei der Autodesinfektion des Mundes e Auch Talbot zweifelt die 
Behauptung Barretts an, sowohl hinsichtlich der Ätiologie wie auch der Behandlungsmethode; er 
verwirft die von Barrett vorgeschlagene Emetinbehandlung und macht ihm den Vorwurf, daß er 
das Kochsche Gesetz bei seinen Versuchen nicht befolgt habe. Hinsichtlich der Vaccinebehandlung 
schreibt Talbot, „daß ihr Erfolg gleich Null sein müsse, da die Krankheit infolge einer Reizung 
und nicht einer Infektion entstehe«“. 

1917 hat Kolle unabhängig von Gerber und den anderen diesbezüglichen Forschern, sich 
mit der Ätiologie und der Therapie der Alveolarpyorrhöe befaßt. Ihm fiel bei seinen mikroskopischen 
Untersuchungen auf, daß eine Spirochätenart, die morphologisch von den in der normalen Mundhöhle 
des gesunden Menschen regelmäßig vorkommenden verschieden ist, sich regelmäßig und bei manchen 
Patienten in großer Menge in dem Eiter der Pyorrhöetaschen findet. Diese Spirochäte ähnelt der 
Obermeieri; sie ist 10—12 u lang; die Zahl der Windungen beträgt durchschnittlich 5 und schwankt 
zwischen 4 und 7. Die Windungen sind flach, doch bestehen bei den einzelnen Individuen gewisse 
Unterschiede. Die Enden der Spirochäte sind meistens zugespitzt, im Dunkelfeld zeigt sie Flexions- 
und Ortsbewegungen. Die Spirochäte steht demnach dem sog. großen Typus der Zahnspirochäten nahe 
(s. Fig. 111,112, 113). Zum Nachweis empfiehlt Kolle das Tuschepräparat oder Gentianaviolettfärbung. 
„In der Minderzahl der Fälle sind neben den Spirochäten, für die ich den Namen Spirochaeta ‚pyorrhoica‘ 
vorschlage, andere Spirochätenarten, darunter auch die in der Mundhöhle der Gesunden vorkommenden 
sogen. ‚Zahnspirochäten‘ in erheblicher Menge vorhanden, sowie fusiforme Bacillen, Fadenpilze und 
Spaltpilze.« Kolle hat hierauf unabhängig von früheren Autoren die Behandlung der ihm von Beyer 
im Feld als pyorrhöekrank vorgestellten Patienten mit Salvarsan vorgeschlagen. Schon nach einer 
Injektion von 0'1 cm? Neosalvarsan in die Venen konnte von Beyer, Kolles zahnärztlichem Mit- 
arbeiter, eine deutliche Besserung festgestellt werden. Nach zweimaliger Injektion von 0'3 cm? Neo- 
salvarsan wurde bei mehreren Kranken, bei denen jede Lokalbehandlung unterlassen wurde, eine völlige 
Heilung innerhalb 10 Tagen erzielt. 

Kolle glaubte damit den sicheren Beweis erbracht zu haben, daß die Alveolarpyorrhöe eine 
Spirochätenerkrankung sei, und daß sie durch systematisch, oft längere Zelt fortgesetzte Salvarsan- 
kuren ohne lokale Behandlung irgendwelcher Art zur Heilung gebracht werden könnte. 


Auf diese hervorragenden Heilerfolge hin entschloß ich mich bereits 1917, 
Salvarsankuren bei pyorrhoischen Zuständen, vor allem auch bei der Alveolarpyorrhöe, 
anzuwenden, natürlich intravenös und nicht etwa Salvarsaninjektionen ins Gewebe, 
wie sie Beyer vorgeschlagen hat, die ja doch stets schwere Arsennekrosen setzen 
müssen. 

Daß die Alveolarpyorrhöe nach systematisch fortgesetzten Salvarsankuren ohne 
Lokalbehandlung irgendwelcher Art zur Heilung gebracht werden könne, hat sich 
nach meinen Erfahrungen am Frankfurter Institut nicht bestätigt. Seidel berichtet 
über die gleichen Feststellungen. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 479 


Der Widerspruch ist, wie die mit Loos seinerzeit vorgenommene Nachprüfung 
ergab, auf eine falsche Diagnosestellung von Beyer zurückzuführen. Beyer hat Kolle 
keine Alveolarpyorrhöefälle, sondern Fälle von Stomatitis. ulcerosa oder Gingivitis 
pyorrhoica zugeführt und darin sind die frappanten Heilerfolge mit Salvarsan 
begründet, und heute lehnt Kolle es ganz energisch ab, für diese Behandlungs- 
methode bei einer anderen als der pyorrhoischen, marginalen Gingivitis einzutreten. 

Aber auch die Spirochätenbefunde wurden durch die intravenösen Salvarsan- 
gaben nicht wesentlich herabgemindert. Es müssen nach meinem Dafürhalten die 
Mundspirochäten bedeutend resistenter sein als die übrigen Spirochätenarten; ferner 
liegt es aber auch daran, daß die nach intravenöser Injektion von Salvarsan durch 
den Speichel ausgeschiedene Arsenmenge zu gering ist, um die Mundspirochäten 
in derselben Weise wie die Pallida zu beeinflussen. 

Daß in das pyorrhöekranke granulationbedeckte Zahnfleisch keine Spirochäten 
eindringen, weisen meine pathohistologischen Biider auf, und es erübrigt sich des- 
halb, ganz abgesehen von den andern aus den pathohistologischen Bildern abzulesenden 
Gründen, die Salvarsankur bei Alveolarpyorrhöe als therapeutische Maßnahme zu 
diskutieren. 


In einer sehr sorgfältigen und umfangreichen Arbeit berichtet Medalia über die bereits erwähnte 
Vaccinebehandlung bei chronischer Alveolarosteomyelitis, wie er nach ausführlicher Begründung die 
Alveolarpyorrhöe genannt wissen will, daß Vaccinebehandlung (Immuntherapie) zusammen mit lokaler 
mechanischer Behandlung die besten Resultate gewährleistet. 

Neuerdings hat auch bei uns Seitz, der die Alveolarpyorrhöe als das Endstadium entzünd- 
licher Erkrankung auf Spirochäten- und Bakterienbasis darstellt, die Gingivitis und die Stomatitis 
als ihr Anfangsstadium bezeichnet, und die 3 Affektionen unter dem Namen „pyorrhoische Diathese des 
Mundes“ zusammenfaßt, vorgeschlagen, eine opsonische Therapie einzuleiten, wie dies bereits von 
Medalia und Goadby geschehen ist. Seitz versuchte eine lokale Immunität auch bei der Pyorrhöe 
durch direktes Einwirkenlassen des betreffenden Antigens auf das zu immunisierende Gewebe zu er- 
reichen. Er ließ aus frischen Fällen von Pyorrhöe Staphylo-, Strepto- und Pneumokokkenstämme 
isolieren und daraus Schüttelextrakte herstellen und durch Berkefeld-Kerzen steril filtrieren. Diese 
EE Lösungen der immunisıerenden Stoffe brachte er mit konservierendem Zusatz in durchaus 

altbare Salbenform. Die Salbe wird mit einigen Tagen Intervall in die tiefen Taschen eingetragen, 
eine Manipulation, die auch vom Patienten selbst ausgeführt werden kann. Die Erfolge sollen durch- 
aus günstige sein. Neben dem Nachlassen der Eiterung wurde auch eine Festigung der Zähne kon- 
statiert. Ob sich sehr veraltete Fälle von Pyorrhöe auch für diese Therapie eignen, steht nach Seitz 
noch nicht fest. Diese Salbenvaccine dürften sich nach meinem Dafürhalten als Unterstützung der 
chirurgischen Heilmethode resp. der Ausbrennung ganz gut eignen, ebenso wie ich auch die von 
Winkler angegebene 2%ige Vanadiumlösung als ÄAdjuvans bei allen pyorrhoischen Erkrankungen 
der Mundhöhle für ein vorzügliches Hilfsmittel, aber keineswegs für ein Specificum gegen Alveolar- 
pyorrhöe halte, wie es ja auch Winkler aufgefaßt wissen will. 


Rosenthal, die die Alveolarpyorrhöe nur im Zusammenhang mit inneren Leiden hat auftreten 
sehen, nach der Circulationsstörungen in der Schleimhaut des Mundes die Grundbedingung für ihre 
Entstehung sind, hat kürzlich eine neue Therapie vorgeschlagen. Sie spritzt lokal Emser Salz und will 
auf diese Weise schnelle und Dauererfolge erzielt haben. Diese Injektionen, die Wochen hindurch täg- 
lich vorgenommen werden müssen, sind so außerordendlich schmerzhaft, daß die Patienten zumeist 
sich die zweite Injektion nicht gefallen lassen. Es wäre zur Durchführung dieser Therapie jedesmal eine 
Leitungsanästhesie geboten. Nach unseren klinischen Erfahrungen und nach den von uns erhobenen 
pathohistologischen Befunden erübrigt sich eine weitere Diskussion über die im vorhergehenden auf- 
gezählten therapeutischen Maßnahmen. 


Nach all dem Vorausgegangenen ist die Therapie bei der sog. Alveolarpyorrhöe: 

1. In den Anfangsstadien die chirurgische Teilbehandlung, wie ich sie bereits 
eingangs bei den symptomatischen Behandlungsmethoden näher beschrieben, oder 

2. bei den mittleren und vorgeschrittenen Stadien die chirurgische Behandlung 
nach Neumann. 

Neumann und Widmann haben gerade Richtlinien für die chirurgische 
Behandlungsmethode festgelegt, die ich auf Grund meiner klinischen Erfahrungen 
und meiner pathohistologischen Untersuchungen Wort für Wort unterschreibe. 

Nach Neumann muß die Operation ermöglichen: 

1. Eine klare Übersicht über das gesamte Operationsfeld. 


480 P. Kranz. 


2. Die restlose Entfernung noch vorhandener Ablagerungen von Konkrementen 
an den Wurzeln, desgleichen 

3. die restlose Entfernung der in den Knochenbuchten und Nischen versteckten, 
von Epithelsträngen durchzogenen Granulationsmassen, 

4. die restlose Entfernung aller veränderten, nicht regenerationsfähigen Knochen- 
massen, 

5. Beseitigung tiefer Zahnfleischtaschen durch Abtragung der erkrankten Schleim- 
haut und Bedeckung des glatten Knochens mit gesunder Schleimhaut, somit 

6. eine Vernichtung des Nährbodens für die in der Tasche befindlichen Bakterien. 


Fig. 116. 


Schnittführung 





Die Papillen werden im Interdentalraum in vertikaler Richtung durchschnitten. 
(Aus Neumann.) 


Fig. 117. 


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Allen Alveolarpyorrhöebehandlungen voraus geht bei uns eine gründliche 
Sanierung des Mundes. Es wird zunächst eine gründliche Entfernung der Inkrustationen 
vorgenommen. Daß mangelhaft sitzende Kronen, Brücken, Prothesen, auch schlechter 
Kontakt, schlechte Füllungen, mechanische Reize (Zahnstocher, falsche oder zu forsche 
Regulierungen), auch chemische Reize, z.B. bei Kranken oder Arbeitern, die mit 
Hg, Cu, Pb und Bi zu tun haben, die chronische Insulte des Zahnfleisches hervor- 
rufen, die die Zahnsteinablagerungen besonders begünstigen, Gewebsschädigungen 
vorbereiten oder hervorrufen, aus denen sich schließlich Alveolarpyorrhöe entwickeln 
kann, beseitigt werden müssen, ist selbstverständlich. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 481 


Auch eventuell falsche Belastung der Zähne und Stellungsanomalien, die für 
die Entstehung der Alveolarpyorrhöe mitverantwortlich gemacht werden können, 
fallen unter die lokalen Reize und müssen beseitigt werden. Alle schlechten, nicht 
erhaltungsfähigen Zähne und Wurzeln werden extrahiert; hierbei gibt in den meisten 
Fällen das Röntgenbild den Ausschlag. | 

Frontzähne, bei denen das Röntgenbild zu zwei Drittel und mehr Knochen- 
schwund zeigt, extrahiere ich gleich zu Beginn der Behandlung; denn hier hat 
mir die Erfahrung sowohl wie die Autopsie nur zu oft gezeigt, daß die Granula- 
tionen bis zum Foramen apicale, ja um die ganze Wurzelspitze herum sich aus- 
gebreitet haben. Würde es mir gelingen, sie restlos zu beseitigen, so würde das den 
Spontanausfall des Zahnes bedeuten. 

Nachdem zuvor der Zahnstein so gründlich wie möglich entfernt ist, werden die 
gelockerten Zähne geschient und eventuell falsche Belastung ausgeglichen. Darüber 
bringt der zweite Teil der Abhandlung Genaueres. Nach Einsetzen der Schiene wird 
an allen den Zähnen, wo die Indikation dafür vorliegt unter Lokal- und Leitungs- 
anästhesie nach Neumann aufgeklappt und zunächst in der Tiefe eventuell zurück- 
gebliebene Zahnsteinreste von den Wurzeln weggenommen, wozu die Sätze von 
Neumann, Senn, Younger-Sachs und Rhein ein gleich gutes Instrumentarium 
abgeben. Demnächst werden die Granulationen mit Exkavatoren und scharfen Löffeln 
beseitigt und die oberen Partien des Alveolarrandes, in die ja meist schon die 
Granulationen eingedrungen sind, wie unsere pathohistologischen Bilder ausweisen, 
ebenfalls entfernt, wobei ein Bohrer oder Finierer die Arbeit des scharfen Löffels 
oder Hohlmeißels vorzüglich unterstützt; auf diese Weise werden die Zahnfleisch- 
und Knochentaschen beseitigt. Nach peinlichster Reinigung wird mit Kochsalz aus- 
gewaschen und dann vernäht. Ein Abpolieren der Wurzeln ist zu empfehlen. 

Ich habe eine Zeitlang die von Römer vorgeschlagene Methode des Ausbrennens 
mit dem Paquelin geübt, bin aber davon abgekommen, weil ich mit der chirurgischen 
Behandlung bedeutend schnellere Heilerfolge erziele und vor allem weniger Nach- 
schmerzen erlebt habe. Trotz Anwendung der Anästhesinsalbe-Ritsert (10%ig nach 
Römer) klagten die Patienten nach der Kauterisierung tagelang über heftige Nach- 
schmerzen. Auch ist es mir nach dem Studium des mikroskopischen Bildes ein- 
leuchtend, daß man oft nicht imstande sein wird, mit dem Paquelin in den Knochen- 
nischen und -buchten die Granulationen u. s. w. zu zerstören. 

In den Anfangsstadien, in denen eine Aufklappung noch nicht geboten erscheint, 
haben wir neben der gründlichen Auskratzung und eventuellen Excision auch medi- 
kamentös behandelt. Bei vorgeschrittener Lockerung der Zähne wurde, da wie dort, 
sogleich eine sorgfältige Schienung, auf die wir noch eingehender zu sprechen 
kommen, durchgeführt und es wurden die Zahnfleischtaschen einer medikamentösen 
Behandlung mit Gerbsäure-Methylenblau, Chlorphenol, Presojod oder Carbolsäure 
unterzogen, da nach unserer Meinung und Erfahrung die Bakterien in dem ent- 
zündlichen Gewebe eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und ihre Vernichtung 
sowohl, wie vor allen Dingen auch die Verhornung des verletzten Epithels mit 
diesen Hilfsmitteln schneller zuwege kommt. Aber wohlgemerkt, nur in den Anfangs- 
stadien, in denen die Beseitigung der Taschen auch ohne Aufklappung möglich 
erschien, wurde die sog. chirurgische „Teilbehandlung“ durch eine medikamentöse 
unterstützt. 

Wenn wir auch keineswegs der Ansicht Winklers, Wien, sind, der schreibt: 
„daB bei Alveolarpyorrhöe das ursächliche primäre Moment die Atrophie des 


Knochens sei“, so sehen wir doch in der von ihm vorgeschlagenen Darreichung 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. r 3] 


482 P. Kranz. 


von Phosphor, ebenso wie in der von Römer und von Gottlieb empfohlenen 
Arsenmedikation! eine die Heilung vorzüglich unterstützende Maßnahme, da sie 
einerseits eine anregende Wirkung auf das Wachstum der Knochensubstanz ausüben, 
anderseits (speziell Arsen) durch die Erweiterung der Capillaren eine bessere 
Durchblutung und Ernährung des Zahnfleisches zuwege bringen, die gleichfalls die 
Heilung beschleunigen. Aber nur als Adjuvantia lasse ich diese „inneren Mittel“ 
gelten, ebenso auch die von Winkler propagierte Strahlentherapie und stelle sie 
keineswegs wie Winkler in den Vordergrund der Behandlung. Nicht vereinigt 
mit einer Allgemeintherapie bringen alle Lokalbehandlungen Nutzen, wie Winkler 
schreibt, sondern die Lokalbehandlung, u. zw. die chirurgische allen voran, ist die 
Grundbedingung für einen Heilerfolg: sie kann durch eventuelle erforderliche All- 
gemeintherapie nutzbringend unterstützt werden. Die bereits vorher besprochene 
Zahnfleischmassage unterstützt den Heilungsvorgang wesentlich. 

Alle Stoffwechselerkrankungen, die ja an und für sich die verschiedensten Mund- 
affektionen im Gefolge haben und vor allem eine bestehende Alveolarpyorrhöe nach- 
teilig beeinflussen können, oder die durch den in ihnen bedingten gestörten Kalk- 
stoffwechsel durch die Kalkablagerungen prädisponierend wirken können, müssen 
geheilt werden; auch ein eventueller Diabetes, der ebenso ein prädisponierendes 
Moment für die Entstehung der Alveolarpyorrhöe sein kann wie ein Hemmnis bei 
der versuchten Heilung. Diesen Einfluß hat der Diabetes aber, wie wir ihn auch 
bei Gicht finden, vielleicht durch Zellanhäufungen mit harnsauren Salzen verursacht, 
auch bei allen sonstigen Gewebserkrankungen. 

Auch die besonders von Fryd besprochenen Herzaffektionen sind als prä- 
‘ disponierend in Betracht zu ziehen, allerdings nur insoweit, als sie eine gestörte 
Blutcirculation der Alveolarregion zeitigen können; auch ihre Heilung muß an- 
gestrebt werden, ebenso, wie die einer eventuell gleichzeitig bestehenden Gicht; 
Rheumatismus, Tabes, Lues, sowie eventuelle sonstige Infektions- und Stoffwechsel- 
krankheiten sind zu bekämpfen. 

Loos äußerte sich in seinem bereits eingangs zitierten Vortrag zu den thera- 
peutischen Maßnahmen wie folgt: 

„An die Spitze jeglicher Indikationsstellung für chirurgische Zahnerhaltung 
muß gestellt werden der Wert des Zahnes im Einzelfall und das Verhältnis des 
Eingriffs nach seiner Größe und Ausführbarkeit zu dem angestrebten Gewinn. Bei 
unserer vorgeschrittenen Ersatztechnik soll man die Erhaltungsgrenze zweifelhafter 
und nicht so wichtiger Zähne nicht zu weit stecken. 

Aber auch die nichtchirurgische Zahnerhaltung soll man nicht über- noch 
unterschätzen in ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn man auch daran ist, ihre Indikation 
auf wissenschaftlichem Boden zu erweitern, so darf man vorderhand die Erfolgs- 
aussichten noch nicht so darstellen, als ob für die chirurgische Zahnerhaltung die 
Götterdämmerung angebrochen wäre; denn noch immer ist die chirurgische Therapie 
da angezeigt, wo auf anderem Wege an den Entzündungsherd und die Infektions- 
quelle nicht heranzukommen ist als auf dem radikalen der Aufklappung und der 
Entfernung des Krankheitsherdes. 





! Liquor Fowleri oder die besser bekömmliche Dosierung in folgender Form: 


Rp. Acid. arsenicos. 00015 
Rad. et succi liquirit. 
qu. s. ut f. pil. Nr. XXX 


D. S. 3mal täglich 1 Pille nach dem Essen: nach 8 Tagen 3mal täglich 2 Pillen und so fort bis 
3mal täglich 5 Pillen; dann in demselben Turnus wieder absteigend zu 3mal täglich 1 Pille. Nun 
läßt man zweckmäßig einen Monat pausieren, um dann erneut dieselbe Kur zu beginnen. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 483 


Von den Paradentosen werden als Gegenstand der chirurgischen Behandlung 
genannt: 

1. Die Eitertasche und die ulcerierte Zahnfleischtasche; 

2. die Zahnfachtasche, 
wenn man nicht ganz allgemein von der chirurgischen Behandlung der Alveolar- 
pyorrhöe oder der ‚sog. Alveolpyorrhöe‘ spricht.“ Und er fährt fort: 

„Um die Eignung der verschiedenen Zustände für die chirurgische Behandlung 
zu prüfen, habe ich in den letzten Jahren über die Grenzen der von mir selbst an- 
genommenen Indikation hinaus alle möglichen Fälle operativ behandelt und dabei 
folgende 4 Zustände als Gebiet der chirurgischen Behandlung ansehen gelernt: 

1. Die Zahnfleischtasche: pathologisch-anatomisch marginale eitrige und 
granulierende Gingivitis bzw. Gingivoperiostitis. 

Ihr entspricht die Gingivotomie; an der Grenze nach oben steht bezüglich zu- 
gehöriger klinischer Zustände das Curettement. Nach unten folgt der unter 4. zu 
nennende Zustand und die Aufklappung nach Neumann. 


2. Der Granulationsherd auf den Septumspitzen — granulierende inter- 
dentale Gingivo-Ostitis, oft vorwiegend schrumpfenden Charakters, dann nicht- 
chirurgischer Gegenstand. Die chirurgische Behandlung besteht in Aufklappung nach 
Neumann, Excochleation (septale Nekrotomie und Gingivotomie, sobald Zahnfach- 
randnekrose damit verbunden ist). 

3. Granulierender, ausgedehnter Zerfallsherd der (meistens vorderen) Alveolen- 
wand = granulierende Ostitis bzw. Gingivo-Ostitis-Periodontitis (Paradentitis oder 
Gingivopanostitis nach Weski). 

Operation nach Widmann, Excochleation bzw. Nekrotomie. 

2. und 3. gehen natürlich auch bezüglich der pathologisch-anatomischen Be- 
zeichnungen über in den 4. Zustand: 

4. Alveoläre (Knochen-) Tasche — Schrägdefekte mit Granulationen und derber 
Schwartenbildung. 

Operation nach Widmann-Neumann: Gingivektomie und Excochleation- 
Resektion des Randes behufs Einebnung. 

Bezeichnung und Einteilung verfolgen natürlich nur praktische Zwecke; zu 
der Pathogenese der Paradentosen soll damit keine Stellung genommen werden. 
Anderseits kann die Praxis nicht auf die theoretisch-wissenschaftliche Erklärung 
dieser Dinge warten mit der Ingebrauchnahme neuer therapeutischer Vorschläge 
und Benennungen.“ 


Schlußfolgerungen. 


Wir sind zu der Anschauung gelangt, daß für den Beginn der Krankheit die 
lokalen Reize die wichtigsten sind; sie bedingen in den meisten Fällen die Konti- 
nuitätstrennung der Epitheldecke, schaffen also die „primäre Gewebsläsion“, sind 
die Veranlassung für das Tiefenwuchern des Epithels, während für die Fortdauer 
der Krankheit die lokalen infektiösen Ursachen, die Bakterien und Protozoen, die 
verschiedenen Spirochäten und Kokken, grampositive und gramnegative, vielleicht 
auch Amöben, fusiforme Bacillen und vor allem Pilze und deren Toxine eine nicht 
zu unterschätzende Rolle spielen. Des weiteren ist für eine richtige Artikulation Sorge 
zu tragen, damit keine falsche bzw. übermäßige Belastung einzelner Zähne zuwege 
kommt. 

31* 


484 P. Kranz. 


Auch konstitutionelle Krankheiten kommen als prädisponierende Ursache in 
Betracht, indem sie z. B. als Ernährungsstörungen die Kalkablagerungen fördern 
oder in Form von Herzaffektionen, Diabetes, Gicht, Nervenleiden, Chlorose u. s. w. 
eine herabgesetzte Widerstandskraft verschulden und so die Krankheitsbereitschaft 
der Gewebe darstellen, ohne die ja letzten Endes die Kier einer Krankheit 
überhaupt nicht möglich wäre. 


Empfehlen möchten wir auch noch, auf eventuelle ‚inersehreionisähe Störungen 
ein Augenmerk zu richten, namentlich bei den sog. ungeklärten Fällen. 


Als Wichtigstes aber bleibt zu beachten, daß die sog. Alveolarpyorrhöe als 
rein lokaler Krankheitsvorgang zu betrachten ist, der den lokalen Charakter auch 
in den schwersten und fortgeschrittensten Fällen bewahrt; der Allgemeinzustand 
kann wohl von großem Einfluß auf die Intensität und Dauer der Krankheit sein, 
das Wesen der Krankheit macht er nicht aus. Vor allem darf auch eine bestehende 
Alveolarpyorrhöe allein nie als Symptom einer Allgemeinerkrankung angesprochen 
werden. 


Da die lokalen Reize, wie aus dem Vorausgegangenen ersichtlich, die Haupt- 
rolle spielen, so wird eine gründliche Sanierung des Mundes und gute Mundpflege 
immer das erste sein, was vorgenommen werden muß. Restlose Beseitigung aller 
Zahnsteinauflagerungen, der Granulationen, der Zahnfleisch- und der Knochentaschen 
nach den im Vorausgegangenen angegebenen Methoden sind Grundbedingung für 
eine Heilung. Ganz lockere Zähne sind zu entfernen, bei den übrigen ist eine Ruhig- 
stellung durch Schienung zu sichern, denn eine normale Kaufunktion setzt einen 
normal festen Zahn voraus. Es ist in allen Fällen der Hausarzt zu Rate zu ziehen 
wegen eventuell bestehender Allgemeinleiden; diese sind unbedingt zu beheben, 
innere Mittel, wie Arsen, Phosphor, unterstützen häufig die Regeneration am Knochen. 
Eine längere Zeit gut durchgeführte Massage des Zahnfleisches hebt die gesunkene 
Vitalität und regt eine gute Durchblutung an. Eine Restitutio ad integrum ist in 
den meisten Fällen ausgeschlossen, da vielfach die Patienten erst zur Behandlung 
kommen, wenn der Alveolarfortsatz schon stark in Mitleidenschaft gezogen ist. 
| Erfolge ohne eine gründliche Lokalbehandlung haben wir nie gesehen, wohl 

aber Fälle, die ohne jede interne Beihilfe lediglich nach gründlicher Lokalbehandlung 
geheilt sind. 


Die chirurgische Lokalbehandlung, sei es im Anfangsstadium, die sog. chirur- 
gische Teilbehandlung, oder in weiter vorgeschrittenen Fällen die Aufklappung 
nach Neumann sind also Grundbedingung für einen Heilerfolg bei allen pyorrhoi- 
schen Zuständen. 


Prophylaxe: Gerade hier kann ein gutes Hand-in-Hand-Arbeiten von Arzt 
und Zahnarzt außerordenlich segensreich sein. Der Arzt kann nicht häufig genug 
seine Patienten auf eine sorgfältig vorzunehmende Mundpflege hinweisen und er 
sollte es nie versäumen, bei allen jenen Fällen, bei denen er irgendeine Allgemein- 
erkrankung feststellt, eine gründliche zahnärztliche Untersuchung durchführen zu 
lassen. Eine Frühdiagnose wird den Patienten vor größeren zahnärztlichen Ein- 
griffen bewahren und ihm die Erhaltung seiner Zähne bis ins hohe Alter einiger- 
maßen sichern. 

Daß auch der Zahnarzt sorgfältiger wie bisher speziell auf Zahnfleischtaschen 
zu achten haben wird, braucht wohl nicht besonders betont zu werden. 

Anschließend gibt Falck einen kurzen Überblick über die Befestigungsschienen, 
die einen sehr wesentlichen Teil der Therapie ausmachen. 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 485 


Befestigungsschienen. 
Von Dr. K. Falck, München. 


Die Therapie der Alveolarpyorrhöe verlangt nicht nur eine chirurgische Behand- 
lung, sondern auch eine Ruhigstellung der erkrankten Zähne als unbedingtes Er- 
fordernis zur Verhütung von Rezidiven. Diese Ruhigstellung, d h. die Ausschaltung 
der pathologischen Eigenbewegung der Zähne, erreichen wir durch die Anlage von 
Fixations- oder Befestigungsschienen, und da diese Schienen als ein hervorragend 
therapeutisches Mittel betrachtet werden müssen, ist eine etwas ausführlichere 
Beschreibung dieser Apparate wohl angezeigt. Auf die Technik der Anfertigung 
der Fixationen soll hier nicht eingegangen werden, dagegen bedürfen vor allem 
drei Fragen eine eingehende Betrachtung, nämlich: 

1. Wann ist die Anlage einer Schiene überhaupt erforderlich? 

2. Welche Prinzipien sind bei der Konstruktion maßgebend? 

3. Welche Schienungsmethoden werden diesen Grundsätzen gerecht? 

Die erste Frage ist bald beantwortet, denn geschient, d. h. ruhiggestellt, werden 
müssen alle diejenigen Zähne, die falsch belastet sind, weil diese falsche Belastung 
unwidersprochen als ein gewichtiges prädisponierendes Moment, von einigen Autoren 
sogar als die Ursache der Alveolarpyorrhöe schlechthin angesehen wird. Was ist 
aber nun falsche Belastung und wann tritt sie ein? Um diese Frage zu beantworten, 
müssen wir etwas weiter ausholen und uns zunächst — wenn auch nur in großen 
Zügen — über die Richtung und Kraft des Kaudrucks orientieren, u. zw. haupt- 
sächlich auch deshalb, weil diese Untersuchung für die Erklärung der Konstruktions- 
prinzipien und der zweckmäßigsten Schienungsmethoden als Unterlage dienen muß. 

Der Kaudruck, ausgelöst durch die Contraction der Kaumuskelgruppen, wird 
auf die die Funktion des Kauens ausübenden Zähne übertragen und vom Alveolar- 
fortsatz aufgenommen, der für die Aufnahme und das Festhalten der Zahnwurzeln 
bestimmt und ganz den Bedürfnissen der Zähne untergeordnet ist. Die Befestigung 
der Zähne im Alveolarfortsatz erfolgt durch die Knochenbälkchen und die Wurzel- 
haut des Zahns, die wechselseitig den Widerstand bedingen, den der Zahn dem 
Druck entgegensetzt. Die Faserbündel der Wurzelhaut sind so angeordnet, daß der 
Zahn wie in einem korbartigen Geflecht aufgehängt erscheint, und diese Anordnung 
der Fasern läßt zum Teil die Widerstandsfähigkeit des Zahnes gegen Verschiebungen ` 
erklären. Der Druck auf die Zähne und ihr Widerlager im Kiefer äußert sich aller 
Wahrscheinlichkeit nach nun nicht in der Weise, daß er auf die Alveolarwände 
nach außen treibend wirkt, so wie etwa ein Keil, der in einen Körper hineingetrieben 
wird, sondern es werden vielmehr die Fasern der Wurzelhaut infolge ihrer Anordnung 
eine Zugbeanspruchung der Alveolenwände bei Druck auf den Zahn auslösen. 
Dadurch ist eine gewisse Beweglichkeit, eine gewisse Elastizität des Zahnes gewähr- 
leistet, die offenbar nicht nur der normalen Funktion, Entwicklung und Ernährung 
wegen vorhanden sein muß, sondern auch einen plötzlichen und gefährlichen Druck 
auf den Zahn bis zu einem gewissen Grad aufheben kann. Wir können diese Beweglich- 
keit des Zahnes innerhalb der durch den normalen und intakten Aufhängeapparat 
bedingten Elastizitätsgrenze als die normale und physiologische bezeichnen. Der 
Druck wirkt nun entsprechend der Bewegungsmöglichkeit des Uhnterkiefers im 
wesentlichen in drei verschiedenen Richtungen auf den Zahn, u. zw. in vertikaler 
(Heben des Unterkiefers), sagittaler (Vor- und Rückwärtsbewegung) und transver- 
saler (Seitenbewegung) Richtung. Jede dieser Bewegungen ist an sich innerhalb der 
durch den Bau des Kiefergelenks bedingten Richtung und Ausdehnung möglich 


486 P. Kranz und K. Falck. 


praktisch, dh bei den gewöhnlichen Kaubewegungen, äußern sich aber die Kräfte 
nicht einzeln in einer der angegebenen Richtungen, sondern es treten einmal sagittale 
mit vertikalen, dann transversale mit vertikal und sagittal gerichteten Bewegungen 
kombiniert auf. Durch dieses Ineinander-Übergehen der verschiedenen Richtungen 
können starke vertikale Komponenten sich praktisch als transversale oder Dreh- 
momente und anderes auslösende herausstellen. Die Richtung dieses Kaudrucks auf 
einen bestimmten Zahn zu erkennen, ist in vielen Fällen möglich. An den Front- 
zähnen von Individuen mittleren oder höheren Alters findet man häufig sog. Schliff- 
oder Gleitflächen, d.h. an den Schneidekanten zeigen sich gegen labiale oder palatinale 
Seiten der Zähne scharf abgesetzte, wie poliert aussehende Flächen, die dadurch zu 
stande gekommen sind, daß bei der durch den Gebrauch bedingten Reibung der 
Zähne aneinander Abnützung und Substanzverlust entsteht. Der Kaudruck wirkt nun 
auf den Zahn in einer Richtung, die senkrecht 

en zu den Gleit- oder Schliffflächen verläuft. Ent- 

sprechend der Lage, Größe und Ausdehnung der 
Gleitflächen und entsprechend sagittalen, trans- 
versalen und vertikalen Kaudruckkomponenten 
wandert die Richtung des Druckes so, daß je 
nach dem Angriffspunkt der Kraft auch die Be- 
festigung des Zahns schädigende Kipp- und Dreh- 
momente in Wirksamkeit treten können. Normaler- 
weise soll die Befestigung des Zahnes im Kiefer 
so sein, daß Kräfte, die in irgend einer Neigung 
zur Achse des Zahnes wirken, schädigungslos 
aufgenommen werden, solange sie durch die Ein- 
spannstelle des Zahnes, d. h. durch eine Stelle 
gehen, die innerhalb der knöchernen Alveolar- 
wand liegt. In diesem Fall ist ein Kippen bzw. 
Drehen des Zahnes ausgeschlossen, es findet 
lediglich innerhalb der Elastizitätsgrenze allseitiger 
Zug im ganzen Verlauf der Wurzelhaut statt 
(Fig. 118); die innerhalb dieser Grenzen mögliche 





hnes, d o i 
Noral Beltone ena Ist ar Bewegung des Zahnes könnte man als physio- 
`" Stellung des Zahnes (ausweichen) infolge Iogische bezeichnen. 


Falls die Kraftrichtung zur Zahnachse so 
stark geneigt ist, daß sie nicht mehr durch die Einspannstelle geht, erfolgt eine 
starke Zusammenpressung der Wurzelhaut und des Knochens am Alveolarrand. 
Der Zahn kippt um diese Stelle, es entsteht an der entgegengesetzten Seite Druck 
an der Wurzel, und falls abnorme Beweglichkeit bereits vorhanden, übermäßiger 
Zug an dem äußeren Alveolarrand. Die Beanspruchung der Wurzelhaut wechselt 
also von Druck am oberen Alveolarrand zu Zug an der Wurzelspitze auf der 
gleichen Zahnseite (Fig. 119). Liegen die Verhältnisse so, dann ist die Möglichkeit 
für eine pathologische Eigenbewegung des Zahnes gegeben. Im ersten Fall sahen 
wir ein dem allgemeinen Verlauf der Druckrichtung entsprechendes Ausweichen 
des Zahnes, im zweiten Fall eine Hebelwirkung. Darnach ist derjenige Zahn als 
falsch belastet anzusprechen, der so belastet wird, daß die Richtung des Druckes 
außerhalb der Einspannstelle in der knöchernen Alveolarwand fällt, oder kürzer 
ausgedrückt, derjenige Zahn, der als Hebel wirkt, ist falsch belastet. Die falsche 
Belastung tritt dann ein, wenn: 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 487 


1. langandauernde anormale, d. h. eine Hebelwirkung auslösende Kräfte einen 
anscheinend normal gestellten oder einen pervers durchgebrochenen Zahn treffen, 
weil sie in beiden Fällen pathologisch wirken. Die Schädigung wird um so größer 
sein, wenn die Regenerationsfähigkeit des Gewebes nicht mehr derart ist, daß der 
Druckatrophie wirksam begegnet wird, wenn also mit zunehmendem Alter die 
Appositionsfähigkeit zu gunsten der Reduktion gestört ist; 

2. bei krankhaften Prozessen, wie der Alveolarpyorrhöe, eine Lockerung des 
Aufhängeapparates stattgefunden hat, der Knochen eingeschmolzen ist und die Faser- 
bündel der Wurzelhaut dadurch zum Teil ihren Halt verloren haben, d. h. wenn 
der Zahn aus der von der Natur zweckmäßig gebildeten Aufhängung mehr oder 
weniger gelöst und die Anordnung der Widerlager gestört ist; 

3. durch chirurgische Eingriffe so viel von der knöchernen Alveolarwand ab- 
getragen wurde, daß die Druckrichtung außerhalb der Einspannstelle fällt, d. h. wenn 
durch die Operation die Verhältnisse geschaffen werden, 
wie sie der sub 2. genannte pathologische Prozeß 
zeitigt. 

Die Stärke des jeweiligen Druckes für einen be- 
stimmten Zahn zahlenmäßig anzugeben, ist nicht möglich. 
Wir müssen aber damit rechnen, daß dieser Druck unter 
Umständen sehr erheblich sein kann. Entsprechend der 
Neigung der Muskelkräfte zur Drehachse (Kondylenachse) 
und entsprechend der Entfernung der Kraftrichtung der 
Muskelzüge und des Abstandes der Zähne von dieser 
Achse kann an den Molaren etwa das Doppelte der in 
Höhe der Schneidezähne möglichen Kraft ausgeübt werden. 
Eigene Untersuchungen, betreffend Messung der größt- 
möglichen Kaukraft auf Grund der Kaumuskelquerschnitte, 
ergaben eine in Höhe der Schneidezähne überhaupt 
mögliche Kraft von 147:1 kg, in Höhe der dritten Molaren 
von 32516 kg. Daß der absolute Kaudruck, d. h. der 
Druck, der begrenzt ist durch das eben angegebene 
Maximum einerseits und die physiologische Empfindlich- 
keit des Zahnes und der Wurzelhaut anderseits, in allen ` Angie Belastung cines Zahnes mit 
Fällen auftritt, ist nicht anzunehmen. Wahrscheinlicher ` 2 m pr ben ho de 
ist vielmehr, daß der sog. praktische Kaudruck, d. h. der 
Druck, der zum Zerkleinern der Speisen genügt, vorwiegend getätigt wird. Zwischen 
dem oben angegebenen Maximum und einem Minimum von 0 kg liegen die Größen 
für den praktischen Kaudruck, der mit 30—80 kg angegeben wird, jedoch keines- 
wegs eine zahlenmäßig feststehende oder engumgrenzte Kraft zu sein braucht, sondern 
wahrscheinlich vom Individuum, sei es willkürlich oder unwillkürlich, in einer Stärke 
gewählt wird, wie sie zum Zerkleinern und Zermalmen der verschieden festen 
Nahrungsmittel nötig ist. 

Dieser ganze Exkurs über die Stärke des Kaudrucks ist nicht nur deshalb 
wichtig, weil er zeigt, welcher Belastung die Zähne und eine Schiene auch unter 
normalen Verhältnissen, d. h. bei normalem Gebrauch des Gebisses innerhalb der 
Grenzen des praktischen Kaudrucks, ausgesetzt sind, noch viel mehr Widerstand 
erfordern die Zähne und die ihnen angelegten Fixationen, wenn die Kaugrößen 
dem Maximum sich nähern oder es vielleicht sogar erreichen, wie es bei nächt- 
lichem Zähneknirschen, Trismus, krampfartigen Zuständen Hysterischer wohl vor- 


Fig. 119. 





488 P. Kranz und K. Falck. 


kommen kann. Gerade die Knirscher aber stellen eben infolge falscher oder „Über- 
belastung“ ein erhebliches Kontingent der Alveolarpyorrhöekranken. 

Haben wir so in großen Zügen das Indikationsgebiet für eine Schienung festgelegt, 
dann können wir den Grundsätzen, die für die Konstruktion maßgebend sind, nähertreten. 

Außer der großen Zahl von Forderungen, die zahnärztlicherseits an eine 
brauchbare Schiene gestellt werden, Forderungen, die je nach dem Standpunkt der 
Autoren sich ergänzen, zum Teil sich widersprechen, lassen sich etwa drei als die 
wichtigsten und allgemein anerkannten herausschälen und etwa so formulieren: 

l. Soll die Fixation den beim Kauen auftretenden Kräften den größtmöglichen 
Widerstand entgegensetzen. 

2. Soll sie eine weitere Behandlung des Zahnfleisches und der Zähne ohne 
Schwierigkeiten zulassen und damit Hand in Hand gehend die physiologische 
Reinigung durch den Kauakt und die mechanische Reinigung mit Bürste gewähr- 
leisten. Der Wiederherstellung einer normalen Okklusion (Schlußbiß) und Artikulation 
(Bewegungsbiß) darf sie nicht hinderlich sein. 

3. Endlich soll sie nicht allzu auffallend sein. 

Statisch-hygienisch-kosmetische Gesichtspunkte sind also bestimmend, bzw. zu 
vereinigen. 

Die Ausführungen, betreffend Richtung und Kraft des Kaudrucks, geben uns 
eine Antwort auf die Frage nach der Sicherung gegen die schädigenden Einflüsse 
anormaler Kräfte, d. h. solcher Kräfte, die eine Kipp- oder Drehbewegung aus- 
lösen können. Linguale und labiale (Kipp-) Bewegungen sind wegen des geringen 
Widerstands der Wurzelhautfasern relativ leicht möglich, deshalb ist gegen sagittale 
Kräfte in erster Linie zu sichern. In zweiter Linie sind die Wirkungen des trans- 
versalen Drucks auszuschalten, denn durch Zerstörungen der Fasern an den vier 
Kanten der Wurzeln, die sonst dieser (Dreh-) Bewegung direkt entgegenwirken, 
ist der Haupthalt gegen diese Bewegung ausgeschaltet. Der vertikale Kaudruck ist 
deshalb nicht ausschlaggebend, weil er „rein“ wahrscheinlich beim gewöhnlichen 
Kauen nicht auftritt, dann aber auch weil das Hineindrücken eines Zahnes in seine 
Alveole wegen der Keilform der Wurzeln und wegen der zahlreichen und starken 
Aufhängefasern eine sehr schwer auszuführende Bewegung ist, und schließlich hat 
die Erfahrung gelehrt, daß selbst bei gelockerten Zähnen der Knochenhalt und 
damit die Möglichkeit der Faseranheftung an und um die Wurzelspitze relativ immer 
noch am stärksten ist. Wenn man sich nun die Tatsache vergegenwärtigt, daß, je 
größer der Hebelarm, desto größer auch die der Beanspruchung entgegenwirkende 
Stützkraft sein muß, so folgt daraus, daß gegen Kippen der größtmögliche Schutz 
dann gewährt wird, wenn die Schiene möglichst weit in senkrechter Richtung vom 
Alveolarrand — also an der Scheidekante — ansetzt, und daß gegen Verdrehen die 
Sicherung dann am größten ist, wenn die Schiene am Zahn da angreift, wo er in 
horizontaler Richtung am breitesten ist. Ein Übergreifen der Schiene über die 
Approximalseiten ist also zu empfehlen. Schienen der Frontzähne allein ist nicht 
angezeigt, es sollen möglichst die ersten Prämolaren miteinbezogen werden, weil 
sie gänzlich anders gerichteten Druckrichtungen als die Frontzähne unterliegen und 
diesen deshalb eine gewisse Kompensationskraft entgegensetzen. Über die Stärke 
des anzuwendenden Schienenmetalls zu sprechen, hieße eine rein technische Frage 
berühren und kommt daher an dieser Stelle nicht in Betracht. 

Die hygienischen Forderungen lassen sich etwa in folgendem zusammenfassen: 
Eine Schiene muß mit ihren Rändern so genau den Zähnen anliegen, daß sich 
keine Speisereste einklemmen können und keine Caries entstehen kann, sie darf an 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 489 


keiner Stelle bis an den Zahntleischrand heranreichen und muß überall die Möglich- 
keit einer gründlichen Reinigung der Zwischenräume und der Zahnfleischtaschen 
bieten. Beim Sprechen soll sie nicht hinderlich sein und darf nirgends die Zunge, 
Lippe oder Wange stören oder gar verletzen. Das Bestreben muß ferner dahin gehen, 
die geschlossene Zahnreihe einer normalen Okklusion zu erhalten, bzw. zu schaffen, 
eventuell durch geeigneten Ersatz (Prothese oder Brücke). Die normale Okklusion 
tut es aber noch nicht, auch die Artikulation muß möglichst der dem entsprechenden 
Individuum eigenen Kaubewegung angepaßt werden. Diesem Bestreben darf die 
Schiene durch ihre Form und Masse nicht im Wege stehen. 

Die Forderung bezüglich der Kosmetik wird durchaus verschieden beurteilt. 
Während manche auf dem Standpunkt stehen, daß das Aussehen gar keine Rolle 
spielt, wollen andere Konzessionen machen und wieder andere den Hauptwert darauf 
gelegt wissen. Es ist dies jedoch ein Punkt, dessen Annahme oder Ablehnung im 
wesentlichen davon abhängt, inwieweit die Konstruktion einer auf das gute Aus- 
sehen berechneten Schiene sich mit den Forderungen der Stabilität und Hygiene 
vereinigen läßt, und wo auch Wünsche der Patienten, bei denen allzu viel sicht- 
bares Gold im Munde beruflich oder in anderer Weise störend wirkt, berücksichtigt 
werden müssen. Die Eigenart des Bisses, Größe, Form, Zustand der Zähne, Lücken 
im Gebiß spielen ebenfalls bei dieser Frage noch eine Rolle, kurzum eine eingehende 
Behandlung dieser Frage würde nicht mehr im Rahmen dieser Betrachtung liegen, 
die lediglich dem Arzt einen Anhaltspunkt über die Hauptrichtlinien für Indikation 
und Konstruktion geben soll. Über die Einzelfragen mit einem Zahnarzt zu verhandeln, 
wird sie jedoch nach dem bis jetzt Angeführten und nach den noch folgenden prak- 
tischen Beispielen eine geeignete Unterlage abgeben. 

Was die Wahl des Materials anbelangt, so ist die allgemeine Ansicht die, daß ` 
entweder nur ein hochkarätiges Gold (nicht unter 750/000) oder Platin für Schienen 
angezeigt ist. Die Ersatzmetalle für Gold, die in der Nachkriegszeit unserer wirt- 
schaftlichen Verhältnisse wegen für andere technische Arbeiten verwendet wurden, 
haben sich für Schienungszwecke nicht bewährt. 

Wenn im folgenden einige der gebräuchlichsten Fixationen beschrieben werden, 
so soll und kann das Thema auch nicht annähernd erschöpfend behandelt sein. 
Eine für alle Fälle geeignete Schienung gibt es nicht und kann es nicht geben. 
Jeder besondere Fall erfordert eine ihm eigene und geeignete Behandlung, denn 
außer den schon genannten Erwägungen bezüglich der zweckmäßigen Vereinigung 
statisch-hygienisch-kosmetischer Gesichtspunkte ist auch vor Anfertigung einer Be- 
festigung die Sensibilität und die wirtschaftliche Lage des Patienten zu berücksichtigen. 
Zuletzt, doch nicht am letzten, spricht die Geschicklichkeit des Zahnarztes, der eine 
Schiene anfertigt, auch ein gewichtiges Wort mit, denn die Anfertigung dieser 
Halteapparate stellt mehr Anforderungen an die Fertigkeit und Erfahrung des 
Herstellers als irgend eine andere zahnärztlich-technische Leistung. 

Unter drei Gruppen kann man, wenn der Halt für die Schiene an den Zähnen 
als Kriterium gilt, die Fixationen bringen, u. zw. würden dann in der 

1. Gruppe alle diejenigen Apparate stehen, die in den Kronen, bzw. Wurzel- 
pulpen verankert sind; die 

2. Gruppe würde diejenigen umfassen, deren Befestigung in die Substanz des 
Zahnes verlegt ist, und als 

3. Gruppe endlich hätten dann die Schienen zu gelten, die den Zähnen nur 
anliegen, bei denen also im Gegensatz zu den ersten beiden Gruppen überhaupt keine 
oder nur verschwindend wenig Substanz geopfert zu werden braucht. 


490 P. Kranz und K. Falck. 


Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der ersten und den beiden anderen 
Gruppen besteht noch darin, daß bei jener unter allen Umständen eine Abätzung 
der Pulpa vorgenommen werden muß, während sie bei diesen zwar erfolgen kann, 
aber nicht erfolgen muß. Das Abätzen der Pulpa wird vielfach als Prinzip ver- 
fochten, u. zw. sollen durch den mit dem Abätzen und durch den mit dem Wurzel- 
füllungsmaterial gesetzten Reiz periapikale Hyperplasien des Zementes hervorgerufen 
werden und dadurch allein schon die vorher gelockerten Zähne eine relative Festig- 
keit wiedererlangen. Diese Frage ist jedoch noch keineswegs eindeutig beantwortet. 
Den Erfahrungen der einen Seite stehen die Beobachtungen der anderen Richtung 
entgegen.’ Wenn der in letzter Zeit — namentlich von amerikanischer Seite — ver- 
tretene Standpunkt, jeder tote Zahn berge die Gefahr einer Allgemeininfektion in 
sich, zweifellos über das Ziel hinausschießt, so ist doch die Möglichkeit von Schädi- 


Fig. 120a. Fig. 1205. 





Schiene nach dem Rhein-Mamlokschen 


? rinzip (schematisch). 3 Die der palatinalen bzw. lingualen Seite der Zähne 
Eröffnung und Erweiterung der Wurzelkanäle zur anliegende Seite der Rückenplatte mit den in die 
Aufnahme der Wurzelstifte (s. Fig 1035). Die von Wurzelkanäle zu versenkenden Stifıen. 


median nach distal ziehenden Querrillen gewähren 

nach dem Einsetzen von gestanzten bzw gegossenen 

Rückenplatten einen gewissen Schutz gegen drehende 
Bewegungen. 


Fig. 120c. 





Schiene in situ von lingual bzw. palatinal gesehen. 


gungen des Organismus durch tote und mangelhaft gefüllte Wurzeln schon deshalb 
nicht von der Hand zu weisen, weil die Erfahrung bewiesen hat, daß nach Extraktion 
solcher Zähne Allgemeinerkrankungen geheilt werden konnten. Man wird deshalb 
nicht ohne zwingenden Grund wahllos gesunde Pulpen devitalisieren, namentlich 
dann nicht, wenn kosmetische Rücksichten nicht unbedingt für die Anfertigung einer 
Schiene der ersten Gruppe sprechen oder wenn nicht die durch das Freiliegen der 
Wurzeln vorhandene Empfindlichkeit des Zahnes gegen thermische oder chemische 
Einflüsse die Maßnahme rechtfertigt. 

Ein Beispiel der ersten Gruppe zeigt Fig. 120a, b, c. Man bezeichnet die Fixation 
als eine nach dem Rhein-Mamlokschen Prinzip. 

Diese Schiene ist in kosmetischer Hinsicht die vollkommenste dann, wenn 
zwischen den Zähnen keine anormal großen Lücken sind. 

Die Forderungen der Hygiene werden von dieser Schiene ebenfalls dann 
erfüllt, wenn sie zur Befestigung verhältnismäßig normal stehender Zähne dient. 
An unteren Frontzähnen setzt sie der Wiederherstellung einer normalen Artikulation 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 491 


überhaupt keine, an oberen Frontzähnen in den meisten Fällen auch nicht oder 
doch leicht zu überwindende Schwierigkeiten entgegen. 

In statischer Beziehung erfüllt sie nur mit gewissen Einschränkungen die 
erforderlichen Bedingungen. 

An Patient und Operateur stellt die Anfertigung einer derartigen Schiene 
keine allzugroßen Anforderungen und sie ist deshalb da indiziert, wo sich die 
vorstehend genannten Forderungen verwirklichen lassen. 

In der zweiten Gruppe finden wir Schienen, deren Halt in die Substanz der 
Zahnkrone gelegt ist. Die eine Methode besteht in dem Beschleifen der Zähne 
derart, daß ein mittlerer oberer Frontzahn etwa die Form erhält, wie das Schema 
in Fig. 121a, b, zeigt. In diese Cavität hineingepreßtes Wachs wird so modelliert, daß 


Fig. 121a. 


Fig. 121 b. 





Ausschleifen eines Inlayschiene in situ 

Zahnes für eine von labial gesehen. 
Inlayschiene 
(schematisch) 


die frühere Zahnform annähernd wiederersteht. Das Wachsmodell wird in Gold 
gegossen und eine Vielheit derartiger „Inlays“ zu einem Ganzen vereinigt, ergibt 
schließlich die Schiene. Diese Schienungsmethode ist kosmetisch nicht so voll- 
kommen wie die vorhin genannte, hygienisch ist sie einwandfrei, der Artikulation 
ist sie auch nicht hinderlich, weil durch den erheblichen Substanzverlust der Zähne 
hinreichend Raum geschaffen wird. In statischer Beziehung ist ebenfalls nichts dagegen 
zu erinnern, jedoch setzt das reibungslose Anliegen einer solchen Schiene in toto 
eine Parallelität sämtlicher ausgeschliffenen Flächen voraus. Die Schiene wird im 
allgemeinen da angezeigt sein, wo ein reibungsloses Anliegen ermöglicht wird, sie 
setzt starke, nicht erheblich cariöse Zähne voraus. Lückengebiß geringen Grades ist 
kein Hinderungsgrund, im Gegenteil kann durch geeignetes Modellieren des Wachs- 
modells dieser Zustand bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen werden. Nicht 
unerwähnt soll aber bleiben, daß die Herstellung einer derartigen Fixation an die 
Ausdauer und Nerven des Patienten ganz erhebliche Anforderungen stellt, und daß 
sie mehr als irgend eine andere Schiene Erfahrung und technische Fertigkeit des 
Zahnarztes verlangt. 

Eine andere Methode dieser Gruppe ist die Befestigung durch eine sog. 
W olffsche Schraubenschiene (Fig. 122a und b). Kosmetisch ist diese Schiene durchaus 
einwandfrei, auch hygienisch ist — einigermaßen normal stehende Zähne vorausgesetzt 
— nichts gegen sie einzuwenden. Divergenz der Zähne spielt keine Rolle, doch müssen 
sie kräftig und nicht cariös sein. An unteren Frontzähnen ist sie der Artikulation nicht 
hinderlich, an oberen Zähnen kann tiefer BiB die Anfertigung nicht zulassen. Gegen 
kippende Kräfte sichert sie vollkommen, dagegen nicht in derselbe Weise gegen 
drehende Kaudruckkräfte. Die Gefahr der Sprengung eines Zahnes beim Anlegen 
dieser Fixation ist aber groß. Die Anfertigung dieser Schiene kann ohne große 


492 P. Kranz und K. Falck. 


Schwierigkeiten auch bei sensiblen Patienten vorgenommen werden, die technische 
Herstellung verlangt aber immerhin schon eine verhältnismäßig große Geschicklichkeit. 

