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Full text of "Erinnerungen aus dem Jahre 1848"

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IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF 
HIS ROYAL HIGHNESS 
PRINCE HENRY OF PRUSSIA 
MARCH SIXTH,IgOR 
ON BEHALP OF HIS MAJESTY 


HB GERMAN EMPEROR. 










Erinnerungen 


Dem Jahre 1548 


ven 


Fanny Lewald. 


Eriter Ban». 


IBIBLIOTHEKR 
W.XKO0PPE 
ALSLEBEN GS 





Braunfhmeig, 


Trud und Verlag von Briedrih Vieweg un Sohn. 


1850. 





An 


Frau Therele von Fützow, 


geb. von Struve, 


Batapvia. 





As Freunde mir im Anfang des vorigen 
Jahres riethen, die Briefe, welde jest gedruckt 
vor mir liegen, zu fammeln, und fie der Deffent- 
lichkeit zu übergeben, weil fie ein allgemeineres 
Intereſſe haben könnten, zögerte ich dies zu thun 
und theilte Dir, meine Thereſe! die Bedenken 
mit, welche fich dagegen in mir regten. Es ſchien 
mir, als müfle eine plaftifh abgerundete Form 
auh für folhe Darftellungen gewählt werben, 
als fei überhaupt fo viel über jenes Jahr aufge⸗ 
zeichnet, daß der Wunſch, noch mehr darüber zu 
bören, nicht lebhaft fein könne. Jene Freunde 
blieben aber, troß biefer Einwendungen, bei ihrer 
Meinung, Du flimmteft ihnen bei, und ich ents 
ſchloß mich endlich zur Herausgabe der Briefe, 





h a Sr 5 aus Curopa 
Gabe der Liebe, als eine Erinnerung an mid) 


Berlin, den 18. Januar 1850. 


Fanny Lemwald. 





Inhalt. 


Reiſe von Oldenburg nach Paris. 


Seite 
. Abreiſe von Oldenburg, Ankunft in Bremen, 
Nachrichten von der Revalution in Paris . 3 
- Bremen. Der Rathöfeller ... . . 8 
. Düffeldorf. Die Malerattelier, Carl Sübner, 


Sheuern, Zidemand . .. . . 21 


. Koͤln. Carneval, der Erzbiſchof von n Geiffel, 


das Manifeft Lamartines — Stadt u. Dom 30 


. Aachen. Blick auf die Stadt, Widerwille des 


Volles gegen Preußen, Reife über Verviers 
nach Brüffel, Zufriedenheit der Belgier mit 
ihrer Regierung - - - 2:20... 82 


Deue 


Brief 6. Brüffel. Die Paffagen, eine Zefuitenprebigt 


in der Kirche St. Gudule, der große Plab 
und das Stadthaus . 


Der März in der franzöfifchen 


Republik. 


Brief 7. Paris. Ankunft, ZBerftörungen durd den 


Kampf, Leben auf den Straßen, Karrilatu: 
ven auf den König, Korrefpondenz der Tönig: 
Iihen Familie. . > 2. 2 2 nn 

Paris. Der Ausbrudh und der Kampf der 
Revolution, Finanznoth, treffliches Verhalten 
des Volkess. 
Paris. Beſuch bei Heine, Omnibusfahrt durch 
die Stadt > 2 on 
Paris. Die Madelaine, die Börfe, Parifer 
Mohnungseinrihtungen, Stimmen aus der 
Menue. 
Parlis. Georg Herwegh und de deutſchen 
Nepublitaner, ſoiaintiſhe Budihandlung, Das 


Jeurnal la vorn des fenimes 


51 


81 


97 


113 


123 





Heife von Oldenburg nach Paris. 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. I. 1 





1. 


Bremen, ben 28. Februar 1848. 


Heute früh habe ich Oldenburg verlaffen und es 
fcheint, als ob ich mit dem erften Schritte aus 
der Meinen, flillen Reſidenz gleich in eine neue 
Welt vol Wunder verfebt werden follte. — Die 
Republik proflamirt in Paris! 

In tieffter Friedensficherheit war ih am Mor: 
gen durch die Straßen von Oldenburg gegangen. 
Wie fill und ruhig gefeftet fab die Welt aus. 
Alle Laden der Beinen, zum Xheil aus rothen 
Badfleinen gebauten Häufer waren geſchloſſen; 


1* 


ein fehlaftrunfener, vierfchrötiger Poftillon zog mit 
vier fchwerfälligen Pferden zur Poft; der Stall 
junge fang ein plattdeutfches Lied. An der 
Hauptwache, dem Schloffe gegenüber, ging zmwi- 
fhen den beiden Kanonen die Schildwache auf 
und nieder. In der Baumallee, auf dem räumi- 
gen Schloßplat Alles ſtill; das wunderliche Schloß, 
mit feinen Anbauen und Thuͤrmchen wie im Mor: 
genfchlafe traumend. Der Frieden ruhiger Ein- 
förmigfeit lag über Oldenburg audgebreitet, und 
ich hatte mich während meines zehnwöchentlichen 
Aufenthalts fo heimifch in diefer Eriftenz gefühlt, 
daß ich mich beinahe fürchtete vor den heftigen 
Aufregungen, vor den gewaltigen Eindrüden, die 
in Paris meiner warteten. 

Auf dem Beinen Dampficiffe, das und die 
Hunte und Weſer entlang nach Bremen führen 
follte, waren nur wenige leute. Der Mond ftand 
noch hoch am Himmel und beleuchtete Den engen 


Hafen, die hollaͤndiſchen Muͤhlen, die niedrigen 





9 


aus Wiefenland beftehenden Ufer der Hunte. 
Trockenes Schilf, melanholiih im Morgenwinde 
ſchwankend, neigte fich zu den Eisfchollen nieder, 
welche vereinzelt umhertrieben. Wir gingen in 
die Kajuͤte hinab, nachdem wir den Zurüdbleiben- 
den die letzten Grüße zugewinft hatten. Waͤh⸗ 
rend der Fahrt bildete Paris faft ausſchließlich 
den Gegenftand unferer Unterhaltung. Das 
Reformbankett, Guizot's flarred Verhalten, Louis 
Philipp's troßgige Sicherheit wurden beſprochen, 
und man nahm als gewiß an, daß die Reform 
durchgehen. die Krone nachgeben werde. Ich er: 
wartete eine bewegte, eine intereffante Zeit in 
Paris. 

&o langten wir in Bremen an. Aber kaum 
batten wir den Fuß aus dem Dampffchiff auf die 
Erde gefegt, als und Doktor Andree mit einem 
Zeitungsblatte in der Hand entgegentrat. »Kouid 
Philipp iſt geflohen! Die Republik ift proflamirt 
in Paris! Und bier, leſen Sie!« Ich nahm das 


Zeitungsblatt und lad unter den Namen der pro- 
viforifchen Regierung: »Albert, ouvrier !« 

Eine neue era beginnt. Was wird fie den 
Franzoſen bringen? Neue Kämpfe? Mord und 
Guillotine? ine kurze Epoche der Freiheit und 
neue Zyrannei? — Sch kann's nicht glauben. 
Mörderifche Kriege, blutige Kämpfe kommen mir 
unmöglich, fommen mir undentbar vor, nachdem 
man die Ideen des Socialismus, der brüderlichen 
Menfchheitövereinigung, im Keben zu verwirklichen 
verſucht hat. Jemand todtſchlagen, weil er nicht 
unferer Meinung ift, oder weil er dieffeitd und 
wir jenfeitd des Sluffes wohnen; weil wir andere 
Sitten, andere Sprache haben, das Alles wäre 
doch zu traurig bei dem jegigen Kulturzuftande. 
Der Krieg gebildeter Volker untereinander ift der 
leßte Meft tbierifcher Robheit und muß verfchwin: 
den von der Erde. Ich glaube an die Menſch— 
heit, an Die Zufunft, an das Beltchen der Re: 


publif. Schoͤne Hoffnungen, glorreiche Erin— 





7 


nerungen Inüpfen ſich an den männlidhen Klang 
diefes Worted. Mehr als je zieht es mich nah 
Paris. Sch möchte fehen, wie ein Volk ſich ein⸗ 
richtet, wie es fich den Staat geftaltet, nachdem 
es fich reif erflärt hat zu freier Selbftbeftimmung. 
Welche Eindrüde ſtehen uns in Paris, dieſem 
ewig Blopfenden Herzen Europas, bevor! 


Bremen, den 29. Februar. 


Es ift ein großer Mangel der Sprachen, daft 
Männer und Frauen fib derfelben Worte zur 
Bezeichnung ihres Gluͤckes bedienen, da doch dies 
Gluͤck felbft fo weſentlich von einander verfchieden 
if. Das babe ich geftern recht im Bremer 





9 


— — — 


unterirdiſchen Kellergemaͤchern Deutſchlands im 
Gedaͤchtniß liebend bewahrt, ſpricht gedankenlos 
dad »uͤberirdiſch gluͤcklich!« nach, ſtatt »unterirdiſch 
glüdlich« zu ſagen. | 

Mein Leben lang hatte ich vom Bremer Raths⸗ 
keller, von den Hamburger Aufternkellern gehört; 
unzäblig oft Hauff8 und Heine's Phantafien an 
den Bremer Rathskeller gelefen und deutlich fan 
den mir Deine’d Worte in der Seele: 


»Ich weinte vor Andacht, und endlich 
Erſchloſſen fi) mir die Pforten bes Heils, 
Wo bie zwölf Apoftel, die heil'gen Stüdfäffer, 
Schweigend preb’gen, und doch fo verftänblid 
Für alle Völker. 

Das find Wänner ! 
Unfdeinbar von außen, in hölzernen Roͤcklein, 
Sind fie von innen fdyöner und [eudhtender, 
Denn all’ die ftolzen Leviten des Tempels. 
Hallelujah! Wie lieblid ummehen mich 
Die Palmen von Beth Ei! 


Wie duften die Myrrhen vom Hebron! 

Wie raufht der Jordan und taumelt vor Freude! — 
Und meine unfterblidhe Seele taumelt, 

Und ich taum’le mit ihr, und taumelnb 

Bringt mich bie Treppe hinauf, an's Tageslicht, 
Der brave Rathekellermeifter von Bremen. 


Da kam ich im lebten December nad) Bre⸗ 
men an einem hellen Sonntage, und durchwan⸗ 
derte in Geſellſchaft lieber Freunde die ſchoͤne, 
aufblühende Stadt, die fi) um den ernften Kern 
der Altftadt in hellen, lichten Straßen außbreitet, 
wie eine blätterreihe Blume um ihren dunfeln 
Kelch. 

Das Rathhaus iſt ein ſchoͤnes Gebaͤude. Ar⸗ 
kaden ſtuͤtzen den erſten Stock, und unter den reich 
verzierten Steinbogen dieſer Arkaden ſteigt man 
die Treppe hinab in die geweihten Hallen des 
Bremer Rathskellers 

Ich hatte die ganzen Zuruͤſtungen mittelaltri— 


ger Poefie in mir zurecht gelegt --- das deutſche 





11 


unterirdifche Mittelalter ftand im Vorgrunde meis 
ner Seele, von den Berfammlungßorten der hei⸗ 
ligen Fehme auf der rotben Erde, bis zu der 
wunderbaren unterirdifhen Synagoge zu Prag. 
Ih ſah hanfeatifhe Handels⸗ und Rathöherren 
in breitfchnabligen Schuhen, im ſchwarzen Ge⸗ 
wande, die goldene Ehrenkette unter der weißen 
Halskrauſe; ich fah den diden Wirth, den Ty⸗ 
rannen und Hofnarren feiner Gäfte; ich fah bie 
„Meifter der Zünfte« verfammelt vor dem Rath⸗ 
baufe, ſchon damals die Kämpfe der Jetztzeit bes 
ginnend? — aber die nüchterne, glattgeweißte 
Drofa der übertündhten Wände machte die bunten 
phantaſtiſchen Bilder verſchwinden. 

Einer unſerer Begleiter, auf deſſen lebensfro⸗ 
hem Gefichte, in deſſen hellen Augen ein ganzes 
ungebrudtes und doch oft in Scene gefehted Werk, 
»über die Kunft fröhlicher Gelage,« zu lefen war, 
ſah gang beflürgt den Ausdrud der Enttäufchung 
in meinen Zügen. 


„Kein Ort auf der Welt fommt diefem gleich!« 
rief er. »Sehen Sie diefe faubern, weißen Wölbun- 
gen! wie dad Sonnenlicht vergnüglich hineinfcheint, 
und fo flimmernd an den Wänden berumfpielt, 
wie der Wein in dem Glafe. Und die heilige 
Stille, die dort in der Dunkelheit der Urgemädyer 
berrfht! — Dt! dort! dort funkelt dad gediegene 
Gold der Begeifterung und quillt in firömendem 
Leben hervor, das trodenfte Hirn befruchtend, daß 
es duftende Bluͤthen der Poefie, ftrahlende Perlen 
des Humors erzeugt. Kellermeifter! Licht! und 
vorwaͤrts in die Urmwelt!« 

Der Kellermeifter hatte unfern Begleiter be: 
grüßt, wie man den Aufgang der Sonne zu be 
grüßen pflegte: mit der freudigen Ruhe der Si— 
cherheit. So gewiß die Sonne allmorgenlidy am 
Horizonte aufgeht, fo gewiß erfcheint alltäglich 
der fröblibe Dofter Dem zartliben Auge des 
KRatbsfellermeifters zu Bremen. 


Außer den braunen Zifchen und Bünfen, Die 





13 





in dem großen Raume für die Trinker hergerichtet 
find, geht ein langer Verſchlag an der Wand hin, 
unter den Fenftern, welche ſich an der Straßenfeite 
befinden. Diefer Verfchlag ift innen fo abgetheilt, 
daß unter jedem Fenfter ein kleines Kämmerchen. 
entfteht. Grüne Vorhänge verhüllen das Fenfter. 
Ein Tifh und zwei Bänke, fo lang ald das Ges 
mad, und feflgenagelt an den Boden bdeflelben, 
ein Klingelzug und die Weinkarte, bilden das 
ganze Ameublement — und die Bänke find hart 
und der Tiſch ift ſchmal, in diefem Trinker⸗Pa⸗ 
radiefe zu Bremen. 


Wir warfen einen flüchtigen Blid hinein und 
fhritten den innern Kellergewölben zu. 


Da lagen die alten Stüdfäffer mit ihren Ems 
blemen, wie die Götter der Unterwelt, in ewigen 
Schweigen. Gelbfladernd ftreifte dad Licht des 
Kellermeifters die Geftalt des Bacchus, der wein 
umkränzt thronte auf dem größten Stüdfaffe, 


umgeben von den zwölf Apofteln und von allen 
Bluͤthen der Rofe von Bremen. 

Sch fah das Alles, ich fah dad mifvergnügte 
Geſicht des Doktor über unfere Gleichgültigkeit, 
ich hörte feine ausgeſprochene Geringfhäsung un⸗ 
ferer weiblihen Einfiht — und flieg, befchämt 
meine mittelaltrigen Traͤume verhüllend in ber 
eigenen Seele, zum Zageslichte hinauf. 

So dadte ich auch geftern nody von dem 
Raͤthskeller, als wir von einem Spaziergange 
auf den Waͤllen heimkehrten. Die feuchte Waͤrme 
des Vorfruͤhlings drang aus der Erde empor und 
fiel im leichten Spruͤhregen durch die Nacht vom 
Himmel hernieder. Weil es fo mild war, moch⸗ 
ten wir nicht nad) Haufe gehen, und fhlenderten 
auf dem Marktplatz auf und nieder, in ernftem 
Gefpräche über die erften Donnerfchläge der Re: 
volution, die eben, von Weften ber, an unfer 
Dhr gedrungen waren. Aus der Borfenhalle, 


aus den Kaffeehäufern und Hotels glanzten belle 


15 


Gasflammen und ließen deutlich die langgeftredte 
Maffe des Domes, inmitten ded Marktes, erkennen. 
Manche Prophezeiung für die Geftaltung der naͤch⸗ 
ften Zukunft ward ausgefprochen, mancher Wunſch, 
manche Hoffnung für die Entwidelung der Menſch⸗ 
beit. Wir waren ernft, faft feierlich geflimmt, wir 
wünfchten ruhig und ungeftört beifammen zu 
bleiben. »Laß uns binabgehen in den Rathöfeller 
und dort noch eine Stunde verweilen,« fchlug mein 
Begleiter mir vor, und ich war ed zufrieden. 
Der Keller war düfter und flil. Die mo⸗ 
derne Aufklärung der taghellen Gasflammen ift 
noch nicht in diefe Räume gedrungen. Der Kels 
lermeifter öffnete und eines der kleinen Gemächer, 
feste Auftern und Rheinwein, zwei Zalglichte auf 
zinnernem Leuchter, eine Lichtfcheere, dies faft 
vergeffene Haudgeräth der Vorzeit, vor und nies 
der, machte die Thüre zu und wir blieben allein. 
Anfangs fchien mir der Raum beengt, es 
war mir, ald fperre man mich ein. Ein großes, 


luftiges Gemach, mit hellen Kerzen, weichen 
Seffeln wäre mir heimifcher gewefen, als dieſe 
hölzernen, in grauer Delfarbe angeftrichenen 
Wände. Bald aber fchien es, ald zeichneten fich 
die Phyfiognomien al der Menfhen auf diefe 
leeren Wände, die hier in fröhlichem Genuffe 
geweilt feit langen Sahren; als ſchwebten Grin- 
nerungen wie Sonnenftäubchen in der Luft; ale 
tanzten alle hier gefprochenen Worte einen klin⸗ 
genden, melodifchen Geifterreigen, der die Leben⸗ 
den anregt zu träumen und zu verflingen wie 
die Dahingegangenen vor ihnen. 

»„Sieh!« fagte mein Begleiter, »hier haben 
wir gefeffen, Immermann, Theodor von Kobbe, 
eine Freundin der Beiden und ih; und in 
fprudelnden Scherzen find die Wibfunten von 
Immermann’d blühenden Lippen geflogen. Noch 
fche ich feine Eräftige, breitbruſtige Geſtalt, wie 
er, mit beiden Ellenbogen auf den Tiſch geſtuͤtzt, 


das Mbeinweinglas in Die Höbe bob und Die 





17 


dunkeln Augen darin verfentend, gleihfam aus 
dem Gefunkel ded Weined die Blibe zog, die er 
wie Goldfäden in die phantaftifchen Bilder feiner 
Rede verwob. Noch höre ich Kobbe's homerifches 
Gelächter; noch fehe ich den liebevollen Blid der 
eblen Frau, der ſchweigend auf den Männern ruhte 
und fihan ihrer Genußfreudigkeit fo mitgenießend 
weidete. Und nun find fie bin! Kobbe liegt 
unter dem mit Rofen, Wein und Epheu umkraͤnz⸗ 
ten Steine auf dem Kirchhofe eines Heinen Städt- 
hend, und auch Immermann dedt das Grab! 
Und doch funkelt hier der Rheinwein noch, doch 
ziehen immer neue Generationen hieher, in dem 
goldenen Becher Freude und Luft zu fuhen.« 

»So laß aud uns bier Luft und Freude fins 
den!“ rief ih aus. »Iſt denn Immermann tobt, 
fo lange Zriftan und Sfolde leben? fo lange ein 
Menſch auf Erden fih an den geographifchen 
Studien ded Riefen, ded ungeſchlachten Schlagas 
bodro erfreut? fo lange der Schulmeifter Agefilaus 


Erinnerungen a. d. Jahre 188. 1. 2 


dad reine I noch nicht ausgeſprochen hat und 
Muͤnchhauſen feine herfulifhen Lügen erzählt? 
Auf Smmermann’d Wohl! und auf die Unfterb: 
lichkeit des Schönen!« 

Wir fließen die Gläfer an und brachen Beide 
in das hellfte Lachen auß. 

»Mie die Macht des Bremer Rathkellers fich 
an einer deutſchen Schriftftellerin bewährt, daß 
fie den erften Zoaft ihred Lebens ausbringen muß, 
vom Geifte getrieben — im Rathöleller zu Bre⸗ 
men!« jubelte mein Freund. 

»Das iſt die gute Gefellfchaft, die man bier 
findet,“ entgegnete ih. »Siehft Du denn nicht, 
daß Heine dort herübertudt und die Geſchichte 
erzählt von dem verregneten Pofeidon der Norbfee 
in feiner weißgelben Slanelljade? und hörft Du 
denn nicht, daß er die ganze Poeſie des Nordens 
verfpottet und nach den heißen Inſpirationen des 
Suͤdens ſich fehnt, wie cin Verbannter nach der 


Luft feiner Heimatb? Ja! der Nordſee-Poſeidon 





19 


ift übel daran! Komm! laß und nah Süpden 
fahren und ihn mitnehmen auf der Fahrt, damit 
er aufthaue und ihm wohl werde in dem blauen 
MWellengeräufel ded Meered, dad den Fuß der 
ſchoͤnen Parthenope fügt und fich liebend um die 
blühenden, feligen Infeln fchmiegt.« 

»$talien und der funtelnde Wein von Gens 
zano!« fagte mein Freund, und leerte fein Glas. 
— »Wie reich ift der Erinnerungsreiche in feiner 
Seele!« fuhr er dann fort. »Da fißt fie ja wieder, 
die fchwarzlodige Rofina und ?okettirt mit Gas⸗ 
yaro und die Töne der füßen Liebeslieder fchwir- 
ren mit den goldenen Leuchtwuͤrmchen durch die 
Weinlaubblätter der Loggia, und von dem Klo: 
ſter an der Billa des Taſſo tönt die Glode der 
Frühmette durdy Sorrent, denn der Morgen ift 
nahe. und fchon erbleichen die Sterne an dem 
lichterwerdenden Silberblau des Himmels. Hörft 
Du wohl die Glode? —« 

Und wirklich ſchlug Glodenfhall an unfer 


Ohr! Wir fuhren empor, ald ob ein Wunder 
fih vorbereite, als ob Mephiſto's Machtgebot 
die Neben des Weinftods aus dem dürren Holze 
hervorgezaubert hätte. 

Ein Glodenfchlag und nod Einer und noch 
Einer! wir horchten in gefpannter Erwartung 
der phantaftifhen Dinge, welche kommen follten: 
es ſchlug profaifdy neun Uhr! vom Rathhaus⸗ 
thurme zu Bremen. — 

Der Rheinwein war zu Ende, die Auftern 
verzehrt; wir kehrten heim nad) dem Hotel, uns 
freuend an unferer »unterirdifchen Freude,« an 
die felbft ich zu glauben gelernt hatte im Rath: 
hauskeller zu Bremen. 





Düffeldorf, 3. März. 


Wir find noch hier, weil die Eifenbahn bei 
Valencienned zerftört ift und die Paffage alfo 
gehemmt. — Düffeldorf ift faft fo ſchweigend als 
Venedig. Es kommt mir felbft im Vergleich 
mit Oldenburg noch auffallend ftil vor. In Ol⸗ 
denburg hört man in den engen Straßen daß 
Klappern ded Handwerkers, das Rollen der Markt⸗ 
wagen, den Schrei fpielender Kind ; hier aber 
liegen die langen, baumbefegten Straßen lautlos 
da. Es ift eine Ruhe, wie ich fie einft in Fulda, 


in Bruchfal, überhaupt in den ehemaligen Eleinen 
Refidenzen geiftlicher Herren gefunden habe. Wie 
ftill muß e8 nun erft in Düffeldorf gewefen fein, 
ehe die Eifenbahnen und Dampffchiffe Leben und 
Bewegung in diefe Gegenden bradten! Man 
begreift, daß dies gerade der Ort war, an dem 
die Jacobi's, die Stollberge, die Gallizin, ſich 
fo fanft mit ihrem mpftifchen Pietismus in's 
blaͤuliche, nebelverſchwommene Jenſeits hinuͤber⸗ 
geſchwaͤchlicht haben. 

Hier in Duͤſſeldorf iſt mir denn auch das 
wunderliche Manifeſt des Bundestages in Bezug 
auf die jetzige Revolution zu Geſicht gekommen. 
Das iſt eines der ſonderbarſten Dokumente, wel: 
ches die Neuzeit beſitzt. Es mahnt mich an das 
Verhalten der alten Frau W., die immer zankte 
und fluchte; aber ſobald ein Gewitter aufzog und 
es donnerte, die Bibel vornahm, ein Kreuz ſchlug 
und ſich zu beſſern gelobte. Waͤre es nicht ſo 


komiſch, man muünte ſich über dieſe Phraſen ars 





23 


gern. Und ed wirb body Deutfche genug geben, 
die daran glauben und darauf Hoffnungen bauen. 
Louis Philipp höre ich täglih von vielen 
Derfonen bedauern. Ich kann ed zu feinem Mits 
leid für ihn bringen, fo erfchütternd ich feinen 
Sturz finde, fo rührend ich mir einzelne Züge 
feiner Flucht zu denken vermag. Ich gönnte ihm 
den Tod, weil es fchredlich feyn muß, ſich zu 
überleben, aber er hat fein Scidfal, die Ber: 
bannung, nur zu fehr verdient. Wer von Frans 
zofen zum Könige der Franzofen erwählt wird, 
der muß nicht König von Frankreich fein wollen, 
und höhere Intereffen haben, als die materielle 
Bereicherung der eigenen Familie. Louis Philipp 
hatte den Regenfhirm und die bürgerlichen Haͤn⸗ 
debrüde von 1830 fo fehr vergeflen, daß er durchs 
aus in einer Citadine Paris verlaffen mußte. 
Neben den großen Ereigniffen, neben der gewals 
tigen Bewegung in Paris, haben die hiefigen 
flilen Künftleratelier etwas Unheimliched und 


Fremdes. Die Kunft ift bei uns, d. h. nicht in 
Deutfchland, fondern in unferer Zeit, fo wenig 
in dad Leben getreten, daß fie für die Meiften 
immer ein abftrafter Begriff bleibt. Sie ift nicht 
aufgegangen in unferm Bewußtfein ald ein noth= 
mendiged Bedingniß unſeres Dafeins, wir find 
fie nicht gewohnt, wie die Harmonie in der Nas 
tur, die und eben, weil wir fie gewohnt find, 
nicht befremdet. Wäre alles, was von Men: 
fhenhand erzeugt wird, von dem Geiſte des 
Schönen durchdrungen, fo würden wir und aud) 
vertrauter zu den großartigften Produkten der 
Kunft verhalten, die um ihrer Koftbarkeit willen 
niht in den Beſitz ded inzelnen übergehen 
fönnen. — Der moderne Monarhismus und 
die ungleiche Gütervertheilung, fo wie der Mans 
gel an öffentlichem Xeben, haben in den Ichten 
Sahrbunderten noch reichlich Dazu beigetrasen, 
Die Kunft aus den Kirchen und von den Maͤrk— 


ten, aus den Volkshallen und andern öffent: 


25 


lihen Gebäuden, in verfchloffene Paläfte und 
Säle zu verfteden, und die Voͤlker haben ficher 
dadurch verloren. Wir müffen nun erwarten, ob 
die neue Republit auch die Kunft, ald allgemei⸗ 
ned Bildungsmittel, dem Wolke mehr zugänglich, 
fie zum Gemeingut auf Straßen und Plaͤtzen 
machen werde, wie ed im Altertbum und in den 
italienifhhen Republiken der Fall’ geweſen ift. 
Wenn ich mich hier, wo die trandcendentale 
chriſtliche Kunft ihre großen Verehrer hat, gegen 
die Abftraktion in der Kunft ausſpreche und es 
recht finde, daß mein Landmann und Freund 
Karl Hübner wenigftend den Verſuch wagt, den 
Inhalt der Jetztzeit in den Bereich feiner Schil⸗ 
derungen zu ziehen, und durch die bildliche Dar⸗ 
ftellung der herrſchenden Webelftände zum Herzen 
und in dad Bewußtſein der Menfchen zu drin- 
gen, fo antwortet man mir: »Die Kunft fann die 
Beitfragen nicht loͤſen« — Aber die bloße chrift: 


liche Liebe und die Madonnenbilder haben ed auch 
2 * 


nicht vermocht bis jest; und ed fommt, fo feheint 
mir, nun darauf an, mit allen Kräften, mit 
allen vereinten Mitteln auf das eine große Ziel 
zu ſteuern. Daß die Kunft ein große Mittel 
fei, wird aber Niemand Iäugnen; fie muß alfo 
mitwirfen, fo viel an ihr ift, für die Sache der 
Freiheit. 

Geftern befurhten wir den Maler Scheuern. 
Er hat ſich in vielfahen, man möchte fagen in 
allen Zweigen der Malerei verfucht, und überall 
mit Erfolg. Ich fah vortreffliche, dichterifch com: 
ponirte Aquarellen, anmuthige Genrebilder und 
fehr fhone Kandfchaften von ihm. Zu den and: 
(haften hat man eigentlich dad reinfte Verhaͤltniß 
in Stimmungen wie bie jegige. Sie wirken be- 
rubigend, wie die Natur; während dad Genre, 
troß feiner oft rührenden Kindlichkeit, Pleinlich 
erfcheint, wenn auf der Erde neue Menſchheits— 
epochen fih beruten. Das große Schidfal des 
einzelnen großen Menfchen verliert fih dann fhon 


27 


in ber Allgemeinheit und erfcheint weniger bedeu⸗ 
tendb, um wie viel mehr die Pleinen Leiden und 
Freuden, welche dad Genre barzuftellen pflegt! 
Wer denkt denn jebt an ein pfeifendes Voͤgel⸗ 
hen, an ein fpielendes Kind, an einen trom⸗ 
melnden Großpapa und an fein Enkelſoͤhnchen! 
Das ausgezeichnetfte Bild, das ich in Düf: 
feldorf gefehen, war von einem Norweger, Ti⸗ 
demand: norwegifhe Sektirer in einer Bauern 
ftube zum Gottesdienft vereint, in die von oben 
das Tageslicht hereinfält. Es find an zwoͤlf 
Figuren, Männer und Weiber jeden Alters, in 
farblofem Nationalcoftüm und mit ſcharf ausge⸗ 
prägtem Nationaltypus in den Phyſiognomien; 
Ale zu gleihem Zweck vereint, Alle abgezogen 
von jedem irdifhen Gedanken, zu tieffter innerer 
Selbftbetradhtung; und gerade darum jene hödhft 
harakteriftifche Verfchiedenheit in den Individua⸗ 
litäten, die einen großen Meifter verkündet. Won 
dem Ausbrud des burchgeifteten, fchwärmerifch 


(hönen Kopfes des aus der Bibel vorlefenden 
Mannes, der auf einem hölzernen Stuhle mitten 
im immer fteht, bis zu der dumpfen Verſun⸗ 
Fenheit eined im Hintergrunde fißenden Juͤng⸗ 
lings, ift faft die ganze Skala menfchlicher Gei⸗ 
ftesentwidelung in religiöfer Beziehung durchlau⸗ 
fen. — Das Bild feffelte mich fehr, rührte mich 
tief. Aber ih möchte wohl einmal von Tide: 
mand, ber ein fehr edles Aeußere bat, glüdliche, 
lebengenießende Menfchen gemalt fehen. 

Die hiefigen Maler, wie fie fih in kirchliche 
und weltliche theilen, bilden auch in der Politik 
zwei Parteien. Die Srommen und die Roman: 
titer halten e8 mit dem Beſtehenden; Lefling, 
Hübner, Scheuern und viele Andere find ergriffen 
vom Geiſte ded Zahrhundertd, und voll freudiger 
Hoffnung auf eine freie Zufunft. Sie batten 
ſich bei den Petitionen betbeiligt, waren bei den 
VBerfammlungen der Liberalen thätig und vor 


Alten forderte der männliche Leffing zu friſchem 





29 


Kortfchritt auf, was ihm von der andern Seite 
verargt wurde. Wird ſich irgendwo bad Erblüs 
ben der Freiheit fegensreich beweifen, fo ift es 
zuerft in ber Kunft, und diejenigen Kuͤnſtler, 
welche überhaupt Leben in fich haben, empfinden 
dies in freudiger Worahnung aud hier. Hübner 
will nad) Paris gehen, um Volkserhebung, Volks⸗ 
bewegung „mit Augen zu fehauen« und fich die 
Seele daran zu erweitern. 


Montag den 6. März find wir Nachmittags 
um 4 Uhr von Düffeldorf abgefahren. Um fünf 
ein halb Uhr waren wir im holländifchen Hofe 
am Rhein. — In den Straßen ein buntes Cars 
nevalöleben, das Volk, leicht beweglidy und frei, 
viel Masten, viel Singen und dadurch italienifche 
Erinnerungen. 

Die Unruhen in Köln müffen nicht eben be: 
beutend gewefen fein, und faum die Grenzen 
eined gewöhnlichen Straßenauflaufs überfchritten 





31 


haben, wenn die Erzählungen wahr find, bie 
man an der Wirthötafel und fonft davon machte. 
— Am Abende fuhren wir zum Erzbifchof von 
Geißel, für den wir dur Th. einen Einführungsds 
brief hatten. Sm Dunkeln langten wir vor feiner 
Wohnung an. Der Plab, auf dem fie liegt, ift 
räumlich und ftill. Ein großer, oͤder aber neugehal: 
tener Palaft. Treppen und Hallen mäßig beleuchtet, 
fil und fauber. Ein Diener ohne Livree leuch⸗ 
tete und mit einem befcheidenen Zalglicht vorauf. 
Der Erzbifhof befand ſich in einem fehr großen, 
boben Studirzimmer; ein Tiſch voll Papieren 
und Büchern fland vor dem Sopha, auf dem er 
bei einer Pleinen Arbeitölampe gelefen haben mußte. 
Ein großes Pult, büreauartig gegen dad Fenſter 
geftellt, nahm einen bedeutenden Theil des Zim⸗ 
merd ein; eine reiche Pelzbede mit Stidereien 
lag davor und WBücherrepofitorien an den Waͤn⸗ 
den vollendeten den Eindrud des Studirzimmers. 

Der Erzbiſchof von Geißel mag gegen fünfzig 


Jahre oder wenig darüber alt fein. Er ift groß 
und von ftattliher Fülle. Sein volles Geficht 
erinnert mit den feinen und fcharfen Formen an 
die Bourbond; der Mund ift Fein, beflimmt in 
ber Form und fehr angenehm in der Bewegung ; 
auch die Bewegung der fchönen Hände durchaus 
edel. Er trug den langen Rod der Monfignori, 
die rothe Sammetkappe, Meine Päffhen, ein 
Kreuz von Gold an fehmwerer goldener Kette um 
den Hals; den Fifcherring am Finger. — Nach 
den erften Begrüßungen famen wir auf die Zeit: 
ereigniffe zu fprehen. Er erzählte von Louis Phi: 
lipp's Flucht, fand es auffallend und hart, daß 
Niemand in Frankreich Sympathien fiir ihn habe; 
glaubte, daß die Republik ſich für’ Erfte halten 
werde, obfchon die Organifation der Arbeit ein 
unloͤsbares Problem fei. Sobald die Geldmittel 
erfchöpft find, muß eine gefaͤhrliche Krifi3 ein: 
treten. Die focialen Elemente find aufgeruttelt, 


find in Gaͤhrung; alles Beftehende in Frage ge: 





33 


ſtellt Die Beruhigung der Zuftände, die Loͤſung 
der Fragen wird nit von Einzelnen ausgehen. 
Ereigniffe wie die Voͤlkerwanderung werden eine 
radiale Ummälzung, eine neue Weltorbnung ers 
zeugen.« 

Die Unterhaltung wendete ſich auf Stalien. 
Herr v. Geißel glaubte nicht an die Lombarden. 
»Napoleon hat gefagt, die Italiener fehen aus 
wie Männer, fprechen wie Weiber, handeln wie 
Kinder.« — Ich wandte die Vorgänge in Pa⸗ 
lermo ein. — »Die Sicilianer find Araber und 
Griechen; es ift Energie und Race in ihnen.« 
Als darauf des Papſtes erwähnt wurde, fagte 
er: »Die Abfichten des Papſtes find vortreffe 
lich. Auf die Frage, ob man fih in Deutſch⸗ 
land wohl zur Vertheidigung ber Legitimität ruͤ⸗ 
ften werde? entgegnete er: „Ich hoffe, daß es 
nicht gefchieht; man wird einer fremden Nation 
die Freiheit laffen, ihre Angelegenheiten felbft zu 
ordnien.« 

Erinnerungen a. d. Jahre 188. 1. 3 


Die ganze Unterredung war gehalten, aber 
ohne jenen Anftrid von Frömmigkeit und Mon: 
arhismus, mit dem unfere proteftantifchen Geift: 
lichen ſich zu überfirniffen pflegen. Herr v. Geißel 
macht den Eindrud eines Kirchenfürften und ift, 
wie die ganze höhere Batholifche Geiftlichkeit, wohl 
zu Haufe auf Erden. Ueberhaupt fcheint mir, 
ald habe der proteftantifche Pietismus, indem er 
Weltverachtung und ausſchließliches Hingeben an 
den Geift predigte, fi felbft den Boden unter 
den Füßen fortgezogen; felbft die Brüde zerftort, 
die ihm den Weg in die Zukunft moͤglich macht. 
Verachtung des Srdifchen ift eine folche Luͤge, 
daß fih darauf nichts Standhaltiges erbauen 
läßt. — Als wir auf die Straße famen, um: 
wogte und im Innern der Stadt das lauteite, 
fröhlichfte Faftnachtätreiben. 

Dienftag den 7. des Morgens. Die Nact 
war es fehr larmend unter meinen Fenftern. Ich 


Hund auf, zu fehen, was es gabe. Dampffchiffe 


35 


lagen vor dem kleinen Landungsplage, auf den 
meine $enfter gingen, und Karnevalögäfte fangen 
und jubelten bei ihrer Abreife von Köln. Es 
gab einen huͤbſchen Anblid, wie fie fih im 
Schneegeftöber bei der unvolllommenen Erleuchs 
tung von einigen Laternen, in Maskentracht nad 
dem Schiff drängten. Der ganze Eindrud von 
Köln war geftern ein füblicher. Hier fieht man 
doch wieder ein geiflig lebhaftes, ein zur Freude 
geneigte Voll. Auch der Anftrich eines Nas 
tionalcoftlümd, wie ed noch in der runten, mit 
Falbeln befegten Haube der Kölnerinnen fich er⸗ 
balten bat, ift anmuthend. Masken gudten mit 
großen Papplorgnond in unfern Wagen, riefen 
und an, nedten und harmlos. Ganz ungehins 
dert bewegten wir und nachher durch dad wirf- 
lidy große Volksgewuͤhl, ald wir zu Fuße einige 
Beſuche in Straßen machten, die wegen des 
Guͤrzenichfeſtes für Wagen gefperrt blieben. Alle 


Laden waren offen und erleuchtet, in allen Bier⸗ 
3 . 


und Weinhäufern großes Gebränge und viele 
Masten, uͤberall tönte Singen und Jauchzen 
durch die offenen Fenſter auf die Straße hinaus. 

Heute nun jubelt dad Wolf noch fort; den⸗ 
noch wollen wir am Nacdmittag nach Aachen, 
morgen von Aachen nach Paris gehen. Jeder 
Tag fern von Paris ift jest ein Verluſt, und 
ed wird immer unmöglicher, Bilder oder deutfche 
Dome zu befehen. Wer kann denn die feige: 
frorene Starrgläubigfeit, die fteingewordene Ver: 
gangenheit betrachten, wenn die Menfchheit ihre 
wichtigften Zhaten in der Gegenwart thut, und 
die Welt fich neu geftaltet. Zudem habe ich per: 
fönlich nie einen Bufammenhang, nie eine Sym⸗ 
pathie gehabt für das fpigbogige, gothifche Mit: 
telalter; und der Unterfchied zwifchen diefem und 
der Antike tritt mir gerade jebt doppelt lebhaft 
ın das Bewußtjein. Man Eonnte mitten in der 
Erregung Diefer Tage römifche und griechifche 
Skulptur und Architektur mit Genuß, mit Erbe: 





37 


% 


bung betrachten; man würde danach rubiger und 
eben darum freier, parteilofer in die Jetztzeit 
bliden; denn es liegt in der fid begrenzenden, 
maßvollen Schönheit der alten Kunft die weife 
Lehre, zus innerer und äußerer Abfchließung durch 
möglichfte Wollendung in fih. Die gothifche, 
emporftrebende Architektur, die eigentlich nirgend 
ein Ende bat, da auf dem fpigeften Spitchen 
des höchften Thurmes immer noch ein höheres, 
ſpitzeres denkbar und möglich ift, hat gerade das 
durch, daß fie nicht in fich abfchließt, fondern 
in den Himmel, in dad Unerreichbare firebt, 
etwas Unruhiges, und all die Zinken und Baden, 
Kreuzchen, Heilige und Thierfratzen fehen doch 
zulegt nur wie feflgefrorene Einfälle aus. 
Später. Auf dem Wege zum Dome kam 
mir der Gedanke, bei dem Bankier Schaafs 
baufen nachzufragen, ob Frau Sibylle Mer: 
tens, jene. befannte deutfche Archäologin, in Köln 
fi. »Sie wohnt bier im Haufe,« war bie 


Antwort. Ad ich fie, die ich in Rom verlaffen, 
bier wieder fah mit ihrem urzgefchnittenen Haar, 
ihrem firengen dunkeln Neglige, hinter Papieren 
an einem foliden XArbeitötifche in ihrem Kölni- 
fhen Vaterhauſe, hatte ich eine wahre Freude. 
Sie lad und Lamartined Manifeft vor, das 
eben angelangt war. Ihr kluges, kantiges, cha⸗ 
raktervolles Geſicht machte mir das Vorleſen zum 
Genuß. 

Das Manifeſt iſt gemaͤßigter, als Franzoſen 
bei aͤhnlichen Anlaͤſſen je geſchrieben haben; es 
traͤgt den Stempel einer neuen Weltordnung, 
einer Aera des Friedens, wie Idealiſten ſie traͤu— 
men; dennoch ſpricht ſich die Markloſigkeit des 
Theoretikers darin aus, der es ſelbſt fuͤhlt, er 
werde feiner Theorie keine Form in der Wirk: 
lichfeit zu geben vermögen. Das Gouvernement 
provisoire fit wie ein Beiliger Paradiesvogel 
auf dem fehwanfen Blatt der Palmbaume des 


—— 


Friedens — und muͤßte wie ein Sonnenadler 





39 


borften auf dem Felögeftein, den Blitz ded Ges. 
niud unter feinen Füßen. Es ift eine Krafi⸗ 
oder Glaubensloſigkeit in dem Manifeſte, die un⸗ 
willkuͤhrlich zu dem Gedanken fuͤhrt, es werden 
eiſerne Faͤuſte dieſen Maͤnnern das Scepter aus 
den Haͤnden nehmen, und vielleicht nehmen muͤſſen. 

Frau Mertens erbot ſich, uns in den Dom 
zu begleiten. »Ich komme, Ihnen die Honneurs 
zu machen, denn der Dom iſt mein Vaterhaus 
und die heiligen Dreikoͤnige ſind meine Vettern, 
wie Miſtreß Jameſon zu behaupten pilegte.« — 
Hier in Köln begriff ich erft ihre große Liebe für 
die Stadt. Gerade am Fuße des Domes liegen vier 
prachtoolle Häufer, in denen fie und ihre Familie 
feit einer Reihe von Jahren gewohnt. Sie ift hier 
geboren und erzogen; alle Bettler, alle Beamten 
und Bauarbeiter im Dome Fannten fie, ald fie 
die Bauhallen Öffnen ließ, und umbherzuführen. 
As fie im ſchwarzen Bobelpelz, einen Kantens - 
fhleier über dem ſchwarzen Hut, die Brille auf: 


gefegt, die Handfchuhe in der Hand, neben uns 
berging, erflärend, geiftvol dad Geringfte auf: 
faffend, überall Leben bringend in den Stein, 
war fie wieder vollfommen die »principessa te- 
desca ,« wie dad Volk fie in Rom nanntı. Und 
fie ift wirflih eine fürftlihe Natur, die unge- 
hemmt durch Kleines, durch Fremdes, in fi 
gefeftet, den eigenen, einfamen Weg geht; von 
Vielen unverftanden, aber fehr geliebt von denen, 
die in ihr reiched Innere zu fehen vermochten; 
durchaus wahr und fich felbft getreu. Um fo in fich, 
fo auf ernfte männliche Studien gewiefen zu werben 
wie fie, muß eine Srau ein großer Charakter fein. 

Wir gingen in ihrer Gefellfchaft durch die 
Stadt. Auf dem Marktplatze bewegte ſich bei 
lachendem, blauem Himmel ein wahrhaft italie= 
nifches Maskenleben. Feſtzuͤge und Gruppen bil: 
Deten Sich mit ſuͤdlichem Ordnertalent und ſuͤd— 
lichem Takte. Frau Mertens machte uns darauf 


aufmerkſam, daß dieſer Marktplatz vollfommen 





al 


die Form der Piazza Navona in Rom habe und 
fiher aud) eine alte Rennbahn gewefen fei. Dies 
bat fie bewogen, vom Magiftrat die Erlaubniß 
zu Nachgrabungen zu fordern, die ihr ertheilt 
worden ift. 

Gegen Mittag langten noch telegraphifche Nach» 
richten an, welche von der vollftändigften Ruhe in 
Parid ſprachen. Wie würde wohl Deutfchland 
nad) ſolchen Erfchütterungen beben! Es ift aber 
mit den Voͤlkern wie mit den Individuen; je 
beffer ihre Erziehung auf der einen, je vollftän- 
diger und fertiger ihre biftorifhe Bildung auf 
der andern Seite ift, um fo leichter wiffen fie 
fih in allen Lebendverhältniffen zurecht zu finden. 
Die Zranzofen, die Italiener find mitten in dies 
fen gewaltfamen Revolutionen ſtets fie felbft, mit 
allen Vorzügen ihrer Bildung, ſtets in ſich gefaßt. 


Der Weg nad) Aachen ift anmuthig, weil 
eine Hügelfette Abwecfelung in die Gegend 
bringt. Der Blid von der Höhe herab auf Aa: 
hen, das mit feinem, aus Thuͤrmen und Kuppeln 
wunderlich zufammengefetten Dome tief im Thale 
liegt , ift fehr freundlih. Die neuen Stadttheile 
find prächtig. Sie erinnern in den Dauptftraßen 
an die fehöne Ruc de la Coraterie in Genf; doch 
fcheinen die älteren Partien der Stadt bevölkers 
ter und find darum intereffanter. Auch in Aachen 





43 


fab man Masken und wir hörten dad Singen 
und die Freudenſchuͤſſe des Garnevalld, mit rohem 
Laͤrme untermifcht,, bis tief in die Nadıt. 

Unfere Wohnung lag dem Bade gegenüber 
Kaum hatten wir den Fuß aus der Thüre gefeht, 
ald wir von Bettlern umgeben waren, die und 
auf unfern Wegen durch die Stadt verfolgten, 
und von allen Seiten Zuwachs erhielten. Das 
gab denn zu dem füblichen Lichtbilde des Carnes 
vals auch die fühlihe Schattenfeite der Armuth, 
und die Naivität der Aachener Spielbankverords 
nung übertrifft in ihrer Unbefangenbeit felbft die 
italienifchen Lottos. Die Spielbank ift ftädtifches 
Eigenthum, die Stadt alfo Banlier ; fein Aache⸗ 
ner Bürger barf fpielen, die Sremden werben ge: 
plündert und der Gewinn der Bank zur Ver: 
fhönerung der Stadt verwendet. . 

In Aachen waren fchon feit einigen Tagen 
lebhafte Unruhen und Straßenaufläufe gewefen, 
bei denen die Fabrikarbeiter eine wefentliche Rolle 


gefpielt haben, und der Haß des Volks gegen Preu: 
Ben grell hervorgetreten fein fol. »Preuß« fei noch 
immer ein Schimpfwort im Volke, behauptete 
man. Erſt in derfelben Woche hatte ein Ange: 
klagter vor Gericht gefagt: »Alled Andere wäre 
noch bingegangen,, aber daß er mich Preuß ges 
fhimpft, das konnte ich nicht auf mir fißen laf- 
fen und da habe ich denn zugefhhlagen.« — Es 
war die Rede geweſen von Zufammenberufung 
der Landwehr am Rhein, von Aushebung in den 
Fabriken. »Wir wollen und lieber von den Frans 
zofen todtichlagen laffen, ald für die Preuß gegen 
die Franzofen fechten,« hatten fie gefagt. 

Die Stimmung in Aachen fdhien viel aufges 
regter ald in Köln; vielleicht täufchte dort aud) 
die Carnevaldlaune über den eigentlichen Grund: 
ton. 

Den 8. Mir; Von Aachen nad Verviers 
führt die Eiſenbahn einen Berg in die Hobe, 


durch fehr lieblibe Gegenden, Die von Verviers 





Be we en 1 


45 


nah Lüttich zu noch fchöner werben. - E& find 
lauter Meine Thaͤler, von mäßig hohen Hügel- 
fetten gebildet und durd die Zunnelthore gleich⸗ 
fam abgefchloffen. Jedes folhe Thal hat eine 
Zabrit an einem Fluͤßchen. Die Fabrikgebaͤude, 
dad Haus des Beſitzers, die Arbeiterwohnungen, 
die Kirhe und die Parkanlagen machen ein für 
fih beftehendes, fehr anmuthiges Ganze. Es ift 
ganz die Gegend und die Art und Weife, wie 
George Sand fie in dem peche de Monsieur 
Antoine befchreibt. Ich mußte mir dabei immer 
denken, daß einmal die ganze Erbe mit folchen, 
in fid felbfi die ganze Exiſtenz einer Gemeine 
umfaflenden Colonien bebaut fein werde, wenn 
die focialen Umgeftaltungen zur Ausführung kom⸗ 
men, die und ald Ideal vorfchweben. Es würde 
died auch der einzige naturgemäße Weg fein, von 
dem Gipfel induftrieller Kultur zur urfprüngs 
lichen Vergeſellſchaftung der Einzelnen in ber 
Gemeine. | 


Diefe FZabritorte haben ihren Arzt, ihre 
Krankenhäufer und könnten leicht zu der Selbft: 
verwaltung herangebildet werden, die ihren ge: 
meinfamen Mittelpunft in einer Gentralverwal- 
tung des Landes hätte. Es liegt ein eigener Zau⸗ 
ber darin, folche Zuftände in ihren Einzelnheiten 
wie in ihrem Zufammenhange mit dem Ganzen 
durchzudenken, und obſchon Paris uns als feftes 
Reifeziel vor Augen ftand, war der Reiz der 
Stille an diefen fchnell ftrömenden Bergwaſſern, 
die von den erften Frühlingäblüthen der Bäume 
überfchattet,, goldig fhaumend im Sonnenlichte 
binraufchten, fo mächtig, daß man es fich ſehnlich 
wünfchen konnte, hier verweilen, hier feinen Wir- 
fungöfreid finden zu dürfen. in Babdeort, 
Chaude fontaine, mochte der fhönfte Punkt die: 
fer lieblihen Gegend fein 

Aber ganz im Gegenfaß zu Diefer friedlichen 
Stille war die Unterhaltung in den Waggons nur 
auf die flürmifchen Greignilfe des Tages, auf Die 


47 


franzöfifche Republik, auf Krieg und Revolutios 
nen gerichtet. An allen Halteplägen wurden die 
Journale !’Independance und l’Observateur Belge 
außgeboten. — Es waren Fabrifanten, Gutöbes 
figer, Kaufleute in unferem Coupe; die Unter: 
haltung franzöfifh. »Man fchlägt fich bereits 
auf allen Punkten in Deutfchland, die Communi⸗ 
ften haben den Kampf begonnen,« fagte der Eine- 
— »Der Communismus iſt weder in Frankreich 
noch in Belgien zu fürchten, er ift nur in Deutfch- 
land gefährlih. Bei und hat man zu yel praf- 
tifhen Verfland, um fi an diefen Chimären die 
Finger zu verbrennen, um an dieſes Utopien zu 
glauben« — »Was ift überhaupt für Belgien zu 
fürchten? Die Republit? Es wäre ein leerer 
Name für und! Was thut der Name? Wir 
find freier in unferer Monardie , als die Franzo⸗ 
fen e8 jemals in ihrer Republif fein koͤnnen. Mei⸗ 
netwegen kann das Gouvernement »Defpotic« bei: 
Ben, und ih will unter einer Defpotie leben, 


wenn ihre SInftitutionen fo frei als die unfern, 
fo frei ald moͤglich ſind — Dad waren bie 
Aeußerungen, welche wir von allen Seiten hör: 
ten. Die größte Zufriedenheit mit der Berfaflung 
leuchtete hervor, und der fichtlihe Wohlſtand des 
vortrefflich angebauten Landes fchien diefe Zufrie- 
denheit vollkommen zu rechtfertigen. 

Man glaubte nit an die Dauer der Repu⸗ 
blit, man belächelte bad Gouvernement provi- 
soire, man fpottete über die Friedensrepublif, wie 
über eine belle fiction poetique de Mess. La- 
martine et Louis Blanc. in Fabritbefiger aus 
dem Norden Sranfreich& fagte: »chez nous dans 
le Nord, ou l'on est tres Henri V.« Er behan: 
delte die Revolution mit volllommener Gering⸗ 
ſchätzung, ald »une folie de gamins et de vaut- 
riens, verflärt und geheiligt durch Männer von 
Genie, weldye aber leider nur Dichter und nidt 
Staatsmaͤnner wären.« — Eden fo leidhtfertig und 


unglaubig ſprach man von der Republif an der 





49 


Table d’'höte des Hötel de Hollande, wo wir 
Abends fünf Uhr dad Ende unferer Zagereife fan- 
den. — Aber was beweift diefer Unglaube? »Die 
Wenigen, die wad davon erkannt, die thoͤricht 
genug ihr volles Herz nit wahrten, hat man 
von je verfegert und verbrannt.« — Es wird aud) 
nicht8 gegen die Republik und ihre vernunftgemäße, 
einflige Nothwendigkeit beweifen, wenn felbft diefer 
neue Verſuch fie in’d Leben zu führen noch an 
der Ungunſt der jehigen Zeit und Verhaͤltniſſe 
fcheitern follte, wa8 ja möglich ifl. Die Albigen- 
fer, die Waldenfer, die Huffiten, und Savonarola, 
und taufend Andere mußten untergehen; hundert 
Berfuche zur Reformation des Katholicidömus ſchei⸗ 
terten, ehe Luther’3 große That möglich und durch 
die Reife der Zeit ausführbar und nachwirkend 
werden Eonnte. 

Unfere religiöfe Ueberzeugung, welche ben 
Gott in dad Individuum fest, muß folgerecht 
au die Selbfibefiimmung, die Selbfiherrfchaft 

Grinnerungen a. d. Jahre 1848. 1 4 


in da& Individuum legen. Sobald man fich reif 
erlärt zur Gmancipation von dem Begriff des 
perfönlichen Gottes, muß man fich aud reif er- 
Hären für die Republik; denn dad Königthum ifl 
nur die politifche Parallele für den perfünlichen Gott, 
die Verwandlung ded Begriffs in ein Symbol. 
Die Belgier wollen ihren König Leopold bes 
halten und fi) gegen jeden Verſuch, ihnen die 
Republik aufzubringen, mit aller Kraft vertheidi⸗ 
gen. Dies ift vollfommen in der Ordnung, da 
fie auch fireng fefthalten am Katholicismus ; es 
fpricht dies aber weder für die conftitutionelle 
Monarchie, noch gegen die Republik, fondern es 
giebt nur den Mapftab für die Volfsbildung in 
Belgien, denn jede Verwaltung ift gut, die dem 
Bildungsgrade der Nation angemeffen if. Die 
höchfte geiftige Entwidelung und fittlihe Bildung 
fordern aber Die Republik, und wenn Frankreich 
jene erlangt bat, wird die Republif beftehen, troß 


aller Epötter und Zweifler. 





Brüffel, 9. Maͤrz. 


Bir machten geftern noch einen Weg durch 
die Stabt und kamen in eine der fogenannten 
»Paflagen«. Es find Durchgaͤnge, Hallen, mit 
Glas überdedt, in denen ſich zu beiden Seiten, 
auf ebener Erde und im Entrefol Laden und Kafs 
feehäufer finden. Solcher Paflagen giebt es auch 
eine in Hamburg, und größere in Mailand und 
Neapel. Im Sanzen find fie unbehaglich; voll 
beftändigen Laͤrms, fehr heiß im Sommer , Balt 
im Winter, und bei naflem Wetter, wo der Fußs 

4* 


boden ſchmutzig und glatt wird, feucht und dumpf. 
Die rechte Heimath der Paffagen foll aber Paris 
fein, und ich bin im Voraus überzeugt, daß ihr 
Dafein dort durch irgend eine Mimatifche Noth- 
wendigfeit bedingt fein wird; denn folche Einrich⸗ 
tungen find faſt niemald Erzeugniffe der Laune, 
fondern Nothwendigkeiten. — Geftern Abend, wo 
ed wie heute unabläffig regnete, war die Paffage 
nicht angenehm, aber doch intereflant durdy die 
große Menge von Bloufenmännern, die hier nad) 
gethaner Arbeit, die Kalkpfeife im Munde, neben 
und mitten unter der vornehmen Welt umber: 
Ipazierten. Diefe Luft an Erholung haben doch 
faft alle Völker mehr als die Norddeutfchen. 
Heute Morgen fuhren wir nad) der Kathe- 
drale, der cglisc de St. Gudule. Es ift ein 
mächtiged® Gebäude mit unvollendeten Thürmen: 
man baut und erneut daran wie an dem Kölner 
Dome Wunderbar bleibt es, daß unfere Zeit 


einen Glaubensenthufiasmus in fich zurüudrufen 





53 


und Kirchen zu Ende bauen will, nachdem vor 
zweihundert Jahren dieſer kirchliche Enthufiad- 
mus bereit8 fo erlofhen war, baß man die Bau⸗ 
ten einftellte, die Kirchen unvollendet ließ. Was 
unfere Voreltern ehrlich und freiwillig als Irr⸗ 
thum erfannten und aufgaben, das nehmen wir 
mit einer innern Lüge wieder auf, und biefe wird 
doppelt ftrafbar, da fo viel wirklicher Noth, fo 
drüdendem Mangel abzuhelfen ift. 

An St. Gudula find treffliche alte und neue 
Glasmalereien, die Kirche ift fchön , edel, einfach, 
die Kanzel ein Meifterwerk der Schnigkunft , faſt 
fo trefflich als die Arbeiten in San Severo in 
Neapel. Adam und Eva mit fämmtlichem Gethier 
find auf der Frontſeite in höchfter einfältiger Voll⸗ 
kommenheit vor dem Sündenfalle dargeftellt. Ich 
hatte aber keine rechte Geduld dafür. Daß es 
die mübfeligfte Arbeit, und obenein eine nicht ſehr 
wirkungsreiche ift, dad hatte ich fchon oft mit 
Bedauern für die alten Arbeiter gefehen, und die 


unfchuldige Einfalt, mit der die parabdiefifchen 
Thiere und Menfchen in gedankenloſer Seligkeit 
in die Welt guden, fleht in zu grellem Contrafte 
mit den Vorgängen des Augenblids, ald daß man 
gerade jest Empfindung dafür haben könnte. 

Es überrafchte mich, die Kirche an einem 
Donnerflage von drei bid vierhundert Perfonen 
aller Stände befucht zu feben. Männer und 
Frauen aus den reihen Volksklaſſen, von gallo= 
nirter Dienerfchaft begleitet, bildeten den größern 
Theil der Berfammlung. Ein Iefuit, Abbe Del- 
cour, predigte. Er fagte zum Anfang: »Wir le: 
ben in einer Zeit der Entwidelung Rund um 
uns ber erflingen die fehönen Worte Bruͤderlich⸗ 
keit und Menfchlichkeit. Wir fühlen die Pflicht, 
dem Mitbruder zu Hülfe kommen, feinem mate: 
riellen Bedurfniß zu gentgen Unſere Zeit, wie 
fie Die Zeit der Menschlichkeit ift, iſt auch die 
Zeit der Wiffenfchaft. Die Wiſſenſchaft breitet 


fih über die ganze Welt aus; fie lernt die Kräfte 





59 


der Natur benußen, fie weiß fi) das magnetifche 
Zluidum, und Meer und Luft und Feuer dienft- 
bar zu machen, um dem materiellen Bebürfniß 
zu genügen. Während wir aber flreben, dieſes 
auf jede mögliche Weife zu befriedigen, während 
wir gut, menfchlid gut zu handeln tradhten, un⸗ 
fern Mitbruder erheben wollen, hört man überall, 
troß dieſes Ringend nach dem Princip des Gu⸗ 
ten, die Klage über Principlofigkeit im Handeln. 
Der Materialitmus, dem genügt werben fol, 
entfittlicht durch die Genußfucht und Unerfättlich« 
keit, welche er in feinem Gefolge führt. Niemals 
fab man größere Inconfequenz im Zühlen und 
Handeln, niemald größeres Schwanfen zwifchen 
Recht und Unrecht, zwiſchen Menichlichkeit und 
Barbarei; niemald hörte man mehr die Klage, 
daß ed an einem Grundprincip, an einem wahr 
ren Vereinigungspuntte mangle, um bie Ueber⸗ 
zeugungen, die Seelenkräfte zu einem harmoni⸗ 
fhen, einftimmigen Wirken zu vereinigen. Es 


fehlt entfchieden an jenem Grundprincip , das die 
Einfichten ded Gebenden und des Empfangenden 
in Verbindung fest und die Kluft zwifchen dies 
fen, wie zwifchen dem geifligen und phnfifchen 
Bedürfniffe, ausgleicht. Dieſes Grundprincip, dad 
Allem entfpricht, Allem genügt, dad in fih, in 
einem Gedanken, die Löfung aller Fragen unb 
Zweifel umfchließt, das ift der Katholicidmud, die 
alleinige, univerfelle Religion.« 

Darauf ging er über zu ber Hoffnung, daß 
ed ihm vom Himmel vergönnt fein werde, dieſe 
Wahrheit feiner Gemeine einleuchtend zu machen, 
und forderte die Zuhörer auf, zu beten um Kraft 
für den Prediger, um Berftändniß für die Ge- 
meine. Während dieſes ſchweigenden Gebetd 
gingen wir davon, weil es gar zu kalt war in 
der Kirche. Indeß wäre ich gern länger geblie— 
ben, Denn der Abbr ſprach dichteriich edel, ohne 
von feinem ungunftigen Dialeft und Organ bes 


bindert zu werden 





97 


Meine Zheilnahme an dem katholiſchen Kle⸗ 
rus ift durch den Biſchof von Geißel und den 
Anfang diefer Predigt wieder lebhaft angeregt 
worden. Hat irgend ein pofitived Dogma den 
Anſpruch, in die Zukunft der Menfchheit mit hin⸗ 
übergenommen zu werden, fo ift e& der Katholis 
cismus, weil er in ftetem und nahem Zufammen: 
hange mit dem irdifhen Bebürfniß geblieben ift, 
weil feine Symbolik weit genug ift, auch neue 
Elemente in die alte Form aufzunehmen, und 
weil diefe an und für fich eine Verflärung bed 
Materialiömus iſt. Die Madonna wird immer 
eine fchöne Seftalt, ein fchönes Bild weiblicher 
Reinheit und jungfräulicher Liebe bleiben, die in 
füßer Unfchuld GBatten= und Mutterliebe in fich 
vereint. 

Von St. Gudula gingen wir abermal& nad 
dem Stadthaufe auf der »grande place,« wo wir 
(don am Abend vorher gemwefen waren. Haus 
und Platz find in ihrer Art fo ſchoͤn, als der 


Palazzo vechhie und die Piazza del Gran’duca in 
Florenz, und wie dort ragt der, auf einer Seite 
des Stabthaufes fich erhebende große Thurm, über 
alle Gebäude ftattli empor. Auf diefem Plage 
wurden im Jahre 1568 auf Alba’ Befehl fünf: 
undzwanzig edle Niederländer, und fpäter, am 
fünften Zuni deffelben Jahres, die Grafen Egmont 
und Horn enthauptet. Die Nacht vor ihrem 
Zode brachten fie in der Maifon du Roi zu. 
Das Volk nennt diefe Maifon du Roi dad Brot: 
haus. Es liegt dem Stadthaufe gegenüber und 
ift in einem eigenthuͤmlichen Style gebaut, der 
Elemente gothifher Bauart mit der Bauart der 
Zopfzeit in fich verbindet. Dennoch ift es von 
großer, fhöner Wirkung. Unter dem Standbilde 
der heiligen Sungfrau, das die Fronte ſchmuͤckt, 
befindet fich folgende, von der Anfantin Sfabella 
Beftimmte Inſchrift: 
A peste. fame er bello hbera nos Maria pacis 


Hoc votum pacıs publiwae Plisabeth eonseeravit 





59 


An den Fenſtern diefes Palaftes fol Alba der 
Hinrichtung Egmont's beigewohnt haben. — Auf 
der linken Seite des Platzes find die Zunfthäufer, 
I'hötel des brasseurs, l’hötel des bateliers 
und andere, mit großen Emblemen geſchmuͤckt; 
fchöne, mittelalterliche Gebäude, welche im Verein 
mit dem Stabthaufe dem Plabe etwas fehr Cha⸗ 
rakteriſtiſches geben. 

Nachdem wir im Rathhauſe noch alte Oude⸗ 
naarder Gobelind und bie filbernen , vergolbeten 
Stadtfchlüffel auf einer fhönen Schaale auß glei: 
hem Metalle betrachtet hatten, fuhren wir in das 
Palais de Zuflice, die Bilder von Gallait und 
de Biefve zu fehen, worüber vielleicht ein anders 
mal. — 

Unterwegs zeigte man und den Heinen Spring- 
brunnen an der Eykstraat, le plus ancien bour- 
geois de Bruxelles, wie das Wolf dad Männs. 
hen nennt, dad einen Beweis für die Naivetät 
der Zeit liefert, auß der e8 flammt. Einer alten 


Sitte nach wird es bei Feften in die Volkstracht 
gefleidet. Es trug 1789 die trifolore Schärpe, 
fpäter Dad Orangeband und feit 1830 die blaue 
Blouſe. Diefe Blouſe ift in ihrer Einfachheit 
doch fehon viel malerifcher und plaftifcher als un⸗ 
fere moderne Kleidung, als Ueberrod und rad. 
Dad fieht man an dem Denkmal des jungen 
Grafen Merode in St. Gudula, der bei dem Frei⸗ 
heitskampfe des Jahres 1830 gefallen iſt. Das 
Denkmal zeigt ihn in der Blouſe, zuſammenbre⸗ 
hend an der Todeswunde und fi) im Fallen auf 
die Linke ſtuͤtzend, während die Rechte noch die 
Piftole abzufeuern verfucht. Der Faltenmwurf der 
kurzen Bloufe macht ſich vortrefflich. 

Durch die regennaffen Scheiben unferes Wa: 
gend erblidten wir den Park vor dem koͤniglichen 
Schloſſe, auf deffen huͤgeligem Zerrain der blutige 
Freiheitskampf Des Jahres 1830 gefochten ward; 
ferner im untern Stadttheile Das große mallive 


Entrepot an Tem Kanale, der nach Antwerven 





61 


und Charlerois geht, und fo breit und fließend ift, 
daß ich ihn für einen Strom hielt. — Seitdem 
bannt ein wahrhafter Platregen und in die Zim⸗ 
mer unferes Hoteld, und ich kann von Brüffel 
nicht8 weiter fagen, ald daß der Regen hier eben 
fo auf dad Asphaltpflafter klaſcht und raffelt als 
in Berlin. Wollte er fi) hier nur genug thun 
und und nicht die morgende Fahrt nach Paris 
und die Ankunft dafelbft verderben! 





Der März in Der franzöfifchen 
Nepublik. 





Paris, 12. März. 
Gonnenfhein nach drei Tagen ſtrömenden Negens. 


Die Fahrt von Brüffel nah Paris ift die 
lIangweiligfle von der Welt. — Die Eifenbahn 
war ganz in der Ordnung, nur: bei Balencienneß, 
wo man die Brüde verbrannt hatte und bie 
Daffage dadurch gehemmt war, wurden wir in 
große Omnibus gepadt und in diefen durch das 
Landflädtchen Meines auf einem kleinen Umwege 
weiter befördert. Da, wo wir wieder zur Ei⸗ 
fenbahn gelangten, war Fein Bahnhof, man hatte 
alfo Bretterfhuppen und Zelte aufgefchlagen, 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. 1. J 


welche für die anlangenden Menfchen: und Ges 
pädmaffen zu Mein, und gegen den ftrömenden 
Regen kein ausreichender Schuß waren. 

Der Charakter der Gegend ift flachfte, gleiche 
förmigfte Ebene. Douay, Amiend, Arras u. f.w. 
bleiben feitwärtd liegen, und außer dem praͤchti⸗ 
gen Bahnhofe in Amiens, in dem man in einem 
von oben erleuchteten, fürftlih eingerichteten 
Speifefaale eine vortrefflihe Mittagsmahlzeit 
halt, ift von der ganzen Fahrt weiter nichtö zu 
bemerken. 

Der Bahnhof in Paris iſt uͤberraſchend groß, 
obſchon man große Maßſtaͤbe mitbringt und Gro⸗ 
ßes erwartet, die Ordnung muſterhaft. Statt 
daß man bei uns in wilder Haſt in die Gepaͤck⸗ 
kammern gedraͤngt wird, und nun Hals uͤber 
Kopf nach dem Seinigen greifen ſoll, verwirrt 
gemacht durch das Wuͤhlen, Suchen, Schreien 
der andern Paſſagiere und der Beamten und 


Packtraͤger, bleiben hier die ankommenden Frem— 





67 


den ganz ruhig in einer Salle d’attenie. Waͤh⸗ 
rend deffen fuchen die Beamten die Padftüde 
nad) den Nummern aus, orbnen dad Zufammen= 
gehörende nebeneinander auf den großen Tiſchen, 
die längs allen Wänden bed Gepädgebäudes ſte⸗ 
ben, und erft wenn dies beforgt ift, läßt man bie 
Fremden herein und händigt ihnen gegen den 
Packſchein ihr Eigenthum aus. Unfere neun 
Collie, die wir fonft überall mit Mühe und Noth 
zufammengerafft, hat man uns hier zierlich wie 
eine Geburtötagdbelcherung aufgebaut. 

