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Zeitſchrift für Literaturgeſchichte
Begründet von Auguſt Sauer
Herausgegeben von
Joſef Nadler, Auguſt Sauer f, Georg Stefansky
Achtundzwanzigſter Band
STUTTGART 1927
Druck der J. B. Metzlerſchen Buchdruckerei, Stuttgart.
Inhalt.
Seite
Auguſt Sauer T. Von Georg Stefansgk y VE 1
Abhanblungen und nene Mitteilungen.
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung. Von Richard Hönigswald 9
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung im Zuſammenhang der deutſchen Literatur des
18. Jahrhunderts. Vortrag. Von Georg Ste fanskhyyhh 21
Schiller und Herder. Von Aurel Wolfram J. J
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt. Von Rudo lf p rei 6 we er . 4
Der Stil E. T. A. Hoffmanns. Von Hans Dahmen . 706
Jakob Burckhardt und das Dichteriſche. Von Walther Rm 88
Die ſlowakiſche Spaltung. Von Karl Meznik 107
Über die Philoſophie Spinozas. Aus Anlaß feines 250. Tobcatagn. 2 Von Oskar Kraus: 161
I. Iſt Spinoza ein Myſtiker . . . . . 161
II. Die „essentia“ des Spinozismuan ss 164
III. Spinozas . , e
IV. Hauptmängel . e e e e e
V. Vorzüge SEE Var CE Ta EEE IE ER
Literaturwiſſenſchaft und neue Pfpchologie. Von Friedrich Kainz 172. Vgl. 336
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur von den Anfängen bis Andreas
Gryphius. Von Wilhelm Koch:
J. Das Pindarbild der Reformation ar ee re 19
II. Die Tradition der deutſchen Pindariſchen Ode „ Nas, a ZOO
III. Die deutſche Pindariſche Barock⸗Ode 203
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater. Ein Beitrag sie Gehalt 10 ne Form
feiner Dichtung und feines Lebens. Von Paul Böckmann . 218
Strindbergs Weg nach Damaskus. Von Wilhelm Hans „ 1 27
Beethoven und Grillparzer. Die Grundlinien ihrer N aich. Von
Alfred Orell 5 „ A an 213
Beethovens geſchichtliche Stellung. Von Ka er Ref . 286
Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. ne 19. Ja
derts II. (Vgl. Bd. XXVII, S. 321 ff.)
1. Briefe Nicolais an Gerſtenberg. Mitgeteilt von Max Kir ſchſtein . 337
2. Ungedruckte Wieland⸗Briefe. Mitgeteilt von Werner Deetjen. . . 348
3. Neues aus dem Caroline⸗Kreis. a von Waldemar v. Olshauſen 350
. Karl Viétoer . . e ee ee. 100]
IV Inhalt
4. Frau von Krüdener und Achim von Arnim. Mitgeteilt von Roſe Burger
5. Ein Brief Adam H. Müllers an Johannes von Müller. Mitgeteilt von
Paul Requadt 8
6. Ein Brief Thereſe Hubers an Deen Mitgeteilt von Philipp Strauch
7. Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin über ſeine italieniſche Reiſe:
Siena und Rom. Mitgeteilt von Walther Schulz
8. Die Anfänge des Briefwechſels zwiſchen 5 Fontane und Paul ee
Mitgeteilt von Erich Petzet. 8
9%. Ein unbekannter Brief Gutzkows. Mitgeteilt von Alf re 5 S 00 n 9885 r
10. Briefe von und an Gottfried Keller. Aus Hermann . Nachlaß. Mit-
geteilt von Ern ſt Glaſer⸗Gerhard
11. Unbekannte Briefe Richard Dehmels. Mitgeteilt von Helmut Henrichs
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie. Methodologiſch⸗kritiſche Betrachtungen. Von
Oskar Kraus:
I. Beſchreibende und erklärende Pſychologie. Dilthey und Brentano
II. Sprangers F ee Die Teleologie des ob-
jektiven Geiftes . a ia aa via ee ne
III. Das Wertproblem . . .
IV. Die Perſönlichkeit. Verſtehen ins Erklären
V. Die Methode der Geiſteswiſſenſchaften
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts. Von Auguſt F. re i enius +
Das literariſche Publikum der ſechziger Jahre des 18. e in Deuiofan
Von Walther Rumpf oo: .
Schubart im Exorziſtenſtreit. Von Konrad 6 la 4 er.
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“. Von Karl Schu 11 6 e⸗ 3 a a 5 e.
Das Knaben-Jungfrauen-Rätfel
„Drei find es, welche zeugen“
Das Zauberwort
Zur Geſtalt Satans im Vorſpiel
Zu Gottes und Satans Stammbaum, Nachspiel 3305 ff.
Zur Kompoſition a re
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Jorſchungsberichte und Kleine Anzeigen.
Amerikaniſche Literatur, Zur (Edwin H. Zeydel):
1. Weber, America in Imaginative German Literature ufw. .
2. Fiſcher, Amerikaniſche Proſa .. . (1863/1922)
Arnim A. v., ſ. Bibliographie.
Auerbach, Zur Technik der ö in Italien und Frankreich
(Joſef Wihan) 8
Balladenbuch, Niederdeutſches. Hrsg. von June u. Schräpel (Wilb. Seeland
ir: hungen um Johann Paul Richter N
Berend, Briefe J. Pauls
Harich, J. Paul 3
3. Alt, J. Paul
4. Meier, J. Paul . a e e ce
5. Burſchell, J. Pauiuu““nnUnnnn
Inhalt | . *
Bibliographie, Zur Methode der (Haus von Müller). . . 313
1. Mallon, Arnim -⸗Bibliographie.
2. Mallon, Brentano⸗ Bibliographie.
Bibliotheken, ſ. Kraſnopolski; Sensburg.
Bolte, Eine ungedruckte Poetik Kaſpar Stielers (R. Murtfeldz .. 627
Brenner ⸗Kron, ſ. Burckhardt.
Brentano, |. Bibliographie.
Brindmans, John, Plattdeutſche Werke. 1. Bd. (Wilh. Seelmann ) . 627
Brinkmann, Entſtehungsgeſchichte des . (Helmut Wode) . . . 621
Burckhardt, Jak., Briefwechſel mit... Emma Brenner⸗Kron. Hrsg. von 5 K.
E. Hoffmann (Erich Petzee7ꝰn . . 143
Burckhardt, Jak., Gedichte. Hrsg. von K. E. Hoffmann (Erich Petet) . . . 14
Dickens, ſ. Doernenburg.
Doernenburg und Fehſe, Raabe und Dickens (Joſef Wihan . . 140
Droſte⸗Hülshoff A. v., ſ. Schulte⸗Kemminghauſen.
Ehrismann, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters.
2. Teil: Die mhd. Literatur. II, 1 (Wolfgang Soltbr). -. - 2 22.617
Fehſe, Wilh. Raabes Erwachen zum Dichter (Joſef Wihan d 142
Goethe, |. Hebbel ⸗Literatur 1.
Hebbel Literatur (Willy Jokiſch):
1. Sommerfeld, Hebbel und Goethe 296
2. Pfann müller, Die Religion F. mn Be a nee ee SO
3. Schnyder, Hebbel und Rötſcher ..... J0o2. Vgl. 640
Herder, ſ. Marckwardt; Stavenhagen.
Jean Paul, ſ. Bemühungen.
Koeber Raphael, Kleine Schriften (Richard v. Schaukal; . . . 145
Kraſnopolski, Geiſtliche Bibliotheken in Böhmen und Mähren (Jbachim Shan 148
Ludwig Otto, ſ. Mis.
Marckwardt, Herders kritiſche Wälder (Kurt May) - -» ũ ł hw. E. 1:29
Minneſang, ſ. Brinkmann.
Mis, Les oeuvres dramatiques d' Otto Ludwig de 1853 à 1865 (R. F. Arnold) 137
Mittelhochdeutſche Literatur, ſ. Ehrismann.
Muſikgeſchichte, Zur: Moſer, Geſchichte der en Muſik. 1. Bd. 4. Aufl.
(Hermann von der Pfordten) . . 322
plenzat, Die Theophiluslegende in den Done des Mittelalters Bogen
Golther) 8 624
Raabe W., ſ. Docineihueg: Fehse.
Richter J. P. F., ſ. Bemühungen.
Rötſcher, ſ. Hebbel-Titeratur 3.
Schriften, Neue, zur deutſchen Volkskunde (Adolf N
1. Reuſchel, Deutſche Volkskunde im Grundriss . . 04
2. Naumann, Grundzüge der deutſchen Volks kunden J08
3. Jahrbuch für hiſtoriſche Volkskunde. Hrsg. v. Fraenger. 1. Bd. . 311
Schröter, Walabfrieds deutſche Rn zu den nee Büchern uſw.
(Bruno Schier) u 20.616
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Zeitſchrift für Literaturgeſchichte
Begründet von Auguſt Sauer
Herausgegeben von
Joſef Nadler, Auguſt Sauer f, Georg Stefansky
Achtundzwanzigſter Band
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STUTTGART 1927
Druck der J. B. Metzlerſchen Buchdruckerei, Stuttgart.
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Inhalt.
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Auguſt Sauer T. Von Georg Stefans2yyyyyh 1
Abhanblungen und nene Mitteilungen.
über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung. Von Richard Hönigswald 9
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung im Zuſammenhang der deutſchen Literatur des
18. Jahrhunderts. Vortrag. Von Georg Stefansfn . . 21
Schiller und Herder. Von Aurel Wolfram 35
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt. Von Ru do f Dr rei 8 we k . 54
Der Stil E. T. A. Hoffmanns. Von Hans Dahmen . er HE
Jakob Burckhardt und das Dichteriſche. Von Walther Rehm 8
Die ſlowakiſche Spaltung. Von Karl Meznik 107
über die Philoſophie Spinozas. Aus Anlaß feines 250. debug 2 Von Oskar Kraus: 161
I. Iſt Spinoza ein Myſtikertr᷑- n: „ ER 3
II. Die „essentia“ des Spinozismuun ns 164
III. Spinozas . „ ee ee. 108
IV. Hauptmängel ee ee e
V. Vorzüge „ u u Go er EEE |
Literaturwiſſenſchaft und neue Pfpchologie. Von Friedrich Kain; 172. Vgl. 336
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur von den Anfängen bis Andreas
Gryphius. Von Wilhelm Koch:
I. Das Pindarbild der Reformation E „„ NS
II. Die Tradition der deutſchen Pindariſchen Ode ee. 200
III. Die deutſche Pindariſche Barod-Ode . . . . 203
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater. Ein Beitrag in Gebalt u zur Rothe
feiner Dichtung und feines Lebens. Von Paul Böckmann. . 218
Strindbergs Weg nach Damaskus. Von Wilhelm Hans 253
Beethoven und Grillparzer. Die Grundlinien ihrer ne Derehungen. Von
Alfred Orell 5 5 273
Beethovens geſchichtliche Stellung. Von Ka et Ref er 286
Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. RN 19. Jae
derts II. (Vgl. Bd. XXVII, S. 321 ff.)
1. Briefe Nicolais an Gerſtenberg. Mitgeteilt von Max Kir ſchſtein . 337
2. Ungedruckte Wieland⸗Briefe. Mitgeteilt von Werner Deetjen. . . 348
3. Neues aus dem Caroline⸗Kreis. Mitgeteilt von Waldemar v. Olshauſen 350
[Dazu: Karl Viktor . eee 640]
IV Inhalt
4. Frau von Krüdener und Achim von Arnim. Mitgeteilt von Roſe Burger
5. Ein Brief Adam H. Müllers an Johannes von Müller. Mitgeteilt von
Paul Requadt i
6. Ein Brief Thereſe Hubers an n Docen. Mitgeteilt von Philipp Strauch
7. Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin über ſeine italieniſche Reiſe:
Siena und Rom. Mitgeteilt von Walther Schul;
8. Die Anfänge des Briefwechſels zwiſchen . Fontane und Paul Heyſe.
Mitgeteilt von Erich Petzet.
9. Ein unbekannter Brief Gutzkows. Mitgeteilt von Alf 99 5 S 0 n einer
10. Briefe von und an Gottfried Keller. Aus Hermann l Nachlaß. Mit-
geteilt von Ern ſt Glaſer⸗Gerhard
11. Unbekannte Briefe Richard Dehmels. Mitgeteilt von See Henrichs
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie. Methodologiſch⸗kritiſche Betrachtungen. Von
Oskar Kraus:
I. Beſchreibende und erklärende Pſychologie. Dilthey und Brentano ;
II. Sprangers F n Die Teleologie des ob⸗
jektiven Geiſtes Dee re A ae a Be ee
III. Das Wertproblem er
IV. Die Perſönlichkeit. Verſtehen a Erklären
V. Die Methode der Geiſteswiſſenſchaften
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts. Von Auguſt Fre i enius + j
Das literariſche Publikum der ſechziger Jahre des 18. . in e
Von Walther Rumpf .
Schubart im Erorziftenfireit. Von Konra 5 6 la e er.
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“. Von Karl Schu 1 0 e 3 a 2 N e.
.Das Knaben⸗Jungfrauen⸗Rätſel
„Drei find es, welche zeugen“
.Das Zauberwort
Zur Geſtalt Satans im Vorſpiel
Zu Gottes und Satans Stammbaum, Dosi 3305 ff.
Zur Kompoſition . 5 2
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Jorſchungsberichte und Kleine Anzeigen.
Amerikaniſche Literatur, Zur (Edwin H. Zeydel):
1. Weber, America in Imaginative German Literature ufw. .
2. Fiſcher, Amerikaniſche Proſa . . (1863/1922)
Arnim A. v., ſ. Bibliographie.
Auerbach, Zur Technik der r in Italien und Frankreich
(Joſef Wihan)
Balladenbuch, Niederdeutſches. Bess von Sasse u. Schräpel (Wilh. Seelen
Bemühungen um Johann Paul Richter a a
Berend, Briefe J. Pauls
. Harich, J. Paul
. Alt, J. Paul
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362
365
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370
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610
317
320
146
627
133
133
134
135
136
Inhalt
Bibliographie, Zur Methode der (Hans von Müller)
1. Mallon, Arnim⸗Bibliographie.
2. Mallon, Brentano⸗Bibliographie.
Bibliotheken, |. Kraſnopolski; Sensburg.
Bolte, Eine ungedrudte Poetik Kaſpar Stielers (R. Murtfeld) .
Brenner⸗Kron, ſ. Burckhardt.
Brentano, ſ. Bibliographie.
Brinckmans, John, Plattdeutſche Werke. 1. Bd. (Wilh. Seelmann)
Brinkmann, Entſtehungsgeſchichte des 5 (Helmut Wocke)
Burckhardt, Jak., Briefwechſel mit.. Emma Brenner⸗Kron. Hrsg. von N K.
E. ef (Erich Petzet) 8 5 A
Burckhardt, Jak., Gedichte. Hrsg. von K. E. Hoffmann (Erich Petz)
Dickens, ſ. Doernenburg.
Doernenburg und Fehſe, Raabe und Dickens (Joſef Wihan) .
Droſte⸗Hülshoff A. v., ſ. Schulte⸗Kemminghauſen.
Ehrismann, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters.
2. Teil: Die mhd. Literatur. II, 1 (Wolfgang Golther) . e die Pe
Fehſe, Wilh. Raabes Erwachen zum Dichter (Joſef Wihan )
Goethe, ſ. Hebbel⸗Literatur 1.
Hebbel Literatur (Willy Jokiſch):
1. Sommerfeld, Hebbel und Goethe
2. Pfannmüller, Die Religion F. a
3. Schnyder, Hebbel und Rötſcher ..... . 302. Vgl.
Herder, ſ. Marckwardt; Stavenhagen.
Jean Paul, ſ. Bemühungen.
Koeber Raphael, Kleine Schriften (Richard v. Schaufal) .
Kraſno polski, Geiſtliche Bibliotheken in Böhmen und Mähren (Ibachim Kirchner)
Ludwig Otto, ſ. Mis.
Marckwardt, Herders kritiſche Wälder (Kurt May)
Minneſang, ſ. Brinkmann.
Mis, Les oeuvres dramatiques d’Otto Ludwig de 1853 à 1865 (R. F. Arnold)
Mittelhochdeutſche Literatur, ſ. Ehrismann.
Muſikgeſchichte, Zur: Moſer, Geſchichte der deutſchen Muſik. 1. Bd. 4. Aufl.
(Hermann von der Pfordten)
Plenzat, Die Theophiluslegende in den Doge des Mittelalters Bogon
Golther) a *
Raabe W., ſ. Heeren Fehse.
Richter J. p. F., ſ. Bemühungen.
Rötſcher, |. Hebbel ⸗Literatur 3.
. Neue, zur deutſchen Volkskunde (Adolf N
. Reuſchel, Deutſche Volkskunde im Grundriß 5
3 Naumann, Grundzüge der deutſchen Volkskunde ee
3. Jahrbuch für hiſtoriſche Volkskunde. Hrsg. v. Fraenger. 1. Bd.
Schröter, Walahfrieds . W zu den nn . uſw.
(Bruno Schier) 8
313
625
311
616
VI Inhalt
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Schulte⸗Kemminghauſen, Die Judenbuche von Ann. v. en
(Rudolf Wartu) . . ; 138
Sensburg, Die bayeriſchen Bibliotheken (Joachim Kirchner). 222.2. 147
Stavenhagen, Herder in Riga (Kurt May 139
Stieler Kaſp., ſ. Bolte.
Theophiluslegende, ſ. Plenzat.
Volkskunde, Deutſche, ſ. Schriften.
Walahfried, ſ. Schröter.
Einlauf. 149. 324. 485. 630
Nachrichten ö·ꝗ C —7ĩ˙* . IJ35. 496. 640
Franz Munter + (Adolf v. Grolman). „ e ne a ee te a ae 335
Berichtigungen 5640
Namen- und Sachverzeichnis 641
Auguſt Sauer f.
Von Georg Stefansky in Prag.
Leid und Trauer ſtehen diesmal am Anfang unſeres neuen Jahrgangs. Wenn
ein Menſch, der voll Liebe und Eifer zu ſeiner Sache war, von uns ſcheidet, dann
wiſſen wir, daß ſein Platz, auf dem er wirkend geſtanden hat, leer bleiben wird:
denn nur durch ſich ſelbſt ſpricht der individuelle Geiſt. Wenn aber der Eifer
eines Menſchen über die perſönliche Sache, auch über das allgemeine Ziel von
Denken und Wiſſen, dem unmittelbaren Leben, der tätigen Liebe zu Volk und
Volkstum zugewendet war, dann bricht mit ihm ein Stück von uns, von der Zu⸗
kunft unſerer Nation ab, denn den Weg, den er geöffnet hat, wird niemand ganz
in ſeiner Weiſe führen können. Der Verzicht, die tiefſte Empfindung und Er⸗
kenntnis unſeres Daſeins, wird zur dauernden und verehrungsvollen Erinne⸗
rung an ihn: „Sein Grab iſt unſer Herz.“
Das Grab, dem unſere Erinnerung hier gilt, deckt Aug u ſt Sauer. Er ſtarb
71 Jahre alt am 17. September 1926 in Prag. Mit 71 Jahren pflegt die Arbeit,
der wir uns verpflichtet haben, fertig zu ſein. Die Jugendſtarken aber, denen
wir ſeit den Fragmentiſten der Romantik immer wieder begegnen, erſchöpfen
ſich in ihrer Arbeit und in ihren Plänen nicht. Auch das Lebenswerk Auguſt
Sauers iſt in vielen Teilen unvollendet geblieben. Das iſt wie ein tieferer Sinn
in dem Leben dieſes ſtarken Menſchen, der nie müde geworden iſt an gelehrten
Entwürfen, organiſatoriſchen Plänen und politiſchen Unternehmungen: für
den ſittlichen Charakter ſteht das Leben immer als eine Aufgabe da.
Und Auguſt Sauer hat ſeine Aufgabe ernſt, tiefernſt genommen. An ſeinem
Grabe, da wir Abſchied von ihm nahmen, fiel das Wort des Pſalmiſten: der
Eifer für das Haus des Herrn hat ihn verzehrt. Für ſeine Wiſſenſchaft war ihm
kein Opfer zu groß, für ſeine wiſſenſchaftliche Überzeugung kein Kampf zu ſchwer.
Alle Widerſtände und Enttäuſchungen glühte er mit dem Feuer ſeiner Begeiſte⸗
rung nieder, überwand er mit ſeiner ſtählernen Ausdauer. Und an manchem
Meilenzeiger ſeines Lebens hat er hartnäckige Widerſtände und bittere Ent⸗
täuſchungen überwinden müſſen.
Begeiſterung und Ausdauer waren die geſunde Kraft in feinem Blute. Viel⸗
leicht ſchlug ſich darin die glückliche Miſchung nieder, die ihm als Erbtum zweier
Stämme eingepflanzt war. Aus Oſterreich, aus dem Oſtbaieriſchen dem Stamme
nach, hatte er ſich die Begeiſterung für das Wahre und Schöne geholt, die friſche
Heiterkeit ſeines Weſens. Weiter zurück in der Generation war ihm ſudeten⸗
deutſches Blut zugeſtrömt, und damit das harte und zähe Verweilen bei ſeiner
Pflicht. Die Geſchichte iſt reicher an Symbolen, als man denkt; auch hier. Das
muſikdurchzauberte Wien von 1815 führte die Großeltern Sauers aus der Ferne
&uphorion XXVIII. 1
2 Georg Stefansky
ihrer Heimat zuſammen: der ernſte, nicht ganz praktiſche, in der äußeren Lebens⸗
führung unſichere Nordböhme freit eine junge energiſche Wienerin, die Tochter
des Mundkochs beim Grafen Harrach, Caroline Maria Anna Stocklaſſa. Das
erſte Kind dieſer Ehe iſt Carl Joſeph Sauer, der Vater des Gelehrten. Der
Lebensgang Carl Joſeph Sauers mutet wie eine liebenswürdige, einfache alt=
wiener Novelle an, voll reiner Empfindung, bisweilen ſentimental, immer klar
und gut. Sauers Vater iſt nicht ohne künſtleriſche Intereſſen: ſie überſteigen
nirgends die allgemeine Freude des Wieners am Theater, an der Geſelligkeit, an
der Natur. Er hat in ſeinem kaufmänniſchen Beruf in jüngeren Jahren auch
Reiſen gemacht, ſich dabei fremde Sprachen angeeignet, Erfahrungen geſammelt.
Im Handels⸗Comptoir bei feinem Oheim, fpäter im Dienſte bei feinen Vettern,
findet er ein beſcheidenes Auskommen. Früh verwitwet heiratet Carl Joſeph
Sauer in zweiter Ehe die Wienerin Joſepha Höpfinger, die ihm Glück und Liebe
in ſeine äußeren Sorgen zaubert. Als zweites Kind dieſer Ehe, am 12. Oktober
1855, wurde Auguſt Sauer geboren.
Den erſten Unterricht erhielt der Knabe in der öffentlichen Privat⸗Hauptſchule
in Mariahilf unter Direktor Speneder, ſpäter in der Volksſchule zu St. Anna.
1865 kam er ins Schottengymnaſium, das er bis zu ſeiner Reifeprüfung im
Jahre 1873 beſuchte. Früh brach hier feine literariſche Neigung durch. Ein ver—
ſtändnisvoller Lehrer, P. Hugo Mareta, erkannte die Begabung des Schülers
und brachte ſie auf den rechten Weg. P. Mareta machte als erſter den Gym⸗
naſiaſten mit der mittelhochdeutſchen Literatur und Sprache bekannt, hielt ihn,
der ſpäter einer unſerer beſten akademiſchen Redner werden ſollte, zu den erſten
Redeübungen an, lenkte die Aufmerkſamkeit des Schülers auf den Dialekt,
— und es iſt bezeichnend, daß ein anderer Schüler Maretas, Joſef Seemüller,
von dieſen erſten Anregungen aus zu feinem Plan eines baieriſch-öſterreichiſchen
Wörterbuchs gelangte, — Mareta wars endlich, der Sauer auf die heimiſche, auf
die öſterreichiſche Literatur und auf Grillparzer hinwies. In Treue, in der er
unerſchöpflich war, blieb Sauer ſeinem Lehrer ein Leben lang dankbar. Noch
bei der Feier ſeines ſiebzigſten Geburtstages im Wiener Rathaus, da ihm für
ſeine Verdienſte um das öſterreichiſche Schrifttum der Ehrenring der Stadt Wien
überreicht wurde, gedachte Sauer feines älteſten Lehrers und Freundes. Maretas
Anregungen fanden in dem Verkehr der Schüler untereinander fruchtbare Erwei—
terung. Drei Kameraden ſaßen damals auf einer Schulbank im Scottens
gymnaſium, deren Namen in der Geſchichte der Germaniſtik dauernde Bedeutung
gewinnen ſollten: Auguſt Sauer, Jakob Minor, Joſef Seemüller; Minor ſchon
damals feine Banknachbarn durch ſicheres Selbſtbewußtſein überragend, zu⸗
weilen beherrſchend. Damals mag Sauer auch den Grund zu ſeiner umfaſſenden
Beleſenheit gelegt haben: in feinem Leſehunger, einer wahrhaft hamanniſchen
oEunevia, hat er die Wiener Leihbibliotheken leergeleſen, fein durch Privat⸗
ſtunden mühſam verdientes Taſchengeld oft für irgendeinen Bücherkauf ver—
wendet. Manchmal noch in ſeinen letzten Lebensjahren holte er, wenn er einem
Beſucher die reichen Schätze feiner eigenen großen Bücherei zeigte, ein vergilbtes
Reclam⸗ Büchlein aus der Reihe hervor, das er in feiner Gymnaſiaſtenzeit erwor⸗
Auguſt Sauer 7 3
ben hatte. Das Büchlein trug fein ſäuberlich eine Nummer und den Namen des
Beſitzers, denn der Sammler und Ordner war in Sauer früh wachgeworden.
Nach Ablegung ſeiner Reifeprüfung ſollte Sauer auf Wunſch ſeiner Eltern
Jus ſtudieren. Seine entſchiedene Neigung aber führte ihn zur Philoſophie. Er
wollte urſprünglich Hiſtoriker werden und inſkribierte im erſten Semeſter Ge⸗
ſchichte bei Lorenz und Büdinger. Ein äußerer Zufall, über den er ſpäter gerne
ſcherzte, führte ihn zu ſeiner eigentümlichen Begabung, zur Germaniſtik, zurück:
ſeine erſte hiſtoriſche Seminararbeit war abgelehnt worden. Das Studium der
neueren deutſchen Literaturgeſchichte, für die gerade damals in Wien eine eigene
Lehrkanzel gegründet worden war, bot zunächſt freilich auch wenig Anregungen.
Seit 1868 wirkte in Wien Karl Tomaſchek, ein gebürtiger Mährer, der zwar
mit feinem Sinn für die Kunſt und mit reiner Begeiſterung ſeinen Beruf er—
füllte, aber im Grunde eine unproduktive Gelehrtennatur und ein unperſönlicher
Lehrer war. So wenig verſtand er ſeine Schüler, daß er Sauer, deſſen junge
Seele ſeit Maretas Antrieb ganz voll war von der Liebe zur engeren Landſchaft
und Heimat, zu einer Diſſertation über Brawe und ſpäter zur Arbeit an einer
Ausgabe Ewald v. Kleiſts veranlaßte. Stärker mochte der Eindruck ſein, den
Sauer während ſeiner Wiener Studien von Richard Heinzel empfing. Was
Tomaſchek, der übrigens ein Lehrer Heinzels vom Gymnaſium her war, an Ori⸗
ginalität der Auffaſſung fehlte, das war in Heinzel mächtig und teilte ſich den
Schülern in ſeiner eigentümlichen Lehre von der Geſchichte als Naturanſchauung
mit. Zu welchen unglaublichen Vergrößerungen allerdings der Grundgedanke
dieſer Anſicht führen konnte, erhellt aus R. M. Werners umfangreichem Buch
„Lyrik und Lyriker“, das in der unfreien Anwendung von Heinzels Lehre eine
Embryologie der lyriſchen Dichtung zu geben verſucht. Bei Sauer ging der Ein⸗
fluß Heinzels nur ins Allgemeine, die Frageſtellung als ſolche, der große innere
Gegenſatz von Geſchichte und Naturwiſſenſchaft wurde ihm durch Heinzel zum
erſtenmal ganz deutlich. In den Motiven von Sauers Wiſſenſchaftslehre iſt das
Problem wiederzufinden.
Im letzten Studienjahr iſt Auguſt Sauer Einjährig-Freiwilliger bei den
Deutſchmeiſtern in Wien. 1877 legt er ſeine Prüfungen ab und erlangt das
Doktorat. Dann führt ihn ſein Wunſch und Weg zu Wilhelm Scherer nach
Berlin. Zugleich mit Sauer verſammelte ſich damals um Scherer ein Kreis hoch-
begabter junger Menſchen, die hier erſt ihre letzte und weſentliche Ausbildung
empfangen ſollten, als nächſte Kollegen Sauers: Brandl, Freſenius, Kochen⸗
dörffer, Minor, Schroeder, Wackernell, Werner u. a. Sauer fand in Scherer
nicht nur den Lehrer, ſondern auch den Landsmann und Stammesgenoſſen. Das
Oſterreichertum, das für Sauer bisher ein Begriff, wenn auch durch die Kraft
ſeines Herzens ein lebendiger Begriff geweſen war, ging ihm hier, im preußi-
ſchen Berlin, als innere Verpflichtung auf. Und wenn er an Scherers Sprech—
tagen aus dem vollbeſetzten Wartezimmer zu Scherers Mutter, einer in Berlin
ebenſo fremd gebliebenen Wienerin, hinüberging und beide über einem öſter⸗
reichiſchen Jauſenkaffee ihr Heimweh verplauderten, da fühlte er zum erſtenmal
ganz bewußt, er könnte nur ein Deutſcher fein, indem er ganz und immer Öfter-
4 Georg Stefansky
reicher blieb. Aus Scherers Lehre aber gewann Sauer die Methode und die
Prinzipien ſeiner Wiſſenſchaft. Wie ein Bekenntnis ſtellte Sauer, als er dieſe
Zeitſchrift begründete, an die Spitze des 1. Heftes im I. Jahrgang eine Vor⸗
leſung Wilhelm Scherers über „Wiſſenſchaftliche Pflichten“. Das Wort, das
zu Sauers Leitſpruch geworden iſt, ſteht am Anfang dieſes Aufſatzes: „Die
deutſche Philologie iſt eine Tochter des nationalen Enthuſiasmus, eine beſchei⸗
dene pietätvolle Dienerin der Nation.“ Ein treuer Diener ſeiner Nation war
auch Sauer im Eifer ſeiner großen philologiſchen Leiſtungen, durch die Idee
feiner Geſchichtstheorie. Als Philologe hat er von Scherer die Denkmittel und
techniſchen Behelfe erworben, auf denen ſich die Reihe ſeiner großen kritiſchen
Ausgaben aufbaut; als Hiſtoriker hat er zwei Grundzüge von Scherers Ge⸗
ſchichtsauffaſſung zu einer neuen Sinnwendung gebracht: die Erklärung des
Genies aus den natürlichen Anlagen des Lebens, die Rückleitung des geſchicht⸗
lichen Ablaufs auf ein in ihm enthaltenes verdecktes „Geſetz“. Neben Scherer
wirkte in jenen Jahren in Berlin Müllenhoff, damals freilich ſchon mit leiſe
abſinkender Kraft. Sauers neue Erkenntniſſe erweiterten ſich durch Müllenhoff
zur geſchichtlichen Erfahrung, zur unmittelbaren Anſchauung ſelbſt: durch ihn
erhielt Sauer die erſte Anſicht von der Stammesgliederung der Deutſchen, wie
ſie in die älteſten deutſchen Sagen hineingeheimniſt iſt. Auf der Wanderung, die
Sauer kurz nach ſeinem Berliner Aufenthalt als Univerſitätslehrer durch die
Provinzen der alten Donaumonarchie antreten ſollte, behielt er die Augen offen
und beobachtete ſcharf die weſenhaft verſchiedenen, wenn auch kulturell geeinten
Teile des Deutſchtums.
Die Wende von 1878/79 führte Sauer noch einmal von ſeinen Studien ab:
in dieſe Zeit fällt der kriegeriſche Einmarſch Oſterreich⸗Ungarns nach Bosnien,
den Sauer als Reſerve⸗Leutnant im Inf.⸗Reg. Erzherzog Albrecht 44 mitmachte.
Nach ſeiner Rückkehr aus dem Felde, im Juli 1879, habilitierte er ſich in Wien.
Bereits im Herbſt 1879 iſt er Supplent an der Univerſität in Lemberg. Vier
Jahre in fremder deutſchfeindlicher Umgebung ſtärken ſeine Geſinnung, klären
fein Gefühl. Einen kleinen Kreis empfänglicher Schüler führt er in die hel=
leniſche Traumwelt Hölderlins ein und ſchon in dieſen erſten Jahren ſeiner
akademiſchen Wirkſamkeit gehen wichtige Arbeiten aus ſeiner Schule hervor,
Unterſuchungen, die vielfach noch heute nicht überholt ſind: die erſten Beweiſe
für die große pädagogiſche Kraft, die ſich in Sauer entfaltet. 1883 erhält Sauer
einen Ruf als Extra⸗Ordinarius an die Univerſität in Graz. Drei glückliche,
wenn auch äußerlich nicht immer ſorgenloſe Jahre verbringt er hier (um ſeine
eigene Schilderung zu gebrauchen), „in dieſem friedlichen und ſtillen, landſchaft⸗
lich ſo herrlichen, geſellſchaftlich ſo gemütlichen, national ſo geſchloſſenen, vom
Zauber der Poeſie umfloſſenen Erdenwinkel“. Die geiſtige Freundſchaft mit
Anton E. Schönbach, ſeinem Amtskollegen in Graz, hebt und belebt ſein eigenes
Denken. Sonnige, gefühldurchwärmte Bücher, wie ſeine „Frauenbilder“, ent⸗
ſtehen in dieſer Zeit, dann aber die ſtreng wiſſenſchaftlichen Ausgaben von
Bürger, der Stürmer und Dränger, des Göttinger Dichterhains.
Im Mai 1886 kommt er als Nachfolger Minors nach Prag. Die Erinnerung
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Auguft Sauer f 5
des Blutes iſt zunächſt erloſchen: eine neue Fremde, die er anfangs nicht vers
ſteht, eine andere Atmoſphäre, in die er ſich erſt eingewöhnen muß, umgibt ihn
jetzt. Da geht ihm aus dieſer dunkeln Einſamkeit ein leuchtendes Sternlein auf.
In der Mitte einer alten landbürtigen Familie der Stadt, im Hauſe des Alt⸗
philologen Alois Rzach findet er ein liebreizendes junges Kind, wirklich ein
Kind von vierzehn Jahren, eine kleine begabte Dichterin, die er zu ſeiner Braut,
wenige Jahre ſpäter zu feiner Frau macht. In der glückgeſegneten Ehe mit
Hedda Sauer, deren neuromantiſche Lyrik in ein paar ſchmucken Gedicht⸗ und
Novellenbänden geſammelt einen feinen Zauber birgt, findet Auguſt Sauer in
ſeine andere Heimat zurück, in die unbekannte Landſchaft, aus der, ihm rätſelvoll
genug, feine eigenen Ahnen ſich einmal losgelöſt hatten.
Was Sauer als akademiſcher Lehrer und als Hochſchulpolitiker während ſeiner
vierzigjährigen Tätigkeit an der Deutſchen Univerſität in Prag geleiſtet hat, läßt
ſich an dieſer Stelle nicht näher ausführen. Die ſiebzehn Jahrgänge der „Deuts
ſchen Arbeit“, einer Monatsſchrift, die er im Jahre 1901 für das ſudetendeutſche
Geiſtesleben begründet hatte, enthalten den einen Teil ſeines kulturpolitiſchen
Bekenntniſſes. Den andern Teil machen die ſchwierigen politiſchen Geſchäfte
ſeines Rektoratsjahres (1907/08) aus, in denen er nationale, ſtudentiſche und
wirtſchaftliche Fragen der deutſchen Hochſchulen in Prag zu entſcheiden hatte.
Am Ende ſeiner akademiſchen Tätigkeit, in den erſten Nachkriegsjahren, trat er
noch einmal als Politiker auf mit dem freien Mut des Bekenners, der um die
Wahrheit kämpft und ſelbſt die Gefahr nicht ſcheut, um der Wahrheit willen in
ſeiner reinen Geſinnung verkannt zu werden.
Von einem gleich mächtigen Gefühl für das Volkstum war auch Sauers wiſ—
ſenſchaftliches Programm getragen, wie er es in ſeiner Prager Rektoratsrede ent-
worfen hat. Aus der nationalen Empfindung heraus, daß gerade, der Zuſammen⸗
hang der deutſchen Literatur mit dem deutſchen Volkstum als ſolchem, alſo die
eigentlich nationale Seite der Literaturgeſchichte“ vernachläſſigt werde, ſucht er
neue Wege für die Germaniſtik. In ſolchem Beſtreben erſcheint ihm als die wich⸗
tigſte und unerläßliche Vorausſetzung der Literaturforſchung „die philologiſche
Unterſuchung aller Grundlagen, auf denen die Überlieferung beruht, die An⸗
wendung der niederen und höheren Textkritik, das ſprachliche Verſtändnis, die
Wort⸗ und Sinnerklärung der Denkmäler“. Neben die auf der Philologie und
hiſtoriſchen Kritik beruhende Literaturgeſchichte ſtellt Sauer die Ideengeſchichte,
deren Bedeutung als Vorläufer der heutigen Geiſtesgeſchichte er ſchon damals
richtig eingeſchätzt hat, die Motivgeſchichte, die Aſthetik, endlich die vergleichende
Literaturgeſchichte. All dieſe Zweige der Literaturforſchung aber bedürfen nach
Sauer eines grundfeſten bodenſicheren Unterbaues: der wiſſenſchaftlichen Er⸗
faſſung des deutſchen Charakters in ſeinen Stämmen und Landſchaften. Das
bedeutet allerdings eine Erweiterung der Literaturforſchung um die Hilfswiſſen⸗
ſchaften der Anthropologie, Phyſiologie, Pſychologie, Raſſen⸗ und Geſellſchafts⸗
lehre, Volkskunde und Familiengeſchichte. Ein neues Wort war damit ausge⸗
ſprochen, eine neue Zukunft der Literaturwiſſenſchaft geöffnet: durch das offene
Tor iſt eine Reihe von Schülern dem Lehrer gefolgt, ihnen voran der bedeutendſte
6 Georg Stefansky
Joſef Nadler mit ſeiner „Literaturgeſchichte der deutſchen Stämme und Land⸗
ſchaften“. Den Ausbau, den Sauers Geſchichtstheorie ſeit ihrer Grundlegung
erfahren hat, entwickelt ein (neu hinzugefügtes) Nachwort zur 2. Ausgabe der
Rektoratsrede, die 1925 bei J. B. Metzler in Stuttgart erſchienen iſt.
Die zweite große wiſſenſchaftliche Leiſtung, die Sauer auf der Höhe ſeiner
Kraft in die Wege leitet, iſt die hiſtoriſch-kritiſche Geſamtausgabe von Grill-
parzers Werken, mit der ihn im Jahre 1907 die Stadt Wien beauftragt hat.
Dieſe Ausgabe, von der bis zu ſeinem Tode zwanzig ſtattliche Bände gediehen
ſind, ſoll alle dramatiſchen Werke Grillparzers aus ſeiner reifen Zeit in dem von
Grillparzer ſelbſt endgültig gewollten Text enthalten, von allen ſpäteren Zu⸗
ſätzen und entſtellenden Fehlern gereinigt. Die vom Dichter nicht mehr ver-
öffentlichten Altersdramen ſollen in der Ausgabe unmittelbar an die nachge-
laſſenen Handſchriften angeſchloſſen werden. Dazu treten die bedeutendſten dra⸗
matiſchen Fragmente, Pläne und Satiren Grillparzers. An ſie reihen ſich die
Bände mit den Proſaſchriften. Unter den Gedichten, Sprüchen und Epigrammen
erſcheinen jetzt auch die politiſchen Verſe und Invektiven, die bis 1918 nicht ver-
öffentlicht werden durften. Die früheſte Entwicklung des Dichters falten ſechs
Bände mit den Jugendwerken auseinander, in der Fülle von weiteren ſechs
Bänden, welche ſeine Tagebücher und literariſchen Skizzenhefte enthalten, ſpricht
ſich die intime geiſtige Art Grillparzers aus. Daneben ſteht eine Reihe von
Bänden mit den Briefen von und an Grillparzer, mit ſeinen Zeugniſſen und
den Akten ſeiner Amtstätigkeit. Jeden einzelnen Band begleitet ein reichhaltiger
Wort: und Sachkommentar und ein kurzes Regiſter. Die ganze Folge der Bände,
deren Zahl Sauer auf 40 —50 vorgeſehen hatte, iſt in drei Unterabteilungen ge-
gliedert, von denen eine jede in eigenen Bänden den kritiſchen Apparat mit den
Lesarten umfaßt. Ein Generalregiſter ſollte ſchließlich die ganze Ausgabe ab—
ſchließen. Sauer iſt über dieſem monumentalen Plan, an deſſen Ausführung er
ſeine Geſundheit und die größten materiellen Opfer geſetzt hat, geſtorben und
— es ſtockt die Feder, dies zu ſchreiben — er iſt in Kummer und Sorge über
ſeiner großen Arbeit geſtorben. Kaum, da er nach dem Kriege die Fortführung
des Werkes in einem neuen Verlag geſichert glaubte, brach neuerdings der Druck
an der Ausgabe ab. Sein banger Zweifel, den er zu ſeinen nächſten Freunden
oft ausgeſprochen hat, war zuletzt: Würde die ſtolze Leiſtung, die er zur Ehre
ſeines geliebten Vaterlandes begonnen hatte, ein Torſo bleiben und damit zu
einem Zeugnis gegen Stadt und Volk von Wien werden? Wir wollen's nicht
hoffen. Die Vollendung der großen Grillparzer-Ausgabe iſt für Wien eine drin-
gende Verpflichtung. Die Not der Zeit iſt groß, aber der geeinigte Wille wird
mächtig fein, die Not zu brechen, das Werk zu retten. Die parteipolitiſche Schar—
mützel und perſönlichen Intereſſen müſſen vor dieſer Kulturaufgabe zurüd-
treten. Wien, die Stadt voll Wunder und Zauber des Schönen, darf in Grill—
parzer nicht ein Stück vom Schönſten preisgeben. Geſchieht das, dann iſt der
durch die Jahrhunderte gewachſene Sinn für die eigene herrliche Kultur in Oſter—
reich in größter Gefahr. Wien hat nichts Koſtbareres zu verlieren. Der Türke
ſteht wieder vor Wien!
Auguft Sauer 7 7
Zur Ergänzung der großen Grillparzer⸗Ausgabe hat Sauer in den „Schriften
des Literariſchen Vereins in Wien“ in mehreren Bänden „Grillparzers Ge⸗
ſpräche und die Charakteriſtiken feiner Perſönlichkeit durch die Zeitgenoſſen“ ge⸗
ſammelt, eine Fundgrube für den künftigen Biographen Grillparzers; der letzte
Band von „Grillparzers Geſprächen“ harrt noch im Manuſkript des Drucks.
Den Mittelpunkt dieſer Ausgabe darf man wohl in den Geſprächen Grillparzers
mit Beethoven ſehen. Sie ſind den Konverſationsheften Beethovens entnom⸗
men, jenen ſchriftlichen Aufzeichnungen, durch die ſich die Beſucher Beethovens
mit dem taubgewordenen Tondichter verſtändigten. Den Zuſammenhang dieſer
wertvollen Aufzeichnungen herzuſtellen, war eine beſonders ſchwierige Aufgabe
für den Herausgeber, denn Beethovens mündliche Zwiſchenreden fehlen, die
Außerungen Grillparzers ſind mit Bleiſtift flüchtig hingeſtrichen. Doch mit den
Sorgen und Mühen um Grillparzer waren Sauers philologiſche Arbeiten noch
lange nicht erſchöpft. Im Auftrag der gegenwärtigen „Deutſchen Geſellſchaft der
Wiſſenſchaften und Künſte für die tſchechoſlowakiſche Republik“, deren Vorſitzen⸗
der Sauer zuletzt war, leitete er mit ſtrenger Sorgfalt die große Ausgabe Adal⸗
bert Stifters, die innerhalb der „Bibliothek Deutſcher Schriftſteller aus Böh⸗
men“ erſcheint, einer Folge von 37 Bänden, der Sauer als Herausgeber vor⸗
ſtand, auf den erſten Bänden in aller Beſcheidenheit nicht einmal mit ſeinem
Namen genannt. Von den übrigen philologiſchen Leiſtungen Sauers ſeien nur
noch hervorgehoben feine Teilnahme an der Weimarer Goethe⸗-Ausgabe, feine
Darſtellung von Goethes Beziehungen zu Ofterreich durch reichhaltige Briefaus⸗
gaben, endlich feine kleineren Grillparzer⸗-Ausgaben im Cottaſchen Verlag.
Durch ſolchen Fleiß wurde Sauer als Philologe zum nationalen Kulturpfleger
im weiteſten Umfang.
Der Wiſſenſchaft in ihrem reinen Zwecke war das dritte große Unternehmen
Sauers gewidmet, die Gründung der vorliegenden Zeitſchrift für Literatur-
geſchichte „Euphorion“. Die Gründung ſchließt zeitlich an die von Bernhard
Seuffert geleitete „Vierteljahrſchrift für Literaturgeſchichte“ an, die Ende 1893
zum letztenmal erſchienen iſt. In eingehenden Erwägungen mit ſeinen Freunden
hat Sauer das Programm ſeiner Zeitſchrift ausgearbeitet: Erich Schmidt,
Anton E. Schönbach, Otto Harnack, Jakob Minor, R. M. Meyer, Bernhard
Seuffert halfen durch Rat und Tat bei der Ausfahrt des jungen Euphorion mit.
In dem Proſpekt, den Sauer im Januar 1894 vor dem Erſcheinen 185 erſten
Heftes ausſandte, ſind die Richtlinien der Zeitſchrift vorgezeichnet: „Den Blick
ſtets auf das große Ganze und den Zuſammenhang des Ganzen, auf den Lauf
der Jahrhunderte und den Wechſel der Epochen gerichtet, wollen wir uns der
Erforſchung des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt widmen, einem künftigen
Geſchichtsſchreiber unſerer Literatur die Wege bereiten, neues Material herbei⸗
ſchaffen, das alte ſichten, ordnen und geiſtig durchdringen. Wir wollen die Lite⸗
ratur im Zuſammenhang mit der geſamten nationalen Entwickelung betrachten,
wollen alle Fäden verfolgen, welche zur politiſchen und Kultur⸗Geſchichte,
zur Geſchichte der Theologie und Philoſophie, zur Geſchichte der Muſik
und der bildenden Künſte hinüberleiten. Die Geſchichte des Theaters und
8 Georg Stefansky, Auguſt Sauer T
des Journalismus iſt mit der Geſchichte der Literatur unzertrennlich ver⸗
bunden. Wir werden nicht einſeitig der Dichtung huldigen, ſondern auch
die von der Forſchung lang vernachläſſigte deutſche Proſa in unſeren Geſichts⸗
kreis ziehen. Die Stoff⸗ und Sagengeſchichte ... werden wir nicht vernachläſ⸗
ſigen. Philologiſche und äſthetiſche Unterſuchungen ſollen nebeneinander her⸗
gehen, ſich gegenſeitig ergänzend und berichtigend; ſprachliche, ſtiliſtiſche, me⸗
triſche Unterſuchungen werden Aufnahme finden. Durch die Erörterung metho⸗
diſcher Fragen hoffen wir unſere Forſchung zu größerer Sicherheit und Klarheit
anleiten zu können.“ Treue und Demut der nationalen Vergangenheit gegen⸗
über ſoll das Richtmaß fein für die Beurteilung der zeitgenöſſiſchen Literatur.
Größere und kleinere Forſchungsberichte ſollen in ſtrengſter Objektivität die je⸗
weiligen wiſſenſchaftlichen Neuerſcheinungen ſichten. In allen ſeinen Teilen
aber liegt dem Ganzen der Gedanke zugrunde, der Sauers geiſtige Haltung be⸗
ſtimmt, daß „die Geſchichte unſerer Literatur für unſere nationale Entwickelung“
von entſcheidender Bedeutung iſt. Sein Jugendverſprechen hat der Euphorion
gehalten und mit wachſender Kraft erfüllt. Mit der Zeit haben über 700 Fach⸗
gelehrte aus der ganzen Welt, darunter die Führenden, am Euphorion mit⸗
gearbeitet. Bon 1894 —1913 war Sauer Alleinherausgeber und Schriftleiter
der Zeitſchrift; vom 21. Bande ab trat ihm Joſef Nadler als Mitherausgeber
zur Seite; im Vorjahre bei der Neugeſtaltung der Zeitſchrift habe ich als Mit⸗
herausgeber auch die Schriftleitung übernommen. Mit den erſten drei Jahr⸗
gängen erſchien die Zeitſchrift bei einem Bamberger Verlag, ſpäter bei Carl
Fromme in Wien, vom Jahrgang 1926 ab iſt fie in den Verlag von J. B. Metzler
in Stuttgart übergegangen. Dr. Alfred Druckenmüller, der Inhaber der J. B.
Metzlerſchen Verlagsbuchhandlung, hat in perſönlicher Freundſchaft mit Sauer,
in ſicherem Verſtändnis für die wiſſenſchaftlichen Zwecke der Zeitſchrift, mit einer
bei der gegenwärtigen Lage des deutſchen Buchhandels vorbildlichen Opfer⸗
freude die äußeren Grundlagen des Euphorion befeſtigt. So kann die Zeitſchrift
das Programm, das ihr Begründer vor mehr als dreißig Jahren entworfen hat,
zum Leitwort ihrer neuen Zukunft machen: mit Demut den Dienſt zu üben an
der Wiſſenſchaft vom inneren Leben der Nation.
Ein Verſprechen und eine Hoffnung erhebt ſich damit am Ende unſerer weh-
mütigen Erinnerung. Das geſchieht ohne Zweifel im Sinne des Verblichenen.
Würde Sauer dieſes Euphorion-Manufkript, wie die vielen hundert in den vor⸗
hergehenden ſiebenundzwanzig Jahrgängen, leſen und korrigieren können, er
wünſchte gewiß, daß die Erinnerung an ihn ſich zum Ausblick auf das weite
dämmernde Neuland der künftigen Wiſſenſchaft öffne. Bis zu ſeinem letzten
Schritt war er ein unermüdlicher Wanderer auf dem Wege dahin. Noch in den
Wochen vor ſeinem Tode betrieb er eifrige Vorſtudien für einen großen Vortrag
über die neuen Ergebniſſe ſeiner Geſchichtstheorie und die Folgerungen aus ihr für
die kommende Forſchung. Freilich, für uns, die wir Auguſt Sauer geliebt und
verehrt haben, bleibt die Erinnerung nur ein Denkmal für das Vergangene und
Unwiederbringliche. Mit Grillparzer müſſen wir ſagen: „Wir ſtehen weinend
an den zerriſſenen Saiten des verklungenen Spiels.“
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung.
Von Richard Hönigswald in Breslau.
1. Immer noch ſind es nur einige wenige Gedanken, mit denen die problem⸗
geſchichtliche Charakteriſtik J. J. Rouſſeaus beſtritten zu werden pflegt. Er
habe den „Verſtand“ zugunſten des „Gefühls“ entthront, dem Streben nach
dem „Begriff“ die Rückkehr zur „Natur“ entgegengeſetzt, in der Pädagogik dem
„Individualismus“ Bahn gebrochen, die Ethik von der drückenden Feſſel „ra⸗
tionaliſtiſcher“ Vorurteile befreit; denn er habe geſehen, daß Erkenntnis weder
Sittlichkeit noch Glück verbürgte. Darum eben ſei er der „Überwinder“ der
Aufklärung. — Nichts wäre leichter, als dieſe Sätze aus den Werken des Den⸗
kers im einzelnen zu belegen; nichts aber auch ſo fragwürdig wie der Verſuch,
ſie für eine erſchöpfende Kennzeichnung der problemgeſchichtlichen Stellung
Rouſſeaus auszugeben. Kein Zweifel, ſchon ſeine berühmte Antwort auf die
Preisaufgaben der Akademie zu Dijon bedeutet eine Abſage an den geſchichts⸗
philoſophiſchen Rationalismus der Aufklärung. Dieſe ſah in der Unwiſſenheit
die einzige Quelle aller Sünde und alles Elends in der Welt, die weſentliche
Urſache aller Widerſprüche und Ungerechtigkeiten der menſchlichen Geſellſchaft.
Rouſſeau dagegen macht dafür gerade den Abgott der Aufklärung, die „Bil⸗
dung“, verantwortlich. Feindſeligkeit und Liſt, Mißgunſt und Verderbtheit,
Luxus und Müßigang ſprießen auf ihren Pfaden. Sollten alſo unter den
Menſchen Glück und Sittlichkeit wieder heimiſch werden, ſo gelte es vorerſt von
der Bildung, mit deren mehr als zweifelhaften Segnungen, loszukommen; es
gelte zurückzufinden zu dem klar ſprudelnden Born der „Natur“; das trübe
Medium der Reflexion auszuſchalten und den urſprünglichen Kräften des
eigenen Weſens zu vertrauen. Erſt auf dem Boden der Natur verſiegen die aſo⸗
zialen Triebe, die „Eigenliebe“, die ſich gegen den Nächſten richtet. Denn Eigen⸗
liebe (amour propre) iſt nicht Selbſtliebe (amour de soi). Dieſe betätigt der
Naturmenſch, nicht anders wie Tier und Pflanze auch; ſie dient ihm lediglich
der Erhaltung ſeiner ſelbſt. In ihr und durch ſie lebt er ruhig, rein und glücklich.
Und ſelbſt ſein Tod iſt „natürlich“, d. h. durch Altersſchwäche allein verurſacht.
Allein, bereits die Tatſache des „Eigentums“ gefährde dieſen Zuſtand kindlicher
Unſchuld. Denn ſie ſchafft Intereſſen und birgt ſo die Keime des Eigennutzes.
Vollends aber mache der Übergang zu „Kultur“ und „Geſellſchaft“ dieſem ſeligen
Zuſtande der Natur ein Ende.
Es wäre nun, ſchon angeſichts der Reichweite des Eigentumgedankens, kaum
feſtzuſtellen, an welchem Punkte jener Zuſtand der Natur in den der Kultur
übergeht. Aber darauf richtet ſich Rouſſeaus Abſicht auch nicht. Für ihn ſteht ein
anderes im Vordergrund: kurz und theoretiſch formuliert, die Frage nach dem
10 Richard Hönigswald
Geſichtspunkt, von dem aus der Wechſelbezug zwiſchen Natur⸗ und Kultur⸗
zuſtand einheitlich zu überſchauen iſt. Dieſen Geſichtspunkt nun liefert ſein Ge⸗
danke vom Geſellſchafts vertrag: er iſt die Form, in der ſich das Auf⸗
hören des Naturzuſtandes vollzieht, zugleich die Form, durch die ſich Rouſſeau der
Begriff des Staates, vor allem die ſtaatspädagogiſche Aufgabe, eine Wieder-
kehr des Naturzuſtandes auf dem Boden der Kultur vorzubereiten, beſtimmen.
So ſchließen ſich Rouſſeaus Geſchichtsphiloſophie, ſeine Lehre vom Staat und
ſeine Grundſätze der Erziehung zu einem einzigen großen Gedankenbau zu⸗
ſammen.
2. Allein, dieſer Sachverhalt und die Feſtſtellung ſeiner nächſten geſchichtlichen
und ſachlichen Folgen eröffnen noch lange nicht die Einſicht in die problem-
hiſtoriſche Bedingtheit des Rouſſeauſchen Denkens. Dazu bedarf es vor allem
einer kritiſchen Beſinnung auf die Frage nach dem Gefüge und dem tieferen
methodologiſchen Sinn jenes Begriffs vom „contrat social“, Wir
leiten ſie ein durch die Feſtſtellung, daß das „Aufhören“ des Naturzuſtandes
auf dem Boden der Überlegungen Rouſſeaus ein doppeltes bedeutet. Es be⸗
deutet einmal den Übergang des Menſchen aus dem Stande der Unſchuld zu
dem der Schuld, ſodann aber den Übergang aus jenem Stande in die Sachlage
des Geſellſchaftsvertrags. Dieſe Unterſcheidung iſt für das Verſtändnis Rouſ⸗
ſeaus weſentlich. Aus ihr folgt die Einſicht in eine andere und geradezu
entſcheidende: ſie vermittelt uns nämlich einen doppelten Begriff des „Natur⸗
zuſtandes“ bei Rouſſeau. Denn wenn der Denker fordert, daß der kulturver⸗
derbte Menſch durch eine planvoll geleitete Erziehung zu dem status der Natur
zurückgeführt werde, ſo denkt er nicht an ein Zurückgeſtoßenwerden des Men⸗
ſchen in einen Zuſtand ſchlechthiniger Kulturloſigkeit. Mit bemerkenswerter
Schärfe unterſcheidet Rouſſeau den Naturmenſchen im Naturzuſtande von dem
Naturmenſchen im Stande der Geſellſchaft. Dieſer letztere ſoll aus der Hand
des Erziehers hervorgehen. So iſt denn auch Rouſſeaus Emile als Sinnbild
des Grundſatzes jener Rückkehr zur Natur nicht ein in die Wüſte verbannter
Wilder, ſondern ein „Wilder“, beſtimmt in Städten zu wohnen. Von ihm wird
eben nur dies eine verlangt, daß er im Wirbel der Welt ſein weſenhaftes Selbſt
bewahre, daß er ſich nicht durch Leidenſchaften und Vorurteile richtungslos fort—
reißen laſſe. Er bleibe auf ſich ſelbſt geſtellt; er ſehe mit eigenen Augen und
höre mit eigenen Ohren; er fühle mit ſeinem eigenen Herzen und werde durch
keine andere irdiſche Macht beſtimmt, als durch ſeine eigene Vernunft. Die
Natur, ſoweit ſie Rouſſeau den Zielpunkt der Erziehung bedeutet, beſtimmt ſich
als Funktion der „Vernunft“. „Natur“ und „Vernunft“ verbinden ſich in
der Erziehung; die Natur als Grundſatz und Ergebnis der Erziehung iſt ver—
nunftgemäße und vernunftgeforderte Natur. So haftet der Erziehung bei
Rouſſeau eine beſondere Form der Notwendigkeit an, einer Notwendigkeit, von
der aus die unabänderliche Ordnung der Natur als vernunftloſer Zwang und
blinder Zufall erſcheinen muß. Rouſſeaus Gedanke von einer Rückkehr zur Nas
tur bedeutet eben nicht Rückkehr zu der Natur der Naturwiſſenſchaft; er enthält
vielmehr die ſittliche Forderung, das menſchliche Leben, wenn es ſein muß auch
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung 11
gegen die Natur und deren Zwang, pädagogiſch zu geſtalten. „Natur“ iſt alſo
im Rahmen dieſer Erwägungen das Symbol für einen Inbegriff und die Er⸗
füllung beſtimmter Kulturforderungen. Daß ſie es ſein kann, daß hier ein und
dasſelbe Wort ebenſo den blinden Zufall des Naturgeſchehens wie den ver-
nunftgebotenen Weg der Überlegung zu bezeichnen vermag, das liegt an dem
Gefüge des Begriffs „Natur“ ſelbſt. Es liegt daran, daß ſich in dieſem Begriff
der Gedanke gegenſtändlicher Geltung auf eine beſondere, Wert und Tatſache,
Handeln und Geſchehen gleichermaßen umſpannende Weiſe ausprägen kann.
Man ſpricht in der Geſchichte der Philoſophie zuweilen von Rouſſeaus „Na—
turalismus“. Die Bezeichnung iſt zum mindeſten unzulänglich: denn was
Rouſſeau meint und den Vorausſetzungen ſeiner Frageſtellung nach meinen
muß, iſt „Kulturnaturalismus“. Er fordert kantiſch geredet Natur
als „Idee“. Aus dem gleichen Grunde aber bedeutet für ihn Rückkehr zur Natur
die grundſätzliche Verneinung auch der Kultur des ſog. „Wilden“. Denn dieſe
iſt gegenüber ſeiner Kulturforderung einer Rückkehr zur Natur nur das Er⸗
gebnis eines blinden Waltens vernunftlos ſtrebender Kräfte. Mit einem
Worte: Rouſſeaus Begriff einer Rückkehr zur Natur iſt nicht bloß negativ, er
umſpannt einen reichen und reich gegliederten poſitiven Inhalt. Der Denker
bejaht den Begriff der Kultur; und gerade weil er ihn bejaht, fordert er die
Rückkehr zur Natur. Dieſe Rückkehr bedeutet ihm darum die Hinwendung zu
einem eigentümlichen und neuen, wahren, d. h. vernunftbeſtimmten Begriff
der Kultur.
3. Welches aber ſind die Vorausſetzungen für deſſen Möglichkeit, welches die
Bedingungen, ſeine Forderungen zu erfüllen? Wir ſtehen an dem Punkt, wo
die Frage nach dem eigentümlichen Sinn des contrat social, nach dem
methodologiſchen Gefüge ſeines Begriffs geſtellt werden muß. Er iſt, um es
mit einem Worte zu ſagen, nicht der Begriff einer Begebenheit; er betrifft nicht
ein geſchichtliches Ereignis. Zwar iſt es ſchwer zu überſehen, daß Rouſſeau
ausdrücklich von der Tatſache eines Vertragsſchluſſes zwiſchen den Menſchen
redet: ein alle und jeden einzelnen bindendes Vertragsverhältnis müſſe her-
beigeführt worden fein, damit die Härten des urſprünglichen den Seg—
nungen des kultivierten Naturzuſtandes weichen. Der Gebrauch aber, den
Rouſſeau von dieſem Gedanken macht, iſt nichts weniger denn geſchichtlich. Der
contrat social iſt für ihn Element der Definition eines Begriffs, nämlich des
Begriffs vom Staat. Ein vertragsmäßiger Zuſtand, fo meint er, ſei voraus⸗
zuſetzen, ſoll die Kulturloſigkeit des urſprünglichen Naturzuſtandes, aber auch
die Kulturloſigkeit einer auf Eigentum und Eigennutz, auf Unnatur und Schein
gegründeten Kultur aufhören, ſoll der wirkliche, auf liberté und Egalite auf⸗
gebaute Staat Wirklichkeit werden. So ſollen ſich in dem contrat social der
überzeitliche Sinn des Staates, nicht aber die Umſtände ſeines zeitlichgeſchicht—
lichen Werdens ausprägen; der überzeitliche Sinn zugleich jenes Zuſtandes, in
dem Kultur Natur wird, weil Natur ſich den Bedingungen der Kultur unter-
wirft. So verwandelt ſich denn auch der durch die Theorie des contrat social
geforderte freiwillige Verzicht des einzelnen auf ſeine urſprüngliche „Freiheit“
12 Richard Hönigswald
aus einer ſcheinbar geſchichtlichen Tatſache in eine übergeſchichtliche, den ſach⸗
lichen Beſtand der Geſellſchaft im Staat verbürgende Forderung. Man weiß,
daß ſie für den Denker zugleich das Gewicht eines leitenden politiſchen Grund⸗
ſatzes gewonnen hat. Und nichts vielleicht macht die urſprünglich logiſche Funk⸗
tion der Begriffe „Staat“ und „contrat social“ bei Rouſſeau deutlicher als
dies, daß für ihn jener politiſche Grundſatz im Tatſächlichen ſeine not⸗
wendigen Schranken findet. Oder konkret geſprochen: Mag auch, wie es Rouſ⸗
ſeaus Staatstheorie im einzelnen fordert, alle rechtlich⸗ſtaatliche Machtentfal⸗
tung dem Begriff der Souveränität des Volks entſpringen, — die beſonderen
Formen, die ſie im Verlaufe der geſchichtlichen Entwicklung annimmt, beſtim⸗
men ſich durch rein empiriſche Geſichtspunkte, durch die Wucht und die Beſonder⸗
heit der tatſächlich zu bewältigenden Aufgaben. Sie bezeichnen dem Denker
die Punkte, an denen die Theorie des Staates in eine Würdigung der geſchicht⸗
lich⸗tatſächlichen Geſtaltung ſeines Weſens übergeht. Und wieder darf es als
ein Beweis für den feinen logiſchen Sinn der Begriffsbildung Rouſſeaus gel⸗
ten, daß er ſelbſt jene Theorie von dieſer Würdigung ſcharf und fruchtbar ſchei⸗
det. Offenen Auges, darin Plato gleichend, ſtellt Rouſſeau den Grundſätzen,
denen gemäß der Staat ſich aufbaut und der Begriff des Staates ſich be⸗
ſtimmt, die Betrachtung der Machtfaktoren, durch die er geworden iſt,
gegenüber. So iſt denn für Rouſſeau der Staat ein ideales Gebilde. „Ideal“
aber bedeutet hier nichts weniger als „unwirklich“. Das Wort beſagt lediglich,
daß der Staat nicht den Seinswert eines Gegenſtandes der Erfahrung beſitze,
daß der Staat nicht geſehen und getaſtet werde, oder poſitiv: daß ſich in ihm
ein wohlumſchriebenes Syſtem gültiger Forderungen verkörpere, die die Hand⸗
lungen des einzelnen in einem beſtimmten Bereich, im Sinne des Begriffs der
Geſellſchaft, binden.
4. Es iſt hier nicht davon die Rede, ob damit der Sinngehalt des Staates
erſchöpft erſcheint. Hier kommt es vielmehr darauf an, die Abſicht der Rouſ⸗
ſeauſchen Konzeption zu verſtehen und zu würdigen. Der Staat bedeutet für
ihn die auf den geſamten Umkreis menſchlicher Gemeinſchaftsbeziehungen aus⸗
gedehnte Idee des Vertragsſchluſſes. Dieſe Idee und damit die Möglichkeit des
Vertragsſchluſſes ſelbſt gehen dem Beſtande des Staates nicht zeitlich voraus,
und der Staat iſt nicht ihre zeitliche Folge. Der Vertragsſchluß verkörpert Rouſ⸗
ſeau vielmehr die ratio des Staates. Gewiß, ohne den Begriff des Vertrages
gibt es auch keinen Vertragsſchluß und die rechtliche Beziehung, die jenen Begriff
beſtimmt, iſt ſelbſt erſt im Staate und durch den Staat geſetzt. Allein der damit
gegebene Einwand berührt Rouſſeau nicht. Denn was der Denker meint, iſt dies,
daß der einzelne ein rechtlich⸗geſellſchaftliches Daſein nur gemäß der Norm des
Staates führen, daß demzufolge auch ſein rechtlicher Verzicht auf eine unein⸗
geſchränkte Machtfülle nicht zeitlich „vor“ dem Staate und vor der, immer
erſt durch die Ordnung des Staats bedingten Vertragsmöglichkeit liegen könne.
Rouſſeau verweiſt eben, um es noch einmal zu unterſtreichen, auf die Ver⸗
tragsgemäßheit desjenigen Zuſtandes, in dem ſich der Menſch von dem
blinden Zufall des Waltens bloß natürlicher Kräfte ebenſo entfernt wie von
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung 13
der noch ſchlimmeren Blindheit einer Pſeudokultur, die unter der Maske der
Künſte und Wiſſenſchaften nur die Übel des Haſſes und der Zwietracht ver⸗
birgt. Dieſe Pſeudokultur iſt eben die Welt des Unrechts. Recht und Staat,
d. h. Vertrags⸗ alſo Vernunftgemäßheit allein vermögen fie zu beſeitigen.
5. Wie alſo liegen die Dinge? Der contrat social ſtellt ſich als der Geſichts⸗
punkt dar, von dem aus alle anderen Begriffe der Geſellſchaftslehre Rouſſeaus
in ihrem Wechſelverhältnis überſchaubar werden. Er ermöglicht es ihm, den
Begriff eines kulturellen Abfalls von der Unſchuld des Naturzuſtandes zu
entwerfen; er definiert ihm jene Welt der Pſeudokultur und des Unrechts, weil
und ſofern er ihm den Umkreis des Rechtes abſteckt. An ihm ſcheiden ſich die in
ihrer Gegenſätzlichkeit notwendigen Begriffe des urſprünglichen und jenes
reflektiert⸗bewußten, „vernünftigen“, rechtlich geformten Naturzuſtandes, der
Rouſſeau die Grundlage des Gefüges wahrer Kultur bedeutet; kurz der contrat
social iſt das analytiſche Geſetz aller mit dem Begriff der Geſellſchaft ge⸗
gebenen und durch dieſen Begriff geforderten Größen und Beziehungen. —
Wir werden die Folgen dieſes Sachverhalts für die problemgeſchichtliche Stel⸗
lung des Denkers alsbald zu entwickeln haben. Vorerſt aber gilt es noch, ſich im
Sinne Rouſſeaus der Bedeutung der Begriffe von Recht, Staat und Geſell⸗
ſchaftsvertrag für Wille und Willensbetätigung inne zu werden.
Wir bezeichneten oben den Staat als ein „ideales“ Gebilde. Er iſt es, weil und
ſofern er ſich als Richtmaß und Prinzip der Willensbetätigung aller, durch den
Begriff der Geſellſchaft, ſei es poſitiv, ſei es negativ beſtimmten Faktoren darſtellt.
Was darunter gemeint iſt, ergibt eine Analyſe des berühmten Rouſſeauſchen
Begriffspaares „volonte generale“ und „volonté de tous“. Die „volonte
generale“ bedeutet nicht, wie man glauben könnte, die aus der Betrachtung
der Willensäußerung aller „abſtrahierte“ oder zu abſtrahierende Geſetzlichkeit
der Willensbetätigung überhaupt; noch weniger umfaßt ſie die „Summe“ ein⸗
zelner Willensregungen, auch wenn dieſe in bezug auf Ziel und Inhalt übers
einkämen. Die „volonte generale” bedeutet die Einheit einer Bedingung; fie
iſt der theoretiſche Sinn, das analytiſche Geſetz jener Willensregungen und
Willensäußerungen. Sie ſtellt die ideelle Form dar, vermöge deren ſich der
politiſche Einzelwille „vernunftgemäß“, d. h. im Sinne des Staatsbegriffs,
alſo des contrat social, betätigt. Die „volonté generale“ verhält ſich zu den
einzelnen Willensregungen oder zu deren Summe nicht anders, wie die Einſicht
in das Gefüge der Bedingungen eines Ereigniſſes zu den einzelnen Fällen, an
denen es ſich offenbart. Und die „volonte de tous“? Sie iſt die em⸗
piriſch feſtgeſtellte oder feſtzuſtellende Willensmeinung der Gemeinſchaft. Wohl
ſieht ſich ja der einzelne in dieſe Gemeinſchaft hereingeſtellt; aber nur unter
Bedingungen, die in dem Begriff der „volonté générale“ getroffen werden
ſollen. Und darum iſt der einzelne, obwohl Glied jener Gemeinſchaft und in
deren Gefüge feſt hineinverſtrickt, frei. Denn „Freiheit“ bedeutet ja nichts
anderes wie Abhängigkeit von dem Geſetz, und nur von dem Geſetz. Das
Geſetz aber, oder wenn man will: die höchſte Bedingung, das Geſetz jedes
Geſetzes, iſt ja die „volonté générale“. Bindung durch das Geſetz bedeutet
14 Richard Hönigswald
daher Bindung durch den Geſamtwillen, genauer Bindung durch deſſen Be⸗
dingungen, alſo Freiheit. Ebendarum aber bedeutet es zugleich auch ſo viel,
wie konſtituierendes Glied dieſes Geſamtwillens zu ſein, d. h. den Anſpruch
auf einen rechtlichen Anteil an der Schöpfung der Geſetze zu haben.
6. Der Staat iſt ſonach der Inbegriff von Beziehungen zwiſchen „volonte
generale” und „volonté de tous“, der Inbegriff der Bedingungen, die aus
Vorſchriften und Geboten „Geſetze“ machen, oder anders, der Sinn des Ver:
hältniſſes zwiſchen rechtlicher Bindung und ſittlicher Freiheit. Und gehört die
Macht zu ſeinen weſentlichen Attributen, ſo muß auch ſie jenem Sinn ent⸗
ſpringen. Gewiß, eine vollendete Theorie des Staates wird in den Bereich
dieſer Überlegungen auch die Begriffe „Kultur“, „Sprache“ und „Geſchichte“ mit
einbeziehen. Allein, ſie brächte damit nur jene Motive der Gemeinſchaft aus⸗
drücklich zur Geltung, die in den Begriffen der „volonté“, des Gebotes und der
Handlung immer ſchon vorausgeſetzt erſcheinen. Es iſt ein Gemeinplatz, daß
der gebietende und handelnde, „Intereſſen“ wahrnehmende und ſich in Abwehr
oder Angriff behauptende Staat ein „kollektives“ Subjekt darſtelle. Ein „wir“
iſt es allemal, das da als Staat handelt, gebietet und will. Wie aber iſt dieſes
„wir“ als Träger von Normen mit Anſpruch auf gegenſtändliche Geltung über⸗
haupt beſchaffen, wie iſt es kritiſch geſprochen „möglich“, was enthält es an
theoretiſchen Vorausſetzungen, wie beſtimmt es ſich dem „ich“, wie anderen
möglichen Kollektiv⸗Subjekten gegenüber? Man begreift, daß der Verſuch einer
erſchöpfenden Antwort auf dieſe Fragen mitten hineinführen müßte in eine Er⸗
örterung des Begriffs und des Aufgabengefüges der Pſychologie. Wie ſagt der
Staat zu ſich ſelbſt „ich“, und was bedeutet es, da ß er zu ſich „ich“ jagt, für den
Begriff des „Subjekts“ überhaupt? Wir ſtellen dieſe Fragen, nicht um ſie hier
zur Entſcheidung zu bringen, ſondern um an ihnen die methodiſche Abſicht des
Begriffs einer „volonté générale“ weiter zu klären. Die „volonté générale“
iſt, ſo betonen wir noch einmal, nicht von den einzelnen Willenshandlungen
oder Willenskundgebungen abgeleſen; ſie bedeutet vielmehr ein Syſtem von
Bedingungen, kraft deren die jeweils Wollenden zu einer Gemeinſchaft
von beſtimmtem Gefüge verbunden, von dieſer Gemeinſchaft nach Grundſätzen
abhängig ſind. Sie iſt die Form, gemäß welcher die Glieder der ſtaatlichen Ge⸗
meinſchaft zu ſich ſelbſt — wollend — „ich“ ſagen, alſo in dem weiteſten Sinn
des Wortes „handeln“. Der Staat iſt eben nicht ein geheimnisvolles Subjekt
über den Subjekten, ſondern eine Art der Beſtimmtheit der Subjekte ſelbſt.
Ebendarum iſt es für ſeinen Begriff unerheblich, ob und wie er im beſonderen
Fall pſychologiſch wirkſam und wirklich werden, in welchem Umfange und auf
welche beſondere Weiſe er ein Auseinandertreten der Befehlenden und der Ge-
horchenden vorausſetzen mag. Das weſentliche bleibt — das Wort in ſeinem
ſtrengſten erkenntnistheoretiſchen Sinn genommen — ſeine „Form“. Und
der allgemeine Ausdruck für dieſe Form, das eben iſt Rouſſeaus „volonte
generale“.
7. Man begreift, daß dieſer Sachlage gegenüber alle philoſophiegeſchichtlichen
Schlagworte verſagen. Die „volonté générale“ bedeutet nichts weniger als
— — — — — —— — . — — — — —— — —e — — en — — — —
5 2 ii . se uÄ — — —
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung 15
einen „rationaliſtiſchen“ Anſatz, den Staat zu „erklären“, beziehungsweiſe „ab⸗
zuleiten“. Sie bedeutet vielmehr den Hinweis auf eine Beziehung, deren Bes
dingungen als Forderungen in dem Staate erfüllt erſcheinen. Ebendeshalb
aber hat der Machtbereich der „volonte générale“ keine Schranken. Er reicht
grundſätzlich an alles im Staate, was nicht deſſen Weſen berührt, heran;
— alſo auch an das Privateigentum. Erklärt Rouſſeau trotzdem das Privat-
eigentum als rechtliche Einrichtung ſchonen zu wollen, ſo bewährt er ſich mit
dieſer wohlerwogenen Rückſicht auf pſychologiſche Realitäten nur als Mann
nüchterner politiſcher Praxis, übrigens ein Zug ſeines Weſens, der ſich auch in
manchen anderen Fällen, bei ſeinem Eingreifen in den Genfer Verfaſſungs⸗
konflikt oder in feinem Verfaſſungsentwurf für die Adelsrepublik Polen, deut⸗
lich genug bewährt. Gewiß, die „volonte generale“ iſt Form des ſtaatlichen
Gefüges, nicht aber reale Machtgröße innerhalb des Staates. Und es mag eine
Beeinträchtigung der methodiſchen Reinheit feiner Abſichten bedeuten, daß
Rouſſeau die „volonté generale“ ſich in abſoluter Machtbetätigung auch kon⸗
kret entfalten läßt. Allein je mehr man ſich deſſen inne geworden, um ſo mehr
klärt ſich der eigentliche Sinn jener Abſicht. Vollends aber erfaßt man ihn,
wenn man Rouſſeaus Begriff der Vernunft nunmehr kritiſch ins Auge faßt.
8. Rückkehr zur „Natur“ und Hingabe an die „Natur“ bedeutet für Rouſſeau,
wir wiſſen es, Hingabe an die Vernunft. Allein wir wiſſen auch, daß und wie
bei Rouſſeau „Natur“ und „Kultur“ zuſammenklingen. Und deshalb dürfen
wir es ohne weiteres ausſprechen: Es käme einer Verfälſchung der Grundmotive
Rouſſeaus gleich, wollte man die „Vernunft“ dem „Verſtand“ gleichſetzen. Ver⸗
nunft bedeutet gegenüber dem Verſtande ein beſonderes Prinzip gegenſtänd⸗
licher Ordnung; das Prinzip einer Ordnung, und damit den Gedanken der
Einheit eines Gegenſtändlichen, die eine andere Schicht gegenſtändlicher Ein⸗
heit und Ordnung, nämlich die des Verſtandes, zu ihrer Vorausſetzung haben,
und zwar ſo, daß auch die Ordnung des Verſtandes die der Vernunft fordert.
Nur an der Natur und vermittels der Natur formt und entfaltet ſich Kultur.
Andererſeits fordert der Begriff „Natur“, daß ſich an ihm der der Kultur gliedere
und entfalte. In dem Gedanken einer Rückkehr zur Natur erfaßt Rouſſeau auf
ſeine Weiſe dieſes Verhältnis. Auf ſeine Weiſe, d. h. ohne noch gleich Kant
den Begriff der Natur ſelbſt in Frage zu ſtellen und in den Bedingungen ſeiner
Möglichkeit zu durchſchauen. Gerade darum aber bedeutet ihm die Rückwendung
zur Natur nicht die Abſicht, die Kultur je nach der Tiefe der Naturerkenntnis klug
zu berechnen, ſie bedeutet ihm nicht die Natur als dogmatiſchen Maßſtab der
Kultur; ſie bedeutet vielmehr, ſo paradox das auch fürs erſte klingen mag, ein
kritiſches Hinausgehen über dieſen Maßſtab, der hier ſelbſt implicite einer
neuen gedanklichen Wertung unterzogen wird. Die Rouſſeauſche Gleichung
„Kultur — Natur“, d. h. die Gleichung „Natur — Vernunft“, erfüllt die Be⸗
dingung, daß Verſtand und Vernunft gegeneinander klar abgegrenzt werden.
Natur iſt Kultur, ſofern ſie unter die Norm der Vernunft geſtellt, d. h. unter
dem Geſichtspunkt eines höheren methodiſchen Prinzips gegenſtändlich gültiger:
Einheit betrachtet wird.
16 Richard Hönigswald
9. Wir ſtehen damit an einem Punkt, an dem die Frage nach dem Verhältnis
Rouſſeaus zu Kant an die Oberfläche drängt. Rouſſeaus neuer, zu Kulturfunk⸗
tionen tauglicher Begriff der Natur iſt Kants Begriff der Vernunft. Darum,
nicht aber weil er dem „Gefühl“ neue und entſcheidende Rechte gegenüber dem
Verſtande einräumt, „überwindet“ Rouſſeau den Rationalismus der Auf⸗
klärung. Kant ſollte in ſeinem Begriff der „Idee“ eine neue Bedingung gegen⸗
ſtändlicher Einheit entdecken, die ſich über die Ebene der Grundſätze der Erfah⸗
rung erhebt, oder beſſer geſagt, dieſe Grundſätze, und damit die Erfahrung ſelbſt,
einem höheren Geltungszuſammenhang eingliedert. Kein Zweifel, Rouſſeau iſt
der Gedanke in dieſer Form noch durchaus fremd. Ihm war die „Möglichkeit“
der Natur noch nicht Problem geworden. Noch überſieht er auch die Grundſätze
der Schichtung jener Prinzipien der Einheit nicht; noch verkennt er die durch⸗
gängige Wechſelbezogenheit, deren Bedingungen gemäß ſie ſich beſtimmen. Am
allerwenigſten aber gliedern ſie ſich ihm zu einem feſt gefügten, ſich ſelbſt be⸗
gründenden Syſtem. Allein, nur von dem Geſichtspunkt der Kantiſchen Idee
aus läßt ſich Rouſſeaus Kulturbegriff der Natur problemgeſchichtlich erfaſſen.
Denn in Rouſſeaus Gedankenwelt leben bereits die Motive Kants. Auch Rouſſeau
gilt die Ordnung der Kultur nicht für gleichbedeutend mit der Ordnung der
Naturerkenntnis. Allein, fie iſt, fo lehrt Rouſſeau in tieffter Übereinftimmung
mit Kant, gegenſtändliche, gegenſtändlich gültige Ordnung; fie iſt als ſolche
denkbar und ſie heißt für ihn in dieſem ihrem Bezug auf die Bedingungen der
Denkbarkeit „Natur“ und „Vernunft“. Es kennzeichnet die Größe Rouſſeaus
und die methodiſche Schärfe feiner Frageftellung, daß er in der Norm der
Kultur nicht eine dinghaft⸗ſubſtantiale Beſtimmtheit, weder im empiriſchen,
noch im metaphyſiſchen Sinn des Wortes, ſondern eben nur eine neue Funktion
gegenſtändlich gültiger Einheit, d. h. ein gegenſtändlich gültiges Ergebnis des
Vollzugs von Gedanken erblickt.
10. Zweierlei iſt hier ſofort hinzuzufügen. Daß Rouſſeau dieſes Ergebnis
„Natur“ nennt, ändert an deſſen erkenntnistheoretiſcher Valenz nichts; ſodann
aber: „Gedanken“ bedeuten nicht ohne weiteres erkenntnismäßige Rationali⸗
tät. Natur iſt Vernunft, d. h. ſie iſt als Kultur gedankliche Beſtimmtheit von be⸗
ſonderer, der erkenntnismäßigen gegenüber wohlgekennzeichneter, wenn auch
durchwegs auf dieſe bezogener Eigenart. Ganz wie ſpäter bei Kant treten die
Begriffe Gott, Glaube, Unſterblichkeit, Freiheit und Gewiſſen in ein Verhält⸗
nis unmittelbarer Abhängigkeit zur Vernunft. Sie erfüllen auch für Rouſſeau
Forderungen der Vernunft, ſie ſind auch für ihn, kantiſch geſprochen, „aus
bloßer Vernunft“. Aber gerade daß ſie „aus Vernunft“ ſind, ſichert ſie
grundſätzlich vor jeder aufkläreriſch⸗rationaliſierender Umdeutung. Auch hier
werden die Gegenſtände jener Begriffe nicht „erkannt“ und gemäß der Methoden
der Erkenntnis abgeleitet. Auch hier werden ſie für die Erkenntnis, d. h. für
den, der erkennen will, gefordert. Sie werden mit dem unerläßlichen Anſpruch
auf Geltung, d. h. im gegenſtändlichen Sinn und mit gegenſtändlicher Valenz
„poſtuliert“. Ihr Geltungsanſpruch iſt von beſonderer Art. Und dieſe Beſon⸗
derheit erfaſſen, das eben bedeutet es, ſich des Rouſſeauſchen Kulturbegriffs der
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung 17
FF b ————V—V—V—V—V—V————————— H H
Natur zu bemächtigen. Nun begreift man erſt, wie und weshalb ſich im Rah⸗
men dieſes Kulturnaturalismus die Forderungen des „Herzens“ mit den⸗
jenigen der „Vernunft“ decken. Vor allem aber begreiſt man auch den Zuſam⸗
menklang zwiſchen dem „Gefühl“, das jede Vagheit, und der „Vernunft“, die
alle rationaliſtiſche Einengung abgeſtreift haben. Was ſich bei Rouſſeau als
„Gefühl“ gibt, das offenbart recht eigentlich ſein Bekenntnis zu größter, ſich
ſelbſt bezwingender Sachlichkeit. Und fo entbehrt denn auch Leſſings Wort,
er mag es auch ſelbſt anders verſtanden haben, nicht eines tiefen problem⸗
geſchichtlichen Sinnes: „Rouſſeau iſt überall der kühne Weltweiſe, welcher keine
Vorurteile anſieht, und wenn ſie auch noch ſo allgemein gebilligt wären, ſondern
geraden Wegs auf die Wahrheit zugeht, ohne ſich um die Scheinwahrheiten zu
bekümmern, die er ihr bei jedem Tritte aufopfern muß. Sein Herz hat dabei an
allen ſpekulativiſchen Betrachtungen Anteil genommen und er ſpricht folglich aus
einem ganz andern Ton, als ein feiler Sophiſt zu ſprechen pflegt, welchen Eigen⸗
nutz oder Prahlerei zum Lehrer der Weisheit gemacht haben.“ Nur weil ihm
„Gefühl“ ſo viel bedeutet wie „Vernunft“, überwindet Rouſſeau die „Ver⸗
ſtandeskultur“ der Aufklärung.
11. Was aber heißt es überhaupt, die Aufklärung zu überwinden? Die Frage
lenkt unſeren Beweisgang zurück zur methodiſchen Würdigung der Rolle des
„contrat social“. Vermittels der Motive des „contrat social“ und der
„volonté generale” entwickelt Rouſſeau das analytiſche Geſetz der aus dem
Begriff der Geſellſchaft zu folgernden Beziehungen und damit das analytifche
Geſetz jenes Begriffs ſelbſt. Damit erfährt ſein Verhältnis zur Aufklärung in
doppelter Hinſicht Kennzeichnung und Klärung. Formal, wenn man es ſo
nennen will, ſofern die Analyſe eines Sachverhalts nicht mit deſſen „ratio⸗
naler“ Deutung zuſammenfällt. Jene betätigt Rouſſeau, dieſe die Aufklärung.
Dort ſollen die Ordnungen der Geſellſchaft und des Staates auf die ſie definie⸗
renden Beziehungen, auf die Bedingungen ihrer „Möglichkeit“ gebracht, d. h.
in ihrer Eigengeſetzlichkeit erfaßt, in ihrer „Autonomie“ feſtgehalten werden;
hier dagegen erſcheint es als die immer wiederkehrende Abſicht, Staat und Ge⸗
ſellſchaſt ihrer Eigengeſetzlichkeit zu entkleiden, ſie als Sonderfälle eines be⸗
rechenbaren Naturgeſchehens zu betrachten, d. h. ihnen die weſensfremde Form
des Naturbegriffs aufzuprägen. Die Analyſis „erklärt“, weil es kein höheres
Prinzip des Erklärens geben kann als das Aufſuchen der Bedingungen, die das
zu Erklärende definieren. Die Aufklärung erklärt nur ſchein bar; denn fie
opfert den Gedanken der adäquaten Bedingung dem beſtechenden Eindruck der
Analogie. Die Rollen haben gewechſelt: nicht Rouſſeau iſt vom „Gefühl“ ge⸗
leitet, ſondern die Aufklärung; und nicht die Aufklärung beherrſcht der Geiſt
der „Exaktheit“, ſondern Rouſſeau. Ja, man darf füglich noch um einen Schritt
weitergehen. Der contrat social und die volonté generale erweiſen ſich als
Prinzipien einer analytiſchen Erklärung für Kultur, Staat und Geſellſchaft nur
inſofern, als ſolche Erklärung ſelbſt in der „Vernunft“ ihr Prinzip und ihren Halt
findet. Inſofern aber beſtimmt man Rouſſeaus negatives Verhältnis zur Auf⸗
klärung auch nach der materialen Seite hin. Der Begriff der Vernunft als
Suphorion XXVII. 2
48 Richard Hönigswald
eines beſonderen Prinzips gegenſtändlicher Einheit bleibt der Aufklärung, wir
wiſſen es, unzugänglich. Zwar führt ſie das Wort „Vernunft“ unabläſſig im
Munde und allenthalben bemüht ſie ſich um „vernünftige“ Kriterien für
Setzungen jeder Art. Nur bedeutet ihr „Vernünftigkeit“ reſtloſe, durch grund⸗
ſätzliche Erwägungen über den Begriff der Erkenntnis, über das Verhältnis
zwiſchen Erkenntnis und Gegenſtand, über die gegenſtändlich gültige Einheit
eines Syſtems von Erkenntniſſen, kurz über das Problem der Gegenſtändlichkeit
ſelbſt nicht belaſtete „Verſtändlichkeit“. Darum verfielen denn auch die Motive
und Probleme der großen philoſophiſchen Syſteme des 17. Jahrhunderts unter
den Händen der Aufklärung einer oft kaum zu überbietenden Verflachung. Je
„vernünftiger“ ſie ſich gebärdete, um ſo mehr entzog ſie ſich dem Wirkungs⸗
bereich eines wohldefinierten Begriffs der Vernunft, um ſo williger verzichtete
ſie auf eine methodiſche Rechtfertigung jenes Syſtems gegenſtändlich gültiger
Einheitsbezüge, in dem ſich der Plan des Gebäudes der Erkenntnis vollendet.
Rouſſeau aber entfernt ſich in demſelben Maße von der Aufklärung, indem er
ſich den Gedanken der Analyſis, dieſes methodiſche Grundmotiv der großen
Syſteme des 17. Jahrhunderts, zu eigen macht, um damit die Richtung nach
dem Problemkreis der kritiſchen Philoſophie hin zu nehmen. Sein Begriff der
„Vernunft“ gibt dieſer Entwicklung greifbaren Ausdruck; und ſein Begriff der
„Natur“, um nun noch einmal auf ihn zurückzukommen, ſtellt das Ergebnis
ſeiner kritiſchen Frage nach der „Möglichkeit“ der Kultur dar. In den kritiſchen
Problemkreis ſelbſt einzudringen aber war dem Denker aus Gründen, die wir
nicht zu wiederholen brauchen, verſagt. Beſtimmte analytiſche Aufgaben rücken
für Rouſſeau bereits in die Beleuchtung des Problems der Gegenſtändlichkeit.
Die Rechtfertigung dieſes Problems ſelbſt aber iſt ihm nicht Problem geworden.
Noch fehlt ihm die Beziehung zum Begriff des „Tranſzendentalen“ in jenem
klaſſiſchen Sinn des Wortes, in dem es die Begründung für die Identität der
Vorausſetzungen der Erkenntnis und der Bedingungen der Gegenſtände der
Erkenntnis, die Rechtfertigung der „Affinität“ des Mannigfaltigen zu der
Form des Begriffs bedeutet. Noch iſt, anders geſagt, im ſtrengen theoretiſchen
Sinn der contrat social nicht als „Prinzip“ erwieſen; noch erſcheint ſeine
„Letztheit“ nicht aus Grundſätzen dargetan, d. h. als Funktion des Gedankens
gegenſtändlicher Geltung aufgezeigt.
12. Man vermißt freilich bei Rouſſeau die mathematiſierenden Tendenzen der
großen Syſteme des 17. Jahrhunderts und findet, daß ſein Denken jenen Ten⸗
denzen geradezu widerſtreite. Die Bemerkung trifft an ſich gewiß zu. Allein,
fie berührt den Gang unferer Erwägungen nicht. Denn mag auch das Gefüge
der Mathematik die analytiſche Frageſtellung beſonders begünſtigen, der Be⸗
griff der Analyſis erſcheint nicht an den der Mathematik geknüpft. Schon ein
Blick in die Geſchichte der Philoſophie beweiſt es: Platos Idee als Hypotheſis
eröffnet der Analyſe den geſamten Bereich des Gültigen; Hobbes unterwirft
ihr, ganz wie ſpäter Rouſſeau, die Probleme des Rechtes, des Staates und der
Geſellſchaft; Leibniz erſchließt dem analytiſchen Motiv des „Möglichen“ den
Kosmos der Wahrheit, um dieſen wie jenes in dem fruchtbaren Gedanken der
Über J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung 19
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Stetigkeit und der Harmonie aufgehen zu laſſen; und endlich ſichert ihm Kant
durch den Begriff der tranſzendentalen Methode den größten Wirkungsbereich
und die intenſivſte ſachliche Vertiefung. Nichts in der Tat, was ein Gefüge
beſitzt, kann ſich der analytiſchen Frage nach ſeinen Bedingungen entziehen;
und alles, was in irgendeinem Sinn des Wortes, „iſt“, d. h. beſti m mt iſt,
beſitzt ein Gefüge. So gehört denn auch Rouſſeaus Namen in jene bedeutſame
Reihe analytiſcher Syſtematiker. Ob man ihn in Rückſicht darauf einen „Ratio⸗
naliſten“ heißt, erſcheint belanglos. Das Wort tut wirklich nichts zur Sache.
Er ſucht, wie wir es ſchon einmal ausdrückten, die „ratio“ des Staates und
der Geſellſchaft; denn er ſucht analytiſch zu Gegebenheiten Bedingungen. Nur
hat ſich ihm der Begriff der Bedingung geweitet: ihr letzter Sinn erſchließt ſich
ihm nur in Rückſicht auf das freilich noch nicht „tranſzendental“ zu Ende gedachte
Einheitsprinzip der „Vernunft“.
13. Es iſt ein Gemeinplatz, daß die Brücke der „Gefühlsphiloſophie“
Rouſſeau mit der Romantik verbindet. Im guten, d. h. poſitiven Sinn
problematiſch aber wird dieſer Satz erſt, wenn es gelungen iſt auch die tiefer
gelegenen ſachlichen Motive, die den Begriff „Gefühl“ auf ſeiten Rouſſeaus, wie
auf ſeiten der Romantik beſtimmen, zu ergreifen. Für Rouſſeau kennen wir
dieſe Motive bereits. Gefühl bedeutet hier „Vernunſt“ und iſt eine vom „Ver⸗
ſtande“ unterſchiedene Inſtanz gegenſtändlich gültiger und gegenſtändliche Gel⸗
tung bedingender Einheit. Und was bedeutet Gefühl für die Romantik? Nicht
ein verworrenes Medium grundſatzlos ſchweifender Subjektivität; nicht ein
gedankenfremdes, zügelloſes Schwelgen in eigenem und fremdem „Erleben“; —
ſondern die beſondere Form, Individuelles und individuelle Gegebenheit zu
kennzeichnen, wenn man will: einen erſten Schritt auf dem dornenvollen Wege,
den Begriff des Erlebens im Hinblick auf ſeine Bedeutung für den Sinn gegen⸗
ſtändlicher Beſtimmtheit und damit dieſen ſelbſt im Hinblick auf die Norm des
Erlebens zu erfaſſen. Nur ſo iſt es zu begreifen, daß und wie Hegel, dieſer
Heros wuchtigſter Verſtandesklarheit, reſtlos der Romantik zugehört; nur ſo aber
auch der tiefſte methodiſche Sinn der Hegelſchen „Dialektik“ zu würdigen. Schon
dieſe flüchtigen Hinweiſe genügen, um den ſachlichen Beziehungen Rouſſeaus
zur Romantik einen Hintergrund zu geben, demgegenüber die übliche Rede vom
„Gefühl“ zu gänzlicher Bedeutungsloſigkeit herabſinkt. Jene Beziehungen ſind
viel zu verwickelt, aber auch viel zu bedeutſam, als daß ſie durch das Schlagwort
vom „Gefühl“ ſollten umſpannt werden können. — Der contrat social und
die mit ihm funktional verknüpfte „volonté générale“ ſtellten ſich uns oben als
die Verkörperungen einer Beziehung dar, vermöge deren der Staat in einem
wohlzudefinierenden Sinn zu ſich „ich“ ſagt, vermöge deren er ein „wir“ be⸗
deutet. „Contrat social“ und „volonté générale“ erſcheinen konſtituiert durch
den Begriff einer ſich ſelbſt ſetzenden und in dieſem Belang ſich ſelbſt als Einheit
wiſſenden „Gemeinſchaft“. Welches aber iſt die Form ihres Beſtandes? Welches
die allgemeinen Bedingungen für die Beſtimmtheit ihres Seins? Gewiß nicht
die des Naturobjekts. Denn nicht ein mit ſich ſelbſt der Größe nach identiſcher
Maß wert verbürgt das Sein von Staat und Geſellſchaft; nicht das Geſetz
20 R. Hönigswald, Über J. J. Rouſſeaus problemgeſch. Stellung
der Subſtanz beſtimmt die Norm ihrer Kontinuität, ſondern ein Inbegriff von
Bedingungen, der ſie als Gegenſtände der Geſchichte kennzeichnet. Ihre
Kontinuität, ihr Sein kraft dieſer Kontinuität, erſcheinen nur durch eine rück⸗
ſchauende und vermöge ihrer Wertbezogenheit gegenſtändliche Betrachtung ge⸗
ſichert; durch eine ſpezifiſche Form der Zeitgeſtaltung, gemäß welcher ſich das
pädagogiſche Prinzip des durch den Begriff des Kulturgutes bedingten Wechſel⸗
bezugs der aufeinanderfolgenden Geſchlechter und die in ſolcher Aufeinanderfolge
geſetzte Idee einer geſchichtlichen Überlieferung beſtimmen. Staat und Geſell⸗
ſchaftſind recht eigentlich erſt vermöge der Geſchichte, die fie nicht nur halben,
um die fie als höchſte gegenſtändliche Beſtimmungsinſtanzen für Willens⸗
haltungen im Sinne der ſich ſelbſt ſetzenden und behauptenden Gemeinſchaft, im
Sinne jenes „wir“, als des Trägers rechtlicher Gebote und Entſcheidungen, auch
wiſſen müſſen. Auf dieſem Boden, in ihrem beiderſeitigen Verhältnis zur
Geſchichte und deren Begriff, begegnen ſich in gemeinſamer Ablehung der Auf⸗
klärung Rouſſeau und der Geiſt der Romantik. Von einer neuen, nämlich von
der Seite des Begriffs der Geſchichte her vervollſtändigt ſich uns ſo jenes
Bild der „Überwindung“ der Aufklärung durch Rouſſeau. Wäre Rouſſeau
nichts anderes als der Philoſoph des „Gefühls“ — er hätte die Aufklärung
wahrlich nie bezwungen. Aber „Gefühl“ gilt ihm als Korrelat zu Überlieferung
und Erziehung, Gemeinſchaft und Recht, zu geſchichtlicher Kontinuität und
„Vernunft“. So ſteht er, der „Gefühlsphiloſoph“ der geſchichtsfremden Auf⸗
klärung, er mag es ſelbſt gewußt und ausgeſprochen haben oder nicht, als
Gegner gegenüber. Er beſitzt eben, als Philoſoph der „Vernunft“, was der
Aufklärung fehlt, ein Verhältnis nicht etwa nur zur Geſchichte ſelbſt — denn
man kennt manche der Romantik vorauseilende Leiſtung der Aufklärung auf
dem Gebiete wiſſenſchaftlicher Geſchichtſchreibung, und weiß, daß ſelbſt der Aus⸗
druck „Philoſophie der Geſchichte“ von Voltaire geprägt ward —, ſondern zum
Begriff der Geſchichte. Auch Kant wird es zuweilen vorgeworfen, daß ihm
die Geſchichte noch nicht Problem geworden ſei. Man ſollte vorſichtiger urteilen
und täte gut zu bedenken, was Rouſſeau für Kant, und was der Begriff der
„Vernunft“ für beide Denker und für die Frage nach dem Begriff der Geſchichte
zu bedeuten haben.
14. Wir kommen zum Schluß. J. J. Rouſſeaus problemgeſchichtliche Stellung
entſcheidet ſich an feiner Methode. Dieſe Methode iſt die Analyſis und im Sinne
der Analyſis ergründet er die „Möglichkeit“ der Kultur. Daß das Erſcheinen
von Rouſſeaus „Emile“ Kant aus der Bahn ſeiner täglichen Gewohnheiten ge⸗
bracht habe, iſt ein gern wiederholtes Geſchichtchen. Aber es hat noch eine andere
Bedeutung; es darf als Symbol gelten für die tiefe Weſensgemeinſchaft zwi⸗
ſchen Rouſſeau und dem philoſophiſchen Kritizismus. Das methodiſche Motiv
der Analyſis und deren begrifflicher Hintergrund, das Problem der „Vernunft“,
verbinden ſie über alle Unterſchiede hinweg für alle Zeiten. So aber ſpiegelt
ſich im Denken Rouſſeaus auch die Geſchichte der Analyſis. Es iſt die Geſchichte
der wiſſenſchaftlichen Philoſophie, wie ſie ſich in relativer zeitlicher Nähe zu
Rouſſeau durch die großen Syſtematiker des 17. Jahrhunderts zu felten über
Georg Stefansky, Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung 21
q. —.r. .. ...... .. rr... ......
troffener Blüte entfaltet hat. Weil aber Ziel und Prinzip der Analyſis bei
Rouſſeau die „Vernunft“ iſt, ſo muß ſich der geſchichtliche Wirkungsbereich feiner
Gedanken tief hineinerſtrecken in das Gebiet der dialektiſchen Auseinander⸗
ſetzung zwiſchen Erkenntnis und Geltung: die großen Probleme der Romantik
vom Verhältnis zwiſchen Sein und Sinn, die romantiſchen Fragen nach den
Beziehungen zwiſchen Natur und Geſchichte beflügeln ſchon Rouſſeaus poſitive
und fruchtbare Kritik des Begriffs der Kultur. Rouſſeau ſtellt den Problem⸗
hiſtoriker der Philoſophie vor einen ſchier unüberſehbaren Reichtum ſchwierig⸗
ſter ſyſtematiſcher Aufgaben. Und nur indem er ſich anſchickt, dieſe Aufgaben
methodiſch zu bewältigen, bemächtigt er ſich der großen, aber durch Schlagworte
und Stimmungen vielfach verdunkelten Denkergeſtalt Rouſſeaus und deren
voller, ungeſchmälerter Geſchichtlichkeit.
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung im Zuſammenhang
der deutſchen Literatur des 18. Jahrhunderts.
Vortrag, gehalten vor der Philoſophiſchen Fakultät der Deutſchen Uni⸗
verſität in Prag im Winterſemeſter 1926/27,
Von Georg Stefansky in Prag.
Ehe ich die Geſchichtsauffaſſung Juſtus Möſers im Zuſammenhang der
deutſchen Literatur des 18. Jahrhunderts zur Erwägung bringe, muß ich zu⸗
nächſt die allgemeinen geiſtigen Grundlagen kennzeichnen, auf denen ſich in
Deutſchland die Geſchichte und das Bewußtſein von ihr entwickelt.
Die Zeit, der Möſer nicht nur äußerlich, ſondern durch Charakter und Art
angehört, nennen wir die Aufklärung. Möſer iſt neben Winckelmann der
Begründer der deutſchen Geſchichtſchreibung. Die deutſche Aufklärung aber iſt
in ihrem Grunde geſchichtslos, ihr fehlt, wie man heute ſagen würde, der „hi⸗
ſtoriſche Sinn“, das Organ zur Erkenntnis der geſchichtlichen Welt. Ihre Be⸗
griffe des Zwecks und der Pflicht, den Zweck als Wert der Gegenwart zu er⸗
füllen, ſind weit entfernt von aller Geſchichte. Das Zeugnis Leſſings in den Lite⸗
raturbriefen iſt für dieſe Lage oft zum Beweis gebracht worden; darin heißt
es, daß es um das Feld der Geſchichte in dem ganzen Umfang der deutſchen
Literatur (dieſer Zeit) am ſchlechteſten ausſehe. Und doch liegen in der Auf⸗
klärung durch Möſer und Winckelmann die Wurzeln einer mächtigen Bewe⸗
gung, die hinaufführt zu der ſog. hiſtoriſchen Kunſt der Romantik und über
dieſe hinaus zu den Staatswiſſenſchaften, zur Geſchichtswiſſenſchaft und Lite⸗
raturgeſchichte des 19. Jahrhunderts. Wie iſt das zu erklären?
Die mühſamen Verſuche, die bereits an der Wende des 17. und 18. Jahr⸗
hunderts auf eine Neubildung der Geſchichte zuerſt als Wiſſenſchaft hinzielten,
hatten zu keinem dauernden Ergebnis geführt. Zwar überwand ſchon im Jahre
22 Georg Stefansky
1685 Chriſtophorus Cellarius die Einteilung der Geſchichte nach den bis dahin
üblichen theologiſchen Geſichtspunkten zugunſten einer freieren wiſſenſchaft⸗
lichen Gliederung; Samuel Pufendorf hatte in ſeiner „Einleitung zu der Hi⸗
ſtorie der vornehmſten Reiche und Staaten, ſo jetziger Zeit in Europa ſich fin⸗
den“ das Problem des Staates zu ertaſten verſucht; den Urſprung und die Ent⸗
wicklung der deutſchen Staats- und Rechtsverhältniſſe hatten in weiterem Zus
ſammenhang Johann Jacob Mascov und Graf von Bünau dargeſtellt und
beide bereits hatten zum erſtenmal in deutſcher Sprache geſchrieben; der Philo⸗
ſoph Leibniz endlich war von der Hausgeſchichte Braunſchweigs zur Geſchichte
des deutſchen Mittelalters gelangt — eine merkwürdige Parallele übrigens zu
Möfer, der als Hiſtoriker feines ſchmalgiebeligen Osnabrück gleichfalls in die
freie Weite der Geſchichte ſeines Volkes hinausſchreitet. Aber trotz all dieſer im
einzelnen nicht unfruchtbaren Bemühungen kommt es in der erſten Hälfte des
18. Jahrhunderts in Deutſchland zukeiner reinen Auffaſſung der Geſchichte.
Denn über bloß techniſche oder methodiſche Neuerungen war der Weg dahin
nicht zu finden. Aus einer tieferen Schicht des Geiſtes mußte die Umſtellung
erfolgen. Und gerade die Aufklärung war mächtig, dieſe tiefere Schicht aufzu⸗
brechen.
Worin drücken ſich denn die Grundzüge der deutſchen Aufklärung aus? Das
Bild, das wir uns lange Zeit von der Aufklärung unter dem Einfluß der Ro⸗
mantik gemacht haben, war falſch. Heute wiſſen wir, daß die Aufklärung einen
fruchtbaren Kern enthalten hat, der ſpäter, und gerade in dem geſchichtlichen
Bewußtſein der Folgezeit, wirkſam aufgegangen iſt. Von den maßgebenden
Schriften, die wir jetzt über die Geſchichte der Aufklärung beſitzen, möchte ich
hervorheben: Rudolf Unger, Hamann und die Aufklärung, 2 Bände, Jena
1911; 2. Auflage 1925. Martin Sommerfeld, Friedrich Nicolai und der
Sturm und Drang. Ein Beitrag zur Geſchichte der deutſchen Aufklärung.
Halle (Saale) 1921. Schließlich die Aufſätze von Wilhelm Dilthey, Friedrich
der Große und die deutſche Aufklärung. — Das 18. Jahrhundert und die ge⸗
ſchichtliche Welt: im III. Bande ſeiner Geſammelten Schriften (Leipzig 1927).