Wir kommen nun zu den letzten hier anzuführenden Befestigungsarten, Methoden 
der Befestigung, die ein Abätzen der Pulpen nicht erfordern und die auch des gering- 











a b 
Wolffsche Schraubenschiene. (Aus ar 
a Längsschnitt durch einen Frontzahn. Die Schraube wird an eine 
ge ossene Rückenplatte aufgelötet. Durch Anziehen der in den 
n versenkten Schraubenmutter wird der Zahn an der Platte 
fixiert; b zeigt das Anlegen dieser Schiene. 


fügigen Abschleifens der Zähne wegen nicht zu einer Irritation oder gar zu unbeab- 
sichtigtem Freilegen der Pulpen führen, wie das bei der Präparation der Zähne für 
eine der unter der zweiten Gruppe genannten Schienen doch immerhin leicht möglich 


Fig 123. 





Ringschiene in situ. Halbkronen auf Molaren. Ersatz der fehlenden Zähne durch Goldguß 
(Brücke) bzw. Porzellanzahn. 


ist. Um die zu befestigenden Zähne werden Ringe aus dünnem Goldblech oder 
Platin gelegt, die an den Innenflächen der Zähne bis zur Schneidekante reichen, 
an der facialen Seite dagegen schmäler gehalten sind, wie Fig. 123 zeigt. Von allen 
Schienen sehen diese Ringschienen am wenigsten schön aus, jedoch kann man durch 


gege | 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 493 


Ausschneiden eines Stückchens des Ringes auf der labialen Fläche den kosmetischen 
Effekt verbessern, ohne dadurch die Stabilität wesentlich zu beeinträchtigen. In 
hygienischer’ sowie in statischer Beziehung ist sie durchaus vollkommen. Cariöse 
Zähne sind kein Hinderungsgrund. Für Lücken- und Preßgebiß ist sie gleich gut 
geeignet. Auch empfindliche Patienten brauchen die Anfertigung dieser Art Schiene 
nicht zu scheuen, die technische Herstellung ist einfacher als eine der früher genannten. 
Fin Haupthinderungsgrund für die Anlegung einer derartigen Schiene liegt in der 
möglichen Störung der Artikulation, die namentlich für obere Frontzahnschienen in 
den meisten Fällen zur Kontraindikation wird. 

Wenn bisher immer nur von der Wiederbefestigung gelockerter Frontzähne 
gesprochen wurde und die Schienung gelockerter Backen- und Mahlzähne ganz 
außer acht gelassen wurde, so geschah das hauptsächlich aus dem Grunde, weil die 
Methoden der Backenzahnschienung erheblich einfacher sind, denn die Forderungen 
bezüglich der Kosmetik treten gegenüber denen der Stabilität und Hygiene vollständig 
zurück. | 

Die Schienung von Prämolaren und Molaren erfolgt durch Goldgußfüllungen, 
Voll- und Halbkronen. Für die Wahl der Befestigung durch zusammengelötete 

nlays (Goldgußfüllungen) würde ein eventuell cariöser Zustand der Zähne sprechen, 

doch ist dabei zu berücksichtigen, daß mit der wachsenden Ausdehnung der Schiene 
die Möglichkeit einer reibungslosen Adaption geringer und dadurch die Gefahr des 
Sprengens eines Zahnes durch gewaltsames Eindrücken größer wird. Das ist einmal 
in der schwieriger zu erreichenden Parallelität der Zähne begründet und dann auch 
so erheblichen technischen Schwierigkeiten unterworfen, daß ihnen auch der 
gewandteste Operateur nicht immer gerecht werden kann. Mit dem Mangel an 
Übersicht, den uns das Operationsfeld an Backenzähnen gegenüber den Frontzähnen 
bietet, wird auch ein präzises Arbeiten erschwert. Der Überkappung der Backenzähne 
durch Vollkronen stehen insoferne Bedenken entgegen, als nach deren Anlegung 
eine Behandlung und Sauberhaltung des Zahnes und des Zalınfleisches erschwert, 
wenn nicht unmöglich gemacht wird. Außerdem ist zu bedenken, daß jede Voll- 
krone einen Reiz bedeutet, der schon bei gesunden Zähnen und gesundem Zahn- 
fleisch oft unangenehm empfunden wird, bei alveolarpyorrhoisch erkrankten aber 
unter Umständen eine Heilung ausschließt. Es erscheint daher zweckmäßiger, als 
Befestigungsglieder einer Backenzahnschienung Halbkronen zu wählen, die die Möglich- 
keit einer nachträglichen Reinigung der Zahnhälse und Behandlung des Zahnfleisches 
besser zulassen. Die Anfertigung von Vollkronen sollte nur auf bestimmte, technisch 
oder aus anderen Gründen notwendige Fälle beschränkt bleiben. 

Wenn nun auch die Indikationsstellung für eine Schiene nicht schwierig ist, 
so dürfte doch die Frage, welches System der Schienung für einen gegebenen Fall 
als das beste angesehen werden muß, nicht immer leicht zu entscheiden sein. Es 
wurde schon angeführt, welche Momente dabei zu beachten sind, und festgestellt, 
daß es ein für alle Fälle geeignetes System nicht gibt und nicht geben kann. Wir 
können noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, daß vielfach zur Befestigung 
einer Zahngruppe desselben Mundes Kombinationen und Modifikationen verschie- 
dener Methoden erforderlich sind, um etwas Zweckentsprechendes zu schaffen. 

Die Beschreibung eines Falles mag die Abhandlung beschließen (Fig. 124a und b). 
Ein Patient, der wegen Verlustes sämtlicher Zähne des Oberkiefers bereits eine 
Kautschukprothese trägt, hat im Unterkiefer noch 10 („P — P,) schwer alveolarpyor- 
rhoisch erkrankte Zähne. Die beiden zweiten Prämolaren ebenso wie rechter mittlerer 
und seitlicher Schneidezahn sind bereits so gelockert, daß sie extrahiert werden müssen. 


494 P. Kranz und K. Falck. 


Die übrigen ebenfalls schon bedenklich gelockerten, mit reichlichem Zahnstein- 
inkrustationen bedeckten Zähne sollen unter allen Umständen erhalten werden, einmal 
um der anzufertigenden Unterkieferprothese als Stütze durch Klammi£rbefestigung 
zu dienen und auch um den erst 30jährigen Mann nicht seiner letzten Zähne zu 
berauben, da die Erfahrung gelehrt hat, daß Individuen jugendlichen oder mittleren 
Alters unter dem Verlust sämtlicher Zähne psychisch leiden. Die beiden ersten 
Prämolaren wurden mit Vollkronen deshalb versehen, weil an diesen der Klammer- 
halt der unteren Prothese erfolgte. Halbkronen wären in diesem Fall und aus diesem 
Grund nicht angezeigt gewesen. In dem in Fig. 124a abgebildeten Fall stehen beider- 
seits noch die ersten Molaren, die mit Halbkappen versehen wurden, weil hier von 
der Anfertigung eines Unterstücks abgesehen wurde. Die beiden Eckzähne im Fall 
Fig. 1245 wurden nach Rhein-Mamlok geschient, weil die beiden Eckzähne zuein- 
ander relativ parallel standen, und weil die stark gewölbten Aproximalseiten der 


Fig. 1245. 


Fig. 124a. 





Das Röntgenbild zeigt die Zahn- Die Schiene von labial ehen. Vollkronen um die 
steinablagerungen und den totalen beiden I Prämolaren, Eckzähne Schienungsmethode 
Knochenschwund um den mittleren ; nach Rhein-Mamlok, rechte Schneidezähne (die 

rechten unteren Schneidezahn. extrahierten des Patienten) i in Gold gefaßt und in die 


Schiene eingefügt, linke Schneidezähne Schienungs- - 
methode, ausgeschnittene Ringe. 


Eckzähne zuviel beschliffen hätten werden müssen, um diese Seiten zueinander 
parallel zu bekommen. Die Divergenz der Schneidezähne zu den Eckzähnen war 
jedoch so, daß hier von dem Rhein-Mamlokschen Prinzip abgegangen werden 
mußte und die Ringschienenbefestigung gewählt wurde mit der Modifikation des 
Herausschleifens eines Teiles des Ringes an der labialen Seite. Die eigenen, mit 
Gold an der labialen Seite durchgehend um die Basis herum gefaßten Zähne wirken 
kosmetisch besser als die künstlichen (Porzellan-) Zähne. Im Fall Fig. 106 ist der 
fehlende linke seitliche Schneidezahn mit einem Porzellanzahn und die beiden rechten 
fehlenden Prämolaren durch Goldguß in der Weise ersetzt, daß die Approximalseiten 
an dem Halsteil vom ersten Molar- und Eckzahn sowohl, wie auch der zwischen 
diesen beiden Zähnen liegende Alveolarrand freiblieben (Schwebebrücke). Nach dem 
Einsetzen der Schiene mit Phosphatzement im Fall Fig. 107, Aufklappung nach 
Neumann und nach Verheilung der Schleimhaut Anfertigung einer unteren Prothese 
auf Metallbasis mit Klammerbefestigung an den beiden ersten Prämolaren. Sistierung 
der Eiterung, Ruhestand der geschienten Zähne, Heilung. 


Literatur. Adloff, Viert. f. Zahn. 1921. — Bodo, Viert. f. Zahn. 1923, H. 2. — Bonis, 
PO OR 1923, H. 9. — Cieszynski, D. Mon. f. Zahn. 1923, H. 4. — Euler, Viert. f. Zahn. 1923, 
1. — Fleischmann u. Gottlieb, Österr. Ztschr. f. Stomatologie 1920, H.2. — Gottlieb, 
etdi 1923, H. 4; D. Mon. f. Zahn. 1921, H. 5. — Greve, Jahresk. f. ärztl. Fortb. 1919. — Hille, 
D Mon. f. Zahn. 1921, H. 10; Zahnärztl. Rundschau 1923, H. 47--50. — Hopewell u. Smith, 


Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung. 495 


Dental Cosmos 1911, LIHI. — Kranz, D. Mon. f. Zahn. 1919, H. 4 u. 5. — Kranz u. Falck, 
Alveolarpyorrhöe, ihre Ätiologie, Pathologie und Therapie, Meusser, Berlin 1922. — Löffler, Viert. 
f. Zahn. 1922. — Loos O., Über atrophische und dystrophische Zustände am Zahnfortsatz, Vortrag 
in Köln 16. Sept. 1921 ; Zahnfleischentzündung und Wurzelhautentzündung, Vortrag in Hamburg 
März 1922. Historisches und Pathologisches zur Entstehung und Behandlung der chronischen alveolären 
Wurzelhautentzündung, Vortrag in Kassel 1922. Erg. d. ges. Zahn. 1923, H. 2-4; Die chirurgische 
Behandlung bei den sog. Paradentosen. Vortrag bei der Zentralvereinstagung München August 1924. — 
O. Müller, Schweiz. Mon. f. Zahn. 1923, H. 1. — Neumann, Die Behandlung der sog. Alveolar- 
pyorrhöe, Meusser, Berlin, 1924. — Römer, Verhandlungen des 5. internationalen zahnärztlichen 
ongresses 1909, Scheffs Handb. 1909; Centralvereinigung Leipzig 1920. — Seidel, D. Zahn. in 
Vorträgen, H.41. — Sonn, Österr.-ungar. Viert. f. Zahn., Okt. 1913. — Struck, D. Mon. f. Zahn. 1914. 
H 4 u. 1918, H.2. — Weski, Viert. f. Zahn. 1921 u. 1922. — Widmann, Viert. f. Zahn. 1923, 
H. 1, Über die chirurgische Behandlung der Alveolarpyorrhöe; Zahnärztl. schwed. Ztschr. 1917 u. 1918, 
Das Literaturverzeichnis enthält die wichtigeren Arbeiten der letzten Jahre, auf Vollständigkeit 
macht es keinen Anspruch. 


Tuberkulose und Auge. 


Von Dr. A. Meesmann, Privatdozent und erster Assistent der Universitätsaugenklinik 
der Charite, Berlin. 


Mit 6 Abbildungen im Text und 2 farbigen Tafeln. 





Allgemeines zur Diagnose der Augentuberkulose. 


Die Erkenntnis, daß der Tuberkulose in der Ätiologie vieler Augenerkrankungen 
eine überragende Bedeutung zukommt, verdanken wir erst den letzten Jahrzehnten. 
Namentlich durch die anfangs viel umstrittenen Arbeiten v. Michels wissen wir, 
daß es fast kein Gewebe des menschlichen Auges gibt, das nicht an Tuberkulose 
erkranken kann. v. Michel gelang es, in einer Iris von ganz atrophischem Aus- 
sehen, in der klinisch keinerlei Knoten zu sehen gewesen waren, anatomisch Tuberkel- 
knötchen nachzuweisen. Die Bedeutung dieses Befundes lag in dem Hinweis, daß 
die plastische und „seröse* Iritis auf der Entwicklung knötchenförmiger Herde be- 
ruht, die sich der makroskopischen Wahrnehmung völlig entzogen, also einer Er- 
krankungsform, die klinisch so gar nicht mit der Vorstellung übereinstimmte, die man 
aus den histologischen Befunden tuberkulöser Herde in anderen Organen gewonnen 
hatte. Wenn auch heute infolge der wesentlichen Verfeinerung unserer Untersuchungs- 
methoden diese Diskrepanz nicht mehr in dem Ausmaße besteht, wie damals, so 
sind doch die Schwierigkeiten in der ätiologischen Diagnosenstellung durchaus 
nicht beseitigt. So ist z. B. die primäre Knötchenform der Iritis durchaus nicht ab- 
solut charakteristisch. Auch bei nicht tuberkulöser Ätiologie kommen Knötchen 
gleicher Form, Größe und Anordnung in der Iris vor. Dazu kommt, daß in der 
Überempfindlichkeitsepoche die akuten Entzündungen im Vordergrund stehen, die 
wenig oder gar nichts Charakteristisches haben. Sie bestehen in diffusen Iridocycli- 
tiden, periphlebitischen Prozessen in der Retina u. a, während die Spätformen 
namentlich der Iridocyclitis wieder viel Ähnlichkeit mit den frühen Erkrankungs- 
formen haben und durch wiederholte Rezidive ausgezeichnet sind. Es läßt sich also 
sagen, daß nur in Ausnahmefällen das klinische Bild der Augentuberkulose ein so 
typisches ist, daß sich daraus allein mit Sicherheit eine ätiologische Diagnose stellen 
läßt. Es kann nicht nur eine Knötcheniritis tuberkulös sein, sondern es gibt auch 
diffuse uncharakteristische Formen dieser Ätiologie, während andererseits glasige 
graue Knötchen in der Bindehaut oder Regenbogenhaut durchaus nicht immer durch 
"Tuberkelbacillen hervorgerufen zu sein brauchen. 

Eine exakte Diagnose ist durch den Nachweis säurefester Bacillen 
im Abstrich oder Schnittpräparat zu gewinnen. Bei äußeren Erkrankungen, 
namentlich der Lider und Bindehaut, wird sich das dazu notwendige Material meist 
leicht beschaffen lassen. Bei -Tuberkulose des inneren Auges wird man aber das zur 
Untersuchung notwendige Material nur in Ausnahmefällen, etwa durch Iridektomie, 
gewinnen können. Aber auch hier bestehen erhebliche Schwierigkeiten. Axenfeld 
und Peppmüller haben z. B. 120 Serienschnitte auf Tuberkelbacillen erfolglos 


Tuberkulose und Auge. 497 


untersucht, fanden sie aber in den darauffolgenden. Während daher ein positiver 
Ausfall der Untersuchung einem Zufallserfolg recht nahe kommen kann, beweist 
ein negativer durchaus nichts, denn er schließt nicht die Möglichkeit aus, daß die 
Bacillen aufgelöst sind oder ihre Färbbarkeit verloren haben. Während in frischen 
Herden Tuberkelbacillen reichlich vorhanden sind, werden sie in älteren immer 
spärlicher, so daß sie sich dem mikroskopisch-anatomischen Nachweis völlig ent- 
ziehen können. Auch scheint die Annahme berechtigt, daß gewisse Formen der 
Tuberkulose rein toxischer Natur sind oder auch nur durch Bacillensplitter her- 
vorgerufen werden. 

Eine wesentliche diagnostische Bedeutung haben Impfversuche gewonnen. 
Am besten bringt man das zu überimpfende, auf Tuberkulose verdächtige Material 
in die vordere Kammer eines Kaninchen- oder Meerschweinchenauges. Bei flüssiger 
Suspension benutzt man mit Vorteil eine Pravaz-Spritze. Handelt es sich um Ge- 
websstücke, etwa um ein durch Iridektomie gewonnenes Stück Regenbogenhaut, so 
eröffnet man die Vorderkammer des Tierauges durch einen Lanzenschnitt und schiebt 
das Stückchen mit einer zahnlosen Irispinzette oder einem Irisspatel in die Kammer 
hinein. Ein Teil so behandelter Augen geht durch Sekundärinfektion an Panophthalmie 
zu grunde. In anderen entwickelt sich ein relativ typischesBild. Nach einer Inkubations- 
zeit, die je nach der Virulenz der Tuberkelbacillen verschieden ist, mindestens aber 
. etwa 10—11 Tage dauert, entwickeln sich in der Iris, besonders schön am Pupillar- ` 
saum, grau-gelbe Knötchen, die allmählich an Zahl und Größe zunehmen. Schwellung 
und Hyperämie der Iris kann verschieden stark ausgeprägt sein. Unter fort- 
schreitender äußerer-Reizung trübt sich die Hornhaut und meist kommt es zu einer 
Perforation am Limbus oder in der Ciliarkörpergegend, der nicht selten ein Ab- 
heilen des Prozesses folgt. Der ganze Vorgang dauert mehrere Monate. Eine All- 
gemeininfeklion tritt nur ausnahmsweise auf. Anatomische und bakteriologische 
Untersuchung lassen sich zur weiteren Sicherung der Diagnose leicht ausführen. 
Intraperitoneale oder subcutane Überimpfungen, am besten beim Meerschweinchen, 
erfordern Tötung und Obduktion des Tieres nach 6-7 Wochen. So einwandfrei 
bei positivem Ausfall der Tierimpfung die Diagnose der Tuberkulose zu stellen ist, 
so läßt ein negativer doch keineswegs diese Ätiologie sicher ausschließen. 

Bei der histologischen Untersuchung durch Probeexcision entnommenen 
Materiales lassen sich oft die typischen, umschriebenen, gefäßlosen Tuberkel erkennen, 
deren genauere Beschreibung sich erübrigt. Der diagnostische Wert ihrer Feststellung 
erfährt zunächst eine gewisse Einschränkung dadurch, daß auch bei nicht tuberkulöser 
Ätiologie Veränderungen von ganz dem gleichen histologischen Aussehen auftreten 
können. Dem Ophthalmologen am bekanntesten ist das Chalazion, dessen anatomische 
Struktur völlig der eines Tuberkels gleicht, als dessen Ursache die Tuberkulose aber 
nicht in Frage kommt, da der Bacillennachweis bisher in keinem Falle gelungen 
ist. Ebenso ist das Auftreten von Riesenzellen nicht an die Anwesenheit von Tuberkel- 
bacillen gebunden. Sie finden sich auch bei Syphilis, Lepra, in Sarkomen und als 
Fremdkörperriesenzellen. Dazu kommt, daß die Lehre von der specifischen Struktur 
der tuberkulösen Gewebsveränderung heute nicht mehr allgemeine Gültigkeit hat. 
Durch die ausgedehnten Untersuchungen Stocks wissen wir, daß sich durch hämato- 
gene Infektion beim Tier ganz atypische Veränderungen erzeugen lassen, deren 
anatomisches Aussehen, abgesehen von der Anwesenheit virulenter Tuberkelbacillen, 
nichts für Tuberkulose Specifisches hat. 

Das wichtigste diagnostische Hilfsmittel ist die Tuberkulinprobe, die für den 
Praktiker besonders deswegen an Bedeutung gewinnt, weil sie sich ohne besondere 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 32 


498 A. Meesmann. 


Hilfsmittel. ausführen läßt. Bei der Bewertung dieser Proben muß man daran fest- 
halten, daß eine positive Stich- oder Allgemeinreaktion zunächst nichts weiter 
beweist, als daß im Körper irgendwo ein reaktionsfähiger tuberkulöser Herd vor- 
handen ist. Solche Herde können aber bekanntlich bei einer großen Zahl von Patienten 
völlig symptomlos verlaufen, so daß der positive Reaktionsausfall in Bezug auf eine 
Augenaffektion nur mit Einschränkung zu verwerten ist. Wichtiger ist die Herd- 
reaktion. Wir sind am Auge in der glücklichen Lage, letztere sehr genau beobachten 
zu können. Aber selbst bei Benutzung des Zeisschen Binokularmikroskopes werden 
wir eine Herdreaktion in sehr vielen Fällen vermissen. Nach Heine ist nur in einem 
Viertel der Fälle die Reaktion so deutlich, daß sie sich diagnostisch sicher verwerten 
läßt. Bei anscheinend sicherer Tuberkulose kann die Herdreaktion fehlen, ander- 
seits kann eine Rötung des gesunden Auges auftreten, während das kranke un- 
verändert bleibt. 

Noch eine zweite Herdreaktion ist bekannt. Sie tritt namentlich bei den 
Übergangsformen zwischen skrofulösen und tuberkulösen Augenerkrankungen auf 
und besteht in einem merklichen Nachlassen des Entzündungsreizes für ein bis 
mehrere Tage bei gleichzeitig positiver Allgemeinreaktion. Diese Ablassungs- 
reaktion wurde von Heine als nicht absolut specifisch bezeichnet. Man beobachtet 
ganz entsprechende Erscheinungen auch bei interkurrenten, fieberhaften Erkran- 
kungen, Erysipel, Bronchopneumonie ua: sie läßt sich auch durch intramuskuläre 
Milchinjektionen erzielen. Trotzdem ist die erhebliche diagnostische Bedeutung der 
Tuberkulinreaktion nicht zu leugnen, wobei natürlich immer ein exakter Allgemein- 
befund unterstützend mitzuwirken hat. | 

Für die specifische Diagnostik stehen uns die cutanen und subcutanen 
Injektionen zur Verfügung. Vor der konjunktivalen Tuberkulininstillation 
der Ophthalmoreaktion nach Wolff-Eisner, Calmette zu warnen, dürfte heute 
kaum noch nötig sein. Während Calmette bei über 10.000 Patienten keinerlei 
Schädigungen gesehen haben will, kamen sehr bald nach der Weiterverbreitung 
dieser Methode namentlich von augenärztlicher Seite Berichte über bleibende 
Benachteiligung der Augen, auch bei einwandfrei ausgeführter Technik. Außerdem 
wies Wolff als erster darauf hin, daß bei therapeutischer Tuberkulinanwendung in 
manchen Fällen die Ophthalmoreaktion wieder aufflackert, u. zw. in einem Grade, 
der das Aussetzen der Tuberkulintherapie notwendig macht. Es muß daher heute 
als selbstverständlich bezeichnet werden, daß der strikt ablehnende Standpunkt, wie 
ihn seinerzeit A. v. Hippel vertreten hat, der allein gültige ist. Der Augenarzt wird 
sich hüten, eine diagnostische Methode anzuwenden, bei der er einerseits dem an 
sich schon schwer geschädigten Auge noch mehr schaden, anderseits für die Diagnose 
nichts gewinnen kann, da ein positiver Ausfall der Reaktion ebenso gut durch einen 
tuberkulösen Herd an einer anderen Körperstelle bedingt sein kann. 

Die Cutanreaktion hat für die Ophthalmologie nur untergeordnete Bedeutung. 
Sie kommt nur bei kleinen Kindern in Frage, bei denen sich im allgemeinen der Ausfall 
der Pirquetschen Reaktion mit der einer nachfolgenden subcutanen Injektion deckt 
Bei Erwachsenen ist sie durchaus unzuverlässig. Nach A. v. Hippel fiel sie in einzelnen 
Fällen negativ aus, bei denen mit subcutaner Tuberkulinprobe eine Augentuberkulose 
nachgewiesen werden konnte. Besondere Erwähnung erfordern die Untersuchungen 
Koellners an der Universitätsaugenklinik in Würzburg über die Beziehungen zwischen 
den ekzematösen Augenerkrankungen und der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut. 
Daß zwischen den typischen ekzematösen Eruptionen der Binde- und Hornhaut und 
der Tuberkulose Beziehungen bestehen, ergibt sich aus dem hohen Prozentsatz 


Tuberkulose und Auge. 499 


(90—-95%) der nach Pirquet positiv Reagierenden. Koellner konnte nachweisen, 
daß die Neigung zu phlyktänulären Erkrankungen in überraschender Weise von 
der Tuberkulinempfindlichkeit der Haut abhängig ist. Im Zustande der Anergie, d. h. 
beim Sinken und Aufhören der Tuberkulinempfindlichkeit klingen die ekzematösen 
Erscheinungen am Auge schnell ab, während sie bei Zunahme der Tuberkulin- 
empfindlichkeit, im Zustande der Allergie, erneut auftreten oder sich verschlimmern. 

Die wichtigste Tuberkulinprobe für die specifische Diagnostik tuberkulöser 
Augenkrankheiten ist die subcutane Injektion. Sie wurde von A. v. Hippel in 
die Augenheilkunde eingeführt und in der Folgezeit von vielen namhaften Ophthalmo- 
logen nachgeprüft und empfohlen. Sie ist heute jedem Augenarzt ein unentbehr- 
liches Hilfsmittel in der Tuberkulosediagnostik geworden. Gerade ihr verdanken wir 
die Erkenntnis der außerordentlichen Bedeutung, die der Tuberkulose in der Ätiologie 
der Augenerkrankungen zukommt. Wer sie nicht anwendet, muß natürlich zu einer 
weit größeren Zahl ätiologisch ungeklärter Fälle kommen. Man sehe darauf die 
älteren Statistiken an, bei denen die Tuberkulose unter den Gesamtaugenfällen nur 
0:02—008% ausmacht, während spätere Zusammenstellungen, z. B. die der Straß- 
burger Klinik unter den Iritiden 232%, die von v. Michel 368% Tuberkulosen 
aufweisen. 

Bei richtiger Anwendung ist die diagnostische Tuberkulininjektion in der 
Augenheilkunde als unschädlich zu bezeichnen. Auszuschalten sind Fälle, bei 
denen Neigungen zu intraokularen Blutungen bestehen, also namentlich die Peri- 
phlebitis retinalis, bei der ausgedehnte Hämorrhagien in die Netzhaut und den 
Glaskörper im Vordergrund der Krankheitssymptome stehen. Hierbei sind erhebliche 
Verschlechterungen durch Tuberkulinanwendung des öfteren beobachtet worden. 
Bei Iridocyklitiden gehören Blutungen zu den Seltenheiten. Schädliche Folgen der 
Herdreaktion ist bei ihnen kaum zu befürchten. Im Gegenteil ist die lokale stärkere 
Hyperämie oft der Anstoß zur Resorption und Ausheilung der tuberkulösen Prozesse. 
Ebenfalls günstig ist natürlich die erwähnte Abblassungsreaktion zu beurteilen. 

Auf Grund der subcutanen Tuberkulinreaktion lassen sich die phlyktänulären 
Augenerkrankungen als bestimmt zur Tuberkulose gehörig erkennen. Rejschewski 
fand an der Königsberger Augenklinik 80% positive Reaktionen, während in den 
übrigen 20% andere Anhaltspunkte für Tuberkulose nachweisbar waren. Es kann 
hier nicht der Ort sein, zu den theoretischen Erörterungen über das Skrofulose- 
problem Stellung zu nehmen. Für den Praktiker ergibt sich die Möglichkeit, vor 
allem bei fraglichen Hornhautprozessen eine Klärung zu schaffen. 

Über die Technik der subcutanen Tuberkulininjektionen gibt es eine 
ziemlich umfangreiche Literatur, deren Berücksichtigung im einzelnen sich erübrigt. 
Etwa 3 Tage lang vor der Injektion ist die Körpertemperatur zu messen, am besten 
in Abständen von 4 Stunden, also morgens um 8, mittags um 12, nachmittags um 4 
und abends um 8 Uhr. Eine genauere innere Untersuchung auf aktive Tuberkulose 
ist unbedingt notwendig. Auch auf kurz vorhergegangene fieberhafte Erkrankungen 
ist zu fahnden, da das Fieber sensibilisierend wirken kann. Im allgemeinen kann 
man mit einer Menge von 0'1 mg beginnen, will man besonders vorsichtig sein, mit 
001 mg. Oft tritt auf die erste Injektion keine Reaktion auf, wohl aber auf die 
zweite oder dritte, auch wenn die Dosis nicht erhöht wird. Dieses Verhalten erklärt 
sich durch die sensibilisierende Wirkung der ersten bzw. zweiten Injektion. Die 
. objektiv am häufigsten nachweisbare Erscheinung ist die Stichreaktion an der 
Injektionsstelle. Sie besteht in einem lokalen Infiltrat im Unterhautzellgewebe, mit 
Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Impfstelle. Bei Anwendung von Alttuberkulin 

32° 


500 A. Meesmann. 


ist ihr Auftreten bei positiver Reaktion so regelmäßig, daß bei ihrem Fehlen 
an eine Pseudoreaktion zu denken ist, die etwa durch eine interkurrierende Er- 
krankung oder auch psychogen aufgetreten sein kann. 

Die typische starke Allgemeinreaktion beginnt mit Schüttelfrost, Übelkeit, 
Mattigkeit und Pulsbeschleunigung. Nach 6—12, seltener nach 12—24 Stunden steigt 
die Körpertemperatur um 1—3° um nach wenigen Stunden ziemlich plötzlich oder 
allmählich wieder abzufallen. Das allgemeine Krankheitsgefühl kann während dieser 
Zeit verschieden stark ausgeprägt sein. Mit dem Absinken der Temperatur hören 
alle Erscheinungen sehr bald auf. Bei leichterer aber ebenfalls als positiv zu be- 
wertender Reaktion fehlt die Temperaturerhöhung, während die Allgemeinbeschwerden 
und die Pulsbeschleunigung deutlich ausgesprochen sind. Je stärker die Allgemein- 
reaktion und je geringer die dazu notwendige Tuberkulinmenge, desto größer ist 
die Empfindlichkeit des Patienten. Bei Mengen bis zu 5—10 mg reagiert auch der 
Gesunde. Heine nimmt eine vollständig fehlende Reaktion nur dann an, wenn beim 
Kind auf 5 mg, beim Erwachsenen auf 10 mg keinerlei Reaktion auftritt. Alle All- 
gemeinerscheinungen sind als Folgen der Herdreaktion aufzufassen. 

Die Wichtigkeit der Herdreaktion wurde bereits erwähnt. Ihre Häufigkeit 
wird verschieden angegeben. Stock ist es gelungen, in 30% der Fälle eine Herd- 
reaktion nachzuweisen. Geringgradige Reaktionen lassen sich nur mit binokularer 
Lupe erkennen. Auch sind in manchen Fällen die Erscheinungen so flüchtiger Natur, 
daß sie sich schon dadurch leicht der Feststellung entziehen können. Genaueste 
Beobachtung und gute Übung sind daher unerläßliche Bedingung. Diese Schwierig- 
keiten dürften wohl in jedem Falle die Hinzuziehung eines Augenarztes notwendig 
machen. 

Die wichtigsten Formen der Augentuberkulose. 

Die Tuberkulose der äußeren Lidhaut zeigt im wesentlichen dieselben Erschei- 
nungsformen wie die der Haut. Namentlich sind es die verschiedenen Lupusformen 
des Gesichtes, die sich auf die Lidhaut fortpflanzen können. Die Infektion kann eine 
ektogene sein, durch Haften von Tuberkelbacillen an wunden, ekzematösen Haut- 
stellen. Die Bacillen können vom Patienten selber stammen, z. B. bei offener Lungen- 
tuberkulose oder bei tuberkulöser Erkrankung der Nasenschleimhaut. Gelegentlich 
schließt sich Lupus der Lider an tuberkulöse Periostitis des Orbitalrandes mit Fistel- 
bildung an. Ein anderer Weg der ektogenen Infektion ist der von Mensch zu Mensch. 
In vielen Fällen wird der Infektionsmodus nicht nachweisbar sein. Es bleibt stets 
die Möglichkeit der endogenen Infektion, die bei allen Formen der Augentuberkulose 
und ebenso auch anderer Organe möglich ist, auch dann, wenn keine aktiven sonstigen 
Herde im Körper nachweisbar sind. 

Die Diagnose der Lidtuberkulose dürfte im allgemeinen keine zu großen 
Schwierigkeiten machen, zumal die Möglichkeit der mikroskopischen Untersuchung, 
des Impfversuches und des Bacillennachweises jederzeit besteht. 

Der Lupus führt oft zu stark entstellenden Veränderungen. Durch Narben- 
schrumpfung der Lider selbst und ebenso der stets miterkrankten angrenzenden 
Hautpartien kommt es zu Ectropium der Lider, das gerade beim Lupus die stärksten 
Grade erreichen kann (Fig. 125). Sind Ober- und Unterlid ektropioniert, so entsteht 
infolge mangelhaften oder gänzlich fehlenden Lidschlusses eine schwere Gefährdung 
des Auges. Durch Geschwürsbildung in der Hornhaut mit Perforation kann es zum 
Verlust des Auges kommen. 

Seltenere Formen der Lidtuberkulose sind das Scrophuloderma, der Soli- 
tärtuberkel und einige andere. 


Tuberkulose und Auge. 501 


Die Prognose ist in jedem Falle eine ernste, mit Ausnahme vielleicht der 
seltenen Fälle, bei denen es sich bei sonst gesunden Patienten um eine GG 
früh erkannte Infektion handelt. 

In der Therapie sind die chemisch ätzenden Mittel, die früher eine große 
Rolle spielten, zu gunsten der Röntgen- und Finsenbestrahlung immer mehr ver- 
lassen worden. Das Ectropium macht plastische Operationen notwendig, deren 
Schwierigkeit vielfach in der Unmöglichkeit der Beschaffung gesunder Hautpartien 
besteht. Außerdem ist das Abwarten einer Abheilung unbedingt notwendig, wodurch 
meist kostbare Zeit verloren geht, so daß eine schwere Erkrankung des Auges 
selbst nicht immer zu vermeiden ist. 

Die Tuberkulose des Tarsus ist meist eine sekundäre, von der Bindehaut oder 
Lidhaut fortgeleitete Erkrankung. Sie besteht in einer umschriebenen, kaum schmerz- 
haften Verdickung. In anderen Fällen ent- 
stehen in der Umgebung eines tuberkulösen 
Geschwüres der Bindehaut kleinste, submiliare 
Knötchen, die unter der Schleimhaut liegen. 
Ist das Oberlid betroffen, so kommt es zur 
Ptosis. Die Diagnose ist bei gleichzeitiger 
Tuberkulose der Lider leicht. Es kommt aber 
auch eine endogene Infektion vor. Das klini- 
sche Bild kann dann einem Chalazion sehr 
ähnlich sein. Differentialdiagnostisch wichtig 
ist das Verhalten der präaurikulären Lymph- 
drüse, die beim Chalazion unverändert ist. 
Auch eine Verwechslung mit Tarsitis syphili- 
tica ist leicht möglich. Letztere ist durch Unter- 
suchung des Blutes und eventuelles Versagen 
einer antiluetischen Kur auszuschließen. Bei 
endogen entstandener Tarsitis tuberculosa er- 
krankt bald sekundär die Bindehaut. Anato- 
mische Untersuchung und eventuelle Über- 
impfungsversuche werden in zweifelhaften 
Fällen Klärung bringen. 

Die Tuberkulose der Bindehaut ist oft ` Farbe E, nach A. Locwensteim ns der 
eine sekundäre Erkrankung, entstanden durch 
Fortleitung von einem benachbarten tuberkulösen Herd, z. B. der Lid- und 
Gesichtshaut, der Nasenschleimhaut oder des Tränensackes. Auch die Möglichkeit 
einer endogenen Infektion ist zuzugeben. In den meisten Fällen handelt es sich 
aber um eine primäre Impftuberkulose. Das beweisen exakte klinische Beobachtungen, 
sowie die oft mit Erfolg beim Tier versuchte Überimpfung. Bei der außerordent- 
lichen Verbreitung tuberkulöser Erkrankungen der Respirationsorgane ist eine Infek- 
tionsmöglichkeit sehr oft gegeben. Immerhin ist es auffallend, wie selten die 
Bindehauttuberkulose auftritt. Man hat hierfür einerseits die mechanischreinigende 
und bactericide Eigenschaft des Tränenstromes verantwortlich gemacht. Anderseits 
ist experimentell nachgewiesen, daß sich die Tuberkelbacillen auf der intakten Schleim- 
haut nicht ansiedeln. Nach Untersuchungen von Igersheimer, die von Lunds- 
gaard bestätigt werden konnten, ist außerdem die Seltenheit der Bindehauttuberkulose 
durch den Immunitätszustand bedingt, in dem sich die Patienten beim Eindringen der 
Bacillen befinden. Bei ektogener Infektion kann das Bacillenmaterial von Mensch 


Fig. 125. 





502 A. Meesmann. 


zu Mensch, von Tier zu Mensch übertragen werden und auch vom Patienten selbst 
stammen. Die Erkrankung beginnt oft im Sulcus subtarsalis, also dort, wo sich 
Fremdkörper mit Vorliebe festzusetzen pflegen. Es läßt sich hieraus mit einer gewissen 
Wahrscheinlichkeit der ektogene Infektionsmodus vermuten. 

Am häufigsten befallen ist die Bindehaut der Lider, namentlich der Oberlider, 
während eine primäre Tuberkulose der Bulbusbindehaut zu den seltenen Ausnahme- 
fällen gehört. Das gleiche gilt von der Plica semilunaris. Die Erkrankung kann 
auf ein Lid beschränkt bleiben, das schon äußerlich durch beträchtliche Schwellung als 
krank zu erkennen ist. Eine stärkere Absonderung besteht in allen Fällen. Ihr Grad 
geht nicht immer mit der Stärke der Entzündung parallel. Ektropioniert man das 
Lid, so sieht man in der stärker injizierten und eigenartig verfärbten Bindehaut 
meist einen geschwürigen Zerfall, hervorgegangen aus kleinen Tuberkelknötchen, 
die in der Umgebung des Geschwüres noch in größerer Anzahl zu finden sind. 
Eine Verwechselung mit einem Primäraffekt oder tertiär luetischen Ulcerationen ist 
möglich. In anderen Fällen zeigen die miliaren Knötchen wenig Neigung zum Zerfall, 
so daß ein Bild entsteht, das dem bei einem schweren Trachom ähnlich sieht. Hahnen- 
kammartig angeordnete, schlaffe Granulationen, die sich in der Umgebung von 
Geschwüren und auch ohne geschwürigen Zerfall entwickeln, können ebenfalls mit 
Trachom verwechselt werden. Diese Wucherungsvorgänge sind von starker, schleimig- 
eitriger Sekretion begleitet. 

Der Lupus der Bindehaut ist von der äußeren Haut fortgeleitet, oft doppel- 
seitig. Die Diagnose wird durch das gleichzeitige Bestehen eines Hautlupus erleichtert. 
Der Hauptunterschied des Lupus gegenüber den anderen Tuberkuloseformen liegt 
in der größeren Tendenz zur Vernarbung. 

In allen Fällen handelt es sich um eine chronische Erkrankung, die im Anfang 
nur geringe subjektive Beschwerden macht. Die Prognose ist ernst. Bei weiterem 
Fortschreiten erkrankt auch die Bindehaut des Bulbus, auf der Hornhaut entwickelt 
sich ein mehr oder weniger dichter Pannus, der das Sehen schwer schädigt. Geschwürige 
Prozesse in der Bindehaut neigen zu Fortschreiten in die Tiefe. Hierdurch entsteht 
die erwähnte Tarsitis tuberculosa. In besonders schweren Fällen können Defekte 
entstehen, die das ganze Lid durchsetzen. 

Weitere Komplikationen, die naturgemäß am frühesten und häufigsten bei 
Erkrankung des Unterlides auftreten, sind Veränderungen der tränenableitenden 
Wege. Sie sind häufig ebenfalls tuberkulöser Natur, unspecifische Formen kommen 
aber vor. Umgekehrt kann auch die Tuberkulose der Tränenwege das Primäre sein. 

Bei der Behandlung stehen neben Ätzmitteln und Excision die Bestrah- 
lungen im Vordergrund. Besonders die Finsenbestrahlung, sachgemäß durchgeführt, 
bringt ausgezeichnete Erfolge, so daß es dringend zu empfehlen ist, jeden Patienten 
mit Bindehauttuberkulose, wenn nur irgend möglich, der Finsenbestrahlung zugängig 
zu machen. Stellungsanomalien, die durch Vernarbung nicht selten auftreten und 
größere Liddefekte sind nach Möglichkeit durch plastische Operationen zu korrigieren. 

Eine seltene Form der Bindehauttuberkulose ist die Parinaudsche Conjunc- 
tivitis. Sie wird von manchen Autoren auf Grund der Erfolge der Tierüberimpfungen 
als humane Tuberkulose aufgefaßt, von anderen als bovine. Das klinische Bild gleicht 
sehr der echten Tuberkulose. Die Lider sind geschwollen, die Bindehaut sulzig ver- 
dickt, mit Einlagerung gelblicher Knötchen, und’Schwellung der regionären Lymph- 
drüsen. Eine Abgrenzung dieser Form ist notwendig geworden, da sie ätiologisch 
nicht einheitlich ist und in manchen Fällen bei genauer anatomischer und bakterio- 
logischer Untersuchung die Tuberkulose sicher auszuschließen war. 


Tuberkulose und Auge. 503 


Die Tuberkulose der Tränendrüse ist selten. Der Infektionsweg ist meist der 
endogene. Ein Überwandern von der Conjunctiva aus ist nur in Ausnahmefällen 
beschrieben worden. Die Diagnose ist nicht immer leicht. Die Erkrankung beginnt 
uncharakteristisch mit einer verschieblichen Schwellung in der Tränendrüsengegend, 
die auf Druck nur wenig schmerzhaft ist und sich gegen die Orbita nicht scharf 
abgrenzen läßt. Die Entzündungserscheinungen sind gering, das übrige Auge meist 
normal. Differentialdiagnostisch kommt vor allem das Sarkom in Frage. Entscheidend 
ist die mikroskopische Untersuchung eines durch Excision gewonnenen Stückchens. 
Auch Lymphome lassen sich so ausschließen. An syphilitische Tumoren der Tränen- 
drüse muß ebenfalls gedacht werden. 

Tuberkulose des Tränensackes durch Fortleitung von der Bindehaut aus wurde 
bereits erwähnt. Ebenso kann sie bei Lupus der Nasenschleimhaut entstehen. Diese 
Form ist nicht so sehr selten und hat wenig charakteristisches. Namentlich bei jugend- 
lichen Patienten sollte man vor operativen Eingriffen, wenn das Auge selbst normal ist, 
eine Untersuchung der Nase vorausschicken, besonders bei fistulierender Entzündung. 
Auch Tuberkulose der Nebenhöhlen besteht oft. Fast immer ist das Periost und der 
Knochen miterkrankt. Die Erkrankung des Tränensackes selbst verläuft unter dem Bilde 
der Blennorrhöe. Differentialdiagnostisch verwertbar ist das Bestehenbleiben einer 
Anschwellung nach Ausdrücken des Tränensackes, das sich durch die Granulations- 
massen im Inneren des Sackes erklärt, sowie eine Mitbeteiligung der regionären 
Lymphdrüsen. | 

Therapeutisch kommt neben Behandlung der Nasenerkrankung die Excision 
des Tränensackes in Frage. In allen Fällen, bei denen die äußere Haut unverändert 
ist und bei Fisteln nach ausgiebiger Umschneidung der umgebenden Hautpartien 
kann man primär nähen. In manchen Fällen heilt die Operationswunde glatt. 
Kommt es zur Fistelbildung oder zum Abstoßen von Knochensplittern, so läßt sich 
durch Bestrahlen eine Besserung erzielen. Eventuell ist später eine erneute Operation 
anzuschließen. 

Bei tuberkulöser Erkrankung des knöchernen Orbitalrandes kommt es zu 
charakteristischen Fistelbildungen. Sie befällt besonders Patienten in jugendlichem 
Alter. Der temporale dem Jochbogen angehörende Rand ist eine Prädilektionsstelle. 
Bei Ausheilung entstehen Narbenfixationen, die plastische Operationen notwendig 
machen. Ausgezeichnetes leistet hier die Fettunterpflanzung. Gelegentlich beobachtet 
man auch Abscesse in dieser Gegend, die der Fistelbildung vorangehen. Besteht 
Verdacht auf einen solchen kalten Absceß, so ist Incision zu unterlassen. Statt 
dessen ist die Punktion mit der Spritze und nachfolgende Injektion von Jodoform- 
glycerin vorzunehmen. 

Primäre Tuberkulose der Hornhaut ist nur in seltenen Fällen beschrieben 
worden. Die Möglichkeit tuberkulöser Infektion eines Substanzverlustes der Horn- 
haut ist ohneweiters zugegeben. Klinische Beobachtungen, die eine Stütze für 
diese Auffassung bieten, liegen vor. Auch experimentell ist wiederholt durch 
Injizieren bacillenhaltigen Materiales zwischen die Lamellen der Kaninchenhornhaut 
eine primäre Tuberkulose erzeugt worden, deren Verlauf der Tuberkulose der mensch- 
lichen Hornhaut sehr ähnlich ist. Fraglich ist dagegen, ob durch die unverletzte Horn- 
hautoberfläche Tuberkelbacillen eindringen können. Eine sichere Entscheidung dieser 
Frage ist bisher nicht möglich. Gelegentlich kann sich die primäre Hornhauttuber- 
kulose an eine Verletzung anschließen (Heine). 

Das klinische Bild ist durch tiefliegende knötchenförmige Herde aus- 
gezeichnet, die meist in der Peripherie beginnen und zum Centrum fortschreiten. 


504 A. Meesmann. 


Nach Abheilung bleiben dichte, sehnige Narben zurück, oft in Zungenform. In 
anderen Fällen tritt ein geschwüriger Zerfall ein. Auch können primär Geschwüre 
auftreten. Der Verlauf ist meist ein chronischer. Durch Mitbeteiligung des Bulbus- 
inneren kann es zum Verlust des Auges kommen. 

Die Seltenheit der primären Hornhauttuberkulose im Vergleich zur Bindehaut- 
tuberkulose läßt sich durch die glattere Oberfläche der Hornhaut erklären, auf der 
Fremdkörperchen schwer haften und durch Lidschlag und Tränenstrom leicht 
beseitigt werden können, so daß eine Infektion wesentlich schwerer zu stande kommen 
kann als auf der ebenen. buchtigen Bindehaut. 

Oft erörtert ist die Frage, ob es eine tuberkulöse parenchymatöse Keratitis 
gibt. Daß die weitaus meisten Fälle der tiefen Hornhautentzündung auf angeborener 
oder auch erworbener Syphilis beruhen, ist allgemein anerkannt. Während von 
vielen Seiten die tuberkulöse Ätiologie völlig abgelehnt wird, kommen andere 
Autoren zu Prozentzahlen, die zwischen 50 und 90 liegen. 

Das klinische Bild ermöglicht keine ätiologische Diagnose. Die von marichen 
Seiten angegebenen Unterscheidungsmerkmale dürften kaum stichhaltig sein, Vor 
allem kommt es in der Hornhaut nicht zu knötchenförmigen Herden. Wenn auch 
gleichzeitig in der Iris oder im Kammerwinkel auftretende Knötchen mehr an Tuber- 
kulose als an Lues denken lassen, so sind doch klinisch gleichaussehende Herde 
bei sicherer Lues keineswegs selten zu beobachten. Auch die gelegentlich in Ring- 
form verlaufende Abart der Keratitis parenchymatose ist nicht beweisend für Tuber- 
kulose. Diese als Keratitis annularis bezeichnete Form ist meist nur ein vorüber- 
gehendes Stadium, an welches sich eine diffuse, tiefliegende Trübung der gesamten 
Hornhaut anschließt. 

Ausschlaggebend ist der Ausfall der Wassermannschen Reaktion und die 
Herdreaktion auf Tuberkulin. Immer dürfte aber die Diagnose der tuberkulösen 
Ätiologie nur mit einiger Wahrscheinlichkeit zu stellen sein. Nicht zu verwerten 
ist der ausbleibende Heilerfolg einer antiluetischen Kur. Auch bei sicher luetischer 
Ätiologie lassen Quecksilber und Salvarsan mehr oder weniger vollständig im Stich, 
sind aber hierbei mit Rücksicht auf das Allgemeinleiden und den häufig günstigeren 
Verlauf am 2. Auge unbedingt anzuwenden. Igersheimer fand unter 93 primären 
Keratitiden 21 mal Tuberkulose anderer Organe, gleichzeitig aber in allen Fällen 
einen positiven Wassermann. Er vertritt daher die Ansicht, daß die tuberkulöse 
Ätiologie sehr selten ist und neigt eher dazu, eine gelegentliche Mischinfektion 
anzunehmen. Andere Autoren glauben dagegen berechtigt zu sein, bei negativem 
Wassermann und gleichzeitigem Nachweis tuberkulöser Erkrankungen anderer 
Organe die Diagnose der tuberkulösen parenchymatösen Keratitis zu stellen. In ein- 
zelnen Fällen ist auch der Bacillennachweis gelungen. 

Der Verlauf unterscheidet sich nicht von der echt luetischen Form. Je nach 
der Schwere des Falles kann sich die Erkrankung über Wochen oder Monate 
erstrecken. Wiederaufhellung mit voller Sehschärfe kommt vor. Es können aber auch 
Trübungen zurückbleiben, die eine mehr oder weniger erhebliche Verminderung 
des Sehens bedeuten. 

In der örtlichen Behandlung steht die Erweiterung der Pupille mit Atropin 
im Vordergrund. Der Erfolg einer Tuberkulinbehandlung ist wechselnd und läßt 
keine weiteren Schlüsse auf die Ätiologie zu. 

Erkrankungen der Hornhaut, die sekundär von tuberkulösen Herden des 
vorderen Bulbusabschnittes ausgehen, sind relativ häufig. So ist sekundäre paren- 
chymatöse Keratitis bei tuberkulöser Iridocyclitis öfter zu beobachten. Sie ist 


— T —— — —— à —— = ES = iid — 


Tuberkulose und Auge. 505 


keine echte Tuberkulose, sondern durch die aus der vorderen Kammer in die Horn- 
haut eindringenden Toxine entstanden. Erwähnt wurde schon die Mitbeteiligung 
der Hornhaut bei der Lid- und Bindehauttuberkulose. Es kann dabei ein Pannus 
entstehen, Geschwüre oder auch echte knötchenförmige Herde sich entwickeln, in 
denen gelegentlich Tuberkelbacillen nachgewiesen wurden. Auch bei Durchbrüchen 
von Ciliarkörpertuberkeln kommt es meist zu einer Mitbeteiligung der Hornhaut. 
Die sklerosierende Keratitis ist selten ein primäres Leiden. Sie schließt 
sich vielmehr meistens an eine tuberkulöse Skleritis an. Charakteristisch sind zungen- 
förmige tiefliegende Trübungen, mit tiefer Gefäßentwicklung, die sich centralwärts vor- 
schieben (Fig. 126). Die Abheilung erfolgt unter. Zurückbleiben dichter sehniger Trübun- 
gen, die wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Lederhaut der Erkrankung den Namen 
gegeben haben. | 
Die tuberkulöse Episkleritis ist gekennzeichnet durch eine relativ scharf begrenzte 
Rötung von leicht violetter Farbe, über der die Bindehaut verschieblich ist. Im 
Zweifelsfalle, ob die Rötung der Bindehaut oder Episclera angehört, kann man 


Fig 126. 





Sklerosierende Keratitis (nach A. Loewenstein). 


einen Tropfen Suprareninlösung einträufeln. Bindehautgefäße werden darauf sehr 
bald anämisch, so daß die Rötung verschwindet, während eine solche der Episclera 
oder Sclera bestehen bleibt. Es entwickelt sich bald eine Prominenz, die besonders 
auf Druck leicht schmerzhaft ist. Eine Verwechslung mit einer großen Phlyktäne 
ist möglich. Bei letzterer kommt es in wenigen Tagen zu einer centralen Erweichung, 
die bei Episkleritis unbekannt ist. 

Die Erkrankung ist meist einseitig, u. zw. entwickelt sich zunächst ein Knoten, 
nach dessen Abheilung eine schiefergraue Stelle zurückbleibt. Sie beweist, daß die 
Sclera an dieser Stelle so atrophisch geworden ist, daß der dunkelpigmentierte Ciliar- 
körper durchschimmert. Rezidive an anderen Stellen sind häufig. Es kann so der 
ganze Limbus von einzelnen Herden umgeben sein. In schweren Fällen ist die 
Verdünnung der Sclera so stark, daß durch den intraokularen Druck bleibende Ver- 
buckelungen hervorgerufen werden. Auch zum Durchbruch kann es kommen. 

Ob es eine primäre tuberkulöse Skleritis gibt, ist eine umstrittene Frage. 
Da die Lederhaut sehr arm an Gefäßen ist, spricht vieles dafür, daß die Erkrankung 
meist ihren Ausgang von den Gefäßen der Episclera nimmt. Ebenso ist der Ausgang 
von tuberkulösen Herden im Ciliarkörper möglich. 

Während früher in der Ätiologie der Episkleritis und Skleritis der Rheuma- 
tismus eine Hauptrolle spielte, ist die Annahme dieser Ätiologie durch exakte 


506 A. Meesmann. 


klinische Untersuchung immer seltener geworden. Die meisten Fälle dürften auf 
Tuberkulose beruhen. Die Lues, welche ganz ähnliche Bilder machen kann, läßt 
sich meist leicht nachweisen, ebenso die seltenere, gichtische Episkeritis. Bei letzterer 
bestehen immer auch gichtische Veränderungen in anderen Organen. Eine Klärung 
bringt auch die leicht auszuführende Harnsäurebestimmung im Blut. 

Die Mitbeteiligung der Hornhaut in Form der sklerosierenden 
Keratitis wurde schon erwähnt. In schweren Fällen kann die gesamte Hornhaut 
dicht getrübt werden. In anderen bleiben die centralen Hornhautteile verschont, 
so daß eine scheinbare Mikrokornea vorliegt. Leichte Fälle können ohne Beschädigung 
des Sehvermögens abheilen, das selbst dann kaum verändert sein kann, wenn der 
ganze Limbus von abgeheilten Interkalarstaphylomen umgeben ist. 

Die Tuberkulose der Iris und des Ciliarkörpers stellt das wichtigste und größte 
Kapitel der Tuberkulose des Auges dar. Eine neuere Zusammenstellung der Ätiologien 
der Iridocyclitis, die Gilbert aus der Münchner Augenklinik veröffentlichte und 
die ein aus ländlicher und großstädischer Bevölkerung gemischtes Material betrifft, 
verzeichnet bei über 500 Fällen 45°6% Tuberkulosen. Als nächst häufigste Ursache 
folgt die Lues mit nur 166%. Je nach der Zusammensetzung des Patientenmaterials 
werden diese Zahlen eine gewisse Verschiebung erfahren. Aber selbst an der Berliner 
Universitätsaugenklinik in der Charite, deren Patienten nur zum geringeren Teil 
aus ländlichen Bezirken stammen, steht die Tuberkulose bei der Ätiologie der 
Iridocyclitis gegenüber der Lues bedeutend im Vordergrund. Die große Zahl 
sonstiger Ätiologien tritt demgegenüber sehr in den Hintergrund. So ist z. B. in 
der Statistik Gilberts der Rheumatismus, der früher eine große Rolle spielte, nur 
mit 3% notiert. Dieselbe Prozentzahl erreicht auch die Gonorrhöe. 