Vor allen Dingen will ih Dir nun in Eile 
den Eindrud befchreiben, den Parid in diefen 
anderthalb Zagen in Bezug ber neueflen Vor⸗ 
gänge auf mich gemacht hat. — Won der Größe 
der Stadt, von ihrer Pracht und Schönheit kann 
ih noch Peine mich überrafchende Vorſtellung 
baben. Die Boulevarb&, fo weit ich fie gefehen, 
die innere Stabt, der Börfenplag, der Vendome⸗ 
plag mit dem Standbilde Napoleon’8 auf der 


Säule, der Concordeplatz find fehr bebeutend, 
fehr volfreih, voll glänzender Magazine und 
prächtiger Gebäude. Indeß Rom und Neapel 
find aud) fo großartig, daß der aͤußere Eindrud 
irgend einer Stadt, wie man ihn in den erften 
Tagen empfängt, nicht mehr wefentlich überra- 
fhen kann, nachdem man jene Orte gefehen hat. 
Zudem fchabete wohl das fchlechte Wetter der 
Phyfiognomie der Stadt. 

Die Zerflörungen durch die legte Revolution 
find überall fihtbar. An den Straßeneden find 
die Pflafterfteine erft lofe hingelegt, nicht einge: 
rammt; zerbrochene Brotwagen und umgeflürzte 
Omnibus bezeichnen hie und da die gemwefenen 
Barrifaden. An einer Kirche ift dad aus Eifen- 
ftäben beftebende Gitter bis auf einige Fuß 
abgerifien, die allein noch zeigen, Daß bier ein 
Gitter war. Im Valais ronal oder Palais 
national, wie cs jebt laut der Ueberfchrift heißt 


find alle Scheiben, viele Kenfterrabmen und 





69 


Geruͤſte zerbrochen; dad Wachhaus — Chateau 
d’eau — gegenüber dem Palais royal, in dem 
die Garden verbrannten, liegt in rauchgeſchwaͤrz⸗ 
ten Truͤmmern; andere Wachhaͤuſer in der Naͤhe 
der Seine ſind bis auf das Fundament abge⸗ 
brochen, und Nationalgarden halten in ihrer Naͤhe 
Wache, vor der erſten beſten Boutike ſitzend, die 
als Wachſtube dient. Auf den Boulevards ſind 
die Baͤume umgehauen, die Brunnenroͤhren und 
Saͤulen niedergeriſſen. In den Tuilerien flattern 
zerfezte weiße Vorhaͤnge aus den ſcheibenloſen 
Fenſtern; uͤber allen Thuͤren, an den Mauern 
des Schloſſes lieſt man mit Kreide oder Kohle 
angefchrieben: »Höpital des Invalides civiles.« 
An den Theatern, über den Portalen der Kirchen, 
auf allen dffentlichen Gebäuden flattert die Tri⸗ 
kolore lebensmuthig in der Luft über der Infchrift: 
liberte, fraternite, egaliie. Sie haben bie 
Worte bingefchrieben, wo fie Raum fanden, als 
wollten fie fich befländig erinnern, daß biefelben 





ſous, amis, qui loin des batailles 
Succombons dans lobscurite. 
Vouons au moins nos funerailles 
A la France et sa liberte. 
Mourir pour la patrie, 


C'est le sort le plus beau. le plus digne d’envie. 





71 


Die Melodie if fehr fchön, von faft eben fo ers 
greifendem Rhythmus ald die Marfeillaife. 

Die Arbeiter haben noch ein anderes Lied, 
deflen Refrain: »vive la republiquel« geflern in 
der Nacht mich oft aus dem Schlafe wedte. Und 
diefe Melodien werben fo unabläffig gefungen, 
daß man fie zu bören glaubt, wenn aud Alles 
Kin iſt. — 

Riefige Anfchlagzettel kleben an allen Eden, 
Brunnen und Gebäuden; die Ordonnanzen und 
Plakate der Regierung find auf weißem, alle ans 
dern auf farbigem Papiere gebrudt. Geſtern 
war ein Dekret angefchlagen, das die Arbeitszeit 
auf zehn Stunden beflimmte, ein anderes, daß 
die Brotpreife regelte, mir aber unverſtaͤndlich 
war, weil ih dad Maß nicht kenne. Indeß fo 
viel habe ich erfragt, daß die Lebensmittel unver- 
hältnißmäßig theurer find als bei uns. 

Man fagt mir, Paris fei tobt, die Straßen 
fehr öde in diefem Augenblid, und allerdings iſt 


die Zahl der Equipagen verhältnigmäßig wohl 
gering, aber dad Leben in den Straßen, auf den 
Boulevards ift doc uͤberraſchend. Das ganze 
Volk ift darauf eingerichtet, fi) und zu geben, 
feine Meinungsäußerungen nicht zurüdzubalten. 
Vive la republique! ſchreien ſchon achtjährige 
Knaben mit derfelben Energie wie die Erwach⸗ 
fenen, und diefer Ruf hat eine ganz beflimmte 
Zonfcala. Bei den drei erften Syiben des Wors 
tes Republique fleigt der Ton wachfend und 
finft dann herab bei der lebten Sylbe. Mand): 
mal wenn man ein fchallendes, kräftiges »vive la 
republique!« ertönen hört und dann fünf, ſechs 
fleine Jungen erfcheinen, die ed ausgerufen ha- 
ben, traut man feinen Sinnen nidht, lernt aber 
begreifen, wie fehr dad politifhe Clement das 
Volk durchdrungen haben muß, wenn e3 fi bis 
in Die Spiele der Kinder gedrängt hat 

So wie man fib auf der Straße befindet, 


wird man von Zeitungsausrufern, Männern, 





73 


Weibern und Kindern umbrängt. »La Presse! 
la Presse! Journal du soir! seconde £dition! 
— :Le Moniteur du soir, Monsieur! achetez 
le moniteur du soir, Monsieur! — Voila quel- 
que chose qui vous regarde, Mesdames! la 
voix des femmes! achetez la voix des fem- 


mes, Mesdames! — Achetez la Presse, Mes- 
sieurs! — La Libert6! La Libert& pour un 
sou, Monsieur! — La Republique! la vraie 


Republique! — Les sceleratesses du scelerat 
Louis Philippe et de ses sc&lerats de ministres! 
— Le Chant de la libert&! — La voix du Peuple!« 
— fo ruft, ſchwirrt, lärmt es durcheinander. 
Zeitungsblätter, Veilhenbuuquets, Phosphorhoͤl⸗ 
zer, Statuetten, werben dem Voruͤbergehenden 
faft in die Hand gebrüdt, aber eigentlich belaͤ⸗ 
figt wird man nicht. Sie willen die rechte 
Linie zu treffen und fcheinen fie nicht zu über- 
fchreiten. 

Karrikaturen auf Louis Philipp fiebt man an 

5% 


74 


allen Ecken. Eine in Terracotta zeigt ihn als 
blinden Bettler. Er ſitzt an der Erde, den Re— 
genſchirm neben fi, von einem Hunde bewacht 
und die Hand mit dem runden Hute den Vor— 
übergehenden entgegenftredend. Darunter ftehen 
die Worte: »Faitez moi laumöne d’un petit 
tröne, sil vous plalt, Messieursl« — Eine An ⸗ 
dere ftellt ihn dar, wie er ſich, mit einem Päd- 
hen unter dem Arm, in bie Thuͤre eines fehr 
engen Fiakers drängt, mit der Unterfehrift: »A 
I'heure, cocher, et non & la course, car jirai 
loin!« 

Wir haben in diefen Zagen eine Menge Leute 
geſprochen, aber nirgends eine ſympathiſche Aeu— 
Berung für Louis Philipp gehört. Sein Geiz, 
diefe niebrigfte, dieſe elendefte Leidenfchaft, 
bat ihn allgemein veraͤchtlich gemadit; und 
wahr iſt es, wie einft die Sittenlofigkeit der 
Bourbons das Volk demoralifirte durch ſchlech— 
tes Beifpiel, fo bat ber Geiz Louis Philipp's 





75 


die Sranzofen habfüchtig gemacht und, ihr Ehr⸗ 
gefühl, ihr Mechtögefühl untergrabend, fie bis 
zur Käuflichkeit herabſinken laſſen. Xroß ber 
Verdbammung Louis Philipp's, wird jeboch ſtets 
ein Iebhaftes Bedauern für die Prinzen Soinvile, 
Montpenfier und Aumale, beſonders aber für 
Joinville ausgeſprochen, der fehr beliebt zu fein 
ſcheint. 

In Bezug auf Joinville haben wir geſtern 
Abend intereſſante Papiere in Haͤnden gehabt, 
die Korreſpondenz ſeines Lehrers mit dem Koͤnige, 
damaligem Herzog von Orleans, als es ſich da⸗ 
rum handelte, den eilfjaͤhrigen Knaben einem 
Golege zur weiteren Ausbildung zu übergeben. 
Mit echt pädagogifchem Unverftande verfennt der 
Gouverneur die Harmlofigkeit und Freimuͤthig⸗ 
keit diefed Knabencharakters. Er fchildert ihn 
als einen trägen, zum Lernen gar nicht zu bewe⸗ 
genden Knaben. »Sein Hang zum Niebrigen,« 
beißt es in den Driginalbriefen, »feine Luft an 


bummen Streichen werden ihn gleich zum Mit- 
telpunft für alle Zaugenichtfe der Klaffe maden; 
er wird diefe mit dem Inſtinkt feiner Anlagen 
augenblidlich herausfinden, ſich ihnen anfchließen 
und von ihnen alle Fehler annehmen, die ihm 
noch abgehen. Was für einen andern Prinzen 
rathfam wäre, was ſich für die Herzöge von 
Chartres und Nemourd als vortrefflich bewährt, 
fie mit andern Rünglingen gemeinfam zu erziehen, 
das würde bei dem maßlofen Keichtfinn, bei den 
übeln Anlagen und dem Trotze diefed Knaben, 
die übelften Folgen haben und Em. koͤniglichen 
Hoheit den bitterften Verdruß zuziehen, den der 
Herzog von Soinville Ihnen auch ohnedied nicht 
erfparen wird.« 

In diefem Zone, der mitunter an eine fo 
robe Frechheit flreift, wie fein Dorffchulmeifter 
fic gegen feinen Amtmann ſich erlauben würde, 
geben dieſer und cin paar andere Briefe gleichen 
Inhalts fort, fo daß man das tieffte Mitleid mit 





77 


dem unglüdlihen Fuͤrſtenkinde empfindet, deffen 
fröhliche Jugend in die Hände eines fo lieblofen, 
fo unverfländigen Mannes gegeben war. Gluͤckli⸗ 
cherweife ift die gefunde Menfchennatur fchwer zu 
verderben, wie man an Soinville fieht. 


Diefe Briefe, nebft noch fechzig oder fiebenzig 
andern vom König und der koͤniglichen Familie, 
befanden fih im Beſitze eines unferer Bekann⸗ 
ten, der fie am Zage des Sturmes der Tuile⸗ 
rien auf dem Hofe zufammengerafft hatte. Das 
Volt war in ein Kabinet gedrungen, in dem die 
Privatlorrefpondenz der koͤniglichen Familie in 
lederne Koffer verpadt fland. Alle dieſe Koffer 
wurden aufgerifien, die Papiere auf den Fuß⸗ 
boden und durch die Fenfter auf die Straße ges 
worfen, wo Jeder davon nahm, was ihm gerade 
in die Hände fiel. 


Unter den Blättern, die ich geſehen habe, bes 
fand ſich manches Intereſſante; fo z. B. ein Ent⸗ 


wurf ded Königs zu einer Einladung Guizot's. 
Das Billet war mit höchfter Ueberlegung ge: 
fhrieben und immerfort geändert, um die rechte 
Form für die Aufforderung zu finden, bei der ed 
ſich um eine Verftändigung nad) einer Spannung 
zu handeln fhien. Die Worte: »je vous prie, je 
vous invile,« waren ausgeftrichen, und endlich die 
Redensart: „je vous engage de vous rendre 
chez moi« ftehen geblieben. — Ferner fah ich ei: 
nige fehr bedeutende Briefe des Königs Leopold 
von Belgien in Betreff der griechifchen Frage; 
dann aus neuerer Zeit dringende Bitten Soin: 
ville’3 und der beiden jüngeren Prinzen an den 
Herzog von Nemourd und an die Königin, den 
König zum Nachgeben bei einer freifinnigen Maß: 
regel zu bewegen. In einem Blatte fchreibt Ne: 
mours: »le ror devient de plus en plus entete; 
impossible de Je fare Nechir! Ferner fanden 
fih Briefe der Königin der Belgier, welche im 


Auftrage ihres Mannes, der zur Jagd gefahren 


79 


war, dem Könige Mittheilungen über Verbands 
lungen in London madhte. 

Sehr ausführlic) war ein Tagebuch bed Hers 
3098 und der Herzogin von Nemours, geführt 
bei ihrer erften Reife durch Frankreich. Die 
junge Fürftin erfcheint darin ald höchlich erfreut 
über all die Ehrenbezeugungen, die ihr zu Theil 
werden. Trotz der Ermübung, über melde 
ihr Mann für fie klagt, wird jedes Blumenftrau- 
bes, jeder Rede mit Wohlgefallen erwähnt, und 
ale diefe Sewohnbeitsfachen als Zeichen urfprüngs 
licher, befonderer Zheilnahme bingeftellt und ges 
noffen. 

Das Familienleben der Orleaniden muß nad) 
diefen Briefen eine der innigften und ebelften 
gewefen fein. Durchweg, felbft da, wo bie 
Söhne den Vater in Briefen an einander tabeln, 
fpricht fih die größte Anhänglichkeit aus. Aus 
der Zeit einer Entbindung der Königin der Bel: 
gier finden fich faft von jedem Tage Bettelchen 


des Königd, in denen er nad) der Tochter fragt, 
und Briefe der Königin, in denen fie gute Rath⸗ 
fhläge giebt. Die Anrede in den Briefen der 
Prinzen ift fehr oft ein ſcherzendes: »chere et 
bonne Majeste!« — oder auch »dites a la chere 
Majeste « 

Sehr komiſch waren ein paar Briefe der 
Königin von Portugal an die Prinzeffin Cle⸗ 
mentine, für welche die Erftere fehr große Kiebe 
an den Tag legt. Die Hauptgegenflände bilden 
Zahnfrankheiten der Kinder, Toilettenangelegen⸗ 
heiten, Befprechungen Dümas’fcher Romane, und 
mitten darin die Frage: »demande a ton pere 
ce qu'il pense des arrangemenis à Londres et 
ce quiil faut faire?« Gleich darauf wird dann 
ein Hofmann oder ein Künftler empfohlen, mit 
den Worten: »un homme parfaitement honnete, 
mas une enorme bete! 

Die koͤnigliche Familie bat nichts gerettet; 
alle Samilienporträts, all die taufend Kleinigkeis 


81 


ten, die und wertb find ald Andenken, ober werth 
geworden durch längeren Gebrauh, hat man 
bei der ganz unerwarteten Flucht zurüdgelaffen. 
Man fühlt das tieffte Bedauern über das Loos 
diefer jungen Männer und Frauen, welche der 
Ehrgeiz und die Starrheit ihres Vaters von dem 
böchften Gipfel der Macht binabgeftürgt haben, 
in alle Schmerzen der Verbannung, der Entbeh⸗ 
rung. 

Und damit fei denn der erfte Brief aus Pas 
rid beendet. Zum Scluffe nur die Verſiche⸗ 
rung, daß bier für die Ruhe der Fremden nicht 
dad Geringfte zu fürchten ift, und daß wir fehr 
zufrieden find, hergegangen zu fein, um das 
größte Ereigniß der Zeit an dem Orte fennen 
zu lernen, wo e8 zum Ausbruche fam, wo es 
begann; denn dies kann nur der Anfang fein je 
ner focialen Revolution, die uns feit Jahren ale 
unabweißlihde Nothwendigkeit vor dem innern 
Auge fland, und die wir herbeifehnten, wie man 

Grinnerungen.a. d. Jahre 1848, I. 6 


dad Frühjahr erfehnt, mit Bangen vor den 
Stürmen und Nöthen des wahrfcheinlichen Eis- 
ganged. Mögen wir bewahrt bleiben, wenn er 
über uns kommt! 





8 


Paris, 13. März. 


Man hat rechte Noth, feinen Gedanken ei⸗ 
nen feften Halt zu geben, ſich ein Bild von den 
obwaltenden Zuftäuden zu fchaffen, wenn man 
fie an jedem Tage zehnmal von verfchiedenen 
Standpuntten beurtheilen hört — Darin find 
alle Perfonen, welche wir gefehen haben, einig, 
daß die Regierung Louis Philipp’6 mit dem Mi- 
nifterium Guizot und feinen Doktrinen eine Un: 
möglichkeit geworden war. Man glaubt aud 


an die Dauer der Republil, an bie Reife 
| gr 


oO 


des Volkes zur Selbfiherrfhaft; nur die fo= 
cialiftifhe Richtung fürchtet man, melde der 
Revolution gegeben worden, und die in Louis 
Blanc's VBerfprechen, die Arbeit zu organifiren, 
ihren Ausdrud gefunden hat. Dean halt diefe 
Organifation der Arbeit für unaudführbar, na⸗ 
mentlich im Herzen einer Givilifation, in der alle 
Nachbarftaaten bei den alten Grundfägen ver: 
barren, und fieht fchweren Berwidelungen und 
Krifen entgegen. Dennoch macht ſich ſelbſt bei 
Vielen, welche durch die Revolution Hab und 
Gut, oder Amt und Stellung eingebuͤßt haben, 
eine freudige Erhebung, ein Glaube an den Forts 
fhritt geltend, die gewiß ein gutes Zeichen find 
in bdiefen Zeiten Beforgniß erregender Aufloͤ⸗ 
fung. 

Wunderlich iſt es, wie Seder aus den allge: 
mein feftgeftellten Thatſachen Belege für feine 
Meinung zu zieben weiß, wie der große Mantel 


fhichtliher Nothwendigkeit für jede Partei ein 


85 


Zipfelhen hat, in daß fie fich verkriecht, das fie 
beanfprudht, an dem fie gewebt haben will, unt 
wie es zulegt doch nur eben der umhüllende 
Mantel des Aus ift, in dem die Kreuz: und 
Querfäden der Vergangenheit die Gegenwart 
und die Zukunft aus Nothwendigkeit erfchaffen. 

Seit Jahren mag der Drud des herrfchenden 
Syſtems ſchwer auf Vielen gelegen haben; es 
ſcheint auch, als fei eine Partei von fünf bis 
fehötaufend Menfchen vorhanden geweſen, welche 
fihb in einzelnen Klub verfammelte und nur 
durch ihre Häupter in Verbindung fland. Diefe 
Partei hat die Republik gewollt, und den Tod 
Louis Philipp's als den rechten Zeitpunkt dafür 
im Auge gehabt. Als nun nach dem Verbot des 
Reformbanketts fich die Bloufenmänner zu Huns 
derttaufenden in den Straßen zeigten, gleichfam 
nur um die Regierung an die materielle Macht 
der arbeitenden Stände zu errinnern, und vor 
dem Hotel Guizot's auf dem Boulevard ihnen 


eine Flintenfalve auf ihr »a bas Guizot!« ant: 
wortete, welche eine Mafle Menfchen, darunter 
fpazierengehende Frauen am Arme ihrer Männer, 
tödtete oder verwundete, da brach der Kampf 
08, und jene Männer der Republit fanden es 
gerathen, fich der Bewegung zu bemädhtigen. 
Dennoch behauptet man, e8 fei in jenem Au⸗ 
genblid mehr Wahrfcheinlichkeit für die Regent: 
haft der Herzogin von Orleans, als für die Re: 
publif geweſen. Nicht die Republik, fondern 
nur die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, 
welches die übrigen Reformen von felbft nad) ſich 
gezogen hätte, wäre eine Nothwendigkeit gemwe: 
fen. Eine Stimme, die fid zur rechten Zeit 
entfchieden für die Regentſchaft ausgeſprochen, 
würde die Einführung der Republif gehindert ha⸗ 
ben. Und da unterfteht man ſich, au in Frank: 
reich, an den Zufall in der Weltgeichichte zu glau— 
ben, der allem Gbriften: und Heidentbum und 


aller Möglichkeit und Vernunft widerfpricht 


87 


As ob der Zufammenftoß gewitterſchwerer 
Wollen, welde von den Urkräften erzeugt, fich 
innerhalb nothmwendiger Kreife bewegen, und in 
diefen fich ebenfo nothwendig begegnen und den 
zerfchmetternden Blitz entzünden müffen, ein Zu⸗ 
fall wäre! — Zufall iſt ein Wort, hinter dem 
fih die Einfichtslofigkeit verftedt, welche felbft 
die Peine Mühe ded Denkens zu ſchwer findet. 
— Zufall! in einer Welt, die ſich in den Ans 
geln der firengften gefeglichen Regelmäßigkeit bes 
wegt, in der jedes Untergehen mit einem Werben 
zufammenhängt! Man ſchaͤmt fih, wenn ınan 
die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts von 
Zufällen in der Weltgeſchichte fprechen hört. 
als ob Etwas anders werden könnte, ald es 
werden muß! Wo nimmt man nur die Reſig⸗ 
nation ber, fi) über dad Unglüd zu tröften, das 
aus dem blinden Zufall für den Einzelnen ent- 
fpringt? Im eine Nothwendigkeit fügt man 
fich, aber in die dumme Laune eines blinden Zu: 


' 


falls, von irgend einem einfältigen Menfchen ber: 
beigeführt, nimmermehr. 

Die Republit war für Frankreich nothwen= 
dig, weil fie entfland; und follte fie auch nur 
von kurzer Dauer fein in diefem Augenblid, fo 
wird fie auch dann, das für diefen Augenblid Nö: 
thige geleiftet, und den nöthigen Samen für weis 
tere Entwidelung erzeugt haben. Daran halte 
ih mich und bin ruhig. -— 

An eine Schredenszeit denft Niemand, aber 
die Geldkrifis fol fehr fchwer fein. Die Sour: 
nale, namentlich die Reform, Plagen die Kapita- 
liften an. Sie fagen: »Wie euch 1789 die Ari: 
ftofratie durch ihre Flucht verratben bat, fo thun 
ed jebt die Kapitaliften. Die Bankiers verfteden 
ihre Kapitalien, fie machen feine Gefchäfte, fie 
halten ihre Fonds zurüd, um euch zu Angfligen 
durch Stodung Des Verkehrs Ste wollen euch 
zwingen, in die Werkſtätten zurüdzufehren und 


für die früheren Preife zu arbeiten Aber glaubt 





89 


ihnen nicht und arbeitet nicht.«e — Thatſache ift, 
daß viele der erften Häufer ihre Zahlungen ein⸗ 
geftellt Haben, und daß Fein Bankier auf die An⸗ 
weifungen und circulating letters aus Deutſch⸗ 
land und Rußland zahlt, wenn fie auch von den 
Häuptern, von den Srundpfeilern der Börfen 
ausgeftellt worden find. — Dies hat die Folgen, 
daß die Fremden fortgehen, daß eine große Zahl 
Gewerbtreibender brotlos wird, daß viele Woh⸗ 
nungen leer ſtehen und die Zuftände für die ars 
beitenden Klaffen fich fo verfchlimmern, daß keine 
Unterftügung der Regierung Abhülfe zu bringen 
vermag. 

Die Nacht des Revolutionskampfes muß 
fchredlich gewefen fein. Dean führte die blutens 
den Leichname derer, welche vor dem Hotel Gui⸗ 
zot's gefallen waren, auf Wagen durch die Stra⸗ 
fen. Männer mit brennenden Fadeln, deren 
glührothes Licht die Maffenden Wunden beleuchs 
tete, umgaben diefe Wagen, und der Schrei: 


»aux armes! vengeance! on nous Assassine!« 
durchzitterte die Nacht hindurdy die Luft, den 
Trommelwirbel und dad Käuten der Sturmgloden 
übertönend. Wie durdy einen Zauberfchlag ent: 
ftanden die Barriladen und verbreiteten fich durch 
die ganze Stadt. Unaufhörlich rief man: eclai- 
rez, eclairez, ou l’on vous cassera les vitres| 
Des lampions a la fenätre'« Da e8 aber fehr 
windig war, brannten die Lichter nicht, und 
man improvifirte SPapierlaternen. Auf dem 
Balkon vor unfern Fenfter fanden wir noch halbe 
Kartoffeln, die man ausgehöhlt hatte, um Lichter 
darin zu befeftigen. 

| Im Faubourg St. Martin, wo wir in einer 
der engiten Straßen, der Rue St. Lazare, eine 
liebenswuͤrdige, bieher verfchlagene Deutfche ber 
fuchten, fofl der Kampf furchtbar gemüthet haben. 
Tag und Nacht kamen die Männer nicht von 
den Barrifaden: in den Haufern machte man 


nach Recepten Zibießbaummolle: auf den Stra: 





91 


Gen fchmolzen Frauen und Kinter Zinngeräth 
und goflen Kugeln; Alles war auf den Füßen, 
Alles in der fieberhaften Aufregung der Wuth. 
So wie ein Trupp Soldaten anrüdte, fielen 
von den Barritaden die Schüffe, daun fprang 
man hinab, fich hinter den Bruftwehren zu ber: 
gen. Jeder Angriff hat Todte und Verwundete 
von beiden Theilen zurüdgelaffen, die man ſchnell 
in die, einen Augenblid geöffneten Haͤuſer 
fhleppte, worauf ſich die Thüren wieder ſchloſ⸗ 
fen. Solch ein Kampf mitten in einer Stadt! 
mitten im Herzen der fogenannten Givilifation! 
»Ich habe fhaudernd Achtung bekommen vor die: 
fen Kämpfern ‚« fagte die Dame, melde und 
diefe Scenen fchilderte. 

Das Volk bat ſich bemunderungswürdig be⸗ 
nommen, darin kommen Alle überein. Nirgends 
bat man geraubt, nirgends Etwas entwendet, 
außer in den Zuilerien, und auch da hat man 
fih eigentlid nur auf Zerſtoͤrung der königlichen 


Infignien beſchraͤnkt. Auf dem Zuilerienplage 
verbrannte man den Thron, den Gamind und 
Männer umtanzten, eingewidelt in die Poftbaren 
Shawls der Prinzeffinnen, und in abgeriffene 
Sammetportieren und Gardinen. Von der 
Wunderbarkeit der GCoftüme, welche in diefen Ta⸗ 
gen des Kampfes aus Eile, aus Laune, aus 
Uebermuth und Nothwendigkeit entflanden, bat 
mir ein alter Bekannter, der geniale Maler Karl 
Rahl aus Wien, die originelften Schilderungen 
entworfen. 

Madame Gornu, eine geiftreihe Schriftitel: 
lerin, mit der mich Bettina in Verbindung ge: 
bracht, erzählte uns heute fehr huͤbſch von ihren 
Erlebniffen während der Revolution. Sie ift 
eine noch junge und angenehme Srau, die lange 
Sabre in Deutfchland und Stalien gelebt hat, 
und jeßt für eine Encyklopaͤdie die Artifil über 
Deutfche und italieniſche Kunſt und Literatur 
fhreibt Ihr Mann ift Hiftorienmaler; fie haben 





93 


im Saubourg St. Germain, in der Rue de Va⸗ 
renned, die obere Etage des Hoteld inne, dad die 
Mutter des Herzogs von Praslin bewohnt. — 
Herr Cornu ift Nationalgardift und hatte am 
Morgen auf den erften Appel fein Haus verlaf: 
fen. Als die Unruhe des Kampfes und der 
Lärm der Sturmgloden wuchſen, hielt feine Frau 
die Qual der Ungemwißbeit in den einfamen Zim⸗ 
mern nicht länger aus und befhloß auf bie 
Straße zu gehen, um ſich wenigftens zu überzeus 
gen, wohin fich die Compagnie ihre Mannes ges 
wendet babe. 

„Aber wohin ich fam,« erzählte fie, »fand ich 
Barriladen, indeß auch überall Männer auf dens 
felben, die mir Beiſtand anboten und mir hins 
überhalfen. »Posez le pied sur ma main! on 
vous assistera! On vous aidera, Madame!« 
rief ed von allen Seiten. Einmal dicht vor eis 
ner Barritade, flürmte ein Haufen Gamins heran, 
laut die Karmagnole fingend und fi wild durch⸗ 


einander drängend, fo daß ich gezwungen war, 
mich in die Vertiefung eines Hausthores zu flel: 
len. Sogleich fprangen ein paar Männer von 
der Barrikade herab, breiteten ſchuͤtzend ihre von 
Arbeit und Pulver gefchwärzten Arıne vor mir 
aus und riefen: »Respect aux femmes! faut-ıl 
donc abimer les femmes pour chasser un 
roi?« 

Am naͤchſten Tage ging fie in Begleitung 
ihre Mannes an einer Boutique de comestibles 
vorüber, aus der fie ihren Bedarf kommen laßt. 
Der Laden war von Männern umringt, und Herr 
Gornu, in der Meinung, man wolle dort rauben, 
trat heran, um dies wo möglich zu verhindern, 
als die Keute mit dem freundlichften »mercı Ma- 
dame! bien obliges!« davongingen. Ganz rus 
big waren jie mit der Bitte herangetreten: »Wir 
find vierundzwanzig Stunden auf der Barrifade, 
wir fterben vor Hunger; faites nous laumöne 


dun morceau Je pain« — Dabei hing der 





95 


ganze Laden voll Würften und Schinken; Paſte⸗ 
ten, gebratene Hühner und Käfe ftanden umber, 
aber Niemand rührte etwas an, Niemand ver- 
langte davon; und als die Beſitzerin zu dem er: 
betenen Brote einen Käfe und ein paar Flafchen 
Wein freiwillig bergab, theilte man es redlich 
und dankte ihr vielfach. | 
Indeflen das glauben die Reihen nit. Sie 
wollen fich fürchten vor ihren armen Mitbürgern, 
fie wollen fie für Diebe halten, und machen fie 
dazu. Ic habe Bankierhäufer gefehen, in denen 
man die koſtbaren Gardinen und Portieren ab» 
genommen, dad Silbers und Goldſervice verfchlof- 
fen und Alles fortgeräumt hatte, was man an 
Koftbarkeiten beſaß. Ein Goldarbeiter erzählte, 
daß Viele ihre Silberfervice einfchmelzen ließen, 
einmal um fie der gefürchteten Plünderung zu 
entziehen, und dann um ſich baares Geld zu ſchaf⸗ 
fen. Für den letztern Kal iſt es fehr vernünf: 
tig; fie verlieren dabei nur den Werth der Ars 


96 


beit, und jedenfalls weniger als beim Verkauf der 
ganz entwertheten Staatspapiere und Actien — 

Daß bei ſolchen Verhaͤltniſſen die Stimmung 
in Paris keine heitere iſt, begreift ſich leicht; 
dennoch glaubt man an die Dauer der Republik, 
und einer der erſten Bankiers ſagte mir heute: 
»Sie iſt kuͤnftig die einzig moͤgliche Staatsform 
fuͤr Frankreich, und man muß ſie um jeden Preis 
zu erhalten ſuchen.« 





Paris, 14. März. 


Die beiden Perſonen, welche ich am lebhaf: 
teften in Parid zu fehen gewünfcht, waren Georg 
Sand und Heine. — Die Sand ift nit in 
Paris, fondern in Berry auf ihrem Gute, von 
wo aus fie einzelne »lettres au peuple« fchreibt, 
deren jest zwei erfchienen find, hoch und fchön, 
wie Alles, was diefe große Seele ſchafft. Dieſe 
Briefe und ein anderer Brief von ihr im Cour- 
rıer frangais machten mir ſolch lebhaften Eindruck, 
daß mich der Gedanke faßte, fie zu überfegen 


Grinnerungen a. d. Jahre IR, 1. 7 


und fchnell nach Deutfchland zu fenden. Es wäre 
aber nicht damit erreicht. Unfere Zuflände und 
die biefigen find fo volllommen verfhieden, daß 
die Briefe für die Maſſe unferes Volkes wirkungs⸗ 
106 bleiben würden. Den Handwerkervereinen 
würden fie verftändlich fein; aber die wiffen zum 
großen Theile, was die Sand hier fagt, und der 
gewaltige, hinreißende Eindrud ihres prophetifchen, 
fibylinifhen Wortes würde in der Ueberfeßung 
verloren gehen. Die politifhe Bildung Frank: 
reich8 hat der Sprache allmälig einen Charafter 
aufgeprägt, fie für die Kürze republikaniſcher Zur 
zufe — wenn man fo fagen darf — fühig ge: 
macht. Es ift eine heroiſche Energie, eine be: 
flimmte Koncentration in der Sprache entftanden, 
wie fib der beſtimmte Zonfall für den Ruf 
»vive la republique« gebildet hat. 

Das öffentliche Xeben, die Kammerreden, die 
Redner in der Revolution des vorigen Sahrhun: 


dertd haben die Sprache von aller Abftraftion, 


99 


von allem Schulſtaub befreit, und wenigftens die 
Sprache zum Gemeingut gemadt, eine geiftige 
Volköbewaffnung durch die Sprache herbeigeführt. 
So weit iſt e8 aber bei uns noch lange nicht. 
Der Unterfchied zwifchen der Sprache der Gebils 
deten und der Ausdrucksweiſe des Volkes ift noch 
fehr groß, und wenn wir voltöthümlich fprechen 
wollen, verfallen die Meiften in den Fehler derer, 
die, zur Sprache der Kinder binabfleigend, lallen, 
flatt die Kinder zum deutlihen Nachfprehen zu 
bewegen. 

Da ih die Sand nicht Fennen lernen Tonnte, 
wollte ich mwenigftend fo bald als möglich dem 
MWunfche, Deine zu fehen, genügen. Er hatte 
feine Wohnung in der Stadt verlaffen, um ge 
funde Luft zu haben, und eine Maison de sante 
in der Rue de POurfine bezogen, noch über den 
fehr entlegenen Jardin des Plantes hinaus. Ich 
hatte ihm erft fehreiben und bei ihm anfragen 


wollen, ob er erlaube, daß ich ihn beſuche; was 
7* 


man aber in folhen Anmeldungsbilletten fagt, iſt 
doch gewöhnlich nur ein albernes Gemiſch von 
Schmeidhelei und erlogener Befcheidenheit, und 
ich 308 ed alfo vor, ganz ohne weiteres hinzuge- 
ben, die Karte hinaufzufenden und es feiner Nei— 
gung zu überlaffen, ob er mich annehmen wolle. 


In dem weiten ftillen Hofe ded Krankenhau⸗ 
fe8 fagte der Goncierge: »au second, numero 
vingt troisa Wir fliegen hinauf. Oben aus 
der Thuͤre von Heine's Zimmer trat gerade ein 
junges Hausmädchen herauß; dem gaben wir die 
Karten, und fogleih erfholl von innen ein: 


Entrez! entrez! 


Mitten in einem großen Schlafzimmer mit 
großem franzöfifhem Himmelbett und blauen 
Möbeln ftand, ſich auf einen Tiſch ſtuͤtzend, Heine, 
der uns mit den Worten empfing: »Mein Sott, 
Ste fommen fo weit berauß zu mir! wie haben 


Sie mid nur gefunden? Und wie ich vor Ihnen 





101 


erfheine! Ich habe in den lebten Tagen fo viel 
gelitten, daß ich nicht daran denken fonnte, meine 
Zoilette zu machen; meine Nerven ertrugen feine 
Berührung« — »So ſchicken Sie mich fort, 
wenn Sie leiden.« — »Nein, nein! bleiben Sie, 
es freut mich, es erbeitert mich, ed wird mid 
gefund madhen.« — „Ich wollte bei Ihnen nicht 
fhriftlih um die Erlaubniß Sie zu befuchen an= 
fragen, um Ihnen die Mühe der Antwort zu er: 
fparen, und mar ganz darauf gefaßt abgemiefen 
zu werden, und wenn Sie wollten, wieder zu 
fommen.« 

Sein Arzt, ein deutfch fprechender Ungar, 
meinte: »Sie wollten ihm die Mühe eines Bil- 
letö erfparen, und er bat geftern und heute ſtun⸗ 
denlang für die Allgemeine Zeitung gefchrieben.« 
— „Befchrieben!« rief Heine, »ach! ich kann nicht 
mehr fchreiben, ich kann nicht, denn wir haben keine 
Genfur! Wie foll ein Menſch ohne Cenſur ſchreiben, 
: der immer unter Genfur gelebt hat? Aller Styl wird 


aufhören, die ganze Grammatif, die guten Sit: 
ten. Schrieb ich biöher etwad Dummes, fo 
dachte ich: nun, die Genfur wird e8 ftreichen oder 
ändern, ich verließ mich auf die gute Genfur. — 
Aber jetzt — ich fühle mich fehr ungluͤcklich, fehr 
rathlos! Ich hoffe auch immer, ed ift gar nicht 
wahr und die Genfur dauert fort.« 

Er lachte hell und hübfch, und man ſah, troß 
ſeines tief leidenden Zuſtandes, daß er fehr ange⸗ 
nehm gewefen fein muß. Das Profil, die ganze 
Sefihtsbildung ift fein, das ſchlicht herabfallende 
reihe Haar hellbraun. Gin voller Bart, leicht 
mit Grau gemifcht, umgiebt das Kinn. Die Be- 
wegung der wohlgeformten magern Hände ifl 
ſehr edel, und vor Allem muß der Mund fchön 
gewefen fein, denn der Ausdrud iſt, troß der 
Krankheit, die ihn lähmt, fo angenehm, daß man 
ibm all die Dichterworte, all Den fprudelnden 
Uebermuth, all die Ariſtophaniſchen Wire zutraut 

Sch fühlte recht, welb wahres Intereſſe ich 





103 


an ihm nehme, wie dankbar ich ihm bin für all 
den reichen Genuß, den ich ihm ſchulde, weil ich 
fo gern irgend etwas gewußt oder gethan hätte, 
ihm Grleichterung , 3erftreuung oder Freude zu 
bereiten. Weil ich ihn immer nur in feiner geis 
fligen Jugend ſah, mag ich euch auch Fein Bild 
feined Eörperlichen Leidens geben. Er ift zum 
Theil gelähmt und klagte fehr über feinen Zu⸗ 
ftand, welcher ihm den Gebrauch der Augen in fo 
weit raubt, daß er nur wenig fchreiben und gar 
nicht leſen kann. 

Seine Frau, eine große ſchoͤne Franzoͤſin, recht 
was man belle femme nennt, fagte: »Mais tu 
vas mieux, mon ami, depuis que tu es icil« 
und der Arzt bekräftigte dad, weitere Beſſerung 
für das Frühjahr verfprechend. Mit Rüdfiht auf 
die Frau war die Unterhaltung abwechſelnd deutfch 
und franzoͤſiſch — »Herr Heine hat den Fruͤh⸗ 
ling fo ſchoͤn gefeiert, daß der Frühling wohl et⸗ 
was für ihn thun müßte,“ fagte ich fcherzend. — 


»Ich habe dad Meer auch fehr fchön befungen und 
bin immer ſeekrank gewefen. Und die Frauen 
eft! quel mal elles m’ont fait!«a Er lachte 
berzlich. | 

Wir fprachen von Deutfchland, von der fran= 
zöfifhen Revolution. Er war gerade in die 
Stabtwohnung gefahren, um dort bei feiner Frau 
mit feinem Arzte ein Eleined Diner einzunehmen, 
als die erſten Stürme des Kampfes ſich hören 
liegen. Der Wagen, den man für die Ruͤckkehr 
in dad Krankenhaus holte, ward umgeworfen zum 
Barriladenbau,, und er hatte Noth, wieder dorts 
hin zu gelangen. — Er fragte viel nach Deutſch⸗ 
land, ließ fi einen Brief über die Revolution 
in Bremen vorlefen, den ich eben erhalten und 
noch in der Zafche hatte, wollte Auskunft über 
feine Bekannten in Deutfchland, und fam immer 
wieder auf die jchmerzlihe Klage zurud: Sie 
wiffen es nicht, was es beißt, ſolche Revolutionen 


in meinem Zuftande zu erleben. Ich hätte muͤſſen 





105 
tobt ober gefund fein!« Aber troß dieſer Klagen 
ſprach er die wärmften Hoffnungen für Deutſch⸗ 
land aus, und fcherzte zugleich über die Verwun⸗ 
derung und den Schred der Deutfchen, wenn fie 
jemals frei werden follten. 

Wir waren beinahe eine Stunde bei Heine 
und gingen fort, um ihn nicht zu ermüden, ob= 
fhon er lebhaft zum Dableiben nöthigte. Beim 
Abſchied verhieß er, fih zu uns bringen zu lafs 
fen, fobald er einen guten Zag haben würde. — 

Später am Tage ſprach ich Deutfche, welche 
ihn verbächtigten, ihm vorwerfend, er habe als 
PDenfionär auf den Liften Guizot’s geftanden und 
viertaufend Franken von der Regierung bezogen; 
er habe ſich alfo verkauft. Dies Geſchwaͤtz ift 
wirklich widerwärtig. Ich will es glauben, daß 
Heine fo gut als andere politifche Flüchtlinge eine 
Unterflügung von der Regierung erhalten hat, 
aber was beweift das gegen ihn? Und wenn 
viele andere deutfche Verbannte diefe Penſion nicht 


erhalten haben, fo ift auch das erflärlich, ohne 
daß Heine ſich deshalb verkauft haben muß. Es 
ift wohl anzunehmen, daß Frankreich die ſtolze 
Großmuth zeigen wollte, einem Dichter wie Deine 
beizuftehen, als fein Vaterland ihn verfließ. 

Es ift Heine mit Deutfchland gegangen , wie 
ed edlen Naturen mit einer Jugendliebe geht, von 
der fie verratben worden find. Man Bann fich 
zulegt an den Gedanken dieſes Verraths gemöh- 
nen, man fann ruhig darüber werden; aber man 
vergißt weder die Liebe noch den Schmerz. Man 
kann dahin kommen, dad, was man einft geliebt, 
mit ftrenger Objeltivität zu betrachten, alle feine 
Gehler zu erkennen, verleumden wird man es 
nie. — 

Sie fagen, Heine habe Frankreich auf Deutfch- 
lands Koften gelobt, Deutfchland verfpottet im 
Vergleich zu Frankreich Das mußte Ieder, der 
gefunde Vernunft hatte; denn mochten die fran- 


zoͤſiſchen Zuftände noch fo mangelhaft fein, fie 





107 


waren golden im Vergleich zu den unfern. Hätte 
Deine Rußland gelobt, jemals ber Hierarchie oder 
irgend einer Knechtfchaft gefchmeichelt, man fönnte 
ibn des Abfalls von fich felbft befchuldigen, aber 
wo bat er das gethban? Weder das Wintermährs 
hen, noch der Atta Troll, noch irgend eine feiner 
Arbeiten ift unfrei, und diejenigen, welche fo eifrig 
an ihm nad) Mängeln fuchen, follten fich erinnern, 
daß es Heinrich Heine war, ber die Freiheit fang, 
deffen Lieder mie morgenfrifher Lerchenjubel ems 
porfchmetterten, ald Deutſchland in den Jahren 
von 1826 — 1830 wie in bleiernen Todesban⸗ 
den gefangen lag. Sie behaupten ferner, feine 
Verehrung Napoleon’8 fei undeutfh, und mäfeln 
mit dem Meinen Maß des befchränkten Patriotis⸗ 
mus, wo ein Dichter dem größten Genius des 
Jahrhunderts freudig huldigt in Allem, was er 
Großes gefchaffen und geweſen, ohne fih an die 
Mängel zu halten, die ein Ieder kennt. Gerade 
daffelbe aber follten Heine's Zadler für Heine 





109 


wir im Omnibus gemacht. Es war von unferer 
Wohnung aus eine foͤrmliche Reife und wir wur⸗ 
den dreimal »debarfirt.« Damit bezeichnet man 
das Umlaben der Paffagiere in andere Omnibus, 
an beftimmten Straßeneden, wo die verſchiedenen 
Wagen fich treffen. Ich vermuthe, daß man bei 
diefer Einrichtung gerade nicht auf die fehnellfte 
Art an den Ort feiner Beflimmung gelangt, da 
jede diefer Omnibuslinien gewiß eine möglidhft 
große Strede umſchließt; aber man fommt doch 
zulegt an das Ziel, und für mich hatten die Ums 
wege den Vortheil, daß ich einen großen heil 
der Stadt, und zwar auch die Fleinen, entlegenen 
Straßen zu fehen befam. 

Des Intereffanten giebt ed denn auf ſolchen 
Wegen auch viel und überall. Geftern fahen wir 
viertaufend Schweizer, welche die Republik bes 
gluͤckwuͤnſchen wollten, in's Hötel de Ville ziehen. 
Sie hatten rothe Binden mit einem weißen Kreuze 
um den Arm. — Dann trug man, gefolgt von 





111 


Abende im Theätre des varıdtes, wo wir 
Bouffe in le pouvuir d'une ſemme fahen, führte 
die Garde mobile bereit die Auffiht an der File 
vor dem XZheater und auf allen Treppen und 
Eingängen. Sie waren in ihrer gewöhnlichen 
Kleidung, hatten aber rothe Binden um den Arm. 
Ihre Gewehre fellten fie in einen großen Schranf 
auf dem Beflibule und vernagelten ihn dann. 
Sie ſagen bier: »Louis Philippe a Et& chasse 
par un Italien, deux Polonais et Lrois gamins.« 
Welche Rolle diefe letztern bier fpielen, läßt fich 
durch eine Anekdote bezeichnen. Als in den erften 
Unruhen ber Februartage die Gräfin d’Agoult 
einen alten Diener auögefendet, um zu erfahren, 
wie die Sachen ftehen, kehrte diefer mit der Ant: 
wort zurüd: »Madame, l’affaire sera serieuse, 
car les gamins sien melent.« 

An allen Öffentlichen Gebäuden fteht außer dem 
liberte, fraternite, egalit& noch immer ein: »Re- 
spect a la propriete nationale;« an der Ein: 


gangäthüre ded Jardin ded Planted und ber 
Sorbonne: »Respect aux sciences ei arts;« 
vor dem Hötel Elyfee Bourbon im Faubourg 
St. Honore: »Refuge pour les blesses, Am- 
bulance.« Auf jedem Schritte wird man an die 
Ereigniffe erinnert. Bor einer Artilleriefaferne 
ftanden zwei Gamind Wache — und die Welt 
geht nicht unter, obſchon das Militär fortgezogen, 
die Municipalgarde abgefchafft und der König 
entthront ift. 





20. 


Parié, 15. Mär. 


Geſtern babe ich denn ein Paar der berühms 
teften Gebäude gefehen, die Kirche St. Madelaine 
und die Boͤrſe, beide im fchönften Style der Anz 
tife gebaut und darum fo wunderbar feffelnd. 
An den langen, fhöngeftredten Linien des Gebäls 
kes der Mabdelaine, an den ſchlank und in fich 
gefeftet auffteigenden Säulen ruht dad Auge un⸗ 
befchreiblich füß aus. Schon die fchönen, wage: 
rechten Linien der Stufen, die zur Kirche hinanr 
führen, haben etwas Wohlthuendes, indem fie 

Griunerungen a. d. Jahre 1848, 1. 8 


115 


drei adligen Damen unterzeichnet. Eine Kapelle 
mit einem Beichtftuhle trug die UWeberfchrift: 
»Propriet® des dames de la bienfaisance.« 
Es faßen viele Damen vor derfelben, alle den 
reihen Klaffen angehörend. Eine Mutter ſprach 
lange mit dem Beichtiger, ehe die Tochter zur 
Beichte vor ihm nieberfniete, während welcher die 
Mutter ihr, ebenfalld knieend, zur Seite blieb. 
Nicht weit davon faßen ein paar Bloufenmänner 
und lafen die Reforme und den Courrier Satan. 
— So miſchen fi bier Ariftofratie und Volk, 
Hierardie, Religion, Luxus, Komfort und focias 
liſtiſche Volkszuſtaͤnde zu einem Ganzen. 

An der Boͤrſe war mir, außer der ſchoͤnen 
Architektur, das auffallendſte, daß man hier Brief⸗ 
kaſten eingerichtet hatte, in die man noch ſpaͤter 
als in den andern Stadtpoſten Briefe, aber nur 
unfrankirte, hineinwerfen und befoͤrdern laſſen kann 
Das iſt ein ſehr gutes Inſtitut, da fich Jedermann, 
nicht nur die Kaufleute allein, deſſelben bedienen darf. 


Nad) dem Befehen der Börfe madıten wir 
mehrere Befuche in der Stadt, und dabei ift mir 
befonders die Enge und Zierlichkeit der Wohnun⸗ 
gen aufgefallen. Freilich bewohnen die Reichen, 
die Banffürften und die Ariftofratie, große Ho⸗ 
tels, die fi) um vieredige Höfe ziehen, und im 
Faubourg St. Germain auf fchöne file Gärten 
die Ausficht haben; aber felbft fehr begüterte 
Leute wohnen nach deutfchen Begriffen befchränft, 
nicht fowohl der Zimmerzahl nad), ald nach dem 
Slächenraume derfelben. in Appartement befteht 
aus einem Salon, einem Eßzimmer, einer Schlaf: 
flube für Madame, in der man gewöhnlich ems 
pfangen wird, einer zweiten für Monfieur und 
irgend einem Arbeitöftübchen oder Boudoir für 
den Einen oder den Andern. 

Diefe Enge der Räume bat zur Erfindung 
von zweckmaͤßigen Moͤbeln Anlaß gegeben, und 
ſolch ein Schlafzimmer ven Madame tft wie Die 


Kajuüte eines Dampfichiffes benutzt. Ueberall ſteht 


117 


ein großed Bett auf einer Eftrade. Es hat Ueber: 
hänge und Dede von gleichem Zeug und ift nach 
Art antiker Zhronbetten zurecht gemacht, fo daß 
über der Bettdede, zu Kopf und Füßen, große 
runde Gallapolfter liegen. Diefe Bettftellen, die 
nach deutſchen Begriffen fchon fehr breit find, 
werden Abendd noch in die Breite ausgezogen 
und bilden ein vortreffliched Lager, denn die 
franzöfifhen Matragen, Deden und Plumeaur 
laſſen nichts zu wuͤnſchen uͤbrig. — Vor dem 
Kamin ſtehen kleine Sophas und ein paar Lehn⸗ 
ſtuͤhle. Ueber dem Kamin iſt der Spiegel in 
die Wand gefuͤgt. Den Sims zieren eine eles 
gante Uhr, Bronzeleuchter, Statuen, ein paar 
Zeuerfächer und einige Nippes. in feidener 
Vorhang, der nady erlofchenem Feuer nieberge- 
laffen wird, fehlt nirgends Go entfteht ein 
warmes, behagliched Pläschen, auf dem es jedem 
Fremden wohler werden muß ald bei und im 
Norden, wo wir, wenn wir nicht fehr reich find, 


in eisfalten Zimmern fchlafen, um in einem halb⸗ 
warmen großen Empfangzimmer den Tag uͤber 
ſelbſt zu frieren und unſere Gaͤſte frieren zu laſſen. 
Jene Einrichtung der Zimmer fand ich ſelbſt bei 
einer Schneiderin, die in entlegener Straße au 
quatrieme in ganz niedrigen Stuben, aber doch 
fehr behaglich und zierlich wohnte. 

Als wir von Heine famen, befuchten wir 
noch verfchiedene Perfonen, die zum heil den 
gewerbtreibenden Klaffen angehörten, unter an= 
bern einen fehr gefchidten Optifer, membre de 
l'academie, chevalier de la legion d’honneur, 
und dann die Befigerin einer Modehandlung im 
Faubourg St. Honore. Diefe Perfonen hatten 
denn natürlich ihre eigenen Anfichten uber Die 
Revolution, welche fie in ihrem Gewerbe benach— 
theiligt. Der Optifer, von dem ich eine fchnelle 
Lieferung Der gemachten Beſtellung erbat, ver: 
ficberte mich, daß Dies außer feiner Macht laͤge. 


Er umd fein Sohn feten jo ſehr durch Wachdienſt 





119 


und Patrouillen in Anfpruch genommen, daß fie 
die Zeit und die Ruhe für eine fo faubere Ars 
beit, wie die ihrige, nicht finden. Die Mode: 
bändferin bedauerte befonder8, ihre Arbeiterinnen 
nicht befchäftigen zu können; aber alle Perfonen, 
welche wir fprachen, flimmten darin überein, daß 
der Geift des Volks nichtd zu mwünfchen übrig 
laſſe, daß die Arbeiter aller Grade le plus grand 
d&vouement, la plus profonde r&signation, le 
plus noble desinteressement bewiefen hätten. - 

Die Arbeiter feien verfländig, mäßig, vers 
langen nichts Unſinniges, fondern nur Aufhebung 
der Sflaverei, die auf ihnen gelaftet. Sie wollen 
freier athmen, Luft fhöpfen nach der Arbeit und 
diefe lohnender gemacht haben. Daß fei billig, 
da viele Arbeiter unverhälmißmäßig fchlecht bes 
zahlt worden feien und ihr Erwerb außer allem 
Verhältnig mit den Preifen der nothwendigſten 
Lebensbebürfniffe geftanden habe. An Aufhebung 
der Standesunterfchiede dächte Niemand weniger 


als die Ouvriers; eben fo wenig an Aufhebung 
bed Luxus, von deſſen Befriedigung fie ihren 
Erwerb zögen. Die anfäffigen Duvrierd und der 
petit commerce verabfcheuten den Communiss 
mus, und hätten die Abſchaffung der Abelstitel 
fehr mißbilligt, welche die Ariftofratie und die 
Engländer von Paris fortgetrieben und fie in 
ihrem Erwerbe benachtheiligt hätten. 

Andere Perfonen fahen dad Heil Srankreiche 
allein in der Auflöfung des ftehenden Heeres 
Vom Communismus, der ein Unfinn fei, fürd: 
teten fie nicht8, aber um fo mehr vom Staatd- 
banferott, der nicht audbleiben könne und den 
Louis Philipp Frankreich hinterlaffen habe. Diefe 
Geldnoth und die Furcht des Auslandee vor krie: 
gerifchen Angriffen von Seiten Frankreichs, wür: 
den beide durch Abfchaffung des Heeres befeitigt 
werden; man würde taͤglich eine Million Kranken 
fparen, Die Abgaben alfo verringern, Dem Ars 


beiter Die erften Lebensmittel billiger liefern koͤnnen. 


121 


Für den Fall eined Krieges fei aber von der Ab- 
fhaffung des Heeres bei einem fo kriegeriſchen 
Volke wie die Franzofen gar nichts zu beforgen, 
deſſen Gamins erft jetzt wieder ein Heer von 
achtzigtaufend Mann befiegt, und eine Revolution 
in wenig Tagen beendet hätten. 

Oft ward ein großer Widerwillen gegen die 
republicains par profession an den Tag gelegt. 
»Wir Alle find Republilaner, wir wollen die 
Republik, um unfer Gewerbe, unfer Eigenthum 
gefichert zu ſehen, und Inftitutionen herbeizu⸗ 
führen, die Jedem die Ermwerbung von Eigen⸗ 
thum möglich machen: »mais il-y-a des r&pu- 
blicains étrangers, des hommes sans patrie, 
qui ne sont rien, qui n’ont aucun &tat, et qui 
esperent Irouver un tel dans le desordre de 
la r&volution.« 

Während man Lamartine und andern Mits 
gliedern der proviforifhen Regierung volle Ges 


rechtigkeit widerfahren ließ , fürchtete man bie 
8* 


Ideen Louis Blanc’d. Man fchalt auf Ledru Rollin, 
dem man Geldunterſchlagungen nadfagte, und 
behauptete, er habe dad Geſetz gegen die Vers 
baftung der Schuldner nur gegeben, um fi) felbft 
fiher zu ftellen, da er von Schulden erdruͤckt 
werde. »Lamartine ift Dichter,« hieß ed, »Louis 
Blanc Hiftorifer, Gremieur ein gefchidter Ads 
vofat, diefe Leute können beftehen auch ohne Mits 
glieder der Regierung zu fein; aber Ledru Rollin, 
Gauffidiere, Flocon müffen Republikaner fein 
und davon leben; das ift gefährlich!« 

So: giebt ed denn auch bier gleich wieder 
Verdächtigungen und Zwieſpalt, und die provis 
forifche Regierung ift innerlich nichts weniger als 
einig. Ledru Rollin möchte Lamartine flürzen, 
die gemäßigte Partei ihn halten, und Lamartine 
felbft kämpft mit faft übermenfchlicher Anftren: 
gung, die Ordnung berzuftellen 





al. 


Paris, 15. März, Abende. 


Herwegh und feine Frau habe ich ſchon oft 
gefeben. Beide find in einer fieberhaften Aufres 
gung. Diefe erklärt fich leicht, wenn man bes 
denkt, mit welcher Sehnſucht, mit welch glüs 
hendem Verlangen Herwegh einer republikaniſchen 
Zukunft entgegen gelebt hat; aber je lebhafter 
ich an ihm Theil nehme, ſeit ich ihn vor drei 
Jahren kennen und ſchaͤtzen lernte, um ſo aͤngſt⸗ 
licher fehe ich ſein jetziges Treiben. Er ſteht an 
der Spitze eines Comitéè von deutſchen Republi⸗ 


fanern, welche der Regierung in diefen Tagen 
ihren Glüdwunfc zur errungenen Freiheit dar⸗ 
brachten. Das ift in der Ordnung; aber nun 
foll die Republik gleich jetzt auch in Deutfchland 
proflamirt werden! 

Sie verlangen Waffen vom Gouvernement, 
das ausdruͤcklich erflärt hat, ſich nicht in die An⸗ 
gelegenheiten anderer Staaten mifchen zu wollen; 
fie machen wunderlihe Anfchläge an den Stra⸗ 
Beneden, in denen fie von den Franzofen Waffen, 
Kleidung und Geld fordern, um ihren beutfchen 
Brüdern jenfeitd des Rheins zu Hülfe zu ziehen; 
es werden Sammlungen für die deutfchen Res 
publifaner in den Kirchen gemacht; die Deutfchen 
ererciren auf dem Maröfeld; ich höre immer von 
»nach Deutfchland ziehen in Maffe,« und frage 
immer wozu? obne eine vernünftige Antwort zu 
befommen Gin paar der Deutichen republifani: 
fben Arbeiter, die ich zufällig fab, Da fie als 
Abgeordnete zu Herwegh famen, waren durdaus 





125 


nichtig. Sie fagten Ia und Nein zu Allem, 
wie er ed ihnen in den Mund legte. Auch die 
Polen und Ruffen, die ald Verbannte hier find, 
regen fib. Sie wollen auch »hinziehen« — und 
neulich habe ich fchon welche figen ſehen, die 
eifrig über die Grenzen des polnifchen Reiches 
zankten. Man hat einen Klub der detenus po- 
litiques gegründet, zu dem auch diefe Polen und 
Herwegh gehören. 

Jemehr man nun die wahre Freiheit liebt, 
je zuverfichtliher man darauf hofft, fie in ber 
fi) allmälig über die Erde verbreitenden repus 
blitanifchen Verfaffung verwirklicht zu fehen, um 
fo ängftlicher betrachtet man jede Unklarheit in 
den Köpfen derjenigen, welche das Ideal der 
Republik im Herzen hegen, und die man felbft 
als Zräger, ald Stügen feined eigenen Idealis⸗ 
mus boch hält. Herwegh's Raftlofigkeit macht 
mir Angfl. Sie rührt offenbar davon her, daß 
er, ein Dichter im fchönften Sinne des Wortes, 


nun plöglid den Gefchichte fehaffenden Refor⸗ 
mator machen will. Seine Phantafie reißt ihn 
fort zu glauben, Deutfchland ftehe auch fchon 
aufdem Entwidelungspunfte, den Frankreich eben 
jest erreicht hat. Der Irrthum ift verzeihlidh, 
denn Herwegh ift feit Jahren vom Vaterlande 
fern. Aber er will nicht glauben, daß er fich 
irrt. Ich beforge, er wird ein furdhtbared Nacht: 
ftüd dichten, wenn er die vorzeitigen Träume 
feines Geiftes im Leben verwirklichen follte. 

Die Freiheit ift feine Religion, er würde mit 
Sreudigkeit zum Märtyrer werden für die Wie: 
dergeburt der Menfchheit. Er hält diefe in den 
höhern Klaffen für verderbt, für entartet und 
keiner Erhebung durch das fittliche Ideal fähig. 
Darum würde er ruhig den Untergang berfelben 
anfehen und mit ihnen untergehen, damit nad: 
ber die gereinigte Menſchheit aus den gefunden 
Volksklaſſen fih zur Freiheit entwideln fonnte 
Dies ift der Grund, warum er die Anarcie, Die 





127 


Auflöfung nicht fcheut, die fonft in fo grellem Wi⸗ 
derfprudy mit dem Schönheitöfinne feiner Natur 
zu ſtehen fcheinen müßte. Daß er volllommen 
uneigennügig ſich opfern könnte für dad Allge- 
meine, und daß feine Frau ten Muth und bie 
Liebe hat, ihn fich opfern zu laffen für feine 
‘bee, das glaube ich feft. Man ann dies Schwärs 
merei nennen, man kann, wie ich felbft, fürdhs 
ten, daß diefe Schwärmerei fie blind macht gegen 
die Möglichkeiten des Augenblicks, aber daß Beide 
edle Naturen find, da6 muß man ihnen zuge- 
ftehen, wenn man nur das geringfte Verſtaͤnd⸗ 
niß für Charaktere hat. Emma Herwegh befigt 
außerdem eine folche Tiefe der Liebe, eine fo 
unbedingte Hingebung in derfelben, daß fie ſchon 
dadurch fchön und bedeutend wird. 

Manchmal, wenn ich hier fo gegen die Mäns 
ner eifern höre, welche im Umſturz des Beſte⸗ 
benden allein die Möglichkeit einer beffern Zus 
kunft fehen, oder wenn man die Perfonen tabelt 


und verdammt, die mit der Vergangenheit, ihren 
Sitten, ihren Anfichten aus Ueberzeugung gebro: 
hen haben, fo kommen mir forgende Gedanken. 
Am unverftändigften aber finde ich ed, wenn man 
ald Beweis für die Unrichtigfeit einer Theorie 
ihr augenblidliched8 Scheitern in der Wirklichkeit 
anführen will. Es ift, ald ob die Leute nie ein 
Wort von der Vergangenheit, von der Weltge: 
ſchichte gehört hätten. 

Keine regenerirende Idee ift gleich fertig, ge: 
wappnet aus dem Schooße der Zeit entfprungen; 
alle Reformatoren haben für Aufrührer, für Uns 
fittliche, für Empörer gegolten, alle neuen Selten 
find verfpottet, mißachtet und wo möglich ge: 
freuzigt worden. Geſchieht Died jegt nicht, fo 
ift es wahrhaftig nicht die Schuld der Einzelnen, 
deren beftehbende Rechte von den KReformatoren 
angetajlet werden. 

Noch nie ift eine Sittlihe Wahrheit, welde 
dem für Recht geltenden Unrecht entgegentrta, bei 





129 


ihrem erſten Auftauchen, ald Wahrheit von der 
ganzen Menfchheit begrüßt worden. Als Luther die 
päpftliche Bulle abriß von der Kürchenthüre zu 
Wittenberg, um fie unter dem Bujauchzen der 
Studenten auf offenem Markte zu verbrennen; als 
er, der Auguftiner Moͤnch, dem Ehelofigkeit Ges 
bot war, die Nonne Catharina von Bora aus 
dem Klofter führte und fie fih von einem feiner 
Freunde ald Gattin antrauen ließ, da haben fehr 
Viele diefen Empdrer gegen Religion und Staat 
gewiß auch für einen hoͤchſt fittenlofen Menfchen 
gehalten, und ihm ficher eben ſolche Gräuel an⸗ 
gedichtet, ald den Socialiften jetzt aufgebürbet 
werden. 

Hat doch felbft Epriftus, der fi) mit Hands 
werkern umgab, ber durch ununterrichtete Männer 
ded Volks die Schriftgelehrten und Pharifäer bes 
fehren wollte, der mit eigener Hand die Geißel 
ſchwang gegen die Krämer im Gotteöhaufe, für 


einen Aufwiegler, für einen Empörer gegolten 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. 1. 9 


und ift als folcher gekreuzigt worden! MWie mag 
man fi) denn noch immer wundern, daß man 
auch jest die Menfchen verläumdet, welche bie 
Irrthuͤmer, die furchtbaren Widerſpruͤche unferer 
Zuftände aufdeden und danach ftreben, fie zu 
verbeffern? Wie giebt ed immer noch Menfchen, 
die ſich durch fremdes Urtheil irren laflen und 
davor erfchreden, daß man fie revolutinär und 
fittenlo8 nennt, weil fie den Muth haben, den 
Schlendrian der zur Sitte gewordenen Unjitte, 
den Schein des zum Recht erhobenen Mißbrauch 
dreift und frei von fi zu werfen! Das bat 
Jeder thun, Jeder erdulden müffen, der die Wahr: 
heit gegen die Lüge, und fich felbft gegen das 
Beugen unter die Lüge vertheidigte; und als 
Chriftus den Tempel fäuberte, Kuther die Bann: 
bulle verbrannte, da ift für den Verſtaͤndigen, 
für den innerlib freien Menfchen auch die Furcht 
vor dem Goͤtzen »qu'en dira-t-on?« verbrannt, 


der noch immer als erſter Gott die Erde beherricht 





131 


und für die Schwachen die Stelle fittlicher Webers 
jeugung vertritt. Ob die Socialiften ihr Ziel 
fhon jest erreichen, ob fie jeßt fchon neben dem . 
Bewußtſein des vorhandenen Schlecdhten, dad Bes 
mwußtfein von dem Beſſern haben, was an deffen 
Stelle gefegt werben und ald Gutes beftehen könnte, 
zweifle ich; aber das Problem muß gelöft wers 
den, weil das Beduͤrfniß diefer Löfung ald Noths 
wendigkeit vorhanden ift, und es kann fein, daß 
die Zufunft den Socialiften oder ihren Nachfolgern 
. gehören wird. 

Es hat mich überrafht, neulich über einem 
Bücherladen auf dem Quai d’Orfay die Worte 
»Imprimerie du Phalanstere« und an dem Schaus 
fenfter deffelben nur focialiftifche Werke audgeftellt 
zu finden. Dan ift in Deutfchland noch nicht 
gewohnt, den Socialismus ald Wirklichkeit in 
das Leben treten zu fehen; auch die Form, in 
der er auftritt, ift und befremdlich. 


An diefen Tagen erhielt ich einen Brief von 
9 ® 


der Herauögeberin ded Journals »Les voix des 
femmes, Journal socialiste et politique, organe 
des intereis de Toutes,« Madame Eugene Ni: 
boyet. Eine ruflifche in Paris Iebende Ariſto⸗ 
fratin vom reinften Waffer, mit Madame Ni- 
boyet befreundet, hat und mit einander belannt 
zu machen gewünfdht. Der Brief lautet: 
»Mademoiselle! L’amie selon mon coeur, 
celle que jappelle mon bon ange, a de&sire 
en partant, que je fisse votre Connaissance. 
Je serais allee, sans retard, vous porter sa 
lettre, si Je pouvais sorlir, mais je redige et 
dirige un journal quotidien, la voix des fem- 
mes, et Je suis esclave de mon oeuvre. Vous 
qui &tes libre, venez a moi et, femme de let- 
tres, pardonnez-moi de vous appeler soeur. 
Nous avons toutes besoin de nous parler, de 
nous entendre, notre mission de paix com- 
mence; si nous sommes fortes, Y[humanıte sera 


grande; venez a nous! — Je vous adresse 





133 


un numero de notre, de votre journal, 
Veuillez le lire, veuillez le faire connaltre; 
il faut qu'il ait des appuis. Toutes ensemble 
nous devons concourir à sa redaction, sans 
distinction de patrie. Il n’y-a que des soeurs 
dans I’'humanite.« 

Die Anzeige des Journals felbft lautet: »La 
voix des femmes est la premiere et seule tri- 
bune serieuse, qui leur soit ouverte. Leurs 
inter&is moraux, intellectuels et mat£riels y 
seront franchement soutenus et, dans} ce hut, 
nous faisons appel aux sympathies de toutes.« 
— Der erfte Artikel: bed Blattes, das ich vor 
mir habe, beißt: »L’union fait la force,« und 
beginnt: »Les &lections approchent; laction 
des femmes peut &tre puissante; qu’elles ex- 
ercent cette action, ler&gne de la Reöpublique 
est,leur r&gne. Les temps sont venus, & 
l'oeuvre et sans r&läche! Unissez- vous, agis- 
sez dans la famille, agissez dans la cite, de- 


signez a vos freres &lecteurs les candidats 
que vous croyez assez purs pour e&tre eligi- 
bles. Pas de pu£eriles considerations! sovez 
franchement citoyennes et dignes de ce nom« 
u. f. w. 

Dann folgt ein vortrefflich gefchriebener Ar: 
titel, »Le Pape,« ferner ein fehöner Brief von 
George Sand — »Aux riches« — der aber hier 
nur abgebrudt, nicht für dad Zournal gefchrieben 
zu fein fcheint, da die Sand anderswo erflärt 
hat, nicht zu den Mitarbeitern der Voix des 
femmes zu gehören. Es folgen ein Auffag über 
die Crise financiere et commerciale, die actes 
officiels du gouvernement provisoire, la misere 
en Allemagne par Mad. Bettina d’Arnim, eine 
Ueberfegung des Bericht über die Voigtländer, 
aus »dies Buch gehört dem Könige,« ein Kapitel 
sur Je sort actuel des femmes, Die gewoͤhn— 
liche, aber fehr furze Reiue des Journaux po- 


tiques de la France et de letranger, ⸗ 
tig le la France et de letranger, ver 





135 
fhiedene Stabtneuigkeiten, einige Annoncen , dad 
Programme des spectacles, und dad Blatt, ges 
drudt in der Imprimerie de Madame Dela- 
combe, ift fertig. 