Freilich, dies ſind die Grenzen der Aufklärung: der Inhalt des Lebens ſoll
durch das Denken allein befeſtigt und der ſo gezogene Gewinn der allgemeinen
Wohlfahrt nutzbar gemacht werden. Das iſt ein in vieler Hinſicht grober In⸗
tellektualismus und Utilitarismus. Die Religion wird zu einem Mittel der
Moral, die Kunſt zu einem Mittel der techniſchen Kultur, Politik und Wiſſen⸗
ſchaft dienen den engſten Bedürfniſſen. Aber indem die Aufklärung auf dieſe
Weiſe alles Irrationale ſich fernhält und das Leben in allen ſeinen Beziehungs⸗
gebilden auf den rationalen Genuß ſtellt, dringt ſie zu einem neuen Gefühl für
das Leben durch, nämlich für die Wirklichkeit des Lebens. Man kann ſagen:
die Aufklärung, die alle Wunder leugnen wollte, hat das Wunder der Realität
entdeckt.
In dieſe Atmoſphäre wachſen nun Möſer und Winckelmann hinein. Winckel⸗
mann iſt im Jahre 1717, Möſer im Jahre 1720 geboren. Beiden hat die Auf⸗
klärung das Auge für das Lebendig⸗Wirkliche geöffnet. Von Winckelmann gilt
das Wort Goethes: „Winckelmanns Werke find eine Lebensdarſtellung, find
ein Leben ſelbſt.“ Und über Möſer, den Verfaſſer der „Patriotiſchen Phan⸗
taſien“ hat Goethe geſagt: „Durchaus läßt der Verfaſſer die gründlichſte Ein⸗
ſicht in die beſonderſten Umſtände ſehen. Seine Vorſchläge, ſein Rat, nichts iſt
aus der Luft gegriffen, und doch ſo oft nicht ausführbar; deswegen er auch
die Sammlung Patriotiſche Phantaſien genannt, obgleich Alles ſich darin an
das Wirkliche und Mögliche hält.“ Das Leben in den Gegenſtänden wieder⸗
zufinden, im Einzelnen und weiterhin im Ganzen des Gegenſtandes das wirkliche
Leben zu ergreifen, darin hat ſich in Möſer und Winckelmann die Aufklärung
erfüllt. Und von da fand leicht die künſtleriſch beflügelte Natur beider den Weg
zur Geſchichte. Von früheſter Kindheit auf waren ſie gleichſam ſchon auf dieſem
Wege. Für Winckelmann laſſen wir ſeinen Biographen Juſti ſprechen: „Das
Elend der elterlichen Hütte, die niederdrückende Lage des Armenſchülers, der vor
fremden Türen ſingen und von fremdem Brote eſſen mußte; der Verzicht des früh⸗
klugen Knaben auf die Spiele der Altersgenoſſen; die Ausnutzung der Verhält⸗
niſſe und die Anbequemung an die Menſchen; ... in den Städten feiner Heimat
von dem erſten Lebensmorgen an vor ſeinen Augen die hehren und ſtrengen
Bauwerke der Vorzeit; das kindliche Verlangen, die Reſte alter Zeiten zu ent⸗
decken; der Zug nach dem bewegten Schauplatze großer Städte und die Erſchei⸗
nung des neugierigen Schülers in einer Akademie der Künſte, — in dieſen und
anderen Dingen ſehen wir den ſpäteren Winckelmann im Keime vorgebildet.“
Und ähnlich wie der Knabe Winckelmann im einſamen Stendal das Leben
durch die unmittelbare Anſchauung ſelber kennenlernt, in der Entbehrung, in
der Sehnſucht, vor allem in den Rätſeln der Geſchichte die verſchiedenen Seiten
des Lebens entdeckt, ſo tritt auch, allerdings unter glücklicheren äußeren Ver⸗
hältniſſen, der junge Möſer in das Leben ein. Die natürliche Landſchaft um
Osnabrück, in der das Kind ſeine Jugendſpiele treibt, iſt ein Boden voll ernſter
hiſtoriſcher Erinnerungen. „Das ſchmale ſchöne Hügelland“ — ich zitiere Karl
Brandi — „zwiſchen dem Teutoburger Wald und dem Wiehengebirge, das ſich
von der Weſer bis zur Haſe bei Osnabrück hinzieht, beſchließt in ſich alle großen
Erinnerungen der altſächſiſchen Zeit. Mächtige Hünengräber und Opferftätten.
Stattliche Höfe mit bunten Giebeln, gekrönt von der königlichen Giebelzier des
Szepters oder der Säule — die Sitze der Engern, die Heimat Widukinds. Hier
liegen Wittekindsburgen und -Alöfter. Hier ſchlug Karl der Große feine
Schlachten, und irgendwo in der Nähe ſiegte auch Arminius über die Römer
.. Im weiterlebenden, lebendigen Denkmal erfaßt dies alles das kluge Auge
Möſers und wenn der Knabe über Wall und Graben in die vieltürmige, hoch⸗
gegiebelte Stadt zurückkehrt, ſo ſieht er alle Fäden der Vergangenheit tief hin⸗
eingewoben in die Verhältniſſe der Gegenwart, in Verfaſſung, Recht, Wirtſchaft
und Verkehr ſeiner Heimatſtadt. Und am Tiſche im Elternhauſe, aus den Er⸗
zählungen des Vaters gewinnen alle Eindrücke letzten Glanz und Farbe. Der
Vater war ein angeſehener, äußerſt tätiger Geſchäftsmann, der viel von den
Beziehungen der Menſchen geſehen und erfahren hatte. Da bekommt denn die
Aufmerkſamkeit des Knaben eine beſtimmte Richtung und, nachdem er heran⸗
24 Georg Stefansky
gewachſen als Juriſt in den Staatsdienſt ſeines Vaterlandes eingetreten iſt,
bildet und entſcheidet ſich der Charakter ſeines Geiſtes. Er hat erkannt, was den
Mittelpunkt ſeiner geiſtigen Leiſtung künftig ausmacht: daß nämlich alles
Lebendige eine untrennbare organiſche Einheit bildet, aus der kein Teil an
ſeinen Rändern unverletzt herauszulöſen iſt. Sitte, Religion, Kultur, Recht,
Staat, Verfaſſung, Wirtſchaft, Handel, Verkehr und alle übrigen Beziehungen
der Menſchen ſind einerſeits ein Glied in der zeitlichen Folge ihrer Entwick⸗
lungsformen, ſind alſo unabänderlich ſo, wie dieſe geſchichtliche Entwicklung ſie
geformt hat und ſtehen anderſeits untereinander in einem fo engen und unlös-
baren Verhältnis, daß ſie nur als Geſamtheit im einzelnen verſtanden, nur als
Einheit dargeſtellt werden können. Möſer verwendet für dieſe Anſchauung des
Lebens den Begriff der „Totalität“. Dieſer Begriff, auf dem ſeine ganze Welt⸗
und Geſchichtsauffaſſung gründet, hat ſich in ihm durch die unmittelbare prak⸗
tiſche Erfahrung von Kindheit auf gebildet. Wie ſehr er ſich ſeines Bildungs⸗
weges bewußt war, dafür zeugt ſein Prinzip der Erziehung und Volksbildung:
der Begriff der Totalität ſteht in der Mitte. Ich möchte nur eine Stelle wörtlich
anführen: „Nach meiner Erfahrung haben immer diejenigen mächtiger gehan⸗
delt, welche die Natur ſo ganz, wie ſie ſich ihnen dargeſtellt, empfunden und ſich
die wenigſte Zeit bei'm Buchſtabieren aufgehalten haben. Kinder machen in
ihrem erſten und zweiten Jahre, da ſie bloß durch Total⸗Eindrücke belehrt wer⸗
den, erſtaunende Schritte; ... Männer, die auf dieſe Art zur See oder zu Lande
erzogen worden, und ſich einzig und allein durch dasjenige, was ihnen in der
Welt aufgeſtoßen iſt, gebildet haben, ſind mir unendlich mächtiger und größer
vorgekommen als Alle, welche in der Schule aufgehalten worden ...; und ich
getraue es mir, in allem Ernſte zu behaupten, daß Eltern, welche Gelegenheit
haben, ihre Kinder durch die Welt, oder durch die Totaleindrücke von den zu
ihrer künftigen Beſtimmung gehörigen Dingen zu erziehen, ihre Kinder ſo wenig
als möglich in die Schule ſchicken ſollten.“ Dieſe Erziehung des Kindes aber
iſt nach Möſer nur die Grundlage für das ſoziale und politiſche Leben des Men⸗
ſchen überhaupt.
Damit haben wir aber auch die Linie erreicht, an der Möſer ſich von der Auf—
klärung trennt, ſie überwindet. Dilthey kennzeichnet den Gegenſatz durch den
Unterſchied der Methode: die Aufklärung bleibt in der Reflexion über die Ein⸗
zeltatſachen ſtecken, Möſer ſammelt ſich zu einem unmittelbaren Erfaſſen der
dynamiſchen Zuſammenhänge, zur Intuition. Wir können hinzufügen: in
dieſem Zuſammenhang des Ganzen erſcheint Möſer ſeine Gegenwart nur als
ein Glied in der langen Reihe der hiſtoriſchen Epochen, ohne jeden Wertakzent;
für die Aufklärung bedeutet die Gegenwart einen Höhepunkt, den erreicht zu
haben, man ſtolz iſt. Zwar hatte auch die Aufklärung eine Art Zuſammenhang,
eine gewiſſe Verknüpfung der geſchichtlichen Erſcheinungen angenommen, aber
das geſchah nur auf engerem Felde, im Kampfe gegen die Theologie, deren Dog⸗
men man durch eine natürliche Kauſalität zu entkräften beſtrebt war.
Möſers Standpunkt iſt ſomit über die Aufklärung hinaus weit ins Neuland
vorgeſchoben. Trotzdem ſchließt die unmittelbare Folgezeit in ihrem ſtetig wach⸗
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung 25
ſenden Gefühl für alles Hiſtoriſche gerade in den Tiefen ihrer Geſchichtsauf⸗
faſſung nirgends an Möſer an: ja, bis an die Schwelle des 19. Jahrhunderts
wird ſein Name gar nicht genannt, von der perſönlichen Verehrung einzelner
abgeſehen, wie Herder, Goethe, Schloezer oder Abbt. Der moderne Poſitivismus
hat ihn erſt wieder neu entdecken müſſen. Wie iſt das zu verſtehen?
WMöſers Geſchichtsauffaſſung läßt fi) in folgendem Aufriß darſtellen:
Möfer ift feinem Beruf nach Advokat und Staatsmann. Für den Advokaten
wird das Recht, für den Staatsmann der Staat im Mittelpunkte ſeines Inter⸗
eſſes ſtehen. Das heißt: unmittelbar aus ſeiner amtlichen Stellung heraus,
als Politiker, werden ihm Staat und Recht zu politiſchen Problemen werden.
Und ſie werden ihm auch dann rein politiſche Probleme bleiben, wenn er ſie in
ihre Entwicklung, in die Geſchichte zurückverfolgt. Der Zielpunkt ſeiner Ge⸗
ſchichte wird demnach die Politik ſein, die Geſchichte wird für ihn das Mittel
bilden, die Struktur des Staates und die Rechtsverhältniſſe innerhalb des
Staates feiner Zeit vermöge der hiſtoriſchen Erfahrung auf das zweckmäßigſte zu
gliedern. Was außerhalb dieſes rationalen Zweckes liegt, findet keinen Platz
in ſeiner Geſchichte.
Unter ſolchen Vorausſetzungen nennt Möſer ſeinen Staat einen „Deichband“.
Nämlich: ſowie in den Ländern, die an der See liegen, die Landeigentümer ſich
vereinigen, um den Damm, den Deich, der ihr Land gegen das Meer ſchützt, aus⸗
zubauen und zu erhalten, ſo ſchließen ſich auch die Anſiedler einer Landſchaft
nach deren Eroberung zum Schutz ihres Beſitzes zuſammen, bilden einen Schutz⸗
verband als geſchichtlich älteſte Grundform des Staates. In dieſem Schutzver⸗
band werden urſprünglich nur die Ackerbauer vertreten ſein, denn ihnen gehört
der Boden, den Boden als Beſitz zu ſchützen, iſt ihre Sorge und Aufgabe. In
ſeiner rechtlichen Organiſation ſtellt dieſer Schutzverband eine Art Aktiengeſell⸗
ſchaft dar und die Aktionäre ſind nach der Anzahl ihrer Aktien, nach der Größe
ihres Landbeſitzes, an den Pflichten und Rechten des Verbandes beteiligt. In
dieſem Sinne bildet der Ackerbauer die Urzelle und den Mittelpunkt des Staa⸗
tes durch die ganze Geſchichte hindurch. Ihm gilt deshalb Möſers beſondere
Liebe: „Keiner trägt“, ſchreibt Möſer einmal, „ein Unglück ſtandhafter als der
Landmann; keiner ſtirbt ruhiger als er; keiner geht ſo geradezu in den Himmel,
wie dieſer; und warum? weil ſeine Tugend nicht auf Silben, ſondern auf To⸗
taleindrücken der Schöpfung .. beruhet.“ Ahnlich wie Rouſſeau, aber doch deut⸗
lich in innerem Gegenſatz zu ihm, preiſt auch Möſer die Naturnähe des Mens
ſchen; ſie iſt ihm aber ein hiſtoriſches Recht, nicht eine ideale Forderung.
Vom Landbeſitz als Zentrum aus verzweigt ſich für den Juriſten Möſer das
ganze Netz der geſellſchaftlichen Beziehungen. Neben den älteften Anſiedlern
wachſen in die Landſchaft allmählich neue Anwohner hinein. Der Boden iſt be⸗
reits verteilt, Bodeneigentum iſt nicht mehr zu erwerben. Deshalb ſchließen die
Zuwanderer mit den echten Landeigentümern einen Kontrakt. Sie verpflichten
ſich einerſeits, Beihilfe zur Unterhaltung des Deiches, d. h. des Staatsganzen,
zu leiſten, und erwerben dafür anderſeits das Recht, Handwerk und Handel zu
treiben. „Hiemit“, ſagt Möſer, „ſtimmet auch die Geſchichte überein, die überall
26 Georg Stefansky
die Landſteuern und Landdienſte den Kopf⸗ und Vermögenſteuern vorgehen
läßt, die den Urſprung der Städte in Deutſchland in ſehr ſpäte Zeiten ſetzt, die
den Einwohnern der Städte lange keinen Morgen Landes, ſondern höchſtens
einen Kohlgarten einräumet uſw. ... So gelangt Möſer durch ſeine geſchicht⸗
liche Beobachtung zu dem gleichen Ergebnis wie die franzöſiſchen Phyſiokraten,
ohne erſt auf deren gewagte Spekulationen über den Urſprung des National⸗
vermögens ſich einzulaſſen.
Wir ſehen immer deutlicher: die Geſchichte liefert Möſer den Beweisſtoff für
feine politiſche Staats- und Rechtstheorie. Durch die Geſchichte als Erfah⸗
rung ſoll die bloße Theorie überwunden werden, denn ſchließlich iſt auch die
Anſchauung, der Totaleindruck, den man von der Gegenwart allein gewinnt,
nur eine Deutung der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit ſelbſt, und inſofern
Theorie. Erſt wenn alles Gegenwärtige aus dem Vergangenen abgeleitet und
hiſtoriſch erwieſen wird, befeſtigt es ſich als Realität. In ſeiner berühmten
Vorrede zur „Osnabrückiſchen Geſchichte“ ſagt Möſer wörtlich: „Ich fühlte
bald, daß die neuern Zeiten durchaus das Licht der alten nötig hätten.“ Vor
der Theorie aber, dem gefährlichſten Feind aller Erkenntnis, kann er gar nicht
genug warnen: „beſonders in Deutſchland,“ ſagt er, „wo es für Männer von
einer gewiſſen Klaſſe faſt notwendig iſt, ſich eher durch Theorie einen litterariſchen
Ruhm zu erwerben, ehe ſie Erfahrungen haben anſtellen können.“ Und wie ein
Selbſtbekenntnis klingt es, wenn er meint: „Jeder Erfahrene (das ſoll heißen:
der hiſtoriſch Erfahrene, wie aus dem folgenden hervorgeht) legt unſtreitig eine
Theorie zum Grunde; aber der Empiriker hat das im Griffe, womit ſich der
Theoretiker im Kopfe quält. Es geht jenem wie dem General Luckner, der im
fiebenjährigen Kriege einmal dem Herzog Ferdinand antwortete: er verſtehe
wohl den Feind zu ſchlagen, nicht aber einen Plan dazu zu machen.“
Daraus folgt für Möſer weiter: Hinter den Formen des Staates und des
Rechts, wie ſie aus der politiſchen Anſchauung der Gegenwart erfließen, ſind
beſtimmte Energien wirkſam. Dieſe Energien ſind das Leben ſelber. Es iſt ein
Unterſchied zwiſchen dem Begriff des Staates und dem hiſtoriſchen Staat, zwi⸗
ſchen dem wirklichen und dem förmlichen Recht. Nicht die Abſtraktionen von
Staat und Recht, ſondern ihre durch die Geſchichte lebendigen Verkörperungen
ſtehen zueinander in gegenſeitiger Funktion. Damit erſt erhält Möſers Grund⸗
ſatz von der Einwirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart feine volle Be:
gründung: nur die hiſtoriſche Erfahrung vermag, weil ſie ein Teil des Lebens
iſt, die Funktionen des Lebens zu regeln. Die Geſchichte wird alſo gleichſam
ein Erſatz für die Logik, die allein in der Realität des Lebens nicht geſetzgebend
ſein kann.
Und jetzt werden auch die eigentümlichen Weiterungen, die ſich aus Möſers
Standpunkt ergeben, ganz klar: Was und wie etwas durch die Geſchichte ge:
worden iſt, ſo gilt es. Wenn ein Irrtum hiſtoriſch begründet iſt, ſo iſt er kein
Irrtum mehr. Wenn irgendetwas logiſch als Irrtum, ethiſch als Unrecht offen»
bar iſt, durch die Geſchichte wird es zu Wahrheit und Recht. Daher beharrt
Möſer darauf, daß die Leibeigenſchaft, geſchichtlich erwachſen, nicht abzuſchaf—
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung 27
fen, das Los der unehelichen Kinder nach den hiſtoriſch gegebenen Rechtsver⸗
hältniſſen nicht zu erleichtern, das Duell mit ſeinen geſellſchaftlichen Folgen als
Erbtum nicht aufzuheben, ja, das Fauſtrecht in ſeiner geſchichtlichen Verklärung
nicht zu verurteilen, die kirchliche Dogmatik, als einmal feſtgeſetzt, nicht zu ver⸗
ändern iſt. Möſer fühlte ſelbſt, daß er mit dieſer Auffaſſung weit von der Hu⸗
manitätsidee ſeiner Zeit abrückte. Und es iſt höchſt bezeichnend für ihn, daß er
die Philoſophie des Jahrhunderts eben um ihrer Humanitätsbeſtrebungen
willen „unpolitiſch“ ſchilt.
Wenn die Zweckſetzung der Geſchichte allein in der politiſchen Wohlfahrt des
Volksganzen liegt, dann wird die geſamte innere Kultur in harte Abhängigkeit
vom äußeren Leben geraten. Möſer definiert den Begriff der Geſchichte: „Jede
Geſchichte muß die Naturgeſchichte des Originalkontrakts einer Nation unter
allen vorkommenden Veränderungen werden, wenn ſie jemals im eigentlichen
Verſtande pragmatiſch ſein ſoll.“ Sind nun auch die Künſte, die Religion als
Glaube, die ſeeliſchen Beziehungen zwiſchen den Menſchen aus dieſer Natur-
geſchichte des völkiſchen Urvertrags abzuleiten? Der Rationaliſt Möſer hätte
darauf unbedenklich geantwortet: Gewiß. Und im einzelnen hat er es auch
begründet.
Am ſchärfſten leuchtet ſein Urteil aus ſeiner Einſtellung zur Dichtkunſt her⸗
vor. In einem Briefe „An einen jungen Dichter“ ſagt er: „Der Nutzen, den die
Dichtkunſt bringt, und der Vorteil, welchen die menſchliche Glückſeligkeit davon
zieht, iſt ... zu jeder Zeit das Maß geweſen, wonach man ihren Wert beſtimmt
hat.“ Sicherlich ſind ſolche Sätze durch den Utilitarismus bedingt und wir
kennen auch die Vorbilder, die Möſer im einzelnen beeinflußt haben mögen.
Aber eine eigentümliche perſönliche Empfindung der Kunſt muß dieſer Anſicht
doch fördernd entgegengekommen ſein. Zwar ſchreibt Möſer in einem Briefe
an Nicolai: „Da ich in meinem Leben lauter juriſtiſches Zeug geſchrieben, nie
ein Compendium der ſchönen Wiſſenſchaften geleſen habe, und in denſelben
nur ſo ein Bischen naturaliſiere, wie die ausgelernten Fechter ſprechen, ſo be⸗
ſorge ich immer, von dieſer Seite den Rechtſchreibern anſtößig zu ſein.“ Aber
dieſem beſcheidenen Bekenntnis ſteht ſichtbar ein reines äſthetiſches Feingefühl,
die eigene dichteriſche Erfindungskraft, ſeine feſte Sicherheit im künſtleriſchen
Urteil gegenüber. Im Kampf gegen Gottſched hatte er die poetiſche Bedeutung
des Hanswurſt auf der Bühne erkannt und in feiner „Verteidigung des Oro:
teske⸗Komiſchen“ in Schutz genommen; ein ſelbſterfundenes Scherzſpiel „Die
Tugend auf der Schaubühne, oder Harlequins Heirat“, das mit dem aus⸗
gelaſſenſten Übermut eines Clemens Brentano wetteifern könnte, hatte er
ſeiner „Verteidigung“ angeſchloſſen. Möſer war ferner einer der erſten, der ſehr
zum Verdruß ſeines Freundes Nicolai Winckelmanns Größe richtig eingeſchätzt
hat, richtiger ſelbſt als Leſſing in feinem „Laokoon“. Die Frage der künſtle⸗
riſchen Nachahmung war ihm bereits zu einer Zeit klar, da die deutſche Klaſſik
und der deutſche Idealismus noch in weiter Ferne ſtanden; Beweis dafür ſein
Ausſpruch: „Wer nicht wie Raphael denkt, wird auch als der glücklichſte Copiſt
kein Raphael werden.“ Am weiteſten endlich hat feine Schrift „Über die deutſche
28 Georg Stefansky
Sprache und Literatur“ (1781) gewirkt, die eine Entgegung war auf Friedrichs
des Großen „De la litterature allemande“. Als Heinſe dieſe Schrift in Rom
las, ſchrieb er an F. H. Jacobi: „In Möſers Schreiben finde ich verſchiedene
Kernbeobachtungen voll reinen Menſchenſinnes;“ aber er mußte auch hinzu⸗
ſetzen: „nur kömmt mir feine Theorie der Künſte ... ein wenig ſeicht vor,
und noch gefällt mir anderes nicht.“ Das richtige Wort für den Mangel der
Schrift hat zuletzt Hamann gefunden, der zu Herder „die ganze Wendung
politiſch“ nannte.
„Politiſch“ in dieſem Sinne iſt auch Möſers Einſtellung zur irrationalen
Welt des Glaubens, ſeine Anſicht von der Religion. Er ſagt wörtlich: „die
Religion iſt eine Politik, aber die Politik Gottes in ſeinem Reiche unter den
Menſchen. Und, wenn wir Gott dienen, ihn loben und preiſen, ſo befördern
wir damit Gottes Ehre; und Gottes Ehre iſt die Glückſeligkeit feiner Geſchöpfe.“
Dieſe Auslegung klingt ſchon beinahe wie eine advokatoriſche Spitzfindigkeit.
Verſöhnend wirkt bei dem Eindruck der behagliche Humor Möſers, der auch
ſeine Derbheiten gefällig umſpinnt, ſo wenn er die Religion ein andermal als
das beſte Hausmittel bezeichnet, das man für ſeeliſches Leid, z. B. im Schmerz
um Verſtorbene, aus der Hausapotheke wirkſam gebrauchen könne: „Der ſimple
Troſt: er iſt bei Gott hat ſchon mehr Kummer in der Welt geſtillet, als alle
Feinheit der Metaphyſik.“ Wenn man ihm, meint Möſer bei anderer Gelegen⸗
heit, gegen dieſe Anſicht entgegenhalte, „die Religion ſei ſolchergeſtalt nur eine
bezaubernde Muſik, ein Kappzaum für den Pöbel; ich antworte Ihnen darauf
itzt weiter nichts als: Wir find alle Pöbel ...“. Deshalb ſei die wahre Urſache
für den Verfall ſeiner Zeit, daß die Religion aufgehört habe, Disziplin zu ſein.
Denn nur als Disziplin hat ſie „politiſche“ Kraft.
Weitere Einzelheiten erübrigen ſich. Wir ſehen: von Möſers Geſchichte führt
kein Weg zur Welt des Irrationalen, trotz gewiſſer bereits greifbarer Anſätze
in feiner Methode der Intuition, in feinem methodiſchen Begriff der Totalität.
Das iſt nicht etwa eine Einſeitigkeit, eine Unausgeglichenheit, die Möſers Ge-
ſchichtsauffaſſung allein anhaftet, an ihr leiden die poſitiviſtiſchen Syſteme des
19. Jahrhunderts ebenſo, wie Savignys Hiſtoriſche Schule. Denn nur der⸗
jenige Zuſammenhang von Geſchichte und Leben iſt auch mächtig, das Irratio—
nale in reiner Weiſe zu umfaſſen, der die Individualität als Erlebnisakt in
ſeiner Mitte hat. In Möſers geſchichtlicher Welt aber gibt es kein Individuum.
Vom Staat geht Möfer aus, und dieſer Staat ſtellt für ihn eine Summe von
organiſch gleichen, nur rechtshiſtoriſch unterſchiedenen Einzelweſen dar. Weder
der Staat ſelbſt, noch der Einzelne im Staat bildet eine individuelle Größe. Als
grellen Gegenſatz halte man dieſer Einſtellung etwa die Staatsauffaſſung der
Romantik entgegen, für die der Staat geradezu der „allegoriſche Menſch“ iſt.
Wie es bei Novalis heißt: „der Staat iſt immer ein Makroanthropos geweſen:
die Zünfte = die Glieder und einzelnen Kräfte, die Stände = die Vermögen.
Der Adel war das ſittliche Vermögen, die Prieſter das religiöſe Vermögen, die
Gelehrten die Intelligenz, der König der Wille.“ Ganz anders Möſer. Aktien⸗
geſellſchaft, Sozialkontrakt, politiſche Zweckgemeinſchaft, das ſind ſeine Grund⸗
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung 29
begriffe. Er warnt den Geſchichtſchreiber, er möchte ſelbſt die Einteilung in
hiſtoriſche Perioden nicht von perſönlichen Faktoren (Königen z. B.) abhängig
machen, nur die ganze Breite der Zeit ſei ein Einteilungsgrund der Geſchichte.
Wie ein Symbol flammt am Ende von Möſers Leben — er ſtarb 1794 — die
franzöſiſche Revolution auf, die erſte ſchwere Probe auf den modernen Indi⸗
vidualismus: Möfer hat fie abgelehnt.
Die deutſche Revolution aber am Ende des 18. Jahrhunderts war die große
geiſtige Bewegung, die heraufführte vom Individualitäts⸗Erlebnis des Sturm
und Drangs, vom Kraftgenie Hamanns, zum Subjektivismus der Romantik,
zur letzten Höhe in Schleiermacher, für den das Individuum den Schnittpunkt
des Endlichen und Unendlichen darſtellt. Am Ende überftieg man auch hier das
Ziel, und die hohen Berge, die man nach dem klugen Wort Niebuhrs zuletzt
auftürmte, um den Himmel zu erreichen, ragten nur zu weit fort über die ſichere
Auffaſſung Möſers, der bodenfeſt in ſeiner weſtfäliſchen Ebene beharrte. Ein
großer Gewinn ging dabei mit Möſers Einſtellung vor allem verloren: die
politiſche Färbung der Geſchichte. Auf weiten Umwegen mußte der Deutſche
im 19. Jahrhundert erft wieder zu der nationalen Art und Kunſt Möſers zurück⸗
finden, vorzüglich zu einem der wichtigſten Begriffe in der Geſchichte des natio⸗
nalen Lebens, den Möſer bereits beſeſſen hatte: zur Unterſcheidung des Begriffs
vom „Volk“ in eine von gemeinſamen biologiſchen Grundlagen getragene reale
Einheit und in eine durch ebenmäßige Zwecke geſtiftete Einheit. In dem letzteren
Begriff iſt bei Möſer ſogar ſchon die feinere Differenzierung von Staats⸗ und
Kulturnation angedeutet, wie wir ſie heute bei Kirchhoff und Meinecke ſinden. —
Der Geſchichtsauffaſſung Möſers möge nun mit einigen umfaſſenden Linien
die Entwicklung des geſchichtlichen Bewußtſeins im 18. Jahrhundert gegenüber⸗
kreten: erſt fie kann durch ihren Gegenſatz und durch das andere Ergebnis, zu
dem fie geführt hat, unſer Bild von Möſer vollenden.
Am Anfang der Reihe, die wir überblicken, ſteht Hamann. Schon daß wir
bei Hamann überhaupt von einem Verhältnis zur Geſchichte ſprechen, in den
— wie er ſelbſt geſagt hätte — myſtiſchen vapeurs der „Sokratiſchen Denk⸗
würdigkeiten“ oder von „Golgatha und Scheblimini“ ſeine Auffaſſung der Ge⸗
ſchichte zu ſuchen haben, weiſt uns bereits die völlig veränderte Richtung. Viel⸗
leicht ſei die ganze Hiſtorie, ſagt Hamann, Mythologie, und gleich der Natur
ein verſiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Ratſel, das ſich nicht auflöſen
läßt, ohne mit einem andern Kalbe als unſerer Vernunft zu pflügen. Die
Methode der Intuition, wie ſie Möſer geübt, iſt in das Dunkel der Viſion
vertieft, in eine „vis divinandi für das Vergangene“ nach Hamanns eigenem
Ausſpruch. Der Gegenſtand dieſer Geſchichte iſt der Menſch und die Welt, ſoweit
ſie den Menſchen betrifft. Menſch und Welt aber iſt gottentſprungen, in Gott,
in ſeinen Plänen, liegt das Ziel dieſer Geſchichte.
Hamann war der Freund und Ratgeber Herders, von ihm empfängt Herder
auch den Rat, in der Darſtellung der Geſchichte ſeiner Einbildungskraft die
Zügel ſchießen zu laſſen. Das war ein gefährliches Wort, Herder aber fand
darin eine neue und ſichere Aufgabe. Noch in den „Kritiſchen Wäldern“ vertritt
30 Georg Stefansky
er den Standpunkt, daß eine Geſchichte um ſo glaubwürdiger ſei, je mehr ſie auf
augenſcheinlichen factis oder datis beruhe. Die Hiſtoriographie entarte, wenn
ſie anfange, Vernünftelei oder gar Syſtem ohne hiſtoriſche Grundlage zu ſein.
Doch ſchon in ſeinem großen Fragment über die „Alteſte Urkunde des Menſchen⸗
geſchlechts“ hat er den Standpunkt aufgegeben. Zum erſtenmal ſehen wir ein
Prinzip in der Geſchichte walten: die Bildungsgeſchichte der Menſchheit, die
Geſchichte ihres Geiſtes wird aus einer letzten Urkraft, die uns die Bibel be-
glaubigt, hergeleitet. Darin wurzelt einer der Hauptgedanken der ſpäteren
Romantik, wenn ſie die Geſchichte in ihrem letzten Sinn zum Abſoluten hin⸗
führt: ich erinnere nur an die Geſchichtsphiloſophie Schellings. Herder aber hat
die Geſchichtsphiloſophie entdeckt, er, nicht Giovanni Battiſta Vico die Grund⸗
lagen für die scienza nuova geſchaffen. Seine neue Anſicht von der Geſchichte
hat Herder in ſeinem größten Werk in den „Ideen zur Philoſophie der Ge⸗
ſchichte der Menſchheit“ niedergelegt. Im 9. Buch des 2. Teiles, im 1. Kapitel,
heißt es: „Die Philoſophie der Geſchichte .., die die Kette der Tradition ver⸗
folgt, iſt eigentlich die wahre Menſchengeſchichte, ohne welche alle äußere Welt⸗
begebenheiten nur Wolken oder erſchreckende Mißgeſtalten werden. Grauſen⸗
voll iſt der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer auf Trümmern
zu ſehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwälzungen des Schickſals ohne dauernde
Abſicht! Die Kette der Bildung allein macht aus dieſen Trümmern ein Ganzes,
in welchem zwar Menſchengeſtalten verſchwinden, aber der Menſchengeiſt un⸗
ſterblich und fortwirkend lebet.“ Der Abſtand von Möſer dehnt ſich immer weiter.
überhaupt ſcheint mir die Verbindung Herders mit Möſer trotz ihrer Überein⸗
ſtimmung in den phyſikaliſchen und phyſiologiſch⸗ materiellen Anlagen der Ges
ſchichte lockerer zu ſein, als man gemeinhin annimmt. Nicht zuletzt dürfte der
Umſtand bezeichnend ſein, daß Herder in der Zeit, da er einſam und ohne
geiſtigen Anſchluß in Bückeburg ſaß, keine Verbindung mit Möfer ſuchte, der
wenige Meilen von ihm entfernt in Osnabrück lebte: der Gegenſatz ihrer Denk⸗
weiſe war dem empfindlichen Herder bei aller perſönlichen und ſachlichen Achtung
vor Möſer zweifellos bewußt. In Herder und Hamann hat der Individualis⸗
mus zum erſtenmal wieder ſeit der Reformation ſeine Kräfte geſammelt, und
zwar zum Gefühl des Glaubens geſammelt und verdichtet und mit dieſem Ge⸗
fühl heiß und leuchtend die Geſchichtsauffaſſung des Sturm und Drangs durch⸗
glüht.
In ein kühleres und zugleich helleres Licht der Erwägung gelangen die Pro⸗
bleme mit der Geſchlechterreihe der ſogenannten deutſchen Klaſſiker. Goethe
ſtand den Naturwiſſenſchaften näher als der Geſchichte. Aber für Schiller, den
Verfaſſer der Geſchichte des Dreißigjährigen Krieges, dem Dichter großer hiſto⸗
riſcher Dramen, die auf fleißigen Quellenſtudien beruhen, hat man mit Recht
von einem angeborenen naturſtarken, inſtinktiven Verhältnis zur geſchichtlichen
Welt geſprochen. Ein Inſtinkt war es allerdings noch, nicht freies ſelbſtſicheres
Vermögen. Denn dem Dramatiker Schiller fehlte nicht nur nach ſeiner eigenen
Außerung zu Körner der allgemeine über alles ſich verbreitende Blick des Beob⸗
achters, wie er dem Epiker und dem Hiſtoriker notwendig ift, ſondern fein Kunſt⸗
Juſtus Möſers Geſchichtsauffaſſung 31
und Lebensprinzip ſelbſt, in dem er beruht, wird ihn in ſeiner Einſicht in die
Geſchichte beengen. Die eigentümliche Auffaſſung des deutſchen Klaſſizismus
vom Weltbürgertum — denn das, was die Antike unter Kosmopolitismus ver⸗
ſtand, die Kyniker etwa oder die Stoa, war etwas ganz anderes! — der deutſche
Kosmopolitismus alſo löſt den Menſchen aus ſeinen nächſten hiſtoriſchen Be⸗
ziehungen und „Weltgeſchichte“ iſt daher das, was unter dieſen Geſichtspunkten
die klaſſiziſtiſche Strömung des 18. Jahrhunderts anſtrebt. „Betrachtungen
über die Weltgeſchichte“, „Betrachtungen über die bewegenden Urſachen in der
Weltgeſchichte“ betiteln ſich die wichtigſten geſchichtstheoretiſchen Aufſätze Wil⸗
helm v. Humboldts. „Weltgeſchichte“ aber bedeutet hier ſoviel wie Ent⸗
wicklung des Menſchen als ſittlicher Charakter in Raum und Zeit der Welt, die
Geſchichte feiner Bildung aus den urſprünglichen Anlagen ſeiner ethiſch⸗äſtheti⸗
ſchen Natur zum Ideal der Zukunft. In ſolchem Sinne tritt für Schiller der
Staat zurück vor den Rechten des Individuums als Weltbürger. In ſeiner
Schrift über „Die Geſetzgebung des Lycurg und Solon“ ſagt er: „Der Staat
ſelbſt iſt niemals Zweck, er iſt nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher
der Zweck der Menſchheit erfüllt werden kann, und dieſer Zweck iſt kein anderer
als Ausbildung aller Kräfte, des Menſchen Fortſchreitung.“ Dieſe Fortſchrei⸗
tung liegt in der Erziehung des Menſchen. Und zwar in der Erziehung zur
Freiheit, und weiterhin zur Schönheit, nach Schiller, der von Kant herkam. Nach
Humboldt in der Entwicklung zur Totalität aller individuellen Kräfte, welche
identiſch iſt mit dem in der Welt atmenden Geiſte, zu einer höchſten Einheit,
die kulturhiſtoriſch als Humanität ſich darſtellt und wirkt. Die Humanität als
Spiegel des Weltgeiſtes iſt das lebendige Band zwiſchen Menſchheit, Stamm,
Nation, Individuum. Die Menſchheit, von der W. v. Humboldt ſpricht, „kann
nur in der, der Erſcheinung nach, ganz körperlichen Natur leben und weben,
und trägt ſelbſt einen Teil dieſer Natur in ſich. Der Geiſt, der dieſe beherrſcht,
überlebt den Einzelnen, und ſo iſt das Wichtigſte in der Weltgeſchichte die Be⸗
obachtung dieſes, ſich forttragenden, anders geſtaltenden, aber auch ſelbſt manch⸗
mal wieder untergehenden Geiſtes“. Sie ſehen, wir nähern uns ſchon Hegels
Gedankenwelt! Vorläufig ſtellt ſich der noch naturgebundene Geiſt der Menſch⸗
heit „in jeder einzelnen Nation und jedem einzelnen Individuum, .. aber als
Ganzes nur in der nie zu erreichenden Totalität aller nach und nach zur Wirk⸗
lichkeit kommenden Einzelheiten dar“. Das große Individuum Menſchheit alſo
zerfällt organiſch in verſchiedene Stämme und Nationen, die Nation aber iſt
ſelbſt wieder ein Individuum, „und der Einzelne ein Individuum vom In⸗
dividuum“. Hat der Sturm und Drang in erſter Reihe Methode und Ziel der
Geſchichte verändert, ins Metaphyſiſche vertieft, ſo wandelt die Klaſſik den
Gegenſtand der Geſchichte zur „Weltgeſchichte“ über der neuen Anſicht vom In⸗
dividuum.
Das Erbe des Sturm und Drangs und der Klaſſik tritt die deutſche Romantik
an. Was ſucht, um es mit einem Wort zu erfaſſen, die Romantik in der Ge⸗
ſchichte? Friedrich Schlegel gibt in ſeinen „Athenäumsfragmenten“ die
Antwort darauf: „Der Gegenſtand der Hiſtorie iſt das Wirklichwerden alles
32 Georg Stefansky
FFA r:tr ũ DDr ̃ T—.. . rr...
deſſen, was praktiſch notwendig iſt.“ Denn die Menſchheit iſt für Friedrich
Schlegel „eine zwitterhafte Spielart, eine zweideutige Miſchung der Gottheit
und der Tierheit ... Der Menſch iſt eine aus feinem reinen Selbſt und einem
fremdartigen Weſen gemiſchte Natur. ... Die Grundlage feiner ſtolzeſten Werke
iſt oft ein bloßes Geſchenk der Natur, und auch ſeine beſten Taten ſind nicht
ſelten kaum zur Hälfte ſein. Ohne alle Freiheit wäre es keine Tat: ohne alle
fremde Hilfe keine menſchliche“. Schon klingt hier bei aller Betonung von Frei⸗
heit und Größe des Individuums deſſen Abhängigkeit von gewiſſen überindivi⸗
duellen Faktoren an: die Spannung dieſes Abhängigkeitsverhältniſſes löſt ſich
in der Geſchichte aus. Deshalb, meint auch Schlegel, gebe es keine Selbſtkennt⸗
nis als die Geſchichte. Der Begriff des Individuums dehnt ſich unter der neuen
Fülle des metaphyſiſchen Inhalts, der in ihn eingehen ſoll, an ſeinen Grenzen
immer weiter aus, bis ſchließlich das Individuum mit dem Überindividuellen
verſchmilzt. Dadurch erhöht ſich die Idee des Kosmopolitismus zum Univerſa⸗
lismus. „Jede Nation“, ſagt Novalis, „fol freilich für ſich beſtehen und
ihre Eigentümlichkeit als ihr Heiligſtes geachtet werden; indeſſen iſt doch die
Abſonderung an und für ſich eine Schranke, und als ſolche in Beziehung auf den
höchſten Zweck der Menſchheit ein Übel. Das Menſchengeſchlecht ſoll ... zu einer
wahren Gemeinſchaft ... vorbereitet werden.“ Zu dieſer höheren Gemeinſchaft
werden die Nationen durch das Kaiſertum und die Hierarchie geführt: das
Kaiſertum mit durchgehender ſtändiſcher Verfaſſung iſt das Zellengewebe, in das
ſich alle individuellen Bezüge der Nationen zur gemeinſamen Kulturleiſtung
gleichſam eingliedern können; die Hierarchie iſt die unbedingte Gemeinſchaft
und Verbindung ſelbſt. So gelangt die Menſchheit zu ihrem höchſten Zweck, der
Seligkeit. Damit iſt aber auch das neue Schlagwort ausgeſprochen und das Ge⸗
fühl bezeichnet, das ſich an das Herz dieſer Zeit drängt. Das gleiche myſtiſche
Gefühl, das die verlaſſene, frierende Seele des Gläubigen zur Verſchmelzung mit
Gott befähigt, iſt auch hier der Grund für die neue Unterordnung des Indivi⸗
duums in der Geſchichte unter überindividuelle Mächte, die von nun ab Tradition,
Milieu, Volksgeiſt oder das Abſolute heißen. Selbſt ein Tieck rückt den Staat
ſpäter als Gegenſtand der Geſchichte in myſtiſche Dämmerungen zurück: „Die
Einſicht, daß einzelne Mißbräuche da ſind, die der Verbeſſerung bedürfen, gibt
noch kein Recht, das Geheimnis des Staates ſelbſt anzurühren. Will man die
religiöfe Ehrfurcht vor dieſer mächtigen, übermenſchlichen Zuſammenſetzung und
Aufgabe, durch welche der Menſch in vielfach geordneter Geſellſchaft nur zum
ächten Menſchen werden kann, will man jene heilige Scheu vor Geſetz und
Obrigkeit, vor König und Majeſtät, zu nahe an das Licht einer vorſchnellen, oft
nur anmaßlichen Vernunft ziehen, ſo zerſtäubt die geheimnisvolle Offenbarung
des Staates in ein Nichts, in Willkür.“ Hier dringen die urſprünglich ſpekula⸗
tiven Abſichten der Romantik bereits in das tatſächliche Leben ein. Wir ſtehen
vor dem Gebiet der ſogenannten jüngeren Romantik.
In „Clemens Brentanos Frühlingskranz“ ſchreibt Bettine an ihren
Bruder: „Es iſt .. dumm, irgend eine Macht anzuerkennen über uns, als nur
das Leben ſelbſt,“ aber Clemens antwortet ihr darauf: „Nein! jede individuelle
— x — —
Juſtus Möfers Geſchichtsauffaſſung >
Kraft kann nur durch und in der Allgemeinheit Wurzel faſſen, kann nur in ihr
ſich ſelbſt verſtehen lernen, und kann nur an ihr ſich erproben. Drum iſt die
Geſchichte der Dinge das wahre Element der Geiſter.“ Dieſe Allgemeinheit, in
der alle individuellen Kräfte ſich zur höheren Wohlfahrt ſammeln, heißt beim
alten Brentano die katholiſche Kirche: „In der Kirche, als ein Leib betrachtet,
der die vielſinnigen, getrennten, ſich anfeindenden Menſchen zu einem lieben⸗
den, harmoniſchen Ganzen verknüpfen ſoll, bilden ſich abſichtslos, weil aus ihrer
lebendigen Natur notwendig hervorwachſend, die verſchiedenſten Vereine geiſt⸗
licher Tätigkeit. Wie in jedem beſeelten Leibe verſchiedene Gattungen von
Kräften und Wirkungen zum Wohle des Ganzen in einzelnen Organen ihre
Werkſtätte haben, ... fo in der Kirche die verſchiedenen Aufgaben des geiſtlichen
Lebens, die ... die verſchiedenen geiſtlichen Genoſſenſchaften hervorbrachten.“
Ebenſo denkt Adam Müller. Zuerſt freilich, zur Zeit ſeiner Verbindung mit
Heinrich von Kleiſt und Achim von Arnim tritt dieſe grundbildende Geſinnung
hinter der Wirtſchaftspolitik des preußiſchen Junkertums zurück. Aber die Ge⸗
ſinnung iſt vorhanden, ſchon in ſeinen Dresdner Vorleſungen leuchtet ſie durch.
„Keine Begebenheit der Geſchichte“, ſagt er da, „ift in allen Inſtituten, in allen
Verhältniſſen unſers gegenwärtigen Lebens ſo allgegenwärtig als die, welche
unſrer religiöfen Gemeinſchaft zum Grunde liegt. Der Buchſtab mögen hier die
heiligen Bücher der Evangeliſten und der Apoſtel genannt werden; das Palla⸗
dium unſrer europäiſchen Bildung, das Herrlichſte, die Blüte unſers heutigen
Lebens, alles um uns her, was der Betrachtung wert ſein mag, iſt Tradition
jener erhabenen Sache.“ Am Ende ſeines Lebens ſchließt ſich Müller mit
Joſeph von Görres und dem alten Friedrich Schlegel zu jener
politiſchen Bewegung zuſammen, die die Reaktionszeit nach 1815 einleitet.
Das Manifeft ihrer Politik iſt das zarte Traumbild von Novalis' „Chriſtenheit
oder Europa“: „Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam werden
und ſich wieder eine ſichtbare Kirche ohne Rückſicht auf Landesgrenzen bilden, die
alle nach dem Überirdiſchen durſtige Seelen in ihren Schoß aufnimmt und gern
Vermittlerin der alten und neuen Welt wird.“ Das katholiſche Mittelalter in
ſeiner kirchlich⸗ſtaatlichen Verfaſſung dämmert herauf. Müde und erſchöpft ſinkt
die idealiſtiſche Anſchauung, die ſich über den Höhenrand eines ganzen Jahr⸗
hunderts bewegt hat, im politiſchen Abſolutismus zuſammen.
An dieſem Punkte der Entwicklung liegt das 18. Jahrhundert bereits weit
hinter uns. Eine neue Zeit, in der die Naturwiſſenſchaften immer größere Be⸗
deutung gewinnen, bricht an und führt allmählich zu Möſer zurück. Um die Mitte
des 19. Jahrhunderts ſchließt man bereits bewußt an Möſer an. Wilhelm
Roſcher, den Begründer der hiſtoriſchen Nationalökonomie, hat Schmoller
einen echten Nachfolger Möſers genannt. Der methodiſche Pragmatismus
Möſers wird in der Geſchichte Rankes wieder lebendig. Das Programm einer
künftigen Wiſſenſchaft aber gibt Wilhelm Scherer, wenn er in der „Wid⸗
mung an Müllenhoff“, die ſeiner „Geſchichte der deutſchen Sprache“ voranſteht,
mit entſcheidendem Wort verkündet: „Was wir wollen, iſt nichts abſolut Neues,
es iſt durch die Entwicklung unſerer Hiſtoriographie ſeit Möſer, Herder, Goethe
Supborion XXVII. 3
34 Georg Stefansky, Juſtus Möfers Geſchichtsauffaſſung
22 !!!...... —??!.!;!:!:!! em.... ——
für jeden, der ſehen will, unzweifelhaft angedeutet. Goethes Selbſtbiographie
als Kauſalerklärung der Genialität einerſeits, die politiſche Okonomie als Volks⸗
wirtſchaftslehre nach hiſtoriſch⸗pſychologiſcher Methode andererſeits, zeichnen
die Richtung vor, die wir für den ganzen Umfang der Weltgeſchichte einzu⸗
halten ſtreben.“
Im Rahmen des vorausgehenden Vortrags konnten natürlich nur diejenigen Probleme
erörtert werden, die für die geiſtige Perſönlichkeit Möſers und für ſeine Geſchichtsauffaſſung
in Beziehung zur Literatur ſeiner Zeit entſcheidend ſind. Von vornherein waren deshalb alle
Fragen auszuſchalten, die am Rande des behandelten Gebiets liegen: das Problem der
Willensfreiheit, das Verhältnis zwiſchen Natur und Geſchichte, die Rückwirkung der Tran⸗
ſzendentalphiloſophie auf die Geſchichte des 18. Jahrhunderts, die Begründung des Bildungs⸗
ideals in der Auffaſſung der Geſchichte, die Loslöſung des Begriffs der Geſellſchaft von dem
des Volkes, die Durchdringung des Begriffs der Geſellſchaft mit dem Nationalgedanken, die
Bezüge des ſozialen Lebens in ihrer ſtrukturellen Verflechtung, u. a.
Von den Büchern und Schriften, an die ich in den Grundlagen meines
Vortrags anſchließe, nenne ich nur diejenigen, welche die allgemeinen Fragen gedanklich weiter⸗
führen; (in ſachlicher Reihenfolge): Ferdinand Wein handl, Perſon, Weltbild und
Deutung; Erfurt 1926. Siegfried Behn, Die Wahrheit im Wandel der Weltanſchauung;.
Bonn 1924. Antonin Prandtl, Das Problem der Wirklichkeit; München 1926.
Walter Del⸗Negro, Wahrheit und Wirklichkeit: Kant⸗Studien, Bd. XXXI (1926)
S. 159 — 171. Theodor Litt, Geſchichte und Leben. Probleme und Ziele kulturwiſſen⸗
ſchaftlicher Bildung; 2. Aufl. Leipzig 1925. Adolf Dyroff, Betrachtungen über Ge-
ſchichte; Köln 1926. Eberhard Zwirner, Zum Begriff der Geſchichte. Eine Unter⸗
ſuchung über die Beziehungen der theoretiſchen zur praktiſchen Philoſophie; Leipzig 1926.
Alois Dempf, Weltgeſchichte als Tat und Gemeinſchaft. Eine vergleichende Kultur-
philoſophie: Forſchungen zur Philoſophie und ihrer Geſchichte, hrsg. v. H. Meyer. Bd. J, Halle
(Saale) 1924. Georg Simmel, Die Probleme der Geſchichtsphiloſophie. Eine erkennt⸗
nistheoretiſche Studie; 4. Aufl. München 1922. Theodor L. Haering, Hauptprobleme
der Geſchichtsphiloſophie: Wiſſen und Wirken. Einzelſchriften zu den Grundfragen des Er-
kennens und Schaffens. Hrsg. v. E. Ungerer. 26. Band. Karlsruhe 1925. Ernſt
Troeltſch, Der Hiſtorismus und ſeine Probleme: Geſammelte Schriften III; Tübingen
1922. Max Scheler, Menſch und Geſchichte: Die Neue Rundſchau. Ihg. XXXVII
(1926) S. 451 - 476. Adalbert Wahl, Vom ſchlechten und vom rechten Individualis⸗
mus: Fr. Manns Pädagogiſches Magazin, Heft 1096; Langenſalza 1926. Leopold von
Wieſe, Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der
Menſchen I; München 1924. Edward Alsworth Ro ß, Das Buch der Geſellſchaft. Grund-
lagen der Soziologie und Sozialreform. (Uberſetzt von R. Hilferding): Bibliothek der
Soziologie und Politik. Hrsg. v. G. Salomon. II. Band; Karlsruhe 1926. Friedrich
Meinecke, Weltbürgertum und Nationalſtaat. Studien zur Geneſis des deutſchen Na⸗
tionalſtaates; 3. Aufl. München 1915. — Die Idee der Staatsräſon in der neueren Ge⸗
ſchichte; München 1924. Eduard Spranger, Die Antike und der deutſche Geiſt. Feſt⸗
rede; München 1925. Kurt Borries, Die Romantik und die Geſchichte. Studien zur
romantiſchen Lebensform; Berlin 1925. Julius Peterſen, Das goldene Zeitalter bei
den deutſchen Romantikern: Die Ernte (Muncker⸗Feſtſchrift); Halle (Saale) 1926. Ger-
hardt Gieſe, Hegels Staatsidee und der Begriff der Staatserziehung; Halle (Saale).
1926.
Aurel Wolfram, Schiller und Herder 35
Schiller und Herder.
Von Aurel Wolfram in Wien.
Herders Bedeutung für Schiller blieb bisher wenig beachtet !), was zum
Teil an der einfeitigen Überſchätzung des Kantiſchen Einſluſſes auf deſſen Denk⸗
entwicklung, zum Teil auch daran liegen mag, daß man in den Beziehungen
beider trotz der Gegenſätzlichkeit der Individualitäten den Reiz polarer Er⸗
gänzung vermißte, wie er etwa im Verhältnis Schiller⸗Goethe vorwirkt. Fiel
doch die ftärffte Berührung in eine Zeit, da Schiller noch unfertig, dem fünfzehn
Jahre älteren Herder gegenüber, ſo gut wie ausſchließlich der Empfangende
war. Anderſeits war er ſchon zu ſehr aus den Jahren, in denen man ſich den
Eindrücken ungeteilt hingibt, zumal bei einer von vornherein ſtarken Neigung
zu ſelbſttätiger Spekulation. Wenn Goethe, während der Straßburger Zeit noch
überwiegend rezeptiv, ſich den Lehren Herders ganz aufſchloß und ſie fortbildete
mit dem Enthuſiasmus eines wahlverwandten Strebens, war Schiller in ſeinem
Denken ſchon nicht mehr ſo vorausſetzungslos, ein Moment, das im folgenden
nicht überſehen werden darf.
Als Schiller nach Weimar kam, hatte er zwei Jahre behaglichen Geborgen⸗
ſeins im Körnerſchen Hauſe hinter ſich. Bei ſeiner auſ Spannung gerichteten
Natur war er innerlich ſchon etwas öde, verarmt an ſtarken Antrieben, unlieb⸗
ſam ernüchtert durch die rationaliſtiſche Denkweiſe des kantbegeiſterten Freundes.
Hegte er doch ſeither Mißtrauen gegen die Philoſophie des großen Königs⸗
bergers und mied es lange, „in dieſes Fach hineinzugehen“ 2). Was ihn
zunächſt beſchäftigte war die Frage ſeiner dichteriſchen Exiſtenz. Selbſtgefühl
und ſtarker Zweifel an der Eigenkraft feines Genies rangen ſchwer in ihm. und
ließen den Jüngling die Kriſis zum Mann erleben. Er wollte ſich endlich be⸗
ſtätigt ſehen durch den Eindruck, den „fein Genius auf den Geiſt mehrerer ent-
ſchieden großer Männer“ mache 5). So trieb es dieſen ſich feine Sphäre gewalt⸗
ſam und ſelbſtherrlich ſchaffenden Geiſt neuerdings zur Flucht. Und es war nicht
die ſchlechteſte Fügung, die ihn, eben als er ſich nach der geſcheiterten Miſſion
ſeines Maltheſerritters einer realbeſtrebteren Betrachtung der Dinge zuwandte,
Herder in die Arme führte.
Gleich bei der erſten Begegnung bewährte ſich Schillers Eigentümlichkeit,
fremde Charaktere raſch zu erfaſſen und mit knappen Strichen zu umreißen. Er
) Schillers Werke, hiſtoriſch⸗kritiſche Ausgabe von Otto Günther und Georg Witkows ki,
Leipzig 1911 (zitiert als Sch. W.). Herders Werke, herausgegeben von Bernh. Suphan
(zitiert als H. W.). Uber das Verhältnis Herders zu Schiller liegen zwei unzureichende Arbeiten
vor: eine unvollendete von Adalbert Jungbauer „Schiller und Herder“. Programm Prachatitz
1905/06, deren ausgeführte Teile das Biographiſche und die Einwirkung Herders auf Schillers
Lyrik behandeln. Ferner ein kurzer Aufſatz von Otto Harnack im Marbacher Schillerbuch 1905 ©. 73
bis 80; das Geiſtvollſte in Beurteilung ihres Verhältniſſes findet ſich aber in Kühnemanns Herder
biographie. — 2) an Körner 15. 4. 88, Jonas, Schillers Briefe II 42. — 8) an Huber 28. 8. 87,
Jonas I 394.
36 Aurel Wolfram
ſchreibt bezüglich feiner Eindrücke über Herder: „Er hat mir fehr behagt. Seine
Unterhaltung iſt voll Geiſt, voll Stärke und Feuer, aber ſeine Empfindungen be⸗
ſtehen in Haß oder Liebe.“ ) Mit ſcharfem Blick ſondiert er die Stärken und
Schwächen des Gegners, denn an jeden der Großen, an die er ſich wendet, hat
er etwas wie eine heimliche Ausforderung. Er iſt erfüllt von Begier ſich zu
meſſen. Und was ihm an den andern auffällt, iſt nicht immer das Erquicklichſte.
Mit unverhohlener Ironie macht er ſich her über die Goetheſche „Sekte“ 5), die
ein „bis zur Affektation getriebenes Attachement an die Natur und eine Reſigna⸗
tion in ſeine fünf Sinne“ an den Tag lege. Das war auch auf Herder gemünzt,
von dem es heißt, daß er „Goethe mit Leidenſchaft, mit einer Art von Vergötte⸗
rung“ liebe 9. Als der Gewaltige ſelbſt erſcheint und Schiller ſich von ihm kühl
behandelt ſieht, ſpricht er in ſeiner Verletztheit über jenen ein Urteil, das trotz
einer gewiſſen Überſteigerung nicht unzutreffend iſt: „Ich glaube in der That er
iſt ein Egoiſt in ungewöhnlichem Grade. Er beſitzt das Talent die Menſchen..
durch kleine ſowohl als große Attentionen ſich verbindlich zu machen; aber ſich
ſelbſt weiß er immer frei zu behalten. Er macht ſeine Exiſtenz wohltätig kund,
aber nur wie ein Gott, ohne ſich ſelbſt zu geben.“ 7)
Das „Moment der Ergießung gegen andere“ iſt es, das er auch an Herder
vermißt, der ihm von allen der liebſte wäre, wenn er „nur aus ſich heraustreten
könnte, um der Freund eines Freundes zu fein“ ). Trotzdem iſt er von Herder in
den erſten Wochen ſeines Weimarer Aufenthaltes ſehr eingenommen; wieder⸗
holte Zuſammenkünfte und eine gewiſſe Gemeinſamkeit in den Jugendſchickſalen
begünſtigen eine weitere Annäherung. Auch bewirkte der „Carlos“ bei Herder
eine Anderung im Urteil über den vermeintlichen Brauſekopf ?), von dem er
bis dahin nicht viel mehr wußte, „als daß er für etwas gehalten werde“ 10).
Schiller wieder war über den einfachen und natürlichen Ton in Herders
Predigt, der er anfangs Auguſt beiwohnte, angenehm berührt 11). Sie glich ihm
mehr einem Geſpräch, das ein Menſch allein führt und enthielt Lehren, die
man ſich „gut ebenſo in einer Moſchee als in einer chriſtlichen Kirche er⸗
warten könnte“. Kurz, er erklärte ihn für einen eigenen Menſchen, und in⸗
ſofern einen Genuß für den Beobachter 12), und bedenkt man, wie Schiller ſich
ſtets ungleich mehr durch perſönlichen Verkehr als durch Bücher gefördert fühlte,
ſo wird man dieſem Umſtand hier beſonders Rechnung tragen müſſen. Alsbald
gewann er ſich ein geſteigertes Selbſtvertrauen. Und Herder trug jedenfalls ein
Weſentliches bei zu der günſtigeren Meinung, die er von ſich ſelbſt bekam: „Um
zu werden was ich ſoll und kann werd ich beſſer von mir denken lernen und auf⸗
hören mich in meiner eigenen Vorſtellungsart zu erniedrigen.“ 13)
Der erſte Beſuch im Herderſchen Hauſe gab bereits Gelegenheit, „einiges
über politiſche und philoſophiſche Materien“ !“) zu ſprechen. Wenige Tage
4) an Körner 24. 7. 87, Jonas I 358 f. — 5) an Körner 12. 8. 87, Jonas I 381. — 6) an
Körner 24. 7. 87, Jonas I 358. — 7) an Körner 2. 2. 89, Jonas II 218; — 8) an Huber 14. 9. 87,
Jonas I 412. — 9) an Körner 12. 8. 87, Jonas I 384, ferner an denſelben 14. 10. 87, Jonas
J 384. — 10) an Körner 24. 7. 87, Jonas I 358. — 11) an Körner 12. 8. 87, Jonas I 379 f. —
12) an Körner 20. 8. 87, Jonas I 401. — 13) an Huber 28. 8. 87, Jonas I 394. — 14) an Körner
24. 7. 87, Jonas I 358.
Schiller und Herder 37
fpäter traf man ſich zufällig bei einem Spaziergang im Stadtwäldchen 15), und
Schiller war freudig überraſcht, als Herder mehrere Ideen der „Theoſophie“ für
wahr erklärte und wünſchte, etwas von ihm Verfaßtes zu leſen. Auch ſonſt
fanden ſich im Verlauf der Unterhaltung mehrere Berührungspunkte. Dies legt
die Frage nahe, inwieweit ſchon vor dem perſönlichen Bekanntwerden Herderſche
Gedanken, wenn auch nur mittelbar, auf Schiller von Einfluß geweſen ſein
könnten.
Erſchwert iſt die Beantwortung inſofern, als ſich im Weltbild des jungen
Schiller ſehr heterogene Elemente zuſammenfinden, meiſt aus zweiter oder
dritter Hand übernommen. Weiteſt zurückgegriffen iſt erinnerlich, wie ſeinerzeit
Haug im „Schwäbiſchen Magazin“ 16) begeiſtert die von Herder in der Vorrede
zu den „Volksliedern“ (1778/79) angeregten Gedanken aufgegriffen hatte. Zwar
verſtand er unter „Volkspoeſie“ irrtümlich alles, was für das Publikum paſſe.
Doch hinderte dies nicht, daß für die jungen Dichter an der Akademie, mit denen
er Umgang hatte, manche wenigſtens formal wertvolle Anregung abfiel. Mit
Anſpruch auf Wahrſcheinlichkeit wurde auch verſucht 17), bei einigen balladiſch
und volkstümlich gehaltenen Stücken der „Anthologie“ Herderſche Vorbilder
nachzuweiſen. Am überzeugendſten gelang dies bei dem Gedicht „Meine
Blumen“ im Vergleich mit dem von Herder übernommenen des Holſteiner
Pfarrers Riſt „An eine Blume“ 18). Ahnlich auch bei dem anmutigen „An den
Frühling“. Auch die „Kindesmörderin“ dürfte, obſchon dieſes Thema damals
mehrfach behandelt wurde, aus nicht unbedeutenden Gründen mit dem in der
Herderſchen Sammlung befindlichen „Wiegenlied einer unglücklichen Mutter.
Schottiſch“ in Verbindung gebracht werden 19).
Erhöhtes Intereſſe gewinnt der Herderſche Einfluß erſt, wo er für Schillers
Denken in Betracht gezogen werden kann. Im Brief, in dem Schiller erſucht,
Herder ſeine Aufwartung machen zu dürfen, verſichert er dieſem, daß er ſeinem
Geiſt und Herzen viele der ſchönſten Stunden ſeines Lebens danke 20). Wahr⸗
heit und Höflichkeit daran richtig zu unterſcheiden iſt ſchwer möglich; doch ſteht
feſt, daß Schiller die zwei vor ſeiner Weimarer Reiſe erſchienenen Sammlungen
der „Zerſtreuten Blätter“ ſchon zu Geſicht bekommen hatte. Auch Körner er⸗
wähnt ſie gelegentlich als etwas Bekanntes 21) und Schiller berichtet ſelbſt, daß
einige der darin enthaltenen Aufſätze Gegenſtand der Unterhaltung mit Herder
geweſen ſeien ?). Auch zeigt das Gedicht „für Körner und Minna“ formal ziem⸗
liche Ahnlichkeit mit den von Herder hier veröffentlichten Paramythien 23).
All dies läßt billig auch auf Zuſammenhänge zwiſchen der „Theoſophie“ und
dem Herderſchen Aufſatz „Liebe und Selbſtheit“ ſchließen. Weſentliches können
ſie zwar kaum berühren, da die Konzeption der Grundgedanken dieſer Jugend⸗
philoſophie noch in die Zeit der Freundſchaft mit Lempp zurückreicht. Doch iſt
nicht abzuweiſen, daß bei der endgültigen Redaktion der „Briefe des Julius
15) an Körner 8. 8. 87, Jonas I 374 f. — 16) Minor I 173. — 17) Näheres findet ſich in der
erwähnten Arbeit von Adalbert Jungbauer II. Teil. — 18) Jungbauer II 7 ff. — 19) ebd. § f. —
20) an Herder 24. 7. 87, Jonas 1352. — 21) an Schiller Briefwechſel I: 75. — 22) an Körner
8. 8. 87, Jonas I 375. — 28) Jungbauer II 15.
38 Aurel Wolfram
an Raphael“ paſſende Gedankenſplitter Herderſcher Art eingeflochten wurden.
So mochte mit Beziehung auf ſich und Körner, Schiller der Satz gefallen: „Ein⸗
klang iſt in dieſer Ehe der Seelen (Freundſchaft) weder angenehm noch nützlich,
noch möglich. Konſone Töne müſſen es ſein, die die Melodie des Lebens und des
Genuſſes geben, nicht uniſone.“?“) Ganz ähnlich in der „Theoſophie“: „Liebe
findet nicht ſtatt unter gleichtönenden Seelen, aber unter harmoniſchen.“ 29) Und
gleich anſchließend der Satz: „Mit Wohlgefallen erkenne ich meine Empfin⸗
dungen wieder in dem Spiegel der deinigen, aber mit feuriger Sehnſucht ver⸗
ſchlinge ich die höheren, die mir mangeln. Eine Regel leitet Freundſchaft und
Liebe. Die ſanfte Desdemona liebt ihren Othello der Gefahren wegen, die er
beſtanden; der männliche Othello liebt ſie um der Tränen willen, die ſie um
ihn weinte.“ 26) Dasſelbe bei Herder mit anderen Worten: „Wie dort zwei Lichter
am Himmel, ſo hat Gott auf der Erde zwei Geſchlechter geſchaffen, die im
Schwunge der Empfindungen einander das Gegengewicht leiſten ſollen. Eines
erſetzt dem andern, was dem an Zartheit, dieſem an Stärke abgeht. ... Auch in
der Freundſchaft iſt ein Teil immer der tätige, der andere mehr beihelfend und
leidend.“?7)
Doch zeigen ſich dieſe Gedanken dem Gefüge der „Theoſophie“ keineswegs
organiſch verwachſen. Dies gilt auch von einer Stelle zu Anfang des Abſchnittes
„Gott“, wo Schiller in wunderſamer Vermiſchung dualiſtiſcher und moniſtiſcher
Elemente ausführt: „Alle Vollkommenheiten im Univerſum ſind vereinigt in
Gott. Gott und Natur ſind zwei Größen, die ſich vollkommen gleich ſind. Die
ganze Summe von harmoniſcher Tätigkeit, die in der göttlichen Subſtanz bei⸗
ſammen exiſtiert, iſt in der Natur, dem Abbilde dieſer Subſtanz, zu unzähligen
Graden und Maßen und Stufen vereinzelt. Die Natur iſt ein unendlich geteilter
Gott.“ 28) Dieſe Geteiltheit erinnert ſofort an die Modi Spinozas mit dem
Unterſchied, daß dieſer nur eine Subſtanz kennt, die an ſich unperſönlich, Grund⸗
lage aller individuellen Erſcheinungen iſt, während Schiller Gott als ein Selbſt
und in der Erſcheinungswelt deſſen Teilung „in zahlloſe empfindende Sub⸗
ſtanzen“ ??) annimmt. Das Göttliche iſt ihm alſo etwas perſönlich Wirkendes,
die innere Notwendigkeit des Geſamtdaſeins. Damit ſchließt er eng an den reli⸗
giöſen Monismus, mit dem Herder die Spinsziſtiſche Alleinheitslehre abbiegt
und den Ausgleich anftrebt zwiſchen der Welt der Tatſachen und dem religiöfen
Bewußtſein. Obgleich dieſer dynamiſch eine einheitliche Weltkraft annimmt, ſo
wirkt ſie ihm doch nur als „Organ der göttlichen Macht, als eine tätig gewor⸗
dene Idee“ des Schöpfungsentwurfes, wobei die oberſte Güte im Falle ihres
Fehlſchlagens „Mittel genug hat“, ſie „wieder zum Ziele zu führen“ 30).
Da Schiller bis dahin die Lehre Spinozas aus direkten Quellen nicht kannte,
ſo iſt wohl auch in dieſem Falle Herder eine vermittelnde Rolle zuzuerkennen,
in deſſen „Liebe und Selbſtheit“ 31) es abſchließend heißt: „Das höchſte Gut,
was Gott allen Geſchöpfen geben konnte, war und bleibt eigenes Daſein, in
20) H. W. 15, 322. — 25) Sch. W. XVII, 199. — 26) ebd. 200. — 27) H. W. 15,322. —
26) Sch. W. XVII 202. — 20) ebd. — 30) H. W. 13, 177. — 31) H. W. 15, 320.
Schiller und Herder 39
welchem eben Er ihnen iſt und von Stufe zu Stufe mehr ſein wird Alles
in Allem.“
Nur ſo erſcheint es möglich, daß ſich ſofort ein immerhin reger Gedankenaus⸗
tauſch zwiſchen beiden anknüpfen ließ. Gerade damals zeigte ſich Herder in der
ſtärkſten Beweglichkeit und Friſche ſeines eigentümlichen Denkens. Bei ihm
fand Schiller, wonach er ſich ſeit Zerſtörung ſeiner Jugendphiloſophie ſehnte,
neues Material ſich daraus ein Univerſum zu bauen — die reiche Welt der
Geſchichte. Hier bot ſich ihm ein Vermögen dar, weite Stoffmaſſen zu durch⸗
dringen und zu verlebendigen, und gerade was Kant an der Herderſchen Methode
als einen Mangel empfand, der nicht lange verweilende viel umfaſſende Blick,
eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität ... kühne Einbildungs⸗
kraft und Geſchicklichkeit ... durch Gefühle einzunehmen“ 32), mußte beſonderen
Anreiz auf ihn üben.
So heißt es bei Herder: „Wir können uns vom Menſchengefühl nicht trennen,
indem wir die Geſchichte ſchreiben oder leſen; ihr höchſtes Intereſſe beruht auf
der Menſchenempfindung.“ 33) Es war eine nie verharſchende Wunde, die die
Kritik Kants an den „Ideen“ Herder ſchlug ?“). Seinem weitgeſpannten Welt⸗
gefühl, ſeiner intuitiven Gewißheit erſchien alles Fordern nach logiſch einwand⸗
freien Deduktionen wie ein Sakrileg am lebendigen Geiſt der Geſchichte. Das
mußte aber auch dem Dramatiker um ſo gelegener ſein, je mehr es der ſtrenge
Theoretiker verketzern mochte.
Durch Reinhold wird Schiller gleicherzeit mit Kants kleinen Beiträgen zur
Geſchichtsphiloſophie in der „Berliner Monatsſchrift“ bekannt 55). Beſonders
die Idee über eine allgemeine Geſchichte hat für ihn viel Anziehendes, und er
erklärt daraufhin Kant doch „einmal noch leſen, vielleicht ſtudieren“ zu wollen.
In den Prinzipien fand er wohl kaum Abweichendes von der Herderſchen Ge⸗
ſchichtsauffaſſung. Hier wie dort der beherrſchende Entwicklungsgedanke und
trotz vorſätzlicher Ablehnung des Teleologiſchen doch eine Zweckordnung des
menſchlichen Fortſchrittes. Kant zeigt ſich bloß ſyſtematiſcher, ſchärfer kalkulierend
auf die konſtruktiven Faktoren des geſchichtlichen Prozeſſes; ihm entgeht nicht
das Notwendige von Krieg und Wettſtreit individueller Willenstriebe für die
Geſamtbewegung. Herder mit dem reineren Inſtinkt für das Beſondere, dem
Lebensrhythmus unmittelbarer hingegeben, ſtrebt, über die bloße Schematiſie⸗
rung der Fakta hinaus, dem Irrationalen beizukommen durch gläubige Be⸗
ſeelung 56). Das aber lag Schiller momentan näher, weil es feinem Denken ver⸗
mittelnder kam zwiſchen objektivem Befleiß und doch des Impulſes nicht ent⸗
behrender Deutung der Lebensvorgänge.
Zum Staunen Herders bringt er von ſelbſt das Geſpräch auf deſſen „Nemeſis“,
die er kurz vor der Abreiſe aus Dresden geleſen und noch friſch im Gedächtnis
hatte 37). Hier lernt er jenes, die Beziehungen von Menſch und Welt regelnde
82) Kants Werke herausgegeben von Hartenſtein IV 169ff. — 88) H. W. 18, 281. — 34) Die Be ⸗
ſprechung von Herders „Ideen“ I. Teil erſchien in der Jenaer Allgem. Literatur⸗Ztg. Januar 1785; die
des II. Teiles ebendaſelbſt: Nov ember 1785. — 35) an Körner 29. 8.87, Jonas I 397. 80) Kühne ⸗
mann 7650 behandelt den Gegenſatz beider in äußerſt lichtvoller Weiſe. — 37) an Körner 8. 8. 87,
Jonas I 375.
40 Aurel Wolfram
Geſetz des Maßes kennen, das, wie Herder ergänzend bemerkt, als erſtes all⸗
gemeines Naturgeſetz auch auf die phyſiſche Welt Anwendung finden ſoll. Durch
die Unterſcheidung von Nemeſis und Schickſal rettet Herder in den Begriff jener
das Moment der Selbſtverantwortung — er ſpricht von der kleineren Wage, die
jedem gegeben ift — gegenüber dem, was ſich von außen unabwendbar erfüllt.
Damit erregt er zum erſtenmal in Schiller das Problem von Freiheit und Not⸗
wendigkeit 58), das nicht nur für deſſen hiſtoriſche Arbeiten, ſondern mehr noch
für feine ſpaͤtere Dramentechnik von entſcheidender Bedeutung werden ſollte. Gibt
Herder doch ſelbſt dem Hiſtoriker die Mahnung auf den Weg mit, daß er ſich von
keinem anderen Geſichtspunkt dürfe leiten laſſen als der ſorgfältigen Wägung
zwiſchen Nemeſis und Schickſal 3%.
Nemeſis wird gefaßt als Schweſter der Scham 40), als Scheu vor dem gerechten
Mißfallen der Götter und Menſchen. Sie iſt Quelle der weiſen Mäßigung des
Gemüts, in der die Griechen alles Extreme vermieden, weil es notwendig zu
Rückſchlägen führen muß. Schillers Begriff der ſchönen Seele, mit dem er ſpäter
in Oppoſition zu Kant gerät, liegt hier vorgedeutet. Zugleich tut er einen erſten
tieferen Blick in die Wunderwelt der Antike.
Hinzu tritt als zweites beſtimmendes Moment für Schillers hiſtoriſche Ein⸗
ſtellung die Anſicht des von innen her Getriebenen, Dynamiſchen des geſchichtlichen
Ablaufes. Herder ſieht die Menſchheit organiſiert aus einem „Syſtem geiſtiger
Kräfte”, die als ein Dauerndes fortwirken, gleichſam als Zeugungsorgane des
buntwechſelnden Lebens. Der Wandel der Geſtalten und Formen „trifft nie
das Innere der Natur, die über allen Ruin erhaben ... immer mit jungen Kräf⸗
ten blühet“ 1). In dieſem Pandynamismus wurzelt Schillers fpätere Annahme,
daß der weltregierenden Macht kein einzelner Mann unerſetzlich“ ſei 12). Ein
bloß Gliedhaftes iſt alles im Zuſammenhang ewigen Werdens. „Die Kette der
Bildung allein macht aus dieſen Trümmern ein Ganzes“, ſagt Herder, „in wel⸗
chem zwar Menſchengeſtalten verſchwinden, aber der Menſchengeiſt unſterblich
und fortwirkend lebet“ 2°).
So erſcheint alles Zeitlich⸗Menſchliche nur in ſeinem Einſatz für die Zwecke
des Ganzen, wie willkürlich es auch zu handeln meint, immer einbezogen in die
Plane der Vorſehung. „Alle Werke Gottes haben ihren Beſtand in ſich und ihren
ſchönen Zuſammenhang mit ſich,“ heißt es an anderer Stelle, „denn ſie beruhen
alle in ihren gewiſſen Schranken auf dem Gleichgewicht widerſtrebender Kräfte
durch eine innere Macht, die dieſe zur Ordnung lenkte“! ). Hier erſcheint die Ne⸗
meſis gleichſam projiziert in das Kosmiſche, als das unerbittliche Geſetz der
Wiedervergeltung. „Wie bei einer Wage keine Schale niedergedrückt werden
kann, ohne daß die andere höher fteige, fo wird auch kein politiſches Gleichgewicht
gehoben, kein Frevel gegen die Rechte der Völker und der geſamten Menſchheit
verübt, ohne daß ſich derſelbe räche und das gehäufte Übermaß ſelbſt ſich einen deſto
ſchrecklicheren Sturz bewirke.“ 15) Gerade in dieſer kompromißloſen Gerechtig⸗
38) In Darſtellung dieſes Problems wurde der Einfluß Herders auf Schiller bisher viel zu wenig
gewürdigt. — 39) H. W. 15, 426. — 40) H. W. 15, 427. — 4) H. W. 13, 24. — 4) Sch. W.
XV 208. — 48) H. W. 13, 352. — 4) H. W. 14, 250. — 45) ebd. 177 f.
Schiller und Herder 41
keit, mit der er die Weltordnung eingreifen glaubt zur Paralyſierung der nega⸗
tiven Kräfte, auf deren Austilgung es letztendlich angelegt ſei, wurzelt Herders
hiſtoriſcher Optimismus.
Dieſem Standpunkt ſchließt ſich Schiller zunächſt rückhaltlos an; ſo iſt er in
ſeiner „Geſchichte des Abfalls der Niederlande“ bemüht, die Vergeblichkeit aller
Anſchläge Philipps und Granvellas darzutun und zu beweiſen, wie deren Ge⸗
waltpolitik gerade zum Gegenteil ausſchlug und ſich aus ganz natürlichen Ur⸗
ſachen den bedrängten Niederländern unerwartete Hilfsquellen eröffneten 40).
Dem ganzen Aufſtand ſucht er den Charakter elementarer Ausgelöftheit zu
geben. So wenig Luther an eine Glaubenstrennung dachte, als er die Theſen
gegen den Ablaßkram an die Pforten der Wittenberger Schloßkirche ſchlug, will
Schiller auch in Hinſicht der Ziele, zu denen dieſe Bewegung führte, etwas Vor⸗
ausberechnetes gelten laſſen ““). Alles Heroiſche wird abgelehnt, auf das Natür⸗
liche reduziert und betont, wie der Drang der Umſtände dieſes Volk mit ſeiner
eigenen Kraft überraſchte 28).
Die von Herder geübte Methode des Analogiebeweiſes !“) gibt ihm weiters ein
Mittel an die Hand, die Automatik im Eingreifen der geſchichtlichen Mächte her⸗
vortreten zu lafl en. Er vergleicht die Niederländer mit den Batavern, die vor
1½ Jahrtauſenden auf demſelben Boden gegen die Römer kämpften und ges
langt zu dem Schluß: „Die Geſchichte der Welt iſt ſich ſelbſt gleich wie die Ge⸗
ſetze der Natur ... dieſelben Bedingungen bringen dieſelben Erſcheinungen zu⸗
rück.“ 50) Und in den Schickſalen der großen Führer des 30jährigen Krieges
ſieht er nichts als „eine Tat der großen Natur“ 51), die es hinderte, daß aus
ihren Werkzeugen willkürliche Hemmniſſe ihrer verborgenen Pläne wurden.
Es führte zu weit, im einzelnen zu erweiſen, wie auf Schritt und Tritt die
empfangenen Anregungen fruchtbar werden. Doch Schiller iſt, wie er ſich die
Herderſchen Maxime zurechtlegt für den eigenen Gebrauch, doch wieder der, an
dem es Humboldt rühmt, daß er „von einem großen Geiſte neben ſich nie in
deſſen Kreis herübergezogen, dagegen in dem eigenen ſelbſtgeſchaffenen auf das
mächtigſte angeregt“ 52) wurde. Mit dem entſchiedenen Intereſſe des Dra⸗
matikers geht es Schiller weniger um das allgemeine Ziel als um Bereich und
Möglichkeiten des Perſönlichen. Die große Natur reizt ihn zur Auseinander-
ſetzung, deren Weſensmaße an ſich ſchon Hybris ſind und in deren unvermeid⸗
lichen Grenzkonflikten mit dem Notwendigen ſich ihm das tragiſche Einzelſchick⸗
ſal formt. Da kommt ihm das Herderſche Wort gelegen, daß Unglück nur der
Maßloſigkeit im Glück folge; „vom guten Fortgange ſeiner Wünſche betäubt“,
wünſcht der Menſch weiter und bricht über feine Grenzen. 539) Es iſt der Ge⸗
danke, der dem „Ring des Polykrates“ zugrunde liegt, den Wallenſtein aus⸗
46) Sch. W. XIV 40 f. — 47) Sch. W. XIV 47. — 48) Sch. W. XIV 336. — 40) Poſadzy, Der
entwicklungsgeſchichtliche Gedanke bei Herder. Diſſertation, Münſter 1906, S. 52. „Das oft künſtlich
Konſtruierte feiner Beweiſe entſteht dadurch, daß Herder anſtatt die Analogie als heuriſtiſches Prinzip
zu verwenden, fie identifiziert mit der eigentlichen Ur ſache und ihr ohne weiteres Beweiskraft erteilt.“
Dieſem Fehler verfällt auch Schiller. — 50) Sch. W. XIV 48. — 5) Sch. W. XV 306. —
ei. Humboldt, Schiller und der Gang feiner Geiſtesentwicklung S. 36 (Inſelausgabe). — 59) H.
. 15, 419.
42 Aurel Wolfram
ſpricht, da er im Tod des liebſten Freundes das ausſöhnende Moment mit dem
Neid des Schickſals zu erkennen glaubt und der hymniſch geſtimmt wiederkehrt
in dem Preis des Schweizervolks, das, unwürdige Feſſeln abſchüttelnd, „im
Glücke ſelbſt, im Siege ſich beſcheidet“. |
Aber Schiller nimmt alles viel zwingender auf die Gründe des Verſchuldens
hin und hebt menſchliches Ringen mit dem Geſetz zu grundſätzlicher Deutlichkeit.
Klar ſcheidet er die Kauſalität in eine äußere notwendige, die ſich in Handlungen
fortwirkt von Menſch zu Menſch — in ihrem Sinne iſt das Wort zu verſtehen
von der „Tat, die fortzeugend Böſes ſtets gebären müſſe“ — und in eine innere,
die Willensmotive betreffende, die inmitten der relativen Geſtelltheit zu dem,
was von außen herandrängt, dem Menſchen doch die Entſcheidung freiläßt.
Hier hat Schiller gelernt durch Herder, die hiſtoriſchen Fakta zeitpſychologiſch zu
begründen und verſtändlich zu machen. So prägt ſich ihm der Satz: „Der Menſch
verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen, ihm
gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeſchichte rollt der Zufall.“ 54
Aus dieſer Vorſtellung reift auch die Einſicht, mit der Schiller ſpäter redet vom
deutſchen Volk als dem „Volk der Mitte“, deſſen Tag einſt ſcheinen wird, wenn
die Ernte aller Zeiten iſt 55). Die Zeitbeſtimmtheit alles menſchlichen Wirkens
erſcheint hier bloß zur Bedeutung des nationalen Moments erweitert.
Dieſe Freiheit — oder Kauſalität durch den Willen, wie man ſie nennen
könnte —, wird ſchuldbar, wo ſie ſich verausgabt im Sonderſtreben; ſie will
nicht genommen ſein als private Angelegenheit, ſondern verpflichtend ans
Ganze. Sie wächſt Schiller empor zu tranſzendenter Realität, zum Ausdruck ele⸗
mentaren Weltwillens, d. i. zum Naturgeſetzlichen ſelbſt, in dem ſich die Ge⸗
ſchichte erfüllt. „Groß und beruhigend iſt der Gedanke, daß gegen die trotzigen
Anmaßungen der Fürſtengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden iſt, daß ihre
berechnetſten Plane an der menſchlichen Freiheit zuſchanden werden .. 56) So
wird die Idee der Freiheit, obzwar empiriſches Geſetz, am Einzelnen zur ſitt⸗
lichen Forderung, die ſich ſpäter in die Formel prägt: „Schone fremde Freiheit,
zeige ſelbſt Freiheit!“ In dieſer Gedoppeltheit überwindet er den Gegenſatz von
Sittlichkeit und Sinnlichkeit, wie er ſich ihm durch Kant aufdrängte.
Freilich iſt er bei dem Verſuch, den „Sieg des Naturrechts über hiſtoriſches Un-
recht, der Idee über äußere Machtmittel“ 57) anſchaulich zu machen, nur zu gerne
bereit, ſich die Tatſachen zurechtzurücken. Noch iſt ihm die Hiſtorie ihrem Material
nach nichts als ein Magazin ſeines Denkens 58). Die dem Weltgeſchehen im⸗
manenten Geſetze zu ermitteln gilt Schiller als weſentliche Aufgabe des Ge⸗
ſchichtsforſchers und er trifft demgemäß die Unterſcheidung zwiſchen dem philo⸗
ſophiſchen Kopf und dem Brotgelehrten. Das Drama iſt ihm nur ein Reprodu⸗
zieren dieſer Geſetzlichkeit, woraus er folgert: „Die philoſophiſche innere Not⸗
wendigkeit iſt bei beiden (Drama und Geſchichte) gleich; wenn eine Geſchichte,
wäre ſie auch auf die glaubwürdigſten Chroniken gegründet, nicht geſchehen ſein
kann, d. h. wenn der Verſtand den Zuſammenhang nicht einſehen kann, ſo iſt ſie
54) Sch. W. XV 47. — 55) Suphan, Schillers Gedichtentwurf „Deutſche Größe“ S. 7. —
56) Sch. W. XIV 35. -- 57) ebd. — 58) an Körner 27. 7. 88, Jonas II 93.
Schiller und Herder 43
ein Unding; wenn eine Tragödie nicht geſchehen muß, ſobald ihre Voraus⸗
ſetzungen Realität enthalten, fo iſt fie wieder ein Unding.“ 59)
Auch hier iſt er nicht ſo weit von Herder entfernt, der aus ähnlichen Gründen
die Überzeugung ausſpricht: „Selten liegt uns an der nackten Wirklichkeit eines
Faktums ſoviel, daß nicht die denkbaren Umſtände der Urſachen und Folgen des⸗
ſelben, fie mögen wahr oder erdacht fein, die eigentliche Belehrung wären.
denn ſelbſt auch der Dichter dichtet menſchliche Wahrheit.“ 50) In beiden Fällen
fühlt man ſich auf Rouſſeau zurückgewieſen, der gleichfalls der Anſicht war, der
Hiſtoriker und der Verfaſſer hiſtoriſcher Romane ſeien nur dem Grade nach ver⸗
ſchieden; beide entwerfen Phantaſiegemälde 61).
Immer greift Schiller aus den Herderſchen Gedanken das heraus, was ſeinen
momentanen Abſichten gemäß iſt. Damit erklärt es ſich, wenn er beiſpielsweiſe
die Sprache als die urſprünglichſte Emanation menſchlichen Geiſtes, wie ſie
Herder im Anſchluß an ſeine ältere Abhandlung „Vom Urſprung der Sprache“
auch in den „Ideen“ begreift 62), völlig links liegen läßt. Dadurch entſteht ihm
in ſeinen äſthetiſchen Schriften die nie ganz überwundene Schwierigkeit, den
Übergang vom Zuſtand des tieriſchen Inſtinktes zu dem der Vernunftmäßigkeit
logiſch zwingend darzutun 53). Hier ſcheiden ſich eben die Intereſſen des Dra⸗
matikers von denen des Kulturhiſtorikers. Während Herder immer ausgeht auf
das Verbindende verſchiedener Kulturſphären und das Leben betrachtet in ſeinem
Geſamtertrag an Humanität, nimmt Schiller alles Gewordene auf die Tat hin,
iſt ihm die Geſchichte nur Dokument des Ringens um der Menſchheit große
Gegenſtände, die da ſind Freiheit und Herrſchaft.
Wie Schiller ganz beherrſcht iſt von der Antitheſe Ich und Welt, bleibt ihm
zunächſt auch der Begriff der Volksindividualität, wie er Herder aus einer pſy⸗
chologiſchen Unterſuchung des Völkerlebens erfließt, verſchloſſen. Jede nationale
Kultur iſt in den „Ideen“ gefaßt als organiſch geworden, in ihren Hervor⸗
bringungen notwendiger Ausdruck innerer Lebenskraft. Volk iſt für Herder eine
aus urſprünglichen Anlagen, er nennt es „genetiſche Kraft“ 6%, ſich unter be⸗
ſtimmten äußeren Verhältniſſen entwickelnde Lebenseinheit. Dieſer Vorſtellung,
ſoweit ſie die Bedeutung von Boden und Klima ethnologiſch auswertet, ſchließt
ſich Schiller an, weil ſie ihm ſchon aus der Zeit ſeiner mediziniſchen Diſſerta⸗
tionen geläufig iſt 65) ; aber er zieht daraus keinerlei Konſequenzen für die in-
dividuelle Geiſteshaltung der einzelnen Völker. So wird ihm das griechiſche
Weſen zum Kanon, zum idealen Wertmeſſer der Wirklichkeit und läßt ihn zu⸗
nächſt überſehen, wie ſehr es ſelbſt Wirklichkeit war. So verſtehen ſich die „Götter
Griechenlands“, jener Hymnus, der nur ſcheinbar vereinzelt, gerade tiefſt zu⸗
ſammenhängt mit den Ideenkreiſen, in die ihn Herder einführte.
Schon in der „Nemeſis“ hatte dieſer der Gabe der Griechen rühmend erwähnt,
die ſie befähige, wie keine Nation der Erde „das poco piu und poco meno der
59) an Körner 7. 1.88, Jonas II 2. — 60) H. W. 14, 554 es handelt ſich hier um eine teils
unterdrückte Stelle im Manuſkript zum 15. Buch. — 61) R. Feſter Rouſſeau und die deutſche Geſchichts⸗
philoſophie S. 12. — 62) Kühnemann 330. — 63) Humboldt, Schiller und der Gang feiner Geiſtes⸗
entwicklung 29 f. — 64) H. W. 13, 273 „Die genetiſche Kraft iſt die Mutter aller Bildung auf der
Erde, der das Klima nur freundlich oder unfreundlich zuwirket“. — 65) Sch. W. XVII 128.
44 Aurel Wolfram
menſchlichen Glückſeligkeit, d. i. den feinen Umriß in der Geſtalt und Kunſt des
Lebens fo klar und ſchön“ auszudrücken 66). Ihrem Einhalten beſtimmter
Grenzen, auch wenn es Unterſuchungen über Gott betrifft, ſtellt er „unſere Meta⸗
phyſik und Wortphiloſophie, unſer Jagen nach Kenntniſſen und Gefühlen, die
über die menſchliche Natur hinaus ſind“, kurz unſer Unendlichkeitsſtreben gegen⸗
über, das immer darauf aus ſei, „die Ewigkeit in der Zeit, d. i. den Ozean in der
Nußſchale zu genießen“ 57). Anſchließend fordert er die Wiederbelebung grie⸗
chiſcher Mythologie in der Gegenwartskunſt. Es iſt der Grundgedanke des
Schillerſchen Gedichts, den er in ſeinen Geſprächen über „Gott“ vorwegnimmt
mit dem Bekenntnis: „Ich geſtehe es, Epikurs Götter ſind mir leidlicher als dies
müßige, melancholiſche Weſen, durch welches man friſch und frei den Spinoza
zu widerlegen glaubte.“ 68)
Von rein ſachlichen Zuſammenhängen ſeien hier nur einige erwähnt. So weiſt
die Strophe 14 unzweifelhaft auf die von Herder im Anſchluß an Leſſing ab⸗
gefaßte Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“ 69) zurück. Auch die zweite
und die ſolgenden Strophen zeigen deutliche Parallelen zu den „Anmerkungen
zur Anthologie der Griechen“, wo Herder ausführt: „Was iſt aus Amor und den
Muſen, aus Nymphen und Grazien geworden und wie nahe lag dieſe Mytho⸗
logie dem gemeinen Leben, da beinahe jeder Baum, jede Quelle, jede Gegend
einem Gott verwandt war.“ Es kann nicht verwundern, wenn Herder in ſeiner
„Iduna“, die aus anderen Gründen mit ein Anlaß werden ſollte zu ihrem Bruch,
gerade dieſes Gedicht gegen verſchiedene Angriffe in Schutz nahm 70). Schiller
aber faßt zu dieſer Zeit den Plan, in einem Julianepos die Gegenſätze von
Chriſtentum und Heidentum in größerem Stil zu behandeln 71).
Die Antike wird ihm nun die tatſächliche vorgebildete Erfüllung des Humani⸗
tätsideals. Wie er ſich in den „Künſtlern“ zum erſtenmal über deſſen Wieder⸗
erreichung auseinanderſetzt, tritt die darauf gerichtete Tätigkeit des Menſchen, als
deſſen auszeichnendes Vermögen, beherrſchend in ſein Denken. Auch da helfen
ihm Herderſche Gedanken vorbauen für die äſthetiſchen Schriften. Gleich der Satz:
„Humanität iſt der Zweck der Menfchen⸗Natur und Gott hat unſerm Geſchlecht
mit dieſem Zweck fein eigenes Schickſal in die Hand gegeben.” 73) Wenn Herder
den Ausdruck der Geiſtigkeit in raſtloſer Bewegung erkennt 73), fo entſinnt man ſich,
wie auch Schiller die Anmut als Ausdruck des Menſchlich⸗Schönen nur in der
durch Freiheit bewegten Geſtalt ſieht“). Nach Herder iſt das inſtinktgeleitete
Tier „immer nur Knecht im Hauſe des Vaters“, der Menſch dagegen iſt Kind.
Er muß ſelbſt lernen was zur Vernunft und Humanität gehört). Eine ähn⸗
liche Wendung gebraucht Schiller, wenn er gegen Kants ſittlichen Rigorismus
die Frage aufwirft, womit es die Kinder des Hauſes verſchuldet hätten, daß er
nur für die Knechte ſorgte und gerade dadurch eine kraſtvolle Außerung ſittlicher
Freiheit verhindere 79),
6 H. W. 15, 422. — 67) H. W. 15, 424. — 68) H. W. 16, 484. — 60) Jungbauer II 18, 19.
— 70) H. W. 18 487 f. — 71) J. Schmidt, Schiller und feine Zeitgenoſſen S. 66. — 72) H. W.
14, = — 79) b. W. 13, 467 „Übung, aber nicht Ruhe der Vollendung iſt das a menſchlicher
Kräfte“ — 70 I: W. XVII 326. — 75) H. W. 13, 190 f. — 76) Sch. W. XVII 34
— — — — — — . SG — ä U—— ———
36313 W nn
Schiller und Herder 45
Schließlich verlangt Herder, daß jeder ſeine Eigenart zur vollendeten Indi⸗
vidualität ausbilden ſoll““) und gibt damit die Richtung für Schillers Begriff
der Totalität, mit deſſen genialer Konzeption dieſer die Kantiſche Lehre fort⸗
geſtaltete zu praktiſchem Kulturwert. Und der dieſem Begriff zugrunde liegende
Triebantagonismus findet ſich, wenn auch nicht mit der Schärfe Kantiſcher Ter⸗
minologie durchgeprägt, bei Herder, da er alle Triebe lebendiger Weſen auf
Selbſterhaltung oder Teilnahme an andern zurückführt 79).
So laſſen ſich, wenn auch ſchwer, weil nicht ſyſtematiſch verarbeitet, allent⸗
halben Spuren Herderſchen Denkens in den Schillerſchen Ideengängen nach⸗
weiſen. Der Standpunkt iſt demnach unhaltbar, daß beide in
der erſten Weimarer Zeit achtlos aneinander vorüberge⸗
gangen wären?“); wie will dazu auch Schillers eigene Ausſage ſtimmen,
Herder im folgenden Sommer (1788) „ſozuſagen zu verzehren“ 80). Wohl
traten zeitweilig Unterbrechungen im perſönlichen Verkehr ein, zum Teil durch
eine gewiſſe Zurückhaltung Herders 81), die oft aber ganz äußerlich hervor⸗
gerufen war, wie etwa durch die intenſive Arbeit Schillers an ſeinem erſten Ge⸗
ſchichtswerk 82). Ein ſolches Sich⸗Abſchließen iſt bei Schiller ſtets zu beobachten
in Zeiten ſtarker produktiver Tätigkeit. Es folgert bei einem Geiſt wie dem
ſeinen notwendig aus dem inneren Konzentrationsbedürfnis. Ein ſachlicher
und perſönlicher Gegenſatz zwiſchen beiden iſt in dieſer Zeit noch keineswegs
nachzuweiſen.
Man hat behauptet, daß Schiller bei Antritt ſeiner Dozententätigkeit, als er
genötigt war, verſchiedene Werke zu ſeiner Vorbereitung heranzuziehen, die
„Ideen“ völlig unbenutzt gelaſſen hätte. Daraus zu folgern, es wäre mit dem
Abgang aus Weimar jede geiſtige Verbindung zu Herder abgetan geweſen, iſt
unrichtig. Ganz abgeſehen von der Tatſache, daß Schiller ſich noch am 9. März 1789
das Herderſche Werk bei Cruſius beſtellte 85), widerſpricht dem auch anderes.
Bereits zu Beginn des Jahres macht er Körner Mitteilung 5% von dem philo⸗
ſophiſchen Geſpräch, mit dem er nach faſt einjähriger Unterbrechung den „Geiſter⸗
jeher“ fortſetzte. Gerade dieſes wichtige Glied in der Schillerſchen Ideenentwick⸗
lung hat man bisher unbeachtet gelaſſen, von dem er ſchreibt: „Halte dieſe
Philoſophie gegen die des Julius und du wirſt ſie gewiß reifer finden.“ Und
man nahm es wie ein Rätfel, daß man ſich im Vergleich zu den „Künſtlern“ hier
auf einen ganz anderen Boden geſtellt ſähe 85).
Liegt der ſcheinbare Naturalismus, dem Schiller hier wie nie im Leben er⸗
geben ſcheint 86), wirklich ſo außerhalb der Denkkreiſe, in die ihn Herder
führte? Gelegentlich eines Zuſammentrefſens im Hauſe Bertuchs, wo man ſich
über „hiſtoriſche Schriftftellerei, Magnetismus und verborgene phyſiſche Kräfte“
77) H. W. 14 namentlich die Ausführungen im 1. Kap. des 15. Buchs, das abſchließt: was du
aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu ſchaffen vermagſt bringe hervor“, dazu Kap. IV 4, VIII
5. — 78) H. W. 13, 155. — 79) O. Harnack, Schiller und Herder, Marbacher Schillerbuch 1905
S. 75. — 80) an Körner 15. J. 88, Jonas II 61 f. — 81) an Körner 20. 8. 87, Jonas I 400. —
82) an Schwan 2. F. 88, Jonas II 55 f. — 88) an Cruſius 9. 3. 80, Jonas II 246. — 84) an
Körner 22. 1. 89, Jonas II 246. — 85) O. Lempp, Das Theodizeeproblem in der Philoſophie und
Literatur des 18. Jahrhunderts 370. — 86) F. Überweg, Schiller als Hiſtoriker und Philoſoph 104.
46 Aurel Wolfram
unterhielt, gewann Schiller den Eindruck, daß Herder „äußerſt zum Materialis⸗
mus neige, wo er nicht ſchon von ganzem Herzen daran hänge“ 87). Und man
hat nicht mit Unrecht auf einen unausgeglichenen Gegenſatz von theologiſch ge⸗
färbter Methaphyſik und Naturalismus in Herders Geſchichtsauffaſſung hin⸗
gewieſen 88). Dies nötigt nunmehr in den Kern der Herderſchen Ideenwelt ein;
zugehen, in die Stellung zum Theodizeeproblem.
Bei der oben erwähnten Unterredung im Stadtwäldchen brachte Schiller auch
die ihm kürzlich von Herder ſelbſt überhändigte Schrift über „Gott“ zum Ge⸗
ſpräch 89), gab ſeine Meinung, ſoweit er ſie geleſen, darüber kund und zugleich
die Abſicht, aus der Idee „Gott“ die ganze Philoſophie abzuleiten. Herder fand
dies originell und legte ihm neuerdings die Schrift ans Herz, die „feine voll
ſtändige überzeugende Idee von Gott“ enthalte. Schiller erſucht ſogleich Körner
ſie zu leſen und ihm ſein Urteil darüber mitzuteilen. Beſonders der Anfang über
Spinoza erweckt ſein Intereſſe, indes er den Reſt, der ihm zuviel Metaphyſiſches
enthält 90), unbeachtet läßt. Aber gerade die einleitenden Partien enthalten fo
ziemlich alles, was Schiller brauchen konnte und das ſich mehr oder weniger
modifiziert bei ihm wiederfindet.
Schon in den „Ideen“ wird Gott gefaßt als die der Natur zugrunde liegende
Geſetzlichkeit, die jene zu einem Einheitlichen, Vernunftdurchwalteten mache 91).
Im gleichen Sinne fordert Herder nun „reine Naturgeſetze zu entwickeln, ohne
ſich um partikulare Abſichten Gottes dabei zu kümmern“ und meint, daß wer zeige
mit welch innerer Notwendigkeit ſich das Leben entwickle, Liebe und Verehrung
Gottes mehr als jeder andere befördere ??). Und in Erklärung des Spino⸗
ziſtiſchen Subſtanzbegriffes als den „eines Dinges, das die Urſache feines Da;
ſeins in ſich felbft hat“ 3%) — denkt und wirkt ihm Gott nach ewigen Geſetzen
ſeines Weſens, iſt er ihm in Überwindung des Carteſianiſchen Dualismus von
Denken und Ausdehnung ein organiſch, d. i. in unendlichen Kräften auf un⸗
endliche Weiſe ſich Ofſenbarendes ?“). So redet auch Schiller vom „einigen
Gott“ als einziger und höchſter Urſache aller Dinge, als „Weſen aller Weſen“ 95).
Und Herder geht weiter; was Gott wirkt iſt mithin einzig und anders
nicht möglich, aus ſeiner Vollkommenheit könnte er nie anders beſchließen als
er beſchloſſen hat 96). Alle ihm zugedachten Endabſichten find demnach als
„Antropopathieen“ abzulehnen, wie er ſie Leibniz in deſſen „Theodicee“ zum
Vorwurf macht 7). Gott konnte nicht über Entwürfen brüten. Gerade das
hieße ihn ſeiner „inneren Notwendigkeit“ berauben und ihrerſtatt, wie Leibniz es
tut, eine aus den Konvenienzen gebildete moraliſche Notwendigkeit ſetzen. Gott
aber kennt äußere Sittengeſetze nicht?). Vollinhaltlich ſchließt ſich hier Schiller
an, wenn er die moraliſch geſtimmten Begriffe von Mittel und Zweck in An⸗
87) an Körner 17. 5.88, Jonas II 61 f. — 88) Goldfriedrih, Die hiſtoriſche Ideenlehre in
Deutſchland S.58. — 89) an Körner 8. 8 87, Jonas I 374 f. — 90) Dieſen Teil läßt er auch
nach der bereitwilligen Beſprechung durch Körner unbeachtet. — 91) Kühnemann 364. — 92) H. W. 16,
402. — 98) H. W. 16, 440. — A) H. W. 16, 451 f. — 95) Sch. W. XVI 95, 104 (Sendung
Moſes). — 96) H. W. 16, 482. — 97) ebd. 483. — 98) ebd. 485.
Schiller und Herder 47
wendung auf tranſzendente Formen erſetzt haben will durch die moraliſch in⸗
differenten von Urſache und Wirkung 99%.
Damit ſcheint eindeutig die Richtung ins Naturaliſtiſche gegeben. Und was
dem Hiſtoriker gewieſen war zu objektiver Betrachtung: Geſchichte lediglich als
Ausfluß der dem Leben innewirkenden Geſetze zu werten, das aktiviert ſich nun
dem Individuum zur inneren Beſtimmung ſeines Verhaltens. Mit der Not⸗
wendigkeit, mit der ſich das Weltgetriebe aus dem Göttlichen hervorwirkt, iſt die
Begründung einer immanenten Moral in die Wege geleitet. Herder ſpricht
von „unvertilgbaren Kräften der Menſchheit“ und zeigt ſich beſtrebt, gleichſam
mit mathematiſcher Gewißheit den Verlauf des geſchichtlichen Lebens zu erken⸗
nen und darzutun, daß „Geiſt und Moralität auch Phyſik ſeien und denſelben
Geſetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnenſyſtem abhängen, nur in einer höheren
Ordnung dienten“ 100).
Wie in der Geſellſchaft, ſo iſt ihm auch im Individuum ein Naturſyſtem
lebendiger Kräfte angelegt und im Maximum ihrer Betätigung der Beſtand
menſchlicher Dinge und damit Moralität gewährleiſtet 101). In ihrem viel⸗
fältigen In⸗ und Gegeneinanderwirken erkennt er bereits den Kampf ums
Daſein als das Urgeſetz des Lebens; ſchon ſieht er auf natürlichem Wege eine
Ausleſe der Beſten vor ſich gehen, inſofern überall nur lebt, was unter gegebenen
Bedingungen am beſten fortkommt 102). Und er antizipiert den Nietzſcheſchen
Gedanken vom Kampf aller gegen alle, doch ohne jeden Zug eines brutalen
Egoismus, vielmehr aus dem Gefühl allſorgender Notwendigkeit der Natur ...
„alles iſt Streit gegeneinander, weil alles ſelbſt bedrängt iſt ... weil die Natur
im kleinſten Raum die größte und vielfachſte Anzahl von Lebenden ſchafſen
ſollte“ 103).
Das werden die tragenden Geſichtspunkte für Schillers Ethos der Kraft, wie eres
im „Geiſterſeher“ niederlegte. Und wenn er Körner verſichert, daß er „nichts von
der Art geleſen“, ſondern alles aus ſich ſelbſt habe ſpinnen müſſen 104), ſo
beweiſt dies nur, daß ihm die Anregungen vorwiegend im mündlichen Verkehr
zugingen. Dieſer währte wohl bis in den Sommer des Jahres, da Schiller ſo⸗
dann nach Volkſtädt und Herder im Auguſt nach Italien ging. Und daß Schiller
ſich innerlich mit dem Abweſenden beſchäſtigte, geht daraus hervor, daß ihn von
allen Nachrichten über dieſen am angenehmſten die von ſeiner baldigen Zurück⸗
kunft berührte 105).
Schon darin, wie Schiller die Freiheit als etwas Naturgeſetzliches hinſtellte, in
deſſen Wirken alles Menſchliche aufginge, unbekümmert um die böſen oder
guten Abſichten des einzelnen, war angedeutet, daß es weniger auf bewußt
ſittliches Vorhaben als auf möglichſt reiche Entfaltung individueller Kräfte an⸗
komme. Dies gelangt nun zu prinzipieller Weiterung im philoſophiſchen Ge⸗
ſpräch 106). Der einzelne wird hier der Furche verglichen, „die der Wind in die
99) Sch. W. XX 423. — 100) H. W. 13, 20. — 101) ebd. 14, 84. — 102) Kühnemann 326. —
108) ebd. — 104) an Körner 9.3.89, Jonas II 248. — 105) Eine lebhaftere Verſtimmung trat ein,
als Herder ſich nach feiner Rückkunft ſehr eng an Goethe ſchloß; aber auch dieſe hielt nicht lange. —
106) Auch rein formal hat Schiller die in Herders „Gott“ gewählte Geſprächsform übernommen.