Die tuberkulöse Iridocyclitis ist eine Erkrankung jeden Lebensalters. Eine 
Bevorzugung des männlichen oder weiblichen Geschlechtes besteht nicht. Daß be- 
stimmte Lebensalter häufiger betroffen sind, ist zweifellos. Groenouw kommt auf 
Grund einer Zusammenstellung der in der Literatur veröffentlichten Zahlen zu dem 
Ergebnis, daß die Tuberkulose der Iris am häufigsten im Alter von 0— 6—10 Jahren 
auftritt und daß die absoluten Zahlen mit zunehmendem Alter abnehmen. Die 
Hälfte aller Fälle soll sich aus Patienten unter 10 Jahren zusammensetzen. Wenn 
auch durch örtliche Unterschiede Verschiebungen solcher Zahlen bedingt werden, 
so ist doch, wie auch Heine betont, der Widerspruch zu den allgemeinen Be- 
obachtungen ein ganz erheblicher. In der erwähnten Berliner Augenklinik ist z. B. 
aus den letzten 10 Jahren kein einziger Fall einer tuberkulösen Iridocyclitis bei 
einem Kinde unter 6 Jahren bekannt geworden und bis zum 10. Lebensjahre nur 
vereinzelte, aber besonders schwere Fälle. Dagegen steigt die Zahl von da ab er- 
heblich. Die meisten Patienten sind in einem Alter von 20—35 Jahren und ein 
erneuter Anstieg der Zahl betrifft Patienten jenseits des 45.—50. Lebensalters. 

Die verschiedenen Formen der tuberkulösen Iridocyclitis können in 
allen Lebensaltern vorkommen. Vorzugsweise treten jedoch im kindlichen Alter die 
größeren Granulome, in den mittleren Jahren die disseminierten Formen und im 
Alter die meist mit geringer Reizung verlaufenden atrophierenden Formen auf. 

Der Infektionsweg ist wohl ausnahmslos der endogene. Daß Tuberkelbacillen 
von außen her in das Auge eindringen, ohne eine Erkrankung der Bulbushüllen 
zu verursachen, dürfte kaum zu beweisen sein. Daß sich an Scleral- und Hornhaut- 
tuberkulose eine Erkrankung des inneren Auges anschließen kann, ist bereits er- 
wähnt. In der Literatur ist über mehrere Fälle berichtet, bei denen sich die Tuber- 
kulose an ein Trauma anschloß. Meist handelte es sich um leichte Kontusions- 


Tuberkulose und Auge. 507 


verletzungen ohne Perforation. Es ist anzunehmen, daß durch solche Verletzungen 
eine intraokulare Schädigung auftritt, die eine Ansiedlung von Tuberkelbacillen, die 
im Blute kreisen, erleichtert. Daß mit einer perforierenden Verletzung Tuberkelbacillen 
ins Auge gelangen können, ist ohne weiteres verständlich. Jedoch scheint dieser 
Infektionsmodus ein außerordentlich seltener zu sein. In den allermeisten Fällen 
handelt es sich um eine endogene Infektion mit der humanen Form des Tuberkel- 
bacillus. Sicher bovine Form ist einmal von Krückmann nachgewiesen worden, 
die auch klinisch in besonderer Weise verlief. Es bestand in der Iris ein derbes 
Infiltrat, das allmählich herausbröckelte und in die vordere Kammer geriet, wo es 
nach einiger Zeit resorbiert wurde. Im Tierexperiment konnte Igersheimer nach- 
weisen, daß auch Kaltblüter-Tuberkelbacillen und andere säurefeste Bacillen nach 
mehrfachen Tierpassagen eine specifische Form der Iritis und Keratitis erzeugen 
können. 3 

Bei der Herkunft der Bacillen spielt die Drūsentuberkulose besonders der 
Bronchialdrüsen die Hauptrolle. Sehr viel seltener handelt es sich um einen Aus- 
gang von Lungen-, Knochen- oder Gelenktuberkulose. Die Allgemeinuntersuchung 
bei tuberkulöser Erkrankung des inneren Auges ergibt ungefähr in je einem Drittel 
der Fälle keinerlei Anhalt für Tuberkulose, Verdacht auf Tuberkulose und sichere 
Tuberkulose. In einzelnen Fällen treten später Tuberkulosen anderer Organe auf. 
Es bleibt aber ein großer Prozentsatz übrig, der dauernd von sonstiger tuberkulöser 
Manifestation verschont bleibt. 

Die Prognose quoad vitam richtet sich naturgemäß nach dem Allgemein- 
befund. Es ist zu betonen, daß eine Propagierung der tuberkulösen Infektion von 
einem erkrankten Auge aus in keinem Falle mit Sicherheit nachgewiesen ist. Es ist 
daher die Forderung, die in früheren Zeiten oft gestellt wurde, ein tuberkulöses Auge 
wegen der Gefahr für das Leben möglichst bald zu entfernen, durchaus abzulehnen. 
Es gehören heute in Augenkliniken die Enucleationen eines Auges wegen Tuber- 
kulose zu den Seltenheiten. Sie kommt nur in Frage bei den schweren, namentlich 
bei jugendlichen Patienten häufigeren Formen mit Perforation sowie bei Ausgang 
in schmerzhafte Phthise des Bulbus. Im allgemeinen ist die Tuberkulose der Iris 
und des Ciliarkörpers für den Allgemeinzustand als eine durchaus gutartige Erkrankung 
aufzufassen. Wesentlich anders ist die Beurteilung für das Auge bzw. für das Sehen, 
auf das später eingegangen ist. 

Das klinische Bild der Iris und Ciliarkörpertuberkulose ist ein sehr 
mannigfaltiges und wechselvolles. Der Versuch einer bestimmten Gruppierung der 
einzelnen Krankheitsformen, wie er oft versucht ist, wird dadurch erschwert, daß 
zahlreiche Übergänge vorkommen. Besonders charakteristisch ist das Auftreten von 
Knötchen, die als echte Tuberkel aufzufassen sind. Ihr Aufschießen wird im allge- 
meinen nur von geringen Exsudationen in die vordere Kammer begleitet. Nur selten 
sind diese so stark, daß die zu grunde liegenden Irisveränderungen vorübergehend ver- 
deckt werden. 

Die Knötchen haben ein grau-gelbes, trockenes Aussehen. Ihre Größe schwankt 
zwischen feinsten mit bloßen Auge nicht oder kaum sichtbaren Pünktchen, bis zu 
etwa Senfkorngröße. Sie entwickeln sich innerhalb weniger Tage aus circumscripten 
Gefäßwandverdickungen. Der ausgebildete Tuberkel ist gegen das umgebende Iris- 
gewebe ziemlich scharf abgegrenzt. Die Beziehung zur Gefäßwand ist meist nicht 
mehr zu erkennen. Sie ragen teils über die Oberfläche der Iris hervor, teils liegen 
sie im Stroma selbst und buckeln die Oberfläche vor. In der nächsten Umgebung 
sind die Gefäße hyperämisch, teilweise als Folge einer mechanischen Verdrängung. 


508 A. Meesmann. 


Die Verteilung der Tuberkel ist entsprechend ihrer hämatogenen Entstehung 
in der ganzen Iris möglich. Gerade die wahllose Anordnung unterscheidet sie in 
gewisser Weise von syphilitischen Papeln, die mit Vorliebe in dem nur von Capillaren 
versorgten Sphinctergebiet sitzen. Das Pupillargebiet bleibt jedoch keineswegs von 
der Tuberkulose verschont. Sehr oft findet man kleinste Tuberkel gerade am 
Pupillarsaum. Man kann gelegentlich beobachten, daß die Tuberkel im Sphincter- 
gebiet kleiner sind als in der übrigen von größeren Gefäßstämmen versorgten Regen- 
bogenhaut. 

Die Reizerscheinungen eines so erkrankten Auges sind durchweg relativ gering. 
Eine stärkere Hyperämie der Gesamtiris fehlt, ebenso ist die pericorneale Injektion 
nur mäßig ausgeprägt. Die Beschwerden des Patienten bestehen vor allem in Abnahme 
des Sehvermögens. Schmerzen sind häufig nicht vorhanden und erreichen kaum 
höhere Grade. 

Verwachsungen zwischen Iris und vorderer Linsenkapsel treten meist 
frühzeitig auf. In charakteristischen Fällen sind sie entsprechend der Kleinheit des 
Tuberkels punktförmig. Verwachsen ist außer dem hinteren Pigmentblatt fast stets 
auch das Irisstroma. Diese Synechien sind sehr fest und lösen sich kaum auf künstliche 
Erweiterung der Pupille. Sind sie, wie in den allermeisten Fällen, multipel entwickelt, 
so entsteht nach Atropingaben das ziemlich typisches Bild der spitzen, schmalen, 
oft lang ausgezogenen Synechien. Die Pupille erhält hierdurch ein eigenartiges, vielfach 
ausgebuchtetes Aussehen. Bei luetischen Papeln im Sphinctergebiet sind die Synechien . 
entsprechend der größeren Ausdehnung der Herde wesentlich breiter. Die erweiterte 
Pupille zeigt dabei oft Nieren- oder Herzform. Bei charakteristischer Ausprägung 
sind diese Unterschiede differentialdiagnostisch verwertbar und auch nach Abheilung 
noch erkenntlich. 

Die disseminierte miliare Iristuberkulose entsteht meist allmählich. Die 
einzelnen Knötchen nehmen an Größe zu. Mehrere benachbarte Knötchen können 
verschmelzen zu größeren Konglomerattuberkeln. Durch Zerfall einzelner Knötchen 
kann eine erneute Aussaat auftreten. Nach dem Verschwinden bleiben oft charakteristische, 
kreisrunde atrophische Stellen zurück. 

Konglomerattuberkel entstehen also aus der Verschmelzung mehrerer 
kleiner Knötchen. In anderen Fällen wächst ein einzelner Knoten immer weiter, so 
daß er allmählich ein Viertel, ja die Hälfte der ganzen Iris einnimmt. Er wächst 
dabei immer mehr kammerwärts vor, so daß in schweren Fällen die ganze Kammer 
von tuberkulösem Oranulationsgewebe erfüllt ist. Solche tumorartige Gebilde bilden 
sich mit Vorliebe am circulus arteriosus minor und im Kammerwinkel aus. Kommen 
sie in Berührung mit der Hornhauthinterfläche, so können sie mit dieser verwachsen. 
Das davorliegende Hornhautgewebe trübt sich meist. Nach Rückbildung des ganzen 
Prozesses bleibt die Verwachsung bestehen, die Iris wird dadurch zeltartig nach 
vorne gezogen. Vordere Synechien können also auch ohne Perforation und Auf- 
hebung der vorderen Kammer zu stande kommen. Besonders leicht entstehen solche 
Verwachsungen im Kammerwinkel, der in ganzer Ausdehnung an der Hornhaut- 
hinterfläche adhärent sein kann. Man spricht dann von einer peripheren, vorderen 
Synechie. 

In schweren Fällen bildet sich eine Durchsetzung des gesamten Iris- 
gewebes mit tuberkulösem Granulationsgewebe aus. Die Iris erscheint 
verdickt, nach vorne prominent, so daß ein der Napfkucheniris ähnliches Bild zu 
stande kommt. Die Verwachsungen mit der Linse sind dabei ausgedehnt, bis zur 
vollständigen Seclusio pupillae. Das Pupillargebiet der Linse kann mit Exsudations- 


Tuberkulose und Auge. 509 


massen bedeckt und dadurch verlegt sein. Sekundär trübt sich die Linse, oft auch 
an einzelnen Stellen, an denen Synechien ansetzen. 

Beschläge an der Hinterfläche der Hornhaut treten bei allen knötchen- 
förmigen Iristuberkulosen auf. Sie sind meist scheibenförmig und sitzen in charakteri- 
stischen Fällen in den unteren mittleren Partien der Hornhaut, in nach oben mehr 
oder weniger spitz auslaufender Dreiecksform. Sie bestehen in der Hauptsache aus 
Lymphocyten. Ältere Beschläge enthalten meist Pigmentbeimengungen. Bei stärkerer 
Exsudation kann die ganze Hornhauthinterfläche mit Beschlägen bedeckt sein, die 
dann nicht mehr Scheibenform haben, sondern als größere unregelmäßige auch 
landkartenartige Flecke von gelblichgräuem Aussehen erscheinen. Sie setzen sich 
neben Lymphocyten aus Serumeiweiß und Fibrin zusammen. 

Charakteristisch für die Tuberkulose der Iris ist die Bildung von Knötchen. 
Es ist aber besonders wichtig, daß es viele Fälle gibt, bei denen zu Anfang- 
wie auch während des ganzen Verlaufes die Knötchen vermißt werden. Hierher 
gehört einmal die akute Iritis. Ihre Diagnose ist leicht. Bei starken Schmerzen 
und ausgeprägter ciliarer Injektion ist die Pupille verengert, die Iris verfärbt und 
verwaschen. Das Kammerwasser ist mehr oder weniger stark durch Exsudation 
getrübt, die vordere Kammer oft etwas vertieft. Zwar liegt bei dieser Form meist 
eine andere Ätiologie vor. Besonders wichtig ist aber, daß auch eine echte tuberkulöse 
Iritis diesen Anfang nehmen kann. Die Differentialdiagnose ist naturgemäß aus dem 
klinischen Bilde nicht immer leicht zu stellen. Bei Benutzung des binokularen 
Mikroskopes und der Gullstrandschen Spaltlampe, die für alle Untersuchungen 
des vorderen Bulbusabschnittes längst ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden ist, 
lassen sich aber auch hier einige Unterschiede erkennen, die wenigstens bis zu einem 
gewissen Grade einen Fingerzeig geben können. Die septischen Iritiden, z. B. die 
gonorrhoische oder auch die rheumatische, sind diffuse Erkrankungen der Regen- 
bogenhaut, bei denen ausgedehnte serofibrinöse Exsudationen in die vordere Kammer 
auftreten. Dieses Überwiegen des Fibrins, dem gegenüber besonders im Beginn 
der Zellgehalt weit zurücktritt, ist an der Spaltlampe leicht zu erkennen. Wesentlich 
schwieriger ist die Unterscheidung von der akuten luetischen Form. Hierbei sind 
massenhaft Zellen im Kammerwasser zu finden, ebenso wie bei der akuten Tuber- 
kulose. Die Beschläge haben zu dieser Zeit noch wenig oder gar nichts Charakteristisches. 
Die Trübung des Kammerwassers ist wegen des geringeren Fibringehaltes viel geringer 
als bei den septischen Formen. Für Lues ist aber nach meinen Beobachtungen sehr 
häufig eine ausgedehnte Pigmentausstreuung charakteristisch, die schon in den ersten 
Tagen der Erkrankung, u. zw. am deutlichsten auf der vorderen Linsenkapsel, zu 
erkennen ist. Diese Pigmentierung fehlt bei der akuten Tuberkulose ganz oder ist 
nur sehr gering ausgeprägt. Selbstverständlich ist zur weiteren Unterscheidung gerade 
dieser Formen Anamnese, Allgemeinbefund, Wassermannsche Reaktion etc. von 
größter Bedeutung. l 

Nach Abklingen der akuten Erscheinungen findet man meist knötchenförmige 
Herde, die oft eine sichere Diagnose erlauben, oft aber auch keine Abgrenzung 
gegenüber der Lues ermöglichen. 

Knötchenförmige Herde können aber auch im ganzen Verlauf einer Erkrankung 
vermißt werden, wenn der tuberkulöse Herd im Ciliarkörper sitzt. Die Iris kann hierbei 
völlig normales Aussehen haben oder durch toxische Reizung hyperämisch und verfärbt 
sein. Bei leichten Formen dieser Erkrankung können die Erscheinungen so gering 
sein, daß erst nach mehreren Attacken die Patienten zum Arzt kommen, oft mit 
voll ausgeprägten, festen, hinteren Synechien. Die Iris kann dabei vollkommen 


510 A. Meesmann. 


atrophisch sein oder die Atrophie entwickelt sich im weiteren Verlauf. Es sind das 
die Formen, für deren tuberkulöse Ätiologie besonders v. Michel eingetreten ist. 
Die Iris kann auch dauernd normales Aussehen behalten. Das einzigste Symptom 
bei reizlosem Verlauf sind dann neben Sehstörungen scheibenförmige Beschläge 
der geschilderten Art in der unteren Hornhauthälfte. An der Spaltlampe sieht man 
neben einer oft ganz geringen Kammerwassertrübung Zellen im Kammerwasser 
schwimmen. Bei der geringen Eiweißvermehrung behält das Kammerwasser seine 
normale Wärmeströmung bei, die durch die Abkühlung an der Hornhauthinterfläche 
entsteht, so daß die einzelnen Zellen oder Zellkonglomerate, die als leuchtende 
Pünktchen zu sehen sind, vor der Iris nach oben steigen, während sie in den vorderen 
Kammerabschnitten nach unten sinken. Es erklärt sich hierdurch ohneweiters die 
Anordnung der Beschläge in den unteren Hornhautteilen, da dort die Zellen auf 
‚ihrem Weg nach unten aufstoßen und haften bleiben. Diese Erkrankungsform wurde 
früher als „Iritis serosa“ bezeichnet, ein Ausdruck, der, obwohl völlig unpassend, in 
Ermangelung eines besseren vielfach noch beibehalten worden ist. 

Eine isolierte Erkrankung der Iris oder auch des Ciliarkörpers scheint recht 
selten zu sein. Wie besonders die anatomische Untersuchung enucleierter Augen 
beweist, sind fast immer beide gleichzeitig erkrankt, wenn auch in verschiedenem 
Grade, so daß es sich fast stets um eine Iridocyclitis handelt. 

Trübungen des Glaskörpers sind außerordentlich häufig, am stärksten 
natürlich bei ausgesprochener Ciliarkörperbeteiligung. Die Sehverschlechterung erklärt 
sich zum Teil durch diese Trübungen. Sie kann bei leichten Fällen relativ gering 
sein. Nicht selten besteht aber ein Mißverhältnis zwischen der Sehstörung und dem 
Grad der Glaskörpertrübungen. Ist eine Untersuchung des Augenhintergrundes noch 
möglich, so findet man diesen meist normal, gelegentlich aber auch bei Freisein 
der Aderhaut sekundäre entzündliche Veränderungen des Sehnerven. Gesichts- 
feldeinschränkungen sind in einzelnen Fällen nachgewiesen, des öfteren in Form 
eines centralen Skotomes, so daß man zur Annahme einer toxischen Beeinflussung 
des papillomakulären Bündels berechtigt ist. 

Andere Komplikationen können die Hornhaut betreffen. Ihre Mitbeteili- 
gung ist relativ häufig. Zunächst können durch Toxine und Iymphocytäre Beschläge 
die Endothelien ihrer Rückfläche verändert werden. Hierdurch können die Toxine 
des Kammerwassers leicht in die tieferen Hornhautschichten eindringen. Die Folge 
ist eine meist diffuse Trübung der tieferen Hornhaut, eine sekundäre paren- 
chymatöse Keratis. Die ganze Hornhaut kann unter diesem Bilde erkranken, 
manchmal mit reichlicher Neubildung von tiefen Gefäßen. Auch circumscripte 
Infiltrate sind nicht selten, zu denen tiefe Gefäße hinziehen. Sie können über 
größeren Tuberkeln sitzen, die bis an die Hornhauthinterfläche reichen. Solche 
Hornhauttrübungen können das gesamte Krankheitsbild beherrschen, so daß erst 
sehr viel später die zu grunde liegende Iridocyclitis erkannt werden kann. Schwere 
degenerative Veränderungen können sich, wenn auch selten, anschließen, so das 
Bild der bandförmigen Degeneration. Die leichten und mittelschweren Fälle behalten 
im allgemeinen während der ganzen Dauer der Erkrankung, abgesehen von den 
Beschlägen an der Hinterfläche, normal durchsichtige Hornhaut. 

Die Sclera ist selten mitbeteiligt. Doch kommt es manchmal bei schweren 
Ciliarkörpertuberkulosen, namentlich im Kindesalter, zu einer Infiltration und Erweichung 
der Sclera, diesich allmählich vorbuckelt und geschwürig zerfällt. Die darauf eintretende 
Perforation bedeutet ausnahmslos den Verlust des Auges. Daß sich an tuberkulöse 
Skleritis eine tuberkulöse Iridocyclitis anschließen kann, wurde bereits erwähnt. 


Tuberkulose und Auge. 511 


Differentialdiagnostisch ist wichtig, daß nicht jede Iritis mit Knötchen 
eine Tuberkulose zu sein braucht. Klinisch und anatomisch nicht von der Tuber- 
kulose zu trennen ist das Bild der sympathischen Ophthalmie. Letztere verläuft als 
„Iritis serosa“ mit Knötchenbildung in der Iris. Immerhin kommt diese Differential- 
diagnose nur selten in Frage, kann aber in den betreffenden Fällen nahezu un- 
möglich werden. | 

Am häufigsten kommt die Unterscheidung gegenüber der in vielen Punkten 
sehr ähnlich verlaufenden luetischen Iritis in Betracht. Der Ausfall der Wasser- 
mannschen Reaktion ist oft entscheidend. Ist dieser negativ, die Tuberkulinprobe 
positiv, so ist eine Tuberkulose sehr wahrscheinlich. Das klinische Bild erlaubt 
gewisse Unterscheidungsmöglichkeiten, die zum Teil schon erwähnt sind. Der Sitz 
der Papeln ist mit Vorliebe das Sphinctergebiet, während die Tuberkel mehr wahl- 
lose Anordnung haben, entsprechend ihrem Entstehen an den Wänden der kleinen 
Arterien. Die Papel ist gefäßreich, der Tuberkel gefäßlos oder doch gefäßarm. Im 
allgemeinen sind auch die Papeln wesentlich größer. Die dadurch bedingten Unter- 
schiede in der Form der Synechien und Pupillenverziehung wurde bereits beschrieben. 
Ebenso die Unterschiede bei akuten diffusen Erkrankungen. Alle diese Merkmale 
können aber vollkommen im Stich lassen. Knötchen nur im Sphinctergebiet können 
sehr wohl tuberkulöser Art sein, auch kann das Aussehen der Papeln ein un- 
charakteristisches sein, so daß eine Unterscheidung von Tuberkeln nach Größe, 
Farbe und Form nicht ohneweiters möglich ist. Die seltenen knötchenförmigen 
Iritiden bei der Lepra, der Ophthalmia nodosa, bei Sarkomatose der Iris und Gli- 
omen seien nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Der Allgemeinbefund und der 
Ausfall der Tuberkulinprobe, namentlich die Herdreaktion, bringt in vielen zweifel- 
haften Fällen eine weitere Stütze für die ätiologische Diagnose. Nachweis von Tuberkel- 
bacillen ist in manchen Fällen möglich und bringt natürlich die sicherste Ent- 
scheidung. 

Der Verlauf der tuberkulösen Iridocyclitis ist ein sehr verschiedener. Ebenso 
wie bei der Tuberkulose anderer Organe gibt es leichte, durchaus gutartige Formen, 
die ohne besondere Behandlung und ohne dauernde Sehstörungen ausheilen. Es 
sind dies vor allem die als „Iritis serosa” bezeichneten Fälle. Es kann aber auch 
zur Seclusio und Occlusio pupillae und dadurch zum Sekundärglaukom kommen, 
wodurch das Sehen dauernd schwer gefährdet ist. Seltener ist der Ausgang in 
Phthisis bulbi, Ablatio retinae und Perforation der Sclera. Namentlich die kindliche 
tuberkulöse Iridocyclitis neigt zur Verkäsung der ganzen Membran, die bis zur 
Perforation führen kann. Bei günstig verlaufenden Fällen bilden sich die einzelnen 
Tuberkel zurück und hinterlassen die erwähnten kreisrunden Löcher, die besonders 
charakteristisch für die überstandene Tuberkulose sind. Nach anfänglicher Heilung 
sind Rezidive nicht selten. Sie können schließlich immer stärkere Zerstörungen, 
hervorrufen und schließlich zur Phthisis bulbi führen. 

Entsprechend den geschilderten Verlaufsmöglichkeiten ist die Prognose für 
das Sehen nicht in jedem Falle ungünstig, wenn auch stets ernst zu nennen. Sie 
hängt neben der Form der Augenerkrankung von dem Allgemeinbefinden des 
Patienten ab. Ungünstig ist die Tuberkulose bei gleichzeitiger schwerer Tuberkulose 
anderer Organe. Stets ist die Prognose durch die Möglichkeit wiederholter Rezidive 
getrübt. Ausheilung mit normaler oder doch ausreichender Sehschärfe kommt in 
einem kleinen Prozentsatz vor. Groenouw fand eine Ausheilung in 22%, wobei 
er von Heilung spricht, wenn ein Auge oder bei doppelseitiger Erkrankung das 
bessere Auge ein, wenn auch geringes Sehvermögen behielt. Wie auch Heine 


512 A. Meesmann. 


betont, dürfte dieser Prozentsatz den allgemeinen Erfahrungen nach zu niedrig 
sein. Nach einer Zusammenstellung Schiecks ist die Heilungstendenz am geringsten 
etwa bis zum 10. Lebensjahr, am besten zwischen dem 12. und 15. und wird vom 
16. ab wieder etwas geringer. Allerdings ist der Prozentsatz der Heilungen in den 
späteren Lebensjahren wesentlich besser als im Kindesalter. 

Die Dauer der Erkrankung ist wechselnd. Leichte Fälle heilen in wenigen 
Monaten aus, schwere und oft rezidivierende Formen können sich über Jahre und 
Jahrzehnte erstrecken. Ausheilung ist auch noch nach zehn und mehr Jahren beob- 
achtet worden. 

Die örtliche Behandlung der tuberkulösen Iridocyclitis unterscheidet sich 
nicht von der sonst bei Iridocyclitis notwendigen. Durch Atropineinträufelungen ist 
die Pupille weit zu halten, um möglichst die Entstehung von hinteren Synechien 
zu vermeiden. Das gelingt freilich nicht in allen Fällen. Unterstützend wirkt das 
Cocain durch Reizung des Dilatators. Besonders kräftige Erweiterung ist durch 
subconjunctivale Injektion von 1%igen Suprarenin in Mengen von 02-10 cm? zu 
erzielen. Die Injektion ist meist recht schmerzhaft, so daß man mit Vorteil vorher 
Morphium injiziert. Daneben ist lokale Wärmeapplikation in Form warmer 
Umschläge oder auch mittels der Brüningschen Kopflichtbäder zu empfehlen. 

Bei manchen leichten Fällen genügen diese einfachen lokalen Maßnahmen. 
Bei schwereren kann man auch die neuerdings von Grunert warm empfohlenen 
Paranzentesekuren versuchen. Diese oft zu wiederholenden Punktionen der vorderen 
Kammer sind im allgemeinen absolut ungefährlich, selbstverständlich von fachärzt- 
licher Hand und unter den notwendigen aseptischen Bedingungen auszuführen. Ihre 
heilende Wirkung dürfte auf einer stärkeren Durchblutung der Iris und des Ciliar- 
körpers beruhen. Kontraindiziert sind sie in den seltenen Fällen, bei denen Blutungen 
bestehen. Nach der Punktion treten gelegentlich Blutungen in die vordere Kammer 
auf. Resorbieren sie sich bald, so ist die Prognose günstig. Sie können aber auch 
lange bestehen bleiben, sogar spontan erneut auftreten. In jedem Falle ist beim Auf- 
treten solcher Kammerblutungen von weiteren Punktionen abzusehen, ebenso bei 
stärkerer Hypotension, wegen der Gefahr beschleunigter Phthise des Auges. 

Intraokulare Drucksteigerungen können besondere Maßnahmen notwendig 
machen. Im allgemeinen ist bei noch bestehender entzündlicher Reizung möglichst 
von operativen Eingriffen abzusehen. Ein Stärkerwerden der Entzündung ist darnach 
nicht selten. Operativ gesetzte Kolobome verkleben meist bald wieder durch ent- 
zündliches Exsudat, so daß eine dauernde Herabsetzung des Druckes nicht erreicht 
wird. Als Ersatzmaßnahmen kommen neben den Miotica wiederholte Kammer- 
punktionen in Frage, und das vor Jahren von Wessely angeratene, aber erst neuer- 
dings von Hamburger in die Praxis aufgenomene und sehr empfohlene Suprarenin 
in der erwähnten subconjunctivalen Anwendungsweise. Der Vorzug ist neben der 
Herabsetzung des Druckes eine kräftige Erweiterung der Pupille, durch die gelegent- 
lich sonst nicht mehr zu lösende hintere Synechien noch gesprengt werden können. 
Versager hinsichtlich der Druckherabsetzung kommen aber nicht selten vor. Nach . 
eigenen Erfahrungen ist durch diese Mittel einschließlich des Suprarenins eine 
dauernde Herabsetzung des Augeninnendruckes nur in den wenigsten Fällen zu 
erzielen. Ihr Wert beruht in der Möglichkeit, die Operation auf einen gelegeneren 
Zeitpunkt zu verschieben. 

Die Hauptoperation gegen das Sekundärglaukom' ist die Iridektomie. Sie 
kann bei ausgiebigen hinteren Synechien schwierig sein, namentlich wenn die 
gesamte Hinterfläche der Iris mit der Linse verwachsen ist, die hintere Kammer 


— =—— — — — l mg Sieg 


Tafel XVI. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
A. Meesmann: Tuberkulose und Auge. 


Figi: Pie: 2, 





I 
+ ` 
4 af 


% P A Ri = 
d SIE EIER Br 





Konglomerattuberkel der Iris 
(vgl. S. 508). 


Miliare Tuberkel am Pupillarsaum und Synechienbildung 
(vgl. S. 508). 


Fig. 4. 





Er Atrophie der Iris: Rechte Hälfte 
Keratitis parenchymatosa tuberculosa stark atrophisch 
(vgl. S. 504). (vgl. S. 508). 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tuberkulose und Auge. 513 


also vollkommen verlötet ist. Trepanation nach Elliot und Sklerotomie sind 
Ersatzoperationen, die unter Umständen von Wert sind. Gut vertragen werden alle 
diese operativen Eingriffe nur dann, wenn die Erkrankung völlig abgeheilt ist. 
Nicht immer wird man bis zu diesem Zeitpunkt warten können, man muß aber 
damit rechnen, daß sich an die Operation eine erneute Attacke anschließen kann. 

Auch Kataraktextraktion kann nach Ausheilung der tuberkulösen Irido- 
ceyclitis in Betracht kommen. Ihre Prognose ist nicht immer günstig. Durch die 
meist bestehenden hinteren Synechien und die Verflüssigung des Glaskörpers 
‚können bei der Operation Zwischenfälle auftreten, die den Erfolg in Frage stellen. 
Durch erneute entzündliche Exsudationen kann es zu schwartigem Nachstar kommen. 

Die Enucleation war früher die häufigste Operation bei tuberkulöser Irido- 
cyclitis. Sie ist es heute nicht mehr in dem Maße, vielleicht als Erfolg der 
Tuberkulinbehandlung, vielleicht aber auch infolge anderer eingeschränkterer 
Indikationsstellung. Unbedingt zu enucleieren ist nach erfolgter Perforation und 
bei Phthisis bulbi mit erloschener Sehschärfe, bei der Schmerzen und weitere Reiz- 
zustände bestehen. Ist noch ein Bruchteil von Sehschärfe vorhanden, so sollte man, 
besonders bei doppelseitiger Erkrankung, die Enucleation möglichst hinausschieben, 
da selbst schwer erkrankte Augen ausheilen können. 

Die Tuberkulose der Aderhaut kann zunächst eine Teilerscheinung der Miliar- 
tuberkulose sein. Bei äußerlich reizlosem Auge und klaren brechenden Medien 
findet man im Augenhintergrund ein oder mehrere rundliche Flecke, von weißlich- 
gelblicher Farbe, in der Mitte heller als am Rande, wo die Färbung allmählich einen 
rötlichen Ton annimmt und ohne scharfe Grenzen in den normalen Augenhintergrund 
übergeht. Pigmentierung fehlt meistens, die Netzhautgefäße ziehen unverändert dar- 
über hinweg. Größere Tuberkel buckeln die Retina etwas vor. Eine gewisse Bevor- 
zugung des hinteren Augenpoles ist oft zu bemerken, Herde in der Peripherie des 
Augenhintergrundes aber auch häufig. Die Sehstörungen scheinen meist nicht sehr 
bedeutend zu sein, soweit man sich bei den somnolenten Patienten ein Urteil darüber 
bilden kann. Sehr kleine Knötchen können von dem intakten Pigmentepithel verdeckt 
sein. Erst bei weiterem Wachsen wird es zerstört und die zu grunde liegende Ader- 
hautveränderung mit dem Augenspiegel sichtbar. 

Charakteristisch ist das schnelle Aufschießen und Wachstum der Tuberkel. 
Rückbildungen sind bei längerer Dauer beobachtet. Wenn der Patient die Erkran- 
kung überlebt, so treten Pigmentverschiebungen auf, durch die der Herd eine 
scharfe schwarze Begrenzung erhält. Die meisten Patienten gehen jedoch schon 
wenige Tage nach Feststellung der Aderhauttuberkulose zu grunde. 

In der Hälfte der Fälle ist die Erkrankung doppelseitig. Sekundäre Sehnerven- 
entzündung, auch echte miliare Tuberkel des Sehnervenkopfes kommen dabei vor. 

Die Differentialdiagnose gegenüber angeborenen Anomalien oder anderen 
entzündlichen Netzhautveränderungen ist für den Geübten meist leicht. Eine Behandlung 
kommt bei der infausten Prognose der Miliartuberkulose nicht in Betracht. Diese ist vor 
allem eine Erkrankung des Kindesalters. Der Augenhintergrundsbefund kann für die 
Erklärung der Allgemeinsymptome von wichtiger differentialdiagnostischer Bedeutung 
werden. 

Wesentlich häufiger ist die tuberkulöse Chorioiditis in späteren Lebensaltern. 
Gleichzeitige tuberkulöse Erkrankung anderer Organe ist dabei etwa in einem Drittel 
der Fälle nachweisbar. Anzeigen für eine sonstige Tuberkulose können aber völlig 
fehlen. Auch kann sich an die Aderhauterkrankung eine Tuberkulose der Lungen, 
selten anderer Organe anschließen. Eine Bevorzugung des weiblichen Geschlechtes 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 33 


514 A. Meesmann. 


ist unverkennbar, es überwiegt das 2.—4. Jahrzehnt. Jenseits der Vierzigerjahre sind. 
nur seltene Fälle beobachtet worden. 

Die typische Form ist die Chorioiditis disseminata. Frische Herde sind er- 
kenntlich an ihrer trüben graugelben Farbe, ihre Form ist unregelmäßig rundlich, 
die Größe übertrifft selten den Durchmesser der Papille. Die Netzhaut ist über diesen 
Herden etwas prominent und Ödematös, die Grenzen daher verwaschen. Vereinzelte 
Herde kommen vor, u. zw. besonders gern in der Maculagegend. Man sieht frische 
Herde in dieser Gegend wahrscheinlich deswegen besonders häufig, weil sie besonders 
früh starke Sehstörungen verursachen und den Patienten zum Augenarzt führen.. 
Sitzen sie außerhalb der Fovea oder gar in der Peripherie, so können die subjektiven 
Beschwerden gering sein, sogar ganz fehlen. Schmerzhaftigkeit besteht nicht. In einigen 
Fällen wird über geringe Lichtscheu geklagt, die bei stärkerer Beleuchtung bis zu 
wirklichen Schmerzen ansteigt, z. B. auch bei der Untersuchung mit dem Augen- 
spiegel. 

Stärkere Entzündungserscheinungen in der Umgebung frischer Herde fehlen, 
ebenso Glaskörpertrübungen, die um so früher auftreten, je näher die Herde dem 
Ciliarkörper sitzen. Die Glaskörpertrübungen sind zum Unterschied von den luetischen 
Formen gröber und flockiger, während sie bei Lues sehr fein und staubförmig sind. 
Auch die Beteiligung der Netzhaut und des Sehnerven ist bei Lues stärker ausgesprochen. 
Sekundäre, toxische Entzündung der Sehnerven findet man aber auch bei Tuberkulose 
nicht selten. | 

Rückbildungserscheinungen treten in den nächsten 2—3 Wochen immer auf. 
Zunächst geht das Ödem der darüberliegenden Netzhaut zurück. Der Herd erhält 
dadurch schärfere Begrenzung, er flacht sich ab und besonders charakteristisch sind 
die Pigmentverschiebungen. Während der Herd durch die Resorption des zelligen 
und entzündlichen Materials immer durchsichtiger wird und eine atrophische Stelle 
in der Aderhaut zurückläßt, durch welche die weiße Sclera mehr oder weniger voll- 
ständig durchschimmert, tritt am Rande eine zunehmende schwarze Pigmentierung 
auf. Ein alter chorioiditischer Herd präsentiert sich demnach als eine kreisrunde oder 
mehr gestreckte, leuchtend weiße Stelle, die von schwarzen Pigmentflecken umgeben 
ist. Die Atrophie der Chorioidea kann eine unvollständige sein, so daß Gefäßreste meist 
stark sklerosiert und Pigment vor der Sclera liegen bleiben. Wird nur die Capillar- 
schicht der Chorioidea und das daraufsitzende Pigmentepithel zerstört, so sieht man 
außer Pigmentverschiebungen innerhalb des betroffenen Bezirkes die großen Gefäße 
der Chorioidea frei liegen. 

Nur sehr selten bleibt es aber bei einer einmaligen Attacke. Während der Re- 
sorption der ersten Herde treten neue auf, teils durch erneute Einschleppung von 
Bakterien auf dem Blutweg, teils durch kontinuierliches seitliches Weiterwuchern. 
Auch intrachorioideale Metastasen aus erweichenden Herden sind nicht selten. Das 
Leiden kann sich über Monate und Jahre erstrecken. Es entsteht so das charakteristische 
Bild der disseminierten Chorioiditis mit massenhaften weißen und schwarzen Herden, 
die über den ganzen Augenhintergrund verteilt sind. Ist dabei die Macula und ihre 
nächste Umgebung verschont, so kann die centrale Sehschärfe gut sein. Bei frischen 
Anfällen bestehen die Beschwerden oft im Flimmern, Sehen von Funken und Blitzen, 
Symptome, die als Reizerscheinungen der Netzhaut aufzufassen sind. Durch Ver- 
schiebung des Pigmentepithels und der in sie eintauchenden Stäbchen und Zapfen 
kann ein Verzerrtsehen der Gegenstände zu stande kommen. Beim Sitz in der Macula- 
gegend sind die Sehstörungen sofort sehr erheblich. Besserung ist selten und dann 
nur möglich, wenn die Schädigung der Macula nur in einem Ödem bestand. Über 


Tuberkulose und Auge. 515 


den ganzen Hintergrund verstreute Herde machen lochartige Defekte im Gesichts- 
feld, die gelegentlich von intelligenteren Patienten als positive Skotome beobachtet 
werden. Im allgemeinen machen sie jedoch kaum subjektive Beschwerden. Heme- 
ralopie, d. h. Abnahme des Sehens bei eintretender Dunkelheit ist ein häufiges Symptom. 

Das ophthalmoskopische Bild der frischen und noch mehr der alten Chorioi- 
ditis disseminata hat für Tuberkulose wenig charakteristisches. Die wichtigste Ab- 
grenzung, die gegen die luetische Aderhauterkrankung, ist aus dem Augenspiegel- 
bilde allein wohl kaum sicher möglich. Allerdings ist das Ödem der Netzhaut und 
des Papillenkopfes bei Lues meist stärker als bei Tuberkulose, auch sind die luetischen 
Herde meist kleiner. Diese Unterschiede sind aber nicht so prägnant, daß sie eine 
sichere ätiologische Diagnose erlauben. Allgemeinuntersuchung, Ausfall der Wasser- 
mannschen Reaktion und Tuberkulinprobe müssen: stets unterstützend hinzukommen. 
Andere Ätiologien kommen kaum in Frage. Immerhin kann aber auch die symphatische 
Ophthalmie mit chorioiditischen Herden beginnen. 

An eine chronische tuberkulöse Iridocyclitis kann sich eine Chorioiditis an- 
schließen und umgekehrt. Doch ist der letztere Zusammenhang ziemlich selten. In 
der weit überwiegenden Zahl der Fälle bleibt der vordere Bulbusabschnitt dauernd 
verschont. 

Die Prognose für das Sehen ergibt sich aus dem geschilderten Verlauf. Sie 
ist in jedem Falle ernst. Nur ein kleiner Prozentsatz behält normale Sehschärfe. Der 
Sitz der Herde ist ausschlaggebend. Rezidive sind fast die Regel. 

Eine zweite Form der Aderhauttuberkulose ist die diffuse Chorioiditis. Eine 
Abgrenzung gegen die vorige ist nicht immer möglich. Sie entsteht durch flächen- 
hafte Ausbreitung der tuberkulösen Infiltration, so daß große Teile des Augenhinter- 
grundes in verdickte graugelbe Massen verwandelt sind, über welche die Netzhaut- 
gefäße unverändert hinüberreichen. Ein prinzipieller Unterschied gegenüber der 
disseminata besteht nicht. Beide Formen kommen gleichzeitig nebeneinander vor. 

Selten ist ein größerer Konglomerattuberkel, der nach Art eines malignen 
Tumors in das Augeninnere vorwächst. Der weitere Verlauf ist der des Tumors der 
Chorioidea, gegen den er differentialdiagnostisch schwer abzugrenzen ist. Netzhaut- 
ablösung und sekundäre Drucksteigerung sind die Folge. Perforation der Sclera 
im hinteren Abschnitt und Hineinwuchern in die Orbita können vorkommen. So 
erkrankte Augen verfallen fast ausnahmslos der Enucleation. Ist die Diagnose sicher, 
so kann eine Tuberkulinkur versucht werden. | 

Die lokale Behandlung der tuberkulösen Chorioiditis beschränkt sich auf 
subconjunctivale Kochsalzinjektionen, die besonders bei Glaskörpertrübungen indiziert 
sind. Die Bestrahlungsmethoden sind später im Zusammenhang behandelt. Innerlich 
kann Jod von Vorteil sein. 

Eine echte Tuberkulose des Glaskörpers dürfte es wohl kaum geben. Es 
existiert nur ein von Deutschmann beschriebener Fall einer isolierten Glaskörper- 
tuberkulose, der allerdings von mancher Seite als nicht ganz einwandfrei abge- 
lehnt wird. 

Die Mitbeteiligung des Glaskörpers bei Iricyclitis und Chorioiditis wurde bereits 
erwähnt. Sie besteht in Trübungen, die meist flockiger, kompakter Natur sind. Doch 
kommen zweifellos auch feine, diffuse Formen vor, die im allgemeinen mehr für 
Lues charakteristisch sein sollen. Nach Abheilen des zu grunde liegenden tuberkulösen 
Prozesses bleiben die Glaskörpertrübungen meist noch längere Zeit bestehen. 

Die Tuberkulose der Netzhaut galt bis vor wenigen Jahren als ein sehr seltenes 
Leiden. In einigen Fällen wurden bei der anatomischen Untersuchung von Augen, 

33° 


516 A. Meesmann. 


die wegen einer tuberkulösen Iridocyclitis entfernt waren, sekundäre Tuberkel der 
Netzhaut gefunden. Mit dem Augenspiegel ist eine Tuberkulose der Netzhaut nur 
sehr selten diagnostiziert worden. 

Von einigen Autoren wird auch die Retinitis exsudativa externa (Coats) 
für Tuberkulose gehalten. Diese Annahme stützt sich im wesentlichen auf die 
Tuberkulinreaktion und den Erfolg einer Tuberkulinbehandlung. Der endgültige 
Beweis für die tuberkulöse Natur dieses Leidens ist aber noch keineswegs erbracht, 
vielmehr gewinnt die Auffassung immer mehr an Boden, nach welcher es sich zu- 
nächst um Gefäßveränderungen handelt, wahrscheinlich auf der Grundlage einer 
angeborenen Gefäßanomalie. Ophthalmoskopisch findet man große flächenhafte 
Exsudate in den tiefsten Netzhautschichten und auch zwischen Netzhaut und Ader- 
haut. Das Leiden tritt bei jugendlichen, sonst gesunden Patienten zwischen dem 
14. und 20. Lebensalter auf, ist einseitig, progressiv und einer Therapie anscheinend 
` nicht zugängig. Spontanausheilung kommt vor, häufiger ist aber der Ausgang in 
sekundäre Drucksteigerung, Netzhautablösung oder Phthise. 

Während für dieses Leiden die tuberkulöse Ätiologie recht unwahrscheinlich 
ist, hat sich für eine andere, durchaus nicht so seltene Erkrankung, die rezidivieren- 
den Glaskörperblutungen Jugendlicher, die tuberkulöse Ätiologie nachweisen 
lassen. Diese bei vorwiegend männlichen Patienten im 2. und 3. Lebensjahrzehnt 
vorkommende Erkrankung ist gekennzeichnet durch Blutungen in den Glaskörper, 
die meist so hochgradig sind, daß das ganze Krankheitsbild von ihnen beherrscht 
wird. Die Blutungen entstehen plötzlich, ohne äußeren Anlaß. Das Auge ist dabei 
äußerlich völlig reizlos. Mit dem Augenspiegel sieht man massenhafte Blutungen 
in den hinteren Glaskörperschichten, die so dicht sind, daß nur in selteneren Fällen 
eine Untersuchung des Augenhintergrundes selbst durchzuführen ist. Ist die Netz- 
haut ophthalmoskopisch sichtbar, so findet man in ihr meist ebenfalls multiple 
Blutungen und gelegentlich Veränderungen an den Venen, die zuerst von Axen- 
feld und Stock beschrieben wurden und die Aufmerksamkeit auf die tuberkulöse 
Ätiologie lenkten. Sie bestehen in gräuweißen Einscheidungen der Venenwände, neben 
kleinen knotigen lokalen Verdickungen. Blutungen aus solchen Stellen konnten die 
genannten Autoren als erste feststellen. Die Folge der Gefäßwanderkrankung kann um- 
schriebene Obliteration der Gefäße sein mit Stauung und Anastomosenbildung (Fig. 127). 

Als Ursache der rezidivierenden Glaskörperblutungen wurde also eine Er- 
krankung der Venenwände nachgewiesen, deren tuberkulöse Ätiologie von Axen- 
feld und Stock aus dem klinischen Bild und dem Ausfall der Tuberkulinreaktion 
geschlossen wurde. Der anatomische Nachweis ließ nicht lange auf sich warten und 
wurde zunächst von Fleischer erbracht, der Epitheloid- und Riesenzellen sowie 
Tuberkelbacillen nachweisen konnte. Der Infektionsweg kann einmal der Lymph- 
scheidenweg sein, der dann zu den von Axenfeld beschriebenen Adventitiatuberkeln 
führen dürfte. Durch Arrosion der Gefäßwände kommt es bei unverschlossenem 
Gefäßlumen zu Blutungen der beschriebenen Art. Ist der Infektionsweg der Blut- 
weg, so werden sich die Bakterien in der Intima ansiedeln, namentlich gern an 
Teilungsstellen der Venen. Die Folge ist dann eine Obliteration des Oefäßes. 
Ophthalmoskopisch lassen sich diese Veränderungen in einzelnen Fällen erkennen. 

Der Verlauf der Krankheit ist ein besonders typischer. Es kommt zunächst zu 
einer Resorption der Glaskörperblutung. Auch die Netzhautveränderungen können 
vollständig verschwinden, so daß das anfangs schwer geschädigte Sehen sich völlig 
wiederherstillt. Nach wenigen Wochen oder auch nur Tagen treten jedoch neue 
Blutungen auf, oft auch auf dem zweiten Auge. Sie wiederholen sich in regellosen 


Tuberkulose und Auge. 517 


Abständen und allmählich wird das Sehen immer weiter zerstört. Organisation der 
Glaskörperblutungen führt zu dicker Strangbildung von der Netzhaut aus, zu dem 
Bilde der sog. Retinitis proliferans. 

Die Prognose ist entsprechend dem geschilderten Verlauf eine ernste, wenn 
auch nicht in jedem Falle absolut ungünstig. Ausheilung mit voller oder doch nur 
wenig geschädigter Sehschärfe kommt in einem Teil der Fälle vor. Selbst wenn bei 
frischer Blutung das Sehen bis auf Lichtschein mit unsicherer Projektion gesunken 
war, kann doch nach Resorption des Blutes normale Sehschärfe wieder eintreten. 
Durch oft wiederholte Anfälle wird natürlich das Sehen auf die Dauer immer mehr 
zerstört, völlige Erblindungen sind aber die Ausnahme. Doppelseitigkeit besteht 
in etwa der Hälfte der Erkrankungsfälle. 


Fig. 127. 


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Periphlebitis tuberculosa mit Venenwandeinscheidungen, Netzhautblutungen und neugebildeten, stark 
geschlängelten Geläßanastomosen (nach A. Loewenstein). 


Differentialdiagnostisch ist zu bemerken, daß Blutungen in den Glas- 
körper auch aus anderen Ursachen entstehen können, z.B. bei Iridocyclitis. Der 
weitere Verlauf erlaubt aber meistens die richtige Diagnose. Traumatische Blutungen 
lassen sich natürlich leicht ausschließen. 

Die Therapie beschränkt sich im wesentlichen auf die Fernhaltung aller 
Schädigungen, die zu erneuten Blutungen Veranlassung geben können, also schwere 
körperliche Anstrengung, Bücken etc. Zu den Schädigungen ist auch das Tuber- 
kulin zu rechnen, das im allgemeinen kontraindiziert sein dürfte. Als innerliche 
Medikation kommt Jod und Arsen in Betracht. 

Als weitere Folge der tuberkulösen Periphlebitis wäre die Ablatio retinae 
zu nennen. Sie entsteht hierbei auf dem Umwege über die Glaskörperblutungen 
und deren Organisation. Durch Schrumpfung des so entstandenen Bindegewebes 
kommt es in einigen Fällen zu einer Netzhautablösung durch Zug an ihrer Innen- 
seite. Aber noch ein anderer, vielleicht häufigerer Zusammenhang zwischen Ablatio 
retinae und Tuberkulose ist möglich, u. zw. bei der spontanen, sog. idiopathischen 
Netzhautablösung in nicht myopischen Augen. Ihre Entstehung ist nicht auf Retraction 


518 A. Meesmann. 


durch Glaskörperschrumpfung zurückzuführen, sondern viel wahrscheinlicher auf 
eine exsudative Chorioiditis. Man findet nicht selten im Anschluß an eine solche 
Netzhautablösung eine chronische Iridocyclitis, deren Aussehen und Verlauf den 
Gedanken an eine tuberkulöse Ursache nahelegt. Auch bei einer chronischen, tuber- 
kulösen Iridocyclitis ist gelegentlich eine Netzhautablösung zu beobachten. Neuerdings 
ist von Meller und Lauber darauf hingewiesen worden, daß bei der tuberkulösen 
Aderhautentzündung flache Abhebungen der Netzhaut nicht zu den Seltenheiten 
gehören. Eine eigene entsprechende Beobachtung sei kurz angeführt. 

Bei einem 47jährigen Patienten war vor mehreren Jahren das linke Auge an Netzhautablösung 
erblindet. Rechts keıne Myopie. Seit mehreren Tagen spontane Netzhautablösung auch rechts, u. zw. 
an einer circumscripten Stelle des hinteren Poles. An der Grenze der Abhebung, teilweise in sie hinein- 
reichend, fand sich ein frischer Aderhautherd. Der Glaskörper war stark flockig getrübt. Auf Tuber- 
kulin außer Allgemeinreaktion deutliche Herdreaktion, bestehend in Zunahme der Glaskörpertrübungen. 
Im weiteren Verlauf der Kur nahmen dıe Trübungen ab, die Ablösung legte sich fast völlig wieder an. 

Auf eine anscheinend andere Art der tuberkulösen Netzhautablösung wies kürz- 
lich Schall hin. Bei 23 jüngeren, meist männlichen Patienten fand er flache Netzhaut- 
ablösungen, gleichzeitig mit Veränderungen an den Netzhautgefäßen, besonders an den 
Venen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Periphlebitis retinalis hatten. Der Olaskörper 
war auch in diesen Fällen dicht getrübt. Die tuberkulöse Ätiologie wird auf Grund der 
Tuberkulinreaktion und der bessernden Wirkung der Tuberkulinkur angenommen. 

Zweifellos wird sich nicht in allen Fällen spontaner Netzhautabhebung die 
Tuberkulose als Ursache nachweisen lassen. Immerhin ist aber durch die beschrie- 
benen Beobachtungen ein Fingerzeig gegeben, in welcher Richtung die Ursache zu 
suchen ist. Jedenfalls ist schon jetzt der Versuch einer Tuberkulinkur dieses deletären 
Augenleidens dringend zu empfehlen, wenn man sich auch keine übertriebenen Hoff- 
nungen machen soll. Ob bei der myopischen Netzhautabhebung die Tuberkulose 
eine Rolle spielt, ist ebenfalls erörtert worden. Auch die myopische Netzhautabhebung 
ist sicher nicht durch Retraction bedingt, sondern ebenfalls durch eine exsudative 
Entzündung, wahrscheinlich der Aderhaut. Meller nimmt auch für diese die tuber- 
kulöse Ursache als sehr wahrscheinlich an. 


Tuberkulose des Sehnerven, die im ophthalmoskopischen Bilde direkt zu er- 
kennen ist, wurde in der Literatur mehrfach beschrieben. Es handelt sich jedoch um 
seltene Erkrankungen, so daß sich ein genaueres Eingehen hierauf erübrigt. Nicht 
anders ist es mit der durch Tuberkulose bedingten Neuritis optica. 

Eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose bleibt auch die Feststellung einer tuber- 
kulösen Erkrankung des Opticusstammes, die von einigen Autoren für etwas 
häufiger gehalten wird. Klinisch handelt es sich um das Bild der sog. retrobulbären 
Neuritis. Finden sich tuberkulöse Erkrankungen in der Nähe des Opticus, z.B. in 
der Aderhaut, der Orbita, in den Nebenhöhlen od. dgl., so hat die Annahme einer 
echten tuberkulösen Opticuserkrankung immerhin noch einige Berechtigung. Viel 
problematischer bleibt dagegen die Diagnose, wenn ausschließlich die Symptome 
einer retrobulbären Neuritis bestehen, für die keine andere Ursache zu finden ist. 
Die Tuberkulinreaktion bleibt dann die einzige Stütze. 


Selten ist auch die Tuberkulose der Orbita, wenn man von der tuberkulösen 
Erkrankung der knöchernen Orbitalränder absieht. In den wenigen beschriebenen 
Fällen handelte es sich um sekundäre Infektion, ausgehend von einer Aderhaut-, 
Nebenhöhlen-, Tränendrüsen- oder Tränensacktuberkulose. Die Therapie wird meist 
eine chirurgische sein, die jedoch möglichst lange hinauszuschieben ist, da auch 
nach chirurgischem Eingriff die Heilung keineswegs sicher, vielmehr weitere Schädi- 
gung des Sehorganes zu befürchten ist. 