Ich Schreibe fo ausführlich darüber, um eine 
Vorftelung davon zu geben, wie ſolche Dinge 
bier gehandhabt werden. Die Haltung des Blats 
tes ift im Ganzen ungemein übertrieben, aber 
es ift doch viel Vernünftiged darin, und es ift 
jedenfalls ald eine Lebendäußerung der Jetztzeit 
und ihrer Beſtrebungen intereffant. Daß Mas 
dame Niboyet Feine uneble, feine gewöhnliche 
Frau fei, dafür bürgt mir der Name der Freuns 
din, welche fie mir zugeführt bat. 


Paris, 16. März Abends. 


Dad war ein merfwürdiger Abend. Den 
ganzen Zag und ſchon die Tage vorher war es 
unruhig gemwefen, weil die Maffe der National: 
garde die Auflöfung der einzelnen Corps d'elite 
in derfelben verlangte, welche ſich nicht auflöfen 
laffen wollten. Es find die Grenadiere und Jaͤ⸗ 
ger. Die erftern haben Bärenmügen wie die ein= 
flige Kaifergarde, die andern gelbe Federbüfche. 
Die Corps beftehen aus den Bewohnern des ers 
ſten und zweiten Arrondiffement, der Vorſtaͤdte 





137 


St. Honore, Chauffee d'Antin u. f. w., repraͤ⸗ 
fentiren alfo die Ariflofratie und die fogenannte 
haute finance. 

Um ſechs Uhr fuhren wir zu Madame de 8. 
zu Mittag, welche mit und zugleich in ihr Haus 
trat, athemlod den Hut abwarf und außrief: 
»Man waffnet fi in ben Kaubourgs St. Ans 
toine und St. Denis, wir haben einen Kampf 
diefe Naht. Ich komme vom Hötel de ville, 
der Platz ift vol von Menfchen, man hat das 
erfte und zweite Bataillon der Nationalgarde mit 
Steinwürfen und Schimpfreden überhäuft. Wei» 
ber find berangedrungen mit Schürzen vol Stei- 
nen, Zungen haben dem General Courtaid den 
Degen aud der Hand geriffen und zerbrochen. 
Der Kampf bricht gewiß los.« — 

Ein Pole und ein junger fpanifcher Herzog, 
beide anfäßig in Paris, beide Nationalgarbiften, 
verficherten, daß für den Augenblid, troß der 
großen Aufregung, nichtd zu fürchten fei, und 


wir festen und zur Mahlzeit, um gleich nad) 
derfelben in eine Verſammlung des Club cen- 
trale des r&publicains zu fahren, wo, wie die 
Männer mußten, diefer Gegenftand verhandelt 
werden follte. 

Der Klub verfammelte fi) im Conservatoire 
de Musique, nahe bei unferer Wohnung. Man 
ließ unfere Wagen in einiger Entfernung halten. 
Zwei Polen, von denen der eine feit Jahren 
Profeffor der Staatöwiffenfchaften bier ift, be⸗ 
gleiteten und. — In der großen, etwas wüften 
Halle des Gonfervatoire, wo die Statuen der 
Mufen ftehen, hielten fehr wild ausfehende Män- 
ner in Bloufen und Hemdarmeln Wade. Gie 
hatten breifarbige Bänder um den rechten Arm. 
— »Ihre Billette?« Die Polen zeigten ihre Eins 
trittöfarten vor. — »Aber die Krauen?« Mir 
hatten Feine, und einer unterer Begleiter ging, 
einen Marfeiller berbeizubolen, ein Mitglied des 


Klubs, daS er fannte Es war ein fehoner, fehr 





139 


dunkler Mann. Er ließ und die Loge Louis 
Philipp’d im Centrum Öffnen; mit und traten 
andere PDerfonen ein. Ich faß in der erften Reihe 
und konnte alfo vortrefflich fehen.- 

Der Saal ift nicht eigentlich ſchoͤn, hat außer 
dem Parlet drei offene Logenreihen und oben 
noch Peine vergitterte Logen. Dieſes ganze Lokal 
war voll von Männern, unter denen ſich zwanzig 
bis dreißig Frauen der arbeitenden Klaffen bes 
fanden. Auf der Orcheftertribüne faßen vor einem 
Tiſche mit brennenden Lichtern der Vorſtand und 
mehrere Commissaires d’ordre; fie hatten Alle 
ebenfalls die dreifarbige Binde um ben rechten 
Arm. Der große Kronleuchter in der Mitte des 
Saaled war angezündet, ‘doch brannte nur immer 
die vierte Lampe und ed blieb ziemlich dunkel 
im Saale. 

Die großen Fragen, um welche ed fich bans 
beite, waren die Entfernung der befoldeten Trup⸗ 
pen aus Paris, die Aufhebung der Corps in der 


Nationalgarde und eine Ehrenerflärung, ein Ver: 
trauensvotum für den Minifter des Innern, Ledru 
Rollin, der bei der alten Nationalgarde eben fo 
in Ungunft fteht, ald die neu eingetretene und 
die Garde mobile ihn verehrt. Alle Redner 
und faſt das ganze Publitum trugen Civilkleider, 
einige Wenige die Uniform der Nationalgarde, 
noch Meiner war die Zahl der Bloufenmänner. 
Der Präfident, ein alter, ganz kahlkoͤpfiger Mann, 
ſprach leife, aber fehr ruhig und deutlich. 

Er fagte gleich Anfangd: »Es ift vorgekom⸗ 
men, daß man diejenigen Bürger, welche ſich 
zum allgemeinen Beften bier vernehmen ließen, 
mit einem »lauter« unterbrochen und beläftigt 
hat. Meine Herren, Sie haben hier feine be: 
zahlten Schaufpieler vor fih, welche Sie zwin— 
gen können, fih nach Ihrem Willen zu fügen. 
Es liegt in Dem Intereſſe jedes Sprechenden, 
fich verftandlich zu machen, und ficher wird Jeder 


fo laut ſprechen, als feine Mittel es ibm geftatten. 





141 


Wenn biefe aber ſchwach find, fo zwingt ed uns 
zu verboppeltem Schweigen und doppelter Auf: 
merffamleit, aber man kann Niemand zwingen, 
fi wehe zu thun, um fi) im Lärm verftändlich 
zu madhen.« 

Die Verfammlung wat außerordentlich bes 
wegt; zuletzt, ald ein Mann gegen Ledru Rollin 
und für Lamartine auftrat, wurde fie fo leiden⸗ 
fhaftlih und fo ſtuͤrmiſch, daß nach deutfchen 
Begriffen ein Weltuntergang zu fürchten ſtand. 
Alled fchrie: »Nieder mit dem Xriftofraten !« 
man wollte ihn nicht fprechen laffen. Vergebens 
bob er mehrmald die Hand empor, zum Zeichen, 
daß er fortfahren wolle zu reden, man zifchte, 
fchrie, trampelte, flampfte mit den Stöden, eine 
Pfeife ließ fih hören. — Da trat wieder ber 
Präfident dagwifchen: »Meine Herren, wir find 
Ale Zranzofen, wir find Republilaner und vers 
nünftige Männer. Wir haben eine Gewalt nies 
dergeworfen, weil fie unferer perfönlichen Freiheit 


Feffeln anlegte; follen wir daffelbe Verbrechen 
begehen und den Gedanken, dad freie Wort in 
Feſſeln fchlagen mitten in einer Verſammlung 
von Republifanern? Sprechen Sie, mein. Herr! 
erzeigen Sie und die Ehre, und Ihre Meinung 
mitzutbeilen.« 

Jedes dieſer Worte wurde mit fchallendem 
Bravo begrüßt; aber die Reden zu Gunften bed 
braven Minifters des Innern, des vortrefflichen 
Ledru Rollin, wurden immer lebhafter, die Ans 
Hagen gegen 2amartine und die ariftofratifche 
Nationalgarde immer heftiger. 

Endlich trat der Marfeiller auf. »Es handelt 
fih hier nicht um die Bärenmügen oder um bie 
gelben Federbüfche der Zäger,« rief er, »es ift 
eine Frage der Gleichheit. Diefe Herren ber 
erften und zweiten Legion möchten nicht gern 
mit der Maffe des Volkes vermwechfelt werden; 
fie mochten jicb um Die Herrfchaft ſchaaren, gleich: 


viel um welce, als Barriere zwifchen dieſer und 





143 


dem Wolfe, und fie möchten fo viel an ihnen ift 
dazu thun, die Barridre bald wieder recht hoch 
zu madhen. Wir wollen fie hindern, die erften 
Steine berbeizutragen. Es handelt fi nicht um 
die Bärenfelle, aus denen die Efeldhaut hervor⸗ 
fieht« — jubelndes Gelächter — »fondern um 
unfere Freiheit und Gleichheit. Diefen Brief 
babe ich geftern erhalten« — er lad ihn vor — 
»in diefem Briefe fordert eine reaftionäre Partei 
aus der Provinz auf, gegen die Auflöfung ber 
Corps zu protefliren. Hier find die Namens» 
unterfchriften.- | 

»Lefen Sie! die Namen! die Namen!« rief 
es von allen Seiten. — Der Marfeiller wollte 
fie mittheilen, der Präfident litt e8 nicht. »Der 
Name thut hiebei nichts, es kommt nur auf die 
Thatfache an. Die Namen nennen, wäre eine 
niedrige Denunciation und gefährlih, denn es 
würde Zwietracht fäen in einem Augenblid, wo 
wir der höchften Einigkeit bedürfen. Was wollte 


man thun, wenn man die Namen wüßte? Man 
bat diejenigen, welche die Hand an unfere reis 
heit gelegt haben, weder getödtet, noch geftraft; 
man hat fich begnügt, fie unfchädlicdy zu machen 
und ihre ftrafbaren Handlungen der Verachtung 
und dem Spotte preid zu geben. Das Bolt, 
welches dad Vaudeville erfunden, Bann fich mit 
diefer Züchtigung begnügen, wenn ed, wie jet, 
ſtark ift durch die Gewalt feines Rechts.« Die 
Lefung der Namen unterblieb. 

Darauf beftieg ein großer, fehr energifch aus⸗ 
fehender Mann, im Paletot, die Rebnerbühne. 
Gr hatte einen ſtarken Bart um Mund und Kinn, 
und fein ſchwarzes Haar flatterte los und wild 
über feine düftere Stirne Er ſprach unftreitig 
am beften, refumirte alles, am Schluffe die Sraye 
aufftellend und beantmwortend, was man zu tbun 
babe? Das Volk muͤſſe ſich unbewarfner, aber 
ganz unbewaffnet — er betonte diefes Wort ſtark 


und wiederholte es mehrmals — verlammeln, 





145 


fi der proviforifchen Regierung vorftellen, und 
eben nur zeigen, wie groß die Zahl derjenigen 
fei, welche die Auflöfung der Corps verlangen. 
Zugleich aber ſolle man ſich gegen die »faiblesse 
deplorable du gouvernement provisoire et sur- 
tout de Mr. de Lamartine« erklären. 

Großes Gefchrei von mehreren Seiten: »Re⸗ 
fpeft vor Lamartine! Mäßigen Sie Ihre Aus⸗ 
drüde!« — „Ich weiß und erwäge was ich fage. 
Die Regierung ift ohne Xhatkraft und unent- 
fhieden. Sie bat dem Wolle fchon jebt iede 
Gontrole entzogen, indem fie alle Minifterien 
unter fich vertheilte, wie Louis Philipp alle Aemter 
und Würden für feine Familie in Befchlag nahm. 
Die proviforifhe Regierung hatte nur dad Amt, 
die Minifter, den Staat zu überwachen bis zur 
Eröffnung der Nationalverfammlung. Es wäre 
beffer geweſen, die alten Minifter beizubehalten, 
ald die Minifterien felbft zu verwalten, und gleich 


in der proviforifchen Regierung eine neue Büreaus 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. I. 10 


Eratie zu errichten. Wir müffen und alfo mor—⸗ 
gen verfammeln.« — »Um was zuthun?« fragte 
fpöttifch eine Stimme aus einer Loge. — »Meine 
Sreunde!« donnerte der Redner, »wir find alle 
Republikaner — aber wir haben falfhe Brüder 
unter und!« — »Ja! ja!« erſcholl es von allen 
Ecken. Eine Pfeife, die ſchon vorher erklungen 
war, ließ ſich wieder vernehmen. »Nieder mit 
den Pfeifenden! Nieder mit ihnen! Werft ſie zur 
Thuͤre hinaus!« rief man. — Der Praͤſident: 
»Das ſind Kinderſtreiche! Gaſſenjungenart! Ich 
erſuche diejenigen, welche in der Nähe des Pfei- 
fenden find, ihm gerecht zu werden, indem fie 
ihn hinauswerfen.« — Ein Commissaire d’ordre 
fprang von der Zribüne in das Parket. »Der 
Dfeifer ift hier! nein dort!« — Man fuchte, 
fand ihn, und er ward entfernt. 

Endlich Fam Monfteur Blangut, einer der 
Fuͤhrer der Mevolutien ım Februar, Der lange 


wegen politifcher Verbältniffe im Gefangniß ges 





147 


wefen ift; ein Meiner, fcharfblidender Mann mit 
grauuntermifchtem, glatt anliegendem ſchwarzem 
Haar, & la mécontent gefchnitten. Er gleicht . 
den Bildern Lucian Bonaparted. Sein Anzug 
war forgfältig; ein bräunlicher Paletot über dunk⸗ 
ler Kleidung und dunkle Handfchuhe, die er nicht 
ablegte während des Sprechene. 

Er ftüste fih auf den Tiſch und fagte fehr 
ruhig: »Meine Herren, ich habe fo eben ber 
Reihe nach die republitanifchen Klub von Paris 
befuht. Die Arbeiter werden fi morgen um 
zehn Uhr früh auf dem Platz de la Concorde ver⸗ 
fammeln, ohne Waffen, die Hände in den Ta⸗ 
hen — ohne Waffen, meine Herren! denn wir 
bedürfen ihrer nicht. Dann werben wir zuſam⸗ 
men nach dem Hötel de ville gehen, um folgende 
Zorderungen zu ftellen: erftend die Auflöfung der 
Corps in der Nationalgarde, zweitens allgemeine 
Volksbewaffnung, endlich die Entfernung der 


£inientruppen, und man. wird und das bewilligen, 
| 10 * 


148 


wenn man fieht, daß das Bolt einftimmig der- 
felben Meinung if. Schließlich wollen wir Herrn 
Ledru Rollin danken für Allee, was er für die 
Nation gethban hat. Alfo um zehn Uhr, ohne 
Maffen, meine Herren, auf der Place de la 
Goncorbe!« 

Damit hatte die Sigung ein Ende, obſchon 
ſich Lärm erhob und fortdauerte. Einzelne Grups 
pen traten zufammen, aber die Mehrzahl verließ 
den Ort. Morgen alfo giebt e& eine große De: 
monftration! 





13. 


Paris, 17. März, Abende. 


Schon ganz früh zogen einzelne Haufen mit 
Bahnen durch unfere Straße, in fo ernfter, ſchwei⸗ 
gender Haltung, daß die Menge audy ftill wurde 
und ihnen Raum machte, wo fie vorübergingen. 
Wir waren in großer Spannung Es litt 
und nicht in den Zimmern, wir Bleideten und 
an, gingen fhon um zehn auf die Straße und 
trafen auf dem Boulevard de la Madelaine einige 
Belannte, die gleich und von ber Aufregung aus 
dem Haufe getrieben worden waren. 


Auf den Boulevard Montmartre, des Ita⸗ 
liend, de la Madelaine berrfchte Ruhe. Wagen 
und Omnibus fuhren ihrer Wege, Tabuletkrämer, 
Zeitungdausrufer und der ganze Kleinhandel der 
Straße, trieben ungehindert und ungeftört ihr 
tägliches Wefen. Wir durchwanderten die Straße 
de la Pair, deren Ende die Statue Napoleon’s 
auf der Säule fhmüdt, kehrten um, gingen 
nochmald die Boulevard entlang bis zur Ma: 
delaine, durch die prächtige Rue royale nach dem 
Platz de la Concorde. Aber auch hier war es 
ruhig. Kinder fpielten um ten Obelisken von 
Luror und fprangen über den Strid im Garten 
der Zuillerien, deffen Bäume fi) mit dem erften 
Grün belaubten. 


Ginzelne Corps von Arbeitern, verfpätete 
Nachzügler, kamen uber Pont roval, den Quai 
entlang, um fih nach Dim Stadthauſe zu Dege: 


ben Wir blieben flanirend auf den Straßen, 





151 


bis und gegen drei Uhr eine lebhafte Volksbewe⸗ 
gung zurüd nach den Boulevards lodte. 

Als wir etwa in die Gegend der Paffage Jouf⸗ 
froi gelangt fein mochten, famen fie daher: huns 
derttaufend Mann! Sie kehrten vom Hotel de ville 
zurüd und hatten die Boulevards von der Porte 
St. Denis ab paflir. Man kann ſich den Eins 
druck diefer Volksmaſſe nicht überwältigend genug 
denken. Hunbderttaufend Männer, größtentheil® 
Arbeiter; vor jedem Gewerf die dreifarbige Sahne 
mit der Snfchrift: Message de la nation! — 
Zu zehn gingen fie, mit den Armen ineinander 
greifend. Die meiften trugen Bloufen, manche 
Gewerke bürgerliche Kleidung. Vaͤter hatten ihre 
Knaben an den Händen ober auf den Armen; - 
einzelne Frauen gingen mit den Männern Arm 
: in Arm. An vielen Bloufen fchimmerten milis 
tairifhe Ehrenzeichen. Schüler der popytechnifchen 
Schule, Marinefoldaten und Offiziere, zahlreiche 
Driefter, befonders irifche,, befanden fich in dem 


Zuge unter dem Volke. Sie fangen die Mar: 
feillaife, die Garmagnole, die Parifienne, die 
neuen Volkshymnen durcheinander. Die Refraind: 
»marchons, ca ira! — les aristocrates à la 
lanterne! — mourir pour la patrie! — und 
vive la r&publique! tönten abwechfelnd an unfer 
Ohr. Ueberall wurden die Schüler der polytech- 
niſchen Schule mit einem: vive l’&cole polytech- 
nique! empfangen. Wo fich die Priefter zeigten, 
erfcholl es: »Vivent les pr&tres! ah les braves 
pretres! Vive le clerge! il fraternise avec le 
peuple!« — Dazmwifchen erfcholl dann ein wil- 
ded: „a bas les aristocrates! a bas les corps 
d'elite! a bas les fracs noir! Vivent les blou- 
ses!« Einmal traten ein paar Köche vor einem 
ber Kaffeehäufer vor die Thüre; fogleich lachte 
Alles und ein laute Ȉ bas les bonnets blancs! 
vive Ja répuhlique!« zitterte durch Die Luft. 
Ale Fenfter waren voll Menſchen; aus vielen 


fchwenfte man begrüßend Die dreifarbige Fahne, 





153 


oder band rothe, blaue und weiße Zafchentücher 
zufammen, die man hinaußflattern ließ. Auf 
den Balkons der Reftaurantd fanden die Maͤn⸗ 
ner zufammengedrängt, die Hüte ſchwenkend, mit 
den Händen grüßend, zumintend, und den Ans 
ruf vive la republiquel mit einem Gegenruf 
erwidernd. Ein nicht zu ſchildernder, kaum erfaß⸗ 
barer Eindrud. 

Sie hatten die Verfprechung erlangt, daß man 
ihre Forderungen bewilligen werde. Wie wollte man 
auch diefer Maffe widerftehen? Der Jubel war 
grenzenlod. »A ce soir des lampions! des lam- 
pions à force!« riefen die Bloufenmänner und 
Gamins in der Freude des Sieges. 

Unter den uns zunaͤchſt ſtehenden Gruppen 
wurden jedoch ſorgenvolle Stimmen laut. Man 
fuͤrchtet eine Diktatur Ledru Rollin's, den Ruͤck⸗ 
tritt Lamartine's. Zwei heutige Plakate des Gou⸗ 
vernements, wegen der Zwiſtigkeiten in der Na⸗ 
tionalgarde und wegen der bevorſtehenden Wah⸗ 


len, waren energifcher ald die früheren Erklaͤ⸗ 
rungen beffelben; dennoch erfhienen auch diefe 
bleih und farblo8 gegen die Gewalt der Ver: 
bältniffe, und vor Allem machen Lamartine’s 
Erlaffe, troß der edlen Gefinnung und Sprade, 
feinen Eindrud. Gie find matt, man mag gegen 
diefe Behauptung fagen was man will. Im 
Kampfe macht fi nur die Kraft geltend, nur 
Zrompetenfchmettern und Kanonendonner; die 
fhönfte Beethovenfhe Symphonie erfcheint wir- 
kunslos gegen das Angriffsfignal der Kriegätrom- 
peten. Lamartine's edle Iyrifche Sprache ift nicht 
an ihrem Plate. Es fehlen Napoleon’d kurze 
epifche Schlagworte, um die Menge zu beberr: 
fhen. Sie haben feinen Slauben an fidy in dem 
Gouvernement provisoire und glaubenslos ift 
man machtlo8, wie man allmädhtig wird mit 
dem Glauben an die eigene Kraft. — 

Man verlangt heute Aufſchub der Wahlen, 


bis ın den Provinzen Die alten Beamten abgeſetzt 





155 


und neue ernannt fein werben, weil man fuͤrch⸗ 
tet, jene koͤnnten Lamartine's Partei. verftärken, 
von der die Gegner behaupten, daß fie die Res 
gentfchaft der Herzogin von Orleans wünfche. 

In den Champs elyfeed hatte man während 
bed Morgend eine weiße Fahne aufgepflanzt, 
vive Henri cinq! gerufen, den Rufer geprügelt, 
und ed war ein Pleiner Auflauf entftanden. Man 
nahm es für ein Regierungskunſtſtüc. Es ward 
wenig beachtet. 

Mittags wollte ich zur Fuͤrſtin G. gehen, um 
ihr, da ſie in dieſen Tagen Paris verlaͤßt, Lebe⸗ 
wohl zu ſagen. Ich mußte dazu zweimal den 
Zug der Duvrierd durchkreuzen, aber das hatte 
gar Feine Schwierigkeit, und obgleich ich im hellen 
Sefelfchaftsanzuge war, that mir Niemand ein 
Leid. Im Gegentheil, fie machten fehr gutwillig 
Plot. Was man von Anfällen der Proletarier 
erzählt, muß man glauben, weil es von glaub» 
würdigen Perfonen berichtet wird; aber warum 


begegnet mir gar nichtd der Art? Die Zürftin 
Hagte, daß eine Aufmärterin des Höteld, mit 
der fie gefprochen, fich niebergefeßt und auf ihren 
Verweis geantwortet haben: »Madame, je suis 
votre egale,« der Fürft, daß man feine Equi- 
page angehalten und daß Leute gerufen hätten: 
»Voila ces canailles de riches! mais bientöt 
nous irons en voiture et ils marcheront à pied.« 
— Einer anderen Dame unferer Belanntfchaft 
bat auf der Straße eine Frau gefagt, ihr bets 
telnd den Weg vertretend: »Madame, vous avez 
deux bracelets d’or, et je niai pas de pain!« — 
und eine dritte hatte hinter fi die Worte ges 
hört: »Tiens! cette begucle la porte encore des 
jupes garnies et des mouchoirs à dentelles!« 
Das mag Alles wahr fein; follten aber folche 
Aeußerungen nicht hervorgerufen werden durch 
die hochmuͤthige Angſt vor dem Volke, durch das 
gezierte zur Schautragen der Zotlette, welche den 


Neichen zur andern Natur geworden? Wir haben 





157 


Paris bei Tag und Nacht, zu Fuß und zu Was 
gen, faft immer ohne männliche Begleitung und 
oft in vollſtaͤndiger Zoilette durchkreuzt; uns iſt 
nicht das Geringfte begegnet; überall ift man 
höflich gemwefen und überall hat man die Almofen 
mit höchfter WVefcheidenheit erbeten, obfchon die 
Noth fehr groß fein mag. 

Die Fremden indeffen find wie vom Schred 
geblendet; fie wandern faravanenmeife aus. Die 
Ruffen müffen fort, die Engländer wollen fort, 
und wer bleibt, thut ed nur, weil die Bankiers 
fein Reifegeld geben. In diefen Zagen hatte die 
englifche Geſandtſchaft fünftaufend Päffe ausge⸗ 
ſtellt; Miſtreß Auftin, die ich bier finden follte, 
ift auch fhon fort. Paris ift auffallend leer; 
das fehen wir daran, daß wir in den erften, be⸗ 
fuchteften Reſtaurants um fehd Uhr, um die 
rechte Eſſenszeit, oft die einzigen Gäfte find. 
Die Wirthe Magen außerordentlid) und die Mas 
gazine find ohne Käufer. — 


Heute Abend waren wir in der großen Oper, 
wo wir eine vortreffliche Aufführung von Robert 
dem Teufel fahen. Eine Engländerin, Madame 
Plunkett, tanzte die Soli im Ballet und fand 
Beifall. Aber was für ein entfeglicher Stoff ift 
eigentlich diefer Robert der Teufel, und wie gar: 
flig ift die Gefallfucht diefer fpufenden Nonnen! 
Man ift fo in den Srrgängen der fogenannten 
Romantik befangen, fo gewohnt conventionell 
geheiligte Unfittlichfeiten zu ertragen, daß fie das 
Publitum gar nicht mehr ftören. Goͤthe's Braut 
von Korinth wird von Vielen verdammt, und 
fie ift bei aller Schönheit auch kein recht erfreu- 
licher Stoff, aber dieſe Eöfterlihen Vampyre, 
die mit ihrer ſpukhaften Liebesluft den halbtruns 
kenen Ritter verfolgen und, die Leichengewänder 
abmerfend, ihn umtanzen — das ift der Menge 
ſchoͤn, das liebt fie, Das findet fie nicht beleidi: 
gend. So weit ift man entfittlicht, fo gedan— 


eenlos, fich daran zu freuen! Mich ekelte es an. 





159 


Von al der Deforationdpracht ber mittelalters 
lichen, monbdfcheinbeleuchteten Dome, ber grünen 
Trauermweiden und weißfchimmernden Grabfteine, 
fehnte ich mich fort nad dem Vatikan, zu ben 
(hönen nadten Götterbildern, zu ber reinen, un⸗ 
verhuͤllten Menfchengeftalt der heiligen Antiken. 
Ald der Spuk und die Lüfternbeit bei kirch⸗ 
lihem Gtodengeläute ein Ende hatten, als das 
Parterre die Marfeillaife verlangte, athmete ich 
auf. Der gefunde Klang dieſes rachedürftenden 
Freiheitöliedes war herzftärkend dagegen. Ein 
Baritonift deflamirte fie fingend, die dreifarbige 
Fahne in der Hand, und dad ganze Perfonal, 
die Primadonna mit einbegriffen, fang den Mes 
frain. Der Eindrud blieb aber doch zurüd gegen 
den, welden am Morgen die Marfeillaife, vom 
Volke gefungen, gemacht hatte. | 
Nach dem erften Alte der Oper hatte ber 
Baflıfl einen neu gedbichteten und componirten 
Chant national vorgetragen, bei dem ebenfalls 


dad ganze Perfonal den Chor fang. Der Rhyth: 
mus war marfchartig, frifcher, räftiger Trom⸗ 
melwirbel dad Accompagnement des Chord. Eine 
Strophe enthielt etwa die Worte »jusque dans 
ses plus profondes racines le vieux tröne était 
pourril« — Das lang widrig an einem Orte, 
wo vielleicht noch vor wenig Tagen biefelben 
Sänger dem Könige fi) gebeugt und ihm ges 
buldigt hatten. — Der Refrain ded Lieded lau: 
tete: Vive la France r&publicaine! la liberte 
prend son essort! und hatte einen ſchoͤnen, jus 
beinden Klang. — Als wir gegen Mitternacht 
aus dem Theater famen, war Paris illuminirt. 
Test ifl’d nach zwei Uhr Morgen. 





142. 


Paris, 18. Mär. 


Gin älteres, froftigered, Tahlered Gebäude als 
das Pantheon, diefen Tempel franzöfifhen Ruh⸗ 
mes, habe ich nie gefehen. Große Hallen, welche 
Kreuzgänge bilden, hohe Kuppeln, in deren Woͤl⸗ 
bung einige Allegorien aus der Gefchichte Napo⸗ 
leon's al fresco gemalt find, und weiter nichts 
in den riefigen Räumen, deren Bauart etwas 
Unmohlthuended bat. Aus dem Schiffe der Kirche 
wird man in ein gewölbtes Souterrain geführt, 


in dem die Särge berühmter Männer ſtehen; dieſes 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. 1. 11 


Gewölbe ift jedoch Feine fehöne alte Krypta mit 
architektonifhem Schmud, mit Säulen und Hal: 
len, es ift ein ganz einfacher Keller, in dem 
man eben fo gut Wein und Fleifch, ald die Ge: 
beine von Heroen aufbewahren könnte. — 

Ein paar Särge ftehen frei und find von 
fhöner antifer Form; fo der Sarg Rouffeau’s, 
aus dem aber eine Hand eine brennende Zadel 
bervorftredt, welche moderne Allegorie eher auf 
eine Bonbondevife als für ein Grabmal paßt. 
Auh Voltaire und nocd viele Andere find hier 
beigefegt — verwahrt, wäre der rechte Ausdruck 
für die Empfindung, welche man dabei hat, be= 
fonder8 den weniger berühmten Xodten gegen. 
über, die zu beiden Seiten der Gewölbe in Ni: 
fhenreihen übereinander geordnet find. Da ift 
Santa Groce in Klorenz ein ganz ander Ding, 
mit Den Prachtdenkmalen Dante's, Alfieri's, Mi: 
hei Angelo's, Galilaͤi's u. A., Die das Volk taͤg— 


lich vor Augen bat in der ſtolzen, prächtigen Kirche. 


163 


Vom Pantheon fuhren wir nach Notre Dame. 
Die Befchreibung erlaßt mir, ba ihr fie in Vice 
tor Hugo’d Roman viel beffer findet, als ich fie 
geben könnte. Der Eindrud ded Gebäudes ift 
ernft und großartig, der ganze Stadttheil, bie 
Isle de la Cité, auf der ed liegt, hoͤchſt inters 
effant durch den mittelalterlihen Charakter, ber 
fih überall audfpridht und der um fo duͤſterer 
erfcheint, wenn man vorher die fchönen Quais 
der Seine paffirt hat. 

Sieht man in der Mitte des Plabed de la 
Concorde, bei dem Obelisken ftehend, die Fon: 
tainen, die Zuillerien am Ende bed Gartens, den 
Zriumphbogen de l’Etoile, als Schluß der Champs 
elyſees, die Deputirtenlammer jenfeitd bed Pont 
royal, und die Madelaine am Ende ber Rue 
royale, fo bat man ein Bild von fo großer Pracht, 
fo reicher Schönheit, daß man ganz ungläubig 
daſteht, wenn man ſich nad) wenigen Minuten 
in dad Innere des alten Paris, nach der Inſel 


ber Gite oder in die Gegend der Sorbonne vers 
fest fieht. Schmale, fieben bis acht Stod hohe 
Häufer in den enaften, winklichtſten Straßen, 
von Schornfteinen überragt, die den Dampffchorn: 
fteinen an Höhe nichtd nachgeben. Wo einmal 
ein Haus abgebrochen und eine Luͤcke in ben 
Reiben entftanden ift, pußt und tündht man bie 
Seitenwände nicht ab, fondern fie werden von 
oben bis unten mit großen XAffichen bemalt. Da 
fieht man Damen mit großen Shawls und Son⸗ 
nenfihirmen tiber den Anpreifungen eines Zahn: 
arztes gemalt, große MWeinflafhen und Würfte 
neben den Empfehlungen eined Shawlmagazins; 
und dazmifchen ziehen fih, unter all dem Blau, 
Roth und Gelb der Buchftaben, die breiten Rauch: 
fpuren ehemaliger Schornfteine. Anfangs kann 
man es ficb gar nicht Flar machen, wodurch die 
Strafen von Varis einen jo eigenthuͤmlich be 
fremdenden Eindruck machen, bis man gewahr 


wird, daß Derfelbe zu einem guten Zbeil von den 





165 


boben Schornfteinen und mit Affichen bemalten 
Brandmauern und Edhäufern herrührt. An einem 
ſolchen war in der Höhe ded dritten Stocks über 
der Anzeige eined Holzmagazind ein Kohlenträger 
fo täufhend bargeftellt, daß mich jedesmal ein 
Schred und Schwindel erfaßte, fo oft wir vorbei 
famen. 

Sehr reizend ift dagegen die Art, wie bie 
Scaufenfter an den Magazinen verziert werden. 
Selbft der Holzhändler fpaltet und fhichtet feine 
Holzfcheite in gefälligen Formen vor den Keller: 
thüren und $enftern auf, und die boutiques de 
comestibles find glänzend und luſtig wie ein 
Weihnachtstiſch. Hummern und Würfte mit Gold: 
papier beflebt; Goldfiſche in frifhem Waffer uns 
ter Guirlanden feiner Kräuter, gerupfte Faſanen 
mit bunten Schweiffedern, Pafteten in fchönen 
Schaalen, Fiſche auf grünen Blättern, gebras 
tened Geflügel und $leifhwaaren in glänzenden 
Gallerten, dad fieht beim hellen, fladernden Gas⸗ 


licht fo lodend aus, daß man fich doppelt über 
die Enthaltfamfeit des Volks in den Revolus 
tiondtagen zu wundern hat. inzelne Straßen 
find faft ganz von beftimmten Gewerben ein= 
genommen, wie die Rue Vivienne, an deren 
oberem Ende Haus an Haus fih Pußhandluns 
gen und Blumenmagazine finden. Auch die Paf- 
fagen, welche ſich durch ganze Stadtviertel zies 
ben, find fehr huͤbſch und man lernt fich mit 
ihnen vertragen, wenn man bei Regenmetter die 
Weite der Parifer Wege zu durchmeffen hat. — 
Halbe Zage lang wandern wir durd die Stra⸗ 
Ben, ohne Plan und Ziel, und immer gewährt 
ed neue Luft, immer ift etwad zu fehen, was 
unterhält, auch jeßt, wo Parid fo wenig fich 
ſelbſt ähnlich fein foll. 

Heute lag wirklich wieder die Revolution in 
der Luft, wenn man fo fagen darf. Man fühlte, 
man abnte fie, wie ein berannabende3 Gewitter. 


Ucberall ftanden Die Arbeiter wieder zu dDreien, 





167 


vieren beifammen, oder zogen in größern Truppe 
ſchweigend durch die Straßen. Plakate der Res 
gierung fordern zur Rüdkehr in die Werkflätten 
auf und erklären, daß die ausländifchen Arbeiter 
an den Nationalattelierd nicht Theil haben koͤnn⸗ 
ten. In einem ber erften Shamlmagazine, wo 
wir einen Einfauf machten und etwas gewaſchen 
baben wollten, fragten wir, wann wir Diefes 
wieder haben könnten? »Das wird von den Ars 
beitern abhängen, die noch immer nicht zurüds 
kehren,« bieß «8. 

Täglih hört man von großen Bankierhaͤu⸗ 
fern und Fabrikanten, welche ihre Zahlungen eins 
fiellen müffen, und täglich auch neue Reben an 
dad peuple magnamine, über feinen bon sens 
und feine moderation; aber dad Volt will nicht 
arbeiten, es will ernährt fein, und es ſcheint, 
daß diefe Sache der Regierung gewaltig über 
den Kopf waͤchſt. In der Gefchichte der Giron⸗ 
biften von Lamartine findet fi ein Wort, das 


man jest füglich auf ihn felbft anwenden Tann: 
»Le g£nie fait piti& quand on lc voit aux prises 
avec limpossible!« — €8 ahnt Niemand, ed 
überfieht Niemand, wo oder wie diefe Krifis 
hier enden wird, und ed müßte wahrhaftig ein 
Munder gefchehen, wenn fie friedlich und glüds 
lid enden follte. 

In dem Hötel de Ville befinden ſich nod) 
immer zmweihundert Mann mit zwei Kanonen und 
reichliher Munition, melde fi dort feitgefegt 
haben und nicht weichen wollen. Da man fie 
nicht vertreiben konnte, ohne einen Aufftand 
zu wagen, thut man, als bewachten fie daS 
Stadthaus, und hat ihnen noch ein Corps der 
Garde mobile beigefelt. Die Regierung behan⸗ 
delt dad Wolf wie nachgiebige Eltern ihr weis 
nendeds Kind, dem fie fagen: »Ach, das gute 
Kind iſt fo artig, es weint gar nicht mehr! 
während dieſes laut fchreit und mit Händen und 


Füßen um ſich fehlägt, und auch Grund zum 





169 


Schreien hat, denn ed leidet. — Diefe Krifis ift 
wie ein Gewitter. Sie mußte fommen, um bie 
Luft zu reinigen, aber troß diefer Ueberzeugung 
kann man ängftlich werden bei dem Blitzen, Don⸗ 
nern, Hageln, und fürchten, doch gelegentlich 
tudtgefchlagen zu werden, wenn man fidy auch 
befcheiden fagen muß, daß dieſes für den, wel: 
hen ed trifft, fehr unangenehme Zodtgefchlagens 
werden im Hinblid auf das Ganze durdaus 
gleichgültig wäre. 

Nach unfern Kirchenbefuchen fuhren wir zur 
Gräfin Marie d'Agoult, der unter ihrem Schrift: 
ftellernamen Daniel Stern befannten Verfafferin 
der Neliba und des Essai sur la liberie. Wir 
bofften, da fie einigen Mitgliedern be Gouverne- 
ment provisoire befreundet iſt, von ihr Auskunft 
über die Zuflände zu erhalten, und vernahmen 
auch die zuverfichtlichfien Beruhigungen, an bie 
man jedoch nicht zu glauben vermag. 


Als ich die Gräfin das erſtemal ſah, über- 
11* 


rafchte fie mich, abgefehen von dem bedeutenden 
geiftigen Eindrud ihrer Perfönlichkeit, durch die 
feltene $ormenfcdöne ihres Aeußern. Groß, fchlant 
und vol, bat ihre Geftalt etwas Imponiren⸗ 
des bei dem volllommenften Ebenmaaß der edel 
gebildeten Glieder. Ihr Profil ift eben fo rein, 
und die ſtark und beflimmt ausgeprägten Züge 
befommen dadurch, daß fie ihr bereitd ergrauen- 
des Haar nah Männerart kurz um den Kopf 
geordnet trägt, noch einen befondern Ausdrud. 
Denke Dir dazu eine fehr ftrenge dunkle Kleidung, 
ein mittelalterlich dekorirtes Arbeitsfabinet, einen 
langgeftredten weißen Windhund auf dunklem Zep: 
pic) vor dem brennenden Kamin, und das praͤch⸗ 
tigfte Bild ift fertig, wie wir es gefehen haben. 

Es war bei diefem Morgenbefuhe die Rede 
von einem Wohlthätigfeitsballe in der fomifchen 
Dper, der beute Abend flattfinden ſollte und den 
wir zu feben befchloffen hatten Die Brüfin be 


ftärfte uns in dem Vorſatz, und als wir um 





171 


zwölf Uhr aus den Varietes famen, wo Bouffe 
die Rolle eines Gelehrten in: le pouvoir d’une 
femme vortrefflich gefpielt hatte, fuhren wir 
noch nach der komiſchen Oper. Da gab ed denn 
ein bellerleuchteted Haus — a giorno wie bie 
Staliener fagen — fehr hübfche Toiletten, eine 
Lotterie, bei der jeve Dame ein Bouquet und 
in diefem verborgen ein Lotterieloos erhielt, Er: 
frifhungen, große Hige und Alles, was fonft 


zu einem Opernballe gehört. Nachdem wir dieſe 


Hitze eine Stunde lang im vollften Maaße ges 
nofien hatten, fuhren wir nach Haufe, und id) 
legte mich mit dem feligen Bewußtſein fchlafen, 
daß ich zur Beruhigung meined Gewiſſens auch 
„einen Opernball in Paris mitgemacht, das heißt 
ausgehalten hatte. Das mag für junge, in Paris 
befannte Männer fehr unterhaltend fein, für fremde 
Srauen ift ed eben fo langweilig ald ermuͤdend. 


Paris, den 19. März. 


Die Witze ded Charivari haben darum etwas 
fo uͤberaus Beluftigendes, weil fie nicht boshaft 
find; wenigftend find mir feine folche vor Augen 
gefommen. Ein Paar derfelben will ich hieher fegen. 
Auf den Boulevard find alle Bäume in den 
Revolutiondtagen umgehauen und zu den Barris 
taden verwendet worden. Ein Parifer Bürger 
fieht nun vor einem abgehauenen Baume, bes 
trachtet die leere Stelle mit dem Lorgnon und 
ruft: »Pas de verdure! c’est etrange! Comme 





173 


— 


les revolutions changent le climat! La vege- 
tation est bien en retard cette anneel« -— 
Ein verabfchiedeter Beamter fieht zu, wie man 
die aufgeriffenen Steine des Pflafterd wieder eins 
tammt, und feufjit: »Est il heureux ce pave! 
il retourne. toujours dans sa vieille place!« — 
Ein Dritter fommt in firömendem Regen Nachtd 
vor feiner Wohnung an. Er hat den Schirm 
zugemadht, um die Hand für das Auffchließen 
frei zu machen; Mantel und Hut triefen von 
Waffer. Er eilt, den Schlüffel in die Thüre zu 
fteden, aber riefige Plakate, Aufrufe an dad 
Volk find über das Schlüffelloch geklebt. Nun 
ſteht er da, arbeitet mit den erftarrten Fingern, 
dad Papierfortzufchaffen, und ruft: »Ah, quelle 
bonne chose, que la liberte.« 

Indeß Pomifcher ald au dieſe Satiren iſt 
mir neulich der Plafond in der franzdfifchen Oper 
vorgefommen. Er ftellt den Olymp dar, auf 
dem die Götter beifammen figen, mit Ausnahme 


Apoll’d. Diefer namlidy Mettert mühfam, die 
Leier in der Hand, durch dad dide Gewoͤlk ems 
por, weldes den Olymp von der Erde trennt. 
Ale franzöfifchen Dichter und Muſiker, porträt- 
ahnlich, im Koſtuͤm ihrer Zeit, folgen ihm und 
Flettern eben fo emfig als ihr göttlicher Meifter 
den Pfad ded Ruhmes hinan. Nun denke Dir 
diefed Gemifch von Perrüden, Hoflleidung, Zoͤ⸗ 
pfen, Jabots, Revolutiondtrachten und griechi⸗ 
her Nadtheit; die Phyfiognomien Voltaire's 
und Boileau’d der Gered, der Venus, all den 
feligen Göttern gegenüber! Es läßt fih gar 
nicht8 Komifcheres erfinden und man begreift 
nicht, wie ein fo gebildetes Wolf diefen Unge⸗ 
ſchmack erträgt. . 

Morgend waren wir heute im Jardin d’hiver, 
weil jeder, der uns ſah, immer fragte: »waren 
Sie im Wintergarten’« Ale Welt rubmte ibn, 
nannte ihn admmableiment beau: mir ift er un: 


beichreiblich Tangwerlig und flitterbaft erfchienen. 





175 


Den Jardin d'hiver eröffnet ein fehr großer 
Saal, in dem ſich eine permanente Kunſtaus⸗ 
ftellung befindet: Delgemälde der unbebeutenderen 
Maler, vortreffliche Daguerreotypen und Aqua⸗ 
rellen, fehr ſchlechte Skulpturarbeiten und große, 
hoͤchſt geſchmackvoll geordnete Blumentiſche mit 
bluͤhenden Pflanzen. Dann tritt man in ein 
ſehr großes Treibhaus, deſſen erſte Haͤlfte mit 
orange und weißen Stoffen zeltartig uͤberdacht 
iſt. Oben herum gehen reich verzierte Gallerien, 
welche in kleine, behagliche Kabinets fuͤhren; 
unten im Zelte ziehen ſich Eſtraden mit Baͤnken 
an den Waͤnden hin. Dazwiſchen befinden ſich 
Trophaͤen, Harniſche, Fahnen, Statuen, gewapp⸗ 
nete Pferde, die unter all den geputzten Maͤn⸗ 
nern und Frauen auf den Eſtraden einen mehr 
verwirrenden und confuſen, als ſchoͤnen Eindruck 
machen. 

Es warb gerade an dem Tage ein Morgen⸗ 
concert von den Mitzliedern der fomifchen Oper 


zum Beften der Berwundeten gegeben. Man 
fang die Freiheitölieder aus der Stummen von 
Mortici, heroifche Partien aus andern Opern und 
zulegt auch dad Körner’fche Schwerbtlied im Chor, 
ob aber deutfch oder franzöfifch, konnte ich nicht 
verftehen. Dann deflamirte eine fehöne, brünette 
Scaufpielerin in weißem Gewande, mit Eorbeeren 
befränzt, einen Palmzmweig in der Hand, viel von 
libertc, gloire, patrie; aber außer diefen Stich: 
worten konnten wir der Ferne wegen aud) davon 
nichts hören, ald das donnernde Beifallflatfchen 
ded Publiftums. Das Zelt ift groß wie ein Reit- 
faal und mag ſchwer mit der Stimme auszufuͤl⸗ 
len fein. 

Den legten Theil des Wintergartens bildet 
der eigentliche »Garten,« ein Treibhaus, in deffen 
Mitte ein Stuͤckchen Rafen gefäct ift, aus dem 
ein paar Buͤſche und Straͤucher Dervorwachfen. 
Dann giebt 08 auch Palmbaume, Teiche en mi- 


nature mit Goldfiſchen, Steingrotten, Spring: 





177 


brünnden, einige Volidren, und viele herumflat⸗ 
ternde Kanarienvögel, über die man erfchridt. Fer: 
ner findet man ein Leſekabinet, Buͤffets, einen 
Ueberfluß an Luüfterd und Lampen, und all daß 
zufammen ift doch im Grunde findifch, kleinlich 
und langweilig, und diefes doppelt in einer Zeit 
wie die jeßige. Der ganze Jardin d’hiver fieht 
aus wie eine Weihnachtöbefcherung für große 
Kinder; von einem Luſtorte für das Voll, wie 
Einige ihn nannten, hat er vollends nicht. 

Für das Volk zu bauen hat man überhaupt 
verlernt; die Römer verftanden ed. Die allem 
Volke geöffneten Thermen des Garacalla, des 
Titus, dad Amphitheater des Marcelus, das Co⸗ 
loffeum, dad waren Bauten, in die man zehn 
folhe Jardins d’hiver hinein fegen konnte. An 
den nadten Mauern diefer Gebäude erfreut, ers 
bebt man fid noch heute; was wirb nach zwan⸗ 
zig Jahren von ben Spielereien ded Parifer Wun⸗ 
derwerkes übrig geblieben fein? 


Erinnerungen a. d. Jahre I848. 1. 12 


Als wir heimkehrten, e8 mochte fünf Uhr 
fein, wehte plößlih aın Ende der Rue royale 
auf dem Boulevard eine roth: fehwarz = goldene 
Fahre. Wir gingen fchneller, um zu fehen, was 
ed gebe, und erblidten die Deutfchen, welde 
vom Ererciren auf dem Maröfelde zuruͤckkamen. 
Die Zugführer und Fahnenträger ſchritten, troß 
des Princips der Gleichheit, mit wahrer Offiziers- 
eitelfeit einher; da8 muß wohl in den Deutfchen 
liegen. Sie quälten fid ängftlih, im Schritt 
zu gehen, und banden ihre junge Freiheit gleich 
vorfihtig an Richtung und Fühlung. Das ift 
den hunderttaufend Ouvriers neulih gar nicht 
eingefallen; da ging jeder wie es ihm gefiel, und 
doch machte der Zug.einen fo würdigen Eindrud. 

Einige Sompagnien fangen, man fonnte nicht 
bören was, aber dabei fiel e$ mir recht traurig 
auf, daß wir Deutſche nicht einmal ein National: 
ed haben; feine Melodie, wie Die Marſeillaiſe 


oder das Rule Britanmıa. rule the waves, bei 





179 


der jedes Herz erzittert in freudigem Stolz. Wie 
bat man Deutfchland mißhandelt, wie haben fich 
die Deutfchen mißhandeln Laffen! | 
Mitten auf den Boulevards machten fie Halt. 
Sie riefen: »vive la Republique!« Es entftand 
ein Gedränge, ein Auflauf; wir blieben in ber 
Ferne. »Was giebt e8? was machen die Deuts 
fhen dort?« fragten wir einen Worübergehenden. 
»Ich weiß nicht, meine Damen; ed wirb wohl 
die Öfterreichifche Gefandtfchaft fein, der die Deut: 
fhen ein Vivat bringen,“ entgegnete naiv ber 
gute Bürger. Inzwiſchen waͤlzte fih der Ruf: 
»la revolution a Vienne! la republique & 
Vienne! l'abdication du prince de Metternich l« 
über die ganzen Boulevard. Ein Zeitungdvers 
käufer hatte tiber feinem Tiſch die Zricolore ent: 
faltet; die Worte: »Vive Ja Republique! la re&- 
volution à Vienne!« prangten in ihrer Mitte. — 
Wir hielten es für einen Puff. Und doch ift es 


Wahrheit geworden. Die Tyrannei geftürzt in 
12 ® 


Wien, durch Metternich’8 Starrhbeit, in Metters 
nich's Perfon! Louis Philipp im Eril, Metters 
nid auf der Flucht! Es giebt eine Nemefid in 
der Weltgefchichte! Cäfar verblutet auf dem Ka⸗ 
pitol, Ludwig XIV. ftirbt im Lebensüberbruß der 
Ueberfättigung ‚. Napoleon verfchmachtet auf St. 
Helena, Louis Philipp geht arm in dad Eril 
und Metternich führt den Sturz der Tyrannei 
in Deutfchland herbei. 

Man fpriht von großer Aufregung in Berlin, 
größer ald unfere Briefe von dort jie fchildern, 
von Unruhen in Polen, und auch bier fieht es 
fehr bedrohlich aus. Es bildet fich unter $locon 
eine Partei, der ſchon Ledru Rollin zu gemäßigt, 
ein Xriftofrat erfcheint. Flocon foll im Klub ges 
fagt haben: »Man will die Wahlen brfchleunigen, 
weil man das Hereinbrechen der Anarchie fürdh: 
tet, falls die Nationalverſammlung nicht bald 
zufammentritt. Aber wir wollen die Anarchie, 


wir bedürfen der Anardie. Der Kuͤnſtler, welcher 





181 


aus einer ſchlechten Erzftatue eine neue, gute 
machen fol, muß fie erft im Feuer zerfchmelgzen, 
fie auflöfen, dad Metall in neuen, glühenden 
Fluß bringen. Wir werden feine neue Gefell« 
ſchaft bilden, Beine Regeneration ift möglich, fo 
lange die Monogamie, die Ehe und die Familie 
Sklavenketten bilden, an denen das Chriſtenthum 
und bält. Ehe die flaatlihe Freiheit beginnt, 
ehe die bürgerliche anfangen kann, muß die menſch⸗ 
liche Freiheit begründet fein.« 

Das Volk, d. h. die Proletarier fagen: »Wir 
wollen Deputirte haben, die nicht lefen, nicht 
fhreiben können; denn die Andern haben uber 
den Büchern den Bli für unfere Zuftände vers 
loren und urtbeilen nah Theorien. Wir wollen 
Deputirte, die von den großen Staatsverhaͤlt⸗ 
niffen nichts wiffen, die nichtd kennen als unfere 
North, und nichtd berüdfichtigen als unfer bien- 
etrel« 

So erzählten mir geftern ein Paar Leidenfchafte 


liche Berehrer der anarchifchen Umfchmelzung. Sie 
waren dabei fo vergnügt wie Kinder, deren El⸗ 
tern einen Wohnungswechfel vorhaben, und bie 
fi in der allgemeinen Unordnung glüdfelig fuͤh⸗ 
Ten, weil fie thun und maden fünnen, was fie 
wollen. Wie dad enden wird? 

So lange die Völker roh find, wird die Ver⸗ 
gangenheit maßgebend bleiben für die Zukunft; - 
Mißbrauch der Freiheit wird zur Diktatur eines 
Maffaniello oder Rienzi, zur Kaiferberrfchaft 
eined Bonaparte führen. Sind die Franzofen 
aber reif für die Freiheit, ift die humane Bil: 
dung ded Volkes eine Wahrheit geworden, fo 
werden fie in der Freiheit dad Maaß, das Geſetz 
finden und achten, und eine fefte Republif wird 
entftehen, deren Grundlage ſchon die Keime jener 
focialiftifcben Zufunft in fich tragen wird, wel: 


cher wir unzweifelhaft entgegengeben. 





Paris, 20. Mär. 


GSeftern ift mir eine volllommen neue Öffens 
barung geworden, wenn man es Öffenbarung 
nennen kann, daß urplöglich verwirklicht vor uns 
ſteht, wa6 wir lange in unferem Innern ale 
Ueberzeugung befeffen haben. — Ich habe bie 
Rachel ald Pauline im Polyeuct von Gorneille 
gefeben und fie nachher die Marfeillaife fingen 
hören. 

Zaufendmal babe ich behauptet: das, was 
man und jebt auf dem Theater bietet, an Dich⸗ 


tung und Darftellung , ift nicht das Rechte, ift 
nicht das Schöne; es muß ein Anderes geben, 
weil man fühlt, daß es erxiftirt. Tauſendmal habe 
ich auch gefagt, das Theater, die höhere Dramas 
tifhe Dichtung kann den Vers nicht entbehren. 
Der Rhythmus muß im höheren Drama der 
Traͤger des Gedankens fein, der ihn uͤber das 
Alltaͤgliche erhebt. — Ich habe ſeit Jahren 
keine Freude am Theater gefunden, ſelten durch 
die neuen Werke einen wirklich tiefen, erheben: 
den Eindrud empfangen. Die meiften haben 
mid) durch innere Unmwahrheit, durch Mattherzigs 
feit und Glaubendlofigfeit geärgert, ober durch 
Dhrafen und Schlagworte gelangmeilt, die nicht 
hineingehörten. Vor den Schaufpielern, vor der 
Convention der Spradhe, vor dem hohlen Pas 
tho8 der Zragirenden, Lin ich immer wahrhaft 
erichroden. 

Mir hat e8 lange vorgefhwebt, daß Einheit 


der Scene eine Bedingung des ächten Dramas 





185 


fein müffe, -und nun ich das erfte Stud von 
Gorneille gefehen babe, bin ich volllommen übers 
zeugt, daß Einheit des Ortes und der Zeit eine 
Nothwendigkeit für dad dramatifche Kunſtwerk 
ft. Sie flimmen ten Hörer allein zu jener 
Ruhe, melde die Auffaffung ded Kunſtwerkes 
fordert, und das fpannende Intereffe an der 
Handlung, welches die moderne Tragödie beabs 
fihtigt,, ift ein Kunflflüd, unwurdig der Kunſt. 
Die Franzofen, welche ihren Gorneille, Racine, 
Voltaire höher fielen ald Victor Hugo und Dus 
maß, haben Recht ; wie die Italiener Recht haben, 
welche ſich an ihre alten Maffifchen Dramen halten. 
Dad Drama im böhern Sinne fol uns den 
Menfchen zeigen im Kampfe mit den Lebenswir⸗ 
ren, wilde ald Nothwendigkeit aus feiner Nas 
tur hervorgehen und dadurch feine Entwidlunges 
gefchichte bilden. Es foll uns eine histoire intime 
im größten Style geben, der ſich auch in gerins 
gen, untergeordneten Außern Verhaͤltniſſen bethäs 


tigen fann. Diefe Seelenentwidlüng zu betrach⸗ 
ten, bedürfen wir der Ruhe; Ruhe entfteht durch 
Sammlung, und diefe wirb unmöglid, wenn 
unfere Phantafie von Norden nah Süden ge: 
best und durch die Erwartung wunderbarer Ent⸗ 
widlungen gefpannt wird, wie beim modernen 
Drama. | 

Und nun Polyeuct und die Rachel! — Sie 
ift eine Peine, wenigftens nicht große, fehr mas 
gere Geftalt; ein nicht ſchoͤnes Geſicht, in dem 
nicht einmal der ſchoͤne jüdifhe Typus audge- 
prägt ift; eine hervortretende Stirne, Feine, fehr 
tief liegende Augen; die Bewegung der Ellenbo⸗ 
gen faft edig, die Haltung ded Rüdens, des 
Kopfes etwas gebeugt. So trat fie in dieſer 
Rolle auf. 

Sie fpielt die Gattin eines Roͤmers, der ſich 
zum Ghriftentbume befennt, das fie als Anban: 
gerin der alten Götter verachtet. Von dem Va— 


ter zur Che mit Polyeuct gezwungen, bat fle der 





187 


Liebe zu dem Zeldherrn Severus entfagen müf: 
fen und fi aus dem Gehorfam gegen den Bas 
ter, auß der Treue gegen den Gatten einen Kul- 
tus gemacht. Dad Drama beginnt mit der 
Ruͤckkehr des Severus in dem Augmmblide, wo 
Dolyeuct, des Abfald von den Göttern ange: 
Magt, zum Tode verurtheilt worden if. Die 
beftigften Seelentämpfe entftehen. Alle Bitten 
der Sattin, des Vaters vermögen nicht Polyeuct 
zum Widerruf zu bewegen. Polyeuct wird zum 
Tode abgeführt, nachdem er vorher Pauline, die 
tugendhaftefte Gattin, dem Severus, ald dem 
edelften der Römer, vermacht bat. Pauline aber 
folgt dem Gemahle bi8 zum Richtplatz. Sein 
Märtyrertod befehrt fie zu der neuen Lehre. 
Sie und ihr Bater, ein Öberpriefter, werben 
Chriften, und Severuß, von dem fih Pauline das 
durch für immer ſcheidet, verfpricht ihr großmuͤ⸗ 
thig, den Schub des Kaiferd für die Chriften 
zu erbitten. 


So ſchlicht diefe Erfindung in der Erzäh: 
lung Elingt, fo wenig ich das Pathos der alt« 
franzöfifchen Tragödie in Schuß nehmen will, 
wo ed übertrieben ift, fo find es doch lauter 
große und reine Motive, um die es fich hier han: 
delt; ein hoher Grundgedanke, an dem fi die 
einzelnen Charaktere entfalten und bewähren. 
Wenn Stratonice ihrer Freundin Pauline vors 
halt, daß cd Unrecht war, ohne Neigung zu hei⸗ 
ratben, und Pauline in der Würde troftlofer 
Entfagung antwortet: »Mais j’avais un pere!« 
fo wiegt died im Eindrud auf die Zufchauer ge: 
wiß das todte, ausmwendiggelernte: »Du ſollſt 
Bater und Mutter ehren« auf. 

Immer habe ich gefragt, wenn wir die Frauen 
auf dem Berliner Theater herummütben fahen: 
»wer raft denn im Schmerz? wer ficht fo mit den 
Armen? wer agirt fo, wenn er das Geheimniß 
feiner Liebe ausſpricht? wer fihreit denn feine 


Leiden fo aus?“ -—-- Bon all Diefen Berfehrtheiten 





189 


iR keine Spur an der Rahel. — Ge mehr fie 
leidet, je tiefer ihr Schmerz wird, um fo ftiller, 
um fo Manglofer wird ihre Stimme. Nur fchnels 
ler, nur angflvoller, nur thraͤnenbebender fpricht 
fi. Sie flürzt nicht ab von der Scene; wuͤrde⸗ 
vol geht fie davon, ihr Leid dem Auge zu ent⸗ 
ziehen, in fchöner Achtung vor der eigener Schön: 
beit, vor der Heiligkeit des Schmerzes. — In 
jeder Bewegung, in jeder Vibration ihrer Stimme 
fand ich die Beſtaͤtigung meiner Ueberzeugung, 
daß jede Kunft nah den Regeln der Plaftik, 
durch die hoͤchſte Einfachheit und Beſchraͤnkung 
der Mittel dad Höchfte leiftet. Dad moderne 
Drama, felbft Shafespeare, felbft Goͤthe im Goͤtz, 
und Andere ftehben hinter dem antifen Drama 
zuruͤck. Sie verhalten fi) dazu wie Genremas 
lerei — die ja in ihrer Art volfommen fein 
fann — zur Plaftit. — Das Drama, welches 
ald Erziehungsmittel der Nationen benugt wers 
den kann und fol, ift aber allein das plaftifche 


Drama, welches innerlich wirft, weil es nicht 
Außerlich fpannt, die Neugier nicht anregt. 

Das Koftüm der Rachel war vollendet. Ein 
ganz weißes, fein wollened Gewand, fehr lang 
auf die Füße herabfallend, am Halfe ausgefchnit: 
ten, bloufenartig natürlich, ohne genähte Falten, 
mit einer Binde von demfelben Stoff, melde 
alfo Querfalten gab, unter der Bruft gebunden; 
die kurzen Aermel wie bei der Statue der figen- 
den Agrippina mit drei Edelfteinen gefchloffen. 
Darüber trug fie einen goldgelben Mantel von 
Wolle ohne alle Stiderei oder Beſatz, ſtreng 
nach dem Bilde der Antike; er warb auf der 
linten Schulter mit einer Gemme zufammenge: 
halten, den rechten Arm für die Bewegung frei: 
laffend,; das Daar hatte fie mit einigen Streifen 
goldenen Bandes durchflodhten, das Scheitel und 
Flechten umſchloß. 

Als ſie nach der Sterbeſcene ihres Gemahls 


auf die Buͤhne zuruͤckkehrte, hatte ſie den Mantel 





191 


abgethan, die Stirnbinden nad hinten gefchoben, 
fo daß dieſe in lofen Zügen die Flechten umga⸗ 
ben und von Bernadjläffigung ded Aeußern zeug⸗ 
ten. Nichts von jener gemachten, komoͤdienhaf⸗ 
ten Tcheaterraferei der offenflechtigen, haarſtraͤu⸗ 
benden Verzweiflung. In langen, ruhigen Fal⸗ 
ten hing das weiße, Peufhe Gewand an ihrem 
Körper hernieder, wie an der fehönften Gewand» 
ftatue; und ſchnell, mit verftörtem Blide eintre: 
tend und feften Fuß fallend im Wordergrunde, 
erzählt fie den Tod ihres Gatten und fagt: 
»jJai vu! je sais! et je crois!« beide Arme in 
Ertafe gen Himmel breitend und die Augen, ſtrah⸗ 
Ienwerfend , erhoben in Verflärung. Mir bebs 
ten Schauer des Entzuͤckens durch alle Adern, als 
der Vorhang fiel. 

Aber nun erfholl ed: »Rachel! la Mar- 
seillaise! la Marseillaise! Rachel« — Der 
Vorhang ging auf. In demfelben weißen Ge 
wande, eine breifarbige Schärpe unter der Bruſt 


um die Zaille gefhlungen, bad Haar in der 
Vernachlaͤſſigung des leuten Akts, trat fie fchnell 
aus den Couliffen hervor in das Profcenium. 
Die Mufif accompagnirte leife, denn Rachel hat 
wenig Stimme, und nun begann fie. 

Dafür giebt ed durchaus Feine Worte. Was 
der Zorn der tiefften Unterbrüdung, was bie 
Empörung des entmenfchten und fich doch menſch⸗ 
lich fühlenden Sklaven an finfterem Ausdrud in 
die Züge eines Menfchenantliged preffen kann, 
dad lag in ihrem Gefihte. ine Kriegdfurie, 
eine entfeffelte Rachegöttin, wie der Schoͤnheits⸗ 
finn der Helenen fie dargeftellt hat; ſchoͤn, wie 
das lähmende, verfteinernde Antlig einer Medufe. 
Feder Nerv in mir hat gebebt, ald man hinter 
der Scene einen leifen, dumpfen Zrommelwirbel 
hörte, und fie, feft in das Publikum blidend und 
es bannend unter Die Gewalt diefes magnetifchen 
Blides, mit der rechten Hand in Tie gerne zei: 
gend, die Worte fang oder ſprach — denn e8 





193 


hält die Mitte zwifchen beivem: »entendez - vous 
dans ces campagnes mugir ces feroces sol- 
dats? — Ils viennent, jusque. dans vos 
bras, &gorger vos fils et vos campagnes?« 
Ein Strom von fanfter Zrauer überfluthete 
ihren Zorn bei dieſen letzten Worten, und bie 
raͤchende Göttin hatte eine milde, weiche Klage 
für dad Loos der Geopferten. 

Dann die prachtvolleZuverficht in den Worten: 


Tremblez, tyrans et vous perfides, 
L’opprobre de tous les partis. 
Tremblez, vos projets parricides 


Vont enfin recevoir leur prix! 


Die fpöttifche Geringſchaͤtzung derer, welche 
die Freiheit zu tödten glauben, indem fie den 
Menfchen tödten: 


Tout est soldat pour vous combattre; 
S’ils tombent nos jeunes heros, 

La terre en produit de nouveaus, 
Contre vous tout préêts à se battre! 


Erinnerungen a. d. Zapre Isar. 1. 13 





Liberte, libert& cherie, 


Combats avec tes defenseurs! 


Zür den Ton dieſes liberie! libert@ cherie! 
reiht feine Schilderung aus. Es war der leis 





195 


denfchaftlichfle Enthuſiasmus, die tieffte, anbes 
tendfte Herzensliebe in ihrer Stimme. 

Rachel ift die perfonificirte, die menfchgewors 
dene Marfeillaife, der fleifchgeworbene Begriff 
des Freiheitöfampfes. Immerfort Mang es in 
meiner Seele: und das Wort warb Fleifh! — 
Ja! das fol das Wort! Es foll, es muß Fleiſch 
werden, um zu fein! Und es iſt auch darin ein 
Gott, daß diefe menſchgewordene Marfeillaife eing 
Juͤdin, die Zochter der Unterdrüdten ift. 

Eine halbe Stunde nachher, als man bereits 
ein Luftfpiel aufführte, Löfte fich die gewaltfame, 
ftarre Ergriffenheit meiner Seele, und da erft 
brach ich in einen Strom heißer Thränen aus. 
Ich werde den Abend nie vergeffen, niemalß! 

Da ich nicht allein hingegangen war, alfo abs 
haͤngig von Andern, mußte ich noch ein, freilich gu⸗ 
tes Luftfpiel von Alfred de Muffet anfehen. Es hieß 
le caprice, und die Allan fpielte meifterhaft darin. 


Teppiche über dem Zußboden, gefchloflene Couliſ⸗ 
13* 


fen, vollftändige Möblirung des Zimmers geben 
der Bühne eine ruhige Behaglichkeit, welche ge: 
wiß viel zu dem guten Spiele der Franzoſen bei- 
trägt. | 

Beim Heraudgehen aus dem- Theater hörten 
wir von einem Beitungdaußrufer — ed war 
nach zwölf Uhr — einen fehr fomifhen Puff: 
»Messieurs! la Presse! le Journal la Presse, 
Messieurs | derniere @dition du soir! Messieurs ! 
abdication de l’empereur Nicolas en faveur 
de Louis Philippe !« €8 gefchehen übrigens foldye 
Wunder, daß man eigentlid auch daran glauben 
koͤnnte 





17. 


Paris, 21. Mäy. 


Die Poften von Berlin find nicht angekom⸗ 
men, dad Gerücht von einer Revolution beftä= 
tigt ſich. Auf der Gefandtihaft hatte man 
keine Nachrichten und war in eben folder Span: ' 
nung als wir. 

Um über die Zeit fortzulommen, macht man 
Befuche, fieht Merkwürdigkeiten und geht in die 
Theater. _ So find wir heute Abend in daß - 
Theater von Alexander Dumas geratben. Es 
liegt auf dem Boulevard in der Gegend bes 


Faubourg St. Martin, heißt Theäıre historique 
und ift im Innern von der heiterften Pracht; 
bunt, fröhlich, Bolett, ald müßten lauter Mad: 
Tenbälle darin gegeben und die witzigſten Intri⸗ 
guen in's Leben geführt werden. 

Das Stud aber, welches man bdarftellte, war 
nad meinen Begriffen weder heiter noch ſchoͤn, 
fondern unerträglich: der erfte Theil des Dramas 
„Monte Chrifto ,« das zmei Abende ausfüllt, je 
den Abend mit fünf Alten. Gegen dad Unkuͤnſt⸗ 
lerifche dieſes Einfalls zu fprechen, ift überflüffig ; 
denn wie weit diefe Art von dem Princip der 
Einheit abliegt, das ift Mar. Aber nun erft das 
wüfte Durcheinander von Scenen, von Menfden, 
von Zuftänden! Wenn man den Roman, wie 
ich, nicht kennt, verfteht man es gar nicht und 
wird ganz fchwindelnd davon. Bald cin Salon 
mit vornehmer Sentimentalität, dann wuͤthende 
Marfeiller Sifcher in ihrer Hütte; arme Schnei: 


der oder fo etwas in der Manfarde; Gefüngniffe, 





199 


frangöfifhe Revolution, Vergrabung eines ges 
morbeten neugebornen Kindes durch ben Vater, 
der ed gemorbet hat; ein tugendhafter, im Ge- 
fängniß fterbender Weife; in einer Nebenzelle 
fein Freund Monte Chrifto, der fih zu dem Kran- 
fen einen Weg durch die Mauer bricht und ibn 
erft ald Kranken, dann als Leiche durch das Vers 
bindungslod hin und her zieht; man muß das 
phnfifche Leiden des armen Schaufpielerd dabei 
bejammern; nody einmal Monte Ghrifto, der ſich 
in einen Sad widelt, um flatt der Keiche des 
todten Greiſes vom Felfen in's Meer geflürzt zu 
werden, und der dann im Waffer au dem Sade 
beraudzappelt, um feine Flucht zu bewerfftelligen, 
was man alles auf der Bühne fieht; Todes⸗ 
grauen, tugenbhafte Seelenbefriedigung, dies Al- 
led geht wild durch einander und bildet ein merk⸗ 
wuͤrdiges Ragout von fpannenden, aufregenden 
Scenen. 