48 Aurel Wolfram
Meeresfläche bläſt“ 107) und alles, womit man ſich der Notwendigkeit zu wider⸗
ſetzen vermeine, als in deren tiefere Pläne berechnend einbezogen erklärt. Der
Menſch wird beurteilt als ein zur Hervorbringung von moraliſchen Empfin⸗
dungen Organiſiertes, ähnlich wie die Bedeutung von Licht und Schall für Farbe
und Wohlklang 108). Die tranſzendenten Vorausſetzungen des Seeliſchen wer⸗
den bezweifelt und der Trieb zur Unſterblichkeit wird als im Zeitlichen auf-
gehend bloß für ein Palliativ „gegen die herandrückende Notwendigkeit“ be⸗
wertet 109).
Das Naturgeſetzliche im Moraliſchen noch ſtärker zu unterſtreichen, knüpft er
das ſittliche Handeln an den Glückſeligkeitstrieb 110), eine ihm noch von der
„Theoſophie“ her geläufige Vorſtellung, in der er gleichfalls mit Herder über⸗
einſtimmt, der Humanität und Glückſeligkeit im Ziel verbindet, wenngleich er
dieſe nur als notwendigen Miterfolg denkt 111). Jedenfalls iſt hier der weiteſte
Schritt getan zu einem Determinismus, der den Menſchen einſetzt wie ein Mo⸗
toriſches in die Kauſalreihe und zu einer realen Indifferenz moraliſcher Quali⸗
täten führt. Herder nimmt denn auch an, daß nichts vollkommen oder unvoll⸗
kommen genannt werden könne, weil alles, was geſchieht, nach einer ewigen Ord⸗
nung und nach gewiſſen Naturgeſetzen geſchehe 112).
Alle Vollkommenheit regelt ſich mithin nach Wirkungsquantitäten. Das Mehr
oder Weniger eingeſetzter Kräſte beſtimmt eine Tat als gut oder bös. Ja, Schiller
ſieht die einzig mögliche Bewährung des Unſterblichkeitstriebes nur im Fort⸗
leben durch die Tat 113). Unfähigkeit, Mangel an wirkenden Kräften macht das
Laſter 114) aus, eine Aufſaſſung, die ähnlich bei Fichte wiederkehrt. So ergäbe ſich
der paradoxe Schluß, daß jemand bei höchſter Sittlichkeit (nämlich auf tranſzen⸗
denten Vorausſetzungen begründeter) leicht umſonſt gelebt haben könnte 115).
Freiheit kann demnach nur ſein: Vollgebrauch individueller Kräfte, deren
Ausbildung höchſter Menſchheitszweck. So verſteht ſich auch Herders Ruf nach
„tätiger menſchlicher Hilfe“, mit der allein unſerem Geſchlecht gedient ſei 116).
Allen geſellſchaſtlichen Einrichtungen kommt daher nur mittelbare Bedeutung zu
— alſo auch dem Staat. Andernfalls ſieht ihn Schiller für „verwerflich und
ſchädlich“ an 117), weil gegen die Grundfeſten des Naturrechts und der Sittlich⸗
keit verſtoßend. Ahnlich ſpricht Herder von der „Staatsmaſchine ohne inneres
Leben“ und ſetzt „den edelſten Zweck der Regierung“ darein, daß fie entbehrlich
werde und jeder ſich ſelbſt regiere“ 118). So verſchließt der damals zeitſtarke Ra⸗
tionalismus auch ſeinem genialen Sinn für das Organiſche der Lebensformen
die völlig freie Sicht.
Trotz alledem vermeiden es beide, zu äußerſten materialiſtiſchen Konſequenzen
fortzuſchreiten. Bei Herder wird ein Abſtreben von ſolchen ſchon darin deutlich,
wie er an Stelle von Materie eben die Bezeichnung „organiſche Kräfte“ 119) geſetzt
107) Sch. W. X 422. — 108) Sch. W. XX 423 f. — 109) Sch. W. XX 422. — 110) Sch.
W. XX 424. — 11) H. W. 14, 400 f. — 112) H. W. 16, 428 f. — 113) Sch. W. XVI 65
(Univerſalgeſchichte). — 114) Sch. W. XX 431 f. — 115) Sch. W. XX 432 f. Diefe Solgerungen
deutet der Begleiter des Prinzen in feinen Einwänden an. — 116) H. W. 13, 469. — Sch.
W. XVI 170 f. (Lpkurg und Solon). — 118) H. W. 13, 385, 456. — 119) H. W. 16, 452 —
Schiller und Herder 49
haben will, wodurch das Innen und Außen, Geiſtiges und Körperliches zugleich
betont werden ſoll. Wenn er deren Wirken an Geſetze der mathematiſchen
Phyſik anknüpft, fo geſchieht es, um den Kulturprozeß plaſtiſcher hervortreten zu
laſſen. Iſt ihm doch das Naturgeſetz menſchlichen Daſeins „weiſeſte Güte“ 120) an
ſich. So kommt gewiß ſeinen Kräften etwas den Platoniſchen Ideen Ver⸗
wandtes zu, nämlich im Sinnlichen das Weſenhafte auszudrücken 121).
Indem beide den Begriff einer „höchſten Vollkommenheit“ beibehalten, mag
dieſe begründet werden wie immer, unterſchieben ſie doch wieder ein moraliſch
zu Wertendes und damit einen allgemeinen Endzweck. Der berechtigte Vorwurf,
den man Schiller hinſichtlich Inkonſequenz in Verwendung des Teleologiſchen
machte 122), trifft ſomit auch Herder. Alles was der höchſten Vollkommen⸗
heit förderlich iſt, bezeichnet er als ein wahres Gut. Höchſtes Gut aber iſt
ihm, mit andern Individuen unſere Natur zu genießen, d. i. zur Erkenntnis
der Einheit vorzudringen, in der unſer Innerſtes mit dem All verbunden iſt 123).
Man denkt an die Aufgabe, die in ihrer Tendenz ganz ähnlich Fichte dem
empiriſchen Ich zubeſtimmt. Es zielt eben doch auf Vergeiſtigung, wenn Herder,
wie ſpäter in den Humanitätsbriefen, den Kampf mit den Elementen, mit allen
Widerwärtigkeiten des Lebens gerade zum Nutzen des Menſchen gegeben ſieht.
„Zu ſeinen beſten Gütern iſt der Menſch durch Unfälle gelangt und tauſend Ent⸗
deckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte nicht die Not fie erfunden.“ 12%
So druchbricht ihm die ſubjektive Erkenntnistheorie, mit der er die geſamte
Weltentwicklung durchaus in Beziehung auf den Menſchen beurteilt und das
Vernunftmäßige der Natur entgegenſetzt, ſeinen Monismus.
Ahnlich bei Schiller, der ſich übrigens ziemlich unſicher zeigt in Handhabung
des fremden Geräts und ſich dabei auch wenig behaglich zu fühlen ſcheint. Er
nimmt ſeinem Prinzip, „alle Kräfte zum Wirken zu bringen“, ſofort das Ele⸗
mentare, wenn er den äußeren Wirkungserfolg als für die Moralität belang⸗
los hinſtellt und für dieſe einzig die „inneren Tätigkeiten des denkenden
Weſens“ 125), d. h. die eine Willensentſcheidung beſtimmenden Motive in
Betracht zieht. Damit iſoliert er doch ein Innermenſchliches von der einheit⸗
lichen Weltgeſetzlichkeit, und alle Verſuche, dieſe Zwieſpältigkeit wegzuſchaffen,
enden in mehr oder weniger gelungenen Sophismen. Unverſehens ſtiehlt ſich
ihm wieder das Tranſzendente ein, wenn er im Widerſpruch zu der früher be⸗
tonten moraliſchen Indifferenz plotzlich ein „verwüſtendes“ durchaus nicht als
ein „tätiges Leben“ 126) gelten laſſen will und einen Deſpoten vom Schlage
Philipp II. als das „unnützlichſte Geſchöpf“ und fein Daſein als eine „fürchterliche
Negative“ hinſtellt, „weil er durch Furcht und Sorge die tätigſten Kräfte bindet
und die ſchöpferiſche Freude erſtickt“. Übrigens kommt Herder zu dem näm⸗
lichen Schluß, daß „die ſchönſte Anlage, die auf Jahrhunderte hin der Menſch⸗
heit die nützlichſten Früchte verſprach, oft durch den Unverſtand eines Einzigen
zerrüttet wird, der ſtatt Aſte zu beugen, den Baum fället“ 127).
120) H. W. 14, 500. — 121) Poſadzy, Der entwicklungsgeſchichtliche Gedanke bei Herder, S. 45. —
122) Überweg, Schiller als Hiſtoriker und Philoſoph 102. — 128) H. W. 16, 429. — 120) H. W.
17, 120. — 125) Sch. W. XX 429. — 126) Sch. W. XX 427. — 127) H. W. 14, 232. .
eupborion XXVIII.
50 Aurel Wolfram
Das philoſophiſche Geſpräch bedeutet zweifellos den Höhepunkt der Beein⸗
fluſſung Schillerſchen Denkens durch Herder. Fortan, namentlich durch das
Studium Kants, ſcheint dieſe zurückgedrängt, bleibt jedoch, vielleicht Schiller
ſelbſt unbewußt, in den weſentlichen Standpunkten des Denkens fortwirkend,
und gerade, wo Schiller Kant menſchlich näherzubringen ſucht, kommt immer
Herder zu ſeinem Recht. Man verfolge nur bei Schiller bis zuletzt die Be⸗
deutung des Nemeſisbegriffes, z. B. in der feinen Symbolik, in die er ihn im
„Taucher“ hüllt oder in der elementaren Wucht, mit der er ihn walten läßt in
der „Braut von Meſſina“. Ein andrer Fall, wenn er ſo ganz im Widerſpruch
zu Kant mitunter in den äſthetiſchen Schriften von „moraliſchen Trieben“ 128)
redet, ja wenn er den ganzen Menſchen ſich aus Triebanlagen entwickeln läßt.
Schillers lebhafter ſynthetiſcher Drang iſt genährt an Herderſchen Elementen
und der Begriff „Spieltrieb“ 129) iſt eine Prägung, wie man ſie ſich ganz leicht
bei Herder denken könnte. Auch die ſymboliſche Einführung in „Über Anmut
und Würde“ iſt typiſch Herderſcher Gebrauch.
Noch ſchreibt Schiller mit Befriedigung an Körner: „Er iſt ein ganz anderer
Bewunderer meiner univerſalhiſtoriſchen Überſicht in den Memoires' als
Du.“ 180) Durch die Überſiedlung nach Jena tritt dann eine mehrjährige Pauſe
im Verkehr ein, obgleich die Lengefelds ſtets freundſchaftliche Beziehungen zu
Herders unterhielten, bis Schiller am 4. Juli 1794 Herder um ſeinen „in jedem
Betrachte fo entſcheidenden Beitritt“ zu den Horen 15!) bittet. Zwar drückt ſich
in deſſen Urteil über die äſthetiſchen Briefe ſchon eine leichte Gegenſätzlichkeit
aus, wozu Schiller bemerkt: „Herder abhorriert ſie als Kantiſche Sünden und
ſchmollt ordentlich deswegen mit mir.“ 132) Doch bleibt das Verhältnis vorder⸗
hand ein ſehr freundſchaftliches, ja es erfährt eine beträchtliche Stärkung durch
die Beiträge, die Herder zu den „Horen“ ſtellt. Gleich der erſte, für das dritte
Heft der „Horen“ beſtimmte Aufſatz „Das eigene Schickſal“ findet Schillers un⸗
geteilten Beifall. „Materien dieſer Art“, berichtet er Goethe, „ſind für unſeren
Gebrauch vorzüglich paſſend, weil ſie etwas myſtiſches an ſich haben, und durch
die Behandlung doch an irgendeine allgemeine Wahrheit angeknüpft wer⸗
den“. 133) Anſchließend an die Idee der „Nemeſis“ wird hier das eigene Schickſal
als ein Ergebnis des Charakters hingeſtellt und gefordert, daß jeder der ein⸗
gebornen Beſtimmung gemäß fein Leben geftalte 13%),
Gleich anerkennend äußert ſich Schiller über die „Terpſichore“, eine Übers
ſetzung, beſſer Umdichtung der Gedichte des Neulateiners Jakob Balde 135), Und
als der Aufſatz „Homer, ein Günſtling der Zeit“ Herder von Profeſſor Wolf in
Halle harte Anwürfe einträgt, nimmt Schiller unbedenklich Herders Partei gegen
den „Philiſter“ und deſſen „Flegeleien“, wie er den Philologen und ſein Ver⸗
halten apoſtrophiert 136). Und an der Auffaſſung der griechiſchen Plaſtik in der
6. Sammlung der Humanitätsbriefe rühmt er, daß der Verfaſſer „den Gegen⸗
128) Sch. W. XVII 350. — 129) Sch. W. XVIII 54. — 130) an Körner 16. F. 90, Jonas III
79. — 181) an Herder 4. 7. 94, Jonas III 464 f. — 182) an Körner 7. 11. 94, Jonas IV 54. —
183) an Goethe 19. 2. 95, Jonas IV 129 f. — 184) H. W. 18, 410. — 185) an Perder 17. 5.95,
Jonas IV 173. — 186) an Humboldt 26. 10.95, Jonas IV 301 f.
Schiller und Herder 51
anſchaue, nicht bloß fühle“, ſondern „mit der ganzen Menſchheit aufnehme und
ergreife“ 137),
Zahlreich ſind die Anregungen, die auch aus dieſen Arbeiten auf Schiller
übergingen. Die kulturhiſtoriſchen Überblicke, wie fie Schiller ſeit den „Künſt⸗
lern“ in poetiſcher Form immer wieder bringt, ſind nicht zu denken ohne
Herderſche Betrachtungsweiſe. Daher auch das hohe Lob, das dieſer Gedichten
wie dem „Spaziergang“ zollt. „Ein Gemälde aller Szenen der Welt und Menſch⸗
heit“ ſieht er darin, „die wildeſten Stellen bis zum Erſchüttern wahr.“ 138) Auch
der Hymnus „Die Geſchlechter“ dürfte im Grundgedanken der aus einer Knoſpe
ſtrebenden doppelten Blume auf eine Bemerkung Herders zurückgehen, wonach
die griechiſche Kunſt es verſtanden habe, „die zarte Blüte des Lebens, in der die
Geſchlechter ſich gleichſam trennen wollen und doch noch zuſammenwohnen, als
den wahren Reiz der Schönheit“ feſtzuhalten 139).
Am eindeutigſten aber ſcheint ein Zuſammenhang der Elegie „Die Sänger der
Vorwelt“ mit den in die „Horen“ eingerückten Homeraufſätzen Herders gegeben
zu ſein, kurz nach deren Erſcheinen ſie im Herbſt 1795 entſtand. Nicht bloß
gedanklich — oft wörtlich in Ausdrücken und Wendungen zeigt ſich die Ab⸗
hängigkeit des Gedichtes. So nennt Herder Homer „einen Boten der Vorwelt“
und das Epos „die Stimme der Vorwelt“ 140). Hinſichtlich des lebendigen
Worts, das Schiller ſo hoch anſchlägt, betont bereits Herder: „geleſen zu werden,
ſind dieſe Geſänge urſprünglich nicht gedichtet; ſie wurden geſungen; ſie ſollten
gehört werden.“ 141) Auch die Stelle, wonach die alten Dichter „vom Himmel
den Gott, zum Himmel den Menſchen geſungen“ hätten, findet eine Entſprechung
in dem Satz: „Homer änderte den alten Geſchmack dadurch, daß er gleichſam
den Himmel auf die Erde zog und .. alle feine Geſtalten rein menſchlich
machte.“ 142) Solcher Anklänge noch mehrere.
Auch bei dieſem Gedicht kargte Herder nicht mit dem Lob 145). Ebenſowenig
verfehlt der „über das Naive“ handelnde erſte Teil von Schillers berühmter Ab⸗
handlung ſeine Wirkung. Er hat daran nur „die verzwickten Zuſammen⸗
ſetzungen der Kantiſchen Philoſophie“ zu bemängeln 14“). Zurückhaltender zeigt
ſich Herder bereits bei dem Teil über die ſentimentaliſchen Dichter, obgleich er
noch Einigkeit in den Hauptgrundſätzen feſtſtellt 145). Hatte er ja in ſeinem
Homeraufſatz das Verhältnis der alten und neuen Dichter ähnlich dargeſtellt 145),
Doch raſcher, als es vorauszuſehen war, kamen die Bande in Löſung, die für
kurze Zeit die bedeutendſten Geiſter Weimars aneinandergeſchloſſen hatten. Was
Schiller und Herder betrifft, ſo lagen die Urſachen dafür, mochten auch ver⸗
ſchiedene äußere Momente mitſpielen, doch vor allem in der Verſchiedenheit
ihrer Antriebe. Und daß gerade aus geringfügigen Anläſſen, aus Mißverſtänd⸗
187) an Herder 12. 6. 95, Jonas IV 181. — 138) Herder an Schiller 10. 10.95 in Karoline
v. Wolzogens — Schillers Leben 210. — 139) H. W. 17 385. — 140) H. W. 18, 444. — 14) H.
W. 18, 424. — 142) H. W. 18, 437. — 148) Herder an Schiller am 10. 10. 95 Karoline v. Wol⸗
zogen Schillers Leben 210. — 144) Herder an Schiller am 21. 10. 95 ebd. 212. — 145) Herder
an Schiller am 25. 11. 95, Schüddekopf, Klaſſiſche Findlinge: Freundesgaben für Burckhardt. —
146) H. W. 18, 434 f.
52 Aurel Wolfram
niſſen ſich die perſönlichen Differenzen ergaben, zeigt um fo deutlicher die Un;
vermeidbarkeit des Bruches.
Eben hatte ſich Schiller noch zuſtimmend zur 6. Sammlung der Humanitäts⸗
briefe geäußert und bedauert, daß alle dieſe intereſſanten Aufſätze für die
„Horen“ verlorengingen, als der Aufſatz „Iduna oder der Apfel der Ver⸗
jüngung“ plötzlich feinen Widerſpruch auslöſte 17). Er ſtieß ſich an der ver
meintlichen Vorausſetzung Herders, „daß die Poeſie aus dem Leben, aus der
Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehen, damit eins ausmachen und darein zurück⸗
fließen müſſe“. Hatte er ſich doch in den äſthetiſchen Schriſten bemüht darzutun,
daß das gegenwärtige Leben „wie die Proſa der Poeſie entgegengeſetzt“ ſei.
Ihm liegt an ſtrengſter Abſcheidung des poetiſchen Geiſtes von der wirklichen
Welt. Der Dichter fol feine eigene Welt formieren und , durch die griechiſchen
Mythen der Verwandte eines fernen fremden und idealiſchen Zeitalters bleiben,
da die Wirklichkeit ihn nur beſchmutzen würde“ 148).
Hier klaſft zum erſtenmal ein bisher nur verhüllter Riß, der, wie ſchon an⸗
gedeutet, darin lag, daß Schiller das Einmalige, Beſondere einer beſtimmten
Volksindividualität noch nicht berückſichtigte. Auch begreift er Wirklichkeit viel
zu unmittelbar im Sinn von Zeitgeiſt, ebenfalls irrtümlich, da Herder nur das
Natürliche nationaler Kulturkreiſe ins Auge faßte, deſſen Einfluß ſich ſchlechthin
niemand entziehen ſoll. Daher die Aufforderung zur Wiederbelebung nordiſcher
Mythologie. Lehnt doch auch Herder es entſchieden ab, „Zeitgeiſt“ etwa nach
publiziſtiſchem Modeklatſch oder der rollenden Münze des Tages zu nehmen;
vielmehr iſt er ihm der verborgene, ideentragende Genius der Geſchichte, wie er
darum mahnt, „den Geiſt der Zeiten nicht zu verwechſeln mit der Stimme der
Schriftſteller; ſie ſind ein Teil desſelben, gewiß aber nicht der ganze, vielleicht
auch nicht der wirkſamſte Teil“ 149).
Herder vertritt hier das nämliche, zu dem Schiller ſpäter aus Eigenem ge⸗
langt, da er Goethes intenſivem Bemühen, es im Epiſchen Homer gleichzutun,
entgegenhält: „Da es wohl ſeine Richtigkeit hat, daß keine Ilias nach der
Ilias mehr möglich iſt, auch wenn es wieder einen Homer und wieder ein
Griechenland gäbe, ſo glaube ich Ihnen nichts Beſſeres wünſchen zu können, als
daß Sie Ihre Achilleis ... bloß mit ſich ſelbſt vergleichen ... denn es iſt ebenfo
unmöglich als undankbar für den Dichter, wenn er ſeinen vaterländiſchen Boden
ganz verlaſſen und ſich feiner Zeit wirklich entgegenſetzen ſoll.“ 150) Man ſpürt,
hier wäre nur eine dünne Scheidewand zu durchbrechen, um zu einem beider⸗
ſeitigen Verſtändnis zu gelangen.
Aber der Gegenſatz Schiller-Herder iſt eben ein pſychologiſcher, in
den geiſtigen Strebungen wurzelnd, daher die Schärfe der Umriſſe, in denen er
erſcheint. Hier objektive, am Geſchichtlichen ruhig verwei⸗
lende Betrachtung, dort neuer Stiltrieb künſtleriſchen
Lebenswillens. Schiller, damals in einer Art Fieberkriſis, geſpannt auf
höchſte Erwartungen, mußte ſich konzentrieren nach einem Formideal. Darum
147) an Herder 30. 10.95, Jonas IV 305. — 148) an Herder 4. 4. 95, Jonas IV 313. —
149) H. W. 18, 330. — 150) an Goethe 18. 5. 98, Jonas V 384f.
1
Schiller und Herder 53
der Zug von Unduldſamkeit, das kompromißloſe Fordern; der ſchöpferiſche
Inſtinkt ſchließt ſich für Momente ab gegen alles Verwirrende, unklar Er⸗
weiternde. Demgegenüber Herder, noch einmal erfüllt von intuitiver Schau des
Geſamtmenſchlichen, ins Unendliche ſchweifend gerade im natürlichen Be⸗
grenzen. So ſchieden ſich die Geiſter in ihnen, je mehr Schillers Anſichten durch⸗
reiften zu programmatiſcher Klarheit.
Herder mochte aus manchem die ſchmerzliche Gewißheit nehmen, daß Neues
ſich ankündigte, etwas, das ſeinen eigenſten Intentionen entwachſen, nun über
ihn und ſein Werk hinausging und in ſeinem poſitiven Ertrag ihn zurückſtellte
gegen andere. Daher die Flucht ins Vergangene, der bittere Unwille, mit dem
er die Schritte der Begünſtigten verfolgt, die Luſt am Verkleinern, die ihm
ihrerſeits wieder harten Tadel einträgt. Goethe nicht minder als Schiller verdroß
„die ſonderbare Toleranz gegen alles Elende“, die er hervorkehrte und die „Ver⸗
ehrung gegen alles Verſtorbene und Vermoderte, die gleichen Schritt hält mit
ſeiner Kälte für das Lebendige“ 151).
Zuſehends verſagt Herders ſonſt ſo reiches Vermögen, ſich einzufühlen in
fremde Leiſtung, in dem Maß, als er ſich im eigenſten Lebensgefühl verletzt
ſieht. Nun beſtätigt ſich, was Schiller von ihm geurteilt hatte, daß ſeine Emp⸗
findungen nur in Haß oder Liebe beſtünden. Wo er nicht mehr lieben konnte,
da war für ihn auch kein Verſtehen mehr. Dazu die materiellen Sorgen und die
unerquicklichen Differenzen, in die er mit dem Hof und Goethe geriet. Da
kamen die „Xenien“ gerade recht, der gequälten Seele Luft zu machen; fie waren
nur ein letzter Anſtoß zur Trennung 152). Die ganze Verbitterung des einſam
Gewordenen klingt auf in einem Brief an den alten Gleim: „Nun Beſter
flugs auf zu den ‚Kenien‘, und ſehen Sie wie die neuen Muſen ſich erklären
und was für ein neuer Parnaß emporſteigt. Das Alte iſt vergangen’, fagt
St. Paulus, „das Neue herbeigekommen“. Wir indes Beſter, Lieber, Guter
wollen beim Alten bleiben und uns lieben und werthalten. Wir haben mehrere
ſolcher Katzbalgereien erlebt und wiſſen was aus ihnen wird.“ 153)
Darüber aber kam er am ſchwerſten weg, daß in der Schätzung des einſtigen
Jugendfreundes ein anderer an ſeine Stelle getreten war. Nicht wenig trug zur
Abſage an die „Horen“ die Verärgerung bei, mit der es Herder dem Einfluß
Schillers zuſchreiben mochte, daß Goethe, ſeine Gegengründe beiſeiteſetzend, nun
doch mit dem „Wilhelm Meiſter“ und den „Römiſchen Elegien“ an die Offent⸗
lichkeit getreten war. Mit richtigem Inſtinkt fühlte man im Herderſchen Hauſe
in Schiller den heraus, der trennend zwifchen ihnen und Goethe ſtand, den
Repräſentanten des neuen Geiſtes. In Briefen und perſönlichen Außerungen
erging man ſich in heftigen Invektiven gegen ihn. Wo alles über Schillers
Werke in Bewunderung ſtand, ſuchte man nichtachtend darüber hinwegzugehen.
Als „Wallenſteins Lager“ in Szene geht, läßt dies Herder kalt. „Die Komödie
iſt nun faſt der herrſchende Gedanke des großen Haufens geworden“, ſchreibt
151) an Goethe 18. 6. 96, Jonas IV 461. — 152) Schon im Frühjahr 1796 dispenſierte ſich
Herder auf unbeſtimmte Zeit von der Mitarbeit an den „Horen“, Schiller an Goethe 5.2.96,
Jonas IV 410. — 153) Herder an Gleim 29. 6. 98, „Von und an Herder“ von Dünger I 244.
54 Rudolf Preiswert
Karoline, Herders Gattin, an Gleim, „mein Mann iſt vielleicht der Einzige in
Weimar, der noch nicht darinnen war.“ 154) Bei den „Piccolomini“ wollte man
„ruhig die zweite und dritte Aufführung erwarten“ 155),
Dieſe kleinliche Widerſetzlichkeit, das Ignorieren und Geizen mit Anerkennung,
das hartnäckige Sich⸗Verſteifen auf das Moraliſche für die dichteriſche Produk⸗
tion, es mußte peinlich befremden an einem Manne, in deſſen Geiſt Sturm und
Drang einſt ſiegreich waren. Es macht die etwas liebloſe Art verſtändlich, mit
der Goethe klagt über den „Alten auf dem Topfberge“, der verdammt ſei durch
weiß Gott welche Gemütsart, ſich und anderen den Weg zu verkümmern 156).
Für Schiller iſt Herder jetzt „eine ganz pathologiſche Natur“ und was er ſchreibt,
kommt jenem vor „wie Krankheitsſtoff, den dieſe auswirft ohne dadurch geſund
zu werden“ 157). Und obgleich es kurz vor ſeinem Tode ſchien, als beſſere ſich
das Verhältnis zu Goethe, mit Schiller wäre es kaum zur Ausſöhnung gekommen.
Am 18. Dezember 1803 ſchied Herder aus dem Leben und, als nun von hoherer
Hand aller Streit geſchlichtet war, da hielt auch Schiller mit der Anerkennung
nicht zurück. „Hier iſt kürzlich Herder geſtorben, der ein wahrer Verluſt nicht nur
für uns, ſondern für die ganze literariſche Welt iſt“, ſchreibt er an Chriſto⸗
phine 158). Mehr als je begannen ihn wieder Herders Schriften zu beſchäftigen,
noch bis kurz vor ſeinem Ende. Unter den Aufzeichnungen Karoline v. Wol⸗
zogens findet ſich die Stelle: „Über Herders „Ideen ... waren wir früher oft
im Zwieſpalt. Er achtete das Buch, aber meinen lebendigen Sinn dafür erkannte
er nicht ganz. Ich weiß nicht wie mir iſt, ſagte er, als der letzte Frühling für
ihn begann, dies Buch ſpricht mich jetzt auf eine ganz neue Weiſe an und wird
mir ſehr lieb.“ 159) Das war geſagt in den Morgenſtunden romantiſchen Geiſtes,
im erſten Niederſteigen von klaſſiſcher Höhe zur Fülle und Wirklichkeit der Hei⸗
mat und des eigenen Volkstums.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt.
Von Rudolf Preiswerk in Schiers (Graubünden).
J.
In ſeinem Aufſatz „Der Prolog im Himmel in Goethes Fauſt“ (Neue Jahr⸗
bücher für das klaſſiſche Altertum uſw. Bd. LI S. 173) legt O. Pniower dar,
daß der Geſang der Erzengel am Anfang des Fauſt gedichtet worden ſei haupt⸗
ſächlich im Anſchluß an den Lobpreis der Schöpfung, den wir in den Schluß⸗
kapiteln des Buches Hi ob leſen [XXVI, XXVIII, XXXVIII )]. Es ſei uns
geſtattet, dieſe Meinung auf ihre Richtigkeit zu prüfen und zu unterſuchen, in
154) Herder an Gleim I 248. — 155) Herder an Gleim 18. 1. 99 ebd. I 251. — 156) an
Schiller 13. 8. 97, Schiller⸗Goethe I 284. — 157) an Körner 1.5.97, Jonas V 186. — 158) an
Reinwald 5.1.1804. Jonas VII 109. — 159) Karoline v. Wolzogen, Schillers Leben 263.
1) Ahnlich bei J. Zeitler, Goethe⸗Handbuch III S. 157. E. Traumann, Goethes Fauſt I S. 202
zieht die Pfalmen zum Vergleich heran. J. Minor, Goethes Fauſt II S. 83 bemerkt, daß in den
drei gleichgebauten Strophen ein uraltes Thema der Pſalmen und jeder geiſtlichen Lieddichtung
variiert werde. Nicht zugänglich waren dem Verfaſſer dieſes Aufſatzes J. Landsberger, Das Buch
Hiob und Goethes Fauſt, Darmſtadt 1882, und Goethes Fauſt, erklärt von A. Trendelenburg 1921/2.
— Zum m Geſang d der er Erzengel i in Goethes Jauſt 5⁵
welchem Umfange das Erzengellied unter dem Einfluß des Hiobbuches ent⸗
ſtanden iſt oder entſtanden ſein kann, welche unter ſeinen Beſtandteilen dagegen
von anderen Quellen herzuleiten ſind.
Dem bibliſchen Vorbilde verdankt Goethe zunächſt ohne Zweifel den Ent⸗
ſchluß, den Geſang der Erzengel überhaupt zu dichten. Denn wollte er einmal
Gott und den Teufel in ähnlicher Weiſe miteinander ſprechen laſſen, wie es am
Anfang des altteſtamentlichen Lehrgedichtes geſchieht, ſo mußte er auch die
himmliſchen Heerſcharen auftreten laſſen. Traten aber Engel auf, ſo lag es
nahe, ihnen ein Lied in den Mund zu legen, durch das der Schöpfer geprieſen
wird. In dem Vorhaben, dieſes Lied zu verfaſſen, kann der Dichter durch
Hiob XXXVIII 7, einer von Pniower und anderen Fauſterklärern erwähnten
Stelle, beſtärkt worden ſein. Dann ſtimmt der Grundgedanke des Engelgeſanges
überein mit einem Gedanken, der im Buche Hiob wiederholt von Hiob, von
ſeinen Freunden und vom Herrn ausgeführt wird. Er lautet: Unbegreiflich,
aber über alle Maßen großartig zeigt ſich Gott in der Natur, und — das wird
teils ausgeſprochen teils vom Leſer oder Hörer mitempfunden — unbegreiflich,
aber über alle Begriffe weiſe zeigt er ſich auch in den Führungen des Menſchen⸗
lebens 2). Des weiteren glaubten alte Ausleger in Hiob XXXVIII 37 eine
Anſpielung auf die Sphärenharmonie zu erkennen. Goethe hat ſich ſchwerlich
um dieſe Auslegung gekümmert; ſie hat aber dadurch, daß ſie den Glauben an
muſizierende Sterne hat verbreiten helfen, mittelbar dazu beigetragen, daß er
den Geſang der Sonne und der Bruderſphären erwähnt ?). Schließlich werden
im Engelliede wie bei Hiob als Erſcheinungen, in denen ſich Gottes Macht
offenbart, das Meer, die Gewitter (und die Winde) genannt. Aber ein deut⸗
licher Anklang an das Hiobbuch findet ſich höchſtens in dem Ausdruck „Pfad
des Donnerſchlags“. Im übrigen kann Goethe die Beſchreibung jener Elementar⸗
gewalten mitſamt der Vorſtellung, daß Gott den Menſchen ſeine Herrlichkeit in
der Natur ſchauen laſſe, ebenſogut ſeiner eigenen Anſchauung oder anderen
Schriftwerken verdanken wie feiner altteſtamentlichen Vorlage ).
Damit kommen wir zu denjenigen Stellen in unſerem Liede, die mit Hiob
nichts zu tun haben. Es ſind die Verſe, die von der Bewegung der Himmels⸗
körper handeln. Der deutſche Dichter redet vom Laufe der Sonne, von der
2) Hiob her) VS, o; IX; XI 7-9; XII 13-25, XXI 22; XXII 12— 14; 1 XXVIII
20 - 28; XXXVI 22-26; XXXVII 14 24; XXXVII; XXXIX; XXXXII
3) Hiob XXXVIII 37; Vulgata: Quis enarrabit caeloruun rationem 2 8
caeli quis dormire faciet? Luther: Wer ift fo weile, der die Wolken erzählen könne? Wer
kann die Waſſerſchläuche am Himmel verſtopfen? Kautzſch: Wer zählt die Wolken mit Weisheit
ab, und die Krüge des Himmels — wer legt fie um? Vgl. F. Piper, Mythologie und Symbolik
der chriſtl. Kunſt uſw. 1851, 1. Bd. II. Abt. § 48. III. — Auf eine unrichtige Uberſetzung kann
durch Vermittlung anderer Dichter auch zurückgehen die Wendung „die Sonne tönt“.
Aquila (2. Ihdt. n. Chr., Uberſetzung des A. T. ins Griechiſche) gab im Hohen Liede VI 9 (he⸗
bräiſche Bibel VI 10) die Stelle „rein (Luther: auserwählt) wie die Sonne“ wieder durch „tönenb
wie die Sonne“. Vgl. Ambrosius, De Isaac et anima VII 63: Quod autem Aquila ait:
Sonanssicut sol, videtur illa axis caelestis conversio solisque et lunae et stel-
larum cursus concentusque globorum exprimi
4) Naturgewalten: Hiob XXVI 12 (14); XXVIII 25/6; XXXVI 30-33; XXXVII 2-5, 9
XXXVIII 8-11, 34/5; „Pfaddes Donnerſchlags“ — (Luther) XXVIII 26 da er a
Regen ein Ziel machte und dem Blitz und Donner den Weg; vgl. XXXVIII 25.
56 Rudolf Preiswert
Drehung der Erde um ſich felber und von ihrem Flug im Weltraum. Gleich hier
ſei feſtgeſtellt, daß ſich Goethe unter der vorgeſchriebenen Reiſe der Sonne nichts
anderes kann gedacht haben als deren ſcheinbaren Lauf um die Erde. Denn
wenn auch die Anſicht, daß die Sonne eine wirkliche Bewegung um einen
größeren Himmelskörper mache, dem 18. Jahrhundert nicht fremd war, ſo
können doch die Worte „vollendet ſie mit Donnergang“ nur auf ihren täglichen
Scheinumlauf um die Erde bezogen werden, nicht auf die Umkreiſung eines
größeren Sterns, die erſt in unzähligen Jahren „vollendet“ würde. Allerdings
widerſpricht bei dieſer Deutung die erſte Strophe des Engelliedes der zweiten,
in welcher der Wechſel von Tag und Nacht durch die Umdrehung der Erde
erklärt wird. Allein Goethe folgt eben in der erſten Strophe der ptolemäifchen,
in der zweiten der kopernikaniſchen Auffaſſung des Weltalls. Daß nun das
Buch Hiob nichts von einer Drehung und einem Kreislauf der Erde weiß, iſt
nicht erſtaunlich. Es erwähnt aber auch keinen wirklichen oder ſcheinbaren Lauf
der Sonne um die Erde. Hier ſind alſo diejenigen Beſtandteile unſeres Liedes,
die von anderen Quellen abzuleiten ſind. Dieſe Quellen aufzudecken, iſt das
Ziel unſerer Abhandlung.
II.
Raphael.
Die Sonne tönt nach alter Weiſe
In Bruderſphären Wettgeſang,
Und ihre vorgeſchrieb'ne Reife
Vollendet fie mit Don nergang.
Der Geſang der Erzengel ſteht nicht für ſich allein da wie ein beliebiges
lyriſches Gedicht. Er iſt ein Stück der Fauſttragödie und erfüllt feine Aufgabe
nur dann völlig, wenn er in Verbindung mit dem ganzen Schauſpiele geleſen
oder angehört wird. Trotzdem iſt es erlaubt, das Lied aus ſeinem Zuſammen⸗
hange loszutrennen und geſondert zu behandeln. Bei dieſer Betrachtungsweiſe
tritt es aus feiner Vereinzelung heraus und geſellt ſich den religiöfen Natur⸗
liedern bei, die das deutſche Sprachgebiet — zumal da, wo es dem proteſtan⸗
tiſchen Bekenntniſſe huldigt — in großer Zahl hervorgebracht hat. Das ſelb⸗
ſtändige geiſtliche Naturgedicht kommt im 16. Jahrhundert noch kaum vor. Es
blüht im 17. Jahrhundert auf und erfährt im 18. Jahrhundert einen eigen⸗
artigen Aufſchwung.
In der religiöfen Naturdichtung des 17. Jahrhunderts laſſen ſich zwei Rich⸗
tungen unterſcheiden. Die eine, bei weitem verbreitetere, ſtellt den Menſchen
in den Mittelpunkt; der Natur wird nur inſofern eine Bedeutung beigemeſſen,
als ſie ein Gleichnis für ewige Dinge darſtellt, oder als Gott dem Menſchen
durch ihre Vermittlung ſeine leitende und fürſorgende Güte zeigt. Die Verfaſſer
der zahlreichen und oft gemütvollen Frühlings⸗ und Sommerlieder aus der
Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Weſtfäliſchen Friedens bleiben faſt
ausnahmslos am Nächſtliegenden haften; es fehlt ihnen der Sinn für die Größe
und Selbſtändigkeit der Schöpfung. Wer einen Einblick in dieſe Art der Be⸗
trachtung gewinnen will, mag Paul Gerhardts „Geh aus, mein Herz, und ſuche
Freud“ durchleſen. Wie gründlich iſt doch die Naturauffaſſung dieſes kindlich
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 57
frommen Lutheraners von derjenigen Goethes verſchieden! Näher ſteht dem
Engelgeſange die andere Richtung. Sie kommt in einigen Gedichten des Katho⸗
liken Friedrich von Spee und des Reformierten Joachim Neander zum Aus⸗
druck. In des letzteren noch heute geſungenem Lobliede, das mit den Worten
„Himmel, Erde, Luft und Meer“ beginnt, ſtehen Geſtirne und Erdball, Wälder
und Felder, Vieh, Vögel und Waſſerwellen, ohne Rückſicht auf den Nutzen, den ſie
dem Menſchen gewähren, ihrem Schöpfer ſelbſtändig gegenüber. Nicht ſowohl die
Güte als vielmehr die Ehre und die Erhabenheit Gottes find es, die der Dichter,
der unter dem Einfluſſe altteſtamentlicher Naturſchilderungen ſteht, an ihnen
wahrnimmt.
Im 18. Jahrhundert, in dem ſich ſowohl die wiſſenſchaftliche Forſchung als
die gefühlsmäßige Sehnſucht der Natur zuwandten, mußte auch die religiöſe
Naturdichtung gedeihen. Das religiöſe Naturlied der Aufklärungszeit ver⸗
einigt in ſich die beiden Richtungen des vorangehenden Jahrhunderts. Aber die
Art Neanders überwiegt. Der Sinn für das Trauliche tritt zurück; dafür iſt
das Verſtändnis für die Weite und Großartigkeit der Natur gewachſen. Am
Schöpfer wird neben der Güte und der Erhabenheit jetzt vor allem die Weisheit
geprieſen. Bei einer derartigen freieren und umfaſſenderen Betrachtungsweiſe
kommen auch die feindlichen Seiten der Schöpfung zu ihrem Rechte. Paul
Gerhardt ſucht vor den ſchädlichen Naturgewalten Schutz bei Gott; er kann
ſagen: Wer wärmet uns bei Kält' und Froſt, Wer ſchützt uns vor dem Wind?
Demgegenüber ſingt Neander: Donner, Blitz, Dampf, Hagel, Wind Seines
Willens Diener ſind. Friedrich von Spee fügt zum Gewitter das erregte Meer
hinzu: Faſt alles, voller feiner Macht, Laut überall erſchallet, Das Meer in
ſteter Wellenjagd Mit Brüllen laut erknallet .. Ihn loben Wind und Regen,
Ihn loben Blitz und Wetterſchein Zuſamt den Donnerſchlägen. Bei Ewald
von Kleiſt heißt es: Donner, Meer und Stürme rufen dir mit hohlem Brüllen
zu: O verwegenes Geſchöpfe. Dies iſt Gott. Was zweifelſt du? und der
Zürcher Pſalmenerneuerer Salomon Wolf, ein Zeitgenoſſe Goethes, dichtet:
Der Wolken ſchwarze Laſt, von Regen ſchwer und Blitzen, Des Meeres Un⸗
geſtüm, der Ozeane Toben, Vom wütenden Orkan empöret, muß dich loben.
Von jeher haben Sonne, Mond und Sterne den Glauben des Menſchen an
eine göttliche Macht geweckt und gefeſtigt. Die Himmelsleuchten fehlen denn
auch in der geiſtlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts nicht. Aber was von ihnen
ausgeſagt wird, iſt in der Regel das, was die tägliche Beobachtung und die
Bibel lehren. Die Stellung der Himmelskörper im Weltraume wird ſelten in
Betracht gezogen; zumal die Sterne erſcheinen meiſt als bloße Zierate am
Firmament. Im 17. Jahrhundert iſt des Ptolemäus Lehre über das Welt⸗
gebäude noch durchaus die herrſchende; ſie wird bis ins 18. Jahrhundert hinein
von der Kirche, der proteſtantiſchen fo gut wie der katholiſchen, geſchützt 5).
5) Noch im Jahre 1721 muß der Zürcher Profeſſor Joh. Jak. Scheuchzer auf Weiſung der
Zenſoren aus feiner Tobi physica sacra die Stellen ausſtreichen, in denen er ſich zur koperni⸗
kaniſchen Auffaſſung bekennt. (Vgl. P. Wernle, Der ſchweiz. Proteſtantismus im 18. Ihdt.
Bd. II S. 3.) Erſt im Jahre 1758 wird das Verbot gegen Bücher, die den Umlauf der Erde um
die Sonne verfechten, aus dem Index libr. proh. entfernt.
58 Rudolf Preiswert
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kommt die kopernikaniſche Auffaſſung
langſam zu allgemeiner Geltung, geſtützt und erweitert durch die Entdeckungen
Newtons. Die neue Erkenntnis wirkte befreiend und erhebend; ſie belebte das
religidfe Gefühl und ſteigerte die Ehrfurcht vor Gott. Wie gewaltig mußte die
Kraft deſſen ſein, der jetzt nicht mehr bloß der Schöpfer Himmels und der
Erden im alten Sinne war, ſondern von dem man mit Gellert ſagen durfte:
Er will's und ſpricht, So ſind und leben Welten. Neben dem Gedanken an die
Unermeßlichkeit des Raums und die ungeheure Zahl der Himmelskörper machte
der neugewonnene Einblick in die Geſetzmäßigkeit der Erd⸗ und Sternen⸗
umläufe den tiefſten Eindruck 9. Kein Wunder, daß fie auch in der Dichtung
des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts verherrlicht und öfters mit
Gott in Verbindung gebracht werden. Klopſtock beginnt ſeine ſchöne Umſchrei⸗
bung des Unſervaters, die er unter der Überſchrift „Pſalm“ veröffentlicht hat,
mit den Worten: Um Erden wandeln Monde, Erden um Sonnen, Aller
Sonnen Heere wandeln Um eine große Sonne; und Schiller läßt in ſeinem
Lied an die Freude den „guten Geiſt“ von den Wirbeln der Sterne gelobt
werden. Auch im Lied von der Glocke lobt der Geſtirne helle Schar wandelnd
ihren Schöpfer. Freilich werden die Dichter bei derartigen Beſchreibungen bis⸗
weilen mehr von ihrer Einbildungskraft als von deutlichen Vorſtellungen ge⸗
leitet. Sie mißachten ſogar die kopernikaniſche Auffaſſung des Weltgebäudes
in Fällen, wo ihnen eine wandelnde Sonne angemeſſener oder wirkungsvoller
vorkommt als eine ruhende. Gellert fragt trotz ſeinen „Welten“ in der Weiſe
der Bibel: Wer führt die Sonn' aus ihrem Zelt? Auch Herder kann nur den
Scheinumlauf der Sonne um die Erde meinen, wenn er jene in ſeinem Gedichte
„Die Schöpfung. Ein Morgengeſang“ anredet: Sonne, wer, der dich erfand?
Ballte und mit kühner Hand Dich in jene Laufbahn warf, Wo dein Fuß nicht
gleiten darf?“)
Wenn man die Natur ihren Schöpfer preiſen läßt, ſo ſtellt man ſich gerne vor,
daß das laut geſchehe. Darum legt gelegentlich ſchon das Alte Teſtament dem
Himmel und den Geſtirnen eine Stimme bei. Beſonders deutlich geſchieht das
im Buche Hiob XXXVIII 7: Da mich die Morgenſterne miteinander lobeten
und jauchzeten alle Kinder Gottes, in einer Stelle, die in mehreren Gedichten
der Aufklärungszeit wiederkehrt. Mit der bibliſchen und allgemein menſch⸗
lichen Vorſtellung vom Jubel der Sterne verband ſich nun ſchon im ausgehenden
Altertum die Erinnerung an die ſogenannte Sphärenharmonie. Neuerdings
6) P. Wernle nennt zwei von ſchweiz. Geiſtlichen in den Jahren 1783 und 1789 herausgegebene
Katechismen und eine dritte ähnliche Lehrſchrift, in denen Gottes Vollkommenheit mit Hilfe der
Sternkunde bewieſen wird; a. a. O. Bd. I S. 638/9, 649/50; II 147/8. Aus dem im Jahre 1789
gedruckten Werklein wird u. a. folgende Stelle mitgeteilt: Was verdient da (am Himmel) deine
vorzügliche Bewunderung? Nicht allein die Größe der Sonnen und Welten ... ſondern auch ihre
Menge und Schönheit, ihre unermeßliche Entfernung von uns und ibre Bewegung.
7) Wir führen Stellen aus folgenden Gedichten Herders an: „Morgengeſang“, verfaßt nach
Suphan 1771, nach Müller 1772; „Die Schöpfung. Ein Morgengeſang“, 1773; „Die Nacht“
1801. Von dieſen Gedichten iſt nur „Die Nacht“ von Herder ſelbſt veröffentlicht worden; die
beiden andern wurden erſt nach feinem Tode gedruckt. Als Belege für die Denk⸗ und Ausdrucks ;
weiſe des 18. Ihdts. ſind ſie trotzdem von Wert.
ur EEE. ———— — — —————. —. — — — — —ñH — de ein — ——
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 59
wurde die Vereinigung der griechiſch⸗römiſchen und der altteſtamentlichen Bes
richte über einen ſingenden Himmel von der Mitte des 18. Jahrhunderts an
beliebt, wie es ſcheint hauptſächlich unter Miltons und Ciceros Einfluß 5).
Auch du gehörſt, ſo ſagt Herder in ſeinem „Morgengeſang“ zu ſeiner Leier, „ins
Chor Der ſchönen Morgenſtern' und früher Lerchenſtimmen Und alles Sphären⸗
klangs“. Von Himmels⸗ und Sphärenmuſik iſt alſo bei Goethes Zeitgenoſſen
öfters die Rede. Allein die urſprüngliche Lehre von den Sphären, die nach
Cicero acht durchſichtige, die Erde tönend umkreiſende, den Mond, die Sonne,
die fünf im Altertum bekannten Planeten und den Fixſternhimmel tragende
Hohlkugeln ſein ſollten, erſcheint meiſt in ſtark verblaßter oder völlig veränderter
Geſtalt. Die alte Auffaſſung ſchimmert noch durch in Klopſtocks Meſſias, wo
geſchildert wird, wie ſich der Himmel mitten in der Verſammlung der Sonnen
unter dem Ewigen dreht und bei feinem Wandeln die ſphäriſchen Harmonien
ertönen läßt. Auch der Anfang von Klopſtocks Ode „Die Zukunft“, die mit den
Worten beginnt: Himmliſcher Ohr hört das Getön der bewegten Sterne, er⸗
innert an den „Traum des Scipio“. Denn auch dort vernehmen nur die Seligen
etwas von der Sphärenharmonie, und Klopſtock leitet wie Cicero den Klang
der Himmelskörper von ihrer Bewegung her. Nur überträgt er den Klang von
den Sphären der Planeten, des Mondes, der Sonne und der Firfterne auf
ſäͤmtliche Sterne. Noch offenſichtlicher nehmen alle Einzelſterne ohne Unter⸗
ſchied an der Himmelsmuſik teil in dem Gedichte „Der Sternenhimmel“, das
Herder aus dem Lateiniſchen des Jakob Balde überſetzt und im Jahre 1795,
alſo kurz vor der Zeit, da Goethe ſich wieder an den Fauſt machte, in ſeiner
„Terpſichore“ veröffentlicht hat. Von beſonderer Wichtigkeit iſt für uns die
neunte Strophe: Von jeder Sonne, jeglichem Stern erklang Ein ungehörter,
himmliſcher Silberton! Die Pole klingen, Sonnentönen, Alles ein Chor,
ein Geſang der Welten.“) Wenn man aber den einzelnen Sternen Töne zu⸗
erkennt, ſo iſt es billig, daß die Sternbilder förmliche Lieder ſingen. So ſpricht
denn Matthias Claudius in ſeinem erſten „Brief an den Mond“ vom Päan
des Orions und vom hohen Allegro des Siebengeſtirns. Allein auch ein ſo herr⸗
licher Einzelſtern wie die Sonne iſt es wert, nicht nur einen Ton, ſondern einen
Geſang erſchallen zu laſſen. Darum ſagt Herder in ſeinem Gedichte „Die
Schöpfung“: Sonne, Meer der Herrlichkeit, Sie erfüllet weit und breit Alles
mit Poſaunenklang, Mit Triumph und Feſtgeſang.
Nun mag es verwunderlich erſcheinen, daß die Schriftſteller des 18. Jahr⸗
hunderts, obſchon ſie, wie die eben angeführten Beiſpiele lehren, nicht mehr die
ſterntragenden Sphären, ſondern die Sterne ſelber ſingen laſſen, doch bisweilen
von ſingenden Sphären ſprechen. Aber das Wort „Sphären“ bezeichnet eben
nicht bloß die erdichteten Himmelshohlkugeln des Altertums, ſondern auch die
wirklichen runden Himmelskörper. In dieſem Sinne ſagt Ewald von Kleiſt:
Die Scharen ungeheurer Sphären liefen Auf den Ton von deinen (Gottes)
8) Verlorenes Paradies V 171-179, 618-627. Somnium Scipionis 9-11.
9) Terpfichore, letztes Lied des 1. Buches, Strophe 8 11 (14) = lacobus Balde (editio II.
Coloniae MDC xxl. V) Lyricorum III I, Str. 20-23.
60 Rudolf Preiswert
Lippen durch die ewig leeren Tiefen. In ähnlicher Weiſe braucht vermutlich
Bürger in ſeinem Preisliede auf die Jubelfeier der Göttinger Hochſchule den
Ausdruck. Man lieſt dort: Du (Gott) haſt im Raum, wo deine Sonne lodert,
Um ein Centralziel aller Kraft Zu dem erhab'nen Tanz die Sphären auf⸗
gefodert, Der nimmermehr erſchlafft. Es ſchwebt mit ihm an Harmonien⸗
banden Der hohe Weltchoral dahin... Auch Goethe denkt ſchwerlich an die
Sphären im alten Sinne, wenn er in „Wilhelm Meiſters Lehrjahren“ (voll⸗
endet 1796) 1 17 ſchreibt: Es war, als wenn der Geſang der Sphären über ihm
(Wilhelm) ſtille ſtünde, um die leiſen Melodien ſeines Herzens zu belauſchen.
Jedenfalls bedeutet im Engelliede das Wort „Sphärenlauf“ einfach den
Umlauf der Erde um die Sonne, und die Wendung „in Bruderſphären“ heißt
nichts anderes als „in der Schar der kugelförmigen Mitſterne“. Bemerkenswert
iſt höchſtens, daß Goethe im Gegenſatz zur üblichen Anſchauung nicht an Stern⸗
ſtimmen denkt, die zuſammenklingen, ſondern an ſolche, die ſich zu überbieten
trachten. Er ſtellt ſich wohl vor, daß nicht nur die Sonne, ſondern auch die
„Bruderſphären“ ſtatt bloßer Töne einen eigentlichen Geſang von ſich geben.
Dagegen ſtammt der Ausdruck „Donnergang“ wieder aus der Dichter⸗
ſprache des 18. Jahrhunderts. In ſeiner „Dem Unendlichen“ gewidmeten Ode
ruft Klopſtock aus: Don nert, Welten, in feierlichem Gang, in der Poſaunen
Chor! .. . Tönt all' ihr Sonnen auf der Straße voll Glanz ... Den Anfang
ſeines bereits erwähnten Gedichtes „Die Zukunft“ aber bilden folgende Zeilen:
Himmliſcher Ohr hört das Getön der bewegten Sterne; den Gang, den
Celäno und Pleione Donnern, kennt es und freut hinhörend Sich des ges
flügelten Halls, Wenn der Planet fliehend ſich wälzt und im Kreislauf Eilet,
und wenn, die im Glanze ſich verbergen, Um ſich ſelber ſich drehn.
Selbſtverſtändlich haben Goethes Zeitgenoſſen wohl gewußt, daß die Him⸗
melskörper ihre Bahn ſchweigend wandeln. Wenn ſie von einer Himmelsmuſik
reden, ſo übertragen ſie zum Teil Ausdrücke, die für die Klangwirkung gelten,
auf die Wirkungen des Lichtes — Herder ſpricht einmal von einem „Licht⸗
konzert“ der Sterne — zum Teil folgen ſie wohl auch einfach der Mode. Jeden⸗
falls war die Vorſtellung von einem ſingenden Sternenhimmel den Gebildeten
des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts vertraut, und ſie
war zugleich ſo dehnbar und vieldeutig, daß jeder Dichter ſie nach ſeinen eigenen
Anſchauungen oder Zwecken umbilden konnte. Wenn wir uns alſo heute den
Anfang des Engelliedes nicht ohne einige Mühe zuerſt klarmachen müſſen, be⸗
vor wir ihn genießen können, fo empfanden feine erſten Leſer ohne weiteres,
was der Dichter meinte 10).
10) Die Annahme, daß der Anfang des Engelliedes verfaßt worden ſei unter dem un mittel ⸗
baren Einfluß einer Stelle bei Balthaſar Bekker (ausgeſchrieben z. B. bei Traumann a. a. O.
S. 201) oder der bereits erwähnten Stellen bei Milton und Klopſtock (Verl. Paradies V 171 bis
179, 618 - 627; Meffias I 223 234) oder einer von Erich Schmidt (Goethe, Cottaiſche Jubi⸗
läumsausgabe, Bd. XIII S. 271) mitgeteilten Bemerkung (aus dem Fauſtbuche von Widmann⸗
Pfitzer !), if unnötig. Mit feiner Erwähnung des Sonnen- und Sternengeſanges folgt der Dichter
einfach der Neigung ſeiner Zeit. Wir ſind überzeugt, daß Kenner des deutſchen Schrifttums im
18. Ihdt. ohne Mühe weitere Beiſpiele finden werden, in denen von der Sphärenmuſik die Rede
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 61
Aus unſeren Mitteilungen geht hervor, daß ſich Goethe in manchen Punkten
mit der übrigen deutſchen Dichtung berührt. Weſentliche Beſtandteile des Engel⸗
liedes: die Schilderung der feindlichen Naturgewalten, die Erwähnung des
Umlaufs und Geſanges der Himmelskörper, das Schwanken zwiſchen der ptole⸗
mäiſchen und kopernikaniſchen Auffaſſung, auch ſchon die Neigung, das Walten
der Gottheit vornehmlich in der Schöpfung zu erkennen, hat er mit ſeinen Vor⸗
läufern und Zeitgenoſſen gemein. Mit dieſer Feſtſtellung behaupten wir natür⸗
lich nicht, daß der Dichter die von uns angeführten Stellen mechaniſch benutzt,
oder auch nur, daß er ſie alle gekannt habe. Ohne Zweifel hat er ſelber die Vor⸗
gänge in der Natur und im Weltraume mit Ehrfurcht betrachtet. In ſeinem
letzten Geſpräche mit Eckermann nennt er die Sonne eine Offenbarung des
Höchſten, und zwar die mächtigſte, die uns Erdenkindern wahrzunehmen ver⸗
gönnt iſt, und in ſeinem „Vermächtnis“ fordert er den Menſchen zur Dankbar⸗
keit gegen den „Weiſen“ auf, welcher der Erde und ihrem Geſchwiſter die Bahn
gewieſen habe, die Sonne zu umkreiſen. Dazu entgeht uns die Tatſache nicht,
daß in den übrigen religiöſen Naturliedern der Schöpfer oft im eigentlichen
Wortſinn von ſeinen Werken gepriefen wird, während im Geſang der Erzengel
das bloße Vorhandenſein der Schöpfung für Gott Zeugnis ablegt. Auch die
Darſtellung Goethes unterſcheidet ſich von derjenigen anderer Dichter; während
ſich dieſe, wenigſtens wo ſie von den Sternen ſprechen, gerne in phantaſtiſche
Träumereien verlieren, herrſcht im Engelliede trotz dem Widerſpruche, der zwi⸗
ſchen der erſten und der zweiten Strophe beſteht, etwas von jener Abgeklärtheit
und Anſchaulichkeit, die nun einmal Goethe wie kaum einem zweiten eigen ſind.
Allein den Boden, auf dem, wenn wir uns ſo ausdrücken dürfen, Goethes Lied
erwachſen iſt, glauben wir allerdings aufgedeckt zu haben; von den eigentlichen
Vorbildern des Dichters ſoll in den folgenden Abſchnitten die Rede ſein.
III.
Gabriel.
Und ſchnell und unbegreiflich ſchnelle
Dreht ſich umher der Erde Pracht;
Es wechſelt Paradieſes⸗Helle
Mit tiefer ſchauervoller Nacht;
Es ſchäumt das Meer in breiten Flüſſen
Am tiefen Grund der Felſen auf,
Und Fels und Meer wird fortgeriſſen
In ewig ſchnellem Sphärenlauf.
Dem aufmerkſamen Leſer der zweiten Strophe des Engelliedes fällt der
Nachdruck auf, den Goethe auf die Geſchwindigkeit der Erdbewegungen legt. An
und für ſich iſt deren Erwähnung nicht verwunderlich — hat ſich doch, wie wir
ſahen, das 18. Jahrhundert viel mit den Bewegungen der Sterne abgegeben —
aber daß Drehung und Lauf unſeres Planeten nicht weniger als dreimal ſchnell
iſt. Wir ſelber haben nicht alle uns bekannten Stellen angeführt. — Goethe las Bekkers „Be⸗
zauberte Welt“ in den Jahren 1800 und 1801. Wenn der Anfang des Engelliedes von dieſem
Werke nicht abhängig zu ſein braucht, ſo haben wir auch keinen Grund, mit Witkowski (Goethes
Fauſt II 84) die vollſtändige Ausführung des Liedes in die Zeit nach 1800 zu verlegen.
62 Rudolf Preiswert
genannt werden, das ſetzt in Erſtaunen. Wem verdankt der Dichter dieſe ſtarke
Hervorhebung der Geſchwindigkeit? Doch gewiß weder ſeiner eigenen Wahr⸗
nehmung noch der irgendeines Menſchen. Kein unbefangener Menſch, der die
Sonne ihren täglichen Lauf in erhabener Ruhe vollenden ſieht, kommt durch den
bloßen Anblick auf die Schnelligkeit der Himmelskörper; erſt mühevolle Über⸗
legungen, ja eigentliche Berechnungen, führen zu ihrer Erkenntnis. Nun ſpricht
in unſerer Strophe freilich nicht ein Menſch ſondern ein Engel, und man könnte
behaupten, daß eben Gabriel, mit überirdiſcher Sehkraft begabt, ſowohl die
Drehung der Erde um ſich ſelber als ihren Flug um die Sonne mit voller Schärfe
beobachten könne. Allein es iſt ſehr fraglich, ob einem Betrachter von der Art
des Erzengels bei der verhältnismäßig langen Zeit, welche die Erde zu ihrer
Umdrehung immerhin braucht, bei den ungeheuern Räumen, die ſie zu durch⸗
laufen hat, beim Mangel an Vergleichsgegenſtänden und bei der Fähigkeit des
Beobachters, durch eine bloße Wendung des Kopfes in kürzeſter Zeit unermeß⸗
liche Fernen zu überblicken, die Geſchwindigkeit unſeres Planeten überhaupt
zum Bewußtſein käme. Ihre auffallende Betonung erklärt ſich alſo nicht aus
der Wahrnehmung der Menſchen oder Engel und nicht völlig aus den Gepflogen⸗
heiten des 18. Jahrhunderts. Dazu kommt, daß die zweite Strophe, wie ihre
zweite Zeile verrät, gar nicht vom Standpunkte Gabriels, ſondern von dem
eines Erdenbewohners aus verfaßt iſt. Denn nur ein ſolcher glaubt wahrzu⸗
nehmen, daß Nacht und Tageshelle die Erde im Wechſel umziehen, während ein
Himmelsbewohner vielmehr erkennen müßte, daß der Schatten⸗ und Lichtbereich
feſtſtehen, die Erdoberfläche dagegen das Bewegliche iſt, das bald die Sonnen-,
bald die Nachtſeite durchwandert. Nicht weniger ſteht Goethe in der erſten
Strophe auf dem Standpunkte eines Menſchen. Denn Menſchen können ſchließ⸗
lich am ptolemäiſchen Weltbilde feſthalten und von einer Reife der Sonne
reden; Engel dagegen müßten ſehen, daß die Erde die Reiſe vollführt. Alle dieſe
Tatſachen machen es wahrſcheinlich, daß Goethe das Engellied nicht frei geſchaf⸗
fen, ſondern daß er ſich bei ſeiner Abfaſſung an eine Vorlage gehalten hat, die
unter anderen Vorausſetzungen entſtanden iſt als das Lied, und deren Wieder⸗
holung im Munde der Erzengel darum nicht ganz paßt. Wir glauben dieſe Vorlage
oder dieſe Vorlagen bei einigen Schriftſtellern des Altertums gefunden zu haben.
Im VII. Buche ſeiner Naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchungen weiſt Seneca
die Meinung zurück, daß die Kometen Flammengebilde ſeien, die ihre Ent⸗
ſtehung Wirbelwinden verdankten. Neben anderen Gründen, die eine derartige
Entſtehung unwahrſcheinlich machen, führt er den Umſtand an, daß die Wirbel⸗
winde und die von ihnen erzeugten Lichterſcheinungen, ſobald ſie eine beſtimmte
Höhe erreicht hätten, in die Drehbewegung des das Weltall umſchließenden
Himmelsgewölbes geraten und dort aufgelöſt werden müßten. Denn, ſagt Se⸗
neca, was gibt es Raſcheres als jene Umdrehung des Weltalls? Jener
Platz nämlich, bis zu dem der Wind aufſteigen müßte, um Kometen her⸗
vorzubringen, hat eine ihm eigentümliche Wirbelbewegung, die den Himmel
mit ſich fortreißt, hoch oben die Geſtirne mit ſich zieht und fie in ſchnellem
Umlaufe dreht. Seneca wiederholt in der eben angeführten Stelle teils wörts
C ⁰·¹1wÄRW(màqàqA . ˙¹¹¹¹ A ˙ w . T. TT 2 3 U e — ————— . —— 5 — — — — . —— — E —b — — — —— —— — — — — — —
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 63
lich, teils dem Inhalte nach zwei Verſe Ovid s. Sie find dem Sonnengotte in
den Mund gelegt, der den Phaethon vor dem Beſteigen des Sonnenwagens
warnt 11). Der erſte der beiden Verſe, der von Seneca bloß dem Inhalte nach mit⸗
geteilt wird, heißt in wörtlicher Überſetzung: Füge (zu den übrigen von mir
geltend gemachten Bedenken) hinzu, daß der Himmel in ununterbrochener
Wirbelbewegungfortgeriſſen wird. Jetzt vergleiche man die angeführten
Stellen mit Goethes zweiter Strophe. Davon, daß zwiſchen ihm und Seneca
ein Unterſchied in bezug auf den Gegenſtand der Drehung beſteht, ſoll ſpäter
die Rede ſein. Vorläufig ſtellen wir feſt, daß die Ahnlichkeit im Ausdruck in die
Augen ſpringt.
Der römiſche Philoſoph kommt nun aber auch ſonſt auf die Schnelligkeit der
Himmelskörper zu ſprechen. Im J. Buche feiner Naturwiſſenſchaftlichen Unter⸗
ſuchungen bemüht er ſich darzutun, daß der Regenbogen durch den Wider⸗
ſchein der Sonne in den Regentropfen hervorgerufen werde. Auf den Einwand,
daß man im Regenbogen ja gar keine Abbilder der Sonne ſehe, und daß die
Farbe des Bogens mit derjenigen der Sonne nicht übereinſtimme, antwortet
er, daran ſei die Mangelhaftigkeit unſeres Auges ſchuld, nichts ſei trügeriſcher
als der Geſichtsſinn. Dafür zeuge die Tatſache, daß keiner wahrnehme, wie die
Sonne in Bewegung begriffen ſei, deren äußerſte Geſchwindigkeit man doch
kenne. Ja nicht einmal daß das Himmelsgewölbe ſich vorwärtsbewege, merke
ein Menſch, während es doch mit reißen der Geſchwindigkeit daher⸗
fahre und ſeinen Auf⸗ und Untergang in einem Augenblick vollziehe 12). An
einem anderen Orte vergleicht Seneca die Unaufhaltſamkeit des Zeitabſchnitts,
den wir Gegenwart nennen, mit der Umdrehung des Himmelsgewöͤlbes und
der Geſtirne, deren allezeit raſtloſe Bewegung nie auf dem gleichen
Flecke bleiben 13). Dann leitet er wieder die Wanderluſt der Menſchen von dem
himmliſchen Urſprunge ihrer Seele ab. Himmelskörper aber, ſagt er, ſind ihrem
Weſen nach allezeit in Bewegung. Sie eilen vorüber und laſſen ſich im ge⸗
ſchwindeſten Laufe weitertreiben. Schau die Geſtirne an, die das Welt⸗
all erleuchten (Sonne und Mond); keines von ihnen bleibt ſtehen, jedes gleitet
ununterbrochen dahin ... Geh jetzt und meine, die menſchliche Seele, die
aus dem gleichen Stoffe geſchaffen iſt wie die göttlichen (Himmelskörper), bes
ſchwere ſich über Umſiedelung und Wanderſchaft, da ſich doch die Gottheit ihrem
Weſen nach an einer ununterbrochenen und äußerſt raſchen Ver⸗
änderung erfreut oder ſich mit ihrer Hilfe erhält !“). Die bisher angeführten
Stellen klingen im Ausdruck an Goethes Lied an; die folgende weiſt auch eine
11) Seneca (Haaſe), Quaestiones naturales (Q. N.) VII 9, 4 ab eo motu, qui universum
tra hit, solveretur. quid enim est illa oon versione mundi citatius? Ovidius,
Met. II 7011. adde, quod assidua rapitur vertigine caelum sideraque alta
trahit celerique volumine age Q. N. VII Io, 1 habet enim suam
locus ille vertiginem, er rapit caelum sideraque alta ufw. Über die Beſchaffenheit
der Kometen vgl. Q. N.
12) Q. N. I. 3, 10.
18) De brevitate vitae X 6.
14) Consolatio ad Helviam VI 7, 8.
64 Rudolf Preiswert
innere Verwandtſchaft mit ihm auf. Sie fteht am Anfang der Abhandlung
über die Vorſehung und lautet: Überflüſſig iſt es, jetzt zu beweiſen, daß das
ſo gewaltige Schöpfungswerk nicht ohne irgendeinen Hüter Beſtand hat, daß
dieſe Verſammlung der Sterne und ihr Lauf nach verſchiedenen Richtungen
hin nicht Sache eines zufälligen Antriebes iſt .. daß dieſe u n aufhaltſame
Geſchwindigkeit ſich auf den Befehl eines ewigen Geſetzes vorwärts
bewegt ... daß (Atome), die ſich planlos vereinigt haben, nicht zu einem derartig
kunſtvollen Schweben kommen können, daß das äußerſt ſchwere Gewicht der
Erde unbeweglich feſtſitzt und das Vorüberziehen des Himmels anblickt, der es
in Eile umzieht 15). Wie im Geſang der Erzengel fo führt hier bei Seneca die
Betrachtung der ewig raſtloſen Himmelskörper zum Schöpfer oder Erhalter des
Alls oder wenigſtens zum Glauben an eine die Welt regierende Vernunft.
Wir laſſen weitere Ausſprüche des römiſchen Philoſophen, die zur Erklärung
unſeres Liedes dienen können, vorläufig außer acht und wenden uns einem
anderen Schriftſteller zu, unter deſſen Einfluß der deutſche Dichter allem An⸗
ſcheine nach geſtanden hat. Es iſt Cicero. Seine Ausführungen über die
Schnelligkeit der Himmelsdrehung ſtehen Goethes Gedicht inſofern näher, als
ſie wiederholt das Wunderbare und Unbegreifliche an ihr hervorheben. In
feinem Werke über den Staat läßt Cicero den Aemilius Paullus zum träumen-
den Scipio ſagen, die Seele des Menſchen ſtamme aus jenen ewigen Feuern,
welche von den Erdenbewohnern Geſtirne und Sterne genannt würden, die ...
ihre Kreiſe und Umläufe ausführten mit wunderbarer Schnelligkeit).
In den Tusculaniſchen Geſprächen heißt es, daß man die Seele nicht ſehe, ſon⸗
dern bloß an ihren Wirkungen wahrnehme, ſei nicht verwunderlich, da man
auch den unſichtbaren Gott aus ſeinen Werken erkenne, wenn man z. B. die
Schönheit und den Glanz des Himmels ſehe, dann die Schnelligkeit
ſeiner Umdrehung, die ſo groß ſei, wie wir ſie nicht ausdenken
könnten, ferner die Sonne, die Lenkerin aller Veränderungen in der Natur,
den Mond, die Planeten, den nächtlichen Sternenhimmel und die Erdkugel in⸗
mitten des Alls 17). In der Schrift über das Weſen der Götter verſpottet Vel⸗
leius den „runden Gott“ der Stoiker, der ſichmiteiner Schnelligkeit
herumdrehe, deren gleichen nicht einmal gedacht werden
könne. Velleius, der Epikureer, der Glückſeligkeit und Ruhe nicht voneinander
zu trennen vermag, findet es lächerlich, daß die dem Weltall gleichgeſetzte Gott⸗
heit ſich um die Himmelsaxe drehen muß, ohne ſich einen Augenblick Ra ft
zu gönnen, mit wunderbarer Schnelligkeit !). Demgegenüber
ſchließt der Stoiker Balbus, ähnlich wie es in den Tusculaniſchen Geſprächen
und in Senecas Abhandlung über die Vorſehung geſchieht, nicht nur aus der
15) De providentia I 2.
16) Somnium Scipionis 7, vgl. 11.
17) Tusculanae disputationes I 68 conversionis celeritatem tantam,
quantam cogitare non poss umus.
18) De natura deorum (N. D.) I 24 ut ea celeritate contorqueatur
(deus = mundus), cui par nulla ne cogitariquidem possit; 52; vgl. 33.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 65
Regelmäßigkeit, ſondern auch aus der unglaublichen Raſchheit der
Himmelsbewegung auf eine göttliche Weltregierung 19.
Die übrigen Bemerkungen Ciceros über das Zeugnis, das die Natur ablegt
für das Vorhandenſein eines göttlichen Weſens, werden uns ſpäter dienlich
ſein. Das Mitgeteilte genügt vollauf, um darzutun, daß ſich der Verfaſſer des
Engelliedes an Ovid, Cicero und Seneca anlehnt. Dieſer Annahme ſteht der
Umſtand nicht im Wege, daß die drei Römer die Umdrehung des Sternen⸗
himmels beſchreiben, während der deutſche Dichter von den Bewegungen der
Erde ſpricht. Goethe kann recht wohl die Naturerkenntnis ſeiner eigenen Zeit
mit Anſchauungen und Ausdrücken verbunden haben, die er aus dem Altertum
übernommen hat. Bei dieſer Verbindung ſind ihm möglicherweiſe Cicero und
Seneca ſelber behilflich geweſen. Der letztere nennt in ſeinem Werke über die
Philoſophie der Akademiker als Beiſpiel einer wiſſenſchaftlichen Behauptung,
deren Richtigkeit ebenſowenig bewieſen werden könne als ihre Unrichtigkeit,
die Anſicht des Hiketas von Syracus. Dieſer Hiketas, ſchreibt er, ſei der Mei⸗
nung, daß Himmel, Sonne und Mond und alle Himmelskörper ſtille ſtünden,
und daß ſich außer der Erde nichts im Weltalle bewege: wenn ſich dieſe
mit höchſter Schnelligkeit um ihre Axe drehe, würden die näm⸗
lichen Wirkungen hervorgerufen, wie wenn ſich bei ſtillſtehender Erde das
Himmelsgewölbe bewege 20). Nun liegt dieſe Mitteilung Ciceros, die den
Anſtoß gegeben hat zu den großartigen Entdeckungen des Kopernikus, freilich
etwas abſeits, und man kann im Zweifel ſein, ob Goethe ſie gekannt hat. In
engerem Zuſammenhange mit den bisher beſprochenen Stellen ſteht das, was
Seneca im bereits angeführten VII. Buche ſeiner Naturwiſſenſchaftlichen
Unterſuchungen über die gleiche Sache zu berichten weiß. Er ſchreibt dort, falls
die Kometen entgegen ſeiner eigenen Meinung nicht aus feſten Stoffen, ſondern
aus bloßem Feuer beſtünden, ſo ſpreche deren monatelanges unbehelligtes Ver⸗
harren am Himmel vielleicht für die Anſicht, daß ſich der Himmel gar nicht drehe,
bei welcher Annahme ſich dann die Erde drehen müſſe. Die Sache ſei der Be⸗
trachtung wert, damit wir wüßten, ob uns ein vollkommen unbeweglicher oder
ein äußerſt geſchwinder Wohnſitz zugefallen ſei, ob die Gottheit das All
um uns kreiſen laſſe oder uns ſelber bewege 21). Mag nun aber Goethe von ſich
aus den Ausdruck „ſchnell“ von der Bewegung des Himmels auf diejenige der
Erde übertragen haben oder mag er darin dem Vorbilde Senecas oder Ciceros
gefolgt ſein — jedenfalls gilt die Bezeichnung urſprünglich der Himmels⸗
drehung. Darauf paßt ſie auch beſſer als auf die Drehung und den Lauf der
Erde. Denn wenn ſich der Erdball auch tatſächlich mit erſtaunlicher Schnelligkeit
bewegt, ſo müßte die Geſchwindigkeit der viel umfangreicheren Himmelskugel,
falls ſie ſich drehen würde, doch noch viel größer ſein.
19) N. D. II 97.
PR Academica priora II 123; vgl. Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte?,
242/3.
21) Q. N. VII 2, 2/3.
Suphorion XXVIII. 5
66 Rudolf Preiswert
IV.
Michael.
Und Stürme brauſen um die Wette,
Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer,
Und bilden wütend eine Kette
Der tiefſten Wirkung rings umher.
Da flammt ein blitzendes Verheeren
Dem Pfade vor des Don nerſchlags;
Doch deine Boten, Herr, verehren
Das ſanfte Wandeln deines Tags.
Die Beobachtung, daß ſich Goethe in ſeiner Schilderung der Erdgeſchwindig⸗
keit an Cicero und Seneca anlehnt, führt zu der Vermutung, es möchten ſich im
Engelliede noch weitere Anklänge an die genannten Schriftſteller finden. Eine
genauere Unterſuchung beſtätigt dieſe Annahme. Gabriel befingt den Wechſel
von Tag und Nacht. Ebendenſelben Wechſel nennt Cicero in feiner Schrift
über das Weſen der Götter unter den Dingen, die zur Erhaltung von Menſchen,
Tieren und Pflanzen dienen und dadurch beweiſen, daß alles durch göttliche
Ordnung wunderbar gelenkt wird 22). Und wenn der deutſche Dichter in ſeinem
„Paradieſes⸗Helle“ den Eindruck, den das Tageslicht auf das menſchliche Gemüt
ausübt, mit unannahmlicher Kraft und Kürze wiedergibt, ſo ſpürt man etwas
von dem Wohlbehagen, das der Tag im Gegenſatz zur Nacht hervorruft, ſchon
bei Cicero, der von dem Lichtreichtum ſpricht, mit welchem die Sonne die Erde
erfülle 23). Aber nicht nur die zweite Zeile der von Gabriel geſungenen Strophe
erinnert an den Römer; auch die Wendung „der Erde Pracht“ ſcheint unter
Ciceros Einfluß entſtanden zu ſein, der eine herrliche Schilderung der Erde
entwirft mit ihren mannigfaltigen Blumen, Kräutern, Bäumen und Früchten,
ihren kühlen Quellen, durchſichtigen Strömen, grünen Flußufern, geräumigen
Höhlen, ihren Felſen, Bergen und Ebenen. Eine ähnliche Beſchreibung findet
ſich bei Seneca?“ ). Der Ausdruck „Pracht“ ſelber iſt möglicherweiſe die Über⸗
ſetzung eines lateiniſchen Wortes 25). Neben dem feſten Lande wird in dem
Werke über das Weſen der Götter auch das Meer geprieſen, freilich das ruhig
ans Geſtade ſchlagende, nicht das heftig brandende wie in der dritten Zeile von
Goethes zweiter Strophe. Allein Seneca ſpricht im Zuſammenhange mit ſeiner
oben erwähnten, an Ciceros Schilderung anklingenden Erdbeſchreibung vom
„Weltmeer, das in dreifacher Ausbuchtung die Verbindung der Völker zer⸗
ſchneidet und mit gewaltiger Unbändigkeit auf brauſt“ 28). So mögen die
beiden Lateiner den deutſchen Dichter auch zur Erwähnung des Meeres ange⸗
regt haben.
22) N. D. II 132 iam diei noctisque vicissitudo conservat animantes; vgl. De
legibus II 16, Tusc. I 68.
23) N. D. II 49 sol . . . ita movetur, ut, cum terras larga luce compleverit, easdem
modo his modo illis ex partibus opacet; vgl. in der aus Ariſtoteles überſetzten Stelle N. D.
II 95 quod is (sol) diem efficeret to to aelo luce diffus a.
24) N. D. II 98/9; Consolatio ad Marciam XVIII 4-6; Tusc. I 68/9.
25) N. D. II 17. Tantum ergo ornatum mundi. , vgl. N. D. II 93, 127.
26) N. D. II 100 ipsum autem mare... terram appetens litoribus alludit (eludit 7):
ad Marc. XVIII 6 Oceanus ... ingenti licentia e xa estuans.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauft 67
Wiederholt betonen Cicero und Seneca die Raſtloſigkeit und Gleichmäßig⸗
keit der Himmels⸗ und Sternbewegungen. Wie die Geſtirne ihren beſtimmten
Lauf allezeit raſtlos abwickeln, ſchreibt der letztere an den kaiſerlichen
Kammerherrn Polybius, fo darf der Kaiſer weder je ſtille ſtehen noch etwas tun,
das nicht ſeiner Pflicht entſpräche. Ein ähnlicher Ausdruck ſteht in der bereits
angeführten Bemerkung Senecas, daß die Gegenwart vorübereile wie das Welt⸗
all und die Geſtirne, deren allezeit raſtloſe Bewegung niemals an der
gleichen Stelle bleibe?7). Gehen wir fehl, wenn wir in Goethes „ewig ſchnel⸗
lem Sphärenlauf“ einen Nachklang dieſer Stellen zu finden glauben? Die
gleichmäßige Unermüdlichkeit der Bewegung von Himmel und Sternen iſt die
Folge ihrer Geſetzmäßigkeit. Sie wird von Seneca mehrmals hervorgehoben. Er
legt in ſeiner Troſtſchrift an Marcia dar, wie der Menſch bei ſeiner Geburt gleich⸗
ſam in eine den Göttern und Menſchen gemeinſame Stadt (die Welt) eintrete,
die, durch beſtimmte und ewige Geſetze gebunden, die Himmelskörper ihre pflicht⸗
mäßigen Drehungen ohne Ermatten vollziehen laſſe. Verwandt iſt, was er in
feiner Troſtſchrift an Helvia bemerkt: alles drehe ſich und fei allezeit im
Vorübergehen begriffen und wechſle den Platz, wie es das Geſetz und die
von der Natur gebotene Notwendigkeit geregelt habe 28). An dieſe Geſetzmäßig⸗
keit denkt Goethe, wenn er in der erſten Strophe die Sonne ihre vorge⸗
ſchrieb'ne Reife vollenden läßt. Dabei ſchließt er ſich im Ausdruck ver⸗
mutlich an Cicero an, der von den feurigen Geſtalten ſpricht, die ihren ge⸗
regelten Lauf im Ather beſchreiben, unter ihnen die Sonne, die ſich um
die Erde dreht und durch ihren Auf⸗ und Untergang den Tag und die Nacht her-
vorbringt. Zugleich ſcheint er eine Stelle aus der Sternkunde des Manilius
vor Augen zu haben, in der dem Glauben an eine zufällige Entſtehung der Welt
aus Atomen die Regelmäßigkeit der Geſtirne entgegengehalten wird, die ihren
Lauf, der ihnen gleichſam durch ein Gebot vorgeſchrieben iſt, immer aufs
neue vollführen ??). Im gleichen Abſchnitt redet Manilius vom Alter der
Sterne und der Sonne 30).
Es bleibt übrig, ein Wort über die Schilderung der Elementargewalten in
der dritten Strophe zu ſagen. Wir haben geſehen, daß derartige Beſchreibungen
in der religiöfen Naturdichtung des Alten Teſtaments und des 18. Jahr⸗
hunderts vorkommen. Trotzdem kann Goethe auch hier unter dem Einfluß
ſeiner lateiniſchen Vorbilder ſtehen. Denn einerſeits nennt Cicero unter den
27) Consolatio ad Polybium VII 2 siderum modo, quae inre quieta semper
cursus suos explicant; brev. vit. X 6; vgl. ad Helv. VI 7; Q. N. VII 2, 2; Ovidius Met. II
70; N. D. I 52.
23) ad Marc. XVIII I (2) urbem ... indefatigata caelestium officia volventem; ad
Helv. VI 7 omnia volvuntur et semper in transitu semt, ut lex et naturae necessitas
ordinavit; vgl. prov. I 2; N.D, II 56, 95, 97.
2) N. D. II 101/2 in quo (sc. aethere) .. igneae formae cursus ordinatos
definiunt, E quibus sol... circum eam ipsam (sc. terram) volvitur; Manilius, Astro-
nomica I 495 - 497 at cur dispositis vicibus consurgere signa et velut imperio prae-
scriptos reddere cursus cernimus?
30) Manilius I 501 ff. beſonders 513/4. Goethe hat den Manilius gekannt; vgl. L. Weniger
„Wär nicht das Auge ſonnenhaft“. Ilbergs N. J. XXXIX S. 238 ff.
68 Rudolf Preiswert
Dingen, die nach dem Stoiker Kleanthes in den Menſchen die Vorſtellung von
Göttern erweckt haben, auch die Blitz e, die Stürme, den Platzregen und den
Hagel. Andrerſeits zählt Seneca in ſeinem ſchon wiederholt angeführten Troſt⸗
briefe an Marcia zu den Erſcheinungen, welche der in die Welt eintretende
Menſch fpäter anſtaunen wird, die Regengüſſe, die quer daherfahrenden Blitze
und das Krachen des Himmels. Die nämlichen Elementargewalten
nennt er an einer früher erwähnten Stelle, wo er aus der regelmäßigen Schnel⸗
ligkeit der Himmelsbewegung den Schluß zieht, daß die Welt nicht durch Zufall
entſtanden ſei. Er lehrt dort, auch dieſe ſcheinbar regelloſen und unbeſtimm⸗
baren Störungen der Natur folgten beſtimmten Geſetzen, und fügt zu den be⸗
reits genannten Gewalten die Erdbeben, die Ausbrüche feuerſpeiender Berge,
die Gezeiten und andere Erregungszuſtände hinzu, „welche der zum Aufruhr
geneigte Teil der Elemente rings umher auf Erden hervorbringt“ — ein
Ausdruck, welcher ſich mit der zweiten Zeile der von Michael geſungenen Strophe
berührt 31). Freilich will Goethe die ſchädlichen Naturerſcheinungen nicht als
vollkommene Offenbarung Gottes gelten laſſen. Verehren doch deſſen Boten
nicht das Unwetter, ſondern das ſanfte Wandeln ſeines Tags. Damit deutet
der Dichter an, daß der Held der Tragödie nicht dem Zorne Gottes, der ſich im
Gewitter offenbart, anheimfallen, ſondern gerettet werden ſoll. Goethe bewegt
ſich hier auf bibliſchem Boden. Wie man längſt erkannt hat, ſchwebt ihm des
Elias Begegnung mit Gott auf dem Horeb vor 52). Man darf außerdem die
Antwort vergleichen, die Jeſus ſeinen erzürnten Jüngern gab, als ihnen und
ihrem Meiſter in der Landſchaft Samaria keine Herberge gewährt wurde 33).
Vielleicht enthält die Strophe eine weitere Spur von Goethes Bibellektüre. Es
läßt ſich nämlich erwägen, ob mit dem Ausdruck „deines Tags“ wirklich der
Zeitabſchnitt gemeint iſt, den wir Tag nennen, und ob die Wendung „das ſanfte
Wandeln deines Tags“ mit Witkowski zu erklären iſt als „ruhige Stetigkeit
des Naturverlaufs“, oder ob nicht vielmehr eine Anſpielung auf den von den
Propheten oft geſchilderten „Tag des Herrn“ vorliegt. Wenn eine ſolche vor⸗
handen iſt, dann wird das Wort „Tag“, das im Alten Teſtamente vornehmlich
„Strafgericht“ bedeutet, von Goethe gebraucht im Sinne von „Wirkenszeit,
Offenbarung, Erſcheinung Gottes“. Der Dichter gibt ihm in dieſem Falle durch
die Verbindung mit der Wendung „ſanftes Wandeln“ eine ſeiner eigenen
religiöfen Auffaſſung entſprechende neue Färbung “).
31) N. D. II 14, 5, III 16; ad Marc. XVIII 3; prov. 13 (4) . et alia, quae tumultuosa
pars rerum circaterras movet; ad Marc. XVIII bet in mediis terris me-
dioque rursus mari terrentes ignium faces vielleicht zu vergleichen mit „vom Meer
aufs Land, vom Land aufs Meer“.
3) J. Könige XIX 9-13.
33) Lukas IX 51-56.
34) Witkowski a. a. O. S. 189; Jeſaja XIII 6, 9; Heſekiel XXX 2, 3; Joel (neue Einteilung)
I 15, II I, 2, 11, III 4, IV 14; Amos V 18, 20; Obadja 15; Zephanja I 7, 14-16, II 2, 3;
Maleachi (neue Einteilung) III 2, 17, 23. Durch „Erſcheinung“ wird der Ausdruck „Tag“ auch
wiedergegeben von Joh. Hauri, Goethes Fauſt, Fünfzehn Vorträge 1910, Berlin⸗Zehlendorf,
S. 58. Mit den angeführten Stellen aus den Propheten hat Goethe zu der Zeit, da er den Prolog
im Himmel dichtete, bekannt ſein können; vgl. An Schiller, 19. April 1797: „Ich ſtudiere jetzt in
großer Eile das Alte Teſtament und Homer.“
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 69
V.
Raphael.
hr Anblick gibt den Engeln Stärke,
enn keiner fie ergründen mag;
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am erſten Tag.
Zu drei.
Der Anblick gibt den Engeln Stärke,
Da keiner dichergründen mag,
Und alle deine hohen Werke
Ebenſowichtig wie die Übereinſtimmung in Einzeldingen iſt die Verwandt⸗
ſchaft im Gedanken, die, wie wir glauben feſtſtellen zu können, zwiſchen dem
deutſchen Dichter und ſeinen lateiniſchen Vorbildern beſteht. Zweimal erwähnt
Goethe den Anblick, der den Engeln Stärke verleihe. Weſſen Anblick meint
er? Daß unter dem Ausdruck „ihr Anblick“ in der von Raphael geſungenen
Strophe das Anſchauen der Sonne verſtanden wird, iſt klar. Was aber bedeuten
die Worte „der Anblick“ in der Schlußſtrophe? Der Zuſammenhang legt es
nahe, an das Anſchauen der Schöpfung zu denken. Vielleicht iſt das Anſchauen
Gottes mit eingeſchloſſen; aber allein iſt er jedenfalls nicht gemeint; ſonſt würde
der Dichter ſagen: „Dein Anblick.“ Nun iſt es gewiß überaus fein und tief
gedacht, wenn Goethe die Erzengel der Schöpfung nicht begreifend, ſondern bloß
ſtaunend und lobpreiſend gegenüberſtehen läßt. Wieviel mehr müſſen ſich die
Menſchen bei dunklen Führungen mit dem Vertrauen auf Gottes weiſe Lenkung
zufrieden geben, wenn ſogar die übermenſchlichen Himmelsbewohner den Herrn
und ſeine Werke nicht ergründen können! Aber eigentümlich iſt es doch, daß die
Engel aus dem Anblick der Sonne und des Erdballs Kraft ſchöpfen ſollen, ſie,
die doch den Schöpfer ſelber mit Augen ſchauen dürfen. Sind es ſonſt nicht eher
die Menſchen, die, weil Gottes Weſen für ſie unſichtbar bleibt, die ewige Kraft
und Gottheit des Höchſten an feinen Werken wahrnehmen müſſen 55)? Raphael
ſieht den Umlauf der Sonne, Gabriel den Wechſel von Tag und Nacht mit den
Augen der Erdenbewohner an. Gibt die Betrachtung von Sonne und Erde nicht
auch in erſter Linie den Erdenbewohnern Stärke?, anders ausgedrückt: gehen
Goethes Worte, die vom Anblick der Sonne und der Schöpfung handeln, nicht
auf eine Quelle zurück, wo nicht die Engel, ſondern die Menſchen Gottes Werke
anblicken? Die nachfolgende Darlegung wird zeigen, daß das tatſächlich ſo iſt,
und daß Goethe ſich auch im Gedanken, der ſeinem Liede zugrunde liegt, deutlich
an Cicero und Seneca anlehnt.
Vom Anſchauen der Schöpfung und vom Genuſſe oder von der Erkenntnis,
die es verſchafft, iſt bei beiden lateiniſchen Schriftſtellern öfters die Rede. In
der Regel wird an den Anblick des Himmels und der Geſtirne gedacht; aber auch
die Betrachtung des reich und mannigfaltig ausgeſtatteten Erdballs wird mehr:
fach erwähnt 36). Der Anblick der Natur, vor allem der Aufblick zum Himmel,
lehrt, daß die Welt durch eine göttliche Vernunft gelenkt wird. Zum erſten
35) Römerbrief I 20.
36) N. D. II 98; Som. Scip. 7; Cato maior 77; Tusc. I 68/9; ad Marc. XVIII 4-6.
70 Rudolf Preiswert
Male hat Cicero dieſen Gottesbeweis nach feiner Rückkehr aus der Verbannung
in ſeiner Rede über das Gutachten der Opferſchauer angewendet. Wer iſt, fragt er
dort, ſo alles Verſtandes bar, daß er, wenn er zum Himmel aufblickt,
nicht fühlen muß, daß Götter da ſind, und daß er glauben kann, das (die Be⸗
wegung der Himmelskörper) geſchehe durch Zufall, was mit einer ſo großen
Überlegung geſchieht, daß man ſeiner Geſetzmäßigkeit kaum mit irgendeiner
wiſſenſchaftlichen Kunſt beikommt? Der Beweis wird in ſpäteren Schriften mit
ähnlichen Worten wiederholt 7).
Aber der Anblick des Himmels iſt nicht nur lehrreich, ſondern auch über alle
Maßen erquickend. Es kann, ſchreibt Cicero, nichts Wunderbareres, nichts
Schöneres geben als das Schauſpiel, das der Umlauf der Sonne, des Mondes
und der Planeten gewährt. Der Geiſt eines Menſchen, der die Geſetzmäßigkeit
der Natur betrachten will, kann ſich am Sternenhimmel nicht fatt ſehen 38).
Seneca wiederum tröſtet ſich über ſeine Verbannung mit dem Gedanken, daß
man überall auf Erden dem Himmel gleich nahe ſei, und ſchreibt aus Corſica an
ſeine Mutter: Solange meine Augen nicht von jenem Schauſpiele entfernt wer⸗
den, an dem ſie ſich nicht ſättigen können, ſolange ich Sonne und Mond be⸗
trachten und auf die übrigen Geſtirne meine Augen heften darf ... ſolange ich
meinen Geiſt, der nach dem Anblick von Dingen trachtet, die ihm verwandt
ſind, ſtets nach oben richte: was kommt's mir drauf an, auf welchen Boden ich
trete? 29) Ja der Anblick des Himmels iſt nach Cicero und Seneca geradezu das
Ziel des Lebens. Denn die Menſchen leben auf Erden nicht (nur) als ihre
Bewohner und Bebauer, ſondern als ſolche, welche die Vorgänge am Himmel
betrachten ſollen. Eben darum hat uns die Natur auch eine Wohnſtätte in ihrer
Mitte angewieſen und uns einen aufrechten Leib gegeben, damit wir durch den
Anblick des Himmels zur Erkenntnis der Götter kommen 10).
Neben dem Stärke verleihenden Anblick hebt Goethe die Unbeſchreiblichkeit
und Unbegreiflichkeit der Schöpfung hervor. Dasſelbe tut Cicero. Er ſpricht,
wie wir ſchon im III. Abſchnitte gezeigt haben, von einer Schnelligkeit der
Himmelsdrehung, die nicht ausgedacht werden könne, alſo unbegreiflich iſt. Er
findet aber auch, daß die Vorgänge am Himmel überhaupt ſich mit ſo viel Ein⸗
ſicht abſpielen, daß wir fie mit keiner oder jedenfalls nur mit der hödjften Ein⸗
ſicht zu erkennen vermögen 1). Unter den Vorgängen am Himmel verſteht
Cicero in erſter Linie die Bewegung der Firfterne; der deutſche Dichter hält die
Sonne für unergründlich. In dem engen Zuſammenhange, in den bei Goethe
Anblick und Unbegreiflichkeit gerückt ſind, ſtehen die beiden Begriffe bei dem
37) De haruspicum responsis 19; Pro Milone 83; leg. II 16; Tusc. I 68, 70; N. D. II
4, 94— 97, III 10.
38) N. D. II 104-106, 155 iam vero circuitus solis et lunae reliquorumque
siderum ... et spectaculum hominibus praebent; nulla est enim insatiabilior
species, nulla pulchrior.
3) ad Helv. VIII 4, 5.
40) N. D. II 140, 153; Tusc. I 69; Cato 77; Seneca, De otio IV 2, V 1, 3; vgl. Ovidius
Met. I 84-86; Manilius IV 905-908, 915-921.
41) N. D. II 97 quis enim hunc hominem dixerit, qui... ea... casu fieri dicat, quae,
quanto consilio gerantur, nullo consilio assequi possumus, 115; har. resp. 19; leg. II 16.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 71
Römer allerdings nicht. Cicero ſchließt aus der Tatſache, daß die Erſcheinun⸗
gen im All für den Menſchen überhaupt nicht oder nur ſchwer verſtändlich ſind,
auf einen übermenſchlichen Geiſt, der das All regiert, während im Geſang der
Erzengel das Anſchauen den Erſatz für die Begreiflichkeit der Schöpfung und
des Schöpfers bilden. Der folgende Abſchnitt wird zeigen, daß Anblick und Un⸗
begreiflichkeit in der Weiſe, wie es im Engelliede geſchieht, ſchon vor Goethe zu⸗
einander in Beziehung geſetzt worden ſind.
VI.
Der größte Teil der Ausſprüche, die wir aus Ciceros Geſpräch vom Weſen
der Götter mitgeteilt haben, wird entweder dem Stoiker Balbus in den Mund
gelegt oder ausdrücklich auf Stoiker oder ſolche Philoſophen zurückgeführt, mit
denen die Stoiker in den für uns maßgebenden Punkten übereinſtimmen. Jene
Ausſprüche erweiſen ſich damit ſamt den Stellen ähnlichen oder gleichen In⸗
halts, die wir den übrigen philoſophiſchen Schriften oder den Reden Ciceros
entnommen haben, als ſtoiſches Gut. Daß auch Seneca in den angeführten Ab⸗
ſchnitten aus ſtoiſcher Quelle ſchöpft, iſt von vornherein wahrſcheinlich, ganz
abgeſehen von der Verwandtſchaft feiner Bemerkungen mit Ciceros Darlegun⸗
gen. Stoiſch iſt vor allem jene wichtige Auseinanderſetzung in der Schrift über
die Vorſehung, in der die Planmäßigkeit der Welt verteidigt und deren zufällige
Entſtehung aus Atomen abgelehnt wird. Von ſtoiſchen Anſchauungen iſt dem⸗
nach auch der Geſang der Erzengel durchzogen; man darf mit gewiſſen Ein⸗
ſchränkungen behaupten, daß er nichts anderes enthalte als den Gottesbeweis
der Stoa in knappſter Geſtalt.
Allein wir brauchen bei dieſer allgemeinen Feſtſtellung nicht ſtehen zu bleiben;
wir können den Mann nennen, dem die zwei Römer ihre Vorſtellungen über
Gott und Natur im weſentlichen verdanken. Längſt hat man bewieſen oder
wahrſcheinlich gemacht, daß Cicero und Seneca in den wichtigſten der von uns
beſprochenen Schriften oder Schriftteile abhängig ſind von Poſeidonios,
dem berühmten Forſchungsreiſenden und Lehrer, dem Bekannten Ciceros, dem
tiefreligiöfen Verfaſſer zahlreicher Werke naturwiſſenſchaftlichen, theologiſchen,
philoſophiſchen und geſchichtlichen Inhalts 42). Gerade das, was die beiden
Lateiner über die Bewegung der Sterne ausſagen, darf von Poſeidonios her—
geleitet werden. Er verſtand, wir wir aus anderen Quellen wiſſen, unter den
„Geſtirnen“, d. h. wohl in erſter Linie unter der Sonne, dem Monde und den
Planeten, feuerartige Körper, die keinen Stillſtand kennen, ſondern ſich allezeit
im Kreislaufe weiterbewegen. Er verlangte vom Sternkundigen, daß er ſich mit
12) Arbeiten zur Quellenkunde von Ciceros Traum des Scipio, den Tusc. Geſprächen und den
Büchern über das Weſen der Götter, zu Senecas Naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchungen und zum
Schluß der Troſtſchrift an Marcia werden aufgezählt bei M. Schanz, Geſchichte der röm. Lite⸗
ratur I 23 S. 345, 357, 361/2, II 23, 386, 399. Vgl. die Angaben über Poſeidonios und feine
Benützer bei Chriſt⸗Schmid, Geſchichte der griech. Literatur II6 S. 347 ff., Uberweg⸗Prächter,
Grundriß der Geſchichte der Philoſophie 112 S. 471 ff., 478 ff., 491 ff., W. Jäger Nemeſios von
Emeſa, beſonders S. 68 ff. und in dem äußerſt lehrreichen Aufſatz „Die Schrift von der Welt“ von
W. Capelle in Ilbergs N. J. XV S. 529 ff.
72 Rudolf Preiswert
der Art und Größe der Sternumläufe befaſſe und den Himmel als ein geord⸗
netes Gebilde erweiſe. Er muß den Umfang und die Schnelligkeit der Himmels⸗
hohlkugel für ungeheuer angeſehen haben; ſchätzt er doch ſchon die Entfernung
der Sonne von der Erde auf mehr als die Hälfte der uns bekannten wirklichen
Strecke 43). Schließlich muß er es geweſen fein, der die wunderbare Bewegung
des Himmels und der Sterne mit beſonderem Nachdruck als machtvolle Auße⸗
rung der Gottheit dargeſtellt hat““). Aber nicht nur in ihren Himmelsſchilde⸗
rungen, ſondern auch in ihren Betrachtungen über die Pracht der Erde weiſen
Cicero und Seneca Spuren der ſchwungvollen Darſtellungsweiſe des Poſei⸗
donios auf 5). Und ſtammt ihre Befchreibung des Meeres nicht urſprünglich
von einem Inſelbewohner, eben von Poſeidonios, her? Goethe hat alſo bei
ſeinen lateiniſchen Vorbildern in der Hauptſache deſſen Eigentum angetroffen.
Ohne es zu vermuten, hat der deutſche Dichter in ſeine eigene Empfindung und
in ſeinen Geſang etwas von den Gedanken und Stimmungen hinübergenom⸗
men, denen ſich der ſyriſch⸗griechiſche Weiſe hingab, wenn er auf ſeinen Reiſen
in blühende Landſtriche kam oder das Meer überblickte, das ans Ufer von Rho⸗
dos anſchlägt, wenn er bei der Tageshelle des Südens den geregelten Lauf der
Sonne betrachtete oder in ſtillen Nächten ſeine Augen zum Sternenhimmel aufhob.
Freilich darf man bei aller Anerkennung der Ahnlichkeiten, durch die das
Engellied mit ſeinen Vorbildern verbunden wird, doch die Verſchiedenheiten
nicht überſehen, die den Dichter des Fauſt von ſeinen lateiniſchen Vorläufern
trennen. Die Gottheit, die uns Cicero und Seneca vorführen, iſt ein ſchwer faß⸗
bares, unbeſtimmtes Weſen. In der Regel erſcheint ſie nicht als Perſon, ſondern
entweder als die Welt ſelber oder als eine die Welt belebende Kraft oder als
ein Verſtand von übermenſchlichem Vermögen. Demgegenüber kann kein Zweifel
walten, daß der Gott, den Goethe auftreten läßt, eine Perſon, daß er der all⸗
einige, allmächtige Herr iſt, und daß die Erde und die Sonne nicht Teile oder
Erſcheinungsformen, ſondern „Werke“ des Höchſten ſind. Dann dient bei den
beiden Lateinern, zumal bei Cicero, die wunderbare Einrichtung der Welt zum
Beweiſe für das Vorhandenſein eines göttlichen Weſens. Bei Goethe wird vor⸗
ausgeſetzt, daß ein Gott ſei, und die Natur legt nicht für ſein Daſein, ſondern
für ſeine Erhabenheit und Weisheit Zeugnis ab. Es iſt klar, daß die beſondere
43) J. Bake, Posidonii Rhodii reliquiae doctrinae S. 64, 60, 71.
4) [Aristoteles] Hei xoouov (Zählung nach der Ausgabe von J. Chr. Kappius 1792):
II 2 (9), V 9, 10, VI 14 - 16. Über die Bedeutung, die Poſeidonios der Betrachtung des
1 8 75 der Welt zumißt, vgl. Capelle a. a. O. S. 534 - 536; über den Preis der Son ne
ſ. S. 3565/6.
45) II. x. III 1-3, V I2; vgl. Capelle a. a. O. S. 554/5. Über die Schreibweiſe des P. vgl.
(Strabon bei) Bake S. 31 und Capelle S. 565. — Chriſt⸗Schmid bemerkt a. a. O. 15 S. 684/5
über [Aristoteles] Lee xoouov: „in einem ſtellenweiſe enthuſtaſtiſch⸗teleologiſchen Sinn ge⸗
ſchrieben, der an die Stimmung des Geſangs der Erzengel in Goethes Fauſt gemahnt“. Goethe
könnte, als er ſich bei ſeinen Vorarbeiten für die Farbenlehre mit Ariſtoteles beſchäftigte, die Schrift
I. x. zu Geſicht bekommen haben. So deutliche Anklänge an das Engellied wie Eicero und Se⸗
neca enthält ſie aber nicht; daß ſie dem Dichter bei der Abfaſſung des Liedes vorgeſchwebt habe,
iſt unwahrſcheinlich. Die tatſächlich vorhandene Ahnlichkeit zwiſchen dem Geſang der Erzengel
und der griechiſchen Abhandlung beruht darauf, daß beide in letzter Linie auf Poſeidonios
zurückgehen.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 73
Rolle, die das Erzengellied in der Fauſttragödie ſpielen ſoll, mit dazu bei⸗
getragen hat, daß der Dichter von ſeinen Vorbildern abweicht. Aber daneben
ſteht Goethe auch unter dem Einfluſſe allgemein chriſtlicher Vorſtellungen und
beſtimmter Bibelſtellen. Außer den früher erwähnten Abſchnitten aus dem
Alten Teſtamente hat ihm bei der Abfaſſung des Liedes ohne Zweifel die
Schöpfungsgeſchichte vorgeſchwebt. Auf ſie deuten nicht bloß der Ausdruck
„Paradieſes⸗Helle“, ſondern auch die Zeilen „Und alle deine hohen Werke Sind
herrlich wie am erſten Tag“, die gewiß eine Erinnerung darſtellen an 1. Moſe
131: Und Gott ſahe alles, was er gemacht hatte, und ſiehe da, es war
ſehr gut.
Goethe iſt nicht der einzige, der den im Altertum ausgebildeten Gottes-
beweis aus der Natur mit chriſtlichen Anſchauungen verknüpft hat. Es würde
eine lohnende aber die Grenzen unſeres Aufſatzes weit überſchreitende Auf⸗
gabe ſein, bei alten und neueren Schriftſtellern die Stellen zuſammenzuſuchen,
wo eine ähnliche Verbindung vorkommt 46). Wir erwähnen bloß, daß Cal⸗
vins Auffaſſung derjenigen des Engelliedes naheſteht. Der Reformator
findet ähnlich wie der Dichter im Anblick der Schöpfung einen Erſatz für
die Begreiflichkeit Gottes. In den glänzenden Anfangskapiteln feines „Unter-
richts im chriſtlichen Glauben“ führt er folgendes aus: Wir dürfen das Weſen
Gottes, das eher zu verehren als zu erforſchen iſt, nicht in verwegener Neugier
zu ergründen verſuchen; vielmehr ſollen wir Gott in feinen Werken
betrachten, durch die er ſich uns verwandt und vertraut macht ... So deut:
lich hat er ſich in der ganzen Schöpfung offenbart, ... daß wir unſere Augen
nicht öffnen können, ohne gezwungen zu fein, ihn anzublicken. Sein Weſen
freilich iſt un fa ß bar. . allein in jedes einzelne feiner Werke hat er untrüg⸗
liche Spuren feiner Herrlichkeit eingegraben ... Der Bau der Welt dient
uns mit ſeiner Ebenmäßigkeit als Spiegel, in dem wir den ſonſt unſichtbaren Gott
anſehen dürfen.... Als Außerungen der Macht und Weisheit Gottes aber nennt
der Reformator, wie es die Philoſophen des Altertums und (in ſeiner beſon⸗
deren Weiſe) Goethe tun, das Krachen der Donnerſchläge, die Blitze,
das vom lärmenden Ungeſtüm der Stürme erregte Meer, die ſchnelle
Umdrehung des Himmelsgebäudes, die Einteilung der Zeit in
Tage und Nächte, in Jahre und Jahreszeiten.“)
Undenkbar iſt es nicht, daß der Verfaſſer des Engelliedes durch irgendeine
Vermittlung mit Calvins Gedanken bekannt geworden iſt, fo gut als es mög-
lich iſt, daß er ſonſtige Werke geleſen hat, in denen der Gottesbeweis der Stoa
mit chriſtlichem Gute verſchmolzen wird. Die Gebildeten des 18. Jahrhunderts
haben gewiß alle Darlegungen geſchätzt, die ihrer eigenen Naturauffaſſung ent⸗
gegenkamen. Aber der Umſtand, daß der Dichter unter dem Einfluſſe derartiger
46) Durch die Arbeiten anderer werden wir aufmerkſam gemacht auf Clemens Rom. ad. Cor. I
20 (vgl. K. Burdach, „Fauſt und Moſes“, Sitzungsber. der Preuß. Akademie der Wiſſ. 1912
S. 632, Anm. 1), Minucius Felix, Octavius 17 und Lactantius, Divinae institutiones II 5
(vgl. Zielinski a. a. O. S. 381 - 383).