Tuberkulose und Auge. 519 


Mitbeteiligung des Sehorganes bei tuberkulöser Erkrankung der Meningen tritt 
nach Uhthoff in etwa der Hälfte der Fälle ein. Am häufigsten ist die Neuritis 
optica, deren ophthalmoskopisches Aussehen nichts Besonderes hat und keine Unter- 
scheidung von einer solchen anderen Ursprunges zuläßt. Gleichzeitige Tuberkulose 
der Chorioidea ist nicht häufig und deutet mehr auf eine hämatogene Metastasierung 
als auf ein Übergreifen von dem Sehnerven aus. Man findet daher die Kombination 
zwischen Chorioiditis und Neuritis optica viel häufiger bei Miliartuberkulose als bei 
Meningitis tuberculosa. Im allgemeinen ist wie erwähnt die Beteiligung des Seh- 
nerven bei tuberkulöser Chorioiditis nicht häufig. Wie überhaupt bei Meningitis, so 
spielt auch bei der tuberkulösen Form dieser Erkrankung die Stauungspapille 
nur eine untergeordnete Rolle. Ihr Vorkommen deutet vielmehr auf eine Kombi- 
nation mit einem Solitärtuberkel des Gehirnes hin. Bing fand nur einmal eine 
Stauungspapille bei tuberkulöser Meningitis. Bei der Sektion zeigte sich, daß das 
Exsudat in atypischer Weise hauptsächlich die Gehirnkonvexität betraf. 

Pupillenstörungen sind bei tuberkulöser Meningitis ziemlich häufig. 
Ein besonderer Typ herrscht nicht vor. Am häufigsten ist Anisokorie, dann vermin- 
derte Reaktion auf Lichteinfall bis zur reflektorischen Starre auch bei erhaltenem 
Sehvermögen. Hippusartige Schwankungen der Pupillenweite, die zur Annahme 
einer paradoxen Lichtreaktion Veranlassung geben können, sind gelegentlich be- 
obachtet worden. In späteren Stadien der Krankheit sind die Pupillen meist erweitert 
und starr. ' 

Da die tuberkulöse Meningitis eine. ausgesprochen basale Erkrankung ist, so 
sind Augenmuskellähmungen recht häufig. Sie treten ebenfalls etwa in der Hälfte 
der Fälle auf und sind meist inkomplett. Am häufigsten ist die Abduzenslähmung. 
Auch der Oculomotorius wird öfter betroffen. Am seltensten ist eine Trochlearis- 
lähmung. Eine genaue Analyse der Lähmungen ist bei den meist benommenen Kranken 
nicht möglich. Die Diagnose stützt sich auf ausgesprochene anomale Stellungen der 
Augen oder eine Ptosis. Konjugierte Deviation der Augen ist ebenfalls gelegentlich 
zu beobachten, meist mit gleichzeitiger Abweichung des Kopfes. Sie ist durch corti- 
cale Reizung bedingt, während die seltene seitliche Blicklähmung auf eine Mit- 
erkrankung des Pons hindeutet. Totale Ophthalmoplegie ist selten, ebenso Fazialis- 
parese mit Lagophthalmus. Durch Trigeminusschädigung kann es zu einer Keratitis 
neuroparalytica kommen. 

Die Tuberkulose der Gehirnsubstanz selbst, u. zw. sowohl der weißen wie 
der grauen, ist der tumorartige Solitärtuberkel. Die durch ihn hervorgerufenen oku- 
laren Symptome sind die des Hirntumors. Die Stauungspapille ist das wichtigste 
Symptom, dessen Häufigkeit sich nach dem Sitz des Tuberkels richtet. Besonders 
häufig ist sie bei Sitz der Erkrankung im Kleinhirn, nämlich in etwa der Hälfte der 
Fälle. Die Stauungspapille entwickelt sich schnell und wird meist hochgradig. Sie 
ist auch bei einseitiger Erkrankung in den allermeisten Fällen beiderseitig gleich stark 
entwickelt und zeigt große Neigung zur Sehnervenatrophie. Auch die übrigen Hirn- 
drucksymptome sind bei diesem Sitz hochgradig ausgesprochen. Diese Besonder- 
heiten erklären sich wahrscheinlich durch die räumliche Beschränkung des Kleinhirns 
zwischen Schädelbasis und Tentorium und seine engen topographischen Beziehungen 
zum 4. Ventrikel. Es genügen daher auch die Solitärtuberkel dieser Gegend, die im 
allgemeinen nur eine geringe Größe und Wachstumstendenz haben, um diese schweren 
Erscheinungen hervorzurufen. Bei Sitz im Stirnhirn oder Schläfenlappen treten oku- 
lare und Hirndrucksymptome später seltener und geringgradiger auf, am seltensten 
bei Sitz im Hinterhauptlappen, den Hirnschenkeln und im Pons. 


520 A. Meesmann. 


Was nun die Häufigkeit der tuberkulösen Ätiologie unter den raum- 
beschränkenden Prozessen im Schädel angeht, so ist diese wesentlich höher 
zu veranschlagen, als allgemein bekannt sein dürfte. Die von Uhthoff aus der 
Literatur zusammengestellten Zahlen berücksichtigen nur Fälle, bei denen die Dia- 
gnose absolut sicher bei der Autopsie gestellt werden konnte. Zweifellos ist aber ein 
Teil der Solitärtuberkel im Gegensatz zu malignen Tumoren einer Heilung zugänglich, 
so daß die durch Sektion gewonnenen Zahlen zu niedrig sein werden. Namentlich 
im Kindesalter dürfte der von Heine angegebene Prozentsatz von 50 ziemlich das 
Richtige treffen. Unter 14 Kleinhirntumoren bei Kindern fand Kohts 9 Solitär- 
tuberkel, Kraus unter 100 Fällen 22 Tuberkulome und Barthélémy unter 61 Klein- 
hirnaffektionen 14. Nach Uhthoff ist der Prozentsatz der Tuberkulose bei Erkrankun- 
gen des Pons fast 45, der Großhirnschenkel 40 und der Vierhügel fast 30. Seltener 
sind tuberkulöse Affektionen in der Gegend des 4. Ventrikels und keine Rolle ` 
scheint die Tuberkulose bei den sog. Acusticustumoren im Kleinhirnbrückenwinkel 
zu spielen. 


Die skrofulösen Augenerkrankungen. 


Eine Abgrenzung der skrofulösen Erkrankungen von den tuber- 
kulösen ist aus verschiedenen Gründen notwendig geworden. Der eindeutigste ist 
das Fehlen der Tuberkelbacillen in den skrofulös erkrankten Geweben. Wenn somit 
der Tuberkelbacillus als specifischer Erreger der Skrofulose auszuschließen ist, so 
sind doch die Beziehungen zur Tuberkulose nicht ohneweiters von der Hand zu 
weisen, sondern sogar zum Teil recht enge. 

Im jugendlichen Alter spielt die nicht specifische Disposition, die exsudative 
Diathese (Czerny) anerkanntermaßen eine wesentliche Rolle. Daß auf dem Boden 
einer solchen Diathese ohne specifische Reize skrofulöse Erkrankungen auftreten 
können, beweist unter anderem der negative Ausfall der Tuberkulinreaktion (Klein- 
schmidt). Freilich handelt es sich um wenig schwere, vereinzelte Fälle, denen die 
große Zahl mit positivem Ausfall gegenübersteht. So ist z. B. der Prozentsatz der 
positiv reagierenden Kinder mit skrofulösen Augenerkrankungen mindestens 90. 
Auf Grund dieser Tatsache ist in der Ophthalmologie die Annahme am meisten 
verbreitet, daß die Skrofulose die Tuberkulose der Kinder mit exsudativer Diathese 
sei. Ob für die Entstehung der phlyktänulären Binde- und Hornhauterruptionen die 
Anwesenheit der Tuberkelbacillen notwendig ist, oder ob es sich hierbei nur um rein 
toxische Wirkungen handelt, ist eine vielfach erörterte Frage. Schon früher hat 
Calmette auf Grund seiner Meerschweinchenversuche betont, daß die skrofulösen 
Augenentzündungen einer direkten Impfung der Conjunctiva mit Tuberkelbacillen 
ihre Entstehung verdanken. Baumgartner und Koch (Josef) haben neuerdings, 
von den gleichen Erwägungen ausgehend, die Auffassung vertreten, daß es sich um 
eine Infektion mit bacillenhaltigen Tröpfchen handelt, die, von Phthisikern her- 
stammend, namentlich bei unsauberen und unhygienischen Verhältnissen oft genug 
in die Conjunctiva der Kinder gelangen werden. 

Es ist bisher in keinem Falle gelungen, in den typischen skrofulösen Errup- 
tionen der Bindehaut, den Phlyktänen, Tuberkelbacillen nachzuweisen, ebenso 
ist der Überimpfungsversuch stets negativ ausgefallen. Stargardt, der Hauptver- 
fechter der tuberculo-bacillären Ätiologie der Phlyktäne, erklärt dies mit der starken 
Allergie des Gewebes, die zu einer heftigen lokalen Reaktion und damit zu einer 
schnellen Vernichtung der Tuberkelbacillen führt. Von anderer Seite ist die Unsicher- 
heit im Bacillennachweis und im Überimpfungsversuch bei Tuberkulose angeführt 


Tafel XVII. Ergebnisse der gesamten Medizin, VI. 
A. Meesmann: Tuberkulose und Auge. 


Fig. 1. Fig. 2. 





Frische Tuberkel der Chorioidea Ausgeheilte Aderhauttuberkel 
(vgl. S. 514). (vgl. S. 514). 


Fig. 3. 





Alte Chorioretinitis 
(vgl. S. 514). 


Verlag von Urban & Schwarzenberg in Berlin u. Wien. 


Tuberkulose und Auge. 521 


worden. Allerdings liegen die Verhältnisse im Vergleich zur Tuberkulose anders, 
da bei Skrofulose die genannten Untersuchungen ausnahmslos negative Resultate 
gezeitigt haben. 

Daß durch unspecifische Reize typische skrofulöse Erruptionen in der Binde- 
haut hervorgerufen werden können, ist auch durch verschiedene Tierversuche bewiesen. 
So konnte Rosenhauch, dessen Versuchsergebnisse von Rubert und Kuboki 
bestätigt wurden, bei tuberkulösen Tieren durch Einbringen von lebenden und 
abgetöteten Staphylokokken und deren Toxinen typische Phlyktänen erzeugen. In 
gleichem Sinne sind auch die Untersuchungen von Funaishi zu verwerten, der 
nach Sensibilisierung von Kaninchen mit Tuberkulin, durch Tuberkulin- und ebenso 
durch Staphylokokkentoxin und Tyramineinbringung in den Bindehautsack Phlyktänen 
erzeugen konnte. Bei tuberkulosefreien Tieren entstand immer nur eine unspecifische 
uncharakteristische Bindehautentzündung. Besonders bemerkenswert erscheint, daß 
es demselben Autor gelang, nach Vorbehandlung mit Tyramin und Staphylokokken- 
toxin, Legumin und Casein ebenfalls eine Überempfindlichkeit zu erzielen, die nach 
Einbringen von Tuberkulin, Tyramin und auch Pneumokokkenextrakt in den Binde- 
hautsack zum Aufschließen typischer Phlyktänen führte. Will man diese Versuchs- 
ergebnisse auf den Menschen übertragen, so ist die Phlyktäne als die Reaktion der 
Bindehaut auf einen Reiz aufzufassen, bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit des 
betreffenden Individuums. Daß beim Menschen als Ursache für die Überempfindlich- 
keit vor allem die Tuberkulose in Betracht kommt, geht außer aus klinischen Er- 
wägungen aus den eingangs erwähnten Untersuchungen Koellners hervor, der 
die engen Beziehungen zwischen den skrofulösen Erkrankungen des Auges und der 
Tuberkulinempfindlichkeit der Haut nachwies. Ob beim Menschen durch andere 
Eiweißstoffe oder sonstige Toxine eine ähnliche Sensibilisierung hervorgerufen 
werden kann, ist durchaus wahrscheinlich, wenn auch zunächst nicht bewiesen. 

Engelking hat neuerdings angenommen, daß neben der exsudativen noch 
eine weitere Diathese für die Entstehung skrofulöser Erkrankungen von Bedeutung 
ist, nämlich die seborrhoische, die in der Pubertätszeit auftritt. Dieser Auffassung 
kommt auch eine therapeutische Bedeutung zu, da bei der Seborrhöe die Salicyl- 
säure als wirksames Heilmittel gilt. 

Die skrofulösen Erkrankungen des Auges kommen nicht nur dem ÄAugen-, 
sondern auch dem Allgemeinarzt außerordentlich häufig zur Beobachtung. Die 
einzelnen Krankheitsbilder dürften so allgemein bekannt sein, daß sich eine genauere 
Beschreibung erübrigt. Eine Unterscheidung von echter Tuberkulose dürfte nur in 
Ausnahmefällen Schwierigkeiten machen. Das besonders Typische der skrofulösen 
Augenerkrankung ist das Fortschreiten von außen nach innen. An Kratzeffekte, Öftere 
Befeuchtung der äußeren Haut, so auch der Lider, schließen sich besonders oft bei 
Kindern mit exsudativer Diathese skrofulöse Eruptionen an. So erklärt sich die 
wichtige schädigende Rolle der Unsauberkeit und anderer unhygienischer Lebens- 
bedingungen. Anderseits können akute Infektionskrankheiten durch Beeinträchtigung 
des Allgemeinzustandes als auslösendes Moment in Betracht kommen. Am bekanntesten 
sind in dieser Beziehung die Masern. 

Die Erkrankungen der äußeren Lider sind die Ekzeme, namentlich des 
Lidrandes, von der leichten Blepharitis squammosa bis zu schwersten ulcerösen 
Formen. Hordeala, Schwellung der ganzen Lider DIS zur E ER sind keine 
seltenen Komplikationen. 

Die häufigste Form der Bindehauterkrankung ist die Phlyktäne, kleine 
grau-gelbliche, etwas prominente Knötchen, die zu lokaler Gefäßinjektion Veranlassung 


522 A. Meesmann. 


geben. Sie sind fast immer multipel und sitzen mit Vorliebe am Limbus, kommen aber 
auch in einiger Entfernung davon vor (Fig. 128). Auch die Bindehaut der Lider ist oft 
mit Phlyktänen besetzt, die leicht übersehen werden können. Daneben kommen aber 
uncharakteristische diffusse Bindehautentzündungen vor, von leicht schleimig-eitrigen 
Formen bis zur stärksten Schwellung der Schleimhaut mit Follikelbildung, pauken- 
artiger Auftreibung der Lider und Pseudomembranen in der Übergangsfalte. Phlyktäne 
können gleichzeitig bestehen oder auch später auftreten. 

Die Phlyktäne hat im allgemeinen nur eine beschränkte Dauer. Sie besteht 
aus einer Lympho- und Leukocyteninfiltration, die bald central erweicht und re- 
sorbiert wird, ohne eigentliche Narben zurückzulassen. Größere Phlyktänen, die 
besonders bei älteren Patienten vorkommen, sind oft sehr viel hartnäckiger. Sie 
können mit tuberkulöser Skleritis verwechselt werden, unterscheiden sich von dieser 

aber durch die centrale Erweichung, die bei der 
FR Skleritis nicht vorzukommen scheint. 

Eine schwere Gefahr für das Sehen tritt 
immer ein, wenn dieErkrankung aufdieHorn- 
haut übergreift. Isolierte Hornhautinfiltrate 
kommen vor, öfter bestehen gleichzeitig Phlyk- 
tänen in der Bindehaut. Der Sitz ist mit einer ge- 
wissen Vorliebe die Peripherie der Hornhaut, wo 
sich multiple kleine Infiltrate entwickeln. Central 
gelegene Infiltrate werden meist größer und neigen 
dazu, in die tieferen Schichten einzudringen. Horn- 
hautabscesse können sich anschließen, bis zur 
Perforation mit Irisprolaps und in schweren Fällen 
bis zur Phthise des Auges. Diese betrifft vor 
allem den vorderen Augenabschnitt. Durch Zug 
der geraden Augenmuskeln entsteht das Bild der 
Phthisis bulbi quadrata. Zu erwähnen ist, daß sich 
an eine solche durch ein Ulcus entstandene Per- 





Phlyktänen am Limbus corneae 


nach Alliöewensteim: foration eine sympathische Ophthalmie nicht 
anschließt. 


Für die skrofulösen Hornhauterkrankungen ist das fleckförmige besonders 
charakteristisch. Entsprechend dem zunächst immer oberflächlichen Sitz ist die Gefäß- 
entwicklung ebenfalls stets oberflächlich. Die Gefäße stammen aus der Bindehaut 
und lassen sich kontinuierlich bis zu den größeren Gefäßstämmen in der Bindehaut 
verfolgen. Erst beim Eindringen des Infiltrates in die tieferen Schichten entwickeln 
sich auch reichlich tiefe Gefäße, ciliare Injektion und eine sekundäre Iritis. 

Die Abheilung der Infiltrate gleicht der der Phlyktänen. Sie erweichen central 
und werden resorbiert. Das Epithel, das meist über ihnen zerfällt, regeneriert sich 
nach Reinigung des Ulcus schnell. Es entsteht so das bekannte Bild der Hornhaut- 
facette. Von der Substantia propria aus wird der zurückbleibende Gewebsdefekt 
durch undurchsichtiges Bindegewebe ausgefüllt und das Resultat ist eine fleckförmige 
Hornhauttrübung, die je nach der Tiefe, bis zu welcher das Ulcus vorgedrungen 
war, mehr oder weniger dicht ist. 

Eine besondere Form des skrofulösen Hornhautinfiltrates ist die Wander- 
phlyktäne oder Keratitis fascicularis. Ein dichtes Infiltrat mit oberflächlicher 
Epithelverdickung schiebt sich von der Peripherie centralwärts, oft auch quer über 
die ganze Hornhaut vor, gefolgt von einem schmalen Bändchen, das aus zahlreichen 


Tuberkulose und Auge. 523 


dicht nebeneinander gelagerten oberflächlichen Gefäßen besteht. Sie pflegt eine dichte 
Narbe zurückzulassen (Fig. 129). 

In schweren Fällen kommt es zu einer mehr diffusen Erkrankung der ganzen 
Hornhautoberfläche mit zahlreichen Gefäßen, die von allen Seiten aus der Binde- 
haut in die oberen Hornhautschichten hineinwachsen. Diese als Pannus scrofulosus 
bezeichnete Erkrankungsform kann verschieden stark entwickelt sein. Schwere Formen 
werden als Pannus crassus und bei beson- 
ders reichlicher Gefäßentwickung als Pannus 
carnosus bezeichnet. | 

Einschmelzung der gesamten Horn- 
haut ist selten und kommt nur bei stark unter- 
ernährten Patienten vor. Sie wurden während 
der letzten Kriegsjahre und in den ersten 
Nachkriegsjahren häufiger beobachtet. In der 
gleichen Zeit waren ja die skrofulösen Augen- 
erkrankungen besonders häufig und schwer. 
Auf die Ähnlichkeit dieser Fälle mit der Kera- 
tomalacie ist von verschiedenen Seiten hingewiesen und das Krankheitsbild in Be- 
ziehung zu den Avitaminosen gebracht worden. Wie bei der Keratomalacie hat 
sich der Lebertran und ebenso Butter als besonders wirksam erwiesen. 

Die Beschwerden bei skrofulösen Augenerkrankungen sind neben der 
Sehstörung die Lichtscheu, die sich bis zu den schwersten Graden des Lidkrampfes 
steigern kann. Bekannt ist die hierdurch bedingte vornübergeneigte Kopfhaltung. 
Die pastöse Schwellung des Gesichtes, namentlich 
der Lippen, die rüsselförmige Nase und die Ekzeme 
am Naseneingang, Kopf und hinter den Ohren ver- 
vollständigen das typische Bild des Habitus scrofu- 
losus (Fig. 130). Bei verschmutzten Kindern sind 
die Pediculi capitis eine fast regelmäßige Begleit- 
erscheinung. 

Nach Engelking sind die Ekzeme im Ge- 
sicht, an der behaarten Kopfhaut und hinter dem 
Ohr als rein exsudativ-diathetisch aufzufassen, 
während am Naseneingang, in den Mundwinkeln 
und vor dem Ohr die tuberkulogene Hautdisposition 
eine Rolle spielen soll. Das Ekzem am Naseneingang 
ist meist die Folge eines skrofulösen chronischen 
Schnupfens, ebenso kommt am Ohr die skrofulöse 
Otorrhoe in Betracht. Rhagaden an den Lidwinkeln, 
die bei gewaltsamem Öffnen der Lider immer wieder 
aufplatzen, sind besonders schmerzhaft und können 
noch lange Zeit nach Abheilen der Horn- und Bindehauterkrankungen zu einem 
Lidkrampf Veranlassung geben. 

Zu erwähnen ist noch, daß phlyktänenähnliche Eruptionen in der Bindehaut 
vorkommen, denen nach Bayer eine Sonderstellung zukommt. Es sind dies wasser- 
helle, transparente Knötchen in der Bindehaut des Augapfels, die kleiner sind als 
die Phlyktänen und keine Neigung zum Zerfall zeigen. Sie werden von Friede 
und Engelking als Lichen aufgefaßt, während Stargardt sie als Tuberkulide 
bezeichnet und ihnen eine Sonderstellung den Phlyktänen gegenüber aberkennt. 


Fig. 129. 





Keratitis fascicularis (nach A. Loewenstein). 


Fig. 130. 





Habitus scrofulosus (nach A. Loewenstein). 


524 A. Meesmann. 


Skrofulöse Erkrankungen des inneren Auges gibt es nicht. Die Mit- 
_ beteiligung der Iris ist immer die rein sekundäre und besteht im wesentlichen in 
Hyperämie und geringer sero-fibrinöser Exsudation. Auch Zellen, namentlich Lympho- 
cyten, kommen im Kammerwasser vor. Die Neigung zur Synechienbildung ist meist 
nur gering. Mydriatica sind jedoch in jedem Fall mit deutlicher ciliarer Injektion 
indiziert. 

Die Prognose der skrofulösen Augenerkrankungen ist von Fall zu Fall sehr 
verschieden. Sie wird stets erheblich beeinträchtigt durch die Gefahr der Rezidive, 
die so gut wie nie ausbleiben. Jede Beteiligung central gelegener Hornhautteile be- 
deutet natürlich eine große Gefahr für das Sehen. Das skrofulöse Infiltrat oder Ulcus 
heilt stets unter Hinterlassung einer mehr oder weniger undurchsichtigen Narbe 
aus. Allerdings ist die Aufhellung manchmal eine erstaunliche, aber selbst dünne 
relativ durchsichtige Hornhautflecke bedeuten, wenn sie central liegen, ein erhebliches 
optisches Hindernis, nicht nur wegen der herabgesetzten Durchlässigkeit für Licht- 
strahlen, sondern auch weil über solchen Stellen die stets unebene Hornhautober- 
fläche einen Astigmatismus irregularis bedingt. Hochgradige Verminderung des 
Sehens bis zur Gebrauchsunfähigkeit des Auges ist aber immerhin nicht häufig. Sie 
schließt sich an Perforation, Hornhautabceß oder Einschmelzung größerer Hornhaut- 
teile an. 

Wichtig für die Beurteilung der Prognose sind die sozialen Verhältnisse, unter 
denen die erkrankten Kinder aufwachsen. Von den ekzematösen Augenerkrankungen 
sind ja besonders die Kinder des Großstadtproletariats betroffen. Sauberkeit, Licht 
und Luft spielen bei der Behandlung und Prophylaxe eine außerordentlich wichtige 
Rolle. Es ist in größeren Augenkliniken leider sehr oft die Erfahrung zu machen, 
daß Kinder, die nach mehrwöchentlicher stationärer Behandlung vollkommen ab- 
geheilt sind, schon wenige Tage nach der Entlassung genau so verschmutzt und 
mit ebenso schweren Augenerkrankungen wiedergebracht werden, wie bei der Auf- 
nahme. Die städtische soziale Fürsorge muß hier unterstützend eintreten und die 
Forderung nach luftigen, sonnigen Spielplätzen und Schaffung besserer Wohnver- 
verhältnisse ist immer wieder erneut zu stellen. 

Die lokale Behandlung der skrofulösen Binde- und Hornhauterkrankungen 
wird vielfach auch Sache des praktischen Arztes sein. Auf einige wichtigere Gesichts- 
punkte sei kurz hingewiesen. 

Bei allen stark secernierenden Prozessen ist die 1—2 % ige Höllensteinlösung ein 
wirksames Mittel zur Bekämpfung der Absonderung. Am besten tuschiert man die 
Bindehaut nach Ektropionieren mit einem mit Watte armierten Holzstäbchen, das 
vorher in die Lösung eingetaucht wurde. In der gleichen Weise bringt man sofort 
hinterher eine etwas größere Menge Kochsalzlösung auf die gebeizte Stelle, um 
das überschüssige Silber als Chlorsilber auszufällen. Es entsteht sonst sehr bald 
eine Argyrose der Bindehaut, die nicht nur eine Entstellung bedeutet, sondern auch 
eine dauernde Schädigung, da eine argyrotische Bindehaut stets entzündlich gereizt 
bleibt. Durch die Wirkung des Argentum nitricum werden die oberflächlichen Epithel- 
schichten abgestoßen. Man soll deswegen die Beizung nicht zu energisch aus- 
führen, um nicht zu tiefe Nekrosen zu veranlassen. Will man eine ähnliche Wirkung 
durch Einträufelung erzielen, so empfiehlt sich das Protargol in 3—5%iger Lösung 
oder Collargol in der gleichen Konzentration. Auf keinen Fall darf man zur häus- 
lichen Behandlung Argentum-nitricum-Lösung verordnen, selbst bei Protargol ist Vor- 
sicht geboten. Nach mehrwöchentlichem Gebrauch kann auch das Protargol eine 
Argyrose herbeiführen. 


Tuberkulose und Auge. 525 


Als besonders wirksam gilt bei skrofulösen Binde- und Hornhautaffektionen die 
gelbe Quecksilberpräcipitatsalbe. Sie ist bei akuten Reizzuständen nicht empfehlens- 
wert, sondern besser durch einfache Borsalbe oder Paraffinöl und, wenn man gleich- 
zeitig ein Mydriaticum anwenden will, durch Scopolaminsalbe, letztere 02—05%, 
zu ersetzen. Das Scopolamin ist in dieser Konzentration weniger giftig als Atropin 
und wird so gut wie ausnahmslos vertragen, während es gegen Atropin durchaus 
nicht selten eine Überempfindlichkeit gibt, die zu unangenehmen Ekzemen Ver- 
anlassung geben kann. Die gelbe Salbe und ebenso das Einstäuben von Kalomel ist als 
leichtes Reizmittel besonders nach Abklingen der akuten Entzündungserscheinungen 
und zur Beförderung der Resorption und Aufhellung von Hornhauttrübungen zu 
verwenden. Die Wirkung ist durch Massage mit dem Oberlid zu unterstützen. Die 
Quecksilberpräcipitatsalbe muß gut verteilt sein. Am besten benutzt man eines der 
Spezialpräparate, die überall erhältlich sind, z. B. die Schweissiger-Salbe. Gelbe Salbe 
wie Kalomel sind streng kontraindiziert bei gleichzeitiger interner Jodverabreichung. 
Es bildet sich sonst Jodquecksilber, das starke Reizung der Bindehaut bis zur Ver- 
ätzung verursachen kann. 

Ein Verband ist bei den skrofulösen Augenerkrankungen im allgemeinen 
kontraindiziert. Er kann direkt verschlechternd wirken und die Lichtscheu ver- 
mehren. Auszunehmen sind alle Fälle mit größeren Substanzverlusten der Hornhaut 
und bei Gefahr der Hornhautperforation. Ein gutsitzender Okklusivverband mit 
leichter Druck wirkung kann hierbei auffallende Besserungenin wenigen Tagen herbei- 
führen. 

Die Bekämpfung der Lichtscheu kann in manchen Fällen Schwierigkeiten 
machen. Das Hineintauchen des Kopfes in kaltes Wasser, seit langem empfohlen, ist 
auch heute noch ein gutes Mittel zur Beseitigung des Lidkrampfes. Auch Cocain- 
salbe kann in verzweifelten Fällen gutes leisten. Besser ist das Chlorylen (Kahlbaum), 
von dem man 20-30 Tropfen auf ein Taschentuch aufträufelt und so lange stark 
einatmen läßt, bis keine Geruchempfindung mehr besteht. Das Chlorylen macht 
eine starke Hypästhesie der Cornea ohne sonstige Schädigungen. Kanthotomie ist 
nur ausnahmsweise notwendig. Das Tragen von Schutzbrillen ist nur in vereinzelten 
Fällen und bei stationärer Behandlung am" Platze, auf keinen Fall sollten sie zu 
längerem Gebrauch verordnet werden. 

Gutes leistet auch die Wärmebehandlung. Besteht ein Ekzem der Lider 
oder des Gesichtes, so sind feuchte Umschläge zu vermeiden. Sie sind zu ersetzen 
durch Erwärmung mit trockenen Tüchern oder auch mit den erwähnten Brüningschen 
Kopflichtbädern. Bei Hornhautprozessen ist eine gleichzeitige Dioninbehandlung 
sehr empfehlenswert. Man streicht vor der Wärmeanwendung 1—5% Dioninsalbe 
in den Bindehautsack. Man muß die Konzentration der Salbe etwa jeden 2. Tag 
steigern, da ihre hyperämisierende und Iymphstauende Wirkung sehr bald nach- 
läßt. Eine elegante und gute Form der Wärmeapplikation läßt sich mit elektrischen 
Heizkissen ausführen, die in besonderer Ausführung für das Auge erhältlich sind. 
Es gibt noch eine ganze Anzahl besonderer Apparaturen für diesen Zweck, deren 
Anführung jedoch überflüssig sein dürfte. 

Die Keratitis fascicularis kann besonderes Eingreifen notwendig machen. 
Läßt sich das Fortschreiten des Kopfes durch die übliche Behandlung nicht zum 
Stillstand bringen, so ist die Spitze zu kauterisieren oder mit Jodtinktur zu betupfen. 
Irisprolaps nach Perforation eines Hornhautgeschwüres ist in jedem Falle abzu- 
tragen und die Perforationsstelle mit Bindehaut nach Kuhnt zu decken. Alle diese 
Maßnahmen sind natürlich von einem Spezialarzt auszuführen. 


526 A. Meesmann. 


Mydriatica bei sekundärer Iritis wurde bereits erwähnt, ebenso daß dem 
Scopolamin im allgemeinen dem Atropin gegenüber der Vorzug zu geben ist. Die 
etwas schwächere Wirkung, die mit Scopolamin zu erzielen ist, dürfte in allen Fällen 
sekundärer Iritis genügen. Besteht Gefahr einer Perforation, so ist bei centralem Sitz 
des Geschwüres die Pupille weit zu halten, sitzt es jedoch peripher, so gibt man 
besser Eserin, da bei enger Pupille leichter ein größerer Irisprolaps vermieden 
werden kann. 

Die skrofudösen Ekzeme an den Lidern, Lippen etc. bedürfen einer be- 
sonders ausgiebigen Behandlung. Die Krusten und Borken sind abzuweichen, am 
besten mit einem neutralen Öl, z.B. Olivenöl oder auch Paraffinöl. Es kommen 
dann die oberflächlichen Hautdefekte zum Vorschein, die mit 1—2 % iger Höllenstein- 
lösung stark zu betupfen sind. Darauf bedeckt man die wunden Stellen mit einer 
gut haftenden Zink- oder Borsalbe. Schon nach wenigen Tagen weicht dieser Be- 
handlungsmethode auch das übelste skrofulöse Ekzem. Prinzipiell die gleiche Be- 
handlung ist auch bei Lidranderkrankung durchzuführen. Als Salbe kann man dabei 
die gelbe oder weiße Quecksilberpräcipitatsalbe verwenden. 

Ebenso wichtig ist die Beseitigung der Kopfläuse. 24stündige Kopfkappe 
mit Sabadillessig ist ein altbewährtes Mittel. Natürlich sind die Haare rücksichtslos 
kurz zu schneiden, da sonst eine vollkommene Beseitigung der Läuse und ihrer 
Brut kaum möglich ist. 

Von besonderer Wichtigkeit ist selbstverständlien die Allgemeinbehandlung. 
Sauberkeit steht hier obenan. Regelmäßige Luft- und Sonnenbäder neben ausgiebiger 
Hautpflege sind unbedingt zu empfehlen. Bei pastösen Kindern ist wöchentlich 
1—2mal ein Bad mit Staßfurter Salz, 2 kg auf ein Vollbad, zu geben. Bei der Er- 
nährung ist alles Zuviel und alle Einseitigkeit zu vermeiden. Besonders wichtig ist 
eine flüssigkeitsarme Ernährung. Selbstverständlich sind auch die großen Milch- 
portionen, die von den Angehörigen, namentlich auch beim Ferienaufenthalt auf 
dem Lande gern gegeben werden, unbedingt zu verbieten. Die Ernährung soll 
vitaminreich sein. Es sind daher frische Gemüse und rohes Obst besonders zu 
bevorzugen. Fleisch und Fett in mäßigen Mengen, ebenso Mehlspeisen. Ganz zu 
verbieten sind Süßigkeiten, Schokolade etc. Eine besondere Rolle soll das von 
Mc. Collum und Davis entdeckte fettlösliche Vitamin A spielen, dessen Fehlen in 
der Nahrung die Keratomalacie herbeiführt. Auch für die skrofulösen Hornhaut- 
erkrankungen, wenigstens die schweren mit partieller oder totaler Einschmelzung 
einhergehenden Formen, wird neuerdings ein Mangel an Vitamin A angenommen. 
Dieses Vitamin findet sich in besonders reichlicher Menge in der Butter und im 
Lebertran. Bei der Keratomalacie hat man mit Butter und Lebertranverabreichung 
in vielen Fällen verblüffende Erfolge erzielt. Die Lebertranmedikation bei der 
Skrofulose, seit langem als wirksam anerkannt, bekommt hierdurch eine neue Stütze. 
Daneben ist frische Butter zu empfehlen, namentlich bei Kindern, bei denen eine 
längere Lebertrankur auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Wessely hat vor 
einiger Zeit eine längere, regelmäßige Verabreichung von phosphor- und chlor- 
saurem Calcium empfohlen. Man gibt 2—3 g Calcium phosphoricum oder chloratum 
täglich als Pulver, Lösung oder Kompretten (Merk). 


Die specifische Behandlung der Augentuberkulose. 
Die Ansichten über den Wert der Tuberkulinbehandlung bei Augenerkrankungen 
tuberkulöser und skrofulöser Natur gehen auch heute noch weit auseinander. Das 
liegt im wesentlichen an der Schwierigkeit der Beurteilung therapeutischer Erfolge, 


Tuberkulose und Auge. 527 


die bei der Tuberkulose besonders groß ist, da sie in jedem Stadium auch ohne 
besondere Behandlung ausheilen kann. Der Subjektivität ist daher ein weiter Spiel- 
raum gelassen. In neuerer Zeit neigen viele namhafte Tuberkuloseforscher dazu, die 
frühere Dosierung im allgemeinen als zu klein abzulehnen und hierauf die viel- 
fachen Mißerfolge zu beziehen. | 

Es ist in dieser gedrängten Übersicht nicht möglich, eine auch nur einigermaßen vollständige 
Besprechung der umfangreichen Literatur über die Tuberkulinbehandlung in der al une zu 
bringen. Gerade in der letzten Zeit sind mehrere prinzipiell wichtige Arbeiten über dieses Thema er- 
schienen, so die erwähnten Untersuchungen von Köllner (A. f. Aug., LXXXVI, p. 314) und die Ab- 
handlung von Schieck über die Beziehungen zwischen der Allergie des Gesamtorganismus und den 
Verlauf der tuberku!ösen Augenerkrankungen (A. f. Ophthalmologie, CV, p. 257). Es sei hier noch 
auf die lesenswerte Übersicht von A.Loewenstein verwiesen „Die Tuberkulose des Auges“ (Urban & 
Schwarzenberg, Berlin-Wien 1924), die eine besonders ausführliche Besprechung der Therapie enthält. 

Die Wahl der Behandlungsform hängt von der prinzipiellen Stellungnahme 
zu dem lange Jahre währenden Streit ab, ob man die Überempfindlichkeit gegen 
Tuberkulin erhalten oder sie im Laufe der Behandlung ganz oder doch wenigstens 
teilweise überwinden soll. Zweifellos schützt die Überempfindlichkeit, an der ja 
jeder Tuberkulöse mindestens für lange Zeit seiner Erkrankung leidet, weder vor 
Fortschreiten der Erkrankung, noch vor Rezidiven. Es ist somit dem Kranken durch 
die Erhaltung oder gar Steigerung der Tuberkulinüberempfindlichkeit nicht gedient. 
Anderseits ist die Überwindung der Allergie, d. h. das Unempfindlichwerden gegen 
größere Tuberkulingaben, als eine biologische Ausheilung der Tuberkulose zu be- 
zeichnen. Eine andere Frage ist, ob man dieses erstrebenswerte Ziel der Tuberkulin- 
behandlung in jedem Falle erreichen wird. Monate bis Jahre sind dazu notwendig 
und die Anforderung an die Ausdauer bei Patient wie Arzt ist gleich groß. 

Aus dem Gesagten geht hervor, daf man sich bei jedem Patienten vor Beginn 
einer Kur über den Grad seiner Tuberkulinempfindlichkeit, d.h. seiner Ab- 
wehrkraft zu orientieren hat. Der Gesunde ist unempfindlich gegen Tuberkulin; man 
nennt diesen Zustand nach Liebermeister Nomergie. Der Tuberkulöse ist tuber- 
kulinempfindlich-allergisch. Ist diese Empfindlichkeit groß, so spricht man von 
Dysergie. Bei Schwerkranken kann jede Reaktionsfähigkeit fehlen, er ist anergisch. 
Diese Anergie kann man durch Tuberkulin leicht beseitigen. Die so erreichte Über- 
empfindlichkeit hat aber bei diesen Patienten keinen Wert, da sie jeder Behandlung 
unzugänglich sind. Hebt sich die Abwehrkraft im Verlaufe der Erkrankung, so daß 
größere Tuberkulinmengen ohne erhebliche Reaktion vertragen werden, so spricht 
man von Euergie, positiver Anergie oder auch wieder von Nomergie. Die 
Dosierung des Tuberkulins hat sich nach dem jeweiligen Zustand der Empfindlichkeit 
zu richten. Bei fortschreitender Erkrankung wird man eine einschleichende schonende 
Behandlung anzuwenden haben. Bei mehr stationären Krankheitsformen ist dagegen 
eine Herdreaktion in mäßigen Grenzen zu erstreben. Gibt man hierbei zu kleine Dosen, 
so steigert man die Überempfindlichkeit ohne einen Heilwert zu erreichen. Die ein- 
zelnen Krankheitsformen der Augentuberkulose sind innerhalb gewisser Grenzen 
nach dem Grade der Allergie zu unterscheiden. Nach dem Vorgehen Rankes kann 
man die Augentuberkulose in drei Stadien einteilen. Die primäre Knötchenform, 
besonders bei jugendlichen Patienten, mit typischen Iristuberkeln, die sekundären 
Formen der Überempfindlichkeitsepoche, bei der akut entzündliche Prozesse 
im Vordergrund stehen, so diffuse Iritiden und Iridocyclitiden, periphlebitische 
Prozesse in der Netzhaut und die skrofulösen Erkrankungen und schließlich die 
Spätformen, die Ähnlichkeit mit den Formen des ersten Stadiums haben und die 
durch wiederholte Rezidive ausgezeichnet sind. In dem ersten Stadium besteht All- 
ergie, die Tuberkulinbehandlung hat daher günstige Aussichten auf Erfolg. Das 


528 A. Meesmann. 


zweite Stadium ist dagegen durch gesteigerte Allergie oder Dysergie ausgezeichnet. 
Die Dosierung ist wesentlich schwieriger. Vielfach werden kleinste Tuberkulinmengen 
angeraten. Doch kann es dadurch zu einer Steigerung der Dysergie kommen. Man 
hat daher von vornherein auch größere Dosen versucht, die allerdings genaueste 
Kontrolle des Allgemeinbefindens voraussetzen. Bei der Skrofulose empfiehlt Köllner 
groBe Dosen, wenn man, ohne Rücksicht auf das Allgemeinbefinden, bei akuten 
Prozessen mit schwerer Gefahr für das Sehen, einen möglichst schnellen Erfolg er- 
zielen will. Im übrigen deckt sich die Art der Dosierung mit der bei Tuberkulose 
anzuwendenden. Die Schwierigkeiten und Gefahren der Dosierung haben dazu 
geführt, in der Überempfindlichkeitsepoche die unspecifische Proteinkörpertherapie 
anzuwenden, die in manchen Fällen bessere Erfolge gehabt hat, als eine Tuber- 
kulinkur. In der dritten Periode besteht eine Teilimmunität, d. h. wir nähern 
uns dem Zustand der Euergie. Die Tuberkulinbehandlung ist daher mit Erfolg an- 
zuwenden. Man beginnt mit kleinen Dosen und kann meist sehr bald zu größeren 
übergehen. E 

Von den wichtigsten specifischen Mitteln wird auch heute noch das 
Alttuberkulin Koch (A. T.) am meisten verwendet. Es enthält in der Hauptsache 
die löslichen Giftstoffe der Bacillen. Das albumosefreie Tuberkulin Koch (A. F.) 
enthält die Toxine von Bakterien, die auf eiweißfreiem Nährboden gezüchtet wurden. 
Das Neutuberkulin — Bacillenaufschwemmung (B. E.) enthält außer den Toxinen 
zertrümmerte Bacillenleiber in Glycerinaufschwemmung. Mit B. E. ist im Gegensatz 
zu den beiden ersteren Tuberkulinen eine Sensibilisierung auch des tuberkulosefreien 
Körpers möglich. Ein viertes Mittel ist die sensibilisierte Bacillenemulsion 
Höchst (S.B.E.) der eine bakteriotrope und präcipitierende Wirkung zukommt. 
Außerdem gibt es noch eine Summe mehr oder weniger häufig angewandter Tuber- 
kuline, das Tuberkulin Rosenbach, die Partialantigene von Deycke-Much u.a. 
Die Orientierung ist in den Lehrbüchern über Tuberkulose leicht möglich (s. auch 
A. Loewenstein |. c.). 

Die notwendigen Verdünnungen stellt man sich zweckmäßig selbst her. 
Als Verdünnungsmittel benutzt man 0'5% Carbollösung. Verdünnte Lösungen haben 
nur eine beschränkte Haltbarkeit. Es ist daher nötig, die schwächeren Verdünnungen 
alle 8, die stärkeren alle 14 Tage zu erneuern. Die Originallösung bezeichnet man 
mit I. Lösung II erhält man, indem man 0'1 cm? von I mit einer 1 cm? Rekordspritze 
abmißt und auf 10 verdünnt. In der gleichen Weise erhält man Lösung III durch 
Verdünnung von Il und so fort. Zur Bestimmung der Anfangsdosis ist der Aus- 
fall eines Pirquet zu berücksichtigen. Bei stärkster Reaktion ist mit S. B. E. zu be- 
ginnen, bei schwächerer Reaktion mit einem der übrigen aufgeführten Tuberkuline. 
Man beginnt gewöhnlich mit je zwei Teilstrichen von Lösung IV oder V. Bei den 
weiteren Injektionen verdoppelt oder verdreifacht‘ man die Dosis bis zum Auftreten 
einer Reaktion, z. B. bis zur Erhöhung der Temperatur von 02 bis 0'3 über die vorher 
gemessene. Wirkliche subfebrile oder febrile Temperaturen sind nicht notwendig. 
Bei fehlender Temperatursteigerung ist eine Allgemeinreaktion, bestehend in Übel- 
keit u. s. w., zu berücksichtigen. Ist die Temperaturerhöhung stärker als 05 Grad, so 
geht man bis zu der gut vertragenen Dosis zurück. Werden darauf mehrere Injek- 
tionen gut vertragen, so versucht man eine erneute Steigerung der Dosis. Ein Schema 
ist also für keinen Fall anzugeben. Die Pausen zwischen den einzelnen Injektionen 
betragen bei kleineren Dosen etwa 3—4 Tage. Bei Mengen über 10 ng (Original- 
lösung) sind die Zwischenpausen auf 5—6, bei noch größeren auf 8—10 Tage zu ver- 
längern. Niemals soll man eine erneute Injektion machen, bevor Temperatursteige- 


Tuberkulose und Auge. 529 


rungen oder deutliche Allgemeinreaktionen nicht mindestens 2—3 Tage abgeklungen 
sind. Ebensowenig wie für die Dosierung läßt sich für die Dauer einer Tuberkulin- 
behandlung ein Schema aufstellen. Genaue Aufklärung ist vor Einleitung der Kur 
notwendig, da man sonst keinesfalls mit einer genügenden Ausdauer des Patienten 
rechnen kann. Das gilt für die Augentuberkulose noch mehr wie für sonstige Organ- 
tuberkulose. Sind die Entzündungserscheinungen abgeklungen und hat der Patient 
leidliches oder gar normales Sehen, so ist er stets geneigt, sich für geheilt zu halten. 
Nicht jeder Patient wird die Geduld und das Einsehen aufbringen, eine zeit- 
raubende Behandlung durchführen zu lassen, die keinen Augenblickserfolg mehr 
erkennen läßt. Trotzdem ist für jeden Fall die Erreichung einer positiven Anergie 
oder doch wenigstens einer Euergie das erstrebenswerte Ziel. 

Von den zahlreichen besonderen Verfahren der Tuberkulinanwendung sei 
noch das von Ponndorf erwähnt, das in neuerer Zeit eine weitere Verbreitung ge- 
funden hat. Es besteht darin, daß man auf einer etwa fünfmarkstückgroßen Hautstelle 
mit einem stumpfen Skalpel oder einer Impflanzette 20—30 seichte, nicht blutende 
Einschnitte macht, in die man einen Tropfen A. T. verreibt. Bei positiver Reaktion 
entzündet sich diese Stelle mehr oder weniger stark, Wiederholung der Impfung nach 
etwa 14 Tagen. Die Beurteilung dieses Verfahrens ist eine sehr verschiedene. Die 
Einwände, die dagegen zu machen sind, ergeben sich aus dem über die Tuberkulin- 
anwendung im allgemeinen Gesagten. Eine exakte Dosierung ist natürlich nach dem 
Ponndorfschen Verfahren unmöglich. Üble Zufälle sind des öfteren beobachtet. So 
tiefere Nekrosen, die erst nach Wochen zur Abheilung kamen. Solche Zufälle sind 
zum Teile zu vermeiden, wenn man sich vorher durch einen Pirquet von der 
Tuberkulinempfindlichkeit der Haut orientiert hat. In der Augenheilkunde ist das 
Verfahren vielfach versucht worden. Die oft schlagartige Wirkung bei frisch ent- 
zündlichen Prozessen, die in der Abblassungreaktion (Heine) besteht, ist zweifellos 
gelegentlich von Nutzen. Gerade am Auge kommt es nicht selten auf solche schnellen 
therapeutischen Erfolge an, um eine möglichst baldige Beseitigung der Gefahr für das 
Sehen zu erzielen. Es bleibt aber zu überlegen, ob man zur Erreichung dieses Zieles 
nicht lieber zur parenteralen Proteinkörpertherapie greifen will, deren Wirkung nicht 
hinter der eines Ponndorf zurückstehen dürfte. 

Zur parenteralen Eiweißtherapie verwendet man am einfachsten Kuhmilch, 
die man durch 10 Minuten langes Kochen im Wasserbade sterilisiert. Die in Ampullen 
käuflichen Spezialpräparate sind entbehrlich. Die zu injizierende Menge beträgt bei 
Erwachsenen 8-10 und bei Kindern 4—6 mi Injiziert wird intragluteal oder in 
die Bauchdecken. Die Reaktion setzt nach 6—8 Stunden ein, mit Temperaturerhöhung 
bis über 39 Grad. Bettruhe ist daher unbedingt erforderlich. Nach etwa 12— 16 Stunden 
ist das Fieber im allgemeinen abgeklungen. Je nach dem Grade der Wirkung und 
der Konstitution des Patienten gibt man die gleiche Dosis 3—4mal in Abständen 
von 1—2 Tagen. Tritt auch dann der erwünschte Erfolg nicht ein, so ist von weiteren 
Injektionen abzusehen. 

Eine Kombination zwischen Casein und Jod stellt das Yatrencasein dar. 
Yatren ist Jodoxychinolinsäure und enthält etwa 30% Jod. Das Präparat ist in Ampullen 
in 2 Stärkegraden erhältlich. Es wird intramuskulär oder intravenös eingespritzt. Bei 
akuten Entzündungen wendet man Yatrencasein stark an, in Mengen von 0'5 cm? 
jeden zweiten Tag, steigend bis 2—3 cm?. Bei chronischen Formen beginnt man 
mit der gleichen Menge der schwachen Modifikation und geht eventuell zur stärkeren 
über. Es ist mit Erfolg bei tuberkulöser Iritis und skrofulöser Binde- und Horn- 
hautentzüändung angewendet worden. 

Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. . 34 


530 A. Meesmann. 


Auch das Chrysolgan ist in der Augenheilkunde anscheinend mit Vorteil 
benutzt worden. Man injiziert intravenös, bei Erwachsenen 01-025 g und bei 
Kindern 0'05 g 1—2mal wöchentlich, höchste Dosis etwa 0'3 g bis zu 8mal. Leichte 
Temperatursteigerung, Stomatitis und Albuminurie sind dabei beobachtet worden. 


Die Strahlenbehandlung der Augentuberkulose. 


Die günstige Wirkung des Sonnenlichtes besonders im Hochgebirge ist 
natürlich auch für die Behandlung der Augentuberkulose und Skrofulose von 
größter Bedeutung. Ebenso die Allgemeinbestrahlung mit künstlicher Höhen- 
sonne. Nach eigenen Erfahrungen ist die Wirkung der letzteren bei skrofulösen 
Keratitiden, wenigstens bei den schwereren Formen, nicht immer günstig. Bei allen 
anderen Fällen ist sie aber zur Unterstützung der allgemeinen und lokalen Be- 
handlung mit Vorteil heranzuziehen. Ein besonderer Schutz der Augen ist keines- 
wegs notwendig, es genügt, die Lider geschlossen zu halten. Hinsichtlich dieser 
Methoden gelten natürlich für die Augentuberkulose keine besonderen Vor- 
schriften. 

In den letzten Jahren haben die lokalen Bestrahlungsmethoden in der 
Augenheilkunde immer mehr Beachtung gefunden. Sie verlangt besondere Apparate, 
so daß ihre Anwendung für den Allgemeinpraktiker nur selten in Frage kommen 
wird. Sie gibt zum Teil ausgezeichnete Erfolge. Das gilt ohne Einschränkung für 
die Lid- und Bindehauttuberkulose, bei der die Finsenbestrahlung die wichtigste 
Behandlungsmethode geworden ist. Finsen und Lundsgaard berichteten über 
ausgezeichnete Erfolge, denen wir eine ganze Reihe aus unserer Klinik hinzufügen 
‚ können. Es ist dringend zu empfehlen, jeden Patienten mit Tuberkulose der Lider 
und Bindehaut der Finsenbestrahlung zuzuführen. Die Bestrahlungen haben nur bei 
richtiger Technik gute Erfolge und verlangen ein eingeübtes Personal. Ein besonderer 
Everteur (Groenholm) und ein Kühlprisma (Lundsgaard) für die Behandlung 
der Lider ist notwendig. Bestrahlt wird in einzelnen Etappen je 5—30 Minuten lang. 
Wiederholung nach Abklingen der reaktiven Entzündung, d.h. nach 8-10 Tagen. 
Im ganzen sind je nach Ausdehnung des Krankheitsherdes bis zu 7 Bestrahlungen 
notwendig. 

Für die Bestrahlung des vorderen Bulbusabschnittes und des Augenhinter- 
grundes ist von der Firma Zeiss (Jena) ein besonderer Apparat nach den Angaben 
Koeppes konstruiert worden, der eine ultraviolettfreie oder doch sehr arme 
Bestrahlung ermöglicht. Koeppe berichtete seiner Zeit über gute Erfolge bei Tuber- 
kulose der Iris und des Augenhintergrundes. Unsere Erfahrung an einer sehr großen 
Zahl von Fällen decken sich nicht mit denen Koeppes. Der Heilwert dieser Be- 
strahlung scheint nur ein geringer zu sein. 

Dagegen ist die von der gleichen Firma hergestellte Lampe zur Ultraviolett- 
bestrahlung nach Birch-Hirschfeld, deren Hauptzweck alleruings die Be- 
handlung des Ulcus serpens ist, auch bei Tuberkulose des Auges mit Vorteil zu 
benutzen. Sie besteht aus einer Mikrobogenlampe mit Quarzoptik und Uviolfilter. 
Das Strahlenbüschel wird mit einer Handlupe aus Quarz auf den Krankheitsherd 
konzentriert. Vorherige Sensibilisierung durch Einträufeln von Fluorescein oder Rose 
bengale 2% ist notwendig. Bestrahlt wird 5—15 Minuten 2-3 mal täglich, mit 
steigender Dosis, je nachdem die Bestrahlung vertragen wird. Empfehlenswert ist 
die Methode bei Skrofulose, bei tuberkulöser Keratitis und Skleritis. 

Für die gleichen Zwecke hat Passow die Bachsche Quarzlampe empfohlen. 
Er bestrahlte in 60—80 cm, bei starkem Reizzustand auch in größerer Entfernung 


Tuberkulose und Auge. | 531 


unter Abdecken der gesunden Teile etwa 5 Minuten, jeden zweiten Tag. Die Erfolge 
sollen sehr gute gewesen sein. 

Zu erwähnen ist dann noch, daß neuerdings von Jendralski die Röntgenbe- 
strahlung der Augentuberkulose experimentell wie klinisch mit besonderem 
Erfolg durchgeführt wurde. Der groBe Vorzug der Röntgenstrahlen besteht darin, 
daß man auch Herde an der Irıshinterfläche und im Ciliarkörper der Strahlenwirkung 
aussetzen kann, die mit anderen Strahlenarten nicht direkt getroffen werden können. 
Freilich ist die Gefahr einer Schädigung der Hornhaut und Netzhaut eine ziemlich 
große, so daß die Anwendung der Röntgenstrahlen spezielle Kenntnisse und Er- 
fahrungen voraussetzt, hinsichtlich der Entfernung, der Wahl der Strahlenhärte u.s. w. 
Die Methode wird daher ebenso wie die Finsenbestrahlung auf größere Kliniken 
beschränkt bleiben. 

Auf die große Bedeutung der hygienischen und diätetischen Maß- 
nahmen sei abschließend kurz hingewiesen. Sie werden in vielen Fällen leicht 
auszuführen sein und dürfen über der specifischen Behandlung und der Bestrahlung 
nicht vergessen werden. Der Wert von Licht und Luft für die Behandlung der 
tuberkulösen Augenerkrankungen steht fest. Der früher vielfach erzwungene Auf- 
enthalt im dunklen Zimmer ist vollständig verlassen worden. Ebenso ist das Tragen 
von dunklen Brillen absolut unnötig, auch bei tuberkulösen Augenhintergrunds- 
erkrankungen. Wie bei Allg’emeintuberkulose, so ist auch bei den specifischen Er- 
krankungen des Auges besonderes Gewicht auf laktovegetabile, fettreiche 
Kost zu legen. Sie soll möglichst vitaminreich sein. Es sind daher frische Gemüse, 
Obst und ungekochte Butter besonders zu bevorzugen, ebenso der Lebertran. 

Die außerordentliche Häufigkeit der Augentuberkulose zwingt auch den 
Allgemeinarzt dazu, sich mit der Klinik und Behandlung dieser Erkrankungen zu 
beschäftigen. Es wurde versucht, soweit das in einer kurzen Übersicht möglich ist, 
die Vielgestaltigkeit der Krankheitsbilder und den heutigen Stand der Behandlung 
klarzulegen. Bei der meist schweren Gefahr für das Sehen und der oft nicht ge- 
ringen Schwierigkeit der Diagnosenstellung wird bei allen Fällen nach Möglichkeit 
der Spezialarzt zu Rate gezogen werden müssen. Dazu kommt die heute wesentlich 
verfeinerte Untersuchungsmethodik, die Apparate erfordert, die dem praktischen Arzt 
nicht zur Verfügung stehen. 