Ich mußte immer an das Gebräu von Macs 


beth’8 Hexen denken: »Tuͤrkenlebern, Sudennafen !« 
Es ift alles darin, es fehlt nichtd, und die Pracht, 
die ganz eigenthuͤmlich Fünftliche Einrichtung des 
Dekorationsweſens umfangen und wie ein toller 
Mährchentraum. Aber ich fagte doch, aus vol- 
ler Seele aufathmend: »Gottlob, das es vorbei 
ift!« ald wir auf die Straße famen und ich mid) 
von dem wüften Hexenſpuk dieſes Durcheinan= 
ders befreit fühlte; denn daß ich die Fortfegung 
nicht fehe, verſteht fih von felbfl. — Wie ein 
Volk, das die Rachel in antifen Rollen fieht und 
zu ſchaͤtzen verfteht, folches Machwerk ertragen 
ann, ift faum zu erflären, wie denn überhaupt 
die Manierirtheit der Sranzofen in der Kunft 
auffallend bleibt. 

Wir waren am Morgen im Louvre, in dem die 
Kunftausftellung eröffnet worden ift. Da man den 
Gruntias der Freiheit audb auf den Salon aus: 
gedehnt bat, fo entbält der Katalog mehre tau: 


fend Nummern. Jeder, der cin Stud Leinwand 





201 


zum eigenen Vergnügen mit $arben überftrichen, 
bat es zur Ausftellung gefendet, ‚und neben den 
Merken erſter Meifter kommen Bilder vor, wie 
fie über Reiterbuden, Menagerien und Wachs⸗ 
figurenfabinetten hängen. Wir waren fpät an⸗ 
gelangt, dad Gedränge war fehr groß; wir muß⸗ 
ten und alfo begnügen, einen Gang burd die 
fhönen Säle zu machen, bie und dort flüchtig 
mit dem Auge vermweilend, wo Schönes lodte. 
Zum Schluſſe kamen wir in die Säle ber 
Skulptur, und eilten die Statuen Kleffinger’s 
zu fehben. 8 find deren zwei audgeftellt. Man 
hatte fie uns beide im hoͤchſten Grabe gepriefen. 
Kleffinger, der mit einer Tochter von George 
Sand verbeirathet ift, machte durch eine nadte 
Brauengeftalt, welche er vor ein Paar Jahren ges 
liefert, großes Auffehen. Auch diesmal hat er 
wieder nadte Srauenbilder gefchaffen. Die eine 
war fo von Beſchauern umringt, daß wir fie 
gar nicht fehen konnten, denn fie ift liegend darge⸗ 


202 


ſtellt. Wir wendeten uns alfo zu der andern — 
und mit Schreden, mit Widerwillen davon ab. 

Es ift eine beraufchte, nein, eing betrunkene 
Bacchantin — auch das ift mod nicht ber Auß- 
drud für diefe Statue, für diefen Buftand. Adolf 
Stahr febt in feinem Werke über Italien vor— 
trefflich auseinander, wie die alten Meifter, Ras 
fael, Zizian und deren Beitgenoffen, chriſtliche 
ober heibnifhe Mythe als Dedmantel benuben 
mußten, um das rein Menſchliche, das finnlich 
Berechtigte darzuftellen. Hier aber wird die beid- 
nifche Mythologie angewendet, um unter ihrer 
Aegide das Unberechtigte, das Unfchöne der ge 
funden Menge aufzubringen, welche ſich fonft wis 
derwillig davon abwenden würbe, 


Saum uam han ischalmhan  Feifcham Aa 


Bi 








203 


vom Weine erzeugt, der die Lebensluft bis zur 
Ekſtaſe fleigert und den Backhantinnen in der 
Gluͤcksempfindung des Dafeind jubelnde Päane 
des Danfes für das Gefchaffenfein erpreßt. Man 
kann die jüngften Mädchen binführen vor die 
große Vaſe in der Billa Albani zu Rom, auf der 
ein Bacchanal bargeftellt ift, ohne ihr weibliches 
Einpfinden zu verlegen, ohne ihnen einen andern 
Eindrud zu geben, ald den freudigen Genuß der 
reinften Schönheit. — Diefe Backhantin aber ift 
ein trunkenes, zügellofes Weib, das in bewußts 
loſer Unfchönheit niedergefunfen, den fchönen 
Körper zu ungefälligen Linien verbreht. Bruſt 
und Leib find fo gehoben, der Naden ſo zuruͤck⸗ 
geworfen, daß man von ber einen Seite ben 
Kopf gar nicht entdeckt. Wahrhaft empdrend 
ift diefe Darflelung und ein Verbrechen gegen 
bie Reinheit der Kunfl. Wie mag nur George 
Sand das anfehen! und wie fann das die fran⸗ 
zöfifche Kritit Toben! — Die Franzofen find 


Idealiſten, denn fie gründen eine Republik, fie 
ftellen die dee der Freiheit in der Wirklichkeit 
ber. Wie können fie die Kunft fo mißbraucdhen 
laffen? Mer das Ideal in einer Richtung er: 
fennt, muß es nach allen Richtungen verftehen 
und ehren, und Ehrfurcht vor dem Ideal wird 
die Religion der Zukunft fein. 





18. 


Paris, 22. Mär;. 


Endlid Nachrichten aus Berlin! Geftern 
Abend fpät find die erften fihern Berichte einge: 
troffen. Mieroslawski im Zriumphe durch die 
Stadt getragen — Kanonenſchuͤſſe, Volksmord 
in der chriſtlichen Hauptſtadt des chriſtlichen Staa⸗ 
tes, unter den Augen des Koͤnigs! Der weiße 
polniſche Adler und die roth⸗ſchwarz⸗goldene Fahne 
zugleich emporflatternd zum Lichte aus langer 
Knechtſchaft! Man jubelt auf und denkt zugleich 
mit tiefem Schmerze an all die Opfer der Unter⸗ 


drüdung, welche in Nacht untergingen , ehe die: 
ſes Morgenroth der Freiheit über die Erde leuch⸗ 
tete. — 


Wie ift man angflvoll in der Zrennung! Die 
Kerne hat etwas Entfeßliched und es ift mir ein 
großer Schmerz, daß ih fern bin in dem erften 
großen Augenblide, den die Geſchichte Deutſch⸗ 
lands bietet, feit ich denken kann. 


Was wird die nächfte Zukunft ſchaffen in 
Deutfchland, in Preußen? Es giebt gewiſſe 
Dinge, welche Volk und König einander nie vers 
zeihen, nie vergeffen können. Eine wirkliche Aus: 
fühnung zwifchen unferem mittelalterlid monars 
chiſchen Könige und der Idee der Volksfreiheit ift 
fo unmoͤglich, wie die Herftellung einer innerlich 
zerflörten Ehe. Ein Volk foll aber fein Schein» 


dafein führen. 


Wir leben in einer Zeit, welche gewaltſam 


mit ihrer Vergangenbeit zu brechen ſcheint, und 


207 


man wird den Kampf verlängern, wenn man nur 
balb bricht, wenn man nicht allen Schutt des Zu= 
fammengeftürzten forträumt. Das wird viel 
Noth, viel Mühe mahen, Mancher wird obdach⸗ 
108 oder unter den Trümmern verfchüttet werden, 
Mandyer der nothwendigen Arbeit des Neubaus 
erliegen. Es wird nicht bleiben bei den politifchen 
Umgeflaltungen; die fociale Revolution bricht un⸗ 
aufbaltfam herein. Hier gilt nur ein Entweder 
Oder. "Das hat etwas furdtbar Beängftigendes. 
Es ift ein Entfeßen, fo wie wir auf der Wetters 
ſcheide der Weltgefhichte zu flehen, zwifchen dem 
Tode der Vergangenheit und der Geburtöftunde 
der Zukunft — und doch mußte diefer Augenblid 
fommen! Es mar eine Ungerechtigkeit, eine Züge 
in der Welt, denen ein Ende gemacht werden 
mußte, weil bie Menfchheit beide zu fühlen bes 
gonnen hatte. Wer weiß, ob die große fociale 
Reformation nicht gerade in Deutfchland zur 
Vollendung kommt, wie einft die religiöfe Refor⸗ 


mation, die ja auch ihre Vorgänger in allen ros 
manifchen Ländern gehabt hat! 

Heute Morgen hat und Heine beſucht; fein 
deutfcher Diener führte ihn bis in unfer Zimmer. 
Er ift fehr erfchüttert durch die Ereigniffe. »Ich 
wollte,« fagte er, »fie wären früher oder fpäter 
gefommen ; denn fie in meinem Zuftande erleben 
zu müffen, ift um fich todt zu ſchießen« — Wir 
ſprachen von Attatroll und ich erzählte ihm, wie 
und bie Stelle belufligt: »Auch die Juden follen 
künftig volles Bürgerrecht genießen; nur nicht 
tanzen auf den Märkten! Diefed Amendement, 
ich mach’ ed im Sntereffe meiner Kunſt« — Er 
verficherte, dies fei ein Zug, den er aus dem Le: 
ben genommen. Er habe in feiner Jugend in 
Göttingen einen fehr vernünftigen, durchaus libe: 
ralen Apotheker gefannt, der immer ganz ernfl: 
haft ausgefprochen Babe, die Auden müßten volle 
Gleichſtellung erlangen und Alles werden Eünnen, 


nur nicht Apotheker 





209 


Nachher ſprach er von feinem Leben und 
nannte es ein glüdlichee. Wie fchön ift daß, 
wie felten hört man das von einem Manne, dem 
doch fo vielfach Unrecht gefchehen iſt! Er fagte: 
»$ch habe fo viel Glüd gehabt, daß ich eigentlich 
nie ehrgeizig war; das höchfte Glüd! Ich habe 
eine feltene Frau, die ich unausſprechlich geliebt, 
dreizehn Fahre hindurch mein eigen genannt, ohne 
das Schwanfen einer Minute, ohne einen Mo: 
ment des Wenigerliebend, ohne Eiferfucht, in un« 
wandelbarem Verſtaͤndniß und in volifter Frei: 
beit. Kein Verfprechen, Bein Zwang aͤußerer Vers 
bältniffe band uns aneinander. Ich erfchrede jett 
in meinen fchlaflofen Nächten noch oft vor diefer 
Seligkeit; ich ſchauere entzüdt -zufammen vor dies 
fer Gluͤckesfuͤlle. Ich habe oft über ſolche Dinge 
geſcherzt und gemwißelt und noch viel öfter ernſt⸗ 
haft darüber gedacht: die Liebe befefligt ein 
Miethkontrakt, fie bedarf der Freiheit, um zu bes 
ſtehen und zu gebeihen.« 

Erinnerungen a. d. Jahre 188. 1. 14 


Nachher gedachte er feiner großen , unzerſtoͤr⸗ 
baren Lebensluſt. »Sie kommt mir ordentlich 
ſpulhaft vor bei meinen Leiden. Meine Lebenstuft 
ift wie das Gefpenft einer zärtlichen Nonne in 
alten Kloftermauern; fie ſpukt noch bisweilen in 
den Ruinen meines Ih! — »Warum wählen 
Sie ſolch fehauriges Bild? Es war in Ihnen 
fo viel gefundes Heidenthum, daß die Götter ei⸗ 
nem Dichter wie Ihnen bis zum letzten Athem⸗ 
zuge Dafeinsfreude gönnen muͤſſen · — ⸗Ach bie 
Götter! Die heidnifhen Götter hätten einem 
Dichter nit angethan, was mir geſchieht; fo 
etwas thut bloß unfer alter Jehovah! Selbft bie 
Lippen, mit benen ich fo vergnügt gefungen und 
getüßt, find mir ja halb gelähmt. Ich halte jeht, 
da ich ſtuͤndlich an meinen Tod denken muß, oft 
fehr ernfte Geſpraͤche mit Jehovah in der Nacht, 
und er hat mir gefagt: »Sie dürfen Alles fein, 
lieber Doktor, was Sie wollen, Republifaner und 
Socialift, nur fein Atheift.« 





111 


Dann kam die Rede auf die perfönlichen Ver⸗ 
Hältniffe von George Sand und Rachel. Mit 
einemmal fing er an zu laden. »Da muß id 
Ihnen eine meiner heiterſten Gefchichten erzählen. 
Als ich vor Jahren Rachel’ perfönliche Bekannt⸗ 
(haft machen follte, hatten mid Freunde dazu 
meilenweit auf das Land gefchleppt, wo ihre Fa⸗ 
milie eine Sommermwohnung hatte. Ich lange 
endlich an, man feßt mich an einen Tiſch, es er- 
fheint Papa Rahel, Mama Rahel, la soeur 
Rachel, le frere Radeln — »Wo ift Racyel?« 
fragte ich. — »Elle est sortie,« hieß ed, „mais 
voila toute sa famille!« Und nun lache ich, 
dag Alle denken, ich babe den Verftand verloren. 
Mir fiel nämlich die Anekvote ein von dem Manne, 
der auögeht, ein in den Zeitungen angefündigtes 
Ungeheuer zu fehen, da& von einem Karpfen und 
einem Kaninchen abflammen follte. Als er ans 
langt und fragt: »wo iſt das Ungeheuer?« ants 
wortet man ihm: »wir haben es in das Mufeum 


geſchickt, aber hier ift der Karpfen und das Ka⸗ 
ninchen; überzeugen Sie fich ſelbſt- — Ich werde 
mein wahnfinniges Lachen und das Erftaunen der 
civilifirten Sranzofen nie vergeffen.« 

So plauderten wir lange; Deine war fehr 
angeregt, fehr heiter, kam aber immer auf den 
Ernft der Beitfragen zurüd, und ich hätte die 
reinfte Freude an diefer Stunde gehabt, wäre er 
nicht fo leidend, müßte man nicht immer denken, 
daß diefer liebenswürdige, heiter fpielende Geift, 
der doch fo tieffinnig fein ann, vielleiht nur zu 
bald nicht mehr if. Sein Wefen und feine 
Werke find volllommen identifh, und die Origis 
nalität feines mündlichen Ausdruds ganz feiner 
Screibweife gleih. Als er fortging, verbieß 
er und wiederzukommen, fobald er wohl genug 
fei, und wir verfpradhen ihm jede Nachricht aus 
Deutſchland mitzutheilen, die wir erhalten würden. 





19. 


Paris, 24. Mär 


Auf allen Straßen werden ZBeitungäblätter 
audgerufen mit ber Nachricht vom emprisonne- 
ment du roi de Prusse et de ses ministres, von 
ber abdication du roi de Prusse. — Ich zweifle, 
daß ich in Paris bleibe; die Spannung, die Uns 
gewißheit über die Vorgänge in der Heimath 
find fo quälend, daB man darüber jede Genußs 
fähigkeit verliert. 

Die Deutfchen hier rüften fi zum Abmarſch; 
fie wollen fort, fobalb fie Geld haben. Auf ber 


GSefandtfchaft fagte man und, daß man ihnen 
feine Päffe ertheilen werde; fie werben aber ohne 
dad gehen, und — in ihr Unglüd, wie zu fuͤrch⸗ 
ten ftcht. Wenn man fragt: »was follen denn 
diefe Leute jenfeit ded Rheines thun?« fo heißt 
ed: »ihren Brüdern beiſtehen« — Aber worin? 
Am Kampfe? — Es ift ja fein Kampf in Deutfchs 
land, was follen die brotlofen Arbeiter dort bes 
ginnen? »Sie follen die Aufregung vermehren, 
aus der der Kampf und die Republik hervorges 
ben.«a — Dad fagen Menfchen, die fonft ganz 
vernünftig find, und Niemand will bedenken, 
daß man wohl in einem einigen Rande, bei einer 
Nation von gleihmäßiger politifcher Bildung 
ſchnell die Monardie in eine Republik vermans 
dein fann, nicht aber die achtunddreißig Fürften 
verjagen und aus acdhtunddreißig getrennten Voͤl— 
Fern mit einemmale cin Ganzes beritellen. Wie 
gern wollte man ſchon jept an diefe Möglich: 
keit, wie gern an die republifanifche Verfaſ— 


215 





fung in Deutfchland glauben, wenn man ed nur 
könnte! 

Bei all den Beforgniffen giebt ed aber doch 
eine Freude: den Sturz der pietiftifhen Buͤreau⸗ 
Eratie in Preußen. Ich möchte jetzt wohl bie 
frommen Geheimeräthe fehen, die Knechte bed 
Gottes, welcher den chriftlihen Staat und die 
abfolute Monarchie Preußen vorzugsmeife liebte 
und vor Attentaten und Conftitutionen bewahrte, 
die, ein Blatt Papier, zwifchen dem König und 
dem Volke fchweben. Da wird nun alles Beten 
in der Geheimerathäfirche im Thiergarten nichts 
helfen; der polnifche Adler flattert troß des rothen 
Adlerordend vierter Klaffe, und der befchränkte 
Untertbanenverftand fommt doch an's Ruder. 

Wie politifch gebildet hier das eigentliche Volt 
iſt, das haben wir heute gefehen. Wir waren Abends 
im Conservatoire des arts et mötiers, wo ein 
Profeſſor Blanqui, Bruder des Blanqui, den wir 
neulich im Klub hörten, einen Vortrag über bie 


Finanzfrifis in Franfreich hielt, und das Weſen 
der Banken in den verfchiebenen Ländern erklaͤrte. 
Das Lokal ift weit oben im Faubourg St. Martin 
und das Auditorium beftand aus etwa achthuns 
dert Männern, von benen bei weitem bie Mehr ⸗ 
zahl Bloufen trugen. Obgleich der Vortragende 
fi auf den praftifchften Standpunkt geftellt hatte, 
mußte ich recht ſehr aufpaffen, um folgen zu 
Tonnen. Das Publikum aber ſchien volltommen 
an bergleihen Materien gewöhnt, folgte mit 
Theilnahme und gab oft feine Buflimmung burch 
Bravorufen und Beifallklatſchen zu erkennen. 

Am Morgen waren wir im Invalidenhaufe, 
wo man an dem Denkmal Napoleon’s baut. Wir 
befuchten ben Dom, bie Wohnungen, fahen die 
einzelnen Gompagnien fpeifen, man zeigte und 
die Gärtchen. Die alten Garden der Kaiferzeit 
haben neben der jungen Mobilgarbe ſchon etwas 
ganz Fabelhaftes; man muß ſich befinnen, daß 
ihre Zeit erft fo kurz vergangen ift. 





217 


Ald wir dann dad Lurembourg befuchten, um 
die Zimmer der Maria von Medicis, die Galerie 
moderner Malerei und die Kapelle zu ſehen, in 
welcher die Ehen der Pairs eingefegnet wurden, bes 
merkten wir eine lebhafte Bewegung in dem Hofe, 
der zu den Sitzungszimmern von Louid Blanc 
führt. Ploͤtzlich theilte fich die Menge, ein Zug 
erfhien, eine Prozeflion von Frauen in verfchies 
dener Tracht, von verfchiebenem Alter. Eine ders 
felben, die voran fchritt, trug die breifarbige 
Sahne. Es waren die Weftennähterinnen, les 
giletieres, der großen Kleidermagazine, welche 
Verbefferung ihrer Lage verlangten, wie man fie 
den männlichen Kleiderarbeitern bewilligt hatte: 
hoͤhern Lohn und kuͤrzere Arbeitszeit. Niemand 
außer und beachtete diefe Prozeflion der Frauen 
als etwas Beſonderes. 

In dieſen Tagen find einzelne Corps vers 
bannter Polen und Belgier mit Unterflügung ber 


Regierung nad) ihrer Heimatb abgegangen. Man 
14 ® 


fucht fo viel Menſchen als möglich fortzufchaffen ; 
die Belgier aber find fchleht empfangen und, 
wie wir hören, in Lille auf die Feſtung gebracht 
worden, fobald fie bie Abficht zu erfennen gaben, 
die Republik in ihrem Waterlande zu proffamir 
ren, Dennoch will in biefen Tagen ein neuer 
Zrupp über die Grenze gehen, und aud die 
Deutfchen werben gewiß nod im bdiefer Woche 
aufbrehen. Sie werben an zwei verfchiedenen 
Punkten über den Rhein marſchiren, und bleiben 
feft bei der Behauptung, daß Alles für ihren 
Empfang vorbereitet, daß die Erklärung ber Rex 
publik ficher fei. — Jeder Enthufiagmus iſt etwas 
fo Göttlihes, fo ‚Heiliges, daß man ihn. überall 
ehren muß; und fo betrachte ich auch Herwegh 
mit der Achtung, bie ich vor jedem Kultus, die 
ich vor dem Patholifchen Ritus habe, am den ich 
felbft nicht glaube. Herwegh und feine Frau 
find in einer Ekſtaſe, die Glüd im Glauben in 
fich trägt. Beide find von einer Opferfreudigkeit, 





219 
wie ich fie felten gefehen habe. Die Zeit der relis 
gidfen Opfer ift vorüber, möchten die Beiden nicht 
Opfer eines politifchen Irrthums werden. Sie find 


jedem Zweifel unzugänglich, für jede Vorſtellung 
taub aus Enthuſiasmus. 


Paris, 26. Mär. 


Geftern angelangte Briefe befeftigen unfern 
Vorſatz; wir werden nad) Deutſchland zuruͤckkeh⸗ 
ren und Paris morgen Abend verlaffen. Wo die 
Seele nicht ift, muß man nicht bleiben. Seit 
ih weiß, daß ich nad Deutfchland gehe, daß 
ich diefe Zeit mit erleben werde, feit geſtern Mit⸗ 
tag bin ich fo ruhig geworden, daß ich mich vors 
treffli im Theater zu amufiren vermochte. 

Wir waren im Gymnafe, fahen Breffon und 
Rofe Cheri in »Royal Pendarl,« und ein Ges 





221 


legenheitsſtuͤck, »les filles de la liberte.« Royal 
Pendart nennt fih ein Klub junger Männer am 
Hofe Ludwigs XVI., die, gelangweilt von ber 
beginnenden fittlihern Richtung des Hofes, zus 
fammengetreten find, um Die »gute alte Art« 
unter fich aufrecht zu erhalten, und die in galanten 
Abenteuern, Trinken, Spielen, Jagen, mit einem 
Worte in den fieben nobeln Paffionen ihren Ruhm 
fuhen. Ein galanted Abenteuer ift denn auch 
der Mittelpuntt des Stuͤcks, eine Entführung, 
bei welcher der Held — Breffon als Duc de 
Marsignac — fich ernftlih in die Ducheffe de 
Marvigly — Rofe Eheri — verliebt und durch ihre 
Tugenden von all feinem Leichtfinn geheilt wird. 

Breffon und die Cheri find beide fchön, beide 
Außerft fein, und al die jungen Zaugenichtfe 
des Royal Pendart traten auf der Bühne fo ge- 
wandt und liebenswürbig in ihren prächtigen alt« 
franzöfifchen Eoftümen auf, daß man fich wirk⸗ 
lih aus dem Ernft unferer Zeit in jenes ſchaͤu⸗ 


222 


mende, beraufchende Beben zurücwünfchen konnte, 
wie ber Mann fi von ber Mühe der Arbeit 
nad den Pindifchen Spielen des Knaben fehnt, 
nach feinem Uebermuth und feinem Leichtſinn. 
Wie ein bunter Schmetterling, fo friſch, fo leicht, 
flatterte das ganze Stüd voriber, und man ges 
wann bie jungen Rou&d lieb, denn auch noch 
der Albernfte von ihnen, der Leichtfertigfte hatte 
Biüge edler Gefinnung. 

Das zweite Stüd, »les filles de la libert&,« 
ift eben fo anmuthig als locker zufammengewors 
fen. Die Göttin der Freiheit tritt auf, in an⸗ 
tifer Tracht, bie phrygiſche Mübe auf dem Haupte, 
und fucht klagend ihre verlorenen Töchter. Ploͤtz⸗ 
lich hört fie fingen hinter der Scene; der jubelnde 
Schall ded »mourir pour la patrie« ſchlaͤgt be⸗ 
kannt an ihr Ohr und ein reizender Gamin — 
Mademoiſelle Defirce — ſteht vor ihr, in grüs 
ner Manchefterhofe, blauer Bloufe, ein Meines 
Kaͤppchen mit rother Quafte auf dem Kopfe. 





223 


Ste fehen ſich befremdet an, aber der Parifer 
Gamin ift nicht leicht flugig zu machen. »Woher 
und wohin?« fragt er, erhält pathetifche Antwort 
und wird nun ebenfalld eraminirt. »Je suis un en- 
fant de la libert&,je suis l’&meutel« antwortet er. 

Die Sreiheit erkennt entzudt ihren kecken Ens 
telfohn und fragt nah dem Scidfal ihrer fieben 
Töchter: la libert& de la presse, la libert£ du 
culte, la libert& de la parole u. f. w. »Elles 
toutes ont été viol&es par Guizot, par Thiers 
etc.« — Die Freiheit ringt die Hände in Vers 
zweiflung, die Emeute fpricht ihr Troſt ein und 
bolt allmälig die Wöchter herbei. Sie kommen 
an; die eine in Ketten, eine andere mit bem 
Rod eines Municipalfoldaten über dem griechis 
fhen Gewanbe, die libert& de la presse mit 
Zeitungen, bie mit ſchwarzem Zlor zufammens 
gebunden find, an ihrer Standarte; alle gebros 
hen und gebemüthigt, alle hoffnungslos. Nur 
bie Mutter Libertö und der Enkel Emeute find 


221 


ungebeugt; fie fehließen ein Buͤndniß, nehmen 
les files de la libert& unter ihren Schuß, bes 
freien fie, und am Ende erfcheinen die Sieben 
ftrahlend in neuer Jugendfrifche ohne Feffeln; 
bie großen Zeitungsblätter fliegen unter dem breis 
farbigen Bande der Standarte luftig in bie Luft, 
alle Freiheiten zufammen fingen die Marfeillaife 
und mourir pour la patrie; die Emeute ſchwenkt 
ihr Müschen und ruft: »tant que je vivrai la 
libert@ ne mourra pas!« und das Stüd ift zu 
Ende unter dem Beifalljauchzen des Publikums. 

Solche Stüde, die wahrhaft reizend find und 
von unglaublicher Wirkung, koͤnnen die Deutſchen 
nun eben fo wenig machen, wie ein langfamer, 
tiefer Denker wigig fein fann. Ein Impromptü, 


ein Wibwort jagt dad andere, cö ift ein wahres 








225 


der Hofbühnen nicht, denen der Bopf bed ge 
fpreizten Beamtenthums immer Nadenfchläge 
giebt, daß fie glauben, ihrer Würde zu nahe zu 
treten, wenn fie von der conventionellen Bühnen 
unmwahrheit einmal loslaſſen und ſich menfchlich 
frei und wahr bewegen. Wäre irgendwo eine 
Revolution wohlthätig, fo wäre es auf ben deut⸗ 
[hen Theatern, die eigentlich lauter Invalidens 
bäufer mit Anciennitätsliften find. Um in Berlin 
bie erften Liebhaberinnen zu fpielen, muß man, 
glaube ih, Großmutter fein, und wer nicht bie 
filberne Hochzeit gefeiert bat, darf nicht als 
Wallenftein auftreten. 

Ein anderes Schaufpiel, das uns neulich in 
das Theater lodte, ftellt eine Reihe von Vorgaͤn⸗ 
gen der erften Revolution dar. Danton, Marat, 
der ganze Convent treten barin auf; Kanonen 
fhläge, Freiheitöreden, die Marfeillaife, le chant 
du depart wechſeln mit einander ab. Obgleich 


das Stud fchlecht war, boten doch die treuen 
Grinnerungen a. d. Jahre 1848. 1. 15 


Goftüme ein Intereffe, und die Idee, ſolche Stoffe 
für bie Volkstheater zu benugen, dem Wolfe feine 
Geſchichte in jeder Geftalt vorzuführen, ift beachs 
tendwertb. 

Im diefem Sinne iſt hier auch eine wunderhübfche 
Statuette von Terra corta erfchlenen: ein junger 
Offizier der erften Revolution, die Schärpe um die 
‚Hüfte gefchlungen, die dreifarbige Fahne entfaltend 
und ben rechten Arm mit bem gezogenen Degen zum 
Schwure erhoben. Es ift fehr viel Schwung in 
dem Figuͤrchen, wie denn bie Franzoſen für mos 
derne Porträtftatuen fehr großes Geſchick haben. 

Dies ift alfo der Iehte Brief aus Paris und 
ein wichtiges Kapitel ber Gegenwart, das uns 
mitzuleben vergdnnt warb, wird morgen Abend 
für und abgefchloffen fein. — Geflern, als wir 
aus dem Theater famen, hörten wir bier und 
dort Petardenfhüffe. Man pflanzte in den vers 
ſchiedenen Mairien die Freiheitsbaͤume, und wo 
dies gefhah, hatte man die Häufer iluminirt. 





Aachen, 8. März. 


Die Nachtfahrt von Paris nah Brüffel war 
fehr unruhig. Dreihundert heimkehrende Belgier, 
die fih im Convoi befanden, fangen unabläffig 
die Marfeillaife. Ale Waggons und Bahnhöfe 
waren voll von Polen, ernfte, forgenvolle, lebens 
geprüfte Phyfiognomien, voll fchweigender Zus 
rüdhaltung, vol Unglauben an die Möglichkeit 
bes Gluͤcks. — Die Feflungswälle in Lille ſtarr⸗ 
ten von Kanonen; bie Vifitationen an der Grenze 
waren ftrenger als bei der Hinreiſe. Man forfchte 


223 





nah Waffen und unterfuchte die Päffe der Mäns 
ner fehr genau, was langen Aufenthalt verurs 
fahte. — Je näher wir der deutfchen Grenze 
famen, defto unrubiger ſchlugen unfere ‚Herzen. 
A18 wir von Verviers abwaͤrts fuhren und Aachen 
erblidten, ſahen wir die erfte fchwarzrothgoldene 
Fahne. Sie flatterte ſtolz auf dem alten beuts 
ſchen Dome Karld ded Großen. — Möge fie 
Heil bringen für Deutfchland! 





Erinnerungen 


dem Jahre 1848 


von 


Sanny Lewald. 


3weiter Banb. 
LEINHBIBLIO 


W. KOoPPE 
SLEBEN 





Braunfhmweig, 
Drud und Berlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 


1850. 





Bi Inhalt. 


Berlinim Fruͤhjahr 1848. 


Seite 
Brief 1. Veraͤnderte Phyſiognomie der Stadt, Schreck 
der Befigenden, Glaubensloſigkeit im Al- 


gemeinen - 2. >: > 22 3 
» 2. Gin Minifterfalon, Minifterportraite . . 14 
» 3. Gedaͤchtnißzug nach dem Friedrichchain 39 
» 4. Der Friedrichthain am Gharfreitage 1849 50 
» 5. Schloß Il .e » 2 2 ren 67 
» 6. Die Künftter und die Bollötheatr . . . 87 
» 7 


. Neue Minifterportraite -. - - -» - - 105 


Brief 11 


vr 


Seite 


Hamburg. 


Schönheit der Stadt, Begeifterung der 
Schleswiger für ihre Freiheit, Derr Darts 
wig ‚Heffe und feine Stiftung 

Ein Feinſchmecker und Wilkens Xufternteller 
‚Heineid) und Rudolph Lehmann's Bilder 


Helgoland. 


Ankunft E 
Die daͤniſen Fregatten, Matroſen im 
Wirthshauſe, das Badeleben, der Maler 
Heinrich Gätle . . . 

Die Helgolander, die Realtänger 

Fahrt um bie Infel, der unterſeeiſche 
Wald, Abreife 


177 


187 
207 


230 





vu 


Brief 17. Lichhnensky’s Ermorbung, Mangel an Dr: 
ganifation auf der Linken, Furcht ber Be: 
figenden vor Verluft .. .. 

» 18. In der Paulslirhe, Portraits . 

» 19. Sn der Paulskirche, Robert Blum, Julius 
Froͤbel, Befud des Stäbel’fhen Inſtitu 
tes, Goͤthe's Vaterhaus, ber Römer, bie 
Judengaſſe, Ruͤckreiſe durch Franken .. 


Berlin im November und Dezember 1848. 


Brief 20. Ruͤckkehr nach Berlin 
» 21. Aufloͤſung ber Rationalverfammlung 
» 22. Der Belagerungszuftand 
» 23. Johann Zaloby . 
» 24. Golvefter: Abend . 


. 262 


277 





Berlin im Frühiahr 1848. 





Grinnerungen a. d. Jahre 1848. 11. 





Berlin, 11. April 1848. 


Es ſind nun faſt vierzehn Tage her, daß ich, 
von Paris zuruͤckgekehrt, hier in Berlin lebe, und 
noch immer ift mir die veränderte Phyſiognomie 
Berlins eine auffallende Erfcheinung. Als wir, 
in der Nacht zum 1. April durch dad Potöbamer 
Thor einfahrend, an dem Kriegdminifterium in 
der Leipziger Strafe vorüberlamen, vor dem, ſtatt 
des militairifhen Ehrenpoftend, zwei Stubenten 
mit rothen Muͤtzen Wache hielten, die ihre Cigars 
ren rauchten, glaubte ich wirklich zu träumen. 


1* 





in der Nähe ded neuen Thores find die Artillerie— 
vorrathshaͤuſer niedergebrannt, und dadurch ift ein 
febr beklagenswerther Verluft an Kriegögeräth 
herbeigeführt worden. Aber nirgends hat ſich das 





5 


Volk gegen die Paldfte des Königs oder ber 
Prinzen gewendet, nirgends dad Eigenthum ange⸗ 
taftet; und es ift mir eine Genugthuung, daß ſich 
feine Spur von Rohheit im Volke gezeigt, daß 
felbft der König in allen Proflamationen den Edel 
muth und die Mäßigung der Kämpfenden lob⸗ 
preifend anerkannt hat. 

Was mir aber, im Hinblid auf Paris, ſchmerz⸗ 
(ih auffiel, das ift der Mangel an Freubigfeit 
über den Sieg, der fehlende Schwung: bed 
GEnthufiasmus, die mich in Paris fo fehr übers 
rafchten. Keine begeifternden Lieder, Feine jener 
fiegeötrunfenen Zurufe, welcdye dort von Mund 
zu Mund gingen und fo eleftrifch wirkten. We⸗ 
der ein Volksgeſang wie dad »Mourir pour la 
patrie!«, noch ein Zuruf wie das jubelnde »Vive 
la republique!«. Wir haben feinen beutfchen 
Volkögefang, und »es lebe der übermundene Ab⸗ 
folutismusd« (denn weiter halten wir ja noch nicht) 
fann man eben nicht rufen. Das aber iſt noch 





6 


nicht das Schlimmſte. Was mid; beängftigt, ift 
das Gefühl der Unficherheit, das ich hier an fo 
vielen Menfchen wahmehme, und von dem in 
Paris Feine Spur vorhanden war, 

Das Wort des Ouvriers auf der Barrifade, 
von bem ich Dir gefchrieben habe, jenes: »faut- 
il done abimer les femmes pour chasser un 
roi?«; jene Frage: „Hören denn die guten Sitten 
auf, wenn ein König feines Trones entfegt wer: 
den muß?« hat einen tiefen Sinn. Sie deutet 
die Serbfiftändigfeit der Nation an, die in einem 
von dem Volke ald nöthig erfannten Regierungd- 
wechſel, eben auch nur einen Wechfel des höchften 
Staatöbeamten erfennt, und dabei weder einen 
Untergang des beftehenden Guten, noch vollfom: 





[7 
‘ 


aber der Muth und die Zuverfiht der Gebilbeten 
find ungebrochen geblieben. Man war ſich deſſen 
bewußt, was gefchehen war, was zu thun fei, 
und ging mit einer Achtung gebietenden Zuver⸗ 
fiht an da8 große Unternehmen, bei der Neuges 
ftaltung der Gefege wo möglich auch den Ans 
fprüchen des vierten Standes, des Proletariated, 
Genüge zu leiften. Trotz der forgenvollen Ge: 
fichter der Geldariftofratie, hatte die Stimmung 
der meiften Menfchen, welche man ſprach, etwas 
Gehobenes und Erhebende®. 

Hier vermiffe ich da ſehr. Die Einen find 
wie ungeübte Ballfpieler, die den Ball, welcher 
ihnen faft von felbft in Die Hand flog, vor Freude 
über dad Gluͤck fallen laffen, flatt feft die Hände 
zufammenzufchlagen und zuzugreifen; die Anberen 
fteben fo rathlos, erfchroden und verlegen da, wie 
Kinder, die zu lange im Gehkorb gehalten worden 
find, und die nun mit einem Male allein auf 
bie Erbe geftellt werden und laufen follen. Sie 


8 


trauen ben eigenen Füßen nicht; fie haben Furcht, 
weil fie nicht mehr bevormundet werben; fie moͤch⸗ 
ten eigentlich gern wiffen, ob ber König, ob die 
Glieder des vorigen Minifteriums auch zufrieden 
find, mit dem was gefchehen ift? Sie möchten 
gern die Ertreme vermitteln, ausgleichen, das 
Harte weich, das Raube glatt machen, und fpre- 
chen, um Niemand zu verleten, um Allen gerecht 
zu werden, nicht von der Revolution und ihren 
Folgen, fondern von den »Errungenfchaften« der 
Märztage — von der Nothwendigkeit einer »Ver: 
einbarung«. Mir aber geht es mit foldhen neu 
erfundenen Worten, wie dem Bauer in der Fabel, 
der nicht effen will, was er nicht Pennt; ich fürchte 
diefe unbefannten Worte, in deren hohle Halbheit 


fib alles Mögliche hineinſchieben läßt. 





9 


den fpazieren. Vor dem Palaid ded Prinzen von 
Preußen, das ald ein Nationaleigenthum erklärt 
ift, halten Studenten Wache, im koͤniglichen Schloffe 
dad Kuͤnſtlercorps, die Bürgerwehr hat die übri- 
gen Poften befest, und die Sicherheit der Stra» 
Gen ift volllommen, auc ohne die Auffiht der 
Gensdarmerie. Wir haben auch Volksverſamm⸗ 
lungen, Klub8, an denen fich tüchtige Männer 
betheiligen, in denen vortreffliche Reden gehalten 
werden follen. Männer und rauen der arbeis 
tenden Stände ftehen an den Straßeneden, an 
den Brunnen, um die angehefteten Plakate zu 
lefen, fordern Erklärungen und verftehen Alles, 
was man ihnen fagen kann, auf halbem Wege. 
Die Handwerker, die Gefellen follen volllommen 
in der Zeit, vollkommen auf der ‚Höhe der Ereig- 
niffe fein; ein großer und edler Theil der Bevoͤl⸗ 
kerung fieht mit opferfreudiger Begeifterung in 
bie Zukunft — aber der Untertbänigkeitögeift eines 
abfolutiftifch regierten Volkes, die Angft vieler Bes 


10 


figenden vor möglichen Verluften, und ber weit 
verzweigte bureaufratifche Kaftengeift find damit 
noch lange nicht uͤberwunden. 

Stiefgroßnichten eines Pöniglichen Officianten, 
Urenkelſoͤhne eines Hofbedienten haben ſich bisher 
in den Strahlen des bureaufratifchen Sonnen= 
ſyſtems gefonnt, und entbehren plöhlich den ges 
wohnten Nimbus, der von ber Würde des Fami⸗ 
lienhauptes auf fie zuruͤckſtrahlte. Dienftboten, 
welche bei Hoflafaien im Solde geftanden, rech— 
nen fih mit Selöftgefühl »zum Hofe«. Das 
Kindermädchen meiner Freundin fehreibt ſich unter 
Thränenftrömen die Gedichte auf den Prinzen von 
Preußen ab, die die Voſſiſche Zeitung bringt, weil 
es einft die Kinder vom Koch des Prinzen Garl 


gewartet und »Iahre lang zum Hofe gebört hat.« 





11 


höheren menfchlichen Intereffe entfremdet worben 
if. Weil fie ihr Auskommen, Ehre und Anfehen 
batten nach ihrem Bedürfen, und obenein dad Vers 
gnügen, auf Minderbegünftigte mit bem gleichen 
Stolze herabzufehen, mit welchem die Mehrbegüns 
fligten auf fie felbft bernieberblidten — deshalb 
finden fie, daß der Staat vortrefflich organifirt 
war. Solche Menfchen können dad Hinunterfehen 
auf Unbegünftigte nicht entbehren, ohne eine große 
Einbuße an Zufriedenheit zu erleiden. 

Rechne nun dazu bie wirkliche Liebe vieler 
Preußen für das Haus Hohenzollern, die unter 
ber Regierung des vorigen Königs, bid zum Ges 
fühl der $amilienliebe geftiegen, fich ohne Prüs 
fung inftinktiv auf alle Glieder des Töniglichen 
Hauſes erftredt, fo wirft Du zugeben müffen, 
daß mancdherlei Gefahren den jungen Freiheitds 
baum in Preußen bedrohen. Findet er nicht fehr 
ftarte Stügen in dem neuen Minifterium und in 
den Volksvertretern, fo wird er Noth haben, recht 


12 


fefte Wurzeln zu fehlagen. Nach Allem, was 
ich bis jetzt geſehen habe, werben bie beutfchen 
Republifaner, die von Frankreich in dad Vaters 
land zurüdfehren, bald bemerken, wie fehr fie ſich 
taͤuſchten, wenn fie das monarchiſch gewöhnte 
Deutfchland für die Republik begeiftert wähnten. 

So Iebhaft Paris mic anregte, fo fehr ich 
dort an bie Dauer ber Zuftände zu glauben ver⸗ 
mochte, fo wenig ift das bier der Fall. Die Men: 





fchen fommen mir in der Mehrzahl überzeugung: 
los, ſchwunglos vor, und ihnen ſteht ein aus Ueber— 
zeugung abfolutiftifcher König gegenüber, der fich 
nun plößlich zum Diener des Staates in einem 
conftitutionelen Spftem verwandeln fol. Ich 


böre unglaublich viel forechen von dem, was 


on ae Alain 








13 


180%, um mir zu bemeifen, welche Gefege, und 
in welcher männlichen Sprache man fie damals in 
wenig Wochen erlaffen hat, während man jet 
bier allerdings fehr gefchäftig, aber nicht thätig 
zu fein fcheint. 

Dennod) ift viel, man möchte fagen Alles ges 
mwonnen, denn wir haben das Affociationdrecht des 
Volkes und die freie Preffe. Und da wir Deutfche 
find, gefchult nach dem Grundfag »Ruhe iſt die 
erfte Pflicht ded Bürgerd« — fo wollen wir denn 
in gebuldiger Ruhe abwarten, welche Früchte biefe 
Srühlingsblüthe der Revolution und bringen wird. 


Berlin, 5. Juni. 


Es giebt Dinge, welche fehr mit Unrecht aus 
der Mode gekommen find, zu diefen gehören die 
Guckkaſten. Wie fchön war es, wenn man Abends 
dur eine Straße ging, und der langweiligen 
Alltagdgefichter, der bürgerlihen Gleichfoͤrmigkeit 
müde, mit einem Blid in die hellen Fenſter des 
Guckkaſtens, fi) plöglich in eine andere Welt ver: 
ſetzt fab. 

Bon Adam und Eva bi zum Kaifer Napo⸗ 
leon und den Feldmarfchällen Blücer und Wels 





15 


lington ; von Abel’ Tod bis zur Ermordung Koßes 
bue’8, führte und ber Zauberkaften. Eine ganze Welt 
von neuen Anfchauungen wurde uns in wenigen 
Augenbliden geboten. Perfonen, die und nur ald 
Begriffe, ſchattenhaft vorgefchwebt, ftanden ploͤtzlich 
in feften Bildern vor unferer Seele, und in diefer 
Geftalt blieben fie und eingeprägt. 


Was find dagegen die in Holz gefchnittenen 
INuftrationen der Zeitungen, in denen das eine 
Geſicht ebenfo flach und ebenfo ſchwarz ausfieht 
als da8 andere! und doch verlangt man eine Vor⸗ 
ftellung zu haben von den Menfchen und Zuftäns 
den, die unfere Theilnahme erregen; denn nur in 
der Anfchauung, in ber Werkörperung liegt das 
Leben. 


Diefe Anfchauung dur bloße Befchreibung 
zu erfegen, ift faft unmöglich, dennoch will ich 
ed verfuchen, Dir ein Bild der Soireen zu geben, 
die im Finanzminifterium flattfinden. 


Der Minifter Hanfemann hat zu Anfang des 
Märzmonates das Finanzminifterium, zwifchen dem 
Zeughaufe und der Singafademie gelegen, bezogen. 
Am fünfundzwanzigften Mai ward die erfte der 
Soireen dort gegeben, welche während der Dauer 
der Nationalverfammlung jeden Dienstag unb 
Freitag ftattfinden follen. 

Die Einladungen waren erft an dem Xage 
vorher verfandt und ed hatten ſich etwa nur zweis 
bundert Perfonen eingeftellt, wahrend das auß 
jeh8 großen Empfangdzimmern beftehende Lokal, 
eine dreifach „rößere Menfchenzahl in fich aufzu= 
nehmen vermag. Außer den Frauen der Familie 
waren nur fünf bis fechd Damen anweſend. 

Die Mehrzahl der Gäfte beftand an jenem 
erften Abend aus Deputirten. Einige Geheim: 
räthe des alten Regimes irrten vereinzelt umber, 
wie die lehnten welfen Blätter des Derbftes, welde 
der Zturm verſchont. Ste waren ın ſich zuſam— 


mengeſchrumpft, Ne trugen das Haupt nicht mebr 





17 


fo hoch, fie hatten nicht mehr das abfolute Uns 
fehlbarkeitsbewußtſein. Selbft der rothe Adler an 
dem weiß und orangen Bande fchien die Flügel 
eingezogen zu haben, feit die Sonne der abfolus 
ten Monarchie gefunten war und das suum cuique 
fih in feinem wahren Sinne zu erfüllen begann. 
Dad Volk hatte endlich das Seine, die Freiheit, 
und die Bureaufratie das Ihre, den verdienten 
Sturz erhalten. 

Aber die ſanftgewordenen BVlide der Bureaus 
Braten flreiften mit Verwunderung über einige der 
Gäfte, und ihr Auge betrachtete mit ſchweigendem 
Entfegen die großen Thranftiefel, deren eiferne 
Nägel das koſtbare Parket zerrriffen. 

Ja! ed ift wahr! das Wunder ift gefcheben 
im Jahre eintaufend achthundert und achtund« 
vierzig. Bauern mit Nägelsbefchlagenen Stiefeln 
find ald Rathgeber der Krone dageweſen, im 
Saale eines Minifterd des unfehlbaren, chriftlichen 
Staates. 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 2 


18 


Da faß gleich im erffen Zimmer der Abgeord⸗ 
nete Mros aus Oberfchlefien in grauer Drillichhofe, 
blauer Leinwandweſte und blauer Tuchjacke; er 
balancirte dicht über feinen großen Wafferftiefeln 
ein Glastellerchen mit Kirſchkuchen, von dem die 
Kirſchen ihm an bie Erbe fielen; und fein Gollege 
Kiul Baffan, ber neben ihm ftand, trank Orgeade 
Aber Kiul Baflan, der Fein Wort deutſch ſpricht, 
fondern nur polnisch, fah dabei aus wie Immer: 
mann’s Riefe Schlagabodro, der ben Thee ſtets 
mit Rum tran® unb dem er dennoch ſtets wie 
Spüticht ſchmeckte. 

Und dicht an biefen Bauern fland Nothomb, 
der feine, geiftvolle belgische Diplomat, in leb⸗ 


haftem Gefpräche mit Kamphaufen, dem Minifte 








u den an Din 











19 


merffom auf die Reden bed abgefandten Tage⸗ 
loͤhners. 

Ich ſprach es aus, daß ich mich daruͤber freue. 
»Glauben Sie, daß dieſe Leute dem Staate nuͤtz⸗ 
lich ſein koͤnnen durch ihren Rath?« fragte mich 
ſpoͤttiſch ein alter Beamter. 

„Nein! fie ſelbſt koͤnnen nicht angeben, wie 
ihnen zu belfen ift, aber fie werden angeben, 
was ihnen fehlt; und fie nügen am meiften durch 
ihr bloße Anmefendfein.« 

»Mie dad ?« 

»Indem durch ihre Anwefenheit in der Kams 
mer und im Salon, ihre Gleichberechtigung mit 
den anderen Ständen ausgefprochen, und die Pflicht 
für fie und ihr Wohl zu forgen anerkannt wirb.« 

»Wiffen Sie, wie und warum diefer Kiul 
Baffan gewählt worden ifl?« 

»Ja! er ift betrunfen in die Verſammlung 
der Wähler gelommen, und der Landrath bat ihn 
grob angefahren, weil er die Müge aufbehalten. 


20 





Darauf ift Kiul Baffan wuͤthend aufgefprungen 
gegen ben Sandrath, und die Bauern haben ges 
fagt: »»das iſt unfer Mann! Wenn der nur halb 
fo viel Courage gegen ben König hat, ald gegen 
unfern Landrath, fo werden wir Gehör finden und 
es wird uns geholfen werden.u« 

Der Beamte hoͤhniſch laͤchelnd: »Und was 
folgern Sie aus diefer Wahl?« 

»Daß die Wähler auf dem Lande glaubten, 
es fei nothwendig, dem Könige die Wahrheit zu 
fagen, und daß fie noch fo ungebildet find, zu 
glauben, um die Wahrheit zu fagen, miffe man 
grob und roh fein.« 

»Alfo billigen Sie es, daß diefer Bauer, der 
nicht ein Wort deutfch kann, der alfo den Ber: 


Ri J 








21 


nert die Deputirten, die durch ihre Bildung zur 
Gefeßgebung berufen find, an die Pfliht, auch 
für die Staatöbürger vom flavifchen Stamme fo 
zu forgen, wie deren Eigenthümlichkeit es erheifcht. 
Indeß ift Kiul Baffan eine Ausnahme in der Ver: 
fammlung, und Sie werben in den bäuerlichen 
Deputirten des Eilauer, des Gerbauer, des Rud⸗ 
niker Kreifed ganz verftändige Leute finden.« 

Der Beamte wendete fi von mir, wie ber 
Arzt eine unheilbare Kranke verläßt. 

Inzwiſchen hatten ſich die Gruppen verändert. 
Der Minifter Hanfemann ftand mitten im Salon 
und empfing den fpanifchen Gefandten. 

Herr Hanfemann ift in der Mitte der fünfziger 
Jahre, groß und von ſtarkem Knochenbau. Er 
bat blondes, glattanliegended und mit Grau unters 
mifchtes Haar. Seine Züge find ſcharf. Die 
nahe zufammenftehenden, bunkelbraunen Augen 
haben einen Plugen, fcharfen und fehr liftigen Blid 
der oft unbehaglich wäre, würde er nicht durch 


22 


den gutmuͤthigen Ausbrud des Mundes und durch 
bie Zwangsloſigkeit des ganzen Weſens gemilbert. 
Herm Hanfemann’s Behaben ift durchaus zutrau⸗ 
lich, ja bequem bis zur Nachläffigfeit; wie er 
denn, troß feiner prüfenden Klugheit, eine ber zus 
trauensvollften, fich hingebendften Naturen fein 
foll, ſobald er eben Vertrauen zu Iemand gefaßt 
bat. Es liegt in feinem Wefen viel von ber Ur- 
fprünglichfeit und der unermüdlihen Thatkraft 
des norddeutfchen Landmannes. Sein Durd= 
ſchauen der Menſchen, fein fhlaues Diplomatifiren 
und feine Zutraulichkeit tragen dies Gepräge, wie 
feine Bewegungen. Er hat eine beftimmte Be: 
megung der Hände, kurz abmweifend, welche er oft 
wiederholt. Gin Scaufpieler, der den fehlauen 








23 


punkte des erfahrenen, Plugen Praktikers immer ihr 
Richtiges hat, fo wenig fie auch oft den Spealiften 
zufrieden ftellen fann. Und Idealiſten müffen wir 
fein in diefer Beit, um dad Werk der Liebe 
berzuftellen auf Erden. Sorglos und bequem 
fhlendert Hanfemann in feinem anfprudlofen 
ſchwarzen Anzuge dur die Zimmer. Er bentt 
nicht daran, daß er Fein unbeadhteter Privats 
mann ift, daß man feine Mienen beobadıtet, 
um daraud Folgerungen zu ziehen, und dächte 
er daran, er hätte Nichtd zu fürchten, denn faft 
niemald verliert fein Geſicht den Ausdruck einer 
pfiffigen Bonhommie, einer heitern Sicherheit im 
Gefühl uberwiegender Kraft. Died Kraftbewußt⸗ 
fein mag jest unfchägbar an einem Minifter fein, 
aber es ift auch eine Gefahr für Hrn. Hanfemann ; 
denn Feine einzelne Kraft iſt ausreichend für die 
Arbeit diefer Zeit, und gemeinfame Arbeit nur 
moͤglich bei gänzlicher Offenheit. Daß er biefe 
nicht habe, daß er diplomatifire und feine Collegen 


24 


unmerffich zu lenken, zu beflimmen verfuche, das 
ift der Vorwurf, der ihm gemacht wird, während 
man fonft ihm eine bedeutende Wirkfamkeit zus 
geſteht. 

"Dort ſteht Graf Schwerin, der Miniſter des 
Kultus, Es ift der große, kräftige Mann im 
blauen Frack mit blanken Knöpfen, ber ben Hut 
in der umgewendeten Linken hält. Sein Kopf ift 
fehr ſtark und fitt kurz zwiſchen den beiden 
Schultern des gemwölbten Ruͤckens. Große helle 
Augen a Neur de Iete, eine kurze flumpfe Nafe, 
ein voller Mund, brauned Haar und ein Ause 
drud von Derbheit charakterifiren ibn. Seine 


5 liegt etwas Gewalt: 





Bewegungen find heftig 
fames in den großen Schritten, mit denen er 


Kerwch Nia Dimman Ichunitat [En tritt Falk auf mia 





25 


maͤrkiſchen Ritter der Reformationdzeit ausgefehen 
haben, wenn fie in ihren Burgen bei vollen Hum⸗ 
pen am Eichentifche faßen, auf die Markgra⸗ 
fen und Pfaffen fchimpften, und den Dr. Luther 
leben ließen, der fie doch wenigftend von der 
Pfaffenberrfchaft zu befreien verfprad). 

Derbe Ehrlichkeit ift der Hauptausdrud im 
Aeußern ded Grafen Schwerin, und ehrlich iſt er 
auch in feinem gutöherrlichen Liberalismus. Man 
bat fid) gewundert, daß im Jahre vierzig, ald 
ein Geift freierer Bewegung dur Preußen zu 
wehen begann, ein ſo großer Theil der Ariſtokra⸗ 
tie, von dieſem Geiſte durchdrungen, ſich der Zeit⸗ 
ſtroͤmung uͤberließ; und doch war das Wunder 
leicht zu erklaͤren. Jener ariſtokratiſche Liberalis⸗ 
mus war ein durchaus perſoͤnlicher; er war das 
Streben nach Freiheit fuͤr ſich ſelbſt, nach groͤ⸗ 
ßerer Unabhaͤngigkeit von der Krone. Der Adel 
fuͤhlt ſich zu allen Zeiten und in allen Laͤndern 
dem Koͤnigshauſe gleich, alſo zur Mitherrſchaft 

2» 


26 


berechtigt; und wie die abfoluten Monarchien 
nur durch Aufhebung der Adelögewalt ihre jebige 
Geftalt zu gewinnen vermochten, fo mußte zur 
Auflöfung der abfoluten Monarchien ein Theil 
ihrer Gewalt vorläufig in die Hände des Adels 
zuruͤckgehen, in die Hände der Standesherren und 
Landbeſitzer der früheren Landtage, ehe fie zuruͤck— 
kam an die Allgemeinheit des Volkes. Die Welt- 
geſchichte ift ein in fich bebingtes Gebäude, zu 
dem die Arbeiter fih die Steine zureichen, auf 
und nieder, wie die Nothwendigkeit des Werdens 
es erfordert. Daffelbe Gefühl der Nothwendigkeit, 
welches den Vogel lehrt fein Neft zu bauen und 
die Biene ihre Zelle, das lehrt und zwingt ung, 
die Weltgefchichte zu machen und uns, ſchaffend 
für die Zukunft nad und, auf der Bafis der 
Vergangenheit, an der eigenen Arbeit zu entwideln. 

Als Graf Schwerin fi den Damen des Hau» 
ſes empfahl und hinausging mit einer gewiffen 
‚Haft, mit einer Art männlichen Trotzes in jeder 





27 


Bewegung, da dachte ich, fo koͤnnte er auch trotzig 
dem Könige den Rüden wenden, und auf fid 
ſelbſt geftüst, vom Könige fortgehen, wenn diefer 
gegen des Srafen Anfichten handelte. Graf Schwerin 
ift ficher fein Höfling, kein Minifter, der Conceffios 
nen macht, um das Portefeuille zu gewinnen 
oder zu behalten. Er handelt aus Ueberzeu⸗ 
gung, ein Ehrenmann; aber diefe Ueberzeugung 
fol leider noch tief in der Vergangenheit wurzeln, 
wie der Stammbaum feined alten Geſchlechtes, 
tief in den Zeiten der Reformation. 

Graf Schwerin foll firenggläubig und kirchlich 
fein. Strenggläubigfein fchließt dad Duldfamfein 
aus, und Glaubensfreiheit anzuerkennen, ſie zum 
Geſetz zu erheben, iſt die Aufgabe eines Kultus⸗ 
miniſters in dem jetzigen Preußen, das nicht fort⸗ 
gehen kann in den Fußſtapfen des Miniſteriums 
Eichhorn, was zu thun Graf Schwerin doch 
entſchloſſen ſcheint. 

Dort in der Ecke ſtehen die Bruͤder Alfred 


—— 


und Rudolf von Auerdwald,, perfönliche Freunde 
ded Königd, ihm lieb und werth durch gemein- 
fame QJugenderinnerungen. Männer, denen daß 
Portefeuille unter allen Umftänden gewiß war. 
Es find feine, ſchlanke Geftalten mit feharf aus⸗ 
geprägten Geſichtszuͤgen. Ihre Kleidung ift gewählt, 
ihre Bewegungen, ihre Haltung tragen dad Ges 
präge der beften Umgangsformen Wie Hanfe: 
mann die intelligenten Klaffen der Gewerbtrei- 
benden und Graf Schwerin den Landadel repräs 
fentiren, felbft in ihrer dußeren Erfcheinung, fo 
repräfentiren die Herren v. Aueröwald den Beam: 
tenadel. 

Hanſemann will die Menſchen fuͤr ſeine An⸗ 
ſicht gewinnen; er ſpricht eindringlich, um zu 
überzeugen, wo man ihn mit Jemand ſich un⸗ 
terbalten ſieht. Graf Schwerin Scheint Die Beifter 
beberrfihen zu wollen; Die Freundlichkeit, die An: 
mutb der Herren v. Auerswald will gefallen und 


gefällt, denn fie ift liebenswuürdig. Aber Diele 





29 


Liebenswuͤrdigkeit, diefe Gefälligkeit wird fich hof⸗ 
fentlich nur fo nachgiebig beweifen im Kreife der 
Geſellſchaft. Was hier Tugend iſt, wird Ber: 
brechen im Staatdleben, wo Unbeugfamteit und 
Beharrlichkeit allein den Sieg verleihen. 

Die Herren v. Aueröwald waren unter den 
Erſten, welche ſich in Öftpreußen zur Zeit der 
Huldigung für die Bewegung erflärten, deren 
Schwingung damals noch gleihmäßig und lang⸗ 
fam war. Sie ift heftiger, wilder geworden in 
unferen Zagen und kann nicht nadhlaffen, darf 
nicht nachlaffen, bis fid) auß der Bewegung bad 
rechte Gleichgewicht hergeftelt haben wird. Wer⸗ 
den fie fich auch diefer ſtarken Bewegung ans 
fchließen und in ihrem Sinne wirken bei dem 
töniglichen Freunde? Das Volt mit dem Könige 
zu vermitteln, wäre ihre Aufgabe. Es kommt 
darauf an, ob fie fie vollenden. 

Dort auf dem rotben Eds Sopha, dicht vor 
der fhönen Statue der Melpomene, fitt Camps 


haufen, der Minifterpräfident. Das Kampenlicht 
fällt auf fein bleiches, ruhiges Geſicht Er ift 
ziemlich) groß und mager, er fieht wie ein beuts 
fher Glehrter aus, wie ein Mann der geiftigen 
Spekulation. Die äußerfte Sauberkeit, jene Sau 
berfeit, welche von einer reinen Seele audgeht, 
umgiebt feine ganze edle Erfcheinung, die durch⸗ 
and wohlthuend wirft. 

Bor wenig Tagen hatte ich Gelegenheit, ihn 
länger und in Ruhe zu betrachten. Herr Camps 
baufen hatte bei Herrn Hanfemann zu Mittag 
gegefien und man war cben von dem Mahle 
aufgeftanden, als ich hinfam, um zu ſehen, ob die 
Hanfemann’fhe Familie durch die Aufläufe vor 
dem Zeughaufe beunruhigt worden war. 

Das Finanzminifterium liegt, wie gefagt, zwi: 
Ichen der Zingafademie und dem Zeughbaufe In 
dem Kaſtanienwaͤldchen vor demſelben wimmelte 
es von Arbeitern, welche Waffen verlangten. Das 


Zeughaus war foͤrmlich umlagert, und die kleine 





31 


— — — — — — — 


Gaſſe zwiſchen dem Zeug⸗ und dem Gießhauſe, welche 
nach der Spree fuͤhrt, gedraͤngt voll Menſchen. 
Die Ausfuhr einer Anzahl Gewehre nach den ver⸗ 
ſchiedenen Garniſonen hatte Mißtrauen erregt. 
Dies Mißtrauen war bis zum Wahnſinn geſtiegen. 


Man behauptete, es ſei auf eine Entwaffnung 
Berlins, auf einen Angriff gegen die Buͤrger ab⸗ 
geſehen, die Regierung laſſe die Bruͤcken verna⸗ 
gein, um dem Volke bei dieſem bevorſtehenden 
Kampfe das Aufziehen derfelben unmöglich zu 
machen; ja! man wollte das Aergſte, das Un: 
wahrfcheinlichfte glauben, und die immer rege 
Volksphantaſie, alle Grenzen überfchreitend, fing 
an ſich Mähren zu erfchaffen. 


E8 hieß, der Weg vom Scloffe nach dem 
Zeughaufe fei unter der Spree durchgraben, man 
werde fogar, wenn man die Waffen nicht fort= 
bringen Pönne, dad Zeugbaus in die Luft ſpren⸗ 
gen. Als Beweis dafür zeigte man einen Faden, 


32 


der von ben Gerüften des Neubaus auf dem 
Schloffe, binabreichte zur Erbe. 

Vergebens betheuerten die Brüdenmeifter, jene 
Nägel würden immer eingefchlagen, um das Aufe 
geben der eifernen Riegel und dad Werfen der 
Planken zu verhuͤten; vergebens erflärte der Bau⸗ 
meifter des Schloffeö, der herabgehende Faden fei 
angebracht, um die Direktion bes Blitzableiters 
zu beftimmen; man glaubte ed nidyt, man ver- 
langte dringend die Ausbändigung von Waffen, 
um fich gegen die erwarteten Angriffe zu ſchuͤtzen. 

Der Transport derfelben, d. b. die Verladung 


in die Kaͤhne, mufte num unterbleiben; aber da 





eferung verweigert ward, dauerte der 


Auflauf vor dem Zeugbaufe, beftändig wach 


Vmn art EA mar har Aimmolfahrtätan dad 





33 


halte. Vor Allen aber waren ed die 4000 Feuers 
arbeiter der großen Eifenfabriten, melde unter 
Aufficht ihrer Fabritherren ald Corps organifirt, 
in grünen Bloufen, mit rothen, geftempelten 
Karten an den Muͤtzen, Gewehre verlangten und 
in Maſſe beifammen blieben. 

Während diefed Andrängens hatte fih ein 
geradezu luſtiges Kirmedtreiben im Kaftaniens 
wäldchen gebildet. Auf fchnell bergerichteten, weiß 
überdedten Zifhen wurden Branntwein, Brot 
Palte Fleifchwaaren und Kuchen verkauft. Auf 
Möbelmagen waren ambulante Küchen entflanden, 
und man briet in eifernen Oefen alle Arten Würfte, 
deren Duft die Lüfternen heranlodte. 

Studenten mit den rothen oder weißen Corps 
mügen, den Degen an der Seite; Scharfſchuͤtzen 
der Bürgerwehr in der ſchmucken grünen Kutka, 
den grauen Filzhut mit der lufligen weißen Feder 
auf dem Kopfe, den Hirfchfänger am blanken 


Ledergurt und die Flinte über der Schulter, gins 
Erinnerungen a. d. Jahre Is. Hl. 3 


34 


gen rauchend, effend, bemonftrirenb umber zwi⸗ 
fchen den Zufchauern aus dem Biürgerftande und 
den Bloufenmännern, von benen Viele ihre Frauen 
in Sonntagskleidern mit ſich führten. 

Bon Zeit zu Zeit erfcholl ein gemifchtes Ge⸗ 
frei, von der Stimme eines einzelnen Rebnerd 
übertönt. Man rief ihm Beifall, klatſchte Bravo, 
dann ward es ftill, bis ſich das bienenartige Ge- 
fumme wieder zu netten lauten Ausbruͤchen fteigerte, 

Außer den Mitgliedern des Hanfemann’fchen 
Haufes mochten noch ſechs bis acht Perfonen in 
den Sälen des Minifteriumd anmwefend fein. Theil 
Abgeordnete, theild Beamte des Finanzminifte: 
riums, theils Freunde der Familie. Obſchon das 
Minifterium an jenem Zage, dem erften Juni, 
einen Sieg erfochten hatte, indem cs die Adrefis 





35 


Freilich war dieſer Sieg nur durch Ueberrum⸗ 
pelung erlangt, da man die Frage mitten in die 
Discuffion hineingeworfen hatte, und die Erklaͤ⸗ 
rung ded rheinifchen Deputirten, Kaplan v. Berg, 
»er flimme zwar für die Adreffe, ohne jeboch da= 
mit dem Miniſterium ein Vertrauensvotum geben 
zu wollen«, nahm der Siegeöfrone viel von ihrem 
Glanze, aber dad Minifterium beftand doch noch, 
und dad war viel in folhen Stürmen, wie biejes 
nigen, deren Toben fi vor dem Zeughaufe 
hören ließ. " 

Dben in den Zimmern des Finanzminifteriums 
ging man plaudernd umher, trank Kaffee, aß Eis 
und blidte von Zeit zu Zeit durch die herabges 
laffenen Saloufien, um zu wiffen, was auf dem 
Plage vorgehe. Der Gegenfag war grell. 

Herr Hanfemann, eine der ruhigften und ges 
faßteften Naturen und furchtlos für fich felbft, 
fhien erregter als ich ihn fonft gefehen hatte, 


wenn man von der erhöhten Lebhaftigkeit feiner 
3° 


Sprache und feined Auged auf fein Empfinden 
fchließen follte. Seine Familie war bei ihm und 
er mochte, da er der zärtlichfte Familienvater ift, 
beforgt fein um fie. Ein älterer Freund des 
Minifters, ein geiftvoller, lebenerfahrener Mann, 
von großer Lebhaftigkeit, ging eifrig fprechend von 
Einem zu dem Andern. Seine energifhe Natur 
fühlte fi von der Gewitterfchwüle der Zuftände 
bedrüdt und erfehnte Befreiung durch Kampf. 
»Ich wollte, ed käme endlih einmal zu einem 
ordentlichen Zufammenftoß, der Gährungöftoff ent: 
widelte ſich in einer tüchfigen Erplofion, damit 
man zur Ruhe kaͤme; fo kann's nicht bleiben«, 
ſagte er zu mir, »diefe ewigen Emeuten löfen jede 
gefellige Ordnung, loͤſen die Gliederung des Staa⸗ 
tes, und bie bürgerliche Gefellfchaft geht zu Grunde 
in der Zügellofigfeit des Unverftandes.« 

Jeder hatte einen Ratb, eine Meinung, Seder 
ging an das Fenſter, Ale faben beforgt aus. 


Gampbaufen erfchien vollfommen rubig Keine 





37 


Miene feined Gefichtes verzog fich, er hörte Allen 
ruhig zu, er trat nicht einmal an dad Fenfter. 
Frau und Tochter hatte er zurüdgefhidt nach 
Köln, und für fich felbft ſchien er eben fo wenig 
zu fürdten als Hanfemann; denn ald er die 
Gefellfchaft verließ, ging er ohne Begleitung mit⸗ 
ten dur das Volksgewuͤhl nad feinem Hotel in 
ber Wilhelmöftraße, obfchon kurz vorher der Mis 
nifter von Arnim, freilich, wie man behauptete, 
nicht ohne fein Verfchulden, angefallen worden war. 

Camphaufen ift eine Afthetifch idealiftifche Nas 
tur. Als Spdealift liebt und vertritt er die Freis 
beit, aber fein Afthetifches Gefühl wird ihn ab⸗ 
halten, jemals bis zu jenen Gonfequenzen zu gehen, 
welche Gewaltfchritte erfordern. Er will vermit⸗ 
telnde Uebergänge, er hält fie für möglich, und 
feine perfönliche Anhänglichkeit an einzelne Pers 
fonen des föniglichen Haufes, fein Mitgefühl für 
die fchwere Lage derfelben, hindert ihn, mit der 
Energie aufzutreten, welche man von ihm zu ers 


38 


warten berechtigt war. Mag dies ein Fehler des 
Staatönfhnnes fein, fo bleibt es eine Güte, welche 
dem milden Sinne des Menfchen zur Zierde ger 
reicht. Gamphaufen fieht nicht aus, als ob er 
das Portefeuille aus Ehrgeiz übernommen habe. 
Man fieht diefen bleichen Zügen forgenvoll durch⸗ 
wachte Nächte an und Stunden des Kampfes. 
Die Stunde, in welcher er fich entfchloß, das 
Amt eines Minifterpräfidenten mit feiner furcht⸗ 
baren Berantwortlichfeit zu übernehmen, mag eine 
der fchwerften für ihn gewefen fein. 