47) Institutio Christianae religionis, Ausgabe von 1559: 1. Buch V 9, I; XIV 20;
V 6, XIV 21; vor. VI 2.
74 Rudolf Preiswerk
Schriften geſtanden haben kann, hindert nicht, daß er den Ovid und Manilius,
den Seneca und Cicero oder von den beiden letzteren wenigſtens die wichtigſten
der von uns angeführten Zeugniſſe durch perſönliche Lektüre hat kennenlernen.
Am 26. Juni 1797 ſchreibt Schiller an Goethe, von dem er aufgefordert worden
iſt, über die Fortſetzung des im Jahre 1790 als „Fragment“ veröffentlichten
Fauſt nachzudenken, daß der „hochaufquellenden Maſſe“ der Fauſtdichtung ein
„poetiſcher Reif“ fehle. Pniower ſtellt in dem früher erwähnten Aufſatze
(a. a. O. S. 169, 171/2, 174, 180) die auch durch Eckermanns und Riemers
Chronologie nahegelegte, ſehr einleuchtende Vermutung auf, daß der Prolog im
Himmel, der eben den von Schiller geſuchten und von Goethe gefundenen Reif
oder Rahmen darſtelle, unmittelbar nach Empfang des angeführten Schiller⸗
briefes verfaßt worden ſei. Wir möchten der Zeitbeſtimmung Pniowers im
weſentlichen beiſtimmen und höchſtens auf die Möglichkeit hinweiſen, daß der
„Prolog“ vielleicht im Sommer des Jahres 1797 bloß entworfen worden iſt
und feine Vollendung und feinen ſchönſten Schmuck, das Engellied, erſt im
Jahre 1798 erhalten hat. In dieſem Jahre „ſtudierte“ Goethe, wie die „Anna⸗
len“ melden, „die einzelnen Schriftſteller“, die er für ſeine „Farbenlehre“
brauchte. Zu dieſen Schriftſtellern gehörte Seneca. Von ihm handelt der Dichter
in der „Geſchichte der Farbenlehre“ ſelber in dem ziemlich ausführlichen „Nach⸗
trag“ zum „Erſten Teil“. Dort ſtehen folgende Sätze: Die meteoriſchen Feuer:
kugeln ... Regenbogen ... Sternſchnuppen, Kometen, beſchäftigen ihn (den
Seneca) unter der Rubrik des Feuers ... So ſtreitet er z. B. lebhaft gegen die⸗
jenigen ... welche behaupten, daß die Kometen eine vorübergehende Erſcheinung
ſeien. Die beiden Sätze beweiſen in Verbindung mit der Mitteilung aus den
Annalen, daß Goethe gerade in der Zeit, in die man die Entſtehung des Engel⸗
liedes verlegen darf, in Senecas Naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchungen die
Abſchnitte über den Regenbogen und über die Kometen geleſen hat. In eben
dieſen Abſchnitten aber fand er neben andern wichtigen Bemerkungen über die
ſchnelle Drehung des Himmels oder der Erde jene zwei Verſe aus der Phaeton:
geſchichte Ovids, die ſich ſeinem Gedächtnis vielleicht ſchon in der Knabenzeit
eingeprägt hatten, und die er jetzt in der zweiten Strophe unſeres Liedes ver⸗
wendete. Durch dieſe Erkenntnis wird unſere Annahme, Goethe ſei von Seneca
abhängig, von außen her geſtützt. Das iſt für uns die Hauptſache. Was die
Entſtehungszeit des Engelgeſanges anbetrifft, darf man ſchließlich trotz den
Annalen am Jahre 1797 feſthalten. Denn Goethe ſchickt ſchon am 20. Januar
1798 einen „Entwurf zur Geſchichte der Farbenlehre“ an Schiller mit Begleit⸗
worten, die erkennen laſſen, daß er ſich bereits eingehend mit dem Gegenſtande
beſchäftigt hat. Er kann alſo den Seneca auch ſchon im Jahre 1797 geleſen
haben 48).
48) Erich Schmidt, a. a. O. S. 270 bezeichnet den Prolog im Himmel als „1797 oder 1798
entſtanden.“ Vgl. Goethe an Knebel, 2. Januar 1798: Ich denke den Fa uſt zuerſt vorzunehmen
und zu gleicher Zeit meine ... naturhiſtoriſchen Arbeiten fortzuſetzen. — Über
Goethes Beſchäftigung mit Ovid ſ. Ernſt Maas, Goethe und die Antike S. 33, 122, 241/2,
505 / , 534, 544, 550 / 1, 553 - 560, 634 636. — Senecas Anſchauung über die Kometen wird
auch erwähnt in Goethes „Maximen und Reflexionen“ II 49.
Zum Geſang der Erzengel in Goethes Fauſt 75
In dem oben erwähnten Abſchnitt aus der Geſchichte der Farbenlehre nimmt
Goethe nur auf Senecas Naturwiſſenſchaftliche Unterſuchungen Bezug. Nun
glaubten wir aber im Engelliede auch Anklänge an andere Schriften des Römers
feſtſtellen zu dürfen. Daß der deutſche Dichter dieſe Schriften am Ende des
18. Jahrhunderts, vielleicht im Zuſammenhange mit den Naturwiſſenſchaft⸗
lichen Unterſuchungen, geleſen hat, iſt durchaus möglich; bloß läßt es ſich, ſo⸗
weit wir ſehen, mit Gründen äußerer Art nicht beweiſen. In Gedichten aus
ſpäterer Zeit ſcheinen Anlehnungen an den Philoſophen vorzuliegen 9).
Der Geſang der Erzengel iſt — das ergab ſich uns durch Vergleichung —
nicht nur von Seneca, ſondern auch von Cicero abhängig. In erſter Linie
kommen (neben den Tusculaniſchen Geſprächen) deſſen Bücher über das Weſen
der Götter in Betracht. Das Verhältnis Goethes zu dieſem Werke erhellt aus
folgender Erwägung: Im September des Jahres 1796 wurde nach den Anna=
len „die Ausführung“ von „Hermann und Dorothea“ „begonnen und voll⸗
bracht“. Das Gedicht enthält eine Entlehnung aus dem Laelius des Cicero 50).
Goethe hat die lateiniſche Abhandlung alſo wohl im Jahre 1796, d. h. kurz vor
der mutmaßlichen Entſtehungszeit des Engelliedes geleſen. Darf man nun nicht
annehmen, daß er ſich damals noch mit weiteren philoſophiſchen Schriften
Ciceros, z. B. mit den Tusculanen und dem Geſpräche über die Götter befaßt
hat? Jedenfalls hat man dem genannten Geſpräche gerade am Schluſſe des
18. und am Anfange 19. Jahrhunderts in Deutſchland eine beſondere Beachtung
geſchenkt; das zeigen die Ausgaben und Beſprechungen des Werkes, die um die
Jahrhundertwende gedruckt worden ſind 51). Es iſt überhaupt kaum denkbar,
das Goethe das Geſpräch nicht gekannt habe. Zielinski weiſt nach, was für eine
große Rolle dasſelbe in der engliſchen Aufklärung und bei Voltaire geſpielt hat.
Friedrich der Große hat es neben den Tusculanen vor der Schlacht bei Zorndorf
im Felde geleſen 52). Ohne Zweifel hat es auch auf die deutſche Dichtung,
Theologie und Philoſophie des 18. Jahrhunderts in bedeutendem, bisher viel⸗
leicht nicht genügend erkanntem Maße eingewirkt. Es erſcheint daher als ſelbſt⸗
verſtändlich, daß auch Goethe es geleſen, und daß die große Himmelsſzene im
Eingang feines „Fauſt“ innere Bedeutung daraus gewonnen habe 53).
49) „Vermächtnis“ Z. 28 30 „Dann iſt Vergangenes beſtändig, Das Künftige
voraus lebendig, Der Augenblick it Ewigkeit“ = brev. vit. XV 5 transit
tempus aliquod: hoc recordatione comprehendit (sapiens). instat: hoc utitur.
venturum est: hoc praecipit; ad Helv. XX 2 (animus) aeternitatis
suae memor in omne, quod fuit futurumque est, vadit; vgl. XI 7.
50) Hermann und Dorothea VII 176 - 180 Laelius 62; vgl. V. Hehn, „Über Hermann und
Dorothea“ S. 126 und Maas a. a. O. S. 572/3.
51) Von Ciceros N. D. erſchienen 1787 eine Uberſetzung von Chr. V. Kindervater, 1790 „An-
merkungen und Abhandlungen“ von Kinder vater, 1796 eine Ausgabe von Kindervater, 1799 eine
ſolche von Joh. Chr. Fr. Wetzel, 1806 eine mit Anmerkungen verſehene Überfegung von Goethes
Landsmann Joh. Friedr. v. Meyer.
52) Zielinski a. a. O. über die engliſche und franzöſiſche Aufklärung S. 260 ff., 304 ff., über
Friedrichs des Gr. Vorliebe für Cicero S. 07/8. — u Catt „Unterhaltungen mit Fr. d. Gr.“,
85 55 R. Koſer S. 149/50; vgl. Alfred Goethe, M. Tullii Cicernonis de n. d. 1887,
. 126/7.
53) Uber . Bekanntſchaft mit Cicero vgl. Maas a. a. O. S. 521, 572, 575; Zeitler
a. a. O. S. 325 ff
76 Hans Dahmen
Der Stil E. T. A. Hoffmanns.
Bon Hans Dahmen in Krefeld (Rhein).
Die künſtleriſche Ausdrucksart der Sprache erinnert bei E. T. A. Hoffmann
an die der Muſik. Das drückt ſich auch in ſeinen kunſttheoretiſchen
Außerungen aus. Dichter und Komponiſt gehen für Hoffmanns Überzeugung
die gleichen Wege, wie ſein Aufſatz „Der Dichter und der Komponiſt“ hervor⸗
hebt: „Ja, in jenem fernen Reiche, das uns oft in ſeltſamen Ahnungen um⸗
fängt, ... da find Dichter und Muſiker die innigſt verwandten Glieder einer
Kirche: denn das Geheimnis des Worts und des Tons iſt ein und dasſelbe“
bei Griſebach 1), 6. Bd., S. 82 Z. 19 ff.]. Ferdinand bezieht die Ausſprüche
Ludwigs (der niemand anderer als Hoffmann ſelbſt iſt) durchaus auf die Kunſt
ſchlechthin, nicht etwa nur auf die Muſik, der Unterſchied von Muſiker und
Dichter hebt ſich vollends auf: „Ich höre meinen lieben Ludwig, wie er in tiefen
Sprüchen das geheimnisvolle Weſen der Kunſt zu erfaſſen ſtrebt, und in der
Tat, ſchon jetzt ſehe ich den Raum ſchwinden, der mir ſonſt den Dichter vom
Muſiker zu trennen ſchien“ (S. 82). Kurz darauf heißt es, daß uns die Ein⸗
wirkung höherer Naturen das romantiſche Sein erſchließe, „in dem auch die
Sprache höher potenziert oder vielmehr jenem fernen Reiche entnommen, d. h.
Muſik, Geſang iſt, ja wo ſelbſt Handlung und Situation, in mächtigen Tönen
und Klängen ſchwebend, uns gewaltiger ergreift und hinreißt“ (S. 89 Z. 7 ff.).
Alſo Handlung und Situation werden in Klängen und Tönen empfunden, die
höhere Sprache kennt nur die Ausdrucksform, die auch der Muſik zu eigen iſt:
den Klang und den Ton, nicht den rationalen Gehalt. Seite 84 Z. 3 ff. heißt
es: „Ja, ich glaube, kein guter Vers könne in meinem Innern erwachen, ohne
in Sang und Klang hervorzugehen.“ Es iſt kein Zweifel: die kunſttheoretiſchen
Außerungen Hoffmanns gelten in gleicher Weiſe für die Dichtung wie für die
Muſik 2). Wir müſſen uns dazu erinnern, daß zur Zeit der Abfaſſung ſeines
beiten Märchens, des „Goldnen Topfs“, der Muſiker Hoffmann durch⸗
aus im Vordergrund ſteht. Die Außerungen Hoffmanns über die Muſik ver⸗
1) Da die wiſſenſchaftlich beſte Ausgabe, die von Maaßen, dieſe kunſttheoretiſchen Schriften
Hoffmanns noch nicht enthält, zitiere ich nach der Ausgabe von Grieſebach, Leipzig 1900.
2) Daß Hoffmann für die Dichtkunſt dieſelben Prinzipien angewandt wiſſen wollte wie für die
Muſik, wird auch von Carl Schaeffer (Die Bedeutung des Muſikaliſchen und Akuſtiſchen in E. T.
A. Hoffmanns Literariſchem Schaffen, Marburg 1909), mehrere Male in überzeugender Weiſe
dargetan. S. 218 weiſt er nach, daß Hoffmann in vielen ſeiner Dichtungen jene Tendenzen ver⸗
wirklicht habe, die er für die Texte der Opern als maßgebend anerkannte. S. 225 wird dafür noch
einmal ein ausdrücklicher Beweis angetreten. — Schaeffers ſtiliſtiſche Beobachtungen ſtimmen mit
dem hier Angegebenen, foweit die gemeinſamen Geſichtspunkte reichen, überein, wenn er z. B. feſt⸗
ſtellt, daß Hoffmanns Welten „wenig klar umriſſen erſcheinen und verſchiedenartiger Deutung
Raum geben“ (S. 131). Hoffmanns Märchenwelt „erſtreckt ſich über diejenige hinaus, die wir
gewöhnlich namentlich mit dem Geſichts⸗ und Taſtſinne erfaſſen“ (S. 131). Das ſpielt auf die Un⸗
plaſtik an, die durch die Betonung des muſikaliſchen Gehaltes unterſtrichen wird. S. 107 heißt es,
daß die „Phantaſieſtücke in Callots Manier“ „unter dem beſtimmenden Eindrucke der Bamberger
ſpeziell muſikaliſchen Erlebniſſe“ ſtehen. „Sie weiſen daher auch von allen Werken Hoffmann die
ſtärkſten Beziehungen zum muſikaliſchen Leben auf.“
Der Stil E. T. A. Hoffmanns 77
mögen uns alſo zugleich einen Beitrag zur ſtiliſtiſchen Erklärung der um dieſes
Märchen gruppierten Werke zu liefern.
Sehr bezeichnend ſind ſeine Ausführungen über die Muſik in dem Aufſatz
„Beethovens Inſtrumentalmuſik“ (4. Kreislerianum). Da heißt es, nur das
Unendliche ſei der Vorwurf der Muſik. Alles Feſtumriſſene, klar und eindeutig
Faßbare liegt ihr fern. „Die Muſik ſchließt dem Menſchen ein unbekanntes
Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die
ihn umgibt, und in der er alle be ſt immten Gefühle zurückläßt, um ſich einer
unausſprechlichen Sehnſucht hinzugeben“ (S. 55 Z. 11). Er tadelt die „armen
Inſtrumentalkomponiſten“, die ſich „mühſam abquälen, beſtimmte Empſin⸗
dungen, ja ſogar Begebenheiten darzuſtellen“ (S. 55, 2. Abſchn.). „Wie konnte
es euch denn nur einfallen, die der Plaſtik geradezu entgegengeſetzte Kunſt pla⸗
ſtiſch zu behandeln?“ (S. 55 Z. 11 v. u.). Immer wieder wird das Unbe⸗
ſtimmte, Unermeßliche, Unausſprechliche als das Reich der Muſik bezeichnet,
das Klare, Sichere, Diesſeitige wird zugunſten des Unklaren, Geheimnisvollen,
Jenſeitigen abgelehnt. „Unſer Reich iſt nicht von dieſer Welt, ... denn wo
finden wir in der Natur, ſo wie der Maler und Plaſtiker, den Prototypus
unſerer Kunſt?“ (Johannes Kreislers Lehrbrief, v. Maaßen, S. 432 Z. 3 v. u.).
„Das bewußtloſe oder vielmehr das in Worten nicht darzulegende Erkennen
und Auffaſſen der geheimen Muſik der Natur“ (S. 433 Z. 13 v. u.) ſtellt des
Künſtlers Aufgabe dar. „Es ſind dieſelben Eigenſchaften der Muſik, ihr irratio⸗
naler Charakter, ihre gefühlsmäßige Innigkeit, ihre Form⸗ und Grenzenloſig⸗
keit, ihre ſubjektive Geiſtigkeit, ihre unirdiſch⸗überirdiſche Unſtofflichkeit, die
Wackenroder und Hoffmann an der Muſik erlebt haben“ 3).
Dieſe Fragen führen uns mitten in eine der Haupteigenſchaften des Hoff⸗
mannſchen Stiles; denn „bei ihm ſind die Worte nicht ſo ſehr intellektuell zu
begreifende Zeichen für Mitzuteilendes, als vielmehr konventionelle Noten⸗
ſchrift, deren Muſik hinter ihnen tönt“ “). Der Stil der Hoffmannſchen Märchen
zeigt im ganzen „eine weniger geformte, als rhythmiſch empfundene, muſika⸗
liſche Struktur“ [Olga Raydt 5), S. 39]. Er ſieht nicht die Dinge in ihren klaren,
plaſtiſchen Umriſſen, ſondern ſeine Phantaſie iſt „muſikaliſch⸗akuſtiſch ge⸗
richtet“). Es müſſen in dieſem Zuſammenhang die für Hoffmann ſo bezeichnen⸗
den Synäſtheſien näher beleuchtet werden. Gegenüber der bisherigen pſycho⸗
logiſchen Betrachtungsweiſe gilt es dabei zur literariſch-ſtiliſtiſchen Interpre⸗
tation vorzudringen.
Der „Goldne Topf“ iſt reich an Beiſpielen, in denen ſich dieſe eigentümliche
Verwandtſchaft von Klängen, Farben und Düften zeigt; ich ſtelle zunächſt eine
Reihe dieſer Fälle heraus, bei denen auf einen Reiz nicht nur das korreſpon⸗
dierende Sinnesorgan, ſondern auch ein anderes, ſcheinbar von dem erſteren
völlig unabhängiges, antwortet. — So heißt es in der erſten Vigilie: „Blumen
) W. Joſt, Von Tieck zu Hoffmann, Frankfurt 1920. S. 61.
) R. Schaukal, E. T. A. Hoffmann, Leipzig 1923. S. 127.
5) Olga Raydt, Das en. als Stilform in den literarifhen Werken Hoffmanns, Mün⸗
chener Diſſertation 1912. S. 3
78 Hans Dahmen
und Blüten dufteten um ihn her, und ihr Duft war wie herrlicher Geſang von
tauſend Flötenſtimmen ... 5) (S. 243 Z. 3). 4. Vigilie: „... und daß in den
Windungen des ſchlanken Leibes all' die herrlichen Kryſtall⸗Glockentöne hervor⸗
blitzen mußten, die ihn mit Wonne und Entzücken erfüllten“ (S. 263 Z. 14).
Beſonders der Garten des Archivarius Lindhorſt ſtellt einen Wirrwarr von
Tönen und Düften dar; Anſelmus wird von „lieblich tröſtenden Klängen wie
vom ſüßen zarten Hauch umfloſſen“ (S. 286 Z. 6 v. u.). In der 8. Vigilie
heißt es: „und der Geruch, den ſie verbreiteten, ſtieg aus ihren Kelchen empor
in leiſen lieblichen Tönen ...“ (S. 298 3.13). „Die wunderbare Muſik des
Gartens tönte zu ihm herüber und umgab ihn mit ſüßen lieblichen Düften ...“
(S. 300 Z. 3). „. . . und als ſtrahlten dann die holden Kryſtallklänge ... durch
das Zimmer“ (S. 300 Z. 8). „. . . jedes ihrer Worte, das ... wie ein leuch⸗
tender Strahl die Wonne des Himmels in ihm entzündete“ (S. 301 Z. 13 v. u.).
„. . . und er raubte fie der Lilie, deren Düfte in namenloſer Klage vergebens im
ganzen Garten nach der geliebten Tochter riefen“ (S. 302 Z. 12). 10. Vigilie:
„Und es war, als umwehten ihn leiſe Seufzer, die legten ſich um die Flaſche
wie grüne durchſichtige Holunderblätter ...“ (S. 318 Z. 7). „Und jeder Laut
ſtrahlte in das Gefängnis des Anſelmus hinein“ (S. 319 3. 5 v. u.). 12. Vigilie:
„und ihre Düfte rufen in gar lieblichen Lauten dem Glücklichen zu ...“ (S. 335
Z. 9 v. u.). — Am Schluß des Märchens wird das Unbeſtimmbare der Sinnes⸗
empfindung geradezu ausgeſprochen: „Sind es Blicke? — ſind es Worte? —
iſt es Geſang?“ (S. 337 Z. 2). Die Eindrücke ſind fließend und ungreifbar,
alle Organe befinden ſich in einer ſtändigen Vibration, bald klingt das eine,
bald das andere an. Wenn wir nun nach dem Grundſatz fragen, nach dem die
Verknüpfung dieſer Sinnesempfindungen vor ſich geht, ſo iſt feſtzuſtellen, daß
ein beſtimmter gemeinſamer Gefühlsgehalt das zuſammenfaſſende Moment iſt.
Die angeführten Beiſpiele haben keinen klaren logiſchen Inhalt und geben
ebenſowenig ein feſtgerundetes, plaſtiſches Bild; die Verknüpfung von Sinnes⸗
empfindungen geht vielmehr darauf hinaus, eine beſtimmte Stimmung zu er⸗
regen, die direkt nicht ſagbar iſt, die trotz der künſtleriſchen Darſtellung nur in
der Sphäre des Unbewußten ſchwingen darf, weil fie im hellen Lichte des Ber
wußtſeins ſogleich erlöſchen würde. Hoffmann hat ſtets empfunden, wie
ſchwierig ſein Verſuch ſei, etwas Unbewußtes, Unſagbares dennoch durch Worte
nahezubringen; er hebt häufig die Unſagbarkeit deſſen, was er wiedergeben
möchte, hervor; ſeine Lieblingsworte ſind: „unausſprechliche Sehnſucht“, „un⸗
nennbare Sehnſucht“ (ſo allein in „Beethovens Inſtrumentalmuſik“ fünfmal).
Im „Goldnen Topf“ finden ſich dafür folgende bezeichnende Wendungen: „un⸗
ausſprechliche Sehnſucht“ (3), „namenloſes Etwas“ (2), „dunkles Gefühl“ (2);
folgende Eigenſchaftswörter werden angewandt in ähnlicher Verbindung: „un⸗
beſchreiblich“ (3), „unausſprechlich“ (2), „unbekannt“ (4), „namenlos“ (6) (die
eingeklammerten Zahlen drücken aus, wie oft dieſe Wendungen vorkommen).
Wird die Unſagbarkeit der Empfindung nicht unmittelbar ausgedrückt, ſo ge⸗
ſchieht es faſt ſtets mittelbar dadurch, daß der Dichter ihre Fremdartigkeit, Un⸗
6) Alle Zitate nach der Ausgabe von Carl Georg von Maaßen, Bd. I, München 1908.
Der Stil E. T. A. Hoffmanns 79
bekanntheit oder die eigene Unfähigkeit, ſich darüber ins klare zu kommen, an⸗
gibt. Sein Lieblingswort für eine nicht näher zu beſchreibende Empfindung
iſt das Wort „ſeltſam“, das ſich in unſerem kurzen Märchen nicht weniger als
25mal findet. Als weitere Ausdrücke hierfür verwertet er: „ſonderbar“ (17),
„wunderbar“ (19), „wunderlich“ (17), „geheimnisvoll“ (13), „beſonders“ (im
Sinne von außergewöhnlich, 9), „merkwürdig“ (4), „abſonderlich“ (1), „un⸗
gewöhnlich“ CA), „niegefühlt“ (2), „unverſtändlich“ (2), „unbekannt“ (4),
„fremdartig“ (1), „fremd“ (4), „verwunderungsvoll“ (1), „verworren“ (A),
„erſtaunlich“ CA), „wunderbarlich“ (1), „dumpf“ (4), „dunkel“ (4), „unbegreifs
lich“ (1). Das geheime Unbewußte offenbar zu machen, ohne eben durch dieſe
Offenbarung ihm den Duft des Geheimen, Verborgenen, Unbewußten zu neh⸗
men, ohne eine Ahnung in ein beſtimmtes Gefühl zu verwandeln, darin lag
des Dichters Schwierigkeit und ſeine beſondere Kunſt.
Die ſtiliſtiſchen Eigenheiten Hoffmanns erfahren eine weitere Erhellung,
wenn wir ſie mit dem zuſammenhalten, was Ellinger über die oſtpreußiſchen
Weſenselemente im Schaffen Hoffmanns geſagt hat. Die Eigenarten Hoff⸗
manns weiſt er mit Recht der heimatlichen oſtpreußiſchen Art zu, der unſer
Dichter angehört. Dieſes taſtende Drängen und Schweifen ſteht in deutlichem
Gegenſatz zu dem klaren romaniſchen Formempfinden I, ſtatt ſüdlicher Helle
und Glut findet ſich bei Hoffmann nordiſches Dämmerlicht und Kühle. Dem
Seinsrealismus der romaniſchen Sprachen gegenüber beſitzt die deutſche
Sprache (damit treffen wir mit bekannten Beobachtungen Nietzſches zuſam⸗
men), ein beſonderes Gefühl für das Werdende, Fließende und Wirkende. In
„Jenſeits von Gut und Böſe“ (Bd. 8 der Krönerſchen kleinen Ausgabe, S. 210)
ſagt Nietzſche: „Und wie jeglich Ding ſein Gleichnis liebt, ſo liebt der Deutſche
die Wolken und alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt
iſt: das Ungewiſſe, Unausgeſtaltete, Sich⸗Verſchiebende, Wachſende jeder Art
fühlt er als tief..“ Bertram führt dazu in feinem Nietzſche⸗Werk eine bezeich⸗
nende Wendung Wölfflins an: „Nordiſche Schönheit iſt nicht eine Schönheit
7) Heinrich Eduard Jakob ſtellt in ſeinem Hoffmann⸗Aufſatz: „Der Held der großen Oper“
(Hoffmannheft des „Feuerreiters“, Berlin 1922) die geringe Formungskraft und Wortbeherrſchung
unſeres Dichters dem franzöſiſchen Formempfinden gegenüber; dem Franzoſen iſt die Beherrſchung
der Form angeboren, ſeine Sehnſucht geht nach inhaltlicher Fülle, während der Deutſche ſeine ganze
Verehrung dieſer ihm fo ſchwer erreichbaren Form⸗ und Wortkunſt zuwendet. Daraus leitet Jakob
die Aufnahme her, die Hoffmann in beiden Ländern gefunden hat: die Abneigung der Deutſchen
und den Beifall der Franzoſen. „Im Kunſtwillen der Deutſchen und Franzoſen beſteht
dieſer eine Unterſchied: Der Franzoſe wird als Stiliſt geboren und will Natur — der
Deutſche wird als Natur geboren und will Stil. Eben darum konnte Hoffmann zwar den
Franzoſen, niemals aber den Deutſchen als höchſte Stufe der Poeſie erſcheinen“ (S. 240 Z. 9).
„Der Kampf um den Ausdruck aber, ... iſt er bei Hoffmann überhaupt ſpürbar? Das Wortlexikon
dieſes Dichters iſt außerordentlich dünn. Weder treffen wir bei ihm (der doch kühne Gefühle neu
bildete) auf kühne Neubildungen des gefühlten Wortes, noch ... auf die geringſte Kenntnis und
Benutzung alten deutſchen Wortguts aus der Zeit zwiſchen 1100 und 1700“ (S. 240 Z. 10 v. u.).
8) Die Bürger der Hoffmannſchen Märchen, die fo bieder und ſorgſam find und doch immer
Schnurren und Träume im Kopfe haben, bis fie ſich in einem Zuſtand von Ratloſigkeit ungebührlich
betrinken, dieſe Jünglinge, die ihre blauen Augen in den Himmel richten und dabei mit ihren langen
inen über die Pflaſterſteine ſtolpern, dieſe krächzenden, kichernden, ſpringigen Figuren können
ja ihre nordiſche Heimat nicht verleugnen! *
80 Hans Dahmen
des In⸗Sich⸗Geſchloſſenen und Begrenzten, ſondern des Grenzenloſen und Un⸗
endlichen. ... Die fertige Form bedeutet der germaniſchen Phantaſie zu wenig,
ſie muß immer überſpielt ſein von dem Reiz der Bewegung“ (Bertram, S. 71).
Dieſes deutſche Empfinden ſtellt ſich eben gerade in der Sprache dar: „Keine im
Umkreis des Europäiſchen birgt in ſich ſolche Möglichkeiten über ſich hinaus, keine
vermag alles Werdende ... dämmernd Herannahende ... ſo auszuſagen wie die
unſre. Sie widerſteht wie keine dem Nur⸗Logiſchen, fie ift ‚deraisonable’ .. .“
(Bertram, S. 70). „Geſtaltloſigkeit“ und „muſikaliſche Unplaſtik“ ſind der Sprache
Hoffmanns in ganz ausgeſprochenem Maße zu eigen. Sucher?) ſagt in ſeinem
ſchönen Hoffmann⸗Buche: „il est un impressioniste et par lä veritablement
un moderne“ (S. 230). Hoffmanns Kunſt iſt wirklich eine impreſſioniſtiſche,
da ſie nicht nur in der Darſtellung den ſinnlichen Eindruck unmittelbar feſtzu⸗
halten ſucht, ſondern auch von ſolchen Eindrücken, beſonders klanglicher Art, die
Konzeption einzelner Partien des Werkes auszugehen ſcheint. Schaeffer be⸗
merkt einmal, daß „die märchenhaften Erlebniſſe aus den muſikaliſch⸗akuſtiſchen
Eindrücken hervorzugehen ſcheinen“ (S. 131 Z. 12 v. u.). Hoffmann berichtet
uns in dem Kreislerianum „Der Muſikfeind“, daß er ſich am Flügel „ſtunden⸗
lang damit ergötzen konnte, allerlei wohlklingende Akkorde aufzuſuchen und an⸗
zuſchlagen. Hatte ich nun“, ſo berichtet er weiter, „mit beiden Händen drei,
vier, ja wohl ſechs Tangenten gefunden, die, auf einmal niedergedrückt, einen
wunderbaren, lieblichen Zuſammenklang hören ließen, dann wurde ich nicht
müde, ſie anzuſchlagen und austönen zu laſſen. Ich legte den Kopf ſeitwärts
auf den Deckel des Inſtruments; ich drückte die Augen zu; ich war in einer
anderen Welt; aber zuletzt mußte ich bitterlich weinen, ohne zu wiſſen, ob vor
Luft oder vor Schmerz“ (S. 410 Z. 8). Es erſchließt ſich dem Dichter durch einen
zuſammenhangloſen muſikaliſchen Eindruck eine ganze Welt. Mit der höchſten
ſeeliſchen Erregung, mit der Wirkung im eigenen Gefühlsleben, empfängt
der Künſtler zugleich auch die Mittel, ihr Ausdruck zu verleihen. Hoff⸗
mann bezeugt dies in feinem Kreislerianum „Über einen Ausſpruch Sacchinis
und über den ſog. Effekt in der Muſik“, wobei die Tatſache beachtet werden
muß, daß das für die Muſik Geſagte in entſprechender Weiſe für die Dichtkunſt
gilt. Der Künſtler hat die Aufgabe, „nur das in der Ekſtaſe bewußtlos im
Innern Empfangene mit höherer Kraft feſtzuhalten“ (S. 420 Z. 7 v. u.).
„Fragt daher einen jungen Künſtler, wie er es anfangen ſolle, eine Oper mit
recht vielem Effekt zu ſetzen, ſo kann man ihm nur antworten: lies das Ge⸗
dicht, richte mit aller Kraft den Geiſt darauf, gehe ein mit aller Macht deiner
Phantaſie in die Momente der Handlung; ... du fühlſt den Schmerz, das Ent⸗
zücken der Liebe, die Schmach, die Furcht, das Entſetzen, ja des Todes namen⸗
loſe Qual, die Wonne ſeliger Verklärung; du zürneſt, du wüteſt, du hoffeſt,
du verzweifelſt; dein Blut glüht durch die Adern, heftiger ſchlagen deine
Pulſe; in dem Feuer der Begeiſterung, das deine Bruſt entflammt, entzünden
ſich Töne, Melodien, Akkorde, und in der wundervollen Sprache der Muſik
9) P. Sucher, Les Sources du Merveilleux chez E. T. A. Hoffmann, Paris 1912.
Der Stil C. TZ. Hoffmanns . 81
ſrömt das Gedicht aus deinem Inneren hervor“ ... (S. 420 Z. 4 v. u.). — Für
Hoffmann ſind ja wie für Schubert 10) und Novalis die phyſikaliſchen Prin⸗
zipien zugleich ſolche der Pſychologie, die Erſcheinungen der Natur ſind Ent⸗
wicklungsſtufen des Geiſtes. Darum mißt Hoffmann den Tönen und Klängen
eine beſondere Bedeutung bei, weil ſie tiefere Gewalten und geheimnisvolle,
verheißungsreiche Erinnerungen aus der menſchlichen Herkunft und Zukunft
offenbaren. Hiermit ſtehen im Zuſammenhang die formelhaften, rhythmiſch
gegliederten Wendungen, die in Hoffmanns Märchen ſo häufig ſind. So ruft
bei Beginn des „Goldnen Topfs“ die Apfelfrau dem fliehenden Anſelmus die
— rational nicht verſtändlichen — Worte nach: „Ins Kryſtall bald dein Fall
— ins Kryſtall!“ und im weiteren Verlaufe zeigt es ſich, daß dieſe Worte, die
„unwillkürliches Grauſen“ erregen, das Kennzeichen einer fremden, feindlichen
Macht ſind. Eine ſolche eigentümliche Formel iſt es auch, die bei dem erſten
Erſcheinen der Serpentine erklingt: „Zwiſchen durch — zwiſchen ein — zwi⸗
ſchen Zweigen, zwiſchen ſchwellenden Blüten, ſchwingen, ſchlängeln, ſchlingen
wir uns — Schweſterlein — Schweſterlein“ uſw. (S. 241 Z. 11 v. u.), ferner
bei dem Eingreifen des Archivarius: „Hei, hei, was iſt das für ein Gemunkel
und Geflüſter da drüben? Hei, hei“ uſw. (S. 243 Z. 10), ebenſo bei der Ver⸗
wandlung des Türklopfers: „Du Narre — Narre — Narre — warte, warte!
warum warſt hinaus gerannt! Narre!“ (S. 252 Z. 10 v. u.). In der vierten
Vigilie geht der erſte Gruß des Archivarius ebenfalls in ſonderbar gegliederten
Worten vor ſich: „Hei, hei — was klagt und winſelt denn da?“ uſw. (S. 264
Z. 10). Als in der ſechſten Vigilie Anſelmus das Haus des Archivarius betritt,
läuten die Glocken: „klingling — Jüngling — kling — flink, — ſpring —
klingling“ (S. 281 Z. 9). Im Arbeitszimmer erſcheint ihm dann Serpentina
mit den Worten: „Ich bin dir nahe — nahe — nahe! ich helfe dir ſei mutig —
ſei ſtandhaft, lieber Anſelmus!“ [S. 286 Z. 14 v. u. 11)]. In dieſen Wen⸗
dungen ſpielt die Lautmalerei eine große Rolle; durch die Häufung des i (flink,
ſpring uſw.) wird das Läuten der hellen Glocke und zugleich das Flinke und
Springende des Anſelmus zum Ausdruck gebracht, während in dem folgenden
Beiſpiel das a beruhigend auf die Erregung des Anſelmus wirkt. Auch Anſätze
zur Alliteration ſind zu bemerken („zwiſchen — durch — zwiſchen — ein“
uſw.). — Dieſe Wendungen haben etwa den Sinn einer Befchwörungsformel,
indem ſie die wunderbaren Ereigniſſe einleiten. Sie finden ſich immer nur in
„exaltierten Zuſtänden“, die dieſe Art zu ſprechen (oder zu hören) durchaus ver⸗
ſtändlich machen. Durch die Lautmalereien, die rhythmiſche Gliederung, ſtellen⸗
10) Eingehenderer Nachweis der natur- und kunſtphiloſophiſchen Anſichten Hoffmanns, für a
ihm Schubert und Novalis die weſentlichen Anregungen gaben, in meiner Arbeit: „E. T. A.
mann und G. H. Schubert“ im Literaturwiſſenſchaftlichen Jahrbuch der Görresgeſellſchaft, Bd. ,
Freiburg 1926.
11) Die wilden Schreie der Punſchgeſellſchaft beſitzen ebenfalls eine ſolch gegliederte Form:
„Vivat Salamander — pereat — pereat — die Alte — jerbrecht den Metallſpiegel, hackt dem
Kater die Augen aus! — Vöglein — Vöglein aus den Lüften — Ehen — Ehen — Evoe —
Salamander!“ (S. 313 Z. 6 v. u.). Die Beſchwörungs formel der Alten in der 7. Vigilie („Boll
endet ift das Werk!“ uſw. S. 294 Z. 8) iſt ebenfalls hierher zu rechnen; ähnliches beobachten wir
bei der Schlacht im Bibliothekszimmer des Archivarius in der 10. Vigilie.
Guphorion XXVIII. 6
82 Hans Dahmen
weiſe durch die Alliteration wird die Mitwirkung der Sinne in intenfivfter
Weiſe herangezogen.
Aus der hohen Senfibilität und dem Einfühlungsvermögen Hoffmanns
leitet ſich auch ſeine Kunſt her, Druck⸗ und Taſtempfindungen, Empfindungen
des Schmerzes, der Kälte und Wärme und die mannigfachen Nervenerregungen
dichteriſch zu verwenden. Ich denke hier vor allem an die Schlußſzene der zwei⸗
ten Vigilie (S. 252/53). Es wird hier packend geſchildert, wie ſich an einer
Schreckenserſcheinung die andere entzündet, wie das eine Sinnesorgan dag
andere gewiſſermaßen anſteckt. Von einer Geſichtswahrnehmung leitet ſich die
erſte Täuſchung her, dann greift ſie auf den Gehörſinn und ſchließlich auf alle
körperlichen Empfindungsmöglichkeiten über. „Die Klingelſchnur ſenkte ſich
hinab und wurde zur weißen durchſichtigen Rieſenſchlange, die umwand und
drückte ihn, feſter und feſter ihre Gewinde ſchnürend, zuſammen, daß die mürben
zermalmten Glieder knackend zerbröckelten und ſein Blut aus den Adern ſpritzte“
„. .. Die Schlange erhob ihr Haupt und legte die lange ſpitzige Zunge von
glühendem Erz auf die Bruſt des Anſelmus, da zerriß ein ſchneidender Schmerz
jählings die Pulsader des Lebens, und es vergingen ihm die Gedanken“
(S. 253). Man kann nicht treffender und ſachgemäßer die phyſiologiſchen Be⸗
gleiterſcheinungen vom Aufwallen des erſten Entſetzens an bis zum Herein⸗
brechen der Ohnmacht bezeichnen. Mit gleicher Kunſt ſind die Leiden des Anſel⸗
mus in der gläſernen Flaſche beſchrieben. Phyſikaliſche Begriffe liebt Hoff⸗
mann beſonders zur Kennzeichnung nervöſer Erregungszuſtände in Wendun⸗
gen wie: „Durch alle Glieder fuhr es ihm wie ein elektriſcher Schlag“ (S. 242
Z. 14), oder: „Dem war es, als ſtände er auf lauter ſpitzigen Dornen und
glühenden Nadeln“ (S. 245 Z. 20).
Hoffmanns Sprache erhält indeſſen erſt dadurch ein beſonderes Leben, daß
die bisher erörterte Stilart an eine andere gebunden iſt, die faſt von entgegen⸗
geſetzter Art iſt: an einen ſcharf beobachtenden Realismus. Hoffmann iſt nicht
nur Muſiker (mit dieſem hatten es die bisherigen Ausführungen zu tun), ſon⸗
dern auch ein Zeichner, deſſen Karikaturen durch ihre Wirklichkeitstreue eine
verhängnisvolle Rolle in feinem Leben ſpielten. Aus der ſonderbaren Vereini-
gung dieſer beiden Möglichkeiten, in die Welt zu ſehen, entſteht die reizvolle
Spannung, die in ſeinen Werken lebt; neben der wie ein Duft oder Klang
verſchwebenden, zerfließenden Stimmung ſteht eine ſcharfe, treffende Charakte⸗
riſierung der Menſchen und Dinge, in denen und an denen ſie ſich entzündet.
Mit wenigen Strichen ſtellt er den ſatalen Unfall des Anſelmus mit dem Apfel⸗
weib in greifbarer Deutlichkeit vor uns hin, und während wir noch lachend Zu⸗
ſtimmung nicken, ſteigt ſchon der Wunderglanz von Atlantis herauf und über⸗
redet unſer Herz zu fo ſchönen Dingen, wie wir fie gerade hier niemals ver⸗
mutet hätten. Hoffmann vereinigt in ſeiner Sprache kühle Genauigkeit und
ſchwärmeriſche Dunkelheit, ſachliche Strenge und ſernhin ſchweifende Phan⸗
taſie. Bald hat ſie den Klang der Sehnſucht: dann ſind die Worte nur Noten
einer dahinfließenden Melodie; bald beſitzt ſie kühle Genauigkeit und ein
wohliges Behagen, wobei die Worte eine realiſtiſch⸗zeichneriſche Darſtellungs⸗
Der Stil E. T. A. Hoffmanns 83
art haben. Dieſen ſtiliſtiſchen Begriffspaaren entſprechen die beiden Welten,
auf die ich in früheren Unterſuchungen hingewieſen habe: die bürgerliche des
Konrektors Paulmann und die künſtleriſche des Anſelmus. Im „Goldnen
Topf“, der auch hierfür die deutlichſten Beiſpiele zeigt, iſt die Sprache von Paul⸗
mann und Heerbrand eine andere als die von Lindhorſt und Serpentina. Bei
Anſelmus iſt auch in der Sprache jene Scheidung durchgeführt, die ſich durch
ſein Leben zieht: bald ſpricht er in der Art der Bürger, bald in der Sprache der
Zauberwelt von Atlantis; das gilt auch für den Archivarius Lindhorſt. — Die
Sprache des Bürgers beſitzt eine gewiſſe behäbige Breitſpurigkeit; nebenſäch⸗
liche Vorſtellungen werden mit einbezogen, gelehrte Fremdwörter werden ein⸗
geſtreut, derb⸗realiſtiſche Wendungen treten auf: „Ja! man hat wohl Beiſpiele,
daß oft gewiſſe Fantasmata dem Menſchen vorkommen und ihn ordentlich
ängftigen oder quälen können, das iſt aber körperliche Krankheit, und es helfen
Blutigel, die man, salva venia, dem Hintern appliziert, wie ein berühmter
bereits verſtorbener Gelehrter bewieſen“ [S. 249 Z. 14 ff. 12)]. Zur Verbin⸗
dung gleich⸗ oder untergeordneter Sätze verwendet der Bürger gerne Partikel,
die logiſche Beziehungen wiedergeben, die Hypotaxe wird mit Vorliebe durch
Partikel, die den Grund, die Folge („weshalb“) oder eine Einfchränkung („un⸗
erachtet“) darſtellen, bezeichnet. Dadurch wird die Sprache trocken, logiſch und
korrekt. Hoffmann konnte hier den juriſtiſchen Amtsſtil vorteilhaft zu Rate
ziehen. „Unerachtet ich nun nicht eben gern ſehe, daß Sie mein eigentliches
Weſen der Leſewelt kundgetan, da es mich vielleicht in meinem Dienſt als ge⸗
heimer Archivarius tauſend Unannehmlichkeiten ausſetzen, ja wohl gar im
Collegio die zu ventilierende Frage veranlaſſen wird: inwiefern wohl ein
Salamander ſich rechtlich und mit verbindenden Folgen als Staatsdiener eid⸗
lich verpflichten könne, und inwiefern ihm überhaupt ſolide Geſchäfte anzuver⸗
trauen, da nach Gabalis und Swedenborg den Elementargeiſtern durchaus nicht
zu trauen — unerachtet nun meine beſten Freunde meine Umarmung ſcheuen
werden, aus Furcht, ich könne in plötzlichem Übermut was weniges blitzen und
ihnen Friſur und Sonntagsfrack verderben — unerachtet alles deſſen, ſage ich,
will ich Ew. Wohlgeboren doch in der Vollendung des Werks behülflich ſein, da
darin viel Gutes von mir und von meiner lieben verheirateten Tochter (ich
wollte ich wäre die beiden übrigen auch ſchon los) enthalten.“ So iſt in dem
köſtlichen Briefe des Archivarius Lindhorſt an Hoffmann (S. 333 3. 7 ff.) zu
leſen. Die Umſtändlichkeit, Korrektheit und Wichtigkeit, mit der ſich der Bürger
gibt, iſt in dieſer Ausdrucksweiſe treffend feſtgehalten. Die ſachliche Genauig⸗
keit, mit der Paulmann und Heerbrand ſprechen, ſteht in einem komiſchen Kon⸗
traſt zu der geringen Bedeutung deſſen, was ſie vernehmen laſſen. Bürger⸗
liche Mäßigkeit und Sorgfältigkeit werden durch entſprechende Ausdrücke ange⸗
deutet wie „tunlich“, „ungebührlich“, „erbaulich“. Achtbarkeit und Höflichkeit
werden immer gewahrt: „Wie beliebten Sie doch zu ſagen, werteſter Archi⸗
Die Adjektiva „verdammt“ und „verflucht“ finden ſich im „Goldnen Topf“ S. 238, 312,
17
320, 325, 327, 330, 333. Der Teufel, bezüglich der Satan, wird genannt S. 239, 240, 241,
247, 320.
84 Hans Dahmen, Der Stil E. T A. Hoffmanns
varius?“ „Geehrter Regiſtrator“, „Geſchätzteſter Herr geheimer Archivarius“,
„Werteſter Konrektor“, „Teuerſte Mademoiſelle“. Einen Übergang von der
bürgerlichen Tonart zu der ſchwärmeriſchen Sprache bilden die Stellen, an denen
ſich Hoffmann ſelbſt an den Leſer wendet, wie z. B. in der vierten und zwölften
Vigilie. Auch hier finden ſich noch umſtändliche Einſchachtelungen von Neben⸗
ſätzen und eine geſpreizte Behaglichkeit, aber das erſcheint dem Tone eines Er⸗
zaͤhlers viel angemeſſener, als wenn etwa der Konrektor Blutigel gegen Phan⸗
tasmata empfiehlt. Gänzlich aber wandeln ſich Ton und Takt, wenn wir in
das Wunderreich Atlantis eingeführt werden. An die Stelle der ruhigen Aus⸗
ſageſätze treten Ausrufungsſätze (ſowohl Gefühlsſätze wie Wunſch⸗ 18) und
Befehlsſätze 19) und rhetoriſche Fragen 5), die aus ſtarken Affekten hervor⸗
gehen. Freilich müſſen wir auch hier noch eine Unterſcheidung vornehmen; von
den lebhaften und durch Handlung bewegten Stellen müſſen wir diejenigen
ruhigeren ausſcheiden, an denen Lindhorſt oder Serpentina an Anſelmus mah⸗
nend und erklärend das Wort richten (vgl. z. B. das Ende der 6. Vigilie,
S. 287 3. 12 ff. und die 8. Vigilie S. 301 —306). In dem letzteren Falle hans
delt es ſich auch um Ausſageſätze, aber ſie ſind kürzer als die andern, die Vor⸗
ſtellungen ſind knapper aneinandergereiht. Die Nebenſätze dienen hier nicht
behaglichen Abſchweifungen, ſondern führen den Gedankengang fort und ſind
zum Verſtändnis unentbehrlich. Der Weg führt alſo von der pedantiſch⸗behag⸗
lichen Rede des Bürgers über die epiſche Betrachtungsform des Dichters zu dem
bedeutſamen und gehobenen Ernſt des Archivarius und von da in die ſchwärme⸗
riſch bewegte Sprache des Wunderreiches Atlantis. Dieſe zeigt ſich am reinſten
in jenen formelhaften rhythmiſchen Wendungen, die durchaus von der Alltags⸗
ſprache verſchieden ſind und ſich der Versform (Stabreim) nähern. Ihr charakte⸗
riſtiſches Merkmal liegt (außer in den ſchon früher erwähnten Tatſachen) darin,
daß die auftauchenden Hauptvorſtellungen weder voll ausgeſprochen, noch durch
Nebenvorſtellungen unterbrochen werden. Die Schwankungen in Tonhöhe und
Tonſtärke ſind hier ganz gering, das Ganze erinnert an die pathetiſche Ein⸗
förmigfeit von den Beſchwörungsformeln. — Zu der Struktur der Sätze tritt
indeſſen, wie ſchon erwähnt, die Wahl der Worte hinzu. Man vergleiche nur
in der zwölften Vigilie, in der Hoffmann noch einmal alle ſtiliſtiſchen Möglich⸗
keiten ſpielen läßt, die in dem Briefe des Archivarius verwandten Epitheta, mit
denen er die in der Beſchreibung von Atlantis anbringt! Während hier alle
Begriffe, die irgendwie an den Alltag erinnern, vermieden ſind, werden ſolche
Wendungen hier abſichtlich herausgegriffen, die unſerem alltäglichſten Kreiſe
entnommen ſind („ſolide Geſchäfte, Sonntagsfrack, Friſur, verdammte Trep⸗
pen, guter Schwiegerſohn“ uſw.). So erkennen wir auch in der Stilform die
beiden gegenſätzlichen Welten wieder, deren Gegenſpiel unſerem Märchen ſo
beſonderen Reiz verleiht.
13) Vgl. die 1., 2., 4., 6., 10., 12. Vigilie.
14) Z. B. in der 6. und 7. Vigilie.
15) Vgl. u. a. die Selbſtanklagen des Anſelmus in der 10. Vigilie.
Walther Rehm, Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 85
Jacob Burckhardt und das Dichterifche.
Von Walther Rehm in München.
Jacob Burckhardts Leben mißt das ganze 19. Jahrhundert aus; als er ge⸗
boren wurde, 1818, war die Romantik im Verklingen und der alte Goethe ſchickte
ſich eben an, die Schätze ſeines Alters, „wunderlichſt in dieſem Falle“, einer ehr⸗
furchtsvoll erſtaunten Welt zu bieten. In Burckhardts Todesjahr, 1897, begann
langſam eine neuromantiſche Strömung hervorzutreten und der Naturalismus
hatte ſeine großen Siege ſchon gefeiert. Dazwiſchen aber liegt das wachstümliche
Reifen des Realismus und ſein Werden fällt mit dem Burckhardts zuſammen.
Der letzte warme Schimmer edler Humanität ruht auf Burckhardts Jugend,
und es ſcheint, als ob dieſer Schimmer ihm im ſpäteren Leben zu neuerſtrahlen⸗
der Leuchte geworden ſei und ihn tröſtend durch ſein einſames Daſein begleitet
habe. Er könne ſich wohl noch erinnern, ſchreibt er einmal, als die Kunde von
Goethes Tod durch die Welt gegangen ſei; und als Berliner Student durfte er
im Hauſe jener Frau aus⸗ und eingehen, die wie keine andere in goethefremder
Zeit Bild und Andenken ihres Abgottes aufrechterhielt: Bettina. „Morgen“,
ſchreibt er an Kinkel am 21. März 1842, „find es 10 Jahre, ſeit Goethe ſtarb,
da geh' ich zu Bettina.“ — Burckhardt beſaß jenen hohen weltoffenen, goethe⸗
ſchen Humanismus und bewahrte dieſen und die „Bildung Alt⸗Europas“ viel⸗
leicht als einer der letzten, der Sinn hatte für das „Kontinuierende der Über⸗
lieferung“, für den ſtetigen geſchichtlichen Zuſammenhang in einer geſchichtlich
entwurzelten, ſchnellebigen Zeit. Er hat ſelbſt einmal ſeine Aufgabe, die Auf⸗
gabe eines innerlich zutiefſt Einſamen in einer gottlofen Zeit, genannt: „rüds
wärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeiten, vorwärts gewandt zu
heiterer und unverdroſſener Vertretung des Geiſtes in einer Zeit, die ſonſt gänz-
lich dem Stoff anheimfallen könnte.“ So ragt er noch aus der Goetheſchen Epoche
bis dicht an die Schwelle des neuen Jahrhunderts, und wie Mörike, Stifter
und Keller ermöglicht auch er heute die geiſtige Verbindung mit dieſer Zeit der
Humanität, einer Humanität, die er gleich den andern Genannten freilich auch
in eigener Kraft durchdrungen und weitergewandelt hat.
Burckhardt hat der Nachromantik der dreißiger Jahre, der Jugend, ſeinen
Zoll gezahlt und man kann ſagen, dieſe Jugendromantik habe ſeine beſten und
tiefſten Quellen geweckt. Wie der Grüne Heinrich, ſo ſehnte auch er ſich wohl
hinüber über den Rhein, in das Land mit einer erhabenen, wunderbaren Ver⸗
gangenheit, und es war eine große, romantiſch bewegte Stunde, als er dieſes
ſein zweites Vaterland zum erſtenmal für längere Zeit betrat. Eine innere Not⸗
wendigkeit in ſeinem Werdegang liegt darin, hier fand er ſich ſelbſt und ſein
Ziel, ſeinen Beruf, hier ſchaute er lebendige Zeichen weiten geſchichtlichen Lebens
und poeſieumwobene Denkmäler (er bedürfe eines hiſtoriſchen und ſchönen
Terrains, ſonſt ſterbe er, bekennt er ſchon früh) — hier, in Bonn, am Rhein,
mußte auch er ſelig ſchwärmen, und innerlicher Trieb führte auch ihn dazu,
86 Walther Rehm
ſolchen Stimmungen dichteriſchen Ausdruck zu verleihen. Ein Stück Rhein⸗
romantik, und zwar nicht das ſchlechteſte, lebt in den Gedichten des jungen Burck⸗
hardt. Das alles war noch das „alte Deutſchland“, waren jene halkyoniſchen
Tage des Vormaärzes, die ſich ihm ſpäter ſchön verklärten, fo daß er wohl un⸗
gerecht in der harten Aburteilung ſeiner eigenen Gegenwart werden konnte.
Das „neue Deutſchland“ behagte ihm nicht mehr; nur noch Baſel, dem ja
Nietzſche damals ausdrücklich einen „Vorrang an Humanität“ einräumte und
dieſen ſelbſt zum Teil gerade auf das Wirken des von ihm hochverehrten Mannes
zurückführte, ſchien Burckhardt eine noch verhältnismäßig unberührte Stätte
des Alten, wo er allein leben konnte inmitten einer haſtig vorwärtsſtürmenden
Zeit, die keine „Ewigungen“ mehr kannte noch wollte, die ſich nur in „Zei⸗
tungen“ genug tat. So geriet Burckhardt allmählich in Gegenſatz zu ſeiner Zeit
und zog ſich ganz auf ſein Amt zurück, und es bildete wohl auch ihm ſich jene
Stimmung, „wobei der Geiſt ganz im Stillen eine Tür nach der andern und
zuletzt auch die innerſte zuſchließt“. Ein ergreifendes Wort, das er ſchon 1848
an ſeinen Freund Schauenburg geſchrieben hatte, — „da ich ja freiwillig ver⸗
einſamt bin von allen“ —, wurde ſo zum Sinnbild ſeines Lebens überhaupt.
Nietzſche hat die freiwillige Einſamkeit dieſes wahrhaften Humaniſten als ein
Weſensverwandtes geſpürt und auch das Tragiſche daran, den tieferen Grund
dieſer inneren Vereinſamung. Er ſtellte Burckhardt gerade zu den „ſich Zurück⸗
haltenden aus Deſperation“.
Aus dieſer eigentümlichen ſeeliſchen und geiſtigen Lage heraus verſteht man
erſt Burckhardts Verhältnis zur Kunſt, zur Dichtung und zum Dichten. Die
Kriſis in den vierziger Jahren, deren Erlebnis die Briefe an die Brüder Schauen⸗
burg heimlich durchzittert, drängt ihn entſcheidend in eine Richtung. Damals,
als er traurig dem „wunderbaren Deutſchland hatte Lebewohl ſagen“ müſſen, in
dieſen Jahren kämpfte er hart mit ſich ſelbſt und wurde durch ein überaus leb⸗
haftes Gefühl von der Geringfügigkeit und Hinfälligkeit der menſchlichen Dinge,
„inſofern fie fi) bloß auf das Individuum beziehen“, zur Reife geführt, vom
Beſonderen hinweg zum „Reſpekt vor dem Allgemeinen, vor dem Atem der
Völker“. Er erlebte das Gleiche, was Stifter in einem Brief an Heckenaſt vom
7. März 1860 ſo formte: „Man muß eben in die Jahre kommen, in denen das
Brauſen des eigenen Lebens den großen, ruhig rollenden Strom des allgemeinen
Lebens nicht mehr überrauſcht, daß man dem großen Leben gerecht wird und ſein
eigenes als ein ſehr kleines unterordnet.“ Schon damals und dann rund 10 Jahre
ſpäter hat es heftig in Burckhardt gerüttelt und er mußte ſich zu der bitteren
Erkenntnis durchringen, daß er nicht nur als ein innerlich, ſondern auch als ein
äußerlich Einſamer, ohne die Frau durchs Leben gehen ſollte. Die große, ſtille
Entſagung, die Reſignation, die er ſchon bald als die dem Menſchen notwendigſte
Eigenſchaft mit dem höchſten Ziel, liebend Verzicht zu leiſten und doch nicht
menſchenfeindlich zu werden, erkannte, dieſe Entſagung forderte das Geſchick von
ihm; er hat ſie in Selbſtüberwindung gereift, fand, ſich beſcheidend, den inneren
Frieden wieder und verlangte nur noch „ein Plätzchen an der Sonne, um Dinge
auszuhecken, wonach am Ende kein Menſch fragt“. 1849 heißt es einmal: „Ein⸗
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 87
ſamer als jetzt habe ich nie gelebt, es kommt mir aber doch ſo ein Hauch un⸗
beſtimmten Glücks entgegen, das iſt die (relative) Stille: otium divinum.“ Frei⸗
lich, dieſe ergreifenden Worte waren noch zu früh geſchrieben, erſt ſeit der Mitte
der fünfziger Jahre wird es ruhig in ihm und er findet ſein Glück in der Reihe
der goethiſch Entſagenden 1). „Es iſt nicht der Mühe wert, in dieſem kurzen
Erdenleben das Weſentliche herzugeben gegen den bloßen Schein. Ich bin über
die gewöhnlichen Täuſchungen des Lebens hinaus“ (1855 an Emma Brenner⸗
Kron). Erſt jetzt fpürt man an ihm und feinen Werken das milde Walten dieſes
„otium divinum“, jene ſtilleuchtende, verſöhnende und echte Menſchlichkeit.
Seine Bücher hätten vielleicht nicht jene göttliche Heiterkeit und ſtille Ruhe,
wenn ſie nicht aus Verzicht geboren wären, wenn in ſie nicht eingegangen wäre,
was in der Dichtung ſich Burckhardt nicht immer reſtlos formen wollte. Burck⸗
hardts innerſtes Verhältnis zur Welt des Dichteriſchen iſt wiederum ein ver⸗
zichtendes. Er kam wohl in jener Zeit innerer Einſamkeit aufs „Verſemachen“
zurück. „Es iſt doch mein letzter Troſt, wenn alle Stränge reißen.“ Und ebenſo,
wie er ſchon als Zwanzigjähriger die Poeſie, das Dichten als heilende Kraft
fühlte, ſo auch jetzt wieder: „Poeſie tröſtet mich noch zuweilen.“ Aber trotz
allem, dieſer Troſt blieb nicht lange und er mußte verzichten, völlig ſeine Seele
durch Dichtung zu läutern und ſich hier vom Schmerz zu befreien. Er glaubte
ſich früher und beſonders in den Bonner Jahren zum Dichter und zum Künſtler
geboren, und auch nach den Lorbeeren des Dramatikers wollte er greifen; aber
er ſah ein, daß er ſich hier nicht erfüllen konnte, und ein bloßer Zeit⸗ und
Tendenzdichter mochte er nicht werden. 1846 ſchrieb Burckhardt aus Rom an
Kinkel, er merke ſeinen eigenen, ſtets ſpärlicher fließenden Dichtungen an, daß
fie immer mehr perſönlich würden. Es fehlte ihm, das ganz Beſondere nun
auch ins Allgemeine, Überzeitliche zu erheben, es zu objektivieren, das gerade,
was er ſelbſt immer vom Dichter forderte. Seine Gedichte hatten ſchließlich nur
noch ganz allein für ihn Wert und ſo verſtummte er und ſagte in ſeinen wiſſen⸗
ſchaftlichen Werken, was ihm dichteriſch zu ſagen und zu geſtalten nicht gelungen
war. Denn auch Geſchichte war ihm „immer noch großenteils Poeſie“. Seine
Geſchichtſchreibung, die ſich nach ſeinen eigenen Worten ganz auf die Anſchauung
und auf das Bild gründete, war ſo zutiefſt verſetzte Poeſie, hier ftrömte all fein
ſeeliſches Leben heraus und fand in der Ausbreitung fremden, aber doch inner⸗
lichſt ergriffenen Stoffes wundervolle Form. Denn immer merkt man den
Dichter, das poetiſche Feingefühl und den Kunſtverſtand in der Anordnung des
Ganzen und beſonders dort, wo es galt, dichteriſche Werke und Werte dem
Leſer nahezubringen und ſie nachzuempfinden. Man leſe zum Beiſpiel die Seiten
über die griechiſchen Tragiker oder über Homer in der „Griechiſchen Kultur⸗
geſchichte“, wie Burckhardt nun die Kunſt beſitzt, mit wenigen treffenden Worten
die dem Werke eigentümliche Stimmung zu erwecken, etwa bei Homer: „End⸗
lich atmet man in der Odyſſee die reine Seeluſt ohne allen Straßenſtaub.“ Oder
) C. Neumann, Jacob Burckhardt, Deutſchland und die Schweiz, Gotha 1919, S. 74. Vgl.
auch W. v. d. Schulenburg, Der junge Burckhardt, Stuttgart 1926 u. C. Neumann, Der junge
Burckhardt, Hiſt. Zeitſchrift 1926, Heft 3.
88 Walther Rehm
ergreifend ſchön im Aufſatz über das Phäakenland Homers, wo er zum Schluß
den „ſüdlichen Ton und Klang“ jener Märchenſtimmung verſinnlicht mit den
Verſen aus Goethes „Rauſikaa“:
„Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer
Und duftend ſchwebt der Aether über Wolken.“
Das iſt die dann die Stimmung, wie ſie Claude Lorrain erweckt, jene Stim⸗
mung der „dunſtigen Klarheit“, die Goethe in der italieniſchen Landſchaft und
in Claudes Landſchaften wahrnahm und die nun eben in ſeine „Nauſikaa“ mit
ihrem „ſüdlichen Ton und Klang“ übergegangen iſt. Es iſt aber auch jene Stim⸗
mung, die dann Burckhardt am Schluß des „Cicerone“ angeſichts von Claudes
Gemälden zu Worten bringt, die von Heimweh und Sehnſucht durchzittert find:
„Claude, als die reingeſtimmte Seele, vernimmt in der Natur diejenige Stimme,
welche vorzugsweiſe den Menſchen zu tröften beſtimmt iſt und ſpricht ihre Worte
nach.“ Ruhige Größe und Würde in allen ſeinen Liniengebilden findet Stifter
in Claude.
Es iſt merkwürdig, wie ſich Burckhardt nicht nur hier mit dieſem Manne
berührt, den er nie genannt und wohl auch nicht gekannt hat, mit dem ihn aber
doch mehr als bloße Zeitgenoſſenſchaft verbindet. Wenn er die Welt der Ge⸗
ſchichte und des Schönen und ihr Anſchauen als Entgelt eigenen dichteriſchen
Schaffens nahm und es ſein inbrünſtiges Gebet war, ein „Prieſter zu ſein des
ewig Schönen“, ſo darf man Stifter nennen, den „das wundervolle Ding der
Schönheit“, die „wunderbare Magie des Schönen“ in allem zu lieben inner⸗
lichſte Religion war, der nun den Dichter, wie Burckhardt, als den Prieſter des
Schönen anſah und von ihm forderte, „das ewig Dauernde in uns und das all⸗
zeit Beglückende“ zu vermitteln. Denn wirklich iſt auch für Burckhardts ſchön⸗
heitsdurſtige Seele die Schönheit innerſtes Bedürfnis, und zwar auch ein
ethiſches, ja faſt Religion im Sinne Hölderlins („Religion iſt Liebe der Schön⸗
heit“), ſie bedeutete ihm Lebensangelegenheit: „es gilt den Durſt dieſer Seele nach
allem Schönen zu ſtillen, ehe ich von hinnen ſcheide“, heißt es ſchon 1847. —
Stifter erblickte in der Kunſt „einen Teil der menſchlichen Beſtimmung, des
menſchlichen Daſeins ſelber“. — Die „edlen Dinge waren ein Teil ſeiner ſelbſt“,
ſagt Wölfflin von Burckhardt. |
Dichtung bedeutet für Burckhardt ein Doppeltes: einmal ſetzte er fie mit ſich
ſelbſt, mit dem höchſt Perſönlichen in Zuſammenhang und dann — das Wich⸗
tigere — mit dem „Weltganzen“. Und in dieſem zweiten Bezug ſah Burckhardt
den Prüfftein des Echten und Lebendigen, ob es hier töne, ob das Werk wirklich
an das Unendliche und Ganze rühre, ob es vom Ewigen und Göttlichen zeuge, ob
es das Weltganze deute. Er ſelbſt ſtrebte ſtets nach den „Zuſammenhängen mit
dem Großen und Unendlichen“. Gäbe man dieſe auf, ſo komme man unter die
Räder der Zeit. Burckhardt dachte hoch vom Dichter und ſeinem Werk, — „Der
Menſchheit Würde iſt in Eure Hand gegeben“ —, damit ſchloß er auch 1859
feinen Vortrag über Schiller. Von ſolch ethiſcher Wertung, die freilich die äſthe⸗
tiſche unlöslich in ſich aufnahm, ähnlich wie bei ſeiner Kunſtbetrachtung, ging er
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 89
aus. Er hätte zwar mit Stifter ſagen können, daß die Kunſt gleich das Höchſte
nach der Religion ſei, aber er hätte doch bei aller ethiſchen Forderung nicht fo un⸗
bedingt wie dieſer vom Sittengeſetz als dem Kerne der Kunſt und vom Schönen
als der Entfaltung dieſes Sittengeſetzes geſprochen. Burckhardt hat ſich oft über
dieſe Dinge geäußert, im „Konſtantin“, in der „Griechiſchen Kulturgeſchichte“,
und zuſammenhängend vor allem in den „Weltgeſchichtlichen Betrachtungen“,
aber auch in Briefen und gerade in denjenigen, in denen er ſich als literariſcher
Berater, als Mahner und Prüfer gab, bei der Dichterin Emma Brenner⸗Kron,
bei dem jungen Albert Brenner, nicht ſo bei Heyſe. N
„Poeſie ſoll andere tröſten helfen“ — das war es, was er zunächſt perſönlich
verlangte, und was dem Menſchen auch not tut. Darin war das andere, die
Lebensdeutung, ſchon beſchloſſen: ſie ſoll dem Menſchen ſein Innerſtes deuten
— am tiefſten tue es die Muſik —, ſie iſt imſtande wie jede Kunſt, „faſt ſein
ganzes Daſein, ſofern es über das Alltägliche hinausgeht, in ihre Kreiſe zu
ziehen, ſein Empfinden in einem viel höheren Sinne, als er ſelbſt könnte, aus⸗
zudrücken, ihm ein Bild der Welt zu gewähren, welches frei von dem Schutte des
Zufälligen, nur das Große, Bedeutungsvolle und Schöne zu einer verklärten Er⸗
ſcheinung verſammelt; ſelbſt das Tragiſche iſt dann tröſtlich“. Dichtung ſoll „den
inneren Gehalt der Zeit und Welt ideal zur Anſchauung bringen“, ſie ſoll als
Flucht in ein Reich des Höheren nun in ſolchen höheren und freieren Zuſtand ver⸗
ſetzen, vom nur Wirklichen und Lebendigen in das Hohe und Schöne. Sie ſoll
nicht tiefer in den Alltag hineinzerren, ſondern eine „zweite, höhere Erdenwelt“
erbauen, ſie ſoll eben weiter bringen als die Wirklichkeit und wenigſtens zeit⸗
weiſe vom Leiden des irdiſchen Daſeins befreien. Mit dieſer Forderung trifft
Burckhardt durchaus etwa mit jener Linie überein, die ſich von der klaſſiſchen
Anſchauung her zu Mörike, Stifter und Grillparzer weiterzieht. Stifters Mah⸗
nung, die Kunſt ſolle heben, ſteht neben Grillparzers Satz: „Die Poeſie iſt die
Aufhebung der Beſchränkungen des Lebens“, nur was über die Natur hinaus ſich
erhebe, ſei Poeſie. Mörike aber drückt dies ſo aus: „Iſt denn die Kunſt etwas
anderes als der Verſuch, das zu erſetzen, das zu ergänzen, was uns die Wirklich⸗
keit verſagt, zum Wenigſten dasjenige doppelt und gereinigt zu genießen, was
jene in der Tat gewährt?“
Durch ſolche Verwandtſchaft fällt ein Schlaglicht auf die geiſtesgeſchichtliche
Stellung Burckhardts. Daß ſich dann auch die Parallelen zu Schopenhauer ziehen
laſſen, verſteht ſich bei Burckhardt von ſelbſt. Ausdrücklich heißt es in den „Welt⸗
geſchichtlichen Betrachtungen“, der Rangſtreit zwiſchen Geſchichte und Poeſie
ſei endgültig geſchlichtet durch Schopenhauer: „Die Poeſie leiſtet mehr für die
Erkenntnis des Weſens der Menſchheit.“
Für Schopenhauer iſt der Dichter der allgemeine Menſch, der Spiegel der
Menſchheit, der wachend tun kann, was wir alle nur im Traum, der die ganze
Gattung, den Typus der menſchlichen Charaktere und Situationen in ſeinen
Bildern ausprägt, das „Weſen der Menſchheit“, und der durch die Bedeutſam⸗
keit der Situationen ſich vom wirklichen Leben unterſcheidet. „Die Poeſie ſoll
wahr ſein wie die Natur, wie das Leben ſelbſt; zugleich aber ſoll ſie die Ideen
90 Walther Rehm
rein hervortreten laſſen und dadurch zur ideellen Wahrheit werden, die ſich über
die Natur erhebt.“ Vor allem aber das Eine: „Poeſie ſoll nicht in Sentimentali⸗
tät verfallen, ſondern zur Reſignation erheben.“ Gerade das war es, was Burck⸗
hardt fühlte und nur anders ausdrückte, Poeſie ſolle tröſten und zur Selbſtüber⸗
windung, zur bejahenden Entſagung führen. Sie ſoll nicht „der Ausdruck
inneren Jammers ſein; ein Goldglanz der Verſöhnung muß ſchon über den
Dingen liegen, ehe fie behandelt werden dürfen“. Jenſeits aller Trivialität und
in höherem Verſtande ſollte der Dichter „das Beſte zu den Sachen reden“. Es iſt
begreiflich, daß Burckhardt in der Dichtung die peſſimiſtiſche Grübelei nicht leiden
konnte, ſie ätze die Poeſie fort und der dämoniſche Lenau ſei ſo zugrunde ge⸗
gangen. Melancholiſch kann ſie wohl ſein — aber er ſtellt bei Schiller feſt, er ſei
nie zerriſſen⸗intereſſant und mißhandele und höhne den Leſer nie, wie etwa
Byron mit ſeinen „unverſtandenen höllentiefen Weltverächtern“ und Victor
Hugo mit ſeinen unwahren Figuren. Man muß bedenken, daß in Burckhardts
Jugend die Poeſie der Zerriſſenheit auf ihrem Höhepunkt angelangt war 2).
Die Harmonie, die Anſicht des „Ganzen“ bei den Dingen, nicht das Zwieſpältige
fordert er. „Ich will ſchauen und ſuche das Harmoniſche.“ Der göttliche Zug in
Tizian beſtehe darin, heißt es im „Cicerone“, „daß er den Dingen und Menſchen
diejenige Harmonie des Daſeins anfühlt, welche in ihnen nach Anlage ihres
Weſens ſein ſollte oder noch getrübt und unkenntlich in ihnen lebt; was in der
Wirklichkeit zerfallen, zerſtreut, bedingt iſt, das ſtellt er als ganz, glückſelig und
frei dar. Die Kunſt hat dieſe Aufgabe wohl durchgängig“. In dieſer Harmonie
des reinen Seins und des Friedens liegen für Burckhardt nicht nur äfthetifche,
ſondern ebenſo ſtark auch ethiſche Werte, wie für Stifter. Hebbels Wort, nur wo
das Leben ſich breche, habe die Poeſie eine Aufgabe, das Problematiſche ſei ihr
Lebensodem, hätte Burckhardt nicht in deſſen das Problematiſche fordernden
Sinne verſtanden, ſondern höchſtens im anderen: dann, wenn das Leben ge⸗
brochen ſei, ſolle die Poeſie tröſten in dem Sinne Schopenhauers, daß ſie die
Probleme des Daſeins löſe und über ſie hinaus hebe und das wahre Weſen der
Dinge und des Lebens erfaſſe und kläre.
Den Maßſtab, den Burckhardt anlegte, war faft ein Hoff ſcher, idealiſtiſcher, er
verlangte die völlige Einheit von Form und Gehalt. Im „Konſtantin“ nennt er
als Aufgabe der Kunſt überhaupt, in jeder ihrer Geſtalten durch Hoheit der Form
von ſelber an alles Ewige und Unvergängliche zu rühren (4. Aufl. S. 291). Das
führte ihn, der von romaniſchem Geiſte ſtark beeinflußt war und zudem in me⸗
triſchen Dingen ein ſehr feines Ohr beſaß, wohl auch dazu, reine Formtalente
wie etwa Heyſe oder Geibel oder, in weiterem Abſtand, auch den klaſſiſch⸗idea⸗
liſchen Platen zu überſchätzen, an dem ihn übrigens, wie aus einem Jugend⸗
brief an Riggenbach zu ſehen iſt, auch etwas höchſt Perſönliches und Menſchliches
anzog: er fand hier ſeine „noch unentwickelten dumpfen Gefühle klar ausge⸗
ſprochen“ und darum verteidigte er ihn leidenſchaftlich.
5 H. Kindermann, Die literariſche Entfaltung des 19. Jahrhunderts, GR M. 1926 (14),
. 35 — 52.
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 91
Burckhardts meiſt ablehnende Stellung zur Dichtung ſeiner eigenen Zeit, zu
jenem Stil, den er ſelbſt bis zu einem gewiſſen Grade im Wiſſenſchaftlichen ver⸗
trat, iſt höͤchſt merkwürdig. Daß er in feinen Berliner Jahren namentlich Gutz⸗
kows Dramen ſchätzte, weil ſie das moderne Leben ſo gründlich deuteten, iſt ein
Jugendurteil, von dem er bald abrückte; Tendenz wollte er nicht in der Dichtung.
Daß er aber von der durchgängigen literariſchen Produktion beſonders nach
1870 nicht hoch dachte, ſoweit er ſie überhaupt kannte, erwartet man nicht anders.
„Den berühmten Lyrikern und Novelliſten des Tages geht er auch leſend aus
dem Wege, denn ſchon die goldflimmernden Einbände genieren ihn dabei.“ 9)
Früher als andere hatte Burckhardt nach dem Krieg das zunehmende Verſinken
in Gewerblichkeit beobachtet und mußte feſtſtellen, daß ſelbſt Dichtung zum „Ge⸗
ſchäft“ geworden war. Er glaubte zudem, daß die ſtaatlichen Umwälzungen die
Dichtung in ihrer Bedeutung zurückdrängen würden — in dem neuen Deutſch⸗
land könne kein Mörike mehr dichten —, und ſchrieb unter dem Eindruck des
Krieges ſchon Sylveſter 1870 an Preen, was jetzt noch von Dichtung weiterleben
würde, müſſe eine ſchöne Portion ewigen Gehaltes in ſich haben. „Und was
Dauerndes neu geſchaffen werden ſoll, das kann nur entſtehen durch eine ganz
übermächtige Anſtrengung der wahren Poeſie.“
Dem gegenüber könnte es an der Einſicht ſeines Kunſturteils irre machen, daß
er Heyſe — anſcheinend wenigſtens — ſo hoch ſchätzte; Burckhardt wäre damit
nur dem allgemeinen Zeiturteil verhaftet gewefen. Gewiß, es mochte für ihn
zunächſt die klaſſiſche Form und die Idealität der Erſcheinung das Anziehende,
aber auch Blendende ſein. Sieht man jedoch näher zu, lieſt man ſeinen Brief⸗
wechſel mit Heyſe, ſo ſcheint es doch, als ob auch Burckhardt genau wie zu
gleicher Zeit Gottfried Keller durch die überraſchende Schnellarbeit und Frucht⸗
barkeit dieſes Schriftſtellers ſtutzig geworden ſei; jedenfalls meidet er in ſeinen
Briefen das eigentlich Wichtige, und hält ſich nur noch an Äußerlichkeiten, an
das Hiſtoriſche, das ihm half, ſeine eigene Wiſſenſchaft zu erleben. Warum ihn
Heyſe beſchäftigte, war alſo nicht das Dichteriſche, ſondern der Stoff. Ein Wort
an Emma Brenner⸗Kron vom 6. Januar 1862 ſagt das ganz deutlich: er könne
ſich nur mit Mühe in die Schöpfungen ſeiner Zeitgenoſſen hineinfinden. „Sobald
etwas Gelehrtes, Vergangenes oder Längſtvergangenes dabei iſt, verſtehe ich und
genieße es weit leichter.“ Nicht als ob Burckhardt ſonſt nach dieſem Geſichts⸗
punkt, der ja die Ausſchaltung des wirklich Dichteriſchen bedeutet, in der Welt⸗
literatur geblättert hätte. Nur das unmittelbar zeitgenöſſiſche realiſtiſche Schrift⸗
tum mochte er ſo in Kauf nehmen.
Burckhardt hat Platen vielleicht doch überſchätzt, wenn er ihn einzig neben
Mörike von aller neuen Lyrik gelten laſſen wollte. Man dürfe keine ſchlechteren
Sonette mehr als er machen. Aber daß er Mörike und ſeine „für das Schöne
geborene Natur“ bei Zeiten erkannte — noch 1876 wundert er ſich über die ver⸗
hältnismäßige Nichtachtung des Dichters in der Schweiz —, daß er wie Keller und
Viſcher zu ſeiner kleinen Gemeinde zählte, zeigt wieder das feine Erahnen des
) P. Eppler, Vom Ethos bei J. Burckhardt, Zürich 1925, S. 8.
92 Walther Rehm
wahrhaften Genius und feiner „ſpezifiſchen Poeſie“, von der Viſcher bei Mörike
ſprach. Wie dieſen mochte auch ihm die ſeltſam ſchöne und ahnungsvolle Ein⸗
heit von Romantiſchem und Klaſſiſchem in Mörikes Dichtung wertvoll ſein.
Auch er mochte glücklich ſein, die Entfaltung zur Klaſſizität, das eigengeartet
Deutſch⸗Antike in Mörike immer klarer ſehen zu dürfen: das Gefühl der Zu⸗
ſtände, „die heitere Klarheit der Anſchauung wirklicher Dinge als äußeren Aus⸗
druck grundweſentlichen Wahrheits⸗ und Lebensgefühls“, wie es Viſcher dem
Freunde gegenüber ausdrückte. Das alles, auch das gemeinſame und bewußt ge⸗
fühlte Alemanniſche — „ſchwäbiſch“ nannte er ihn — war für Burckhardt genug,
in dieſem „wunderſamen“ Menſchen eine der „tröſtlichſten Erſcheinungen“ zu
ſehen. Der „wundervolle Dämmerſtil“ ſeiner Gedichte hatte es ihm angetan.
Ein alter Schüler berichtet von Burckhardts Gewohnheit, nach Tiſch ein Stünd⸗
chen zu leſen, etwa in Jahns Mozart oder — man beachte die Zuſammenſtellung
— in Mörikes Gedichten. Mit großer Wärme pflegte er von ihm zu ſprechen.
„Gewöhnliche Philiſter können ihn nicht genießen; um etwas von ihm zu haben
— und dabei wurden ihm die Augen feucht — muß man ſchon vieles erfahren
und gelitten haben.“
Hier in dieſer Schätzung Möͤrikes iſt ſehr deutlich zu ſpüren, wie für Burck⸗
hardt die Dichtung eben höchſt perfönliche Lebensdeutung, wie ſie zutiefſt Troſt
und dann Verkörperung des Idealen war. Wie bei Platen — „Weltgeheimnies iſt
die Schönheit“ — fand er auch bei Mörike, was ihn, der ſeine „Affinität mit dem
Schönen“ für immer fühlte, ganz beſonders anging: „Was aber ſchön iſt, ſelig
ſcheint es in ihm ſelbſt,“ und das ſtand in jenem Gedicht „Auf eine Lampe“, das
wie vielleicht kein anderes von antikem Gefühl durchformt war. Vom „Nolten“
erfährt man bei Burckhardt nichts; das iſt bezeichnend; überhaupt ſtand ihm Lyrik
höher als alles andere, aber da gerade mußte ihn freilich ſeine eigene Zeit, die be⸗
ſonders im Roman ihre großen Leiſtungen ſchuf, leer ausgehen laſſen. Und das
eben begründet auch ſeine Stellung. „Wohl gibt es Zeiten, ſagt Burckhardt im
Konſtantin (S. 278), in denen die Kunſt ſich etwas darauf einbildet, ihr Ziel
einſeitig im Charakteriſtiſchen ſtatt im Schönen zu ſuchen und jenes ſogar bis
ins Häßliche zu ſteigern, ohne daß die den Künſtler umgebende Welt daran
Schuld wäre.“ Burckhardt wäre ſofort bereit geweſen, in Anbetracht ſeines
„liebenswürdigen“ Jahrhunderts dieſen letzteren, mildernden Umſtand ſeinen
dichtenden Zeitgenoſſen zuzugeſtehen, aber nicht einem Rembrandt. Es iſt be⸗
kannt, daß er an dieſer nordiſchen Erſcheinung vorbeiging, und in einem Vor⸗
trag über Rembrandt wandte er ſich noch einmal gegen eine Kunſtauffaſſung,
die das einſeitig Charakteriſtiſche gegen das Idealſchöne, das Kunſtſchöne ſetzt.
Er ſpricht hier mit dem klaſſiſchen Goethe gegen den jungen, mit Winckelmann
gegen Leſſing. Kunſt ſollte eben weiter bringen als die Wirklichkeit, ſie ſoll ein
„erhöhtes Menſchenleben“, ein „objektives Idealbild“ des Lebens darſtellen.
Burckhardt verlangte „das große Bild der Welt, das jeder Dichter aus ſich heraus
zum Licht zu fördern habe“, er fand es abſchließend in der Göttlichen Komödie
und im Fauſt, er fand es auch bei Schiller und Grillparzer, im großen Drama der
Griechen oder bei Calderon und Corneille, aber er fand es nicht im Roman, alſo
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 93
nicht im dichteriſchen Ausdruck ſeiner eigenen Zeit. Roman aber war für Burck⸗
hardt gar nicht mehr Poeſie, ſondern nur noch „Literaturgattung“, die „eigent⸗
liche Form des Erſatzes, wenn es mit der volkstümlichen Lebenskraft des Epos
und des Dramas vorüber iſt“. (So erklärt er auch das Aufkommen des Romans
in der Spätantike.) Der Roman iſt für den Ariſtokraten eine durchaus demo⸗
kratiſche, faſt proletariſche Sache, iſt, wie es in den „Weltgeſchichtlichen Betrach⸗
tungen“ heißt, die einzige Form, „unter welcher die Poeſie derjenigen großen
Maſſe, die ſie zu Leſern wünſcht, noch nahe kommen kann: als breiteſtes Bild
des Lebens, mit beſtändiger Anknüpfung an die Wirklichkeit, alſo dem, was wir
Realismus nennen“. Mit dieſer grundſätzlichen, theoretiſch wie geſchichtlich ein⸗
geſtellten Ablehnung des Romans bleibt Burckhardt übrigens in ſeiner Zeit
nicht allein. Er trifft ſich hier mit Schopenhauer, in gewiſſem Sinn auch mit
Gervinus, aber ganz ausgeſprochen mit Grillparzer, mit dem ihn auch ſonſt in
ſeinen äſthetiſchen Anſchauungen vieles verband. Als Dramatiker ſchätzte er ihn
hoch und ſtellte ihn gleich neben Schiller, vor Goethe. Weihnachten 1872 hatte
er ſich die damals gerade erſchienene erſte Geſamtausgabe von Grillparzers Wer⸗
ken angeſchafft und ſchreibt nun Preen, er ſei mit Staunen inne geworden, wie
nützlich und fruchtbar eine ſolche Zurückgezogenheit für die Nachwelt werden
könne. Ahnlich liegen die Dinge ja heute auch für Burckhardt ſelbſt. Und wenn
nun Burckhardt im 9. Band, beſonders in den äſthetiſchen Studien blätterte, ſo
konnte er vieles finden, was ſeinem innerſten Empfinden entgegenkam und ihm
faſt die Worte von der Zunge nahm. Gleich auf der erſten Seite „Zur Afthetit
im Allgemeinen“ fand er die Gegenüberſtellung von der Welt des Wirklichen
und des Kunſtſchönen und dann las er: „Schön iſt, was durch die Vollkommen⸗
heit in ſeiner Art die Idee der Vollkommenheit im Allgemeinen erweckt. Schön⸗
heit iſt die vollkommene Übereinſtimmung des Sinnlichen mit dem Geiſtigen.““)
Und dann weiter: „Die Kunſt ſoll eine, wenn auch höhere Welt mit Weſen ſein,
ein erhöhtes Wachen mit glänzenden Geſtalten; nicht ein Schlaf voll Träume“
(S. 74). Im Abſchnitt „Von der Poeſie im Allgemeinen“ aber ſteht dann der
ungemein wichtige Satz: „Die Poeſie iſt die Aufhebung der Beſchränkungen des
Lebens“ (S. 101), und hier ſpricht ſich dann Grillparzer gerade über Art und
Weſen der Zeitdichtung aus und ſtellt allgemein feſt, das Problem ſei der Zug
der Gegenwart zur Proſa, jener Proſa, die es eben nicht über die Natur hinaus⸗
bringe; aber eben das, und auch nur das, ſei Poeſie (S. 99). „Die Gegenwart iſt
nie poetiſch, weil fie dem Bedürfniſſe dient, das Bedürfnis aber iſt die Profa ...
Die Proſa der neueren Zeit beſteht beſonders darin, daß ſie das Symboliſche der
poetiſchen Wahrheit nicht anerkennen will und nichts zuläßt, was nicht eine
Realität iſt“ (S. 103 ff.). Poeſie, die göttlich iſt, ſei zu etwas Menſchlichem ge⸗
macht; aber „fie iſt nicht die Proſa mit einer Steigerung, ſondern das Gegenteil
der Proſa“ (S. 107), und das Grundübel der Poeſie, vor allem der lyriſchen, ſei
eben, daß ſie zur Proſa hinneige. Das alles mußte Burckhardt aus dem Herzen
geſprochen fein, vor allem aber dies, wenn Grillparzer nun aus ſolchen Feſt⸗
4) S. W. (2. Aufl. 1874, die als Titelauflage mit der Ausgabe von 1872 übereinſtimmt) Bd. 9,
S. 63, 65. S. 81 (Charakter des Schönen unwandelbar).
94 Walther Rehm
ſtellungen heraus den Roman nur „höchſtens halbe Poeſie“ nennt und unter⸗
ſcheidet: „Die Novelle iſt das erſte Hinabſteigen der Poeſie zur Proſa, der Ro⸗
man das Hinaufſteigen der Proſa zur Poeſie“. Schopenhauer äußerte ſich wo⸗
moglich noch abfälliger und Viſcher, der den Roman in feiner Aſthetik zwar einen
feſten und berechtigten Platz angewieſen hatte, nannte ihn doch ein mangelhaftes
Gefäß für den Geiſt der modernen Dichtung, er ſtehe, wie ſchon ſeine proſaiſche
Sprachform zu erkennen gebe, bedenklich an der Grenze des ſinnlich oder geiſtig
Stoffartigen 5). Aber Burckhardt geht noch weiter und ſchreibt ſehr ſcharf an
Preen: „Bei mir ſind Roman und Poeſie noch zwei völlig geſchiedene Gat⸗
tungen.“ Dieſe Ablehnung des Romans bedeutet eine ſolche der Zeitdichtung.
Wieder kann man — und das iſt bedeutſam — eine Stelle aus Grillparzer an⸗
führen, die freilich erſt den ſpäteren Auflagen eingeordnet wurde: „Charakter
der neueſten deutſchen Poeſie: das Phantaſieloſe und das Gemachte ... Die
Deutſchen haben die Poeſie mit der ganzen Proſa angeſtückelt und freuen ſich ſehr
über die Erweiterung des Gebietes.“ ) Er ſtellt (das konnte Burckhardt nun
wieder leſen) das Streben nach Realität feſt und mag dies nicht tadeln, „aber
die Kunſt muß darüber auf einige Zeit verſchwinden und ich beklage daher bloß
die Künſtler. Jene aber, die das nicht einſehen und, indem ſie dem Anpochen der
Zeit nachtönen, glauben, Kunſtwerke hervorgebracht zu haben, und zwar um ſo
mehr Kunſtwerke, je mehr ſie von der geglaubten Realität in ſich haben: die ſind
mir als Künſtler lächerlich“ (S. 185).
Aber nicht auf die Realität kam es Burckhardt in der Poeſie (und auch in der
Geſchichte) an, ſondern auf den ſymboliſchen Gehalt, auf das Ideale, Typiſche,
Ewige. Dagegen: „Im Roman, wenn ich zur Seltenheit mich damit einlaſſe,
verlange ich Realismus, und zwar unerbittlichen und kann ihn auch vertragen,
da ich wenig davon zu mir nehme. In der Poeſie verlange ich die ideale Er⸗
gänzung.“ Burckhardt ſchätzte etwa Immermanns „Münchhauſen“ — ſeinen
„Triſtan“ nannte er das bedeutendſte erzählende Gedicht und den „Merlin“ die
wichtigſte und unabhängigſte Parallele zum Fauſt —, wahrſcheinlich hat ihn
hier die noch verhältnismäßig körnige und naive Welt und die Darſtellung des
Volkes „in ſeinem ehrwürdigen hiſtoriſchen Roſt“ angezogen, und ähnliche
Gründe mögen ihn zu Grimmelshauſens „Simpliciſſimus“ geführt haben, wo
er unerbittlichen Realismus findet, aber doch auch über das Kulturhiſtoriſche
hinaus den Bezug zum Weltganzen. Er erkennt hier — gerade im Kriegsjahr
1870, das iſt bezeichnend — „das Fortleben der edlen Menſchennatur unter den
greulichſten Umſtänden“ als das eigentliche Thema und als das „Tröſtliche“.
Dieſer Realismus war geiſtigerer, idealerer Art als der ſeiner Zeit, keine ſpie⸗
ßige Verklärung der Alltäglichkeit, und er ahnte hier wohl als einer der Erſten
unter dem Schutt des Zufälligen das Symboliſche, Ewige und das objektive
Idealbild der Welt, das er vom Dichter forderte, ſo wie er es im „Wilhelm
5) Grillparzer, Bd. 9, S. 107, 12. — Viſcher, Aſthetik 879 ff. — M. Rychner, Gervinus, Bern
1922, S. 26.
6) Studien zur Literatur, hrsg. von F. Stein, Wien 1924, S. 30. — Zu dieſem Zuſammenhang
nun H. Kindermann, Romantik und Realismus, D. V. 4 (1926) S. 651 - 675, bei. S. 662 ff.
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 95
Meiſter“ ſah, den man wenigſtens einmal geleſen haben müſſe, um ſich „eine
Raiſon darüber“ gemacht zu haben. Aber ſchließlich war das alles doch nur bes
dingte Anerkennung in dem Sinne Grillparzers, für den der Roman höchſtens
das Hinaufſteigen der Proſa zur Poeſie war. Burckhardt ſtellte aber ſchon früh,
1841, dieſen Einbruch der Proſa in das Bereich der Dichtung feſt und ſchalt auf
jenes „verwünſchte Novellenjahrzehnt“, welches auf Scott gefolgt ſei und das
Publikum gründlich verdorben habe — für die wahre edle hohe Poeſie.
Die „ideale Ergänzung“ fand Burckhardt auch nicht bei ſeinem Landsmann
Konrad Ferdinand Meyer, der gerade ihm das Grundlegende ſeines Geſchichts⸗
bildes verdankt; er ſoll ihn nur flüchtig angeleſen haben, vielleicht war ihm
darin wie Keller zuviel „Brokat“, vielleicht war es auch ſeine Abneigung gegen
den hiſtoriſchen Roman, „den ſo viele Leute für Geſchichte leſen, die nur ein
wenig arrangiert, aber im Weſentlichen wahr ſei“ und der den Leſern „auf den
Leib zugeſchnitten“ iſt. Daß ihm Viſchers „Auch Einer“ in der Schätzung des
Romans als einer geſchloſſenen künſtleriſchen Gattung nicht gerade ſtärkte,
nimmt nicht Wunder; ob er das Tiefpoetiſche namentlich des zweiten Teils, ja
das Tragiſche hier empfunden hat, bleibt zweifelhaft. Faſt muß man annehmen,
daß die barocke, eigenwillige Art des ehemaligen Züricher Kollegen ihn auch hier
befremdet. Wenigſtens deutet eine Bemerkung in einem Brief an Preen vom
10. Dezember 1878 das an, er wiſſe nicht, ob gewiſſe ſehr zivil iſierte, weltmän⸗
niſch gewordene Schwaben dem Autor dieſe Verklärung gewiſſer Eigenarten
der genialen Individuen des Stammes ſonderlich danken würden. Dieſer Rea⸗
lismus, der den Alltag zu idealiſieren unternahm, war für ihn keine Dichtung.
Das war ermüdende Nahſicht, die durch den engen Umkreis etwa bei Otto Ludwig
oder bei der auch Burckhardt unangenehmen Hochflut der Dorfgeſchichten noch
erhöht wurde; ſolch „poetiſcher Realismus“, der nach Otto Ludwigs Worten
eine Welt ſchafft, in der der Zuſammenhang ſichtbarer iſt als in der wirklichen,
das heißt für Burckhardt, in der die Miſere des Lebens noch verdeutlicht wird,
ſtößt bei ihm auf entſchiedenſten Widerſpruch. Er ſpricht von jener jetzt beliebten
Proletarierpoeſie, womit einige unſerer großen Geiſter hauſieren gehen. Hier
begegnet er dem Gleichen, das er ſchon früher, wie Sandrart übrigens, an Rem⸗
brandt feſtgeſtellt hat, das Häßliche, das Pöbelhafte — immer wieder kehrt dieſer
Ausdruck in dem Rembrandt⸗Vortrag. Auch in der Dichtung fehlt „das Gefühl
für die Grenzen des Empörenden“.
Das allgemein Menſchliche in idealen Verkörperungen ſah Burckhardt in der
attiſchen Tragödie etwa, von der er hervorhebt, daß ſie das Menſchliche, nur in
typiſchen, nicht in wirklichkeitsgemäßen Geſtalten darſtelle; das chineſiſche
Drama aber gehe nicht über den bürgerlichen Realismus hinaus und darin ſieht
er die Beſchränkung, das Enge und bloß Zeitliche, von der die Poeſie eben er⸗
löͤſen ſoll. „Jedes Streben, ſagt Grillparzer, iſt proſaiſch, das einer Realität
nachgeht.“ Man meint, daß ſelbſt gegen Keller dieſer Vorwurf von Burck⸗
hardt hätte erhoben werden können. Von dieſem ſeinem zeitweiligen Züricher
Mitbürger und Stammtiſchgenoſſen, der die „Kultur der Renaiſſance“ bewun⸗
derte, hört man bei Burckhardt faſt nichts; er ſoll ihn nicht ohne Behagen ge⸗
macht hat, ift nicht dem dichteriſchen Wert, ſondern wohl dem Inhalt zuzu⸗
ſchreiben. Und doch hatte er mit ihm außer dem Alemanniſchen mehr als eine
Berührungsfläche. Was Keller einmal im Alter, 1881, ſchrieb, weiſt auf das
gemeinſame Grundgefühl, aus dem das Dichteriſche hier und dort das Wiſſen⸗
ſchaftliche entſprang: „Mehr oder weniger traurig find am Ende alle, die über
die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und ſind; aber wer wollte am Ende
ohne dieſe ſtille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt?“ Burck⸗
hardts Wort von der Selbſtüberwindung und dem „otium divinum“ hat den
gleichen dunklen Ton. „Der Menſchheit Würde“ — auch Keller ſah ſie im
Dichter, der für ihn nichts anderes war als der „eigentliche Menſch“. Im Anfang
des 3. Teils vom „Grünen Heinrich“, der die Überſchrift trägt „Arbeit und Bes
ſchaulichkeit“ und der aus der erſten Faſſung unverändert übernommen worden
iſt, hat Burckhardt ſicher viel ihn innerlich Bewegendes gefunden, abgeſehen
davon, daß auch hier einer aus der „Verwandtſchaft Goethes“ ſprach, der ſich
noch wie Burckhardt der Nachricht erinnert, der große Goethe ſei geſtorben und
dem nun die Leſung der ſämtlichen Werke eine innere Umwälzung feiner Welt⸗
und Kunſtanſicht herbeiführt. Hier gibt Keller ſein dichteriſches Glaubens⸗
bekenntnis. Burckhardt mußte zuſtimmen, daß erſt der Seher das ganze Leben
des Geſehenen ſei, weil der Künſtler — man erinnert ſich an Schopenhauer —
das Weſentliche gleich ſieht und es mit Fülle darzuſtellen weiß, es ſchauen
machen kann. Und dann das andere: die Welt ſei innerlich ruhig und ſtill und
ſo muß es auch der Mann ſein, der ſie verſtehen will und als ein wirkender Teil
von ihr ſie widerſpiegeln will. „Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verſcheucht
es; Gott hält ſich mäuschenſtill, darum bewegt ſich die Welt um ihn. Für den
künſtleriſchen Menſchen nun wäre dies ſo anzuwenden, daß er ſich eher leidend
und zuſehend verhalte und die Dinge an ſich vorüberziehen laſſen, als ihnen nach⸗
jagen ſoll.“ Man denkt hier an die erhabenen Worte Burckhardts am Schluß
der „Weltgeſchichtlichen Betrachtungen“, an den Wunſch der völligen Aufhebung
der Individualität, um in idealer Schauluſt dem Geiſte der Menſchheit er⸗
kennend nachzugehen. Das Schauenmachen des Weſentlichen iſt nun die Auf⸗
gabe des Dichters und auch des Hiſtorikers, nur in verſchiedenen Schichten;
aber der Dichter muß darüber hinausgehen, muß auch das höhere Leben, welches
ohne die Kunſt nicht vorhanden wäre, aufweiſen. Doch gerade angeſichts dieſer
letzten Forderung war für den gegenwartsflüchtigen Burckhardt — fo muß man
vermuten — ſelbſt bei Keller nur zu oft die Verklärung des Alltäglichen und Un⸗
weſentlichen am Leben, die „Deutung dieſes Lebens mit all feinen Beſchrän⸗
kungen und all ſeinen Konſequenzen“ ſtatt die „Aufhebung der Beſchränkungen
des Lebens“ 7). Mochte dieſe Deutung und Verklärung des Lebens bei Keller
einen faſt metaphyſiſch⸗religiöſen Untergrund haben, folchem allumfaſſenden
Realismus und ſolcher Schauluſt in der Dichtung ſtand Burckhardt ablehnend
gegenüber und es liegt ihm entgegen, was Keller zum Beiſpiel an Auerbach
7) Kindermann a. a. O. S. 670.
zu verklären, ſondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft ſoweit zu vers
ſtärken und zu verſchönern, daß die Leute noch glauben können, ja, ſo ſeien ſie
und ſo gehe es zu. Das aber war Proſa in der Anſchauung Burckhardts.
Aber nun iſt doch Burckhardt ſelbſt im Wiſſenſchaftlichen und Geiſtesgeſchicht⸗
lichen Vertreter und Meiſter des hiſtoriſchen Realismus in der Nachfolge der
hiftorifchen Schule über die Romantik und über die Spekulation Hegels hinweg,
freilich mit einem philoſophiſchen, kontemplativen Zug ). Schauen wollte er
die Welt: „Wo ich nicht von der Anſchauung ausgehen kann, da leiſte ich nichts“,
bekannte Burckhardt ſchon 1842 als junger Student; fein Geſchichtsſtudium
und die Beſchäftigung mit der Kunſt ſeien „aus einem enormen Durſt nach An⸗
ſchauung“ hervorgegangen, und dieſes Bedürfnis hat ſich dann ſpäter zu jener
Sehnſucht nach kontemplativer Erkenntnis erhöht. Aber nun iſt es das Seltene,
daß Burckhardt auch ſchauen machen konnte, und wie er das tut, darin zeigt ſich
ſein dichteriſches Vermögen. Das ganze breite bunte Leben in aller Gegenſtänd⸗
lichkeit und Fülle, das Wirkliche und Lebendige in voll gedrängter Anſchaulich⸗
keit ſtrebt er an, fo daß auch nicht eine lebloſe Stelle in feinem Werke zu finden
ſein wird. Aber Sinnliches und Geiſtiges ſind bei ihm nun in edelſter Form
verbunden, der Sinn für das Beſondere zugleich mit dem für das Allgemeine,
und gerade auch für ihn gilt, was Viſcher von den Alemannen ſagt, fie zeigten,
was ein unlöslicher Widerſpruch zu ſein ſcheine, Reflexion in der Form der
Naivität, Geiſtigkeit in der Form des Bildes, in der Anſchauung, ſubſtantielles,
gedrungenes Weſen verbunden mit dem Moment der tieferen Reflexion, der
Freiheit von Autoritäten, der Kritik, der Innerlichkeit. Ein Bild mußte es
ſein, ein Bild aus ſeinem Innern mußte Burckhardt zu Papier bringen, und da
er das Bild will, die Geſtalt, das Seiende, nicht das Entſtehende und Werdende,
das Nebeneinander, den Querſchnitt, nicht das Nacheinander, den Längsſchnitt,
ſo muß er natürlich auch die Gegenwart, die kein Bild gibt, verneinen, da ſie
unfertig und unabgeſchloſſen als ein Formloſes daliegt und noch nicht die Form
hat, die er ſucht. Daher eben dann die Liebe zum Vergangenen und ſchon Ge⸗
formten, das ihm das Bild und die Möglichkeit literariſch⸗künſtleriſcher Bild⸗
geſtaltung gibt. Dieſe geiſtige Haltung läßt ſich durch einen Satz des hier
weſensverwandten Grillparzer verdeutlichen: „Den Bedürfniſſen der Gegen⸗
wart klebt immer etwas Proſaiſches an, nur die Erinnerung iſt poetiſch
warum nimmt denn die Wahrheit Geſtalt? Weil alle Kunſt auf Geſtaltung,
Formgebung, Bildung beruht und die nackte Wahrheit (im Gegenſatz zur poe⸗
tiſchen, ſymboliſchen Wahrheit) ihr Reich ohnehin in der — Proſa hat.“ Und
nun iſt es das Dichteriſche bei Burckhardts Geſchichtsauffaſſung, daß er nicht
allein bei der Darſtellung des Wirklichen und Weſentlichen ſtehen bleibt, ſon⸗
dern fortſchreitet zur idealen Darſtellung, indem er die tiefere ſymboliſche Wahr:
heit ſucht und am Beſonderen der geſchichtlichen Erſcheinungen zugleich das
Allgemeine und Bedeutende, das Ewige fühlt und geſtaltet. Dieſe ideal⸗ſymbo⸗
8) Vgl. E. Rothacker, Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften, Tübingen 1920.
Suphorion XXVIII. 7
98 Walther Rehm
liſche Auffaſſung, die ſich über die Realität erhebt und die er ſelbſt von der
Dichtung verlangt, überträgt er auf die Geſchichte: Der Geiſt hat die Kraft,
„jedes Zeitliche ideal aufzufaſſen“, d. h. eben als Sinnbild eines größeren und
höheren Zuſammenhangs, es iſt die Kraft, „etwas erſehntes Ideales, nämlich
nicht die wirkliche Vergangenheit, ſondern ihr verklärtes Gedächtnisbild her⸗
zuſtellen“ 9. Das Bild des je zuweilen Ewigen will Burckhardt auch in der
Geſchichte ſuchen. „Wir lernen hier die ewigen Griechen kennen.“ Und in den
„Weltgeſchichtlichen Betrachtungen“ ſagt er zu Beginn, er ſuche das ſich Wieder⸗
holende, Konſtante, Typiſche als ein in uns Anklingendes und Verſtändliches,
d. h. das Unvergängliche im Vergänglichen, den „Geiſtesinhalt“, nicht den „Real⸗
inhalt“. „Er will die Geſtalt kennen in ihrem poetiſchen, dem idealen Gehalt,
doch nicht ihre reale Entſtehung; er will das Bild, aber er will nicht hinter die
Kuliſſen und in die Werkſtatt ſchauen.“ 0) Burckhardt braucht die Realität als
Zeugnis des Symboliſchen, aber das Symboliſche iſt ihm das Wichtige und mit
Grillparzer könnte er gegen die Dichtung ſeiner Gegenwart ſagen, die Proſa
der neueren Zeit beſtehe beſonders darin, daß ſie das Symboliſche der
poetiſchen Wahrheit nicht anerkennen wolle und nichts zulaſſe, was nicht eine
Realität ſei. Den Symbolwert der Dinge empfand Burckhardt ſehr ſtark.
Jede begriffliche Spekulation lag Burckhardt gänzlich fern und er hat auch nie
einen Hehl daraus gemacht. Er ſchreibt 1879 an Nietzſche, in den Tempel des
eigentlichen Denkens ſei er nie eingedrungen, ſondern er habe ſich zeitlebens in
Hof und Hallen des Peribolos ergötzt, wo das Bildliche im weiteſten Sinne
des Wortes regiere. Aber in einem tieferen, gegenzeitlichen Sinne iſt Burckhardt
als kontemplative Natur ſicher Philoſoph, Geſchichtsphiloſoph — das hat Joèél
eindringlich dargetan; doch da für ihn und beſonders für ſeine ganze Frühzeit
noch Hegel als der Philoſoph galt und er ſich nicht zu ihm bekannte, glaubte er
ſich, wie auch viele andere, zeitlebens unphiloſophiſch und wollte kein Geſchichts⸗
philoſoph im Hegelſchen Sinne ſein; auch darin fand er ſich, um dieſe Parallele
wieder zu ziehen, mit Grillparzer einig 11). Ebenſo lehnt Burckhardt jede Aſthetik
im Hegelſchen Sinne ab, wie überhaupt jedes äſthetiſches Syſtem — von einem
ſolchen bei Burckhardt zu ſprechen, wäre widerſinnig, ja Verkennung ſeiner
ganzen Art. Kunſtphiloſophie, wie ſie Schnaaſe und Hotho unter dem Einfluß
Hegels oder ſelbſt noch Hettner in ſeiner ſehr konſtruktiven „Vorſchule zur bilden⸗
den Kunſt der Alten“ (1846) trieben, lag ihm gänzlich fern 12). Wenn die
Kunſt der Aſthetik in die Hände falle, ſei es aus mit ihr. Aber freilich trennte
ihn auf der anderen Seite eine Welt von der amuſiſchen Natur des ihm auch als
9) Weltgeſchichtliche Betrachtungen, 4. Aufl. 1921, S. 110 und S. 8.