34° 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 
Von Prof. Dr F. Rosenthal, Breslau. 


Mit dem abklingenden 19. Jahrhundert und mit dem Beginn unseres Jahrhunderts 
ist die Lehre vom Ikterus in einen neuen Entwicklungsabschnitt eingetreten. Er löst 
eine Epoche der Ikterusforschung ab, die im Jahre 1886 mit den Experimenten 
Minkowskis und Naunyns über das Ausbleiben des Arsenwasserstoffikterus bei 
leberexstirpierten Gänsen zu Ende geht, und er beginnt in den Jahren 1898 — 1900 
mit den Untersuchungen Bantis über die Bedeutung der Milz für die Pathogenese 
bestimmter, mit Anämie und Ikterus einhergehender splenomegalischer Symptomen- 
bilder und mit der Aufstellung des Krankheitsbildes des chronischen acholurischen 
Ikterus durch Minkowski, das wenige Jahre später durch Chauffard und Hayem 
wichtige Ergänzungen erfährt. Diese Arbeiten bedeuten den Beginn der chirurgi- 
schen Ära für die Therapie der menschlichen Ikterusformen. Der therapeutische 
Erfolg der zahlreich durchgeführten Splenektonien beim hämolytischen Ikterus, 
bei manchen splenomegalischen Cirrhosen mit Ikterus und Anämie, bei manchen 
Formen der sog. Hanotschen Cirrhose, bei der perniziösen Anämie bildet zu- 
gleich das Experimentum crucis für die wichtige Beteiligung der Milz an der 
Pathogenese der hämolytischen Ikterusformen des Menschen, und aus der wachsen- 
den Erkenntnis heraus, daß bei gewissen Ikterusformen Leber und Milz in einem 
nosologischen Einheitskomplex zusammengeschweißt erscheinen, hat dann schließ- 
lich Eppinger in seinem grundlegenden Werk die hierher gehörigen Krank- 
heitsgruppen unter dem Begriff des hepatolienalen Ikterus zusammengefaßt. Unter 
dem Eindruck von der großen pathogenetischen Bedeutung der Milz für die Ent- 
stehung der nicht mechanisch bedingten, hämato-hepatolienalen Ikterusformen be- 
ginnt eine neue Durcharbeitung der bisherigen pathophysiologischen Grundlagen 
über den Bildungsort und Bildungsmechanismus des Gallenfarbstoffes. Die weiteren 
Etappen dieses Weges sind gekennzeichnet durch den Ausbau der Lehre von der 
extrahepatocellulären und extrahepatischen Bildung des Gallenfarbstoffes, die wieder- 
um in der Aschoffschen Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus ihren schärfsten 
morphologischen Ausdruck findet, durch den Nachweis Hijmans van den Berghs 
von dem Vorkommen zweier verschiedenartiger Reaktionsformen des Bilirubins im 
Serum mechanisch bedingter und hämolytischer Ikterusformen und schließlich durch 
die bedeutsamen Untersuchungen der Amerikaner Mann und Magath über die 
Folgen der experimentellen Leberexstirpation beim Säugetier. Wiederum ist es der 
Kampf um die Topik der Gallenfarbstoffbildung, der genau so wie in der voraus- 
gegangenen Epoche der Ikterusforschung von neuem als das brennendste Problem 
der ganzen Ikteruslehre erscheint, und von neuem steht die im vorigen Jahrhundert 
heiß umstrittene und scheinbar gelöste Hauptfrage wieder im Vordergrunde der 
Diskussion: Ist die Leber die Hauptbildungsstätte des Gallenfarbstoffes und steht sie 
mithin im Mittelpunkte der gesamten Ikteruspathogenese, oder ist sie bloß Aus- 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 533 


scheidungsorgan für den irgendwo und irgendwie gebildeten Gallenfarbstoff, den 
sie zur Excretion bringt wie etwa die Niere den Harnstoff, den Zucker, das Kreatinin? 

So bedeutet eine Darstellung der neueren Probleme der Ikteruspathologie zu- 
nächst in erster Linie eine Beantwortung der Frage, warum die als klassisch an- 
gesehenen Versuche Minkowskis und Naunyns an leberlosen Vögeln nur einen 
Ruhepunkt in der Bearbeitung, nicht aber eine endgültige Beantwortung des Kern- 
problems der Ikteruspathogenese darstellen, und welche neuen Gesichtspunkte die 
anscheinend zwingende Beweiskraft dieser Experimente in Frage stellen. Um die 
Darstellung dieses Kapitels gruppieren sich dann leicht die weiteren verschieden- 
artigen neuen Fragestellungen, die unmittelbar aus der Vervollkommnung und dem 
Zuwachs unseres diagnostischen Rüstzeuges, aus der wachsenden klinischen Er- 
fahrung und vertieften physiologischen Einsichten fließen. 


L Der Bildungsort und Bildungsmechanismus des Gallenfarbstoffes. 


Geht man den letzten Ursachen nach, die nach dem heutigen. Stande der 
Lehre vom Ikterus von neuem das Primat der Leberzellen für die Gallenfarbstoff- 
bildung erschüttert haben, so ergibt sich die zunächst paradox anmutende Feststellung, . 
daß die gleichen Experimente von Minkowski und Naunyn, die der Theorie des 
hämatogenen anhepatischen Ikterus von Virchow, v. Leyden, Quincke den Boden 
entzogen zu haben schienen, zugleich den Anstoß zur Wiederherstellung der alten 
Lehre in neuerer Form gegeben haben. In der Beobachtung Minkowskis und 
Naunyns, daß bereits in den ersten Stunden der Arsenwasserstoffvergiftung in 
Leber, Milz und Knochenmark der Vögel Zellen auftreten, welche Blutkörperchen 
und Eisenpigment in sich tragen, und innerhalb der Leber noch außerdem Gallen- 
farbstoff enthalten, liegen die Keime für die nach einem Vierteljahrhundert ausgebaute 
Lehre von der reticuloendothelialen Entstehung des Gallenfarbstoffes und des 
reticuloendothelialen Ikterus. Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, daß 
diese globuliferen, Eisen und Biliverdin führenden endothelialen Zellen mit den 
Sternzellen bzw. den Zellen des Aschoffschen reticuloendothelialen Systems identisch 
sind, denen Kupffer in besonders hohem Grade schon eine phagocytäre Fähigkeit 
zuerkannt hat. Schon Naunyn und Minkowski haben dem Sternzellenapparat mit 
aller Bestimmtheit einen gewissen, allerdings nicht belangreichen Anteil an der 
Aufspaltung des Blutfarbstoffes und der Bildung des Gallenfarbstoffes zugeschrieben. 
Der Hauptanteil an der Gallenfarbstoffbildung kommt jedoch nach ihrer Ansicht 
den Leberparenchymzellen zu. Sie finden die Gallencapillaren bei der AsH,-Ver- 
giftung der Vögel und noch mehr bei der Toluylendiaminvergiftung der Hunde 
bereits zu einer Zeit prall mit Galle gefüllt, wo nach ihrer Überzeugung die Mengen 
der blutkörperchenhaltigen Zellen in der Leber nicht groß genug sind, als daß 
sie allein das Material für die bereits im Gange befindliche starke Polycholie liefern 
könnten. Dazu kommt weiter, daß nach ihren Befunden gelegentlich die Polycholie 
— im histologischen Bild an den mit dunkler Galle mächtig erfüllten Gallengängen 
erkennbar — bereits im Gange sein kann, ohne daß die globuliferen und biliverdin- 
haltigen Zellen in größeren Mengen in der Leber nachweisbar werden. Sie diskutieren 
sogar ausdrücklich die Möglichkeit, ob etwa das Aufhören der Gallenfarbstoffbildung 
nach der Entleberung auf die gleichzeitige Entfernung der in der Leber massenhaft 
angehäuften blutkörperchenhaltigen Zellen zurückzuführen sei. Sie halten aber einen 
solchen Einwurf nicht für stichhaltig, weil auch nach Entfernung der Erythrophagen 
in der Leber durch die Exstirpation des Organs die Menge der bei der AsH,-Ver- 
giftung im Knochenmark und in der Milz auftretenden blutkörperchenhaltigen Zellen 


534 F. Rosenthal. 


groß genug sein müßte, um für den Fall stärkerer eigener bilirubinbildender Fähig- 
keiten noch erheblichere Gallenfarbstoffmengen auch nach Leberexstirpation zu liefern. 
Eine weitere, in ihrer Beweiskraft später bekämpfte Stütze für die überragende Be- 
deutung der Leberzellen bei der Gallenfarbstoffbildung sehen Minkowski und 
Naunyn schließlich auch darin, daß bald in den ersten Stunden der AsH,- und 
Toluylendiaminvergiftung bei schwacher Eisenablagerung in den Kupfferschen Stern- 
zellen sich starke Eisenanhäufungen in den Leberzellen finden, die nach anfänglicher 
gleichmäßiger intracellulärer Verteilung bald nach den den Gallencapillaren zu- 
gewendeten Zellrändern abwandern. Hiernach scheint nach dem histologischen Bilde 
die für die Gallenfarbstoffbildung notwendige Eisenabspaltung aus dem Hämoglobin 
sich in der Hauptsache in den Leberparenchymzellen zu vollziehen. Man sieht, es sind 
somit mehr Schlußfolgerungen als unmittelbare positive Beweise, die Minkowski 
und Naunyn dazu veranlaßten, den Hauptanteil an der Bildung des Gallenfarb- 
stoffes den Leberzellen zuzuschreiben, und in dem Satz: „Hiernach halten wir es 
für sehr wahrscheinlich (in der Originalarbeit nicht gesperrt gedruckt), daß auch 
in den Leberzellen die Zersetzung des Blutfarbstoffes und die Bildung von Gallen- 


=- _farbstoff vor sich geht, und in vielen Fällen sogar die weit überwiegende Rolle 


spielt“, liegt, wenn man will, zugleich das eigene Eingeständnis, daß über den Ort 
der Gallenfarbstoffbildung auch mit diesen Versuchen nicht das letzte, abschließende 
Wort gesprochen ist. 

In der folgenden Zwischenzeit zwischen den Minkowski-Naunynschen 
Untersuchungen und den Arbeiten der Aschoffschen Schule, die in die Lücken 
der Beweisführung der Minkowski-Naunynschen Experimente eingreifen, setzen 
die farbanalytischen Studien Ehrlichs ein, die von dem Grundgedanken ausgingen, 
Zusammenhänge zwischen Farbe und Organzellen zu finden, um durch das Studium 
der chemischen Affinitäten zwischen Farbkörper und Zellsubstrat zu tieferem Ein- 
blick in den Bau und die verwandtschaftlichen Beziehungen der Zellen zu gelangen. 
Die Etappen dieses Weges sind unter anderm gekennzeichnet durch die Entdeckung 
der specifischen Färbbarkeit der Leukocytengranula, durch die vitale Färbung bestimmter 
Bezirke des Nervensystems durch Methylenblau, durch die Auffindung der specifischen 
Färbbarkeiten charakteristischer Gewebskomplexe, wie Cuticularsubstanzen, Fett durch 
bestimmte Farbstoffe. Die Anwendung der farbanalytischen Studien Ehrlichs auf 
das Problem der Chemotherapie der Geschwülste schafft die Bausteine für den 
Ausbau der späteren Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus. Auf Ehrlichs Ver- 
anlassung prüft Goldmann das Pyrrolblau, das Trypanblau, das Isaminblau, die 
zwar keine tumorzerstörende Wirkung entfalten, aber abgesehen von einer lang- 
anhaltenden Blaufärbung des ganzen Tieres infolge langanhaltenden Persistierens des 
Farbstoffes in der Blutbahn ein großes, über den ganzen Organismus verbreitetes, 
in Milz und Leber besonders deutlich ausgeprägtes Zellsystem vital färben, die 
Pyrrolzellen Goldmanns. Während die eigentlichen Parenchymzellen der Organe 
ungefärbt bleiben, finden .sich nach den Injektionen in den Endothelien der Pfortader 
dunkelblaue Granula, ferner nehmen die Kupiferschen Sternzellen der Leber, 
bestimmte Reticulumzellen der Milz, die zwischen den Lymphocyten der Follikel 
liegen, die Stäbchenzellen, die die. Sinus umfassen, den Farbstoff in sich auf. Die 
Endothelien des Knochenmarkes, der Lungengefäße, die Capillarenendothelien der 
Nebennieren und der Lymphknoten, die Makrophagen der Haut und des Bindegewebes, 
die adventitiellen Zellen Marchands, die Leydigschen Zellen der Keimdrüsen 
speichern gleichfalls den Farbstoff — kurz, der intracellulär zur Ablagerung gelangende 
Farbkörper wird zum Indikator für ein in seiner biochemischen Struktur weitgehend 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 535 


übereinstimmendes, im Körper überall verstreutes, an besonderen Prädilektionsstellen 
in Leber und Milz sich anhäufendes Gewebe. Wachsende Bedeutung gewinnt dann 
dieses Gewebssystem mehrere Jahre später durch die Untersuchungen der Aschoff- 
schen Schule, die dem endothelialen Apparat nicht nur eine hohe phagocytäre 
Funktion für eingeführte Vitalfarbstoffe, z. B. auch das Lithioncarmin (Kiyono), 
sondern auch eine wichtige physiologische aktive Anteilnahme am Pigment-, Eisen- 
und Cholesterinstoffwechsel zuschreibt. 

In engere Beziehungen zu der Lehre vom Ikterus tritt dann dieses Zellsystem, 
das Aschoff und Landau unter dem Begriff des reticuloendothelialen Apparates 
zusammenfassen, mit den Untersuchungen McNees und der Arbeit Lepehnes über 
die Cupierung des AsH,-Ikterus der Vögel durch die sog. Blockade der Kupffer- 
schen Sternzellen. Bei einer Wiederholung der Experimente von Minkowski und 
Naunyn kommt McNee zwar zu einer prinzipiellen Bestätigung ihrer Ergebnisse, 
aber, fußend auf den inzwischen fortgeschrittenen Kenntnissen über die Funktionen 
des endothelialen Apparates, gibt er ihnen eine andere, auch für die Klinik bedeutungs- 
volle Auslegung. Nach ihm bleibt der As H,-Ikterus in entleberten Gänsen nicht 
deshalb aus, weil die Leberzellen entfernt sind, sondern weil gleichzeitig mit ihnen 
die Kupfferschen Sternzellen entfernt sind. Sie stellen das eigentliche blutzerstörende 
und gallenfarbstoffbildende Gewebe dar, das bei Vögeln besonders stark in der Leber 
ausgebildet ist, weil im Gegensatz zu anderen Tierklassen wegen der Kleinheit der Vogel- 
milz der extrahepatische Anteil des reticuloendothelialen Zellsystems nur relativ gering 
ist. Er stützt seine Hypothese von den gallenfarbstoffbildenden überragenden Funktionen 
der Reticuloendothelien auf die Beobachtung, daß schon normalerweise bei Tauben 
und Gänsen die Kupfferschen Sternzellen eine diffuse Eisenreaktion geben und eine 
mehr oder weniger reichliche Phagocytose roter Blutkörperchen aufweisen. Da aber 
Gallenfarbstoff normalerweise in den Sternzellen histochemisch nicht nachweisbar 
war, nimmt McNee an, daß der in den Reticuloendothelien gebildete Gallenfarb- 
stoff rasch wieder ausgeschieden wird, nachdem aus den gespeicherten Erythrocyten 
das Eisen abgespalten sei. Erst bei überstürztem Blutuntergang, wie beim AsH,- 
Ikterus der Vögel, tritt die hervorragende Rolle der Kupfferschen Zellen bei der 
Gallenfarbstoffbildung auch histochemisch deutlich in die Erscheinung. Man sieht 
jetzt in den Sternzellen neben den Erscheinungen der Erythrocytose und Hämosiderose 
das Auftreten von Gallenfarbstoff, der nicht als ein phagocytiertes, sondern als ein 
autochthones endotheliales Produkt aufgefaßt wird. Solche gallenfarbstofführende 
Zellen finden sich jetzt auch in der Milz, wo sie übrigens Minkowski und Naunyn 
in ihren Versuchen nicht angetroffen haben; sie werden besonders aus der Leber 
desquamiert in den Blutstrom verschleppt und häufen sich in großer Zahl in den 
Lungencapillaren an, wo sie teilweise Auflösungsprozessen unterliegen. Aus den 
zerfallenden Zellen tritt alsdann Gallenfarbstoff frei in die Circulation über, so daß 
also unter Berücksichtigung dieser Befunde bis zu einem gewissen Grade in über- 
tragenem Sinne von einem „hämatogenen“ Ikterus gesprochen werden könnte. Aller- 
dings bleibt auch noch eine weitere, von McNee als wenig wahrscheinlich an- 
gesehene Möglichkeit zu erwägen, daß nämlich das eisenfreie Produkt, das die Stern- 
zellen aus dem Hämoglobin abspalten, nur eine Vorstufe des Gallenfarbstoffes dar- 
stellt, die erst bei der Passage durch die Leberzellen in den fertigen Farbstoff über- 
führt wird. Jedenfalls leitet Aschoff aus diesen Beobachtungen seines Schüler McNee 
den Schluß ab, daß zum mindesten im Vogelorganismus der endotheliale Apparat 
vornehmlich der Leber eine wesentliche Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung und 
beim Zustandekommen des Ikterus spiele. | 


536 F. Rosenthal. 


Man wird gleich hier kritisch einschalten dürfen, daß die Deutung, die McNee 
den Versuchen von Minkowski und Naunyn gibt, an dem bereits erwähnten ge- 
wichtigen Einwande der beiden Autoren vorübergeht, daß die in Milz und Knochen- 
mark zurückbleibenden blutkörperchenhaltigen endothelialen Zellen für den Fall 
eigener bilirubinbildender Fähigkeiten auch nach Leberexstirpation erheblichere Gallen- 
farbstoffmengen zu liefern imstande wären, und daß das Ausbleiben des As H,-Ikterus 
nach der Entleberung daher nicht auf die gleichzeitige Entfernung der in der Leber 
vorhandenen endothelialen Erythrocyten zurückgeführt werden könnte. Erkennt man 
diese Beobachtungen Minkowskis und Naunyns als richtig an, so bleibt für die 
McNeesche Auffassung nur die allem Anscheine nach auch gezogene Konsequenz 
übrig, daß im Rahmen des reticuloendothelialen Systems den Kupfferschen Stern- 
zellen eine nicht nur durch die Masse, sondern auch durch die Specifität der Zell- 
funktion erklärbare überragende Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung zukommt. Das 
im reticuloendothelialen Stoffwechselapparat von Aschoff-Landau zusammengefaßte 
Zellsystem erfährt allerdings damit eine Differenzierung seiner Funktionen, wodurch 
seine biologische Einheitlichkeit in Frage gestellt wird (vgl. auch Schilling). 

Den aus den histologischen Befunden gezogenen Schlußfolgerungen McNees 
über die gallenfarbstoffbildenden Fähigkeiten des Kupffer-Zellensystems hat dann 
Lepehne im Aschoffschen Institut auch die experimentelle Stütze zu geben ver- 
sucht. Ausgehend von der Feststellung Cohns, daß die Kupfferschen Sternzellen 
unmittelbar nach intravenöser Collargolinjektion fast blitzartig das Collargol in sich 
speichern, legte sich Lepehne die Frage vor, ob nicht eine hochgetriebene Collargol- 
speicherung zu einer funktionellen Lähmung bzw. Beeinträchtigung der so gefüllten 
endothelialen Zellen führe, d.h. ob man nicht hierdurch die Erythrophagocytose 
und die hieran sich anschließende Gallenfarbstoffbildung unterbinden und damit 
den Eintritt des Arsenwasserstoffikterus verhindern könne. Die sichtbare Folge der 
Silberspeicherung im Sternzellenapparat war bei AsH,-vergifteten Tauben eine An- 
häufung von zusammengesinterten, durch die Hämolyse freigewordenen Kernen der 
Erythrocyten in Form von Emboli, die sich in allen Gefäßbezirken, besonders in 
der Lunge, vorfanden. Solche Bilder fehlten bei Kontrolltauben, die nur mit Arsen- 
wasserstoff behandelt waren, da hier die Sternzellen und die Milz die geschädigten 
Erythrocyten aufgenommen hatten. Da grünes Pigment in den collargolerfüllten 
Kupfferschen Zellen vollständig fehlte und die grünen, biliverdinhaltigen Zellen 
im Gegensatz zu den Kontrolltauben nirgends zu finden waren, so schloß Lepehne 
aus seinen Versuchen weiter, daß entsprechend dgn Vorstellungen Aschoff-McNees 
von den ikterogenen Funktionen des endothelialen Zellapparates die Collargol- 
speicherung der Reticuloendothelien in der Tat das Auftreten des Arsenwasserstoff- 
ikterus verhindert habe und daß die Collargolblockade die reticuloendothelialen 
Zellen in ihrer gallenfarbstoffbildenden Tätigkeit funktionell gelähmt habe. 

Unabhängig von Lepehne hat auch Eppinger, wie erin seinem Werke über 
die hepatolienalen Erkrankungen angibt, den Einfluß einer intensiven Eisenspeicherung 
des Sternzellenapparates auf die Bilirubinausscheidung des mit Toluylendiamin ver- 
gifteten Gallenfistelhundes untersucht. Als Speicherungsmittel verwendete er die intra- 
venöse Injektion einer ca. 50 % igen Lösung von Ferrum oxydatum saccharatum. Auch 
er glaubte ebenso wie Lepehne feststellen zu können, daß durch die Eisenblockade 
der Reticuloendothelien die Gallenfarbstoffbildung auf das Nachdrücklichste beein- 
trächtigt würde. In ähnlicher Weise sollte auch eine nach intensiver Cholesterin- 
fütterung auftretende Cholesterinspeicherung im Endothelsystem die beim Kaninchen 
nach Toluylendiaminvergiftung auftretende Anämie verhindern. In diesen sich auf 








Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 537 


einem geringen Beobachtungsmaterial aufbauenden Ergebnissen sieht auch Eppinger 
eine Stütze dafür, daß eine intensive Speicherung des Sternzellenapparates eine 
erhebliche Beeinträchtigung seiner cellulären Funktionen herbeiführe und daß das 
reticuloendotheliale System eine wesentliche Rolle bei der Gallenfarbstoffbildung 
und der Ikteruspathogenese spiele. Auch Marin will sowohl bei der Taube wie 
beim Hunde nach Collargolblockade der Kupffer-Zellen ein Ausbleiben des AsH,- 
Ikterus beobachtet haben. 

Die Allgemeingültigkeit dieser Befunde erscheint jedoch schon in den Versuchen 
Lepehnes dadurch in Frage gestellt, daß beim Kaninchen trotz Collargolblockade, 
selbst in Kombination mit der Milzexstirpation, das Auftreten des AsH,-Ikterus nicht 
verhindert wurde. Dazu kommt, daß das histologische Bild des AsH,-Ikterus beim 
Kaninchen weder in den Kupffer-Zellen, noch in den Milzendothelien irgendwelche 
Veränderungen und Anzeichen einer Gallenfarbstoffbildung, allerdings auch nicht in 
den Leberzellen darbot, so daß der mikroskopische Nachweis für eine nähere 
Beteiligung der Reticuloendothelien an dem Umbau des Hämoglobins und der 
Bildung des Gallenfarbstoffes wenigstens für das Kaninchen nicht als erbracht an- 
gesehen werden darf. Die Annahme Lepehnes, daß beim Kaninchen vielleicht eine 
Umwandlung des Hämoglobins in Bilirubin im strömenden Blute vor sich gehe, daß 
also hier humorale Vorgänge am Werke seien, zeigt zum mindesten, wie ungesichert 
unsere Kenntnisse über die endothelialen Funktionen bei den einzelnen Tiergruppen 
sind und wie wenig statthaft noch eine Übertragung der beim Vogelorganismus 
erhobenen Befunde auf die klinische Pathologie des Menschen erscheint. Es bleibt 
auch für die hypothetische reticuloendothelialen Vorgänge der Gallenfarbstoff- 
bildung bei den Vögeln ferner der Einwand bestehen, daß es schwer vorstellbar 
ist, daß hinsichtlich einer so kardinalen Funktion, wie sie allem Anscheine nach 
die Bilirubinproduktion darstellt, so weitgehende Bildungsvarianten des Gallenfarb- 
stoffes bei verschiedenen Tieren bestehen sollten. 

Trotz dieser Schwierigkeiten würden die Blockierungsversuche von Lepehne 
und Eppinger ein entscheidendes Argument zu gunsten der Aschoffschen Lehre 
von der reticuloendothelialen Entstehung des Gallenfarbstoffes und gewisser hämo- 
Iytischer Ikterusformen zum wenigsten bei Vögeln und beim Hunde bilden, wenn 
ihre Ergebnisse als gesichert zu betrachten wären und sie eine eindeutige Beweis- 
kraft beanspruchen könnten. Von beiden kann gegenwärtig keine Rede sein. Wie 
die gleichzeitig und unabhängig voneinander ausgeführten Untersuchungen von 
Rosenthal, Melchior und Fischer, Bieling und Isaac gezeigt haben, ist ent- 
gegen Lepehne und Eppinger die intravitale Verstopfung der Reticuloendothelien 
ohne nachweisbaren vermindernden Einfluß auf die Gallenfarbstoffbildung bei Vögeln 
und Säugern, u. zw. sowohl unter normalen wie pathologischen Bedingungen. Test- 
objekt dieser Untersuchungen war der Ponficksche Cholaskos nach Gallengangs- 
zerreißung bei der Taube, der mechanische Ikterus bei Vögeln nach Choledochus- 
ligatur, der Toluylendiaminikterus beim Hunde und bei der Katze und der Hämo- 
lysinikterus bei der Maus und beim Hunde. Ganz besondere Beweiskraft für die 
Einflußlosigkeit einer noch so hoch getriebenen Blockierung des Reticuloendothel- 
systems für die Gallenfarbstoffbildung dürfte den Versuchen über die Gelbsucht 
nach specifischer Hämolysinvergiftung und über den Toluylendiaminikterus der 
Katze zukommen. Besonders das klinische Bild der Toluylendiaminvergiftung der 
Katze zeigt so weitgehende Analogien zu dem Symptomenbild des AsH,-Ikterus 
der Vögel, daß sich über das Experiment an der Katze eine besonders beweis- 
kräftige Beantwortung der Frage über den Einfluß der Sternzellenblockade auf dic 


538 F. Rosenthal. 


Gallenfarbstoffbildung beim Säugetier eröffnete. Zu den gleichen negativen Ergeb- 
nissen ist neuerdings auch Kodama im Aschoffschen Institut gelangt. Er fand 
bei Hunden nach Collargolspeicherung und gleichzeitiger Toluylendiaminvergiftung 
nicht nur keine Herabsetzung der Gallenfarbstoffbildung, sondern die Hyperbili- 
rubinämie trat sogar etwas früher als bei nicht gespeicherten Hunden in die Er- 
scheinung. Ellek berichtet allerdings über eine Herabdrückung der Bilirubinaus- 
scheidung bei Gallenfistelhunden unter dem Einfluß einer Eisenspeicherung des 
Reticuloendothelsystems, doch sind abgesehen von anderen Gründen, auf die wir 
noch zurückkommen, seine Ergebnisse so schwankende, daß man aus seinen Versuchs- 
resultaten mit dem gleichen Rechte den entgegengesetzten Schluß einer Einflußlosig- 
keit der Blockierung ziehen könnte. Da außerdem das Absinken der Oallenfarbstoff- 
sekretion öfters von einer Hyperbilirubinämie begleitet wird, ist nicht ohneweiters der 
Verdacht auszuschließen, daß das Versiegen der Gallenfarbstoffausscheidung mit einer 
zeitweiligen Verlegung der Gallenwege oder mit funktionellen Störungen der Leber- 
zellen, die bei massiver Eisenzufuhr gleichfalls Eisengranula aufweisen, in Zusammen- 
hang stehen kann. Übrigens hat Greppi keinen Einfluß der Eisenblockade der 
Reticuloendothelien auf die Gallenfarbstoffausscheidung beim Fistelhunde beobachtet. 

Selbstverständlich wird mit den Ergebnissen der Arbeiten von Rosenthal 
und Melchior, Rosenthal und Fischer, Bieling und Isaac, so sehr sie auch 
die bisherige experimentelle Basis der Lehre vom reticuloendothelialen Ikterus 
erschüttern, das Problem der extrahepatocellulären bzw. reticuloendothelialen Bildung 
des Gallenfarbstoffes nicht in irgend einem Sinne beantwortet. Die negative Fest- 
stellung von der Wirkungslosigkeit der Reticuloendothelialspeicherung für die Gallen- 
farbstoffproduktion ist noch kein zwingender positiver Beweis gegen eine wichtige 
Rolle des Sternzellenapparates bei der Ikteruspathogenese, Es bleibt immer die 
Möglichkeit offen, wie wir dies früher schon und auch Bock in seinem Referat 
über das Problem der Gallenfarbstoffbildung und des Ikterus betont haben, daß 
auch eine noch so intensive Blockierung des Reticuloendothels nicht die physio- 
logischen und pathologischen bilirubinbildenden Funktionen dieses Gewebssystems 
aufzuheben braucht, ja, daß, worauf eine Reihe neuerer Erfahrungen hinweisen, die 
Stapelung der Reticuloendothelien bei vielen Tieren zu einer Steigerung der Funk- 
tionen dieses Gewebssystems führen kann. So führt, um ein Beispiel anzuführen, 
die Eisenblockade bei der milzexstirpierten Maus nach Bieling und Isaac zu einer 
Aufhebung der specifischen Immunkörperproduktion, während bei dem in gleicher 
Weise behandelten Kaninchen die specifische Antikörperbildung öfters sogar eine 
ausgesprochene Förderung erfährt (Rosenthal und Fischer, Standenath, Rosen- 
thal, Moses und Petzal). Es ist weiter möglich, wie dies Aschoff ausführt, daß 
die für die Bilirubinbildung notwendigen fermentativen Leistungen sich nicht bloß 
innerhalb der Reticuloendothelien vollziehen, sondern daß auch die hierbei wirk- 
samen Fermente in die Circulation entlassen werden und hier humorale Umbildungs- 
vorgänge auslösen, und daß diese intracellulären und exkretorischen Endothelfunk- 
tionen sich mit ganz wechselnder Intensität bei den verschiedenen Versuchstieren 
an der Oallenfarbstoffbildung beteiligen. So wäre es nach Aschoff an sich denkbar, 
daß z.B. bei der Taube, bei welcher das Hämoglobin direkt von den Reticulo- 
endothelien aufgenommen und intracellulär weiterverarbeitet wird, durch die Speiche- 
rung die phagocytäre Eigenschaft für die Erythrocyten gelähmt, dagegen die Aus- 
scheidung wirksamer bilirubinogener Fermente erhöht wird. 

Alle diese Argumente lassen sich gewiß zu gunsten der Möglichkeit einer 
reticuloendothelialen Anteilnahme an der Gallenfarbstoffproduktion ins Feld führen, 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 539 


aber sie ändern im Grunde genommen nichts mehr an der Tatsache, daß die Methode 
der sog. Blockierung sich für die Erforschung der Bedeutung des Reticuloendothel- 
systems bei der Bilirubinproduktion nicht als gangbar erwiesen hat und daß es 
bisher bei keinem Tier einwandfrei gelungen ist, auch nur mit annähernder Gesetz- 
 mäßigkeit durch Reticuloendothelblockade die Gallenfarbstoffbildung zu unterbinden. 
Aber gesetzt auch den Fall, daß es sich in den Blockadeversuchen von Lepehne 
und Eppinger nicht bloß um Zufallsbefunde gehandelt haben sollte, würde an- 
gesichts der Komplexität der mitspielenden Faktoren die Herabdrückung der Gallen- 
farbstoffproduktion nicht als zwingender Beweis für die reticuloendotheliale Genese 
des Bilirubins erscheinen können. Wir erwähnen nur kurz unser bereits früher 
geäußertes Bedenken toxikologischer Art, das an die Untersuchungen von Locke- 
mann, Meissner anknüpft, wonach Silberverbindungen, einschließlich Collargol 
ein in vitro hochwirksames Antidot gegenüber Arsenwasserstoff darstellen. Es wäre 
daher nicht ganz auszuschließen, daß eine gewisse Abschwächung des AsH,-Ikterus 
durch Collargol auch im lebenden Organismus stattfinden könne, auch ohne daß 
hierbei eine funktionelle Lähmung der Kupffer-Zelle durch Collargolblockade vor- 
zuliegen braucht. Weit wichtiger erscheint es uns, daß die Alternative Kupffer- 
Zelle oder Leberparemchymzelle über den Weg der Blockierung überhaupt kaum 
einer Entscheidung zugänglich gemacht werden kann, weil auch die Parenchymzelle 
der Leber an der intravitalen Stapelung des Blockademittels teilnimmt. Alle 
Speicherungsversuche am Reticuloendothel machen stillschweigend die durchaus 
unbewiesene Voraussetzung, daß der im Vordergrunde stehende histochemische 
Befund und der biologische Zelleffekt sich ohneweiters decken, daß mit anderen 
Worten die im wesentlichen zur sichtbaren Speicherung im Reticuloendothel führende 
intravenöse Injektion sich wirklich nur als Reiz oder Lähmung am endothelialen Zell- 
apparat auswirkt. Die Teilwirkungen auf das hämatopoetische System sind unter anderm 
von Nissen beschrieben worden. Wie ferner Voigt gezeigt hat, sind schon wenige 
Stunden nach intravenöser Collargoinjektion massenhaft Silbergranula mittels der 
Dunkelfeldmethode auch in den Leberzellen nachweisbar, und damit entsteht natürlich 
für den Fall einer Beeinflussung der Gallenfarbstoffbildung sofort die Kardinalfrage, 
ob diese Veränderung nur durch eine Alteration der Reticuloendothelien oder auch 
der Leberzellen zu stande kommt. Es bleibt weiter zu berücksichtigen, daß das Schutz- 
kolloid des Collargols, dem entsprechend seinem Eiweißcharakter auch anaphylakto- 
gene Eigenschaften zukommen (vgl. Boettner), vielleicht auch unmittelbare Ein- 
wirkungen auf die Leberzelle auszuüben vermag. Wenigstens haben wir in Analogie 
zu den Beobachtungen von Pick und Hashimoto, Bieling und Gottschalk, 
Freund, die nach Zufuhr von artfremdem Eiweiß als Zeichen einer latenten Leber- 
schädigung einen Anstieg des inkoagulablen Stickstoffes in der Leber feststellten, 
wiederholt auch in den ersten Tagen nach massiger Collargolbehandlung eine Zu- 
nahme des Rest-N in der Meerschweinchenleber gesehen. Auch nach wiederholter 
massiger intravenöser Injektion des zur Blockierung von Eppinger vorgeschlagenen 
Ferrum oxydatum saccharatum kann man, abgesehen von einer in ihrer Stärke 
wechselnden Hyperämie der Leber, auch in den Parenchymzellen häufig feinkörnige 
Eisenablagerungen nachweisen. 

Man sollte meinen, daß die Frage der funktionellen Lähmung der Reticulo- 
endothelien mittels Blockade durch Prüfung des phagocytären Vermögens bereits 
gestapelter Sternzellen unter relativ übersichtlichen Verhältnissen zu beantworten 
wäre. Der Nachweis Lepehnes, daß nach intensiver Collargolblockade die Kupffer- 
schen Sternzellen gewissermaßen aus reinem Platzmangel keine so großen Körper 


540 F. Rosenthal. 


wie die Vogelblutkörperchen mehr in sich aufzunehmen vermögen, würde an sich 
noch nicht die Aufnahme kleinerer corpusculärer Elemente wie Erythrocytentrümmer 
und Hämoglobinschollen ausschließen. Merkwürdigerweise hat diese wichtige, das 
Grundproblem der Blockade tief berührende Frage bis in die jüngste Zeit hinein 
keine eindeutige Beantwortung erfahren, obwohl schon Schuleman und Goldmann 
in ihren ausgezeichneten Arbeiten gelegentlich darauf hingewiesen haben, daß z.B. 
Sternzellen, die schon saure Vitalfarbstoffe gespeichert haben, noch nachträglich 
Tuschekörnchen zu phagocytieren vermögen. Kann man zwar gegen diese Beob- 
achtungen, die unter anderen experimentellen Gesichtspunkten erhoben worden sind, 
einwenden, daß hier die primäre Stapelung nicht genügend hoch getrieben ist, um 
eine sekundäre Speicherung zu verhindern, so zeigen auch in gleicher Weise die 
Arbeiten von Seifert, Siegmund und ganz besonders die Untersuchungen von 
Petroff und Kuszynski, der zum Teil auf hinterlassenen Befunden Goldmanns 
fußt, daß eine noch so starke Überfüllung der Kupfferschen Sternzellen mit 
kolloidalen Teilchen anscheinend keine wesentliche Verminderung der phagocytären 
Leistungen dieses Zellsystems im Gefolge hat. Im Gegenteil, nach Kuszynski soll 
eine Steigerung der resorptiven Prozesse im Reticulum nicht selten sogar eine 
Förderung der phagocytären Funktionen für andere Substanzen herbeiführen. Im 
Gegensatz zu diesen Befunden, denen auch die Feststellungen Anitschkows bei 
cholesteringespeicherten Endothelien anzureihen wären, stehen die Resultate Nissens, 
welcher bei vorangehender Elektroferrolbehandlung und anschließenden Lithion- 
carmin-Injektionen keine Doppelspeicherung in den Reticuloendothelien feststellen 
konnte. Auch unsere eigenen Erfahrungen sprechen im Sinne der Mehrzahl der 
Autoren, daß eine wirkliche effektive Blockierung des Gesamtsystems der Reticulo- 
endothelien, eine biologisch bedeutsame Behinderung ihrer phagocytären Eigenschaften 
selbst nach maximaler Behandlung der Tiere, wenigstens soweit das Kaninchen in 
Betracht kommt, nicht durchführbar ist. Fügen wir noch hinzu, daß während der 
Blockierung eine bei den verschiedenen Versuchstieren im einzelnen vorläufig nicht 
zu übersehende kompensatorische Reizwucherung des reticuloendothelialen Apparates 
stattfindet, die von sich aus eine effektive Blockade illusorisch machen könnte, so 
dürften die Schwierigkeiten hinreichend beleuchtet sein, die der praktischen Durch- 
führung einer wirklichen funktionellen Ausschaltung des Reticuloendothelsystems auf 
dem Wege der Fremdkörperstapelung in den Endothelien entgegenstehen. 

Es darf für eine Kritik der Aschoffschen Lehre vom reticuloendothelialen 
ikterus nicht unerwähnt bleiben, daß unter den hauptsächlich in Betracht kommenden 
Versuchstieren anscheinend allein der Maus eine gewisse Ausnahmestellung zukommt, 
als es bei ihr nach vorausgehender Milzexstirpation doch in der Tat gelungen ist, 
durch Eisenfüllung des restierenden Reticuloendothels gewisse endotheliale Partial- 
funktionen zur Ausschaltung zu bringen. Wir verweisen hier auf die Arbeiten von 
Bieling und Isaac über die Aufhebung der specifischen Immunkörperproduktion 
bei der milzlosen und eisenblockierten Maus, auf die Untersuchungen von Pfeiffer 
und Standenath über die Coupierung der intraperitonealen Trypsinvergiftung und 
auf die Befunde von Rosenthal und Spitzer, wonach die Bildung der nach 
Menschenseruminjektion in der Maus auftretenden trypanociden Stoffe, die die 
experimentelle Trypanosomeninfektion zur Abheilung bringen, nach Reticuloendothel- 
blockade unterbleibt. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit solche Lähmungen von 
endothelialen Teilfunktionen bei der Maus zum Teil durch die vorher erfolgende Ent- 
fernung der gerade hier besonders groß entwickelten Milz ermöglicht werden, mit 
welcher vielleicht hier ein in seiner Menge gegenüber dem restierenden Reticuloendothel 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 541 


überwiegender Anteil des endothelialen Systems entfernt wird; jedenfalls bleibt es 
bemerkenswert, daß, wie die bereits angeführten Untersuchungen Bielings und 
Isaacs beim Hämolysinikterus der Maus gezeigt haben, die Blockade der Reticulo- 
endothelien trotzdem nicht einmal bei dem einzigen Tier, bei welchem die Läh- 
mung endothelialer Funktionen im Bereich der Möglichkeit liegt, die Gallenfarb- 
stoffbildung aufzuheben vermag. ` 

Aus allen diesen Darlegungen dürfte wohl hinreichend ersichtlich sein, daß 
das experimentelle Fundament zur Begründung der Lehre von der reticuloendothe- 
lialen Genese des Gallenfarbstoffes vorläufig nicht ausreicht. Damit stehen wir aber 
wiederum vor der alten Frage, die schon Minkowski und Naunyn beschäftigt 
hat, und bei deren verschiedenartiger Beantwortung sich seinerzeit die Lehre des 
reticuloendothelialen Ikterus von der Lehre der hepatogenen, hepatocellulären Ent- 
stehung jeder Ikterusform geschieden hat: Reichen die histologischen Befunde der 
erythrophagen und sideroferen Endothelzellen, die beim Arsenwasserstoffikterus 
gleichzeitig Biliverdin in sich bergen, für sich allein aus, um die Beteiligung der 
Reticuloendothelien an der Gallenfarbstoffbildung wenigstens für den Vogelorganis- 
mus einigermaßen zu sichern? Wenn auch Minkowski und Naunyn, die Entdecker 
dieses Phänomens, aus gewissen Erwägungen heraus geneigt gewesen sind, eine 
begrenzte Gallenfarbstoffproduktion in diesen Zellen anzuerkennen, so vermag doch 
die gewaltige phagocytäre Kraft der Sternzellen diese Vorgänge auch ohne die 
Annahme einer erheblicheren endothelialen, extrahepatocellulären Gallenfarbstoff- 
bildung befriedigend zu erklären. Berücksichtigt man, mit welcher Heftigkeit die 
Kupfferschen Zellen alle Arten von Substanzen, die ihnen als Fremdkörper (Vital- 
farbstoffe, kolloide Metalle, Bakterien) oder als Stoffwechselprodukte (Cholesterin, 
Gallenpigment, Eisenpigment, Erythrocyten und ihre Trümmer) zugeführt werden, 
blitzartig in sich speichern und konzentrieren, so wird man in der Anhäufung von 
Gallenpigment und Hämosiderin in den Reticuloendothelien auch beim AsH,-Ikterus 
nicht notwendigerweise den Ausdruck einer intracellulären endothelialen Gallen- 
farbstoffbildung sehen müssen, sondern zum mindesten mit der gleichen Berechtigung 
ein Phänomen einer mächtigen Phagocytose, kraft der die Sternzellen den Kreislauf 
von blutfremden Substanzen zu befreien versuchen. Dafür spricht auch das Auftreten 
von Oallencylindern in den Reticuloendothelien, die mit Sicherheit durch Phagocytose 
in die Zellen hineingelangt sind. Das in den Sternzellen beim AsH,-Ikterus der 
Vögel erscheinende Biliverdin braucht somit nicht Ursache, sondern kann mit dem 
gleichen Recht auch Folge des Ikterus sein, und die Auflösung der biliverdinhaltigen 
Endothelzellen im Kreislauf braucht nicht, wie die Aschoffsche Schule will, Anfang 
des „hämatogenen“ AsH,-Ikterus zu sein, sondern kann auch das Ende eines Zell- 
vorganges bedeuten, bei dem Gallenfarbstoff, der Circulation durch Phagocytose 
ursprünglich entrissen, durch Zellauflösung wieder in die Blutbahn zurücktritt. Das 
Hämosiderin und Biliverdin der Kupfferschen Zellen ist im Sinne dieser Auffassung 
weniger autochthones, als vielmehr exogenes Produkt. Damit münden wir in eine 
Auffassung hinein, die z. B. von Nathan und Schilling vor den Arbeiten der 
Aschoffschen Schule aufgestellt worden ist, und die sich dahin zusammenfassen 
läßt, daß den Sternzellen die Bedeutung eines endothelialen Schutzapparates für 
den Kreislauf und die Leberzellen zukommt, daß sie gleichsam als Türhüter vor 
die Leberparenchymzelle gestellt sind, um die Leberzelle vor seiner Überflutung . 
mit Ausscheidungsprodukten mannigfacher Art zu bewahren. 

So zeigt eine kritische Betrachtung auch der histologischen Grundlagen der 
Lehre von den ikterogenen Funktionen der Reticuloendothelien, mit welchen Schwierig- 


542 | F. Rosenthal. 


keiten die Deutung der histologischen Details bei der endothelialen Erythrophago- 
cytose bis zum intracellulären Auftreten des Gallenfarbstoffes zu kämpfen hat und 
wie von einer Eindeutigkeit dieser Bilder in irgend einem Sinne keine Rede sein 
kann. Wenn neuerdings Kodama unter Aschoffs Leitung im Verfolg der feineren 
Vorgänge in den Sternzellen bei der AsH,-Vergiftung der Tauben zuerst eine 
gewaltige Erythrophagocytose und um die Zeit des ersten Erscheinens von Gallen- 
farbstoff im Blute das Auftreten von Granula mit Eisenreaktion in den Endothelien 
beobachtete, so stellen diese Befunde gewiß bemerkenswerte Argumente zu gunsten 
eines endothelialen Hämoglobinumbaues dar, zur Frage der endothelialen Gallen- 
- farbstoffbildung und gegen die Theorie vom Primat der Leberparenchymzellen bei 
der Bilirubinproduktion vermögen sie nichts Beweiskräftiges auszusagen. 

In dem ganzen Streit um die Topik der Gallenfarbstoffbildung, soweit sie 
überhaupt durch histologische Befunde erschlossen und geklärt werden kann, sind 
ältere Befunde — wir greifen nur die Arbeiten von Browicz, Loewit, Tirmann, 
Lintwarow heraus — in Vergessenheit geraten, wonach auch bei den Leber- 
zellen unter den Bedingungen eines toxischen Blutzerfalls ein nicht unbeträcht- 
liches phogacytäres Vermögen für rote Blutkörperchen und ihre Trümmer nach- 
zuweisen ist. Heinrichsdorff hat diese Untersuchungen wieder aufgenommen mit 
dem Ergebnis, daß die globuliferen Zellen beim Arsenwasserstoffikterus der Tauben 
nicht einheitlicher Abstammung seien, daß sie sich nicht nur aus endothelialen 
Sternzellen, sondern auch aus Leberparenchymzellen zusammensetzen, die sich gleich- 
falls mit roten Blutkörperchen und ihren Zerfallsprodukten beladen und in das 
Lumen der Lebercapillaren abgestoßen werden können. In solchen mit Erythrocyten 
erfüllten Leberparenchymzellen finden sich intrahepatocellulär gleichfalls Abbau- 
produkte des Hämoglobins bis zu Eisengranula und gallenfarbstoffähnlichen Pigment- 
stufen. Sollten diese Befunde in diesem Umfange zu Recht bestehen, dann wird der 
auf histologischem Gebiete ausgefochtene Kampf um den Ort der Gallenfarbstoff- 
bildung eigentlich gegenstandslos. Dann bleibt die nicht mehr histologisch erfaß- 
bare Frage noch zu beantworten, in welchen quantitativen Relationen die reticulo- 
endotheliale und die hepatocelluläre Gallenfarbstoffbildung zueinander steht, und 
dann befinden wir uns wiederum vor den alten Argumentationen von Minkowski 
und Naunyn, die sie schließlich zu dem Schluß von dem Primat der Leber- 
parenchymzelle bei der Bildung des Gallenfarbstoffes geführt haben. 

Noch eine kurze Bemerkung zur Frage der Zusammenhänge zwischen Gallen- 
farbstoffbildung und endothelialer Erythrophagocytose und Siderose. Nimmt man 
sich die Mühe, wie dies Huek getan hat, die Resultate der Literatur über hämolyti- 
sche ikterogene Gifte auf die Frage hin zusammenzustellen, wann und wo gleichzeitig 
Gallenfarbstoff, Eisen, Erythrophagocytose gefunden wurden, so ergibt sich eine solche 
Fülle wechselnder und ungleichmäßiger Befunde, daß man wohl Abstand nehmen 
muß, heute aus dem histologischen Bilde und insbesondere aus den Ablagerungs- 
stätten der eisenhaltigen Pigmente etwas Abschließendes über die Topik und die histo- 
chemischen Vorgänge der Gallenfarbstoffbildung zu sagen. Dazu kommt, daß, wie 
dies Huek und Lubarsch betonen, nach allen bisherigen Beobachtungen die 
Bildung und Stapelung von dem, was wir mit dem Sammelbegriff des Hämosiderins 
bezeichnen, und von Gallenfarbstoff sowohl in den lokalen Blutextravasaten wie bei 
. dem allgemeinen Blutzerfall im Organismus ihre getrennten histologischen Wege 
geht und bis zu einem gewissen Grade auch eignen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. 
So gibt es beim Menschen Erkrankungen, bei denen ein Untergang roter Blut- 
körperchen mit Ikterus einhergeht, ohne daß eine entsprechende endotheliale Siderose 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 543 


aufzutreten braucht (hämolytischer Ikterus, Weilsche Krankheit) und umgekehrt 
Krankheiten mit beträchtlicher Siderosis der Reticuloendothelien (sekundäre Anämien, 
Krebskachexien, Mehlnährschäden der Säuglinge, Hämochromatose, perniziöse Anämie) 
ohne oder mit geringem Ikterus (vgl. Huek, Lubarsch, ferner die Befunde von 
Kanner beim menschlichen Stauungsikterus und hämolytischen Ikterus). Auch beim 
Abdominaltyphus besteht bekanntlich hochgradigste Erythrophagocytose ohne Ikterus 
(M. B. Schmidt). 

Natürlich beweisen auch solche divergenten Befunde letzten Endes nichts gegen 
eine reticuloendotheliale Entstehung des Bilirubins; denn es bleibt, was auch Huek 
in seiner Darstellung der pathologischen Pigmente besonders betont, stets die 
Möglichkeit bestehen, daß bei ikterischen hämolytischen Krankheitsprozessen das 
beim Hämoglobinabbau freiwerdende Eisen in gewissermaßen maskierter, durch 
histochemische Reaktionen bisher nicht erfaßbarer Form oder in zu dünner Lösung 
innerhalb der Zellen auftreten kann und daß andererseits bei nicht ikterischen 
Krankheiten mit beträchtlicher endothelialer Siderose der Oallenfarbstoff mit dem 
Augenblick seiner Entstehung den Leberzellen weitergegeben und durch die Gallen- 
wege alsbald ausgeschieden wird. Gewiß sind solche histologischen Unstimmigkeiten 
auch für die Entscheidung der Alternative zwischen Leberzelle und Kupfferzelle 
ohne Belang; denn auch innerhalb der Leberzellen sind keine histologischen Parallelen 
zwischen Siderose und Bilirubinmetamorphose erkennbar. Aber diese Befunde zeigen 
doch immerhin, daß die Anwesenheit von Eisenpigment im Sternzellenapparat auch 
selbst dann, wenn man den Faktor der Eisenphagocytose nicht in Rücksicht zieht, 
kein beweiskräftiges Argument für die reticuloendotheliale Entstehung des Gallen- 
farbstoffes darstellt, und sie beleuchten unserer Ansicht nach zugleich auch die 
großen Schwierigkeiten, der Lösung des Problems der Bildungsstätte des Gallen- 
farbstoffes auf histologischem Wege in eindeutiger Weise nahezukommen. Zu allen 
diesen Schwierigkeiten kommt noch die Interferenz des Nahrungseisens hinzu, das 
neben dem Eisen des Hämoglobins bei allen histologischen Feststellungen zu be- 
rücksichtigen bleibt. | 

So läßt sich vom histologischen Standpunkte aus über die Beziehungen der Reticulo- 
endothelien und der Leberparenchymzellen zur Gallenfarbstoffbildung nach unseren 
heutigen Kenntnissen zusammenfassend etwa folgendes sagen: So wahrscheinlich auch 
durch die Untersuchungen von Minkowski und Naunyn, Aschoff und McNee 
eine Beteiligung der Reticuloendothelien, besonders der Kupfferschen Sternzellen, 
am Umbau des Hämoglobins und an der Bildung des Gallenfarbstoffes gemacht 
wird, so ist doch auf Grund des mikroskopischen Bildes ein eindeutiger Beweis für eine 
überragende Bedeutung des Reticuloendothelsystems bei der Bereitung des Bilirubins 
bisher nicht erbracht. Alle in den Sternzellen histologisch wahrnehmbaren wichtigen 
Veränderungen, die Eisenspeicherung, das Auftreten grüner Pigmentmassen lassen 
ebenso die Deutung zu, daß sie nicht Zeichen einer intracellulären Hämoglobin- 
zerlegung sind, sondern nur einen Resorptionsvorgang aus dem Blute darstellen. 
Dazu kommt, daß diese Feststellungen im wesentlichen nur für den Vogelorganismus 
gelten und bei einer Reihe anderer Tierklassen und auch beim Menschen zum Teil 
vermißt, zum Teil in weniger bedeutungsvollem Umfange erhoben worden sind. 
Ebenso wie ein exakter histologischer Beweis für die reticuloendotheliale Entstehung des 
Gallenfarbstoffes also fehlt und nur Wahrscheinlichkeitsgründe hierfür angeführt werden 
können, so fehlt umgekehrt allerdings auch eine überzeugende histologische Beweis- 
führung, daß das Primat der Gallenfarbstoffbildung der Leberparenchymzelle gehöre. 
Dabei bleibt es auch im einzelnen vorläufig völlig ungeklärt, ob der Sternzellenapparat 


544 F. Rosenthal. 


den Abbau des Hämoglobins bis zum fertigen Bilirubin für sich allein besorgen kann und 
schon das Endprodukt den Leberzellen zur Ausscheidung übermittelt, ob das Reticulo- 
endothelsystem nur als Zwischenapparat in den Bildungsmechanismus des Gallen- 
farbstoffes eingeschaltet ist, der seine Fertigstellung aus endothelialen Vorstufen erst 
der Leberzelle verdankt, oder ob schließlich sowohl Parenchymzelle wie Endothel- 
zelle in unbekannten quantitativen Korrelationen den fertigen Gallenfarbstoff zu 
bereiten vermögen. Gegen die letzte Möglichkeit spricht bis zu einem gewissen Grade, 
daß eine so charakteristische biologische Funktion, wie sie die Gallenfarbstoffbildung 
darstellt, kaum gleichzeitig von entwicklungsgeschichtlich und histologisch so prinzi- 
piell verschiedenen Gewebssystemen, der mesenchymalen Endothelzelle und der ento- 
dermalen Parenchymzelle besorgt werden dürfte. Alle diese Möglichkeiten müssen 
vorläufig offen bleiben, nachdem das experimentelle Fundament der Lehre von der 
reticuloendothelialen Bilirubinbildung, die Versuche der Blockierung des Sternzellen- 
apparates ihre Beweiskraft eingebüßt haben. 