83. 
Berlin, 6. Juni. 


Meine Furt vor den fremden, neuen Wor⸗ 
ten, vor den Errungenfchaften und Vereinbarun⸗ 
gen, fcheint nicht grundlos gewefen zu fein, denn 
jest fhon ift dad Wort »Revolution« offenbar 
»mißliebig« geworden, wie man dad in der vor⸗ 
märzlichen Beit zu bezeichnen pflegte. Nennt doch 
felbft der Minifterpräfident Camphaufen in ber 
conftituirenden Berfammiung den Freiheitsfampf 
des 18. März bereitd eine »Begebenheit⸗, um 
dad Wort »Revolution« zu vermeiden, obfchon 


40 


‚gerade Herr Gamphaufen und feine Gollegen dieſe 
Revolution als ihre Mutter zu achten, und vorzugd: 
weiſe an das Gebot zu denken hätten: »Du follft 
Bater und Mutter ehren, auf daß Dirs mwohl- 
gebe und Du lange lebeft auf Erden.“ 


Um nun dem Minifterium zu beweifen, wie 
das Gedaͤchtniß des Volkes treuer fei, wie man 
die Revolution als ein ruhmwuͤrdiges Greignif 
betrachte und die Freiheitäopfer chre, welde ihr 
gefallen find, hatten die Studenten eine Wallfahrt 
nad) dem Grabe der Gebliebenen im Friedrichs— 
haine vorgefchlagen. 


Man fprach in manden Kreifen nichtachtend 
davon; man nannte es cine neue, innerlich halt: 


lofe_Aufreauna, eine_[cere_D 


cmonftration des 








41 


fönnen, wie man ed in unnöthiger Beſorgniß 
bei den geringften Anläffen zu thun pflegte. 

Auch die conftituirende Berfammlung, welche 
gleich der Bürgerwehr von den Studenten zum 
Anſchluß an die Wallfahrt aufgefordert worden 
war, hatte die Weifung erhalten, es fei den eins 
zelnen Mitgliedern unbenommen, ſich ald Bürger 
dem Zuge anzufchließen, als Korporation aber fei 
es ihnen verfagt. 

Unfelige Halbheit! Hätte dad Minifterium 
dad Verftändniß der Ereigniffe, welche unter feis 
nen Augen vorgehen. bebächte ed, daß es fich hier 
nicht um eine bloße politifche Revolution handelt, 
fondern daß dieſe nur der Anfang einer focialen 
Umgeftaltung ift, fo mußte es, den einzigen Weg 
des Heild einfhlagend, fi) an die Spige diefer 
Bewegung fielen. Wer einen Kahn retten will, 
der, vom Strome erfaßt, dem gefährlichften Strus 
del entgegenfchhießt, der muß beherzt hineinfpringen 
und mit entfchloffener Hand dad Steuer ergreifen, 


42 


nicht fern flehend über die Strömung tadelnde 
Bemerkungen machen. 

Der GConfeilpräfident, die Minifter, alle Mit— 
glieder der conftituirenden Verfammlung, die ganze 
Bürgerwehr, ja felbft die Prinzen hätten ſich dem 
Buge anfchliegen follen, um ſymboliſch das Zus 
geftänbniß zu machen, dad man in dem Symbol 
diefer Wallfahrt forderte, dad Zugeftändniß der 
Souveränität, welche das Volk ſich in den März: 
tagen erfämpft hat. Aber es geht dem ſouveraͤ— 
nen Volfe, wie es den fouveränen Fürften ging: 
es erfährt Undant und feine Günftlinge werden 
am leichteften feine Tyrannen; es erntet Geringe 
ſchaͤtzung fir bingebendes Vertrauen. 

Man hatte die Wallfahrt auf den Nachmittag 
des 4. Juni feflgefegt. Es war ein Sonntag, 
hell und fonnig, ohne fo heiß zu fein, daß es 
beläftigen fonnte. 

Auf dem Gensdarmenmarkte, wo vor zwei 
Monaten die Särge der Gebliebenen geftanden 





43 


batten, verfammelte man fib, um von da aus 
den Weg durch die Charlottenftraße, die Linden 
entlang, am Schloffe vorüber, durch die ganze 
Koͤnigsſtadt nach dem außerhalb Berlin gelegenen 
Friedrichöhaine zu ziehen. 

Die Straßen waren voll von Menfchen, feine 
Polizeibeauffihtigung, Feine Gensdarmerie machte 
fih geltend. Ein Polizeiinfpector, den wir in 
Givilfleidern auf dem Wege trafen, verficherte 
mit refignirter Beftimmtheit, ed werde Alles in 
Ruhe abgehen und ein fehr fehöner Zug werden 
— auch ohne Polizei, feste ich in meinem Ins 
nern hinzu. Die Phyfiognomie ded Mannes war 
umfchleiert von dem Gedanken an feine gebrochene 
Macht, und man fah ed, daß fein Selbſtbewußt⸗ 
fein vergraben lag unter den Truͤmmern bed ges 
ſtuͤrzten Polizeiſtaates. 

Von weitem erklangen bereits die erſten Toͤne 
des Feſtmarſches, als wir ein Fenſter in einem 
Hauſe unter den Linden erreicht hatten. Bei dem 


44 


Herannahen des Zuges machten die Leute auf der 
Straße Platz; eine feierliche Stille herrfchte, 
Und num begann ein Aufzug, von bem ic) 
wollte, «3 hätten ihn die Werächter der Volksbe⸗ 
wegung gefehen, welche von ben Provinzen aus 
die demokratiſche Partei ald einen Pöbelhaufen 
bezeichnen, der, von unreifen Schwärmern und 
brotlofen Schriftftellern geleitet, die Anarchie her⸗ 
beiführen wolle, weil diefe und jener Nicht zu 


verlieren und Alles zu gewinnen hätten 





fefter, ficherer Halt 





ung, gehoben durch di 





Bemußtfein der errungenen Freiheit, traten fie 


auf, die Bürger Berli 





die Begründer bed neuen 
Preußens Ein Trupp berittener Buͤrgerwehr ers 
öffnete den Zug. Dann kamen Frauen und Toͤch— 


ter der Mitglieder des demofratifchen Klubs. Sie 








45 


in der Volksmaſſe liegt außerhalb des deutfchen 
Charakters. Es follte deshalb nicht abfichtlich her⸗ 
vorgerufen werden weil damit weder für die wirk⸗ 
lihe Erhebung der Frauen, noch für die des Vol⸗ 
kes ein Weſentliches gewonnen, wohl aber ver⸗ 
loren werden kann. 

Den Frauen folgten die verſchiedenen Klubs; 
jedem zog klingendes Spiel voraus, jedem ward 
feine Fahne vorgetragen. Auf ſchwarz⸗roth⸗ gol⸗ 
denem Grunde, dem Farbenbilde deutſcher Ein⸗ 
heit, trugen die Banner die Inſchrift der ver⸗ 
ſchiedenen Gruppen; in dieſer Weiſe ein Symbol 
gebend fuͤr die Geſtaltung des Menſchheitverban⸗ 
des in der Zukunft, fuͤr die freie Berechtigung 
der Individualitaͤt in der einigen Geſammtheit. 
Dem conſtitutionellen Klub, dem Reformklub, 
ſchloß ſich der demokratiſche Klub an, deſſen Fuͤh⸗ 
rer und Bannertraͤger ſich etwas theatraliſch, und 
wohl mit unnoͤthigem Pathos, mit blutrothen Fe⸗ 
dern und blutrothen Leibbinden geſchmuͤckt hatten. 


46 


Es wäre fhlimm, wenn die Saat ded Friedens 
nicht feimen fünnte unter uns, ohne mit dem 
Thau des Bürgerblutes getränft zu werden; es 
wäre fchlimm, wenn wir in unferer Zeit noch 
kein anderes Argument für die Wahrheit befäßen, 
ald die Donner der Kanonen und das Beil der 
Guillotine. Diefe Beweismittel trennen die Menfchs 
beit burch Haß, und wir bedürfen ber Vereinigung 
durch Liebe 

Bwifchen den wohlhabenden Bürgern, den anz 
fäffigen Handwerkern, deren alte Gewerksfahnen 
und Banner in dem mittelaltrigen Innungszwange 
gefchaffen, nun fonnenbeleuchtet im Lichte ber juns 
gen Freiheit flatterten, zogen Schaaren von Ars 
beitern einher, fröhliche grüne Cichenzweige an 
den Hüten. Und welche Worte ftanden auf ihrem 
Banner, das ebenfals von Eichenzweigen um: 
flochten war? 

"Die brotlofen Arbeiter!« 











47 


Sie haben Fein Brot, nicht Haus, nicht Hof, 
aber fie haben die Natur, die ihnen fröhlichen 
Schmud leiht; fie haben nicht Brot, nicht Haus, 
nicht Hof, aber fie haben den feſten Glauben, 
dag die Befigenden fie ald Brüder erkennen ges 
lernt haben, daß die Verftändigen einen Weg ers 
mitteln werden, dem Brotlofen nit nur Arbeit 
und Brot, fondern foviel Arbeit und foviel Brot 
zuzumweifen, daß er den Anfpruch jedes Erfchaffes 
nen, jedes Eriftirenden auf Genuß, nach feiner 
Weiſe zu befriedigen vermoͤge. Die Brotlofen 
baben nicht geraubt, fie haben dem Beſitzenden 
Nichts genommen, aber angefangen dringend zu 
fordern, und daß ift ihre Pflicht, weil ed ihr 
Recht if. Sie werden beredtigt fein, ſich einen 
Pag in der Gefellfhaft und Genuß ded Lebens 
zu erfämpfen, wenn man nicht friedliche Mittel 
findet, ihnen genug zu thun. 

Bier ein Herz hatte, dem mußte es erzittern 
in der Bruſt, wenn er fie fab, die brotlofen 


48 


Arbeiter, in rubiger Haltung einherfchreitend, ges 
fhmüdt mit der blühenden Farbe der Hoffnung, 
mit dem grünen Laub des Frühlings. Betrügt 
diefe Hoffnung nicht! verwandelt das Vertrauen 
nicht in Haß! gewährt aus Klugheit um Eurer 
Ruhe willen, wenn Ihr nicht gut genug feid, aus 
Liebe zu gewähren. 

Gar ftattlih nahm fich der Verein ber Land⸗ 
mehrmänner aus. Sie, die einft gefämpft in 
unterthäniger Abhängigkeit für Gott, fir König 
und für Vaterland, zogen einher in dem tünen: 
den Einklang des Paradefchrittes, ald frei und 
felbftftändig bandeinde Männer, ordengefhmüdt, 
die Helden zu ehren, welche den Tod für die 
Freiheit gefunden im Kampfe gegen das abfolute 


Königthum — denn der Orden diefer Todten 








49 


conftituirenden Verſammlung, von lautem, aners 
fennendem Zuruf ded Volkes begrüßt; Stadtver⸗ 
ordnete und Bürgermehrmänner, Kaufleute und 
Gelehrte, Künftler und Fabrikarbeiter gingen in 
Gruppen vereint und gefondert, von gleichen Ges 
danfen bewegt, denfelben Wallfahrtögang. Die 
Studenten mit ihren weißen und rothen Gorp8s 
fappen fchloffen den Zug, zu dem fie, mit die 
Juͤngſten von Allen, die Anregung gegeben hatten. 
Die Begeifterung unferer Jugend verfündet und 
verbürgt die Freiheit der Zukunft, die einftige 
brübderliche Eintracht der Menfchheit. Und als Zeis 
chen diefer Eintracht ift auch diefe Wallfahrt ans 
zufehen. Sie wird Dir heilig und erhebend fein 
wie mir. 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 4 


4 


Berlin, 8. März 1819. Gharfreitag*) 





Geftern, am Eharfreitage, al$ der Gottesdienſt 


in den Kirchen beendet und abermals die Erinne: 





rungSfeier gehalten worden war, an den Tod des 
Mannes, der die Welt vor achtzehnhundert Jahren 


erlöft bat aus den Feffeln der Knechtfchaft zur 





Freiheit ber Liebe, traten wir, unter den legten 


51 


zu befuchen, in dem die Opfer des Berliner Freis 
heitöfampfes beerdigt worden find. Es mag zwei 
oder brei Jahre ber fein, daß man diefen Hain 
anlegte, um den Bewohnern der jenfeitö der Spree 
gelegenen Königöftadt dereinft einen Spazierort 
zu verfchaffen, wie die Frtedrichöftadt Berlins ihn 
an dem Thiergarten befigt. Dad Unternehmen 
war ein fehr verdienftliches, denn Berlin ift von 
einer ſtrauch-⸗ und baumlofen Sandwuͤſte umgeben, 
fo weit das Auge reicht. 


Jenſeits ded Aleranderplaged, auf dem das 
Königsftädter Theater liegt und wohin die italies 
nifhe Oper die reiche, vornehme Gefellfchaft Lodt, 
hört fir diefe das eigentliche Berlin auf. Es be» 
ginnt die Terra incognita, von deren Dafein, 
von deren Bewohnern die fchöne Welt der Linden 
und der Behrenſtraße fo viel erfährt und weiß 
als von den Feuerländern, obgleich in der Koͤnigs⸗ 
ftadt und in all diefen jenfeitd der Spree geleges 

4% 


52 


nen Stabttheilen die gewerbtreibende, producirende 
Berliner Bevölkerung wohnt, welche die Stadt 
reich und bedeutend macht. 


Wir gingen die Landsberger Straße entlang, 
fie ſah fonntäglich ftill aus. Mädchen und Frauen 
faßen an den Fenſtern, der Stridftrumpf, das 
Leſebuch felbft, diefe Erholung mach der ſechs⸗ 
tägigen Arbeit der Woche, waren den Händen 


Indig genoffen. 





entglitten, die Ruhe wurde voll 
Den Kopf auf den Arm geftüßt, guckte hier ein 
blondes Mädchen träumend auf die Straße hin 
aus, dort tänbelten auf dem Fenfterbrett ein paar 
Kinder, denen Vater und Mutter zufaben. Die 
Dienftboten ftanden plaubernd vor den Thuͤren, 


Knaben fvielten mit Murmelfteinen, und Männer 





53 


volfommenen Ebene fchon einen Weberblid ber 
Gegend. Einige Droſchken und Miethwagen hiels 
ten am Fuße des Hügels, viele Menfchen gingen 
mit und zugleich hinauf, und mit einem Male 
befanden wir und auf der Ruheftätte der im März 
des vorigen Jahres Gefallenen. 
Sie liegen in einem Cirkel begraben. Man 
glaubte damals offenbar, daß ſie die erſten und 
letzten Opfer ſein wuͤrden, welche die Freiheit 
von Preußen forderte, und hat den Cirkel geſchloſ⸗ 
ſen, ohne Raum zu laſſen fuͤr eine ſpaͤtere Zeit. 
Um einen runden Raſenplatz ziehen ſich die Graͤ⸗ 
ber in doppelter Reihe hin, es moͤgen ihrer uͤber 
zweihundert ſein. Die Mitte des Raſens ziert 
ein junger Baum, der ſobald als moͤglich durch 
ein Denkmal erſetzt werden ſoll. Eine Wind⸗ | 
müble liegt dicht neben der Grabftätte und drebt 
langfam ihre Flügel nach dem jedesmaligen Hauch 
der Luft. 

Scweigend und doch fo beredt, ein in fi 


54 


abgefchloffenes Factum, blickten diefe Gräber und 
an. Zu unfern Füßen lag das große, prächtige 
Berlin — Berlin, überragt von den Thuͤrmen 
feiner Kirchen, von ber neuerbauten ftolzen Kup- 
pel des Königöfchloffes, welche, ald der urfprüngs 
lich von ben Gründern deffelben beabfichtigte 
Schlufftein bes Gebäudes, von Friedrich Wil: 
beim IV. in dem Augenblide beendet ward, als 
die Moolution ihre erflen Hammerfchläge gegen 
die Grundfeften diefes Königshaufes richtete. Die 
Natur und die Weltgefhichte haben dieſelben 
Grundbedingungen, diefelben unabweislichen Ge: 
feße. Der Zeit der vollen Bluͤthe folgt das Zers 
ftäuben derfelben, damit die Frucht ſich entwidle 
und reife. — Rings um den Zodtenhügel ftred: 


ten viele taufend junge, noch blätterlofe Bäume 





55 


kalt und grau bewölkt, ein Sonnenftrahl für die 
jungen Bäume zu entdeden. Man müßte verzas 
gen an ihrem einftigen Gedeihen, koͤnnte man 
nicht auf die innere fortzeugende Zriebkraft rechnen. 

Aus diefer Pflanzfchule des kuͤnftigen Fried- 
richshains erhebt fich feit einigen Monaten auf 
grauer Marmorfäule die Erzbuͤſte des alten Fritz, 
nad) dem die Anlage genannt wurde. Ein Ber⸗ 
liner Bürger hat fie hierher geſchenkt, den Fried⸗ 
rihöhain und die Zodten zu ehren, als habe der 
biftorifhe Inftinkt ihn getrieben, dad Denkmal 
eines der genialften abfoluten Herrfcher neben das 
Denkmal der Männer zu fegen, welche im Kampfe 
gegen den Abfolutismus gefallen find. Die Re 
volution und der Abfolutismus, Gemwaltherrfchaft 
und Empörung berühren ſich bier als die Er: 
treme, weldye fi immer zufammenfinden. 

Von der Betrachtung des Zerraind wendete 
fih unfer Auge bald den Gräbern zu. Welch’ 
ein Unterfhied zwiſchen der Wahrheit dieſer 


56 





Zobtenfeier, und ber zur Sitte gewordenen Form 
der Grabverzierungen und Infehriften auf andern 
Kirchhoͤſen! Große Erfchütterungen geben den 
Menſchen fich felbft wieber, helfen ihm zum Be: 
wußtſein feines wahren Werthes, im Gegenfat 
zu ber herkömmlichen, von den Bevorzugten ber 
ftimmten Taxe deffelben. Weil das Volk fich ber 
Gewalt gegenüber als eine Macht hatte empfins 
den fernen, iſt ihm ber Muth gekommen, feine 
eigene Sprache zu ſprechen. Jede Perſoͤnlichkeit 
uͤberlaͤßt fi bier im Gefühle der Berechtigung 
voll und ganz ibrem Schmerze, und einer jeden 
wird Theilmabme und Achtung, eben weil fie ſich 
für berechtigt erklärt. 

Neben dem Marmordenfmal des Studenten 


Guſtav v. Lenski, das feine Mitfludirenden ihm 





57 


gingen von Grab zu Grab, und ich will Dir bie 
Inſchriften mittheilen, die ich abgefchrieben habe. 
„Hier ruht in Gott mein unvergeßlicher zwei⸗ 
ter Sohn Karl Auguft Theodor Deichniann (Zim⸗ 
merpolier), geboren den 24. September 1823, 
geftorben den 18. März 1848 in dem Freiheits⸗ 
kampfe durch zwei Echuffe in den Leib. Er 
folgte feiner vor ſechs Wochen vorangegangenen 
Mutter im Grabe nah. Mein dritter Sohn wurde 
durch fünf Kopfwunden an demfelben Ort, Fried⸗ 
richs- und Dorotheenftraßen-Ede, verwundet, ift 
aber wieder hergeftellt. Gewidmet von ihrem be⸗ 
trüubten Bater.« — »Das find die beiden Deich⸗ 
mannd«, fagte ein neben ung ftehender Handwers 
ker zu einem Gefährten, »die fie aud dem Water: 
baufe wehrlos herausgeholt haben. Der Züngfte 
fagte zu dem Lieutenant, der dabei war: ‚Herr 
Lieutenant, Sie fehen, daß ich Feine Waffen habe, 
beſchuͤtzen Sie mich; der aber war der Erfte, der 
ipm mit dem Degenfnopf vor den Kopf ftieß, 











und bann fielen die Andern über ihm ber. Und 
da fol man Frieden halten mit den Solda= 
ten, die auf unbewaffnete Landsleute ſchießen 
und hauen, als ob ed Feinde und nicht Brüder 
wären!« 


Sie gingen weiter fprechend von bannen. Wir 
traten an eines ber nächften Gräber. »Hier ruht 


der Schloffer Juli 





3 Sranfenberg, 29 Jahre alt. 





Im Kampfe für des Freiheit fterben — 
So beißt das Teftament, nad dem wir erben 
Eine andere Infchrift lautet Hier ruht in 
Gott mein heißigeliebter Gatte, der Konditor 


Guſtav Ripp: 





friedliben Beiſammen⸗ 





fein an meiner Seite erfhoffen den 18. März 


Sewidmet_ von feiner Gattin. Hier rubet in 








59 


des Volkes find in diefe Infchriften übergegangen 
und erfcheinen rührend und heilig. 

Wo die Mittel zur Aufftellung auch des klein⸗ 
ften Holzkreuzes fehlten, hat die Liebe neue Grab⸗ 
zeichen erfunden, Beine hölzerne Kaften mit gläs 
fenem Dedel, der ein befchriebenes Blatt Papier 
bededt und zeigt. In einem diefer Kaften lag 
folgendes Gedicht, dad den Stempel der Volks⸗ 
dichtung deutlich an ſich trägt: 

Ein beifger Schauer andachtsvoller Rührung 

Ergreift mid) ftete, wenn ich der Stätte nah. 


Hier ruht die ‚Hülle edler, guter Menſchen, 
Die bier vollendet haben ihre Bahn. 


Begeiftrung flammt jedody in meine Seele, 
Daß viele fi vorm Zode nicht gefcheut; 
Von einem Lichtblig himmliſch hoher Tugend 
Entzündet, felbft ihre Leben bier geweiht. 


Die Stelle, wo fo Biele fchlummern, 

Sie wird geheiligt fein für alle Zeit. 

Prangt auch Fein Denkmal auf das Grab geftellt, 
Wahr ift die That, die wahren "Werth verleiht! 


60 


»Diefe Zeilen ſchrieb dem Schlofferlehrling Karl 
Lamprecht fein lieber Freund « — Am 18. März 
1849 war auf diefes Grab ein zweiter Zettel bins 
gelegt worden, mit ben beutfchen Farben um ben 
Rand geziert, und mit der Anfchrift: »Für diefe 
Farben haft du gefochten im Leben, bu follft fie 
auch tragen im Tode! « 

Andere Käftchen tragen, aus farbigem Papier 
fauber gefchnitten, wie fpielende Kinder es zu 
machen pflegen, die Namenschiffer der Geftorber 
nen. Niemand bat fich gefcheut das Licbesopfer 


darzubringen, das 





inem Herzen ein Beduͤrfniß, 
feinen Mitteln möglih war. Die Armen baben 
ſich auf den Barrifaden diefen Kirchhof erobert, 


das Recht erobert, frei von aller Gonvenienz ihre 


ITodten au chren auf ihre Weile, nach ihrem cia: 








61. 


fall8 verwendet wurden. In fchledhter Schrift auf 
groben Papier zu fagen: »fo habe ich geliebt, 
das habe ich verloren,« das wagte die Armuth 
felten, aus falfcher, ihr aufgedrungener Scham. 
Auch hätte die Polizei ed kaum geduldet; denn 
ſelbſt die Leichenfteine und Grabinſchriften unters 
lagen vor dem 18. März ihrer Auffiht. Wer 
hätte von Freiheit fchreiben dürfen, wäre es auch 
auf einem Leichenfteine gewefen! 

Und wie viel rührender klingen diefe geſchrie⸗ 
benen Worte auf den Gräbern der erften Frei⸗ 
beitöopfer des Vaterlandes, wie viel empfundener, 
als das Palte: »Hier ruht Har N. N., tief bes 
trauert von den Seinen,« oder irgend cine ans 
dere der ftereotypen, mit Bibelverfen aufgeftußten 
Floskeln, welche die Mehrzahl unferer prächtigen 
Monumente bezeichnen. Es ift ein Unterfchieb wie 
zwifchen der bezahlten Zeichenrede des Paftord und 
dem Schmerzendfchrei aud wundem Herzen vor 
der geliebten Leiche. 


62 


Viele der Gräber waren am Jahrestage mit 
ſchwarzem Flor, mit neuen Kränzen gefchmüdt 
worden, andere hatten, wie fchon gefagt, eine 
zweite Widmung erhalten. Gin Grab zeigt nur 
eine Heine berzförmige Papierplatte an grob ges 
fhnigtem Tannenholz. Auch fie war mit ben 
deutſchen Karben bemalt, und ein Grobſchmiede⸗ 
lehrling hatte fie dem gefallenen fünfzehnjährigen 
Kameraden hergerichtet. Regen und Wind hatten 


dad Papier bereits 





zufammengerollt, aber die 
Hand der treuen Liebe wird es fiher immer neu 
erfegen, bis die Dankbarkeit der Mitbürger für 
jeden der Gefallenen das Grabzeihen geftiftet 
haben wird. 

Zwiſchen diefen Gräbern gingen und famen 








63 


richtete, wie man den Mann, an deſſen Grabe 
wir und befanden, in feiner Wohnung vor den 
Augen feiner Heinen Kinder ermordet habe, obgleich 
er keinen Antheil genommen am SKampfe Die 
erzählende Frau hatte in bdemfelben Haufe ges 
wohnt; fie war Beuge gewefen, wie der Mann 
fih vor den eindringenden Soldaten hinter eine 
Zeuerkufe auf dem Hofe geflüchtet, von den Sols 
daten bervorgeholt und erfchlagen worden war. — 
»Hier ruhet in Gott der Bürger und Schneider: 
meifter Löffler, geboren den 15. März 1795. Am 
19. März 1848 aus dem Schooße feiner Familie 
vom Militair gefangen genommen, wehrloß, mit ' 
fünfzehn Wunden bebedt, woran er am 23. März 
feine irdifche Laufbahn vollendete«, fo fagte das 
Grabfreuz. 

Daneben lad man: »Hier ruhet der Bürger 
und Meifter F. W. Schwarz. Wehrlos von ber 
Leipziger bid zur franzöfifchen Straße gefchleppt 
und mit neunzehn Wunden bededt, wodurd er 


64 


am 22, März feine irdiſche Laufbahn vollendete, — 
Zwei Frauen, die im Zimmer erfchoffen wurben, 
ruhen zunächft. Wohin das Auge blidt, Sammer 
ber Ueberlebenben, Klage gegen die brutale Roh— 
beit der Truppen, welche der Wehrloſen nicht 
fhonten. Und baneben ftanden Soldaten derſel⸗ 
ben MRegimenter und weinten über bie Zobten, 
jeht, wo fie ald Menfchen menſchlich empfanden, 
wo das bannende Wort der Disciplin nicht mehr 
die ſelbſtbewußten Menſchen zu Erecutionsmafchie 
nen entwuͤrdigte. 

Erhebend war es zu feben, wie freudig, wie 
muthig die Epitaphien auf den Gräbern klangen, 
welde die Jugend der Jugend geweiht hatte. 
Junge Mafchinenbauer fehrieben auf das Denkmal 


ihres Kameraden: »Sein letter WB war aud 


65 


rein bein Leben; frei bift du immer gewefen, ftetd 
in Liebe!« — Das klingt fo freiheitöficher, fo 
zuverfichtlich in die Gerne, wie Zrompetengefchmets 
ter im Siegedjubel ded Tedeums. Bei den leife 
geflüfterten Erzählungen der Umbhergehenden, bei 
ber ehrerbietigen Scheu vor der Ruhe der Todten, 
hätte man laut feine Kreude ausdrüden mögen 
über diefe Heiterfeit, über diefe frohe Erhebung 
an der Gruft der Gefchiedenen. 

Ueberall wurden die Gewaltthaten befprochen, 
weldye von den Soldaten vor dem Audbruch der 
Revolution acht Tage lang gegen die Bürger 
verübt worden waren, um durch Einfchlichterung 
jenen Muth in ihnen zu brechen, der in Paris 
und Wien den Dpnaftien fo gefährlich geworden 
war. Lebhafter noch wurden die Tage ded Kam: 
pfes gefchildert, befonderd jene Nacht, welche die 
Flammenftrahlen der Kartätfchen erleuchtet hatten. 

Das Leben der arbeitenden Klaffen, der ge: 


werbtreibenden Bürger ift nur arm an zerftreuens 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 3 


66 


den Greigniffen gegenüber dem ber Reichen; dar⸗ 
um ift aber auch das Gebächtnif des Volks treuer 
und zuverläffiger. Die Bewohner der Paläfte 
und Prachtgebäude, welche bald in dieſem, bald 
in jenem lebensvollen Badeorte die Sommermo⸗ 
nate verleben, welche im Winter an Hoffefte, Bälle 
und Garnevall zu denken haben, werden leicht des 
18. März und der Todten im Friedrichshain vers 
geffen. Das Volk aber, das feine andere Soms 
merfreude hat, ald den Spaziergang vor die Thore 
feiner Vaterftadt am Tage der Ruhe, und fein 
Wintervergnügen außer der Plauderftunde am 
Abend, dad Volk wird immer nach dem Friedrichs: 
haine zurüdkehren, und weder die Gefallenen, noch 
die Revolution des Jahres achtzehnhundert achte 
undvierzig vergejlen, oder die Ereigniffe, durch 





Berlin, 12. Juni. 


Uns endlich einmal dem Geräufche und dem 
Lärme der Stadt zu entziehen, haben wir geftern 
eine Luftfahrt nad) Tegel unternommen. 

Die Verehrung ded Ortes, an dem ein bedeus- 
tender Menſch fein Leben zubrachte, entfteht großens 
theils aus unferer eigenen Sehnfucht nach Forts 
dauer über die enge Grenze bed Lebens hinaus, 
und ift ein durch alle Zeiten und durch alle Voͤlker 
gehender, tief in unferer Natur begründeter Bug. 
Liebende, die ihre verfchlungenen Namenszuͤge der 


68 


Rinde eines jungen Baumes eingraben, werden 
dazu von berfelben Sehnfucht getrieben, welche 
die alten Indier und Egypter zum Erbauen ihrer 
tiefigen Grabmonumente veranlafte. Und fo 
mächtig ift diefe Sehnfucht, daß man behaupten 
koͤnnte, die Natur habe dem Menfchen das Ber 
mußtfein feiner Vergaͤnglichkeit als eine Triebe 
kraft gegeben, um ihn zu raftlofem Schaffen für 
eine Zufunft nach feinem Tode anzufpornen. Die 
Kunft, welche das Bild des vergänglichen Mens 
fhen in Farben, im Marmor vder in der Ver: 
Märung der Sprache feftzubalten beftrebt ift, die 
Kunft möchte, wenn nicht ihre Entftehung, fo 
doch ihre Fortbildung zum großen Theil von 
unferer Sehnfucht nach Unvergänglichkeit herzu— 


leiten haben 





69 


an der ein wichtiges Ereigniß gefchehen, wir wollen 
die Handfchrift eines großen Menfchen betrachten, 
den Ort befuchen, an dem er weilte. Diefed Ver: 
langen, das in feiner Uebertreibung zum Reli⸗ 
quien⸗ und Wallfahrtsdienft führte, hat eine wahre 
Berehtigung, fo lange ed in gewiffen Schranken 
bleibt. Denn wie unfere äußere Umgebung unab⸗ 
läffig auf uns einwirkt, fo geftalten wir fie auch 
nach unferem Bedürfen, nach unferer Eigenthuͤm⸗ 
lichkeit, und dad Haus, in dem wir lange gewohnt, 
nimmt fo ficher dad Gepräge unfere® Weſens an, 
ald das Gewand die Form des Körpers, den ed 
lang umhuͤllt hat. 

In diefem Sinne war in und bei der Lektuͤre 
von Wilhelm v. Humboldt’d Briefen an feine 
Freundin Charlotte Diede der Wunſch rege ge⸗ 
worden, feinen Landfis, Schloß Zegel, zu bes 
fuhen, auf dem der größte Theil jener Briefe 
gefchrieben worden ift. Die weltabgefchiedene Ruhe, 
die in denfelben herrſcht, mußte unwillkuͤhrlich 


70 


die Frage hervorrufen, welche äufere Bedingungen 
haben bier mitgewirkt: welche Umgebungen koͤn⸗ 
nen fo umfrieben, daß Humboldt, zurüdgezogen 
in ein Bereich ganz objeftiver Betrachtung, durch 
keine äußern Eindrüde mehr in dem innern Gleiche 
gewicht geftört zu werden vermochte? 

Er felbft ſchrieb am 10, Juli 1822 an feine 
Freundin: »Ich Liebe Tegel fehr. Hier brachte 
ich meine Kindheit und einen Theil meiner Ju— 





gend zu. Die Gegend ift wenigftens die hüb- 
ſcheſte um Berlin; auf der einen Seite ein großer 
Wald, auf der andern von Hügeln, die fhön bes 
pflanzt find, eine Ausficht auf einen auögedehns 
ten, von mehreren Infeln durchfchnittenen See. 
Um das Haus und faft uͤberall find hohe Bäume, 


die ich in meiner Kindheit erft in mäßiger Stärke 





71 


ed ein anmuthiger Wohnplaß, von dem ich felten 
in die Stadt fommen werde.« — Und im Jahre 
1825, am Weihnacdhtötage: »Es hat mich fehr 
gefreut, daß die Kupferftihe von Zegel Ihnen 
Freude gemacht haben; ich hatte dad gewuͤnſcht 
und erwartet, aber nidht, daß Ihnen dad Haus 
ein fo ftattlihed Schloß ſcheint. Das alte Ges 
baͤude, Feiner als das jegige, wie Sie fehen, war 
ein Jagdſchloß des großen Kurfürften, dad nach: 
ber an meine Familie fam. Wegen dieſes Be: 
ſitzes, feiner Kleinheit, und da ed noch ein mir 
nicht gehörended Dorf Tegel giebt, heißt es in 
der Gegend dad Schloͤßchen Tegel. Jetzt fangen 
die Leute an e& Schloß zu nennen. Sch habe 
das nicht gern. In Schlefien habe ich ein mehr 
ald noch einmal fo großed alte Schloß mit 
Thurm und Gräben, id) nenne ed aber dad Wohn⸗ 
haus. Das Tegel'ſche Haus aber ift bequem 
und eigenthümlih. Das dankt es dem Baumei⸗ 
fter, dem ich freie Hand gelaffen. Mein größtes 








Verdienft bei dem Haufe ift, daß ich nicht meine 
eigenen Ideen in ben Bau gemifcht habe.« 
Beide Schilderungen find vollkommen bezeich- 
nend, denn in ber fandigen Ebene, welche Berlin 
von allen Seiten meilenweit umgiebt, erfcheint 
die Humboldt’fche Befikung fo lieblich, bag man 
faum glaubt, ſich noch in der Mark zu befinden, 
und das Gebäude verdient den Namen eines 





Schloſſes nicht, wogegen es fir das Mufter eines 





uſes gelten kann 


en W 





behag 





Bweiftodig, Auffahrt oder Rampe, an 


den Eden mit 








thurmartig vorfpringenden 





icge es an einem mit lieder: 





Flügeln verfeben, 


büfchen und l 





Blu gezierten Rafe be, von 





großen Linden und Kaftanienbaumen befchattet, 


da. Zur rechten Geite 











friedlich und anmutbig 














73 


gängen und fchönen Fernfihten benutzt Linke 
vom Haufe führen lange fchattige Alleen, an 
Kornfeldern und Wiefen vorüber, bis an dad Ende 
der Hügelfette, und fo weit man dad Xerrain 
von der Höhe zu überfehen vermag, wohl auch 
bi zu dem Geſtade des Sees, der hell und freundlid) 
aus den grünen Ufern hervorfieht und in feinem 
Maren blauen Waffer die fchönen Baumgruppen 
der Pleinen Infeln wiederfpiegelt. So find durch 
glüdlihe Benugung der gebotenen Verhaͤltniſſe 
hier auf einem engen Raume alle jene Elemente 
vereinigt, die man fonft bei Parkanlagen künftlic, 
zufammenzubringen ftrebt. Dadurch ift bei aller 
Behaglichkeit eined Spazierganges in wohlgeordne⸗ 
ten Gartenmwegen, hier dem Beſitzer die Möglichkeit 
gegeben, die ganze Skala wohlthuender Empfins 
dungen zu genießen, welche der Anblid des Land- 
baus, ded Saͤens, Pflanzend, Keimend, Gebeis 
hend und Erntend in der Eeele des Menfchen 


hervorruft. 
5 ® 















Die Haupffronte des Haufes liegt nach dem 
Garten hin, auf den fich die Thuͤre zu ebener 
Erde Öffnet. Zu beiden Seiten derfelben befinden 


fich zwei Nifchen. Sie enthalten treffliche, in 





Marmor ausgeführte Kopien der Minerva Me- 
dica, des capitolinifchen Fauns, der Amazone aus 
dem Braccio nuovo des Vatikans, und einer weibs 


lichen antiken Gewandflatue. — Das mäßig hohe 





tiker, mit 


ſtellt iſt 









halten wor 


Ein vaar 








75 


fammenftellung ein volllommen antikes Ganze. 
Alle unfere italienifhen Erinnerungen, alle jene 
Stunden voll erhebender Andacht, die wir im 
Betrachten der Antike genoffen, tauchten in un 
fern Seelen auf, und unmillfürli mußte man 
an Goethe’ Worte denken: »Und ed umfängt und 
eine andere Welt. — Was der fanfte Eindrud 
der Tieblichen Gegend begonnen, den Sinn abzus 
ziehen von dem Alltäglichen, von der Verwirrung 
des Kleinlihen und Gemeinen, das ' vollendete 
diefe Worhalle, um vorzubereiten für die Aufs 
nahme und Betradhtung des Kunftfchönen, welches 
dieſes Haus in feinen Mauern umfcließt. 

Die Auffeherin führte uns eine behagliche 
Treppe hinan, öffnete einen ziemlich großen längs 
lihen Saal, und mit wahrer Ueberraſchung bes 
fanden wir und den vorzüglichften Kunftfchägen 
der Billa Ludoviſi gegenüber. 

Die fchöne Gruppe der Elektra und des Oreſt, 
in welder Elektra den Oreſt wieberfindet und 


76 





in feinem Antlitz die Züge des Frühverlorenen zu 
entdeden firebt; der ruhende Mars, mit dem Amor 
zu feinen Füßen; der Gallier, welcher fein in’s 
Knie gefunfenes Weib erfticht, um es dem Feinde 
zu entziehen, und der unvergleichlich edle Kopf 
jenes, unter dem Namen der Juno Ludoviſi be 
befannten Junoideals, ftchen in vollendeten Ab= 
güffen bier beifammen. Der Kopf ded Jupiter 
von Dtricoli, diefes würdige Seitenftüc der Juno 
Ludoviſi, der Kopf des Apoll von Belvedere und 
der Diana, nebft einigen trefflichen Reliefs und 
Abguͤſſen antifer Thierbildnerei, füllen den übrigen 
Raum an den Wänden. Dazwifchen find wei 
Säulen von Rosso antico, eine andere von Giallo 
antico und ein Medufenhaupt aus Porphyr aufs 
geftellt, ‘welche das päpftliche Wappen tragen 
und Gefchenfe von Pius VII. find. — Bequeme, 
aber nichts weniger ald prächtige Sophas und 
Seffel laden zum Verweilen und gewähren, da 
obenein die größeren Statuen zum Drehen einger 


77 


richtet find, die Möglichkeit, fie von verfchiebenen 
Standpunften in angenehmer Ruhe betrachten zu 
koͤnnen. 

In einem kleinen Salon zunaͤchſt dieſer An⸗ 
tikenſammlung, zeigte man uns die Statue einer 
Waſſerſchoͤpferin und das liebliche Marmorſtand⸗ 
bild einer als Kind modellirten Humboldt'ſchen 
Tochter. Kleinere, weniger bedeutende Skulptur⸗ 
werke finden ſich durch die ganze Reihe der ge⸗ 
maͤchlichen Wohnzimmer vertheilt, in denen uns 
noch vorzugsweiſe zwei lebensgroße Bilder von 
Alexander v. Humboldt feſſelten. Sie ſind, mit 
Ausnahme einiger andern Portraͤts, die einzigen 
Gemaͤlde in Tegel. — Beide Portraͤts A. v. Hum⸗ 
boldt's ſind ſehr aͤhnlich. Das eine mag vor etwa 
zwanzig Jahren gemalt worden ſein und iſt von 
Gerard. Das andere, von Steuben, ſtellt Hum⸗ 
boldt in jugendlichem Mannesalter dar. In einer 
wilden Berggegend, deren Hintergrund von hohen, 
ſchneebedeckten Felswaͤnden geſchloſſen iſt, ſitzt er 


auf einem Steinblod, über den fein Mantel ges 
breitet iſt. Er trägt die Kleidung jener Beit, ein 
ſtahlfarbenes Beinkleid, Kappenftiefeln, gelbe Wefte, 
braunen Rod mit gelben Knöpfen und ein ſtarkes 
weißes Halstuch, aus dem ber hohe Hemdkragen 
bervorfieht. Das hellbraune, kurz gefchnittene Haar 
iſt reich gelodt, der runde Hut, in den belle Hands 
ſchuhe geworfen find, liegt neben dem Sitenden, 
der mit der linfen Hand cin rothed Portefeuille 
auf den uͤbereinander gejchlagenen Knien hält, 
während in der Rechten der Stift rubt, mit dem 
er cben gejchrieben hat. Ruhigen Blicks ficht 
er betradhtend in die fremde, großartige Ferne 
hinaus, und das ernſte Auge fcheint die Welt 
ſchon jetzt als ein großes Ganze mit jener Klarz 





79 


ruͤck, in ein unter dem Antikenſal gelegenes Ges 
mad), das unter dem Namen der Bibliothel, Hum⸗ 
boldt's eigentliched Arbeitszimmer war. Faſt noch 
einmal fo lang als breit, hat ed der Thür gegen- 
über zwei $enfter, und an der langen Wand zur 
rechten Seite der Thuͤre unten ebenfalld ein Zen- 
fter, oben den Eingang in ein Schlaffabinet. Diefe 
Vertheilung der Fenſter giebt gleihmäßiges Licht 
durch das ganze Zimmer, welches außerdem durch 
die langen Wände und durch eine glatte graue 
Zapete von fehr milder Karbe einen ungemein 
ruhigen Charakter erhält. — Zwiſchen dem Seiten- 
fenfter und der Thuͤre des Schlaffabinets ftehen 
die Abguͤſſe der capitolinifchen Venus und ber 
prächtigen Venus von Milos. Ein großes Sopha 
nimmt den Raum ein, der fie trennt. Ihm gegens 
über, mitten im Zimmer, ſteht der große Schreib» 
tifh mit einem bequemen Seſſel davor. in 
paar Meine Marmorbüften, nebft einem Eleinen, 
zierlichen weiblihen Zorfo auf dem Schreibtifch 








so 





mögen als Schmud oder als Papterhalter und 
Briejbefchwerer gedient haben. 

Ein Stehpult und eine Bibliothek füllen die 
Wände. Neben den Werken der beiden Brüder 
und einer Auswahl gelehrter Bücher aus lebenden 
und todten Sprachen, finden ſich bier alle bedeu⸗ 
tenderen Erzeugnifje der neueften beutfchen Liter 
ratur in ihren verfchiedenften Nichtungen. Man 
fonnte aus diefer Sammlung auf die allumfaf 


fende Theilnahme, auf d 





allumfaffende Willen 


ihres Pefiters fe 








Spielereien, die der Luxus erfunden hat und die 


1 chen fo entgegen find 





lichkeit, fißren die Ha 








monie Diefes Giemacheö  Nuhte Sumboldt von 





81 


ſich nad) allen beiden Seiten vor den Fenftern 
ausbreitete. 

Das Schlafzimmer iſt klein, Bett und Moͤ⸗ 
beln ſind ſehr einfach, aber es enthaͤlt das Schoͤnſte 
der Humboldt'ſchen Antikenſammlung, einen weib⸗ 
lichen Torſo aus karariſchem Marmor, der an 
Zartheit und zugleich an jugendlicher Kraft in den 
Formen faſt Alles uͤbertrifft, was uns aus dem Alter⸗ 
thum erhalten worden iſt. Auch die Behandlung 
des Materials iſt meiſterhaft, und die Schoͤnheit 
des Torſo wird noch erhoͤht durch die eigenthuͤm⸗ 
liche braͤhnliche Farbe, welche der griechiſche Mar⸗ 
mor, und nur er, durch die Länge der Zeit als 
neue Verſchoͤnerung gewinnt. 

Diefen Zorfo ruͤhmt Humboldt felbft in dem 
Brief vom 8. November 1825 als da8 Beſte feines 
derartigen Beſitzes. Er fagt davon: »Ich befige 
ihn fchon lange und hatte ihn auch in Rom immer 
bei mir. Es ift eine der vollendetften antiken 


Figuren, die ſich erhalten haben, und es giebt nicht 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 6 


82 


leicht eine andere Bildſaͤule einen fo reinen Ber 
griff ſtreng weiblicher Schönheit.u — Bei biefer 
Veranlaffung heißt es: »An Tegel hänge ich aus 
vielen Gründen, unter denm doch aber ber haupt= 
ſaͤchlichſte die Bildſaͤulen find, theild Antiken in 
Marmor, theils Gypfe von Antiten, bie in ben 
Bimmern ftehen und die ich alfo immer um mid 
babe. Wenn man Sinn fir die Schönheit einer 
Bildfäule hat, fo gehört das zu den reinften edel⸗ 
ften und fchönften Genüffen, und man entbehrt 
die Geftalten fehr ungern, an denen ſich das Ver: 
gnügen, wie unzähligemale man fie fich®, immer 
erneuert, ja fleigert. So reizend auch Schönheit 
und Gejihtsaustruf an lebenden Menfchen find, 
jo find beide doch an einer vollendeten Statue, 


wie die Antifen find, fo viel mehr und fo viel 





83 


und fich diefem Gefühl zu überlaffen. Die Schön 
beit, welche ein Kunftwerk befigt, ift natürlich, 
weil ed ein Kunftwerf ift, viel freier von Bes 
fhränfung al3 die Natur; fie entfernt alle Bes 
gierde, alle auch noch fo leife und entfernterweife 
eigennügige ober ſinnliche Regung. Man will 
fie nur anfehen, nur ſich mehr und mehr in fie 
vertiefen, man macht feine Anfprüche an fie; es 
gitt von diefer Schönheit ganz, was Goethe fo 
fhön von den Sternen fagt: »Die Sterne, bie 
begehrt man nicht, man freut fich ihres Lichtd.« 
Wir vermweilten lange in dem Gemache und 
vermochten und faum davon zu trennen. Go 
fheidet man ungern von einer Gegend, die in 
mildem Lichte und unerwartet ihre ganze Schöns 
heit enthullte, ohne daß wir wiffen, ob unfer Zuß 
fie je wieder betreten, unfer Auge fie jemald wies 
der erbliden werde, und deren friedliche Bild 
wir feftzubalten wuͤnſchen, weil e8 und wohlthuend 


und füß berührte. — In Zeiten wie die unfere, 
6° 


54 


in denen Bürgerkrieg das Vaterland zerreißt, in 
denen alle Leidenſchaften, nach langer Unterdrüs 
dung, plöglich entfeffelt, gewaltſam losbrechen, 
und wie dad Meer, wenn es in wilden Sturm 
die ſchuͤtzenden Deiche durchbricht, verheerend toben, 
in folden Zeiten hat ein Seelenzuſtand, wie er 
uns in Humboldt's Briefen dargelegt wird, etwas 
Wunderbared. Wir ftaunen die Ruhe an, welche 
heiter, mit dem umvandelbaren Lächeln der alten 
leihtlebenden Götter über der Erde ſchwebt; fie 
rührt ung, flößt uns Achtung ein, und Alles diefes 
um fo mehr, wenn wir felbft, von der Parteis 
leidenfchaft unferer Tage menfchlich tief ergriffen, 


nicht einmal den Willen haben koͤnnen, diefe leidene 
ichaftlofe Ruhe fehon jegt fiir uns zu erftreben. 








85 


zu erheben und darauf hinabzufehen vermag, wie 
Humboldt, in fternenklarer, braminenhafter Ruhe. 
Man wird ftil in den Räumen, welche diefer hobe, 
tünfllerifch veredelte Geift bewohnte, man wird 
friedlich geflimmt durch den Gedanken an ihn. 
Es war Pfingften. Der Tag war fonnig und 
warm gewefen. Als wir aus Humboldt's Ars 
beitözimmer in die Vorhalle traten, deren Thuͤre 
geöffnet war, firömte der füße Duft des voll 
blühenden Flieders und entgegen, der in den legs 
ten warmen Strahlen der untergehenden Sonne 
in reihem violettem Roth erglänzte Wir fahen 
empor und unfer Auge fiel auf eine graue Mars 
morfäule, welche dem Haufe gegenüber, am Ende 
bed Gartend errichtet, ein Standbild der Hoffe 
nung auf ihrer Spitze trägt. Es fol von Canova fein, 
ift aber nichtd weniger ald ſchoͤn. — Diefe Säule 
erhebt fi) über dem Grabe, in dem jetzt auch 
Humboldt an der Seite feiner vor ihm geftorbes 
nen Gattin ruht. Ihr hatte er diefes von blühen: 


86 


ben Sträuchern umgebene Denkmal errichtet, um 
den Zod, diefe Vollendung des Lebens, noch in 
demfelben Sinne zu verfchönen, in dem er das 
Leben zu verfhönen und zu genießen fir eine 
Aufgabe und für die Pflicht des Menſchen hielt 

Daß Therefe dieſes Tegel nie gefeben bat, der 
man die Herausgabe von Humboldt's Briefmechfel 
mit feiner Freundin verbankt, thut mir leid, Sie 
vor vielen Andern würde Freude daran gefunden 
haben, da ihr Humboldt's Perfönlichkeit Durch die, 
freilich nur einfeitigen Auffaffungen und Schilder 


rungen, diefer Frau Diede nabegetreten iſt. Es 


wäre eigentlich zu wuͤnſchen, daß die Verchrer 
diefer Humboldt'fchen Briefe, welde im Grunde 
Monologe und als Ausdrud der Neigung fehr 








6. 
Berlin, 8. Zuni. 


Ich hatte in Paris fo viele, durch die Revo⸗ 
tution hervorgerufene Pünftlerifche Leiſtungen ge- 
ſehen, Buͤſten und Bilder der Freiheitögöttin, 
Gedichte, Hymnen, Goncertaufführungen, Schau- 
fpiele, Vaudevilles, Statuetten, die ſich Alle mehr 
oder weniger der Zeit, der bewegenden Idee bed 
Augenblides dienftbar gemacht hatten, oder deren 
Schöpfer vielmehr von diefer Idee ergriffen wor: 
den waren, daß ed mir auffiel, bier faft Nichts 
ber Art gewahr worden zu fein. Ich veranlaßte 








88 


alfo in dieſen Tagen S., mit mir einige Maler 
und Bildhauer-Attelierd zu befuchen, um zu wife 
fen, wie es in biefen ausſaͤhe nach der Revo: 
fution. 

Alles aber war vegungslos geblieben in den 
Werkftätten der Kuͤnſtler, regungslos als wäre 
kein achtzehnter März geweſen; und wo man bie 
Frage aufwarf: „weshalb malt Ihr nicht, was Ihr 


erlebt habt?“ erſcholl faft immer die Antwort 








find doch im Grunde keine rechten Motive 





vorbanden, das Koftum unfe Tage ſetzt dem 





Maler und befonders dem Bildhauer die entſchie— 





denften Schwierigkeiten entgegen, es 


lich ein hiſtoriſches Bild damit zu malen. Jeder 





Verſuch, den ſchwarzen Frad, den engen Ueber— 








89 


unfchön, aber die Schuld, daß hier feine Kunfts 
werke gefchaffen worben find, liegt nicht an ben 
Trachten, fondern vielmehr an den Künftlern felbfl. 
Sie haben die Kunft bisher, ich will nicht fagen 
als ein Ueberirdifches behandelt, denn fie ſchilderte 
oft genug die kleinlichſten Ereigniffe des Alltags⸗ 
lebens, aber fie haben fie als einen Luxus für die 
Reichen, nicht ald dad Bebürfniß jeded Menfchen 
betrachtet. Die Kunft ift in Deutfchland nie in 
dad Leben übergegangen, nie dem Wolfe nahe 
getreten wie in Italien, fie bat dad Volk nicht 
zum Schönheitsfinne erzogen, und alfo auch nicht 
anregende Schönheit aus dem Volke ald Rüdgabe 
erhalten Pönnen, wie dort. Darum wiffen die 
meiften Künftler auch nicht anzufangen, da es 
jegt gilt, die Kunft mit den Ereigniffen des Augen- 
blicks zu vermitteln. 

Vor zwei Jahren mochte die Klage gerecht 
fein: »die Zeit ift ohne Motive«, aber jetzt bat 
ed doch ficher daran nicht gefehlt, und ich habe 









90 


ſehr oft an den fomifchen Zorn des Malers Hari 
Rahl denken müffen, der fich einmal in Nom fo 
beftig gegen „bie ſchulgerechte Civiliſation« aus: 
ſprach, durch die das Leben thatentos geworben fei 

»Die Schuld, daß wir Nichts malen Ponnen,« 
fagte er damals, als er eben die prächtige Ehri- 
ftenverfolgung in den Katakomben beendet hatte, 
welche der Senator Abendrotb in Hamburg bes 





n koͤnnen 





wir Nichts ma 





‚ liegt allein an der ſchulgerechten 


guten Er⸗ 


an der gottoe 





en follen, die 





Männer, die wir m 
Weiber, die wir vor uns wandeln fehen, find ja 


fie find Theile einer Ma 





e gleich ſtumpf und träge 





91 


gleich Motive fuͤr den Kuͤnſtler dar. Iſt aber 
nicht nur die That gehemmt, ſondern auch ſogar 
die Laune unmoͤglich gemacht, iſt der Menſch, wie 
bei uns in Deutſchland, ſo weit unter der Zucht⸗ 
ruthe der Polizeigeſetze, daß man einen laͤngern 
Bart, eine rothe Muͤtze, einen fremdartigen Man: 
tel, als Gegenſtaͤnde der polizeilichen Aufmerkſam⸗ 
keit betrachtet und unterdruͤckt, ſo entſteht eine 
ſtarre Regelmaͤßigkeit, das ganze Leben wirft ſich 
in das Innere, das Aeußere wird leblos. Es 
bilden ſich regelrechte, heuchleriſche Formen, die 
dem Kuͤnſtler, dem Hiſtorienmaler ſo troſtlos ſind, 
als die hollaͤndiſchen und altfranzoͤſiſchen Hecken 
und Lauben fuͤr den Landſchafter. Wollen Sie 
gleich ein Beiſpiel haben, ſo betrachten Sie Sha⸗ 
kespeare's Tragoͤdien und die Dramen der Jetzt⸗ 
zeit einmal mit dem Auge des Kuͤnſtlers, der 
nach Motiven ſucht. Wo man den Shakespeare 
aufſchlaͤgt, findet man eine That, eine maleriſche 
Scene. Man kann jeden Moment des Stuͤckes 





bten zu Huͤlfe holen wirbe? — ober wer vers 
fett feinem Nebenbubler eine brave coltellata, 
einen ehrlichen Stiletſtoß, in Deutfchland, wo 
man auf der Polizei zehn Thaler für eine gege— 
bene Ohrfeige zahlt? Nur ber Untergang der 
Polizei, nur der Beginn eines ordentlichen Fauft: 
kampfes, eines gefunden, individuellen Lebens, 
kann uns retten! « 








93 


Ich erinnerte ihn in Parid an diefe Kobrebe 
auf den Fauſtkampf, ald er mir fo entzüdt die 
phantaftifhen Trachten fhilderte, welche gleich 
die erfte Barrikadennacht ded Februar hervorge⸗ 
rufen hatte. Best, als ich ihn hier vor einigen 
Tagen wiederfah und ihm erzählte, wie ich in 
Berlin gar feinen Zufammenhang zwifchen der 
Kunft und der äußern Welt gefunden hätte, 
lud er mich ein, dad Attelier des Bildhauers 
Heidel zu befuchen, in dem er, ein Freund Hei⸗ 
del's, ſich fuͤr die Zeit ſeines hieſigen Aufenthalts 
eingerichtet habe. 

Geſtern bin ich nun dort geweſen, und habe 
die Farbenſkizze geſehen, die er zu einem großen 
Bilde entworfen bat. Es ftellt den Augenblid 
der Leichenparade im Scloffe dar. Auf dem 
Balkon des innern Schloßhofes ftehen der König 
und die Königin, von allen Seiten drängt das 
Volk heran; eine Bahre, auf der eine Jünglinges 
leihe ruht, ift bingefegt vor den Augen des 





9 




















Serrfcherpaared, Männer in Arbeiterfleivung um⸗ 
ringen fie; ein junges Weib wirft fich verzwei— 
felnd Über den Körper des Todten, während ein 
älterer ſtarker Mann, in Schurzfell und aufg 
ſchlagenen Hemdeärmeln, die blutbefledten Arme 





drohend gegen den König erhebt, als verlange er 
Race zu nehmen für das Opfer feines Kindes, 
als werfe er den Schmerz und die Verwuͤnſchun⸗ 
gen des jungen MWeibes auf die Seele deffen, ber 


ſtehen machte. Schon in der 





diefe Blutnacht e 





oberflächlichen, ffizzenhaften Behandlung ift da 





Bild von einer erfehltternden Wirkung. Naht 


meinte, in Paris würde das Gouvernement pros 





vifoir oder die Stadt ein ſolches Bild augenblid 


lich befiellen; bier wo die Behörden Alles 





Crinnerungen dem Bewußtjein 











jegen, jene 





95 


Der Bildhauer Heibel feiner Seit hatte denn 
auch vortreffliche Reliefs komponirt, nad) Erleb⸗ 
niffen der Kampfeötage; Tugelngießende Barri⸗ 
fadenfämpfer; Väter, die den Knaben den Ges 
brauch der Flinte zeigen; Sünglinge, die fich los⸗ 
reißen von ben fie zurüdhaltenden Armen ber 
Geliebten, mit der Fahne die Barrikaden zu ers 
flürmen ; und fo noch eine Maffe vortrefflicd aus⸗ 
geführter Scenen. 

Rahl war ganz ftrahlend vor Zufriedenheit 
über unfere Freude an biefen Arbeiten. »Hatte 
ih nun Recht? « fragte er, »wenn ich fagte, Die 
Ordnung ift der Feind, der Fauſtkampf der beite 
Freund ded Künftlers? Die Kunft hat nie die 
Revolutionen zu fürchten, aber fie vermweichlicht 
ih, fie geht unter an der Krankenpflege, melde 
ihr ber Frieden angedeihen läßt.“ . 

In der Freude feined Herzend hatte er eine 
Zracht erfunden und ausfülßen laffen, die man 
fortan flatt des Fracks zu tragen anfangen follte. 








ss 


Es if ein Wamms von Tuch oder Sammet, das 
feft am Halfe ſchließt, die Zaille mit einem leder⸗ 
nen Gürtel einhält, und etwa eine Viertelelle 
auf bie Hüften berabfällt. Du mußt es Dir wie 
eine Kurtka denken, nur viel kuͤrzer. Dazu kommt 
dann ein Mantel, ber nach Art ber perfifchen 
Achaluks gefchnitten, 108 umgenommen, wie cin 
Rittermantel Purz, nur Bruft und Schultern bis 
en bededt; der aber angezogen und 





an bie 





mit dem ledernen Gürtel um den Leib befeftigt, 





länger berabfällt, und von ſchwerem Tuche, oder 





gar pelzverbrämt, ein ſchoͤnes Kleidungsſtuͤck fein 





dürfte. Rahl und Heidel fahen in den Anzuͤgen, 





die fie uns zu Liebe anlegten, mit ihren ſchwarzen 


Kalabrefer Hüten, fo vortrefflih aus, daß es 








edem Fünftlerifch gebildeten Auac wahre Gr 














97 


Umgebung, leht eigentlich nur für das Urtheil ber 
Andern, nicht für feine Neigung und nad) feinem 
Gefhmad. Der römifche Bürgerdfohn nennt ſei⸗ 
nen Filzhut, den er fo launenhaft keck trägt, mit 
hübfhem Trotz »come ci pare!« — »wie ed und 
gefällt.« Der Norbländer aber behält feinen haͤß⸗ 
lichen runden Hut, der eigentlich) weder ihm felbft 
noch irgend einem Menfchen gefallen kann, gewiß 
noch lange Jahre, aus jenem ſchuͤchternen Reſpekt 
vor dem treuen Gefährten ber Polizei, dem ges 
heimnißvollen »qu’en dira-t-on.« Ohnehin hat 
der Norddeutfche nichts »Unwillkuͤrliches· Er 
läßt fich nicht leicht binreißen, denn er bleibt 
immer urtheilöfähig, kritifh. In Sübdeutfchland, 
in Wien namentlih, wo nad der Revolution 
Männer und Frauen der gebildeten Stände, wie 
auf einen Schlag, mit grauen Kalabrefern, mit 
Kokarden und Zederfhmud erfhienen find, muß 


es ſchon anderd, ſchon warmblütiger, enthufiaftis 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II 7 


98 


ſcher hergeben. Und wie ſchwungvoll mögen die 
ſchoͤnen Italiener erſt fein in ihrer Revolution! 

Nur nach einer Richtung hin feheint hier das 
Volk fich jeder Kritik begeben zu haben, denn in 
Bezug auf das Schaufpiel läßt «8 ſich das Un: 
glaublichfte gefallen. 

Bon dem königlihen Schaufpiel, in dem fie 
nad) wie vor die alten Bauernfeld'ſchen Sachen, 
und faft wöchentlich das Schaufpiel »Vor hun: 
dert Jahren« geben, fpreche ich gar nicht, denn 
das Inftitut ſteht ſchon fo lange aufer allem Zur 
fammenbange mit dem Leben, mit der Gegen- 
wart, daß man alles Intereffe daran verloren hat, 
und nur mit Bedauern an die großen Mittel 
denkt, welche dort für die jämmerlichften Zwecke 


verwendet werden. Das Theater, welches einft 








99 


zu Schöneberg, einem Luftort vor dem Thore, faft 
alltäglich wiederholt, immer neue Zuſchauer ber: 
beizieht. 

Aber außer diefem fchon längere Zeit beftehen« 
den Sommertheater haben fih in den andern 
Vergnügungsorten, welche dad Wolf vorzugsweiſe 
befucht, Schaufpieler gefunden, die in fehnell ers 
richteten Bretterbuden Gelegenheitöftüde fpielen. 
Ein ſolches haben wir neulich in Moabit in groͤ⸗ 
ßerer Sefellfchaft befucht, und find erfchroden vor 
der gänzlichen Sinnlofigfeit, vor der rohen Abges 
fhmadtbeit der Stüude, die man dort dem Volke 
vorführt. 

Man gab drei Luftfpiele, von denen und das 
Eine, welches »der Bürgerwehrgeneral« hieß, ber: 
beigelodt hatte. Die Abdantung ded General 
Achhoff, die Wahl eines neuen Kommandanten 
für die Bürgerwehr, hatten die Entftehung diefer 
wuͤſten Komödie hervorgerufen, die wirklich fo 


unfinnig, fo zufammenbanglo® war, daß fein 
T° 








100 


anderes Volt ald das unfere ſich bergleichen ges 
duldig gefallen laffen würde. Drei Kandidaten 
für die Stelle melden fih nah und nach bei 
einem Schanfwirthe, machen Schulden mit dem 
Verſprechen zu bezahlen, wenn fie im Amte find, 
tiebein mit ber Tochter, kommen, geben, vers 
ſchwinden endlich, ohne daß nur irgend Etwas 
gefchehen, ein Faden geſchuͤrzt und geldft wäre, 
der die einzelnen unzufammenbängenven, auf blo- 
ßes Neben bafirten Scenen verbinden fünnte 
Dabei eine gemeine Sprache, witlofe Plattheiten, 
feine Luft, Feine Freudigkeit, Fein verſtaͤndiger 
Gedanke irgend einer Art, kein Enthuſiasmus für 
die eben erlebte Revolution. Es fchnürte mir 


das Herz zufammen, und nie empfand ic) tiefer 











101 


auf italienifchen oder franzöfifchen Theatern un: 
möglich, denn fie eriftirt dort eigentlich nicht mehr. 
Der Kohlenträger in Paris, der Bettler in Ita⸗ 
lien fprechen edler als diefe Schaufpieler; und doch 
war e8 nicht das Proletariat, welches die Zus 
börer bildete, denn ber geringfte Platz koſtete noch 
zwei oder drei Grofchen, während die erften Pläge 
mit fieben und einem halben Groſchen, alfo faft einem 
Frank bezahlt wurden, und von wohlgelleideten 
Bürgern ganz und gar befegt waren. Fuͤr folche 
Preife, vor folhem Publitum fpielt man in Ges 
nua im Zagtheater die Tragddien Alfieri's, Die 
Luftfpiele Goldoni’3, und neuere Stüde, die an 
innerm Werthe, an Gefinnung und Sprache, den 
Leiſtungen unferer Hoftheater gleihfommen, wenn 
fie fie nicht übertreffen. Zu ſolchen Preifen fieht 
das Volt im Theater San Garlino in Neapel 
die beiten Vorftellungen, und die Puppenfpiele 
auf dem Molo am Golfe find noch viel edler, maaß⸗ 
voller und geiftreicher, als diefe Darftellungen. 


102 


In Paris würden die letzten Bänke des Am- 
phitheaterd in jedem Schaufpielfaale der entlegens 
ſten Boulevarbs ihr »A bas!« rufen, und bie 
Marfeillaife ober fonft ein Volkslied verlangen, 
um fi die Seele zu erfrifhen, wenn man ges 
wagt hätte, ihnen folb ein Machwerk, wie diefe 
drei Luftfpiele, vorzuführen, oder folche rohe Sub⸗ 
jecte als Schaufpieler auftreten zu laffen. 


Hier lachte man und fchien dad Unedle, Nies 
drige noch gar nicht einmal zu empfinden; und 
hätte man es empfunden, an welchem Volksliede 
follte man ſich erholen? — Wir haben Keines! 
Auch die Dichter feiern, au die Dichter haben 
noch jest nicht den Ton gefunden, der wieder- 
klingt aus biefer Beit, ein Echo in ben Herzen 
des Volkes. 


Sie fingen zuweilen bier in den Straßen 
Was ift des Deutfchen Vaterland? « und bilden 





103 


fih ein, das fei ein Nationallied, ein erhebender 
Gefang. Es iſt aber nichts ald der jammervolle 
Klaggefang eines zerfpaltenen, in Knechtfchaft zer⸗ 
tretenen Volkes, das nad) einem Vaterlande fucht, 
weil die Heimath ihm Fein Vaterland gewefen, bie 
zu biefer Stunde. Es iſt der Wehfchrei einer Nation 
über ihre zerflörte Nationalität, ein Lieb, das in 
fi allein die Antwort enthält für Alle diejenigen, 
welche die deutfche Revolution gern ald bie Uebel⸗ 
that einzelner Unrubheftifter anfehen und darftellen 
möchten. 


Und weil dies Licd noch das einzige, allen 
Deutfchen gemeinfame ift, weil es bis heute für 
einen erhebenden Volksgeſang gelten konnte, Darum 
halten Deutfche noch diefe Jammerkomoͤdien in 
Moabit aus, darum fühlen fie noch nicht, daß 
eine edle Sprache mit das höchfte Beſitzthum eines 
Volkes ift, und daß ed ein Verbrechen ift, dieſes 
Beſitzthum durch Verwahrloſung fo zu entehren, 


104 


wie es bei und gefchehen. Daß faft hundert 
Jahre nach Goͤthe's Geburt noch ſolche Luftfpiele 
dem Volke erträglich feinen, fpricht ein ſtrenges 
Urtheil aus gegen die bisherigen Regierungen und 
Fürften. 





7. 
Berlin, 30. Juni 1848. 


Seit dem verbrecherifhen Angriff auf das 
Zeughaus ift Berlin in einer wahrbaft fieberhaften 
Erregung. Die Vollöverfammlungen, die Pla- 
kate mehren ſich, der Ton der Parteien, die ſich 
immer fchroffer gegenübertreten, wird von beiden 
Seiten heftiger, und felbft der Hinblid auf den 
furdtbaren Straßenfampf in Paris fcheint die 
Parteiwuth aufzuftacheln, ftatt fie zu befänftigen 
und zum Frieden zu ermahnen. 

Dieſer Kampf der Nichtbeſitzenden gegen die 


106 


Befikenden wat es, ber mir ald cine unausbleib- 
lihe Gewißheit vor der Seele ſchwebte, lange 
ehe dieſe jetige Revolutiondzeit in unfern Geſichts⸗ 
kreis getreten war. Nun ift er bereingebrochen, 
und man weiß ihm nicht anders zu begegnen, 
ald mit der Macht der Bajonette, mit den Ku— 
geln der Kanonen. Kann man benn bie Hälfte 
der Menfchheit todtfchiegen? Kann man die Men⸗ 
ſchen zwingen wollen, ſchweigend die Noth zu 
ertragen, die ihnen unerträglich geworden ift? 
Und wäre dies Unmögliche möglich, wer koͤnnte 
elend genug fein, es zu wollen? 


Wenn man an den Volkshaufen vorlibergeht, 
die fich bald an diefer, bald an jener Stelle ſam— 


meln, um irgend einem Redner zuzubören, ver: 








107 


um das Bolt von dem Verderblichen zu über 
zeugen, dad in planlofen, leidenfchaftlichen Ges 
waltthaten liegt. Das Volk ift verftändig und 
befonnen, und man thut ihm große Unredt, 
wenn man ed mit den zehn oder zwölf eraltirten 
Rednern vermechfelt, deren Rodomontaden lange 
nicht die tiefe inficht verrathen, welche der 
ganze Handmerferfland von der Lage unferer Zus 
ftände beſitzt. 