10) K. Joèl, Burckhardt als Geſchichtsphiloſoph, Baſel 1910, S. 93.
11) Beifällig wird er Grillparzers Äußerung geleſen haben: „Ich möchte die Philoſophie eine
Brille für das geiſtige Auge nennen. Perſonen von ſchwachem Geſichte können ſich ihrer mit gutem
Erfolg bedienen. Für ganz Geſunde und für ganz Blinde iſt ſie ganz überflüſſig. Man hat ſogar
Fälle, daß erſteren durch unvorſichtigen Gebrauch dieſer Brille das Augenlicht etwas geſchwächt
wurde.“ (Bd. 8, S. 349.)
12) S. W. Waetzold, Deutſche Kunſthiſtoriker, Bd. 2 (Leipzig 1924) S. 47 ff. und E. Heidrich,
Beiträge zur Geſchichte u. Methode der Kunſtgeſchichte, Baſel 1917, S. 50 ff. — Auch E. A.
Boucke, Aufklärung, Klaffit und Romantik, Braunſchweig 1925, S. 14 ff.
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 99
Hiſtoriker unangenehmen Gervinus, der eine fünfbändige Geſchichte der deut⸗
ſchen Dichtung ſchrieb und immer wieder betonte, die äſthetiſche Wertung gehe
ihn nichts an, und der da glaubte, man könne Dichtung abſtellen, „wie einen
Waſſerhahn“ 13). In dieſer Abneigung trifft ſich Burckhardt mit Grillparzer
und er wird deſſen ſchneidend ſcharfe Ablehnung von Gervinus' Werk mit
großem Behagen geleſen haben. Denn wenn ihm auch ſchon die Dichtung der
Gegenwart nicht ſehr wertvoll war, ſo war er doch viel zu ſehr von dem tiefen
Glauben an die Notwendigkeit und Ewigkeit der Kunſt durchdrungen, als daß er
an ihrer Stelle gar noch politiſche Betätigung gefordert hätte. Burckhardt beſaß
feine beſtimmten allgemeinen äſthetiſchen Wertbegriffe, ſondern ganz perſönliche,
ſubjektive, für den eigenen Gebrauch. Im Gegenſatz auch zu ſeinem früheren
Züricher Kollegen Viſcher, der damals hinter ſeiner „nußknackeriſchen“ Aſthetik
ſtöhnte, lehnte Burckhardt jede begriffliche Erfaſſung und Ergründung der Kunſt,
jede philoſophiſche Durchdringung ihres Weſens ab. „Du ſollſt das Verhältnis
zwiſchen Dir und der Kunſt nicht ergründen.“ Zwar er ſelbſt ſuchte zeitlebens
dem tiefſten „Weſen“ der Kunſt näherzukommen, aber nicht durch Begriff, ſon⸗
dern durch Anſchauung; zunächſt fand er ihr Weſen in einem „l’art pour l'art“.
Das entſprach zudem völlig ſeiner hochgeiſtigen, ariſtokratiſchen Natur. Alles
Hiſtoriſche kam erſt in zweiter Linie, zuerſt wollte er das Kunſtwerk, das dichte⸗
riſche wie das bildneriſche, rein als Dokument des Künſtleriſchen, losgelöſt von
allen außerkünſtleriſchen Beziehungen, nicht als geſchichtliches Zeugnis an⸗
ſchauen und fühlen 1“). So kümmert ſich Burckhardt auch nicht mehr als un⸗
bedingt nötig um den Urſprung der Kunſt, denn hier war wieder das Werden
und Fließen und er verlangte die Geſtalt, das Bild. Er hielt ſich, darin durchaus
Empiriſt, an das Gegebene, Vorhandene, Anſchaubare, an das „Reale“ im
tiefſten Sinn des Wortes, aber er hatte Ehrfurcht vor den „Dingen“ wie Stifter,
eben weil er in ihnen das „Höhere“ ahnte, den „göttlichen ewigen Gehalt“, von
deſſen Erkenntnis fein Baſler Mitbürger J. J. Bachofen in feiner wunder⸗
vollen Selbſtbiographie mit faft religiöfer Inbrunſt ſpricht. Die beiden verband
bei allen Schwankungen der äußeren Beziehungen und bei aller Verſchiedenheit
des Ganzen doch in beträchtlichen Punkten ein inneres, ihnen wohl gar nicht ſo
bewußtes Gemeinſchaftsgefühl, eine „edle Eintracht“ nicht nur oft in der all⸗
gemeinen Lebensſtimmung, ſondern auch in manchen hiſtoriſch⸗methodiſchen
Grundſätzen.
Das Gemeinſame und Trennende wägt ab C. A. Bernoulli, Bachofen
und das Naturſymbol, Baſel 1924, S. 27 f., 60—62, 399 — 403, 571, 631 f.;
665 die köſtliche Anekdote, die Wölfflin berichtet. S. 578: Wertung des Sym⸗
boliſchen, Ruf nach dem Schutz der antiken Symbolwelt. S. 61: „Die Neigung
zur Kritik und zur Auflöſung alles Mythiſchen beklagte Burckhardt gleich Bach⸗
ofen im Wiſſensbetrieb ihrer Zeit.“ Vor allem verbindet die beiden die „ketze⸗
riſche“ Stellung zur Quellenkritik und die unbefangene Art der Quellen⸗
13) Rychner a. a. O. S. 85; ebd. S. 14, 81. — Grillparzers Kritik Bd. 9, S. 174 ff.; auch
S. 170; dazu Rychner S. 132 ff.
14) Dazu Heidrich a. a. O. S. 72.
100 Walther Rehm
benutzung; ſie ſuchen, gegen die „naturforſchende Methode“, das Typiſche, Sym⸗
boliſche, Mythiſche, den „Geiſtesinhalt“, den inneren Wahrheitswert in den
Zeugniſſen, und darum iſt ihnen gerade auch eine getrübte Überlieferung wich⸗
tig. Man ſehe Burckhardts Einleitung zur Griechiſchen Kulturgeſchichte (I.
S. 1 ff.) und Bachofens Vorrede zu „Tanaquil“, abgedruckt in der Ausgabe von
Bäumler und Schröter (Mythus vom Orient und Occident, München 1926,
beſ. S. 542, 576, 577 ff., auch S. 7). Dazu die Einleitung von Bäumler
S. 259 ff. Bei den S. 156, 157, 164, 186, 196 dieſer Einleitung mag man
an Burckhardt denken; vgl. auch ebd. S. 286.
Die unbedingte Autonomie aller Kunſt ſtand für Burckhardt unerſchütterlich
feſt; gegen Schillers „Künſtler“ erhob er Einſpruch: „denn die Kunſt iſt im
hohen Grade um ihrer ſelbſt willen vorhanden“. (Was die ethiſche Wertung
und den ethiſchen Einſchlag in feinem Urteil, das nicht nur ein äſthetiſches war,
keineswegs ausſchloß.) Am ſichtbarſten ſah Burckhardt das in der Antike be⸗
ſtätigt und er empfand es dann als ſtaͤrkſte Negation dieſer antiken Welt⸗
anſchauung, wenn er etwa in der ſpäteren Kaiſerzeit als ihr Geſamtſchickſal
buchen mußte, ſie ſei Dienerin der Tendenz geworden und könne ihren inneren
Geſetzen ſo gut wie nicht mehr nachleben. Das war Feſſelung und Gebunden⸗
heit und es wurde ihm klar, „daß mit der Schönheit und mit der Freiheit auch
das wahre antike Leben, der beſſere Teil des nationalen Genius dahinging“.
Durch dieſe Heraushebung des Moments der Freiheit als der bedingenden
Grundlage griechiſcher Hochkunſt gibt Burckhardt deutlich zu erkennen, daß er
neben Winckelmann und Goethe, auch neben dem (ihm wohl unbekannten)
Rubensentdecker Heinſe und neben Hölderlin ſteht. „Die Freiheit aber iſt die
vornehmſte Urſache des Vorzugs dieſer Kunſt“, ſagt in ſeiner Kunſtgeſchichte
Winckelmann (mit dieſem verbindet Burckhardt auch das ſtark ausgeprägte Un⸗
abhängigkeits⸗ und Freiheitsbedürfnis). Heidrich bemerkt mit Bezug auf das
Dogma der unbedingten Klaſſizität auch bei Burckhardt, es ſei der ſehnſüchtige
Ton Winckelmanns, der in ſeiner Geſchichtsanſchauung anklinge. Immer ſind
es die Griechen — das gilt in gewiſſem, erweitertem Sinn auch für Burckhardt;
denn hier wie in der Renaiſſance fand er gleich Nietzſche, daß Künſtlerſchaft in
der Gabe beſtehe, den höheren Typus zu ſchaffen 15). Dabei bleibt Burckhardt
doch jede Enge des Geſichtsfeldes auch in der Dichtung fern. Seine Erudition iſt
umfaſſend: er kennt ſich im Homer ebenſogut aus wie in der Edda, in den
griechiſchen Tragikern ebenſo wie im Shakeſpeare, im Arioſt wie im Firduſi,
und vollends ein Blick in das Verzeichnis ſeiner über 200 Themen umfaſſenden
Vorträge zeigt feine erſtaunliche Weite; er hat über Calderon, Camoͤns, Rabe⸗
lais, Corneille, Manzoni, Byron, über den Don Quixote und über die ſer⸗
biſchen Heldenlieder geſprochen neben all den Themen aus Geſchichte, Kultur⸗
geſchichte und Kunſtgeſchichte 16). Mit überlegener Meiſterſchaft, ohne Prunk,
15) Ch. Andler, Nietzſche und Burckhardt, Baſel 1926, S. 141.
16) E. Dürr, Burckhardts Vorträge, Baſel 1919, S. 383 ff. — Vgl. A. v. Salis, Ball.
Jahrbuch 1918, S. 282 und die literarhiſtoriſchen Abſchnitte im „Konſtantin“ (4. Aufl.) S. 207 ff.,
in der „Kultur d. Ren.“ (13. Aufl.) S. 226 ff. (4. Kap. d. 4. Abſchn.), im ganzen 3 Bde. der Griech.
Jacob Burckhardt und das Dicht eriſche 101
fast ſelbſwerſtändlich werden die Vergleiche gezogen und die Beiſpiele anein⸗
andergereiht. Es herrſcht eine wahrhafte Totalität des Geiſtigen, die keine
Grenzen kannte. Es waren weltliterariſche Horizonte und Burckhardt erhob ſich
als ein Erbe der Romantik wie A. W. Schlegel auf einen wirklich europäiſchen
Standpunkt; er hatte „für poetiſche Größe den wahren Maßſtab gewonnen, und
zwar einen ökumeniſchen“.
Burckhardt faßte wie die Romantik Poeſie als Außerung nationaler Macht
und Kraft, als Zeichen eines hohen Volksgeiſtes, aber dann darüber hinaus
ſchlechthin als Ausdruck eines erhöhten Lebens. „Die Poeſie iſt für die geſchicht⸗
liche Betrachtung das Bild des jezuweilen Ewigen“, ſie iſt „in ihrer Geſamtheit
die größte zuſammenhängende Offenbarung über den inneren Menſchen über⸗
haupt“. Sie iſt Lebensdeutung. Wenn Burckhardt hier die geſchichtlichen Zu⸗
ſammenhänge ſich vergegenwärtigte, fo war das nicht Selbſtzweck, ſondern diente
nur der tieferen Einſicht in den Gehalt an Ewigem und Zeitloſem, der ſich auf
dem Hintergrund des Zeitlichen nur ſchärfer abhob. Unbeſchadet ihrer Selbſt⸗
ſetzung und ihrer hohen und unabhängigen Eigentümlichkeit ſucht er die Kunſt
in ihrer Auseinanderſetzung mit Kultur, Staat, Religion zu begreifen. Was
Stifter etwa immer und immer wieder mit ſtark frommem Gemüt hervorhob, die
enge Einheit von Religion und Kunſt als dem Ausdruck des Göttlichen im
Gewande des Reizes nicht nur früher, wo die Dichtung im eigentlichen Dienſt
der Religion ſtand, ſondern als Forderung auch noch heute, — das findet man
mit Verſchiebung des Wertakzentes auch bei Burckhardt. Er ſah die Kunſt in
den religiöfen, monumentalen, naiven Zeiten in einem höchſten und früheſten
Dienſt bei der Religion als ihr Organ (Hymnus, Drama, Mythos), freilich in
einem Verhältnis der Freiheit, welches die wahre Kunſt ſich behauptet, nicht wie
in Agypten oder ſpäter in Byzanz, wo die Prieſter die bildliche Auffaſſung des
Göttlichen und Heiligen ſich erzwangen und durch gewaltſame hieratiſche Still⸗
legung den Lebensnerv abbanden; indem nämlich das einmal mit höchſter An⸗
ſtrengung Erreichte als heilig galt und fo die höchſte Außerung des Monumen⸗
talen erzielt war. Die wahre Kunſt aber iſt eine ſolche, „die mit allem auf
Erden nur temporäre Bündniſſe ſchließt“. Letztlich geben überhaupt freilich
Religion und Kultus den Anſtoß zur Kunſt, aber umgekehrt iſt die Kunſt keine
Grundkraft der Religionen, weder vorher noch nachher, wenn auch allerdings
Kunſt und Poeſie in hohem Grade zum Ausdruck des Religiöſen beigetragen
haben. Religion bedingt die Kunſt — ſie kann nie ihren heiligen monumentalen
Urſprung verleugnen, umgekehrt aber kann auch die Kunſt die Religion be-
dingen, indem ſie wie bei Homer, im Mittelalter und bei Calderon den Inhalt
der Religion beſtimmen hilft. Ja, ſie kann ſelbſt die Religion darſtellen, nach⸗
dem dieſe erloſchen iſt. „Im ſpäteren Griechenland, in Italien zur Zeit der
Renaiſſance lebt die Religion weſentlich nur noch als Kunſt fort.“
Hier ſteht man ſchon tief in dem höchſt ſchwierig zu erkennenden Vorgang,
Kulturgeſchichte und in ten WB. bei. S. 59 f.; 69 ff.; 223 ff., alle mit profunden und originalen
Betrachtungen und Urteilen, beſonders über Dante und Petrarea. — Von Calderon liebte er beſon⸗
ders den „Standhaften Prinzen“.
102 Walther Rehm
dem Burckhardt immer wieder beſondere Beachtung zuwendet, dem der
allmählichen Ablöſung der Kunſt vom Kultus in eine neutrale, heroiſche, lyriſche
Welt des Schönen hinein, ihrer Säkulariſation. Dieſen Weg beſchreitet zuerſt
die Poeſie, und darin erkennt Burckhardt eigentlich wie keiner ſo klar — bei
Herder, bei dem man es zunächſt ſuchen ſollte, ſucht man es vergebens — die
Wendung der Poeſie „vom Notwendigen zum Beliebigen, vom allgemein
Volkstümlichen zum Individuellen, von der Sparſamkeit der Typen zum endlos
Vielartigen“. Poeſie iſt nicht mehr national⸗xeligiöſe Offenbarung, der Dichter
kündet nicht mehr den objektiven Geiſt der Nation, ſondern ſeine eigene Sub⸗
jektivität; an Stelle der Poeſie tritt die „Literaturgattung“. So iſt es bei der
Lyrik, aber ebenſo als durchgängige Erſcheinung auch beim Drama und beim
Epos, bei dem dieſe Umwandlung am deutlichſten wird. War es früher Erſatz
der Geſchichte und ein großes Stück Offenbarung als nationale Lebensäußerung
und Zeugnis erſten Ranges für das Bedürfnis und die Fähigkeit eines Volkes ſich
ſelbſt typiſch anzuſchauen und darzuſtellen, ſo verändert ſich dann die Geltung
des Epos, ſobald die Zeit literariſch wird. Vom epiſchen Rhapſoden geht es hin⸗
unter zum heutigen Romanſchriftſteller 7). „Das Schickſal der neueren Poeſie
überhaupt iſt ihr literaturgeſchichtlich bewußtes Verhältnis zur Poeſie aller
Zeiten und Völker, welcher gegenüber ſie als Nachahmung oder Nachklang erſcheint.
Was aber die Dichter betrifft, ſo dürfte es ſich wohl lohnen, der Perſönlichkeit
des Dichters in der Welt und ihrer enorm verſchiedenen Geltung von Homer bis
heute einmal eigens nachzugehen.“ Vom Idealen und allgemein Menſchlichen
geht es wieder zur bloßen Wirklichkeit und zum Beſonderen, von der Poeſie zur
Proſa, und damit in die Beſchränkungen des Lebens hinein.
Hier iſt der Standpunkt ſo hoch und weit genommen, daß ſich für Burckhardt
die Wandlungen der Poeſie wie von ſelbſt darſtellen und im allgemeinen gibt er
ſo große, weitreichende völfer- und kunſtpſychologiſche Erkenntniſſe mit freier
Hand, wie man fie in ihrer ſchlagenden Eindringlichkeit und der ſcharfen und
klaren Linienführung nicht leicht wieder findet. Die Sätze ſtrotzen geradezu von
fruchtbaren Gedanken, Burckhardt gibt in ihnen gleichſam die Schlußfolgerungen
langer Überlegungen. Es iſt nicht nur geſchichtliche Betrachtung der Poeſie, fon-
dern ein großer meiſterlicher Überblick über den Geſamtverlauf der europäifchen
Dichtung auf knappſtem Raum und nur in Umriſſen. Aber ſtets mündet er aus
in die traurige Feſtſtellung, daß mit Ausnahme einiger weniger Großen die
Poeſie doch Geſchäft geworden ſei, Gegenſtand und Zeitvertreib, ihrer hohen
Würde entkleidet. Schon ſein Pariſer Aufenthalt von 1843 ließ Burckhardt
genauen Einblick in das franzöſiſche Literatentum, das nur um Geld arbeitet,
nehmen und er berichtet darüber empört in einem neuerdings wieder ans Licht
gezogenen Aufſatz für die Kölniſche Zeitung!“). Ein andermal äußert er ſich in
einem Brief aus Paris an Kinkel, die jetzige Literatur lebe fürchterlich ſchnell
und konſumiere ein unglaubliches Kapital von Reiz und Abwechſlung. „Und
17) Weltgeſch. Betr. S. 70 ff. und S. 75 ff. — Griech. Kult. 3, S. 100 f.; vgl. ebd. auch S. 213.
18) J. Oswald, Unbekannte Aufſätze Burckhardts, Baſel 1922, S. 63 ff. — WB. S. 215f.
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 103
doch! wie wenig fchlägt fo recht entſchieden durch.“ Das galt für Frankreich und
für Deutſchland. In den „Weltgeſchichtlichen Betrachtungen“ heißt es dann:
„Die heutige Zeit treibt freilich die fähigſten Künſtler und Dichter in den Er⸗
werb . . „ daß fie der Bildung der Zeit entgegen kommen ... und das Horchen
auf ihre innere Stimme gänzlich verlernen.“ Und er kann nun die ſehr berechtigte
Frage ſtellen, wie weit der Geiſt der modernen Nationen nach ihrem Bedürfnis
zu beurteilen ſei, „ein objektives Idealbild von der Szene her in ſich aufzuneh-
men“ 19). In feinem „liebenswürdigen“ Jahrhundert mußte er das verneinen.
Von der Lyrik freilich gilt das nicht, und das war auch ſein Troſt; ſie könne
ſich, bekennt er freudig im „Konſtantin“, ewig verjüngen wie das menſchliche
Herz und in Zeiten des allgemeinſten Jammers einzelne herrliche Blüten treiben,
ſei es auch in unvollkommener Form. Es war nur folgerichtig, wenn er dann
ſpäter ſagte, für die Lyrik nehme der Sinn zuerſt ab, wenn man alt werde, das
Dramatiſche halte ſich länger.
Burckhardt hatte, als einer der Wenigen in ſeiner Zeit, den Mut, willentlich
Partei zu nehmen, das Subjektive hervorzukehren und Dinge der Kunſt nicht
nur hiſtoriſch zu werten, ſondern unmittelbar. Dieſe Wertung war nicht nur
getragen von rein äſthetiſchen Gefühlen, da eben Schönheit ihm ein Hochſitt⸗
liches, ja Heiliges bedeutete, ſondern faſt ebenſo ſtark von ethiſchen, und dieſe
ſeltſame Miſchung von Ethiſchem und Aſthetiſchem verleiht ja feinem Kunſt⸗
urteil die hohe Würde, den unvergänglichen Reiz, die kraftvolle Gewißheit. Das
Ethiſche nahm in ſeinem Leben einen hohen Platz ein. Er fragte jenſeits alles
eng Moraliſchen letzlich nach der Geſinnung und ihrer Reinheit, nach der großen
Menſchlichkeit in den Dingen. Sein Geſamturteil über Raffael im „Cicerone“
iſt dafür bekannt, und von Correggio ſagte er: „Wenn dieſe Geſtalten lebendig
würden, was hätte man an ihnen?“ Vielleicht mochte er ſich, bei aller Ver⸗
ſchiedenheit, am eheſten mit Schnaaſe berühren, dem die Kunſt (nun freilich in
erſtem und ausſchließlichem Betracht) das gewiſſeſte Bewußtſein der Völker, ihr
verkörpertes Urteil über den Wert der Dinge war. So war das Ethiſche, das
Burckhardt ſuchte, ihm zugleich eine ſehr ins Metaphyſiſche übergreifende An⸗
gelegenheit. Denn es war das, was er „Unerſetzlichkeit“ nannte, jener Begriff,
den er als das Kennzeichen der hiſtoriſchen Größe ermittelt, jener Größe, die für
ihn Myſterium war. Hier ſpürte er die höhere Macht, von der man nichts weiß,
die geheimnisvollen Beziehungen zum Weltganzen, die ihm ja das Höchſte an
aller Kunſt bedeuten. Die großen Künſtler, Dichter, Philoſophen ſind ſchlechthin
„unerſetzlich“, „weil das Weltganze mit ihrer Individualität eine Verbindung
eingeht, welche nur diesmal ſo exiſtierte und dennoch ihre Allgültigkeit hat“.
Unerſetzlich war für Burckhardt die Kunſt an und für ſich überhaupt gegenüber
der Wiſſenſchaft, die nicht mit dem Weltganzen zuſammenhänge, da, „was ein
Volk in den Wiſſenſchaften verſäumt, gewiß von einem anderen Volk oder Jahr⸗
hundert nachgeholt wird, während Kunſt und Poeſie eben nur Einmal das;
jenige leiſten, was garnicht mehr nachgeholt werden kann“. Nachdrücklich ſchreibt
19) WB. S. 78; vgl. ähnlich Kult. d. Ren. 13. Aufl. S. 237.
104 Walther Rehm
das N ar zu egi des 3. Bandes der Griechischen Kulturgeſchichte
nieder und wenn man ſich das vergegenwärtigt, dann fühlt man auch die ganze
ethiſche Überzeugung und die wundervolle Geſinnung, den verhaltenen Klang
und Ton, der in einem ſcheinbar ganz nebenſächlichen Satz ſchwingt — ſolche
nebenſächlichen Sätze ſind ſo unendlich bezeichnend für Burckhardt und ganz un⸗
nachahmlich: „aber der Verluſt eines griechiſchen Kunſtwerkes überhaupt iſt un⸗
erſetzlich.“ 20) Das Unerſetzliche und darum auch ganz Große war der Maßſtab,
den er an die Kunſt anlegte; das war zutiefſt ethiſch. Es leuchtet ein, daß hier
die Griechen, ihm überhaupt von den Indogermanen, die lauter große und
mächtige Völker in der Poeſie ſeien, das für die Poeſie am höchſten begabte Volk,
am beſten fahren: denn „die alte Komödie und Tragödie find nur ſich ſelbſt
gleich und durch nichts unter der Sonne erſetzlich, das die neue Welt ſchaffen
könnte“. Dagegen mochte er dies z. B. der neueren Komödie nicht zubilligen.
Sie ſei aus jeder Literatur zu erſetzen, und zwar reichlich. Aber nicht nur im
beſonderen Hiſtoriſchen iſt ein Werk unerſetzlich und wäre die Welt unvoll⸗
ſtändig und könnte nicht ohne es gedacht werden, ſondern im allgemeinen durch
die ſeltenſte Eigenſchaft, „Inneres äußerlich zu machen, darſtellen zu können,
ſo daß es als ein dargeſtelltes Inneres, als eine Offenbarung wirkt.“ 21)
Man kann vom Weſen der Dichtung nicht ſchöner und tiefer ſprechen als
Burckhardt mit ſolchen wenigen Worten. Der unverkennbare Höhepunkt aber,
der ſich durch ſeinen eigenen Rhythmus aus dem Ganzen der „Weltgeſchicht⸗
lichen Betrachtungen“ heraushebt, iſt dort, wo Burckhardt von der Anerkennung
redet, welche der Größe in den einzelnen Künſten zuteil wird. Dieſe Sätze ſind
ſo wundervoll und dabei ſo wenig bekannt und zudem für das Innerſte Burck⸗
hardts, der hier ſelten weit aus ſich herausgeht, ſo tief an Erkenntnis, daß man
wohl den ganzen Paſſus herſetzen darf (S. 223):
Die Poeſie hat ihre Höhepunkte, wenn ſie aus dem Strom des Lebens, des Zufälligen
und Mittelmäßigen und Gleichgültigen heraus, nachdem ſie vorläufig in der Idylle anmutig
darauf mag angeſpielt haben, das allgemein Menſchliche in ſeinen höchſten Außerungen her ;
ausnimmt und zu idealen Gebilden verdichtet und die menſchliche Leidenſchaft in dem Kampf
mit dem hohen Schickſal nicht von der Zufälligkeit verſchüttet, ſondern rein und gewaltig dar⸗
ſtellt, — wenn ſie dem Menſchen Geheimniſſe offenbart, die in ihm liegen und von welchen
er ohne ſie nur ein dunkles Gefühl hätte, — wenn ſie mit ihm eine wundervolle Sprache redet,
wobei ihm zumute iſt, als müſſe dies einſt in einem beſſeren Daſein die Seinige geweſen
ſein, — wenn ſie vergangene Leiden und Freuden einzelner aus allen Völkern und Zeiten
zum unvergänglichen Kunſtwerk verklärt, damit es heiße: spirat adhuc amor, vom wilden
Jammer der Dido bis zum wehmütigen Volksliede der verlaſſenen Geliebten, damit das
Leiden des Spätgeborenen, der dieſe Geſänge hört, ſich daran läutere und ſich in ein hohes
Ganzes, in das Leiden der Welt, aufgenommen fühle, was ſie alles kann, weil im Dichter
ſelber ſchon nur das Leiden die hohen Eigenſchaften weckt, — und vollends wenn fie die
Stimmungen wiedergibt, welche über das Leiden und Freuen hinausgehen, wenn ſie das Gebiet
desjenigen Religiöſen betritt, welches den tiefſten Grund jeder Religion und Erkenntnis aus⸗
macht: die Überwindung des Irdiſchen.
0) Konſtantin S. 452 und WB. S. 272.
21) WB. S. 221 und 239: „Völker haben beſtimmte große Lebenszüge an den Tag zu bringen,
ohne welche die Welt unvollſtändig wäre.“
Jacob Burckhardt und das Dichteriſche 105
Die Worte „. .. wenn fie dem Menſchen Geheimniſſe offenbart ...“ zeigen
am beſten, wie hier Dichtung ganz als Lebensdeutung genommen iſt, und bei
dem Wort von der wundervollen Sprache, die einſt in einem beſſeren Daſein die
ſeinige geweſen ſein müſſe, bei dieſer Erinnerung an Paradieſeszeiten darf
man wieder auf Grillparzer hinweiſen: die Poeſie ſtelle die Naturverhältniſſe
wieder her, „die Vorſtellung oder Darſtellung einer Idee erweckt das Gefühl des
Ahnlichen im Menſchen und bringt ihn auf kürzer oder länger ſeinem Urſprung,
dem Urbilde der Menſchheit 22) näher, macht ihn ſich weſenhaft fühlen und dieſer.
Genuß der Weſenhaftigkeit iſt die Poeſie“. Aber auch an Stifter muß man
denken und neuerdings hat denn auch Otto Stoeſſl mit den oben erwähnten
Worten Burckhardts das Weſen von Stifters Kunſt neu zu deuten verſucht 23).
An jener oben angeführten Stelle, wo mit ganzer Stärke das ethiſche, faſt
religiöſe Bewußtſein Burckhardts zur Welt des Dichteriſchen hervorbricht, ge—
winnt man den Durchblick in das Irrationale, das ſeine Geſamtanſchauung
durchwaltet. Er fühlt in der Dichtung auf ihren Höhepunkten den Atem des
Höheren, Unirdiſchen, das „Unbewußte, welches in künſtleriſch bewußter Form
hervorbricht“, „die geheimnisvollen Schwingungen“. „Vor dem ganz Großen
und Einzigartigen in der Geſchichte hatte er eine faſt religibſe Scheu“ (Wölfflin).
Er ahnt die unerforſchlichen, unergründlichen Tiefen, aus denen alles geſchicht⸗
liche und dichteriſche Leben quillt, immer wieder weiſt er auf den höheren Rat⸗
ſchluß, auf die hohen unergründlichen Lebensgeſetze hin, auf die Zwecke der
ewigen Weisheit, in die wir nicht eingeweiht ſeien. Daher denn feine Ab-
neigung gegen das „hegelſche kecke Anticipieren des Weltplans“ ?)); er wollte
auch nicht Anfänge der Erſcheinungen des geſchichtlichen Lebens erforſchen, denn
die Geſchichte verhülle gern die Urſprünge großer Dinge. Auch er war hier wie
Stifter „aus Goethes Verwandtſchaft“ im Willen, das Unerforſchliche ruhig zu
verehren als ein Myſterium: unerforſchlich war die wirkliche Größe, war das
ganze hohe Lebensrätſel, war die Schönheit 2°). Auch bei der Dichtung heißt es:
„Glücklicherweiſe find wir auch hier der Spekulation über die Anfänge ent-
22) Griech. Kult. 3, 24. — Vgl. Bachofen (Selbſtbiographie): „In allen Dingen dachten die
älteſten Menſchen richtig und groß, wie man es von denen zu erwarten berechtigt iſt, die ihrem ewigen
Urſprung noch fo nahe ſtehen .
23) A. Stifter, Stuttgart 1925, S. 7. — Man ſehe etwa Stifters Äußerung zu Heckenaſt über
den „Nachſommer“ vom 29. Februar 1856: „Die ganze Lage, ſowie die Charaktere der Menſchen
ſollen nach meiner Meinung etwas Höheres fein, das den Leſer über das gewöhnliche Leben hinaus-
hebt, und ihm einen Ton gibt, in dem er ſich als Menſch reiner und größer empfindet.“ Ahnlich an
Heckenaſt am 31. Oktober 1861.
24) Dazu Grillparzer 8, 362 und 9, 167 gegen Hegel. — Joel, a. a. O. S. 52 ff., 59, 61.
25) Joèl über das Irrationale S. 42 ff. — Tief berührt muß Burckhardt von der Äußerung
Grillparzers über das Unendliche im Gefühl des Schönen geweſen fein (Bd. 9, S. 66 f.): „Was
liegt denn in dem Materiellen oder ſelbſt in den Verhältniſſen einer wohlgeordneten Säulenreihe,
daß es mit einem Schlage dein ganzes Weſen erhebt, dich anzieht, feſſelt, dich bis zu Tränen ent⸗
zückt... Warum biſt du beſſer, milder, gütiger, mutiger in dem Augenblick der Beihauung ...
Iſt dir Gott noch unbegreiflich und unverſtändlich das All? ... Und das Alles hat der armſelige
Säulengang aus hartem Sandſtein ... bewirkt? Oder wäre es nicht das Gefühl der Ganzheit; das
momentane Aufhören der Zerſplitterung, in das Leben unſer Weſen verſetzt, das Gefühl der Einheit
alles Endlichen, was dieſe Wirkungen hervorruft?“ — „Von der Wonne eines Säulenhofs zu
ſprechen“, war Burckhardt ganz geläufig, berichtet Wölfflin (Ztſchr. f. bild. Kunſt 1918, S. 129).
106 Walther Rehm, Jacob Burckhardt und das Dichteriſche
hoben“ und ebenſo, muß man ergänzend ſagen, über das Ende einer künſtle⸗
riſchen Erſcheinung. Über den Verfall der griechiſchen Tragödie äußert er mehrere
Gründe, um dann doch als Hauptgrund den zu nennen: „Die Lebensdauer
irgendeines Phänomens iſt eine beſchränkte: „Einmal muß es Abend werden.“
(III, 260.) In dieſe Richtung zielt ſchon, was im „Konſtantin“ über die „un⸗
ergründliche“ Tatſache der Abnahme der Kunſt vorgebracht wird. „Es läßt ſich
vielleicht aus einer allgemein philoſophiſchen Betrachtung der Zeiten auch hier⸗
auf aprioriſtiſch antworten; wir wollen uns aber gerne beſcheiden, die not⸗
wendige Lebensdauer einer geiſtigen Macht dieſes Ranges nicht abſolut berech⸗
nen zu können“ (S. 285). Überall ſpürt Burckhardt das Irrationale, den „ge⸗
heimnisvollen eigenen Lebensgrund“ in jeder Kunſt, wie es um dieſe Zeit nicht
viele taten. Er ſpürt die geheimnisvolle Verbindung vom Werk und ſeinem
Erſchaffer: die großen Schöpfungen der Poeſie, heißt es bei Gelegenheit der
unvollendeten „Nauſikaa“ Goethes, ſind nur an ganz beſtimmte große Meiſter
gebunden und bleiben ungeboren, wenn dieſe ihre Kräfte anderweitig ver⸗
wenden. Burckhardt hätte jene Auffaſſung als eine Verſündigung am heiligen
Geiſt der Kunſt und ihrer Unerſetzlichkeit empfunden, nach der das einzelne
Kunſtwerk notwendig und unabhängig von ſeinem Schöpfer, rein aus der
immanenten Morphologie der Kunſtentwicklung als geſchichtliche Forderung
heraus erſcheinen müßte — jene Anſicht alſo, die merkwürdig ſchon bei
A. W. Schlegel (auch Gervinus ſteht nicht weit) zu finden iſt: „Die Erſchei⸗
nungen im Gebiete der Kunſt find objektiv notwendig, ſubjektiv aber zufällig.“ 2%
In den Wiſſenſchaften, vor allem in den techniſchen, mochte das ſein, aber nicht
in der Kunſt, wo das einzelne Werk den Charakter des Unerſetzlichen beſitzt. Das
Irrationalitätsproblem der Kunſt, der Poeſie iſt von Burckhardt mit einer für
die damalige Zeit ſeltenen Schärfe und Eindringlichkeit geſehen worden. Darin
liegt die hohe Bedeutung ſeines Verhältniſſes zum dichteriſchen Phänomen an
ſich, das er mit völlig ungetrübtem, geiſtesklarem und anſchauungsmächtigem
Auge geſehen hat. Das echte Gefühl für die reinen dichteriſchen und künſtle—
riſchen Werte und die Idealität der Auffaſſung ſind Burckhardts Stärke.
Das Abrücken von der abſtrakten Kunſt- und Dichtungsbetrachtung Hegels
und ſeiner Schule auf der einen Seite wird ganz deutlich; wieweit andrerſeits
die Romantik und durch die Art des von Burckhardt hochverehrten Boeckh — ſicher
unbewußt — Herder 27), aber auch W. von Humboldt auf dieſen ganz origi⸗
nalen Geiſt und ſeine Anſchauungen beſtärkend eingewirkt haben, iſt nicht leicht
auszumachen und im einzelnen (außer bei Boeckh) auch wohl kaum faßbar. Eine
eigentlich geiſtesgeſchichtliche Einordnung Burckhardts fehlt überhaupt noch und
ſie iſt auch nicht ſo einfach zu geben. Dieſer Mann, der zu einer Hälfte noch im
18. Jahrhundert ſteht und ſo vieles ſeines eigenen Säkulums ablehnt, eilt doch
26) D. L. D. 17, S. 17. — Zu Gervinus ſ. Rychner, S. 90 ff. Hegel ſpielt hier natürlich
herein.
27) Über Herder äußert ſich Burckhardt ſehr abfällig in einem Brief an S. Vögelin vom
14. Januar 1866, Bafler Jahrbuch 1914, S. 57. — Vgl. auch J. Wach, Das Verſtehen I, Tü-
bingen 1926, S. 185 Anm. 1.
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bi 8
Karl Meznik, Die ſlowakiſche Spaltung 107
wieder ſeiner Zeit voraus, ohne für ſich ſelbſt den ſtetigen geſchichtlichen Zu⸗
ſammenhang zu verlieren. Er bewahrt das Erbe der klaſſiſchen Kunſtauffaſſung
und vereint in ſich goethiſche Anſchauungskraft mit einem ethiſchen Pathos von
der Art Schillers, das Aſthetiſche mit dem Sittlichen, auch dort, wo er vom Dich⸗
teriſchen ſpricht. Dadurch wirkt ſein Urteil ſo adlig und ſelbſtändig und iſt wie
er ſelbſt einmalig, unnachahmlich, unerſetzlich.
Die ſlowakiſche Spaltung.
Von Karl Meznik in Preßburg.
Von einer Spaltung 1) kann naturgemäß nur die Rede fein, wo früher eine
Einheit vorhanden war. Es ift nun nach der Anſchauung der ſlowakiſchen Se⸗
paratiſten keine zutreffende Bezeichnung, wenn es in der Literaturgeſchichte
üblich wurde, von einer Trennung oder Spaltung des Slowakiſchen zu ſprechen,
da nur von einer geiſtigen, ideellen Gemeinſchaft geſprochen werden dürſe, wie
ſie vor allem die tſchechiſche Bibelſprache begründete. Dieſe bildete bei den tief
frommen Slowaken, ob ſie nun ſchon dem katholiſchen oder dem evangeliſchen
Bekenntnis angehörten, das einigende Band, das für jene geiſtige Gemeinſchaft
gewiſſermaßen das ſichtbare äußere Zeichen abgab.
In der folgenden Abhandlung ſoll der Verſuch unternommen werden, den
gegenwärtigen Stand der Frage über das innere Verhältnis des Slowakiſchen
und Tſchechiſchen in großen Umriſſen klarzulegen.
Die Parallele zu den deutſchen Verhältniſſen mit der lutheriſchen Bibelſprache
drängt ſich ebenſo zwingend auf wie entfernter der Vergleich mit dem Alt⸗
bulgariſchen, das, freilich ſchon mundartlich gefärbt, die Grundlage der recht—
gläubigen Kirchenſprache, ja ſelbſt einer Art Schriftſprache bei den Südſlawen
und Ruſſen wurde.
Schon das Wort Slowake, ſlowakiſch iſt nur eine Dublette für Slawe, ähn⸗
lich wie Slowene, ſloweniſch; heute iſt der Sprachgebrauch dieſer: Slovan
Slawe, slovansky ſlawiſch, Slovak Slowake, slovensky ſlowakiſch, Slovince
Slowene, slovinsky floweniſch. Dieſe heutige Bedeutungsunterſcheidung iſt
aber erſt ein Ergebnis der jüngſten Zeit ).
1) Der tſchechoſlowakiſche Staat, der aus zwei, politiſch jahrhundertelang getrennten Gebieten
hervorging, deren Vereinigung auch in der öſterreichiſch⸗ungariſchen Monarchie loſe genug war, führt
in feiner offiziellen Bezeichnung die Namen der beiden ſlawiſchen Hauptſtämme, deren Angehörige
den Kern des Staates bilden.
2) Übrigens wurde von der älteren Zeit (Kosmas) bis ins 19. Ihdt. (Kollär) slovansky und
slovensky (als ſlawiſch) auch für das Tſchechiſche verwendet; slovensky wird wieder häufig genug
für ſlawiſch gebraucht; slovansky ift ebenfooft nur als ſlowakiſch zu faſſen. Endlich entwickelt ſich
im 18. Ihdt. der Begriff tſchechoſlowakiſch und ſlowakotſchechiſch — bohemo-slavicus — böhmiſch⸗
ſlawiſch —, der von Tſchechen und Slowaken bis ins 19. Ihdt. gleichmäßig gebraucht wird, ja ſelbſt
bei Andersſprachigen Verwendung findet.
108 Karl Meznik
In den älteren Geſchichtsquellen, die hier in Betracht kommen, begegnen wir
der Benennung Slawen oder Tſchechen, höchſtens mit dem geographiſchen Be⸗
griff ungariſch eingeſchränkt. In den älteſten Zeugniſſen bezeichnet das Wort
Slovak, häufig in der Deminutivform Slovadek u. ä., die jenes Grundwort
vorausſetzt, vielmehr immer einen Familiennamen. Möͤglicherweiſe dürfen wir
um die Wende des 14. und 15. Jahrhunderts bei Viktorin von Vsehrd, bei
Konäac und im Wörterbuch Lactifer ſchon an einen Gebrauch des Wortes im
heutigen Sinne denken. Sonſt aber deckt ſich dann im 16., 17. und 18. Jahr⸗
hundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts der Begriff wieder mit dem
Gemeinbegriff Slawe, daher naturgemäß auch in den andersſprachigen Quellen
der Zeit, ſo bei Henſelius „Synopsis universae philologiae“ (Nürnberg 1741)
und in ſeinen ſpezifiſch ſlawiſtiſchen Büchern, bei Airer „Hermannus slavicus“
(Göttingen 1768) und in der franzöſiſchen Enzyklopädie von 1772, ſeit dem
17. Jahrhundert übrigens häufig auch ſchon mit der etymologifierenden Ab⸗
leitung von släva.
Auch bei den Hiſtorikern des ehemaligen Ungarn finden wir noch kaum An⸗
ſätze zum Gebrauch des Wortes Slowake im heutigen Sinne; die Slawen ſind
identiſch mit den Böhmen, daneben begegnet uns auch die Bezeichnung windiſch
bei Deutſchen. Noch 1785 identifizieren Hrdliéka und der Hiſtoriker Johann
Samuel Klein Böhmen und Slowaken in Oberungarn, aber ſie ſprechen auch
ſchon im heutigen Sinne vom Slowakiſchen und Windiſchen; in erſterem Sinne
äußert ſich auch Caplovis „Topographiſch-ſtatiſtiſches Archiv des Königreiches
Ungarn“ 18241, wobei er aber ſchon eine mundartliche Gliederung des Slowa—
kiſchen unter dem Einfluß des Tſchechiſchen, Alttſchechiſchen, Polniſchen, Ruthe⸗
niſchen, Deutſchen und Magyariſchen verſucht. Bajza trennt 1813 und 1820 in
ſeiner Überſetzung aus der Hl. Schrift zwar Tſchechoſlowaken und Ungaro⸗
ſlowaken, doch nur in politiſchem Sinne. Ebenſo ſchreibt noch Szeberinyi an
den Grafen Zay 1841 nur aus politiſchen Opportunitätsrückſichten von unga⸗
riſchen Slawen, ebenſo kennen Noſäk und Jordans Jahrbücher von 1843 nur
Cechoſlawen „Czechoſlowenen“.
Tſchechiſch und Slowakiſch ſind noch identiſche Begriffe, ob es ſich ſchon um
Lehrbücher oder Literaturgeſchichte handelt. Nebenbei entwickelt ſich ſeit Beginn
des 18. Jahrhunderts die oben angeführte Bezeichnung Tſchechoſlowakiſch und
Slowakotſchechiſch, fo in Konftantije „Grammatica linguae boemicae“ (Prag
1715) bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, da Kollär in den, Närod-
nie zpievanky“ 1835 ein Gedicht „Res öeskoslovenskà“ veröffentlicht, wohl
ſein eigenes Erzeugnis. Die dichteriſchen Beiträge der Slowaken in den
„Kvety“ erſcheinen als tſchechoſlowakiſch, ebenſo nennen ſich alle Anhänger
Stürs bis zur Trennung. Auch im Ausland iſt die gleiche Bezeichnung gang und
gäbe. Identiſch damit iſt der Ausdruck ſlowakotſchechiſch und ſlawotſchechiſch, fo
auch in Südſlawien slavoëesky und Ceskoslovacki.
Die erſte ſtrenge Scheidung führt der katholiſche Prieſter Anton Bernolak
ſchon in feiner „Etymologia vocum slavicarum“ 1791 durch. Auf evange⸗
liſcher Seite ſcheidet Samuel Kollär 1824 und 1829 zuerſt Tſchechen und Slo⸗
Die ſlowakiſche Spaltung 109
waken. Sonſt ſoll aber auf evangeliſcher Seite die Bezeichnung Tſchechoſlawen
oder Slawotſchechen offenkundig noch die Zuſammengehörigkeit betonen. Erſt
von Stür an ſteht dann die begriffliche Selbſtändigkeit des Wortes Slowake
feſt, obzwar auch noch Hviezdoſlav und Hurban⸗Vajanskßy in ihren Gedichten
den Begriff Slowake für Slawe verwenden.
Ebenſo hat der geographiſche Begriff Slowakei (Slovensko) erſt in der neue⸗
ſten Zeit ſeit dem Umſturz Bürgerrecht errungen, da früher vor allem aus poli⸗
tiſchen Rückſichten dieſe landſchaftliche Bezeichnung verpönt war, um nur nicht
an die Einheit des Königreiches Ungarn zu rühren. Stürs Anſtrengung, eine
Anerkennung dieſes Begriffes durchzuſetzen, ſcheiterte ebenſo wie die des Memo⸗
randums von 1861. In älteren Geſchichtswerken finden wir wohl vereinzelt
eine dunkle Erinnerung, daß dieſem Teile Ungarns, etwa Oberungarn, oder
auch dem flowakiſchen Lande, eine gewiſſe Sonderſtellung zukomme, beſonders
vom 14. Jahrhundert angefangen. Dobrovsky verwendet in feinem „Ausführ⸗
lichen Lehrgebäude“ 1809 die Bezeichnung Slowakei in dem uns heute ge⸗
läufigen Umfang. Aber wenn dann Palkovié in feinem Wörterbuch 1821 von
der Slowakei und dem Slowakenlande ſpricht, iſt das eine vereinzelte Erſchei⸗
nung, da um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts dieſer Begriff für
Slawonien gebraucht wird, eine Mengerei, die von Bernoläks Wörterbuch
1825/27 bis zu Stür anhält. Erſt von ihm und feinen Anhängern iſt dann die
Scheidung Slovensko für Slowakei und Slovansko für flawiſches Gebiet
überhaupt durchgeführt. Sicher hat zu dieſer Vermengung ſeit dem Ausgang
des 18. Jahrhunderts auch der romantiſche Begriff des Slawentums, der dann
in der Släva Kollärs gipfelt, viel beigetragen.
Dabei darf aber nicht vergeſſen werden, daß gerade auf religiöſem Gebiete
das Bewußtſein der tſchechoſlowakiſchen Wechſelſeitigkeit tiefe Wurzeln ſchlug.
Seit Hus, Jiſkra von Brandeis, dem Führer der Huſſiten in Ober- und Weſt⸗
ungarn, und den Böhmiſchen Brüdern vornehmlich ſeit der Schlacht auf dem
Weißen Berge iſt dieſes Bewußtſein kräftig und deutlich ausgebildet. Komensky
wendet ſich in ſeinem Kancional 1659 an die in der Heimat Zurückgebliebenen
und zählt zur Heimat auch die Brüdergemeinden in der Slowakei. Und ſo wird
dann die völkiſche und ſprachliche Zuſammengehörigkeit immer wieder hervor—
gehoben, bis dann das politiſche Moment der magyariſchen Zugehörigkeit in
den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts immer ſtärker hervortritt, das dann
freilich auch eine Loslöſung von dem übrigen Slawentum befürchten läßt. Aber
noch 1848 ſchreibt der ſlowakiſche Nationalrat in feinem Flugblatte aus Wien
von dem einzigen Volke der Tſchechen, Mährer und Slowaken.
Wir dürfen uns alſo nicht wundern, daß gerade infolge der Führung ſeit
den Tagen der Reformation das geſamte Schrifttum auch auf dem Boden der
Slowakei durchaus tſchechiſch ift. Slowazismen find wohl ab und zu vorhanden,
aber ſie verwiſchen nicht den Eindruck des rein Tſchechiſchen. Auch tſchechiſche
Bücher ſind in der Slowakei verbreitet, zumal ſeit dem Tag der Wiedererweckung.
Außerſt vorſichtig find alſo Außerungen von einem ſlowakiſchen National:
bewußtſein aufzufaſſen. Man pflegt im allgemeinen den Zeitpunkt der Er⸗
110 Karl Meznik
weckung des völkiſch bewußten Denkens knapp an Bernoläk heranzurücken 3).
Die Geſchichtsforſchung hat, vom Beginn des 19. Jahrhunderts angefangen,
auf die Beziehungen zwiſchen Tſchechen und Slowaken beſonders ſeit den Tagen
der Reformation hingewieſen, die aber ſchon mit Hus, nicht erſt mit Luther
bedeutungsvoll wird. Ja man ging bis auf die Gemeinſchaft im Großmäh⸗
riſchen Reich zurück, wie ſie vor allem Johann Holly in romantiſchem Sinne
verarbeitete, die dann 1863 zur cyrillo⸗methodeiſchen Idee führte. Erſt durch
Stür wurde dann dieſe alte Tradition einer alten Gemeinſchaft unterbrochen,
der fo in der neuen ungariſch⸗magyariſchen geſamtſtaatlichen Idee leichter unter⸗
ſchlüpfen zu können vermeinte. Da nach dem Falle des Großmähriſchen Reiches
die Slowakei, abgeſehen von einer vorübergehenden Zugehörigkeit zum tſchechi⸗
ſchen, polniſchen und türkiſchen Staate, ununterbrochen zu Ungarn gehörte, ging
auch älteren bewußten Slowaken der Begriff Ungarn über den der Slowakei.
Selbſt Dobrovskß bezeichnet ſich noch als Ungarn. Trotz der zentraliſtiſchen,
germaniſatoriſchen Beſtrebungen Joſefs II. gewannen die Magyaren unter dem
Adel und der Intelligenz an Boden und ſo wurde das Magyariſche bald auch
ſogar verbindlicher Unterrichtsgegenſtand. Nicht einmal vor der evangeliſchen
Kirche, in der die Volksſprache gilt, machten die Unifikationsbeſtrebungen halt
(beſonders mühte ſich in dieſer Beziehung Graf Zay), aber hier beharrten die
Slowaken auf dem Rechte der Mutterſprache.
Und ſchon beginnt auch der direkte Kampf um die Erhaltung des Slawen⸗
tums auf magyariſchem Boden. Als 1840 unter Führung Profeſſor Hlaväcets
Leutſchauer Studenten die volksbewußte Jitfenka herausgaben, wittert man
dahinter ſchon Panſlawismus. Graf Zay beweiſt in ſeinem „Circulaire an die
vier Superintendenten“ die Vorteile der Magyariſierung für den Proteſtantis⸗
mus und legt die Überflüſſigkeit des ſlawiſchen Studiums in feinem „Schreiben
an die Profeſſoren zu Leutſchau“ dar; nur das magyariſche Vaterland kann groß
und glücklich ſein. Daraus entwickelte ſich dann eine ganze lange Fehde, wobei
die Streitſchriften großenteils deutſch erſchienen, um ein größeres Forum zu
gewinnen. Einen unerwartet weiten Blick verrät Graf Leo Thun „Die Stellung
der Slowaken in Ungarn“ (Prag 1843), da er ſchon die wechſelſeitige Bedeu⸗
tung von Tſchechen und Slowaken füreinander erkennt. Ob die vielen Flug⸗
blätter über Oſterreich und Ungarn den Slowaken tatſächlich halfen, iſt heute
ſchwer zu beurteilen. Graf Schirding „Der Panſlawismus“ (Revue öſterr. Zu⸗
ſtände II 1843) und „Böhmens Zukunft“ 1847 argwöhnt bereits die Neu⸗
gründung eines mitteleuropäiſchen Reiches, das Böhmen, Mähren und Nord⸗
ungarn umfaßt, und empfiehlt an Stelle der Germaniſierung und Magyariſie⸗
3) Es iſt kaum angängig, von einem ſtärker entwickelten Volksbewußtſein in vergangenen Jahr⸗
hunderten zu ſprechen; man wüßte denn vereinzelte Erſcheinungen hierherzählen wie gegen den Aus⸗
gang des 14. Jahrhunderts der Sieg der Silleiner Slowaken in der Gemeindevertretung, wo die
Hälfte Deutſche, die Hälfte Slowaken gewählt werden müſſen, der ſich ähnlich am Beginn des
17. Jahrhunderts, alſo rund 250 Jahre fpäter, in Krupina wiederholt. Aber ſonſt nahm man die
Magvariſierung der geographiſchen Namen lange vor Mathias Bel ruhig hin, da man in gebildeten
Kreiſen lieber lateiniſch ſprach.
Die ſlowakiſche Spaltung 111
rung die Gründung einer ſlawiſchen Geſamtmonarchie mit den Tſchechen an
der Spitze.
Daß wir von einem literariſchen Gebrauch des Slowakiſchen vor Bernoläf
bzw. vor Stür nicht reden können, wurde bereits feſtgeſtellt, da Liſten und andere
ältere Denkmäler nur Slowazismen, ſonſt aber durchaus tſchechiſches Gepräge
aufweiſen. Solche Abweichungen werden daher immer nur als mundartliche
Färbung gewertet, wobei das Slowakiſche immer als ein Teil des Tſchechiſchen
gilt. Alteſte andeutungsweiſe Spuren erfaßt Blahoſlav in feiner „Tſchechiſchen
Grammatik“ 1571 feſter: keine Erweichung des r, erweichendes e nach b, n, m, t,
als Präpoſition beim Inſtrumental 2 für s, robiti für delati; ihm erſcheinen
auch die Süſlawen als zugehörig zu dieſer Mundart, obwohl er auch wieder die
ungariſchen Slowaken von denen an der Drau ſcheidet; ſlowakiſch iſt ihm mit
ſlawiſch identiſch. Sicherer iſt ſchon das Gefühl des geborenen Slowaken Lorenz
Benedikti von Nudoker, des Rektors der Deutſchbroder Schule, der freilich in
ſeiner lateiniſch geſchriebenen „Böhmiſchen Grammatik“ 1603 den Mangel der
Ausbildung in der heimiſchen Sprache bei den Landsleuten bitter empfindet, da
man lieber lateiniſch ſpricht, und zu regem Studium des Tſchechiſchen aneifert.
Als unterſcheidende Merkmale führt er an: für ü -u und au (in Böhmen nur
au), Mangel des erweichten k, bei den Tſchechen Mangel des erweichten I’ und
den Pl Ntr: tyto. So gehen die taſtenden Verſuche weiter, die Eigenheiten des
Slowakiſchen lautlich, formell und lexikaliſch zu erfaſſen, bis etwa auf Do⸗
brovsky, der zwar dieſe Merkmale anerkennt, aber das Slowakiſche doch nur als
Varietät der böhmiſchen Sprache gelten läßt. Ribay rückt es näher zum Kroa⸗
tiſchen, vor allem wegen der 1. Pf. Sg. -em; auch betont er die Nichterweichung
des r und den älteren Charakter des Slowakiſchen, wodurch es dem Alttſchechi⸗
ſchen weit näherſteht. Aber die landſchaftlichen Verſchiedenheiten ſind ihm ein
Hindernis für die Ausbildung einer Schriftſprache. Bezeichnend iſt ſein Wort,
daß die Erlernung der tſchechiſchen Schriftſprache dem Slowaken keine größeren
Schwierigkeiten bereiten kann als dem Schweizer Bauern die Erlernung der
hochdeutſchen Sprache. Zuſammenfaſſend finden wir immerhin nur mundart⸗
liche Merkmale feſtgeſtellt.
Da erſchien von Joſef Ignaz Bajza, dem ſpäteren Preßburger Kano⸗
nikus, 1783 und 1785 in ſlowakiſcher Sprache „René mlädenca prihody a
skusenosti“ mit folgenden lautlichen Unterſchieden gegenüber dem Tſchechi⸗
ſchen: kein k, kein Umlaut, kein ej, erweichendes e, Vertauſchung von s und 2,
pre für pro, &o für co, Bezeichnung der Erweichung auch vor i. In ſeiner Be⸗
gründung im „Prävo o ziveni faräruov“ werden die Ungaro⸗Slowaken von
den Auſtro⸗Tſchechen ſcharf getrennt, das Slowakiſche iſt die Mutter oder
Schweſter des Tſchechiſchen. Er ſah zum erſtenmal im Tſchechiſchen der Prote⸗
ſtanten eine Schädigung des Slowakiſchen. Nach dichteriſchen Verſuchen milderte
er freilich ſpäter ſeinen ſchroff ablehnenden Standpunkt in der Überzeugung,
daß das Tſchechiſche und Slowakiſche eine Wurzel haben.
Weit kühner war der Schritt Anton Bernoläks, der als katholiſcher
Prieſter die neu aufgekommene Aufklärung ablehnte, was, auf ſeine heimat⸗
412 Karl Meznik
lichen Verhältniſſe angewendet, eine Ablehnung der Germaniſierung zugunſten
der Magyariſierung bedeutete. Die Tyrnauer Theologen — Bernoläf, aus der
Arwa gebürtig, hatte in Roſenberg, Tyrnau, Gran und Preßburg ſtudiert —
ſuchten für ihre Predigten in der ſlowakiſchen Volksſprache ſelbſt Material, da
ſich Aufklärung und Proteſtantismus für ſie deckten. Wenn das Lateiniſche ſchon
abgetan iſt und das Magyariſche für die Verſtändigung mit dem Volke nicht
ausreicht, kann man doch wenigſtens auf heimiſchem Boden bleiben. So gab
er 1787 mit Anton Kubicza die Dissertatio philologico-critica de literis
Slavorum . .. heraus, wo das in Ungarn geſprochene Slawiſche im Brennpunkt
der Erörterung ſteht, was ihm Ribays Lob einträgt (Brief an Dobrovsky
3. Sept. 1787); aber der Wiener Profeſſor Valentin Zlobickß fürchtet ſchon die
Entſtehung eines „ganz anderen ſchriftlichen Dialektes“ (an Dobrovsky 15. No⸗
vember 1787); Dobrovsfy ſelbſt hält die Diſſertation keiner Antwort wert.
Aber ſchon bereitet Bernoläk die Gründung einer literariſch gelehrten Geſell⸗
{haft und eine Grammatik vor. Durch feine „Grammatica slavica“ 1790 will
er dem Mangel einer heimiſchen Grammatik abhelfen. Weil die meiſten Drucke
von Weſtſlowaken ſtammten, richtete auch er ſich nach dem Weſtſlowakiſchen.
Nach phonetiſchem Grundſatz ſchrieb er kv (q), ks (x), bezeichnete die Er⸗
weichung (d, “, n, k, &, S, 2), tilgte &, ſchrieb gemäß der Ausſprache u (für ou),
6 (für uo), tilgte k, y, den Umlaut, ſchrieb € für ie (del für diel), doch blieb
er im Wortſchatz und in der Phraſeologie der Bibelſprache treu; bei der Schrei⸗
bung 6 gab er alttſchechiſche Schreibung zu. Sahen die ſlowakiſchen Evange⸗
liſchen darin nur Verſtöße und Fehler, fo ahnte Dobrovskß darin ſchon die Bes
drohung der einheitlichen Schriftſprache (an Ribay 16. Auguſt 1797).
Bernoläf arbeitete an feinem Syſtem weiter: 1791 Etymologia vocum sla-
vicarum, wobei jedoch reichlich auch tſchechiſche Wörter als ſlowakiſche Idiotis⸗
men angeſprochen wurden. Wegen des Aufſehens, das das Werk erregte, wurde
der Cekleſer Pfarrer als biſchöflicher Sekretär nach Tyrnau berufen. Seine
„Slowakiſche gelehrte Geſellſchaft“ (ulene slovenské tovarystvo) bildete ein
Gegengewicht gegen die tſchechiſche „Königl. gelehrte Geſellſchaft“. Obzwar ſie
auch religiöſe Literatur herausgab, nahm fie doch auch Evangeliſche als Mit:
glieder auf. Bayza freilich war wegen ſeiner Eigenwilligkeit abgetan. Von
katholiſcher Seite gab es freudige Zuſtimmung, auch eine deutſche Ausgabe der
Grammatik erſchien in Ofen 1817 unter ſtarker Betonung der Beziehungen zum
Magyariſchen, während das Tſchechiſche totgeſchwiegen wurde. Unter den Er⸗
gänzungen war ſogar ein ſlowakiſch-deutſches Wörterbuch. Bernoläks Wörters
buch ſelbſt erſchien erſt 20 Jahre nach feinem Tode in der Ofener königl. Univ.-
Druckerei 1825/27 in 6 Teilen: Slowär slowenski &esko — latinsko —
némecko — uherski. Die Ausgabe erfolgte in 5 Sprachen, damit die Slowaken
auch magyariſch lernen können, ſo daß Ungarn dann bald magyariſch ſein werde.
Bernoläk verlangt keine Berückſichtigung einer landſchaftlichen Mundart, ſon⸗
dern eine Verbeſſerung der Sprache nach der allgemeinen Gewohnheit der Ge⸗
bildeten. Die Betonung der Loslöſung vom Tſchechiſchen erweckt den Anſchein,
als ob es dem Katholiken, der ſich mit der Verdrängung des Lateiniſchen durch
Die ſlowakiſche Spaltung 113
das Magyariſche abgefunden hat, um eine Stärkung des Magpariſchen ginge.
Der Pfarrer Georg Fändly erweitert dann den Gedanken der ſprachlichen und
völkiſchen Selbſtändigkeit am nachdrücklichſten, während der frühere Paulaner
Anton Kubovic gegen dieſe Neuerungen in feinem Anti⸗Fändly 1789 entſchieden
Stellung nimmt. Wieder antwortet Fändly in einer kleinen Flugſchrift, wobei
ſeine Verteidigung des Slowakiſchen auf ſchwachen Füßen ſteht, da er Tſchechiſch,
Mähriſch, Hannakiſch und Slowakiſch als gleichwertig hinſtellt, alſo offen⸗
kundig eine Verwirrung des Begriffes Mundart verſchuldet. Starkes völkiſches
Bewußtſein offenbaren dagegen feine volkstümlichen Schriften: 1792 Hofpodär,
1793 Zelinkar, in denen er auf die weltgeſchichtliche Stellung des Slawen hin⸗
weiſt, den er wieder mit dem Slowaken indentifiziert. Dieſe ſtarke Betonung
der Erweckung der Volksſeele hebt Fändly auch über die übrigen Anhänger
Bernoläks hoch empor, die nur kirchliche oder höchſtens wirtſchaftliche Rückſichten
im Auge haben. Da aber der Inhalt der neuen Form fehlte — erſt ein halbes
Jahrhundert ſpäter fang der Dichter Holly —, erfüllte ſich Fandlys Traum von
der europäiſchen Gleichberechtigung des Slowakiſchen zunächſt noch nicht.
Durch Dobrovskys Einfluß vornehmlich auf Ribay und Palfovic blieben
wenigſtens die Evangeliſchen vorläufig der Einheit treu. In ſeinem „Lehr⸗
gebäude der böhmiſchen Sprache“ 1809 (und 1819) gehört der Slowake mit den
Tſchechen zuſammen, wie das Slowakiſche mit dem Tſchechiſchen; wir können
auch ſagen: die größere Einheit iſt das Tſchechiſche, das Slowakiſche iſt unter⸗
geordnet. In der „Geſchichte der böhmiſchen Sprache ...“ (1818) reiht er freilich
bei der Zweiteilung des Slawiſchen nach raz — roz das Slowakiſche und das
Böhmiſche zur zweiten Gruppe, wie er ſchon im „Slawin“ 1806 beide Völker
nebeneinandergeſtellt hatte und wie er das auch noch in ſeiner Einteilung der
Slawen in den „Institutiones linguae slavicae dialecti veteris“ 1822 tut.
Er läßt aber doch grundſätzlich das Slowakiſche mit dem Altböhmiſchen zu einer
Mundart verſchmelzen. Dobrovsk ſchließen ſich dann die ſpäteren Gram⸗
matiker an.
Dieſes Zuſammengehörigkeitsgefühl zeigt ſich deutlich in den gegenſeitigen
Beziehungen zur Zeit der Aufklärung. Slowakiſche Beſucher werden in Prag
brüderlich willkommen geheißen oder gehören zu tſchechiſchen Vereinen wie um⸗
gekehrt Tſchechen zu ſlowakiſchen. Die evangeliſche Kirchen⸗ und Schulzeitung
Samuel Ambrozys bemängelt alle ſlowakiſchen Dialektausdrücke. Bücher werden
in reinem Tſchechiſch geſchrieben, mögen ſie auch mit dem Volke und Kindern
rechnen; ebenſo bezeugt die Verbreitung tſchechiſcher Bücher in den breiten Volks⸗
ſchichten das Verſtändnis der Sprache. In der amtlichen Sprache zeigt ſich frei⸗
lich ſeit Bernoläf eine Verſtärkung des ſlowakiſchen Charakters.
Aber auch planmäßig arbeiteten die Evangeliſchen Bernoläf entgegen; hieher
zählen literariſche Vereine und vor allem die Preßburger „Anſtalt der tſchecho⸗
ſlowakiſchen Sprache und Literatur“ (üstav feci a literatury deskoslovenske),
die ein Gegenſtück zu Bernoläks „Geſellſchaft“ bilden ſollte, unter dem Schlag⸗
worte der Gemeinſamkeit mit den Tſchechen. Gegenſtand ſollte das ſlowakiſche
Volk in Ungarn nach Geſchichte, Geographie, Ortsnamen, Altertümern, Volks⸗
Suphorion XXVIII. 8
114 Karl Meznik
kunde, Folklore und Literatur ſein, wie das Ribay programmatiſch feſtlegte.
Die Kraft des Leiters Palkovis reichte aber bei weitem nicht zur Ausfüllung
ſeiner verantwortungsvollen Stelle trotz aller begeiſterten Kundgebungen bei
ſeiner Ernennung. So hörte Kollar während ſeines 5jährigen Preßburger Auf⸗
enthaltes nicht eine Vorleſung über tſchechiſche Sprache und Literatur. Aber auch
wenn Palkovic las, war er nicht der Mann, die Jugend zu erwärmen, die denn
bald einen Selbſtbildungsverein gründete und endlich die Vertretung des Lehr⸗
ſtuhls durch Stür erreichte. Da jedoch dieſer die Jugend zu begeiſtern verſtand,
mißfiel dieſe Entzündung des Volksbewußtſeins in jugendlichen Köpfen ſo,
daß er 1843 entlaſſen und die Anſtalt in Unterſuchung gezogen wurde — trotz
aller Proteſte im Konvent und von ſeiten der Studenten. In Hinkunft durfte
nur mehr die Bibelſprache gelehrt werden. Trotzdem erwarb ſich Palkovis uns
ſtreitig das Verdienſt, die Einheit mit dem Tſchechiſchen aufrecht erhalten zu
haben auch durch feine „Wochenſchrift oder k. k. Nationalzeitung“ 1812—1818
(Tydennik aneb Cysafrské krälovsk& Närodni Noviny) und die freilich un⸗
regelmäßig erſcheinende „Tatranka“, da er als heimatliche Sprache das
Tſchechoſlowakiſche anſieht. Nur die Bereicherung der Sprache mit flowakiſchen
Wörtern für unverſtändliche tſchechiſche gibt er zu, ſonſt lehnt er jede Spaltung
ab. Auch in ſeiner literariſchen Wirkſamkeit tritt er für dieſes Slowakiſche ein,
das die Bibelſprache iſt. In ſeinem „Böhmiſch⸗deutſch⸗lateiniſchen Wörterbuch“
(1820/24) finden ſich zwar ſlowakiſche und mähriſche Idiotika, die er aber nur
als Provinzialismen gelten läßt.
Die gleiche Geſinnung in bezug auf das Tſchechiſche zeigt ſich bei Tablic, wenn
er das Tſchechiſche als Mutterſprache bezeichnet, Tſchechen und Slowaken als ein
Volk erklärt; auch dichteriſch bewegt er ſich mit den Tſchechen als Mitglied der
Dichtergeſellſchaft Puchmayers in anakreontiſchen Formen. Zur Zeit der Ro⸗
mantik war freilich gerade die Stellung Safarits und Kollärs, die oft genug in
der Beurteilung des Slowakiſchen ſchwankten, keine Stütze für ein entſchiedenes
Verſchmelzen mit dem Tſchechiſchen.
Dagegen wurde der Peſter Rechnungsrat Martin Hamuljäk ein neuer
Kämpfer für Bernoläk. Zur Zeit, da Jungmann und Safarif von einem Nieder⸗
gang der tſchechiſchen Literatur ſprechen, ſieht er das Heil in der ſlowakiſchen
Volksſprache, wenn er auch noch für die tſchechoſlowakiſche Einheit iſt. Von der
Herausgabe einer ſlowakiſchen Zeitung hält ihn Palkovié ab, da er das Unter-
nehmen für verfrüht erklärt. So gründet er in Peſt 1834 den „Verein der Lieb⸗
haber der ſlowakiſchen Sprache und Literatur“, an deſſen Spitze Kollär gewählt
wird; auch ein Almanach „Zora“ erſcheint 1835, 1836, 1839 und 1840 mit
Beiträgen von Katholiken und Proteſtanten in dem Slowakiſch Bernoläks und
in der Bibelſprache. Das Programm iſt von dem romantiſchen Allſlawentum
Kollärs merklich beeinflußt. Hamuljäk iſt zwar noch immer für die Einheit,
aber auch ſchon für eine Verbeſſerung Bernoläks, die dann Michael Godra for⸗
mulierte und die den Tſchechen entgegenkam; Safakik nahm aber nur die Ande⸗
rungen j für g, i für j, ü für au in feinen Antrag über die tſchechiſche Ortho-
graphie (CCM 1843) auf. Nach der entſchiedenen Schwenkung der Stüriften ließ
Hollys dichteriſchen Erfolgen auch von der dichteriſchen Kraft des Slowakiſchen
überzeugt war. Seine anderen Hoffnungen trogen ihn aber, doch kam nach
ſeinem Tode ſeine wertvolle Bibliothek nach dem Turotſcher St. Martin.
Eine neue Gefahr drohte — übrigens auch dem Slowakiſchen — durch die
konſtruierte allſlawiſche Sprache des Arwaer Advokaten Herkel „Elementa uni-
versalis linguae slavicae“ (1826), deſſen Phantaſien von Jungmann und
ſelbſt von Kollär als verfrüht abgelehnt wurden. Die ungefähr gleichzeitigen
Sonderbeſtrebungen in Mähren Ziak und Truka) dämmte Palackßs ſcharfe Ab⸗
lehnung (CCM III, 352) rechtzeitig ein.
Endlich legte der Proteſtant Rumy in Erſch⸗Grubers Enzyklopädie 1822
(XI 202) eine Lanze für das Slowakiſch Bernoläfs ein, dem er Wohlklang und
Reichtum nachrühmt, wenn er auch den kulturellen Vorrang des Tſchechiſchen an⸗
erkennt. Vor allem war aber die Dichtung Hollys national und ſlowakiſch in
ausgeſprochenem Sinne. Trotzdem erfreute er ſich auch in Böhmen großer Be⸗
liebtheit. Nun mutet es aber wahrhaft tragiſch an, daß ſeine Dichtungen von
den Stüriſten nach ſeinem Tode in ihre Sprache umgegoſſen wurden, ſo daß alſo
ſeine und Bernoläks Sprache erledigt war.
Noch glaubten die tſchechiſchen Romantiker, Jungmann an der Spitze, an
eine Verſchmelzung des Slowakiſchen mit dem Tſchechiſchen; Palackys ent⸗
ſchiedene Gegnerſchaft gegen jede Zerſplitterung, worin ihm Safakik und Kollär
zuſtimmten, beſtärkt den Einheitsgedanken. Safakik, der geborene Slowake,
argumentiert etwa ſo: Das Slowakiſche ſteht dem Tſchechiſchen am nächſten,
zeigt aber auch nahe Berührung mit dem Altſlawiſchen und Kroatiſchen; in
ſeiner früheren Zeit betont er auch die Beſonderheiten gegenüber dem Tſchechi⸗
ſchen, ja er empfiehlt Kollär eine neue ſprachliche Aufmachung des Slowakiſchen.
In der „Slawiſchen Ethnographie“ (Slovansky-Närodopis, Prag 1842) iſt ihm
aber das Tſchechiſche ein Ganzes, das Mundarten wie das Slowakiſche auf⸗
weiſt, aber nur eine Schriftſprache hat. Die Verteidigung der Einheit iſt dann
deutlich in den „Stimmen“ („Hlasové“ 1846) mit der entſchiedenen Ablehnung
der Spaltung Stürd. Ahnlich iſt der Standpunkt Kollärs: Vom Slowaken geht
der Weg über den Tſchechen zum Slawen, wenn er auch wegen des Wohlklanges
das Slowakiſche vielfach vorzieht. Aus dem Gedanken der Einheit heraus wollte
er auch die katholiſche Seite gewinnen, womit feine Parteinahme für Hamuljak
und die Vorſtandſchaft im Peſter Verein begründet erſcheint. So erklären ſich
wohl auch feine Sprachneuerungen und Kompromißformen ſeit der „Slävy
Dcera“, die Jungmann glatt ablehnt. Die flowakiſchen Schriftſteller beein⸗
flußte er am meiſten durch feine Volksliederſammlung (1834/35 „Närodnie
Zpievanky“). Gerade die ſtarke Zerſplitterung des Slowakiſchen in Mundarten
iſt ihm ein Hindernis für die Schriftſprache. Das Tſchechiſche, kulturell höher,
befruchtet erſt das Slowakiſche und iſt auf älterer Stufe mit ihm eins. Auch den
Hinweis auf Einigungsbeſtrebungen bei anderen Völkern verabſäumt er nicht.
Sonſt aber hat gerade wieder ſeine romantiſche Auffaſſung des Slowaken als
Slawen, der Tatra als Wiege des Slawentums den allſlawiſchen Gedanken bei
116 Karl Meznik
den Slowaken mächtig geſtärkt. Schwärmt er auch von einem einheitlichen
Slawentum, ſo tritt er doch auch wieder für die tſchechoſlowakiſche Wechſelſeitig⸗
keit ein, ja er hält es für leichter, daß 2 Millionen Slowaken tſchechiſiert, als
daß 4 Millionen Tſchechomährer ſlowaziſiert würden. Ahnlich klar äußert
ſich Karl Kuzmäny 1836 bei der Herausgabe der belletriſtiſchen Zeitſchrift
„Hronka“, die tſchechiſch geſchrieben werden ſoll. Dieſe Schriftſprache iſt ihm
ſchon ein ausgleichendes Ergebnis zwiſchen Mundarten, überflüſſig alſo die
landſchaftliche neue Sprache Bernolaks. Die Preisgabe des Tſchechiſchen be⸗
deutet einen Verluſt von Jahrhunderte alten literariſchen Schätzen. Er erklärt
ſlowakiſche mundartliche Eigenheiten wie auch umgekehrt tſchechiſche, den Slo⸗
waken unverſtändliche Wörter. Die Evangeliſchen hatten übrigens gelegentlich
ſchon früher Breſche gelegt in das reine Bibeltſchechiſch bis herauf zu Samuel
Chalupka, der zuerſt nur das Tſchechiſche den Slowaken verſtändlicher machen
wollte, ohne an eine Trennung zu denken, und doch mag auch dieſes Streben jene
Spaltung begünſtigt haben.
Die hohen Erwartungen, die alle Slowaken in die Gründung der Lehrkanzel
für tſchechoſlowakiſche Sprache und Literatur am Preßburger Lyzeum ſetzten,
erfüllten ſich bei der unbedeutenden Wirkſamkeit ihres Vertreters, Palkovis,
der zudem lateiniſch las, nicht. In der von Studenten gegründeten gelehrten
Geſellſchaft wurden S. Chalupka, M. M. Hodka, ſeit 1831 auch L. Stür und ſeit
1837 endlich auch J. M. Hurban die Führer, die bald auch über den Lehrer Macht
gewannen. Sie verlangten Vorträge in der Mutterſprache, Unterweiſung
in der neuen Rechtſchreibung und in der quantitierenden, nicht bloß in der
akzentuierenden Metrik. Stür, bald der Vertreter des eigentlichen Lehrers,
gewann nunmehr entſcheidenden Einfluß auf die Jugend. Die Zeit, in der es
in der Jugend ganz Europas gärte, wühlte die jungen Geiſter mächtig auf. Ein
tiefes Sehnen nach vergangener Größe und nach entſprechender Geltung in der
Gegenwart erfüllte die jugendlichen Herzen. Klagende Schwermut über ver⸗
ſunkene Herrlichkeit löſt wilder Haß gegen Unterdrückung und Rechtloſigkeit ab;
der von überwältigendem geſchichtlichen Geſchehen durchtränkte Boden von
Preßburgs Umgebung mußte ſolche überſchwengliche Träume reifen laſſen.
Denkwürdig wurde der Ausflug am 24. April 1836 nach Theben, wo man ſich
von elegiſcher Verſenkung in die mehr als tauſendjährige Vergangenheit des
Großmähriſchen Reiches zu trotzigem Widerſtand gegen die Tyrannei der
Gegenwart aufraffte. Große Beiſpiele ruhmvoller Vergangenheit bot aber den
jugendlichen Köpfen, die zugleich Dichter waren, auch die tſchechiſche Geſchichte.
J. M. Hurban kam in ſeiner Spezialſchule für Slowaken 1840 über unfrucht⸗
bares Klagen nicht hinaus, das freilich herzbewegend auch die andere Jugend zu
Tränen rührte. Auch vom Weltbürgertum erhoffte man Heilung, ſo daß ſich
eine reiche Überſetzertätigkeit entfaltete. Doch auch die ſtrenge Wiſſenſchaft
wurde nicht vernachläſſigt, da man nur ſo eine harmoniſche Ausbildung er⸗
warten durfte. Aber alle ſchriftlichen Belege aus dieſer Zeit ſind tſchechiſch. Die
tſchechiſche Schriftſprache iſt das einigende Band auch für die ſlowakiſche Kultur.
Auch in öffentlichen Reden zeigt ſich die gleiche Geſinnung bei Hodza wie bei
Die ſlowakiſche Spaltung 117
Stür und Hurban. Ebenſo denken die ſtudentiſchen Vereine von Presov bis Preß⸗
burg und Peſt. Aber den Keim des Zerfalles bot gerade die Romantik, von der
Stür und ſeine Anhänger durchſättigt waren. Die Arbeit für das Volk führt erſt
zu der Höhe der Menſchheit. Unbegreiflich erſcheint alſo den jungen Schwärmern
die Gewalttätigkeit des kleinen Magyarenvolkes, das doch erſt recht ein Aus⸗
leben der völkiſchen Individualität begünſtigen müßte, zumal Slawen vor Arpad
das Land beſaßen. Herder und Kollär mit ihrem hohen Begriff von der Sen⸗
dung des Slawentums verlangten eine ſtarke Kraft, die nur die ganze Slawen⸗
welt bieten konnte. Dazu ſpornte nun die romantiſche Schwärmerei von der
Altertümlichkeit des Slowakentums, von der Wiege des Slawentums in der
Tatra ebenſo an, wie das Selbſtändigwerden der Südſlawen. Aber dieſe Über⸗
legung mußte naturgemäß zur Vorſtellung einer gleichwertigen Beiordnung zu
den übrigen Slawen führen, mithin das Band mit den Tſchechen lockern. Das
Heil der Erlöſung erwartete man von den Ruſſen, die fleißig geleſen und über⸗
ſetzt wurden; Sreznͤvskij und Bodjanskij wurden 1838 bei ihrem Beſuch in
Preßburg und der übrigen Slowakei begeiſtert aufgenommen, gleich warm bei
Katholiken und Proteſtanten; Holly war bis zu Tränen ergriffen, daß er einen
Ruſſen umarmen konnte. Durch die Ruſſen wurde auch die Aufmerkſamkeit auf
die ungariſchen Ruſſinen (Ruthenen) gelenkt. Weit kühler war ſchon das Ver⸗
hältnis zu den benachbarten Polen, wohl wegen der Freundſchaft zwiſchen pol⸗
niſchem und magyariſchem Adel. Nur vereinzelt intereſſieren ſich die jungen
Slowaken auch für die polniſche Dichtung.
Die regſten Beziehungen unterhielten aber die Stüriſten zu den Südſlawen,
die auch zahlreich in Preßburg ſtudierten. Ein inneres Verhältnis mußte ſchon
die gleiche Unterdrückung durch die Magyaren bewirken. Der Illyrismus Gays,
der übrigens auch an den gebürtigen Slowaken, dem Biſchof Haulik und dem
damaligen Agramer Kanonikus Moyzes, tatkräftige Förderer fand, erweckte in
Preßburg Widerhall).
So befruchtend die Beziehungen zu den Südſlawen und Ruſſen wirkten, fo
lähmend machte ſich der magyariſche Druck bemerkbar. Das Tſchechiſche war als
ausländiſche, alſo ſtaatsgefährliche Sprache völlig verpönt. Am deutlichſten er⸗
kannte man die Wirkung in den politiſchen Folgerungen, die den Panſlawismus
als zerſtörendes Element einſchätzten. Auf kirchlichem Gebiet griff dann der
Kircheninſpektor Graf Zay die einzige feſte Stellung der Slowaken an, indem er
die evangeliſche Geiſtlichkeit für eine kalviniſch⸗proteſtantiſche Union gewinnen
wollte, um ſo der huſſitiſchen Tradition den Garaus zu machen. Magyaren und
Magyarophile wurden jetzt das Schreckgeſpenſt für volksbewußte Slowaken
wie für andere Slawen. Die Einführung des Magyariſchen an Stelle der la⸗
teiniſchen Amtsſprache wird von Stur im magyariſchen Sprachgebiet ruhig zu⸗
4) Auffällig erſcheint in einem Antwortſchreiben Hurbans an Gay (10. Oktober 1837) die Be⸗
merkung, daß hier (in Preßburg) noch „bisher“ die tſchechoſlowakiſche Grammatik vorgetragen werde.
obzwar derſelbe Hurban noch 1842/3 in feinem Aufſatz „Über das nationale und literariſche Leben
der Slowaken“, ſpäter 1844 auch in den Slawiſchen Jahrbüchern II 15 abgedruckt, im „Kolo“
gegen die Spaltung Bernoläks für das Feſthalten am Tſchechiſchen eintritt.
118 Karl Meznik
geſtanden, aber für das ſlowakiſche Gebiet wird ebenfalls die Volksſprache ver⸗
langt. Doch auch die Beziehungen zu Böhmen und Mähren ſollen fortdauern.
Als Rußland zugunſten der bedrohten Habsburgerdynaſtie mit bewaffneter
Hand in Ungarn eingriff, dachte es nicht im entfernteſten an einen Schutz der
vergewaltigten Slowaken. Der Panſlawismus blieb alſo ein problematiſches
Phantom, real konnte nur die Einheit mit den Tſchechen helfen. Auch das galt
ſchon als Hochverrat, weil es ein Verband über die Grenzen hinaus war. Den
Slowaken blieb alſo nur die Hoffnung auf die Dynaſtie, zu der ſie treu ſtanden
trotz ihrer erſchütterten Stellung.
Aber damit begann ſchon wieder das neuerliche Schwanken zwiſchen dem
Tſchechoſlowakiſchen und dem Reinſlowakiſchen. Der bei der Schwäche Wiens
unausweichliche Kampf erforderte ſtarke Mittel, die Maſſenwirkung übten.
Dazu mochte taktiſch auch das Slowakiſche gerechnet werden. Es war ein Binde⸗
glied mit den Katholiken, die / der Bevölkerung ausmachten, dann auch noch
mit dem heimiſchen Adel und mußte politiſch beſänftigend wirken, wenn man
die kulturellen Beziehungen zum Ausland, den Tſchechen, abbrach. Schon gab es
eine Annäherung an die katholiſchen Slowaken, wenn die Stüriſten bereits Ende
der 30er und Anfang der 40er Jahre Holly als heimiſchen Dichter begeiſtert
prieſen, da er das Vaterland zu neuem Leben erweckte.
Der Prozeß gegen Stür als Leiter der Preßburger „Anſtalt für tſchechoſlowa⸗
kiſche Sprache und Literatur“ wegen Panſlawismus dauerte von Mitte Juni
bis in den Herbſt 1843 hinein, bis endlich im Dezember Sturs Entlaſſung amt⸗
lich beſtätigt wurde. Trotz aller Kundgebungen der Studenten blieb die Ab⸗
ſetzung beſtehen, ja die Studenten ſelbſt mußten ſich zerſtreuen, freilich nicht zum
Schaden der nationalen Idee, die ſie jetzt als um ſo treuere Jünger überallhin
verpflanzten, da ſie von ihrem Lehrer geradezu faſziniert waren. So gewann
hier wie immer und überall wieder eine neue Idee die Jugend und damit war
ihr Sieg ſicher.
Wann die Entſcheidung für die ſelbſtändige ſlowakiſche Schriftſprache bei
Stür und ſeinen Anhängern fiel, iſt nicht ſicher auszumachen. 1842 ſcheinen ſie
noch am Tſchechiſchen feſtzuhalten, erſt zu Beginn des Jahres 1843 traten ſie
für das ſelbſtändige Slowakiſche ein. Bei Stür iſt eine Reviſion in mehrfacher
Hinſicht feſtzuſtellen. Noch während ſeiner Halleſchen Studien war er durchaus
Demokrat, aber Jonas Zäborsky, der 1839 dort mit ihm ſtudierte, legte ihm die
Mitarbeit der Geiſtlichkeit und des Adels ans Herz, die beide die breiten Maſſen
nach ſich ziehen. So näherte ſich Stür nach ſeiner Rückkehr aus Halle tatſächlich
dem Adel, in dem auch Safarik zuſammen mit den höheren Schichten das eigent⸗
liche Volk in Ungarn erkannte. Auch in der Philoſophie ging er über Hegel hin⸗
aus, da er durch die Slawen eine neue Idee reifen ſah: das Gute. Der Pan⸗
ſlawismus war ihm jetzt nur ſoweit wertvoll, als die Berufung der Slowaken
in Betracht kam. Wie nach Francisci Gays Illyrismus infolge der Vereinigung
dreier Völker unhaltbar iſt, fo wird das auch mit dem Tſchechoſlowakiſchen der
Fall ſein, da die Slowaken ein ſelbſtändiger Stamm ſind. Ahnlich will auch
Stür nur den Begriff des Slawentums, keineswegs den Illyrismus gelten laſſen.
Die ſlowakiſche Spaltung 119
In Briefen aus dem Beginn des Jahres 1843 ſtoßen wir ſchon auf den Be⸗
griff der ſelbſtändigen ſlowakiſchen Sprache, auf die Unabhängigkeit von den
Tſchechen; iſt doch die Sprache der untrüglichſte Ausdruck der Volksindividualität.
Im Herbſt bringt bereits die „Volkstümliche Unterhaltung“ (Prostonärodni
zäbavnik) Erzeugniſſe des Volkes (Lieder, Erzählungen, Sprichwörter, Rätſel,
Gebräuche uſw.) in ſlowakiſcher Sprache, ebenſo der zweite Teil im Februar
1843 und vollends der dritte 1844, wo auch ſchon das tſchechiſche Titelblatt fehlt.
Stür bereitet inzwiſchen im ſtillen eine tief ſchürfende Abhandlung über die
Notwendigkeit der ſlowakiſchen Schriftſprache vor. Auch der ſchwankende Hur⸗
ban, der ſchon früher die ſlowakiſche Individualität betont hatte, wenn auch
noch ſeine „Nitra“ 1842 tſchechiſch erſchien, war im Februar 1843 für die Sache
gewonnen. Seine Gründe find das vergebliche Bemühen der ſlowakiſchen evan⸗
geliſchen Geiſtlichen, das Tſchechiſche zu meiſtern, der Hinweis auf die magya⸗
riſchen Verdächtigungen, die Unterſtützung des Adels und der Geiſtlichkeit, bis
er endlich im Herbſt 1843 auch auf die Beſonderheit des ſlowakiſchen Stammes
— ganz im Sinne Stürs — hinweiſt. Durch die Einladung an Holly, einen
Beitrag für die „Nitra“ im Oktober 1843 zu leiſten, riß er auch die Schranken
zwiſchen Katholiken und Proteſtanten nieder. Die „Nitra“ wurde denn auch
rafch genug 1844 in ſlowakiſcher Sprache zugelaſſen. Die Herausgabe in ſlo⸗
wakiſcher Sprache wird ausführlich begründet: Das Tſchechiſche war ſchwer ver⸗
ſtändlich, der Adel hielt ſich abſeits, die Katholiken laſen die neue tſchechiſche
Schrift nicht und die Evangeliſchen ſchrieben wegen der Schwierigkeit des Tſche⸗
chiſchen nichts. Bernolaks Sprache war aber nicht die Sprache der Tatra⸗
Slowaken, das Slowakiſche war ſo nur ein Anhängſel des Tſchechiſchen auch in
der Literatur. Die Zuſtimmungskundgebungen mehrten ſich auf allen Seiten
unter den ſlowakiſchen Schriftſtellern, die Gedanken blieben im großen ganzen
immer wieder dieſelben. Hodza beharrte in feiner Zurückhaltung, da ihm 1836
die nüchterne verſtandesmäßige Überlegung genug Gründe für die alte Einheit
eingab. Aber auch bei ihm verfing jetzt der Grund von der Stammesindividuali⸗
tät. Kollär verſtand den Ausbruch der Bewegung aus inneren Gründen, weil
die Tſchechen auf die literariſchen Erzeugniſſe der Slowaken, zumal der Prote⸗
ſtanten, wenig Rückſicht nehmen. Und ſo ahnte man überall das Aufkommen der
neuen ſlowakiſchen Schriftſprache, meiſt mit vielen Hoffnungen für das neu
erwachte Selbſtbewußtſein der Slowaken. Im Sommer 1844 kamen in Hluboko
bei Hurban Stür, HodZa, Kuzmäny und Zävodnik zuſammen und beſchloſſen die
Gründung eines Vereins zur Herausgabe bildender ſlowakiſcher Bücher, auch
Holly gab freudig ſeine Zuſtimmung und ſo wurde am 27. Auguſt 1844 in St.
Nikolaus in der Liptau der ſlowakiſche Verein „Tatrin“ gegründet, um das ſlo⸗
wakiſche Leben ohne Rückſicht auf Religion und Stand zu wecken. Noch ver⸗
langte Hodza ein freundſchaſtliches Verhältnis zu den Tſchechen. Der Erfolg
war durchſchlagend, faſt die ganze kulturell zu wertende Slowakei trat bei, ſelbſt
Frauen, neu gebildete literariſche Vereinigungen ſtützten ihn.
Es kam nun ganz darauf an, wie Stür ſeine neue Zeitung ſchreiben werde,
deren Notwendigkeit bereits Jahre hindurch anerkannt war. Zay hatte ſchon
120 5 Karl Meznik
1840 HodZa ein ſolches Anſuchen als ſlawiſches Unternehmen rundweg abge⸗
lehnt. So ſuchte man jetzt überall Fürſprache. Noch im Winter 1842 reichte
Stür um die Bewilligung ein und wiederholte das Anſuchen am 14. Oktober
desſelben Jahres. Kollär empfahl, ſich nach Wien zu wenden. Auch der Adel
ſetzte ſich ein. Im März 1843 ging das Geſuch zum viertenmal ab mit der Unter⸗
ſchrift von 148 Adeligen, 43 Prieſtern, Superintendenten und Stuhlbeamten.
Aber auch dieſes Geſuch wurde vom Palatin abgelehnt, weil es dem Sinne der
Staatsſprache zuwiderlaufe, dieſe Sprache nicht geſprochen werde und das flo-
wakiſche Volk dadurch nur aufgehetzt würde. Eine Berufung der unermüdlichen
Kämpfer Kollärs, Caplovic' und Stürs wurde in der Kabinettskanzlei vom
Miniſter Grafen Kolovrat und dem Kroaten Klobusarié unterſtützt. Eine Er:
kundigung nach Stürs Charakter Ende November 1843 war ſicher nur noch ein
Schachzug der Magyaren hinter den Kuliſſen, die das Unternehmen als Politi⸗
kum zu hintertreiben ſuchten. Stür entſchied ſich nun im Juli 1843 über allge⸗
meines Verlangen für die ſlowakiſche Sprache und das half ihm denn auch im
Jahre 1844, da die Referenten, darunter Regierungsrat Ferſtl, gerade den Hin⸗
weis auf das Slowakiſche als Gegengewicht gegen das Tſchechiſche und Illy—
riſche ohne jegliche Bedrohung des Magyariſchen unterſtrichen, ſo daß über
Empfehlung des Grafen Sedlnicky der Kaiſer am 15. Januar 1845 die „Slo⸗
wakiſche Nationalzeitung“ (Slovenskje Närodäje Novini) bewilligte. Noch
wurde von der ungariſchen Regierung die Bewilligung zurückgehalten, im Juni
1845 war alſo eine neue Vorſprache notwendig. Katholiſche Geiſtliche in Peſt
waren jetzt eher für die tſchechoſlowakiſche Einheit, auch Kollar war jetzt ent⸗
ſchieden dafür, Stür ſelbſt rückte nur vor den intimſten Freunden mit ſeiner Ab⸗
ſicht heraus, ſie völlig ſlowakiſch zu ſchreiben. Auch in der Ankündigung vom
15. Juni 1845 ſchrieb er noch von dem langen Kampf vor der letzten Entſchei⸗
dung, die für die eigene heimiſche Mundart gefallen ſei. Die Sprache war die
der Gebildeten, dem breiten Volke wohl kaum in allen Ausdrücken verſtändlich.
So gab auch bei dieſem Zeitungsunternehmen den Hauptausſchlag ſicherlich die
Politik. Der 1. Auguſt 1845, der Tag ihres Erſcheinens, war ein allgemeiner
Freudentag. Mitarbeiter gab es in Fülle, durchaus gelehrte. Da Stür den Ernſt
dieſer Trennung voll ermaß, bereitete er den Schritt im ſtillen jahrelang gut vor.
Eine breitere Begründung bot ſeine Verlautbarung an die Landsleute (Hlas
k rodäküm) im Orol Tatransky: Die Slowaken find ein Stamm mit einer
eigenen Mundart. Man muß ſich dieſer Selbftänpigfeit bewußt werden. Nach
Safarik gibt es drei Hauptgruppen: die mähriſch⸗flowakiſche (Trentſchin, Neu⸗
tra, Preßburg), die eigentlich ſlowakiſche (Neutra, Trentſchin, Tekov, Hont,
Zurec, Arva, Zvolen, Liptau, Gemer, Novohrad, Peſt) und die polniſch⸗ſlowa⸗
kiſche (Zips, Saris); dann folgen wieder nach Safarik als Hauptmerkmale:
1. a, u (Cakat, dusu), 2. a, ä für e (mäso), 3. e für & (&lovek, aber de, te,
ne — dè, t&, n&), 4. der Inſtrumental duchom, dobrom, 5. der DatSg rule,
nohe, 6. dz (nudza, medza), 7. 1 -rj (rjeka, rjad), 8. dobrjeho, 9. dau
(dal). Es kommt alſo dem Altkirchenſlawiſchen nahe und zeigt Wohlklang und
Friſche. Zur Grundlage muß eine abgerundete Mundart genommen werden.
Die ſlowakiſche Spaltung 121
Durch deren Erhöhung zur Schriftſprache wird nur eine Zerſplitterung einge⸗
dämmt. Auch ſonſt mußte bei einer jeden Schriftſprache eine Mundart die
Grundlage abgeben. Eine Miſchung dagegen war das Tſchechoſlowakiſche. Die
Vorgänger Bernoläf, Fändly, Ottmayer, Hamuljäk bis Holly bildeten einen
notwendigen Übergang. Stür faßt die Unterſchiede zwiſchen Tſchechiſch und
Slowakiſch nach Ribay, Dobrovskp und hauptſächlich Safarit zuſammen, nimmt
die pannoniſche Theorie Kopitärs, die Anſicht Kollärs und endlich die Grund⸗
lage der Bernoläkſchen Sprache an. Schon mehr ins einzelne geht die Schrift
„Nareòja slovenskuo alebo proteba pisanja v tomto näre&i („Die ſlowa⸗
kiſche Mundart oder die Notwendigkeit, in dieſer Mundart zu ſchreiben“)
1846, Hodza und Hurban gewidmet; 1845 hatten die Freunde beſchloſſen, auch
öffentlich und wiſſenſchaftlich das Slowakiſche zu gebrauchen; nun ſteht faſt
alles hinter ihnen, die Älteren zum großen Teil, die Jüngeren völlig, auch Kollär
erlahmt in ſeinem Widerſtande. Die Slowaken erwachen jetzt erſt, man muß zu
ihnen in der Sprache reden, die ihnen verſtändlich iſt. Die Eigenart des
Stammes verbürgt geiſtige Kräfte; man denke nur an die Griechen. Die Slawen
zerfallen in 11 Stämme: Großruſſen, Kleinruſſen, Bulgaren, Serben, Kroaten,
Slowenen, Polen, Tſchechen, Oberlauſitzer, Niederlauſitzer, Slowaken. Wer von
ihnen eine reine und unverdorbene Mundart beſitzt, möge in ihr ſchreiben. Wenn
aber ein Stamm nur vegetiert, möge er ſich dem benachbarten anſchließen, ſo die
Bulgaren den Serben, die Slowenen den Kroaten. Aber Kollärs Vorſchlag, die
Zahl der Mundarten auf vier zu verringern, wird abgelehnt, da jetzt im fla-
wiſchen Zeitalter auch geiſtige Gemeinſchaft genug Schutz bietet. Kollärg
„Slävy dcera“ und Safariks „Starokitnosti“ („Altertümer“) find rein ſlowa⸗
kiſche Werke. Eine Unterordnung unter das Tſchechiſche iſt nicht ſtatthaft, weil
das Slowakiſche gleichwertig iſt. Endlich iſt das Slowakiſche der ſlawiſche Zen⸗
traldialekt, die Tatra der Mittelpunkt und urſprüngliche Sitz der Slawen in
Europa, das Slowakiſche der Übergang von den weſtlichen zu den öſtlichen
Mundarten. Den Deutſchen ſpricht er eine ſolche Stammhaftigkeit ab, da deren
Mundarten ſich nicht allzuſehr unterſcheiden. Den Deutſchen, die mehr denken
als handeln, ſei die Schriftſprache wichtiger als den Slawen, die doch weit mehr
handeln. Übrigens ſei bei andern Völkern, ſo den Engländern, die Sprache ein
wahres Gemiſch 5). Das Kirchenſlawiſche einte nicht einmal Serben und Ruſſen,
übrigens hätte es nicht zum Leben getaugt. So würde auch das Tſchechiſche die
Slowaken nur behindern, da beide Stämme ganz verſchieden ſind. Auch ſprach⸗
lich find fie verſchieden: k fehlt dem Tſchechiſchen, dem Slowakiſchen nicht, ebenſo
g. dz, d, ja, das Slowakiſche iſt alſo polyphoner; F kennt der Slowake nicht.
Auch die Lautkompoſition und Dehnung iſt verſchieden (Ferep-strep, plesnina-
plisen, slavik-slävik), ebenſo die Deklination cholubom InſtrSg, bratja
Nl, dusa NSg, slovami Inſtrꝙl, traja, ma (mè), pijem 1. Sg., &iuja 3. Pl.);
die Tſchechen haben ein anderes Geſchlecht (ta ret; az, ten zver) und andere Wortbe⸗
5) Stürs Begriff der Stammhaftigkeit führt, um von entfernteren Beiſpielen Rom und den
Türken zu ſchweigen, dazu, daß die Deutſchen, Franzoſen, Engländer, Italiener uſw. falſch beur⸗
teilt werden.
122 Karl Meznik
deutung (Selma tſchech. Raubtier, flow. Nichtsnutz, chudy tſchech. arm, flow.
mager, lübiti tſchech. placere, ſlow. amare); viele Worte fehlen wechſelſeitig,
wobei das Slowakiſche reicher iſt. Das Tſchechiſche iſt von Deutſchen beeinflußt.
Mit dem Slowakiſchen nützt man auch den Slawiſchen, weil es zugleich ein Bild
aller ſlawiſchen Mundarten bietet; es füllt den Riß zwiſchen Katholiken und
Evangeliſchen und verbindet Adel und Volk. Übrigens wird die geiſtige Verbin⸗
dung mit den Tſchechen weiterdauern.
Hodka fühlte vor allem die wiſſenſchaftlichen Mängel deutlich heraus, lehnte
daher dieſe Beweiſe ab und legte das Hauptgewicht auf den allſlawiſchen
Charakter des Slowakiſchen (Vetin o sloven£ine). Stür ließ aber raſch auch
die wiſſenſchaftliche Begründung nachfolgen: „Nauka redi slovenskej“ („Slo⸗
wakiſche Sprachlehre“) 1846. Nach einer Beratung mit den Freunden, die eine
Vereinigung mit den Katholiken beſchloſſen, erwählte Stür die Mundart der
Tatra als das reinſte und treueſte Abbild des Slowakiſchen. Der tſchechiſchen
Schweſter werden die Slowaken immer dankbar bleiben. Im Slowakiſchen lebt vor
allem die Volkspoeſie, es iſt ihm die Sprache der Sprachen, wie das Indiſche. Als
Grundlage dient ihm das reine Mittelſlowakiſche. Die eigentliche Grammatik
fußt vornehmlich auf Dobrovsky, hie und da auch auf Cegielski und Bernoläf.
Dabei unterlaufen ganz romantiſche, unwiſſenſchaftliche Erklärungen und Wort⸗
erläuterungen. In der Formenlehre läßt er noch gewiſſe tſchechiſche Parallel⸗
formen: duze neben duhe u. ä. gelten. Die Grammatik, die ſich übrigens
wiſſenſchaftlich gibt, iſt durchaus nicht volkstümlich.
Sein extremer Standpunkt von der ſelbſtändigen Einſchiebung des Slowa⸗
kiſchen wirkte auch auf ſeine Schüler. Von der ſprachlichen Selbſtändigkeit ſchritt
man bald auch zur Selbſtändigkeit im geiſtigen Leben überhaupt fort. Das
Slowakiſche bekam jetzt eine neue Aufgabe in der Menſchheitsgeſchichte, da es
die Sendung des Slawiſchen zer E£oynv zu erfüllen berufen war. Auch Hurban
verkündete nunmehr dieſe Sendung des Slowakentums; das Großmähriſche
Reich bedeutet ihm die Slowakei, Cyrill und Method ſind Slowaken. Ein er⸗
träumtes Phantom romantiſchen Wunderglaubens erſteht, das den nüchternen
Weg zu den Tſchechen immer mehr verdunkelt. Das vor der Offentlichkeit unein⸗
geſtandene Beſtreben, vor den Magyaren ſelbſtändig zu erſcheinen, wie es der
heimiſche Partiotismus heiſchte, jede politiſche Verbindung mit den Tſchechen von
vornherein abzulehnen, war mit eine der geheimen Triebfedern dieſer ganzen Be⸗
wegung. Unverſtändlich erſcheint alſo Stür das Weiterhetzen der Magyaren
gegen das Slowakiſche. Auch ſeine Anhänger betonten dieſe Grundurſache der
Trennung von den Tſchechen (Daniel Lichard, Stefan Leska, M. Soltis, Hurban
vor allem wegen des Adels, Hodza im geſamtſtaatlichen Intereſſe, J. V. Fri&
mit Rückſicht auf Katholiken und Evangeliſche, Wenzel Pok Podèbradsky, Niko⸗
laus Dohnäny und Ivan Kukuljevic). Stür zeigt ſich als gewandter Politiker,
wenn er daheim die Vereinigung von Katholiken und Proteſtanten und die Er⸗
weckung des Volkes unterſtreicht, vor den Tſchechen gegen mögliche magyariſche
Unterſchiebungen Stellung nimmt und vor den Ruſſen ſeine allſlawiſche Ge⸗
ſinnung hervorhebt.
Die ſlowakiſche Spaltung 123
Auch das gemeineuropäiſche Streben kleinerer Völker nach ihrer Wiedergeburt
auf Grund Rouſſeauſcher Lehren über die deutſche Romantik bis zu den Be⸗
ſtrebungen des Jungen Deutſchland wirkte in dieſem Gedankengange nach. In
Böhmen, wo man aus Kurzſichtigkeit noch nicht einmal Mähren völlig einbezog,
vernachläſſigte man die Eigentümlichkeiten der Slowaken, womit man deren
Empfindlichkeit verletzte, geſchweige daß man imſtande geweſen wäre, ihnen
den Begriff einer gemeinſamen Heimat, einer inneren Zuſammengehörigkeit
wenigſtens gefühlsmäßig näherzubringen. Auch der mähriſche Separatismus
eines Sembera mußte fie trotz Langers eindringlichen Warnungen in ihrem
Unterfangen ebenſo beſtärken wie Kläceld Philoſophieren von der tſchechiſchen
Sprache (1843).
Andersſprachige Aufſätze der Zeit forderten, freilich noch in den Fußtapfen
Dobrovskys und Safaxkiks, die tſchechoſlowakiſche Einheit, fo der Deutſche M. J.
C. Vollbeding, in England J. Bowring und E. Robinſon, beſonders der
Deutſche J. P. Jordan, während andere ſlawiſche Gelehrte eher die ſlowakiſche
Individualität anerkannten, fo Karamzin, Bodjanskij, Srezunévskij, Preis,
Kopitär, der über Dobrovskys Zuteilung der Slowaken zu den Tſchechen hinaus
das Slowakiſche als Mittel zur Erlernung anderer ſlawiſcher Mundarten pries.
Der ſüdſlawiſche Standpunkt, daß man dem Magyarismus nur durch eine
eigene Nationalkultur begegnen könne, mußte naturgemäß die ſlowakiſchen
Führer in ihrer Begründung beſtärken. Endlich brachte der polniſche Aufſtand
auch nach der Slowakei polniſche Flüchtlinge, ſo daß auch von dieſer Seite eine
Förderung der völkiſchen Idee gegeben war.