Mit der Frage der bilirubinbildenden und ikterogenen Fähigkeiten der Reticulo- 
endothelien, die hiernach noch der entscheidenden Beantwortung harrt, erschöpft sich 
natürlich nicht das Problem der extrahepatischen Gallenfarbstoffbildung. Ganz allge- 
mein darf man sagen, daß in neuerer Zeit immer mehr die Befunde der extra- 
hepatischen Bilirubinbereitung anwachsen, und sie weisen zugleich darauf hin, daß 
unter gewissen experimentellen Bedingungen die extrahepatische Quote der Gallen- 
farbstoffbildung in einem Ausmaß in die Erscheinung treten kann, daß sie auch für 
die Pathogenese des Ikterus Beachtung beanspruchen darf. Zunächst darf hier folgendes 
vorausgeschickt werden: Nachdem es Hans Fischer und Reindel gelungen ist, das 
Hämatoidin in alten Blutextravasaten mit Bilirubin zu identifizieren, womit der mit 
Virchow beginnende Streit über das Wesen des Hämatoidins beendet ist, kann eines 
mitSicherheit gesagt werden: Auch außerhalb der Leber kann Gallenfarbstoff entstehen, 
die Mitwirkung der Leberzellen bei der Bildung von Gallenfarbstoff erscheint nicht 
unbedingt erforderlich. Mit dieser Feststellung, deren Inhalt auch von Minkowski 
und Naunyn niemals bestritten worden ist, ist aber noch nichts Wesentliches für 
den Prozeß der physiologischen Gallenfarbstoffbildung und für die Gallenfarbstoff- 
bildung bei den mit gesteigertem Blutuntergang einhergehenden Ikterusformen 
bewiesen. Es bleibt die Frage, ob eine derartige extrahepatische Gallenfarbstoff- 
bildung bei der physiologischen Bilirubinbildung eine Rolle spielt und ob die 
Intensität einer solchen extrahepatischen Gallenfarbstoffproduktion für sich allein zur 
Erzeugung von Ikterus ausreicht. „Der Nachweis einer anhepatischen Entstehung des 
Bilirubins beweist noch nicht die Existenz eines anhepatischen Ikterus« (Minkowski). 
Schließlich kann ja auch z.B. der Harnstoff außerhalb der Leber gebildet werden 
(Nonnenbruch und Gotschalk), während anderseits die Hauptbildungsstätte des 
Harnstoffs zweifellos die Leber darstellt. 

Dementsprechend ist die Feststellung von dem Auftreten von Gallenfarbstoff 
in hämorrhagischen Exsudaten, Cystenflüssigkeiten, in experimentellen Hämatomen 
(Hijmans van den Bergh), in der Lumbalflüssigkeit nach vorausgegangener Blut- 
injektion in den Lumbalsack (Leschke) nicht über ihren unmittelbaren Inhalt hinaus 
verwertbar. Auch ist es Lepehne nach Anlegung ausgedehnter Hämatome niemals 
gelungen, mehr als eine geringfügige allgemeine Bilirubinämie zuweilen zu erzielen. 
In das „Wie“ dieser lokalen Gallenfarbstoffbildung führen die Versuche von Leschke 
vielleicht ein wenig tiefer hinein. Er versetzte eine bestimmte Menge von Lumbal- 
punktat, das einige Zeit nach endolumbaler Einspritzung von Blutkörperchen ent- 
nommen war, mit gewaschenen menschlichen Erythrocyten und konnte unter gleich- 





Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 545 


zeitiger Anstellung der erforderlichen Kontrollversuche nach längerem Aufenthalte im . 
Brutschranke eine Zunahme der Gallenfarbstoffbildung in vitro nachweisen Da Blut 
im Reagenzglase weder aerob noch anaerob selbst bei mehrtägigem Bebrüten allein 
Oallenfarbstoff bildet, so sprechen diese Befunde dafür, daß der Abbau des Blut- 
farbstoffes zu Gallenfarbstoff lediglich durch die vitale Tätigkeit der die serösen Räume 
auskleidenden Endothelien erfolge und daß dieser Vorgang zu einem Teil auf humo- 
ralem Wege durch die Abgabe von endothelialen Zellfermenten zu stande kommt. In 
ähnlichem Sinne würden die neuerdings wieder bestrittenen Beobachtungen von 
Ch.M.Jones, B.B. Jones bei paroxysmaler Hämoglobinurie sprechen. Sie tauchten den 
abgebundenen Arm eines Hämoglobinurikers in kaltes Wasser und untersuchten in 
Abständen von 3, 20, 33 Minuten das Blut des Armes und verglichen dieses mit 
dem Blut des allgemeinen Kreislaufs. Bei der ersten Untersuchung fanden sie kein 
freies Hämoglobin im gestauten Armblut, bei der zweiten zwar freies Hämoglobin, 
aber keine positive Gmelinsche Reaktion, bei der dritten Untersuchung auch positive 
Gallenfarbstoffprobe. Solange der Arm abgebunden blieb, war im großen Kreislauf 
Gallenfarbstoff nicht festzustellen. Die Verfasser schließen aus diesen Ergebnissen 
auf eine Bilirubinbildung in den Capillaren. Sehr beachtenswert erscheinen die 
Erwägungen Bocks über den Mechanismus derartiger humoraler Bilirubinbildung. 
Bei einer solchen Annahme darf nach Bock die Möglichkeit der Abgabe eines gallen- 
farbstoffbildenden Fermentes in die Blutbahn von seiten bestimmter Organe, etwa 
Leber, Milz, reticuloendotlielialem System u. s. w. nicht ohneweiteres außer acht 
gelassen werden. Derartige Möglichkeiten gewinnen sogar neuerdings an Wahr- 
scheinlichkeit, seitdem wir durch die Untersuchungen Ronas und die sich hieran 
anschließenden Arbeiten (vgl. Abschitt IV) von dem häufigen Kreisen von Organ- 
fermenten im Blut unterrichtet sind. Auf diesem Wege könnte unter Umständen der 
Prinzipienstreit über die hepato- und extrahepatocelluläre, sowie humorale Bildung 
des Gallenfarbstoffes die Auflösung und Verschmelzung seiner Gegensätze finden. 

Wichtige Untersuchungen zur Frage der humoralen Bilirubinbildung liegen auch 
von Brugsch und Pollak vor. Ausgehend von den Untersuchungen Parisots, der 
durch Einwirkung von Adrenalin auf gewaschene und hämolysierte Blutkörperchen 
bei gleichzeitiger Verwendung von Schwefelammonium und Natriumhydrosulfit eine 
Umwandlung von Blutfarbstoff in einen gallenfarbstoffähnlichen Körper mit positiver 
Gmelinscher Reaktion erhalten haben wollte, gelang es Brugsch und Pollak, 
durch Einwirkung von Brenzcatechin auf Blutfarbstoff und seine Derivate diesen 
außerhalb des Körpers in Gallenfarbstoff überzuführen. Wesentlich bei dieser Reaktion 
ist die Orthostellung der Hydroxylgruppe im Brenzcatechin, da die Isomeren Hydro- 
chinon und Resorcin die Umwandlung nicht bewirken. Der entstehende Farbstoff 
zeigte das spektroskopische Verhalten des Bilirubins, kuppelte sich mit Diazoreagens 
entsprechend der Ehrlich-Proescherschen, von Hijmans van den Berg dia- 
gnostisch ausgebauten Reaktion und gab die Gmelinsche Reaktion. Selbst wenn 
es sich herausstellen sollte, daß der gefundene Körper nicht mit dem Bilirubin 
identisch wäre, sondern ihm nur nahe stehe, so könnte sich hier doch wohl ein 
neuer Weg eröffnen, um in die Umwandlungsvorgänge des Hämoglobins zum 
Gallenfarbstoif auch unter den Bedingungen des Reagenzglasversuches näher ein- 
zudringen. : 

Das gleiche, was soeben über die Beweiskraft der lokalen Bilirubinentstehung 
gesagt worden ist, gilt auch für die meisten experimentellen Untersuchungen, welche 
in dem Bestreben, das experimentum crucis von Minkowski und Naunyn auch 


auf das Säugetier zu übertragen, nach Leberausschaltung die extrahepatische Gallen- 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 35 


546 F. Rosenthal. 


farbstoffbildung auch beim Hunde zu beweisen versuchten. Selbst wenn wir von 
den sonstigen Einwänden absehen, die diesen Versuchen entgegenstehen, erscheint 
die Bilirubinbildung, soweit sie überhaupt zur Beobachtung kam, im allgemeinen 
nicht hinreichend groß, um das Primat der extrahepatischen Gallenfarbstoff- 
produktion zu rechtfertigen. Als eine wichtige Stütze der extrahepatischen Gallen- 
farbstoffbildung gelten die Arbeiten von Whipple und Hooper. In einer Reihe 
von Versuchen suchten sie durch Anlegung einer Eckschen Fistel und Unterbindung 
der Leberarterie eine Ausschaltung der Leber herbeizuführen. Dann spritzten sie 
lackfarbenes Blut in die Blutbahn ein und fanden hierauf im Urin und im Blut 
nach der Huppertschen Methode mäßige, quantitativ nicht näher ermittelte Mengen 
von Gallenfarbstoff. Mit diesen Befunden stehen die Ergebnisse von Sorani in 
völligem Widerspruch, der bei der gleichen Technik und auch in Kombination mit 
der Arsenwasserstoffvergiftung keine Bilirubinurie im Gegensatz zu seinen Kontroll- ` 
hunden beobachtete. In einer anderen Versuchsserie schaltetten Whipple und 
Hooper durch Unterbindung sämtlicher Abdominalgefäße den Kreislauf der ganzen 
unteren Körperhälfte aus, so daß nur eine extraabdominelle Blutcirculation in Kopf 
und Thorax bestehen blieb. Injizierten sie alsdann lackfarbenes Blut intravenös, so 
fanden sie nach 2—5 Stunden in Blut und Geweben die Gallenfarbstoffreaktion 
positiv. Auch diese Versuche sind nicht beweisend für eine bedeutungsvolle extra- 
hepatische Gallenfarbstoffbildung und sind auch bei Nachprüfungen nicht bestätigt 
worden. So hat Rich erwartungsgemäß festgestellt, daß nach der Methode von 
Whipple und Hooper die Leber nicht vollständig aus dem Blutkreislauf ausgeschaltet 
wird und daß hierbei Gefäßanastomosen zwischen Zwerchfell und Leber bestehen 
bleiben. So trat auch nach intravenöser Tuscheinjektion bei derartig operierten Tieren 
eine intensive Speicherung der Kupfferschen Sternzellen auf, die erst ausblieb, wenn 
auch das gesamte Zwerchfellgebiet in die Unterbindung mit einbezogen wurde. 
Rich selbst suchte der Frage der extrahepatischen Genese des Gallenfarbstoffes beim 
Säugetier dadurch nahezukommen, daß er nach Unterbindung der Aorta abdominalis 
oberhalb der Arteria coeliaca und ausgedehntester Ligatur der übrigen wichtigen 
Bauchgefäße die gesamten Uhnterleibsorgane einschließlich der Leber exstirpierte. 
Nach Hämoglobininjektion trat bei seinen Versuchstieren, die maximal nur wenig 
über 5 Stunden am Leben erhalten werden konnten, keine Gallenfarbstoffvermehrung 
im Blute auf. Auch McNee und Prusik fanden bei Wiederholung der Whipple- 
Hooperschen Experimente, allerdings unter Hinzufügung der Cava-Unterbindung 
oberhalb des Zwerchfells unter 9 Versuchen nur zweimal Spuren von Bilirubin. Auch 
Retzlaff hat die Versuche der amerikanischen Autoren mit gewissen Modifikationen 
teilweise überprüft und ist gleichfalls zu ihrer Ablehnung gelangt. Er rief bei 
Eckschen Fistelhunden nach Unterbindung der Arteria hepatica durch Phenylhydrazin 
einen starken Blutzerfall hervor, ohne eine Hyperbilirubinämie nachweisen zu können. 

Auch diese negativen Befunde bringen aber keine Entscheidung zu gunsten 
der hepatischen Bildung des Gallenfarbstoffes. In diesen Versuchen stehen die Tiere 
unter so schweren Schockeinwirkungen, daß es nicht wunderzunehmen braucht, wenn 
auch die Gallenfarbstoffbildung, wo sie sich auch im einzelnen vollziehen mag, 
sistieren kann. Außerdem wird durch die Versuchsanordnung nicht nur eine Aus- 
schaltung der Leber und der Kupfferschen Sternzellen, sondern auch eine hoch- 
gradige Beeinträchtigung der hauptsächlich in den Abdominalorganen sich aus- 
breitenden Reticuloendothelien bewirkt, so daß gerade die im Mittelpunkt der Dis- 
kussion stehende Alternative zwischen Leberzelle und reticuloendothelialer Zelle 
offen bleibt. 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 547 


Von prinzipieller Bedeutung für die Frage der extrahepatischen Genese des 
Gallenfarbstoffes sind dagegen die Untersuchungen von Frank C. Mann und 
Thomas Byrd Magath, die mit glänzendster chirurgischer Technik in dreizeitiger 
Operation die Totalexstirpation der Leber beim Hunde durchführten und mit Hilfe ihrer 
Methodik zum ersten Male die Ausführung des Grundexperimentes von Minkowski 
und Naunyn auch am Säugetier ermöglichten. Für das Verständnis dieser geistvollen 
Technik ist es von Wichtigkeit, daß die einzeitige Leberexstirpation, wie sie von 
Minkowski-Naunyn beim Vogel vorgenommen wurde, wegen des Fehlens der 
Vena Jakobsonii, einer bei der Gans konstatierten Anastomose zwischen Vena portae 
und Vena renalis sinistra nicht beim Säugetier durchführbar ist. Die für die Leber- 
entfernung erforderliche Unterbindung der Pfortader führt daher, da diese das Haupt- 
abflußgebiet des Darmblutes ist, beim Hunde bereits in kurzer Zeit zu einer schweren 
hämorrhagischen Infarzierung fast des gesamten Darmes, in den hinein die Tiere 
sich in wenigen Stunden verbluten!. Die amerikanischen Autoren umgehen diese, 
bisher als unüberwindlich angesehene Schwierigkeit dadurch, daß sie an die Leber- 
exstirpation erst nach Ausbildung eines ausreichenden Kollateralkreislaufes im Abfluß- 
gebiet des venösen Darmblutes schreiten. Zu diesem Zwecke wird zuerst beim Hunde 
unter Einnähung der Vena cava inf. in die Pfortader eine umgekehrte Ecksche 
Fistel gebildet, wobei gleichzeitig die untere Hohlvene oberhalb der Anastomosen- 
stelle, also diaphragmawärts unterbunden wird. Das gesamte Blut des unteren Rumpfes, 
einschließlich beider hinteren Extremitäten, ist damit nach dem Pfortadergebiet 
abgeleitet. Infolge der jetzt eintretenden Überlastung des Portalbettes kommt es im 
Verlaufe von mehreren Wochen zur Ausbildung eines Kollateralnetzes, das sich auch 
in einer mächtigen Erweiterung der Bauchdeckenvenen bemerkbar macht. Bei einem 
zweiten Eingriff nach frühestens 4 Wochen wird alsdann die Vena portarum an 
ihrem Eintritt unterbunden, so daß nunmehr das gesamte Blut der hinteren Körper- 
hälfte, einschließlich des venösen Darmblutes über die Anastomose zwischen Vena 
cava inf. und Pfortader und dem inzwischen ausgebildeten Kollateralkreislauf ab- 
fließen muß. In einer dritten Operation, die wiederum erst nach Wochen erfolgt, 
wird dann nach Unterbindung des Choledochus und der Leberarterie die gesamte 
Leber entfernt. Die Lebensdauer solcher leberlosen Hunde kann nun, wie Mann 
und Magath weiter gezeigt haben, dadurch erheblich verlängert werden, daß man 
diesen Tieren mit dem Eintritte von Schwächeerscheinungen Traubenzucker in 
größeren Mengen injiziert. Die Exstirpation der Leber führt nämlich, wie schon 
Minkowski in seinen Untersuchungen über die Folgen der Leberexstirpation 
gezeigt hat, zu einem rapiden Absturz des Blutzuckerspiegels, in dessen Verlauf 
es zu analogen Erscheinungen der Kohlenhydratnot wie bei der experimentellen 
Insulinvergiftung kommt. (Glykoprive Intoxikation nach Fischler.) Schließlich machen 
sich aber in wachsendem Maße die durch das Fehlen der Leber bewirkten Auto- 
intoxikationserscheinungen bemerkbar, und die Tiere gehen nach einem im einzelnen 
wechselnden Stadium von klinisch ungefähr normalem Verhalten spätestens innerhalb 
von 20 Stunden zu grunde. Für die uns hier interessierenden Fragen ist es nun 
bemerkenswert, daß nach einem Intervall von höchstens 6 Stunden nach erfolgter 
Leberexstirpation eine zunehmende Gelbfärbung im Blut, in den Geweben und 


! Nach persönlichen Mitteilungen Minkowskis wurden die ersten Leberexstirpationen Min- 
kowskis und Naunyns an Hunden ausgeführt, bei welchen durch ein paraffiniertes Röhrchen eine 
Anastomose zwischen Pfortader und linker Nierenvene geschaffen werden sollte. Zur schnelleren 
Erzeugung eines Kollateralkreislaufes wurden zwecks Verlegung des Portalbettes Mohnkörnchen in die 
Vena portae injiziert. Erst als diese Experimente wegen technischer Schwierigkeiten ergebnislos verliefen, 
gingen Minkowski und Naunyn zur Leberexstirpation am Vogel über. 


35* 


548 F. Rosenthal. 


schließlich auch grob sichtbar an den Sclera einsetzte und daß der auftretende Farb- 
stoff alle typischen Reaktionen des Gallenfarbstoffes bot. Diese Vermehrung des zum 
mindesten dem Bilirubin sehr nahestehenden Pigmentes konnte auch nachgewiesen 
werden, wenn außer der Leber auch sämtliche Bauchorgane einschließlich Milz und 
des gesamten Darmtraktus entfernt wurden. Unter Berücksichtigung und Widerlegung 
aller hier möglichen Einwände — Einpressung von Gallenfarbstoff in die Blutbahn 
bei Herausnahme der Leber, Resorption von nach dem Darm ergossener Galle — 
kommen Mann und Magath zu dem Schluß, daß gewisse Mengen von Gallenfarbstoff 
beim Säugetier außerhalb der Leber, ja auch ohne Beteiligung der Milz gebildet werden 
können, und daß für eine in ihrem Umfange vorläufig noch nicht übersehbare 
Quote des Gallenfarbstoffes die Leber nur die Rolle eines Ausscheidungsorgans 
spielt. Bickel will unter Anwendung der gleichen Methode der Leberexstirpation 
ebenfalls ein deutliches Auftreten von Gelbsucht beim leberlosen Hunde beobachtet 
haben, doch liegen über seine kursorischen Angaben vorläufig keine näheren Protokolle 
vor. Die Nachprüfungen Makinos haben bisher nicht den hohen Grad der Technik 
Mann und Magaths erreicht, um als vollwertige Wiederholungen ihrer Experimente 
gelten zu können. Die längste Lebensdauer der von ihm operierten Hunde betrug 
maximal 5'/, Stunden. Während dieser Zeit kam es zwar in Übereinstimmung mit 
Mann und Magath bereits zu einer nachweisbaren Bilirubinämie, doch war sie nur 
geringfügig, so daß sie Schlüsse auf eine extrahepatische Oallenfarbstoffbildung größeren 
Umfanges nicht gestattet. 

So bedeutungsvoll auch die Untersuchungen der amerikanischen Autoren für 
das gesamte Ikterusproblem sind, da sie in überzeugender Weise eine extrahepatische 
Bilirubinbildung am Säugetier dartun, sofern man wohl berechtigterweise das nach 
der Leberexstirpation in Blut, Geweben und Urin auftretende Pigment mit Gallen- 
farbstoff identifizieren darf, so wird doch in der bisher vorliegenden Form durch 
sie das große, strittige Problem des Primats der hepatischen oder extrahepatischen 
Gallenfarbstoffbildung noch nicht gelöst. Der in den besten Versuchen von Mann 
und Magath beobachtete Blutikterus erreicht nämlich höchstens nur 3 Bilirubin- 
einheiten nach Hijmans van den Bergh, so daß hieraus immer noch auf eine 
sehr beträchtliche Gallenfarbstoffbildung in der Leber, auch unter physiologischen 
Verhältnissen geschlossen werden könnte. Um hier die Beweisführung zu voll- 
enden, bedarf es auch beim Hunde des gleichen Grundexperimentes, wie es 
Minkowski und Naunyn beim Vogel durchgeführt haben, der Zufuhr eines 
ikterogenen Mittels im leberlosen Hunde, das innerhalb der in Betracht kommenden 
Versuchszeiten beim gesunden Tier einen ausgeprägten Ikterus hervorzurufen vermag. 
Erst wenn es mit einem solchen Mittel gelingen sollte, auch beim leberexstirpierten 
Hunde einen Ikterus von ähnlicher Intensität wie beim Normaltiere auszulösen, so 
würde damit die Vormachtstellung der extrahepatischen OGallenfarbstoffbildung bewiesen 
sein. Vorläufig bringen also auch die bisherigen Versuchsergebnisse von Mann und 
Magath keine endgültige Entscheidung über die Rolle der Leberzellen bei der 
Gallenfarbstoffbildung. 

Betrachtet man im Lichte dieser bisherigen Befunde die Versuche von Min- 
kowski und Naunyn am leberlosen Vogel, die jahrzehntelang die Anschauungen 
von der Pathogenese der Gelbsucht maßgebend beherrscht haben, so erscheinen 
sie im Grunde genommen nicht so eindeutig, wie sie bisher angesehen wurden. 
Auch in ihren Versuchen war der Urin der entleberten Gänse fast nie ganz frei 
von Gallenfarbstoff, dessen Auftreten sie auf restierendes Lebergewebe oder auf 
Resorption von Gallenfarbstoff vom Darme aus zurückführen. Ausdrücklich aber 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 549 


betonen sie, ohne sich selbst dieser Möglichkeit anzuschließen: „Sollte wirklich 
diese geringfügige Gallenfarbstoffausscheidung nach der Entleberung auf eine Fort- 
dauer der Gallenfarbstoffbildung des Organs (scil. Leber) beruhen, so müßte man 
jedenfalls zugeben, daß der ganz überwiegend größte Teil des Gallenfarbstoffes in 
der Leber und nur ein ganz kleiner Bruchteil an anderer Stelle gebildet werde.“ 
Auch nach der AsH,-Vergiftung ihrer entleberten Vögel fanden sie in manchen 
Versuchen: „stärkeren Ikterus des Harn, ebenso wie gelegentlich nach der Operation 
bei normalen Tieren“, den sie zum Teil wiederum auf eine Gallenresorption vom 
Darme aus zu beziehen geneigt sind. Man sieht also nur Unterschiede in der Deu- 
tung und quantitativen Bewertung der extrahepatischen Bilirubinbildung, weniger 
in den sachlichen Beobachtungen zwischen Minkowski-Naunyn einerseits und 
Mann-Magath anderseits bestehen, und daß die Versuchsergebnisse Mann und 
Magaths am Hunde bisher prinzipiell nicht über das hinausgehen, was auch Min- 
kowski und Naunyn am leberlosen Vogel festgestellt haben. 

Wir möchten in diesem Zusammenhange gleich anfügen, daß auch für das 
Verständnis des verschiedenen Ausfalls der Diazoreaktion auf Bilirubin im Blute 
die Mann-Magathschen Versuche von Bedeutung sind. Lepehne hat in Fort- 
führung van den Berghscher Anschauungen aus der Art der Kuppelungsreaktion 
eine Theorie der hepatogenen und anhepatogenen Genese des Gallenfarbstoffes und 
der verschiedenen Ikterusformen abzuleiten versucht. Die beim acholurischen hämo- 
Iytischen Ikterus stark verzögerte direkte oder überhaupt erst nach Alkoholfällung 
auftretende indirekte Diazoreaktion soll zu gunsten einer anhepatischen Entstehung 
des hier im Blute kreisenden Gallenfarbstoffes sprechen, dagegen soll die direkte 
Diazoreaktion ein Zeichen dafür sein, daß der Gallenfarbstoff bereits in die Gallen- 
wege ausgeschieden gewesen ist und durch Stauung in die Blutbahn übergetreten 
ist, also bereits die Leberzellen passiert hat. Die Feststellungen Mann und Magaths 
über den Ausfall der Diazoreaktion im Blute leberloser Hunde sind nicht geeignet, 
diese Anschauung zu stützen. So lange die Bilirubinämie noch schwach war, bestand 
eine indirekte Diazoreaktion, wie sie auch bei beginnenden cholämischen Ikterus- 
formen des Menschen zur Beobachtung gelangt (Lepehne, Rosenthal und Holzer, 
Strauß u.a.). Mit dem Anwachsen des Gallenfarbstoffgehaltes im Blute machte diese 
indirekte Reaktion einer zweiphasig verzögerten Reaktion Platz, dh einer Kombi- 
nation von prompter Reaktion mit verzögertem Anteil (vgl. Feigl und Querner). 
Es kann hiernach, falls der Faktor der Gallenresorption bei diesen Versuchen wirk- 
lich mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, der Anteil des Gallenfarbstoffes 
mit prompter Diazoreaktion sich entwickeln, auch ohne daß der Gallenfarbstoff bereits 
zusammen mit anderen Oallenbestandteilen die Leberzellen passiert hat; eventuell wird 
man sich allerdings auch vorstellen können, daß die für die cholämische Blut- 
zusammensetzung und für die direkte Diazoreaktion maßgebenden Gallenbestand- 
teile vielleicht zum Teil extrahepatocellulär ähnlich wie der Oallenfarbstoff gebildet 
werden (vgl. z. B. die Auffassung Beths über die endotheliale Entstehung der 
Gallensäuren). Der Entstehungsmechanismus der beiden Reaktionsformen des Serum- 
bilirubins bei der Diazoreaktion nach Hijmans van den Bergh bleibt also vor- 
läufig noch ungeklärt, wie ja auch Thannhauser schon darauf hingewiesen hat, 
daß die Art der Diazoreaktion keine Rückschlüsse auf eine hepatische oder an- 
hepatische Gallenfarbstoffproduktion gestattet. 

Weitere Beiträge zur Frage der extrahepatischen Bilirubinbildung liegen von 
Ernst und Szapanyos vor. Sie durchströmten die überlebende Milz mit defibri- 
niertem, teilweise lackfarben gemachtem Blute und fanden in der Durchströmungs- 


550 F. Rosenthal. 


flüssigkeit allmählich zunehmende Gallenfarbstoffmengen. In bisher unveröffentlichten 
Versuchen gemeinsam mit Hürthle haben wir uns nicht von der Richtigkeit dieser 
Feststellungen überzeugen können. Die meisten Durchströmungsversuche ergaben 
uns im Gegensatz zu den ungarischen Autoren ein völlig negatives Resultat. Dagegen 
fanden wir, als wir die gleichen Versuche an der Milz des frisch mit Toluylendiamin 
vergifteten Hundes ausführten, nach 5stündiger Durchströmung der Milz manchmal 
sehr beträchtliche Oallenfarbstoffmengen, die bis zu 42 und 84 Bilirubineinheiten 
emporstiegen. Das sind Quantitäten von Bilirubin, die gleichfalls eine beachtenswerte 
extrahepatische Bilirubinbildung lienaler Entstehung nahelegen. Die Befunde bedürfen 
noch weiterer Ergänzungen und Kontrolluntersuchungen, nach deren Abschluß im 
Zusammenhange über die Versuchsergebnisse berichtet werden soll. Man kann hier 
auch auf die Ergebnisse der klinischen Beobachtung verweisen, wonach normaler- 
weise das Milzvenenblut gallenfarbstofffrei ist, aber bei hämolytischen Krankheits- 
zuständen einen höheren Bilirubingehalt als das periphere Blut aufweisen kann. 

Zieht man das Fazit aus den Wandlungen, die unsere Anschauungen von der 
Gallenfarbstoffbildung in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, so erscheint die 
Frage nach den Bildungsstätten des Gallenfarbstoffs mehr denn je ungeklärt. Gegen- 
über der Lehre von dem Primat der Leberzellen bei der Gallenfarbstoffbildung, 
die fast wie ein Dogma die vorangehende Epoche der Ikterusforschung beherrscht 
hat, ringt gegenwärtig von neuem wie in den Zeiten von Virchow, Leyden und 
Quincke die niemals geleugnete, aber vielleicht unterschätzte extrahepatische 
Gallenfarbstoffbildung um ihre Anerkennung in der Physiologie und klinischen 
Pathologie. Nichts erscheint mehr gesichert, weder die hepatocelluläre Entstehung 
des Gallenfarbstoffes im Sinne von Minkowski-Naunyn, noch die reticuloendo- 
theliale Genese des Bilirubins im Sinne Aschoffs, wobei zweifellos Aschoff das 
Verdienst gebührt, durch seine Kritik an den Grundversuchen Minkowskis und 
Naunyns das bereits zur Ruhe gekommene Problem der Topik der Gallenfarb- 
stoffbildung wieder in Fluß gebracht zu haben, noch sind schließlich die quantitati- 
ven Beziehungen zwischen der extrahepatischen und der möglichen hepatischen 
Gallenfarbstoffbildung weder unter physiologischen, noch pathologischen Ver- 
hältnissen irgendwie näher erkennbar. Neben der Unklarheit dieser kardinalen 
Grundfragen, die vielleicht die weiteren Untersuchungen Mann und Magaths am 
leberlosen Hunde zu lösen berufen sind, harren die nicht weniger wichtigen Unter- 
fragen einer Beantwortung: Welche Kräfte sind bei der Gallenfarbstoffbildung im 
Spiele, handelt es sich hierbei im wesentlichen um einen intracellulären Hämoglobin- 
abbau oder auch um einen humoralen Vorgang, bei welchem die Gallenfarbstoff- 
bildung im strömenden Blut durch in den Kreislauf entlassene Organfermente be- 
günstigt wird, besorgen die gallenfarbstoffbildenden Stätten die ganzen Etappen 
des Hämoglobinabbaues bis zum Bilirubin oder wird von anderen Gewebssystemen 
hier Vorarbeit bis zu gewissen Zwischenstufen geleistet und läßt schließlich die 
Gallenfarbstoffbereitung bei den verschiedenen Tieren trotz der bisher zum Teil 
auseinanderstrebenden experimentellen Befunde eine einheitliche, auch auf die 
menschliche Pathologie übertragbare Betrachtungsweise zu? 

Wie auch hier die weitere Entwicklung gehen möge, so ist es doch vielleicht 
nicht überflüssig, zum Schlusse dieses Abschnittes zu betonen, daß auch der Anhänger 
einer überwiegend extrahepatischen Gallenfarbstoffbildung die centrale Bedeutung der 
Leberparenchymzelle für die Ikteruspathogenese nicht ausschalten kann. Da nach 
Tarchanoff, Vossius, Fels und Ritter, Wertheimer und Lepage die gesunde 
Leber selbst sehr große Mengen intravenös einverleibten Bilirubins aus der Blut- 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung, 551 


bahn in kürzester Zeit zu entfernen vermag, so daß es nicht zur Bilirubinurie und 
zum deutlichen Blutikterus kommt, so muß zur Erklärung der nicht mechanisch 
bedingten Ikterusformen zum mindesten eine excretorische Funktionsstörung der 
Leberzellen für Gallenfarbstoff postuliert werden. So bleibt in letzter Linie, unab- 
hängig von dem Streit um die Topik und die Entstehung des Gallenfarbstoffes, 
die Leber bei der Pathogenese aller Ikterusformen, wenn auch vielleicht nicht im 
Mittelpunkt, so doch im Vordergrunde des kausalen Mechanismus. 


ll. Die Ikterusbereitschaft. 


Der Begriff der Ikterusbereitschaft, wie er unter dem Einfluß der Erfahrungen 
des Weltkrieges und besonders der Nachkriegsjahre in die Literatur eindringt, ist 
zunächst nur ein Sammelname für die Tatsache des gehäüuften Auftretens von mit 
Ikterus einhergehenden Lebererkrankungen unter dem: Einfluß eingreifender Ver- 
schlechterungen der äußeren Lebensbedingungen. Dieses Massenexperiment, das 
auf die Auslösung eines eigentümlichen Latenzzustandes der Leber mit gesteigerter 
Krankheitsdisposition hinweist und das nach Herxheimer die Bedeutung -dispo- 
sitioneller oder besser konditioneller Lebensverhältnisse für die Entstehung von 
Lebererkrankungen beleuchtet, hat bekanntlich die deutsche Bevölkerung in den 
letzten Kriegsjahren und besonders in der Nachkriegszeit in großem Umfange an 
sich selbst durchgemacht, und die theoretische und praktische Bedeutung dieser 
Zusammenhänge ist sicherlich einer der Faktoren, die zu der regen Wiederaufnahme 
der Ikterusprobleme geführt haben. Man kann hier auf die Ergebnisse der Rund- 
frage des Herausgebers der Medizinischen Klinik, auf die statistischen Mitteilungen 
von Riess, Kraus, Umber, Minkowski, v. Strümpell u.a. verweisen. Über die 
Natur der sicherlich komplexen Schädlichkeiten, die damals zu der Häufung von 
Fällen mit Ikterus simplex bis zur akuten Leberatrophie und den chronisch pro- 
gressiven Hepatitiden, den Lebercirrhosen geführt haben, kann man sich vorläufig 
kein klares Bild machen. Mit der Zurückführung dieser in der Nachkriegszeit fast 
epidemisch auftretenden Fälle allein auf eine infektiöse oder toxische, vielleicht 
enterogene Noxe ist für die Ätiologie und Pathogenese nur wenig gewonnen- 
Zweifellos bestehen zwischen Leber und manchen Infektionserregern gewisse 
Organaffinitäten. Man kann hier auf die Syphilisspirochäte, auf die Spirochaeta 
icterohaemorrhagica, auf den Erreger des Gelbfiebers und auf die Beobachtung 
Eugen Fraenkels verweisen, welcher aus einem mit Ikterus gestorbenen Patienten 
einen Paratyphusbacillus züchtete, der bei intraperitonealer Infektion beim Meer- 
schweinchen einen schweren Ikterus hervorrief. Aber die wesentliche Frage bleibt, 
wie läßt sich dieser Zustand von Ikterusbereitschaft schärfer umreißen, wie kommt 
es, daß unter dem Einflusse der Unterernährung, mit der wir nach allen Erfahrungen 
die gesteigerte Krankheitsdisposition der Leber mit großer Wahrscheinlichkeit in der 
Nachkriegszeit in Zusammenhang bringen müssen, die Leber in den Zustand gestei- 
gerter Krankheitsdisposition und, wie wir weiter sagen dürfen, gesteigerter Autolyse- 
tendenz gerät? Eine Antwort auf diese Fragestellung, so rudimentär sie auch vor- 
läufig nach dem Stande unserer heutigen’ Kenntnisse gegeben werden kann, wirft 
auch vielleicht gleichzeitig ganz allgemein ein gewisses Licht auf die Faktoren der 
konditionellen Disposition bei der Pathogenese der Ikterusformen, die wir unter der 
Rubrik des sog. Icterus catarrhalis und der toxischen Ikterusformen bis zur akuten 
Leberatrophie und ihren Ausgängen zusammenfassen. Wir können hier natürlich 
alle die Fälle übergehen, bei denen schon klinisch manifeste Leberprozesse vor dem 
Ausbruche des komplizierenden Ikterus bestanden haben und ebenso alle die Fälle, 


552 F. Rosenthal. 


die sich aus mangelhaften Salvarsanpräparaten, die ausgesprochen ikterogen wirken 
(vgl. Jadassohn), in den Nachkriegsjahren zwanglos erklären. Dann läßt sich über 
diesen Latenzzustand der Leber, wie er sich unter dem Einflusse der Kriegs- 
ernährung und der Kriegsinfekte für eine gewisse Zeit herausgebildet haben 
mag, folgendes sagen: Sicherlich wird die Leber im Hunger im besonderen Maße 
unter allen Organen betroffen. Sie kann, worauf Kraus auch hinweist, beim Hunger- 
tier prozentual von allen Organen am meisten (50-55%) an Gewicht verlieren, und 
wie die Hungerversuche und Fütterungsexperimente von Affanasiew und Seitz 
zeigen, ist nicht nur die chemische Zusammensetzung, sondern auch die morpho- 
logische Struktur der Leberzelle im hohen Maße von der Art und Intensität der 
Nahrungszufuhr abhängig. Hunger macht die Leberzellen kleiner und eckig, bei 
einseitiger Kohlenhydratfütterung erfolgt bei gleichzeitiger Abnahme des Eiweiß- 
gehaltes eine Zunahme des Glykogens. Hoppe-Seyler berechnet den durchschnitt- 
lichen Gewichtsverlust der Leber unter dem Einfluß der Kriegskost auf ca. 100 g gleich 
etwa 7% gegenüber dem Lebergewicht vor dem Kriege. Umber beschuldigt wiederum 
die Glykogenarmut der Leber als besonders wichtigen Faktor für die verminderte 
Widerstandskraft des Organs. Auf eine gewisse Autolysetendenz der Leber im unter- 
ernährten Organismus weisen die schon von früheren Autoren und neuerdings unter an- 
deren von Delamoy festgestellten Rest-N-Steigerungen in der unterernährten Hunde- 
leber im Autolyseversuch hin. Der autoproteolytische Koeffizient, d.h. das Verhältnis des 
bei der Autolyse freiwerdenden inkoagulablen N zum Eiweiß-N ist in den übrigen 
Organen des gefütterten oder hungernden Hundes gleich groß, nur in der Hunger- 
leber wird es stark zu gunsten des Reststickstoffes verschoben. Es dürfte sich zweifellos 
lohnen, diesen Faktor der Unterernährung in seiner Bedeutung für die Krankheits- 
disposition der Leber auch experimentell nachzugehen, umsomehr, als seine Ursäch- 
lichkeit noch in fraglichem Lichte erscheint, wenn man berücksichtigt, daß um die 
gleiche Zeit auch in Schweden (vgl. Lindstedt) und beispielsweise nach den 
Berichten von Blume auch in Amerika 1917 bis 1920 auffällig zahlreiche Ikterus- 
fälle zur Beobachtung gelangten. In anderer Richtung werfen die bedeutungsvollen 
Untersuchungen von Pick und Hashimoto, welche von Bieling, Isaac und 
Gottschalk, Freund und Rupp weiter ausgebaut worden sind, vielleicht neues 
Licht auf die der Ikterusbereitschaft zu grunde liegenden biologischen Vorgänge. 
So bewirkt nach Pick und Hashimoto die Injektion kleiner Mengen von Pferde- 
serum bei Meerschweinchen eine Vermehrung der Eiweißabbauprozesse in der Leber, 
die ihren Höhepunkt zwischen dem 14. und 16. Tage erreicht. Bieling, Gottschalk 
und Isaac haben dann diese Befunde dahin ergänzt, daß nach Injektion von Caseosanı, 
Diphterietoxin und Bakterieneiweiß bei der Mehrzahl der Versuchstiere bereits in der 
12. Stunde post injectionem eine Vermehrung des inkoagulablen Stickstoffs in der 
Leber auf Kosten des koagulablen Zelleiweißes nachweisbar ist und daß diese 
akute Steigerung des Rest-N am 2. Tage wieder abklingt. Noch ausgeprägter ist 
die Steigerung der eiweißabbauenden Zellprozesse in der Leber, wenn Meer- 
schweinchen 10—19 Tage nach der ersten Eiweißinjektion, also auf der Höhe der 
Sensibilisierung, erneut mit winzigen, beim Normaltier unwirksamen Eiweißdosen 
gespritzt werden. Das gleiche ist nach Bieling auch der Fall, wenn man bei 
Meerschweinchen nach Ausbildung einer tuberkulösen Infektion Tuberkulin injiziert. 
Es gerät somit die Leberzelle mit dem Eindringen artfremden Eiweißes in einen 
klinisch latent verlaufenden Zustand gesteigerter autolytischer regressiver Vorgänge, 
wie sie in extremer Ausprägung auch der akuten Leberatrophie eigen sind. Die 
Periodizität dieser ein gewisses zeitliches Optimum zeigenden Abbauvorgänge ist 





Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 553 


hierbei von noch besonderem Interesse. In den Kreis der diese intravitalen auto- 
Iytischen Zellvorgänge beeinflussenden Faktoren tritt weiter auch nach den Unter- 
suchungen Picks und Hashimotos sowie Gottschalks auch die Milz, da bei 
entmilzten, mit artfremdem Eiweiß behandelten Tieren der Eiweißabbau in der 
Leber unterbleibt. Diese Befunde haben Eppinger Veranlassung gegeben, bei der 
akuten Leberatrophie die Milzexstirpation therapeutisch zu versuchen, ohne daß 
hiermit allerdings ein nachweisbarer Erfolg verbunden war (vgl. Herfarth). 

Die Übertragung dieser experimentellen Beobachtungen auf das, was wir auf 
Grund der klinischen Empirie die Ikterusbereitschaft nennen, liegt nahe. Man kann 
sich vorstellen — und das gilt in gesteigertem Maße von dem in seiner Wider- 
standskraft geschwächten, unterernährten Organismus — daß in entsprechender 
Weise vielleicht an sich harmlose Infektionen, bei denen es zu einem Eindringen 
von Bakterieneiweiß in den Kreislauf kommt, oder eine vorübergehende Darm- 
schädigung, bei der eine gesteigerte Durchlässigkeit der Darmwand einen parenteralen 
Übertritt von Nahrungseiweiß oder bakteriell-toxischen Substanzen ermöglicht, zu 
einer latenten Schädigung des Leberparenchyms in der Richtung gesteigerter auto- 
Iytischer Zellprozesse führen könnten. Trifft in einem solchen Stadium reger cellu- 
lärer EiweißBabbauvorgänge eine für die normale Leber vielleicht belanglose Noxe 
das in gesteigerter autolytischer Tätigkeit befindliche Organ, so wäre es möglich, 
daß eine an sich geringfügige Schädigung bei einem solchen Organ zur klinischen 
Manifestation von Krankheitserscheinungen, zu Ikterus mit allen Varianten bis zur 
maximalen intravitalen Autolyse der akuten Leberatrophie Veranlassung geben könnte. 
Bei diesen vorläufig noch problematischen, aus dem Experiment abgeleiteten Zu- 
sammenhängen wäre noch weiter zu berücksichtigen, daß der geschilderte intravitale 
hepatische Eiweißabbau nach Pick und Hashimoto nicht nur seine zeitlichen 
Optima besitzt, sondern auch in hohem Grade von der Dauer der Invasion des 
artfremden Eiweiß abhängig erscheint. So tritt bei wiederholt in Abständen von 
4—5 Tagen parenteral mit artfremden Eiweiß behandelten Meerschweinchen eine 
sehr deutliche Hemmung der sonst nach einmaliger Eiweißinjektion gesteigerten 
intravitalen Leberautolyse ein, unter Umständen kann sogar der Leberzerfall bis 
nahezu zur Norm zurückgedrängt werden. Es ist in desem Zusammenhange übrigens 
beachtenswert, daß Hoppe-Seyler in seinen Untersuchungen über die Zusammen- 
setzung der Leber in Krankheiten eine Vermehrung des Rest-N abgesehen von der 
akuten Leberatrophie auch oft bei septischen Prozessen, allerdings weniger bei der 
Pneumonie gesehen hat. 

Da nun nicht allein körperfremdes Eiweiß, sondern, wie zahlreiche Erfahrun- 
gen bei Verwendung von körpereigenen Organextrakten lehren, schon körpereigene, 
jedoch blutfremde Eiweißkörper in gleicher Richtung zu wirken vermögen, so ist 
mit der Möglichkeit zu rechnen, daß der von Pick und Hashimoto aufgefundene, 
bisher experimentell ausgelöste intrahepatische Eiweißzerfall einen nicht unwichtigen 
konditionellen Dispositionsfaktor bei der Pathogenese mancher toxischer Ikterusformen 
darstellen könnte. Es wird Aufgabe weiterer Untersuchungen sein müssen, diesen 
hypothetischen, durch das Tierexperiment nahegelegten Beziehungen unter klinischen 
Gesichtspunkten näher nachzugehen. 


III. Die Lehre vom Icterus dissociatus. 
Die Frage des sog. dissoziierten Ikterus hat besonders in der französischen 
Literatur eine umfangreiche Bearbeitung gefunden. Man versteht unter dem dis- 
soziierten Ikterus einen Krankheitsprozeß, bei welchem Bilirubin und Gallensäuren 


554 F. Rosenthal. 


nicht nebeneinander im Harn und im Kreislauf erscheinen, wie dies beim Retentions- 
ikterus der Fall ist, sondern bei dem nur Gallenfarbstoff oder nur Gallensäuren 
für sich allein, also dissoziiert, im Blut oder im Harn angetroffen werden. Nach 
dem Einteilungsprinzip von Lyon-Caen, der diesen Fragestellungen besondere 
Aufmerksamkeit geschenkt hat, kann man je nach dem Auftreten der Gallenbestand- 
teile im Harn unterscheiden: 1. einen ictere cholurique complet mit Gallenfarbstoff 
und Gallensäuren im Urin, 2. einen ictere cholurique pigmentaire mit isolierter Bili- 
rubinurie und 3. eine cholurie sans pigments, wo nur Gallensäuren zur Ausscheidung 
gelangen. Die ersten Anfänge dieser Lehre gehen bereits auf v. Leyden zurück, der das 
Fehlen von Gallensäuren im Harn als charakteristisches Symptom der hämolytischen 
Ikterusformen aufstellte. Soweit der klassische hämolytische Ikterus und der Ikterus 
bei perniziöser Anämie in Betracht kommt, besteht bei allen Untersuchern (vgl. 
Lyon-Caen, Chauffard, Laroche, Eppinger, Borchardt u. a.) Einigkeit über 
den Gallensäurenmangel im Harn und auch im Serum. Hier scheint somit, wie 
schon Leyden annahm, eine weitgehende Dissoziation der Gallenbestandteile im 
Sinne eines reinen Pigmentikterus zu bestehen, doch muß man vorsichtigerweise 
hier hinzufügen, daß alle hier angewendeten Methoden der Gallensäurenbestimmung 
teilweise grob, zum Teil nicht eindeutig genug sind, um diese Ergebnisse mit 
zwingender Beweiskraft zu sichern. 

Die symptomatologische Bedeutung des Phänomens des Icterus dissociatus 
soll nach den Franzosen (Chauffard, Laroche, Grigaut, Garban, Fiessinger, 
Brule und Lemierre u. a.) im wesentlichen darin liegen, daß seine Existenz 
einen mechanischen Ikterus mit Sicherheit ausschließen soll. Sie argumentieren, daß, 
wenn durch ein mechanisches Hindernis der Übertritt der gestauten Galle ins Blut 
erfolgt, sowohl Gallensäuren wie Gallenfarbstoff nebeneinander vermehrt sein müßten. 
Hauptsächlich sind es die Stadien des beginnenden und des abklingenden Ikterus, 
die eine Dissoziierung der Gallenbestandteile erkennen lassen sollen. Daß im Stadium 
des abklingenden Ikterus diese sog. Dissoziation scheinbar vorgetäuscht sein kann 
dadurch, daß der in den Geweben gestapelte Gallenfarbstoff noch längere Zeit 
ausgeschwemmt und durch den Urin ausgeschieden werden kann, obwohl die 
eigentliche Lebererkrankung bereits abgeheilt sein kann, ist von den französischen 
Autoren überhaupt nicht berücksichtigt. 

Eine Kritik der Lehre vom dissoziierten Ikterus erfordert die Beantwortung 
folgender Fragen: 

1. Spricht die Existenz eines dissoziierten Ikterus wirklich mit Sicherheit gegen 
das Bestehen eines mechanischen Ikterus? 

2. Reichen unsere üblichen klinischen Methoden überhaupt aus, um die An- 
wesenheit oder Abwesenheit der Gallensäuren exakt zu sichern? 

3. Bestehen in der normalen Galle irgendwelche gesetzmäßige Beziehungen 
zwischen Gallenfarbstoff und Gallensäuren oder macht sich bereits hier eine Dis- 
soziation bemerkbar? 

Wir übergehen hier die Besprechung der hypothetischen isolierten Gallen- 
säurenretention ohne begleitenden Ikterus, da eine Diskussion dieser Frage nicht 
unmittelbar mehr mit dem uns hier beschäftigenden klinischen Problem des Ikterus 
zusammenhängt und diese Frage gleichfalls steht und fällt mit der unter 2. an- 
geführten Fragestellung. 

Zunächst ist hier zu sagen, daß ein mechanisch ausgelöster Ikterus niemals 
ein rein mechanischer Ikterus bleibt, sondern daß sehr bald sekundäre, durch die 
Oallenstauung ausgelöste Funktionsschädigungen der Leberzellen sich hinzugesellen. 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 555 


Es folgt hieraus in summa, daß auch der einfache mechanische Ikterus nicht primitiv 
durch die Rückstauung der Galle erklärt werden, sondern daß sich recht bald auf 
den Icterus per stasin ein sekundärer dynamischer Icterus e functione laesa der 
durch den Gallendruck geschädigten Leberzellen auflagert. Damit erledigt sich ohne- 
weiters die diagnostische Bedeutung der Dissoziation der Gallenbestandteile, die 
auch beim abklingenden mechanischen Ikterus genau so wie beim abheilenden 
hepatotoxischen Ikterus ohne gröberes Abflußhindernis in die Erscheinung treten 
könnte. Anderseits sind ja auch, worauf besonders Minkowski hingewiesen hat, 
durchaus fließende Übergänge von den Ikterusformen mit primärer Parenchym- 
schädigung zu den mechanischen Ikterusformen (Cholangitis, Gallenthromben) vor- 
handen, so daß die eventuelle Dissoziation zwischen Oallenfarbstoff und Gallen- 
säuren keine diagnostische Entscheidung zwischen primär mechanischen und primär 
hepatotoxischen Ikterusformen bringen kann. Ist mithin eine gewisse Dissoziation 
der Gallenbestandteile entsprechend der im einzelnen schwankenden Intensität der 
Leberzellschädigung bei den mechanischen und hepatotoxischen Ikterusformen an 
sich ein selbstverständliches Postulat, so erübrigt sich aus einem anderen Grunde 
eine Diskussion über die Extreme, weil die Erfahrungen der meisten französischen 
Autoren, wie z. B. Abrami und Gautier, Brulé, Saraillh& und Clunet nicht in 
dem von ihnen angegebenen Umfang bestätigt werden konnten und ihre Befunde 
mit unzureichenden Methoden erhoben wurden. Borchardt leugnet überhaupt auf 
Grund viskostalagmometrischer Untersuchungen das isolierte Auftreten von Gallen- 
bestandteilen bei allen Ikterusformen außer bei den Typen des hämolytischen Ikterus, 
Retzlaff hält den Icterus dissociatus in extremer Ausprägung, abgesehen von den 
erwähnten hämolytischen Gelbsuchtformen, für sehr selten, mit anderen Worten also 
in symptomatologisch-diagnostischer Hinsicht für bedeutungslos. Die abweichenden 
Ergebnisse der französischen Autoren dürften sich zwanglos aus der unzulänglichen 
Methode des Gallensäurennachweises mittels der Haycraft-Hayschen Schwefel- 
blumenprobe erklären, die sowohl nicht specifisch wie wenig empfindlich ist. Auch 
Simon lehnt diese Probe für exakte Untersuchungen ab, da eine positive Reaktion ` 
nicht die Anwesenheit von Gallensäuren im Urin eindeutig beweist. Dafür spricht 
ihr häufiges Auftreten bei völlig Gesunden, Beobachtungen, die in der französischen 
Literatur ohne Berücksichtigung der vielen Fehlerquellen der Methodik im Sinne 
einer Cholalacidurie bzw. Gallensäurenanhäufung im Blute verwertet wurden. Auch 
nach Labbé, Doumer, Deglaude u. a. ist das Vorkommen eines dissoziierten 
Ikterus nicht erwiesen. 

So bleibt von dem ganzen Lehrgebäude des Icterus dissociatus nicht viel anderes 
als die Feststellungen v. Leydens über den dissoziierten Ikterus bei hämolytischen 
Gelbsuchtformen übrig. Man darf hinzufügen, daß diese Dissoziation, falls man nur 
die ausgeprägten klinischen Ikterusformen berücksichtigt, sich auch auf das Cholesterin 
im Blutserum erstreckt, daß im allgemeinen die reinen hämolytischen Ikterusformen 
im Gegensatz zu der Hypercholesterinämie aller anderen mit Ikterus einhergehenden 
Krankheitszustände durch normale oder sogar herabgesetzte Cholesterinwerte aus- 
gezeichnet sind. 

Das große aktuelle Problem der Ikterusforschung bleibt eine exakte Methode 
der Gallensäurenbestimmung im Blut und im Urin, mit der auch die eben behandelten 
Fragen schließlich spruchreif werden. Von keiner der bisherigen Methoden, soweit 
sie für die Klinik in Betracht kommen, läßt sich eine solche Exaktheit behaupten, 
angefangen von den gravimetrischen colorimetrischen über die stalagmometrischen 
Methoden bis zu der Methode von Schmidt und Merril, welche die Foster- 


556 F. Rosenthal. 


Hoopersche gasometrische Bestimmung der Gallensäuren für den Urin auszubauen 
versuchten, und der Methode von Frey, der das Entgiftungsvermögen des Serums 
gegenüber Desoxycholat zum Gradmesser des Oallensäuregehaltes im Kreislauf nimmt. 
Die von den letztgenannten Autoren gefundenen Werte schwankten in großen 
Breiten selbst in kurzen Zeitabständen bei dem gleichen Kranken. So betrug an 
zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Gallensäurenausscheidung bei einem Fall 
von mechanischem Ikterus, auf Glykocholsäure berechnet, 600 bzw. 33 mg, bei 
einem zweiten Fall 113 bzw. 250 mg. Angesichts dieser Unregelmäßigkeiten der 
Ausscheidung liegt es zunächst wohl näher, solche Schwankungen mehr den Fehler- 
quellen der Methode zur Last zu legen, als in ihnen wirklich bestehende Aus- 
scheidungsvorgänge zu sehen. Tatsächlich spielt nach unseren Erfahrungen bei der 
Methode von Schmidt und Merril als Fehlerquelle eine große Rolle, daß auch 
Polypeptide, Harnstoff in die Gallensäurenfraktion übergehen und ein falsches Bild 
von dem als Maß für die Gallensäuren dienenden gekuppelten Aminostickstoff 
geben. Rosenbund hat weiter in einer bei mir ausgeführten Dissertation zeigen 
können, daß z. B. das Nabelschnurserum mit der Freyschen Methode ein sehr 
geringes Entgiftungsvermögen für Desoxycholsäure zeigt, das kaum mit einer großen 
Gallensäureüberladung des Neugeborenenblutes in Beziehungen zu bringen ist. 
Offenbar spielen noch andere Faktoren, wie z. B. der Serumeiweißgehalt, hier eine 
wichtige Rolle. Es bleibt abzuwarten, ob die von Herzfeld jüngst veröffentlichte 
colorimetrische Gallensäurenmethode, die auch für Blut und Harn anwendbar sein 
soll und auf einer Modifikation der Pettenkoferschen Reaktion beruht, hier eine 
empfindliche Lücke der Forschung auszufüllen berufen ist. 