Der Miniftermechfel der vorigen Woche hat 
unter den Handwerkern einen großen Eindrud ges 
macht. Ich habe zufällig mehrere in diefen Tagen 
gefprochen und faft Alle niedergefchlagen gefunden. 
Sie hatten an den Namen Camphaufen’d ihre 
Hoffnungen geknüpft, fie hatten Zutrauen zu ihm 
gefaßt, auf ihn gerechnet, daß er Abhülfe für 
viele Uebel bringen werde; nun erfahren fie, daß 
auch er nicht zu helfen wiffe, und ein älterer, 
fehr ruhiger Bürger, der emfig arbeitet feine große 
Bamilie zu ernähren, fagte mir kopfſchuͤttelnd: 


108 


»Glauben Sie mir, vom grünen Tiſch aus ift 
und nicht zu helfen!« 

Alle aber find gut auf die Buͤrgerwehr zu 
fprechen, und ſtimmen keinesweges in die Ber 
hauptung der eute ein, welche die Bürgermehr 
ald ein den Handwerker in feinem Gefchäfte zu= 
rüdbringendes, demoralifirendes Inftitut darftellen 
mödten. Ein Schuhmacher äußerte in diefen 
Tagen gegen mich: Wer Fein Trinker und fein 
(Seldverbringer iſt, Der wird's auch in der Wache 
tube nicht werden, und wenn fie davor To große 
Furcht haben, fo follen fie Die Trinker ausſtoßen 
aus der Buͤrgerwehr Wenn wir nicht um jede 


Kleinigkeit unnötbig berausgetutet würden, wire 


der Dienjt gar nicht fo ſchwer, und das Erer: 





109 


Rüdtritt des Minifteriumd aud) große Beforg- 
niffe hervorgerufen, und Aufregung und Abfpans 
nung, Erbitterung und muthlofes Verzagen kom: 
men mehr und mehr über die Beſitzenden. Sie 
find der Unruhe, der Erregung müde, bei ber fie 
Nichts zu gewinnen haben, fie möchten das ab⸗ 
folute Syitem »bis auf den lebten Gentdarm « 
wieder haben, wie neulich Jemand in meiner 
Gegenwart fagte, damit fie wieder unter den Lin⸗ 
den fpazieren gehen koͤnnen, unbehindert durch 
den Lindenflub an der Friedrichöftraßenede, und 
durch die zahllofen Plakate an den Bäumen felbft. 

Ich habe die neuen Minifter an einem der 
Hanfemann’fhen Empfangsabende geſehen. Diefe 
Soireen gleichen wirklid einem Gudfaften, und 
died Bild, das ich neulich gegen Dich brauchte, 
ald ih Dir den erften Empfang befchrieb, trifft 
wunderbar zu. Die Perfonen verfehwinden vom 
Schauplatz, fihnell, wie die Bilder des Gudfas 
ftend fortgezogen werden. Die Männer, welce 









110 





man am Dienftage ald Minifter erblidte, haben 
am Freitage ſchon aufgehört, das uber bed 
Staatsfchiffes in Händen zu haben, und find 
am nächften Dienfiage oft ſchon durch Andere 
erſetzt. 

Das ganze neue Miniſterium war am Dien— 
ftage dort beifammen, die Herren v. Auerswald, 
Milde, Rodbertus, Märker, Gierke, Kuͤhlwetter 
und Schredenftein — den Wirth des Haufes, 


Hanfemann, nicht zu vergeffen 





Bon dem Minijterprafidenten Rudolf v. Auers 








wald ſprach ich Er war früs 


ber Dberbür iſter in Koͤnigsberg, und ala 








Der Kriegsw 


fiein it_ein hober 


111 


aber unter diefem Greifenhaar, unter den bufcis 
gen grauen Brauen, fehen ein Paar Fuge Augen 
feft und entfchloffen in die Welt. Diefr Mann 
weiß, was er will, und wird dad, was er für 
Recht hält, durchzuführen vermögen, um fo drin: 
gender aber wird der Wunſch, um fo nothmwens 
diger die Hoffnung, daß er auch wirklich das 
Rechte erkenne und mit Verftändniß der Gegens 
wart handeln möge. 

Jener Andere, welder fo jchnell durch die 
Säle fchreitet, in der modernften Kleidung, ſchlank 
und doch kräftig von Geftalt, nah allen Seiten 
grüßend, hierher ein Wort, dorthin ein Lächeln 
fendend, Diefem einen guten Tag, Ienem ein 
Witzwort zurufend, über die Dazwifchenftehenden 
hinweg, das ift der Handelöminifter Herr Milde 
aus Breslau. 

Willſt Du Dir den Handelöminifter in einem 
fhon vorhandenen Bilde denken, fo flele Dir 
den Pelham, den Helden Bulwer's vor, zur Zeit 


112 


feiner Parlamentsfandidatur, in feiner gunftge- 
währenden, gunftfordernden Freundlichkeit. 

‚Herr Milde ift der Sohn eines Breslauer 
Kattunfabritanten, der fi aus den unterften 
Volksklaſſen zu großem Reichthum und zu ehren⸗ 
voller Achtung emporgefehwungen hat. Der Sohn 
ift im Reichthum erzogen, hat nie Abhängigkeit 
gekannt, eine vielfeitige Bildung erhalten, fich 
mit den verfchiedenen Literaturen vertraut gemacht, 
und bei langem Aufenthalte in Franfreih und 
England früh die Verhältniffe conftitutioneller 
Länder kennen und fchäten lernen. Reich, müßig, 
lebensluftig, galt er in feiner Jugend, wie Pels 
bam, für einen Dandy; aber Jeder, der ihn 
näher kannte, ſah unter dieſer leichtfertigen Hülle 
einen ftarfen Ehrgeiz hervorbliden, der fi auch 
zeigte, fobald ſich in den preußifchen Staatövers 
bältniffen Gelegenheit zu feiner Entwidlung dar 
bot. Jetzt hat der anglomanifirende Dandy fi 
in einen tüchtigen Geſchaͤftsmann verwandelt, 





113 


der in Breslau vielfach thätig, ſchon auf dem vorigen 
Landtage ald Deputirter erfchien, und in der 
Nationalverfammlung zum Präfidenten erwaͤhlt, 
endlich das Portefeuille des Handels erhalten hat. 
Er fcheint die Kaft des Amtes leicht zu finden, 
wenn man nach feiner Heiterfeit urtheilen dürfte, 
und ed wäre böchlich zu wünfchen, wenn er tem 
Dandel Preußens fo viel Auffhwung zu geben 
vermöchte, ald fein Vater einft den eigenen Fabriken. 

Die Minifter der Zuftiz und der Agrikultur, 
die Herren Märker und Gierke, faßen faft den 
ganzen Abend in einfamem, ruhigem Sefpräd in 
einer Senfterbrüftung. Sie mögen Beide in der 
Mitte der vierziger Jahre fein. Der Erftere ift 
berb gebaut, mit ſtarkem Kopfe, feſtknochigem 
Gefiht und einer jener tüchtigen Phyfiognomien, 
die Zutrauen einflößen, weil fie klug und gut 
audfehen; der Andere, Herr Gierke, fehr blond, 
mit feharfen Zügen und ruhiger Haltung, ift ein 


durchgebildeter Mann, der diefe Zeit nicht als 
Crinuerungen a. d. Jahre 1838. IT, 8 





114 


ein einzeln baftehendes fchlimmes Phänomen, fons 
dern in ihrem Bufammenhange mit der Vergans 
genheit ald eine Nothwendigkeit erfennt, was, fo 
einfach und natürlich diefe Erfenntniß fcheint, eben 
nicht von Vielen gefagt werden kann. Mit beiden 
Wahlen ift man zufrieden, alle Parteien ſprechen 
mit Zutrauen von Maͤrker's und Gierke's Charakter 
und erwarten von ihrer Amtsführung das Befte 

Der Kultusminifter Rodbertus ift eine durch— 
aus edle Erſcheinung. Gin fchöner, flattlicher 
Mann, deffen leicht mit Grau gemifchtes braune 
Haar fich ſchlicht um cine bobe, reine Etirn legt. 
Ein offnes Auge, ein angenehmer Ausdrud des 
Mundes beim Sprechen, edle Handbewegungen und 


her mi njid ih 








115 


Zwei andere Perfonen fielen mir noch auf. 
Der Eine ein hochgemachfener Mann, mit grauem, 
kurz gefchorenem Haar und einer an Wallenftein’s 
Portraits erinnernden Kopfbildung, der fich fehr 
militairifh und männlich hielt, war Herr v. Hol⸗ 
zendorf-Vietmannsdorf, befannt durch feine lan⸗ 
gen Kaͤmpfe mit dem Miniſterium Bodelſchwingh; 
der Andere, ein katholiſcher Geiſtlicher, der tapfere 
dialektiſch gewandte Tirailleur des linken Centrums, 
Kaplan von Berg. Er war Lehrer in einem 
Kadettenhauſe, ehe er in den Klerus trat. Trotz 
ſeiner Jugend und ſeiner offenbar bluͤhenden Ge⸗ 
ſundheit, die ſich in einem Hinneigen zum em- 
bonpoint verraͤth, iſt ſein Schaͤdel kahl, aber die 
lebhaften Augen ſprechen dieſem Anſchein des Al⸗ 
ters Hohn und blicken ebenſo ſicher im Salon 
umher, als ſie herausfordernd auf der Redner⸗ 
buͤhne um ſich ſchauen. Dieſer Lebensmuth, dieſe 
Entſchiedenheit bilden einen grellen Gegenſatz gegen 
die behutſame Weiſe der proteſtantiſchen Geiſtli⸗ 





116 
chen, welche ſich als Deputirte in dieſen Saͤlen 
befinden, und wohl mit dem Abſcheu monarchi— 
fcher Entrüftung auf den Republifaner Arago 
bliden, der ſich jet ald Geſandter ber franzöfie 
fchen Republik hier auf den Parkets des chriftlich- 
monarchifchen Staates par excellence bewegt. 
Sch ſah ihn neben bem greifen Botfchafter ihrer 
Allerkatholiſchſten Majeftät von Spanien, mit dem 
Alexander von Humboldt, in feiner eigenthuͤmlich 
verbindlichen Haltung und in der immer gleichen 
laͤchelnden, gefälligen Weife einige Worte ſprach. 

Was nun diefes neue Minifterium leiften wird, 
ruht auf den Knien der Götter. Ich werde es 
hoffentlich nob am Ruder finden, wenn ih zum 


Herbite wiederfehre; denn in den nädften Tagen 








Hamburg. 


u — — — — 





Bamburg, 10. Juli 1848. 


Hamburg gefällt mir wieder ungemein; es 
ift im Sommer, befonderd wenn man ed mit 
Berlin vergleicht, ein anmuthiger Aufenthalt. Das 
große, Mare Alfterbaffin in der Stadt, die Lands 
haͤuſer an der Außenalfter, die Wallanlagen, welche 
gleich vor allen Zhoren beginnen, geben Ham⸗ 
burg einen fo heitern Anſtrich, bag man bier bie 
Annehmlichkeiten der großen Stabt und den Ges 
nuß einer für Norddeutfchland reichen Ratur auf . 
das Slüdlichfte verbunden findet. Auch bie ganze 


syenung, nad) Der man um fünf Uhr ti 
mahlzeit macht. Das giebt einen laı 
ruhigen Arbeit forderlichen Vormittag 
im Winter einen Spaziergang von drei 
Uhr, ehe es dunkel wird, laßt im Somn 
die frifhen Abendftunden fir den Gen 
und verhindert, daß man wie bei und ı 
Mittagseffen abermals zu arbeiten anfanı 
was Niemand auf die Länge ohne Gefahı 
Gefundheit erträgt. 

Dazu fommt nun die ganz comfortal 
richtung der Häufer, die Reinlichkeit der € 
die Billigkeit aller Produkte und Waaren 
von den uberfeeifchen Kolonien fommen, d 
trefflichfeit der inländifchen Kebensmittel, 
freilich theuer bezahlt; der große Wohlfta 
man lberall gewahr wird — ru 





121 


ich e8 fehe. Denkt man, wie fchwer die Stadt 
noch vor wenigen Jahren durch das Brandunglüd 
beimgefucht wurde, und in wie großartigem Sinn 
man die Öffentlichen Neubauten unternommen hat, 
fo fieht man, wie e8 doch um das self governement 
eine prächtige Sache fein fann.. 

Bei uns find feit dem Regierungdantritte Frieds 
rich Wilhelms IV., in Berlin die bedeutendften 
Summen für Neubauten verwendet, man hat den 
Dom, das neue Mufeum zu bauen angefangen, 
ed werden Fresken fomponirt für dad Compo fanto, 
in dem die Gebeine der Hohenzollern ruhen follen, 
und vielerlei ift unternommen worden, dad den 
perfönlichen Neigungen des Königs fchmeichelt; 
für dad Beduͤrfniß ded Volles, der Bewohner 
Berlins, ift aber eigentlid Nichtd gefchehen, außer 
der neuen Anlage des SpreesKanaled vor ben 
Thoren. 

Die Abzugskanaͤle in den Straßen ſind noch 


ganz ſo mangelhaft als vor acht Jahren, ſo daß 
Br 


suchwen Damme nicht fahren Fonnten, w 
Pferde bis zum Leibe in dem Waffen 
Die Kommunikation war für einige S 
hemmt, und fol ein Zuftand, der in 

gegründeten Stadt erflärlich wäre, iſt 
unverantwortlich in einer alten Refiden 


man den unnöthigen Dom und ein Gar 
gründet. Selbft Markthallen, wie Hamt 


zwei vortrefflich eingerichtete befißt, fehl« 
noch ganz. Kurz für Alles dasjenige, wat 
liche Wohlleben des Einzelnen betrifft, ift, 
zu den vortrefflichen Drofchken, in der frei 
Hamburg durchweg beſſer geforgt, als ıı 
koͤniglichen Reſidenz. 

Nur die alte Suͤnde der Thorſperre 
auch nach dem Brande nicht abgeſchafft, 
Thorſperrkrawall erſt in dieſer Zeit die ! 





123 


nung des Zollhauſes am Steinthor veranlaßt. 
Sonft aber ift Hamburg fehr ruhig, und wenn 
auch mande Klagen über die Unbequemlichkeit 
der Zruppendurchztige, über den Schaden, welchen 
der Handel durch den dänifchen Krieg erleidet, 
bier in Hamburg laut werden, fo ift dafür der 
Enthufiasmus in Altona um fo größer. 

Die Landeöfahne weht dort neben der deutfchen 
Fahne vom Rathhaufe hernieder, in allen Häufern 
werden die Verwundeten, welche nicht Plaß finden, 
in dem zum Lazarethe umgemwanbelten Waiſen⸗ 
baufe forglichft gepflegt; die jungen, reichen Frauen 
bieten ſich zu Hülfsleiftungen in dem Hospitale 
an; man liefert Wäfche für Soldaten und Vers 
wundete, man theilt Lebensmittel aus, und ale 
in diefen Zagen die Weimaraner mit den Bars 
burger Dampfichiffen im Hafen von Altona lans 
deren, wurden fie mit Mufil und lautem Jubel⸗ 
rufe empfangen. Die Truppen hatten nicht ge= 
raftet, fchienen hungrig zu fein. Da war es ſchoͤn 


sw jan einen jungen Dreier, Der zw 
große Weißbrote in vier Stüde brach unt 
den Zunädhjftftehenden drei Stuͤcke davon ab: 
gleich er felbft das legte Viertel fo eilig vi 
daß man ahnen fonnte, auch er habe d 
dürfniß danach lebhaft empfunden. 

Diefe Landung der Truppen in Altona n 
unvergeßlich fein. Wie ein warmer belebender 
zog das Gefühl der Begeifterung durch alle 
Ih war mit dem Konſul X... und feine 
lihen Srau an das Ufer gegangen. Sie 
fih von der erften Stunde ded Freiheitsk 
mit ganzer Seele daran betheiligt und fi 
verzagt geblieben, obſchon die Ereigniffe 
ihr ganzes Vermögen geraubt haben, fo 
forgenbelaftet in die Zukunft fehen, die ihn 
ber eine geficherte Ruhe im Kreife ihrer 


125 


zu verfprechen gefchienen. rau %..., welche 
erſt fürzlich von dem Beſuche der Hoßpitäler in 
Rendsburg zuruͤckgekehrt war, und ſchwer ver: 
wundete Oldenburger Öfficiere im eigenen Haufe 
verpflegte, dachte tief erfchuttert all’ der Todten 
und Verwundeten, welche fie feit den legten Wo: 
chen gefehen hatte, und der Anblid diefer jungen, 
lebenövollen Truppen preßte ihr Thränen in die 
Augen. Wie mancher von ihnen wird die Hei⸗ 
math nicht wiederfehen, wie mancher leiden und 
bluten für die Befreiung dieſes Brudervolkes! 
Die Begeifterung für die Erhaltung der Na⸗ 
tionalität foll auf dem Lande, unter den Bauern 
und in den Heinen Städten aber faft noch größer 
fein, als in Altona felbft; fo erzählte mir ©..., 
der, wie Du weißt, fonft eben fein Verehrer der 
Revolutionen und Vollöbemegungen if. Es muß 
eine Erhebung fein, wie die preußifche im Jahre 
dreizehn. Die fürftlihe Familie von Holftein» 
Auguftenburg, welche in Nyenftädten, eine halbe 


men felten nach Altona, feltener nach Hambı 

Die Hamburger Bankfürften ſcheinen 
großen Theile der Schleöwig=Holfteinifchen € 
abgeneigt. Die Menfchen find eben nicht 
Ipdealiften, und man darf es zulegt dem in ı 
gem Befige Ergrauten nicht verargen, wen 
in fi nicht mehr den Muth fühlt, das Er 
bene zu verlieren, eben weil ihm die Kraft | 
ed auf's Neue zu erwerben. Der Egoidmut 
Alter verdient faft immer unfer Bedauern, 
die Selbftfucht der Jugend ift tadelnswerth 
ftrafbar. 

Weil ih vom Alter fpreche, erzahle ich 
zugleich, daß ich denn aud in diefen Zagen 
alten vortrefflihen Hartwig Heſſe befucht eh 
deffen Schwefter wir fchon früher kannten, 
von dem Thereſe und fo viele Rırae der Guüte 


127 


Menfchenliebe erzählt hat Schon im vorigen 
Jahre ward ich von ihm aufgefordert, feine Ges 
mäldefammlung anzufehen, ohne es damald an⸗ 
nehmen zu ?önnen, weil mein Aufenthalt fo kurz 
war. Jetzt endlich bin ich mit A. bei ihm gewes 
ſen, und habe ein paar gute Stunden in feinem 
Haufe verlebt. 

Es liegt auf der Sonnenfeite der Eöplanade, 
in ftiller, friedensvoller Stattlichkeit da. Ein Paar 
Stufen führen zur Thüre hinan. Mein Beglei⸗ 
ter Elingelte, ein Diener öffnete und führte und 
in eine zu ebener Erde gelegene Hinterfiube, in 
der Herr Hartwig Heffe und empfing, indem er 
und mit gutmüthiger Butraulichfeit die Hand bot. 

Hartwig Heffe ift nun nahe an fiebzig Jahre 
alt. Er ift mittlerer Größe, hat ein volles rotheß, 
ſcharf gefchnittened Geſicht, aus dem unter unges 
wöhnlich ftarfen Augenbrauen ein paar fchwarze 
Augen eben fo Plug ald freundlidy hervorfehen. 
Sein weißes Haar ift fauber geordnet, fo au 


verrathen den an gute Sitten gewöhnten, fo 
vollen Mann, während doch zugleich die hoͤ 
Einfachheit und Anſpruchsloſigkeit feinem gaı 
Wefen aufgeprägt if. Was Heffe für feine 

Bere Erfcheinung thut, gefchieht nicht mit R 
fiht auf Andere, er ift eine faubere Natur 

bat Gefühl für das Schöne. — Aus diefer 9 
fönlichkeit geht auch die Art feiner Kunſtliebe, 
ganze Einrichtung feines Haufes hervor, wie 
fie an diefem Tage und bei fpätern Befu 
kennen lernte. 

Hartwig Helle ıft der Sohn wohlhaben 
jüdifcher Eltern und hat fpäter felbft ein fo gro 
Vermögen erworben, daß er in dem reichen He 
burg zu den reichen Leuten gezahlt wurde. D 
noch, und obfchon er das Kamilienleben liebt, 
als beneidenamerth ſchildert hat or fich nicht v 


9 - 


129 


beirathet, fondern ift ein Hageftolz geworden. Fruͤh 
empfänglich für geiftige Bildung, die er in dem 
Kreife, in welchem er geboren, nicht überall gleich 
vorberrfchend finden mochte, bat er bedeutende 
Reifen durch Deutfchland, England, Italien und 
Sranfreih gemacht, auf denen ihn zum Xheil 
eine feiner Schweftern begleitete, welche er vor⸗ 
zugsweiſe liebte. Die Gefchwifter haben längere 
Zeit in Berlin, Wien und Paris gelebt und viel: 
fahe Belanntfchaften mit den bedeutendften ihrer 
Zeitgenoffen anzufnüpfen Gelegenheit gehabt. Spaͤ⸗ 
ter wurden diefe Reifen zwar alljaͤhrlich wieder⸗ 
holt, doch auf einige Sommermonate befchräntt, 
da Herr Heffe fid) mehr und mehr an die fefjelnde 
Bequemlichkeit feined Haufes gewöhnt hatte. 
Und in der That ift diefed ganz dazu ge: 
fhaffen, die Zrennung davon zu erfchweren. Im 
Erdgefchoß, welches fid) auf einen am Walle ge: 
legenen zierlihen Garten Öffnet, und ebenfo in dem 


erften Stod, befinden fich je vier Zimmer, ohne pomp⸗ 
. Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 


me ee eye os WYUYIRHHET , DIE 
im Winter bevvohnt werden, find gegen I 
Oelgemälde lebender Maler vertheilt; nic 
Aufftappelung für kalte Prunkſucht oder al: 
bängefchild für die todten Millionen im e 
fchlagenen Kaften, fondern zum Genuß eir 
bildeten Geiftes und Herzend. Eben fo g 
und auf perfönliche Befriedigung berechnet i 
Bibliothel, aus den beften deutfchen, engl 
franzöfifhen und italienifchen Werken befl 
Kein Buch, weldes der Befiger nicht kenn 
werth hält. Ein alter Diener, den Heffe 
in feine Dienfte genommen und in den Spi 
hat unterrichten laffen, macht den Bibliot 
Er mar auf allen Reifen feined Herrn fein 
gleiter, und ift fo fehr in deſſen Wuͤnſche 
Neigungen eingelebt, daß er wie eine nothmwı 





131 





Mit Liebe führte Herr Heffe und zu feinen 
Bildern. Es waren lauter Werke lebender Maler; 
er kaufte grundfäglich nur folde, und manchem 
jungen Künftler mochte durch die Kunftliebe des 
reichen Mannes erwünfchte Hülfe geworben fein. 
»Daß ift meine Welt!« fagte Heffe, »die verftebe 
ih noch; die Welt ift ruhig und beruhigt mid, 
wenn ich gequält von dem Treiben da draußen, 
die Zeitungen aus der Hand lege.« 

Die legten Parifer Ereigniffe haben auch ihn 
furchtbar erſchuͤttet Er hat die Luft am Leben 
verloren und fieht fi im Geiſte, wie viele friebs 
fertige Bürger, beftändig von Flinten und Dolchen 
bedroht. Ich verſuchte den alten Herrn zu be⸗ 
ruhigen, auch A. ſtimmte mir bei, eine ſegens⸗ 
volle Zukunft aus den Kaͤmpfen des Tages ver⸗ 
heißend; aber Heſſe ſchuͤttelte den Kopf. — "Ka, 
ja! Sie find jung«, fagte er freundlih, »Sie 
koͤnnen ed abwarten. Geſtehen Sie indeflen, daß 


wenn man alt ift, fein Leben hindurch gearbeitet 
9+ 


„ommunismus und Socialismus gar 
Plingt ald in der Fugend.« — »Und dod) 
a. »ift Niemand fommuniftifcher, Niem 
Geben an Nothleidende von jeher bereı 
gewefen als Sie. Bricht einmal die fom 
iche Revolution in Hamburg aus, fo flüd 
nur getroft zu Ihren vierundzwanzig Sraı 
werden ihren Mann fchon fehüßen.« 

Wir waren während des Sprechens und: 
betradhtend in dad Gartenzimnier gelangt, i 
fih unter den modernen, praftifch fchöner 
bein eine gewaltige alte Nußbaumkommo! 
blanken Meffingfchlöffern und Griffen fo au 
lich bervorthat, daß mein Auge davon g 
wurde, weil dad ganze Licht der Herbftfon 
darin zu fammeln und davon zurudzuf 
fhien. — »Das iſt mer! 


133 


lachend, »es gehört einer Wittwe, die in's Stift 
will, fobald eine Vakanz eintritt; und damit ich 
fie nicht vergeffe, hat fie mir die Kommode hieher 
ſetzen laflen.« 

Sch fragte, von welchem Stifte die Rebe fei. 
»Da ic felbft feine Frau habe,« fagte Hefle, 
»habe ich für fremde Wittwen, und zwar für die 
Wittwen von Schifföfapitänen und Maklern ein 
Stift eingerichtet, um doch Etwas für Andere zu 
thbun.« Dann fchnell davon abbrechend meinte er: 
»Das Befte bleibt es doch immer, das Verarmen 
zu verhüten und arbeitöfähigen Menfchen Arbeit 
zu geben, mit der fie felbft wohlhabend werden 
fönnen. Ich bin deshalb fehr für Auswande⸗ 
rungen. Wir ſchicken eben heute wieder ein ganzes 
Schiff voll arbeitsfähiger Menfchen, verfehen mit 
allen Mitteln zur Kolonifirung, nach Auftralien.« — 
Er gab und die Vorkehrungen an, welde zum 
Beften diefer Auswanderer und für dad Gedeihen 
ber Kolonie getroffen worden, fam bann auf bie 


zurüd. Ich bat ihn, mich dahin zu fühn 
wir nahmen Abrede für den naͤchſten Zar 
Es war ein flarer Morgen, ald wir d 

prächtigen Straßen Hamburgs nach der 2 
fuhren, in der, auf dem Wege nad War 
jene Stiftung gelegen if. — Cine Rei 
fieben bis act Häufern, alle gleihmäß: 
rothem Baditein gebaut, fiel mir auf. Ich 
ob diefe dad Stift wären? »Mein,« antı 
Herr Heffe, »ſie find das Kapital des € 
aus dem Ertrage diefer Häufer wird zum 
die Stiftung erhalten.“ Das Mittelfte dei 
hatte einen thorartigen Eingang. Vor diefen 
unfer Wagen, und faum hatte Heſſe dei 
auf die Erde geſetzt, ald eine ganze Schao 
Kindern fi um ihn drängte, ihm die He 


archen un n.-4 ru. 





135 





Eintritt in diefed Afyl alle Wolken der Sorge und 
ded Mißbehagend, welche die Vorgänge der neues 
ften Zeitgefchichte darüber gebreitet hatten. 

Innerhalb ded Portald zogen ſich zu beiden 
Seiten einer Straße zwoͤlf einftodige Häufer hin, 
deren jedes eine Thuͤre und zwei Yenfter hatte. 
In der Mitte der Gebäude unterbrach ein größerer 
Hof die Reihen derfelben. Eine große Laterne, 
fchattige Bäume, bequeme Bänke gaben dem Ort 
ein behagliches Anfehen und machten ihn zu einem 
Ruheplage für diejenigen Bewohnerinnen, denen 
ihr Alter weitere Ausgänge verbot. Jenſeit dies 
ſes Hofed lagen die übrigen Häufer, und am 
obern Ende war die Straße wieder durch ein 
großes Gebaude gefhloffen, in dem fi eine Schule 
befand. 

Eine mufterhafte Sauberkeit, eine wohlthuende 
Stille herrfchten an diefem Orte. Alle Zenfter 
der Beinen Wohnungen hatten fpiegelhelle Scheis 
ben, weiße Vorhänge, Blumen, Vögel, und all’ 


Wohnungen kennen zu lernen. Heſſe tra 
nächfte Haus, die Erlaubniß dazu zu forl 

Jedes derſelben hatte eine zweifenftrig 
nad) der Straße, dahinter eine einfenftri 
einem Meinen Gaͤrtchen. Hausflur, Küche, 
ein Boden und ein Erferftübchen waren bi 
gleichmäßig und auf das zweddienlichfte ei 
tet. Jedes Gaͤrtchen hatte ein Paar fchone $ 
Feine Blumenftüde, einen Heinen Ble 
eine Wafchfammer und große Regenfäffi 
Anfammeln des Waffers für die Gartı 
und für die MWäfche vervollftändigten den 
halt. Das Ganze zielte darauf ab, Die! 
nerinnen ganz unabhängig von einander zı 
ten. »Man bat einmal den Glauben, - 
Hefte, »daß die Weiber nit recht Fri 





137 


jede Gelegenheit zum Streiten abfchneiden wollen, 
und bis jetzt ift es auch friedlich hergegangen, fie 
haben gute Nachbarſchaft gehalten.« 

Während Heſſe von der Inhaberin des Hau: 
feö, in dad wir getreten waren, eine lange Er: 
zählung über die Hochzeit ihrer Alteften Tochter 
anhörte, die vor wenigen Tagen der Schullehrer 
der Anftalt geheirathet hatte, führte mich eine 
jüngere Zochter auf den Boden, wo Holz und 
Torf fauber aufgeftapelt und mandherlei Vor⸗ 
räthe für den Winter bewahrt fanden. »Dieſes 
Zeuerungsmaterial und ein beflimmted Quantum 
Seife und Lichter werden und auch geliefert, und 
zu Weihnachten befommt jeded Haus eine Be: 
fheerung an Kuchen und Obſt,« fo berichtete das 
junge Mädchen, lebhafte Dankäußerungen für 
Heffe daran knuͤpfend. 

Nun aber, ald wir das erfte Haus verlaffen 
hatten, entitand eine ehrgeizige Beeiferung unter 
den vierundzwanzig Witwen des Stiftes, ihre 


wer. 2ır befuchten noch ein paar di 
Häuslichkeiten; alle waren reinlich, fr 
ftil. Es lag etwas ungemein Erbaulic 
Ruhe diefer abgefchloffenen Eriftenzen, 
Wohlbefinden aller derer, denen Heffe 
Zuflucht angewiefen, fchien ald eigen 
empfindung aus feinen Augen wieder; 
Er machte den fehönen Eindrud eines 
vor feinem mit Liebe vollendeten Werte 
»Der erfte Gedanke dazu,« fagte er, 
in einer folchen Stiftung in Augsburg gı 
Nah dem Plane derfelben richtete ich 
zwoͤlf Wohnungen ein, um zu fehen, ob! 
glüden würde. Als fich die zwölf M 
bier behaglich fühlten, ließ ich noch zwi 
nungen erbauen und gründete die Schule 
(und dies fchien eine Hannttrouh. 8-7 





139 


zu fein) nun ſchon ganz aus eigenen Mitteln er- 
hält. Urfprünglich nur auf die Kinder der Witt: 
wen berechnet, ift fie, weil ich auf tüchtige Lehrer 
gehalten habe, fehr in Aufnahme gekommen und 
zahlt nun faft hundert Schuler. Aus der ganzen 
Nachbarſchaft ſchicken fie die Kinder hieher, ich 
habe bereitd das Schullofal bedeutend vergrößern 
müffen. Sterbe ich, fo bleibt eben Alles wie es 
if. Die Kapitalien find feftgeftellt, für mögliche 
Ausfälle bei den Zinfen ift durch anderweitige Zus 
fhüffe geforgt, und ich weiß, daß hier immer eine 
Zahl von Menfchen die Frucht meiner Arbeit ge: 
nießen wird. Darih liegt etwad, was mir wohl 
thut. Man hat doc nicht vergeben® gelebt.« 


Von fchwagenden Kindern, die ſich an feine 
Hände, an feinen Rod hingen, gefolgt, fchritten 
wir dem entgegengefegten Portale zu und verließen 
dad Stift. Aber die Erinnerung an den freunds 
lichen Greiß, deffen Leben fo ſchoͤn zwifchen Kunſt⸗ 


häufig in unferer aufgeregten, vom Kan 
Leidenfchaften bewegten Zeit. Sie er| 
freundli wie Sternenlicht an fturmgepeit 
wolfenvollem Himmel, und unwilltürlid 
die Srage auf, warum find nicht alle M 
gut, da es fo glüctich macht, gut und 5 
zu fein? 





Hamburg, 15. Auguft. 
® 


Ehe ih Dir ein Wort von dem Wiederfehen 
unfercd Freundes ©. fage, muß ich Dir vor allen 
Dingen eine Pomifche Scene fchildern, die id) 
vor einigen Wochen auf der Reife hieher erlebte, 
und an die ich heute durch ein Fruͤhſtuͤck in dem 
Aufternfeller von Wilken erinnert wurde. 

Es faßen außer mir drei Männer in dem 
Koupe des MWagond. Sie mußten Alle viel ge: 
reift fein und fprachen von den vorzüglichften 
Reftaurantd, von den beften Hotels der euros 


der Eine aber ein enthufiaftifcher Liebhat 
genießender Dilettant der edlen Kochkunft 
Es war offenbar ein junger Kavalier. 
jener fchottifchen Kavaliere, die mit dem 
alten Liebe: 
Young Charley is my darling! my dar 
The young cavalier! , 
einft todesfreudig auf den Ebenen des Hod 
in den Tod gingen, fondern ein junger, b 
mit den edelften Speifen, nah allen Reg 
Kochkunſt, dick gefütterter Kavalier aus D 
burg. 

»Bah!« fagte er, »man fann fidh er 
von den Fritturen Staliend, von den Ent 
in Paris; man fann fatt werden in En 
aber eſſen, was ich eigentlich mit Bewu 


“ er — — 





143 


Hamburg — und effen wie ein Mann, wie es 
einem männlihen Manne zufommt, nur bei 
Millen.« 

»Im Aufternkeller auf dem Neuen Wall? « 
fragte Einer der Anderen. 

„Eben da! Sehen Sie, dad ift eine Koft 
voll Kraft und Saft; eine Koft, die nicht ner: 
venſchwach macht, fondern in’d Blut geht. Aber 
die Bewirthung feiner Gäfte ift auch Gewiffends 
fache für Willen. Willen ift kein Gaflwirth, 
welcher nur Geld machen will; Wilken ift ein 
Ehrenmann, der ed weiß, was ed ihm für Pflich: 
ten auferlegt, wenn Leute von Stande fich von 
ihm beföftigen laſſen. Er würde fi ſchaͤmen, 
einem Kavalier Etwas vorzufeßen, das nicht in 
feiner Art volllommen wäre; er hält darauf, wie 
ein Edelmann auf fein Wappen. Willen bat 
Ehrgeiz, er ift ftolz auf feinen Ruf, er ift der 
Napoleon der Reftaurante.« 

Ih horchte ernfihaft zu; der Ehrenmann 


Redner felbft, welcher fremdes VBerdienft 
zu erheben, fo würdig zu ſchaͤtzen wuf 
beruhigte mich, daß auch in unferer 3 
Mäcen feinen Horaz finde; ic) mußte mi 
der Ehrgeiz eined Reftaurants fei eben fi 
tigt ald irgend ein anderer; es liege i 
Streben Genuß, in jedem Gelingen Gluͤc 
ich dodh in Genua einen Mardefe Grim: 
feit zwei Jahren die Welt durchreifte, un 
forfchen, wo das befte Eis gemacht wer! 
ber nach zwei Jahren ernfter Prüfung nod 
zwifchen De Angelid im Toledo zu Nea 
Zortoni in Paris ſchwankte, ohne der Ar 
der Forſchung müde geworden zu fein. 


MWarum follte man fih nicht ebenfo 


na Malinaan ame Masnlatta mit Marla 


145 


für einen Punch a la Romaine, als für ben 
Zonfall eines Lieded und den Rhythmus eines 
Gedichtes begeiftern können? Jede Wiffenfchaft ift 
anziehend! dachte ich, als der junge Gaftronom 
alfo fortfuhr: 

»Daß Wilken noch aͤcht plattdeutfch fpricht, 
daß er all’ feine Vorräthe liebt, fie felbft bewun⸗ 
dert, fie im Hamburger Dialekte dem Kenner, 
den er ſchaͤtzen gelernt hat, aber auch nur die: 
ſem, felbft vorführt, wie ein Kunftliebhaber die 
Pradhtftüde feiner Sammlung, das ift der Haut 
gout von Wilken's Aufternkeller.« 

Plöglih raffte der Redner fich empor, zog 
Kravatte und Hemdeärmel, Böffchen und Wefte 
zureht und rüftete fi) zu einer großen That. 
Sch betrachtete ihn ftaunend, der Dinge harrend, 
die nun kommen follten. 

Es war auf eine dramatifche Vorftellung abs 
gefehen, er wollte feinen Hörern Wilken wenigs 
ftend im Bilde vorführen, ihnen die Zauberfors 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 10 


einem Male in plattdeutfcher Sprache, * 
gerade zwei Tage alt, in fünfzehn Minut 
nen fie juft recht fein. Betrachten Sie t 
Ben Holfteiner Auftern. Ich halte fie r 
Rarität, denn effen fann das plumpe, gı 
lige Zeug Fein honetter Magen. Wie ung 
wie unförmlih fchon dieſe Holfteiner A 
fhalen ausfehen gegen die Zierlichkeit der‘ 
von Colcheſter! Ja! die Engländer! Das 
Volt! Alles, was von dort kommt, hat © 
Auch diefer Käfe! es ift Alles Ddauerhaf 
folid, was von England fommt! Der € 
kaͤſe, der Chefterfäfe, die halten durch das 
Fahr! — Schmeden Sie den Chefter, id 
ihn nie beffer gehabt! — Aber der franz 
Kram, der taugt zu Nichtö! wie lange hä 


Ras Dan. ol- -“ - [“ 





147 


die Trüffeln find gut! Wollen Sie Zrüffeln in 
der Sauce? Sie find friſch angelommen, ädhte 
Perigords, ich halte fie noch zurüd vor gewöhns 
lichen Leuten; aber Sie follen von den frifchen 
haben, Sie verftehen’8, Ihnen gebe ich davon« — 
Der feinfchmedende, von Wilfen geehrte Kas 
valier lachte laut in feliger Erinnerungsfreude; 
feine Zuhörer flimmten mit ein. Aber der Höhen» 
punkt feined Entzudend war mit dieſer Erinne 
rung erreicht; er verfant in Schweigen und aus 
diefem in Schlummer, im XZraume lächelnd, als 
werde er von lauter gebratenen Rebhühnern um⸗ 
flogen, als fliegen Perigordtrüffeln vor feinem 
innern Auge aus der Erde, fich frifch hineinbies 
gend in die Mabeirafaucen; und als ſchaͤumten 
ganze Ströme von Champagner, Ale und Porter 
durh das Parabdied feiner Phantafien. Seine 
Lippen bewegten ſich koſtend, feine Kinnbaden 
rührten fich leife, und immer lächelnd ſchlum⸗ 


merte er fort, bid in Bergedorf die Wierländer 
10° 


an ven Wamen, den Mann und die Sa 
mehr gedacht, nachdem ich in Hamburg aı 
war. Da hörte ich eines Abends von F 
lern, die im Monpfchein vor mir auf den 
fernftiege einherfhritten, die Worte: »W 
eine verdammt fire Kneipe!« und gefter 
mir der gute Minifter von ©...: „Wilke 
fen Sie doch befuchen! Die Aufternzeit | 
nun wieder und Wilken ift unfer Roct 
Cancale. Die Damen der Hamburger Ari 
tie — denn die freie Hanfeftadt hat noch f 
ariftofratifhe Worurtheile, als die unerti 
ariftoßratifchen Städte der freien Schweiz - 
Damen unferer Ariftofratie gehen nicht zu 
fen, aber alle Sremden befuchen ihn. 2 
Sie meine Begleitung annehmen? « — 
Sch that ed mit Freuden. und „nA 


149 


wir und um ein Uhr auf den Weg, unfer Fruͤh⸗ 
fü bei Wilken zu genießen. 

Auf dem Qungfernftiege vor den zahlreichen 
Hoteld, welche dad Alfterbaffin einſchließen, war 
eö, wie immer, von Menſchen und Equipagen 
belebt. Hamburg hat anfcheinend weniger als 
irgend ein anderer Ort Norbdeutfchlands ſich über 
die Störungen durd) die Revolution zu beklagen. 
Es hatte keine Fürften zu verlieren, die nicht 
aud ihrer Traumruhe geftört fein wollten; Beinen 
auswandernden Dienftadel, welder nur in der 
Hofluft athmen kann und fliehen muß, wenn 
diefe Atimofphäre ihm entzogen wird. Mögen die 
Senatoren und Doktoren des hohen Rathes noch 
fo unzufrieden mit ten beabfichtigten Reformen 
in der Verwaltung fein, fie gehen nicht davon, 
denn der Befig bindet fie an die Heimath. Die 
bochweifen Herren fahren nur mit etwas weniger 
Selbftzufriedenheit nach den ſchoͤnen Landhaͤuſern 
an der Elbe, und genießen mit etwas geringerem 


150 


Appetit die Lukulliſchen Mahle, welche bort bes 
reitet werben. Dabei aber koͤnnen fie ſelbſt und 
‚Handel und Gewerbe dennoch gar wohl beftchen. 

Unter ben zahlreich umbergehenden Fremden 
in Civil ſah man Truppen von allen Waffengats 
tungen, welche nach Holftein marfchirten, und 
börte eine Mufterkarte von deutfchen Dialekten. 
Staunend blidte eine Vierländerin in ihrer faft 
ſchweizeriſchen Tracht zu einem ftämmigen Schwa- 
ben empor, ber mit ben Wuͤrtembergern⸗ ges 
fommen war und ihr in feinem Dialekt Zärtlich- 
keiten »vorplaufchte«, welde fie erft verftand, 
wenn er fie in Umarmungen uͤberſetzte. Frank 
furter, Naffauer, Weimarer Officiere faßen vor 
den verfchiedenen Pavillons, ihr Fruͤhſtuͤck verzeh⸗ 


rend, mitten unter den Kaufleuten, welche auf 





151 


befonder& zahlreiche Menfchenmaffen beifammen. 
Dort wohnte Major v. Zann, der Chef ded ers 
fin, tapfern Freikorps. Mehrmald an jedem 
Tage zwang ihn das laute Rufen des Volks fich 
am Zenfter zu zeigen, und die angefebenften Bürs 
ger und Hanbelöherren der Stadt — obfchon der 
Mehrzahl nach fehr gegen den holfteinifchen Freis 
heitöfampf eingenommen, ber ihre Handelsplaͤne 
reuzte und ihre Schiffe an den Hafen bannte — 
fuhren mit ihm in vierfpännigem Wagen einher, 
ihm Hamburg und die Sehenswuͤrdigkeiten ber 
Umgegend zu zeigen. 

Das war denn ein wunderlicher Anblid! Im 
Fond des Wagens der ftattliche, kräftige, in fich 
gefeftete Major v. Tann, in fnapper, grüner 
Uniform; neben und gegenüber ihm drei Hamburs 
ger Bürger, in fauberfter Civilkleidung. Bei dem 
Kutfcher und hinten auf dem Dienerfiß faßen zwei, 
drei Zreifchärler, der Eine in grüner Leinwand⸗ 
bloufe mit einer Dilitairmüge, der Andere in der 


152 


Zann’fhen Uniform mit einer Feder an dem 
Strohhut, der Dritte im einer Kleidung, von 
der jeber Beftandtheil einft einem andern Befiter 
gehört hatte, und bie nie Zuſammenhang gehabt, 
bis fie fih auf dem Körper biefes Mannes plöße 
lich zu einem Anzuge vereinigt fanden. Und nun 
rings um ben Wagen ber Vivat rufende Freis 
fhärler und Soldaten, gaffende Bürger, lorgni— 
rende Fremde; und die grüfenden Kellner vor 
den Hotels und die Vierlaͤnder Blumenmaͤdchen 
mit ihren Melfenbouquers ſich berandrängend, 
fchäfernd und fofettirend! — Es waren phanta⸗ 
fifche Zufammenftellungen voll füblicher Lebhaf⸗ 
tigkeit, welche fo eigenthuͤmlich erfchienen unter 


der grauen deutjchen Nebelluft, daß man fi 





faum noch in dem alten Hamburg zu glauben 
vermochte. 

An den großen Bleichen vorüber, den alten 
Jungfernflieg entlang, begaben wir uns nach dem 


neuen Wall, der breiten, ſchoͤnen Straße, in 





153 


— — 





welcher ſich die reichſten Magazine durch die Erd⸗ 
geſchoſſe aller Haͤuſer ziehen. Wir gingen die 
rechte Seite der Straße hinunter bis faſt gegen 
das Ende. 

Alle Haͤuſer des neuen Walls haben Souter⸗ 
rains; die Treppen, welche zu dieſen hinabfuͤh⸗ 
ren, ſind mit kleinen, eiſernen Gittern verſehen. 
Vor einem dieſer Gitter machte mein Begleiter 
Halt. 

»Wilken's Auſternkeller« ſtand auf einem klei⸗ 
nen Schilde uͤber der Thuͤre geſchrieben. Ein 
Haufen großer und kleiner Auſternſchalen lag viel⸗ 
verſprechend oben auf dem Trottoir. 

Zehn bis zwoͤlf Stufen fuͤhrten uns hinab 
und wir waren bei Wilken! — bei Wilken, der 
in weißer Weſte und weißer Jacke hinter ſeinem 
Ladentiſche ſtehend, meinen Begleiter hoͤflich be⸗ 
gruͤßte. 

Das Entree war klein und eng, der Tiſch 
klein und eng, auf dem die kulinariſchen Herr⸗ 


154 


lichkeiten aufgeftapelt waren. Ich dachte an ben 
Mecklenburger Kavalier, welcher Wilken den Nas 
poleon der Reftaurants genannt hatte, und Bil: 
ken's befcheidene Umgebung, feine weiße Wefte 
und weiße Sade erhoben fi für mich zu der 
rührenden Ginfachheit des »grauen Ueberrodes 
und des feinen Huted.« 

Auf zierlihen Sodeln von wohlgeſchnitztem 
Weißbrot rubten zarte Rebhühner in gelblichwei— 
ser Schönheit; das dunkle Roth der rohen, fped= 
durchſpickten Rinderfilets bildete den Hintergrund 
für die blafrofa Koteletts; in langen Streifen 
zogen ſich geräucherte Aale um Lachs- und Aal- 
pafteten, deren Gallert in der Sonne glißerte; 
Pidels und Saucen fhimmerten aus ihren grü- 
nen Gläfern hervor; filberweiße Sardellen lagen 
fanft hingeftredt im Schatten dunkler Trüffel 
berge, und während fich auf der rechten Seite 
der Heinen, weiß überbedten Tafel, Käfe aller 
Arten zu einer großen Pyramide erhoben, lachten 





159 


Früchte in gläferner Schale aus der Mitte des 
Tiſches hervor. 

»Was haben Sie?« fragte mein Begleiter. 

» Golchefter- Auftern und aͤchte Schildkröten: 
fuppe!« antwortete Wilken, wie ein Kaifer, dem 
geehrten Gafte nur die Elite feiner Garden vor⸗ 
führend. 

»So bringen Sie Auftern, roh und gebraten.“ 

Wir gingen in die Speifezimmer; da faß der 
sjunge Medienburger Kavalier« befchäftigt, ſich 
bei Wilken ftandesmäßig mit nahrhafter Koft zu 
ernähren. Er blidte nicht empor bei unferem 
Eintreten, er ſah ernfthaft hernieber zu dem Rin⸗ 
derfilet auf feinem Teller, männlih und in fid 
gefammelt nur mit feiner Arbeit. befchäftigt. 

Wilken's Keller befteht aus einem großen und 
mehreren Beinen Zimmern, niedrig wie Schiffs⸗ 
fajüten und fchmudlofer als diefe. Keine Woͤl⸗ 
bungen, in denen fich die Geifter der Erinnerune 
gen verbergen, wie in den Hallen ded Bremer 


156 


Rathskellers, Feine düftern Hintergründe, mit der 
tieffhwarzen, ftillen Ruheftätte der zwoͤlf Apoftel. 

Durch die Fenfter über dem Trottoir fcheint 
altklug der Tag herein, und Stiefel und Füße 
der Vorübergehenden pafjiren vor und die Nevue. 

Sch hörte der freundlichen Rede meines Be— 
gleiterd zu, ich betrachtete das Lokal, den Kellner, 
welcher vor uns die Tafel dedte, die verfchiedes 
nen Stiefel, Pantalonsenden und Rodjäume über 
unferem Horizonte, aber immer und immer wens 
beten ſich meine Blide dem jungen Kavaliere zu. 
Ich hatte noch nie einen folhen Priefter an dem 
Opferaltar feines Gottes gefehen. 

Und das Ninderfilet verfchwand und der Kells 
ner fam, und der Kellner ging und Wilken er 
fchien in Perfon. Sie ſprachen nicht laut, fie 
fprachen leife, und ich fonnte nicht die Worte 
verftehen; aber der Ernft in ihren Zügen, das 
tiefe Nachdenken auf ber Stirn des Kavaliers 
ließen mich die Wichtigkeit diefer Berathung ahnen. 


= 





157 


Endlid entfernte fi) Wilken, der SKavalier 
blieb allein. Er griff nach einem Beitungdblatte 
und legte es mit Schaudern von fih. Es war 
die Hamburger Reform, ein ultrarepublitanifches 
Blatt, ein Störenfricd ded Genuffes. Zwei, drei 
andere Blätter wurden zur Hand genommen und 
fortgelegt; die Zeitungen find jegt alle aufregend,” 
alle appetitverderbend! — Endlich fand er die 
täglichen Nachrichten und hatte fich liebevoll und 
beruhigt in dad Studium der Frembenliften und 
Theateranzeigen verfenkt, ald der Kellner zurüds 
kehrte. Er trug eine verdedte Schüffel, Willen 
folgte ihm auf dem Fuße. 

Der Kavalier nahm den Dedel herab, bob 
die Schüffel zur Nafe und athmete ihr Arom, ich 
blidte unabläffig hin — ich hatte noch nie einen 
Priefter an dem Altar feines Gottes gefehen! 

Und der priefterliche Kavalier fegte die Schüfs 
fel nieder, blidte mit feftem Buge hinein, fid 
fpiegelnd in dem Glanze der Sauce. Was fie 


enthielt? Wie follte ich das wiffen? Was ahnt 
der Laie von den Wundern, welche fih in der 
Tiefe der Myſterien verbergen. 

Langſam fehlug der Kavalier den Aermel der 
rechten Hand zurid, behutfam hob er einen Theil 
des Inhalte aus der Schüffel empor und legte 
ihn vor fi nieder. Wilken blidte ihn fragend 
an — der Kavalier z0g die Augenbrauen in die 
Höhe, ſchaute Wilken in’6 Auge, nidte billigend 
mit dem Haupte, ein Lächeln der Befriedigung 
flog über fein Antlig, ein Lächeln der Befriedigung 
flog über dad Antlis von Wilken — und Wilken 
verfchwand und der Kavalier arbeitete fort, eifrig 
zu Ehren feines Gottes. 

Und die Schüffel war geleert und daß Por: 
tergla& war geleert, noch ein Augenblid des Nach: 
genuffes, noch ein Augenblid filler Feier und 
der Ravalier erbob fib von feinem Sitze. Er 
ſchlug den Aermel zurüd, er ruͤckte die Weſte zu 


recht, er pußte und fümmte den blonden Bart, 





159 


den goldenen Schmud feines fattlächelnden Mundes. 
Schweigend reichte ihm der Kellner den Rod, 
fhweigend den Hut, ſchweigend dad fpanifche 
Rohr; der Kellner wußte, dag man diefen Gaft 
nicht durch Sprechen von feinem Gegenftande abs 
ziehen dürfe. Zwei Worte flüfterte der Kavalier 
im Hinauöfchreiten dem ſich verneigenden Wilken 
zu; noch ein Lächeln der Befriedigung, des Ver: 
ftändniffes, auf den Lippen des Gaſtes, auf den 
Lippen des Wirthes, und der SKavalier verließ 
die Stätte feiner Arbeit, die Quelle feiner Freude. 

Und als ich hinaufftieg aus dem Aufternteller 
von Wilken's in Hamburg, da hatte ich einen 
Priefter gefehen an dem Opferaltar feined Gottes, 
ihm dienend in feliger Freude. 


Hamburg, 15. Auguſt. 


Daß die beiden Brüder, Heinrich und Rudolph 
Lehmann, nach den legten Parifer Kampfestagen 
bieher gefommen find, wirft Du fchon wilfen. 
Wandert man durch die fehattigen Alleen, welche 
gleih vor dem Dammthore beginnen, bis hin an 
das Ufer der Alfter, fo gelangt man an ein freunde 
liches, blumenumblühtes Landhaus, das im Innern 
reich geſchmuͤct ift mit Kunſtſchaͤtzen, welche bie 
Pietät der Söhne auf dem Altar der Elternliebe 
niedergelegt hat. In diefem Haufe wohnen die 














161 


Eltern der beiden Maler und bier haben dieſe 
einftweilen ihre Attelierd errichtet. 

Heinrich, der in Paris fo bedeutende Pirchliche 
Malereien ausgeführt, hat, da er nur kurze Zeit 
in Hamburg zu verweilen denkt, feine größere 
Arbeit begonnen. Er zeigte und nur einen fehr 
poetiich gedachten Garton zu einem Bilde, das die 
Träume der Liebe darftellt. Schwebende Geftalten, 
in denen er vorzugsweiſe glüdlich ift, tragen eine 
fhlummernde Jungfrau. Amoretten ftreuen Rofen 
über fie hin, aber auch die Dämonen der Eiferfucht 
ſchwingen ihre Sadeln, und wenn ber raum fich 
erfüllt, wird dad Erwachen ein fchmerzliches fein. 

Rudolph hingegen, der für’d Erfte in Hamburg 
zu bleiben entfchloffen ift, hat alle Hände voll zu 
tbun, da die ganze fchöne und reihe Welt von 
ihm gemalt fein will. Eine Menge Bildniffe von 
Männern und Frauen waren bereitd untermalt, 
und alle eben fo aͤhnlich als kuͤnſtleriſch ſchoͤn. 


Am meiften aber feffelte mich ein großes Bild, 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. 11. 11 


daß zwei Stalienerinnen darftellt, die fich in einem 
Kahne ruhig auf dem ftillen Meere bingleiten 
laffen. Wie und wann der Gedanke zu diefem 
traumftillen Bilde entftanden ift, wirft Du am 
Beften aus der Skizze fehen, zu der mich einzelne 
Motive feiner Erzählung veranlaßten. Ich lege 
fie Dir bei, fie fol den Titel führen: 
Aud dem Leben eines Malers. 

Eine ſchwuͤle Junihitze lag über Paris gebreis 
tet; man vermochte kaum zu athmen. Geit vier- 
undzwanzig Stunden läuteten die Sturmgloden 
ohne Unterlaß; Blut floß über die Steine hin, 
die Räder der Pulverwagen und Kanonen färz 
bend, welde in donnernder Eile zu den Kampfz 
plägen raffelten. In den verfchiedenen Stadttheis 
len wechfelten Zodtenftille und furchtbares Ges 
ſchrei mit einander ab. Während ein dumpfes 
Schweigen im prächtigen von feinen ariftofrati- 
ſchen Bewohnern verlaffenen Faubourg St. Gerz 
main berrfchte, nur unterbrochen durch die weit⸗ 





163 


ber fchallenden Donnerfchläge der Kanonen und 
dad Gefnatter des Gewehrfeuers, ftürzten laͤr⸗ 
mende Volksmaſſen die Boulevards entlang zu 
der Porte St. Martin und dem Faubourg St. 
Denis, wo noch einmal fiegreid der Kampf der 
Befigenden gegen die Nichtbefigenden zu Gunften 
der Erftern entfchieden werden follte. 

Im engen Clos St. Lazare war jedes Haus 
zu einer Feftung geworden. Immer neue Käm: 
pfer drängten fi auf die Barrifaden, Männer 
und Weiber jeden Alters, von Nachtwachen und 
Mangel an Nahrung bid zur wildefien Wuth ge: 
ſtachelt, fchlecht bekleidet, Zorn und Haß in jedem 
Zuge des Gefichtd. Achtlos fchleuderten Weiber 
einzelne Stüde des Hausrathes, werthgehaltene 
Gegenftände des geringen Beſitzes aus den Fen⸗ 
ftern herab auf die anrüdenden Linientruppen und 
Nationalgarden; nichts hatte mehr Werth in ihren 
Augen, kein Wunſch ſchien in ihnen zu leben, 
ald die Sehnſucht, den lang verhaltenen Grof in 








164 


bfutiger Rache zu Fühlen. — Aber auch die Na: 
tionalgarden und die Linie kaͤmpften ohne Erbar- 
men. Zeigten die Proletarier die Maferei des 
Haffes, fo offenbarte ſich in jenen die Falte Ruhe 
von Menfchen, welche mit dem Naturtrieb der 
Selbfterhaltung zu dem Xeuferften bereit find. 
Nicht mehr als Bürger ftanden fie fich gegenüber, 
fondern als feindliche Nacen. Die Geifter ber 
Vernichtung ſchwebten tiber ibnen 


S 





hon neigte ſich der Tag zu Ende Ein 





kuͤhler Windhauch fing an die brennenden Wunden 








zu fächeln, während er das noch ſtroͤmende Blut 
der Sterbenden erftarren machte. Leiſes Wim: 
mern, angftvolles Nöcheln der Verwundeten er 


Hang unter den VBorfp 











165 


der Verfehanzung, die blutrothe Fahne wehte in 
ihrer Mitte; ein junges Weib hielt fie hoch in 
der kraftvollen Rechten. Ihr ſchwarzes Haar 
flatterte aufgelöft um das bleiche, zormnentftellte 
Antlip, aud dem die dunfeln Augen mächtig her⸗ 
vorglühten. Das Gewand war zerriffen, die nads 
ten Arme von Pulver gefchwärzt. 

Ein Züngling wollte die Bordringende zurüds 
halten. „Denke an unfere Mutter, Marie!« — 
»Sie haben mir den Mann erfchoflen und die 
Trümmer unfered Haufed haben mein Kind er- 
fhlagen,« antmortete fie und warf fich, die Sahne 
fhwingend, den Kämpfern voran, bis an den 
Außerften Rand der Barrikade. Scüffe krachten 
um fie ber, vernichtend flog ein Hagel von Steis 
nen nieder auf die Angreifenden. Da erfcholl noch 
einmal dad Commandowort in den Reihen ber 
Zruppen. — »Feuer!« rief der Öfficier; grelle 
Blige zudten auf, ein furdhtbarer Donner frachte 
durdy die Luft, Rauchwolken verhüllten die Scene. 


166 


AS fie verflogen waren, ftand die Barrifade ver- 
laffen; die Truppen räumten fie weg und auf ben 
zerträmmerten Balken berfelben legten zwei Nas 
tionalgarbiften die Leiche eines erfchoffenen Weibes 
nieber, deffen Hand noch im Tode die Fahne der 
rothen Republik umklammert hielt. Scaudernd 
verließ ein Deutfcher die Stätte diefes Kampfes, 
deffen Zeuge er zufällig geworden war. — Sic 
einen Weg babnend durch die immer wachfende 
Verwirrung, gelangte er über die Boulevards 
und den Plak de la Concorde in feine weit ent 
legene Wohnung. 

Es war das Atelier eines Malers. Die legten 
Tagesſtrahlen fielen, gebrochen durch die Pulver— 
und Staubwolfen, welche über der Stadt ſchweb⸗ 
ten, matt durch die Scheiben des halbverhängten 
Fenſters. Ihr gelbliches Licht erhellte ein großes 
Delgemälde auf einer Staffelei. Es flellte den 
heiligen Sebaftian dar. 

In filler grüner Waldeskühle war der Heilige, 


167 


von Pfeilen durchbohrt, an einen Baum gebunden; 
dem Tode nahe ſank die fhöne bleiche Geftalt mehr 
und mehr in ſich zufammen. Mit der ſchwinden⸗ 
den Audficht auf rettende Hülfe ſchien die Kraft 
des Widerftandes gegen den Tod in ihm gebrochen 
zu fein. Er hoffte nicht mehr, er ließ ſich ſter⸗ 
ben, und doch nahte die Hülfe. Aus der Ferne, 
aus dem tiefften Schatten der Bäume. trat fie 
bervor, eine Römerin in dunflem Gewande, mit 
der emporgehobenen Rechten den Korb auf ihrem 
Kopfe ftügend, in dem Früchte und Brot Labung 
und Erhaltung verfpracen. 

Muͤde und bleih ſank der Künftler vor feiner 
Staffelei auf einen Stuhl nieder, dad Haupt fins 
nend auf die Hand geftügt, während fein Auge 
träumend auf dem Bilde vor ihm ruhte Die 
Stille in feinem Gemadhe hatte etwas Furchtbares 
nad dem Lärm ded Kampfes, den er eben vers 
laſſen. Dumpf Fangen die Glodenfchläge von 
Notre Dame herüber, wie Grabgeläut der unters 


gehenden Generation. — »Die Menfchheit ift 
todeswund, wie dieſer Heilige!« rief der Künfte 
ler, »fie ift dem Untergange geweiht, wie er, wenn 
ihr nicht bald der rechte Befreier naht! 

Thränen der Erfehütterung entftrömten feinen 
Augen. Wo ift die Zeit des Friedens hin?« 
feufjte er, »wo find die ftillen Stunden bin, die 
ich in reinem Genuß beiliger Schönheit verlebt?« 
Er verfane in Gedanken. Immer matter ward 
das Licht ded Tages, graue Dämmerung berrfchte 
in dem Gemac und legte ihre Shleier uͤber die 
Gemaͤlde; aber je mehr dieſelben ſeinem Auge 
entzogen wurden, um ſo heller ſtiegen die Erin— 
nerungen vergangener Zeiten in ihm empor. 

Ein Jahr war es ber, daf er am gleichem 
Tag einfam in einem Boote die blaue Fluth des 
Mittelmeerd durchftrich, die fich fanft plätfchernd 
um Procida fchmiegte. Mit ficherer Hand hatte 
er bie leichte Barke vom Lande geftoßen und war 
binausgefahren in das Meer, gegrüßt von dem 





169 


fhönen Weibern am Ufer, welche in ihrer reichen 
Sonntagstracht dem flattlichen Fremden freund: 
lihe Worte und freundlichere Blicke nachfendeten. 

Der ganze Zauber ded Südend erblühte wie- 
der vor feinem geiftigen Auge bei diefer Erinne: 
rung. Er fühlte den Duft der Orangen und des 
Jasmins über den falzigen, frifhen Waflern 
fhweben. Das tiefe Blau ded Meeres, unmerk⸗ 
lih in den Horizont verfchwimmend, war, wie 
diefer felbft, vom legten Gold der Sonne über: 
firömt und durdfluthet. Aus der Ferne tauchte 
in bläulihem Lichte die Felfeninfel Capri hervor; 
eine füße Wärme ftrömte durch die Natur. Zahlreich 
wiegten fi nah und fern die weißen Segel ber 
Kähne und Barken auf dem friedlichen Elemente, 
als plöglich fein Auge wie von einem milden Baus 
ber gefeffelt ward. 

Ohne Ruderfchlag, nur durch den leifen Drud 
bed Steuers im Gleichgewicht gehalten, fchwebte 
eine Barke heran, deren mufchelförmige Wölbung 

11* 


170 


zwei jungfräulice Geftalten über die Wellen trug, 
Töchter Italiens, Töchter einer glüdfeligen Nas 
tur. Hoc aufgerichtet ftand die Eine in der Mitte 
des Booted. Ihr ſchwarzes, von dem mit Gold 
und Purpur durchwirkten Bande gehaltenes Haar 
legte fih in fanften Biegungen um die Schläfe. 
‚Heißes, dunkelrothes Blut ftrömte durch die Adern 
der bräunfichen Haut. Die Sonne ruhte liebend, 
gleihfam verweilend auf ihrer Schönheit, als 
wollte die Natur vollends alle Gefühle des Herzens 
reifen, das in jugendlich bangen Schlägen unter 
dem rothen Mieder den weiß verhüllten Bufen 
bob. Im bunter Farbenpracht floffen die Gewaͤn⸗ 
der am fchlanken Leib hernieder. Eine Bither ftand, 
von dem Arme des Mädchens umfchlungen, auf 
der Banf des Schiffchens; dad Haupt der Jung» 
frau lehnte fih an den Hals des Inſtrum̃ents, 
mit deſſen Klängen ihre Stimme fi eben erft 
vermaͤhlt hatte, holde Liebesgrüße dem ziehenden 
Wolken anzuvertrauen. Süßer Wehmuth voll 





171 


blickte ihr dunkles Auge in die Weite, den fernen 
Geliebten fuchend, in fehnfüchtiger Klage, in fro⸗ 
bem Hoffen baldigen Wiederfindens. 

Aber keine irdifche Hoffnung lebte in der Ges 
fährtin, welche zur rechten Seite der ſtehenden 
Jungfrau im Kahne faß. Ihr bleiched Haupt, 
von lichtem Gelod umfloffen, war mit einem grüs 
nen Kranze geziert — mit jenem Kranze, den 
man ihr in's Haar geflochten, den Hochzeittag zu 
feiern, ald man ihr den Bräutigam, getroffen von 
dem bezahlten Dolchſtoß des reichen, verfchmähten 


Gouverneurd, fterbend in die feftlich gefhmüdte 
Halle ded Vaterhauſes brachte. Keine Thräne 


war ihrem Auge entfirömt, fein Klagelaut ihren 
Lippen. Schweigend und auf Xroft verzichtend 
batte fie den Blid zum Himmel erhoben, in froms 
mer Ergebung, in gläubiger Sehnfucht nach einem 
Wiederſehen über den Sternen. Und mit diefem 
glaubendvollen Blide ſchaute auch jegt ihr Antlig, 
leife auf den Arm geftügt, zu den Wolfen empor, 


172 


fo abgemwendet allem Irdifchen, daß die weiße 
Waſſerlilie unbeachtet der Hand entglitt, welche, 
über den Rand der Barke hinabgefunfen, faft von 
den fpielenden Fluthen gefüßt ward. 

Ob er in Italien einft diefe Scene wirklich 
gefehen, ob man ihm die Gefchichte der ſchoͤnen 
Trauernden erzählt, er wußte es fich nicht mehr 
zu fagen, als er in feiner einfamen Zelle dieſe 
Bilder im Geift erfhaute. Sie flanden vor 
feinem Auge lebendig da, fortdauerndes Leben 
forbernd von feiner Künftlerhand. 

Es war Nacht geworden, die Finfterniß hatte 
ihre unheimlichen Schleier über Paris gebreitet. 
Noch immer tönte wilder Lärm aus der Ferne 
herüber, immer noch bröhnten Kanonenfchüffe und 
Gewehrfalven durch die Luft. Und die Nacht ent⸗ 
ſchwand und ein neuer Tag flieg empor und der 
Kampf wüthete fort. Als er endlich ſchwieg, la⸗ 
gerte ſich die Grabesſtille der Erſchoͤpfung über 
Parid, noch grauenvoller in ihrem Schweigen 





173 


ald dad wildefte Toben der Schladht. — Wo: 
bin dad Auge blidte, Scenen ber Trauer und 
des Entfeßend! aber wie ein milder Sonnenftrahl 
aus tiefem Dunkel tauchte immer und immer wies 
der die Erinnerung an jene Qungfrauen in der 
Seele ded Malerd empor, fein Herz erlabend durch 
ihre milde Schönheit, durch die Heiligkeit ihrer 
fanften Trauer, wenn um ihn ber die harten 
Worte ded unerbittlichften Parteilampfed eine 
ſchwere Zukunft vol Blut und Jammer verfüns 
beten. Sie wurden fein Troft, ald er zu Pinfel 
und Palette griff, ſich zu retten aus der Ders 
wirrung des Augenblide. 

Ruhe und Frieden kehrten ein in feine Bruſt bei 
der Arbeit in einfamer Zelle. Mit liebender Hinges 
bung warb dad Bild vollendet, eine Befreiung des 
Künftlerd von ſchmerzvoller Erregung, eine Blüthe 
der Poefie, gekeimt auf den Gefilden des Todes. 








Helgoland im September 1848. 





an. 


Delgoland, den 3. September 1848. 


Es giebt einen perfönlihen Gott, und die 
Seekrankheit ift dad Mittel, deflen er fich bedient, 
die Atheiften zu bekehren! 

Stundenlang hatte mir einfl der gelehrte 
Naturforfcher K. bewiefen, daß die Eriflenz eines 
perfönlihen Gotted allen Regeln der gefunden 
Vernunft widerfprädhe, daß fie durchaus unmoͤg⸗ 
ih fei. Heute, als er mir, gegenüber in der 
Kajüte ded Dampfbootes auf dem Divan liegend, 


mit allen Qualen der Seekrankheit kaͤmpfte, flieg 
Grinnerungen a. d. Zapre 1848. MI. 12 


entwand fich feiner Bruft, al3 endlich da 
ausgeworfen ward, und das furdhtbare 
und Sinfen ded Schiffes fein Ende far 
und während der vierzehnflündigen Stı 
gemartert hatte. 

Es war zehn Uhr Abends und ganz 
Naht. Schwindelnd, unficheren Schrit: 
gen wir die Schiffötreppe hinunter in ı 
wartenden Lootfenböte. in feiner Re 
termifcht mit dem auffprigenden Sch 
Wellen, nebte die Mäntel und die blaffen 
der Paffagiere, welche von der Laterne t 
fen beleuchtet wurden, der das Uebe 
einforderte. 

Bor uns lag der Selfen Helgoland. 
reiche Lichte glänzten unten am Ufer ı 


r_ı mie. 2... vis. „2 A. . undar 





179 


wäre man eined Gedankens der Art fähig gewe⸗ 
fen; aber fein Laut der Bewunderung erfchol 
vonirgend einem Munde Die Seekrankheit ift ein 
gutes Mittel auch gegen den Enthufiasmus der 
Zouriften. 