In Böhmen fehlte es naturgemäß nicht an dem ſchärfſten Widerſtande. Ano⸗
nym erſchien ſchon 1845 in Leipzig die Broſchüre „Ein rechtzeitiges Wort von
Patriotismus, vom Tſchechiſchen und vom tſchechoſlowakiſchen Volk mit Rück⸗
ſicht auf den Deutſchen Bund, hauptſächlich den Zollverein“ („Slovo v Sas o
vlastenectvi, o &estinè a o näroda Ceskoslovenskem s ohledem na spolek
nẽmecky, zvläste celni“), in der mit einem Seitenblick auf die deutſchen Ver⸗
hältniſſe die Notwendigkeit der Einigkeit betont wird, um überhaupt irgend⸗
welche Rechte zu erlangen. Dann gibt es leichte Plänkeleien hin und her in
verſchiedenen Zeitſchriften; ernſte Bedenken führen Palacky aus geſchichtlicher
Überlegung der früheren Einheit und Havlicek mehr vom politiſchen Stand⸗
punkt aus ins Treffen. Am gewichtigſten ſind dann 1846 vom Muſeumsaus⸗
ſchuß die „Stimmen von der Notwendigkeit der Einheit einer Schriftſprache für
Tſchechen, Mährer und Slowaken“ („Hlasové o potrebè jednoty spisovn&ho
jazyka pro Cechy Moravany a Sloväky“) als Nummer 22 der Muſeums⸗
zeitſchrift. Es iſt eine geradezu wiſſenſchaftliche Behandlung der ganzen Frage
mit reichen Beiträgen berufener Gewährsmänner aus früheren Jahrhunderten
bis auf die jüngſte Vergangenheit zu Dobrovsky und Tablic. Die nachdrück⸗
lichſten Bedenken erheben von gegenwärtigen Autoritäten Palacky (die geſchicht⸗
liche Einheit auch in der Sprache iſt beſonders durch die Bibelſprache begründet,
dann in der nationalen Kultur und Literatur, während die ſprachlichen Ver⸗
ſchiedenheiten organiſch aus der verſchiedenen kulturellen und politiſchen Ent⸗
124 Karl Meznik
wicklung erwachſen; durch Stür erfolgt eine Dreiteilung der Slowaken; da keine
anerkannte Schriftſprache vorhanden iſt, wird das Magyariſche aus dieſer Zer⸗
ſplitterung um ſo größeren Nutzen ziehen), Jungmann (erbringt den philo⸗
logiſchen Nachweis der ſprachlichen Entwicklung mit Hinweiſen auf das
Deutſche), Safarik (läßt nur eine einzige Sprache für das ganze Gebiet von
Böhmen, Mähren und der ungariſchen Slowakei gelten; das Slowakiſche iſt
nur eine Volksliteratur im weiteren Umfang des Tſchechiſchen, aus dem dieſes
ſchöpfen könnte; Zerſplitterung bringt aber nur eine Schwächung), Kollär
(nimmt leidenſchaftlich gegen das Unglück des Separatismus Stellung; auch im
einzelnen verwirft er in recht ſtarken Ausdrücken Stürs Unterfangen). Auch
andere Gewährsmänner, die für die Einheit eintreten, kommen zu Worte, ſo
Jonas Zäborsky, K. A. Sembera. Dieſe Warnungen erweckten denn auch in der
Slowakei nachhaltige Bedenken, fo bei Daniel Sloboda, dem Schwager Hur⸗
bans. Stür und Hurban blieben aber die Antwort nicht ſchuldig. Stür ſchrieb in
dem Orol Tatransky feine „Stimme gegen die Stimmen“ („Hlas oproti
hlasom“); er wollte der Zerfahrenheit des Slowakiſchen durch ſeine einheitliche
Schriftſprache ſteuern, Ordnung im eigenen Hauſe ſchaffen. Noch deutlicher iſt
fein Artikel „Aufbau und Organismus der flowafifhen Sprache“ („Ustroj—
nost a organism rei slovenskej“) im Orol Tatransky (1847); das Slo⸗
wakiſche hat ſeinen beſonderen Charakter, der nur in den Übergangsgebieten
gegen Mähren und Polen verſchwimmt; fein älteres Gepräge rückt es dem Alts
ſlawiſchen näher als das Tſchechiſche. Hurban läßt ſich in ſeiner Beurteilung
„Tſchechiſche Stimmen gegen das Slowakiſche“ („Ceskje hlasi proti sloven-
Cine”) nicht viel mit den aufgerufenen toten Zeugen ein. Das Slowakiſche ers
weckt das Volk, gewinnt den Adel, verbindet Evangeliſche und Katholiken; da
nun den Slowaken durch die Geſchichte ihr Platz in Ungarn angewieſen wurde,
ſind ſie auf dieſes Gebiet angewieſen, Vorurteile können nur durch die heimiſche
Literatur beſeitigt werden, nicht durch die tſchechiſche. Sie würden auch mit dem
Tſchechiſchen im öffentlichen Leben keinen Schritt weiterkommen. Politiſch iſt
ſein Standpunkt alſo ſchon entſchieden ſeparatiſtiſch. Am nachdrücklichſten
wendet er ſich gegen Palacky und Safakik, da die Stammeseigentümlichkeit der
Slowaken keine Verquickung mit dem Tſchechiſchen verträgt. Aber von der
tſchechiſchen Literatur wollen ſie ſich deshalb durchaus nicht trennen. Auch in der
Abhandlung „Die Slowakei und ihr literariſches Leben“ („Slovensko a jeho
literärni Zivot“) in den „Slovanskje Pohl’ady“ iſt ihm das Slowakiſche eine
notwendige Entwicklung des heimiſchen Denkens. In poetiſches Gewand kleidete
Sladkovis feine Antwort in dem „Echo“ („Ohlasi“); er anerkannte gerade in
Kollar und Safarik die Urheber des Slowakiſchen. Daniel Lichard wies in feiner
„Heimiſchen Schatzkammer“ („Domovskä Pokladnica“) 1847 darauf hin, daß
die Slowaken nur in ihrer eigenen Sprache gebildet werden können, ähnlich
auch andere, wie Fejerpataky, Eugen Gerometta, Stefan Leska. Auch große
öffentliche Kundgebungen erfolgten, etwa in der Liptau, die ebenſo wie die
zahlreichen Einzelzuſtimmungen in den „Slovenskje Närodnie Noviny“ ab»
gedruckt wurden. Selbſtverſtändlich blieb der Streit auch im andersſprachigen
Die ſlowakiſche Spaltung 125
Schrifttum nicht ohne Nachhall. Jordans Jahrbücher nahmen gleich von Anfang
an (1845) entſchieden gegen Stür Stellung. Kritiſch ſtellte ſich zur Frage zuerſt
Daniel Sloboda, da er die Unterſchiede zwiſchen Slowakiſch und Tſchechiſch
durchaus nicht als grundlegend anerkennen wollte. Auch ſonſt fehlte es nicht an
Widerſtand gegen einzelne ſprachliche Neuerungen.
Ja ſeit 1846 gab es insgeheim einen Widerſtreit der Meinungen zwiſchen
Stür und Hurban⸗Hodza. Hurban kämpfte zäh mit dem Grafen Zay um die
Union, da er das ſlowakiſche Luthertum gegen den magyariſchen Kalvinismus
verteidigte. Aber ſein reger Geiſt wollte auch in ſprachlichen und literariſchen
Dingen nicht zurückſtehen und ſo gründete er 1846 die „Slowakiſchen Anſichten
über Wiſſenſchaft, Kunſt und Literatur“ („Slovenskje pohl’adi na vedi, umenje
a literatüru“) mit programmatiſchen Erörterungen; Wiſſenſchaft, Nationalität,
Humanität find für ihn die Stufen der Entwicklung. Auch Hodza war mit
den ſprachlichen Neuerungen nicht einverſtanden, trat aber für die Selbſtändig⸗
keit des Slowakiſchen ganz entſchieden ein, ſo in ſeinem lateiniſchen „Epigenes
slovenicus“, wo er zwar auf die Gemeinſamkeit des Tſchechoſlowakiſchen bis
1787 hinweiſt, aber in ſeiner Einteilung dem Slowakiſchen eine ſelbſtändige
Stellung zuweiſt. Lautgeſetzlich und formengeſchichtlich geht er andere Wege wie
Stür. In einer zweiten hierhergehörigen Schrift „Vetin o slovenòdiné“ 1848
fieht er die Sitze der Slowaken auch für die Heimat der Südſlawen und Tſchechen
an und zählt dieſe Sprachen zum Slowakiſchen. Erſt durch die Magyaren und
Türken wurde die Einheit zerriſſen. Theſen und Antitheſen ſollen dieſe An⸗
ſchauung populariſieren. Wieder ſpielt der Hinweis auf die politiſche Rolle des
Slowakiſchen, das erſt ein treues Ausleben im ungariſchen Staatsverband er⸗
möglicht, eine Hauptrolle. Mit den „Hlasové“ ſucht er eher einen brüderlichen
Ausgleich; denn das Tſchechiſche und Slowakiſche ſeien eine Sprache, die Ein⸗
heit müſſe aufrecht bleiben. Völlig romantiſch ſind ſeine Etymologien. In den
Revolutionsſtürmen der Jahre 1847/48 verhallte jedoch ſeine Stimme faſt uns
gehört. Den gleichen Weg geht ſein „Gutes Wort an die Slowaken, die beim
Worte bleiben“ („Dobruo slovo Sloväàkom sücim na slovo“) 1847, wo er die
ſlowakiſche Schriftſprache auf populäre Art zu begründen ſucht. Die Slowaken
find in Ungarn autochthon; das flawifche Volkstum verbindet fie mit der ganzen
Welt. Das Tſchechiſche verfiel in den Jahren 1620—1780, auch bei den Slo⸗
waken führte es nur ein Schattendaſein; an ſeine Stelle trat alſo das lebendige
Slowakiſche. Es iſt ein Abbild des Slawiſchen im kleinen, die Mutter aller
ſlawiſchen Stämme. Nur durch ihre Sprache können die Slowaken in der Welt
die entſprechende Geltung erlangen. In ſeiner Schrift „Der Slowak“ 1848 geht
es ihm wieder mehr um die politiſche Geltendmachung. Eine Wirkung auf die
breiten Maſſen konnten jedoch ſeine Schriften wegen ihrer Sprache (lateiniſch
oder geſuchte Neubildungen) nicht erreichen.
Inzwiſchen ſpielte das Tſchechiſche im literariſchen Leben noch immer eine
hervorragende Rolle, zum Teil als Tſchechoſlowakiſch. Palkovis beharrte weiter
konſequent auf der Einheit, ſo auch in ſeinem Artikel „Geſpräch eines Tſchechen
und Slowaken über die gemeinſame ſlowakiſche Literatur“ („Rozmlouväni
126 Karl Meznik
Cecha a Sloväka o spoleöne literatufe slovenské“) in der Tatranka. Ebenſo
beharren feine Schüler und Freunde bei der Einheit, wenn etwa Jonas Zaborsky
auf die Mannigfaltigkeit der ſlowakiſchen Mundarten hinweiſt. Eine Ent⸗
gleiſung bedeutet jedoch der wüſte Ton Lanstjaks in der Schmähſchrift „Die
Stüriſche Sprache und die Beurteilung des Buches „Nareëja slovenskuo“
(„Stürovèina a posouzeni knihy Näreëja slovenskuo“), wenn er auch genug
ſachliche Gründe etwa durch den Vergleich mit anderen Völkern heranzieht. Eine
gleich gehäſſige Antwort blieb nicht aus. Launer ſchrieb im gleichen Ton 1847
das „Wort zu feinem Volke“ („ Slovo k näroda svemu“); von einer Art
philoſophiſchen Betrachtung aus ſieht er die Grundlage jeder Sprache im Geiſt,
der ſie bildet, und hier ſieht er die Einheit mit den Tſchechen, ähnlich wie in der
Macht des deutſchen Luthertums (): „Der Charakter des Slawentums mit be⸗
ſonderer Rückſicht auf die Schriftſprache der Tſchechen, Mährer, Schleſier und
Slowaken“ („Povaha Slovanstva se zvlästnim ohledem na spisovnũ fes
Cechu, Moravanü, Slazäkü a Sloväkü“). Die hiſtoriſche Individualität
dieſer Völkergruppe iſt tſchechoſlowakiſch. Auch philologiſch begründet er dieſe
Einheit, da die Sprache einheitlich iſt. Die wechſelſeitigen Beziehungen ſind
ſehr rege.
Wieder fehlt es nicht an Entgegnungen. Aber auch befänftigende Stimmen
für einen Ausgleich erheben ſich ſchon. Bereits 1838 hatte Purfyne im Slo⸗
wakiſchen einen Wall gegen das Magyariſche erblickt und Hanka ſah darin das
Hauptmittel zur Erweckung des Nationalgefühls (Kvéty 1846); ähnlich urteil⸗
ten andere Tſchechen. Ebenſowenig fehlten tſchechenfreundliche Kundgebungen
bei den Slowaken, wenn auch eine politiſche Verſchmelzung glatt abgelehnt
wurde (Hoſtinsky, „Slow. Nat.⸗Zeitung“ 18. April 1848); heimiſche Dichter, wie
Sladkovi&, Botto, Kral, Hoſtinsky, Sloboda, begrüßten den Mutterlaut als
Ausfluß ſelbſtändigen Fühlens; nur die Mutterſprache könne das Volk erwecken,
wie das auch die Deputation vor dem Kaiſer betonte, Biſchof Jozeffy, Hodza,
Chalupka, Ferjencik; Tomäsik glaubt, daß durch fie das Volk erweckt werde,
nach Francisci iſt ſie auch für die oberen Klaſſen wichtig, nach Joh. Tob. Lang⸗
hoffer und Karl Kuzmäny ſelbſt für die Kirche.
Aber alle dieſe Hinweiſe auf die ſlowakiſche Individualität genügten den
Magyaren nicht, ihnen ging es um die Magyariſierung. So mußten die Slo-
waken trachten, dem Slowakiſchen politiſch Geltung zu verſchaffen. Slädkovi&
wies auf die Wichtigkeit der flowakiſchen Schule hin in der „Slow. Nat.⸗Zei⸗
tung“ (S. N. N.) 1846, Nr. 49, vor dem Forum der Offentlichkeit Stür in ſeiner
Landtagsrede in Preßburg am 15. Januar 1848; bald verlangte man Anerken⸗
nung des Slowakiſchen im öffentlichen Leben überhaupt, als Gegenpreis bot
man untrennbare Verbindung mit Ungarn im Revolutionsjahr 1848.
Erſt als nach der Verſammlung in St. Nikolaus ein Steckbrief gegen Stuͤr,
Hodka und Hurban erging, näherten fi die ſlowakiſchen Führer auf dem
Slawenkongreß in Prag 1848 wieder den Tſchechen, blieben aber Ungarn weiter
6) Palackys grundlegende Arbeit über den Huſitismus war noch nicht erſchienen, in der gerade
die Wichtigkeit des Proteſtantismus als ſpezifiſch tſchechiſches Element lange vor Luther betont wird.
Die ſlowakiſche Spaltung 127
treu ergeben, wenn ſie auch an eine ſlawiſche Föderation dachten, was Stür in
ſeiner Adreſſe an den Kaiſer formulierte. Oſterreich und der Dynaſtie hielt man
die Treue, verwahrte ſich aber gegen die Magyariſierung. Das Streben nach
einer ſelbſtändigen Slowakei etwa nach Art von Siebenbürgen oder der ſerbi⸗
ſchen Wojwodſchaft mit Neutra als Mittelpunkt iſt auch ein Programmpunkt
Kollars und Hurbans. Aber nach der Befeſtigung der Dynaſtie wurde die ſlo⸗
wakiſche Frage wieder auf ein Nebengeleiſe geſchoben und ſo blieb den Slowaken
abermals nur der Kampf um die felbftändige Geltung ihrer Sprache.
Freilich war dieſe Sprache formell noch nicht ganz entſchieden feſtgelegt.
Dieſen Umſtand machte ſich nun Kollär, der 1849 vor den Aufſtändiſchen aus
Peſt nach Wien geflohen war, wo er bekanntlich zum Profeſſor der ſlawiſchen
Altertümer ernannt wurde, zunutze, indem er zur Beruhigung der breiten Volks⸗
maſſen die autoritative Einführung des Bibeltſchechiſchen, das ſogenannte „Alt⸗
ſlowakiſche“ („Staroslovenstina), empfahl, da es bis auf Maria Thereſia her⸗
auf die allgemeine Sprache des Volkes beſonders in der Kirche war. Und tat⸗
ſächlich gingen nicht nur die älteren Evangeliſchen, ſondern auch die jüngeren
katholiſchen Geiſtlichen in das Lager der amtlichen Wiener „Slowakiſchen Zei⸗
tung“ (Slovenské Noviny) über. Mit Reſignation ergaben ſich die „Slowa⸗
kiſchen Anſichten“ („Slovenské Pohl’ady) in dieſes unerwartete Schickſal. Aber
der Einfluß der amtlichen „Slowakiſchen Zeitung“ dauerte nicht allzulange, da
die verfaſſungsmäßig verſprochene Gleichheit der Sprache am 31. Dezember 1851
wieder aufgehoben wurde, und ſo geſellte ſich zu den „Slovenské Pohl'ady“
bald auch Palärits „Katholiſche Zeitung“ (Katolické Noviny) und Chräſteks
„Cyrill a Method“, der nur vorübergehend der amtlichen Sprache Konzeſſionen
gemacht hatte.
Schon im Oktober 1851 kamen die führenden Schriftſteller beider Bekenntniſſe
in Preßburg zuſammen und trafen die Entſcheidung zugunſten des Mittel⸗
ſlowakiſchen, wie es Stür eingeführt hatte. Der katholiſche Geiſtliche Martin
Hattala, der philologiſch gut vorbereitet war, arbeitete als Frucht dieſer Verein⸗
barungen die „Kurze ſlowakiſche Grammatik“ (Krätka mluvnica slovenskä)
aus, die ſchon zu Anfang des Jahres 1852 in Preßburg erſchien. Freilich hatte
Stür von feinem ſtarren Grundſatz der weitgehenden Diphthongierung und von
feiner Rechtſchreibung abſtehen müſſen, wie das ſchon Hodza in feinem „Epi-
gones“ und „Vétin“ und Hattala in feiner „Vergleichenden Grammatik des
Slowakiſchen mit dem zunächſt verwandten Tſchechiſchen“ (Grammatica linguae
slovenicae collatae cum proxime cognata bohemica) 1850 gefordert
hatten. Aber grundſätzlich fiel die Entſcheidung doch für Stür und ſo fanden
dieſe verbeſſerten Grundſätze endlich allgemeine Anerkennung, ſo daß ſich die ein⸗
heitliche ſlowakiſche Schriftſprache endgültig zum Siege durchgerungen hatte.
Die alte Anſchauung von der Vorzugsſtellung des Mittelſlowakiſchen, die ſeit
Matthias Bel über Bernoläf auch von Dobrovsky anerkannt worden war, führte
die Einigung auf die mittlere ſlowakiſche Mundart herbei.
Ein opferfreudiger und arbeitswilliger Kämpfer erſtand am Beginn der 50er
Jahre den ſlowakiſchen Intereſſen in dem bereits genannten katholiſchen Kaplan
128 Karl Meznik, Die ſlowakiſche Spaltung
Palärik, der durch feine Zeitungen, beſonders die „Katholiſche Zeitung für das
gewöhnliche Volk“ („Katolické Noviny pre obecny lud“) in reinem Slo⸗
wakiſch ſozuſagen das einzige Bindeglied von der neu begründeten Schrift⸗
ſprache zur ſpäteren Dichtkunſt und Schriftſtellerei in dem Jahrzehnt von 1850
auf 1860 bildet.
Die ſpäteren Ereigniſſe, die auf die Entfaltung des Geiſteslebens in der
Slowakei ſo entſcheidenden Einfluß nahmen, das Auf und Ab in Hoffnungen
und Enttäuſchungen, das immer heißere Ringen um Bewahrung ihrer Indi⸗
vidualität bis auf die Gegenwart herauf, würden zwar in den breiteren
Rahmen einer allgemeinen Geiſtesgeſchichte gehören, aber mit der eigentlichen
Sprachenfrage ſtehen dieſe Probleme doch ſchon in einem loſeren Zuſammen⸗
hang, wenn ſie auch noch letzten Endes eine Auswirkung jenes Schrittes be⸗
deuten, der vor rund 150 Jahren zuerſt getan wurde.
Die wichtigſte Literatur zu dem Gegenſtande: Die entſprechenden Kapitel der Dj. lit. öeské XIX.
stol. 2. — Dr. Jaroslav Vlöek „Dejiny literatüry slovensky“ 2 T. St. Martin 1923. — Dr.
Albert Prazät „Déjiny spisovné slovenstiny po dobu Stürovu“. Prag 1922, mit reicher
Einzelliteratur. .
Forſchungsberichte.
Markwardt, Dr. Bruno, Herders Kritiſche Wälder. Quelle & Meyer, Leipzig 1925:
Forſchungen zur deutſchen Geiſtesgeſchichte des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. von
P. Merker und W. Stammler J.
Als Ganzes und für ſich haben die Kritiſchen Wälder die Forſchung bisher nicht beſchäftigt.
Der Leſſings „Laokoon“ entgegengeſetzte Charakter des erſten und der kunſttheoretiſche Ge⸗
halt des vierten Wäldchens haben für dieſe beiden Teile wohl in der Spezialliteratur zum
Laokoon⸗Problem und zur Aſthetik Herders ſtarkes Intereſſe erweckt und ſorgſame Behand⸗
lung. Doch iſt noch nicht einmal für dieſe Sonderfragen der große, grundlegende Abſchnitt in
Hayms Meiſterwerk übertroffen. Zum erſtenmal rückt vorliegendes Werk die Kritiſchen
Wälder in den Mittelpunkt wiſſenſchaftlichen Intereſſes und läßt die Entwicklungslinien aus
den früheren Schriften hier zufammen- und, wiewohl ſpärlicher, in die ſpäteren weiterlaufen.
Zur Analyſe des Werks bereitet der Verfaſſer ſich und uns bedächtig vor. Das I. Kapitel
empfängt uns mit umfangreichen entſtehungsgeſchichtlichen Unterſuchungen: über die ſtoff⸗
lichen Zuſammenhänge mit Fragmenten und Torſo, die äußere Entſtehung (Datierung), den
Anlaß zum Werk, die Gründe ſeiner Anonymität, die Ausgaben und die Wirkung der
Wälder. Dabei werden mit aller wünſchenswerten Sorgfalt die einſchlagenden Ergebniſſe
aus Einleitung und Anmerkungen der Suphanſchen Ausgabe, aus der Darſtellung bei Haym
geſammelt und aus eignem Studium der Werke und des Briefwechſels ergänzt, ohne daß hier
ſchon entſcheidend neue Einſichten erreicht oder nur erſtrebt würden. — Die Gründe der
Anonymität hat der Verfaſſer wohl zum erſtenmal ſo reiflich erwogen, nahliegend und nächſt⸗
liegend ſie alle: das Gefühl der Unzulänglichkeit des Werks, der Wunſch, den eignen Namen für
ein beſſeres aufzuſparen, die Scheu vor der kritiſchen Zuchtrute, die Rückſicht auf die Würde
von Amt und Stand; das alles ließe ſich freilich (wie vieles in dieſem Buch) zuſammenfaſſen
und vereinheitlichen, etwa in die einzige pſychologiſche Formel von Herders gebrochenem
Selbſtgefühl. Die ganze Affäre mit Klotz, Gegenſtand eines ausgeſprochen literärgeſchicht⸗
lichen Intereſſes, wird nicht nur ausführlicher als bisher bekannt, mit beſondrer Auswertung
der Briefwechſel dargeſtellt, ſondern das abſonderliche Verhalten dieſes feinen und kompli⸗
zierten, jugendlich unausgeformten Menſchen zugleich ſo eindringend nachempfunden, daß hier⸗
aus auch ein andres Geſamturteil erwächſt als das bisher übliche, ſchulmeiſterlicher Kritik ent⸗
ſprungene. Überzeugend für den Kenner, erfreuend für den Freund des jungen Herder erfaßt
der Verfaſſer am Ende das Poſitive in Herders unglücklicher Haltung: bleibt die Unwahr⸗
haftigkeit zu bedauern, ſo erweckt doch jene Unfähigkeit in der gefährlichen Kunſt, unwahr zu
ſein, Sympathie. Zum zweitenmal in dieſen Abſchnitten freier von den Vorarbeiten macht
ſich Verfaſſer in dem Kapitel „Wirkung“. Da erfährt man von ſtärkerer Reſonanz der
Wälder, als man angenommen hat, und mit beſonderem Intereſſe von der großen, 73 Seiten
langen Rezenſion Garves in der Neuen Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften (1769 und
1770). Mag dieſer auch in rationaliſtiſcher Beſchränktheit an dem Stürmer und Dränger
und ſeinen Entſcheidungen häufig vorbeiſprechen und denken (die Dichtkunſt wirke „eigentlich
nur auf den Verſtand“), gerecht abzuwägen, gedanklich mit Sorgfalt durchzudringen wird
doch verſucht und Herders Leiſtung im ganzen anerkannt. — Hiermit iſt der Verfaſſer glücklich
bis zu erſten, zur „allgemeinen Charakteriſtik der Kritiſchen Wälder“ gelangt, und zwar einer
ſolchen als Materialſammlung und als einer „Streit- und Zeitſchrift“. („Eine lockere An⸗
einanderreihung von Anmerkungen zur zeitweiligen Lektüre, ... ein zwangloſes Meben- und
Durcheinander von fremden Stoffen und eignen Gedanken.“) Die Zeitgebundenheit im Cha⸗
rakter einer Schrift „über Sachen, wovon damals jeder ſprach und ſchwatzte“, wirkt mit den
notwendigen polemiſchen Ausfällen vollends zerſtörend auf die gedanklichen Zuſammenhänge.
Der Verfaſſer gibt ein paar Anſätze zu einer Analyſe der inneren Form dieſer Abhandlungen,
Suphorton XXVII. 9
130 Forſchungsberichte
die freilich nicht ausgebaut werden; aber wo iſt man zur Erkenntnis dieſer Dinge auch in
proſaiſchen, in Denkmälern der Wiſſenſchaft, der Philoſophie ſchon vorgeſtoßen? Es iſt ſchon
durchaus ungewöhnlich und höchſt erfreulich, daß (im letzten Kapitel) wenigſtens die ſtiliſtiſche,
die Sprachform des Werks zu ihrem Rechte kommt. — Noch war alles Bisherige Vorberei⸗
tung. Wir ſind zur Aufnahme des Gehalts der Schriften allmählich eingeſtimmt, der jetzt
im II. und III. Kapitel vor uns ausgebreitet und wiſſenſchaftlich durchleuchtet wird. Das
neue Ziel (II. Kapitel) iſt zunächſt die „Charakteriſtik Herders unter geiſtesgeſchichtlichen
Geſichtspunkten“. Wenn aber dieſem Abſchnitt weiterhin der größte und entſcheidende nach⸗
geſchickt wird, als eine „Charakteriſtik Herders unter ſachlichen Geſichtspunkten“, im weſent⸗
lichen die Darſtellung der Kritik und Aſthetik des Mannes, ſo wird man ſolche Trennung der
„ſachlichen“ von den „geiſtesgeſchichtlichen“ Problemen und gar die Bewältigung dieſer
vor jenen nicht ganz glücklich finden; und es zeigt ſich denn auch, daß, was im II. Kapitel
vorausgenommen wird, im III. „ſachlichen“ und im IV. ſtiliſtiſchen wiederaufgenom: nen,
wiederholt, ergänzt, differenziert werden muß (vgl. die Beiträge zur geiſtesgeſchichtlichen
Würdigung S. 95, 97, 105, 110f., 173, 258 f. u. a.). Eine Zuſammenfaſſung aller, durch
die gehaltliche und ſtiliſtiſche Erforſchung gewonnenen Beweispunkte der geiſtesgeſchichtlichen
Situation Herders ausgebaut, vereinheitlicht und vertieft, wäre am Ende des Buches cr-
wünſchter geweſen; denn das Schlußkapitelchen „Vorklänge zum Sturm und Drang“ iſt
nichts. — Die geiſtesgeſchichtliche Beſinnung in jenem II. Abſchnitt richtet ſich auf Herders
inneres Verhältnis zu Aufklärung und Sturm und Drang und nimmt dabei dieſe Bewe⸗
gungen als ſchroffe Gegenſätze, ſetzt ihre Gehalte für die weitere Unterſuchung nach der com-
munis opinio voraus. Nur vereinfacht das die Ergebniſſe bedenklich, wenn Aufklärung im
allgemeinen mit Rationalismus ineinsgeſetzt wird. Die klaſſiſchen Eingangskapitel in Ru⸗
dolf Ungers großem Hamannbuch (neuerdings Martin Sommerfelds Artikel im Reallexikon),
wo das Ineinanderverwachſen der rationaliſtiſchen und realiſtiſch⸗ſenſualiſtiſchen Zweige zu der
einen Aufklärung dargeſtellt wird, haben das unmöglich gemacht. — Für den Autor erhebt
ſich die Frage dreifach: nach Herders Befangenſein in der alten Zeit, ſeiner Oppoſition gegen
dieſe, ſeinen Fortſchritten „auf dem Weg zum Sturm und Drang“. Die Vieldeutigkeit der
geiſtesgeſchichtlichen Situation Herders, auch in der Jugendzeit ſchon, iſt bereits bei Haym
und bei Kühnemann, bei jenem mehr mit denkeriſcher Schärfe, bei dieſem mit leidenſchaft⸗
licher Einfühlung in Herder ergriffen und dargeſtellt worden. Für die Herderiſche Aſthetik
im durchgehenden Vergleich zu Leſſing, alſo auf einem Problemgebiet, in dem ſich Verfaſſer
häufig bewegt, hat der Referent in ſeiner eigenen Schrift (Germ. Studien Heft 25) das⸗
ſelbe verſucht. Der Verfaſſer konzentriert ſich auf ein einzelnes Werk der frühen Reifezeit,
ein bisher vernachläſſigtes, freilich auch in Herders Entwicklung nicht eben epochemachendes,
und weiß ihm mit ſtrenger Analyſe und feiner Einfühlung zugleich zahlreiche Merkmale der
geiſtesgeſchichtlichen Situation abzugewinnen. Eine bedeutende Fähigkeit des Verfaſſers
tritt zutage, ſo komplizierte und widerſpruchsvolle geiſtige wie ſeeliſche Beſtände aufzufaſſen,
auseinanderzulöſen und mitzuteilen. Nur, wenn nach des Verfaſſers Meinung die „rationa⸗
liſtiſchen“ Beſtandteile, die als ſtörende Fremdkörper mitgeſchleppt werden, Herder von außen,
durch Tradition und Zeitmilieu, aufgedrängt find, möchte Ref. jenen großen Widerſpruch in
Herders Weſen, wo er durch ſeine ganze Entwicklung hin nachweisbar iſt, hineingenommen
haben. — Die einzelnen Aufklärungselemente werden ſehr ſorgſam in überraſchender Fülle
aus den „Wäldern“ herausgelöſt und immer wird darauf hingedeutet, wie dieſe geiſtigen
Motive teils nicht voll entwickelt, teils durch äußere Einflüſſe erklärbar, teils durch entgegen⸗
geſetzte eingeſchränkt und modifiziert, teils fpäter überwunden find. Man wünſchte ſich aller-
dings, daß jene Elemente nicht gar ſo unverbunden hintereinander auftauchten: Freude am
Maſſenwiſſen mit Stolz auf die Beleſenheit, theoretiſche Auffaſſung des Epos („Bewunde⸗
rung“ als Zweck des epiſchen Gedichts), Begriff der Poeſie als „ſchöner Wiſſenſchaft“, Hin⸗
weis auf die analytiſche Methode, philoſophiſche Abhängigkeit von Baumgarten und Wolff.
Dagegen wird die Ablöſung Herders von der alten Zeit zweifach deutlich: in Negation und
neuer Poſition. Der Opponent tritt uns vor Augen, widerſpruchsvoll ſchwankend im Ver⸗
hältnis zu Leſſing, heimlich im Gegenſatz zu Mendelsſohn und Nicolai und offenkundig feind⸗
lich gegen Klotz und Riedel. Sehr überzeugend wird die merkwürdige Zweideutigkeit im Ver⸗
Markwardt, Herders kritiſche Wälder 131
halten zu Leſſing, dieſes „Zwitterweſen von Zuſtimmung und Ablehnung“, auf Leſſing ſelbſt
zurückgeführt. Denn wenn deſſen Dichtung und Aſthetik zu einem Teil tief im Rationalismus
ſteckengeblieben, zum anderen darüber hinausgelangt iſt, ſo hat das von Herders Kritik zu
entſprechenden Teilen auch angegriffen oder anerkannt werden müſſen. (Herder gegen Leſſing,
für Sinnlichkeit gegen Abſtraktheit, für Intuition gegen Technik im Schaffen, gegen äſthe⸗
tiſche Geſetzgebung für freies Schöpfertum und doch wieder einig mit Leſſing in gemeinſamer
Homerverehrung, in der Abwehr von Schilderungsmanie und Allegoriſtik). Als Weg⸗
bereiter des Sturms und Drangs im Poſitiven erſcheint der große Anreger und Lehrer in den
Kritiſchen Wäldern mit Ideen, deren Gehalt und Bedeutung uns längſt vertraut ſind: dem
Entwicklungsgedanken zumal und der Individualitätsidee in ihren vielfältigen Anwendungen,
aber überraſchend bleibt doch, wie des Verfaſſers Spürfinn fie alle in dieſem mannigfach be⸗
ſchränkten Einzelwerk aufzudecken vermag. In der Tat — einer der bedeutenden Erkennt⸗
nisgewinne aus dieſem Buch — in jeder Herderiſchen Schrift iſt immer alles vorhanden, was
er je vorgebracht hat. Im einzelnen geht in der Darſtellung etwas durcheinander, was alles
Herder als „auf dem Weg zum Sturm und Drang“ fortſchreitend erweiſen ſoll: Hiſtorismus
und Individualismus in pſychologiſchen, literariſchen und äſthetiſchen Fragen, mit der Spitze
gegen die Geſchichtsloſigkeit der Aufklärung, Kampf gegen die Nachahmung für alles Ori⸗
ginale, Sinn für die Einheit in der Mannigfaltigkeit des äſthetiſchen Eindrucks, Vorliebe
für alles Sinnlich⸗Anſchauliche aus eigner ſtarker Sinnlichkeit, für alles Empfindungsvolle
aus eigenem Überſchwang des Gefühls. Von all dem iſt nichts zu beſtreiten; nur darf vielleicht
einem naheliegenden Mißverſtändnis nicht im Verfaſſer, ſondern im Leſer begegnet werden,
das der Iſolierung auf das einzelne Werk entſpringt: als wäre Herder erſt hier und nicht
etwa ſchon in den erſten Anfängen ſeiner Produktion, in der Abhandlung über die Ode z. B.,
die Geſchichte der lyriſchen Dichtkunſt, in den Fragmenten auf ſolchem „Weg zum Sturm
und Drang“. — In der „Charakteriſtik Herders unter ſachlichen Geſichtspunkten“ (Kap. II)
wird das Kernſtück des Werks geboten, Herders Kritik und Aſthetik auf der Stufe der Kri⸗
tiſchen Wälder. Aus ſelbſtändig zuſammenfaſſender und durchdringender Erforſchung des
Textes wird das Weſen der Herderſchen Kritik ebenſo erkenntlich wie lebendig als einer zu⸗
gleich originalen, produktiven und hiſtoriſch eingeſtellten Nachempfindungskritik mit voll⸗
kommener Achtung vor dem Genie und energiſcher Abwehr moraliſcher und religiöſer Kate⸗
gorien. Die Herderſche Aſthetik aus ihrer Zeit heraus zu verſtehen und darzuſtellen, will ſich
Verfaſſer erſparen, da hier ſchon gründliche Arbeit geleiſtet ſei. Die Geſchichte der philo⸗
ſophiſchen Aſthetik wird hier im ganzen ausgeſchaltet. Die kunſttheoretiſchen Diskuſſionen
mit Leſſing und mit Riedel nehmen den breiteſten Raum ein. Es gelingt nun nicht, die bisher
gültige, ſeit Haym befeſtigte Würdigung des erſten „Wäldchens“ umzuſtürzen oder entſchei⸗
dend zu verändern, immerhin: im einzelnen zu modifizieren und zu ergänzen; daß jenes mög⸗
lich wäre, läßt ſich dem Verfaſſer auch nicht beweiſen. Tatſächlich hat Haym ja Herder gegen
Leſſing bereits alle mögliche Gerechtigkeit widerfahren laſſen (I, 243 f. „Herder hat die Leſ⸗
ſingiſche Theorie erweitert, berichtigt, ergänzt“) mag auch die Verkennung Herders von Ger⸗
vinus her im einzelnen noch bis zu Erich Schmidt und Friedland nachgewirkt haben. Vor⸗
liegendes Werk hat zum erſten eigene vortreffliche Formulierungen für das Geſamtverhältnis
Herders zu Leſſing in der Aſthetik: „Das ſtarre Syſtem Leſſings wird unter feinen Händen
ein elaſtiſches, das zeitlichen und individuellen Verſchiedenheiten, das vor allem auch den ein⸗
zelnen Dichtungsgattungen Raum gibt.“ „Herder ... ſucht an verſchiedenen Stellen die
feſtverſchweißte logiſche Gedankenkette Leſſings zu ſprengen ... um erweiternde Zwiſchen⸗
glieder einzufügen.“ An den Einzelausführungen des Buches wird man hier, wie überall,
die ſyſtematiſche Sammlung des Gedankenmaterials, viele mehr ergänzenden und von
anderen Geſagtes fortſpinnende Bemerkungen zu ſchätzen wiſſen; dazu etwa die Erkenntnis
der Differenz in den Begriffen von „Handlung“ bei Leſſing und von „Engerie“ bei Herder.
„In der Leſſingiſchen ‚Handlung‘ ſteckt etwas wie bloße anorganiſche Bewegung, etwas
Maſchinelles ... In der ‚Energie‘ Herders liegt etwas von der pulſenden Bewegung eines
Organismus... Drehung verzahnter Räder .. iſt die Leſſingſche Handlung. Strömender
Blutkreislauf iſt Herders Energie.“ Nur das will dem Ref. nicht eingehen, daß bei Leſſing
die Bewegung, „etwas mehr Phyſiſches habe“, wenn man ſich der Stelle aus der Fabel⸗
132 Forſchungsberichte
theorie erinnert, nach der auch „jeder innere Kampf von Leidenſchaften, jede Folge von ver⸗
ſchiedenen Gedanken ... eine Handlung“ ſei. Vielleicht führt nur jener Ausdruck irre? —
Die breite Behandlung des Kampfes gegen Riedel und der aus dieſer Polemik ſich befreien⸗
den eigenen äſthetiſchen Theorie im vierten Wäldchen gerät ſtark ins bloße Referieren und
Zuſammenſtellen der Belege. Man lieſt auf weite Strecken eben Herder. Die eigentümliche
Lehre vom Taſtſinn ruft aber wieder eigene Meinung ſowie ſelbſtändige Verwertung neuerer
Literatur (zur pſychologiſchen Aſthetik) hervor. Mit Hohenemſer, Fr. Th. Viſcher und
Volkelt wird zwar jene äſthetiſche Haptik abgelehnt oder eingeſchränkt, mit dem Phänomen
der Helen Keller aber doch eine ſehr weitgehende äſthetiſche Bildung des Taſtſinns als möglich
erwieſen. Ebenſo gibt dann Herders neuer Begriff von Dichtung in dem neuen Syſtem der
Künſte Anlaß zu eigenen und überzeugenden Erwägungen, die uns klarmachen können,
warum hier die Poeſie ſcheinbar benachteiligt iſt. — Im Anhang zu dieſem Kapitel gelingt
es, für die „Kritiſchen Wälder“ auch noch Elemente einer Sprachphiloſophie zu erweiſen, die
Anſätze in den Fragmenten weiter bis an die Preisſchrift heranführen, ſowie Keime des
Volksliedgedankens, die dann in den Fliegenden Blättern reifen ſollen. — Auch das letzte,
ſehr umfangreiche Kapitel IV über die ſtiliſtiſche Form der „Wälder“ bringt die Herder⸗
forſchung ein gut Stück voran. Vorarbeiten (von Haußmann und Längin) ſind ausgenützt,
doch find hier wie überall alle wichtigen Ergebniſſe aus eigner Arbeit erwachſen. Dieſe Stil⸗
analyſe trägt die Beſtätigung ihres Werts und ihrer Richtigkeit in ſich ſelbſt: ihre Erkennt ⸗
niſſe werden nicht zu Haufen geſchichtet, ſondern ſie hängen ſämtlich in ſich zuſammen und das
Geſamtergebnis läßt ſich auf dieſelbe Einheit bringen wie alle früheren Unterſuchungen. Im
ganzen zeichnet ſich ein noch gemäßigter Sturm- und Drangftil beim jungen Herder gegen den
vorhergehenden „klaſſiſchen“ Sprachſtil der Aufklärung ab. Das „Energiſche“, das „Wer⸗
dende“ iſt der Grundbegriff in der Charakteriſtik des neuen Stils nach vielen Seiten hin.
Hayms wenig günſtige Beurteilung, aus ſeiner Befangenheit im klaſſiſchen Stilgeſchmack
heraus, erfährt eine wichtige Korrektur, wie ja überhaupt Hayms Strenge in ſittlichen,
logiſchen und äſthetiſchen Dingen gegen Herder gemildert werden muß. — Erſt aus des Ver⸗
faſſers Buch empfängt man in der Einführung zum Stilkapitel von der feineren Ironie und
Satire in Herders Polemik ein Bild. Der perſönliche Charakter des Stils kommt uns all⸗
mählich näher, da der folgende Abſchnitt Herders Arbeitsweiſe und Arbeitsſtimmung in
ſeinem Stil ſich ſpiegelnd zeigt. Das von Haym ſo gerügte leidenſchaftliche „Zufahren“
Herders wird aus ſeiner Empfindſamkeit heraus nachgefühlt und verſtanden, nicht verurteilt.
Dann arbeitet ſich aus zahlreichen Einzelunterſuchungen das Weſen des Herderiſchen Stils
heraus. Leſſing als „Abſchluß einer Entwicklung“ wird dabei Herder als dem Anfang einer
neuen gegenübergeſtellt, ohne daß eben an Leſſings Fortſchritt über den Stiltypus der Auf-
klärung gedacht würde, da doch gewiß auch Leſſings Stil ſchon auf ſeine Art „werdend“ und
individuell und „dramatiſch“ geweſen iſt. Man vergleiche zwei beliebige Seiten Leſſing mit
zwei Seiten Mendelsſohn. Eine Anmerkung des Verfaſſers nimmt denn auch dieſe Oppofition
Herders gegen Leſſing halb zurück. Von einer Arbeit des Verfaſſers über Leſſings Stil
dürfen wir volle Klarheit über dieſe Dinge erwarten. Um endlich zuſammenzufaſſen, in allen
weiteren Einzelheiten kommt der rhetoriſche Charakter des Herderſchen Stils zum Vorſchein.
„Leſſing iſt der argumentierende Schriftſteller, Herder iſt der debattierende Redner.“ Daraus
erklärt ſich viel: der Kampf gegen die klaſſiſche Periode (Vorliebe für die Beiordnung), die
der Konverſation angeglichene diskurſoriſche Redeweiſe, die Vorliebe für die Formen der
rhetoriſchen Wiederholung, die einfache Wiederholung, die Wiederaufnahme, die erweiternde
Wiederholung, Anaphora, Epiphora, Gradation, betonten oder überraſchenden Satzſchluß,
für Inverſionen, verſchiedene Konſtruktionsfreiheiten wie Satzabbruch, Parentheſe, Oxy-
moron und Häufung. Das klangliche Element in Herders Stil wird in dieſem Zuſammen⸗
hang mehr nur geſtreift und eigener Unterſuchung überlaſſen, der ſinnlich⸗anſchauliche Ein ⸗
ſchlag im Gebrauch von Bildern, freilich aus beſchränktem Stoffgebiet und oft nach litera⸗
riſchem Vorbild, gefunden und wie alles Bisherige an geſammelten Beiſpielen dargeſtellt.
Der Abſatztechnik und der Interpunktion ſogar werden Charakteriſtika für Herders Stil
entlockt. Die Dispoſition gegen das Ende zu wird lockerer. Denn hinter jenem Abſchnitt
„Interpunktion“ hinken noch zwei iſolierte hinterdrein, die „volkstümliche Elemente“ in
Bemühungen um Johann Paul Richter 133
derbſinnlichen, volkstümlich⸗zwangloſen genialiſchen Kraftausdrücken erweiſen wollen. Eine
äußerſt kurze Zuſammenfaſſung der Sturm- und Drangelemente in den „Wäldern“ beſchließt
das Ganze, bringt auch noch einiges Neue unverbunden hinzu; die Kritik an den ſozialen
Mißfſtänden, die revolutionäre Philiſterverachtung, den Glauben an eine neue Kunſt.
Erlangen. Kurt May.
Bemühungen um Johann Paul Nichter.
Die große Briefausgabe 1) läuft noch, mit der Eduard Berend uns den Tatſachenbeſtand
dieſes deutſchen Lebens aufſchließt. Aber der hundertſte Todestag am 14. November 1925
hat ſein Licht rechtzeitig ſo weit nach rückwärts geworfen, daß um den Tag herum eine ganze
Literatur zur Stelle ſein konnte. Im Mittelgrunde vier, ſehr ungefähr geſagt, biographiſche
Arbeiten. Von vierfach verſchiedenen Ausgängen und unter viererlei Zielen unternommen
und doch den gleichen Gegenſtand betreffend, bieten ſie einen reizvollen Durchſchnitt durch das,
was heute Menſchenſchilderung heißt.
Walter Harich 2) hält ſich den ſicheren und jederzeit zum Zeugnis aufrufbaren Quellen am
nächſten. Er iſt im Recht, wenn er aus dem Bewußtſein über einen Unbekannten zu ſchreiben,
den gegenſtändlichen Stoff recht nahe an den Leſer heranbringt. Er hat auf uns Unmoderne
Rückſicht genommen, die ein Buch unter anderm auch darum in die Hand nehmen, weil wir
unterrichtet ſein wollen. Mir ſcheint das immer noch eine Tugend zu ſein. Es iſt die
breiteſte Darſtellung. Es iſt die tatſachenreichſte. Sie gibt das beſondere Daſein in der
menſchlich gelebten Fülle der Züge. Und ſie iſt unbefangen, ohne Vorurteil, eine wirkliche
Führerin zum Menſchen und ſeinem Werk. Ich kann nicht finden, daß hier ungebührlich
„tppiſtert“ wurde. Harich tut es weit weniger als er berechtigt wäre. Zur Einleitung und
im Verlauf des Ganzen, wo es notwendig wird, gibt er das ganze Zeitbild, nicht in „Haupt⸗
zügen“, ſondern tatſächlich verbürgt. Richters Heimat iſt mit Hingabe geſchildert, ohne daß
ſich allzuſtarke Abhängigkeit von den grundlegenden Arbeiten Ferdinand Joſef Schneiders
verriete. Die autobiographiſchen Quellen, die Richter hinterlaſſen hat, find ſelbſtändig ver-
wertet und reichlicher als ſonſt wohl geſchieht und überdies auch nach der genealogiſchen Seite.
Die heimatliche Jugendidylle kommt anmutig zur Erſcheinung, obwohl im ganzen Richters
Jugend verhältnismäßig ſparſamen Raum einnimmt. Der entſcheidende Abſchnitt ſchließt
auch hier darſtelleriſch mit Richters folgenreichem Todeserlebnis vom 15. November 1790.
Und Harich gibt dieſem Erlebnis die neue und beſondere Deutung: „Es war die Befreiung
vom Werkwahnſinn der Zeit, der damals die größten Geiſter ſelbſt erfaßte. Er wollte nichts
werden und ſchaffen, nur ſein und ewig ſein und in ſich hineinſtrömen laſſen und wieder her⸗
ausſtrömen nach kosmiſchem Geſetz. Und gerade dadurch wurde ſeine Welt ſo weit und reich.“
Harich hat mit ſeltener Unbefangenheit die Bedeutung Herders für Richter zum Ausdruck
gebracht, was mehr iſt als ſie bloß zu begreifen. Richters Werke ſind von Fall zu Fall und in
ihrer Beſonderheit ausgedeutet. Beſonders zu rühmen iſt der Abſchnitt über „Titan“, den
Prüfſtein des Richter⸗Verſtändniſſes, aber auch den Prüfſtein inneren Mutes. Denn das iſt
in der Regel die Stelle des geſchämigen Schweigens oder bedauernden Achſelzuckens. Denn
es iſt die Stelle gegen das theaterliche Weimar. Harich hat hier ebenſo taktvoll wie deutlich
die kulturkritiſche Abſicht Richters herausgearbeitet. Was an den Schlußabſchnitten matt
erſcheint, wird durch andere Werte aufgewogen. Denn der Teil über Richters politiſche
Schriften iſt wenigſtens im Gefüge einer Geſamtdarſtellung neu und mit ſo zeitbedeutendem
Umblick und Ausblick noch nicht anſchaulich gemacht worden. Harich macht kein Hehl daraus,
daß er meine Arbeiten kennt. Das iſt ihm denn auch prompt ausgeſtellt worden. Als ob man
nur die großen Meiſter nachahmend karikieren dürfte, indes es verboten iſt, uns Kärrnern ab
und zu mal einen Ziegel abzunehmen. In Wahrheit geht Harich von der richtigen Erwägung
aus, daß man den metaphyſiſchen Richter nur begreifen kann, wenn man den empiriſchen
erfaßt hat. Und er bemüht ſich dabei, wie es ſchließlich ſeine Pflicht iſt, nicht im ſchulmäßigen
1) Berend, E., Briefe Jean Pauls. 4. Bd. München 1926 bei Georg Müller.
2) Harich, W., Jean Paul. Leipzig 1925. Verlag H. Haeſſel. 860 ff.
134 Forſchungsberichte
Kreidekreis rundum zu wandern, ſondern frei im Felde zu ſpazieren und die Dinge von wenig⸗
ſtens zweierlei Seiten zu ſehen. Aber dagegen möchte ich Einſpruch erheben, daß auch Harich
in dieſem Zuſammenhange mit Ausdrücken wie „neu“ und „alt“ operiert. Ich bin in der
Generation, die über die erſte Jugend hinaus iſt, noch immer ſo ziemlich der jüngſte, und es
will mir nicht einleuchten, daß von dem, was ein Sechziger und ein Vierziger gleichzeitig ver⸗
treten, jenes „neu“ und dieſes „alt“ ſein ſoll. An ſich iſt es ja ganz unweſentlich. Eine
Wahrheit wird nicht ſchlechter, weil ſie von geſtern iſt. Jedenfalls iſt Harichs Richter⸗Buch
dasjenige, das mit dem Gegenſtande wirklich vertraut macht und Einſichten zu vermitteln mag,
wenn man ſie nicht hat.
Johannes Alt 3) gibt der Einleitung zu ſeinem Buch die Beiſchrift „Der tumbe Tor“.
Das heißt, wie er gleich erläutert, daß Parzival und Simplicius die Linie unſerer Geiftes-
geſchichte beſtimmen, auf der wir Johann Paul Richter zu ſuchen haben. Der Gedanke wird
im Verlagsproſpekt unterſtrichen und iſt von der Kritik einhellig gelobt worden, von Wiſſen⸗
den allerdings als „nicht neu“. Tatſächlich. In der Anmerkung zu S. 10 ſtellt Alt feſt, daß
C. Kläden⸗Germania Bd. IX, Berlin 1850, S. 87, bereits Parzival und Simplicius „in
weſentliche Verbindung zueinander“ gebracht hätte. Ich hab's nicht nachgeprüft. Dann wird
angemerkt, die Beziehung Parzival — Jean Paul hebe Berend hervor, in der Einleitung zu
Jean Pauls Werken, Berlin 1923. Und ſchließlich heißt es, die Linie Parzival — Simplicius -
Jean Paul ziehe Gundolf in der „Deutſchen Vierteljahrsſchrift“ 1923. Da nun Alt zwei
weitere Bücher über dieſe Sache ankündigt, möchte ich dieſe auffällig exakte und ſcheinbar
erſchöpfende Anmerkung ergänzen. Von Kläden wußte ich nichts. Aber auch, wenn es mit
ihm fo ſteht, fo habe ich dennoch über ihn hinaus im 1. Band der 1. Auflage meiner „Lite⸗
raturgeſchichte“ 1911 auf S. 83 die Beziehung zwiſchen Parzival und Richter weſentlich
hergeſtellt, gerade bezüglich des Humors, wie Alt ihn darſtellt. Ebenda S. 84 habe ich in
einem größeren Abſatz Wolfram von Eſchenbach und Johann Paul Richter verglichen. Ferner
im 2. Band der 1. Auflage, 1913, habe ich S. 192 die Verbindung Wolfram und „Sim⸗
plicius“ hergeſtellt, S. 193 mit dem tertium comparationis „Kind“ die Verbindung
Wolfram — „Simplicius“ — Richter, S. 194 in anderer Richtung die Verbindung Grimmels⸗
hauſen — Richter. Das war zehn Jahre vor Berend und Gundolf. Der J. Band 1918 mußte
ohne den Oſtfranken⸗Richter⸗Abſchnitt ausgegeben werden. Aber der 3. Band der 2. Auflage
1924 zog nochmals S. 378 und 379 die Linie, die ich mehr als zehn Jahre zuvor ſchon an-
gedeutet hatte, und zwar insbeſondere die Linie Richter — Parzival — reiner Tor. Dieſer Band
aber iſt, wie ſchon das Nachwort dazu feſtſtellte, Oſtern 1923 an den Verlag abgegangen.
Niedergeſchrieben iſt dieſe Partie ſchon 1920. „Mein iſt der Helm, und mir gehört er zu.“
Und es ſollte mich freuen, wenn ein Apercu von mir jemandem Stoff zu drei Büchern
liefert. Auch den einheitlichen ſeeliſchen Untergrund und das Stilprinzip Richters hatte ich
ſchon gegeben. Nur nennt Alt Zopf, was bei mir Barock heißt, ohne daß ich zugeben könnte,
ich hätte Barock und Zopf oder gar Barock und Romantik verwechſelt. Bezieht ſich die ent-
ſprechende Stelle bei Alt auf mich, ſo hat er das eine mißverſtanden und beim andern über⸗
ſehen, daß man den ganz vereinſamt und in der erſtarrten Barockwelt aufgewachſenen Richter
nicht darum aus dem Zopfſtil ableiten kann, weil man die Richter zeitgenöſſiſche Kunſt Zopf
heißt. Es handelt ſich hier nicht um das Zeitgenöſſiſche, ſondern um das fortwirkende Oſtfrän⸗
kiſche. Alts Buch zeugt von einer vollkommenen Beherrſchung des Stoffes. Er geſtaltet aus dem
Vollen und gibt ein erſtaunlich gedrängtes überaus ſcharfes Bild, das die ganze Weite, den
Reichtum und die Vielfältigkeit Richters anſchaulich macht. Er iſt ehrlich bemüht, ſo hiſtoriſch
zu ſein, als es ihm bei ſeiner ganzen Einſtellung möglich iſt. Zu rühmen iſt die Offenheit,
des Blickes, mit dem Alt erkennt, daß Richter in einer fernen Kleinwelt geboren iſt und der
Verſchnörkelung daher beſonders ausgeſetzt war. Aber wenn Richters Romane der Mittelzeit
ſo ſchön aus dem fränkiſchen Raume begriffen werden, warum nicht Richter ſelber? Das
gibt doch erſt der Linie Wolfram — Grimmelshauſen — Richter — Bayreuth den zufallent-
rückten Sinn. Indem das Bild vom irrfahrenden Parzival bedenklich abgehetzt wird, zeichnet
Alt die Hauptlinien des jungen Richter als zwei Irrfahrten: einmal nach dem Rationalismus,
3) Alt, J., Jean Paul. München 1925. Beckſche Verlagsbuchhandlung.
Bemühungen um Johann Paul Richter 135
das andere Mal nach Satire und „Sprachwolluſt“. Es wird nicht zu leugnen fein, daß Alt bei
Einſchätzung von Richters „Sprachwolluſt“ verſagt, wenn man die tiefe und verſtändnisvolle
Formel dagegenhält, die Meier zu dieſer Frage gefunden hat. Dagegen ſtehe ich auf Alts
Seite, wenn er in Richters Jugend lediglich die üblichen Irrungen jedes jungen Menſchen
ſieht. Folgewidrig aber ſcheint es mir wieder, daß zwar der innere Gegenſatz Goethe — Richter
zutreffend erfaßt wird, aber dennoch mit einem immer neuen „es galt“ Richters Leben in
Goethes Art wie eine planmäßige Ausführung eines inſtinktiv erfaßten Eigengeſetzes dar⸗
geſtellt ſind. Wie bei Meier erſcheinen Tod, Freundſchaft, magiſche Fantaſie als Richters
Kernprobleme. Neben Johann Gottfried Herder wird auch Friedrich Heinrich Jacobi, den
übrigens auch Harich nicht überſehen hat, in die Mitte von Richters Jugend gerückt. Und es
ſcheint, als wolle Alt gerade um das neue Gotterlebnis Richters, wie es ihm Herder und
Jacobi vermittelten, Richters Wende um 1790 bewegen. Die Werkanalyſen find aus ver-
trauteſter Kenntnis überzeugend und von reifer Sicherheit. Für mißglückt muß ich die des
„Titan“ erklären. Die entſcheidende zeitkritiſche Abſicht und Wendung gegen Weimar iſt Alt
entweder entgangen oder er hat bei dieſem Problem unüberwindliche Hemmungen gehabt. Es
fehlt jede Handhabe, um wie Alt es tut, die europäiſche Weite des „Titan“ für eine Befruch⸗
tung durch die Weltbedeutung Goethes zu erklären. Ja mit dem „Titan“ ſoll Richter ſich
ſogar der „Klaſſizität“ nähern. In dieſem Falle ſcheint mein Apercu noch nicht die nötige
Quarantäne durchgemacht zu haben, daß es Alt unverdächtig erſchiene. Und ſo iſt denn dieſer
Roman Richters für Alt nicht die zeitmächtigſte, offenſte und rückſichtsloſeſte Abwehrdichtung
jener Epoche, ſondern lediglich eine „innerpolitiſche“ Auseinanderſetzung Richters mit den
widerſpruchsvollen Beſtänden ſeines Weſens. Richter habe die Gefahr der abſoluten roman⸗
tiſchen Weltverachtung und willkürlichen Ironie überwunden durch Gegenüberſtellung von
Schoppe und Roquairiol. Der Abſchnitt über Richters politiſche Schriften ſteht nicht auf der
Höhe des ganzen Buches. Trotz des vielverſprechenden Einſatzes zu Anfang, wo „tumber
Tor“ und „Humor“ in ein inneres Verhältnis geſetzt ſind, bleibt das Bild des Humoriſten
Richter im Gewollten ſtecken und wir erhalten einen Pathetiker, der nicht der ganze Richter
iſt. Wir erfahren kein „wann“ und kein „wo“. Alles begibt ſich eben irgendwann und
irgendwo, weil dieſe „facta“ eben keine „Werte“ ſind. Es müßte uns doch wenigſtens be⸗
wieſen werden, das Richters äußeres Leben für ſein Weſen bedeutungslos war. Wir haben
das Gefühl, als würde ein ſo ſchematiſches Kopieren deſſen, was Goethe für Biographie hielt,
langſam zu einer Gefahr. An einer Stelle hat Alt den Ausdruck „aus unſerem Blute wiſſen“.
Man ſagt mir doch ſeit fünfzehn Jahren, ſo was gäbe es gar nicht. Wenn's das aber gibt,
dann ſollte doch auch Richter manches „aus ſeinem Blute gewußt“ haben. Alt iſt es jedenfalls
nicht gelungen, 61s und Aöyos in ihrer fo vollkommenen Durchdringung zu zeigen, wie das
bei einem Weſen, das Leib und Seele hat, notwendig und wie es noch immer Ideal eines
nachgeſtalteten Lebens iſt. Innerhalb dieſer Grenzen iſt Alts Buch eine ſchöne und wertvolle
Leiſtung, denen die um Richter ſchon einigen Beſcheid wiſſen, förderſam und für den Verfaſſer
ein Stück vollbrachter Arbeit, auf das er ſtolz ſein kann.
Walther Meier 4) beginnt ſein Buch mit dem geheimnisvollen, nur geſchulten Gymna⸗
ſiaſten verſtändlichen und Goethe⸗Adepten geläufigen Wort, mit jenem Wort, das vor einigen
Jahren um Zürich herum in den Blättern auftauchte und wohl dem einen oder anderen Eid⸗
genoſſen Kopfzerbrechen verurſachte, mit dem koſtbaren Wort „Tragelaph“. Des Griechiſchen
Unkundige wollen „Goethe⸗Handbuch“ 3, 436 nachleſen. Meiers Buch führt die Darſtellung
nur bis einſchließlich zur „Unſichtbaren Loge“, aus einer Begründung, über die wir nicht
rechten wollen, zumal ſie wohl nur aus der Not eine Tugend macht. Das Buch macht einmal
den gelungenen Verſuch, von einem einheitlichen ſeeliſchen Grunde aus Richters Doppel⸗
weſen zu erfaſſen und es iſt von der richtigen Einſicht beſtimmt, Richters Weſensbild
als reinen Gegenſatz zu Goethe zu faſſen. Wenn es aber dann heißt, der Leſer möge ſich ge⸗
fälligſt ſelber dies Bild aus dem geiſtigen Atemraum der Zeit beleben, ſo bedanken wir uns
für dieſe Aufforderung ebenſo höflich, wie wir ſie entſchieden ablehnen. Entweder iſt der
4) Meier, W., Jean Paul. Das Werden ſeiner geiſtigen Geſtalt. Zürich, Leipzig, Berlin 1926
bei Orell Füßli.
136 | Forſchungsberichte
„Atemraum“, dieſe Euphemie für die ſehr konkreten Körperlichkeiten des Daſeins, zur „Be⸗
lebung“ des Weſensbildes notwendig; dann darf der Autor dieſe wiſſenſchaftliche Pflicht nicht
auf den unvermögenden Leſer abwälzen. Oder dieſer Atemraum iſt belanglos; dann beſteht
weder für Autor noch für Leſer eine Verpflichtung, ihn mitzudenken. Meier gibt zunächſt das
„Werden“ von Richters „Weltgefühl“ vom Augenblick ſeines Ichbewußtſeins aus. Doch
über eine Geneſis erfahren wir hier eigentlich nichts. Das bringen erſt die folgenden Ab⸗
ſchnitte. „Erſte Bildungsmächte“ und der Einfluß von Ernſt Platners Kunſtlehre ſind
muſterhafte Beobachtungen und Verdeutlichungen ſeeliſcher Vorgänge. Der Abſchnitt
„Skepſis, Stoizismus und Satire“ faßt die ſatiriſchen Jugendſchriften als bloße Abwehr⸗
gebärde, überſieht aber dabei, daß ſie mindeſtens ebenſoſehr als Brotarbeiten zu werten ſind,
alſo nicht zentral, ſondern peripheriſch genommen werden müſſen. Es liegt im Weſen all
dieſer Arbeiten, daß ſie aus vielem ein geiſtiges Problem machen, was in Wahrheit ganz
gemeine äußere Nötigung des Daſeins geweſen iſt. Schwergewicht und Wert dieſer Arbeit
ruht auf den überraſchend aufſchlußreichen und ſchön formulierten Abſchnitten „Freundſchaft
und Tod“, „Liebe“, „Natürliche Magie der Phantaſie“. Aus der inneren Spannung „von
Vernichtungsſchau und Ewigkeitshoffnung, von irdiſchem Schattendaſein und lichtmächtigem
Jenſeitsleben, von dunkler Traumfabel und Erwachen zu ewigem Morgen“ iſt die neue Welt
ſeiner Dichtungen gewachſen. In ſeinen beiden Jugendfreundſchaften erlebte er „die früheſte
Wiederſpiegelung feiner beiden mit feinem Ich geborenen Ideale“, an ihren entgegengeſetzten
Naturen erfuhr er die Doppelheit und Gegenſätzlichkeit ſeiner eigenen: ein allumarmendes
Lebensgefühl, ſobald die Seele ſich aus ſich ſelber herausſchwang und dem Ewigen hingab; ein
titaniſch ſatiriſches, ichherrliches, wenn die Seele ſich in ſich ſelbſt ſpiegelt. Richters „ur⸗
eigenſte Idee der Liebe“ iſt die „ſpirituelle“. Er liebt nur im grenzenloſen Reiche der Phantaſie.
Natürliche Magie der Phantaſie iſt: „ſpiritualiſtiſche Verwandlung der Welt, magiſche Ver⸗
klärung derſelben durch die Phantaſie“. Sie hat, wie Meier glücklich und zutreffend folgert,
nichts mit „romantiſcher Ironie“ zu tun. Es iſt eine glänzende Leiſtung, wie zart, gewiſſen⸗
haft, bei aller bewegten Teilnahme kühl, Meier ſeine Theſe durchführt. Richters Doppel⸗
bewußtſein ſeines empiriſchen und ſeines metaphyſiſchen Ich führt zum Dualismus, zu zwei
nach Wiedervereinigung ſtrebenden Polen, zu Altgefühl und Ichgefühl. Und wie Meier das
Ganze in der ausgewogenen Antitheſe gipfeln läßt: Goethiſcher Schickſalswille — Richterſcher
Grenzenloſigkeitsdrang; Geſtaltung eines Lebensgeſetzes — Traumſchau eines ungelebten
Lebens, das gibt dem Buch beinahe einen geiſtes geſchichtlichen Aktſchluß. Methodiſche
Bedenken kann man nur dort nicht unterdrücken, wo Meier typiſche Kinderanekdoten, die hier
überdies erſt aus der rückſchauenden Phantaſie des Dichters bezeugt ſind, zu Urkunden von
Richters Beſonderheit macht. Und ein Irrtum Meiers und jugendliche Unzulänglichkeit iſt es,
wenn er Anſchauungen und Anſprüche eines immerhin nur begrenzten Kreifes zu den An-
ſchauungen und zu den Anſprüchen „unſerer Zeit“ verallgemeinert. Die jungen Leute von
heute, denen man einen Wauwau von dem einerſeitigen Spezialiſtentum zu machen pflegt,
ſcheinen damit nur um ſo vollſtändiger in das andererſeitige Spezialiſtentum zu fallen und
das Gefühl dafür zu verlieren, daß die Grenzen ihres Kreiſes noch nicht die Grenzen der Welt
ſind. „Die Anſchauungen unſeres Zeitalters“ ſind ungleich bunter, vielfältiger und gegenſätz⸗
licher als Meier offenbar gelernt hat.
Friedrich Burſchell 5) ſtellt uns ſchlicht und wortwörtlich „die Entwicklung eines Dichters“
hin. Auch er geht nur bis zum Aufbruch der Knoſpe, diesmal bis zum „Schulmeiſterlein
Wuz“. Da iſt nun der ganz irdiſche Richter, die täglichen Begebenheiten feines Lebens,
Dinge, die nichts bedeuten als ſich ſelber. Das Jungenhafte dieſes werdenden Dichters lebt
greifbar und ſtrafbar auf. Wir ſehen, er hat quellendes Blut, er macht ſeine Geſchlechtsreife
durch mit all der Sentimentalität, wie das bei ſolchen Weſen die Regel iſt. Wir hören die
kräftige Wirklichkeit ſeiner Sprache. „Die Bücher ſtinken mich an.“ Alles iſt ſinnlich, wirk⸗
lich, glaubhaft. Der Darſteller läßt ſeinen Helden die Finger verliebt über den Rücken der
Bücher ſtreifen. Platners Hörſal iſt mit Statuen geſchmückt und wir hören „die wohlklingende
5) Burſchell, Fr., Jean Paul. Die Entwicklung eines Dichters. Stuttgart, Berlin und
Leipzig 1926. Deutſche Verlagsanſtalt.
Mis, Leon, Otto Ludwig 137
Stimme“ des Lehrers. Der grelle Unterſchied zwiſchen dem weltvertrauten lebensnahen
dichteriſchen Darſteller und einer Wiſſenſchaftlichkeit, die mit der bluthaften Realität des
Lebens kaum mehr zu tun hat, leuchtet dort auf, wo Burſchell den Geruch der Bücherballen
und der friſchen Drucker ſchwärze, die ganze Bücherdämonie Leipzigs über den weltfremden
Pfarrerſohn herfallen läßt. Darin ſteckt mehr als uns alle ſeeliſchen Analyſen glaubhaft
machen können. Und wie ſchlicht, aber wie begreiflich diesſeitig lautet Burſchells Schlußwort
zum Ausgang dieſer Jugendfreundſchaft: „Der Tote hatte ihn freigegeben.“ Und ich wüßte
keine Formulierung, die gleichzeitig wiſſenſchaftlich vollkommener zuträfe und ſo einfach wäre
wie Burſchells Satz: „Er hatte ſich nur beſinnen müſſen, damit er ein Dichter wurde wie
noch keiner war.“ „Der ewige Jüngling“, der iſt es auch bei Burſchell. Der ſeltene Wert
dieſes Büchleins liegt darin, daß der Unkundige einen Roman geleſen hat, aber ein zuver-
läſſiges Bild behalten wird und daß dem Eingeweihten hier wirklich eine Geſtalt erſteht,
die lebt.
Wie kommt das doch? Walther Meier iſt in einer glücklichen Stunde der Gedanke geſchenkt
worden: „Die völlige Losreißung vom Irdiſchen bedeutet die Auflöſung jeder Geſtalt.“ 6)
Wer das weiß, muß auch Folgen ziehen. Uns werden täglich zwei Vorderſätze vorgehalten:
1. Jedes Leben iſt ein Einmaliges und inkommenſurabel. 2. Jeder Vorwurf verlangt ſeine
gemäße Form. Stimmen dieſe Oberſätze, ſo ziehen wir daraus den unanfechtbaren Folgeſatz:
alſo verlangt jedes Leben ſeine eigengeſetzliche Darſtellung. Wird eine große perſönliche
Leiſtung, die ihrem Vorwurf mit Recht die gemäße Form gefunden hat, ſchematiſch und
mechaniſch auf jedem Felde zu mehr oder minder mißglückter Wiederholung gebracht, wo⸗
möglich aus dem Fehlglauben, „unſer Zeitalter“ verlange das, ſo führt das zur Manier.
Manier aber iſt das Ende, in der Wiſſenſchaft wie in der Kunſt. Man kann teilbare Arbeit
nach gleichen Leitgedanken mit verteilten Rollen erledigen. Aber perſönliche Leiſtungen ſind
unwiederholbar und unverteilbar.
Königsberg i. Pr. Joſef Nadler.
Mis, Leon, Les oeuvres dramatiques d' Otto Ludwig de 1853 à 1865. Lille,
Imprimerie Douriez-Bataille 1925 (Serie 1 Bd. 10 der Travaux & Me-
moires de l'Université de Lille, nouvelle serie).
Mit dieſem faſt 300 Seiten großen Oktavs umfaſſenden Buch finden die verdienſtlichen
Ludwig ⸗Forſchungen unſeres franzöſiſchen Fachgenoſſen (vgl. unſere Anzeige Euph. Bd. 25,
Heft 4) ihren natürlichen Abſchluß, wofern nicht etwa dieſe 800 Druckſeiten nur das Piedeſtal
vorſtellen, auf dem ſich eine (vorläufig bekanntlich noch mangelnde) des Dichters wie des
Aſthetikers würdige Biographie erheben ſoll — eine Arbeit, die wir, bei aller Anerkennung
für Mis' unermüdliche und redliche Arbeiten, immerhin lieber von einem Deutſchen geleiſtet
ſähen; wir glauben, gerade dieſem Poeten könne nur ein Volksgenoſſe gerecht werden. —
In dem vorliegenden Buch ſchreiten wir an der Hand eines kundigen Führers durch das
Trümmerfeld der den Shakeſpeare⸗Studien gleichzeitigen Entwürfe und Fragmente; wie in
den früheren Arbeiten Mis' kommt eine Menge wichtigen und wertvollen, vorher ungedruckten
Materials aus dem weimariſchen Archiv zutage, diesmal erfreulicherweiſe nicht in franzöſiſcher
Überfegung, die im Leſer doch immer ein Gefühl der Unſicherheit zurückläßt, darunter ein
merkwürdiger Monolog aus einem Drama „König Alfred“ (der alte Angelſachſe iſt gemeint)
und ſechs Szenen des „Marino Falieri“ in bisher unbekannter Redaktion. Die Unterſuchung
ſchreitet, ſo gut ſichs machen läßt, chronologiſch vor, von Entwurf zu Entwurf: Maria Stuart,
eben jener König Alfred, Genoveva, Falieri, Agnes Bernauer (deren erſte vier Geſtaltungen
in Mis großem Werk von 1922 abgehandelt werden), die Freunde von Imola, Camiola,
Wallenſtein, Tiberius Gracchus; dazu in einem Schnappſack „Sujets divers“ allerlei, was
kaum über den embryonalen Zuſtand hinaus gediehen iſt. Beſondere Exkurſe befaſſen ſich mit
Ludwigs Verhältnis zur Geſchichte, zur franzöſiſchen Dichtung, zu den bildenden Künſten;
einer, der zu ermitteln ſucht, wie Ludwig um 1860 über Weſen, Konflikt, Schuld und
Helden des Dramas dachte, berührt ſich naturgemäß mit Mis älterer Arbeit über die Shake⸗
6) S. 109 ſeines Buches.
138 Forſchungsberichte
ſpeare⸗Studien. — Brächten die Ludwig⸗Studien von Mis auch weiter nichts als die vielen
Nova aus Ludwigs Nachlaß, ſo hätten ſie ſchon dadurch Anſpruch auf dauernde Berück⸗
ſichtigung; nun aber vermag der Franzoſe, freilich zumeiſt eben dank dieſem Material, das er
durch und durch kennt, auch urteilend und darſtellend das Bild des Dramatikers und Theo⸗
retikers Ludwig wenn auch nicht weſenlich zu ändern, doch aber in ſo dankenswerter Weiſe
zu ergänzen, zu färben, zu ſchattieren, daß zunächſt niemand an ihm achtlos vorüber geben
darf — wenn auch im Einzelnen manches zu berichtigen bleibt und, wie natürlich, auch unſere
und des Autors Werturteile ſich nicht immer decken wollen. — Anders wirken in ihrer Ge⸗
ſamtheit die dramatiſchen Fragmente und Skizzen Schillers, Grillparzers, Hebbels, anders
die Ludwigs. Wie bunt und wertvoll immer jener Beſitz — ginge er irgendwie verloren,
das Bild der Poeten verſchöbe ſich kaum. Aber auf Ludwigs Parerga und Paralipomena
fällt der Hauptakzent; in ſeinen Entwürfen und Torſi, in dieſen genialen Konzeptionen und
ſcharfſinnigen Erwägungen, in dieſen immer erneuten Enttäuſchungen und Niederbrüchen, in
dieſem bald erfolgreichen, häufiger ohnmächtigen Ringen mit einer allmählich zur Monomanie
entartenden Doktrin ſteckt der eigentliche Dramatiker Ludwig — und die liebenswürdig⸗
gefällige Art unſeres galliſchen Führers läßt uns nicht ſo recht zum Bewußtſein der Tragik
des Tragikers gelangen.
Wien. R. F. Arnold.
Kleine Anzeigen.
Stavenhagen, Kurt, Herder in Riga. G. Löffler, Riga 1925. Abhandlungen des Herder⸗
Inſtituts zu Riga. 1. Bd., Nr. 1.
Durchaus ein Muſter von Feſtrede, wie man ſie ſich bei mancher Goethefeier z. B. wünſchte, hat
dieſer Herdervortrag anläßlich eines Feſtaktes des Herderinſtituts wahrhaft feſtlichen Schwung
aus Liebe zum Gegenſtand, klaren, eindringenden, zuſammenſchauenden Blick auf die Ideenmaſſen
des Herderiſchen Geiſtes und wertvollen Ertrag. Viel weniger lokalgeſchichtlich und biographiſch
beſchränkt, als der Titel befürchten läßt, ſind dieſe wenigen Seiten imſtande, die Bedeutung Herders
in den Rigaer Jahren zuſammenzufaſſen, und zwar unter dem einen fruchtbaren Geſichtspunkt,
daß er an all ſeine Gegenſtände, an Dichtung, Sprache, Volk und Natur ein „neues Sehen“
berangebracht habe. Alle Erſcheinungen werden dem jungen Herder lebendig als Verkörperungen
jeweils eigener Kräfte und dieſe zuſammen als Teile einer einzigen „Kraft“ oder Qualität, einer
Quelle im Jakob Boehmiſchen Sinn, in der ſie urſtänden.
Erlangen. Kurt May.
Schulte⸗Kemminghauſen, K., Die Judenbuche von Annette von Droſte⸗Hülshoff. Ver⸗
lag Ruhfuß, Dortmund.
Die poetiſche Kraft der weſtfäliſchen Dichterin Annette von Droſte⸗Hülshoff wurzelt im Boden
der Heimat. Heimatkunſt iſt auch ihr einziges vollendetes Proſawerk, das ſie im Jahre 1842 von
der Meersburg aus dem Drucke übergab. Ihr „Liebling“, Lewin Schücking, vermittelte die Druck⸗
legung, der Redakteur H. Hauff gab dem namenloſen Werke den Titel „Judenbuche“ und ließ die
Novelle im Cottaſchen „Morgenblatte für gebildete Leſer“ in der Zeit vom 22. April bis 10. Mai
1842 erſcheinen. —
Wie in den Gedichten Annettens ſtoßen wir auch in dieſem Proſawerke auf dunkle Stellen.
Dieſes Dunkel, das über der Novelle lagert, mag ſchuld ſein, daß man ſie einfach als „eigenartige
Erzählung“, als „Mordgeſchichte, die vieles mit der Schickſalstragödie gemeinſam hat“ oder als
„beimatliches Sittengemälde“ abtut. Unzweifelhaft bleibt der Wunſch nach größerer Klarheit
offen, wenn wir das Büchlein aus der Hand legen. Wir erkennen die kunſtvolle Knüpfung des
Knotens der Handlung, vermiſſen jedoch eine ebenſo kunſtvolle Auflöſung.
Seit das Intereſſe für die Dichterin zu Beginn des 20. Jahrhunderts — vor allem durch die
Heimatkunſtbewegung — wachgerufen wurde, hat ſich auch die Forſchung der Dichterin wärmer an⸗
genommen. Ein reichliches Arbeitsfeld bot die „Judenbuche“. Erſt in letzter Zeit iſt es dem Drofte-
Forſcher Schulte⸗Kemminghauſen gelungen, die Entwürfe der Dichterin zur „Judenbuche“ auf⸗
zufinden. Schon die Entzifferung des handſchriftlichen Nachlaſſes verdient volle Anerkennung. Im
Ganzen ſind fünf mehr oder minder vollſtändige Entwürfe vorhanden. Wenn es dem Herausgeber
auch nicht gelungen iſt, jedes Wort der ſchwer lesbaren Vorarbeiten zu entziffern, ſo gibt er uns
doch genug Material, das geeignet iſt, mehr Licht in die Novelle zu bringen. Wir erhalten Einblick
in die Arbeitweiſe der Dichterin, in ihr Ringen mit dem Stoff und in die Entwicklung ihrer Kunſt⸗
anſchauung. Weit mehr Perſonen, ſo die Stiefſchweſter Friedrich Mergels, die Dorfklatſche Anne⸗
marie, ein „Gretchen“, die Frau des Förſters Brandes u. a., ſollten nach den Entwürfen bald mehr
bald weniger eine Rolle ſpielen. Einige in der Novelle auftretende Perſonen haben urſprünglich
ein ganz anderes Gepräge. Margret iſt da nicht das ſelbſtbewußte Weib, das die Werbung des
Witwers Mergel aus dem edlen Grunde annimmt, ihn wieder zu einem braven Manne zu machen,
ſondern die „ältliche“ Schweſter eines Hauptgläubigers Mergels, die dieſer heiraten muß, um aus
ſeiner bedrängten Lage zu kommen.
Aus dem Vergleiche der Novelle mit den Vorarbeiten ergibt ſich, daß die Dichterin urſprünglich
ein größeres Werk plante, ſpäter ſich immer mehr auf die Geſchichte Friedrich Mergels beſchränkte
und ſtark — oft bis zur Unklarheit — kürzte. Ein Hauptgrund war der Wechſel ihrer Kunſt⸗
anſchauung. Annette feſſelte gar bald weniger die Tat und die Sühne, ſondern das pſpchologiſche
Problem: „Welche Verhältniſſe bewirkten, daß Friedrich Mergel zum Mörder wurde.“ Daher ließ
ſie auch den Plan zu einem Gedichte, in welchem der Mörder eines Juden durch einen blinden Bettler
entdeckt werden ſollte, fallen, weil ihr der Ausgang zu wenig pſychologiſch wahr erſchien. Noch in
einem Entwurfe klingt dieſes Motiv nach. Die Dichterin iſt gar bald beſtrebt, den „Helden“ ihrer
Erzählung in den Vordergrund zu ſtellen und eine möglichſt glaubwürdige Charakterentwicklung zu
140 Kleine Anzeigen
geben. Aus dieſem Grunde erfindet ſie die Jugendgeſchichte Friedrichs, gibt uns Einblick in ſeine
Erziehung und macht uns vertraut mit ſeiner engeren und weiteren Heimat, mit den Leuten, die ihn
umgeben, und ihren Sitten und Bräuchen.
Die auftretenden Perſonen ſprechen vielfach ſelbſt, was einerſeits den Fortgang der Handlung
fördert, andererſeits deren innere Entwicklung klarer darlegt. Wo es die Zwecke der Dichtung er⸗
fordern, weicht Annette auch von der Quelle ab. Auf viele bisher ungelöfte Fragen erhalten wir
durch das Buch Schulte⸗Kemminghauſens hinreichend Auskunft. Jetzt wiſſen wir, daß Johannes
Niemand, der Doppelgänger Friedrichs, tatſächlich ein unehelicher Sohn Simon Semmlers iſt. Wir
erfahren auch, welche Bewandtnis es mit dem Meineid Semmlers hat, und worauf der in der No⸗
velle unmotivierte Haß des Förſters Brandes gegen Friedrichs Mutter beruht. Auch über die Per⸗
ſon des Mörders herrſcht weniger Zweifel. Nur die Frage bleibt weiterhin unbeantwortet, weshalb
der Gutsherr gerade an einer „Narbe“ in dem Toten den Mörder Friedrich Mergel erkennt. Was
wir in den „Bemerkungen“ des Herausgebers vermiſſen? Einige Worte über das der Novelle vor⸗
ausgehende Gedicht. Hier ruft uns die Dichterin zu: „Brechet nicht gleich den Stab über einen
Menſchen!“ Sie ſtreift das Problem der erblichen Belaſtung und deutet in Vorausnahme einer
ſpäteren literariſchen Richtung an, daß die Umgebung viel auf den Charakter eines Menſchen einwirkt.
Auch auf das Walten des Schickſals im Leben Friedrich Mergels werden wir aufmerkſam gemacht. Die
Novelle hat unftreitig viele Eigenheiten, die charakteriſtiſche Merkmale der „Schickſalstragödie“ ſind.
Freilich können wir weder auf Grund der Entwürfe noch auf Grund der fertigen Novelle behaupten,
daß ein über den Perſonen waltendes unerbittliches Schickſal deren freie Willensentſchließung ganz
aufhebt. In der Novelle kann die „Buche“ als instrumentum fatale gelten. In den Vorarbeiten
wechſeln die Ausdrücke „Buche“ und „Eiche“. —
Die Dichterin hat aus ſtiliſtiſchen und formalen Gründen gekürzt. Freilich benützte ſie, wie ſie
ſelbſt einmal ſagte, eine „Heckenſchere“ und hat oft zu arg zugeſchnitten. Solange aber das dem
Drudmanuffript (Abſchrift) nicht aufgefunden iſt, können wir immerhin noch Zweifel hegen, ob die
Dichterin die Abſicht hatte, ſo viele dunkle Stellen zu ſchaffen. Vielleicht hatte bei den Streichungen
auch der Dichter Lewin Schücking oder gar der Redakteur H. Hauff die Hände im Spiele. —
Das Buch Schulte⸗Kemminghauſens wird die Grundlage für weitere Studien über die „Juden⸗
buche“ bieten können. Es verdient aber auch, über die Droſte⸗Gemeinde hinaus Verbreitung zu
finden, denn wir erhalten Einblick in die Entſtehung eines Werkes, das wir zu den Meiſternovellen
der deutſchen Literatur rechnen.
Eger. Rudolf Wartuſch.
Doernenburg, Emil, und Fehſe, Wilhelm, Raabe und Dickens. Ein Beitrag zur
Erkenntnis der geiftigen Geſtalt Wilhelm Raabes. Magdeburg 1921. Creutz' ſche Verlags;
Buchhandlung.
Der doppelte Verfaſſername auf dem Titelblatt dieſer Studie deutet darauf hin, daß es ſich um
die Veröffentlichung von gemeinſamen Unterſuchungen zweier Raabeforſcher handelt, die ſich auf die
Beziehungen Raabes zu Dickens erſtrecken. Den Kern bildete eine Diſſertation von Emil Doernen-
burg (jetzt Profeſſor an der Univerfität von Pennſylvania in Philadelphia), die in das Jahr 1908
zurückreichte, aber ungedruckt geblieben war. An fie wollte der bekannte deutſche Raabeforſcher
Wilhelm Fehſe anknüpfen, als er 1920 gleichfalls dem Verhältnis Raabes zu Dickens nachzugeben
gedachte. Der amerikaniſche Gelehrte ſtellte damals Fehſe ſeine Diſſertation handſchriftlich zur
Verfügung mit der Ermächtigung, ſie zu benützen und zu veröffentlichen. Die von Fehſe ſelbſt
gewonnenen Ergebniſſe ergänzten in erfreulicher Weiſe die Unterſuchungen Doernenburgs; ſo ergab
ſich der Plan der Veröffentlichung einer gemeinſamen Studie, in der beide Verfaſſer darauf ver⸗
zichteten, ihr beſonderes geiſtiges Eigentum feſtzuſtellen. Es iſt daher für den Beurteiler nicht
möglich, die Anteile der beiden abzugrenzen, aber allem Anſcheine nach hat Fehſe dem Ganzen das
Gepräge feiner Forſchungs⸗ und Darſtellungsweiſe gegeben, denn aus dem geiſtigen Habitus der
Schrift iſt unſchwer der Verfaſſer von „Wilhelm Raabes Erwachen zum Dichter“ zu erkennen.
Man kann ſagen, daß das an und für ſich nicht unbedenkliche Unternehmen einer ge meinſamen
literariſchen Studie hier offenbar durch das Geſchick des Herausgebers Fehſe eine glückliche Löſung
gefunden hat.
In dieſen Unterſuchungen haben wir nunmehr nicht bloß ein ebenbürtiges, ſondern eher über-
ragendes Seitenſtück zu den älteren Arbeiten von Fritz Lüder!) und Heinrich Lohre )), die den
1) Fritz Lüder, Die epiſchen Werke O. Ludwigs und ihr Verhältnis zu Ch. Dickens. (Greifs⸗
walder Diſſertation.) Leipzig 1910.
2) Heinrich Lohre, O. Ludwig und Ch. Dickens. (Archiv f. d. St. d. n. Spr. u. L.,
54. Bd., 1910.)
Kleine Anzeigen 141
Beziehungen O. Ludwigs zu Dickens nachgehen, und zu den Studien von Vera Völk) und
Roland Freymond), die den Einfluß von Dickens auf G. Freytag beleuchten. Vergleichen wir
Raabes Verhältnis zu dem Engländer mit dem O. Ludwigs und G. Freytags, ſo müſſen wir ſagen:
Raabe ſteht dem engliſchen Humoriſten näher als die beiden genannten deutſchen Erzähler, er hat
mehr von deſſem Geiſte in ſeinem Weſen und in ſeinen Schöpfungen als dieſe; aber er iſt gleichwohl
ebenſo ſelbſtändig wie ſie. Er hat ſeine eigene Dichterindividualität gut zu wahren gewußt und iſt
ſogar in vielen Hinſichten über Dickens hinausgekommen. Dieſe letztere Erkenntnis iſt das bedeut⸗
ſamſte Ergebnis der vorliegenden Unterſuchung.
Die Bekanntſchaft Raabes mit den Werken des Engländers haben die beiden Forſcher zuerſt
durch unmittelbare Zeugniſſe aus ſeinem Tagebuch und aus ſeinen Werken unwiderleglich erwieſen.
Um dann die Frage zu beantworten, welcher Art die Einwirkung des Engländers war und in welchem
Umfange ſie ſich vollzog, ſtellt die Studie eine vergleichende Muſterung der Schriften des deutſchen
und des engliſchen Humoriſten an und hebt die hervorſtechenſten Übereinftimmungen heraus. Auf
Vollſtändigkeit iſt es nicht abgeſehen. Jeder, der mit den Werken der beiden Erzähler vertraut ift,
wird ohne Mühe das eine oder andere gemeinſame Motiv hinzufügen können. Vielleicht nimmt
man es nicht übel, wenn hier einzelne Ergänzungen geboten werden. Zum Zeugnis dafür, daß die
Weihnachtsmärchen des Engländers den ſtärkſten Eindruck auf Raabe gemacht haben, möchte ich zu
den ſchon beigebrachten Belegen noch den Hinweis auf die ſtarke Berührung der Erzählung Raabes
„Der Weg zum Lachen“ (1859) mit der Weihnachtsgeſchichte „The Haunted Man“ (1848) hinzu-
fügen. Den zarten, anmutigen, heiteren, argloſen Mädchengeſtalten wie Klärchen Aldeck (in der
Erzählung „Ein Frühling“, 1857) laſſen ſich mehrere Seitenſtücke aus den Romanen des Eng⸗
länders entgegenſtellen: ſo die kleine Nell im „Raritätenladen“, Bertha in der Weihnachts⸗
erzählung „Das Heimchen auf dem Herde“ und Dora in „David Copperfield“. Mit Recht betont die
vorliegende Studie, daß die Beziehungen Raabes zu Dickens im „Hungerpaſtor“ am ſtärkſten
ſind; aber die hervorgehobenen Berührungen laſſen ſich noch vermehren. Man könnte noch das
Freundſchaftsmotiv erwähnen (die Freundſchaft zwiſchen Hans Unwirrſch und Moſes Freudenſtein
erinnert an das Verhältnis zwiſchen David Copperfield und Steerforth); auch die Nachwirkung
der Weihnachtserzählungen von Dickens auf den „Hungerpaſtor“ läßt ſich erweiſen in der Wieder⸗
gabe der Weihnachtsſtimmung und der Weihnachtsgedanken und in der Erwähnung von Geiſterchen.
Auf die Seeſchilderungen und die Beſchreibung des Seeſturms möchte ich größeren Nachdruck legen
als die beiden Verfaſſer. Ferner möchte ich die Offiziersgeſtalten nicht überſehen: Leutnant Götz und
Oberſt von Bullau. Sie erinnern an Figuren von Dickens (außerdem an Smollettſche und Sterneſche
Geſtalten). Ganz beſonders wäre noch auf die Ahnlichkeit des Stils hinzuweiſen: es begegnen
uns Aufzählungen ganz in der Art eines Dickens, ferner Perſonifikationen wie
bei dieſem (z. B. Perſonifikation des Windes). Am wichtigſten aber erſcheint mir die Berührung
mit den Dichtungen des Engländers in der Weltanſchauung. In dem Helden des Romans
hat Raabe den edlen Hunger nach dem Idealen, die Kraft des Idealismus veranſchaulicht. Auch
Dickens hatte ſich zum Anwalt einer idealen Weltanſchauung gemacht und mehrfach gegen die bloß
verſtandesmäßige, gegen die phantaſieloſe Auffaſſung des Lebens angekämpft. Nur hatte er den
Kampf mehr indirekt geführt, indem er Bilder der Selbſtſucht und der proſaiſch⸗ nüchternen Lebens ⸗
anſchauung entwarf und ihre Vertreter ſcheitern ließ, während Raabe in Hans Unwirrſch ein poſi⸗
tives Bild des idealen Sterbens zeichnete und ihn über die Widerwärtigkeiten des Lebens ſiegen ließ.
Die Einflüſſe des Engländers auf „Schüd derum p“ hätten die beiden Forſcher beſtimmter
faſſen ſollen. Ich glaube, daß die Schilderungen des Armenhauſes, das Dickens in „Oliver Twiſt“
bot, in weitem Umfang für die Beſchreibung des Gemeinde- und Siechenhauſes im „Schüdderump“
vorbildlich geweſen ſind. Dann erinnert die Geſtalt der Hanne Allmann an jene beſcheidenen Men⸗
ſchen bei Dickens, die unter einem unſcheinbaren, ja abſtoßenden Äußeren ein goldiges Gemüt voll
Mächſtenliebe und Lebensfreude verbergen, z. B. Betſey Trotwood in „David Copperfield“ oder Tom
Pinch in „Martin Chuzzlewit“. Nebenbei darf erwähnt werden, daß auch andere engliſche Humoriſten
gewirkt haben, z. B. Fielding mit ſeinem „Tom Jones“. Der Herr von Glaubigern erinnert
mich an Allworthy; das Wilddiebmotiv begegnet uns wie im Roman Fieldings und auch der ganze
ſtiliſtiſche Apparat eines Fielding kehrt im „Schüdderump“ wieder. So ließe ſich die Zahl der
Uebereinſtimmungen zwiſchen Raabe und den Engländern noch ſehr vermehren. Aber die beiden
Forſcher betrachteten den Nachweis des greifbaren Einfluſſes nicht als ihre Hauptſache, vielmehr
legten ſie in den ſich anſchließenden Unterſuchungen über die Stoffe, die Charaktere, den Humor, die
2) Vera Völk, Ch. Dickens' Einfluß auf G. Freytags „Soll und Haben“. (Programm d.
Mädchenlyzeums in Salzburg, 1908.)
) Roland Freymond, Der Einfluß von Ch. Dickens auf G. Freytag. (Prager deutſche
Studien, 19. Bd., 1912.) s
142 Kleine Anzeigen
—
Komik, die Form und die geiftige Geſtalt Raabes das größere Gewicht auf die Darftellung des dem
deutſchen Dichter Eigentümlichen. Sie haben hier den Nachweis erbracht, daß Dickens zwar dem
deutſchen Humoriſten in Geſtalt von Motiven und Stimmungselementen Bauſteine geliefert hat, die
dieſer in ſein umfaſſendes Gebäude einfügte, daß ſich aber Raabes ſtark ſubjektive Natur tieferen
Einwirkungen von außen her verſchloß.
Wenn man die beiden Romanſchriftſteller an einander mißt, ſo gewinnt man folgendes Ergebnis:
Raabe beſaß nicht die Leichtigkeit im Spinnen und Verknüpfen von Fäden, die wir an dem Eng⸗
länder bewundern, dafür aber eigneten ihm die größere Innerlichkeit, die umfaſſendere philoſophiſche
Erkenntnis, der tiefere Ernſt der Welt⸗ und Lebensauffaſſung, der tiefgründigere Humor, die
innigere Verbindung von romantiſcher Traumverſunkenheit und ſcharfſehendem Realismus, die
ſeelenvollere Charakterzeichnung. Der Blick des Engländers haßtete mehr an der Oberfläche des
Lebens, ihn lockte die Fülle und Buntheit der Lebensbilder; Raabe aber hatte den Drang, tief in
den Kern der Dinge und Menſchen zu blicken und die tiefen Gegenſätze und Rätſel des Daſeins zu
ergründen. Dickens faßt an ſeinen Menſchen mehr die äußeren Umriſſe ins Auge; es fehlt ihnen
im Grunde die pſychologiſche Wahrheit. Raabe dagegen erweiſt ſich als den größeren Seelenkenner
und Seelenkünder; er dringt in das Innerſte feiner Menſchen ein und entwickelt fie gleichſam aus
einem Lebenskeim heraus. Die dichteriſche Eigenart des engliſchen und des deutſchen Humoriſten iſt
ſomit ſehr verſchieden. Darum unterſcheiden ſie ſich auch in ihren Wirkungen. Dickens hat ſeiner Zeit
Genüge getan und deshalb ſtark auf ſie gewirkt; Raabes Dichtung aber iſt gewiſſermaßen zeitlos;
ſeine Wirkung auf ſeine Zeit war gering, aber er fängt jetzt an, ſeine Wirkung zu entfalten, und es
ſcheint, daß er auf unberechenbare Zeit wirken wird. Außerdem iſt ſeine Dichtung ein untrüglicher
Spiegel echt deutſchen Gemütslebens und das macht ihn zu einem nationalen Erzieher von unüber-
ſehbarer Zukunftswirkung. Dieſe hohe dichteriſche und nationale Bedeutung des deutſchen Roman⸗
ſchriftſtellers gegenüber dem Engländer erkannt und richtig eingeſchätzt zu haben, iſt das größte
Verdienſt, das ſich die beiden Raabeforſcher durch ihre gemeinſame Studie erworben haben.
Prag. Joſef Wihan.
Fehſe, Wilhelm, Wilhelm Raabes Erwachen zum Dichter. (Die Jahre 1849 — 1853.)
Magdeburg 1921, Creutz'ſche Verlags⸗Buchhandlung (Max Kretſchmann).
Das äußerlich beſcheidene, aber anziehend geſchriebene und gehaltvolle Büchlein verdankt ſeine
Entſtehung einem beſonderen Anlaß, der Feier des 90. Geburtstages Wilhelm Raabes (8. Sept.
1921). Es ſetzt ſich zum Ziel, den Einfluß der Magdeburger Jahre (1849 — 1853) auf das Werden
des Dichters nachzuweiſen und die Spuren der Anregungen jener Zeit auch in den ſpäteren Werken
zu verfolgen. Bevor die Einwirkung, die Magdeburg, ſeine Ortlichkeit und ſeine Geſchichte auf den
werdenden Poeten geübt haben, geſchildert wird, entwirft Fehſe einleitungsweiſe in großen Zügen
das geiſtige Wachstum Raabes im Elternhauſe und beſpricht dabei etwas eingehender bloß ein
Aufſatzheft des Obertertianers aus den Jahren 1847/48, das ſchon Wilhelm Brandes in den „Mit⸗
teilungen für die Geſellſchaft der Freunde Wilhelm Raabes“ (1913, S. 69 ff.) als ein Dokument
erſten Ranges gewürdigt hat, weil es uns bereits einen Einblick in die Grundlagen der künſtleriſchen
Veranlagung des Dichters tun läßt. Erſt im J. Kapitel beſchreibt Fehſe ausführlich die Lehrzeit
Raabes in der Creutz'ſchen Buchhandlung zu Magdeburg und zeigt, wie hier der hiſtoriſche Sinn
des Jünglings durch antiquariſche Bücher genährt wurde, die im Lager der Buchhandlung auf⸗
geſpeichert waren.
Aber nicht bloß die Bücher, ſondern auch die Ortlichkeit ſelbſt, der romantiſche Zauber der Gaſſen
und Märkte Magdeburgs in jener Zeit haben den Dichter in Raabe wachgerufen. Aus den Büchern
holte er ſich die Zeitſtimmung, aus der romantiſchen Umgebung ſchöpfte er die Stimmung der Ortlich⸗
keit; beide vereinigten ſich in ſeiner Phantaſie zu einem einheitlichen Bilde und dieſe Verbindung von
Ort⸗ und Zeitſtimmung iſt für die Entſtehung der erſten Raabeſchen Erzählungen geradezu typiſch.
Fehſe erweiſt das an der Hand der beiden Novellen „Der Student von Wittenberg“ und „Unſeres
Herrgotts Kanzlei“. Dabei läßt er Streiflichter auf die Arbeitsweiſe des Dichters fallen; er legt dar,
wie Raabe ſich von einem Motiv, das ſich ihm innerlich aufdrängte, zunächſt durch eine mehr ſkijzzen⸗
hafte Geſtaltung zu entlaſten pflegte, indem er es irgendwo als Nebenmotiv anbrachte, bevor er es
zum beherrſchenden Mittelpunkt einer größeren Dichtung machte. So war es auch mit den örtlichen
und geſchichtlichen Eindrücken, die er in Magdeburg empfing: erſt in der Erzählung „Unſeres Herr⸗
gotts Kanzlei“ (1861, vom 3. März bis 21. September verfaßt) trat der endgültige Verdichtungs⸗
prozeß der Magdeburger ſeeliſchen Erlebniſſe ein, nachdem er ſchon längſt Magdeburg den Rücken
gekehrt und ſich ſchon in der erſten Novelle „Der Student von Wittenberg“ vorläufig entlaſtet
hatte.
Im weiteren deckt Fehſe die Verbindungsfäden auf, welche die auf den Magdeburger Eindrücken
beruhenden Jugenderzählungen mit den ſpäteren reiferen Werken verknüpfen; er jeigt, wie Motive,
Kleine Anzeigen 143
die dort begegnen, auch in den folgenden erzählenden Werken mannigfaltig variiert wiederkehren.
In ſehr feiner Weiſe führt Fehſe aus, wie im „Studenten von Wittenberg“ die Liebe dem Dichter
zu einem Problem wird, das in den ſpäteren Erzählungen tiefe Spuren hinterlaſſen und immer
neue und feinere Löſungen erfahren hat: ſo im Roman „Ein Frühling“, im „Heiligen Born“, in
den Erzählungen „Elſe von der Tanne“ und „Hollunderblüte“. Die Frage, ob Raabe deshalb ſo oft
mit dem Problem der Liebe dichteriſch gerungen hat, weil es ihm vielleicht aus einem Erlebnis hervor⸗
gewachſen ſei, wagt der Verfaſſer nicht mit derſelben Sicherheit zu entſcheiden, mit der er die Be⸗
hauptung verſicht, daß die Heimkehr Raabes nach Wolfenbüttel nach Beendigung feiner Magde⸗
burger Lehrzeit (1853) die Keimzelle mehrerer Erzählungen und beſonders des Romans „Abu
Telfan“ geworden iſt. Mit dem Ausblick auf die Vollendung der „Chronik der Sperlingsgaſſe“
(Sommer 1855), mit der Raabe die Reihe ſeiner großen Werke eröffnet, ſchließt der Verfaſſer ſeine
Ausführungen.
Indem Fehſe das Erwachen Raabes zum Dichter Schritt für Schritt verfolgt und uns darlegt,
wie dem werdenden Poeten die wichtigſten dichteriſchen Elemente aus dem Magdeburger Leben er
wachſen, indem er uns ferner tiefe Einblicke in die dichteriſche Werkſtatt des jungen Raabe tun läßt,
fördert er unſer Verſtändnis für deſſen dichteriſchen Anfänge. Was aber das Büchlein beſonders
ſchätzenswert macht, das iſt die innige Hingebung, die der Verfaſſer zu Raabe als der lauterſten
und echteſten Verkörperung deutſchen Weſens hegt. „Nirgends“, ſagt Fehſe, „fließen die heiligen
Quellen unſeres deutſchen Weſens reicher und lauterer als in ſeinem Werke“ (S. 6). Er ſieht in
Raabe den zuverläſſigſten Führer, der dem deutſchen Volke den Weg zu weiſen vermag, in der
nationalen Not und Bedrängnis ſich ſelbſt wiederzufinden. Dieſer ernſte nationale Unterton, der das
Werkchen in wohltuender Weiſe durchzieht, erhöht ſeinen Wert für das deutſche Volk und hebt
es über die Sphäre einer bloßen Gelegenheitsſchrift weit empor.
Prag. Joſef Wihan.
Burckhardt, Jacob, Brieſwechſel mit der Baſeler Dichterin Emma Brenner⸗Kron 1852 bis
1866. Hrsg. von K. E. Hoffmann. Verlag Benno Schwabe & Co., Baſel 1925.
Burckhardt, Jacob, Gedichte. Nach den Handſchriften des Jacob Burckhardt⸗Archivs in
Baſel hrsg. von K. E. Hoffmann. Verlag Benno Schwabe & Co., Baſel 1926.
Wie die kultur- und kunſtgeſchichtlichen Werke des großen Baſeler Humaniſten, fo find auch feine
Briefe eine genußreiche und vielfeitig anregende Fundgrube gelegentlicher Äußerungen über Dicht ⸗
kunſt und Dichter. Ganz beſondere Beachtung des Literarhiſtorikers aber verdienen, neben ſeinen
Briefwechſeln mit Paul Heyſe und mit dem Ehepaar Gottfried und Johanna Kinkel, die vorliegen-
den Brieſe an die beſcheidenere Baſeler Dichterin Emma Brenner⸗Kron, deren Auffindung und
geſchmackvolle Ausgabe wir dem Spürſinn und der liebevollen Sorgfalt des Züricher Forſchers
K. E. Hoffmann verdanken. Anlaß und Inhalt des kurzen Brieſwechſels find in gleicher Weiſe
anziehend und bezeichnend für Burckhardts ganze Perſönlichkeit: Jahrelang kennt Burckhardt ſeine
Korreſpondentin gar nicht. Anonym hatte die junge Dichterin dem ſchon hoch angeſehenen 34jührigen
Profeſſor, deſſen eigene dichteriſche Verſuche dem damaligen Baſel natürlich kein Geheimnis waren,
ihre Gedichte zur Beurteilung geſchickt, und obwohl 2 Jahre lang die Maske nicht gelüftet wird,
nimmt er es doch „als eine Pflichtſache, der Schönheit zu Hilfe zu kommen, wo ſie irgend zutage
treten und Geſtalt annehmen will“. Mit unermündlicher Geduld und eindringlichem Ernſt weiſt
er die Anfängerin auf die hohe Verantwortung des künſtleriſchen Schaffens hin, alles leichte Dilet⸗
tieren unerbittlich ablehnend: „Die Dichtung hat mehr zu leiſten als eine Form für übermächtige
Gefühle. Die Poeſie iſt eine Kunſt und hat die Pflichten einer ſolchen.“ Er gibt ihr manchmal
ſehr eingehende kritiſche Belehrungen und Winke, verweiſt ſie aber vor allem auf hohe und reine
Muſter, die gleichzeitig ſeine eigene Anſchauungsweiſe am beſten verdeutlichen. Voran ſtehen ihm
immer die Alten, von den Neueren aber neben Goethe und Mörike, Platen, an dem er ihr das Ge⸗
heimnis der inneren wie der äußeren Form zu ſtudieren empfiehlt. Vor Heine, Lenau und Victor
Hugo, doch auch vor Geibel, als deſſen Freund er ſich aber trotzdem gerne bekennt, warnt er und
bebt von den Dichtern ſeiner Zeit nur Paul Heyſe gelegentlich rühmend hervor. So bieten dieſe
Briefe eine Fülle anregender einzelner Bemerkungen und Beobachtungen, geben aber als Ganzes
ein in ſich geſchloſſenes und volles Bild der poetiſchen Grundanſchauungen eines der feinſten künſt⸗
leriſchen Geiſter des vorigen Jahrhunderts.
Schon dieſes Briefwechſels wegen verdienten auch die Gedichte von Emma Brenner ⸗Kron der
Vergeſſenheit entriſſen zu werden: die Auswahl ihrer „Baſeler Heimatsgedichte“, die ebenfalls
K. E. Hoffmann im gleichen Verlage 1924 ſehr hübſch und ſauber beſorgt hat, erweiſt ſie in der
Tat als eine echte Begabung, die durch die Anſchaulichkeit und den gemütvollen Humor ihrer idyl⸗
liſchen Dialektdichtung an Hebels Allemaniſche Gedichte erinnert und mindeſtens in der Baſeler
Heimatdichtung einen ehrenvollen Platz beanſpruchen kann.
144 Kleine Anzeigen
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An Burckhardts Juwel freilich, ſein „Hämpfeli Lieder“, reichen ſie nicht von Ferne heran. Dieſe
Heine Sammlung war fofort das Entzücken von Freunden und Nichteingeweihten, wie denn Heyſe
mit Recht ihren hohen Rang in die Worte zuſammenfaſſen konnte: „Dieſe Sachen macht keine
Sterbensſeele außer Dein Nachbar Mörike, den unſere lieben Landsleute im Dunkeln ſitzen laſſen.“
Hier vernimmt man in den treuherzigen Klängen der Mundart Urlaute menſchlichen Fühlens, wie
ſie nach Storms höchſten Forderungen das Kennzeichen des wahren Lyrikers ſind. Auch das kleine
Heftchen hochdeutſcher Gedichte, das Burckhardt ebenfalls ohne Namensnennung unter dem Titel
„Ferien, eine Herbſtgabe“ 1849 hatte drucken laſſen, war bei Kennern und Feinſchmeckern nicht un-
beachtet geblieben und hatte den Beweis erbracht, daß in dem univerſalen Gelehrten neben der
packend anſchaulichen Geſtaltungskraft, die ſeine Kulturſchilderungen zu Kunſtwerken von lebendigſter
Wirkung erhebt, auch die Fähigkeit rein lyriſcher Ausſprache verborgen lag, wenn er ihr auch nicht
nachgab und ſeine Lebensaufgabe auf dem wiſſenſchaftlichen Gebiete ſuchte.