Wesentlich besser sind wir daran bei der quantitativen Bestimmung der Gallen- 
säuren in der Galle und hier bedeutet die gasometrische Bestimmung des gekup- 
pelten, durch Hydrolyse abspaltbaren Aminostickstoffes als Maß des Gallensäuren- 
gehaltes nach Foster und Hooper einen wesentlichen Fortschritt. Zweifellos be- 
stehen auch hier gewisse Fehlerquellen, die größtenteils in den bei subtiler Technik 
sehr einengbaren Ungenauigkeiten der gasometrischen Amino-N-Bestimmung nach 
van Slyke liegen, doch dürften die Ergebnisse ein annäherndes Bild über die 
Gallensäurenverteilung in der Galle geben. Durch Bestimmung des alkohollöslichen 
Schwefels in der Galle läßt sich nach dem Vorgange von v. Bergmann diese 
Methode zu einer gleichzeitigen Analyse von Glykocholsäure und Taurocholsäure 
nebeneinander erweitern, wodurch diese Methode einen weiteren Vorzug vor den 
anderen, z. B. auch den verfeinerten stalagmometrischen Methoden (vgl. Chr. Meyer) 
gewinnt. Diesen Weg sind Rosenthal und v. Falkenhausen, Schmidt und Dart 
gegangen. Aufbauend auf dem Folinschen Verfahren der Aminosäurenbestimmung 
haben Rosenthal und Lauterbach nach ähnlichem Prinzip auch ein colorimetri- 
sches Verfahren der Gallensäurebestimmung in der Galle ausgearbeitet. In Überein- 
stimmung mit den Befunden von Lepehne und Beth, die mittels stalagmometri- 
scher Verfahren erhoben wurden, konnten auch wir feststellen, daß irgendwelche 
konstante quantitative Relationen zwischen Gallenfarbstoff und Gallensäuren weder 
in der Duodenalgalle, noch in der menschlichen Fistelgalle bestehen, daß somit im 
Sinne einer weitgehenden Dissoziation schon normalerweise die Gallensäurenaus- 
scheidung durch die menschliche Leber von eigenen Gesetzen beherrscht wird, die 
unabhängig ohne erkennbare Beziehungen zum Gallenfarbstoff ablaufen. Auch in 
dem Verhältnis von Glykocholsäure zu Taurocholsäure bestehen in der Menschen- 
galle keine konstanten Proportionen, nur die eine Erscheinung, die auch von früheren 
Beobachtern mit komplizierten Methoden an großen Analysenmengen festgestellt 


En Ba a a ee 


Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 557 


wurde, tritt auch in der Duodenalgalle mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, daß 
nämlich zumeist der Gehalt an Glykocholsäure mehr oder minder beträchtlich die 
Konzentration der Galle an Taurocholsäure überragt. Anderseits sind wir aber auch 
Fällen begegnet, in denen auch unter anscheinend normalen Verhältnissen die Tauro- 
cholsäure gegenüber dem Glykocholsäuregehalt der menschlichen Duodenalgalle 
überwog. Wie Freund in einer unter meiner Leitung ausgeführten Dissertation 
weiter gezeigt hat, tritt in den ersten Tagen nach Choledochusdrainage auch bei 
vorausgegangenem mechanischen Ikterus durch unkomplizierten Steinverschluß sehr 
häufig eine Inversion des Verhältnisses von Glykocholsäure zu Taurocholsäure in die 
Erscheinung. Erst nach einigen Tagen wird mit zunehmender Restitution des Leber- 
parenchyms wieder das normale Verhältnis beider Gallensäuren im Sinne einer an- 
wachsenden Glykocholie hergestellt. Auch diese Befunde zeigen von neuem, daß 
selbstverständlich auch der mechanische Ikterus zu Schädigungen des Leberparen- 
chyms und zu einer veränderten Zusammensetzung der Galle und zu veränderter 
Relation einzelner Gallenbestandteile führt und daß Dissoziationen der Gallenbestand- 
teile nicht gegen die Existenz mechanischer Ikterusformen und für das Vorliegen 
rein hepatotoxischer Gelbsuchtsformen ohne mechanische Komponente diagnostisch 
verwertet werden können. 

Aus den angeführten Gründen hat, wenn man von dem besonderen, schon 
von Leyden erkannten Verhalten der hämolytischen Ikterusform vom reinen Typ ab- 
sieht, auf die der Begriff des Icterus dissociatus wohl zutreffen dürfte, die Lehre vom 
Icterus dissociatus in die Betrachtungsweise der deutschen Klinik bisher keinen Ein- 
gang gefunden. Sie baut sich auf unzulänglichen Methoden auf, sie wird dem Wesen 
der mechanischen Ikterusformen nicht gerecht, die viel zu einseitig von dem Gesichts- 
winkel der alleinigen Oallenstauung erfaßt werden und hat auch Nachprüfungen 
mit ähnlichen, verbesserten Verfahren nicht standgehalten. 


IV. Ikterus und Wasserhaushalt. 


Wie eine Reihe wichtiger experimenteller und klinischer Arbeiten der letzten 
Jahre gezeigt haben, kommt der Leber im Wasserhaushalte eine wichtige Rolle als 
Regulationsapparat zu. Bei Studien über das chemische Verhalten der Leber im ana- 
phylaktischen Chok fiel Hashimoto und Pick gelegentlich der bereits früher (vgl. Il) 
erwähnten Untersuchungen die enorme Vergrößerung und Dunkelfärbung der Leber 
unmittelbar nach der Reinjektion auf. Bei einer näheren Analyse der hierbei zu- 
tage tretenden Circulationsstörungen ergab sich zunächst, daß auch Eiweißabbau- ` 
produkte, deren Vergiftungsbild nach Biedl und Kraus viel Ähnlichkeit mit dem 
anaphylaktischen Chok aufweist, wie z.B. Histamin und Pepton zu den analogen 
Circulationsveränderungen führen (Mautner und Pick). Die auffälligsten Resultate 
fanden sich an der überlebenden Leber. Während die Meerschweinchenleber und 
fast immer auch die Kaninchenleber beim Durchspülen sich gegenüber den ana- 
plıylaktoiden Giften völlig indifferent verhält, sistiert bei der Hunde- und Katzen- 
leber nach Zusatz des zur Vorbehandlung benutzten Antigens oder von Pepton bzw. 
Histamin sofort der Abfluß aus der Lebervene, während der Zufluß anhält und das 
Organ außerordentlich groß wird. Ganz anders wirkte der Zusatz von Adrenalin. 
Hier sistiert zuerst der Zufluß und die Leber verkleinert sich erheblich. Diese Be- 
funde zwangen zu der Annahme, daß der Durchfluß durch die Leber an zwei ganz 
verschiedenen Stellen gehemmt werden kann, entweder wie durch Adrenalin im 
Bereich der Vena portae oder wie durch Histamin und Pepton im Bereich der ab- 
führenden Lebervenen. In der Tat wurden auf Grund dieser Befunde Mautners 


558 F. Rosenthal. 


und Picks durch Arey und Simonds bei Hunden um die Lebervenen herum mäch- 
tige, bisher unbekannt gebliebene Muskelwülste gefunden, die der Vena hepatica 
des Kaninchens fehlen. Es stellt somit die Leber ein großes Filterwerk dar, bei der 
der Filtrationsdruck durch Verschluß und Öffnung der Verzweigungen der Leber- 
venen und durch den jeweiligen Druck und Füllungszustand der Pfortader beliebig 
eingestellt werden kann. Wie schon Lamson und Roca gezeigt haben, steigert aber 
die Contraction der Venae hepaticae den Druck in den Lebercapillaren derart, daß 
Flüssigkeit wie durch ein Überlaufventil in die Lymphräume der Leber und den 
Ductus thoracicus abfließt. Man kann hiernach sich vorstellen, daß ein Verschluß 
der Venensperre, bei der es zu einer Stauung der Lebergefäße kommt, zu einem Ab- 
strömen von Wasser in die Lymphräume führt und daß bei starkem Flüssigkeits- 
übertritt aus den Blutgefäßen der Leber in die Lymphräume und den großen Lymph- 
stamm eine Bluteindickung bewirkt wird. Bei Öffnung der Sperre, wenn der Druck 
in den Lebercapillaren sinkt, gelangt umgekehrt Lymphe wieder zurück in die Blut- 
bahn. Das Verhalten der Venensperre in der Leber ist demnach imstande, die Strom- 
richtung zwischen Blut- und Lymphräumen umzukehren und eine Umschaltung 
des Flüssigkeitsstromes vorzunehmen. Es vermag also die Leber die physikalisch- 
chemische Zusammensetzung des Blutes und der Gewebsflüssigkeit auf hämodyna- 
mischem Wege zu regulieren, wobei nach Mautner und Pick der Sperrmechanis- 
mus in den Lebervenen vom vegetativen Nervensystem abhängig erscheint (Ver- 
schluß durch vagotrope, Öffnung durch sympathische Gifte). Neben der hämodynamen 
kommt nach den weiteren Untersuchungen von Pick und seinen Mitarbeitern der 
Leber auch eine hormonale Regulation zu, die sich nach Leberexstirpation durch 
Ödembildung an Winterfröschen und labilem Wasserhaushalt bei Sommerfröschen 
erweisen läßt (Molitor und Pick, Pick und Wagner). Sie wäre in ihrem Mecha- 
nismus ähnlich zu denken wie etwa der Einfluß der Schilddrüse auf den Wasser- 
wechsel (Eppinger). 

Ausgehend von diesen Feststellungen über die Funktion der Leber im Wasser- 
stoffwechsel haben Mautner, Landau und Pap, Adler, Pollitzer und Stolz den 
Wasserhaushalt bei Leberkranken, insbesondere Ikterischen mannigfacher Ätiologie 
untersucht. Übereinstimmend wurde bei zahlreichen Fällen von sog. katarrhalischem 
Ikterus im Volhardschen Wasserversuch eine deutliche Hemmung der Wasserausschei- 
dung festgestellt. Auch Leberaffektionen schwererer Art ohne Ikterus zeigten mehr oder 
minder ausgeprägte Diuresestörungen, Beobachtungen, die übrigens bereits 22 Jahre 
vorher Gilbert und Lerebouillet als Opsiurie bei Leberkrankheiten beschrieben 
haben. Pollitzer und Stolz haben die diuretische Wirkung des Novasurols zum Nach- 
weis des Einflusses der Leber auf den Wasserhaushalt herangezogen und im Sinne 
einer klinischen Funktionsprüfung des Leberparenchyms ausgebaut. Beim Icterus 
simplex, beim luetischen Ikterus, bei Cholangitiden und inkompletter und kompletter 
Gallensperre wurden nach Novasurol die 2—-7fachen Wassermengen wie beim 
Gesunden ausgeschüttet. Alle diese Feststellungen beweisen zweifellos den engen 
Zusammenhang zwischen Leber und dem Wasserhaushalte des Organismus, und die 
von den einzelnen Autoren, besonders Adler, näher verfolgten Zusammenhänge 
zwischen dem Stadium und der Ausdehnung des Leberprozesses einerseits und der 
Diuresehemmung anderseits beleuchten zugleich den zweifellos nicht unerheblichen 
diagnostischen und prognostischen Wert des Wasserversuches bei Leberaffektionen. 

Ob die verzögerte Wasserausscheidung bei ikterischen und nicht ikterischen 
Leberkranken von der Störung der hormonalen Leberwirkung mehr abhängig ist 
oder durch relative Enge der Lebervenen bzw. durch beide Faktoren veranlaßt wird, 








Wandlungen und Probleme der Ikterusforschung. 559 


ob sie mit einer verminderten Harnstoffsynthese im Zusammenhang steht, läßt sich 
vorläufig nicht im einzelnen entscheiden. Bei der Frage der hormonalen hepatischen 
Einflüsse ist nach Adler ganz besonders auch an die Regulation der physikalisch- 
chemischen Architektonik des Blutes durch die Leber zu denken. Hierfür sprechen 
die beträchtlichen Verminderungen und Verschiebungen des grobdispersen Anteils 
der Serumeiweißkörper, des Fibrins und der Globuline (Starlinger, Isaac-Krieger, 
Adler) bei den meisten schwereren Leberprozessen. 

Nach Saxl und Donath soll auch das retikuloendotheliale System bei den 
geschilderten Hemmungen der Diurese beteiligt sein, doch erscheinen ihre Versuchs- 
ergebnisse wegen ihrer Vieldeutigkeit nicht beweiskräftig. 


V. Die Blutstruktur beim Ikterus. 


Der tiefgehenden Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung des Blutes 
bei den reinen Formen des hämolytischen Ikterus einerseits und den mechanischen 
und hepatotoxischen Ikterusformen anderseits ist bereits zum Teil bei Besprechung 
der Frage des Icterus dissociatus gedacht worden. Bei der Mehrzahl der Ikterusformen 
treten neben dem Gallenfarbstoff mit direkter Diazoreaktion nach Hijmans van 
den Bergh auch Gallensäuren und Cholesterin in den Kreislauf über, so daß ein 
cholämisches Blutmilieu, wie es Lubarsch nennt, entsteht; bei den hämolytischen 
Ikterusformen besteht eine isolierte Bilirubinämie mit indirekter Diazoreaktion, ein 
bilirubinämisches Blutmilieu. Dazu kommt die Resistenzsteigerung der Erythrocyten 
bei den cholämischen Ikterusformen, die Resistenzschwäche bei den familiären und 
sporadischen Formen des klassischen hämolytischen acholurischen Ikterus. Was sich 
sonst noch an neueren Ergebnissen hier anreihen läßt, bedarf noch des ergänzenden 
Ausbaues, beleuchtet aber die Wegrichtung, in welcher die gegenwärtige Ikterus- 
forschung fortschreitet. Es sind humoralpathologische Problemstellungen, die in der 
Hauptsache in der Frage gipfeln, wie die beim Ikterus bestehenden Störungen der 
normalen Leberfunktion sich auf das Blut projizieren. Hier darf zunächst auf die von 
Bauer und Kerti,Rosenow, Schilling und Gröbel festgestellte erhöhte Phloridzin- 
empfindlichkeit beim Ikterus hingewiesen werden, die zugleich für das Verständnis 
der Phloridzinwirkung von Wichtigkeit ist. Nach geringen Phloridzinmengen tritt 
in Fällen von Icterus catarrhalis, Cholangitis, chronischem Stauungsikterus neben 
einer besonders intensiven Glykosurie eine auffallend starke Senkung des Blutzucker- 
spiegels ein, die nach Bauer gelegentlich einem fast völligen Verschwinden des Blut- 
zuckers nahekommen soll. Bauer nimmt an, daß der Blutzucker bei Leberkranken, 
insbesondere Ikterischen unter der Phloridzinwirkung nicht nur durch die Nieren- 
gefäße, sondern auch durch die übrigen Körpergefäße aus dem Blute in die Gewebe 
abströmt, daß also aus noch ungeklärten Gründen bei Leberkrankheiten eine ge- 
steigerte Zuckerdurchlässigkeit der Gefäßwände durch Phloridzin hervorgerufen wird. 
Weiter gibt Adler an, daß Leberschädigungen verschiedenster Genese, mit und ohne 
Ikterus einhergehend, sehr häufig von einer Verminderung der Alkalireserve begleitet 
sind, ohne daß ein sicherer Parallelismus zwischen der Stärke der Leberschädigung 
und der Herabsetzung der Alkalireserve (Hypokapnie) besteht. 

Es muß ferner abgewartet werden, ob die Arbeiten Ronas und seiner Schüler 
- über das Vorkommen von Leberlipase im Blute sich für die humorale Ikterusforschung 
fruchtbar erweisen werden. Es gelang Rona zu zeigen, daß einzelne Organlipasen 
durch verschiedene Empfindlichkeit gegenüber Giften, vor allem Chinin und Atoxyl, 
von der gewöhnlichen Serumlipase unterschieden werden können. So ist die Leber- 
lipase im Gegensatz zur Lipase des normalen Menschenserums gegen Chinin völlig 


560 F. Rosenthal. 


unempfindlich. Ausgehend von dem Gedanken, daß bei Ikteruskranken zugleich 
mit Gallenbestandteilen auch Leberlipase ins Blut übertreten könne, haben Rona, 
Petow und Schreiber das Serum von sieben ikterischen Kranken untersucht und 
in ihm eine chininresistente Lipase festgestellt. Die Nachuntersuchungen von Broeck- 
meyer und Kroemecke lassen es sehr fraglich erscheinen, ob die Ronasche 
Methode nach den Hoffnungen ihres Autors als „differentialdiagnostisches Hilfs- 
mittel zwischen hepatogenem und hämolytischem Ikterus“« nutzbar gemacht werden 
kann. Einmal erweisen sich auch die Lipasen der Niere und der Lunge als chinin- 
resistent, so daß im Blute auftretende chininfeste Lipasen nicht auf ein bestimmtes 
inneres Organ bezogen werden können, und ferner treten auch bei schweren ex- 
perimentellen Leberschädigungen die fettspaltenden Organfermente anscheinend ohne 
jede Gesetzmäßigkeit, obwohl ae konstant im kranken Leberparenchym wieder- 
gefunden werden, in den Kreislauf über. Weitere Untersuchungen werden daher erst 
über die Möglichkeit einer Fermenttopographie im Sinne Ronas entscheiden können. 
Auch über die klinische Bedeutung der aussichtsvollen Untersuchungen Adlers, 
Rusznyaks und seiner Mitarbeiter, über das Bluteiweißbild (Fibrinogen, Globulin und 
Albuminurieanteil) bei ikterischen und nichtikterischen Leberkrankheiten läßt sich vor- 
läufig kein abschließendes Urteil abgeben, doch spricht vieles dafür, daß auf diesem 
Wege vertiefte Einblicke in das Bluteiweißbild der degenerativen parenchymatösen 
Lebererkrankungen, einschließlich der akuten Atrophie und in die humoralen Vor- 
gänge bei entzündlichen und mechanischen Ikterusformen zu gewinnen sein werden. 
Schließlich sind noch die Untersuchungen Rosenthals und seiner Mitarbeiter über 
serologische Blutveränderungen beim Ikterus zu nennen. Während das menschliche 
Serum bei Gesunden und unter den verschiedenartigsten Krankheitszuständen ent- 
sprechend den Befunden von Laveran und Mesnil eine eklatante Heilwirkung 
auf tierische Trypanosomeninfektionen auszuüben vermag, erfährt der trypanozide 
Titer des menschlichen Serums nur bei den ausgeprägten cholämischen Ikterusformen 
und bei schweren diffusen Lebererkrankungen auch ohne Ikterus einen beträchtlichen 
oft hochgradigen Absturz. In manchen Fällen von schwerem chronischen Ikterus 
und im Stadium des hepatargischen Symptomenkomplexes kann man sogar fast von 
einem Schwunde der trypanoziden Serumkörper sprechen. Bei dem Entstehungs- 
mechanismus der Reaktion des Trypanozidie-Schwundes spielen weder zerstörende 
Eigenschaften der Gallenbestandteile noch irgendwelche hypothetischen Hemmungs- 
körper eine ursächliche Rolle. Hier gelangt eine physiologische Funktion der Leber 
gewissermaßen im Negativ zur Manifestation, der normalerweise die Bildung der 
trypanoziden Serumsubstanzen zukommt und die bei diffusen, schwereren Erkran- 
kungen des Leberparenchyms zusammenbricht. 

Literatur: Eine erschöpfende Wiedergabe der Literatur ist nos Raummangels nicht möglich. 
Nur diejenigen Arbeiten sind im folgenden angeführt, welche durch Inhalt und Literaturübersicht eine 
weitere Orientierung ermöglichen. — Adler, Kl. Woch. 1924, Nr. 22 u. Nr. 25. — Anitschkow, 
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Ikterus, Kl. Woch. 1923, Nr. 25, p. 1166. -- Rosenthal, Kl. Woch. 1924, Nr. 40. — Rosenthal 
u. v. Falkenhausen, A. f. exp. Path. u. Pharm. XCVII, H. 5/6; Kl. Woch. 1923, Nr 24 u. 32. 
— Rosenthal u. Fischer, Kl. Woch. 1922, Nr. 46. -- Rosenthal u. Lauterbach, A. f. exp. 
Path. u. Pharm. C, 1923. — Rosenthal, Moses u. Petzal, Ztschr. f. d. ges. eh ‚Med. 1924, 
XLI, H. 4/6. — Ruszn a Barat u. Kürthy, Ztschr. f. kl. Med. XCVIII, — Saxl 
u. Donath, Kl. Woch. 1924, Nr. 31. — Simon, KI. Woch. 1923, Nr. 11. — SE Wé EE 
D. med. Woch. 1924, p. 400 — Schmidt and Merril, . of biol. chemistry 1923, LVIII, p. 601. 
Sormani zit. nach Zoja, Le itterizie. Archivio di thologia clinica medica 1923, II, H. 2. — 
Standenath, Ztschr. f. Immunitätsforschung 1923, X XVII. - Starlinger, Kl. Woch. 1923, Ié 
31. — Thannhauser, D. A. f. kl. Med. CX XVII, p. 179. — Voigt, Biochem. Ztschr. 1914, LXIII 
1915, LVIII, 1918, LXXXIX. — Whipple and Hopper, A. int. med. XXIX, Nr. 6; J. of exp. med. 
XVII, p. 612, XVIII, Nr. 1. — Zoja, Le itterizie. A. mediche 1923, II, H. 2. 


Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 36 


Die Reichsversicherungsordnung. 
Von Geh. San.-Rat Dr. O. Mugdan, Berlin. 


Die Reichsversicherungsordnung ist ein Gesetzbuch, in dem die Krankenver- 
sicherung, die Unfallversicherung und die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung 
zusammengefaßt ist. Sie besteht aus 6 Büchern: das erste enthält die Vorschriften, 
die für alle Zweige der Versicherung Geltung haben, das zweite Buch enthält die 
Vorschriften für die Krankenversicherung, das dritte diejenigen für die Unfallver- 
sicherung, u. zw. getrennt für die Gewerbeunfallversicherung, die landwirtschaftliche 
Unfallversicherung und die Seeunfallversicherung, das vierte Buch behandelt die 
Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, das fünfte Buch regelt die Beziehungen 
der einzelnen Versicherungen zueinander und zu anderen zur Fürsorge verpflichteter 
Körperschaften, das sechste Buch endlich enthält die Vorschriften für das Verfahren, 
insbesondere diejenigen, die bei Feststellung der Leistungen zu beobachten sind. 

Die Reichsversicherungsordnung ist im Jahre 1911 beschlossen worden und 
in demselben Jahre ist auch das Versicherungsgesetz für Angestellte zu stande ge- 
kommen, das für die große Gruppe derjenigen Angestellten, die nicht mit mecha 
nischen und niederen Diensten beschäftigt werden, wie dies bei Arbeitern und 
Hausgehilfen der Fall ist, eine über die Leistungen der Invaliden- und Hinter- 
bliebenenversicherung hinausgehende Fürsorge schafft. 

Die deutsche Sozialversicherung ist eine unter staatlicher Aufsicht stehende, auf 
den Grundsätzen der Gegenseitigkeitsversicherung und der Selbstverwaltung auf- 
gebaute Zwangsversicherung: eine bestimmte Beschäftigung (Tätigkeit) oder die 
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf begründet die Pflicht zur Versicherung. 


l. Krankenversicherung. 


Versicherungspflichtig sind ohne Rücksicht auf ihr Einkommen: 1. Arbeiter, 
Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge, Dienstboten, Schiffsbesatzungen; 2. — sofern ihr regel- 
mäßiger Jahresarbeitsverdienst 2700 Mark nicht übersteigt — Betriebsbeamte, Werk- 
führer, Handlungsgehilfen, Handlungslehrlinge, Gehilfen und Lehrlinge in den 
Apotheken, Bühnen- und Orchestermitglieder, Lehrer, Erzieher, Angestellte in den 
Berufen der Erziehung, des Unterrichtes, der Fürsorge, der Kranken- und Wohl- 
fahrtspflege, wenn diese Beschäftigung ihren Hauptberuf und die Hauptquelle ihrer 
Einnahmen bildet, Schiffsführer; 3. Hausgewerbetreibende, sofern ihnen nicht ein 
jährliches Einkommen von 2700 Mark sicher ist. 

Voraussetzung der Versicherung, der unter 1. und 2. bezeichneten, ausge- 
nommen der Lehrlinge, ist, daß sie gegen Entgelt, wozu auch bloßer freier Unter- 
halt gehört, beschäftigt werden. 

Wer in den vorausgegangenen 12 Monaten mindestens 26 Wochen oder un- 
mittelbar vor Aufhörung der Versicherungspflicht mindestens 6 Wochen versichert 


Die Reichsversicherungsordnung. 563 . 


war, kann die Versicherung freiwillig fortsetzen. Ein freiwilliger Eintritt in die Ver- 
sicherung ist vor allen den Familienangehörigen des Arbeitgebers, die ohne ein 
eigentliches Arbeitsverhältnis und ohne Entgelt in seinem Betriebe tätig sind, und 
kleineren Unternehmen gestattet. Das jährliche Gesamteinkommen darf bei der 
Selbstversicherung 2700 Mark nicht übersteigen, und es kann das Recht zu ihr von 
einer bestimmten Altersgrenze und von der Vorlegung eines ärztlichen Gesundheits- 
zeugnisses abhängig gemacht werden. 

Beamte oder andere bei. öffentlichen Körperschaften auf Lebenszeit unwider- 
ruflich oder mit Anrecht auf Ruhegehalt Angestellte, denen gegen ihren Arbeitgeber 
eine genügende ‚Krankenversorgung gewährleistet ist, sind auf Grund des Gesetzes 
oder auf Antrag versicherungsfrei, auch wenn sie eine an und für sich versicherungs- 
pflichtige Beschäftigung ausüben. Das gleiche gilt für Lehrer und Erzieher an 
öffentlichen Schulen und Anstalten. | 

Die Durchführung der Krankenversicherung — abgesehen von derjenigen für 
die im Bergbau beschäftigten Personen — liegt den Krankenkassen ob. An ihre 
Stelle tritt im Bergbau der Reichsknappschaftsverein. In jedem Stadt- oder Land- 
kreise soll eine allgemeine Ortskrankenkasse und eine Landkrankenkasse errichtet 
werden. Bei der letzteren sind die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter, die Haus- 
gehilfen und die Wanderarbeiter versichert. Auf die Errichtung der Landkranken- 
kasse oder auf die Errichtung der allgemeinen Ortskrankenkasse kann verzichtet 
werden, wenn durch das Bestehen beider Kassen leistungsunfähige Kassen entstehen 
würden. Außerdem gibt es noch besondere Ortskrankenkassen; dieselben waren 
schon vor dem Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung für bestimmte Gewerbe- 
zweige oder für bestimmte Berufe vorhanden, und sie durften unter bestimmten 
Bedingungen weiterbestehen; neue besondere Ortskrankenkassen dürfen nicht er- 
richtet werden. Die Unternehmer größerer Betriebe können, unter den in der Reichs- 
versicherungsordnung angegebenen Bedingungen für die in ihren Betrieben be- 
schäftigten Personen Betriebskrankenkassen errichten, und dasselbe Recht steht den 
Innungen zu, die für die bei den Innungsmeistern beschäftigten Personen Innungs- 
krankenkassen errichten können. Ein Versicherungspflichtiger braucht nicht Mitglied 
einer der genannten Kassen, in die er gehört, zu werden, wenn er Mitglied einer 
Ersatzkasse ist. Unter einer Ersatzkasse hat man einen Krankenversicherungsverein 
auf Gegenseitigkeit — früher Freie Hilfskasse genannt — zu verstehen, der als 
Ersatzkasse von der hierfür zuständigen Behörde zugelassen worden ist. 

ÖOrtskrankenkassen, Landkrankenkassen, Betriebskrankenkassen und Innungs- 
krankenkassen haben einen Ausschuß und einen von diesem gewählten Vorstand. 
Alle Wahlen, die in der Reichsversicherungsordnung vorgeschrieben sind, finden 
nach dem Verhältniswahlsystem statt. Die Mittel für die Krankenversicherung sind 
von den Arbeitgebern und den Versicherten aufzubringen. Versicherungspflichtige 
haben zwei Drittel, ihre Arbeitgeber ein Drittel der Beiträge zu zahlen. Versicherungs- 
berechtigte haben die Beiträge allein zu zahlen. Bei Innungskrankenkassen kann die 
Satzung bestimmen, daß die Arbeitgeber und die Versicherungspflichtigen je die 
Hälfte der Beiträge zu tragen haben. Gemäß der Beitragsleistung verfügen im Aus- 
schuß und in den Vorständen die Vertreter der Versicherten über zwei Drittel, die 
Vertreter der Arbeitgeber über ein Drittel der Stimmen. Nur wenn bei einer Innungs- 
krankenkasse die Arbeitgeber und die Versicherten je die Hälfte der Beiträge zu 
tragen haben, so haben sie auch je die Hälfte der Vertreter im Ausschuß und im 
Vorstande. Bei den Betriebskrankenkassen führt der Arbeitgeber oder sein Vertreter 
den Vorsitz. 

36* 


564 O. Mugdan. 


Die Leistungen der Krankenkassen sind Regelleistungen oder Mehrleistungen. 
Die Regelleistungen müssen von jeder Krankenkasse gewährt werden, die Mehr- 
leistungen können, soweit es die Reichsversicherungsordnung erlaubt, zumeist durch 
einen Satzungsbeschluß festgesetzt werden. Die Regelleistungen der Krankenkasse 
sind Krankenhilfee Wochenhilfe, Sterbegeld und Familienhilfe. Als Krankenhilfe 
wird gewährt: 

1. Vom Beginn der Krankheit an Krankenpflege, die ärztliche Behandlung, 
Versorgung mit Arznei, Brillen und Bruchbändern und anderen kleinen Heilmitteln 
umfaßt. 

2. Vom vierten .Krankheitstage ab, wenn die Krankheit den Kranken arbeits- 
unfähig machte, ein Krankengeld, das die Hälfte des für den Versicherten ange- 
nommenen Tagesarbeitsverdienstes beträgt. 

Als Wochenhilfe wird weiblichen Versicherten, die in den letzten 2 Jahren vor 
der Niederkunft mindestens 10 Monate hindurch und im letzten Jahre vor der 
Niederkunft mindestens 6 Monate hindurch versichert waren, notwendige ärztliche 
Hilfe, ein einmaliger Beitrag zu den sonstigen Entbindungskosten und bei Schwanger- 
schaftsbeschwerden, Wochengeld für 10 Wochen und ein Stillgeld bis zu 12 Wochen 
in dem gesetzlich erlaubten Ausmaße gewährt. Ehefrauen sowie solche Töchter, 
Stief- und Pflegetöchter der Versicherten, welche mit diesen in häuslicher Gemein- 
schaft leben, erhalten eine Familienwochenhilfe, die im Gesetz nur als Familienhilfe 
bezeichnet wird, wenn sie selbst aus eigener Versicherung keinen Anspruch auf 
Wochenhilfe haben und der Versicherte im Laufe der letzten 2 Jahre vor der Ent- 
bindung mindestens 10 Monate und im letzten Jahre vor der Niederkunft mindestens 
6 Monate versicherungspflichtiges Kassenmitglied war. Die Leistungen der Familien- 
wochenhilfe entsprechen ziemlich genau den Leistungen der Wochenhilfe. 

Als Sterbegeld wird beim Tode eines Versicherten mindestens das 10fache 
seines angenommenen Tagesarbeitsverdienstes gezahlt. Die Satzung kann den Mindest- 
betrag des Sterbegeldes bis zu 50 Mark festsetzen. An Stelle der Krankenpflege und 
des Krankengeldes kann, aber muß nicht, von der Krankenkasse Krankenhausbehand- 
lung gewährt werden. Wenn der Versicherte Angehörige unterhalten hat, ist dann 
für diese eine Hausgeld zu zahlen. Als Mehrleistung sind zulässig: Krankenpflege 
an versicherungsfreie Familienmitglieder der Versicherten, Gewährung von Wartung 
und Hilfe durch Krankenpfleger und Krankenschwestern im Haushalt des Erkrankten, 
Fürsorge für Genesende, insbesondere durch Unterbringung in einem Genesungs- 
heim bis zur Dauer eines Jahres nach Ablauf der Krankenhilfe, Erhöhung des 
Krankengeldes um die Hälfte seines regelmäßigen Betrages, eine Erweiterung der 
Krankenhilfe bis zu einem Jahr. Regelmäßig endet die Gewährung von Kranken- 
pflege und Krankengeld 26 Wochen nach Beginn der Krankheit, oder wenn Kranken- 
geld erst von einem späteren Tage an bezogen ist, 26 Wochen nach diesem Tage. 
Wenn aber ein Versicherter, der binnen 12 Monaten bereits für 26 Wochen Kranken- 
geld bezogen hat, im Laufe der nächsten 12 Monate an der gleichen, nicht be- 
hobenen Krankheitsursache erkrankt, dann wird für diese Krankheit nur 13 Wochen 
Unterstützung gewährt. Scheidet wegen Erwerbslosigkeit ein Versicherter, der in 
den vorangegangenen 12 Monaten mindestens 26 Wochen oder unmittelbar vorher 
mindestens 6 Wochen versichert war, aus der Krankenkasse aus, so behält er den 
Anspruch auf die. vollen Regelleistungen der Kasse, wenn der Versicherungsfall 
während der Erwerbslosigkeit und binnen 3 Wochen nach dem Ausscheiden ein- 
getreten ist. Wenn ein Versicherter die Kasse durch ein Verbrechen geschädigt hat, 
oder wenn er sich eine Krankheit vorsätzlich oder bei einer Schlägerei zugezogen 


Die Reichsversicherungsordnung. 565 


hat, so kann ihm das Krankengeld im ersten Fall für ein Jahr, in den anderen 
Fällen für die Dauer der Krankheit, ganz oder teilweise versagt werden. Bei Ver- 
sicherungsberechtigten erlischt die Mitgliedschaft, wenn sie 2mal nacheinander am 
Zahltage die Beiträge nicht entrichtet haben und seit dem ersten dieser Zahltage 
mindestens 4 Wochen vergangen sind. Wenn der Kassenvorstand oder die Kassen- 
verwaltung den Anspruch des Versicherten auf Krankenhilfe us w. ablehnt, so kann 
hiergegen das Versicherungsamt, das in der Regel für jeden Stadt- und Landkreis 
errichtet ist, angerufen werden. Gegen die Entscheidung des Versicherungsamtes 
ist Berufung an das Oberversicherungsamt, das in Preußen für jeden Regierungs- 
bezirk besteht, zulässig. In einigen wenigen Fällen ist dann noch die Berufung an 
das Reichsversicherungsamt, das seinen Sitz in Berlin hat, und für das Gebiet des 
Reiches errichtet ist, möglich, aber nur als Revisionsinstanz. An Stelle des Reichs- 
versicherungsamtes tritt, wenn das Gebiet der am Streite beteiligten Krankenkasse 
die Grenzen des Landes Bayern nicht überschreitet, das bayerische Landesversicherungs- 
amt, und unter den gleichen Verhältnissen das Landesversicherungsamt des Landes 
Sachsen und des Landes Baden. In den Versicherungsbehörden — Versicherungs- 
. amt, Oberversicherungsamt, Reichsversicherungsamt, Landesversicherungsamt — sind 
neben Beamten immer eine gleiche Anzahl von Vertretern der Versicherten und von 
Vertretern der Arbeitgeber tätig; diese Vertreter werden, getrennt, von Vertretungen 
(z. B. Kassenvorständen) ihrer Berufsgenossen, d. h. der Versicherten und der Arbeit- 
geber, gewählt. Die Aufsichtsbehörde der Krankenkassen ist das Versicherungsamt. 
Es entscheidet über Beschwerden, die gegen die Geschäftsführung der Krankenkassen 
erhoben werden. Die Krankenkassen erledigen ihre Geschäfte unter voller Selbst- 
verwaltung. Das Aufsichtsrecht der Aufsichtsbehörde erstreckt sich nur darauf, daß 
Gesetz und Satzung so beobachtet werden, wie es der Zweck der Versicherung 
verlangt. | 

Die ärztliche Behandlung muß durch einen in Deutschland approbierten Arzt 
(oder Zahnarzt) geleistet werden. Zur ärztlichen Behandlung rechnen auch die Leistun- 
gen der Heilgehilfen, Hebammen, Masseure, wenn sie der Arzt angeordnet hat, oder 
in dringenden Fällen kein Arzt zugezogen werden konnte. Die Beziehungen zwischen 
Krankenkassen und Ärzten werden durch einen schriftlichen Vertrag geregelt; die 
Bezahlung anderer Ärzte kann die Kasse von dringenden Fällen abgesehen, ab- 
lehnen. Der Arztvertrag kann mit dem einzelnen Arzte oder als Kollektivvertrag mit 
einem Ärztverein geschlossen werden. Durch die Verordnung der Reichsregierung 
über Ärzte und Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (Reichsversicherungsordnung 
3680 —f) ist zur Regelung der Beziehungen zwischen den Krankenkassen und Ärzten 
ein Reichsausschuß (Landesausschuß) für Ärzte und Krankenkassen gebildet worden. 
Er besteht aus drei unparteiischen Mitgliedern, die nach Anhörung der Spitzen- 
verbände der Ärzte und Krankenkassen von dem Reichsarbeitsminister ernannt werden, 
und aus je fünf, auf die Dauer von 5 Jahre gewählten Vertretern dieser Spitzenverbände; 
für diese Vertreter sind ebenso wie für die unparteiischen Mitglieder Stellvertreter zu 
wählen. Der Reichsausschuß hat Richtlinien über die Zulassung der Ärzte zur Tätig- 
keit bei den Krankenkassen, über den allgemeinen Inhalt der Arztverträge, über die 
Art und Höhe der Vergütung für die ärztlichen Leistungen, über Einrichtungen und 
Maßnahmen, welche zur Sicherung der Kasse gegen eine übermäßige Inanspruch- 
nahme der Krankenhilfe und zur Sicherung gegen eine nicht berechtigte Inanspruch- 
nahme einzelner Ärzte notwendig sind, aufgestellt. Die genannte Verordnung hat auch 
zur Herbeiführung angemessener Verträge zwischen den Krankenkassen und Ärzten 
Einigungs- und Schiedsstellen eingerichtet: für den Bezirk eines Versicherungsamtes 


566 O. Mugdan. P 


den Vertragsausschuß, der den Inhalt und Wortlaut der Arztverträge feststellt; das 
für den Bezirk jedes Oberversicherungsamtes errichtete Schiedsamt, das, wenn im 
Vertragsausschuß keine Einigung zu stande kommt, auf Anruf einer oder beider 
Vertragsparteien über die strittigen Punkte entscheidet; das Reichsschiedsamt, das 
zur Entscheidung über Berufungen gegen die Entscheidungen der Schiedsämter zu- 
ständig ist. (Wo ein Landesversicherungsamt besteht, tritt an Stelle des Reichsschieds- 
amtes das Landesschiedsamt.) 

Zu beachten sind auch die Verordnung der Reichsregierung über Krankenhilfe 
bei den Krankenkassen vom 30. Oktober 1923 (Reichsgesetzblatt I, S. 1054) deren 
53 die Zahl der Kassenärzte begrenzt und die Verordnung der Reichsregierung über 
Krankenversicherung vom 13. Februar 1924 (Reichsgesetzblatt I, S. 93), welche unter 
anderen die Landkrankenkassen ermächtigt, Kassenarztbezirke zu bilden und Kranken- 
schwestern als Pflegepersonen und Gehilfinnen der Ärzte anzustellen. Die Tätigkeit 
dieser Schwestern ist durch Richtlinien des Reichsausschusses geregelt. Die Vor- 
schriften der letzteren Verordnung sind jetzt auch in die Reichsversicherungsordnung 
eingefügt. 


IL Unfallversicherung. 


Dieselbe knüpft an bestimmte Betriebe und Tätigkeiten an. Versicherungs- 
pflichtig sind Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, Betriebsbeamte (Werkmeister 
und Techniker), die beschäftigt werden: in Fabriken, in Bergwerken, bei Bauten, 
in Betrieben der Eisenbahn, Telegraphie, Heeres- und Marineverwaltungen, in be- 
stimmten gefährlichen Handwerksbetrieben (Schlosser, Fleischer, Dekorateure, Fenster- 
putzer, Schornsteinfeger), in einzelnen kaufmännischen Betrieben, in Apotheken, in 
jedem auch nicht gewerbemäßigen Fahrbetrieb, Reittier- und Stallhaltungsbetrieb, 
in der Binnenschiffahrt und Binnenschifferei, in Land- und Forstwirtschaft; ferner 
die Schiffer, Maschinisten, Aufwärter der Überseefahrtzeuge und die Besatzung von 
Seefahrtzeugen. Die Versicherungspflicht kann auch auf Unternehmer, auf Haus- 
gewerbetreibende und auf Personen, die die der Unfallversicherung unterliegenden 
Betriebe besuchen (wie z. B. auf Studenten, die dies zu Lernzwecken tun oder auf 
die Frau, die es tut, um ihren Ehemann das Essen zu bringen) ausgedehnt werden. 
Eine Weiterversicherung wie in der Krankenversicherung gibt es hier nicht. Die 
Selbstversicherung ist allen Unternehmern gestattet, und für versicherungsfrei können 
Betriebsunternehmer, auf die die Versicherungspflicht ausgedehnt worden ist, die 
aber keiner besonderen Unfallsgefahr unterliegen, erklärt werden. Die Durchführung 
der Unfallversicherung liegt den Berufsgenossenschaften ob. An deren Stellen treten, 
sofern es sich um eigene Betriebe des Reichs, des Staates, der Gemeinden (Gemeinden- 
verbänden) und öffentlicher Körperschaften handelt, Ausführungsbehörden. Die Berufs- 
‚genossenschaft ist eine Vereinigung gleichartiger oder ähnlicher versicherungs- 
pflichtiger Betriebe; sie wird entweder für das ganze Reich oder für Teile desselben 
errichtet; ihre Mitglieder sind die Unternehmer der Betriebe, die ihrer Eigenart und 
ihrem Sitze nach zum Bereich der Berufsgenossenschaft gehören. Die Berufsgenossen- 
schaften dürfen, um die Verwaltung zu teilen und das Risiko zu verteilen, Sektionen 
einrichten, und sie dürfen in allen Orten Vertrauensmänner als ihre örtlichen Organe 
bestellen. An der Verwaltung der Berufsgenossenschaft oder der Sektion (Vorstand, 
Genossenschaftsversammlung, Sektionsversammlung) sind die versicherten Arbeit- 
nehmer nicht beteiligt. In Preußen — und in den anderen Ländern ist es ebenso 
oder ähnlich — bilden die Unternehmer der landwirtschaftlichen Betriebe jeder 
Provinz eine Berufsgenossenschaft und diese zerfällt in Sektionen für jeden Kreis. 


Die Reichsversicherungsordnung. 567 


Die Geschäfte des Genossenschaftsvorstandes nimmt hier der Provinzialausschuß, 
die der Sektion der Kreis-(Stadt-)Ausschuß wahr. Die Aufbringung der Mittel erfolgt 
bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften und bei der Seeberufsgenossenschaft 
durch eine Umlage bei den Unternehmern, die Mitglieder der Berufsgenossen- 
schaft sind, nach Bedarf der Ausgaben des abgelaufenen Kalenderjahres, nach den 
gezahlten Löhnen und nach der Durchschnittsgefahr des betreffenden Gewerbe- 
zweiges. Bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften erfolgt die Umlage in 
Preußen nach dem Maßstabe der Grundsteuer, und in den übrigen Ländern nach 
gleichen oder einem ähnlichen Maßstabe. Die Mittel der Berufsgenossenschaft werden 
nicht nur zur Entschädigung für die Folgen von Betriebsunfällen verwendet, sondern 
auch zum Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften, durch die vorgeschrieben wird, 
welche Einrichtung und Anordnung die Unternehmer in ihren Betrieben zur Ver- 
hütung von Unfällen zu treffen haben, und durch die das Verhalten geregelt wird, 
das die Versicherten zur Verhütung von Unfällen in den Betrieben zu beobachten 
haben. Verbotswidriges Handeln schließt aber eine Unfallentschädigung nicht aus, 
nur wenn ein Versicherter den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat, verliert er jeden 
Anspruch auf eine Unfallentschädigung, und wenn jemand bei einem Verbrechen 
sich einen Betriebsunfall zugezogen hat, so kann ihm der Schadenersatz ganz oder 
teilweise versagt werden. Entschädigungspflichtig sind nur Betriebsunfälle und solche 
Unfälle, die sich der Versicherte bei häuslichen und anderen Diensten zugezogen 
hat, zu denen .er von dem Unternehmer oder dessen Beauftragten (z. B. seiner 
Ehefrau) herangezogen worden ist. 

Bei Verletzungen, die keine äußerlichen zu sein brauchen, sind vom Beginne 
der 14. Woche nach dem Unfall zu gewähren: 

1. Krankenpflege wie in der Krankenversicherung; 

2. eine Rente für die Dauer der durch den Unfall bedingten Verminderung 
oder Verlust der Erwerbsfähigkeit; a 

3. im Falle des Todes des Versicherten ein Sterbegeld und eine Rente für 
die Hinterbliebenen. 

Während der ersten 13 Wochen nach dem Unfall hat die Krankenkasse, der 
der Verletzte angehört, oder in den sehr seltenen Fällen, in denen der Verletzte 
nicht Mitglied einer Krankenkasse ist, der Betriebsunternehmer des Verletzten, die 
Fürsorge zu übernehmen; wenn in dieser Zeit die Unfallfolgen ohne Beeinträchti- 
gung der Erwerbsfähigkeit beseitigt sind, entsteht für die Berufsgenossenschaft keine 
Entschädigungspflicht. Ist aber festgestellt, daß die Berufsgenossenschaft (Ausführungs- 
behörde) auf Grund eines Unfalls eine Rente oder ein Sterbegeld zu zahlen hat, so 
muß sie der Krankenkasse die Kosten für Krankenpflege erstatten, die sie dem Ver- 
letzten innerhalb der ersten 13 Wochen nach dem Unfall gewährt hat. Das Kranken- 
geld eines unfallverletzten Kassenmitgliedes wird von dem Beginn der 5. Woche 
nach dem Unfall bis zum Ablauf der 13. Woche mindestens um ein Drittel seines 
regelmäßigen Betrages erhöht. Die Höhe der Unfallrente richtet sich nach dem 
Grade der durch den Unfall herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit, und 
die Höhe der Unfallrente wird ausgedrückt in Prozenten der Vollrente, die beim 
völligen Verlust der Erwerbsfähigkeit zu gewähren ist, und zwei Drittel des, nach 
bestimmten Vorschriften zu ermittelnden Jahresarbeitsverdienstes des Versicherten 
beträgt. Soweit der Jahresarbeitsverdienst 1800 Mark übersteigt, wird er nur zu einem 
‚Drittel .angerechnet. Zurzeit wird eine Zulage gewährt, wenn eine Unfallrente zwei 
Drittel der Vollrente oder mehr beträgt. Die Unfallrente wird nur für die Dauer 
der gänzlichen oder teilweisen Erwerbsunfähigkeit gewährt, die Waisenrente bis zur 


568 O. Mugdan. 


Vollendung des 18. Lebensjahres, und die Witwenrente bis zum Tode der Witwe 
oder bis zu ihrer Wiederverheiratung. Bei letzterer erhält die Witwe eine einmalige 
Abfindung in der Höhe des 3fachen Betrages ihrer Witwenrente. Innerhalb zweier 
Jahre nach dem Unfall kann eine „vorläufige“ Rente festgestellt werden, die jeder- 
zeit verändert werden kann. Nach Ablauf dieser 2 Jahre muß eine „Dauerrente* 
festgestellt werden, deren Veränderung nur in Zeiträumen von mindestens einem 
Jahr vorgenommen werden kann. Wenn die endgültigen Unfallsfolgen keinem 
Zweifel mehr unterliegen, dann kann auch innerhalb der ersten 2 Jahre nach dem 
Unfall eine Dauerrente festgestellt werden. Alle Leistungen und die Höhe der 
Rente — die letztere unter Zuziehung eines Vertreters der Arbeitnehmer — werden 
von dem Vorstande der Berufsgenossenschaft (Sektion) oder von dem, von ihm 
beauftragten Geschäftsführer derselben festgestellt. Von dem Betriebsunternehmer 
ist jeder Unfall in seinem Betriebe anzuzeigen, wenn durch den Unfall ein im 
Betrieb Beschäftigter getötet oder so verletzt wird, daß er stirbt oder für mehr als 
3 Tage völlig oder teilweise arbeitsunfähig wird. Die Anzeige ist der zuständigen 
Ortspolizeibehörde und der durch die Satzungen bestimmten Stelle der Berufs- 
genossenschaft zu erstatten. Die Ortspolizeibehörde untersucht so bald als möglich 
den Unfall. Ist eine Unfalluntersuchung unterblieben, so muß, wenn eine Unfalls- 
entschädigung verlangt wird, der Unfall spätestens 2 Jahre nach seinem Eintritt oder 
nach den hervortretenden späteren Unfallsfolgen oder nach dem durch den Unfall 
hervorgetretenen Tod des Verletzten bei der zuständigen Berufsgenossenschaft an- 
gemeldet werden. Die Berufsgenossenschaft oder das von ihr beauftragte Organ er- 
teilt dem Verletzten über die festgestellte Entschädigung oder Leistung einen schrift- 
lichen Bescheid. Gegen diesen ist die Berufung an das Oberversicherungsamt und 
gegen das Urteil des letzteren der Rekurs an das Reichsversicherungsamt (Landes- 
versicherungsamt) zulässig, aber nur bei Streit um eine vorläufige Rente oder um 
eine Erstfestsetzung einer Dayıerrente. 

Die Aufsicht über die Unfallversicherüng führt das Reichsversicherungsamt 
und sofern der Bereich der Berufsgenossenschaft (Ausführungsbehörde) nicht über 
die Grenzen von Bayern, Sachsen und Baden hinausgeht, das dortige Lebensver- 
sicherungsamt. 


II. Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung. 


Versicherungspflichtig sind: 1. Arbeiter, Gesellen, Hausgehilfen; 2. Gehilfen 
und Lehrlinge, soweit sie nicht nach dem Angestelltenversicherungsgesetz ver- 
sicherungspflichtig oder versicherungsfrei sind, und — unter der gleichen Voraus- 
setzung — Schiffsbesatzungen; 3. Hausgewerbetreibende; 4. — nach Antragstellung 
bei ihrer vorgesetzten Dienststelle — Wehrsoldaten und Angehörige der Schutz- 
- polizei. Voraussetzung für die Versicherung der Arbeiter, Gesellen, Hausgehilfen, 
Gehilfen und Lehrlinge ist, daß sie gegen Entgelt beschäftigt werden. Wer aus 
einem versicherungspflichtigen Verhältnis ausscheidet, kann die Versicherung frei- 
willig fortsetzen, und die Selbstversicherung ist bis zur Vollendung des 40. Lebens- 
jahres kleineren Unternehmern und solchen Personen, die für versicherungsfrei 
erklärt worden sind, gestattet. Versicherungsfrei sind Beamte und andere bei öffent- 
lichen Körperschaften Beschäftigte, die Anspruch auf eine der Invalidenversicherung 
gleichwertige Pension haben und Personen mit Hochschulbildung, die während der 
wissenschaftlichen Ausbildung gegen Entgelt tätig sind. Die Invaliden- und Hinter- 
bliebenenversicherung wird durch die Landesversicherungsanstalten durchgeführt; 
dieselben sind in Anlehnung an die Staats- oder Gemeindeverwaltung für örtliche 


aoo ae o mee en —— urn 


Die Reichsversicherungsordnung. 569 


Bezirke, in Preußen für jede Provinz und die Stadt Berlin, errichtet. Die Verwaltung 
wird von Beamten geleitet, denen im Vorstande und im Ausschusse gewählte Ver- 
treter der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, beide in gleicher Zahl, zur Seite 
stehen. An Stelle der Landesversicherungsanstait treten für die bei der Reichsbahn- 
gesellschaft Beschäftigten die Arbeiter-Pensionskassen der deutschen Reichsbahn- 
gesellschaft; die .Invalidenversicherung der im Bergbau beschäftigten Personen wird 
durch den Reichsknappschaftsverein durchgeführt und schließlich besorgt die See- 
berufsgenossenschaft auch die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung der bei 
ihr gegen Unfall versicherten Personen. Man bezeichnet die an Stelle der Landes- 
versicherungsanstalt tretenden Körperschaften als „Sonderanstalten“ der Invaliden- 
versicherung. Die Mittel werden durch das Reich und durch Beiträge, die je zur 
Hälfte von den Versicherten und ihren Arbeitgebern für jede Woche der Beschäfti- 
gung gezahlt werden (Beitragswoche), aufgebracht. Die Entrichtung der Beiträge 
erfolgt durch Einkleben von besonderen, in den Postanstalten erhältlichen Marken 
in das Quittungsbuch. Die Einklebung hat der Arbeitsgeber zu besorgen, und er 
zieht bei der Lohnzahlung die Hälfte des Beitrages vom Lohne ab. Versicherungs- 
berechtigte, die den vollen Beitrag zu zahlen haben, haben die Marken selbst ein- 
zukleben. Es gibt für 5 Lohnklassen besondere Marken; die niedrigste Lohnklasse 
geht bis zu einem Wochenarbeitsverdienst bis 10 Mark und als Wochenbeitrag sind 
hier 20 Pfennig zu zahlen, die 5. Lohnklasse umfaßt alle, die einen Wochenarbeits- 
verdienst über 25 Mark haben und hier beträgt der Wochenbeitrag 1 Mark. Wenn ein 
Versicherter wegen einer mindestens eine Woche dauernden Krankheit arbeitsunfähig 
war, so werden ihm die vollen Wochen dieser Arbeitsunfähigkeit angerechnet, ohne 
daß Beiträge entrichtet zu werden brauchen, und dasselbe gilt für die Dauer von 
8 Wochen für eine Arbeitsunfähigkeit, die durch eine Schwangerschaft oder ein 
regelmäßig verlaufenes Wochenbett veranlaßt worden ist. Wenn ein Versicherter 
die Wartezeit, die bei der Invalidenrente mindestens 200 Beitragswochen beträgt, er- 
füllt hat und die Anwartschaft aufrecht erhalten hat, so erhält er eine Invaliden- 
rente — ohne Rücksicht auf sein Lebensalter — wenn er dauernd invalide ist; und 
— ohne Rücksicht auf das Maß der Erwerbsfähigkeit — wenn er das 65. Jahr voll- 
endet hat, und eine Krankenrente, wenn er mindestens 26 Wochen krank gewesen 
und vorübergehend invalide gewesen ist. Nach dem Tode des Versicherten, der 
die Bedingungen zur Erhaltung der Invalidenrente erfüllt hat, erhalten seine invalide 
Witwe und seine Kinder unter 18 Jahren, unter Umständen auch seine eltern- 
losen Enkel, seine Eltern und Großeltern, eine Rente. Die Invalidenrente besteht 
aus einem Grundbetrag von 120 Mark und Steigerungssätzen, die ein Zehntel der 
gültig entrichteten Beiträge ausmachen. Der Reichszuschuß für jede Invaliden- 
und Witwenrente beträgt 48 Mark, für jede Waisenrente 24 Mark. Der Invaliden- 
rentner erhält für jedes eheliche Kind unter i8 Jahren einen Kinderzuschuß von 
36 Mark jährlich. Die Anwartschaft erlischt, d. h. alle bisher geklebten Marken 
werden ungültig, wenn während zweier Jahre nach dem auf dem letzten Quittungs- 
tage verzeichneten Ausstellungstage nicht eine bestimmte Anzahl Wochenbeiträge 
entrichtet worden sind. Das Wiederaufleben der Anwartschaft ist nur sehr schwer 
wiederherzustellen. Bei Wiederverheiratung wird die Witwe mit dem Betrag ihrer 
Safesrente abgefunden. | 

Die Landesversicherungsanstalten sind befugt, ein Heilverfahren einzuleiten, 
wenn sie glauben, daß durch ein solches der Eintritt der Invalidität verzögert oder 
abgewendet werden könnte. Ob die Landesversicherungsanstalten ein Heilverfahren 
einleiten wollen, ist ailein ihre Sache, gezwungen können sie zu einem solchen nicht 


570 O. Mugdan. 


werden. Wer eine Rente haben will, hat dies bei dem zuständigen Versicherungs- 
amte oder auch bei der zuständigen Landesversicherungsanstalt unter Einreichung 
der Aufrechnungen der Quittungskarte und eines ärztlichen Zeugnisses zu bean- 
tragen. Die Entscheidung hat die Landesversicherungsanstalt. Gegen die ablehnende 
Entscheidung ist Berufung an das Oberversicherungsamt und gegen dessen Urteil 
in einigen Fällen die Revision beim Reichsversicherungsamte (Landesversicherungs- 
amte) zulässig. / 

Die Aufsicht über die Landesversicherungsanstalten und Sonderanstalten führt 
das Reichsversicherungsamt oder, unter den bei der Unfallversicherung erwähnten 
Verhältnissen, das Landesversicherungsamt. 