»Melch entfegliche Fahrt!« — „Ich verwüns 
(he das Meer und Helgoland« — „Zwölf 
Schillinge Madame!« — „Mama! Mama! das 
Boot fällt um!« — Ein lauter Außruf der 
Angit von einer Frauenſtimme; ein neues, furdhte 
bares Heben und Sinken des Bootes; neue Aus⸗ 
bruͤche der Seekrankheit; ein allgemeiner Chor 
von Gott Lob! als Begleitung zu dem im tiefen 
Baß geſprochenen Gott Lob! des bekehrten Na⸗ 
turforſchers, und das Boot ward an den Strand 
gezogen. 

Roth iſt das Land! 

Gruͤn iſt die Kant! 

Weiß iſt der Strand! 

Das find die Farben von Helgoland; 
12 *® 


rn... U - 


Laternen drängten ſich Kofferträger, Abge 
der verfchiedenen Gafthöfe und Badegaͤſte 
Sinfterniß durd) einander. Dean rief den € 
teten Bekannten zu, die Gafthoföboten ; 
ſich nad) Belieben verfchiedene Paffagiere aı 
Zahl der Antommenden heraus, und diefe 
fih ruhig fangen, denn nicht nur gläubi 
ftil macht die Seekrankheit, fie macht aud 
und fügfam. Sie ift ein Univerfalkurmitt 
von philantropifhen Menfchheitöverbeffern 
nicht genug beobachtet wird. 

D.8 Stimme rief mir den Willkomm 3 
an feinem Arm gelangte ich über dad Stei 
des Strandes endlih auf feflen Boden. 
funfzig Schritte vom Landungdplage bi 
die Haufer ded Unterlanded. Durch ein 


mt ELLE Ra Mar nn Kor 


181 


von hundert ſechs und achtzig Stufen, der alleini- 
gen Straße in dad Oberland. Mir fchien fie 
der Pfad zu dem einzigen Glüd, dad auf Erden 
der Muͤhe des Strebens verlohnte, zu einem bes 
quemen, ruhigen Lager, , auf dem ich die Leiden 
diefed Tages zu vergeflen hoffte. 

As ih am Morgen erwachte, und an das 
Fenſter unferer, auf der dußerfien Nordfpige der 
Infel gelegenen Wohnung trat, lag dad Meer 
vor meinen Augen. Der Sturm des vorigen 
Tages hatte ed wild aufgeregt. Brauſend brach 
fih Welle um Welle an dem Fuße des Felſens. 
Selbli weiß breitete fi) eine Viertelſtunde vom 
Belfen, nad Oſten hin, die Düne aus; ein Stüd 
Sandland, aus dem Meere auftauchend, das es 
in jedem Augenblide zu verfchlingen droht. Drei 
ſchwarze Holzbaaken, Zeichen für den Schiffer, 
fahen auf der Düne wie Todtenkreuze auf einem 
Leichenhägel aus. 

In dide, graue Wolken gehuͤllt, ſchien die 


182 


Sonne bleih und todt auf das Meer hernieder. 
Ein feuchter Wind bewegte die Zweige der kuͤm⸗ 
merlichen Gefträuche, die ſich in dem Gärtchen 
vor unferm Haufe befanden. Xraurig fireute 
eine blaffe Monatörofe ihre Blätter auf die Erde, 
und ein Morthentopf, den man zu kurzer Som- 
merfreube in das Freie gepflanzt hatte, war in 
der Naht vom Sturme gefnidt worden. Zwi⸗ 
ſchen Kohlköpfen verfchiedener Art, blühte hier 
eine violette Malve, dort eine fümmerliche Stods 
rofe oder eine Dahlia. Bäume, die man ges 
pflanzt, waren nicht angewachfen, die bürren 
Stämme, noch forgfältig an Stöde gebunden, 
ftanden da, als traurige Zeichen ber Unfruchts 
barkeit. 

Die Wirthin unferes Haufes und ein Paar 
Kinder traten vor die Hausthüre, die Erftere um 
Waͤſche aufzuhängen, die Kinder um auf dem 
gelben Rafen zu fpielen. in Dienftmädchen 
bielt das jüngfte Kind, in einem Mantel einges 





183 


widelt, auf dem Arme. Dad geſchah Alles fo 
ſtill, ſah fo kalt auß, daß die fröhlichen Farben 
an den fehönen rothen Roͤcken der Frauen, daß 
die hellgruͤnen Borten mir wie ein greller Spott 
erfchienen in diefer Natur. Ich mochte gar nicht 
aufbliden, dad Land, dad Meer nicht fehen, und 
ftarrte in die Wolfen. Da flogen mit ſchwerem 
Flügelfchlag einige ſilberweiße Möven aus dem 
Meere empor, fchoffen dann pfeilfchnell durch die 
Luft, und mir flürzten die Thraͤnen aus den 
Augen. 

Fort! dad war der einzige Gedanke, den ich 
far empfand, mitten in der ploͤtzlichen Erinnes 
rung an jede Sehnſucht, die ich gefühlt mein Les 
ben lang. Jeder Todte, den ich beweint feit 
meiner frühften Jugend, jede Trennung, mit ihr 
ren langen, fchleichenden, einfamen Stunden, uns 
ter deren Wucht ich gelitten, flanden vor meiner 
Seele. Tod, Trennung, Sebnfuht, Gefangen» 
ſchaft, das waren meine Empfindungen, und fie 


glangeno jauver c wur wur mn u 
Gen, vornehmlid) im Oberlande, faum ' 
als die Räume, welche zum Umhergehe 
Ded freigelaffen zu werden pflegen. Der 
welcher auf diefem hoben Selfen müthet, ! 
oft Noth hat, ſich auf den Füßen zu 
mag wohl die Urfache fein, daß man die 
fo enge gebaut hat, obſchon fie pathetiſch 
ſtraße, Trafalgarſtraße, Bluͤcherſtraße 
heißen. Wir aber wohnen nicht in dieſte 
Straßen, fondern auf dem äußern R 
Oberlandes, am Falm, und fehen, wen 
Zimmer figen und das fehmale Stuͤckd 
dadurch unſern Augen entzogen iſt, 8 
von einem Schiffe in das Meer. 








218. 


Den 10. September. 


Als unfere Vorfahren fich zu ihrem eigenen 
Entfegen den Begriff der Hölle und der ewigen 
Qualen im Fegefeuer fchufen, hatten fie offenbar 
ohne Kenntniß der Menfchennatur gehandelt, und 
nicht berechnet, daß diefe, in ihrem Bebürfniß 
nad Freude, fich in jede lange mwährende Lage 
fhidt, und fich felbft ummanbelt, um in den ges 
gebenen Zuftänden Gluͤck zu finden. Ich bin 
vollkommen überzeugt, daß man nur in den erften 
Wochen das Fegefeuer befchwerlih findet, ſich 


188 


bann aber allmälig daran gewöhnt, und in feir 
ner Gluth und feiner Flamme endlich Reize ents 
dedt, für dieund vorher der Sinn abgegangen ift. 

Died Urtheil wird Dir beweifen, daß ich die 
Dede Helgolands in fo weit überwunden habe, 
ald ich mir feft einbilde, ich Iebte auf einem 
Schiffe, und daher gar nicht mehr fordere, daß 
Etwas darauf wachen und gedeihen folle. Seit 
ich zu diefem Punkte gefommen bin, befinde ich 
mich bier viel beffer, und ſchaudre nur bisweilen, 
wenn mir die Gefchichte von dem großen Kraa—⸗ 
fen einfällt, von dem riefigen Seethiere, das alle 
taufend Jahre aus der Tiefe auftaucht, fi für 
bie nächften taufend Jahre in der Sonne zu ers 
wärmen, und bann, nachdem ſich betrogene 
Menfhen darauf angefiedelt haben, weil fie es 
für eine Inſel halten, plöglich wieder auf den 
Grund geht. Wer Fann ben eigentlich wiffen, ob 
‚Helgoland nicht ein folder Kraafen ift? Alle Mor, 
gen empfinde ich mit großer Genugthuung, daß 





189 


der Felſen noch nicht untergefunfen, daß die Düne 
mit ihren Badekarren und Holzbaaken noch da 
ift, daß die Badegaͤſte in ihren Boͤten wies 
der zum Bade herüberfahren, und deklamire 
dann feufzend: »das ift eine Welt, das ift meine 
Welt!« fange aber an fie zu lieben. 

Als naͤchſten Augenpunft haben wir aus uns 
fern Senftern die vier dänifchen Sregatten, welche 
bier ald Kaper und Blodadefchiffe kreuzen. Statts 
lihe Sahrzeuge, deren Segel hell im Sonnen» 
fheine glänzen. Bald liegen fie ferner, bald 
näher an der Infel. Wenn dies Lebtere der 
Fall ift, gehört es zu den Beluſtigungen der hie⸗ 
figen deutfchen Badegefellihaft, zu den Zregatten 
zu fahren, und fi) von den dänifchen Offizieren 
die Honneurd ihrer Schiffe maden zu laffen. 
Langeweile entichuldigt viel, aber auffallend bleibt 
es doch, und charakteriftifch für die Deutfchen, 
daß fie die Unſchicklichkeit dieſer Beſuche nicht 
empfinden, daß fie nicht das leifefte Widerftreben 


190 


dabei haben, und ed nicht begreifen, wie man 
ſich dagegen ausfprechen Eönne, 

Bisweilen fommen die Offiziere auch an das 
Land, um bei dem englifchen Gouverneur ber 
Infel zu fpeifen. Dann gehen fie in den Gonverfas 
tiondfaal, wo man ein paar Mal in der Woche 
Abends tanzt, und wo bdänifche Offiziere und 
deutfche Damen troß ded Krieged und der Blo— 
dade in befter Eintracht mit einander umher⸗ 
fpringen. 

Im Uebrigen ift dad Leben fo einförmig als 
möglich. Morgens die Fahrt zum Bade und ein 
Frühftüd mit andern Badegäften auf der Düne, 
wobei es recht heiter und gefellig herzugehen pflegte; 
Mittags ein vortrefflicher Tiſch mit Auftern, 
Hummern, Seefiihen; Nachmittags der Kaffee 
in einem ber beiden Pavillons am Ufer, oder 
eine zweite Seefahrt; dann Betrachtung bed Son- 
nenunterganges von der Weftfpige, und endlich 
in den Wochentagen eine Kartenpartie oder eine 





191 


Plauderfiunde im Konverfationshaufe. Sonntags 
aber cin Ball, an dem auch einige hübfche Hels 
golanderinnen, leider ganz nach der Mode geklei⸗ 
det, Theil zu nehmen pflegen. 

Hat man dann eine Reihe von Tagen gleiche 
mäßig hingebracht und fehnt fih nad Abwechs⸗ 
lung, fo werben der Beſuch des Tanzhauſes, des 
Leuchtthurmes und der Ginkneipe in Worfchlag 
gebradht. Die Letztere habe ich geftern gefehen 
und dort den Anblid eines Acht Tenier'ſchen Vils 
ded genoffen. 

Für einen Schilling, neun preußifche Pfen⸗ 
nige, verabfolgt man hier ein Glas Bier, ein 
Feines Glas MWachholderbranntwein (Bin), zwei 
Prägeln und eine Cigarre. Diefe, in dem fonft 
ziemlich theuren Helgoland, große Billigkeit, macht 
die Ginkneipe zum Aufenthalte der Matrofen, und 
an den langen, blankgeputzten Zifchen faßen, von 
dem Scheine einiger Talglichte beleuchtet, zwei 
verfchiedene Gruppen trinkend und rauchend beis 


und Meiden, vom Tod ded Geliebten 
Lebensweiſe des Seefahrerd fie haufi 
Die Matrofen alle waren fauber gefl 
Lokal reinlich; die wettergebräunten G 
ben ruhig vor fih hin, während fie 
auf die Hand geftügt, die Eigarre zu 
Lippen, ihre Lieder fangen, ob fih, ı 
Sreude, weiß ich nicht zu fagen. A 
etwas Ruͤhrendes in diefer Ruhe unl 
von Refignation in dem Klang der E 
mich zu den Leuten hinzog, und fie m 
det erfcheinen ließ, fo daß es mir lei 
ih mir im Hinausgehen fagen mußte 
vielleicht Keinem von ihnen jemals m 
ben begegnen, wenn ich nun bald die 
laffen haben werde. 


_._ un anman ana nen aa 





193 


Freuden gedenkt, ift die große Treppe, ber Corſo, 
der Nialto der Inſel, auf der fich ein Theil des 
Lebens Foncentrirt, und auf der man die fchönften 
Studien über die Gewerbthätigkeit der Einwohner 
zu machen vermag. Bier, fünf Mat taͤglich fteigt 
man fie auf und ab, und gewinnt dabei die noͤ⸗ 
thige Bewegung, welche fonft auf dem kleinen 
Raume nicht leicht zu erlangen wäre. Die Hels 
golander Promenaden beftehen aus drei längeren 
Wegen. Cie heißen die Kartoffelallee — der 
Meg zwifchen den zwei Kartoffelfeldern des Ober: 
landes — die Bindfadenallee — daß ift der Sei: 
ferpla im Unterlande — und endlich die Läfter: 
allee — fo nennen die Fremden mit Selbftironie 
den Landungsort der Boͤte des Dampfſchiffes 
— mo bie Babegäfte ſich verſammeln, ſich an 
dem Anblick der jaͤmmerlichen, ſeekrank ankom⸗ 
menden Fremden zu beluſtigen. Der laͤngſte die⸗ 
ſer Wege, die Kartoffelallee, mag eine halbe 
Stunde lang ſein, da ſie die Inſel in ihrer groͤß⸗ 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 13 


der Dune. 

Die Helgolander find namlich leid 
Jaͤger und die Tradition der Seehundi 
geljagden ift zu den Badegäften gedri 
fib bei ihnen ald gefährliche Epiden 
pflanzen. Jeder Fremde, der fi bi 
befchäftigen weiß, und es unerträglich 
in dad Meer und den Himmel zu blic 
fi) ein Gewehr über die Schulter. i 
wandelt fi dad trübfelige Hinftarren 
terhaltendes, fehr fpannendes Aufpaffen 
fih mit einem Stod in der Hand | 
amufirt fich mit einer Slinte im Arm 
er eben fo wenig fein Ziel zu treffe 
als mit jenem. Gerade aus diefem N 
aus diefer Jagderheiterung der Babe 


AR ahbau a2. L..-!. m . on - 





195 


man fi) wendet, ein Feuerrohr. Bald eine 
lange, alte Flinte, mit einem Schloß, dad einen 
Büchfenfhmied des 17ten Jahrhunderts verräth, 
in der Hand eines deutſchen Schulmanned, der 
mit der Brille auf der Nafe, nicht einmal die 
Schüler der erften Bänke unterfcheiden kann; 
bald eine prädıtige, dem leichteften Drude ges 
borchende Buͤchſe, in der Hand eines nervenzits 
ternden Lebemanned. Fernſichtig wie ich bin, 
möchte ich den Schügen immer auf einige hun⸗ 
dert Schritte zurufen, fi) um Gottes Willen in 
Acht zu nehmen, wenn Leute vorbeigehen, denn 
ohne alle Frage find die Robben, Möven und 
Regenpfeifer vor diefen Jaͤgern fehr viel fiherer 
ald wir. 

Hie und dort begegnet man einer Ausſsnahme, 
einem wirklichen Zäger, der Etwas gefchoffen 
bat, und vor dem man fich nicht zu fürchten 
braudt. Zu diefen gehört der bier wohnende 


Marinemaler Heinrich Gaͤtke, eine Perfönlichkeit, 
13 * 


ETI ETIILIELL. 

Gr ift der Sohn eined Bäderd in d 
und alle feine Brüder find bei dem £ 
bed Vaters geblieben. Da Heinrih « 
Tugend auf eine befondere Neigung zum 
verrieth, und durchaus nicht bei dem 
bleiben wollte, fuchte man ein anderes 
für ihn, und entfchloß fih, ihn in 2 
einem Farbenhaͤndler in die Lehre zu geb 
dort aus machte er ed möglich, die Alc 
befuchen, und begann, während dieſes 
unterrichted, ohne alle Anleitung in Di 
len. Ein Bild, dad er nad) zweijährig 
gen zur Kunftausftellung gab, fand u 
facher Anerfennung auch einen Käufer, 
Hinweis auf diefen Meinen Erwerb fi 
väterlihe Zuflimmung zu der Beruf 





197 


Um Studien zu machen, ging er nad) Helgo⸗ 
fand, wo er ſich in eine Halbländerin verliebte, 
fie heirathete und ſich in Helgoland niederließ. 
Halbländer nennen die Infulaner Jeden, der von 
einem Eingebornen und einem Fremden abflammt. 
Srau Gätke ift die Tochter einer Helgolanderin 
und eines englifchen Offizier, und bat ihre Er⸗ 
ziehung theils in England, theild auf dem Conti: 
nente genoſſen. ine lieblihere, anmutbhigere 
Erſcheinung als fie, findet man felten. 

Anfangs modte dad Studium ded Meeres 
Gaͤtke in Helgoland feffeln, dann kamen die Sor: 
gen für eine wachfende Familie, und manche andere 
Nüdfichten dazu, ihm das Fortgehen zu erfchweren, 
genug Ay find nun zehn Jahre, daß er die Infel 
nicht verlaflen, daß er fein Kornfeld, keinen 
Wald und Bein Pferd gefehen hat. 

Autodidalt auh in der Wiffenfchaft wie in 
der Kunft, bat er ſich eine Mafle von Kenntnifs 
fen und eine geiftige Sreiheit erworben, die um 


oder Folge der Einfiht in die Mängel 
triebenen Givilifation. Daraus ift in 
geroiffe Wildheit entftanden, die überall zı 
hülfe greift, und das Fauftrecht über di 
die natürliche Billigfeit über das juridif 
ftellt ; fo daß er in betreffenden Fällen 
derlihen Thaten geführt wird, welche 
Benevenuto Gellini erinnern. 

Anderer Seit3 aber bat feine ftreb| 
tur ihn nicht nur vor Abftumpfung bem« 
dern ihn veranlaßt, das ihm Nächftlie 
beobachten und daraus zu lernen. Ei 
Sagdfreund, hat er die Vögel zu feinem 
gemacht und fi, wie man mir fagt, bi 
ornithologifche Kenntniffe erworben. Ei 
vermittelte ‚unfere Bekanntſchaft, wir 5 





199 


ſucht, das um feiner Sonderartigkeit willen auch 
eine befondere Befchreibung verdient. 

In einer der fehmalften Straßen Helgolands, 
in der wir, wie die Zugvoͤgel, immer nur 
Einer. hinter dem Andern gehen fonnten, liegt ein 
ganz niedriges, einftödiged Gebäude, das, nad) 
Art unferer Bauernhäufer , zwei Fenfter von beis 
den Seiten der Meinen Thuͤre hat. Ein, nad 
Helgolander Begriffen prächtiger Garten umgiebt 
died Haus. Aber die beiden Bäume diefed Gare 
tens, die fchönften der Infel, fanden in dieſem 
Sommer blätterlode. in fcharfer Nordoſtwind 
hatte fie nad dem Entfalten gepadt und mit 
feinem falzigen Hauche fo gedörrt, daß fie am 
Morgen alle herbſtlich well am Boden Tagen. 
Ein paar Meine Straͤuche, einige Zeitloſen, eins 
zelne duftende Erbfenblüthen und andere Meine 
Blumen waren verfhhont geblieben. Sie erſchienen 
bier herrlicher, als die ſchoͤnſte Gentifolie in ſuͤd⸗ 
licher Natur. Alle dieſe Blumen und ein Feld 


vw. 


diefe Gemüfe gedeihen nicht auf jedem Pu 
Oberlandes. Alle übrigen Lebensbedürfn 
treide, Sleifh, Holz, Zorf und felbft 
zur Erhaltung der zahlreihen Schafe 
einzigen Kuh, welche dem Gouverneu 
muß vom Continente gebradht und die hot 
binaufgetragen werden, da man medhanil 
richtungen für diefen Zweck noch nicht fe 
Aus dem Meinen Gärtchen vor den 
fhen Haufe traten wir in den Flur, danı 
fen Hand in das Attelier des Malers, 
gleich fein Studirzimmer und das Wo 
der Familie if. Die beiden Fenſter de 
wand waren verhängt, um das richtige 
die Bilder zu fchaffen, an dem frei ı 
Seitenfenfter ftand die Staffelei. Gatt 





201 


Eine große, fehr kräftige Geſtalt, ein faft in ſuͤd⸗ 
lichen Formen ftarf ausgeprägtes Geſicht, ſchwarze 
Augen, ein ftarker ſchwarzer Bart, ein langes 
Daupthaar, fo trat er vor und hin, und erfchien 
noch größer in dem faum acht Fuß hohen Stüb- 
hen, deflen Balken er offenbar mit der Hand 
erreichen konnte. Er trug eine blaue Leinwand⸗ 
bloufe. in Paar blühend ſchoͤne Knaben, die 
in dem Zimner’an der Erde fpielten, waren ans 
gethan wie er. 

Helles Sonnenlicht beleuchtete das Gemälde 
auf der Staffelei. Es ftellte eine der hervor: 
fpringenden Felfenfanten der Infel dar. An dem 
wunderbar gewölbten Bogen des rothen Gefteins, 
dad mit feinen verfchiedenen Lagen einem aus 
Quadern gefhichteten Bauwerke gleicht, bricht ſich 
die ganze Gewalt der mädtig anftürmenden 
Brandung, daß das grünlich » graue Waffer wild 
auffprigt, dem Widerſtande troßend, in zornigen 
hoch ſchaͤumenden Wogen. Schweres bleifarbe: 


[Ed Dres vu ven urn 
aufglänzen bald in filbernem Weiß, bald 
lichem Gold, obſchon man es fuͤhlt, daß 
nordiſchen Natur die Sonne mehr lei 
waͤrmt Unten am Fuße des Felſens, 
fallenem, braͤunlichem Geroͤll ſitzt ein Fl 
Waſſervoͤgel, die Federn genaͤßt vom f 
Regen, die Flügel ermattet vom Kan 
den Sturm. Ihr ficheres Raften zeig 
Einſamkeit an, deren fie hier gewiß fin 
Daneben befand fich eine kleinere Ge 
ein maftlofes Wraf, vom Sturme an 
getrieben; eben noch die Melt fo vieler 
jest bereit das Spiel der Elemente. 
richtiger Blick für die Natur und die 
fignation des Menfchen vor ihrer Allmı 
dem MWohlgefallen an ihrer Wildheit 





203 


Ein Sopha zwiſchen den beiden verhängten 
Fenftern, ein Zifh mit fchlichter Dede davor, 
ein Paar kleine Eckſchraͤnke und einige Stühle 
machten das ganze Ameublement des Zimmers auß. 
Dagegen befand fi, in den verhängten Fenſterni⸗ 
fhen aufgeſchichtet, eine ausgewählte Meine Biblio: 
thef. Neben einigen ornithologifhen Werken ftan: 
den die Teutfchen Klaffiter, Shalefpeare und Byron 
in der Urſprache, griechifche und lateinifche Autos 
ren in beutfcher Ueberfeßung, und eine Anzahl 
der neuen Lyriker unſeres Baterlandes. 

Die Wände waren mit Glaskaſten bededt, 
welche ausgeſtopfte Wögel enthielten. Gaͤtke 
ſelbſt hat dieſe Alle hier auf ihren Wanderungen 
geſchoſſen und ſich geuͤbt, ſie auszuſtopfen, was 
er jetzt mit hoͤchſter Vollendung zu Stande bringt. 
Ein Kabinet, welches an dieſes Zimmer ſtoͤßt, 
iſt ſein Laboratorium. Der Thuͤre gegenuͤber 
prangte eine weiße, große Schneeeule, die klug, 
als ob ſie lebte, nieder ſah. Hunderte von groͤ⸗ 


ren vorhanden. aujıraupı yE uuv zu 
Vögel, Bewohner ded Kaps, der heiß 
und der Pole fanden fi hier vereint, 
dad Sfalpel des Anatomen neben P 
Dalette, die DBlüthe der Literatur ı 
Slinte des Zägerd und dem XTheerhut t 
fers befand. 

Es lag etwas höchft Anziehendes 
Dafein. Die Entwidlung großer Kr 
gen Berhältniffen, die Möglichkeit ge 
ben® aus dem eigenen Innen berauß, 
abläfjige Anregung von Außen, erfchier 
ihrer ganzen Bedeutung. Man muf 
willfürlic fragen, ob Ddiefes Sichfelbf 
nicht viel fruchtbarer für die eigentlü 
tung der Menfchenfräfte fei, als unfı 
weife, die uns täglich Neues zuführt, 





205 


wir doch unfere Kraft erfchöpfen, in dem vergeb- 
lihen Beftreben, es uns in feiner Fülle anzueig⸗ 
nen. Der Menſch ift allerdings nicht für die 
Einfamfeit, aber noch viel weniger für den Thee⸗ 
tiſch gefhaffen und für dad Gefelfchaftswefen, 
wie es fi) in der großen Welt ausgebildet hat. 
- Eine gefunde Natur wird auch länger ohne Nach⸗ 
theil die Einfamkeit ertragen, ald die Hohlheit 
unferes Verkehrs, in dem die beften menfchlichen 
Eigenfchaften brach liegen, und nur der Schein 
Bultioirt wird. Dazu kommt no, daß man in 
Helgoland nur den Winter auf ſich sangewiefen 
ift, während der Sommer in den zahlreichen 
Sremden dem Geifte vielfache Hülfßquellen er: 
Öffnet; und fo wenig ih im Sommer bier zu 
leben wuͤnſchte, fo angenehm kann ich ed mir 
denen, den Winter einmal bier zuzubringen, 
fih in ſtiller Rube auf fi ſelbſt zu befinnen, 
und einfam zu überlegen, was man innerlich ge 
wonnen habe im Verkehr mit Welt und Menfchen. 


und feinen Beſitz berechnet, um fid 
Bild feiner Lage zu erhalten, fo müf 
terö die Menſchen meiden, um mit ſi 
fein, und fih Rechenſchaft zu geben 
was man ift und kann, von dem, 
in ſich felbft als Eigenthum beſitzt. 
waͤre Helgoland ein Ort, wie kein 
finden ſein moͤchte. 





Den 14. September. 


Eine Vorlefung über das Licht, welche unfer 
Freund, Profeffor Ludwig Mofer aus Königs: 
berg, einmal druden ließ, flimmt mit meiner 
Behauptung über das Afflimatifiren ganz zuſam⸗ 
men. Er fagt im Anfange: »Wir empfinden nicht 
den abfoluten Grad ber Einwirkung, welche bie 
Außenwelt auf uns übt, fondern nur den relas 
tiven, und zwar wird der jedesmalige Sinneds 
eindrud' nad gleichzeitigen oder vorhergehenden 
derfelben Art beurtbeilt. Auf und macht des 


der Gegenftände, ja ihre Farbe, find 
beträchtlichen Grade diefem Gefege ur 
Es ift, wie man bei einiger Ueberlegur 
ein fchöned Geſetz, darauf berechnet, un 
Melt zu verföhnen, in die wir jebeß 


fest find.« 


Daran habe ih in den lebten X 
gedacht und mich über die Ungleichhei 
fdauungsweife getröftet, die Du in meiı 
und meinen fpätern Briefen finden n 
arm, fo traurig mir Helgoland erfchie: 
bin ich überzeugt, daß ich bei unfer 
nit am Ende deſſen fein werde, wc 
fehen und woraus Belehrung zu ziel 
daß ich es ungern verlaffen werde. 


FO HE ı TV a vs 4 


209 


wunden habe, und alltäglih mit den andern 
Babegäften zur Düne hinüberfahre, babe ich das 
Gefühl beengender Weltabgefchiebenheit verloren, 
und Helgoland erfcheint mir fchön in feiner Iſoli⸗ 
rung. Die bleiche Düne kann oft, wenn die Sonne 
fie warm beleuchtet, und das Meer zwifchen de» 
Dune und dem rothen Felſen in einem tiefen, 
füdlihen Blau erfcheint, fo prächtig fein, daß 
man fie gar nicht verlaffen mag. Vor Allem ift 
ed dann ſchoͤn, auf der Suͤdſpitze zu liegen, zu der 
die golddurchfunkelten grünen Wogen fo maje⸗ 
ftätifch breit heranziehen, und von beiden Seiten 
fi aufbäumend, niederfteigen auf die Infel, daß 
nur der Pleine Fled, auf dem man eben fißt, 
verfchont bleibt von dem ſich langfam über bie 
Kiefel verbreitenden Waſſer. Die Gefahr des 
Naßwerdens, welche jede Welle mit fich bringt, hat 
nod einen befondern Reiz. Man genießt durch fie 
die fpannende Erregung eines ſchuldloſen Hazards 
fpield bier in freier Luft viel leichter und ge: 
Erinnerungen a. d. Zapre 1848. LI. 14 


Aber abgefehen von dem Heiz ded He 
der Naturlebens, hat die flaatlihe Einr 
der Inſel auch ihr Eigenthuͤmliches. Die 
lander find Friefen, und die altfriefifche € 
fol fidy unter ihnen am reinften erhalten 
wie auch ihr Landrecht noch das alte friefil 
Das Geſetzbuch hat nur zehn bis funfzel 
fege, nach welchen Recht gefprochen wird. 
land, feit achtzehnhundertvierzehn im Beſi 
Inſel, die für daffelbe als Pofitionsplag 
ift, erhält einen Gouverneur auf Helgolant 
jedoch in den Delgolander Gefegen eine 
rung einzuführen, oder irgend welche A 
von den Infulanern zu fordern. Dagege 
den die nöthigen Gelder zur Erhaltung de 
ben Treppe, ded Leuchtthurmes und der 
bauten aus Enaland aefenbet. und das 





211 


jener vortheilbringenden Großmuth, die es überall 
mit gutem Erfolg und gutem Anfchein in Außs 
übung zu bringen verfteht. 

Unter der Öberleitung des englifchen Gous 
verneurd, der ein Offizier hoͤhern Ranges ift, 
werden die Verwaltungs: und Rechtsangelegen⸗ 
heiten Helgolands von ſechs Rathsherren, acht 
Quartierdleuten und fechözehn Aelteſten beforgt. 
Die Würde der Rathöherren und Quartiersleute 
ift eine lebenslängliche, die Aelteften werden auf 
ſechs Jahre gewählt. Einer der Quartierdleute 
fagte und, daß ed hoͤchſt wenig Proceffe gäbe, 
dag Diebftahl faft nie vorfäme. Weder Schränte 
noch ‚Däufer werden verfchloffen, und jede Haus: 
wirthin verfichert, man inne Geld und Geldess 
werth ruhig in den offenen Zimmern liegen laffen. 
Und doch muß die Noth bier groß fein, da, wie 
gefagt, die Infel Nichts erzeugt, jeder Leben: 
bedarf vom Feftlande gebracht und die Worräthe 
für den Winter im Herbfte befchafft werden müffen, ° 


Intereffant war mir dad Brucflü 
alten Helgolander Gefeggebung aud ber 
eintaufend ſechs hundert und ſechs, Die 
Wiebels Unterfuchungen über die Infel H 
fand. Diefe Gefepe, offenbar, wie Wi 
merkt, für eine Heine Gemeine berechnet, 
von dem ftarren Selbfterhaltungdtriebe ! 
golander, fosald ed galt, fremden Volke 
irgend einen Antheil oder Bortheil von 
gewähren, was jene als ihr Eigenthum 
teten; während unter den Infulanern fe 
faft kommuniſtiſche Einrichtung beftanden ha 

Es heißt nach dem Wiebel’fchen B 
dritten Artikel, der den Fremden die 
verbietet: »Da wir doch nichtd Andres h 
die Kifcherei, und wenn und dieſe alfo 
ı ı würde. fo ift e8 um uns acfcheben 





213 


Dann Fuͤnftens: »ift noch von Alters ber ges 
balten worden, wenn ein Schiff fcheiterte ober 
Schaden erlitt, daß dasjenige, fo daran verdienet 
worden ift, die ganze Gemeinde erhielte, ber 
Arme davon fo viel befomme ald ber Reiche; 
ſolches wollen wir auch fernerhin und alle Wege 
fo halten und bleiben laflen, und den armen 
Wittwen dad Brot nicht aus dem Munde reißen 
und nehmen, welches unfere Vorfahren ihnen ges 
gönnt haben. — 

»Zum Sechsten foll Niemand mehr von dem 
baben, das beim Schiffen verdient worden iſt, 
ei ed bei Tag oder Nacht, ald zwei Theile, das 
dritte Theil gehört aber ber Gemeinde. 

»Zum Siebenten ift auch von Alters gebräuch- 
lich gewefen: die Rochen und. andre Fifche, fo 
bier im Lande zum Verlaufe kommen, und woran 
ein Schilling zu gewinnen ifl, davon follen bie 
armen Wittwen fo viel haben, als die Aller 
reichften. Solches ift biöher geſchehen, und wollen 


er wolle.« 

Zum Neunten, »fo fol ſich nicht ver 
wer da will, ald nur, wenn ein Manı 
der drei oder vier Söhne hätte, und wı 
Leder ein Antheil haben. Das ift nicht 
ben und kann auch nicht gefchehen. € 
wenn Wittwen Leute miethen wollen, fo 
fremder Mann belfen, der hier nicht woh 
dern fie follen von unferm eigenen & 
miethen.« 

Die Einwohner find denn auch ha 
Fiſcher, Schiffer und Sciffsbefiger, wel, 
tere außer dem Transport der Waaren au 
ftändigen Handel treiben. Daneben abeı 
fie noh alle Handwerke und Gemerb 
Schiffszimmermann ift ein fehr guter © 


Der sine alte Rantfe her einer Reihbi 





Den 14. September. 


Eine Vorlefung über das Licht, welche unfer 
Freund, Profeffor Ludwig Mofer aus Könige: 
berg, einmal druden ließ, flimmt mit meiner 
Behauptung über das Afklimatifiren ganz zuſam⸗ 
men. Er fagt im Anfange: »Wir empfinden nicht 
den abfoluten Grab der Einwirtung, welche bie 
Außenwelt auf uns übt, fondern nur den relas 
tiven, und zwar wirb der jebesmalige Sinnes⸗ 
eindrud nad) gleichzeitigen oder vorhergehenden 
derfelben Art beurtheilt. Auf und macht bes 


der großen Maffe zu verbammen, ebe 
habe ich fpäter in der Erinnerung das 
das Ringen nad Bervolllommnung a 
ehren gelernt, daß offenbar in ihnen 
war. 

Aber ich fomme zu weit von mein 
landen ab. Die reihen Männer gı 
ftädtifch gekleidet, ihre Söhne bringe 
bis zu der Eleganz der Hanfeftäbte. 
tenden Klaffen tragen Matrofen: und 
der, große Zhranftiefeln, die bi zum 
aufgezogen werden, den Wachstuchhut 
mannöfapuge und die Jacke von bla 
Wer nicht »auf See ift«, fteht auf den 
gudt in’d Weite, oder geht zum alten l 
auf dem Oberlande und fieht, ob Schiffe ir 

ınfin verl mim ımebr muͤſſi 





219 


die fehr thätig” find, und felbft die ſchwerſten Ar- 
beiten, wie das Herauftragen von Torf und Bier 
gelfteinen nad) dem Öberlande, faſt ausfchließlic) 
verrichten. Man fieht fie mit dem Salzen und 
Doͤrren der Fifhe, mit Spinnen von grober 
Wolle und andern Hausarbeiten unaudgefegt bes 
fchäftigt. Sie haben no, bis auf einige Toͤch⸗ 
ter der Reichen, ihre Nationaltradht bewahrt; 
einen feuerfarbenen Tuchrock mit grünlichsgelbem, 
bandbreitem Streifen am Rande, Jade und Schürze 
von fchwarzem Wollenzeug oder buntem Kattun, 
aber Beides immer gleichfarbig, und einen ſchwar⸗ 
zen, eng anliegenden Hut von Pappe, mit Zeug 
überzogen, von dem ein langes, vierediges Stüd 
dem Naden berabfällt. Bei alten Frauen findet 
man bisweilen noch eine fteife, gefältelte oder eine 
flach anliegende Haube, welche beide an althols 
laͤndiſche Vorbilder erinnern. 

Neulich gingen wir Abends in bad »griüne 
Waſſer«, dad Tanzhaus der niebern Klaſſe, wo 


yYrıyvısın IE van wu *α 1pe 
nur ein fremdes Element, feine rechte 
ift das Meer, und daher nennt er denn 
Ort, an dem er ſich vergnügen will, n 
Lieblingdelemente »das grüne Waffer«. 
der Name an dad Meer, fo erinnert t 
in welchem getanzt wird, volllomme 
Zwifchended. Kurze Pfeiler, welche 
Theil des Gemaches von dem eigentliı 
faal trennen, erhöhen die Täufchung. 
Auf einer Kanzel madıte der Be 
fchmale8, bleiches Männchen, den Mı 
einen Baß fpielend, welcher von ein 
und von einer Flöte begleitet ward. S 
Snftrumente wüthete aus einem anl 
jedes hatte ein befonderes Zifchen, Pfeife 
ren, Dröhnen, das ald unfreiwilliges 





221 


fo graufig als das Heulen einer Windsbraut in 
wilder Novembernadht. Dazu flampften die Bur⸗ 
fhen den Boden mit erfchütternder Gewalt, und 
eine dide Luftfhicht, mit Tabacksdaͤmpfen bes 
fchwert, lagerte fi) über den Tanzenden. 

Wie neidenswerth erfchienen mir die Italiener 
neben diefen Rorbländern! Wie gluͤcklich find fie, 
daß ihr Land fo warm, ihr Sinn und fie felbf 
fo fhön find. Wie prächtig ift ein Wolf in ſei⸗ 
ner Urfprünglichkeit, wie fragenhaft in den abge⸗ 
legten Lumpen einer ihm fernen Kultur! Nie 
babe ich das tiefer empfunden als bier, wo id 
diefe verzerrten Strauß’fchen Walzer, dieſe angſt⸗ 
vol aͤchzenden Polkas, in der Gtidiuft eines 
niedrigen Raumes, von dem rohen Aufjauchzen 
des Volkes, von dem abfichtlichen fchweren Stam⸗ 
pfen ihrer Züße begleiten hörte. Wie edel ers 
fheinen dagegen die Männer und Frauen von 
Ischia, von Stalien überhaupt, die leicht beklei⸗ 
det, nadten Fußes, in reiner Luft bie fchönen 


VIE: amisenıe wre ve Dem een > 
ten ‘ :ereöfand ihrer glüdfeligen Ufer ı 

Wir fragten, ob die Helgolander fe 
nen Tanz hätten? — 

»Ja! englifh Real, und wenn ( 
Thaler zahlen, wird Real getanzt.« 

Wir zeigten und nicht neugierig, 
einiger Beit fing der ©efragte eine U: 
mit und an. Es war ein großer, 
Burfche von zwanzig Jahren. Unter fei 
Matrofenmüge mit roths und weiß⸗karri 
an der zwei ſchwarze Zaffetbänder flat 
ein kugelrundes Geſicht mit kleinen, vı 
dern halb verſteckten, blauen Augen he 
Friesjacke war weit zuruͤckgeſchlagen, 
ſteckten in den Taſchen der weißen Lei: 
Er hatte eine Cigarre im Munde, der 





223 


»Der Real ift ein fchöner Tanz⸗, meinte er. 
»Es tanzen ihn ihrer vier, aber er macht ſehr 
müde, es ift ein orbentlihd Stüd Arbeit. Er 
wird auch nicht mehr getanzt, er iſt gar zu 
Ihwer.« 

»Das kann ich mir wohl benten«, fagte Einer 
von unß. 

»Sehen Gie«, fing der Schiffer wieder an, 
»es kann ihn auch felten Einer.« 

»Das glaube ich wohl! « 

»Ich Tann ihn, und ber da brüben, der kann 
ihn auch.« 

„Aber Ihr tanzt ihn nicht, weil er fo muͤde 
macht.“ 

»Na! das ift das Wenigfte! nur fehen Sie, 
ed ift doch eine andere Sad’ — man muß einen 
Orbentlichen nachzutrinten haben.“ 

»Ja! das verfteht fidh.« 

»Und dann fehen Sie, die Srauenzimmer 
durften denn doch auch. 


von dem Verlangen eined Thalers Den 
zu einigen Grofchen fände, beluftigte uni 
daß wir ihm gar nicht zu Hülfe fommen 
Er ging eine Weile fort, trat dann zu t 
bier, ſprach eifrig mit ihm; wir fahen 
Erfundigungen über und einzog, wie bei 
mit einer Proteltormiene uns offenbar 
fliged Zeugniß ausftellte, worauf der € 
unfere Nähe zurüdkehrte. Er ftellte fic 
feine gefpreizten Beine, ftedte die Hände 
die Zafchen, rollte die Gigarre in de 
winkel und fagte mit halb geöffneten 
im Tone der reinften Objektivität: »Di 
Mädchen tanzt ihn gut!« 

»Sie ift auch huͤbſch genug! « 

»Ja wohl! und die Kleine dort 
Mio ontfchließen ſich fchon eher 





225 


Wir fchwiegen, er raudhte ftill, bis er feinen 
abgebrannten Gigarrenflumpf fortwarf, fi räus 
fperte und auf jede Weife ed kenntlich zu machen 
verfuchte, daß er nun zu Ende geraudyt habe und 
disponibel fei. 

Da wir gleichgültig fißen blieben und nicht 
fapitulirten, begann er abermals: »®’ find nicht 
allzuviel Sremde diesmal hier. Sonft in die Tau⸗ 
fende. Das machen aber die Dänen.« 

»So mag’d wohl fein.« 

Er räufperte fi noch lauter und knoͤpfte den 
unterften Knopf der Zade zu. »Sonſt ift bier 
alle Mittwody und Sonntag Real getanzt wors 
den, und immer ein Thaler! « 

»Das muß fehr gut für Euch gemefen fein! « 

Der Verfucher ließ ſich nicht abfchreden. Er 
wich nicht von unferer Seite, wendete keinen 
Blid von und, und faßte dann in die Taſche 
feiner Frießjade, holte eine neue Gigarre heraus, 
befab fie von beiden Eden, biß fie ab, fledte fie 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848, II. 15 


Seniand, der ein großes Unternehme 
und jagte: »Hören Sie, die Frauenzim 
ten Real tanzen. Wenn Sie was ; 
geben und die Muſik bezahlen, könnt’ 
falls meinen Kameraden fragen, ob 
riöfiren wollte.« — 

Nun war der Sieg unfer! und w 
ten und eben fo fehr an unferer zähen 
al8 an der Schlauheit unferd Gegner? 
feine Niederlage, fein Nachgeben gan 
abzulehnen, ed auf die Schultern d 
zimmer und des Kameraden zu wälze 
war ein fehr charafteriftifcher, Acht ı 
Zug. 

Wir hatten alfo unfern Willen un 
Das war aber ſehr wenig. Der R 


— nn, ⸗ ‚pP I! & Dincralteans sin (tr 





227 


und Her, beffen Hauptvorzug wohl dad Muͤde⸗ 
machen fein mag. ar fein Vergleich mit ben 
Nationaltänzen aller farmatifchen und romanifchen 
Voͤlkerſtaͤmme, die im Tanz noch die reine Das 
feinöfreude, oder das reine Liebesleben, jenes ans 
muthige Suchen und Meiden der Befchlechter aus⸗ 
zudrüden lieben. 

Wir verließen die Realtänger bei ihrer Erqui⸗ 
dung nad) dem Tanze, und gingen auf dem Ober» 
ande umber. Es mochte etwas nach ſechs Uhr 
fein, der Sonnenuntergang war ſchon geſchehen. 
Das ruhige Meer hatte eine kalte Silberfarbe, 
der Wind wehte troden über das kurze Gras und 
den auf und nieder ſchwankenden Windhafer. Mits 
ten auf dem Öberlande brannte in dem weißen 
Leuchtthurm die große Laterne. MWBadegäfte, in 
Mäntel und Oberröde gehüllt, gingen, fich gegen 
den Wind firäubend, umher, während bie und 
da eine Helgolanderin an ber Erde fniete, ein- 


zeine Kartoffeln für den Bedarf des nächften 
15 ® 


einige bräunlich:weiße Schafe. Ein altı 
führte zwei derfelben, an Stride gebun 
und her, ein Futter bietended Plaͤtzchen z 
In den einzelnen Häufern glimmten Li 
aus den’ Schornfteinen flieg der Raud 
fi mit den Wolfen miſchend und mit if 
ziehend über die Infel fort, und fort in d 
Der Eindrud war noch trauriger, als 
erften Morgens in Helgoland, und do 
fligte er mich nicht mehr. Es fchien 
müffe diefe faft gleichmäßige Traurigkeit 
tur Entfagung lehren, ald müffe die € 
ftill werden, und Hoffen und Wünfchen u 
ten verlernen; ald müffe man Ruhe 
diefer Abgefchiedenheit. 

Ruhe? — Und aus dem geunen Wa 
ten die Polkas, und unten am Me 





229 


landete die dänifhe Schaluppe mit den Offizieren, 
zum Ball im Gonverfationshaufe. — 

Drüben aber fchaukelt ſich, während ich dies 
fhreibe, dad Hamburger Dampfboot vor feinem 
Anker und bringt Paflagiere und Zeitungen mit 
aus der Welt, in der man Alles findet, außer — 
Ruhe. 


14. 


Den 16. Septembe 


Ehe Helgoland nod der Zufamm 
vieler Badegaͤſte war, zur Zeit feiner U 
beit, muß diefe fahle, einfame Inſel 
eigenthümlicher Aufenthalt gewefen fein 
ich es mir in diefer Weiſe vorftelle, eı 
mir als ein nicht untergefunfenes, von 
göttern auf ihren Armen emporgehalten 
ald ein Kabelreich des Nordend. Bei 
nen Mondlicht diefer legten milden NA 





231 


niederfällt,, in jeder Wolfe, die ihren Schleier 
über dad Maffer wirft, die Nebelgeftalten des 
Zwiſchenreiches zwifhen Himmel und Erde auf, 
an deffen Dafein der alte freundlide Juſtinus 
Kerner, der feit einigen Tagen in Helgoland 
weilt, immer noch ftandhaft glaubt, trog aller 
Rationaliften und Naturforfcher unferer Zeit. 
Wir haben neulidy bei Sonnenuntergang mit 
Geheimrath Mitfcherlid und Andern eine Fahrt 
um die Inſel gemacht, die wahrhaft malerifche 
Form, die wunderbare Berflüftung der einzelnen 
Selöblöde kennen zu lernen, welche ſich allmälig 
von der Infel Ioßgeriffen haben, und nun dem 
Andrang des Meeres fi wie riefige Pallifaden 
entgegenzuftemmen fcheinen. Der Geheimrathwüßte 
die allmälige Entſtehung diefer Zelfen, ihre Ums 
geftaltung und fortdauernde Verwandlung fo Par 
als Nothwendigkeit darzuthun, als hätte er bei 
der Schöpfung geholfen, als fei alles Wiffen 
überhaupt ganz natürlih. An mehreren Stellen 





233 


auf dem Helme, der in verfchwiegener Gtille 
ausruhte bei einer geifterbleihen, nebelmeißen 
Meerfey. Als dann die Sonne ſank, die Felfen 
bläulicyer wurden, und die Abenbnebel fi) mond⸗ 
befhienen emporhoben, Luft und Waſſer mit 
einander verbinden, da war ed, als fchwebten 
weiße Schatten von Stern zu Stern, ald ginge 
ein flüfterndes Wehen durch die Welt, als ertöne 
das Lied vom Leben und vom Sterben, für deſſen 
verflingende, unartikulirte Laute nur gar Wenige 
das Ohr und bad Verſtaͤndniß haben. Je dunkler 
es warb, je ferner wir die zerflüftete, unbewohnte 
Felsſeite hinter uns ließen, je mehr ſchienen bie 
Nebel vor ben Srotten, vor den Felsobelisken und 
vor den Felsthoren, Geftalt zu gewinnen, und ich 
wußte nicht zu fagen, ob das leife Schauen, 
welches ich empfand, von der kühlen Abenbluft 
oder von einer warmen Einbildungskraft erzeugt 
ward 


Ran erzählte mir, daß alljährlich diefe Helge- 


und ſtoiz ı ange O ναO— 
tiefblau, wie ich ihn im Norden felten 
babe, und die braunrothe Farbe ded Ge 
böhte den ſchoͤnen Eindrud des hellen 
lichte in der Luft und im Waſſer. 

flahen Bucht fliegen wir aus, über 
und brödelndem Felsgeroͤll eine kleir 
zu erflimmen. Aus allen ihren Ed 
zwitfchernd und ſchrillend Voͤgel hei 
unſere Ankunft vom Neſt emporgeſchr 
Waͤhrend man uns auf die Wirkung 

melslichtes aufmerkſam machte, das | 
Heine Stelle von oben hereindrang, 

nur immer in den dunklen Hintergru 
weil mir war, als würde von dort etwa 
bared erfcheinen, irgend eine Druden⸗ 
nengeftalt der ftandinavifchen Vorzeit 


Auge und Seele fih an der Unendlichkei 
laffen, die wir nicht zu faflen vermoͤ 
nad) der wir dennoch Alle fehnfüchtii 
gen in der oft fo drüdenden Begrenzun 
menfchlichen Anlagen. Ich habe mich hi 
gefragt, ob diefe Sehnſucht nach Une 
died in die Ferne Streben und Schr 
Geiſtes, diefer Wunfh nah Allwiffent 
Allmacht, nit Symptome höherer Anl 
deren wir und vorahnend bewußt werden, 
wir die Kraft felbft bis jett in Bewegung 
verftänden. Ich glaube nämlich, daß r 
Menſch in fi) die menfchliche Vollendu 
zeugen vermag, daß vielmehr alle Mer 
alle Zeiten die Fortentwidlung des 

fhaffen helfen, und daß bier Empfa 


fu vn eoum tı*®. m. DE. IM... 





237 


an der Entwidlung der Menfchheit mit, aus der 
er feine Entwidlung zieht, und wenn ich traurig 
bin, daß ich nicht zu begreifen, nicht zu verftehen 
vermag, was ich doch begreifen und verfichen 
möchte, dann tröfte ich mich immer mit der hof⸗ 
fenden Frage: »ob es denn aber die naͤchſten Men⸗ 
fhengefchlechter nicht wiſſen und können werben.« 
Wer nicht an die perföntiche Unfterblichkeit glaubt, 
verlangt an bie Fortentwidlung der Menfchheit, 
an die fortzeugende Kraft ihres Gtrebend und 
Wirken zu glauben. Und dieſe ift auch vorhanden, 
denn e8 wäre gegen die Weisheit und Gerechtig⸗ 
keit der Weltorganifation, fehlte diefem Drange 
nach Zortbauer, der ſich geifliger ober roher in 
allen Menfchen offenbart, bad entfprechende Ges 
nügen. 

Es ift fhon Nacht. Das Meer brauft wilb 
und fprigt feine weißen Wellen thurmhoch empor. 
&o weit dad Auge reicht, der wilbefte Kampf im 
Waſſer, während ein plöglich entflandener Nord⸗ 





247 


bei uns gleiche Urfachen, wenn auch hoffentlich nie 
gleiche fo doch ähnliche Folgen hervorrufen, daß 
Kampf und Sieg Opfer erbeifhen. Da iſt doch 
jede junge Frau, die mit dem Blick auf ihre Mutter 
und Großmutter in ihr Wochenbette geht, muthiger 
und verftändiger als biefe Männer. Es kann 
ihr eben das Leben koſten, das Kind kann auch tobt 
zur Welt fommen, kann ſterben, nachdem fie all 
die Schmerzen erduldet hat; dennoch aber verzagt 
fie nicht, dennoch glaubt und hofft fie; denn Übers 
fteht fie e8, fo ift ein neues Leben geboren und 
e8 haben es ja Andere vor ihr überflanden. Es 
liegt etwas fo Kleinliches in dem muthlofen Ver⸗ 
zagen diefer Freunde der Drbnung, daß man fich 
ihrer fhämt, wenn man glaubensflarf auf den 
Sieg ded Nothwendigen rechnet, dad gefchehen 
muß und dad dann eben auch dad Rechte ifl. 
Und obenein behaupten gerade biefelben Leute, 
vorzugsweife den Glauben an Gott und göttliche 
Deltregierung zu haben! 


allen Plägen, an der Hauptwache, vor 
mer, an der Pauldfirche lagen bivouafüı 
daten um große Feuer, fingend und I 
ration verzehrend. Goͤthe's Statue if 
Holzbaraden umgeben, welche für die 
berger Cavallerie aufgefchlagen find. 
Herr« fieht göttlich ruhig und ernft daı 
er weiß, daß diefe Ereigniffe vorübe: 
daß er beftehen wird, daß ihm fein 
feine Zeit den Lorbeerkranz entreißen ke 
in feiner Rechten hält. 

Auh an Göthe’d Vaterhaus ging 
Mondſchein vorüber, es ift für die da: 
ein fchönes, ftattliches Gebäude, dere 
überhaupt viele zahlt aus jenen Ta 
eigentliche mittelaltrige Frankfurt iſt 


IE ⸗ 





249 


befchräntte finftere Bauart der deutfchen Worzeit 
in mir zu vermindern. Es ift für mich weber 
Doefie noch Schönheit in den engen winfligen 
Städten, in denen man nicht Luft, nicht Licht hat 
und wo Peft und Epidemien allein gedeihen, waͤh⸗ 
rend die Menſchen umkommen müffen. Die Vor⸗ 
liebe für diefe mittelaltrige Bauart flammt aud) 
wohl aus der gemachten Empfindung jener Zeit, 
in der Geng einft fchreiben Eonnte: »unter Ekel 
verftehe ich allerlei fchönen Ekel.⸗ 


16. 


Den 13. } 


Mir waren in der Pauldfirche. 
baͤude ift gar nicht kirchlich, fondern 
für eine Nationalverfammlung errich 
fhöne ftattlihe Rotunde,, mit einem v 
getragenen Chor, dem eine Eftrade ar 
Säulen entfpriht. An der Stelle 
und des Altares ift die Präfidententril 
richtet. Mir fielen immerfort Dern 
geicholtene Worte ein: »reißt die Kreı 


— =. .m n L an .MA._ 





251 


thümlichen Zweckes gefchehen, und die deutfchen 
Bahnen flattern, wo fonft das Bild des Gekreu⸗ 
zigten bing. 

Die Herren v. Sagern, Simfon und Rieſſer was 
ten aufihren Plaͤtzen; da ich Simfon und Biefler 
kannte, hatte ich volle Muße, Gagern zu betrachten. 
Er ift groß und ſtark gebaut, dad Geſicht ebenfalls 
kraͤftig ausgeprägt und fehr charakteriftifch durch 
daß ſtarke hochaufſtehende Haar und die unges 
wöhnlih bufchigen Augenbrauen. Alle Bilder 
von ihm find getroffen. Seine Haltung, fein 
Drgan , feine Ausbrudsweife tragen dad Ge 
präge eines männlichen Weſens. Diefer Eindrud 
wurde fpäter noch erhöht, als ich ihn im Laufe 
ded Tages fprechen hörte. Dabei befrembete 
mid nur, daß auch er nicht an das Gute in 
den niedern Volksſchichten glaubt, vielmehr das 
Volt für egoiftifh und enrfittliht hält. Wie 
durfte er dann die Souverainität des Volkes 
erflären, oder vielmehr, wie kann man dad von 


ww een 20 
fhien er nicht zu fürchten, er läugnet: 
im Volke, »aber der Socialismuß grei 
die Idee deffelben zeige ſich überall. 
tröftlih, denn es ift nicht abzufehe 
die Grundfäße ded wahren Sociali 
das Princip der Gegenfeitigkeit, die 
ferer Zeit ein Ende finden können. 
Man fagt, Herr v. Gagern werbe 
tenftelle niederlegen und Simfon ftatt f 
werden. Formenſicher und von geiftr 
blid, wie Simfon es ift, muß er ein 
ter Präfident fein, und dies um fo 
im Ganzen feine enthufiaftifhe N: 
alfo von dem Parteitampfe wenige 
den dürfte, als der heftigere Gage 
manchmal feine Klingel mit foldhe 





253 


wie ein Wurfgeſchoß unter die tobende Verſamm⸗ 
lung fchleudern. Als er dann abtrat und Sims 
fon für ihn präfidirte, fühlte man den Unterfchieb 
in dem Weſen der beiden Männer, felbfi an dem 
Ton ihrer Stimme. Simfon’d Organ, feine Aus⸗ 
drucksweiſe find prächtig. Er bringt mit feinem 
feſten, Maren Ton durch den lauteſten Lärm, 
und beherrfcht diefen ſchon vermöge feiner Ruhe. 
Sagern kaͤmpft im Geiſte mit, auch wenn er 
präfidirt, er ſteht immer zwifchen den Parteien, 
zwifhen Freund und Feind im Handgemenge, 
und kann eben darum leicht verwundet wer⸗ 
den unb verlegen. Er ift wie ein Ajar, Simfon 
wie Ulyſſes, oder vielmehr wie ein Feldherr der 
Jetztzeit, der ſich felbft mit weiſem Vorbedachte 
fern haͤlt von den Kämpfenden, und in unnah⸗ 
barer Stellung das Schlachtenſchickſal, das er 
lenken ſoll, uͤberblickt 

Doctor Rieſſer ſah auf der Tribuͤne ganz ſo 
behaglich aus als im Alltagsleben, wenn er das 


Zuge feines Geſichtes Es mag a 
digendes Gefühl für den wadern, 
Verfechter der AJudenemancipation 
daß jest zwei Juden ald Vicepräfide 
fhen Nationalverfammlung vorftehe 
Eine der auffallendften Erſch 
VBerfammlung ift ficher der alte 3 
nem langen Rod altdeutfchen An 
übergefchlagenen Hemdekragen, dem 
chen auf der Slate und dem langen 
fieht er wie ein Zauberer auf dem 
oder wie Washington Irving's au 
rigem Schlaf wiederkehrender Rip 
Er ſprach in einer Meinen Rede grı 
vor einem neuen Aufftande auß, 
dabei fein gereinigtes Deutfch, dad ı 


urmm{ilhutan Mean . XA. a L. AA 





255 


Bald darauf betrat Herr von Vincke bie Tri⸗ 
büne. Welch eigenthümliche Erfcheinung iſt das 
und wie fehr gewinnen manches große Xalent, 
mancher bebeutende Mann, wenn man fie nur ges 
brudt Pennen lernt. Herrn v. Vincke's Rebeweife 
ift betäubend ; er überflürzt fih in polternder Hef⸗ 
tigkeit, wie eine Lawine, die, je größer fie wird, 
um fo fchneller herabrollt. Vor Leidenſchaftlich⸗ 
keit, vor Eile hat er nicht die Zeit, feine Stimme 
zu mobuliren. Er ſpricht nicht, denn er beberrfcht 
feine Sprache nicht, fondern der Zorn fpricht aus 
ipm. Sein Organ iſt ein gewaltiges Inftrument, 
das fein ſtarker, fcharfer Geiſt mit wilder, gigans 
tifher Willkür gebraucht, und die Anflrengung 
defielben fo groß, daß das Blut ibm nad dem 
Kopfe fleigt und er ganz roth wird. Was er 
fagte, war brav, ſcharf und Har, die Art, mit 
ber er es fagte, durchaus unfchön. 

Merkwuͤrdig war ed, während Herr v. Binde 
ſprach, dad Mienenfpiel des alten Itzſtein anzu 


ringe. Die Eugen , leife zufamm: 
gen unter dem weißen Haar, de 
nichtende Lächeln feines Mundes 
was Unheimlihes. Er hielt fi 
Morgen ruhig auf feinem Plate 
mit feinen Nachbarn, und gab 
den Männern feiner Partei, wele 
bühne gingen, mit einem Blick od 
niden ein Zeichen der Theilnahme. 
wie Mephifto aus, wenn er »feine 
hit, die gegebenen Befehle zu eı 
Auf der Minifterbant fällt Herr 
zuerft auf, dur den Ausdruck b 
Hochmuths, der fein Aeußered und 
harafterifirt. Ein Zug tiefer Men| 
fhwebt um die feltgefchloffenen fc 
und, wird er aenÄthiat anf oima 





257 


zu antworten, fo wirft er die Worte mit ber boͤ⸗ 
fen Geringſchaͤtzung hin, mit der harte Menfchen 
dem Armen eine Gabe reihen. Es ift niedrig 
von Seiten ded Herzens, den bittenden Armen 
einen Bettler zu heißen, es ift eben fo niedrig 
von Seiten des Verftandes, in dem Volke, das 
fein Recht vertritt und fordert, einen verbrecheris 
ſchen Empdrer zu fehben. Die Worte Empoͤrer 
und Empörung werden auch in ihrer jebigen Be⸗ 
deutung ganz von der Erde verfchwinden, wenn 
die Knechtſchaft ihr Ende erreiht. Es giebt nur 
eine Empörung, das ift die Empörung gegen den 
heiligen Geift der Wahrheit, und gegen den zieht 
keiner der Männer zu Felde, welche man jetzt 
Empdrer nennt, und auf die Herr von Schmer⸗ 
ling fo verächtlich herabfieht. Herr v. Beckerath 
erichien neben ihm doppelt mild und freundlidy, 
als er Venedey die Hand gab, der, von ber 
Tribüne kommend, mit einem feiner Anträge 


durchgefallen war. 
Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 17 


des Erild in Frankreich und Eng 
deutfche® Herz nicht geändert; er 
mit gläubigem Gemüth die Be 
Freiheit hoffend, für die er gefchn 
Jugend. Aber flatt der Friedeni 
Kartätfchenkugeln, und leidet n 
fhweren Enttäufhung. Der Iı 
Krawall, die Ermordung Lichnovs 
wald’8 haben einen tiefen Eindr 
macht, eben weil man diefen M 
einem politifchen, zu einem vorau 
peln und ihn der Oppofition zur L 
während doch Alles dagegen fpric 
die Mißgriffe beider Parteien uı 
ftern: »ich habe mehr gelitten un! 
gen, unbeilvollen Verdaͤchtigun 





259 





in dem langen Eril!« Solche Worte fpricht er 
mit einem Tone der Wahrhaftigkeit und Treu⸗ 
berzigkeit, daß man ben ganzen Schmerz mit 
ihm empfindet. Unwillkuͤrlich denkt man neben 
ihm an die deutfchen Meifterfänger, denn feine 
Erfcheinung ift eine typifch deutfche. 

Even fo deutſch, an Peter Viſcher's Züge ers 
innernd, fieht Profeffor Viſcher, der geniale Tuͤ⸗ 
binger Aeſthetiker aus, ein offenes, lebensfriſches 
Sefiht auf einer Eräftigen Beftalt. Uhland ſaß 
neben ihm, und wir waren überrafcht, bie Er⸗ 
fheinung dieſes großen Dichters fo gewoͤhnlich, 
nein eigentlich fo ungewöhnlich unſchoͤn zu finden. 
Die groben Befihtöformen und der ganz Table 
fpige Schädel flehen in ſtarkem Gegenſatze zu der 
Zartheit und Kraft feiner Werke, nur fein hell⸗ 
blaues Auge leuchtet in ſchoͤnem Licht und ſieht 
geiftvoll und Mar in die Welt. Eine junge Dame, 
welche fich neben uns befand, und feit Sabren 
ein felbftgefchaffenes Bild des trefflihen Mannes 


jou Uhland Jeın: au), vor yw 
gar nicht gemadt!« — Es kle 
dem fchönen Munde, wie die Ber 
Kindes in der Fabel, daß die füße 
unſcheinbares, graues Federkleid u 
Man zeigte uns die große Za 
ragenden Perſoͤnlichkeiten, welche 
durch ihre Schriften und Thaten 
Wir ſahen Dahlmann, Grimm un 
leute, und es liegt doch etwas 
in dem Schauen, das die Bibel 
hen« nennt. Unſere ſinnliche Nat 
nah. Man empfindet das Gro! 
rudt, man fieht dad geiflig Wü 
verkörpert, die Verehrung finder 
mehr ald einmal fiel mir heute 
Heine's in den frangöfifchen Zuftän 





‚261 


dad Vaterland feinen großen Männern danken, 
fondern für den Willen und die Aufopferung, die 
fie dabei befundet. Selbſt wenn fie gar Nichts 
gewollt und gethan hätten für dad Vaterland, 
müßte dieſes feine großen Männer ehren, denn 
fie haben es durch ihr Dafein, durch ihre Größe 
verberrlicht !« 

Daß Deine nur aus dem Krankenzimmer der 
Ruc de lloursine der Bewegung diefer Zeit zu 
folgen vermag, daß Boͤrne fie nicht erlebte, hat 
mich in diefen Zagen vielfach gefchmerzt, wenn 
ich in die Paulskirche trat und das jetzige Franke 
furt mit jenem Frankfurt verglih, in dem ein 
Geiſt wie Börne Unterbrüdung und Verfolgung 
jeder Art zu tragen hatte. 


17. 


Den 


Ueber unfere deutfchen Zu' 
traurig und beforgt, feit id) 
einfehe, wie viele der Depu 
(08 find, wie fie Einer den An 
für wahnwigig erklären und ei 
tifhe Einfiht abſprechen. Maı 
die man fpricht, was fallh, u 
führbar fei, aber Niemand fag 
(ih und ausführbar ift, und dod 


263 


Die Auflöfung des veralteten Polizeiſtaats in bie 
Elemente der Imdivibualitäten kann förmlich bes 
ängfligend werden, wenn man bier auch nicht eis 
nen Menſchen findet, der dad Zalent des Neu⸗ 
geſtaltens, das Genie des fchöpferifchen Organi⸗ 
ſirens hat; wenn Niemand die Form weiß, in 
weldye für dieſen Augenblid die fläffig geworde⸗ 
nen Elemente gegoffen werben müffen, bamit fie 
fi fefligen, flatt verbeerend über zu fluthen. 
Wenn man aud glaubt, daß die Eriöfung und 
Neugeflaltung der Menſchheit in unferer Zeit 
nicht mehr von Einem Menſchen vollbracht wer: 
den kann, fondern daß Jeder ſich ſelbſt erlöfen 
und fo Alle zufammen die Freiheit ſchaffen muͤſ⸗ 
fen, fo fehnt fi der Menſch doch nach einem 
Weſen, dad als großes Beifpiel, als Flammen» 
zeichen Präftiger That ihm in der ganzen Goͤtt⸗ 
lichkeit der Menfchennatur voranleuchtet. 

Um fo zaghafter macht e& aber, daß bier die 
Deputirten, daß die Deutfchen überhaupt, jetzt 


wie Goldfand, übermüthig über 
vorragenden Frakturbuchſtaben de 
ftreut wird, wenn er fich mit unfe 
mit unausführbarer Verkleinerun 
Thaten, an große Namen wagt. 
li darüber zu freuen, daß Der 
ultramontane Zendenzen hat, daf 
Herr Rößler und hundert Ander 
ſchlecht gemacht haben, daß Vie 
nicht gewadhfen find, dazu iſt ge 
vorhanden. Aus einem Unglüc 
machen zu fehen, über den ma 
traurig und widrig zugleich. 
Fuͤrſt Lichnovsky's Tod ift nod 
genftand der Unterhaltung. Ern 
genug, oͤffentlich viel mehr al 


265 


obſchon diefer in jedem Betracht ein Ehrenmann 
war unb eine unverforgte Familie binterläßt. 
Seftern erzählte uns Bofrath . . noch Umflände 
von Fürft Lichnonsfy’s ‚Ermordung, bie es Mar 
beraudftellen, wie dabei von einer politifchen, vor⸗ 
ausbedachten That, auch nicht im Entfernteften 
die Rede fein konnte, wie fein Tod nur die Folge 
feiner eigenen Unvorfichtigkeit geweſen if. 

Fürft Lichnovsky hatte mit einem Prinzen 
von Hohenlohe und einem Grafen Bentheim zu 
Mittag gegeflen, und dem Lehteren nad) ber 
Mahlzeit den Vorſchlag gemacht, fie wollten aus⸗ 
reiten, um zu fehen, ob die Kavallerie nicht kaͤme. 
Wollen fie eine Kugel in den Leib haben?⸗ 
batte Graf Bentheim gefragt, »daß Sie, unpo⸗ 
pulär wie Sie find, in diefem Augenblid ſpazie⸗ 
ren reiten?« — Baht! die Kugel für mid) fol 
noch gegoflen werben,“ lachte Für Lichnovéky, 
ließ fein Pferd bringen und ritt davon. Von 


dieſem Spazierritt haben feine politifchen Gegner 


17 


man hade den Furſten Lichnovsky 
dem Hauſe eines ſeiner Bekann 
ſtimmt eine ganze, große Partei 
ſein Tod ſei die Folge einer uͤl 
tiſchen Abſicht Sch moͤchte vn 
Zauberer der aͤußerſten Linken dei 
der Flucht in's offene Blachfeld, d 
weit vor ihm ausdehnte, abgelen 
Enge eines Gaͤrtnerhauſes gebann 
Waͤre er nicht abgeſtiegen, es hätt 
ger ihn, der ein friſches, ſtarkes 9 
zuholen vermocht, und daß er abfti 
das fann die Linke unmoͤglich verf 

Es ift auffallend, daß des F 
fo wenig thun, die Wahrheit E 
Hofrath . ., der mit gemohnter R 
mit der Dir befannten fcharfen 


267 


wieder an allen Eden zugleich geweſen iſt, vers 
fihert, daß alle jene Bräuel von der Verſtuͤmm⸗ 
lung des Fürften erfunden wären. Gr ift viels 
mehr gleich nach der That unter die Obhut eines 
Arztes gekommen, der ihn vor neuen Mißhand- 
lungen gefchüst, und bis in das Hofpital gelei⸗ 
tet bat. Als neulich ein Deputirter über das 
Wirken und den Tod des Fürften ſprach, meinte 
er: »er ift tobt, alfo darf man über ihn nicht 
mehr urtheilen!« — Dieſes fhöne feine Empfin- 
den Bann man aber, ſcheint mir, nicht unbedenk⸗ 
ih gelten laffen in unferer Beit des Kampfes. 
Die Partei des Fürften beutet feinen Tod fo pa⸗ 
thetiſch anklagend aus, daß feine Gegner wohl auch 
fprechen und Alles thun müßten, ihre Schuldlo⸗ 
figleit, des Fuͤrſten Leichtfinn und das Zufällige 
dieſes Morbes deutlich herauszuftellen. 