Immerhin iſt ſich Burckhardt ſeiner dichteriſchen Sendung wohl bewußt geweſen, ſo ſcheu er
auch ſeine Verſe der Offentlichkeit vorenthielt. Am 2. Mai 1854 ſchrieb er offen an Paul Heyſe,
deſſen glänzenden Aufſtieg er neidlos und herzlich bewunderte, über ſeine eigenen Gedichte: „Als
meine guten Zeiten waren, da war ich noch kein Künſtler und jetzt, da ich mit großer Anſtrengung
da und dort etwas Rundes zuſtande bringe, lebe ich einſam in ſtiller Arbeit und bin herzlich zu-
frieden, ubi nemo turbaverit circulos meos.“ Und während er ſich ſonſt ſo gerne mit faſt
krankhafter Gleichgültigkeit dem Neudruck ſeiner Werke entzog, hielt er es bei ſeinen Gedichten nicht
für eine verlorene Mühe, wenigſtens in ſeinem Handexemplar für ſich ſelber eine neue Ausgabe der
„Ferien“ vorzubereiten, die allerhand Anderungen und Striche, aber auch neue Gedichte
bringen ſollte. ö
Bei dieſer Sachlage durfte ſich der Herausgeber feiner geſammelten Gedichte, wenn er einiger ⸗
maßen im Sinne des Dichters verfahren wollte, nicht damit begnügen, alle erreichbaren Verſe
Burckhardts zuſammenzutragen und den Text mit philologiſcher Gewiſſenhaftigkeit feſtzuſtellen.
Er mußte auch auf die Reinheit der künſtleriſchen Wirkung Bedacht nehmen. K. E. Hoffmann hat
es verſtanden, den verſchiedenen Geſichtspunkten in geſchickter und feinſinniger Weiſe Rechnung
zu tragen. Er hat auch nicht die Verantwortung geſcheut, dasjenige wegzulaſſen, was im
Widerſpruch zu Burckhardts ſtrengen Kunſtanſchauungen das Geſamtbild geſtört und den Dichter
herabgedrückt haben würde. So hat er denn ſchließlich ein Gedichtbuch zuſtande gebracht, das
als Ganzes auch vor der ſcharfen Selbſtkritik Burckhardts beſtehen könnte. Mit dem reinen
künſtleriſchen Eindruck verbindet ſich aber trotzdem die Befriedigung darüber, daß wir hier das dich⸗
teriſche Geſamtwerk Burckhardts in ſeinem weſentlichen Beſtande unverkürzt erhalten und deſſen
Werdegang klar überſchauen können. In ſeinen reichhaltigen Anmerkungen, die gelegentlich auch
auf mancherlei Beziehungen zu Platen, Geibel, Kugler, Leuthold und anderen Dichtern hinweiſen,
legt der Herausgeber über das von ihm befolgte Verfahren Rechenſchaft ab: Er verzeichnet gewiſſen⸗
haft ſeine Textvorlagen aus Handſchriften und älteren Drucken, gibt aber auch in einem beſonderen
Abſchnitt eine genaue Überſicht der noch nachweisbaren, von ihm aber weggelaſſenen Gedichte Burck⸗
hardts. Hiernach kann man wenigſtens bei den ſchon gedruckten Gedichten die Berechtigung der
Weglaſſung nachprüfen und wird fie z. B. bei den weitſchweifigen Jugendromanzen, die dem reifen
Burckhardt gar ſeltſam zu Geſichte ſtehen würden, nur beſtätigen. Nach dieſen Proben darf man das
volle Vertrauen haben, daß Hoffmann mit ſicherem Feingefühl auch aus den Handſchriften nur
ſolche Gedichte unterdrückt hat, die wie etwa das gegen Richard Wagner gerichtete nie druckreif
geworden ſind. Wenn irgend möglich, hat Hoffmann von größeren Gruppen wenigſtens die eine
oder andere Probe aufgenommen, damit das Entwicklungsbild keine wirklichen Lücken bekomme.
So ſind die Romanzen der Frühzeit durch ein paar hübſch gelungene Stücke wie die „Rheinbrücke
zu Baſel“ und den „See im Walde“ vertreten, und auch von dem Zyklus „an Friedrich Rückert“,
die am weiteſten gediehenen Gedichte mitgeteilt. Von allen mißglückten Anſätzen aber und nur
taſtenden Verſuchen iſt die Sammlung ganz im Sinne Burckhardts frei geblieben. Voran ſtehen
in chronologiſcher Folge die ausgereiften Gedichte von 1835 — 1847; darauf folgen die beiden von
Burckhardt ſelbſt herausgegebenen Sammlungen: „Ferien“ von 1849 und das „Hämpfeli Lieder“
von 1853. Daran ſchließt ſich noch eine Nachleſe ſpäterer Gedichte von 1850 1882, die meiſt
durch perſönliche Anläſſe hervorgerufen, das Geſamtbild wirkungsvoll abrunden.
So kommt in klarer Linie der ſtetige Anſtieg des Dichters zur Erſcheinung von der unbeſchwerten
Romantik der Studienzeit, da er noch im Bonner Maikäferbunde Gottfried Kinkels ziemlich harm⸗
los mitſang, über die gehaltvollere Männlichkeit und geſunde Volkstümlichkeit Kuglers, Geibels
und ihres Berliner Kreiſes bis zu der Höhe eines ernſten Klaſſizismus, der aber durch die Kraft
und Friſche des perſönlichen Erlebens und den ſtets feſtgebaltenen engen Zuſammenhang mit Natur
und Volkstum der Heimat und Italiens nie in die Gefahr formaler Erſtarrung verfällt.
Die neue Ausgabe der Gedichte Jacob Burckhardts bringt alſo nicht nur eine hochkultivierte
Gelehrten⸗ oder Epigonenpoeſie. Sie bedeutet vielmehr nicht weniger als eine Bereicherung der
Kleine Anzeigen 145
Geſchichte und des lebendigen Beſtandes der deutſchen Lyrik um einen glänzenden, aber in dieſem
Zuſammenhang faſt vergeſſenen Namen, einen echten Dichter, der ſich durch Wahrheit und Unmittel⸗
barkeit der Empfindung, Fülle und Tiefe der Gedanken, anſchauliche Bildhaftigkeit und Reinheit
des künſtleriſchen Stils den großen Lyrikern von der Art Platens und Mörikes nicht unwürdig
anreiht. Lebendig ſpricht in ihr zu uns mit aller Strenge einer hohen Kunſtvollendung der volle
Zauber einer unvergleichlich reichen und eigenartigen Perſönlichkeit, die kein Lebensgebiet berühren
konnte, ohne ihm Spuren ihres überragenden Geiſtes einzuprägen.
München. Erich Petzet.
Kleine Schriften von Dr. Raphael Koeber, Profeſſor an der Kaiſerlichen Univerſi⸗
tät zu Tokio. Dritter Band. Hrsg. von M. Kubo. Reimar Hobbing, Berlin 1925.
S. Iwanami, Tokio.
Raphael Koeber, der einundzwanzig Jahre an der Univerfität zu Tokio Philoſophie gelehrt hatte,
iſt, fünfundſiebzig Jahre alt, am 14. Juni 1923 in Yokohama geſtorben. Aus feinem Nachlaß
bat, feinem Willen gemäß, fein Hausgenoſſe und Schüler dieſen vorher ſchon in japaniſcher Über-
ſetzung veröffentlichten dritten Band der Kleinen Schriften herausgegeben. Er enthält Aufſätze,
die Koeber ſeit 1921 für die Monatsſchrift „Shiſo“ geſchrieben hatte. [Die erſten zwei Bände
find? 1918 - 1920 in Japan erſchienen.] Es iſt ein liebenswürdiges Buch, das, von der har⸗
moniſchen Geiftes- und Herzensbildung des vielſeitigen Gelehrten zeugend, obwohl fein zwanglos
gefälliger Plauderton auf breite Kreiſe zu Unterrichtender zu wirken beſtimmt iſt, auch dem an⸗
ſpruchsvolleren Leſer Vergnügen bereitet. Vom Märchen, von Ballade und Legende, Idylle, Ro⸗
man und Novelle, Satire, Fabel, Parabel, vom begeiftert geprieſenen „Freiſchütz“, von Tolſtoi und
E. T. A. Hoffmann — von dieſen beiden ausgeſprochenen Lieblingen des in der Weltliteratur
mit Geſchmack beleſenen Verfaſſers beſonders ausführlich — iſt die Rede, und ſie ergeht ſich klug
und klar. Eine optimiſtiſche Weltanſchauung, die, auf einem bekenntnisfrohen Chriſtentum ſicher
errichtet, von inniger Liebe zu Vaterland und Volkstum erwärmt, in ſchöner Zuverſicht zur Wahr⸗
heit eines höheren Seins aufblickt, verkündet das metaphyſiſche „Schaudern“ als „der Menſchheit
beſtes Teil“, zumal die Bedeutung des „Wunderbaren“ für die echte Dichtung. Sehr gut iſt die
— uns freilich nicht mehr nahezulegende — von durchaus künſtleriſcher Auffaſſung getragene
Ehrenrettung des „ſerapiontiſchen“ und des unpolitiſchen Hoffmann, vornehmlich gegen Eichendorffs
Verkennung und Verleumdung, intereſſant die Parallele ſeines ſein erfaßten „Don Juan“ mit
einer davon beeinflußten dramatiſchen Dichtung Tolſtois 1).
Zahlreiche anregende Bemerkungen und entſchiedene Urteile perſönlichſten Charakters find in
dem reichhaltigen Schriftchen — das trotz Nietzſche, Ricarda Huch und Spengler auf das angenehmſte
altmodiſch anmutet — verſtreut ).
Der verdienſtliche Herausgeber hat dem nicht endgültigen Wortlaut ſtellenweiſe durch Wahl
aus „zwei faſt gleichbedeutenden Ausdrücken“ nachhelfen müſſen. Als fehlerhaft vermerke er u. a.
noch folgende:
S. 39 Z. 9 v. u.: „ſie beginnt gleich in medias res“; S. 105 Z. 9: „Die Mängel
ſeiner Zeit ... aufzudecken ..., ift das Ziel ... jeder Satire“; S. 136 Anmerkung, wo das
Datum von Tolſtois „Bekenntnis“, 1874, nicht mit der Angabe im Text: „ein Jahr vor ſeinem
Tode“, ſtimmt; S. 139 erſter Abſatz Z. 5 v. u.: „ob fie [es] auch gleich nicht Wort haben wollen“;
S. 173 Z. 9: „dies alles zieht mich z u dieſer roſichten Schöpfung an“; S. 221 Z. 10 v. u.: „der
Meiſter Johannes Wacht“ ſtatt „des Meiſters“.
Wien. Richard v. Schaukal.
1) Daß in Japan „das Fräulein von Seüderi“ und „Meiſter Martin der Küfner“ viel gelefen find,
fei als Kurioſum verzeichnet. — S. 233 ſagt K., der Witkowski (Fauſt⸗Kommentar) anführt
(„in Deutſchland folgte ... namentlich Hoffmann mit feiner Novelle „Vampirismus .. ): „Unter
Hoffmanns Novellen aber gibt es keine, die dieſen Titel hat.“ Das iſt richtig. Der Kolumnen⸗
titel (der auch im Inhaltsverzeichnis die Geſchichte heraushebt) zu der von K. als Nachricht von
einer Gula, einer Leichenfreſſerin, gekennzeichneten Schauergeſchichte des Serapionsbruders Cy⸗
prian in Ellingers Ausgabe (Werke, Teil 8, S. 163 ff.) rührt, wie der in der Griſebachs (Sämt⸗
liche Werke, 9. Bd., S. 173 ff.) über den ganzen Geſprächsabſchnitt erſtreckte „Der Vampyr“ vom
Herausgeber her.
) Mit manchen freilich wird man ſich nicht eben einverſtanden erklären, fo wenn Scheffels
„Ekkehard“ „ohne Zweifel der ſchönſte aller deutſchen hiſtoriſchen Romane“ genannt wird (Stifters
„Witiko“ ſcheint K. leider nicht gekannt zu haben), wenn Viſchers „Auch Einer“ als eines der
„ſchönſten Beiſpiele des biographiſchen“ auftritt, wenn Hauptmanns „Hannele“, „Die Verſunkene
Glocke“ (!) und der „herrliche“ „Narr in Chriſto“ unter den „großen Werken der Weltliteratur“
erſcheinen, wenn Hoffmann „hoch“ über Poe erhoben daſteht.
Supborion XXVIII. 10
146 Kleine Anzeigen
Auerbach, Erich, Zur Technik der Frührenaiſſancenovelle in Italien und Frankreich. Diſſer⸗
tation. Heidelberg 1921, Karl Winters Univerſitätsbuchhandlung.
Auerbach hat ſich der nicht leichten Aufgabe unterzogen, die italieniſche und franzöſiſche Novelle
der Frührenaiſſance von der formal⸗techniſchen Seite zu unterſuchen. Er hat damit an Stelle der
älteren quellengeſchichtlichen und ſtoffvergleichenden Betrachtung die formalkritiſche Vergleichung
geſetzt. In dieſer Hinſicht war für die Novelle der Frührenaiſſance nur ſehr wenig geſchehen !). Um fo
anerkennenswerter iſt die Energie, mit der Auerbach an ſeine neue Aufgabe herangetreten iſt. Mit
großem Geſchick hat er den in Frage kommenden Novellenſchatz der Italiener und Franzoſen nach
drei wichtigen Geſichtspunkten betrachtet: hinſichtlich des Rahmens der Erzählung, hinſichtlich
der Träger und der Kompoſition. Von einer Unterſuchung des Stils im engeren Sinn
hat er, wie er ſelbſt ſagt, mit Rückſicht auf die Schwierigkeiten abgeſehen und niemand wird ihm
das übelnehmen; ſind ja doch die Ergebniſſe, die er am Schluß eines jeden Abſchnitts und der ganzen
Unterſuchung zuſamenfaſſen konnte, für eine Diſſertation reichlich genug.
In jedem der drei Kapitel ſtellt er den Blick auf die hiſtoriſche Entwicklung ein; denn er ſchließt die
Novellen des ins Auge gefaßten Zeitraums zu Gruppen zuſammen, welche die geſchichtliche Ent⸗
wicklung erkennen laſſen. Was den Rahmen der Novelle anlangt, zeigt er, wie in der Novelle des
Mittelalters, die als Rahmenerzählung aus dem Morgenlande kam, die Einkleidung die Haupt-
ſache war, weil ſie die Lehre, die philoſophiſche Betrachtung enthielt, während die Erzählung ſelbſt
nur das Exempel, die illuſtrierende Zugabe war. Der Verfaſſer verfolgt nun, welche Bedeutung der
Rahmen in der italieniſchen Frührenaiſſance hatte, wie mannigfaltig, wie verſchieden er war,
wie er in manchen Novellen ganz wegfiel, wie Boecaccio ſich wieder einen neuen, einen geſellſchaftlich⸗
landſchaftlichen Rahmen ſchuf und wie dieſer bei feinen Nachfolgern neuerdings in Verfall geriet ).
Indem Auerbach zur franzöſiſche n Literatur übergeht, kann er nachweiſen, daß die franzöſiſche
Novelle einen ganz andern Rahmen entwickelte, einen ſolchen von häuslich⸗intimem
Charakter, da ſie vorzugsweiſe Szenen aus dem Familienleben in ernſtem Tone ſchilderte und viel⸗
fach erzieheriſchen Zwecken diente: ſo hält der „Ménagier de Paris“ an der Vorſtellung feſt, daß
ein alter Mann ein junges Mädchen geheiratet hat und beſchließt, für die junge Frau ein Buch zw
ſchreiben, das ihr in allen Dingen ein Führer fein ſoll. Das iſt ein häuslich⸗ intimer Rahmen und
dieſe Neuſchöpfung Frankreichs erweiſt ſich zäher als der Geſellſchaftsrahmen Boccaccios; denn mit
einigen Schwankungen iſt dieſe franzöſiſche Form der Einkleidung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
wirkſam geweſen. Den Verſuch eines geſellſchaftlichen Rahmens finden wir auf franzöſiſchem Boden
nur in den Cent Nouvelles Nouvelles (um 1460); eigentlich handelt es ſich hier um einen Rahmen⸗
erſatz und dieſer iſt vielleicht auf den Einfluß der italieniſchen Novelle zurückzuführen °).
Im 2. Abſchnitt macht Auerbach die „Träger“ der Novelle zum Gegenſtande ſeiner Unter⸗
ſuchung. Der Ausdruck ſagt eigentlich zu wenig; denn der Verfaſſer prüft nicht nur die Bedeutung
des Mannes und der Frau als der Hauptträger der Handlung und das Verhältnis der Geſchlechter
zueinander, ſondern er bietet überhaupt eine Darſtellung der Lebensanſchauungen des Zeitalters, der
ſozialen und ethiſchen Ideen der Frührenaiſſance, ſoweit ſie in der Novelle zutage treten. Da macht
der Verfaſſer die intereſſante Wahrnehmung, daß die Entwicklung der ſoziologiſchen Verhältniſſe
ſich einigermaßen auch im Rahmen der Erzählung widerſpiegelt. Die Zeit der Blüte des geſell⸗
ſchaftlichen Rahmens (bei Boccaccio) iſt zugleich auch die der Vorherrſchaft der Frau. Die Frauen
tragen nicht nur die Novelle, ſondern ſie herrſchen auch in der Geſellſchaft; der Mann iſt eine bloße
Schattenfigur. Die überragende Stellung der Frau konnte ſich nur in einer Zeit entwickeln, in der
die Bedeutung der Geſellſchaft eine ſehr hohe war und dieſe ſich im geſellſchaftlichen Rahmen wider⸗
ſpiegelte. Mit der Bedeutung des geſellſchaftlichen Lebens verfiel die Herrſchaft der Frau und ver⸗
kümmerte der geſellſchaftliche Rahmen der Novelle. In Frankreich herrſchte im 15. Jahrhundert der
1) Am bedeutendſten iſt noch die Abhandlung von Küchler über die Cent Nouvelles Nouvelles
(Z. f. franz. Spr. u. Lit., Band 30 u. J1), während z. B. Voß ler die Anfänge der franzöſiſchen
Novelle bloß ſtoffgeſchichtlich unterſucht hat (Stud. z. vgl. Lit., Band 2, 1902). Söder j helm
(La nouvelle francaise au quinzième siècle, Paris 1910) iſt mir nicht zugänglich.
2) So bei Giovan nida Firenze, der nun zwei ſich unterhaltende Perſonen einführte und
den von Boccaccio geſchaffenen landſchaftlichen Hintergrund ganz ausſchaltete, ferner bei
Sacchetti, der den Rahmen ganz aufgab und nur ein proemio hatte, während Sere ambi
wieder Boccaccio nachahmte und ſeinen Rahmen übernahm.
3) Der Einfluß der italieniſchen Novelle auf die Cent Nouvelles Nouvelles iſt ftarf um-
ſtritten; Pietro Tol do hat die italieniſche Einwirkung verfochten (Contributo allo studio della
Novella Francese de XV. e XVI. secolo, Rom 1895), während fie Ga ſton Paris (La
Nouvelle francaise au XVe et XVIe siecle, Journal des Savants, 1895) und noch ent⸗
ſchiedener Küchler (a. a. O., Bd. 30, S. 330) ablehnen.
Kleine Anzeigen 147
häusliche Rahmen in der Novelle, in dieſer Zeit gibt auch der Mann dem Leben Maßſtab und
Gehalt; es macht ſich in den Novellen dieſer Zeit die Frauenverachtung geltend. Zwei Novellen, in
denen die erſten heroiſchen Frauen auftreten, in denen die Frauen zum erſtenmal als Perſönlichkeiten
gelten, als gleichberechtigt mit dem Mann in der Leidens⸗ und Erlebensfähigkeit, gehören bereits der
Hochrenaiſſance an.
In der Kompoſition weiſt der Verfaſſer eine grundlegende Verſchiedenheit zwiſchen der
italieniſchen und der franzöſiſchen Novelle nach. Die italieniſche Novelle iſt durch eine gewiſſe
Kürze und Pointiertheit gekennzeichnet. Das iſt auf ihren Urſprung zurückzuführen. Der Keim der
italieniſchen, beſonders der florentiniſchen Novelle iſt das geiſtreiche, elegant geſprochene Wort: das
bel parlare; es wird zum Selbſtzweck der Erzählung bei Salienbene. „Die florentiniſche Freude
am eleganten Wort iſt der formale Urſprung der europäiſchen Novelle“ (S. 40). Bei Boccaccio
ändert ſich die Kompoſitionsweiſe. Bei ihm herrſcht nicht mehr ein beſtimmtes Wort oder eine be⸗
ſtimmte bildhaft ruhende Situation, ſondern die Vielheit der Bilder iſt bei ihm das Entſcheidende;
faft nie macht er eins zur Hauptſache. Dadurch gewinnt feine Kompoſition einen breiten Fluß und
eine gewiſſe klaſſiſche Gleichförmigkeit. Bei ſeinen Nachfolgern aber geht dieſe gleichmäßige breitere
Kompoſition wieder verloren. Sacehetti wendet zuerſt bewußt die pointierte Technik an, er ſtellt ein
Bild oder ein Wort feines Kurioſitätswertes (novitä) wegen in den Mittelpunkt. Und dieſe Kom⸗
poſitionsweiſe — Auerbach nennt ſie die anekdotiſche — hat in Italien weit mehr Glück gehabt als
die Boccaccios.
Während ſich die italieniſche Novelle dieſer Zeit auf dem Stil des bel parlare aufbaut und ihr
deshalb die Neigung zum Pointieren, zur ſcharfen Formulierung einer Hauptſituation eigentümlich
iſt, zeigt die franzöſiſche Novelle von vornherein größere Breite in der Darſtellung. Die Pointe, die
Schärfe und Feinheit ſind den Franzoſen des 14. Jahrhunderts noch ganz fremd. Wenn die Cent
Nouvelles Nouvelles mehr Neigung zur Pointe verraten, ſo iſt dies vielleicht wieder auf
italieniſchen Einfluß zurückzuführen. Denn die formale Eigentümlichkeit der franzöſiſchen Novelle in
der Frührenaiſſance liegt im allgemeinen in der breiten, verweilenden Darſtellung der Zuſtände.
Die Unterſuchung Auerbachs iſt, wie zu ſehen iſt, nur auf wenige, aber auf die wichtigſten Ge⸗
ſichtspunkte der Formalkritik eingeſtellt. Das Weſentliche der Entwicklung hat Auerbach mit klarem
Blick erfaßt und ſeine Beobachtungen auch folgerichtig und ſicher durchgeführt. Mag man auch
ſtellenweiſe eine noch präziſere Faſſung wünſchen, mag man auch in der Einleitung eine kurz gefaßte
literargeſchichtliche Ueberſicht über die Novellendichtung der Frührenaiſſance vermiſſen, mit den
Ergebniſſen der Abhandlung wird man auf jeden Fall zufrieden ſein können und man wird mit
Recht die Reife des Urteils und die Sicherheit in der Behandlung des Gegenſtandes an dieſer
Diſſertation anerkennen müſſen. Die Arbeit iſt ein ſchätzenswerter Beitrag zu einer allgemeinen
Geſchichte der Novellentechnik, die uns erſt die Zukunft bringen wird.
Prag. Joſef Wihan.
Sensburg, Waldemar, Die bayeriſchen Bibliotheken. Bayerland⸗Verlag, München 1925.
Darſtellungen über das Entſtehen, Werden und Vergehen von Bibliotheken gehören zu den
geiſtes⸗ und kulturgeſchichtlich intereſſanteſten Dingen. Kein Wunder, daß die Beſchäftigung mit
derartigen Problemen in den letzten Jahren mehr und mehr in den Vordergrund bibliothekswiſſen⸗
ſchaftlicher Forſchung gerückt iſt. Die ſtaatlichen und ſtädtiſchen Archive, die auf den Bibliotheken
ſelbſt aufbewahrten Aktenſtücke vergangener Jahrhunderte, alte Bücherkataloge und Zugangsver⸗
zeichniſſe und nicht zuletzt die Bücher ſelbſt enthalten wertvolles Material, das noch der Verarbei⸗
tung harrt. Was die Form der Darſtellung betrifft, ſo ergeben ſich für den Forſcher verſchiedene
Möglichkeiten. Entweder ſucht er den geſamten Werdegang der Bibliotheken vom Altertum bis zur
Gegenwart zu durchmeſſen. In dieſem Falle wird das Herausſchälen der Entwicklungsſtadien, d. h.
der für jedes Zeitalter typiſchen Bibliotheksformen, ihrer Verwaltung und Benutzung, ſowie die
Charakteriſierung der bedeutendſten Perſönlichkeiten, die dieſe Entwicklung entſcheidend beeinflußt
haben, Gegenſtand der Betrachtung ſein. Ein anderer Weg bietet ſich durch die aktenmäßige Dar⸗
ſtellung der Verwaltungstätigkeit einzelner Perſönlichkeiten, die für die geiſtige Richtung und
Entwicklung des ihnen anvertrauten Inſtituts von maßgebender Bedeutung waren. Eine dritte
Möglichkeit bibliotheksgeſchichtlicher Betrachtung iſt die durch Schwenkes Adreßbuch der deutſchen
Bibliotheken bekannte Katalogform, durch die jede Bibliothek für ſich geſondert in einer Einzel⸗
darſtellung eine Würdigung erfährt. Dieſe zwar ſchematiſche, anderſeits zur raſchen Orientierung
durchaus praktiſche Darſtellungsform benutzte Sensburg für fein Buch über die bayeriſchen Biblio-
theken, das in teilweiſe recht ausführlichen Einzelbeſchreibungen den Werdegang von 44 zurzeit
beſtehenden bayeriſchen Bibliotheken umfaßt. Es liegt in der Anlage des Buches und in der Be⸗
ſchränkung auf die zurzeit beſtehenden wiſſenſchaftlichen Bibliotheken Bayerns, daß die Geſchichte
der zahlreichen, insbeſondere den mittelalterlichen Hiſtoriker intereſſierenden fäfularifierten Klofter-
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bibliotheken unberückſichtigt blieb. Ferner wurden die zurzeit noch exiſtierenden Amts Schul-,
Vereins- und Volksbibliotheken von der Behandlung ausgeſchloſſen. Was zur Verarbeitung übrig ·
blieb, war für einen erſten Verſuch einer aus Einzeldarſtellungen beſtehenden Bibliotheksgeſchichte
Bayerns übergenug. Denn die Literatur und die archivaliſchen Grundlagen für jede hiſtoriſche
Einzeldarſtellung ſind meiſtenteils weit zerſtreut und oft ſehr ſchwer zu beſchaffen. Um ſo dankens⸗
werter iſt es, daß Sensburg ſich dieſer Mühe unterzogen hat und zum Teil ſehr wohlgelungene, und
ſoweit es der knappe Rahmen des Buches erlaubte, auch hiſtoriſch in die Tiefe gehende und wert-
volle Details zu Tage fördernde Einzeldarſtellungen lieferte. Insbeſondere die großen Bibliotheken
Bayerns, die Bayeriſche Staatsbibliothek, die Univerſitätsbibliotheken in München, Erlangen und
Würzburg, ſowie die Augsburger Staats-, Kreis- und Stadtbibliothek haben ausführliche, gut
orientierende Würdigungen erhalten. Daß dem Verfaſſer bei der Bearbeitung eines fo umfang ⸗
reichen und weitverzweigten Gebietes verſchiedentlich Fehler unterlaufen ſind, und daß hier und da
Lücken feſtgeſtellt werden können, vermag meines Erachtens den Wert des Buches kaum herab-
zuſetzen. Dieſe Mängel ſind mit einer viel zu weitgehenden Ausführlichkeit und in einer dem
geſamten Aufbau der Arbeit in keiner Weiſe gerecht werdenden Kritik im Zentralblatt für Biblio⸗
theksweſen Ihg. 43, Heft 2, S. 82 ff. behandelt, ſo daß auf eine Wiederholung dieſer Dinge hier
verzichtet werden kann. Wer ohne Voreingenommenheit an die Lektüre des Sensburgiſchen Buches
herangeht, wird ſich dieſer kultur⸗ und bibliotheksgeſchichtlich wertvollen Beiträge, die der Verfaſſer
ſelbſt beſcheidenerweiſe nur als einen Verſuch bezeichnet, freuen können. Denn gerade kurze, zu⸗
ſammenfaſſende Überblicke aus der Bibliotheksgeſchichte brauchen wir. Sie find als Auskunftsmittel
bei einer erſten Orientierung ſehr nützlich und können demjenigen, der tiefer in die Einzelheiten ein⸗
zudringen beabſichtigt, Anregung und Wegweiſer ſein.
Berlin. Joachim Kirchner.
Kraſnopolski, Paul, Geiſtliche Bibliotheken in Böhmen und Mähren (Gutenberg⸗Jahr⸗
buch 1926).
Der Verfaſſer gibt auf 29 Seiten einen knappen, dankenswerten Überblick über ein Stück
Bibliotheksgeſchichte, das bisher noch keine einheitliche Darſtellung erfahren hatte. Zunächſt greift
er aus der Fülle des Materials — nach den Angaben des im Jahre 1900 erſchienenen Bohatta⸗
Holzmannſchen Adreßbuches gibt es 51 geiſtliche Bibliotheken — die neun größten Bibliotheken mit
mehr als 20 000 Bänden heraus; im Intereſſe der Vollſtändigkeit wäre es wünſchenswert, wenn
eine Ergänzung der in die Wege geleiteten böhmiſch⸗mähriſchen Bibliotheksgeſchichte mit der Be⸗
ſchreibung der übrigen 42 kleineren Bibliotheken folgen würde.
Wenn man den bibliotheksgeſchichtlichen Abriß Kraſnopolskis mit gleichartigen Arbeiten auf dem
Gebiete der Bibliothekswiſſenſchaft vergleicht, ſo erfreut die anmutige, ſtets ins Poetiſche geſteigerte
Darſtellung, die der Verfaſſer dem Gegenſtande angedeihen läßt. Ohne Frage, eine für wiſſen⸗
ſchaftliche Themen durchaus ungewöhnliche Form, die aber dadurch ſo anziehend wird, daß der
Verfaſſer mit immer neuen, wohlgelungenen Bildern den Leſer erfreut. Zunächſt iſt zu begrüßen,
daß bei jedem Klofter, von deſſen Bibliothek Kraſnopolski Bericht erſtattet, eine Schilderung feiner
Lage im Rahmen der Landſchaft und ein kurzer, jedesmal ſehr reizvoll ſkizzierter Uberblick über
ſeine hiſtoriſchen Schickſale im Laufe der Jahrhunderte gegeben wird. Eine zärtliche Liebe zum
Buche ſpricht aus Kraſnopolskis Beſchreibung der Bücherſchätze, deren Daſeinszweck ſich für ihn
nicht in leichter Benutzbarkeit und guter Katalogiſierung erſchöpft. Ihm iſt das Buch, wie er ein⸗
leitend hervorhebt, „nichts Totes, nein, d a 8 Lebende auf Erden, das feinen Schöpfer überdauert,
als Träger eines Namens, deſſen Leib oft verſchollen iſt ... etwas Vergängliches zwar, aber doch
fähig, ſich ſelbſt neu zu zeugen“. Er zerreißt die papierenen Scheidewände der Kataloge, befreit die
Bücher aus der Klauſur der Magazine, durch die ſie zu Nummern des Bibliothekbetriebes geworden
ſind, beſucht ſie wie gute Freunde und plaudert von ibnen wie von vertrauten Geſellen, die ihm
Gegenſtand zärtlichſter Pflege und Lebensinhalt ſind. Alles, was der Geiſt und Kunſtfleiß vergange⸗
ner Zeiten an Büchern liebevoll geſchaffen, erſcheint ihm in einem verklärten Glanze. In gleichem
Sinne wie einſt Wackenroder zum ſchwärmenden Verehrer der Kunſt Peruginos, Rafaels und
Dürers geworden, iſt Kraſnopolski der Panegyriker des alten Buches, ein Lobredner voll von ehr⸗
fürchtiger Hingabe. Man muß dies hervorheben, weil dieſer ungemein ſympathiſche Typ des Bücher⸗
liebhabers heutzutage ſelten iſt; er flebt in wohltuendem Gegenfuge zu dem an Nußerlich keiten inter-
eſſierten modernen Sammler und Bibliophilen, dem das fehlt, was Kraſnopolski beſitzt: die
ſelbſtloſe aber verſtändnisvolle Einſtellung zu dem, was durch Tradition geworden iſt, und die
Einfühlung in Geiſt und Inhalt der Werke, die uns die Kulturgüter der Vergangenheit vermitteln.
Berlin. Joachim Kirchner.
Einlauf.
(Abgeſchloſſen am 31. Dezember 1926.)
J. Bücher.
(Beſprechung vorbehalten.)
Arndt, Ernſt Moritz, Briefe aus Schweden an einen Stralſunder Freund. Hrsg. von
Dr. Erich Gülzow: Das Arndt⸗Muſeum 2. Druck und Verlag der königl. Regierungs⸗Buch⸗
druckerei, Stralſund 1926.
Bauſtein e, Feſtſchrift Max Koch zum 70. Geburtstage dargebracht und hrsg. von
Ernſt Boehlich und Hans Heckel. Verlag von Preuß & Jünger, Breslau 1926. —
Inhalt: Heckel, H., Das Bild des Künſtlers im neueren deutſchen Roman. Eine Skizze. —
Floeck, O., Der deutſche Roman der Gegenwart. Eine Studie. — Hönig, J., Wiſſenſchaft und
Dichtung. — Schumacher, K., Das Problem der äſthetiſchen Form im Lichte der Weltanſchauung
Hebbels. — Unger, R., Conrad Ferdinand Meyer. Eine Charakteriſtik zu ſeinem Säkulartag,
11. Oktober 1925. — Koſch, W., Robert Hohlbaum, ein Dichter des Deutſchtums. Entwicklung
und Quellen. — Appel, C., Erlebnis und Dichtung bei Gioſus Carducci. — Dreſcher, K., Einige
Geſichtspunkte metriſcher Betrachtung. — Siebs, Th., Zur Geſchichte der deutſchen Hochſprache. —
Jantzen, H., Friedrich Jaricks altdeutſche Studien. — Klapper, J., Aus der Frühzeit des Huma⸗
nismus. Dichtungen zu Ehren des hl. Hieronymus. — Boehlich, E., Johann Michael Elias
Obentraut. Zur Geſchichte und Legende des „Deutſchen Michel“. — Steller, Das Wiegenband.
Ein Beitrag zur ſudetendeutſchen Volkskunde.
Becher, Hedwig, Fechners Philoſophie des organiſchen Lebens im Zuſammenhang mit ſeiner
religiöfen Metaphyſik: Philoſophiſche und pädagogiſche Arbeiten, hrsg. von Erich Becher und Aloys
Fiſcher, Heft 15: Friedrich Mann's Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der
Pädagogik und ihrer Hilfswiſſenſchaften. Heft 1098. Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),
Langenſalza 1926.
Die Briefe Friedrichs des Großen an feinen vormaligen Kammer ⸗
diener Fredersdorf. Hrsg. und erſchloſſen von Johannes Richter. Mit zwei farbigen
Abbildungen und fünf Brief⸗Fakſimiles. Verlagsanſtalt Hermann Klemm, A.⸗G., Berlin⸗Grune⸗
wald [1926].
Briefe von Johann Peter Hebel. Eine Nachleſe. Geſammelt, erläutert und her⸗
ausgegeben von Karl Obſer. Mit fünf Abbildungen und einem Anhang über Bildniſſe Hebels
aus ſeiner Zeit. Verlag C. F. Müller, Karlsruhe in Baden 1926.
Briefe von Conrad Ferdinand Meyer, Betſy Meyer und J. Hard⸗
meyer ⸗ Jenny. Mit drei Bildniſſen und einem Autograph in Fakſimile, hrsg. von Otto
Schultheß: Neujahrsblätter der Literariſchen Geſellſchaft Bern. Der neuen Folge fünftes
Heft. Verlag A. Francke, A.⸗G., Bern 1927.
Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs. Band I (1776-1809). Hrsg. von
Dietrich Gerhard und William Nor vin im Auftrage der Literaturarchiv⸗Geſellſchaft zu Berlin:
Das Literatur⸗Archiv. Veröffentlichungen der Literaturarchiv⸗Geſellſchaft in Berlin. Hrsg. von
Julius Peterſen. Erſter Band. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1926.
Briefe an und von Johann George Scheffner: Veröffentlichung des Vereins
für die Geſchichte von Oſt⸗ und Weſtpreußen. Hrsg. von Arthur Ward a. Zweiter Band.
Vierte Lieferung. Verlag von Duncker & Humblot, München u. Leipzig 1926.
Brinkmann, Hennig, Die Idee des Lebens in der deutſchen Romantik: Schriften zur
deutſchen Literatur. Für die Görres⸗Geſellſchaft hrsg. von Günther Müller. Bd. 1. Verlegt bei
Benno Filſer, Augsburg⸗Köln 1926.
150 Einlauf
Buddecke, Albert, Der König⸗Philoſoph Friedrich der Große: Friedrich Mann's Pädago⸗
giſches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswiſſenſchaften. Heft
1103. Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), Langenſalza 1926.
Burckhardt, Georg, Weltanſchauungskriſis und Wege zu ihrer Löſung. Auch eine Ein⸗
u a Philoſophie der Gegenwart. 2. Teil. Univerſitäts⸗Verlag von Robert Noske in
eipzig ;
Burdach, Konrad, Vorſpiel. Geſammelte Schriften zur Geſchichte des deutſchen Geiſtes.
Zweiter Band. Goethe und ſein Zeitalter. Anhang: Kunſt und Wiſſenſchaft der Gegenwart:
Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtesgeſchichte. Hrsg. von Paul Kluck⸗
hohn und Erich Rothacker. Buchreihe 3. Bd. Max Niemeyer, Verlag, Halle / Saale 1926.
Burdach, Konrad, Reformation Renaiſſanee, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die
Grundlage moderner Bildung und Sprachkunſt. 2. Auflage. Gebrüder Paetel, Berlin⸗Leipzig 1926.
Butler, E. M., The Saint-Simonian religion in Germany. A study of the Young
German movement. University Press, Cambridge 1926.
Ca ſtle, Eduard, In Goethes Geiſt, Vorträge und Aufſätze. Oſterreichiſcher Bundesverlag,
Wien u. Leipzig 1926. — Inhalt: Deutſche Größe. Vom erwachenden Nationalgefühl. — Der
theatergeſchichtliche und autobiographiſche Gehalt von „Wilhelm Meiſters theatraliſcher Sendung“.
— Herder als Wiedererwecker des deutſchen Volksliedes. — „Pater Brey“ und „Satyros“. —
Stella. Ein Schauſpiel für Liebende. — Plan und Einheit in der erſten Konzeption des Goetheſchen
„Fauſt“. — Gott und Teufel in Goethes „Fauſt“. — Taſſo⸗Probleme. — Winckelmanns Kunft-
theorie in Goethes Fortbildung. — Dorothea und Nauſikaa. — Die natürliche Tochter. Ein
Rekonſtruktionsverſuch des Trauerſpiels von Goethe. — Zur Entſtehungsgeſchichte von Schillers
„Demetrius“. — Was iſt uns Schiller? — Goethes Plan zu „Schillers Totenfeier“. — Pandora.
Ein Feſtſpiel von Goethe. — Ein Wiener bei Goethe. — Die drei Paria. — Trilogie der Leiden ⸗
ſchaft. — Goethes Bildungsideal und das moderne Gymnaſium.
Deutſch⸗Oſterreichiſche Literaturgeſchichte. Ein Handbuch zur Geſchichte
der deutſchen Dichtung in Öfterreih-Ungarn. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgenoſſen nach
dem Tode von Johann Willibald Nag! und Jakob Zeidler, hrsg. von Eduard Caſt le.
Dritter (Schluß⸗) Band 1848 — 1918. 1. Abteilung: Neuabſolutismus und erſte Verfaſſungsver⸗
ſuche 1848 — 1866. Verlagsbuchhandlung Carl Fromme, G. m. b. H., Wien 1926.
Deutſche Volkskunde insbeſondere zum Gebrauch der Volksſchullehrer. Im Auftrage
des Verbandes deutſcher Vereine für Volkskunde. Hrsg. von John Meier. Walter de Gruyter
& Co., Berlin u. Leipzig 1926.
Dilthey, Wilhelm, Studien zur Geſchichte des deutſchen Geiſtes: Geſammelte Schriften
III. Bd. B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1927. — Inhalt: Leibniz und ſein Zeitalter. —
Friedrich d. Gr. und die deutſche Aufklärung. — Das 18. Jahrhundert und die geſchichtliche Welt.
Dilthey, Wilbelm, Der Aufbau der geſchichtlichen Welt in den Geiſteswiſſenſchaften: Ge⸗
ſammelte Schriften VII. Bd. B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1927.
Fiſcher, Walther, Amerikaniſche Proſa, Vom Bürgerkrieg bis auf die Gegenwart (1863 bis
1922). Verlag und Druck von B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1926.
Fro ſt, Walter, Bacon und die Naturphiloſophie: Geſchichte der Philoſophie in Einzeldar-
ſtellungen. Abt. V: Die Philofopbie der neueren Zeit II, Band 20. Mit einem Bildnis Bacons.
Verlag Ernſt Reinhardt in München 1927.
Geffcken, Johannes, Griechiſche Literaturgeſchichte. Erſter Band: Von den Anfängen bis
auf die Sophiſtenzeit: Bibliothek der klaſſiſchen Altertumswiſſenſchaften. Hrsg. von J. Geffcken.
Bd. IV. Carl Winter's Univerſitätsbuchhandlung, Heidelberg 1926.
Georgi, Arthur, Die Entwicklung des Berliner Buchhandels bis zur Gründung des Börſen⸗
vereins der deutſchen Buchhändler 1825. Paul Parey, Berlin 1926.
Geſemann, Gerhard, Studien zur ſüdſlaviſchen Volksepik: Veröffentlichungen der Sla⸗
viſtiſchen Arbeitsgemeinſchaft an der Deutſchen Univerſität in Prag. Hrsg. von Prof. Dr. Franz
Spina und Prof. Dr. Gerhard Geſemann. 1. Reihe: Unterſuchungen, Heft 3. Erſte Folge, Verlag
Gebrüder Stiepel Geſ. m. b. H., Reichenberg 1926.
Bücher 151
— .
Goeken, Walther, Herder als Deutſcher. Ein literarhiſtoriſcher Beitrag zur Entwicklung der
deutſchen Nationalidee: Tübinger Germaniſtiſche Arbeiten hrsg. von Hermann Schneider. Erſter
Band. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1926.
Görte, Erna, Der junge Tieck und die Aufklärung. Germaniſche Studien, Heft 45. Verlag
von Emil Ebering, Berlin 1926.
Golther, Wolfgang, Richard Wagner, Leben und Lebenswerk. Mit einem Bildnis Richard
Wagners: Muſiker⸗Biographien. 5. Band. Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig [1926].
v. Gordon, Wolff, Die dramatiſche Handlung in Sophokles „König Oidipus“ und Kleiſts
„Der zerbrochene Krug“: Bauſteine zur Geſchichte der deutſchen Literatur XX. Hrsg. von Franz
Saran. Verlag von Max Niemeyer, Halle (Saale) 1926.
Groos, Helmut, Der Deutſche Idealismus und das Chriſtentum. Verſuch einer vergleichenden
Phänomenologie. Verlag Ernſt Reinhardt, München 1927.
Handlexikon der Katoliſchen Dogmatik. Unter Mitwirkung von Profeſſoren
der Theologie am Ignatiuskolleg zu Valkenburg. Hrsg. von Joſeph Braun S. J. Herder & Co.
G. m. b. H. Verlagsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau 1926.
Hettner, Hermann, Geſchichte der deutſchen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. J. Buch.
Das klaſſiſche Zeitalter der deutſchen Literatur. Zweiter Abſchnitt: Das Ideal der Humanität.
Siebente Auflage mit einem bibliographiſchen Anhang hrsg. von Ewald A. Bou cke. Verlag von
Friedr. Vieweg & Sohn, Akt.⸗Geſ., Braunſchweig 1926.
Hirſchfeld, Georg, Lord Byron. Mit 1 Fakſimile und 34 Abbildungen: Menſchen, Völker,
Zeiten. Eine Kulturgeſchichte in Einzeldarſtellungen. Hrsg. von Max Kemmerich. Verlag Karl
König, Wien und Leipzig o. J.
Van T Hooft, B. H., Das Holländiſche Volksbuch vom Doktor Fauſt. Mit 20 Abbil-
dungen. Martinus Nijhoff, Haag 1926.
Jaeger, Hans, Clemens Brentanos Frühlyrik. Chronologie und Entwicklung: Deutſche For⸗
ſchungen hrsg. von Friedrich Panzer und Julius Peterſen. Heft 16. Verlag Moritz Dieſterweg,
Frankfurt a. M. 1926.
Keller, Gottfried, Der grüne Heinrich. Hrsg. und mit einer Einführung in die Geſchichte
des deutſchen Entwicklungsromans eingeleitet von Dr. Karl Hoppe. Verlagsbuchhandlung J.
J. Weber, Leipzig o. J.
Könnecke, Guſtav, Quellen und Forſchungen zur Lebensgeſchichte Grimmelshauſens. Hrsg. im
Auftrag der Geſellſchaft der Bibliophilen von Dr. J. H. Scholte. 1. Bd. Grimmelshauſens Leben
bis zum Schauenburgiſchen Schaffnerdienſt. Geſellſchaft der Bibliophilen, Weimar 1926.
Koiſchwitz, Otto, Die Revolution in der deutſchen Literaturwiſſenſchaft. Vortrag gehalten
vor dem Verein deutſcher Lehrer von New Pork und Umgegend am 6. März 1926. Berlin (Emil
Ebering) und New Pork (Weſtermann & Co.) 1926.
Koiſchwitz, Otto, Der Theaterherold im deutſchen Schauſpiel des Mittelalters und der Re⸗
formationszeit. Ein Beitrag zur deutſchen Theatergeſchichte: Germaniſche Studien Heft 46. Verlag
von Emil Ebering, Berlin 1926.
Lang, Paul, Zeitgenöſſiſche Schweizer Dramatiker. Acht Eſſays. J. Kleiner, Bern 1926.
Laſerſtein, Käte, Der Griſeldisſtoff in der Weltliteratur. Eine Unterſuchung zur Stoff⸗
und Stilgeſchichte: Forſchungen zur neueren Literaturgeſchichte LVIII. Hrsg. von Dr. Franz
Muncker. Alexander Duncker Verlag, Weimar 1926.
Litt, Theodor, Individuum und Gemeinſchaft. Grundlegung der Kulturphiloſophie. Dritte
3 durchgearbeitete und erweiterte Auflage. Verlag und Druck von B. G. Teubner. Leipzig
u. Berlin 1926.
Lüer s, Grete, Die Sprache der deutſchen Myſtik des Mittelalters im Werke der Mechthild von
Magdeburg. Verlag von Ernſt Reinhardt in München 1926.
Drei märkiſche Weib nachtſpiele des 16. Jahrhunderts. 1. Heinrich Knauſt
1541; 2. Chriſtoph Laſius 1549; 3. Berliner Anonymus 1589; nebſt einem ſüddeutſchen Spiel von
1693 hrsg. von Johannes Bolte: Berliniſche Forſchungen, Texte und Unterſuchungen im
152 Einlauf
Auftrage der Geſellſchaft der Berliner Freunde der deutſchen Akademie hrsg. von Fritz Behrend.
Erſter Band. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin [1926].
Mallon, Otto, Brentano⸗ Bibliographie (Clemens Brentano, 1778 — 1842). S. Martin
Fraenkel, Berlin 1926.
Mayne, Harry, Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Mit Mörikes Bildnis. 3. und
4. überarbeitete und vermehrte Auflage. J. G. Eotta’fhe Buchhandlung Nachf., Stuttgart und
Berlin 1927.
Mehlis, Georg, Die Myſtik in der Fülle ihrer Erſcheinungsformen in allen Zeiten und Kul⸗
turen. Verlag F. Bruckmann A.-G., München [1926].
Mer ba ch, Paul Alfred, Heinrich Marr 1797 1871. Ein Beitrag zur Geſchichte des deutſchen
Theaters im 19. Jahrhundert. Mit 4 Tafeln: Theatergeſchichtliche Forſchungen, hrsg. v. Berthold
Litzmann. Verlag von Leopold Voß, Leipzig 1926.
Meyer ⸗Benfey, H., Kleiſts Novellen „Michael Kohlhaas“ und „Die heilige Cäcilie“ im
Wortlaut der erſten Faſſung: Germaniſche Bibliothek, begründet von Wilhelm Streitberg f.
2. Abteilung: Unterſuchungen und Texte. 23. Band. Carl Winters Univerſitätsbuchhandlung,
Heidelberg 1926.
Murner, Thomas, Des jungen Bären Zahnweh. Eine verſchollene Streitſchrift. Hrsg. von
Joſeph Lefftz: „Archiv für elſäſſiſche Kirchengeſchichte I (1926), S. 141 167. Kommiſſionsverlag
Röhrſcheid⸗Bonn 1926.
Neue Handſchriften F. L. Jahns hrsg. von Franz Hüller. Verlag des Deutſchen
Turnverbandes, Teplitz⸗Schönau [1926].
Oppens, Edith, Die Geſtaltung der Landſchaft bei Annette von Droſte⸗Hülshoff. Diſſertation.
Hamburg 1925.
Plenzat, Karl, Die Theophiluslegende in den Dichtungen des Mittelalters: Germaniſche
Studien Heft 43. Verlag von Emil Ebering, Berlin 1926.
Recueil Gebelev, Exposé Sommaire. Leningrad 1926.
Reine Religion. Für moderne Wahrheitsſucher nach Raoul Richters „Religionsphilo⸗
ſophie“ dargeſtellt und durch Einleitung, Anmerkungen und Anhang erläutert von Max Rudolph.
Verlag von Otto Hillmann, Leipzig 1926.
Reynaud, Louis, Le Romantisme. Ses origines anglo-germaniques: Influences
etrangeres et Traditions nationales; le réveil du genie francais. Librairie Armand
Colin, Paris 1926.
Ruepprecht, Chr., Bücher und Bibliotheken. Was können ſie den Menſchen ſein und geben?
Mit einem Anhang für Bibliothekbenutzung, beſonders der Studierenden, und für Haus⸗ und Fa⸗
milienbibliothek: Friedrich Mann's Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Päda⸗
gogik und ihrer Hilfswiſſenſchaften. Heft 1097. Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann),
Langenſalza 1926.
Sabbatini, Nicola, Anleitung, Dekorationen und Theatermaſchinen herzuſtellen. 1639.
Überſetzt und mitſamt dem Urtext hrsg. von Prof. Dr. Willi Flemming. Geſellſchaft der Bib⸗
liophilen, Weimar 1926.
Scherr, Johannes, Illuſtrierte Geſchichte der Weltliteratur. Elfte neubearbeitete und bis auf
die neueſte Zeit ergänzte Auflage von Dr. Ludwig Lang u. a. 1. Bd. Mit vielen Porträts der
hervorragendſten Vertreter der Weltliteratur, Fakſimiles ihrer Handſchriften, Leſeproben, bemer⸗
kenswerten Titelbildern und anderen wichtigen und intereſſanten literaturgeſchichtlichen Denkmälern.
Verlegt bei Dieck & Co., Stuttgart [1926].
Schleſier des 18. und 19. Jahrhunderts. Namens der Hiſtoriſchen Kommiſſion für
Schleſien hrsg. von Friedrich Andreae, Max Hippe, Paul Knötel, Otfried Schwarzer: Schle⸗
ſiſche Lebensbilder hrsg. von der Hiſtoriſchen Kommiſſion für Schleſien. Verlag von Wilh.
Gottl. Korn, Breslau 1926.
Schmeer, Hans, Der Begriff der „ſchönen Seele“, beſonders bei Wieland und in der deutſchen
Literatur des 18. Jahrhunderts: Germaniſche Studien Heft 44. Verlag von Emil Ebering, Ber⸗
lin 1926.
Zeitſchriften 153
Schneider, Ferdinand Joſef, Der expreſſive Menſch und die deutſche Lyrik der Gegenwart.
J. B. Metzlerſche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1927.
Schröter, Ernſt, Walahfrids Deutſche Gloſſierung zu den Bibliſchen Büchern Geneſis bis
Regum II und der Althochdeutſche Tatian: Hermaea. Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale) 1926.
Specht, Richard, Franz Werfel. Verſuch einer Zeitſpiegelung. Paul Zſolnay Verlag,
Berlin — Wien Leipzig 1926.
Sprengel, Johann Georg, Die deutſche Kultureinheit im Unterricht. Zweite, völlig um⸗
gearbeitete Auflage: Schule und Leben, Schriften zu den Bildungs⸗ und Kulturfragen der Gegen⸗
wart. Hrsg. vom Zentralinſtitut für Erziehung und Unterricht. Verlegt bei E. S. Mittler &
Sohn, Berlin 1927.
Troeltſch, Ernſt, Glaubenslehre. Nach Heidelberger Vorleſungen aus den Jahren 1911 bis
1912. Mit einem Vorwort von Marta Troeltſch. Verlag von Duncker & Humblot, Mün⸗
chen und Leipzig 1925.
Utitz, Emil, Charakterologie. Pan⸗Verlag Rolf Heiſe, Charlottenburg 1925.
Wach, Joachim, Die Typenlehre Trendelenburgs und ihr Einfluß auf Dilthey. Eine philo⸗
ſophie⸗ und geiſtesgeſchichtliche Studie: Philoſophie und Geſchichte. Eine Sammlung von Vor⸗
trägen und Schriften aus dem Gebiet der Philoſophie und Geſchichte. Verlag von J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), Tübingen 1926.
Weber, Paul C., America in imaginative German literature in the first half of the
nineteenth century. Columbia University Press, New Vork 1926.
Weiſſer, Hermann, Die deutſche Novelle im Mittelalter auf dem Untergrunde der geiſtigen
Strömungen. Herder & Co. G. m. b. H. Verlagsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau 1926.
Z ey del, Edwin H., Early References to Storm and Stress in German Literature:
Indiana University Studies. Vol. XIII (1926) Nr. 71.
2. Zeitfchriften.
(Jahrbücher. — Jahresberichte. — Mitteilungen gelehrter Geſellſchaften.)
Archivfür Kulturgeſchichte. XVII. Bd. 1926. Heft 1: Kern, F., Kulturenfolge. —
Hampe, K., Zur Auffaſſung der Fortuna im Mittelalter. — Lauffer, O., Geiler von Kaiſersberg
und das Deutſchtum des Elſaß im Ausgange des Mittelalters. — Neumann, K., Zu Jacob Burd-
hardts Gedichten. — Goetz, W., Die Entſtehung der „Bibliothek Deutſcher Geſchichte“. — Winkler,
M., Die Anfänge des Suzdaler Staates. — Literaturberichte: Kötzſchke, R., Geſchichte der wirt⸗
ſchaftlichen Kultur im Mittelalter. — Zeller, U., Geiſtige Kultur des Mittelalters. — Titel unge-
druckter, von der Philoſophiſchen Fakultät zu Leipzig angenommener Diſſertationen kulturgeſchicht⸗
lichen Inhalts.
Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. 81. Ihg. (Oktober
1926) Heft I u. 2: Brandl, A., Zu Ad. Pichlers Anfängen. — Mezger, F., Swifts Gulliver's
Travel's und iriſche Sagen. — Schleich, G., Die Glouceſterſhire-Legende der heiligen Juliane. —
Geloſi, G., Wielands Verhältnis zu Metaſtaſio. — Moldenhauer, G., Nachweis älterer franzöſiſcher
Handſchriften in portugieſiſchen Bibliotheken. — Ebſtein, E., Quellengeſchichtliches z. G. A. Bürgers
„Die Kuh“. — Liebermann, F., Hengist und Hors. — Liebermann, F., Zu Streoneshealh. —
Liebermann, F., Agſ. odde „und“. — Liebermann, F., Agſ. hydesace „Fellſack“. — Liebermann,
F., Borhtriming „Freibürgſchaftsanordnung“. — Liebermann F., ZElfreds dulmun aus Iſidor. —
Liebermann, F., Zu Wulfſtans Homilien. — Liebermann, F., Renntiere in Britannien. — Lieber⸗
mann, F., Zwei Stellen übers Ordal der Angelſachſen. — Liebermann, F., Schauſpieler in Dunſtable
um 1221. — Liebermann, F., Anglo⸗Franzöſiſch um 1240. — Liebermann, F., Frühe Proben ſchot⸗
tiſcher Sprache. — Liebermann, F., An Anglo-Saxon source of Ordericus Vitalis. — Lieber-
mann, F., Mittelengliſch baseling. — Liebermann, F., Geoffrey Chaucer. — Liebermann, F., Eng-
liſche Prozeßakten 1454 1463. — Liebermann, F., Zu Shakeſpeares Hiſtorien. — Schirmer, W.
F., Zu Byrons klaſſiziſtiſcher Theorie! — Liebermann, F., Zu Walter Scotts Ivanhoe. — Lieber⸗
mann, F., Zu Ch. Dickens jüdiſchen Geſtalten. — Ehrentreich, A., Engliſche Jugendbewegung. —
Jordan, L., Über das Abkommen von commodare, faenerare, mutuare im Lateiniſchen und das
Aufkommen von impromutuum, praestare und praestitum. — Schultz⸗Gora, O., Zum erſten
Straßburger Triſtan⸗Fragment. — Schultz⸗Gora, O., Huwes au blanc tabart. — Körner, J.,
154 Einlauf
Zu Frau von Stael und Napoleon. — Werner, E., Zur „Bibliographie des voyages en
Espagne“.
Deutſche Literaturzeitung. 3. Ihg. Heft 39 (September 1926) Sondernummer
für den Orientaliſtentag, Hamburg 1926: Sethe, K., Neue Forſchungen zu den Beziehungen zwi⸗
ſchen Agypten und dem Chattireiche auf Grund ägyptiſcher Quellen. — Schäfer, H., Die angebliche
Entſtehung der ägyptiſchen Wandbilder aus Wandbehang. — Steindorff, G., Der ägyptiſche Aus⸗
grabungswinter 1925 — 1926. — Guidi, J., Die traditionelle Ausſprache des Athiopiſchen. — Mitt⸗
woch, E., Italieniſcher Brief eines Franziskaners aus dem Jahre 1495 in einer Berliner äthiopiſchen
Handſchrift. — Meißner, B., Die Entwickelung der aſſyriſchen Lexikographie bis zu C. Bezolds Ba⸗
byloniſch⸗aſſyriſchem Gloſſar. — Wiegand, Th., Eine Monographie über Petra. — Greßmann, H.,
Götterkind und Menſchenſohn. — Littmann, E., Das große Religionsbuch der Mandäer. — Lietz⸗
mann, H., Die jüdiſche Katakombe in der Villa Torlonia. — Weil, G., Ein unediertes Reſponſum
des Maimonides. — Horovitz, J., Zur Entſtehungsgeſchichte von 1001 Nacht. — Juynboll, Th. W.,
Islamiſches Fremdenrecht in älterer Zeit. — Sobernheim, M., Erinnerungen an die Seldjuken in
Aleppo. — Hartmann, R., Eine neue Geſchichte der türkiſchen Moderne. — Strauß, O., Sylvain
Lévi über Indien und die Kulturwelt. — Schrader, O., Die Santals und ihre Volkserzählungen.
— Franke, A. H., Eine neue Himalaja⸗Expedition. — Karlgren, B., Zu den früheſten Verbin⸗
dungen zwiſchen China und dem Weſten. — Simon, W., Die nationalſprachliche Bewegung in
China. — Wildhagen, E., Japaniſche Lebenskultur.
Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtes⸗
geſchichte. Halle a. d. Saale. 4. Jahrg. (1926) Heft 4: Brandi, K., Cola di Rienzo und fein
Verhältnis zu Renaiſſanee und Humanismus. — Ermatinger, E., Zeitſtil und Perſönlichkeitsſtil.
Grundlinien einer Stilgeſchichte der neueren deutſchen Dichtung. — Kindermann, H., Romantik und
Realismus. — Cyſarz, H., Friedrich Nietzſche in den Wandlungen der Mit- und Nachwelt. Ein
Vortrag. — Lorenz, R., Friedrich Schlegels Wiener Vorleſungen über die Neuere Geſchichte. —
Rupprich, H., Clemens Brentano und die Myſtik. — Oppert, K., Das Dinggedicht. Eine Kunft-
form bei Mörike, Meyer und Rilke. — Unger, R., Vom Sturm und Drang zur Romantik. Eine
Problem- und Literaturſchau. II. — Kluckhohn, P., Das Kleiſtbild der Gegenwart. Bericht über
die Kleiſtliteratur der Jahre 1922 1925.
E d d a. Nordisk tidsskrift for Litteraturforskning. Ibg. 13, Bd. XXVI, Heft 4, 1926:
Wanscher, V., Homeros-Studier. — Mowinckel, S., Motiver og stilformer i profeten
Jeremias diktning. — Paludan, H. A., En gammel dansk Psalmedigter. — Visted, K.,
Djævlepakten.
Europäiſche Revue. Hrsg. von Karl Anton Rohan. 2. Ibg. Oktober 1926, Heft 7:
Bredt, J. V., Nationalismus und Toleranz. — Romier, L., Europäiſche Solidarität. — Bruhn,
B., Wirtſchaft und Politik. — Baruzi, J., Über ein zweifaches Verſagen des Anthropozentrismus.
— de Montherlant, H., Der Wettlauf. — Der Horizont (Das junge Europa): Rohan, K. A., Genf.
— Boehm, M. H., Auslandvolkstum und Konnationale. — Ziegler, H. O., Nation und Politik. —
d' Ormeſſon, W., Zur Nationsidee. — Gitans, C. O., Volksſtimmung und Völkerbund in Italien.
— Dupuis, Ch., Ecole libre des Sciences Politiques. — Haas, W., Die deutſche Hochſchule
für Politik. — Richards, J. G. M., und Stewart, W., Engliſche Zeitſchriften.
Heft 8 (November 1926): Benes, E., Aus den Problemen der ſlaviſchen Politik. — Arens, J. J.,
Die außenpolitiſchen Grundſätze der U. R. S. S. — Dvornikovis, V., Die ſoziale und kulturelle
Struktur Jugoſlawiens. — Zwei rumäniſche Gedichte. — Capek, K., Räder. — Nötzel, K., Ruſ⸗
ſiſcher Einfluß auf deutſches Weſen. — Fadejew, A., Gegen den Strom. — Der Horizont (Das junge
Europa): Rohan, K. A., Paneuropa. — von Eckardt, H., Deutſchland zwiſchen Kolonialimperialis-
mus und Kolonialbolſchewismus. — Dubrowitſch, J., Der Sinn der Ruſſiſchen Revolution. —
Martin, W., Die Siebente Völkerbundverſammlung. — Reich, B., Das Ruſſiſche Theater. —
Riegler, E., Rumänien im Spiegel ſeines Theaters.
Heft 9 (Dezember 1926): Caillaux, J., Frankreichs Finanzlage und feine Zukunft in Europa. —
Hoetzſch, O., Deutſchland im Völkerbund. — d' Ormeſſon, W., Frankreich — Deutſchland — Polen. —
Prinz Radziwill, J., Polniſch⸗deutſche Beziehungen. — Schiemann, P., Das Randſtaatenproblem.
— Graf Ledebur, E., Die nationalen Minderheiten in der Tſchechoſlowakei. — Paquet, A., Deut-
ſcher Städtebau und europäiſche Bedeutung. — Der Horizont (Das junge Europa): Law, N., Die
Britiſche Reichskonferenz und die Zukunft. — Minder, R., Elſaß und Europa. — Clauß, M., Die
Dritte Jahresverſammlung für kulturelle Zuſammenarbeit in Wien.
The German ie Re vie v. Volume I, Number 4 (October 1926): Roedder, E. C.,
Linguistic Geography. — Wood, F. A., Indo-Germanic PT: Germanic F. — Mahr, A.
Zeitſchriften 155
C., Zur Methodik der literargeſchichtlichen Forſchung. — Seibert, Ph., Romanticism. — Roſe,
E., Das ſoziale Empfinden Paul Heyſes. — Book Reviews.
Die Horen. Zweimonatshefte für Kunſt und Dichtung. 3. Ihg. (1926 - 1927) Heft 1:
Menſe, R., Nationaler und weltbürgerlicher Geiſt. — Binding, R. G., Vier Gedichte. — Heſſe, H.,
Inneres Erlebnis, eine Aufzeichnung. — Alaſtair, Gedichte. — Schaeffer, A., Urania, das Buch
meines Lebens. — Talhoff, A., Sommer. — Mayer, A., Ceſar Klein (mit 16 Abbildungen). —
Orlik, E., Franziska Kinz. — Koehler, W., Der Bürger außer Ort und Zeit. — Francke, H., Zwei
Gedichte. — Günther, J., Franziska Kinz im Theater unſerer Zeit. — Hirth, Fr., Heinrich Heines
Kitty. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
Heft 2: Ernſt, P., Was nun? — Strauß, L., Sieben Geſänge. — Röttger, K., Die Wandlung.
— Schaeffer, A., Abrahams Opfer. — Roh, F., Karl Röſſing (mit 8 Abbildungen und einem Holz⸗
ſchnitt). — v. Molo, W., Walt Whitmann, Nachdichtungen. — Schwabach, E. E., Das Schwein.
— Klimſch, U., Drei Gedichte. — Harich, W., Alfred Bruſt. — Renker, A., Zwei Gedichte aus
Italien. — Hauſenſtein, W., Hugo Troendle (mit 5 Abbildungen). — Reinacher, E., Sprüche des
Todes. — Däubler, Th., Styx. — Klimſch, U., Auridora. — Orlik, E., W. v. Scholz, Oskar Fried,
R. M. Rilke 1896, Zeichnung. — Loerke, O., Perpetua. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
Individualität. Viertel⸗Jahresſchrift für Philoſophie und Kunſt. Herbſt 1926, 1. Ihg.,
3. Buch: Petyrek⸗Gabriel, H., Ibrahim ben Edhem. — Gamper, G., Aus der Dichtung „Die Brücke
Europas“. — Walſer, R., Ferienreiſe. — Heſſe, H., Zwei Gedichte. — Kunze, W., Liebe auf den
letzten Blick. — Wirz, O., Neue Geſtalt. Vier Gedichte. — Luſchnat, D., Der Selbſtſucher. Die
Zerſpaltung des Menſchen. — Feſtenberg, G., An die Geliebte. — Diener, O., Aus Blancheflurs
Träumen. — Reinhart, H., Vigilien. — Buſoni, F., Aus dem Briefwechſel mit Hans Reinhart.
— Steiner, R. +, Der Egoismus in der Philoſophie. II. — Storrer, W., Die Vollendung des
Einzigen. II. Die größte Phraſe. — Fankhauſer, A., Sterben und Auferſtehen der dichteriſchen
Sprache. — Münzer, H., Am Ufer der Geſchichte. — Stokar, W., Individualiſtiſche Menſchheits⸗
geſchichte. — Wirz, O., Objektivität und Chriſtentum. — Durach, F., Formen in Bewegung. —
Keller, H. W., Otto Wirz' „Gewalten eines Toren“. — Häba, A., Über die Muſiktagung in Dor⸗
nach. — Stokar, W., Zur Füßli⸗Ausſtellung in Zürich. — Buchbeſprechungen.
Winter 1926/27 4. Buch: Remiſow, A., Chriſti Geburt (Ruſſiſche Legende). — Morgenſtern,
Ch., Gedichte aus dem Nachlaß. — Reinhart, H., Die Legende vom Herz mit dem Ring und den
Roſen. — Reinhart, H., Des Tannenbaums Verklärung in der heiligen Nacht (Nach einer indiſchen
Legende). — Gamper, G., Die Brücke Europas. — Bühler, P., Apollos Harfe. — Manuel, A.,
Aus den fünfzehn Geiſtlichen Liedern. — Hiltbrunner, H., Erlöſung vom Geſetz. — Heſſe, H., Der
Traum. — Walſer, R., Studie. — Petry, W., Zwei Gedichte. — Detert, F., Der Kerker. —
Keller, H. W., Frans Maſereel. — Steiner, R., Der Egoismus in der Philoſophie. III. —
Storrer, W., Die Vollendung des Einzigen. Skizzen. zu einem Verſuche, den Egoismus als Philo-
ſophie der Individualität zu begreifen. — Stokar, W., Individualiſtiſche Menſchheitsgeſchichte. —
Lemmermayer, F., Perſönliche Erinnerungen an Rudolf Steiner und unſere Kreiſe. — Brion, M.,
Überrealismus. — Fränkl, O., Georg Trakl +. Aphoriſtiſches zu einem geiftigen Ereignis. —
Freiberg, S., Über Seelen⸗Landſchaft. — Storrer, W., Zeitſchriftenſchau. — Buchbeſprechungen.
Kantſtudien. Philoſophiſche Zeitſchrift. Bd. XXXI. 1926, Heft 2 und 3: Menzer, P.,
und Liebert, A., Hans Vaihinger und ſein Wirken für die Kant⸗Geſellſchaft. Anläßlich ſeines Aus⸗
ſcheidens aus der Leitung. — Schlick, M., Erleben, Erkennen, Metaphyſik. — Del⸗Negro, W.,
Wahrheit und Wirklichkeit. — Sternberg, K., Über die Unterſcheidung von analytiſchen und ſynthe⸗
tiſchen Urteilen. Ein Beitrag zur Löſung des Problems der Urteilsmodalität. — Reinke, J., Leblos
und lebendig. — Heinemann, F., Die Geſchichte der Philoſophie als Geſchichte des Menſchen. Be⸗
trachtungen über ihren Gegenſtand, ihre Methode und Struktur. — Heß, H., Das romantiſche Bild
der Philoſophiegeſchichte. — Kraft, J., Die wiſſenſchaftliche Bedeutung der phänomenologiſchen
Rechtsphiloſophie. — Liebert, A., Zur Logik der Gegenwart. — Levy, H., Paul Natorps praktiſche
Philoſophie. Zur Würdigung ſeiner Vorleſungen über praktiſche Philoſophie. — Hoffmann, P.,
Riehls Kritizismus und die Probleme der Gegenwart. — Metz, R., Berkeleys Philoſophiſches
Tagebuch. — Stern, M., Zur Frage der Vereinbarkeit von Willensunfreiheit und Verantwort⸗
lichkeit.
Die Literatur. Monatsſchrift für Literaturfreunde. 29. Ihg. des „Literariſchen Echo“,
Heft 1 (Oktober 1926): Curtius, E. R., Jacques Maritain. — Doderer, O., Der dichteriſche Eſſay.
— Rochner, M., Beiträge über die Antike. — Türk, W., Der revolutionäre Eros. — Vogler, K.,
Joſef Winckler. — Legband, P., Das Bühnenbild. — Groß, E., Gedanken und Ludwig Devrient.
— Liſſauer, E., Zuckmayers Gedichte. — Poritzky, J. E., Erzähler und Analytiker. — Rein, L.,
156 Einlauf
Fixierter Journalismus. — Doderer, O., Eſſays. — Zuckmayer, C., Zwei Gedichte. — Mann, Th.,
Eine Manuffriptfeite.
Heft 2 (November 1926): Herke, K. H., Von der Unwahrheit jeder Form. — v. Scholz, W., Zur
Geſchichte des Okkultismus. — Banaſchewski, A., Carl Dallago. — Frank, R., Italieniſches Thea⸗
ter. — v. Bunſen, M., Japan und China. — Schmidt, W., Blindheit als dichteriſches Mittel. —
Luther, A., Bücher aus und über Rußland. — Holitſcher, A., Das unruhige Aſien. — v. Scholz, W.,
Zwei Manuſkriptſeiten. — Kempf, Fr., Wie E. v. Keyſerling den Tod gebildet hat.
Heft 3 (Dezember 1926): Engelhardt, E., Gedanken, Worte, Bücher. — Huebner, F. M., Die
Rolle der Literatur. — Unger, R., Ein ſpekulatives Kleiſtbild. — Strauch, Ph., Myſtiſche Dich⸗
tung. — Heuſchele, O., Mythus von Orient und Okzident. — Leitich, A., Gandhis Leidenszeit. —
Eckart, W., Julius Maria Becker. — Becker, J. M., Autobiographiſche Skizze. — Münzer, K.,
Bojer. — Diebold, B., Neumann, A.: „Der Teufel“. — Seidel, J., Drei Gedichte. — Stehr, H.,
Eine Manuſfriptſeite.
Logos. Internationale Zeitſchrift für Philoſophie der Kultur. Bd. XV, Heft 3: Hönigs⸗
wald, R., Vom Problem der Idee. Eine analytiſche Unterſuchung aus Anlaß des Bauchſchen
Werkes „Die Idee“. — Croce, B., Richtlinien der modernen Philoſophie. Offener Brief an den
6. internationalen Philoſophenkongreß in Cambridge / Maſſ. im September 1926. Überfest von
Karl Voßler. — Thyſſen, J., Vom Ort der Werte. Eine Studie zum Wertproblem. — Loſſkij, N.,
Fichtes konkrete Ethik im Lichte des modernen Tranſzendentalismus. — Schreier, F., Über die
re vom „Möglichen Recht“. Zugleich eine Beſprechung von Kelſens „Allgemeine Staatslebre“.
— Notizen.
Mutterſprache. Zeitſchrift des Deutſchen Sprachvereins. Ihg. (Oktober 1926)
Heft 10 (Schwabenheft): en O., Eingang. — Lämmle, A., site Mundart. — Erbe,
K., Das Aſchenbrödel. — Haag, K „Schwabenſprache. — Aus dem Württembergiſchen Staats-
miniſterium. — Brechenmacher, J. K., Schwäbiſche Sprachſchöpfung. — Finckh, L., Der Schwaben⸗
brief. — Kapff, R., Das Bild in ſchwäbiſchen Geſchlechtsnamen. — Lämmle, A., Zweierlei Ubren.
— Schwäbiſche Sprichwörter und Redensarten. — Lämmle, A., So iſch. — Ostertag, O., Mutter-
1 — Mitteilungen. — Bücherſchau. — Aus den Zweigvereinen. — Briefkaſten. — Geſchaft⸗
licher Teil.
Neophilolog us. Groningen, Den Haag. XII, 1926, 1: Hoepffner, E., La tra-
dition manuscrite des Lais de Marie de France. — Alter, E., Ein ſchwediſches Buch ũber E.
Th. A. Hoffmann. — van der Gaaf, W., A, friend of mine. — Pompen, Fr. A., 77 85 en
zijn bronnen. — van Hamel, A. G., Koning Arthur's vader. — Hesseling, D C., en
Pernot, H., Neotestamentica: ? iva = omdat, — Krappe, A. H., The legend of the death
81 William Rufus in the Historia Ecclesiastica of Ordericus Vitalis. — Herkenrath, E.,
ragen.
Neue Jahrbücher für Wiſſenſchaft und Jugendbildung. Hrsg. von Jo-
hannes Ilberg. 2. Ihg. 1926, Heft 5: Schubart, W., Hellenismus und Weltreligion. — Salzmann,
„Kaiſer Hadrian und das Problem feiner Perſönlichkeit. — Gaiſer, K., Kleiſt und Molière. —
Fehſe, W., Wilhelm Raabes Ringen mit Schopenhauer. — v. Bubnoff, N., Religion und Sitt⸗
lichkeit in der Weltanſchauung Doſtojewskijs. — Lehrl, J., Univerſität und Erzieher. — Knapp, F.,
Wilhelm von Bode und Georg Dehio. — Berichte: Judeich, W., Groag, E., Ilberg, J.: Altertums⸗
kunde: Römiſche Geſchichte und Kultur. — Schnabel, F.: Geſchichte: Geiſtesgeſchichte. — Gerland,
H.: Teubners Handbuch der Staats- und Wirtſchaftskunde. — Knapp, F.: Kunſt: Die internatio-
nale Kunſtausſtellung in Dresden. — Nachrichten.
Heft 6: Weinreich, O., Antikes Gottmenſchentum. — Petſch, R., Vom klaſſiſchen Drama der
Franzoſen. — Rabbow, P., Goethe und die Antike. Ein Problem der deutſchen Seele. — Lützeler,
H., 8 als Uberſetzer. — Reichwein, G., Kulturkriſe und Kulturphiloſophie. — Kuckhoff, J.,
Die Regula S. Benedicti als Bildungs- und Unterrichtsſtoff. — Weidel, K., Grundſätzliches zur
neuen Volksſchullehrerbildung. — Berichte: Hübner, W., Auslandskunde. Engliſch (Volkstum und
Sprache). — Flitner, W.: Bildungsweſen. Die pädagogische Bewegung und die Schule. — Adami,
F.: Die Frankfurter Reformſchultagung. — Nachrichten.
Die Neue Rundſchau. XXXVII. Ihg. der Freien Bühne. 10. Heft (Oktober 1926):
Hellpach, W., Deutſche Politiſierung. — Ludwig, E., Bismarck anno Siebzig. — Conrad, J.,
Jugend (Novelle). — Verdi, G., Briefe. — Bie, O., Phantaſie über Schuberts „Winterreiſe“. —
Loerke, O., Vier Gedichte. — Harris, F., Das Leben in der Prärie. — Holitſcher, A., Theater in
China und Japan. — Saenger, S., Rathenau⸗Briefe. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Zeitſchriften 157
11. Heft (November 1926): Schaler, M., Menſch und Geſchichte. — Bord, M., Beſchneite Spinn⸗
weben (Novelle). — Valéry, P., Literatur. — Germain, A., Über Paul Valéry. — Heſſe, H.,
Der Steppenwolf (Gedichte). — Scheffler, K., Die Zukunft der Großſtädte und die Großſtädte der
Zukunft. — Süskind, W. E., Joſeph Conrad. — Saenger, S., Politiſche Chronik. — Kayſer, R.,
Europäiſche Rundſchau.
12. Heft (Dezember 1926): Brinkmann, C., Amerikaniſche Univerfität. — Strauß, E., Befund
(Novelle). — Mombert, A., Der Berg Moira. — Meier ⸗Graefe, J., Notizen eines Ketzers in
Athen. — Wiegler, P., Formen der Erzählung. — Pearſall Smith, L., Trivia. — Kayſer, R.,
Bücher und Menſchen. — Curtius, E. R., Les Faux-Monnayeurs. — Saenger, S., Politiſche
Cbronik. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
XXXVIII. Jyg. 1. Heſt (Januar 1927): Flake, O., Eine neue Zeit. — Hauptmann, G., Der
große Traum. — Lübbe, A., Hugo von Brandenburg (Novelle). — Brinkmann, C., Kameradſchaft
und Religion in Amerika. — Kerr, A., Ausſichten der Sprechbühne. — Duhamel, G., Von allerlei
Geiſtesabenteuern. — Landsberger, F., Oskar Loerkes neues Gedichtbuch. — Saenger, S., Anglia.
— Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Philological Quarterly. Jowa City. Jowa. Vol. V., Number 4 (October 1926):
Mc Cartney, E. S., Makeshifts for the Passive of Deponent Verbs in Latin. — Maxwell,
B., The Hungry Knave in the Beaumont and Fletcher Plays. — Willey, N. L., C and 2
in American Spanish. — Douglas Bush, J. N., Pettie's Petty Pilfering from Poets. —
Ford Piper, E., The Royal Boar and the Ellesmere Chaucer. — Crane, R. S., English
run of the Restoration and Eighteenth Century: A Current Bibliography. —
Book Review.
Publications of the English Goethe Society. New Series — Vol. III
Edited by J. G. Robertson, London 1926. — Contents: Gooch, G. P., The
political background of Goethe's life. — Smith, H., Goethe and Rousseau. — Sand-
bach, F. E., Goethes interest in Grillparzer. — Montgomery, M., The first English ver-
sion of Fauſt J and Dichtung und Wahrheit. — Purdie, E., German influence on the literary
ballad in England during the romantic revival. — Stockoe, W., The appreciation of
German literature in England before 1820. — Chronicle.
Publications of the Modern Language Association of America.
Vol. XLI (September 1926) Nr. 3: Albright, E. M., The Faerie Queene in Masque at the
Gray's Jnn Revels, — Warren Landrum, G., Spenser's Use of the Bible and His
Alleged Puritanism. — Hughes, M. Y., Burton on Spenser. — Ralston Caldwell, J.,
Dating a Spenser-Harvey Letter. — Field Pope, E., Renaissance Criticism and the
Diction of The Ferie Queene. — Gaw, A., The Evolution of The Comedy of Errors. —
O' Sullivan, M. J., Hamlet and Dr. Timothy Bright. — Conrad, B. R., Hamlet's Delay
— A Restatement of the Problem. — Cawley, R. R., Shakspere's Use of the Voyagers
in The Tempest. — Spenser, H., Improving Shakespeare, Bibliographical Notes on
Restoration Adaptations. — Benson, A. B., The Essays on Fredrika Bremer in the
North American Review. — De Mille, G. E., Stedman, Arbiter of the Eighties. — Dunn,
W. H., James Whitcomb Riley and Donald G. Mitchell.
Revue del“ Enseignement des Langues Vivantes. Paris 43, Nr. 7,
Juillet 1926: Dumeril, H., La place de l'adverbe „Never“ dans la proposition. — Pitol-
let, C., Les Ailes de Nike. —
Nr. 8, 9, 10, Aoüt — Septembre — Octobre 1926: Loiseau, H., Conseils de Rentree. —
Revue germanique. Paris. Nr. 4 (Octobre — Decembre 1926): Knudsen, H.,
La Science du Theätre en Allemagne, — Brun, L., I. Originaux et Solitaires. —
II. Quelques r¢es études sur Hebel. — Michel, V., Lettres inedites de Sophie de La
Roche A Wieland, VIII. — Comptes Rendus Critiques. — Bulletin. — Bibliographie. —
Revue des Revues. — Chronique.
Die ſchöne Literatur. 27. Ihg. Juli 1926, Nr. 7: Oeftering, W. E., Hermann Burte.
— Brandenburg, H., Zur Bilanz der jüngften literariſchen Vergangenheit II. — Geſammelte
Werke, Romane und Erzählungen, Lyrik und Epik, Literaturwiſſenſchaft, Briefe, Reiſen und Land⸗
ſchaften, Sammlungen, Humor, Witz, Satire, Verſchiedenes, Neue Bücher im Juni, Zeitſchriften⸗
ſchau Juni. Bühnen (Uraufführungsberichte), Mitteilungen, Beilage: Jahresernte 1926, Bogen 7
(Leifhelm, Matthießen).
158 Einlauf
Auguſt 1926, Nr. 8: Michael, Fr., Theaterſpielplan und deutſches Drama. — Brandenburg, H.,
Zur Bilanz der jüngſten literariſchen Vergangenheit III. — Geſammelte Werke, Romane und Er⸗
zählungen, Fremde Literatur, Lyrik, Dramatiſches, Literatur⸗ und Geiſtesgeſchichte, Weltanſchauung
und Philoſophie, Bildende Kunſt, Geſchichte und Kulturgeſchichte, Sammlungen, Neue Bücher im
Juli, Zeitſchriftenſchau Juli, Bühnen (Uraufführungsberichte), Mitteilungen, Beilage: Jahresernte
1926, Bogen 8 (Matthießen, Bruns, Braun).
September 1926, Nr. 9: Bienenſtein, K., Robert Hohlbaum. — Brandenburg, H., Zur Bilanz
der jüngſten literariſchen Vergangenheit, von 1900 - 1925: IV. Der Bühnen ⸗Expreſſionismus. —
Geſammelte Werke, Romane und Erzählungen, Altere deutſche Literatur, Neudrucke, Niederdeutſche
Literatur, Briefe, Erinnerungen, Literatur- und Geiſtesgeſchichte, Geſchichte und Kulturgeſchichte,
Sammlungen, Verſchiedenes, Neue Bücher im Auguſt, Zeitſchriftenſchau Auguſt 1926, Bühnen,
Mitteilungen.
Oktober 1926, Nr. 10: v. Grolman, A., Franziskus von Aſſiſi — Heinrich Federer. — Winckler,
J., Gloſſen zur katholiſchen Literatur und Hans Roſeliebs Spanienbücher. — Romane und Erzäh⸗
lungen. Fremde Literatur, Meudrude, Erinnerungen und Briefe, Literatur- und Geiſtesgeſchichte,
Weltanſchauung und Philoſophie, Reiſen und Länder, Bildende Kunſt, Geſchichte und Kultur⸗
geſchichte, Zeitſchriftenſchau September 1926, Neue Bücher im September, Bühnen, Mitteilungen.
November 1926, Nr. 11: Meinke, H., Max Bruns. — Miegel, A., Zwei nordiſche Bücher. —
Romane und Erzählungen, Volks- und Jugendlektüre, Lyrik, Fremde Literatur, Literatur - und
Geiſtesgeſchichte, Weltanſchauung und Philoſophie, Bildende Kunſt, Geſchichte und Kulturgeſchichte,
Sammlungen, Verſchiedenes, Neue Bücher im Oktober, Zeitſchriftenſchau Oktober, Bühnen (Ur-
aufführungsberichte), Mitteilungen, Beilage: Jahresernte 1926, Bogen II (Eidlitz, Zuckmayer,
Burckhardt).
Sa 1926, Nr. 12: Brand, G. K., Hans Grimm. — Federmann, H., Iſolde Kurz. — Ge⸗
ſammelte Werke, Romane und Erzählungen, Fremde Literatur, Jugendſchriften und Bilderbücher,
Literatur- und Geiſtesgeſchichte, Weltanſchauung und Philoſophie, Reiſen und Länder, Briefe und
Erinnerungen, Humor, Neue Bücher im November, Zeitſchriftenſchau November, Bühnen (Urauf⸗
führungsberichte), Mitteilungen, Beilage: Jahresernte 1926, Bogen 12 (Burckhardt, Friedrich
Schnack).
Slavia. Casopis pro slovanskou filologii. Prag. V. Ihg. Heft 1: Smal' Stockyj, R.,
La langue ukrainienne dans le dictionnaire &tymologique de E. Berneker. — Paul, K.,
B. Kopitar et Geſchichte der ſlawiſchen Sprache und Literatur de P. J. Safafik. — Murko, M.,
Die Bedeutung der Reformation und Gegenreformation für das geiſtige Leben der Südſlawen. —
Rosenkrantz, J., Le motif de la solitude dans Lermontov. — Kasin, N., Ostrovskij et
Moliere, — Sedel'nikov, A., Activité de la Société d'Histoire de la Littèrature (Mos-
cou] en 1923—1925. — Kornjeeva-Petfulan, N., Note sur l'histoire des incunables
slaves. — A. B., Recueil historico-litteraire consacré à V. J. Szeznevskij (1891—1916).
— St. Smal' Sto&kij, Recueil scientifique de la chaire d'histoire de l'Ukraine de Char-
kov I. — P. B., A la mémoire de G. S. Skovoroda (1722— 1922). — Bem, A., Archives
rouges I- VIII. — Cartojan, N., Cartojan, N.: La légende d Abgar dans l'ancienne
litterature roumaine, — Burian, V., Georgieviciana dans la bibliotheque du Musée
National de Prague. — L. N., Lega, WI.: Contributions à la connaissance de la civili-
sation lusacienne en Poméranie. — Petira, S., F. M. Bartos: Catalogue des manuscrits
du Musée National fasc. I. — Silberſtein, L., Quellen und Aufſätze zur ruſſiſchen Geſchichte.
Heft 2: Liewehr, F., Der &. Ortsname Bechyne, Bechyn. — Ruzidid, G., Le développe-
ment du genitif pluriel en -a dans la langue serbocroate, — Chlumsky, J., La melodie
des voyelles accentuees et l' influence des consonnes sur la mélodie des voyelles. —
Seliscev, A., Contribution à l'étude des incunables bulgares. — Murko, M., Die Bedeu⸗
tung der Reformation und Gegenreformation für das geiftige Leben der Südſlaven (Fortſetzung). —
Zelenin, Dm., Les coiffures de femmes chez les Slaves Orientaux (Russes) (à suivre). —
Varneke, B., Pogodin et Schiller. — Durnovo, N., et USakov, D., Essai de transcription
phonétique de la prononciation littéèraire russe. — J. A. I., Prof. S. P. Sestakov (A
l’occasion du quarantenaire de son activité scientifique: 1886-1926). — W. T., A
propos du jubil& de Jan Los. — Zelenka, M., Josef Fuhrich: Dictionnaire des differen-
ces entre le polonais et la tchöque. — Vernadskij, G., Apercu des travaux sur le by-
zantinisme depuis 1914. — Bem, A., La littérature dans le revues russes. Literaturnaja
Mysl. Almanach. I—Ill.
Stimmender Zeit. Monatsſchrift für das Geiſtesleben der Gegenwart. 57. Ihg. (Oktober
1926), Heft 1: Lippert, P., Der heilige Franziskus von Aſſiſi. — Janſen, B., Die Weſensform des
Zeitſchriften 159
katholiſchen Lebens. — Pribilla, M., Anatole France als Geſchichtsſchreiber. Ein Beitrag zur Ge⸗
ſchichte der Jeanne d Arc⸗Forſchung. — Noppel, C., Überwindung des Proletariates. — Stang, S.,
Rheinlandsdramen. — Muckermann, Fr., Zeitgemäße Literaturfragen. — Przywara, E., Hermann
Bahr. — Beſprechungen von Büchern über Kunſt.
November, Heft 2: Richſtätter, R., Die Heiligen des letzten Jahrtauſends. — Obermans, J.,
Zum Frieden der Welt durch die Religionen der Welt. — Duhr, B., Die größte Schandtat des
Abſolutismus des 18. Jahrhunderts. — v. Dunin⸗Borkowski, St., Benedikt de Spinoza und
Niels Stenſen. — Muckermann, Fr., Zeitgemäße Literaturfragen. Bernhard Shaw — Stefan
George. — Przywara, E., Exerzitien und Frömmigkeitstypen. Zu einer Streitfrage. — Brunner,
A., Abendmahlsfragen in der ſchwediſchen Staatskirche. — Beſprechungen von Büchern über Philo⸗
ſophie; Deutſche Literaturgeſchichte (Literaturwiſſenſchaft); Deutſche Literatur.
Dezember, Heft 3: Schuſter, J. B., Politik und Moral. — Janſen, B., Moderne Denker und
Neuſcholaſtik. Ein internationales Sympoſion. — Wiercinski, F., Das rumäniſche Patriarchat. —
Koch, L., Weltgeſchichte und Menſchenſchickſal. — Muckermann, Fr., Literaturfragen der Gegenwart.
Die Dichtung als Bildungsmacht. — Kreitmaier, J., Das ſchöne Buch. — Wasmann, E., Johannes
Reinkes Lebenserinnerungen. — Przywara, E., Vom philoſophiſchen Anſatz. — Lindworsky, J. L.,
„Vom Leben getötet“. — Beſprechungen von Büchern aus der Deutſchen Erzählungsliteratur.
Una Sancta. Ein Ruf an die Chriſtenheit. 2. Ihg. 1926, Heft 3: Voß, G., Der zerriſſene
Glaube. — Schlunck, R., Von der ſoziologiſchen Sendung der Reformation. — Lutze, W., Kirche
und Sozialdemokratie. — Getzeny, H., Der deutſche Katholizismus nach dem Kriege. — Hackl, N.,
Der lebendige Chriſtus. — Bücherſchau. — Preſſeſchau. — Okumeniſche Chronik.
Heft 4: Glinz, Guſt. Ad., Vom ewigen Recht der Kirche und feinen notwendigen Grenzen. —
Leonhard, W., Kirchliches in den Evangelien. — Hanſen, H., Die Lehre von der ſichtbaren Kirche
in lutheriſcher Beleuchtung. — Sinz, E., Lutheriſche Kirche und Prieſteramt. — Thraſolt, E., Die
unſichtbare Kirche. — Bücherſchau. — Preſſeſchau. — Okumeniſche Chronik.
Zeitſchrift für Aſthetik und Allgemeine Kunſtwiſſenſchaft. Oktober
1926, XX. Bd., Heft 3 u. 4: Thomae, W., Plaſtiſch und Maleriſch. — Adler, L., Theorie der Bau⸗
kunſt als reine und angewandte Wiſſenſchaft. — Bühler, Ch., Kunſt und Jugend. — Bemerkungen:
v. Bertalanffy, L., Die Entdeckung des Raumes. — Klopfer, P., Die beiden Grundlagen des
Raumſchaffens. — Eisler, M., Das Muſikaliſche in der bildenden Kunſt. — Hoerner, M., Die
Anwendung des Stilbegriffs innerhalb der Kunſtwiſſenſchaften. — Dahmen, H., Die Kultur- und
Kunſtphiloſophie Gotthilf Heinrich Schuberts.
Zeitſchrift für deutſche Bildung. Frankfurt a. M. 2. Ihg. (1926) Heft 10:
Brüggemann, F., Literaturgeſchichte als Wiſſenſchaft auf dem Grunde kulturgeſchichtlicher Erkennt⸗
nis im Sinne Karl Lamprechts. — Meyer ⸗Benfey, H., Der König in Thule. — Schulze, B., R.
M. Rilkes werdender Gott. — Fehring, M., Geſchichtlicher Arbeitsunterricht in der Volksſchule. —
Fronemann, W., Die heutige Jugendſchriftenbewegung. — Preſtel, J., Bücherbrief über Jugend-
literatur. — Neumann, W., Literaturbericht zur Antike. — Freudenthal, H., Die Geſchichtſchreiber
der deutſchen Vorzeit (Beſprechung). — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Heft 11: Budde, G., Geiſtige Erneuerung und Pädagogik im Lichte der Philoſophie Rudolf
Eudens. — Gennrich, Fr., Der deutſche Minneſang in feinem Verhältnis zur Troubadour⸗ und
Trouvère⸗Kunſt. — Steinberg, A., Kabale und Liebe als Leſeſtoff der Klaſſe O III des Lyceums. —
Weſterburg, H., Geſchichte und Lebensgeſchichte, ein Bücherbrief. — Engelmann, S., Bericht über
die deutſchkundliche Tagung vom 4. — 6. Oktober 1926 in Berlin. — Becker, H. Th., Zeit⸗
ſchriftenſchau.
Heft 12: Boelitz, O., Die Behandlung des Grenz⸗ und Auslanddeutſchtums auf unſeren höheren
Schulen. — v. Hauff, W., Das Deutſchtum in Südamerika. — Krey, H., Das deutſche Ausland⸗
Inſtitut in Stuttgart. — Fittbogen, G., Fühlung mit den Grenz⸗ und Auslanddeutſchen, Literatur⸗
überſicht nebſt Ergänzung. — Weinberg, E., Die deutſche Oberſchule in Oſterreich. — Becker, H.
Th., Oſterreichs Schulreform, Bericht über eine Studienfahrt nach Wien. — Gennrich, Fr., Der
deutſche Minneſang in feinem Verhältnis zur Troubadour- und Trouveère⸗Kunſt (Fortſetzung). —
Burkhardt, H., Neue Muſikliteratur. — Schmidt⸗Voigt, H. H., Bericht über die Hiſtorikertagung
zu Breslau vom J. — 9. Oktober 1926. — Schochov, M., IV. Pädagogiſcher Kongreß in Weimar
vom 7. — 9. Oktober 1926, veranſtaltet vom Deutſchen Ausſchuß für Erziehung und Unterricht. —
Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchrift für Deutſchkunde. Ihg. 40 der Zeitſchrift für den deutſchen
Unterricht. Heft 10: Kundſen, H., Das moderne Theater. Vom Naturalismus zum Expreſ⸗
ſionismus. — Walzel, O., Vom neueſten deutſchen Roman. — Schneider, W., Stilkunde im
160 Einlauf
deutſchen Unterricht. — Kalchreuter, H., Dorfgeſchichten im Unterricht. — Schönbrunn, W., Kon-
zentration in Untertertia. — Mens, F., Zu Fontanes Gedicht „Leben“. — Bathge, W., Zum „Erl-
könig“ und „Fiſcher“. — Literaturberichte: Berger, A. E., 14. — 16. Jahrhundert (1921 — 1924). —
Oppermann, W., Deutſche Sprache und Sprachwiſſenſchaft. — Sonderbericht. — Tagungsberichte.
— Zeitſchriftenſchau.
Heft 11: Havenſtein, M., Dichtung und Geiſtesgeſchichte im deutſchen Unterricht. Eine Entgeg⸗
nung. — Hatzfeld, H., Deutſches Weſen im Spiegel der ſpaniſchen Dichtung. — Sauer, E.,
Deutſches Weſen im Spiegel der ruſſiſchen Dichtung. — Sarnetzki, D. H., Zur Lyrik der Gegen⸗
wart. — Wecker, O., Sachreihen im Rechtſchreibeunterricht? — Literaturberichte: Deetjen, W., Von
der Romantik zum Realismus (1923 1926). — Oppermann, W., Sprache und Sprachunterricht.
— Sonderberichte: Hofſtätter, W.: Goethes Werke (Rob. Petſch). — Soergel, A., Liepe, W.: Im
Banne des Expreſſionismus (Alb. Soergel). — Vorbericht.
Heft 12: Collin, J., Das Tragiſche in Kleiſts Leben und Kunſt. — Pauls, E. E., Wunſch und
Wirklichkeit im Prinzen von Homburg. — Vowinkel, E., Rund um den Impreſſionismus (Typiſche
Stilbilder für den deutſchen Unterricht). — Jentzſch, R., Ernſt Toller in ſeinen Dramen. — Schön⸗
brunn, W., Handpuppen im Deutſchunterricht. — Gaiſer, K., Weniger Aufſätze — mehr Übungen.
— Bertram, H., Deutſchunterricht und Schrifttum (Eine Erwiderung auf Körners Aufſatz). —
Körner, J., Entgegnung. — Tagungsberichte: Müller, K., Der 7. deutſche Ferien⸗Hochſchulkurs in
Hermannſtadt. — Jantzen, H., Schleſiſche Kulturwoche in Troppau. — Kanning, F., Wiſſenſchaft
und Schule auf der deutſchkundlichen Tagung zu Berlin vom 4. — 6. Oktober. — Sonderberichte. —
Vorberichte. — Bücherſchau. — Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchrift für Deutſche Philologie. Stuttgart, 51. Bd. (1926), Heft 2 u. 3:
Maſchke, E., Studien zu Waffennamen der althochdeutſchen Gloſſen. — Schneider, H., Deutſche
und franzöſiſche Heldenepik. — de Boor, H., Frühmittelhochdeutſcher Sprachſtil I. — Vogt, W. H.,
Die Volundar kvida als Kunſtwerk. — Liepe, W., Der junge Schiller und Rouſſeau. — Berend,
E., Zu den „Nachtwachen“ des Bonaventura. — Götze, A., Friedrich Kluge.
3. Sonberabzüge.
Collin, Joſeph, Das Tragiſche in Kleiſts Leben und Kunſt: Sonderabdruck aus Zeitſchrift für
Deutſchkunde. 40. Ihg. Heft 12. S. 781-802.
Holl, Karl, Der Wandel des deutſchen Lebensgefühls im Spiegel der deutſchen Kunſt ſeit der
Reichsgründung. Sonderabdruck aus „Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und
Geiſtesgeſchichte.“ Ihg. IV, Heft 3, S. 548 - 563.
Kainz, Friedrich, Vorarbeiten zu einer Philoſophie des Stils: Sonderabdruck aus „Zeitſchrift
für Aſthetik und allgemeine Kunſtwiſſenſchaft“. XX. Bd., S. 21-63.
Kainz, Friedrich, Junges Deutſchland: Sonderdruck aus Reallexikon der deutſchen Literatur⸗
geſchichte II. S. 40 62. E
Krafnopolsti, Paul, Geiſtliche Bibliotheken in Böhmen und Mähren: Sonderdruck aus
dem Gutenberg ⸗Jahrbuch 1926. Verlag der Gutenberg ⸗Geſellſchaft, Mainz [1926].
Nadler, Joſef, „Goethegeſellſchaft“: Hochland, 24. Ihg. (1926/27), 1. Heft, S. 101 - 107.
Neumann, Friedrich, Die Gliederung der deutſchen Literaturgeſchichte. Sonderabdruck aus
der Sammelſchrift „Zwiſchen Philoſophie und Kunſt“. Verlag von Eduard Pfeiffer, Leipzig 1926.
Newald, Richard, Beiträge zur Geſchichte des Humanismus in Oberöſterreich: Sonderabdruck
aus dem Jahrbuch des Oberöſterreich. Muſealvereines, 81. Bd., Linz 1926.
en e 1 Auguſt, Marie Freifrau von Ebner⸗Eſchenbach: Sudetendeutſche Lebensbilder. Bd. 1.
5 — 145.
In der Handſchrift abgeſchloſſen am 31. Dezember 1926, im Satz am 15. Januar 1927.
über die Philoſophie Spinozas.
Aus Anlaß ſeines 250. Todestages.
Von Oskar Kraus in Prag.
Die großen Begründer der wiſſenſchaftlichen Philoſophie haben das o eEV ,
die Unterredung als diejenige Methode angeſehen, die ihr am angemeſſen⸗
ſten iſt. Wirklich iſt ein gewiſſes dialektiſches Verfahren zum Gedeihen der
Philoſophie unentbehrlich. — Denn da ſie als geiſteswiſſenſchaftliche Disziplin
meiſt auf jene Mittel der Nachprüfung ihrer Theſen verzichten muß, die anderen
Wiſſenſchaften zur Verfügung ſtehen, da die Seele nicht mit dem Mikroſkop,
Gott nicht mit dem Fernrohr ergründet werden kann, iſt die gegenſeitige Aus⸗
ſprache und kritiſche Durchmuſterung der Forſchungsergebniſſe eines ihrer wich⸗
tigſten Behelfe. —
Daher hat man die Geſchichte der Philoſophie als für die Philoſophie ſelbſt
unentbehrlich bezeichnet und der Problemgeſchichte in der Philoſophie eine ganz
andere Rolle zugeſprochen als es in anderen Disziplinen, z. B. in der Mathe⸗
matik der Fall iſt.
Der 250. Todestag Spinozas hat in allen Kulturländern Anlaß gegeben, ſich
mit dieſem, durch ſein Leben allein ſchon ehrfurchtgebietenden, Denker zu beſchäf⸗
tigen. Gewiß kann man ſein Andenken nicht beſſer ehren, als indem man in ehr⸗
lichem Wahrheitsſtreben ihm nacheifernd, ſeine Lehre ſelbſt kritiſch betrachtet. In
einigen wichtigen Punkten ſei dies hiemit verſucht.
Zuerſt möchte ich mich mit der Frage beſchäftigen, ob Spinoza, wie man heute
vielfach behauptet, ein religiöfer Myſtiker geweſen ſei?
I.
Iſt Spinoza ein Myſtiker?
Um dieſe Frage zu beantworten, muß man ſich vorerſt über den Begriff des
Myſtikers im Klaren ſein. Man ſpricht von religiöſen Myſtikern und verſteht
darunter ſolche Menſchen, die überzeugt ſind in einer beſonders innigen Be⸗
ziehung zur Gottheit zu ſtehen, ſei es, daß ſie glauben, der Anſchauung Gottes
mitunter irgendwie teilhaftig zu werden, ſei es, daß ſie ſonſt irgendwie unmit⸗
telbar mit ihm in Verbindung zu ſtehen oder von ihm Offenbarungen zu erhalten,
überzeugt ſind. In dieſem Sinne iſt Spinoza zweifellos kein Myſtiker. Die
Gottheit Spinozas iſt identiſch mit der Natur. Ausdrücklich ſpricht er ihr jeden
Supborion XXVIII. 11
162 Oskar Kraus
auf das Weltganze oder auf das Einzelweſen abzielenden Plan ab, und etwas
wie vorſorgende Liebe zum Einzelweſen iſt ihr völlig fremd. Georg Mehlis!)
ſagt in ſeinem Buche „Die Myſtik“: „Die Gottheit des Myſtikers liebt mehr als
fie geliebt wird.“ Die Gottheit Spinozas aber wird von ihm geliebt, ohne ihrer⸗
ſeits zu lieben. Spinoza als religiöfen Myſtiker zu bezeichnen, iſt daher durchaus
irrig. Die Welt iſt nach Spinoza blinder Notwendigkeit unterworfen. Da⸗
durch unterſcheidet er ſich von allen jenen Denkern, die wie Platon, oder Leibniz
die Welt von einſichtiger Notwendigkeit beherrſcht glaubten.
Manche Spinozaforſcher behaupten die „intuitio“ Spinozas ſei nichts anderes
als die Gottesſchau der Myſtiker. Allein man kann Spinozas wahre Abſichten
kaum mehr verkennen, als es dieſe Interpreten tun.
Spinozas Abſicht war eine Philoſophie more geometrico aus gewiſſeſten
Prinzipien abzuleiten. Er war der, allerdings durchaus irrigen, Überzeugung,
eine ſolche abſolut zuverläſſige Methode zu beſitzen. Es iſt dies die ſogenannte
scientia intuitiva: „hoc genus cognoscendi procedit ab adaequata idea
essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cogni-
tionem essentiae rerum“. „Dieſe Erkenntnisweiſe ſchreitet von der adäquaten
Idee des formalen Weſens einiger Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis
des Weſens der Dinge vor“ (Ethik II, 40). Jene adäquate Idee des begrifflichen
Weſens Gottes iſt aber keine andere als die Idee Gottes als eines Weſens, deſſen
Weſenheit (essentia) die Exiſtenz notwendig in ſich begreift. Mit anderen
Worten die 3. Erkenntnisweiſe Spinozas, die zur Welterkenntnis führen ſoll,
iſt der ontologiſche Beweisverſuch in jener Form, die ihm beſonders Descartes
verliehen hat (obgleich auch eine nach Art des Anſelm von Canterbury
in früheren Überlegungen des ſogenannten kurzen Traktaktes eine Rolle ſpielt).
— Descartes ging von dem Satze aus: Was ich klar und deutlich als im Bes
griffe eines Dinges liegend erkenne, das kann ich von ihm ausſagen.
Im Begriffe des Dreieckes liegt es, daß es zur Winckelſumme 2 R hat. Alſo
kann ich vom Dreiecke ausſagen, es habe notwendig 2 R zur Winkelſumme. Im
Begriffe des vollkommenſten Weſens liegt es, daß es notwendig exiſtiert. Alſo
kann ich von dem vollkommenſten Weſen ausſagen, daß ihm notwendig Exiſtenz
zukommt.
Dieſen Gedankengang macht ſich Spinoza vorbehaltlos zu eigen. Es gilt ihm
als über allen Zweifel erhaben, daß dem „ens absolute infinitum“ Exiſtenz
kraft ſeiner Eſſenz zukomme.
Die Philoſophie Spinozas fußt ſomit auf dem ontologiſchen Gottesbeweis,
feine intuitio iſt keine andere Erkenntnisweiſe als die des ontologiſchen Argus
ments. Sonach iſt Spinoza kein Myſtiker im Sinne eines religiöfen My⸗
ſtikers. Dies gilt, obgleich Spinoza in ſeiner früheren Zeit von gewiſſen neu⸗
platoniſchen und pantheiſtiſch⸗myſtiſchen Lehren beeinflußt worden iſt. Seine
„intuitio“ hat aber nichts mit der visio beatifica zu tun.
Es gibt noch einen anderen, etwas weiter gefaßten Sinn von „Myſtik“. So
1) Prof. Dr. Georg Mehlis, Die Myſtik in der Fülle ihrer Erſcheinungen in allen Zeiten und
Kulturen; bei Bruckmann, München 1927.
Über die Philoſophie Spinozas 163
nennt Franz Brentano jedes Verfahren „myſtiſch“, das ſich einer unnatür⸗
lichen Methode bedient, auch wenn dieſe Methode nicht gerade in einer ekſta⸗
tiſchen Verſenkung, oder Inanſpruchnahme göttlicher Offenbarung, oder einer
visio beatifica beſteht. Myſtiſch in dieſem Sinne ſind z. B. die „Methoden“ der
Identitätsphiloſophen, der „Dreiachteltakt“ Fichtes, die dialektiſche „Methode“
Hegels. Zweifellos hat das Verfahren Spinozas mit dieſer Art Myſtik eine
nähere Verwandtſchaft. Der mos geometricus hat ja auch Fichte vorgeſchwebt,
und gewiß kann man den mos geometricus als eine der Philoſophie und ins⸗
beſondere der Metaphyſik ganz inadäquate Methode bezeichnen. — Wie auf dem
Gebiete der Naturwiſſenſchaft, ſo iſt auch auf dem der Naturphiloſophie und
kauſalen Prinzipienforſchung nur die induktive Methode erfolgverheißend.