Angestelltenversicherung. 


Die Angestelltenversicherung wird in der Reichsversicherungsordnung nicht 
behandelt; für sie ist das Versicherungsgesetz für Angestellte maßgebend. Da aber 
die Angestelltenversicherung in engster Beziehung zur Invalidenversicherung steht 
und die Vorschriften beider Versicherungen oft übereinstimmen, so erscheint es zweck- 
mäßig, die Darstellung der Angestelltenversicherung an die der Reichsversicherungs- 
ordnung anzuschließen. 

. Auf Grund der Angestelltenversicherung ge alle Angestellten, die nicht mit 
mechanischen und niederen Diensten beschäftigt werden, d.s. in der Hauptsache 
alle die Personen, deren Krankenversicherungspflicht jetzt bei einem Jahresarbeits- 
verdienst von 2700 Mark aufhört, versicherungspflichtig. Zu diesen Personen gehören 
auch angestellte Ärzte. Reichswehrsoldaten und Angehörige der Schutzpolizei können 
nach Antragstellung bei ihrer vorgesetzten Dienststelle für versicherungspflichtig er- 
klärt werden. Voraussetzung für die Versicherung ist außer dem Vorhandensein 
der Berufsfähigkeit eine Beschäftigung als Angestellter gegen Entgelt, ein Jahres- 
arbeitsverdienst bis zu 4000 Mark und die Nichtvollendung des 60. Lebensjahres. Die 
Bestimmung über Versicherungsberechtigung und Versicherungsfreiheit sind denjenigen 
der Invalidenversicherung sehr ähnlich; hervorzuheben ist, daß versicherungsfrei ist, 
wer zu seiner wissenschaftlichen Ausbildung für seinen zukünftigen Beruf gegen 
Entgelt tätig ist. Ob hierunter auch Assistenzärzte an öffentlichen Krankenanstalten 
fallen, ist zurzeit strittig und muß erst endgültig entschieden werden. Die Angestellten- 
versicherung wird durch die Reichsversicherungsanstalt in. Berlin durchgeführt. Die- 
selbe wird von einem Direktorium geleitet, dem ein Verwaltungsrat zur Seite steht, 
und das auch durch Vertrauensmänner, die in jedem Kreise gewählt werden, unter- 
stützt wird. Im Direktorium und im Verwaltungsrat wirken wieder neben Beamten 
gewählte Vertreter der Versicherten und ihrer Arbeitgeber mit. Die Aufsicht über 
das Direktorium übt der Reichsarbeitsminister aus. Die Mittel zur Angestelltenver- 
sicherung werden, je zur Hälfte, von den Versicherten und ihren Arbeitgebern auf- 
gebracht, u. zw. durch Beiträge für jeden Monat der Beschäftigung. Für die Ent- 
richtung der Beiträge gilt dasselbe wie bei der Invalidenversicherung. Der Ver- 
sicherte erhält Ruhegeld (wegen Krankenruhegeld s. Krankenrente bei der Invaliden- 
versicherung), wenn er entweder 65 Jahre alt oder dauernd berufsunfähig ist. Die 
Wartezeit für Erlangung des Ruhegeldes beträgt für männliche Versicherte 120, für 
weibliche 60 Beitragsmonate, wenn 60 Beitragsmonate auf Grund der Versicherungs- 
pflicht nachgewiesen sind, sonst für männliche Versicherte 150 und für weibliche 
Versicherte 90 Beitragsmonate; für Selbstversicherte in allen Fällen 180 Beitrags- 
monate. Die Bestimmungen über die Hinterbliebenenrenten sind denjenigen über 








Die Reichsversicherungsordnung. 571 


dieselben in der Invalidenversicherung sehr ähnlich, aber in der Angestelltenver- 
sicherung erhält auch die nichtinvalide Witwe Witwenrente. Dieselbe fällt bei der 
Wiederverheiratung fort und die Witwe erhält dann als Abfindung den einmaligen 
Betrag ihrer Jahresrente. Die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente beträgt 120 Bei- 
tragsmonate. Auch die Reichsversicherungsanstalt ist zur Einleitung eines Heilver- 
fahrens befugt. Die Leistungen sind bei der Reichsversicherungsanstalt zu beantragen 
und dieselbe stellt die Leistungen fest. Die Rechtsmittel sind dieselben wie bei der 
Invalidenversicherung. Ebenso sind die Bestimmungen über den Verlust des An- 
spruches und das Erlöschen der Anwartschaft den Vorschriften der Invalidenver- 
sicherung nachgebildet. 

Häufig kommt es vor, daß jemand in seinem Leben eine gewisse Zeit in- 
validenversicherungspflichtig und andere Zeiten angestelltenversicherungspflichtig ist. 
Solche Personen bezeichnet man als Wanderversicherte. Bei der Feststellung des 
Betrages einer Invalidenrente oder des Ruhegeldes kommen bei diesen Wander- 
versicherten sowohl die für die Invalidenversicherung als auch für die Angestellten- 
versicherung gültig eingezahlten Beiträge in Anrechnung. 


a 


Die Methode der Angiostomie und die mit Hilfe dieser 
Methode erreichten Resultate‘. 


Von Prof. Dr. E. S. London, Leningrad. 
Mit 4 Abbildungen im Text. 


Die Aufgabe dieses Vortrages ist, die Grundlagen meiner für das Studium 
des intermediären Stoffwechsels dienenden neuen Methode der Angiostomie in 
allgemeinen Umrissen darzulegen und die Resultate der an angiostomierten Hunden 
mit Eiweißstoffen, Kohlenhydraten, Salzen und Wasser ausgeführten ersten Experi- 
mente mitzuteilen. 

Längst — und augenscheinlich unwiderruflich — entschwand die Zeit, da 
aus dem Kopfe eines Gelehrten eine Idee ebenso unerwartet wie Pallas aus dem 
Haupte des Zeus emporzuwachsen pflegte. Alles Neue in der Wissenschaft erscheint 
gegenwärtig als eine aus einem irgendwoher verwehten Korne des Alten auf- 
gegangene Frucht. Solches bezieht sich auch auf die Angiostomie. Die Angiostomie 
ist eine. auf dem kalten, finsteren Norden Rußlands aus einem vom gesegneten, 
saftigen Boden des gewesenen und zukünftigen geistigen Weltcentrums — Deutsch- 
lands — dahin verwehten Keime emporgewachsene Frucht. 

Die Experimentalchirurgie hat ihre komplizierte und lange Geschichte, in 
welcher Heidenhain eine der hervorragendsten Stellungen einnimmt. Er hat in 
die laboratorische Fistelmethodik die Idee eines ganz isolierten Studiums der einzelnen 
Bestandteile des komplizierten Verdauungsapparates eingeführt und entwickelt. Alles, 
was auf diesem Gebiete von den nachfolgenden Gelehrten hier in Deutschland und 
in den anderen Ländern erreicht worden ist, erscheint im Grunde genommen bloß 
als eine Detaillierung, als eine ausführlichere Ausarbeitung der von Heidenhain 
angelegten Grundlagen. 

Nur dank der allseitigen Ausarbeitung der Dauerfistelmethodik für das Studium 
der funktionellen Tätigkeit des Verdauungsapparates hat dieser letztere eine so volle 
und tiefe physiologische Beleuchtung erhalten. Der Verdauungsakt aber ist eigentlich 
sozusagen nur die Vorhalle desjenigen Tempels, in welchem sich die fundamentalen 
physiologischen Sakramente abspielen. Es ist vollkommen augenscheinlich, daß, 
wenn zu diesem Gebiet der intermediären Prozesse eben solch ein Schlüssel wie 
für das Gebiet der Verdauungsprozesse aufgefunden werden könnte, dieses uns die 
Hoffnung einflößen würde, das erste mit derselben Vollkommenheit zu bemeistern, 
mit welcher wir das zweite erobert ‚hatten. Die Methode der Angiostomie bewirbt 
sich um eine Lösung dieses methodologischen Problems. 

Die Idee der Angiostomie ist einfach: die Gefäßröhren so zu fistulieren, wie 
die Darmröhren fistuliert werden; in das Lumen des Oefäßrohres kann man natürlich 
nicht ebenso ungestraft eine permanente Metallkanüle einstellen wie in den Darm. 





1 Vortrag, gehalten in der Berliner medizinischen Gesellschaft am 16. Juli 1924. 


574 E. S. London. 


man zu diesem Zwecke 14—16 Tage warten, zu diesem Termin aber stellte es sich 
heraus, daß in der Mehrzahl der Fälle die Pfortader von der Bauchwand, an welche 
sie angenäht war, bereits fortgegangen ist. Die Bedeutung der ersten Operation, 
welche an und für sich genommen nutzlos und ziellos ist, wird jetzt begreiflich. 
Dank ihrem immunisierenden Effekt vollzieht sich das Zuwachsen der medialen 
Bauchwunde nach der zweiten Operation bedeutend schneller, so daß die Aus- 
führung der dritten Operation schon am 8. bis 9. Tage möglich wird, wo die 
Pfortader noch nicht begonnen hat, von der Fixationsstelle abzutreten. Das Ver- 
fahren selbst eines Anlegens des Kanülchens ist sehr einfach. Ihre Öhrchen werden 
mit Hilfe von Fäden an die Wand der Vene befestigt: ein Öhrchen an ihrer 


Fig. 132. 





Fixationsstelle mit der Bauchwand, wobei jedoch die Pfortaderwand durchgestochen 
wird, das andere aber auf einige Millimeter von diesem Punkte abstehend an der 
Wand der Vene selbst. Damit ist die Sache erledigt (Fig. 132). 

Bei genügender Erfahrung in der Operationstechnik gelingt es in einer und 
derselben Operation beide Verfahren, d. h. Annähen der Pfortaderwand an die Bauch- 
wand und Anlegung der Kanüle, auszuführen. 

Nach der Pfortader folgt die Lebervene. Hier ist es gleichfalls notwendig, das 
Kanülchen an ein an die Bauchwand befestigtes Gefäß anzulegen. Der Unterschied 
besteht darin, daß diese beiden Vorgehen, infolge von topographischen Ursachen 
während ein und derselben Operation ausgeführt werden müssen, weil die Leber- 
vene durch die Masse der Leber hindurch geht, von welcher sie nicht abgetrennt 
werden kann. Damit der Hund solch eine ernste doppelte Operation ertragen könne, 
muß er durch die vorhergegangenen Operationen besonders gut immunisiert sein. 
Sie wird deshalb gewöhnlich auch an einem Hunde nach vorhergegangenen drei 


Die Methode der Angiostomie. 575 


Operationen ausgeführt, nachdem er drei Operationen zur ÄAnlegung der Pfortader- 
kanüle glücklich überstanden hat. Die Operation selbst wird in der Weise ausge- 
führt, daß zur Befestigung der Leber an die Bauchwand zwei Äste der Pfortader 
benutzt werden; die Öhrchen der Kanüle werden entweder an demjenigen Binde- 
gewebestreifen befestigt, welcher die Lebervene mit der Pfortader verbindet oder 
an der Lebervene selbst (Fig. 133). Um die Kanüle an die Milzvene anzulegen, kann 
man auf zweierlei Art verfahren: entweder näht man in ihr Lumen ein Stück der 
Aorta ein und fixiert hierauf eine Kanüle an ihr, oder aber kann man zu diesem 
Zwecke die Mündung der Milzvene auswählen, welche, besonders bei einem großen 
Hunde, einen genügend großen Umfang erreicht. Wiederum ist sowohl in dem einen 
als auch in dem anderen Falle eine vorhergehende operative Immunisation not- 
wendig. 

Auf die Vena pancreatico-duodenalis wird die Kanüle ebenfalls wie auf die 
Pfortader in drei Tempos angelegt, natürlich mit dem Unterschied, daß die Kanüle- 
öhrchen an die Mündung der genannten Vene befestigt werden. 


Fig. 133. 





An der Nierenvene wird die Kanüle am besten in zwei Tempos angelegt: bei 
der ersten Operation wird das Ende des Netzes an diejenige Stelle des Peritoneums 
angenäht, welche der Nierenvene in topographischer Hinsicht entspricht; derjenige 
Abschnitt dieses Netzes, welcher dabei sich auf die Niere legt, wird an dieselbe an 
der Mündungsstelle der Vene angenäht. Ungefähr nach drei Wochen erübrigt nur, 
die Kanüle anzulegen, wobei ein Öhrchen an die Fixationsstelle des Netzes auf der 
Niere, das andere aber an die Nierenvene selbst befestigt wird. 

Sollte es sich um ein Stomosieren der Venae suprarenales oder der Vena spermatica 
handeln, so könnten diese Operationen nach dem Vorbilde derjenigen ausgeführt 
werden, welche für die Vena pancreatico-duodenalis beschrieben wurde, natürlich 
mutatis mutandis. Übrigens müssen gerade diese Operationen noch weiter aus- 
gearbeitet und verbessert werden. Das ist vorläufig alles, was über die Operations- 
technik gesagt werden kann. 

Das Experimentieren mit einem angiostomierten Tier ist sehr einfach. Führen 
Sie dem Hunde entweder per os oder durch die Magen- oder Darmfistel (Fig. 134) 
oder endlich parenteral oder intravenös das dem Studium obliegende Versuchs- 
produkt zu und entnehmen Sie gleichzeitig damit, oder nach verschiedenen Zeit- 
räumen hierauf, das Blut (Fig. 134), um dasselbe zu analysieren! 

Der Blutentnahmeprozeß an und für sich ist ganz schmerzlos, da man zu 
dem Zwecke, um in das Gefäß zu gelangen, nur ein festes narbiges Gewebe zu 


576 E. S. London. 


durchstechen hat. Infolge derselben Ursache tritt nach dem Herausnehmen der Nadel, 
wie dick dieselbe auch sei, auch nicht der geringste Blutstropfen hervor. Infolge 
ebenderselben Ursache wiederum kann man im Verlauf eines z.B. 1'/, Stunden 
dauernden Versuchs aus ein und demselben Gefäß beim Durchstechen ein und der- 
selben Stelle 5 mal Blut entnehmen; augenscheinlich kann man dies auch noch öfters 
ausführen, doch zeigte sich bis jetzt dazu einfach kein Anlaß. ` 

Um mit der Methodologie aufzuräumen, erlaube ich mir zu bemerken, daß 
es sich vorläufig um Hunde mit drei Gefäßkanülchen handelte: der Pfordader, der 
 Nierenvene und der Lebervene. Es liegt kein Grund vor, weshalb man bei solch 
einem Hunde auch nicht noch die 4. und 5. Kanüle anbringen könnte, falls seitens 
der topographischen Verhältnisse keine Hindernisse vorliegen. 


Fig. 1%. 





Es gibt solche neue Methoden, welche, ungeachtet ihrer unbedingten Neuheit, 
ihrer Natur nach nur alte wissenschaftliche Sätze bestätigen können. Hinsichtlich 
der Methode der Angiostomie kann so etwas nicht gesagt werden. Sie beleuchtet 
uns bei vollkommen normalen Verhältnissen solche dunkle Bezirke, zu welchen die 
Experimentalanalyse bei solchen Verhältnissen früher keinen Zutritt hatte. Obgleich 
nicht behauptet werden kann, daß es bei den bei uns in Rußland herrschenden 
äußerst schwierigen Bedingungen der laboratorischen Arbeit uns gelungen wäre, 
bereits einen sehr bedeutenden Nutzen aus dieser Methode zu ziehen, so hat sich 
trotzdem so viel Versuchsmaterial aufgehäuft, daß auf Grund desselben bestimmte 
vorläufige Schlußfolgerungen gezogen werden können, welche sich auf das Schicksal 
der Verdauungsprodukte der Eiweißstoffe, Kohlenhydrate und gleichfalls auf die den 
normalen Verdauungsprozeß begleitenden Fermente, Wasser und Salze beziehen. 

Verweilen wir vor allem bei den Eiweißstoffen. Es gab viele Meinungen 
darüber, was für ein Eiweißabbauprodukt die Reihe der Veränderungen jenseits des 
Darmes eröffnet. Nachdem von Loewi, Abderhalden u.a. festgestellt worden war, 
daß die aus dem Eiweiß gewonnenen freien Aminosäuren den Stoffwechsel ebenso 
gut wie das Eiweiß selbst ausführen, setzte sich die verbreitete Meinung fest, daß 
im intermediären Stoffwechsel als Umtauscheinheit des Eiweißes ausschließlich die 


SEET 


Die Methode der Angiostomie. 577 


freien Aminosäuren dienen, welche auch im Blute selbst von Abderhalden nach- 
gewiesen sind. Direkte Versuche an angiostomierten Hunden bestätigen einerseits 
diese Ansicht, anderseits aber neigen sie uns zu einer komplizierteren Annahme. 
Wenn auf nüchternen Magen bei Hunden im Blutplasma ein bestimmter, 
ziemlich konstanter Gehalt von Aminostickstoff und ein vollständiges oder, vor- 
sichtig ausgedrückt, ein fast vollständiges Fehlen von Polypeptidstickstoff entdeckt 
wird, was auf ein Vorhandensein im Blut von bloß freien Aminosäuren hindeutet, 
so wird nach dem Beginn des Resorptionsprozesses der Eiweißprodukte im Blut 
der Pfortader, der Lebervene und auch im weiteren Kreislauf außer dem Amino- 
stickstoff noch Polypeptidstickstoff entdeckt (M. P. Kalmykow). Dies weist. auf das 
Erscheinen im Blute vom komplizierten peptidartigen Aminosäureverbindungen hin. 
Da im Darmchymus bei der Eiweißverdauung in großer Menge Polypeptide von ver- 
schiedener Kompliziertheit angetroffen werden, so ist das erste, was hier einfallen kann, 
daß sie gerade als solche aus dem Darmlumen, durch die Darmwand in das Pfort- 
aderblut hindurchgehen, welches dieselben direkt durch die Leber hindurchführt, 
von wo sie auf eine gewisse Zeit in das peripherische Gefäßsystem gelangen. Falls 
sich aber dies so einfach verhalten würde, so müßte erwartet werden, daß beim 
Befinden im Darm von Verdauungsprodukten, welche nur allein aus Aminosäuren 
ohne jegliche Beimischung von Polypeptidverbindungen bestehen, im Blute dann 
nur allein Aminostickstoff ohne jede Beimischung von Polypeptidstickstoff erscheinen 
müßte. Der Versuch jedoch stellt etwas anderes fest, u.zw. daß auch in diesem 
Falle das Blut sowohl der Pfortader, der Lebervene als auch der Femoralis und 
Aorta nicht nur an Aminostickstoff, sondern auch an Polypeptidstickstoff sich be- 
reichert, mit demselben relativen Gehalt, wie dies bei dem Befinden im Darm von 
an Polypeptidenverbindungen reichen Verdauungsprodukten stattfindet. Es ist augen- 
scheinlich, daß der Polypeptidstickstoff des Blutes nicht vom Darm herrührt und, 
wollen wir uns vorläufig vorsichtiger ausdrücken, nicht nur vom Darm herrührt, 
sondern intermediären Ursprungs ist. Es muß vielleicht im intermediären Gebiet 
irgend ein Organ aus den einfacheren Aminosäuren kompliziertere Polypeptid- 
verbindungen synthesieren. Einfache Versuche haben dies Organ bloßgelegt — es 
ist die Leber. Wenn man eine vergleichende Analyse des Pfortaderblutes und des 
Blutes der Leber während des Resorptionsprozesses des Eiweißes ausführt — einerlei, 
welcher Art das Eiweiß ist, ein vegetabilisches oder animalisches, genuines oder 
denaturiertes —, so stellt sich heraus, daß der Durchfluß des Blutes durch die 
Leber eine Verarmung desselben an Aminostickstoff unter gleichzeitiger Bereiche- 
rung desselben an Peptidstickstoff nach sich zieht. Besonders grell tritt dies bei 
einer einfacheren Versuchsanordnung hervor. Einem Hunde mit einer Pfortader- 
und Leberfistel wurde im Verlauf von 2 Minuten eine Lösung eines bis auf freie 
Aminosäuren degradierten Fleisches in die Pfortader eingeführt, und gleichzeitig mit 
der Einspritzung wurde aus der Lebervene und der Femoralarterie Blut entnommen. 
Es stellte sich heraus, daß aus der großen Menge des Aminostickstoffs, welche. in 
die Leber eingeführt wurde, nur ein sehr geringer Teil in der Lebervene zurück- 
gefunden wurde, die ganze übrige Masse desselben aber in einen Peptidzustand 
übergangen war. Wohin, läßt sich fragen, verschwinden die sich in der Leber stets 
bildenden und in den allgemeinen Blutstrom eintretenden Polypeptidverbindungen? 
Es ist unzweifelhaft, daß sie sehr bald von den Zellen verschiedener Organe auf- 
genommen werden, weil im entgegengesetzten Falle ein allmähliches starkes Wachsen 
ihres Inhalts im Blute stattfinden würde, was tatsächlich nicht wahrgenommen 
wird. 
Ergebnisse der gesamten Medizin. VI. 37 


578 E. S. London. 


Außerdem wird es infolge einer Neubildung von Polypeptidverbindungen in 
der Leber unterdessen schwierig, den Ursprung des Polypeptidstickstoffs der Pfort- 
adervene aufzuklären: Ist er ein Produkt des Darmabbaues oder des Leberaufbaues? 
Um eine Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen, muß ein Unbekanntes ausge- 
schlossen werden. Bedeutend leichter ist es natürlich, den Darm auszuschließen, 
ohne denselben hierbei irgendwie zu berühren, als die Leber zu entfernen, was 
für lange Zeit unter Beibehaltung normaler Verhältnisse ganz unmöglich ist. Dem- 
selben Hunde, bei welchem das Aminosäuregemisch in die Pfortader eingeführt 
wurde, um das Blut der Lebervene zu analysieren, wurde im Verlauf von 2 Minuten 
eine Lösung eines Peptons Witte in die Jugularvene (10 cm? einer 5% igen Lösung) 
eingeführt und gleichzeitig wurde das Blut aus der Vena portae und der Arteria 
femoralis aufgenommen. Es stellte sich heraus, daß das arterielle Blut, welches eine 
gewisse Menge des eingeführten Polypeptidstickstoffs (55% des zugekommenen N) 
enthielt, in die Pfortader mit einem verminderten Gehalt desselben gelangte!. Dies 
scheint, mit anderen Worten gesagt, zu bedeuten, daß, wenn das Gefäßnetz der 
Leber gewissermaßen sozusagen als Grab für den Aminostickstoff — und wahr- 
scheinlich nicht für einen jeden — erscheint, so erscheint das Gefäßnetz der Villi 
intestinales gewissermaßen als Grab für den Polypeptidstickstoff — und wahrscheinlich 
wiederum nicht für einen jeden. Vorläufig stehen wir im intermediären Stickstoff- 
gebiet an dieser Stelle und dabei noch mit einer gewissen Unsicherheit. Eine ganze 
Menge von aus dem Gesagten entstehenden Fragen, und sogar genauer gesagt, 
ganze Mengen solcher Fragen nehmen ihren Platz in einer Reihenfolge ein, um 
ihre Lösung in verschiedenartigen zukünftigen Versuchen an angiostomierten Hunden 
zu erwarten. | 

Es wäre gar nicht erstaunlich, falls die von uns skizzierte neue physiologische 
Eigenschaft der Leber für die experimentelle und klinische Ausarbeitung einer neuen 
Basis für die funktionelle Diagnostik der Leber sowohl als auch der Darmwand 
als nützlich erscheinen würde. 

Wenden wir uns jetzt den Kohlenhydraten zu! 

Auf Grund von Untersuchungen des Blutes der peripherischen Gefäße ist 
festgestellt worden, daß der Zuckergehalt im Blute nicht als eine unveränderliche 
konstante Größe erscheint. Bei vollkommen normalen Verhältnissen zeigt sie in 
gewissen unbedeutenden Grenzen Schwankungen auf diese oder die andere Seite. 
Außerdem ist bekannt, daß die Schwingungsweite dieser Schwankungen von der 
Quantität und Qualität des in den Organismus eingetretenen Kohlenhydrates abhängt. 
Der Mechanismus dieser Erscheinung aber bleibt einfach deswegen unaufgeklärt, 
weil er in den tiefen Organen verborgen ist, welche direkt und unmittelbar für die 
Forschung nicht zugänglich waren. Die von uns in dieser Richtung unternommenen 
Versuche (N. P. Kotschneff) haben folgende Resultate ergeben. 

Über die Intensität der Resorptionsarbeit des Darmes kann man nach der 
Größe der Zunahme des Zuckergehalts im Blute der Pfortader auf Rechnung seines 
Eintritts aus dem Darm urteilen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wird 
der im Darm bei der Verdauung von Weißbrot sich bildende Zucker am besten 
resorbiert: die Bereicherung des Pfortaderblutes an Zucker aus dem Darm erreicht 
hierbei 160 mg pro 100 cm? Blut. Augenscheinlich erreicht der aus dem Brot zur 
Resorption vorbereitete Zucker im Chymus eine Konzentration von 20%, da die 
durch die Fistel in den Darm eingeführte Glykose eben solch eine Zunahme des 


e 


ı Pro 100 cm? verlor das arterielle Blut während der Passage durch die Villi intestinales 
0:26 mg Polypeptidstickstoff und gleichzeitig gewann es 0:29 mg Aminostickstoff. 


Die Methode der Angiostomie. 579 


Zuckers in der Pfortader gibt, falls die Konzentration der eingeführten Lösung 
20% erreicht. 

Eine andere an Zucker reichhaltige natürliche Nahrung ist die Milch, aus 
welcher die Lactose sehr gut resorbiert wird. Im Verlauf von 1—1'/, Stunden wird 
bereits der ganze Milchzucker resorbiert. Wenn hierbei die Zunahme des Zucker- 
gehalts im Pfortaderblut nicht höher als 60 mg pro 100 cm? steigt, so erklärt sich 
dies höchstwahrscheinlich auf Grund einer verhältnismäßig schwachen Konzentration 
des Zuckers in der Milch (4—5%). 

Um über die Resorbierbarkeit verschiedener Zuckerarten überhaupt zu urteilen, 
müssen dieselben in den Darm in gleicher Konzentration — sagen wir von 5% — 
eingeführt werden, und das Pfortaderblut muß einer Untersuchung nach Verlauf ein 
und desselben Termins nach der Einführung — sagen wir nach einer halben Stunde 
— unterworfen werden. In diesem Falle wird folgendes wahrgenommen: Am besten 
werden die Glykose und die Galaktose resorbiert, welche unter den angegebenen 
Bedingungen eine Zunahme von 50 mg auf 100 cm? ergeben; die Lävulose gibt 
eine 2mal kleinere Zahl (25); die Arabinose gibt eine noch 2mal kleinere Zahl (13). 
So verhält sich die Sache bei den Monosacchariden. Je komplizierter der Zucker ist, 
desto geringer ist seine Resorptionsintensität: die lösbare Stärke z.B. hat eine 21/, mal 
geringere Intensität der Resorption als die Glykose; sie ergibt bei den genannten 
Verhältnissen die Zahl 20. Hier spielt nicht nur die Kompliziertheit der Moleküle 
allein eine Rolle Nehmen wir ein Beispiel. Die Lactose aus der Milch wird, wie 
wir gesehen haben, gut resorbiert, unterdessen aber wird das käufliche Präparat 
der Lactose außerordentlich langsam resorbiert: erst nach einer Stunde nach ihrer 
Einführung in den Darm gelingt es, im Blut der Vena portae eine Zunahme des 
Zuckers von 10 mg auf 100 cm? zu beobachten. Besser verläuft die Resorption der 
Lactose, wenn sie in der Milch aufgelöst wird, obgleich auch in diesem Falle die 
Resorption 2mal schwächer als dann verläuft, wenn die Glykose der Milch beigefügt 
worden ist. 

Wenn wir über die funktionelle Tätigkeit des Darmes nach der Zunahme 
des Zuckers im Arterienblut während seines Passierens durch die Darmwand zu 
der Pfortader urteilen, so können wir über die funktionelle Tätigkeit der Leber nach 
der Abnahme des Zuckers in dem Pfortaderblut bei seinem Durchfluß durch die 
Leber ein Urteil fällen. Es ist klar, daß je intensiver die Leber funktioniert, desto stärker 
von ihr der aus dem Darm resorbierte Zucker zurückgehalten wird. Es stellt sich 
nun heraus, daß die Leber ein ebensolches eklektisches Verhalten den verschiedenen 
Arten des Zuckers gegenüber zeigt, wie beim Darm wahrgenommen wird, jedoch 
nicht in der gleichen Richtung wie bei demselben. Wir haben gesehen, daß der 
Darm am besten die Glykose und die Galaktose resorbiert, sich ihnen gegenüber 
ganz gleich verhaltend. Von der Leber kann solches nicht gesagt werden. Sie hält 
gleichfalls die resorbierte Glykose am besten zurück, indem sie dieselbe aus dem 
Blut vollständig oder fast vollständig extrahiert (bis 90—95 mg pro 100 cm? vom 
Blut); von der Galaktose aber hält sie nur ungefähr die Hälfte zurück, indem sie 
dies den Muskeln zu bearbeiten überläßt. Erst bei großen Mengen der Glykose 
leisten die Muskeln der Leber Beistand. 

Die Lävulose, welche, wie oben gesagt, vom Darm 2mal schwieriger als die 
zwei anderen wichtigen Hexosen der Nahrung aufgenommen wird, wird im Gegen- 
teil von der Leber bedeutend besser als die Galaktose aufgenommen. So wurden von 
ihr von 13 mg auf 100 cm des in die Leber gelangten Blutes 10 mg oder 77%, 
19% mehr als bei der Galaktose, zurückbehalten. 

31° 


580 E. S. London. 


Verschiedene Arten von Zucker werden in verschiedener Proportion vop der 
Leber und den Muskeln zurückgehalten, wo dieselben in Glykogen sich verwandeln. 
Da aber das Glykogen in der Mehrzahl der Gewebe und gleichfalls im Blute vor- 
gefunden wird, so entsteht die Frage, ob das Glykogen in denselben sich aus dem 
Zucker auf dieselbe Weise bildet, wie es sich in der Leber und den Muskeln ent- 
wickelt, oder aber ob es aus diesen letzteren dahin verweht wird, sich daselbst in 
fertigem Zustand ablagernd. Diese Frage kann durch eine vergleichende Analyse 
des Blutes aus verschiedenen Bezirken leicht gelöst werden. Wenn es sich heraus- 
stellen würde, daß das aus der Leber oder den Muskeln abfließende Blut an Gly- ` 
kogen reichhaltiger als das zu solchen Organen hinfließende Blut wäre, so müßte 
man bei der zweiten Möglichkeit stehen bleiben, d bh bei der Hypothese der Ver- 
breitung des Glykogens im Organismus auf dem Wege der Infiltration. Das vor- 
läufig vorhandene Experimentalmaterial (A. J. Charyt) lenkt unsere Meinung gerade 
auf diese Seite, da das an Glykogen am meisten reichhaltige Blut als dasjenige bis 
jetzt erschien, welches von der Leber abfließt. | 

Unsere Forschungen dehnen sich noch auf andere Richtungen aus. Es wurden 
Versuche angestellt (T.S. Abaschydze), um aufzuklären, wie das Wasser und die 
Salze im Organismus resorbiert und verbreitet werden. In dieser Richtung steht noch 
viel zu tun bevor, doch ist bereits jetzt klar, daß das Wasser und die Salze, in welcher 
Menge dieselben sich auch im Verdauungstractus befinden mögen, niemals mit einer 
solchen Intensität resorbiert werden, daß eine übermäßige Überfüllung ihrerseits des 
Gefäßinhaltes stattfinden könnte. Es gab z.B. keinen einzigen Fall, daß das Pfort- 
aderblut vom resorbierten Wasser mehr als auf 1% verdünnt worden wäre Um- 
gekehrt findet es sogar statt, daß ungeachtet der Resorption des Wassers aus dem 
Darm, das Blut im Endresultat an Wasser und gleichfalls auch an Chloriden ärmer 
wird. Dies kann man vielleicht nur dadurch erklären, daß gleichzeitig mit ihrer 
Resorption in das Blut eine verstärkte Ausscheidung derselben aus dem Blute für 
die Bedürfnisse der Verdauungssäfte stattfindet. 

Außerdem war es interessant, das Schicksal der Verdauungsfermente zu ver- 
folgen (M. P. Kalmykow) und ebenfalls der oxydierenden Fermente (N.J.Schochor), 
welche sich manchmal in ziemlich bedeutenden Mengen im Darm ansammeln. Bis 
jetzt war es nicht gelungen, Beweise für die Annahme zu erhalten, daß die Ver- 
dauungsfermente als solche durch die Darmwand hindurch gehen. Es geht bei diesem 
Prozesse mit ihnen etwas vor; was aber gerade stattfindet, können nur nachfolgende 
zukünftige Forschungen beantworten. Mit den oxydierenden Fermenten scheint die 
Sachlage sehr kompliziert zu sein. Überhaupt lassen sich sogar nur auf Grund des 
hier vorgestellten Materials so viele nachfolgende Forschungen voraussehen und sie 
sind so selbstverständlich, daß es an dieser Stelle über dieselben zu sprechen voll- 
kommen überflüssig wäre und man sich folglich auf das Gesagte beschränken kann. 


ERGEBNISSE DER GESAMTEN MEDIZIN 


herausgegeben von 


Professor Dr. TH. BRUGSCH 


Systematische Inhaltsübersicht 


aller in Band I—VI bisher erschienenen Arbeiten 


Systematische Inhaltsübersicht 


aller in Band I—VI bisher erschienenen Arbeiten: 


Innere Medizin: 
A. Infektionskrankheiten (inklusive Serologie): 


Band 
Diphtherie: 2: 0... en e, a et éi ra ae Ze Prof. Dr. H Eckert, Berlin ... I 
Febris quintana (Fünftagefieber) . . . . .. 2220. Prof. Dr. H. Werner, Berlin.. . I 
Fleckfieber: o aonane Sa un ee e R Prof. Dr. H. Hetsch, Frankfurt a.M. I 
Anaphylaxie (Überempfindlichkeit) . . .. .. aa. Geh. Rat Prof. Dr W. Kolle und 
Priv.-Doz. Dr. Hartoch, Frank- 
Aa Meoir een l 
Serumtherapie . `... a Prof. Dr. G. Jochmann, Berlin. . I 
Syphilistherapie e, Geh. Rat Prof. Dr. Blasch ko, Berlin I 
Leucocytose und Infektionskrankheiten . `... Prof. Dr. V. Schilling, Berlin . . IH 
Die bakteriologische und serologische Diagnostik der Infek- 
tionskrankheiten . `, rn nn. Dr. G. Wolff, Charlottenburg . . IV 
Immunbiologie und immunbiologische Methoden in der Dia- 
gnostik, Prophylaxe und Therapie kindlicher Infektions- 
krankheiten e e e Priv.-Doz. Dr. R. Degkwitz, 
München ` eu d Nd V 
Über versteckte Fieberursachen . . . 2 2 2 22220. Dr. W. Wolff, Berlin ...... V 
Syphilis des Kindes . . . 2.2 2 2 2 2 Er rennen Prof. Dr. E. Müller, Berlin. .. . V 
Neuere Syphylistherapie . . . 2222 2 2 nn. Prof. Dr P. Mulzer, München `. . VI 
Tuberkulose: 
Röntgenbehandlung der chirurgischen Tuberkulose . . . . Dr. O. H. Petersen, Kiel .... I 
Sonnenbehandlung . . . 2: 2: 2 2 En nn Dr. W. Leuba, Leysin. ..... I 
Röntgenbehandlung der nichtchirurgischen Tuberkulose 
(Speziell der Lungentuberkulose) . . . . . 2.2... -. Prof. Dr. A.Bacmeister, St. Blasien II 
Heilstättenbehandlung der Lungentuberkulose . . . .... Prof. Dr. A.Bacmeister und Dr. H. 
Rickmann, St. Blasien .... H 
Specifische Tuberkulosebehandlung `... Prof. Dr. H. Gerhartz, Bonn .. H 
Über die Zunahme der Tuberkulose unter der Zivilbevölke- 
rung während des Krieges und über Maßnahmen zu ihrer 
Bekämpfung . .. . 0: & 6 en a e ee Dr. K. Kleeberger, Berlin. .. . H 
Die Tuberkulose des Kindes . ... 2.2.2.2 2220. Prof. Dr. P. Reyher, Berlin ... IH 
Wert und Wirksamkeit der Tuberkuline . ........ Prof. Dr. B. Möllers, Berlin .. . IH 
Juvenile Tuberkuloseformen bei Erwachsenen... .... Dr. J. Hollo, Budapest... ... HI 
Der künstliche Pneumothorax . . . . . 2 2 2 22 22.0. Prof. Dr. O. Bruns und Dr. K. 


Brünecke, Göttingen . .... IH 


lI 


Ikterus haemolyticus (Hämolytische Anämie) .. ..... Geh. Rat Prof. Dr. H.Rosin, Berlin 


Band 
Die tuberkulöse Peritonitis . . .. >: 222220 aa Prof. Dr. E. Neisser, Stettin... III 
Nosologische Bedeutung von „Spitzenkatarrh« bzw. „Hilus- 

Erkranküng® =. NR 22 3 2 see wäre éi A Dozent Dr. L. Hofbauer, Wien V 
Die Tuberkulose des Auges. ....... en... Priv.-Doz. Dr. A.Meesmann, Berlin VI 
Indikationen bei der Behandlung der verschiedenen Formen 

der TuDerkuülosè -ioy 3.8 wu. wa NIE re e Dr. H. Ulrici, Beetz-Sommerfeld . VI 

B. Herz- und Gefäßkrankheiten: 

Dysbasia angiosclerotica und verwandte Zustände. .. .. Geh. Rat Prof. Dr. A. Eulenburg t, 

Berlin sar Ar ër aaa ap I 
Schlafmittel, Sedativa und Herztonica . .. ... 2... Prof. Dr. C. Bachem, Bonn I 
Digitalistherapie . . » 22 2. a ea me: na. Priv.-Doz. Dr. A. Jarisch, Graz II 
Endocarditis lenta . . 2: 2: 2 2 En nn nr. Prof. Dr. E. Leschke, Berlin . . . IV 
Über Herzinsuffizienz . . . : 22mm. Prof. Dr. A. Weber, Nauheim IV 
Die Gefäßsklerosen . . . 2. 22 22200. PEE Prof. Dr. E. Münzer, Prag... . IV 
Die Behandlung der Zirkulationsstörungen mit Kohlensäure- 

EE ENEE Priv.-Doz. Dr. F.M. Grödel, Frank- 

EE e 2 2-58 a we A vV 
Pluriglanduläre Insuffizienz . `, Prof. Dr.L. Borchardt, Königsberg V 
Über „Hypertension“ . 2 2 2 2 2 2m. Dr. K. Fahrenkamp, Stuttgart . . V 
Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei ge- 

störter Schlagfolge . . .. aaa aa’ Dr. K. Fahrenkamp, Stuttgart . . VI 
C. Verdauungsapparat: 

Darmkrankheiten `... Geh. Rat Prof. Dr. I. Boas, Berlin. I 
Das Magencarcinom . . . . oa aa Em nn. Prof. Dr. P. Frangenheim, Köln. I 
Gass 2 en EE E ler San.-Rat Dr. P. Cohnheim, Berlin I 
Über Säuglingsernährung . . . . 2 2 2 nn m nn Prof. Dr. L. F. Meyer, Berlin... I 
Unterernährung `. Prof. Dr. A. Loewy, Davos lI 
Die habituelle chronische Obstipation `. Priv.-Doz. Dr. Hess-Thaysen, 

Kopenhagen . .. aa. lI 
Wesen, Diagnose und Therapie des ulcus ventriculi. . . . Dr. F. Fleischer, Berlin. .... II 
Die Ernährung des Kindes nach dem Säuglingsalter. . . . Prof. Dr. B. Salge f, Bonn ... . H 
Krankenkost . +... » #2. ..& 8 2 2.080 2200 Prof. Dr. Chr. Jürgensen, Kopen- 
hapen =. 2 2:8: 2-04. HI 
Nährstoffmangel und Nährschäden . . . .. 2222 2.. Prof. Dr. H. Aron, Breslau. .. . IH 
Über den Sanduhrmagen `... Prof. Dr. E. Unger, Berlin . II 
Cholecystis und Cholelithiasis . . . . 22: 22220... Prof. Dr. H Boit, Königsberg . . IH 
Die tuberkulöse Peritonitis . . . . . 2 22 2 2 nn. Prof. Dr. E. Neisser, Stettin... . IH 
Die Polyserositis. . A 07 =» 2a. wa De we en Prof. Dr. E. Neisser, Stettin . . . II 
EENG, m Een A a Zo Ze ae erh Sera ne ne Prof. Dr. J. Snapper, Amsterdam . IV 
Ikterus neonatorum `... Prof. Dr. A.YlIpö, Helsingfors . . V 
Der heutige Stand der Gastroskopie ae ee Dr. H. Elsner, Berlin ...... V 
Primäre Cholangititis. . . 222 non Dr. St. Klein, Warschau... . . VI 
Wandlung und Probleme der Ikterusforschung . ..... Prof. Dr. Rosenthal, Breslau VI 

D. Bluterkrankungen: 

Leukämie (Leukocythämie) . . . 2. 2 2 2 2 2 nennen Prof. Dr. O. Naegeli, Zürich I 


I 


Il 


Band 
Über hämorrhagische und pseudohämophile Diathese . . . Prof. Dr. E Frank, Breslau ..‘. II 


Leukocyten, Leukocytose und Infektionskrankheiten . . . . Prof. Dr. V. Schilling, Berlin . . II 
Liquoruntersuchung . . . 2.2 222 22. Prof. Dr. V. Kafka, Hamburg. . . IV 


| Nerven- und Geisteskrankheiten: | 
Paralysebehandlung . . .. .: 2 2222er nen Prof. Dr. A. Pilez, Wien. .... I 


Über akute Psychosen `... Dr. W. Cimbal, Altona :.... I 
Apraxia ara: ande oa He eh re ar al he Er Me re d ie Prof. Dr. H. Liepmann, Berlin. . I 
Die Beurteilung der sog. Unfallneurosen.. . . . ..... Prof. Dr. M.Reichardt, Würzburg II 
Die Neurosen des vegetativen Nervensystems . . .. . . . Dr. K. Dresel, Berlin, Charité . . H 
Die Behandlung der Neuralgien. . . . . ... 2.2 .2.. Dr. W. Alexander, Berlin... . I 
Der Muskelrheumatismus . . . 22 2 2 222 2 2000. Prof. Dr. G. Peritz, Berlin... . I 
Neueres aus dem Hysteriegebiet . . -. . -. 2 2 22.2... Prof. Dr. J. H. Schultz, Jena. . . IV 
Die Bedeutung der psychologischen Untersuchung . . . . Geh. San. Rat Dr. A. Moll, Berlin. IV 
Die Behandlung der Trigeminusneuralgie . ....... Prof. Dr. D. Kulenkampff, 

Zwickau 2.2 5 5 we 2. V 
Die Neurosen des seelischen Kampfes . . . . .. 2... Dr. W. Cimbal, Altona ..... V 
Vegetatives Nervensystem und psychische Störungen . . . Prof. Dr. E. Forster, Berlin ... . VI 
Cyclothymie (Periodisches Irresein). . . . 2.22... Dr. Fr. Mauz, Tübingen . ... . VI 


Chirurgie und Orthopädie: 


Das Magencarcinom . . . 2: 2 2 2 22er Prof. Dr. P. Frangenheim, Köln I 
Wundinfektionsbehandlung . . . . .. 2.22 2 2200. Prof. Dr. O. Kleinschmidt, Berlin II 
Chirurgie der Harnorgane und männlichen Geschlechts- 

ERAN a ee et EE A Prof. Dr. E. Joseph, Berlin... . Il 
Cholecystitis und Cholelithiasis . . . 2 222220. Prof. Dr. Hans Boit, Königsberg . UI 
Die Trigeminusneuralgie und ihre Behandlung . .. .. . Prof. Dr. D. Kulenkampff, 

Zwickau ... 0 ie ni V 

Die operative Behandlung des Trachoms. . . ...... Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Peters, 
l ROStOCK ep e e éier 8 V 

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandlung . . .. . Prof. Dr. P. P. Kranz und Dr. K. 
Falck, München. . ...... VI 

Die Pathogenese und operative Behandlung der Gallenstein- 

krankheit yo: a a er Bee Re ee Prof. Dr. Th. Rovsing, Kopen- 
hagen u: Mr ee '. VI 

Die Behandlung der Phlegmone e, - Prof. Dr. E. Unger und Dr. H. 
Heuß, Beim `, VI 
Die Methode der Angiostomie . . . . 2:2 22 2 2 2... Prof. Dr. ES London, Leningrad . VI 


Frauenkrankheiten und Geburtshilfe: 


Puerperale Pyämie `... Prof. Dr. F. Fromme, Berlin ... I 
Gonorrhöe und Sterilität . . . 2 2: 22m rn Geh. Med.-Rat Prof. Dr. M. Henkel, 
Jena aan Be ee e I 
Placenta praevia . . 2:2: 2 2 rn ae Prof. Dr. R. Freund, Berlin... . H 
Enges Becken: 2.7 2822 224 2 ni wis Prof. Dr. E. Martin, Elberfeld. . . III 


Der Abortus mit Berücksichtigung der violenten Verletzungen 
der Gebärmutter -s ge 2 2.4 2.08 We. Prof. Dr. W.Liepmann, Berlin . . IV 


IV 


a 
Die Röntgentiefentherapie, besonders in der Gynäkologie . Geh. RatProf. Dr. L. Seitz, De u 
a. M., und Prof. Dr. H.W intz, Er- 
langen .. ha‘ IV 
Entstehung und Behandlung der Genitalprolapse . .. . . Geh. Hofrat Prof. Dr. E. Opitz, 
Freiburg ... 8.2 u, IV 
Mastitis 2.4.4 2.5.8 6 So er ch Prof. Dr. O. Schmidt, Bremen . . V 
Extrauterine Gravidität `... Prof. Dr. O. Pankow, Düsseldorf VI 
Entzündungen am weiblichen Genitale mit Ausnahme der 
tee ae er ee Prof. Dr. Fr. Heimann, Breslau. . VI 
Uterusblutungen und ihre Behandlung . . ....... Prof. Dr. P.Polano und Dr Dietl, 
München . .. 2... 22.2.0. VI 
Die Asthenie des Weibes . . . 2 2 2: 2 vr ro nr 2 2. Prof. Dr. W. Hannes, Breslau VI 
Augenkrankheiten: 
Die operative Behandlung des Trachoms . ....... Geh. Med.-Rat. Prof. Dr. A. Peters, 
: Rostock... 2222 22 2.02. V 
Das Schielen und seine Behandlung `, . . .... 2... Priv.-Doz. Dr. W. Comberg und 
Prof. Dr. W. Meisner, Berlin. . VI 
Auge und Tuberkulose... . 2.22 2 2 2 2 2222. Priv.-Doz. Dr.A. Meesmann,Berlin VI 
Hals-, Rachen-, Nasen- und Ohrenkrankheiten: 
Otosklerose . . . 2 2 22 nen Prof. Dr. G. Brühl, Berlin l 
Rachensepsis . >: 2 2 CE Em Reh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Denker 
| und Priv.-Doz. Dr. Th. Nühs- 
mann, Berlin . ... 2.2.2... V 
Asthma bronchiale. . . . a a a aa a rn. Oberarzt Dr. W. Schultz, Berlin- 
Westend . EE EEN V 
Harn- und Öeschlechtsapparat, Hautkrankheiten: 
Das Ekzem `... Prof. Dr. M. Joseph, Berlin... . I 
Syphilistherapie . . so e 2:2 2m En Geh.San.-Rat Prof. Dr. A.Blaschkof, 
Berlint: o amenan E e E I 
Gonorrhöe und Sterilität `... Geh. Rat Prof. Dr. M. Henkel, Jena I 
Chirurgie der Harnorgane und männlichen Geschlechtsorgane Prof. Dr. E. Joseph, Berlin II 
Fortschritte in der Behandlung der Gonorrhöe `, `... Prof. Dr. H. Löhe, Berlin ..... lI 
Trichophytien . 2 2222 Prof. Dr. H.C. Plaut und Priv.-Doz. 
| Dr. A. Lorey, Hamburg ... . Il 
Verlauf und Ausgang der Kriegsnephritis . .. ..... Prof.Dr.C.Lewin, Berlin II 
Fortschritte auf dem GebietderhämatogenenNierenkrankheiten Prof. Dr. Fritz Munk, Berlin HI 
Funktionsprüfung der Nieren . . . . 2.222 2220... "Priv.-Doz. Dr. H Guggenheimer, 
Berlin > 2 2 2 u 0 2. we II 
Die Homosexualität `... Dr. H. Rohleder, Leipzig . . . . IV 
Das Krebsproblem `, . . 22 2: 2 2 En nn nen Prof. Dr. Carl Lewin, Berlin . IV 
Neuere Syphilistherapie. . . . 222 2 2 nen. Prof. Dr. P. Mulzer, München . VI 
Kinderkrankheiten: 
Über Säuglingsernährung e, Prof. Dr. L. F. Meyer, Berlin I 


Die Ernährung des Kindes nach dem Säuglingsalter . . . Prof. Dr. B. Salge tł, Bonn a. Rh. . 


H 


Die Tuberkulose des Kindes `, Prof. Dr. P. Rey her, Berlin . . . Wm 
Ikterus der Neugeborenen `... aa Prof. Dr. A. YlIpö, Helsingfors . . V 
Immunbiologie und immunbiologische Methoden bei akuten 

Infektionskrankheiten im Kindesalter... .... =. . Priv.-Doz. Dr. R. Degkwitz, 

| München ... 2.222.220. V 
Die Syphilis des Kindes . . . 2.222 2 2 2 2 2 2 ne. Prof. Dr. E. Müller, Berlin .... V 
Pharmakologie und Toxikologie: 

Schlafmittel, Sedativa und Herztonica . . . ... 2... Prof. Dr. C. Bachem, Bonn .... I 
Neuere Ergebnisse der Chininforschung . . . ...... Prof. Dr.C.Bachem,Bonn `... . H 
Digitalistherapie . . . > 2 2 Co CE or. Priv.-Doz. Dr. A.Jarisch, Graz . . II 
Neuere Arzneimittel . . . . 2 2:22 onen Prof. Dr. C. Bachem, Bonn. ... V 
Das Caramel in der Diabetestherapie . . . .. 22... Prof. Dr. E Grafe, Rostock . . . V 
Die Wandlung in der Diabetestherapie durch die Ent- 

deckung des Insulins . . . 22 2 2 2 2 rn. Prof. Dr. S. Isaac, Frankfurt . . . V 
Die Grundlagen der Kalkbehandlung . . ........ Priv.-Doz. Dr. G. Zondek, Berlin . V 
Die Narcotica: NR 25.8.0. Dee A Prof. Dr. E. Bürgi, Bern ..... V 
Die Digitalisbehandlung des insuffizienten Herzens bei ge- l 

störter Schlagfolge . . . aoaaa a Dr. K. Fahrenka mp, Stuttgart . . VI 

Strahlentherapie: 

Radiumtherapie . . . 2. 2: 2: CC aa Prof. Dr. Fritz Gudzent, Berlin . I 
Sonnenbehandlung . . . . 2 2 2 2 a Dr. W. Leuba, Leysin. ..... I 


Die Röntgenbehandlung der chirurgischen Tuberkulose . . Dr. O. H. Petersen, Kiel `, l 
Die Röntgenbehandlung der nichtchirurgischen Tuberkulose Prof. Dr.C. Bacmeister, St. Blasien II 


Die Tuberkulose des Kindes . .. 2. 2222200. Prof. Dr. Paul Reyher, Berlin . . III 
Röntgentherapie . . . . aa aaa Dr. J. Rother, Berlin ...... IV 
Der Stand der Röntgentiefentherapie, namentlich in der 
Gynākologie . ër . a aaa gr Ee e Geh. Rat Prof. Dr. L. Seitz, Frank- 
furt a. M., und Prof. Dr. H. Wintz, 
Erlangen `, ... 222220. IV 


Die Röntgenbehandlung der Basedowschen Krankheit. . . Doz. Dr. G. Schwarz, Wien... V 


Allgemeine Pathologie und Therapie. Verschiedenes: 


Grundzüge der Protozoenforschung . . . . . 2.2 .2.2.. Dr. V. Jollos, Berlin. ...... I 
Unterernährung . `... Prof. Dr. A. Loewy, Davos... . H 
Neuere physikalische Heilmethoden . . . . . 2.2.2 2.. Dr. H. Adam, Berlin ...... II 
Proteinkörpertherapie. . . 2... 2 Cm rom rn rn Prof. Dr. R. Schmidt, Prag ... IH 
Krankenkost . 2.4.2 2:4 oa e E e ae yo Prof. Dr. Chr. Jürgensen, Kopen- 
Hagen. u, 2 ar Bone er III 
Nährstoffmangel und Nährschäden . . . . 2.2 2.2.2.0. Prof. Dr. H. Aron, Breslau... . II 
Das Krebsproblem `... Prof. Dr. C. Lewin, Berlin... . IV 
Schwellenreiztherapie . . . >: 2: 2 2 2 nn ren Dr. A. Zimmer, Berlin ..... IV 
Mikromethodik . . 2.2 2: 2 CE En nn rn. Dr. L. Pinkussen, Berlin. ... . IV 
Die Bedeutung der Erblichkeit für die Ätiologie . . . . . Prof. Dr. W. Weitz, Tübingen . . . V 
Lebensversicherungsmedizin. . . . 2: 22 22 20m. Gan, Rat Dr. L. Feilchenfeld, 


Berlin . 2. 2 2 2 2 2 2 2 0 2. V 


VI 


Bang 
Die Stellung des Arztes zu den Lehren von der Arbeits- 

rationalisierung . . . 2 2 ooo Hofrat Prof. Dr. A. Durig, Wien. . V 
Über versteckte Fieberursachen . . . 2 2 22 2 220. Dr. W.Wolff, Berlin. ...... V 

Die sog. Alveolarpyorrhöe und ihre Behandinng Sr, d Prof. Dr. P. P. Kranz und Dr. K. 
Falck, München . ...... VI 
Endokrine Drüsen und die Persönlichkeit `, ...... Oberarzt Dr. A.Josefson, Stockholm VI 
Stoffbewegung, Stoffverteilung und Stoffumsatz . .... Priv.-Doz. Dr.W. Arnoldi, Berlin . VI 

Die Reichsversicherungsordnung . . . . . 2.2 2 2 220. Geh. Gan Rat Prof. Dr. P. Mugdan, 


Berlin . . 2222 2 2 200. „MV 











UNIVERSITY OF MINNESOTA 
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3 1951 002 742 060 W 





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