Sieht man überhaupt, wie feftorganifirt, wie 
wohlgegliebert die ganze Taktik der echten if, 
fo befommt man Reſpekt von ihr wie vor den 


niſchen Einheit zu Werte, daß 
Ereigniß von ihnen unbenugt 
Zufälle, gute wie böfe, als die 
die Kette eingereihbt werden, 
Neue um den Theil der Men 
der fih von ihnen frei zu ma 
Märe nur die Hälfte diefer be 
quenten Örganifation in den R: 
wie anders koͤnnten die Sacheı 
niht nur an Organifation fche 
fondern an der einfachſten Ve 
bervorragendften Perfönlichkeiten 
nen Fraftionen der Linken fe 
wiffen oft von einander nicht m 
tungen berichten, und fommen 
fälligen Verkehr nicht wefentlid 
Bildungsgrad und die Äußere 





269 


fend fo gar verſchieden find, was aber bei der 
nothwenbigen Bufammenfekung aus allen Staͤn⸗ 
den kaum anders fein kann. Daß in diefer feh⸗ 
Ienden Organifation, in dem zerflüdten Handeln 
der Keim der Niederlage liegt, dad fehen Alle ein, 
die man darüber befragt — und doch wird ed 
nicht andere. Gäbe ed einen Menſchen, der 
diefe Parteien zufammen zu bringen und zuſam⸗ 
men zu halten wüßte, er würbe der Retter der 
Demokratie werben. 

Nicht einmal habe ich es in Paris im März 
von Tonfervativen Franzoſen ‚behaupten hören, 
was bier täglich von den Gonfervativen autge⸗ 
fprohen wird: »das Volk ift entfittlicht und das 
ganze Srundbprincip der Revolution von achtzehn. 
hundert acht unb vierzig iſt firafbarer Egois⸗ 
mus. Die Befleren, die Menſchlichen, fügen 
dann hier als begätigenden Nachſat hinzu, »aber 
glauben fie nicht, daß ich deshalb an dem Siege 
bed Buten und Wahren verzweifler — Das 


land fprachen. »Ahl« rief fie freu 
»chez nous les riches ont telle 
rite, que nous €craserons bier 

Das ift auch die Theorie d 
dad war die Zheorie der erften 
nifterien nach der Revolution, je 
und Fabrifanten, welche nie das 
hen tönnen, das fie durch ihr | 
Zurüdhalten über das Land gebra 
nennen ſich Staatömänner, pri 
männer, im Gegenſatze zu dener 
Idee vertreten, und nach diefer 
handeln. Und doch ſtand und fie 
weisheit nicht höher, als die A 
des Fürften Miloſch, der, bei E 
Unterhaltung über die Art, wie 


nen Dämnfen miüffe. mit feiner 





2771 


auf den Tiſch ſchlug, daß er dab vor ihm lies 
gende Brot zerquetfchte, und dabei ein beder⸗ 
tungsvolled »So!« flatt aller Antwort erfchallen 
ließ. Sich felbft verwahren heißt nicht menſch⸗ 
lich und gerecht fein, und es beweiſt gar Nichts 
für fie, daß diefe Staatsmänner gegen die Re⸗ 
gierungen kämpften, fo lange fie die eigene Frei⸗ 
beit zu erlangen wünfchten. Jetzt, da man von 
ihnen Freiheit für den vierten Stand fordert, 
forschen fie ein emtfchiebened Rein und nennen 
ſtaatsmaͤnniſch, was egoiftifch heißen follte. 
»Allen Menfchen ift nicht zu helfen! Um ben 
tünftigen Generationen zu helfen, muß man den 
Muth haben diefe jehige Generation des Prole⸗ 
tariats verhungern zu laflen! Ich will ja jedem 
ordentlihen Menſchen dad Wahlrecht zugeflchen, 
der fih durch Bildung und Ginficht deflen wärs 
‚ dig zeigt, nur diefen Bettlern, Xagelöhnern und 
abhängigen Bedienten nichti« — Das find die 
erbabenen Lehrfäne der Staatsweisheit dieſer 


für feined Lebens Unterhalt bien 
viel unabhängiger ift, als der £ 
welhem er bedient wird. Im ( 
Hausknecht, der gefunde Glieder 
feine geringen Beduͤrfniſſe vielle 
fhaffen, wenn fein Derr ihn en 
Beamte ſich nähren kann, deffen 2 
rer zu befriedigen find, und di 
Mahl möchte nicht mehr durch 
Peit der Bedienten, ald durch bi 
ihrer Herrn gefährdet fcheinen. 
Wie foll man an die Richtigk 
fägen glauben, deren Vertreter imr 
Bortheil im Auge haben, wenn fi 
Befitenden vertheidigen und als Iı 
Kartätfchenktugeln brauhen? D 


Macau ana 4 4. ahbau ta har 





273 





— 


nach den empdrenden Mordthaten der lebten Zeit. 
Ein alter geiftreiher Mann pflegte zu fagen, 
wenn er Klagen über einzelne Todesfaͤlle hörte: 
»Bei Eylau und bei Leipzig find Zaufende von 
Söhnen, Gatten und Vätern geblieben, und 
Deutfchland ift nicht untergegangen, fondern groͤ⸗ 
Ber geworden dadurch« — Dem Einzelnen, den 
diefe Schickſalsſchlaͤge treffen, find fie hart, ja un⸗ 
erſetzlich; im Dinblid auf die Entwidelung der 
ganzen Menfchheit aber find fie doch unweſentlich. 

Mas fchreien denn all die Reichen jebt fo 
aͤngſtlich, aus Furcht vor Verarmung, ald hätte 
es noch nie eine Zeit gegeben, in welder ber 
Cours der Papiere geſchwankt hätte und der Beſitz 
entmwerthet worden wäre? als ob in den Jahren 
von achtzehnhundert ſechs bis fünfzehn nicht dafs 
felbe gefchehen wäre? Diefe Verarmungsfurdt 
der Befibenden ift gewiß egoiftifcher ald das Ver⸗ 
halten des Proletariats, das noch nirgend feine 
oft angeflagte Habjucht bewiefen bat. Im Ges 


Erinnerungen a. d. Japre 1810. II. 18 


eumwev we Yaus bejeßt geh, 
bat auß der Kaſſenſtube des $ 
fihoffen, in der geprägtes Gold 
legen hat. Hunderte von Men 
Thaler fchon als Beſitz erfcheir 
Daufe aus- und eingegangen uni 
nig ift entwendet worden, wie 
des feligen Bundestages uns gefi 
Aber die Männer der Rechten 
firche behaupten dennoch, das Vol 
Meuchelmord, die Nichtachtung | 
genthums werde immer gewoͤhnli 
dieſem Glauben wollen ſie reformi 
formiren gehoͤrt die volle Kraft 
feſteſte glaubensfreudigſte Zuverſich 
ben weder das Eine noch das Xı 
nur grundlofen Haß und arunbink 





275 


Im Laufe des Tages erzählte man uns, eb 
wären achtzigtaufend Mann Truppen um Wien 
zufammengezogen. Es waren mehrere Ariſtokra⸗ 
ten zugegen. Cine Dame verfiherte, daß eb 
nur fünfzigtaufend Mann wären; man babe ihe 
aber gefagt, dies fei mehr als hinreichend, um 
alle revolutionairen Bewegungen in Deutfchland 
für alle Zeit tobt zu machen. Die Unterhaltung 
war vollkommen, wie fie Böthe in Coblenz gehört 
bat, die Zuverfiht auf den dauernden Sieg der 
Regierungen eben fo feſt, ald bie Verachtung gegen 
das Volt groß. Die Worte »fouverainer Plebb« 
wurden mit fpöttifchem Lächeln von ſchoͤnen Lip⸗ 
pen hervorgelispelt; und wieder kam mir bie 
baarfträubende Angft, welche ih von Jugend auf 
vor dem Momente empfunden babe, wenn das 
Maaß voll fein und die Stunde der Vergeltung 
tommen wird, die und Alle mit verfchlingen Tann. 
Hören, fehen denn dieſe Unglädfeligen nicht? 
Haben die Kanonenfchläge der Iehten Junitage in 

18° 


Und wenn ed nicht gefchieht, ı 
feft in ihrer alten Anfchauuı 
dann denke ih an die Worte eiı 
„wen die Götter verderben mol 
jie vorher den rechten Verſtand 





Den 16. Oxctober. 


Wir waren den ganzen Morgen, von halb 
neun Uhr bis halb vier Uhr in der Pauldskirche, 
wo die Anklage gegen Bit, Schlöffet und Simon 
von Trier verhandelt wurde. 

Voigt aus Gießen ſprach zuerfi, mit großer 
Lebhaftigkeit und binreißender Wärme. Die Bes 
den und Verhandlungen kennſt Du aus ben Beis 
tungen und ſtenographiſchen Berichten; ich barf 
mich alfo darauf befchränten, Dir immer nur bie 
Perſoͤnlichkeiten zu fchilbern. 


Schritte, mit der er durch den € 
in ihm, troß feiner Stärfe, den ı 
befteiger wiederfinden. Sein rund 
durchweg fhöne Formen, die Stirn 
feft; die Züge zwifchen den Augen 
der Nafenmwurzel, die Form des 
des SKinned find von charaftervol 
| heit. Denfelben Ausdrud hat fei: 
fpricht lebhaft, aber mit vollfomı 
fhung feiner*Mittel; wenn der C 
erwärmt, bat er eine fortreißende 
großen Schwung. Er brauchte 
Vertheidigung der Angellagten e 
mir auffiel, weil ed fo fehlagend i 
nen die Geſetze des Springbrunne 
»So tief die Waffer von der eine 


- - “ au] C ad 





79 





Wollen Sie fi) wundern, daß man zuletzt zur 


Erlangung der Freiheit Dolch und Strid anwens 


den wird, da man von Anfang an Kartätfchen 
benuste, die Freiheit zu verweigern? Die Kar: 
tätfche, welche von den Thronen herabgefchleus 
bert wird, fleigt als Dolch und Strid den Thro⸗ 
nen gegenüber empor.« Bei den Worten ſpruͤh⸗ 
ten feine duntelftechenden Augen wirkli euer, 
und er ging nachher mit einer fo energifchen Hals 
tung von der Tribüne, daß mir jenes berühmte 
“jai dit!« — lebhaft einfiel. 

Einer der Männer des rechten Gentrums fragte 
mich heute: »nun, was fagen Sie zu dem Stande 
der Sache?“ — »D! die Rechte wird fidher den 
Siegdavontragen !« — »Alfo doch endlich befehrt ?« 
— »Belehrt? Im Gegentheil! neuen Ideen, einem 
neuen Glauben gegenüber iſt das Alte, das Uns 
recht immer in ber Majorität. Im Frühjahr, 
wenn die erften grünen Blätter hervorkommen, 
hängen noch alle Bäume voll duͤrrem Laub, und 


das junge Grün gewinnt die Obe 
im nächften Jahre ebenfalld vs 
fagte mein Gegner. — »Ja! 
antwortete ich, »oder glauben € 
Muth, von der Vergangenheit 
zu fordern, wenn ich nicht die 
ald vergänglicy betrachtete? 3 
Vergangenheit, der Sie Alle m 
angehören, ift der Glaube an 
ihrer Kortdauer. Ich laß neuliı 
Erzählung von einer alten Di 
vierzig Jahren mit einer Jugen 
men gelebt hatte. Als die Kre: 
(ich ftarb, konnte die Dame den 
Todes gar nicht faffen, fondern 
die Sreundin lebe, und werde fi 





281 


Speifen berrihten, und feste ſich mit ihr zur 
Tafel. Wie nun die Leichenfleden und der Ver⸗ 
weſungsgeruch erfchienen, ſchminkte und parfuͤ⸗ 
mirte ſie die Genoſſin ihres Lebens, und war 
weder durch die Bitten ihrer Hausleute noch 
durch die Vorſtellungen der Polizei⸗Behoͤrden zu 
bewegen, den Leihnam in die Erde ſenken zu 
laffen, deffen Dafein geradezu ten Lebenden toͤdt⸗ 
lih werden konnte. Zuletzt mußte man benn 
- Gewalt brauden, da man ed nidht abwarten 
konnte, bis der Anhänglichkeitswahnfinn der gu⸗ 
ten Dame vorüber fein würde. So geht es in 
diefem Augenblide überall ben Anhängern ber 
alten Zeit, vornehmlich aber auch bei uns. Sie 
merfen es Alle nicht, daß die alte Beit fchon 
ein taufend fieben hundert und zwei und neunzig 
geftorben, daß fie längft in Werwefung zerfallen 
ift, fondern ſchminken und parfümiren die Leiche 
ihres Staatsſyſtems mit Ordonnanzen und Kas 
binetsordres, die ben Lebenden gefährlich find 


Ende Gewalt zu brauchen und ſich 
»Wie partheiiſch ſind Sie!« 
des rechten Centrums. — „Un 
nicht?« — »Ja! aber glauben 
man dieſes Haͤuflein von Ideolog 
auf der Linken ſitzen, eine Partei 
— Dieſe bloße Frage beſtaͤtigte 
die Behauptung, wie die Regieru 
Vertreter noch nicht einmal vollko 
daß ſie eine ſelbſtſtaͤndige, berechti 
gegenuͤber haben. Sie thun noch im 
eine Herrſchaft widerſpenſtige Di: 
waͤren die Voͤlker leibeigen. Sie 
daß es nur Fuͤrſten giebt, ſo lan 
welche haben wollen, und daß, w 


einem kontraktlichen Verhaͤltniſſe, 
walt Die Moto it malt 





283 


den Vertrag kündigen Finnen, nicht aber umge 
kehrt. Das Volt kann den Fuͤrſten verbannen, 
fein Zürft aber kann ein ganzes Volk verbannen. 
Sobald fih Niemand beherrfchen laffen will, giebt 
es aber Feine Herrfcher mehr, und man begreift 
nicht, daß fie dies nicht einzufehen vermögen. 
Auch über die Verlaͤumdungen, die unebeln 
Mittel, welche die inte anwenbe, haben wir 
lange Reben gehört, und Niemand bat bebacht, 
daß diefe Iangen Reben eben auch Berläumbuns 
gen waren. Perfonen, welche durch ihre frähern 
Verhältniffe volltommen befähigt fein mußten, 
die reine, hohe Perfönlichleit Johann Jakoby's 
zu kennen, thaten die abgefchmadteftn, und in 
ihrem Falle, die fräflichften Fragen. »Ob eb 
wahr fei, daß Jakoby die Berliner Emeuten leite, 
baß er die Anarchie für nothwenbig halte, fie her⸗ 
aufbeſchwoͤre?“ — Was fol man baraufantworten. 


19. 
‘ 
R) 


Heute Morgend waren wii 
Paulskirche, wo Morig Har 
wohl fagte. Er ift ein fo jug 
Menſch, daß man ihn indiefer bl 
lieb gewinnt, in der fo wenig 
boren werden und fo viele Zun 
tig find. Hartmann geht mit 
Julius Sröbel nah Wien. Hc 
nahmen Abſchied von ihren $ 





285 


mehr. Es lag etwas in der Scene, dad mid 
an bie Apoftelzeit erinnerte, als diefe drei fo fort 
zogen, für ihren heiligen Glauben zu kaͤmpfen 
und zu leiden mit den Glaubensbrübern. 

Robert Blum ift fraglos einer der haͤßlichſten 
Menſchen, die ich je gefehen babe Er iſt fehr 
ſtark, der Kopf ftedt tief in den Schultern, und 
er fieht mit feinem rothbraunen, kraufen Baar, 
mit den Pleinen, flehenden Augen, und den gros 
ben, runden Sefichtöformen, wie einer ber Fau⸗ 
nen oder Satyren aus, die oft auf den Rubens⸗ 
ſchen Bacchusbildern fid) fo widerwärtig barftellen. 
Perfonen, welche ihn fprechen gehört haben, fas 
gen, daß ſich fein Gefiht dann wunderbar bes 
lebe, daß ed von Geift leuchte, daß er wie ein 
Sokrateskopf ausſaͤhe. So im Woruͤbergehen, 
wie ich ihn ſah, konnte ich das nicht finden, und 
mußte hoͤchſtens zugeben, daß trotz der weichen, 
ſchwammigen Fleiſchmaſſe, dad Geſicht Charakter 
habe; aber es iſt, als habe die Natur dieſen 


geftelt zu fein. 

Was ich über feinen Char 
mich auch Hberrafht. Man ı 
dämonifche Kraft!« Er liebe 
Freiheit, ald er einen tödtlichen 
die Unterdruͤckkung und die Unte 
nicht der Mann der Gonceffioner 
die vernichtende Gradheit des K 
fein Biel fuche, um ed zu za 
feine Reden, auch wenn er fie 
genblides improvifire, von eine 
der gefügten Logik wären, gefl« 
nicht fein Freund ift. ©. erzählte 
troß feiner Häßlichkeit auf Fre 
tenden Eindrud zu maden 5 
Gewaltfamteit feines Geiftes. 


Nialau hamubßt 1 





287 


er einer Frau gefalle, mehr den Triumph feines 
Geiſtes und feines - Willens, über die ihm von 
der Natur auferlegten Bedingungen feiner äußern 
Geſtalt, als er fich der ihm zu Theil werdenden 
Liebe erfreue. Das hat wirklid Etwas, das uns 
heimlich an Richard den Dritten gemahnt, wie 
mir denn Blum's ganze Perföntichkeit unheimlich 
erfchienen ift, daͤmoniſch im fchlimmen und im 
guten Sinne bed Worted zugleih. Ich fragte, 
ob er nicht eigentlich eine unerbittliche, eine 
graufame Natur fei? — Man antwortete mir: 
Er koͤnnte ed werben, wie jeder Menfch, ber nur 
ein Biel im Auge bat,- und Alles ruͤckſichtslos 
niebertritt, wa8 ihn von diefem trennt. — Daß 
er feit Jahren mit feinem Haſſe gegen Unters 
drüdung, dem Princip der Freiheit mit großer 
Ausdauer und Umſicht genügt babe, das ſtellte 
Niemand in Abrede, und fo wollen wir boffen, 
daß fich died auch in Wien bervähren werde. 
Froͤbel's Erſcheinung bildet gerabe den Gegen⸗ 


ihm für den erften Augenblid ein e 
Anfeben geben, find die Züge des ( 
Ausdruck der meergrünen Augen un 
Mundes, fo auffallend ruhig und e 
Maler, der ihn zum erftenmale fab, 
fchön nannte und feinen Kopf mit 
Fapitolinifhen Faun verglich, mit t 
That viel Aehnlichkeit hat. Seine 
ift in der Unterhaltung — denn au 
babe ich ihn nicht gehört — feh: 
Organ kräftig, aber dabei auffallen 
ganzes Wefen hat die ruhige Hal 
ein inneres Gleihgewidt der © 
äfthetifhe Bildung verleihen. Er 
gegen alle Gewaltmaßregeln, fo la 
die Ausficht habe, gefeglihe Meg 
Ginmal. al& daß Geſopraͤch e8 auf 





289 


brachte, that er den Ausſpruch, ber mich aus 
feiner focialen Politik fo unumftöglich wahr ange 
fprochen: »für jede Nothwendigkeit muß ed eine 
Möglichkeit geben!« und dabei war feine Stimme 
fo fanft, fein Wefen fo ruhig, als wifle ex, daß 
das Vernuͤnftige in diefer von einem Vernunft⸗ 
geſetz beherrſchten Welt doch nothwendig ben 
Sieg davon tragen werde. Hier an Froͤbel hat 
es ſich mir wieder recht beſtaͤtigt, daß die wahre 
Kraft immer mild, die rechte Ueberzeugung immer 
ruhig iſt, und daß man Heftigkeit und Gereizt⸗ 
heit durchgehends als ein Zeichen innerer Halt⸗ 
loſigkeit anzuſprechen habe. Ic habe von Froͤbel 
nie ein hartes Wort des Tadels, nie eine jener 
Verbächtigungen feiner Gegner gehört, mit benen 
diefe fo freigebig gegen die edelſten Charaktere 
der Linken umberwerfen, und das iſt wirklich 
wohlthuend in biefer Zeit ded Haſſes und des 
Kampfes. — 

Als wir gegen zwölf Uhr aus der Paulskirche 


Erinnerungen a. d. Jahre 1868. II. 19 


Die Watıonuamermmnsung swwere -- ... 
nicht gegen die Neumahl der zu e 
nannten Perfonen geftimmt zu haben. 
Beſprechung dieſes Gegenſtandes madıt 
aber los, und ein wenig in der Stadt u 
Das Wetter war troden und frifı 
zu fein, und wir gingen zuerft in da: 
Snftitut, ein Bild von Pecht zu fehe: 
die Krönung Goͤthe's durch Korona € 
nach der erften Aufführung feiner Ip 
ift ein buntes Bild, voll Portraitfigı 
Art der Watteau’fchen Gemälde; ob 
traitsähnlichkeit würde es weniger ar 
Sept aber geben diefe und der Gont 
dem ftillen Damals, in dem Fürften 
fih in einer Region friedendvoller 
bewegten, neben unferer fturmbeweg! 





291 





Der. Park von Tieffurt bei Abendbbeleuchtung 
ift der Ort der Handlung. Der Heryog in blauer 
Uniform mit hohen Reiterftiefeln, und die Her⸗ 
zogin Amalie in weißem, mit rofa Schleifen ges 
ziertem Reifrock, führen Goͤthe, ihn bei den Häns 
den baltend, aus ber Reihe einer Gefellfchaft auf 
einen Teppich, ber über den Wieſenboden ges 
breitet if. _ Ron der andern Seite tritt Korona 
Schröter hervor, in weiß gekleidet nach der Mode 
ber Zeit, aber doch von Schleiern und berartigem 
Bierrath fo lofe umwallt, daß ihre Kleibung nicht 
fteif, ſondern recht idealiſch erfcheint. Sie naht 
fi) Goͤthe, mit erhobenen Armen vorfchreitend, 
ihm, wie eine Viktoria, den Lorbeerfrang ent« 
gegen zu bringen. Goͤthe, ber jugendliche, nach 
Mai’d Portrait gemalte Kopf, unb auch dem 
Bilde der Angelika Kaufmann ähnlich, das Frau 
Dttilie von Göthe in Wien bewahrt, ift fehr ges 
lungen. Er trägt weiße Eskarpins, eine weiße 


Weite mit einer Blumenguirlande geftidt, einen 
19° 


Dy Puore, wuysy wur mern 
mit Zopf und Puder prangen. Wiel 
Schiller, Knebel, Merk, figuriren 
Bilde, und ganz im Vorbergrunbe ftı 
Rath« in dem farbenftrahlenden 
einer $ee aus den Contes bleus. 
mußte man an Bettina’d Schilderung 
denken, den die Frau Rath ihr bei der 
Königin von Preußen in Darmſto 
Ob ed gerade »diefelbe Haub’ mit 
blume« gemefen ift, weiß id) nicht, d 
Frau glänzt in Schmud und Yarl 
prächtige Pfauenfeder. Da man m 
bat an Darftellungen der Derfone 
unferm Geifte bereits lebten, fo 
Voraus wiffen, daß mir died Bild 
gemacht bat. 





293 


Vaterhaufe, das Bimmer zu befuchen, in dem er 
einft den Goͤtz und den Werther gefchrieben hat. 
Das Haus hat ſchoͤne, breite Treppen mit eifer- 
nen Geländern, in deren Berzierungen fich bie 
Goͤthe'ſchen Namenschiffern finden; die einzelnen 
Etagen find nicht fehr hoch, dafür aber Alle von 
ziemlich gleicher Höhe. Goͤthe's Zimmer ifl eine 
Erkerfiube mit drei Zenftern, aus denen man, 
wenn man ſich feitwärts hinausbiegt, Gärten 
fieht und auch einen Blid in das Freie hat. 
Ber kann aber wiffen, wie das Alles vor fieben« 
zig Jahren gewefen fein mag? Es ift ein gutes, 
filled Zimmer, dennoch machte mich feine Leere, 
im Gegenfab zu der Bewohntheit des übrigen 
Hauſes, recht traurig. Auf dem Borflur bed ers 
ſten Stodes fpielten Kinder mit einer Kabe, ber 
fie einen Kreifel entgegenichleuderten; im zweiten 
Stod trug man Küchenabhub, Waͤſche und Speiſe⸗ 
vorräthe die Treppe hinunter; es war eben das 
Treiben des Alltagslebens in feiner Nothwendig⸗ 


yerıy wre mw on vr IHRER A 
kleines Schreibepult, ein zerbrochen 
zogener Stuhl, ein Paar Zifche an 
wurden ald von Göthe gebraucht bez 
Sepiageichnung, unbedeutend wie al 
Beichenverfuche, hing an dem einen 
Kopie danady an dem andern. Uni 
Söthe’fher Vers, deffen ich mich ı 
Aber dad Alles war fo kahl, fo au 
ungeliebt, daß ed mir wehe that. 
man fühlen, fände man auf dem 
Eltern die Grabfleine zu einem $ 
wendet. Es fchnürte mir dad Herz 
tagsleben in diefem Haufe, und im 
ih an Goͤthe's Worte: »Die Stätte, 
Menſch betrat, ift eingeweiht“, um es 
zu empfinden, daß man diefe ga 


295 


Schön, prächtig, vornehm, großartig, wie 
man das Patricierwefen jener Zeit oft findet in 
großen Zluren, einzelnen Saͤlen und hohen Zim⸗ 
mern, iſt died Vaterhaus Goͤthe's nicht. Aber es 
ift zweckmaͤßig auf das Nothwendige beſchraͤnkt, 
es rahmt die Eriftenz ein; und wer önnte fagen, in 
wie weit diefe Bauart auf das ganze Weſen Goͤthe's 
eingewirft und ihm die Begränzung in ben fpätern 
Lebensepochen zum Bebürfniß gemacht haben mag. 

Unfer nächfter Weg galt dem Römer. Die 
alten Bilder der deutfchen Kaifer im großen Saale 
find durdy neue verdrängt, von benen einzelne 
recht charakterifliih find, daß fie aber als En⸗ 
femble einen bedeutenden Eindrud machen, bins 
dert ſchon die architektoniſche Anlage ded Saales. 
Wie prächtig Flingen bie alten Befchreibungen des 
Roͤmers, wie flattlih wird der Marktpla ger 
f&hildert, auf dem der Springbrunnen Bein ſpru⸗ 
delte, der gebratene Dchfe prangte und ber Hafer: 
haufen dem Volke Preid gegeben warb. Und 


die eben nur ald Hintergrund d 
Theilnahme erregen, welde fie 
feiner Weiſe beanfpruchen koͤnnte 
Zulegt denn die YJudengaffe 
alle Machthabenden der Welt di 
tionen diefed Jahres in Leid un 
ſenkt worden, fo würden fie mit 
noch lange nicht die Schmerzenöth 
welche jened unglüdlihe Volk ir 
riger Knechtſchaft, in fchmachvoll 
vergoffen hat. Als wir durdy di 
Judengaſſe gingen, als ich in d 
thurmhohen Häufer fah, welche 
in einander geklebt find, wie 
Bienenflodd, und ald ich mir 
Boͤrne feine Jugend verlebt, bi 





297 


bier hat man fich geweigert, das Thor zu Öffnen, 
felbft bei $euer&brünften,, fchauberte ich vor dem 
unmenſchlichen Treiben der oft gepriefenen Vor⸗ 
zeit. 

Wenn Goͤthe in feinem FJauſt den furchtbaren 
Fluch ausfpriht, und Stein auf Stein zertrüms 
mert von dem Bau des menſchlichen Daſeins, 
wenn er der Hoffnung und dem Glauben geflucht 
bat, fo endet er mit den Worten: „und Fluch 
vor Allem der Geduld!« Ja! der Fluch ber 
Menfchheit ift jene Geduld, die fie ausharren läßt 
in Leiden, welche enden, fobald man fie nicht 
mehr ertragen will. Ausharren mit freiem Geiſte 
unter der Wucht eined koͤrperlichen Schmerzes, 
unter dem Drud unabänberlicher Berhaͤltniſſe, 
darin kann Größe liegen; aber ausharren unter 
einer Knechtfchaft, die man als Knechtſchaft fühle, 
das iſt Zeigheit und Schande. Die Gonfervatis 
ven fagen, wenn fie dad Maaß ihre Zornes 
gegen die Partei der Bewegung erſchoͤpft haben, 


[rıeve 1 Zirrimen, wunys wen] 
angefangen haben aus jämmerli 
Und Keiner diefer Anfläger fühl 
franz er in diefen Worten den - 
Ka! ed waren Börne und $ 
der Zulirevolution, und fehon fi 
fhen zuriefen: »Wir find Kneı 
und!« Es war Gabriel Rieffei 
cipation der Juden mit Wärme 
Johann Jakoby und Heinrich © 
achtzehnhundertvierzig ab den . 
preußifche Bureaukratie unablä| 
zulegt faft Mann gegen Mann di 
ſolutismus gegenüber ftanden; u 
daß ed fo war. Es ift der ruhm 
für das jüdifche Voll, daß e 
Unterdrüdung nicht matt, nicht 





299 


Bervegung in Deutfchland zu treten. Das Wort 
des Welterlöfers ift zur Wahrheit geworben an 
feinem Volke: »Der Stein, den die Bauleute 
verworfen haben, ift zum Edftein geworben! « 
Die Geduld, welche aus Feigheit und Traͤgheit 
entfpringt, mag vom Xhrone aus wie eine Zus 
gend erfcheinen; fie ift aber fo gewiß eine Schmach 
und ein Lafter, als das Irrlicht, das von fern 
wie eine reine Flamme leuchtet, ein Produkt un« 
gefunder Sumpfesbünfte if. 

Ueberall an den Schaufenftern ber Buchhand⸗ 
ungen fieht man Boͤrne's und Goͤthe's Wilder 
nicht nur neben einander, fondern auf bemfelben 
Blatte gezeichnet, und das in Frankfurt, wo man 
einft dem Doktor Boͤrne eine Acceffiften » Stelle 
verweigern zu müffen glaubte. 


aujsmeyusıo gu gwyersı 0 wreyswne 
erft hier dazu, den Brief zu beenten 
geftern Morgen Frankfurt verlaffı 
Nachtreife zu erfparen, weldye man 
poft machen muß, hatten wir eine | 
gemiethet, und haben dadurch zwa 
quemlichkeit, aber wenig an Nachtri 
Den erften Abend langten wir fo ti 
in einem fchlechten Gafthofe zu H 
mußten, um die Eifenbahn in Eife 
ten Zeit zu erreichen, am Morgen 
aufbredhen, daß e8 doch um den S 
gefchehen war, und man nur unn! 
und Einpaden der Nachtfäde zu beforg 
Der Weg durch Franken, übe 
und viele Feine andere Städte, 
fhönften Herbftwetter fehr angenehr 





301 


Eifenbahnnen haben dad Widerwärtige, daß fie und 
aus der Natur, aus dem Zuſammenhange mit 
dem Leben des Landmanns, in eine oͤde Mafchis 
nenwirtbfchaft verbannen. Sie entwurzeln uns, 
fie zerftören den Begriff ded bewohnten Landes. 
Indem fie und auf ihren eifernen Schienen fort 
bewegen, befommen wir von ber Welt faft nichts 
Anderes zu fehen, ald brachliegendes Xerrain, 
Eifenbahnhöfe und Bahnwaͤrterbuden. Die Erbe 
erfcheint aus den Waggons nur ald eine Land⸗ 
firaße, als ein großer Weg, nicht als ein Wohn 
ort. Jeder Bahnhof führt in die Ferne, Keiner 
ladet zum Weilen ein. Es liegt etwas Beun⸗ 
rubigendes, Quaͤlendes in dieſer Art des Reiſens, 
und darum that und als Gegenſatz die Fahrt auf 
den GChauffeen mitten durch das Franken⸗ und 
Zhüringerland fo wohl. Einmal wieder Menfchen 
zu feben, welde bie Weinleſe hielten, Rüben 
und Kohl ernteten, Flachs brachen und für den 
naͤchſten Sommer die Aecker vorbereiteten ober 


Biegen hüteten, Gänfe weibdeten, ı 
hunde fpielten, oder fih auch ehr 
balgten, das war Alles eben fo v 
die großen Züge von Menfcen, ı 
meß gingen. Nach den uniform 
cianten mit Meffingfchilden, von t 
nur wie Stüdgut behandelt wer 
Alles reizend und neu, und um 

thend, ald man in diefen kampfdu 
ten die Sehnfuht nah Ruhe, n 
Leben und primitiven Zuftänden ı 
bafter empfindet. 

Dad ganze Frankenland ift | 
Stieden feiner flilen Thaͤler ſehr 
Eiſenach famen wir in ein Thal, 
Fluͤßchen Vacha durchſtroͤmt wird, 





303 


Thal ift weit, von mäßigen Hügeln gebildet, 
deren Laubwaͤlder der Herbft phantaftifch bunt 
gefärbt batte. Es hatte am Nachmittage geregnet 
und war, bei der vorgerüdten Jahreszeit, dann 
auch gleich kühl geworden. Um Sonnenuntergang 
aber, als wir durch dad Thal fuhren, brach das 
Sonnenliht wieder hervor und funkelte in fchars 
fen Streiflihtern durch dad zerrifiene Gewoͤlk, 
bier die buntgefärbten Blätter glänzend zu ers 
leudhten, dort fi in Regenbogenfarben in den 
Nebeln zu fpiegeln, die wie Schleier an den 
Hügeln hingen. Der Anblid war zauberhaft ſchoͤn 
und das ganze Thal fo fill und friebli, daß 
id) das Tieblichfte Bild davon in der Seele behalten 
babe. Mit diefem ftillen Bilde foll der letzte 
Brief aud Frankfurt beendet werden, der Dir fo 
viel von den Kämpfen des Tages gefprochen bat; 
möchte auch ihr Ende, ſchoͤn wie diefer Sonnen⸗ 
untergang, uns einen heilen Tag verkünden. 





Berlin im November uud 
Dezember 1848. 


— — — —“, 


Erinnerungen a. d. Sadee 008. I. 





»0. 
Berlin, 8. November 1848. 


Geftern bin ich nad) viermonatlicher Abweſen⸗ 
beit heimgekehrt, und habe heute fhon einen Theil 
unferer Bekannten gefehen, bie Alle fehr beforgt 
find in der Erwartung eine Gtaatöflreiches, 
gleihviel ob fie diefen Staatöfleeih durch bie 
Maaplofigkeit der Nationalverfammlung für bes 
rechtigt halten, ober ihn eine Ungerechtigkeit ber 
Regierung, einen Abt frevelhafter Willkuͤr nennen. 
Daß er ein Unglüd ift für das Land, darin find 
Alle einig. 


fehen, die Erbitterung der Partei 
Haß ber ftabilen Sreunde der O 
verbiffenen Charakter angenom 
nirfchend nur Gewaltmittel for 
fih nad) einem Blutvergießen iı 
mann’fchen Schredendgeftalten 
fänden. Sie haben bie legten 
Könige offenbar zu den ihren 
Mehrzahl mag es fchmerzlich bi 
Rechtſprechen mit Kartätfchen! 
beneidenswerthbe Vorrecht« Der 
nicht Ieder von ihnen privatim t 
Kanonen Gebrauch machen Fan 
fonen und Anfichten, welde ih 
ften zumibder find. 

Das Minifterium Brandeı 
Mißtrauenzvotum narh dem a 





309 


aus unverantwortlichen Miniftern, welche die Be⸗ 
fehle ihres Königs vollziehen, der fie zu vertreten 
bat. Dies ift unfer Conſtitutionalismus. 

Was man fo beforgt erwartet, iſt das Eins 
rüden der Truppen und bie Auflöfung ber Nas 
tionalverfammlung. Daß Beides noch nicht aus⸗ 
geführt ift, liegt wohl lediglich daran, daß bie 
Regierung irgend einen Kravall abwarten und 
diefen als Grund für das Eine ober das Anbere 
benugen möchte. Wuͤßte man beflimmt, das Eins 
rüden der Truppen werbe Unruhen erregen, bie 
Nationalverfammlung dagegen protefliren und ſich 
»renitent« beweifen, fo ließe man vielleicht bie 
Zruppen einrüden, um bie renitente Nationals 
verfammlung mit Grund angreifen zu Finnen. 
Dürfte man hoffen, die plögliche Auflöfung der Nas 
tionalverfammlung veranlafle einen Aufftand, fo 
möchte man die Nationalverfammlung auflöfen, um 
die Truppen rechtmäßig einrüden zu laffen. Aber 
man fürchtet, die Bürgerfchaft werbe nicht mehr nach 


Gewinn zu erwarten, wie dad G 
Diefed Gouvernement fommt 
treulofer Liebhaber, der fehlecht 
zu fein, nicht den Muth befigt, 
zu geftehen, fondern feine Geliebt 
dazu zwingen möchte, das fcheit 
Wort zuerft auszufprechen; und 
fo viele ſchwache Elemente im Bol 
baber, wenn er nur geduldig und 
ift, fein Biel gar leicht erreichen 
As ich heute Johann Jako 
ftehen die Sachen in Berlin?« - 
mir: »Sehr gut für die Demokr 
ihn befremdet an, er fühlte dad 
»Das Unterthanengefühl ift noch 
len Deutfchen, Niemand kann 


.e Mr... Mt _.. En 0.12 Sau WEL 





311 


— — —— ne — 


nutzen das Vertrauen, den Glauben des Volkes 
ab, ſie belehren das Volk. Das iſt mehr, als 
man von ihnen verlangen kann, denn ſie unter⸗ 
graben felbft den Boden, auf dem allein fie fie 
ben koͤnnen.« 

In dem heißen Sommer von 1846 war der 
Veſuv ganz ruhig — und man zitterte vor die 
fer Ruhe, denn alle Quellen in Caſtellamare, wo 
ich damals mid) befand, begannen zu verfiegen. 
So ruhig wie der Veſuv in jener Seit, fo beängs 
fligend ſtill, erfcheint mir heute Berlin. 


1. 


Berlin, 


Heute ift die Nationalverfam! 
heute, am 10. November, an bei 
den Vorkämpfern der Freiheit, Lu 
dad Leben gab. 

Der Ernennung des Minift 
burg ift die Auflöfung der Nati 
durch die Gemalt ber Bajoneti 


Es fcheint, ald hätte man in P 
tan var forhdrla Rab 


313 


verfammlung gehabt hat, welche Ereigniffe gefches 
ben find, nachdem bie Worte außgefprochen wors 
den waren: ⸗Wir find bier durch den Willen bes 
Volkes und werben nur der Kraft der Bajonette 
weidhen.« 

Aber die Voͤlker haben jene Thatſache nicht 
vergeflen, und die preußifche Nationalverfamms 
ung bat fi würdig gezeigt ihrer Vorgänger 
und Vorkaͤmpfer. Die Sympathie aller civilifies 
ten Völker muß ihr Lohn und ihr Bundesgenofſſe 
werden, wenn fie auf diefem Wege ruhig und feft 
fortzugehen vermag, und das Volk ſtark und 
mutbig feinen Vertretern zur Seite fleht. 

Seit ſechsunddreißig Stunden, feit der Erklaͤ⸗ 
rung des Grafen Brandenburg, daß der König bie 
Kammern von Berlin nady Brandenburg verlege, j 
hatten das Präfidium und die Büreaubeamten der 
Nationalverfammlung dad Gigungslofat nicht 
verlafien; die Deputirten hatten, ſich in Gectio« 
nen ablöfend, die Nacht dort zugebracht. 

20* 


zuldfen, weil der Befehl dazu « 
fei. Zugleich erfuhr man dur« 
ter, daß der König die Präfide 
verfammlung, Herrn v. Unruh 
mann, nicht vor fich gelaffen h 
Herren nad) Potödam gefahren 
fem, für Preußen entfcheidenden 
fährlichen Augenblide, die Stir 
ald Privatmänner, vor das £ 
bringen. 

Dem Magiftrate war die 
dag am Mittage 15000 Mar 
Stadt einrüden würden ;...hie 
das Lokal der Nationalverfamml 
ftanden Gruppen von Bürger 
ernfte Ruhe, eine fefte Ent 





315 


mender Art, keine lauten Aufregungen! — Man 
trat zufammen, um irgend ein neued Plakat, um 
einen Bericht aud der Werfammlung zu hören und 
entfernte fich, fobald dies gefchehen war. 

Gegen zwei Uhr gaben lebhaftere Bewegungen 
das Einrüden der Truppen in die Stadt fund. 
Um diefe Zeit traten wir aus dem blendend hellen 
Sonnenlicht des Plarften Herbfitaged in den Saal 
der Nationalverfammlung Man rief die Depus 
tirten mit Namen auf, ed waren 252 beifammen. 
Herr Bornemann führte dad Präfidium. 

Einzelne Deputirte, lebhaft erregt, gingen 
fprechend auf und nieder; da erhob ſich Herr 
Bornemann und fagte: »es fcheint mir der Würde 
diefed Augenblides angemeſſen, daß wir in Rube 
die Rüdkehr der Kommiffion erwarten, melde 
binauögegangen ift, eine Proflamation an das 
Volk zu verfaffen.« 

Sogleich kehrte Alled zu den Plaͤtzen zurüd. 
Ein feierliched Schweigen berrfchte im Saale, als 


Händen der Unterbeamten genor 
in die Hände des Präfidiums zı 
Worten legte er ed auf das Bi 

Kaplan Berg weiß ed von 
Kirche ber, wie tief man durch 
Menſchen wirkt. Seine fombı 
batte ihren Zweck erfüllt, als 
der Kommiffton hereintrat und d 
die Proflamation an das Volk v 
erklaͤrte, daß fie fih nicht für 
und ſich nur, der phufifchen Ueber, 
zurüdziehen werbe. 

Diefe Proflamation ward ei 
nommen und von den überfüllte 
zuftimmendem Bravo und Beifall 
gen. Einer der Deputirten verla 


.—b-. 4° 


317 


abdruden. »Laffen Sie unter die Proffamation 
druden: »»Die Nationalverfammlung««, bat ber 
Berichterftatter, »das wird ber würbigfte Dank für 
die Verfaffer fein.« Auch dieſer Vorſchlag ward 
einftimmig angenommen, ebenfo die Aufforderung, 
vierzigtaufend Exemplare der Proflamation bruden 
und in Berlin vertheilen zu laffen. 

Nachdem dieſe Beichlüffe gefaßt waren, zuͤn⸗ 
dete man in dem Saale, über ben ſchon die Schats 
ten der Dämmerung fich ausgebreitet hatten, bie 
Lampen an, und die Berfammlung ging zur Tages⸗ 
ordnung, zur Berathung der Ablöfungsgefehe über. 

Diefe Ruhe übte eine bannende Kraft. Ueber 
die Meinlichen, drüdenden Frohnen ber ärmfien 
Landbewohner beriethen hier zwei hunbert zwei⸗ 
undfunfzig Abgeorbnete ded Landes, während ber 
König Kinder diefed Landes, Söhne diefer Sands 
bewohner zwang, als Feinde gegen bie ſelbſt erwähls 
ten Wolkövertreter anzurüden, welche die Rechte 
diefer Bauern und Zagelöbner zu wahren firebten, 


der Bürgerwehr und ihrem Kot 
ler, die fich in einem Plakate 
gen VBertheidiger der errungen 
die Befchuger der Nationaloı 
hatten. Man fah durd die : 
bei dem legten Schein des A 
ſchuͤtzenkompagnien der Bürg 
umringen. 3meihundert Sch 
die Truppen ded General B 
der Verfammlung debattirte n 
fung des Federfpulgelded, des 
des Hundebroted, der Küche 
fpaltend und des Zutterd für | 
debattirte jehr ruhig, denn n 
dem feften Boden ded wahren 

Da erſchien Herr v. Unrul 


[ı%) „une 2. ı Mo... .u 


319 


Stelle den Präfidentenftuhl ein. ine lautlofe 
Stille empfing ihn. 

„Meine Herren!« fagte er mit fräftiger Stimme, 
»es ift mir von dem Commandanten der Bürgers 
wehr die Mittheilung zugegangen, daß Truppen 
eingerüdt find und dad Sitzungslokal umgeben 
haben. Auf die Frage des Herrn Rimpler an den 
Kommandanten der Truppen, General v. Wrangel, 
zu welchem Zwecke diefe Truppen eingerudt waͤ⸗ 
ren? bat Herr v. Wrangel geantwortet, daß er 
zum Schutze der Nationalverfammlung gekommen 
fei. Ich habe darauf, Praft meines Amtes als 
Präfident diefer Werfammlung, dem Herm Rimp⸗ 
ler die fchriftliche Erflärung zugehen laſſen, daß 
die Verfammlung fi) unter dem Schutze der 
Bürgerwehr volllommen ſicher fühle und feines 
anderen Schuges bedürfe. Darauf erwarte ich die 
Antwort.« 

Bravo! erfcholl es von allen Eden und gleidy 
darauf gelangte der Bericht des Kommandanten 


Er erbob fidy abermals: »Mı 
ralv. Wrangel hat dem Komman 
wehr, auf deffen Anfrage, wi 
verweilen denke, wo man feine 
begehre, geantwortet: »er wei 
gehen, da er weder die Nationa 
ihren Präfidenten anerfenne. ı 
babe auf Befehl ded Königs 
aufgelöft, fie beftehe rechtlich 
Anwefenheit der Herren im Si: 
gefegmäßig; er wolle daher fe 
Austritt vermehren, aber, fobalt 
fernt habe, das Sigungßlofal | 
den Eintritt in daffelbe verhin! 
acht und vierzehn Zage bier lieg 
er und feine Truppen mären 


znmnheb 





321 


Worte der Mißbilligung erfhollen, wurben 
aber von dem Ordnungsrufe übertönt, und der 
Dräfident fuhr fort: »Die Buͤrgerwehr hat ers 
Härt, obfhon bed Bivonakirens ungewohnt, fei 
fie bereit, fi) daran zu gewöhnen, und werbe 
nur mit den Deputirten zugleich ihren often 
verlaffen. Aber meine Herren! darauf bürfen wir 
ed nit ankommen laſſen. Man bat jebt bie 
Gewalt der Waffen gegen und angewendet, wir 
find von einer flarfen Militairgewalt cernirt. Ich 
habe gegen diefen Akt der Gewalt Proteſt einges 
legt. Wir wollen mit der Bürgerwehr gemein- 
fam das Lokal verlaffen und unfere Proklamation 
mag für und im Baterlande fprechen, das bier 
richten wird. Ich erfläre die Verſammlung für - 
vertagt.« 

»Bis morgen früh um neun Uhr! „rief Herr 
v. Berg, die Rebnerbühne befteigend. . ⸗»Nur mit 
diefer Bedingung nehme id, den Vorſchlag an.« 

»Bis morgen früh um neun Uhr,“ wieberholte 


Erinnerungen a. d. Jahre 10. ILL. 21 


wehrt.« 

Wenig Augenblide darauf 300 
putirten in Mitten der Bürgermel 
fammlungslofale zurüd. Ein d 
fallsruf, die tiefgefühlteften Bei 
ſchallten rings umher, man fnüp! 
an die Spigen der Bajonette, m 
Hüte, man drüdte den Deputii 
fie geleitend nach allen Stabtthei 
vor dem Haufe zerftreuten. 

Rent ift ed fünf Uhr. Der 
der Bürgerwehrfompagnien, die in 
zuruͤckkehren oder Patrouillen zur‘ 
der Ordnung durd die Stadt fei 
den Straßen. Es ift Alles rul 
MWrangel mit feinen Zruppen bet 
Auaenblide das Keld. 





Den 18, November. 


Ich habe Dir nicht gefchrieben, weil mir die 
Seele bedrüdt ift, von den Segnungen bed 
Sriedens, den man uns bereitet. Der Belage⸗ 
rungdzuftand iſt erflärt, die Stadt iſt voller 
Soldaten und es ift feitvem, als hätten fie ein 
eiferned Ne über und audgefpannt, ald wäre 
und felbft der Anblid des Himmels entzogen. 
Die Thore find offen, die Straßen find fri — 
aber man bat dennoch das Gefühl, fih in einem 
Sefängniffe zu befinden. 

21 * 


ten erun veriapjen, nun yuuız, 
Gen fuhren Droſchken vol Kaf 
ten, ganze Familien mit Weib 
Thoren zu. Ad ed dann Nacht 
Aufregung zu wachſen. Sobald 
geworfen ward, fobald ein Balke 
glaubte man einen Schuß zu hoͤ 
gengeraſſel hielt man fuͤr Tromm 
mir allein, ſondern Allen, die ich 
iſt es ſo gegangen Das Entſet 
waltthat hatte die Phantaſie er 
wahrzunehmen glaubte, was de 
fuͤr moͤglich hielt. 

Am Morgen des Eilften bef 
B., dem Schaufpielhaufe gegenül 
putirten fich verfammelten, der € 

rt ward, und fie fih in ge 





325 


cher Menfchenmenge begleitet. General Wran⸗ 
gel wagte nicht died Gefolge zu hindern, obſchon 
ed ungefeglich war nad) dem Belagerungszuftande. 

Unabläffig tönte in meinem Innern, während 
die Deputirten an mir vorüber wandelten, jener 
Geiſter⸗Chor des Fauſt, jened furchtbare 

»Weh! weh! 

Du haſt fie zerſtoͤrt. 

Die ſchoͤne Welt, 

Mit maͤchtiger Fauſt; 

Sie ſtuͤrzt, fie zerfaͤllt! 

Ein Halbgott hat ſie zerſchlagen! 
Wir tragen 
Die Truͤmmern in’s Nichté dinuͤber, 
Und klagen 

Ueber die verlorne Schöne.« 

Es war, ald zögen in diefem Augenblide der 
Geift des Friedens, der Verftändigung und Aus⸗ 
gleihung fort von Berlin, und als ſchwaͤngen 
wilde Rachegeifter die blutrothen Fackeln des 
Haſſes in der Luft. 


Iprum, ven geiprun vers gegen ıye 
im März, dad wird fie und wir mit 
jet, doch einft zu büßen haben. Maı 
dad die Hand ded Menfchen der € 
wird vom Winde verweht oder 
zur Frucht. Aber die Saaten dei 
die Hand der Fürften fireuen, fir 
Boden, aud dem fie früh oder | 
Ben, ald ein Schlingfraut, das dir 
umſtrickt, entträftet und vernichte: 
Die Stadtverordneten hatten 
ihr Verfammlungslofal angeboten 
zu Plein war, mußte man daß 
Bürgerfchaft für fie wählen, un 
compagnien übernahmen den 9 
demfelben, bis zu dem Augenbliı 
Wrangel die Nationalverfammlun: 


treiben ließ Einer der Schuͤtzen 





327 


ker, welcher für mich arbeitet, ein verfländiger, 
braver Mann, hat mir voller Entrüftung mit 
weinenden Augen von dieſer Vertreibung erzählt. 
Unter den Öfficieren, welche zur Ausführung ders 
felben kommandirt waren, follen viele nur mit 
MWiderftreben, ein alter Major mit Thraͤnen ge 
borfamt haben. Einem Andern, welder willig 
den Dienft verfah, einem Nachkommen des alten 
Blücher, bat ein alter Schügenhauptmann tas 
delnd zugerufen: »Herr! was möchte der alte 
Bluͤcher fagen, wenn er fähe, daß Sie gegen die 
Bolfövertreter, daß Preußen gegen Preußen ges 
fhidt werden, und daß der König uns fo für 
unfere Wunden von 1813 belohnt?“ — „X 
bin Soldat und thue meine Pflicht,“ hat der Of⸗ 
ficier geantwortet. 

Pfliht und Gehorfam, dad find die beiden 
Morte, hinter die fi die Gewalt noch immer 
verfchanzen kann, die Gewalt, welche fi) weich 
und doc fo feft gebettet hat auf dem furchtbaren 


— 1813 in Deutfchland it 
diefer chriſtliche Grundfaß n 
‚ Sehorfam gegen die Gewalt, r 
Elend über und bringen, wi 
wachſende Jugend abermals ;ı 
ften, flatt zu denkenden Men 
thanen der gewalthabenden 4 
Staatsbürgern erzogen wird. 

grauen, denen fonft ihr 
Haushalt wenig Intereffe ut 
Fragen der Zeit und der Polit 
fehen, wenn aus den Öffentlid 
der Münze, dem Zeughaufe 
rauchende Soldaten die Köpfe 
Scelmenlieder fangen; wein 
Straßen abgefperrt wurden, 


Gala m... San 3... ..r da 





329 


fünf bis ſechs Soldaten in die Häufer gingen, die 
Waffen der Bürgerwehr abzuholen, welche man 
auf die Wagen lud und davon fuhr. Junge 
Dfficiere kommandirten diefen ruhmvollen Feld⸗ 
zug. 

Alle koͤniglichen Gebaͤude ſind bis unter die 
Daͤcher voll Soldaten. In der Bank, in der 
Seehandlung liegen vier⸗ bis fuͤnfhundert Mann; 
auf den Hausfluren verfaufen Höderfrauen Brot, 
Branntwein, WVürfte und Zabad. Abends las 
gern die Soldaten auf den Treppenſtufen, daß 
man faft über fie fleigen muß, wenn man durch 
die tabadqualmenden Räume geht. Selbſt das 
Mufeum ift in eine Kaferne verwandelt, und 
geht man an bdemfelben vorüber, fo hört man 
ein Geräufch, wie von einem donnernden Wafs 
ferfalle. Es ift das Singen und Sprechen der 
Soldaten in der prachtvollen Rotunde, deren 
Echo den Schall vertaufendfaht. Vor der Mes 
diceifhen Venus balgen fi) Soldaten, den Fuß⸗ 


een er green men 
Bajonette lehnen an die Minerva 
der Knabe, der fi) den Dorn au 
zieht, ift von Zorniftern, Kommißbr: 
tronentafchen verdeckt. So ſchild 
Bekannter den Anblid. 

Die Beamten, der Adel und d 
ruhefüchtiger Bürger, wie Bertholt 
nannte, find wie von einem Freul 
griffen Den Soldaten wird in v 
und in den Kafernen, in denen f 
Nichts Mangel leiden, das Eeben r 
bequem gemacht. Man liefert i 
Deden, wollene Strümpfe, Suppe 
Bierkaltfchaalen und Zabad. Ei 
mir, ein FZufelier, der in einer Ka 
tiert ift, erzählte mir, Daß ein Kond 





331 


(hit habe. Es fehlte wirflih nur, man machte 
ihnen Bifiten, hielt ihnen Vorlefungen und arrans 
girte Fefte, damit fie fih in Berlin nicht etwa 
langweilen. 

Dabei wird die Disciplin fehr loder. Nie, 
fo lange ich lebe, habe ich fo viel betrunkene Sol- 
daten in den Straßen gefehen al& jet; es war 
etwas Unerhörtes in früherer Zeit. Auch der 
Ton der Öfficiere fol — nicht menfchlicher, denn 
dad wäre ein Schönes — fondern familiär ge 
worden fein den Truppen gegenüber. Man 
ſieht den Soldaten viel nach und ſchmeichelt ih: 
nen, weil man fie braucht. 

Mit den Soldaten kehrt denn auch die Schds 
newelt zurüd. Die Damen fangen wieder an 
mit ihren galonirten Dienern in die Boutiken 
zu geben, Zoilettenftüde zu faufen, und ſich für 
die Salons zu rüften, die man während der des 
mofratifhen Zage gefchloffen hatte. Wan flidt 
Chemifettd und Kragentücher mit den verfchluns 


beneidet zweifelsohne das Zebra, d 
und weißen Streifen gleich von ' 
auf die Haut befommen bat. 
Selbſt die Geheimräthe der 

Minifterien, welche ganz unfid 
waren, kommen ſchon wieder uı 
zum Vorſchein, wie Nachtodgel 
untergang. Sie fehen aus, als 
fortwährend »Heil Dir im Sieg 
Sängen fie ed aber nicht geban 
den fie wohl floden vor dem fü 
Verſe, der alfo lautet: 

»Nicht Roß noch Reifige 

Sichern die ſteile Hoͤh, 

Wo Fuͤrſten ftehn!« 


Es giebt eine Art, alte Geb 


m... ..m .. 





333 


zu Stügen verwendeten Material, dem ohnehin 
ſchwankenden Haufe leicht gefährlich werden kann, 
und davon machen die Fürften jest vielfachen 
Gebraud). 


Berlin fommt mir jet vc 
die Oſterwoche vorüber ift, w 
padt werden, und die Menfch 
im Laufe ded Winters gefui 
lieb gewonnen haben, die Xı 
mer näher und näher über ihı 
ben fühlen, ohne zu wiffen, ı 
MWiederfehend kommen wird. 

Die Oſterwoche, die Xı 
Kreibeit, | nt für diefed Ja 





335 


zu Ende zu fein. Die meiflen Deputirten rüften 
fi) zur Heimkehr, zur Abreife. Biele, die fern 
von bier wohnen unb verbeirathet find, haben 
Berlin ſchon verlaffen, um die Weihnachten in 
ihren Familien zuzubringen, diejenigen, welche 
noch bleiben, find in fehr verfchiebenen Stimmungen. 
Johann Jakoby, nah dem Du fragft, iſt auch 
noch in Berlin. Er nimmt die Worgänge fo 
ruhig und gefaßt, wie er ed immer ifl. 

Erinnere Dich, daß er einmal X... in uns 
ferer Gegenwart durch ein eben eingetreteneß, 
ihm ſchmerzliches Greigniß ganz außer ſich ge 
bracht ſah. Damals fagte er mit feiner fanften, 
ruhigen Stimme: »Lieber Freund! in unferm 
Alter muß man nicht mehr verzweifeln. Go 
verzweifelt er auch jetzt nicht. 

Als er am elften November zur gewohnten 
Stunde zu mir fam, fragte ich: »Nun, Jakoby! 
hatten Sie das erwartet?« — ⸗Erwartet nicht 
gerade, aber ich hatte es für moͤglich gehalten 


voraudfagen, was geſchehen muß, 
ift unberechenbar. Für den Aug 
wir in die Provinzen nah Haufe 
wahr, man wird die Mühe habeı 
der Arbeit von vorn zu beginnen, 
doch nicht mehr fo ſchwer als fruͤh 
iſt urbar gemacht, das iſt ſchon v 
Sie glauben an den Sieg der De 
»Zuverläffiger als je. Ich fagte | 
lich, daß der Abfolutismus für fie 
„Aber werden wir bdiefen Sieg 
Jakoby fah mich lächelnd an. »W 
ungeduldig werden? Das ift eine 
man fich abgemöhnen muß, wenn 
auf die Weltereigniffe richtet.« 
er eine Weile, und hub darauf 





337 


deffen, mad und Wahrheit ift. Jedes Volt macht 
feine lange Wüftenfahrt aus dem Bereich ber 
Sklaverei in die Segnungen des gelobten Landes. 
Und wenn wir Alle den Zag der Ankunft nicht 
erleben — was thut's? — Wir Alle haben wie 
Mofes dad gelobte Land gefehen in geiftigem 
Schauen, in feflem Glauben; wir Alle wiflen, 
daß es eriflirt, wir wiffen, daß man es erreis 
chen wird, und wollen geduldig die Wüftenfahrt 
mitmaden, ohne an und felbft zu denten.« 

Dru weißt, wie wenig wortreich er im Gans 
zen ift, wie felten er auf folhe Erörterungen 
eingeht: Um fo tiefer erfchütterte ed mid. Er 
hatte etwas Seherifches in dem Augenblicke. Seine 
Geftalt kam mir größer vor, fein hellblaues Auge 
noch leuchtender und durcdringender als gemöhns 
li, der Ausdrud von Klarheit, Milde und Güte, 
welcher ihm immer eigen ift, war wo möglid) 
noch gefteigert. Sein Glaube hatte etwas fo 
Ueberzeugended, fo Begeifterte® — ich finde fein 


Erinnerungen a. d. Jahre 1848. II. 22 


Wärme in feiner Stimme 9 
Ausſpruch ein, den er vor Jah 
mich that. 

Es war die Rede davon, 
ihn einen Falten Verſtandes: 
einen Fanatiker oder gar .e 
nennen, und ic fpottete u 
ſpruͤche. Jakoby aber meinte, 
doch Alle Recht haben. »Die ı 
deseinficht, welche bis zur voll 
ben ift,« fagte er, »führt im 
und Wärme mit fih. Man ı 
aus Neflerion. Wenn Menfcheı 
weldye ihnen in der Xheorie ı 
der Praxis keine Wärme haben, 
daß ihnen die Idee doch nicht 


st. Nam wmahoa Wahaweranauıma 





339 


auch im Handeln mit ganzer Hingebung und 
Selbftverläugnung zu folgen?« 

Nie, in keinem Verhaͤltniß habe ich ihn jemals 
gereizt gefehen, nie ein hartes Urtheil von ihm 
gehört. So auch jekt niht. Wo Andere mit 
Erbitterung, mit Beratung und Zorn tadeln, 
bat er nur ein lächelntes Bedauern. Gr fieht 
auf alle Reactiondverfuche mit der geduldigen Zus 
verficht herab, mit der ein Verfländiger dad uns 
bandige Zoben eines Kindes betrachtet, von dem 
er weiß, daß ed enden muß, wenn die Kraft 
dazu erfchöpft ifl. ALS ihm neulich Jemand dars 
auf aufmerkfam machte, daß er ein flebender Ars 
titel in den Spalten der Kreuzzeitung fei, daß 
jene Zeitung behaupte, er ftehe in ruſſiſchem 
Solde, er empfange ruffifhe Beſtechungen durch 
ein Königsberger Handlungshaus, und daß er 
fih doch wenigftend dagegen vertheidigen follte, 
antwortete er: »ich will dem Redakteur der Zei⸗ 


tung anbieten, ihm mein ruſſiſches Geld für den 
2*® 


der beftverläumdete Mann des KL 
das ift denn doc auch tröftlidh.« 

Mahrfcheinli wird aud er 
Tagen abreifen, theils um fe 
Praxis in Königöberg wieder aufzı 
bisher von feinen Freunden vertrei 
um dort zu wirken und zu fchaffı 
fagt, das eigentliche Feld feiner X: 
der Deputirten, die auch für Frc 
waren, wollen nad Frankfurt g« 
den nädften Wahlen wird es ab 
man fie bier in Berlin wiebderfehen 

Die Stadt ift volllommen ruh 
hört man von Hausfuchungen na 
Waffen, aber fonft geht nichts Ar 
da man fich bereitd gewöhnt hat 





341 


im Theater und auf den Promenaden wirlich das 
Civil ganz unfihtbar machen. Da Du Berlin 
feit dem Herbfte nicht gefehen haft, wuͤrdeſt Du 
ed fehr verändert finden. Der Nebel der Zah: 
reözeit fcheint trüber als gewöhnlich darüber aus⸗ 
gebreitet zu fein, aber man muß denken, daß 
ed nicht ewig Winter bleibt, und daß Frühling 
und Sonnenfchein ja wieberkehren. | 


»4. 


Sy 


K.. pflegte zu behaupten, die 
vefter = Abends fei ein kindiſchet 
nicht nur jene Feier, welche mit € 
und Maskenzuͤgen dad glüdlih 
begeht, fondern auch jene, die in 
den Weg zu überfhauen und de 
VBollbringen des abgelaufenen Ze 
denken liebt. Es gehe an jedem? 
ein Jahr zu Ende. Aber er hat 





343 


mung, in fich felbft einzukehren und feine Arbeit, 
fein eigened Werden zu betradhten, um ſich der 
Exiſtenz, die fo ſchwirrend fchnell dahinſauſt, an⸗ 
ders als in dem fluͤchtigen Genuß eines Augen⸗ 
blickes, in einer verſchwimmenden Erinnerung oder 
in einem unbeſtimmten Hoffen bewußt zu werden. 
Nur was wir bewußt als Gelebtes in uns be⸗ 
ſitzen, das haben wir gelebt. Darum liebe ich 
Gedaͤchtnißtage jeder Art. Sie find Hoͤhenpunkte, 
Grenzſcheiden, auf denen man anhalten und die 
Welt betrachten ſoll, ſo weit ſie unſerm Auge 
erreichbar iſt. Der Blick wird richtiger dadurch. 
Man ſieht den einzelnen Felsblock, der uns den 
Weg verſperrte, den wilden Strom, der uns ein 
Hinderniß ward, als Nothwendigkeiten in der 
Landſchaft. Die Huͤtte, in der wir raſteten, der 
Baum, den wir gepflanzt, fie erſcheinen uns nicht 
mehr als weientlihe Hauptſachen, und wir ſelbſt 
empfinden, daß wir nicht der Mittelpunkt, fon« 
dern ein Atom find in der Schöpfung. 


den Strömen von Blut, deren ©: 
auffprießende Freiheitöfaat noch l 
tilgt hat. 

Wohl dem, der nit Schuld 
den dieſes Jahres, der ſich nicht fa 
ich auf die Zeichen der Zeit geachte 
den fordernden Bitten ded Volke 
nicht zurüdgewiefen, mid) nicht taı 
gen unabmeislihe Forderungen, 
Unglüd verhüten, den Ausbruch 
verhindern können, die zu enden, 
jest in feines Menfhen Macht mı 
möchte feiner der Fuͤrſten, Feiner 
und Staatdmänner fein in diefer © 
fih einbildeten, dad Rad der Zeit 
fönnen mit ihrem Arme, mit der 





345 


feit langer Zeit voraußfehen, wenn er überhaupt 
nur fehen wollte. 

Es find nun fünf Jahre her, da fchrieb ich 
in einer Novelle: »Weil man zu engherzig ift, 
den Armen auf der Erde zufrieden zu ftellen, ver 
weifet man ihn auf den Himmel, wo die Huld 
eines Gottes ihm das Gluͤck gewähren fol, das 
man ihm weigert. Und felbft dies Glüd wird 
ihm nur für den Fall verfündet, wenn er den 
ungeheuren Muth gehabt hat, all den Berfuchuns 
gen zu wiberftehen, welche unfere elenden Ein- 
richtungen über ihn brachten. Man läßt ihn im 
Elende, man fhüßt ihn nicht vor Verzweiflung, 
man thut Nichts, ihn vor Verbrechen zu bewahs 
ren, und iſt frech genug, zu fagen, der Gott, auf 
den man ihn vertröftet, werde eben fo unerbitts 
ih, eben fo kurzfictig fein, als irbifche Juſtiz 

Damals fanden viele meiner Bekannten dies 
fen Ausſpruch »ertravagant!« — Die Welt fei 
nicht fo ſchlimm, ich fähe zu fhwarz. Die Ber: 


der niedern Stände gegen die höh 
Als ob hungernde Männer und We 
landes, welche auf den Straßen &ı 
für die Papierfabrifanten, genealo 
mit Goldfchnitt und Stahlſtichbild 
ob ihr zitterndes Gebein, als ob 
ihrer hungernden Kinder, ihnen ı 
und deutlicher zuriefen, was id 
Endlih gab dad Obercenfurkollegii 
nen des Buches frei, und Herr 
damalige Worfigende, erklärte , 
Paſſus fei zwar ungeſetzlich, aber 
ihn gefchrieben habe , folle man i 
rügen und den Kalender frei geber 
Daran habe ich oft gedacht, 
Jahre fpäter der Berliner Kartof 





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mit Flintenfugeln fill gemacht wurben, weil man 
fie mit Verfprechungen nicht mehr beſchwichtigen 
konnte. Daran babe ich gedacht, als im uni 
der Kampf in den Straßen von Paris mwüthete, 
und daran denke ih, wenn bie Befigenden , die 
„ſtaatsmaͤnniſch Gebildeten⸗, d. h. die Durch den 
Egoismus hieb⸗ und flichfeft gemachten, mir far 
gen: »boffen Sie denn immer noch auf die ſocia⸗ 
liſtiſchen Utopien? wollen Sie noch immer eine 
gluͤckliche Menſchheit fehen? glauben Sie noch 
immer, daß eine Gefellfhaft ohne Roth und Elend 
beftehen Pönne?« ' 

Ich babe dann nur die eine Antwort: »ich 
glaube e8 — und müßte ed aus Egoismus glau⸗ 
ben, wenn ich's nicht aus Liebe thäte« — 

Die Heiden opferten im Gluͤcke den Böttern, 
um ihren Neid zu verföhnen. Wir müflen Op⸗ 
fer bringen, um die Roth der Darbenden zu 
fühnen, denn diefe Roth wird fich noch flärker 
gegen und wenden, als es ſchon geſchehen if, 


len follen. 

Sch fehe manchmal im Geifl 
brechen einer Kataftrophe vor Au, 
fo graufenerregend, daß ich mi 
möchte vor die Machthabenden u 
ten »rettet! lenkt ein! gewährt, 
nicht ewig werbet weigern koͤnnen 
Erdengötter fein, denn Ihr feid n 
nicht allweife, fein Einzelwefen 
den gleichberechtigten, dentenden 9 
über. Begnuͤgt Euch, Vollſtreck 
willen® zu fein, um Eures, um uı 
willen! Es ift ein Großes, be 
Millionen darzuftelen, der Ausb: 
fammtlebend, die Verkoͤrperung d 
fein!« 





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travagant · nennen, und ihn allenfalls verzeihen, 
weil ein Weib ihn ausgeſtoßen hat. Und doch 
bat ſich jene frühere Vorausſicht nur ſchon zu 
fehr erfüllt, die ich ausgeſprochen in einer Zeit, 
in ber ich wenig mehr von der Welt wußte, als 
was ih in meinem Vaterhauſe und aus den 
Fenſtern deffelben gefeben hatte. Und jekt in 
dieſer Stunde frage ich mich: »was werben die 
nächften Jahre uns bringen?« — Aber ich ſchau⸗ 
dere die Antwort zu hören, welche mein Bewußt⸗ 
fein mir giebt — ich zittre vor der Wüftenfahrt, 
fo fehr ich auch glaube an das gelobte Land der 
Freiheit und einer glüdlicheren Zukunft.