Myſtiſch alſo kann man die Methode Spinozas nur nennen, ſofern ſie eine un⸗
angemeſſene Methode metaphyſiſchen Erkenntnisſtrebens iſt.
Sie iſt um ſo verkehrter, als ſie bei Spinoza die einzige iſt, die er ſeiner
Ethik und der Philoſophie überhaupt zugrunde legen will. Ich ſage „will“.
Denn es iſt offenbar, daß er immer und immer wieder Anleihen bei der Erfah⸗
rung machen und die Deduktion verlaſſen muß.
Nach Spinozas Schrift „de intellectus emendatione“ war das Ziel, das
er bei ſeinem Nachdenken verfolgte, die Auffindung von etwas, durch deſſen
Erreichung das Gemüt ſtändige und höchſte Freude in Ewigkeit genieße. Mit
Ariſtoteles, und nach deſſen Worten, lehnt er Reichtum, Ehre, Sinnesluſt
als erſtrebenswerte Güter ab und ſieht in der Erkenntnis das höchſte Gut
(vgl. Ethik IV, 27). Der fundamentale Unterſchied beſteht jedoch darin, daß die
beiden Griechen, Platon und Ariſtoteles, in der Erkenntnis der Welt aus ihrem
erſten tranſzendenten Grund Beſeligung fanden, während für Spinoza
„die Erkenntnis der Einheit des menſchlichen Geiſtes mit der geſamten Natur“
Seligkeit nud Beruhigung bedeutet. — Sich und anderen den Weg zu dieſem
Ziele zu weiſen und möglichſt viele der gleichen Erkenntnis teilhaftig
werden zu laſſen, ſieht er als ſeine Aufgabe an. Darum nennt er ſein Haupt⸗
werk „Ethik“. Ein ſtarker ethiſch⸗-politiſcher Zug (man denke an feine politifchen
Schriften) macht ſich bemerkbar; ſelbſt Hygiene und Heilkunde und die tech-
niſchen Verbeſſerungen werden als zweckdienlich empfohlen. Das Baconſche
„Wiſſen iſt Macht“ ſcheint hereinzuſpielen; ebenſo deſſen Bekämpfung des
Aberglaubens. Nicht religiös-myſtiſche, ſondern aufkläreriſche Tendenzen — das
beweiſt auch der theologiſch⸗politiſche Traktat — beherrſchen das Leben und die
Lehre Spinozas. Doch macht ſich gegenüber Bacons Machtſtreben, das auf Be⸗
herrſchung des Wiſſens, der Natur und der Völker gerichtet war ?), das
edlere Verlangen geltend, die üblen Affekte zu beherrſchen; allerdings läßt ſich
auch nicht leugnen, daß auch der politiſche Machtgedanke in Spinozas Syſtem
feſte Wurzel geſchlagen hat. — Die vollendete Kraft iſt ihm die vollendete
Macht und dieſe zugleich das vollendete Recht, ſohin der Grad der Kraft und
Macht mit dem Grade des Rechtes gleichbedeutend.
2) Vgl. O. Kraus, Der Machtgedanke und die Friedensidee in der Philoſophie der Engländer
Bacon und Bentham. Bei Hirſchfeld, Leipzig 1926.
164 Oskar Kraus
Er gleicht politiſche Gedanken von Hobbes, Bacon, Machiavelli
ſeiner Notwendigkeitsphiloſophie an, aber um ſo weniger kann man dieſe als
religiös-myſtiſche Intuition der göttlichen Heiligkeit bezeichnen.
II.
Die „essentia“ des Spinozismus.
Die Grundlage der ſpinoziſtiſchen Doktrin iſt das ontolo⸗
giſche Argument. Seine Unhaltbarkeit iſt längſt dargetan. Beſonders Kants
Kritik iſt allgemein bekannt: Es iſt nicht ſchlechterdings notwendig, daß das
Dreieck zur Winkelſumme 2 R habe, ſondern nur wenn ein Triangel da iſt,
fo find auch 2 R da. — So auch: wenn ein vollkommenes Weſen da iſt, fo
muß es mit Notwendigkeit exiſtieren, ob es aber ein ſolches Weſen gibt,
zu deſſen Begriff die notwendige Exiſtenz gehört, iſt nicht a priori aus dem
Begriffe auszumachen. — Die Widerlegung des ontologiſchen Gedankenganges
wird freilich erſt dann vollſtändig, wenn man die Natur der ſogenannten hypo⸗
thetiſchen Ausſage völlig durchſchaut und mit Franz Brentano?) erkennt,
daß es ſich hiebei um rein negativ⸗apodiktiſche Erkentniſſe handelt: Ein Dreieck,
das nicht 2 R hat, kann nicht fein. Ein vollkommenes Weſen, das nicht mit
Notwendigkeit exiſtiert (das nicht in ſich ſelbſt notwendig iſt) kann nicht ſein.
Im kurzen Traktat beſchäftigt ſich Spinoza auch mit dem Argument, das aus
der „objektiven Inexiſtenz“ Gottes in unſerem Verſtande auf fein formaliter
esse (auf das wirkliche Sein) ſchließt. Spinoza nennt dieſen Gedanken einen
apoſterioriſchen Beweis. Aber die ſogenannte „objektive Inexiſtenz“, das
„Im⸗Geiſte⸗Sein“ Gottes iſt ein metaphoriſcher Ausdruck dafür, daß wir Gott
denken, und längſt iſt von Brentano das rein Bildhafte dieſer Beſchreibung
unſeres „Bewußtſeins von Etwas“ dargelegt worden. Denke ich Gott, ſo bin ich
ein „Gott⸗Denkender“, aber die Redeweiſe, es ſei nun Gott „objektiv“ oder
„mental“ in meinem Geiſte, iſt eben nichts als eine Redeweiſe. Nichts anderes
braucht zu fein als das Gott⸗denkende Subjekt. Die wirkliche Exiſtenz Gottes
aus dieſer „objektiven“ Exiſtenz zu erſchließen iſt ein lächerliches Unterfangen.
— So iſt die Grundlage und der Ausgangspunkt Spinozas ein Paralogismus
ſchlimmſter Art..
Hiezu kommt, daß ſich Spinoza an einen irrigen Subſtanzbegriff hält. Unter
Subſtanz iſt das den Eigenſchaften ſubſiſtierende Ding zu ver⸗
ſtehen, dem nichts weiter ſubſiſtiert. Spinoza iſt aber durch Descartes
irregeführt, deſſen Subſtanzbegriff „res quae ita existit, ut nulla alia re
indiget ad existendum“ „ein Ding, das ſo exiſtiert, daß es keines anderen zu
ſeiner Exiſtenz bedarf“, ſowohl ſo interpretiert werden kann und interpretiert
wird, daß darunter ein Ding verſtanden wird, das keiner wirkenden Urſache
bedarf, als auch ſo, daß ein Ding gedacht wird, dem nichts weiter ſubſiſtiert.
Nur der zweite Begriff iſt der wahre Begriff einer letzten Subſtanz. Nicht aber
3) Vgl. Franz Brentano, „Verſuch über die Erkenntnis“ und feine „Pſychologie“. Bd. 192,
193, 194 der philoſ. Bibliothek. Meiner, Leipzig. Auch Maſarpk, Konkrete Logik. Wien 1887.
über die Philoſophie Spinozas 165
gehört dazu der Begriff des Nicht⸗Verurſachtſeins. — Die Unabhängigkeit, die
von einer letzten Subſtanz zu fordern iſt, iſt die Unabhängigkeit von anderen
Subſtanzen, die ihr ſubſiſtieren, nicht aber die kauſale Unabhängigkeit.
Daher iſt die Lehre Spinozas, Subſtanz ſei nur dasjenige, deſſen Begriff
(essentia) die Exiſtenz einſchließe, verfehlt. Spinoza iſt in übelſter Wort⸗
ſcholaſtik verſtrickt. Er hegt nicht den mindeſten Zweifel, daß es ſich bei den
Worten „existentia“ und „essentia“ um klare Begriffe handle. Man kann
ihm nun wohl daraus keinen Vorwurf machen, daß er nicht weiß, was erſt die
neueſte Sprachkritik Brentanos zeigen konnte, nämlich, daß er ſich ſchon bei
„existentia“ um ein bloßes Satzfragment nicht aber um ein ſelbſtbedeutendes
Wort handelt. Glaube ich an die existentia von A, fo glaube ich, daß A iſt.
Somit iſt „existentia“ Surrogat für einen Daß⸗Satz, ſomit für ein Satzfrag⸗
ment, denn ein Daß⸗Satz hat keine ſelbſtändige Funktion. Das Wort exi-
stentia hat keine ſelbſtändige Bedeutung; die Gedanken, die es in uns erweckt,
wenn es für ſich ausgeſprochen wird, ſind keine Bedeutungen, ſondern
bloße Andeutungen, die auf eine mögliche Bedeutung des mit ihrer Hilfe
zu bildenden Satzes hinweiſen, in dem jenes Wort Verwendung findet. —
Noch weit ſchlimmer ſteht es mit dem Worte essentia. Als „Weſen“, „Weſen⸗
heit“ iſt es eine Überfegung des ariſtoteliſchen Wortes orar« in jener Funktion
des Wortes, in der auch eld os als Form verwendet wird. Dieſe ariſtoteliſche
„Form“ aber iſt wiederum eine modifizierte platoniſche Idee. So ſicher es ſich
nun aber bei dieſen Ideen um Fiktionen handelt, ſo ſicher iſt auch die ariſto⸗
teliſche Form, die mit der Materie zuſammen erſt das Ding konſtituieren ſoll,
eine Fiktion, die auf ſprachlicher Baſis ruht“). Bei Spinoza nun nähert ſich
jene „essentia“ mehr der platoniſchen Idee als der ariſtoteliſchen Form
und iſt ſomit noch mehr als dieſe eine bloße Hypoſtaſe. Wenn wir ſagen,
man könne darunter das „begrifflich erfaßbare Weſen“ der Dinge verſtehen, ſo
dürften wir es am beſten verdeutlicht haben, nur muß noch die „ewige Exiſtenz“
dieſer „Weſenheiten“ hinzugenommen werden. Denn Spinoza hält daran
feſt, daß die „Weſenheiten der Dinge von Ewigkeit her
ſind und in Ewigkeit unveränderlich bleiben werden“. —
Das Weſen des Dreiecks z. B. ſei von Ewigkeit. Zugleich identifiziert er Weſen
und Wahrheit und ſo iſt ihm das Weſen des Dreieckes eine ewige Wahrheit.
— Gleichwohl ſind dieſe ewigen Wahrheiten (Weſenheiten) durch Gott ge⸗
ſchaffen, alſo ewig nur durch Gott, in deſſen Verſtande fie als Ob⸗
jekte, alſo „objektive“ (d. h. nach Art eines Objektes), ewig exiſtieren (Ethik
I, prop. 17, schol.). Hierdurch iſt Spinoza von Platon und Ariſtoteles
zu Plotin gelangt. Hier greift eine neue — oder beſſer geſagt alte — Unter⸗
ſcheidung abſurdeſter Art ein. Die Ewigkeit aeternitas ſoll etwas durchaus
anderes fein als die ewige Dauer die duratio 5).
) Vgl. Franz Brentano, Ariſtoteles und feine Weltanſchauung. Bei Quelle & Meyer 1911.
8) Vgl. Baenſch im Spinoza⸗Heft der Kant⸗Studien 1927, auch die anderen Artikel von
Ziehen, Jung, Höffding, Baumgart. Sodann die Einleitungen zur Spinoza⸗Ausgabe
in Meiners philoſ. Bibliothek.
166 Oskar Kraus
Hier übernimmt Spinoza kritiklos alte Hypoſtaſen und fiktive Unterſchei⸗
dungen. Eine Ewigkeit, die keine ewige Dauer ſein ſoll, iſt ein ſchwer über⸗
trumpfbarer Nonſens, mag er noch ſo altehrwürdigen Urſprunges ſein. Nie⸗
mand werde behaupten, meint Spinoza, das Weſen des Kreiſes oder Dreieckes,
inſofern es eine ewige Wahrheit iſt, exiſtiere heute länger als zu Adams Zeiten.
Dies ſoll als Beweis dienen dafür, daß Gottes Ewigkeit nicht als zeitliche
Dauer zu verſtehn ſei. — Denn: das Weſen des Dreiecks iſt eine ewige Wahr⸗
heit und hat doch keine Dauer. Gottes Weſen ſchließt die Exiſtenz ein. Gottes
Weſen iſt eine ewige Wahrheit. Alſo hat Gottes Exiſtenz keine Dauer. Nehmen
wir den Winkelſummenſatz des Dreiecks als eine im „Weſen des Dreiecks ein⸗
geſchloſſene ewige Wahrheit“. Er hat nach Spinoza Ewigkeit aber keine Dauer.
— Die Sprachkritik kann heute mit Leichtigkeit den in dieſen Sätzen enthaltenen
Irrtum — aber auch den Wahrheitskern — aufdecken. Daß alle Dreiecke zwei
Rechte zur Winkelſumme haben, hat allerdings keine Dauer, nämlich darum,
weil nichts Poſitives in dieſem Ausſpruche behauptet
wird, ſondern in ihm apodiktiſch geleugnet wird, daß es jemals ein
Dreieck geben könne, das nicht 2 R habe ). Und dieſe apodiktiſche Erkenntnis
entſpringt aus den Begriffen, iſt aprioriſch. Alles Gerede von Wahrheiten und
irgendwelcher Ewigkeit ihrer Exiſtenz iſt eine bildhafte Verſchleierung deſſen,
was die eigentliche Bedeutung ſolcher Sätze ausmacht. Wer dieſe Redeblüten
ernft, die innere Sprachform für die Bedeutung nimmt, irrt. Wir werden
Spinoza ob dieſer Abſurditäten um ſo weniger verachten, als auch heute
noch — ungeachtet der Klarheit, mit der Brentano dieſe Irrtümer aufgedeckt
hat — die Lehre von „Objektiven“, „Sachverhalten“, „Inhalten“, die man eine
wirkliche oder eine „Pſeudo-Exiſtenz“ oder einen „Beſtand“ oder Gott weiß
was für ein „Sein“ führen läßt, wahre Orgien in den „Logiken“, „Erkenntnis⸗
theorien“ und ſonſtigen philoſophiſchen Erzeugniſſen, feiert.
Einer der umſtrittenſten Sätze Spinozas iſt die propositio VII des zweiten
Teiles „ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum“.
Intereſſant iſt der Deutungsverſuch von Carl Stumpf (Spinoza-Studien,
Berliner Akademie der Wiſſenſchaften 1919). Ihm zufolge iſt der Satz: „die
Ordnung und Verknüpfung der Ideen iſt dieſelbe, wie die Ordnung der Dinge“
nichts anderes als der Ausdruck für jenes notwendige Korrelationsverhältnis,
das nach der ariſtoteliſch⸗ſcholaſtiſchen Pſychologie zwiſchen dem Akte und
ſeinem ſogenannten „Inhalte“ (oder immanenten Objekte) beſteht. Spinoza
verſtehe unter idea eine Tätigkeit des Geiſtes (definitio III des 2. Teiles),
alſo das Denken (die cogitatio des Descartes), und die ordo des Gedachten ſei
nach jener alten Lehre der ordo des Denkens notwendig parallel. Wird nun
das mentale Objekt mit dem Phyſiſchen (Ausgedehnten), d. i. mit den Dingen
im Sinne von phyſiſchen Dingen gleichgeſetzt, ſo ergibt ſich ohne weiteres der
obige Parallelitätsſatz. Daß dieſe Lehre bei Spinozas Parallelitätslehre bes
teiligt iſt, dürfte unbeſtreitbar ſein. — Allein ebenſo ſicher ſcheint es mir, daß
ein anderer Gedanke mit hereinſpielt, den ſchn Brentano, und mehr als
e) Vgl. Brentanos Pſychologie II, Bd. 193 der phil. Bibliothek, S. 284.
über die Philoſophie Spinozas 167
jenen Korrelativitätsgedanken, betont hat. Es iſt dies jene Bedeutung von
Idee, die ſich der platoniſchen Idee und dem ariſtoteliſchen &idog nähert, wobei
darunter nichts anderes als das „begrifflich erfaßbare Weſen“ der Dinge zu
verſtehen iſt. Man bedenke, daß Spinoza die Wendungen „ex definitione“, d. h.
„aus der Begriffsbeſtimmung eines Dinges folgen“ (I. Teil def. VIII) und „ex
essentia“, d. h. „aus dem Weſen eines Dinges“ folgen (oder darin enthalten
ſein), gleichbedeutend nimmt und wiederum dieſe essentia „begrifflich erfaß⸗
bares Weſen“ als etwas in Gott Exiſtierendes annimmt (vgl. Ethik V, prop.
23, dem.). Mit anderen Worten die Doppelſinnigkeit, die dem ariſtoteliſchen
eld os anhaftet, die aber, wie Brentano zeigt, von Ariſtoteles wohl bemerkt und
auseinandergehalten wird, die pſychologiſche und die ontologiſche,
wird von Spinoza konfundiert und zur Quelle jener ſo ſchwer verſtändlichen
Korrelationslehre zwiſchen idea und res.
Eine anderer fundamentaler Satz, von dem Spinoza beſonders in ſeinen
Briefen Gebrauch macht, iſt der Satz „omnis determinatio est negatio“. —
Es iſt ein barocker Gedanke Gebharts, dieſe Lehre mit dem Geiſte des Barock
in Zuſammenhang zu bringen, anſtatt ihn kritiſch zu analyſieren. — Einerſeits
ſcheint die Meinung hier mitzuwirken, jede determinatio im Sinne einer Ab⸗
grenzung ſchließe das Abgegrenzte von dem unendlichen Angrenzenden aus,
andererſeits dürfte (2.) auch der Gedanke mitgeſpielt haben, daß jede begriffliche
Determinierung die Differenz des zu Definierenden, alſo das was etwa
A von B unterſcheidet, angeben muß. Spinoza meint alfo, jede Beſtimmung
ſage aus, wodurch ſich ein Ding von einem anderen unterſcheidet, alſo was
es nicht iſt, Gott aber ſei von jeder derartigen Beſchränkung frei zu halten.
Aber hiebei darf eben nicht überſehen werden, daß dieſes Negative, d. h. der
Unterſchied ſtets in einem poſitiven Merkmal wurzelt. Nach Spinoza wird Gott
zu einem ens indeterminatum im Sinne eines völlig unbeſtimmten, d. h.
beſtimmungsloſen Dinges, eine Hypoſtaſe nach Art jener von Joh. Scotus
Eriugena und anderen herrührenden, die die Grade der Abſtraktion
mit „Stufen der Exiſtenz“ gleichſetzen. Und dies geſchieht, obgleich anderer⸗
ſeits jene abſolute Un beſtimmtheit durch die Unendlichkeit von Attributen,
die Spinoza feinem Gott zuſchreibt, zugleich zu einer ganz offenbaren Über-
beſtimmtheit wird. Endlich (3.) iſt Gott auch in dem Sinne indetermi⸗
niert, daß er von nichts anderem beſtimmt ift, als durch ſich ſelbſt. Hiezu kommt
nun noch, daß die Attribute, alſo dasjenige, was wir allein von Gott zu er⸗
kennen vermögen, dasjenige ſind, was der Verſtand von der Subſtanz auffaßt,
als das, was ihr Weſen ausmacht. Die Attribute ſind alſo Beſtimmungen der
Subſtanz. Erdmann hat, meines Erachtens mit Recht, hiezu bemerkt, daß die
Attribute das Weſen der Subſtanz auf eine beftimmte Weiſe ausdrücken, die
Subſtanz nach Spinoza aber keine beſtimmte Weite des Seins hat, und daß
ſomit die Attribute eigentlich außerhalb der Subſtanz ſind und lediglich in den
betrachtenden Verſtand fallen. Von den Modis muß dann um ſo mehr gelten,
daß ſie keine Exiſtenz in ſich ſchließen. Bedenkt man freilich, daß der betrachtende
Verſtand wiederum mit Gott identiſch iſt, da es nichts außerhalb Gottes gibt,
168 Oskar Kraus
ſo müßte man dieſem Verſtande und ſomit wenigſtens dem Attribut des
Denkens Wirklichkeit zuerkennen. So käme Spinoza dem Kantſchen
Phänomenalismus oder Idealismus bedenklich näher. Klarheit kann in dieſes
Gewirr von Selbſtwiderſprüchen nicht gebracht werden. Das hindert aber nicht,
daß das Syſtem Spinozas von Kuno Fiſcher als ein „Kriſtall der Philo-
ſophie“ „ſowohl in der Strenge der Form, als in der Durchſichtigkeit des In⸗
haltes“ bezeichnet wurde und heute noch vielfach als Muſter begrifflicher Schärfe
hingeſtellt wird.
Der Wunſch und das Streben Spinozas war freilich zweifellos auf das
Ideal geometriſch⸗mathematiſcher Schärfe gerichtet, aber abgeſehen davon, daß
die Metaphyſik eine ſolche niemals erreichen kann, läßt Spinoza in der begriff⸗
lichen Grundlegung die elementarſten Forderungen der Logik und Sprachkritik
unerfüllt. Er verwirft die ſogenannten „termini transcendentales“ wie Ding,
Etwas (res, aliquid) als verworrene Begriffe, während gerade dieſe Termini
wohl Begriffe von höchſter Allgemeinheit und Unbeſtimmtheit bedeuten, ohne
im geringſten verworren zu ſein. Andererſeits operiert er, wie ſchon geſagt, mit
den ſchlimmſten grammatikaliſchen Abſtraktis wie „essentia“ und „existentia“
und iſt in den unheilvollen Wahn verſtrickt, mit dieſen Worten die klarſten Be⸗
griffe zu verbinden.
III.
Spinozas Identitätsphiloſophie.
Spinozas Philoſophie iſt nicht nur ſpäterhin von größtem Einfluß auf
die Identitätsphiloſophie der deutſchen Spekulation geworden, ſie iſt
auch ſelbſt die Identitätsphiloſophie zar FMie. Spinoza identifiziert:
1. Kauſal unabhängiges Ding, unverurſachtes, durch ſich ſelbſt notwen⸗
diges Weſen mit Weſen, dem nichts ſubſiſtiert, d. i. mit einem Weſen, das in
dem Sinne ſelbſtändig iſt, daß es nicht Akzidenz, Eigenſchaft eines ſubſiſtierenden
Weſens iſt. |
Die Gottheit, wie fie Descartes denkt, ift beides. Aber fie ift doch zugleich
Urſache anderer Weſen, die nur inſofern nicht ſelbſtändig ſind, als ſie durch
Gott geſchaffen und erhalten werden. Spinoza macht damit Ernſt, nur ein in
jeder Hinſicht ſelbſtändiges Ding Subſtanz zu nennen. Sie iſt ihm identiſch
mit der Natur, d. i. der ſeeliſchen und körperlichen Welt. Er nennt ſie Gott.
Kurz geſagt: Spinoza identifiziert ſubſiſtierende Bedingung mit kau⸗
ſierender Bedingung.
2. Spinoza identifiziert weiterhin: Das Allgemeinſte und Beſtim⸗
mungsloſe (demnach Unmögliche) mit dem keiner denkbaren realen
Beſtimmung Entbehrenden (daher ebenfalls Unmöͤglichen, weil
überbeſtimmten).
3. Cogitatio mit extensio, Denken mit Ausdehnung. Körperliches und
Geiſtiges. Beide ſind ihm der Subſtanz nach identiſch.
4. Idea mit judicium und dieſes mit voluntas, wobei alle Differenzen des
Bewußtſeins ſchwinden.
Über die Philoſophie Spinozas 169
Bei Descartes war dieſe Identifizierung im Keime vorbereitet, ſofern er
judicium mit voluntas in zu innigen Kontakt brachte.
5. Das Denken mit dem Gedachten, den Akt mit dem ſogenannten In⸗
halt oder mit dem ſogenannten immanenten Objekt (vgl. Stumpf).
6. Idea im Sinne eines Bewußtſeinsaktes cogitatio, perceptio mit idea
im Sinne einer begrifflich erfaßbaren Wefenheit (Ceidos oder platoniſch⸗
plotiniſche Idee).
7. Er identifiziert die univerſelle Notwendigkeit mit univerſeller Determiniert⸗
heit. Seine substantia sive natura sive deus iſt in ſich not wendig und
doch zugleich ein Ablauf von kauſalen Geſchehniſſen. Da aber auch „Urſache“
und „Erkenntnisgrund“ nicht klar geſchieden werden, ſo auch nicht Kauſalnexus
und Deduktion.
8. Die „begrifflich erfaßbare Weſenheit“ wird mit „ewiger Wahrheit“ identi⸗
fiziert und negative mit poſitiver Erkenntnis.
9. Virtus im Sinne von Kraft oder Macht mit virtus im Sinne von Tugend
und Recht mit Macht. 0
Hauptmängel.
Als Hauptfehler der ſpinoziſtiſchen Philoſophie iſt ſein alles übertreffender
Ultrarealismus, d. h. die Hypoſtaſierung des Allgemeinen und Begrifflichen,
insbeſondere aber ſeine Sprachknechtſchaft zu bezeichnen, die ihn bloße Sprach⸗
rudimente wie essentia und existentia als logiſche Namen behandeln und
ſeine ganze Metaphyſik darauf gründen läßt. Hieher gehört auch die Scheidung
von duratio und aeternitas, die Leugnung, daß „Ewigkeit“ mit „Zeit“ etwas
zu tun habe (Ethik V, 23, schol.). Dazu kommt die Fehlerhaftigkeit feines Sub⸗
ſtanzbegriffes und die Konfuſion der verſchiedenen Bedeutungen von idea.
Hinſichtlich der ethiſchen und der Wert- Begriffe iſt er in Unklarheit.
Daher kommt es, daß er mitunter ſo ſpricht, als mache die univerſelle Not⸗
wendigkeit und die Determiniertheit alles Geſchehens eine Bewertung und
moraliſche Beurteilung entbehrlich, ja ſogar unmöglich. Dieſer Irrtum iſt
allerdings uralt und heute noch ſehr allgemein. Und doch iſt es ebenſo verträg⸗
lich, daß ein intellektueller Akt determiniert und doch logiſch unrichtig
iſt, wie, daß einemotionel ler Akt determiniert und doch zugleich emotionell
(axiologiſch) unrichtig, ungerechtfertigt iſt.
Es iſt aber bemerkenswert, daß Spinoza in ſeinem Brief an Oldenburg von
Anfang 1676 oder Ende 75 dieſer Erkenntnis nahekommt. Denn er ſchreibt
dort, daß die Notwendigkeit weder die göttlichen noch die menſchlichen Rechte
zunichte mache; es ſei doch etwas nicht darum weniger wünſchenswert oder
verabſcheuenswert, weil es notwendig geſchieht. Dieſer Gedanke folgerichtig zu
Ende gedacht führt dazu, es ſei auch ein Verbrechen nicht darum weniger
verbrecheriſch, d. h. verabſcheuenswert, weil es kauſal bedingt iſt. Wie wenig
folgerichtig aber Spinoza in dieſen Dingen urteilt, iſt andererſeits aus einem
7) Vgl. Franz Brentano, Urſprung ſittlicher Erkenntnis. Bd. 55 der phil. Bibliothek.
170 Oskar Kraus
Brief an Blyenbergh zu erſehen, worin er die kauſale Rückführung der Ver⸗
brechen auf die erſte, alles determinierende Urſache dadurch zu umgehen ſucht,
daß er — nach ſcholaſtiſch⸗platoniſchem Muſter — die unmoraliſche Beſchaffen⸗
heit als etwas Nicht⸗Reales, Nicht⸗Poſitives, als etwas was keine Weſenheit
ausdrückt, bezeichnet.
Es war ihm auch dadurch unmöglich, zur richtigen Löſung des Problems zu
gelangen, weil er beſtreiten zu müſſen glaubt, daß die Gottheit um eines
Zweckes willen wirkt. Denn wäre dies der Fall, ſo wäre — meint Spinoza —
Gott dem Fatum unterworfen. (Vgl. Ethik pars. I, prop. XXXIII, schol. II).
Es iſt jedoch leicht einzuſehen, daß er, wenn dieſe Argumentation richtig wäre,
Gott auch keinerlei Wahrheit erkennen laſſen dürfte, da doch in dieſem Falle
Gott von der Wahrheit abhängig wäre. Indes iſt beides falſch und Spinoza
auch hier ein Opfer der Sprache. — Gott erkennt eine Wahrheit oder das Wahre
heißt nicht anderes, als er iſt ein Erkennender. Erkennt er, daß 2x2 —=4 ſei,
ſo heißt das, er erkenne, daß 2 zweimal genommen nichts anderes ergeben könne
als 4. Es iſt in dieſem Falle negativer apodiktiſcher Erkenntniſſe überhaupt
Poſitives nicht vorhanden, wovon Gott oder ſonſt irgend ein Weſen abhängig
ſein könnte. Im Falle poſitiver Erkenntniſſe jedoch iſt Gott darum von
keinem Dinge abhängig, weil er ſelbſt der Urheber alles poſitiven Geſchehens und
aller Dinge iſt. Was aber dem Ausdruck Zweck“ und „Ziel“ anlangt, ſo handelt es
ſich abermals um einen bloß mitbedeutenden Ausdruck. Es gibt keine „Ziele“, keine
„Zwecke“ als poſitive Dinge, es gibt Weſen, die etwas-liebende, etwas⸗haſſende,
wollende Weſen ſind, ſagt doch Spinoza ſelbſt: (IV. def. 7) per finem cuius
causa aliquid facimus, appetitum intelligo. Falls man alſo annimmt, daß
die Gottheit, ſo wie ſie ein Alles erkennendes Weſen iſt, auch ein das Ganze der
Welt und das Beſte der Welt wollendes Weſen iſt, macht man ſie durchaus nicht
von irgendeinem Etwas abhängig, ſondern umgekehrt, alles von Gott
Gewollte wird durch ihn zu einem von ihm Gewirkten und als ſolches von ihm
abhängig, und Gott ſelbſt iſt nichts anderes als das fehllos richtig bevorzugende
und erkennende Weſen, und weil es ein fehllos bevorzugendes Weſen iſt, ſo muß
es nach dem evidenten Summierungsprinzip der Werte erkennen, daß es nur als
weltſchöpferiſches Prinzip das vollkommenſte Weſen iſt. Es iſt wirklich
ſo, wie Angelus Sileſius ſagt, daß Gott ohne mich ebenſowenig ſein
kann, wie ich ohne Gott. Wenn Spinoza meint, der göttliche Intellekt habe mit
unſerem Intellekt ſo wenig gemein, wie das Sternbild des Hundes mit einem
wirklichen Hund, ſo geht er hier in der Ablehnung des Anthropomorphismus
viel zu weit, denn was ſoll es dann überhaupt für einen Sinn haben, der gött⸗
lichen Subſtanz cogitatio zuzuſchreiben? So häuft ſich Unklarheit auf Unklar⸗
heit. Wir können ſie hier nicht erſchöpfen. — Wie auch ſoll man einem ſolchen
Gotte einen amor intellectualis zuwenden, wenn ſeine ethiſchen und Wert⸗
Begriffe von unſerem fo verſchieden find wie das Sternbild Hund vom wirk⸗—
lichen Hund? Dann weiß man ja nicht, was man denn eigentlich liebt. Der
amor intel lectualis richtet ſich in dieſem Falle auf einen intellectus amoralis,
ja nach dem eben Geſagten nicht einmal auf einen intellectus.
W. Koch, Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 195
hervorrufen will, ob man ſich in geſteigerten Bildern entlädt wie in der Pen⸗
theſilea oder ſich in geſteigerte Bilder hineinredet aus dramatiſchen Gründen
wie im Käthchen von Heilbronn.“ Eine Gegenüberſtellung und Interpretation
zweier Beiſpiele baut die Erkenntnis der ſprachſtiliſtiſchen Struktur weiter aus.
Hier erhält der einzelne Fall vom Ganzen her ſeine Beleuchtung. Schon dieſes
eine beliebig herausgegriffene Beiſpiel vermag zu zeigen, wie ſich die ange⸗
wandte Sprachäſthetik der neuen Literaturwiſſenſchaft lebendiger äſthetiſcher
Sprachorganismus bemächtigt 28). —
Bemerkenswert ift, daß auch die analytifchefte aller literaturwiſſenſchaftlichen
Hilfsdisziplinen, die Metrik, unverkennbare Verſuche zur Bewältigung und
Würdigung komplexer Ganzgeſtalten zeigt: ich verweiſe auf Sievers und ſeine
Schule (3. B. Saran). Hier kommt es nicht mehr auf Herauspräparierung,
graphiſche Fixierung und Schematiſierung kleiner Unterganzer an, ſondern auf
akuſtiſche Unterſuchung größerer metriſcher Geſtalten; dabei ſoll dem irratio⸗
nalen Fluß individueller Versgeſtalten Rechnung getragen werden. Dieſe Er:
forſchung der metriſchen Geſamtdiktion iſt mit Erfolg zu ſtilkritiſchen Feſtſtel⸗
lungen benutzt worden.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur
von den Anfängen bis Andreas Gryphius.
Von Wilhelm Koch in Frankfurt a. M.
I. Das Pindarbild der Reformation.
Das Mittelalter kennt Pindars Werk — ſeiner exkluſiven Stellung wegen —
nicht ), feinen Namen aber aus zweiter Hand 2). Die Anekdote, die ihre Träger
immer bei einem verzauberten Leben erhält, ſcheint ihm kein derartiges Weiter-
leben im Mittelalter beſchert zu haben 5). Wir können fie weder in ſelbſtändiger
Form noch mit einem fremden Stoff vermiſcht in der mittelalterlichen Anek⸗
dotenüberlieferung feftftellen “). Es iſt bekannt, daß die erſten Odentexte im
28) Anmerkung während der Korrektur: Verwandte Fragen behandelt der ſoeben erſchienene Auf⸗
ſatz „Sprachäſthetik bei Strich und Gundolf“ von Klaus Berger. Zeitſchrift f. Aſthetik uſw.
XXI (1927), S. 38 ff.
1) Pindar nicht erwähnt bei: Gotfried von Viterbo, Pantheon (geſt. 1194); Walter Burleigh,
Vita-poetarum veterum (geſt. 1337); Vincenz von Beauvais, Speculum maius (geſt. 1264)
(im „Spec. hist.“, V. 28, wird die Vernichtung Thebens durch Alexander ohne die Pindar⸗
anekdote erzählt); Alexander von Villedieu, Doctrinale (13. Ihdt.), einem der Hauptlehrer des
Mittelalters; ebenfalls nicht erwähnt in der Divina Comedia Dantes.
2) Von den antiken Schriftſtellern, die Pindar erwähnen, wurden im Mittelalter am meiſten
Plutarch und Valerius Maximus geleſen.
) Wie im Mittelalter Ariſtoteles, Virgil und Horaz ein ſolches Fortleben führten.
) Die Verbindung Pindars mit dem Alexandermythus bereits in den älteſten Faſſungen des
Pſeudo⸗Kalliſthenes; Julius Valerius hat die Anekdote von der Verſchonung des Pindar⸗Hauſes in
Theben bei der Zerſtörung durch Alexander nicht übernommen. So fehlt dieſe Anekdote bei dem
Pfaffen Lamprecht, der indirekt auf dieſe Quelle zurückgeht. Auch Ulrich von Eſchenbachs Alexander
beſitzt die Anekdote nicht; vgl. Arriani Anabasis-et Pseudo-Callisthenis historiam, ed. Car.
Müller, Paris 1846; Fr. Pfifter, Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo, Heidelberg 1913;
daſelbſt weitere Angaben.
196 Wilhelm Koch
15. Jahrhundert nach Italien kamen 5). Damit beginnt Pindars Wirkung in der
italieniſchen Renaiſſance und im Anſchluß hieran in der Frühe des 16. Jahrhun⸗
derts ſein Eintritt in den Kreis der deutſchen Literatur, als die Bildungswelle
des ſüdlichen Humanismus durch ihr Überſtrömen nach dem Norden deutſchen
Geiſt richtung⸗ und maßgebend befruchtete.
Die Rezeption der Antike iſt im 16. Jahrhundert in Deutſchland nicht äſthetiſcher,
ſondern moraliſcher Natur 9. Die Intereſſen der Humaniſten werden von ihren
proteſtantiſchen Glaubensſätzen dirigiert und richten ſich nicht auf Text⸗ und
Stilkunde, ſondern auf Lebens- und Geſtaltenkunde. Dieſe Haltung entſpringt
aus der Tatſache des damaligen Zurücktretens Afthetifcher Erkenntniskategorien
vor religiöfen Glaubenswertungen, da die Reformation die Forderungen der
metaphyſiſchen Unterbauung aller irdiſchen Erſcheinungen erneut in den Mittel⸗
punkt gerückt hatte. Die Größe dieſer Reformationszeit zeigt ſich in dem feſten
Beſitz eines Standortes; die objektive Norm zur Beurteilung heidniſcher Au⸗
toren iſt für fie die Geſtalt des „Gott wohlgefälligen Lebens““). Daraus ent⸗
ſpringt ihre naive Stärke, allein den Lebensraum der Dichtung abzutaſten ohne
Beachtung ihrer ſtrukturellen Gehalte.
Das Pindarbild des Schweizer Reformators Ulrich Zwingli, der das Vor⸗
wort zur erſten reichsdeutſchen Ausgabe verfaßte 9, beſtimmte den Charakter der
Pindarrezeption des Reformationszeitalters. Seinem Hinweis auf beſondere
Vorzüge des griechiſchen Lyrikers entſprechen Beſtandteile ſeines eigenen
Weſens: als Theologe empfiehlt er den erleuchteten Heiden mit der Vorahnung
des chriſtlichen Gottes —, als gediegener Schweizer feinen gründlidyfoliden
Altvorderncharakter — und als Humaniſt und Philologe feine buntbewegte
Sprache; zuſammenfaſſend urteilt er über Pindar:
Nihil est in omni opere, quod non sit doctum, amoenum, sanctum, dextrum,
antiquum, prudens, grave, iucundum, circumspectum et undique absolutum.
Beſtimmte Elemente Pindars tauchen hier — unter den typiſchen Aſpekten
des 16. Jahrhunderts — als chriſtlich⸗deutſch⸗bürgerliche Charakterzüge auf: die
apolliniſche Religioſität als Verwandte der chriſtlichen Theologie 10) —, die
8) Vgl. v. Wilamowitz⸗Moellendorff, Pindaros, Berlin 1922, S. 4, und C. L. Cholevius, Geſch.
d. deutſch. Poeſie nach ihren ant. Element. 1854/56, Kap. 11.
6) Siehe unten S. 210, Anmerkung 75.
7 Martin Luther, An die Radherrn aller ſtedte deutſchen landes. Kürſchner DNL. Bd. 15, S. 191.
8) Pindari Ol, Pyth. Nem. Isth. ed. Andreas Cratander, Baſel 1526.
9) Aus Zwinglis Vorwort.
10) Der Kirchenvater Hieronymus verglich bereits die beiden Prototypen der heidniſchen und det
bibliſchen Hymnik miteinander; bei ihm fällt dieſer Vergleich zugunſten Davids aus (vgl. die Stelle
bei Ed. Stemplinger, Horaz im Urt. d. Jahrhunderte, S. 10). Die italieniſche Menaiſſance vertritt
die gegenteilige Meinung: fo Lazaro Bonamico und beſonders ſtreng Angelo Poliziano (vgl. Fr. O.
Mencke, Historia Vitae et in Literas meritorum Angeli Politiani, Leipzig 1736). Zwingli
ver ſuchte in dieſer Frage zu vermitteln (Vorwort f. o.); eine energiſche Abkehr von der Anſicht der
Italiener erfolgt erſt im Melanchthon Kreis (Brief M.s an Adam Crato, Corp. Ref. X VIII,
Nr. 5462); dieſem Appell ſchließt ſich in feiner Vorrede zu Melanchthons lateiniſcher Pindar · ber ·
ſetzung nachdrücklichſt Caſpar Peucer an. Das 17. Ihdt. intereffiert ſich aus formalen Gründen für
dieſe Streitfrage (Joh. Balth. Schupp, Morgen- und Abendlieder, 1663, S. 933); der franzõſiſche
Klaſſizismus verſucht den heidniſchen Hymnenſtil durch das bibliſche Pendant zu ſanktionieren
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 197
national⸗delphiſche Haltung als wackerer vaterländiſcher Sinn und der Sprach⸗
ſtil als beſtaunenswerter Umhang einer dichteriſchen Lehre.
So nachdrücklich von einem bedeutenden Manne empfohlen —, verwertet der
Wittenberger Humaniſtenkreis, an deſſen Spitze Melanchthon als Pindarinter⸗
pret und Pindarüberſetzer wirkt 11), die Epinikien als Lehrbuch der Tugendkunde
und als Quelle für alte Geſchichte 12). Als Sittenſchilderung und Sittenlehre,
als Morals und Erziehungsbuch für die heranwachſende Jugend werden fie
von dem Rektor des Ilfelder Gymnaſiums, Michael Neander, äußerlich her⸗
gerichtet. Er nahm die längeren mythologiſchen Teile und alle Sentenzen aus
den Gedichten heraus und druckte ſie mit verbindendem Proſatext ab. In
dieſer Geſtalt empfahl er feine „Aristologia Pindarica“ 18) feinen Liegnitzer
Gönnern zum Unterricht in der Schule. Er entdeckte auch, daß dem Werke
Pindars eine bedeutende Erſcheinung des griechiſchen öffentlichen Lebens zu⸗
grunde liege: die Kampfſpiele mit ihrem ausgeſprochen religiöſen Charakter.
Dieſer Einrichtung glaubte er einen tiefen ſittlichen und pädagogiſchen Wert bei⸗
meſſen zu müſſen, und dieſer Einſicht dient ſeine Abhandlung über die Wettſpiele
der Griechen als Einleitung ſeines Florilegs, zu der er alles für ihn erreichbare
philologiſche Material zuſammengetragen hatte 1%. Wenn er ſich eine griechiſche
Olympiade ausmalt, ſtellt er ſich eine Art germaniſches Thing vor: Beratun⸗
gen über gemeinnützige Angelegenheiten mit anſchließenden Wettkämpfen als
Gedächtnisfeiern für große Heroen und als Anſporn der jungen Mannſchaft
zu Mut und — guter Sitte! Beruhe doch der große Vorteil dieſer Einrichtungen
darauf, daß die Menſchen ſeit früher Jugend auf tüchtige Charakterbildung und
nicht auf Gelderwerb hin erzogen würden! Auch viele der ſittlichen Winke aus
Pindar ſelbſt beziehen ſich für ihn auf dieſen großen Vorzug der griechiſchen
Lebenshaltung.
Neanders Pindarbild, das ſich in ſeinen Einzelheiten nicht von dem ſeiner
Zeitgenoſſen abhebt, bekommt durch die Einbeziehung gewiſſer griechiſcher Kultur⸗
erſcheinungen, eine neue Geſamtanlage: es bleibt der erſtmalige Verſuch, Pindar
im Rahmen einer lebendigen Kulturgemeinſchaft zu betrachten und darzuſtellen,
ohne dabei die von Zwingli herausgeſtellte und in der Folge vom Melanchthon⸗
kreiſe weiterentwickelte Erfaſſungsform des Zeitalters zu verlaſſen. Der Grund⸗
zug bleibt das Herausſchälen einer legendären Geſtalt aus dem dichteriſchen
(Boileau, Discours sur L'ode. Batteux, Einleitung in d. ſch. Wiſſ., überſ. v. Ramler, II 3).
Für Klopſtock aber iſt wieder David allein der göttliche Sänger (Ode: Kaiſer Heinrich, 1764);
vgl. Viétor, Geſch. d. deutſch. Ode, S. 117.
11) Melanchthon hielt 1545, 1548 und 1553 Vorleſungen über Pindar; vgl. Corp. Ref. XVIII.
12) Vgl. Caſpar Peucers Vorwort zur Pindar⸗Uberſetzung Melanchthons, Baſel 1558, ſowie die
Vorrede des Vitus Winshemius zu ſeiner lateiniſchen Sophokles⸗Ubertragung, Frankfurt 1546.
18) Erſchienen 1556.
14) Über den jeweiligen Stand der Wiſſenſchaft vom klaſſiſchen Altertum fehlen uns bis jetzt noch
alle Arbeiten, obwohl es ſich hier um Grundlage und Norm unſerer Kultur ſeit vier Jahr⸗
hunderten handelt; die „Geſchichte der klaſſiſchen Philologie“ von Burſtan, München u. Leipzig
1883, iſt wertlos für Unterſuchungen, die ſich nicht ausſchließlich mit einzelnen Philologenperſön⸗
lichkeiten beſchäftigen. — Für Neander kamen als Quelle die Scholien in Betracht, die Calerges in
ſeiner Ausgabe mitediert hatte; dort fand er auch die Viten Pindars von Thomas Magiſter und von
Suidas und das Genos in Reimen.
198 Wilhelm Kod
Geſamtgebilde, der Durchſtoß zur menſchlichen Perföonlidhfeit!). Nur
um der Lebenskunde willen leſen die Reformatoren die heidniſchen Autoren
und referieren in deren Überſetzungen nur ihren Sinn gehalt 1). Das Kunſt⸗
werk als geformter Gedanke, als Leib einer Seele iſt ihnen unerfahrbar —, es
ſchließt ſich gleichſam ſelbſt vor ihnen ab als ſinnliche Geſtalt. Die Vormacht der
metaphyſiſchen vor der phyſiſchen Komponente des Jahrhunderts zeigt ſich hier
bis in die Behandlungsweiſe der Überſetzungen der antiken Klaſſiker hinein!
Die Formenfeindſchaft auf äſthetiſchem Gebiete iſt eine Auswirkung der Erden⸗
ferne auf religiöfem Gebiete. Der Überſchwang des jungen Proteſtantismus
wittert leicht leeren Formalismus in formaler Begabung —, und bekämpft ihn
wie den katholiſchen Glaubensbau!
Pindars Bild lebt aus dieſem Grunde im 16. Jahrhundert entkleidet ſeiner be⸗
zeichnendſten Züge: der Art ſeiner Zuſammenſchau der archaiſchen Kulturwelt und
der Verkörperung ihres Geiſtes in der einmaligen Form der agonalen Hymne.
Die bloß legendäre Kenntnis von Pindars Perſon bewirkte — naiv ins deutſche
Gewand übertragen — eine Darſtellung ſeines zeitlichen Wirkungsfeldes, um
den moraliſchen Nutzen dieſer Dinge eingängig vor Augen zu führen. In dieſer
pädagogiſchen Abſicht beſchäftigte ſich das Gymnaſium zu Straßburg mit Pin⸗
dar, als es bei einer Aufführung der Medea des Euripides 17) in den Akt⸗
pauſen 18) von koſtümierten Chören Strophe und Epode der 11. Olympie unter
Tanz fingen ließ, wobei die Kampfſpiel- und Kulturgegenſtände aus der Zeit
Pindars den Zuſchauern vorgeführt wurden: Kampfgeräte, Waffenſpiele,
Ephebenſchar, koſtümierter Sieger und Apollo mit dem Muſenchor —:
Fürwar, wol wer zu wuenſchen hoch,
Das ſolche ſpiel und ubung noch
Mit guter maß und beſcheidenheit
Wuerden gebraucht zu unſerer zeit. 19)
Die textlichen Grundlagen der Pindarrezeption des Reformationszeit⸗
alters ſind in der erſten Hälfte des Jahrhunderts die beiden italieniſchen Erſt⸗
drucke 20) der Epinikien, ſeit 1560 die Stephanianiſchen Ausgaben. Seit Ende
der 20er Jahre gab es die lateiniſche Umbildung der Oden von dem Straßburger
Altphilologen Johannes Lonicer, die eine vierfache Auflage erlebte und ſpäter
der lateiniſchen Überfegung Melanchthons das Feld einräumte. Aus den Soer
15) Die reichen Prädikate, die man Pindars Namen in den Ausgaben des Jahrhunderts gibt,
deuten auch auf dieſe Einſtellung hin.
16) Man gibt in der lateiniſchen Ubertragung nur die angenäherte Bedeutung der griechiſchen
Ausdrücke wieder und verzichtet auf ausgewählte und bildhafte Epitheta des Originals. Vgl. z. B.
die ſehr bezeichnende Uberſetzung der Anfangszeilen von Olvmpie IV durch Melanch:hon wo das
einfache „Jupiter tonans“ die prachtvolle griechiſche Anfangsbenennung erſetzen muß (Corp.
Ref. XVII).
17) Griech. Dramen in deutſch. Bearbeitungen von W. Spangenberg und J. Fröreiſen. Nebſt
deutſchen Argumenten, hrsg. von Dähnhardt, Tübingen 1896/97. BLV. 211, 212.
18) Vgl. Bd. 212, S. 60 ff.
19) Schlußſätze des Argumentes zum zweiten Chore.
20) Von Aldus Manutius 1513 und von Calerges 1515.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 199
Jahren ſtammen zwei ſelbſtändige Pindarkommentare 21), von denen der eine,
von der Hand des Franciscus Portus, in der Folgezeit größere Verbreitung fand.
In der lateiniſchen Sammelbuchliteratur dieſer Zeit laſſen ſich drei Etappen
der Pindarkenntnis unterſcheiden. Vor 1513 — dem Erſcheinungsjahr der erſten
europäiſchen Ausgabe — taucht, noch ganz unverſtanden, die Nennung ſeines
Namens auf 22); ſpäter bringen die Autoren — zuerſt Conrad Gefner 23) —
kleine Berichte über Werk und Leben Pindars mit Anekdoten vermiſcht. Nach
dem Erſcheinen der Poetik Julius Caeſar Scaligers wagen ſie ſtilkritiſche Hin⸗
weiſe aufzunehmen 2%).
Die Mehrzahl der deutſchſprachlichen Chroniken erwähnen Pindar nicht;
Aventin hat eine kleine Notiz über ihn 25). Seb. Münſter, Schedel, Franck
— um nur die wichtigſten zu nennen — kannten ihn nicht 26). Die erſte Er⸗
wähnung ſeines Namens in einem deutſchſprachlichen Sammelwerk ſtellen wir
feſt in der anonym zu Frankfurt a. M. im Jahre 1559 erſchienenen Überſetzung
von Petrarkas „Troſtbuch“ 27).
In die Fachpoetiken der Neulateiner drang Pindar nicht ein wegen der abſo⸗
luten Vormachtſtellung der Lateiner — Horaz, Ovid, Virgil — in Fragen des
Stiles und der Metrik; höchſtens, daß man einmal eine auffallende Metapher
oder ein obſkures Versmaß von ihm zitiert 28). Gäbe es bei Horaz wie es dort
ein „Archilochiſches“, ein „Sapphiſches“, ein „Alcaeiſches“ und ein „Alkmani⸗
ſches“ Versmaß gibt, auch ein „Pindariſches“ —, fo wäre fein Name bekannter
geworden. Die erfte — ziemlich ablehnende — Auseinanderſetzung eines Fach⸗
manns mit Pindars Stil ſtammt von Scaliger ?“); ihm folgt die weniger
ſtrenge des Voſſius 0).
Das Intereſſe für Pindar im Deutſchland des 16. Jahrhunderts gilt ſeinem
Gedankenſtoff, nicht ſeiner Struktur. Die Literatur dieſer Epoche iſt bürger⸗
21) Von Franziscus Portus 1583 und von Benedictus Aretius 1587.
22) So in den „Memorabilium omnium aetatis et omnium gentium Commentarii“ von
Johannes Nauclerus, Tübingen 1500.
XXI, 1548, S. 141; andere Autoren, die P. erwähnen: Coccius Sabellicus, Rhapsodiae
historiarm Enneadum, 1513, III. Teil, Bd. 3, S. 164 (zum Teil überſetzt von Th. Murner,
1532); Johannes Heroldt, Exempla Virtutum et Vitiorum, Baſel 1555; Adrianus Romanus,
Parvum Theatrum urbium, Frankfurt 1595.
23) Bibliotheca universalis, 1545 S. 562, und Pandectarum sive Partitionum- libri
24) Theodor Zwinger, Theatrum Humanae Vitae, Baſel 1586.
25) Bairiſche Chronik, I. Buch, S. 51.
26) Aegidius Albertinus bezeichnet noch im Jahre 1612 in feiner Überfegung der „Relazioni
er des Giovanni Botero den Pindar als einen König von Boiotien, I. Buch, 1. Teil,
. 79.
27) Hülff / Troſt und Rath in allem anliegen der Menſchen — Francisci Petrarce — zwei Troſt⸗
bücher, Frankfurt 1559.
28) Georgius Sabinus, De carminibus ad veterum imitationum — componendas, Frank-
furt 1577; und Henricus Bebelius, Ars versificandi (o. J.).
29) Poetices libri septem, 1561, lib. crit. cap. 4. Im Gegenſatz zu der Anſicht des Sophiſten
Favorinus von Arelate (2. Ihdt. n. Chr.), mit der ſich Scaliger auseinanderſetzt, wird von ihm
Virgil dem Pindar vorgezogen. Vor ihm hatte bereits Pontanus dieſe Meinung vertreten (f. die
Stelle bei Scaliger).
30) Poeticarum Institutionum libri tres, Amstelodami 1674 und De Artis Poeticae
Natura ac constitutione, Amstelodami 1647, cap. V. $ 3.
200 Wilhelm Koch
lich und geiſtlich, nicht ariſtokratiſch und gemein⸗geſellſchaftlich. Eine Kunſt⸗
form, die ſo ſtark ein Gemeinſchaftserleben vorausſetzt wie die Pindariſche,
entſteht naturgemäß nur dort, wo ſie von einem ſolchen getragen wird. Es iſt
nicht zufällig, daß in Deutſchland erſt ſeit der Zeit, da ſich an einigen kleineren
Fürſtenhöfen ein kultiviertes geiſtiges Leben zu entwickeln beginnt — ſeit dem
Jahrhundertende —, die Pindariſche Ode ein Nachbildung erfährt, während
ſie in Frankreich bereits 60 Jahre früher in hoher Blüte ſteht, als unter der
zwölfjährigen Regierung Heinrichs II. der Hof das geſellſchaftliche und litera⸗
riſche Zentrum des Landes iſt 31).
II. Die Tradition der deutſchen Pindariſchen Ode.
Horaz und die Ode der franzöſiſchen Renaiſſance.
Wenn der deutſche Humaniſt Conrad Celtis in einer lateiniſchen Ode in
alcäiſchem Versmaß 32) dieſe ein „Pindariſches Gedicht“ nennt, beweiſt er das
mit, daß er dieſe Huldigung ſeines Gönners Dalburg in Horaziſcher Form
als die gegebene Tradition der Pindariſchen Hymne empfindet.
Horaz erſcheint hier alſo erſtmalig als der Fortſetzer Pindars, als die jüngere
Form der griechiſchen enkomiſchen Ode und deren gleichwertiges Gegenſtück:
Dudum calenti pectoris impetu Sequens Achivos et Latios viros
Tuis volebam carmina laudibus Qui docta cunctis carmina saeculis
Referre, et aeternos honores Liquere, dum dignos Caemoenis
Pindarico celebrare plectro. Castaliis cecinere libros.
Dieſe Celtis'ſchen Verſe zeigen, wie Griechen und Lateiner für den modernen
Betrachter zu einer einheitlichen Geſamtfigur der Antike zuſammengefallen ſind,
deren Glieder nicht mehr als inhaltlich und kaum noch als zeitlich voneinander
verſchieden empfunden werden, ſo daß der die Antike imitierende Humaniſt,
wenn er Gönner und Freunde andichtet, dieſe Leiſtung — auch in lateiniſcher
Sprache und Form! — als Pindariſche Handlung anſehen kann. Pindar iſt
für die Humaniſten ein griechiſcher Horaz 53).
Aus der Lektüre des Lateiners entſtand die Vorſtellung von Pindar als dem
dunkleren, volleren und rhythmiſch bewegteren Horaz, dem Vorbild des be—
kannten römiſchen Lyrikers, der ihn zum Urbild des rauſchenden hymniſchen
Stiles erhoben hatte?“). Hierbei konnte den Horaz der Vergleich ſeiner
Dichtung mit der Pindars wohl zu dieſer Annahme berechtigen, ſah er doch
— im Gegenſatz zu ſeinen römiſchen Hauptſtädtern — dort die Götter und
Heroen handelnd auftreten, und bewunderte er doch bei Pindar die allein von
der Muſik herfließende Betonung und Fügung der Worte, während er das
31) Bourciez, Les moeurs polies et la litterature de Cour sous Henry II, Thèse fr.,
Paris 1886, S. 13 ff.
32) Libri Odarum quatuor, 1513, Buch IV, 1. Ode.
33) Vgl. ein beſonderes bezeichnendes Epigramm von Euricius Cordus auf Pindar in den Deli-
tiae Pot. Germ. II, p. 889 und eine charakteriſtiſche Außerung des Hugo Grotius in einem
Gedicht auf Jan Douſa in: Bibliotheca Grotiana, Gravenhage 1883, S. 48.
34) Horaz, Carm. IV 2.
Das Fortleben Pindars in der deut ſchen Literatur 201
aſſiſc plagiſche Metrum der Sprache nach ihren rezitatoriſchen Betonungs⸗
geſetzen bildete. Als aber die Nachwelt die Horaziſche Lyrik las, unterſchied ſie
das Urbild, von dem hier die Rede war, nicht mehr von feiner Nachbildung,
ſondern lieh dem Original die Züge ſeiner Kopie und konſtruierte in ihrer Vor⸗
ſtellung einen dem Horaz ähnlichen griechiſchen Lyriker mit gleichem Stil und
dem gleichen Kultur⸗ und Geſellſchaftsſtand. Dieſer Pindar war ein undeut⸗
licher Horaz.
Dieſe Grundeinſtellung zeigt ſich alſo bereits beim Beginne der Pindarnach⸗
dichtung im europäiſchen Humanismus und beruht zu einem bedeutenden Teile
auf der ſtärkeren Nachwirkung der römiſchen Literatur überhaupt, die die klaſ⸗
ſiſche Renaiſſance in den europäiſchen Ländern vorwiegend zu einer römiſchen
geſtaltet hat; zum Teil mag ſie auch darauf zurückzuführen ſein, daß die Horaz⸗
rezeption als die ältere der Rezeptionen der bedeutendſten Odendichter der Antike,
von Anfang an den Stil der modernen enkomiſchen Ode beeinflußt hat 35).
Dieſer Vorgang läßt ſich deutlich bei Pierre Ronſard verfolgen, der als primär
ſchöpferiſcher Dichter ſowie in ſeiner Eigenſchaft als Haupt der franzöſiſchen
Plèjade das Fortleben Pindars in der europäiſchen Literatur weſentlich ges
fördert hat und Ahne der deutſchen Pindariſchen Renaiſſance⸗ und Barock⸗
Ode iſt 36).
Als im Jahre 1550 Ronſards erſte Gedichtſammlung mit den zwölf Pinda⸗
riſchen Oden an der Spitze erſchien, erſtaunte der Hof 37) über die gewichtigen
Töne, die kunſtvolle Diktion und die gelöſte Sprache des Neuerers, der ſich
offenſichtlich von der Marotſchule entfernte und auf dieſe Trennung ſtolz war.
Hier bot in einer Zeit, in der eben noch die Gemeinſamkeit von Ode und Chan⸗
ſon feſtgeſtellt und als Vorbilder gleichmäßig Pindar wie Saint⸗Gelais emp⸗
fohlen worden waren ?9), ein faſt unbekannter Dichter unter völlig neuer In⸗
anſpruchnahme des Wortes Ode eine Reihe Gedichte in Pindariſcher Manier
dar, und huldigte ſeinem Souverän und dem höchſten Adel des Landes ſowie
ſeinen nächſten Freunden in einer geſängehaft⸗prophetiſchen, antik⸗hymniſchen
Weiſe, ſo daß er mit Recht den Namen eines franzöſiſchen Horaz oder Pindar
zu verdienen ſchien 39).
Pindar war Ronſards Jünglingstraum 40) vom Landesſänger, Verherrlicher
einer ariſtokratiſchen Gefellſchaft von ritterlichen Königen, fürſtlichen und be⸗
gönnernden Herren und Damen, ſein Ideal einer rauſchenden Enkomiaſtik, einer
35) Außer dem bereits zitierten Buche von Stemplinger vgl. hierzu ſeine Arbeit: Das Fortleben
der Horaziſchen Lyrik ſeit der Renaiſſance, 1906, die ein zuſammenfaſſendes Kapitel über das Fort⸗
leben der römiſchen Dichtung enthält.
86) > erſten Pindariſchen Oden der Renaiſſance dichtete der Italiener Gian Triſſino (1478
bis 15
37) Vgl. Bourciez, S. 207 ff.
88) Die betreffende Stelle der Art poétique von Thomas Sibillet abgedruckt bei Laumonier,
Ronsard Poètè Lyrique, Paris 1909, S. XV ff.
39) Laumonier, S. 296 ff.
40) Die Pindariſchen Oden entſtanden während feiner Lehrjahre am College Coqueret unter
8 ig feines Lehrers Dorat, der ihm auch die griechiſchen Oden vorüberſetzte; vgl. Laumonier
202 Wilhelm Koch
Steigerung der Huldigungsmanier des Horaz, des Vorbilds jedes Mäzenaten⸗
betriebes der Renaiſſance. Ronſard denkt ſich unter dem von ihm gebildeten
Worte „pindariser“ die lobende Erhebung eines rühmenswerten Ereigniſſes
aus der feudalritterlichen Welt des Pariſer Hofes und ſeines Königs: einen
militäriſchen oder diplomatiſchen Sieg, einen günſtigen Friedensſchluß oder ein
berühmtes Duell —, daneben eine enthuſiaſtiſche Verehrung mächtiger Gönner
und berühmter Freunde 21). Immer herrſcht in dieſen „Pindariſierungen“ die
Tendenz vor, durch geſchickte Aneinanderreihung ſcheinbar auseinanderliegender
Motive den eigenen poetiſchen Ruhm erſtrahlen zu laſſen. Ronſard betont mit
Abſicht — faſt in jeder Ode — das Außergewöhnliche ſeines Verſuches und ver⸗
rät dadurch deſſen literariſche Herkunft. Damit iſt der Grund für das Preziöſe
an Ronſards Unternehmen angedeutet; Ronſards Pindariſche Oden blieben im
Lande ohne Bedeutung für deſſen geiſtige Entwicklung, weil das antike Pathos
auch durch eine Fülle klaſſiſcher Reminiſzenzen ſich nicht zurückgewinnen ließ.
Die Lage des Erlebniſſes iſt für den modernen Pindarnachahmer eine grundſätz⸗
lich andere wie für den Dichter der archaiſchen Zeit. Der Moderne verwechſelt
leicht „Gemeinſchaftsſtimme mit dem Wort des freien Geiſtes“ [Gundolf 42)
und verdeckt den Riß zwiſchen ſich und den andern durch perſönliche Fähigkeit
zum Gemeinſchaftspathos. Gerade die perſönliche Begabung iſt aber
für Pindars Erfolge unwichtig und für Ronſard ausſchlaggebend. Die moderne
Zeit beurteilte ſein Gedicht als eine vortreffliche „Pindariſierung“, wenn der
Dichter einen einfachen Stoff in möglichſt komplizierter Form zum Ausdruck
brachte; Ronſard nannte dieſe poetiſche Technik „I'humeur Pindarique“ 23),
„soin Pindarique“ ) und bezeichnete feine Arbeit als „brouiller mes vers
à la mode de Pindare“ 45) als einer der „ne s'egare Des vers repliez de
Pindare —“ 46). Es beſteht alſo der direkte Gegenſatz zur antiken Pindariſchen
Ode: während jetzt die Kunſt des Poeten erſtrahlen ſoll, wirkte ſich damals nur
die Möglichkeit der Hineinſtellung der Tagesereigniſſe in den abſoluten Raum
des Mythos — alſo der Gegenſtand ſelber — aus.
Die 14 Pindariſchen Oden mit der Dreiteilung der Geſamtſtrophe haben von
dem Pindariſchen Vorbilde den Wechſel der metriſchen Struktur entliehen, der eine
freie Nachbildung der griechiſchen Chorlyrik bedeuten kann““). Ronſard wendet
ſie nur auf Perſonen an, während er in anderen — hauptſächlich dem Horaz
nachgebildeten — Gedichten auch die Quelle ſeines heimatlichen Parkes oder
ſeine Leier oder ähnliche lyriſche Gegenſtände panegyriſch beſingt.
Pindariſcher Tenor liegt außerhalb des wirklichen Kräftebereiches Ronſards,
1) Oeuvres complets de P. de Ronsard, par Paul Laumonier, Paris 1914—1919,
Tome deuxième, p. 77—164.
2) „Antonius und Kleopatra“ in: Jahrbuch der Shakeſpeare⸗Geſellſchaft 1926.
5) Oeuvres T. 1, p. 130.
) Ebd. 6, p. 238.
25) Ebd. 2, p. 241.
0) Ebd. 2, p. 380.
7) Über die Metrik der Pindariſchen Oden des Ronſard und ihre Beziehung zur Typographie der
Renaiſſance⸗Ausgaben vgl. Laumonier p. 705.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 203
wie er in feinen Sonetten und leichten Liedern als echte dichteriſche Forms
gewalt zu ſpüren iſt. Ihm, dem Romanen, liegt der Ton des Horaz, des Ovid,
des Petrarka und ſeiner Schule, blutmäßig näher als das mythenträchtige, im
Grunde religiöfe Gedicht Pindars, deſſen Nachahmung ein Teil des Tributes
bildet, den Ronſard der von ihm ſelbſt herbeigeführten Literaturſtrömung
zollte. In dieſen Gedichten, die als Verſuch der Helleniſierung der enkomiaſtiſchen
Ode des Horaz und ſeiner Epigonen zu betrachten iſt, erhebt ſich Ronſard durch
äußere Nachbildung der Pindariſchen Hymne und durch einen Ton, den man
— plhilologiſch geſehen — als Pindariſch bezeichnen kann, eine kurze Strecke
über Horaz, um alsbald wieder in den leichteren Ton des Horazepigonen zurück⸗
zugleiten 8). Vor ihm kannte man in Frankreich bereits Pindariſche Oden der
Neulateiner 29) ; an dieſen Vorgang knüpft Ronſards Pindarnachahmung orga⸗
niſch an: ſie iſt eine Nationaliſierung des lateiniſchen Vorbildes, zurückgeführt
auf ſeine griechiſche Urform.
III. Die deutſche Pindariſche Barock⸗Ode.
1. Die deutſche Renaiſſance⸗Ode bei Weckherlin.
„Die franzöſiſche geſellige Ode, wie Ronſard ſie geſchaffen hatte, war im
weſentlichen horaziſch“ [Viétor, Geſch. d. d. Ode S. 51 5%]. Indem die Pinda⸗
riſche Ode in dieſer Definierung einbegriffen wird, iſt ſie die vornehmſte Klaſſe
dieſer Odengattung. Als ſolche tritt fie in die deutſche Dichtung des 17. Jahr⸗
hunderts, die hauptſächlich von Gelehrten und Beamten geſchaffen wird, ein und
erreicht zwei Höhepunkte: einen vorbarocken, weltlich⸗gerichteten bei Weckherlin,
und einen barocken, geiſtlich⸗gerichteten bei Gryphius.
Weckherlin, ſeiner Anſtrengung aber nicht ſeiner Auswirkung nach das
deutſche Gegenſtück des Franzoſen Ronſard, verſuchte in Deutſchland als einzel⸗
ner und dazu noch unter ungünſtigen inneren Bedingungen des ſprachlichen
Ausdrucks was in Frankreich einer ganzen Richtung nicht gelang: die Geſin⸗
nung einer modernen Hofariſtokratie mit antiker Weihe zu verſehen und in
dieſer Art darzuſtellen, um eine Renaiſſance antiken Lebens darin auszudrücken.
Weckherlin iſt mit dieſer — bei ihm natürlich gewachſenen — Geiſteshaltung
der einzige unter den deutſchen Dichtern ſeines Jahrhunderts; ich mochte ihn
daher den deutſchen Renaiſſancedichter nennen und ſeine Pindariſchen Oden als
deutſche Renaiſſance⸗Oden bezeichnen.
Man weiß, daß Weckherlin die Antike durch die Vermittlung der Franzoſen
geſtaltend auf ſich einwirken ließ 51), daß er weiterhin die griechiſche Sprache
nur ungenügend kannte 52), und es iſt als ſicher anzunehmen, daß er Pindar im
) Oeuvres 2 p. 187; in dieſem Gedicht — am Anfang des zweiten Odenbuches 1550
— ſtehen die bezeichnenden Verſe „La divine grace | Des beaux vers d' Horace / Me plaist
bien encor“.
) Von Salmon. Macrin, Conrad, Jean Second; vgl. Laumonier p. XXXIII.
50) Vgl. auch die Definition der Pindariſchen Ode des Ronſard daſelbſt S. 72.
81) Vgl. zu dieſem ganzen Abſchnitt Viktor, a. a. O., S. 51-59 und S. 73/74.
82) Vgl. Wilhelm Beetz, W's Beziehungen zur antik. Literatur, Diff. Tübingen 1903.
204 Wilhelm Koch
Urtext nicht geleſen hat. Seine Vorſtellung von Pindar haben Ronſards theore⸗
tiſche Außerungen, in erſter Linie deſſen Praxis beſtimmt, hinzu kommt die Lek⸗
türe und die Rezeption des Horaz, die ihren Einfluß von Beginn an bei
Weckherlin geltend macht. Wann, wodurch und in welcher Abſicht Weckherl in
zur Pindariſchen Ode geführt wurde, iſt in dieſem Zuſammenhange jedoch nicht
ſo wichtig wie die Betrachtung des Ergebniſſes ſelber, das ſich als ſelbſtändiges
und geiſtiges Ganzes mit eigenem Anſpruch der Beurteilung dem Betrachter
darbietet.
Weckherlin beginnt das „pindariſieren“ — wie er es im Anſchluß an Ronſard
nennt — im gleichen Alter wie Ronſard, in der Fremde, in Frankreich, als
Beweis ſeiner bewußt deutſchen Geſinnung und einer Emporhebung der deut⸗
ſchen Dichtung zu einem Ausdruck in klaſſiſcher Form, wie ſie die romaniſchen
Länder Italien und Frankreich bereits zu dieſer Zeit in vollendetem Maße be⸗
ſaßen. Die Perſönlichkeit, an die er ſeine erſte Pindariſche Ode richtete, iſt ein
franzöſiſcher Edelmann mit künſtleriſchen Neigungen, den der Dichter während
ſeines Aufenthaltes in Frankreich wohl näher kennen und ſchätzen lernte.
Weckherlin beginnt alfo mit dem gleichen in deutſcher wie Ronſard in fran⸗
zöſiſcher Sprache: ſeine erſte „Pindariſierung“ widmet er einem franzöſiſchen
Grandſeigneur. In der Folge hat er dies nicht mehr getan; er wählte ſich dann
Deutſche für dieſe höchſte Form der Huldigung eines damaligen Poeten aus.
Dieſe Ode auf den Herrn von Montmartin 53) zeigt noch nicht alle Elemente
ſeiner Pindariſchen Oden, wie ſie Weckherlin für dieſe Gattung teils übernahm,
teils hinzuſchuf. Außeres iſt von Ronſard übernommen: Dreiteilung der Ge⸗
ſamtſtrophe und die metriſche Struktur; das wenige an eigener Erfindung, das
der junge Dichter beigetragen hat, läßt aber bereits ſcharfe Züge ſeines Charak⸗
ters aufleuchten: der ſcharfe Ausfall gegen alle Verſpötter deutſcher Dicht⸗
kunſt 54), ein geſchraubtes Lob für den Verzicht auf weltliche Untugenden 55)
— ein Thema, über das er ſo oft redet —, und das beſcheidene Anbringen per⸗
ſönlicher Nöte 58). Im ganzen iſt das Gedicht eine wenig gut gelungene Kompi⸗
lation franzöſiſcher Renaiſſeance⸗Poeſie 57).
Die Pindariſche Ode, die uns als nächſte bekannt iſt, iſt das Carmen auf
Eliſabeth von der Pfalz, der Gattin des „Winterkönigs“ Friedrich, anläßlich
ihres Einzuges 1613 in Heidelberg ds). Hier zeigt ſich bereits Weckherlins ganzes
poetiſches Können, ſeine feine höfiſche Dichtkunſt, die die Möglichkeiten der
Pindariſchen Hymne zu einer kunſtvoll galanten Verbeugung vor der einziehen⸗
den Fürſtin benutzt. Rhein und Neckar werden zu Zeichen der die Fürſtin emp⸗
fangenden Landſchaft und reden ſie mit des Dichters Worten und Wünſchen an.
8 Georg Rudolf Weckherlins Gedichte, hrsg. von H. Fiſcher, BLV. 199, 200, 245, Nr. 40,
. 130 ff.
86) Ebd. V. 5 12.
55) Ebd. V. 81-92.
5, Ebd. V. 149 — 160.
7) Vgl. die Zuſammenſtellung bei Fiſcher, Bd. 2, S. 475.
88) Fiſcher Bd. 1, Nr. 43, S. 90 ff.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 205
Das Gedicht iſt bezeichnend nach Geſamtſtrophen abgeteilt und dieſe ſelber
ſchwingen wie Sinuskurven mit Anhub, Höhe und Abklang.
1. Geſamtſtrophe: ee des Rheins über die Vorbereitungen zum Empfang der
ürſtin.
1. Str.: Des Rheins Verdruß darüber in ſeiner Grotte.
1. Antiſtr.: Meugieriges Auftauchen aus der Flut.
1. Epode: Beſänftigung ſeiner Furcht durch Anblick des Gottes Neckar mit den
Flußnymphen.
2. Geſamtſtr.: Erſtaunen des Neckars über die Unwiſſenheit des Rheins.
. Str.: Verwundertes Fragen und Erklären.
2. Antiſtr.: Emphatiſche Schilderung der Vorzüge der Fürftin.
2. Epode: Hinweis auf den Nutzen dieſer Frau und Aufforderung zur Huldigung.
J. Geſamtſtr.: Die beiden Götter huldigen der Fürſtin unter dem Volk.
J. Str.: Aufbruch.
J. Antiſtr.: Glanz der Perſon der Fürſtin.
J. Epode: Glanz und Jubel ihrer Umgebung.
4. und 5. Geſamtſtr.: Anrede der beiden Flußgötter.
4. Str.: Angenehmſte Empfindungen bei der 5. Str.: Ermahnung zur Liebe für die
Fürſten Anblick. neue Heimat.
4. Antiſtr.: Unmöglichkeit ihren Reiz ſchil⸗ 5. Antiſtr.: Verheißung tapferer Söhne.
dern zu können. 5. Epode: Segnender Abſchied.
4. Epode: Glückliches Auge des Gatten.
Weckherlin hat das konventionelle Motiv der Allegorie der beiden Flußgötter
mit jener Lebendigkeit und Naturaliſtik der Schilderung umgeſtaltet, die ſeine
beſten Gedichte in wahrhaft vollendetem Maße beſitzen 59); man höre, wie ſich
der Rhein aus Ärger über die noch unerblickte neue Herrin benimmt:
Hat er, ligend ab ſolcher lieb ( die Liebe des Fürſten zu feiner
Gattin beklagend)
In feinem gewölbe verdroſſen,
Ein ſolchen zeherfluß vergoſſen,
Daß ſeine herrſchaft davon trüb. 60)
Handlung und Aufbau des Gedichtes ſind einfach, klar vorgeſtellt und markant
gezeichnet; dazwiſchen ſpritzt aber Bildüberladung bei der Darſtellung eines
ſimplen Gedankens in Geſtalt gepreßter Wortfülle über den gedanklich ſorgſam
abgemeſſenen Umkreis der einzelnen Strophen; man höre, wie der Dichter den
Ruhm der künftigen Prinzen ſchildert:
Der groß Adler ſich zu ergötzen
Würt ſich gern auf ihren Schilt ſetzen.
Alsdan ſoll ihr gerechter Zorn
Des Monds zwayſpitzig ſtoltzes horn,
Wie auch den getriplierten Cronen
In beedem Caeſariſchem ſitz
Zu des Höchſten ehr nicht verſchonen
Mit ihrer wöhr und lantzen ſpitz. 1)
Das Übermaß von innen ſprengt das Maß von außen, der Vers iſt in Mißklang
mit der Strophe, die Strophe mit der Geſamtſtrophe und ſchließlich befindet ſich
der Drang der überſatten Sinne des Dichters in Zwieſpalt mit der auferlegten
80) Vgl. den Umriß feiner Perſönlichkeit von Friedrich Gundolf, Martin Opitz, 1923, S. 21 ff.
0) Nr. 43, V. 5-8.
61) Ebd. V. 209 — 216.
206 Wilhelm Koch
Bindung an die gleichgeſchwungenen Bögen der Pindariſchen Form. So rebel⸗
liert etwas in Weckherlin gegen einen vermeintlichen Zwang; ſo wird dem
Inneren dieſes Renaiſſance⸗Dichters der Gipfel dieſer Dichtung: die Pindariſche
Ode nicht vertraut.
Weckherlin hat ſich mit dieſem Gedicht ſehr große Mühe gegeben; unter den
vier Pindariſchen Oden ſeiner erſten Sammlung iſt es dasjenige, welches am
meiſten Originalität beſitzt 52). Damit hat er die kunſtvolle Manier des Pinda⸗
rikers erlernt: ſeine übrigen Pindar⸗Oden beſitzen alle die überlegte Einteilung
und die gleichfließenden Bögen der Geſamtſtrophe. Er verſteht jetzt, „die
Doriſche harpf recht zu zwicken“ 63) und ihr den „dreymal gedreyten ſchall“ 64)
kunſtgerecht zu entlocken. Die Ode in der Ausgabe letzter Hand auf die Land⸗
gräfin von Heſſen Amalie Eliſabeth 6°) beginnt mit einem pompös einſetzen⸗
den Präludium, das in hymniſch gehobenem Tone das falſche Glück des
Tyranen ausmalt, worauf der Dichter in kunſtvollem Diminuendo zum Lob der
klugen und energiſchen Fürſtin überleitet. Die ſpäteſte ſeiner Pindariſchen
Oden 66) — in England auf ſeinen Freund Heinrich Bilderbeck geſchrieben —
zeigt eine etwas erſtarrte Manier der Anlage: die erſte und letzte Trias des Ge⸗
dichtes bedenkt in wehmütiger Tonart den alten Freund mit einem Lobe wegen
ſeiner treuen deutſchen Redlichkeit, die durch ſchlimme Zeiten hindurch gedauert
habe; die drei eingeſchloſſenen Geſamtſtrophen ſind konventionelle Reden
über die wahre Tugend. Das gehörte zu Weckherlins Konventionspflichten;
ſeine Pindariſchen wie ſeine höfiſchen Lobgedichte leben von dieſem zähen
Tugendatem. Die Hälfte ſeiner Pindariſchen Oden ſind Empfehlungen an eine
Fürſtlichkeit; darin wird wohl ſtrenger proteſtantiſcher Tugendeifer beſonders
erwünſcht geweſen fein. Das Stoiſche, Horaziſche und Ronſardiſche Vorbild
hat die moraliſierende Tendenz dieſer Gedankenlyrik vorgezeichnet.
Der Ausdruck „Le premier de France / J ay pindarisè“ ſtand bereits bei Ron⸗
ſard in einer unpindariſchen Ode“); dort ſollte dieſer Ausſpruch ſich nicht auf
den Inhalt des betreffenden Gedichtes beziehen. Bei Weckherlin ſteht die Strophe
„Zwar bedarf es ſich auch gar nicht / Deinetwegen zu pindariſieren / Und aus
einem alten gedicht / Ein newes lob zu deſtillieren“ ebenfalls in einer unpin⸗
dariſchen Ode, die aber trotzdem den Charakter einer Pindariſchen hat 58). Es iſt
alſo klar, was Weckherlin unter dieſer Bezeichnung eines Gedichtes verſteht:
dieſes Wort iſt für ihn der Ausdruck für die höfiſche Enkomiaſtik ſchlechtweg!
Wir gehen kaum ſehl, wenn wir die größere Anzahl ſeiner höfiſchen, unpin⸗
62) Nr. 44, 49 und 50 find inhaltlich zu großen Teilen Nachbildungen franzöſiſcher Renaiſſance⸗
Poeſie (vgl. Fiſcher Bd. 2, S. 474 ff.), während für die 230 Zeilen des Gedichtes auf die Pfalz⸗
gräfin Eliſabeth nur an einer Stelle — V. 73 ff. — eine Anlehnung an die Plejade feſtgeſtellt iſt
(Fiſcher ebd.).
63) Fiſcher Bd. 1, Nr. 44, V. 87.
64) Ebd. V. 53.
65) Fiſcher Bd. 2, Nr. 281.
ee, Ebd. Nr. 284.
7) Oeuvres 2 p. 186.
68) Fiſcher Bd. 1, Nr. 48, V. 38.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 207
dariſchen Lob⸗Oden zu feinen „Pindariſierungen“ hinzurechnen 59). Der Defi⸗
nition Viétors, nach der die „Pindariſche Ode bei Weckherlin mit der höfiſchen
Ode alles gemein hat, außer der Strophenform“ 79) fügen wir die Erweiterung
hinzu: ſie hat außerdem eine dieſer Strophenform entſprechende innere Anord⸗
nung ihres Stoffes. Dieſe findet ſich nicht in den einfachen höfiſchen Lob⸗Oden,
die alle thematiſch durchkomponiert ſind.
Als Weckherlin zu Beginn des großen Krieges Deutſchland verließ, ſchied da⸗
mit der Hauptvertreter deutſcher Renaiſſance⸗Dichtung aus der Entwicklung der
deutſchen Literatur aus. Weckherlin ging nach England, bevor das Buch von
der „teutſchen Poeterey“ erſchien. Mit ihm ſchied die Pindariſche Ode in höfi⸗
ſchem Geiſt aus Deutſchland; die Gattung ging in bürgerliche Beamten⸗
hände über: dieſer Wechſel ihrer Beſitzer läßt bereits Schlüſſe auf ihr neues
Geſicht zu. Das Buch von der „teutſchen Poeterei“ tritt in neuer Form noch
einmal das Vermächtnis der franzöſiſchen Plejade an. Es kümmert ſich dabei
nicht um die bereits vorliegende deutſche Umſchmelzung in dem Werke Weckher⸗
lins —, es kann ſich nicht darum kümmern, weil es nach einem anderen Grund⸗
geſetz verfährt. Aber die begonnene deutſche Rezeption der Pindariſchen Ode
iſt damit unterbrochen und erreicht nie mehr den vollen Ton einer wirklichen
Gemeinſchaftsſtimme. Aus drei Gründen ändert ſich in der Folge die geiſtige
Struktur der Pindariſchen Ode in Deutſchland: 1. weil Opitz aus einem
anderen Kunſtprinzip heraus nicht bei Weckherlin anſetzen kann, 2. weil die
Dichtung aus den Händen des Hofmannes in die des Gelehrten und mittleren
Beamten übergeht und 3. weil der einſetzende Krieg die Phyſiognomie der
Deutſchen verändert. Aber dieſe Gründe waren auch mitbeſtimmend für eine
gänzlich andere, großartige Ausdrucksmöglichkeit in der Form der Pinda⸗
riſchen Ode.
2. Die Gelegenheits-Ode bei Opitz und ſeiner Schule.
Die Pindariſche Ode des Opitz und ſeiner weitverzweigten Epigonen gewährt
Einblicke in einen anderen Lebensraum als in den Weckherlins oder Ronſards,
obwohl Opitz an dieſen literariſch anknüpft. Damit iſt zugleich ausgedrückt,
daß ſich die Vorſtellungen von einer Pindariſchen Ode ſeit den Renaiſſance⸗
Dichtern gewandelt haben. Entſcheidend ſür dieſe Wandlung iſt aber nicht eine
neue Entdeckung der Pindarforſchung, die ein verändertes Verfahren in der Nach⸗
bildung des Dichters ergäbe, ſondern eine Veränderung der Erfahrung von
preiſungswürdigen Gegenſtänden. So verſchiebt ſich das Gehaltsniveau dieſer
Dichtungsgattung zugleich mit dem Lebensraum ihrer Träger. Die ariſto⸗
kratiſch⸗höfiſchen Motive Ronſards — und noch Weckherlins — bewirkten
eine chevalereske Tonart der Pindariſierungen; ſie berühren ſich in dieſem
Punkte mit den griechiſchen Gedichten ſelbſt, die gleichermaßen einer ritterlichen
66) Die höfiſchen Lob⸗Oden 46, 47, 48, 51, 78, 79, 80, 81, 82, 85, 86, 88, 271, 272, 280
find zu dieſen in weiterem Sinne pindarifierenden Oden zu rechnen, da fie dieſelben Formelemente
— außer der markanten Gliederung — beſitzen; vgl. auch hierzu Viétors Erklärung S. 73.
70) Viétor, a. a. O. S. 54.
208 Wilhelm Koch
Welt entwachſen ſind. Die nicht mehr auf einen beſtimmten Stand oder auf
ein beſtimmtes Gebiet zugeſchnittenen, ſondern gerade die allgemeinſten
menſchlichen Begebenheiten — Geburt, Vermählung und Tod — bevor⸗
zugenden Pindariſchen Gedichte des Opitz und ſeiner Freunde dagegen haben
infolgedeſſen auch keinen markant beſtimmten Ton und keinerlei charakteriſtiſche
Momente, ſondern den ganz unterſchiedsloſen, uniformen Verſtandeston der
neuen Poetenkaſte. Die Leere der privaten Erlebniſſe dieſer bürgerlichen Ge⸗
lehrten und Beamten zeigt ſich in Gedichten, denen — gerade noch die wichtig⸗
ſten — dieſer Begebenheiten als Anläſſe zugrunde liegen. Die Pindariſche
Form verlangt zu ihrer Exiſtenzmöglichkeit in jeder Form irgendeinen Inhalt
eines gemeinſchaftlichen Erlebens, weil ſie eine beſtimmte gemeinſame Geiſtes⸗
ſpannung — ſchon durch ihre gebräuchlichſten äußeren Teile: Anrede, Gnomik
und Sagenteil — zum Ausdruck zu bringen ſucht. Dieſes gemeinſame Er⸗
leben der Barockpoeten iſt nun gerade das Nicht⸗Erfahren wertvoll hymniſch
Gebilde umſetzen zu können. Hiervon ſollen des Gryphius Pindariſche Oden
ausgenommen werden.
Die Pindariſchen Oden der Opitzianer bleiben auch unter den veränderten
Umſtänden inſofern Geſellſchaftsdichtung und Ausdruck öffentlicher Geſamtheit,
als ſie über diejenigen Ereigniſſe berichten, die am meiſten die Offentlichkeit
intereſſieren: Hochzeiten und Sterbefälle. Mehr als die Hälfte aller Pinda⸗
riſchen Oden im 17. Jahrhundert ſind Begräbnisgedichte; dann folgen die
Hochzeitsgedichte, dann Glückwunſchgedichte, Neujahrsgedichte und enkomia⸗
ſtiſche Gelegenheitsgedichte. Die Geringfügigkeit der Anläſſe iſt zu einem be⸗
ſtimmten Teil an der Geringfügigkeit dieſer Dichtungen Schuld; der gewohn⸗
heitsmäßige Gleichklang bürgerlicher Lebensabläufe mit ſeinem normalen
Rhythmus Geburt — Hochzeit — Tod bewirkt ein gleichartiges unterſchieds⸗
loſes Pathos einheitlichen Ausdruckes und einheitlicher Temperatur in den
allermeiſten dieſer pindariſierenden Gedichte.
Opitz iſt der Organiſator dieſer Literaturgattung im 17. Jahrhundert und
beſtimmt ihre poetiſche Anlage. Seine Oden werden deshalb hier als Typus der
pindariſierenden Gedichte des 17. Jahrhunderts — abgeſehen von denen des
Gryphius — behandelt.
Aus äußeren und aus inneren Gründen knüpft Opitz in ſeinen Pindariſchen
Oden nicht an die Tradition: an Weckherlin, an. Weckherlin dichtet für die
Fürſten und zum Urteile der Fürſten 71), Opitz hingegen in erfter Linie für
feine Freunde, den Kreis von Dichtern und Gelehrten, die die deutſche Lite⸗
ratur neuſchaffen wollen. Opitz erachtet die Begebenheiten aus ſeiner Welt
in gleicher Weiſe für würdig, durch eine Pindariſche Ode verherrlicht zu
werden, wie Weckherlin es mit den Ereigniſſen aus ſeiner Welt- und Men⸗
ſchenerfahrung tat. Opitz dichtet alſo eine Pindariſche Ode auf die Hochzeit
ſeines Freundes Nüßler und ein gleiches Gedicht auf den Tod eines Bekannten,
8 Vgl. die Vorrede zu den „Gaiſtlichen und Weltlichen Gedichten“ 1641; Fiſcher Bo. l,
. 291 ff.
0
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 209
Adam von Bibran 2). Weckherlin unternahm die Kompoſition der Strophen⸗
form ohne die Betonung des einzelnen Wortes geregelt zu haben. Opitz da⸗
gegen baut organiſcher von der Betonungsregelung der einzelnen Wortſilben
aus auf. Er geht hierin einen gänzlich anderen Weg als Weckherlin zur Er⸗
reichung desſelben Zieles: Weckherlin intereſſiert ſich allein für die große Form,
die künſtleriſche Renaiſſance⸗Gebärde der Franzoſen, weil er einen verwandten
heroiſchen Ton dabei vernimmt, Opitz dagegen intereſſiert ſich primär über⸗
haupt nicht für die Pindariſche Gedichtform, weil er mit ihr nichts anzufangen
weiß, ſondern nimmt ſie nur im Vorbeigehen mit dem übrigen Beſtand des
Ronſardſchen Erbes auf. * |
Den beiden Pindariſchen Oden des Opitz käme nicht die eminente Wichtig⸗
keit zu, wenn fie nicht im Buch von der „teutfchen Poeterei“ ſtünden und im
17. Jahrhundert von allen Dichtern Pindariſcher Oden mehr oder weniger
getreu kopiert worden wären. Sie behaupten durch dieſe Stellung die Rolle
eines vorbildlichen Kanons und ſind auch von uns als ſolche zu betrachten. Das
Hochzeitsgedicht — drei Geſamtſtrophen, die Strophen 16zeilig und jambiſch,
die Epoden 12zeilig und trochäiſch — liefert allein deutbare Momente für das
Verfahren des Opitz, da das zweite Gedicht einer unbekannten italieniſchen
Vorlage folgt und es alſo ungewiß bleibt, inwieweit darin eigenes Gedanken⸗
gut von Opitz vorliegt.
Der Gedankengang des Hochzeitgedichtes iſt nicht einer Ode Ronſards entnom⸗
men, wenn auch die zweite Geſamtſtrophe — abgeſehen von ihrer Epode — An⸗
Hänge an eine Ronſard Strophe aufweiſt “). Nachdem Opitz erklärt hat, welchen
Zwecken ſeine Dichtung im allgemeinen und ſeine Pindariſche Ode im beſon⸗
deren dient (Zeile 1—21), wird das Thema des Gedichtes genannt: die Ver⸗
mählung des Freundes und Dichters Nüßler, welche die vorher nur in Gedichten
ausgedrückte Sehnſucht des Bräutigams erfüllt (22—32). Die Epode bringt
eine allgemeine Bemerkung an: Liebe iſt der Lohn der Tugend (33—44). Mit
der zweiten Geſamtſtrophe beginnt eine ſtoffliche Einlage: eine Schilderung der
Rolle, die die Liebe bei Gott, Welt, Elementen, Natur, Tieren und Menſchen
einnimmt (45 — 76), wobei die Epode wieder die Bemerkung daran knüpft, daß
nur tugendſame Liebe die richtige ſei (77 —88). Der Anfang der dritten Ges
ſamtſtrophe kehrt zum Thema der Ode zurück (89—96) und ſchließt konventio⸗
nelle Lobſprüche über die Braut daran an (97 —104). Darauf wird zuerſt in
direkter Sprache, anſchließend in Metaphern vom Glück des künftigen Ehe⸗
gatten geredet (105 — 116), und ebenfalls mit allgemeiner Bemerkung ge⸗
ſchloſſen (117—120); die letzte Epode bringt den üblichen Scherz auf die be⸗
vorſtehende Hochzeitsnacht (121—132).
Dieſes Gedicht iſt ſowohl ſtreng nach Geſamtſtrophen gegliedert, als auch
72) Buch von der Teutſchen Poeterei, Breslau 1624 (Haller Neudruck Nr. 1, 1913), S. 49 ff.
72) Die Angaben Keppelers (Die Pindariſche Ode in d. deutſch. Poeſie des 17. u. 18. Ihdts.,
Diff. Tübingen, S. 2), wonach der Inhalt dieſes Gedichtes der Ode Ronſards I. 1. Str. 2 nach⸗
gebildet iſt, muß auf einem Verſehen beruhen; es läßt ſich eine Anlehnung an dieſe Vorlage nur in der
zweiten Strophe des Opitzſchen Gedichtes feſtſtellen. Ein ähnliches Verſehen muß auch bei der Angabe
Vieétors (a. a. O. S. 76) vorliegen, wonach das Gedicht gedanklich Ronſards Ode I. 11 folgen ſoll.
Suphorion XXVIII. 14
210 Wilhelm Koch
mit allen Beſtandteilen einer antiken Pindariſchen Ode verſehen. Daß Opitz
dieſe Wiſſenſchaft allein aus den pindariſierenden Oden des Ronſard geſchöpft
hat, halte ich nicht für möglich, denn dort ſind weder markante Strophen⸗
einteilungen noch eine ſo ſtrikte Anordnung Pindariſcher Odenelemente, wie
ſie dieſes Gedicht des Opitz vorweiſt, vorhanden. Zu dieſer Einteilung ſeiner
Ode muß Opitz vielmehr die Philologie zu Hilfe genommen haben )).
Eine Kenntnis des griechiſchen Originals gilt für ausgeſchloſſen 75). Aber
es iſt durchaus möglich, daß er die Pindar⸗Ausgabe des Wittenberger
Philologen Erasmus Schmid vom Jahre 1616 7% zur Abfaſſung feiner Pin⸗
dariſchen Oden herangezogen und die dort vor den Oden in lateiniſcher Sprache
angegebenen Odenſchemata eingeſehen hat““). Es läßt ſich ſogar eine Bemer⸗
kung anfügen, die beſagen könnte, daß Opitz zu ſeinem Pindariſchen Hoch⸗
zeitsgedicht ſich an die Schmidſche Dispoſition der I. Pythien gehalten hat.
Schmid erklärt den Anfang dieſer Pindariſchen Ode folgendermaßen: „Exor-
dium, a laudibus Citharae, quam commendat — a materia, ab Inventore
Apolline“ 78) — uſw. Da nun Opitz an den Anfang feines Gedichtes ebenfalls
eine Empfehlung ſeiner „Cithara“ („Du güldne Leyer, meine ziehr“ —) mit
mehrfachen Begründungen (ähnlich wie Pindar ſelbſt!) geſtellt hat, liegt in Ver⸗
mutung eines Einfluſſes des Anfangs der Pindarode Pythien I nahe“). Auch
eine Entſprechung der folgenden Teile der beiden Gedichte läßt ſich feſtſtellen
(nach der Dispoſition des Erasmus Schmid):
Pindar, Pythien I: Opitz:
Exordium — a laudibus Citharae Zeile 1-21
Propositio — Vorſtellung des Helden „ 22 — 24
Confirmatio — Begründung „ 25-44
Apostrophe — Abſchweifung „ 45-88
Epilogus — Schlußrede „ 89-132.
Die Annahme, daß Opitz durch ſeine Pindariſierungen neben einer dichteriſchen
auch an eine gute philologiſche Leiſtung der Nachbildung eines antiken Autors
gedacht hat, fällt nicht ſchwer, wenn wir uns die bekannten Grundeigenſchaften
des Opitzſchen Strebens vor Augen halten; denn an rein dichteriſchen Momenten
weiſt dieſe Ode nichts auf. Da wird in logiſcher Folge Begründung eines Ge⸗
74) Darauf ſcheint auch der ſeiner Erklärung des Pindariſchen Odenſchemas (Poeterei, Kap. 7)
angehängte Nachſatz hinzudeuten: „... wiewohl die Gelehrten; und denen Pindarus bekandt iſt,
es ohne diß wiſſen, und die andern, die es aus jhm nicht wiſſen, werden es aus dieſem berichte ſchwer ⸗
lich wiſſen lernen.“
75) Vgl. Richard Alewyn Vorbarocker Klaſſizismus und griech. Tragödie, Heidelberg 1926: die
Ergebniſſe ſeiner Unterſuchung über die griechiſchen Kenntniſſe des Opitz.
70) JIINAAPOY xegiòͤos, hoc est Pindari Lyricorum Principis OI. LF. NE. IZ., 16 16.
77) In einer vorgedruckten Erklärung „De Carminibus Lyricis“ gibt Schmid auch eine inter
eſſante und ſeine Einſtellung kennzeichnende Aufdröſelung der Pindariſchen Gedichte, die als Hinweis
für die Pindariſierenden Gelegenheitsdichter der Folgezeit gedient haben kann.
78) Schmid, Pythien, S. 15.
79) Auch „Du güldne Lever“ iſt eine Nachahmung des Anfanges dieſer Ode; vielleicht ging über ·
haupt die Lektüre der lateiniſchen Überfegungen der Oden bei Schmid für Opitz nicht über die beiden
bekannteſten Pindar⸗Oden: Olympien I und Pythien I hinaus; Zitate aus Ol. I ſtehen in der
Poeterei Kap. J und im Ariſtarch (hrsg. von Witkowski, 1888, S. 90). Andere Stellen aus
Pindar zitiert Opitz nicht.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 211
dankens an Begründung angereiht (Zeilen 1, 4, 13; 45 ff.); da bekommt das
Subſtantivum vage Appoſitionen und der Hauptſatz proſahaft angegliederte Ne⸗
benſätze, die dem Ganzen den Ton eines Vortrages und nicht eines Gedichtes
geben (Zeilen 1, 23, 28; 2, 10, 34). Da wird der Gedanke ſchwer und proſaiſch
mit „zwar erſtlich | weitergetrieben (Zeilen 4,
13,45, 54, 56). Die Armut an charakteriſtiſchen Ausdrücken zwingt zu Wortver⸗
doppelungen (Zeile 26) oder Synonymen (über das ganze Gedicht hin zerſtreut).
Wenn wir von dem Ausdrucksgehalt der Verſe ſprechen wollen, fo iſt überall
glatte Fügung vorhanden 80); ein erhobener Tonfall der Diktion als Zeichen
einer inneren Beſchwingtheit iſt an keiner Stelle zu merken —, der Furor poeti-
cus iſt in der Interjektion „o meine Luſt“ zum Ausdruck gebracht.
Opitz hat ſein Gedicht als „Pindariſierung“ bezeichnet (Zeile 21); obwohl er
in der Vorrede ſchrieb „ich bin newlich vorwitzig geweſen, und habe mich unter⸗
winden dürffen — eine dergleichen Oden — zue ſchreiben“ — gab er doch in dem
Gedicht ſelber als nähere Erläuterung des Begriffes „Pinda⸗
riſieren“ die Pflicht des Poeten an: „Zue ſuchen alle ziehrlichkeit / Die
ein Poete wiſſen ſoll“. Wir müſſen uns an dieſe Erklärung halten,
obwohl ſie eine poetiſche Phraſe iſt und daraus unſere Schlüſſe auf die Pinda⸗
riſchen Gedichte der Opitzianer ziehen. Weil dieſe Erklärung des Opitz in einen
poetiſchen Allgemeinplatz auseinanderfließt, erkennen wir daran die charakter⸗
loſe Unbeſtimmtheit der Pindariſierungen der Opitzianer.
Opitz rezipiert von Pindar nur die Form der Dreigliederung und eine ſche⸗
matiſche Gedankenanordnung. Thematiſch ſtimmen aber die Pindariſchen Oden
mit ſeinen anderen Hochzeits⸗ und Begräbnisgedichten überein; der Dichtſtil iſt
der gleiche —, nur iſt die Pindariſche Ode überlegter gebaut. In den ſtrophiſch
einheitlich durchgeführten Gedichten ſind die enkomiaſtiſchen Mittel mehr durch⸗
einandergemengt; die Confirmatio tritt in den Traueroden ſtärker, in den Hoch⸗
zeitsgedichten ſchwächer hervor und die Einſchiebung eines breiteren allgemeinen
Teiles gliedert ſich in dieſen Gedichten nicht ſcharf ab, ſondern hat den Charakter
eines behäbigen Ausholens oder einer klugen Begründung. Wie bei Ronſard
und beſonders wie bei Weckherlin beſteht auch bei Opitz ein fließender Übergang
zwiſchen der Pindariſchen und der Nicht⸗Pindariſchen enkomiaſtiſchen Ode;
„pindariſieren“ — bei Weckherlin die Bezeichnung für die höfiſche Lobode über⸗
haupt — erſcheint auch bei Opitz als der Ausdruck für die geſellſchaftliche en⸗
komiaſtiſche Dichtung ſchlechtweg.
Die Opitzſchule pflegt dieſe Gedichtart in formaler Anlehnung an die beiden
Opitzſchen Typen 81); eine „Pindariſierung“ wird in erſter Linie zur Verſchöne⸗
rung einer Hochzeitsfeier oder zur „Zier“ eines Leichenbegängniſſes verwen⸗
det 82). Dabei bietet die Dreiform der Gedichte Mittel zu einer bequemen Ein⸗
80) Vgl. über den Stil des Opitz die grundlegende Arbeit von Alewyn (a. a. O.).
51) Vgl. dazu die forgfältige Arbeit von Keppeler (a. a. a und den Abſchnitt über die pindari⸗
ſierenden Oden der Opitz⸗Richtung bei Viktor (a. a. O.), S. 76 ff.
82) Uber die Art des Vortrages dieſer Gedichte vgl. H. Palms Ausgabe der Lyriſchen Gedichte
des Andreas Gryphius, BLV. Bd. 171, S. 510.
212 Wilhelm Koch
teilung des Stoffes. Spezieller Anlaß des betreffenden Gedichtes, eingebettet in
allgemeine Sentenzen und verbunden mit paſſenden Beiſpielen aus der Natur
oder aus der bibliſchen und weltlichen Geſchichte — Gleichniſſe und Metapher
als billiger Redeſchmuck in Ermangelung origineller Wendungen —, ſind die
weſentlichſten Beſtandteile dieſer Pindariſierungen. Ein beſchwingtes Pathos
iſt in der Opitzſchen Starre nicht vernehmbar; Pindars Gehalt lebt nicht weiter,
ſondern die äußere Anlage ſeiner Gedichte.
Dies zeigt ſich auch in der Form der Hinweiſe auf Pindar in den Poetiken
dieſer Zeit. Ronſard hatte ſich im Vorwort ſeiner Odenſammlung mit einer
verlegen kurzen Erklärung über die Form der Pindariſchen Ode begnügt 85); die
Poetiken der Humaniſten Viperanus und der Jeſuiten Jacob Pontanus geben
das Schema der Pindariſchen Oden an 8“) —, eine Vorſchrift, die dann im Buch
von der teutſchen Poeterey wiederkehrt.
Hier iſt in einer theoretiſchen Erklärung, der die beiden erläuternden Bei⸗
ſpiele folgen, der Grundriß zu jedem künftigen Bau einer Pindariſchen Ode von
Opitz gelegt worden. Er gibt das äußerliche Schema an, nach dem man bei der
Anfertigung eines ſolchen Gedichtes zu verfahren habe: freie Wahl des Vers⸗
maßes, Gleichheit der Strophen, Anderung des Metrums in der Epode und
Gleichheit der Geſamtſtrophen untereinander. Auf weitere theoretiſche Angaben
hat Opitz verzichtet und es vorgezogen zwei Muſter dieſer Pindariſchen Oden,
wie er ſie ſich dachte, mit vorzulegen.
Nach dieſen Vorlagen: poetiſches Muſter und Erklärung ſeiner Bauart —
richtet ſich das 17. Jahrhundert in der Produktion ſeiner Pindariſchen Gedichte
wie bei deren Erörterungen in ſeinen poetiſchen Lehrbüchern. Die Schablone, die
Opitz angegeben hatte, wurde — bis zu Johann Hübner hin —, mit unweſent⸗
lichen Anderungen wiederholt. In den Angaben und den Gedichten der Nürn⸗
berger überwiegt ein noch ſtärkerer Formalismus 85). Einige dürftige Bemer⸗
kungen über Pindars Stil, die den üblichen Grundriß etwas auszuzeichnen ver⸗
ſuchen, ſtehen allein bei Morhof 86); hier zeigt ſich jedoch bereits die Sehweiſe
einer neuen Epoche der Pindarrezeption.
Die geſamte Periode der deutſchen Gelehrtendichtung — die Zeit von Opitz
bis Gottſched, die durch Klopſtock überwunden wird — rezipiert Pindar als
Muſter einer beſtimmten Art der Gedankenkompoſition —, in ihrer zweiten
Hälfte — von Morhof an gerechnet — noch dazu als Vorbild einer beſtimmten
Stilart. Daß in der Kompoſitionsart für die Einſtellung dieſer Zeit kein Abdruck
83) Oeuvres 7 p. 5: „Je ne te dirai point àpresent que signifie Strophe, Antistrophe,
Epode (laquelle est tousiours differente du Strophe et Antistrophe de nombre, ou
de rime].“ Buch I, 1. Epode 4 ſteht noch eine Erklärung dieſer Angaben in poetiſcher Form.
84) Joh. Ant. Viperanus, De poetica libri tres, 1558, cap. XI. ac. Pontanus (a. a. O.),
lib. II, cap. XXVII.
85) Die Nürnberger verſuchen zwar im Metrum der Oden über Opitz hinauszukommen (ſ. Keppeler,
S. II ff.), erſtarren aber dabei noch mehr in dem Zwang der formalen Dreiteilung. Dieſe
Tendenz beginnt bereits bei Harsdörffer, der die Dreiteilung nach den Reimwörtern einrichtet
(Trichter I, 1647, 5. Stunde) und geht in die Poetiken der Birken und Omeis über, die — wie
Morhof — die Dreigeſtalt der Ode dem Schlußverfahren der Logik gleichſetzen.
86) Unterricht von der teutſchen Sprache und Poeſie, Kiel 1682, Buch III, Kap. XIII.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 213
einer einmalig hiſtoriſch beſtimmten Geſtalt erſcheint, beweiſen die Anfangs⸗
worte der Stellen über Pindar in ihren Poetiken: ſie beginnen mit der Nen⸗
nung des unſinnlichen Begriffes „Die Pindariſchen Oden“, nicht mit der Anſage
einer leiblichen Geſtalt „Pindar“ —, wie in den Berichten aus dem 16. Jahr⸗
hundert oder aus der Zeit Klopſtocks und Herders 87).
3. Die geiſtliche Ode des Gryphius.
Durch Andreas Gryphius, einen der von religiöſen Leidenſchaften durchpulſten
großen Ruheloſen unter den deutſchen Dichtern erhielt dieſer unkörperliche Sche⸗
men, den die Opitzianer als Pindariſche Ode bezeichneten, durch feine Möglichkeit,
das Geſagte in einer freien, d. h. ſinnhaft beſtimmten Rhythmik auszudrücken, Blut
und Leben. Der Drang nach Befreiung von der Form, nicht nach Unterordnung
unter ſie durch Bindung an das metriſche Geſetz der Zeile und der Strophe leitet
den Gryphius vom Sonett zu der Pindariſchen Ode hinüber —, als vehementer
Drang vom Maß zum Übermaß. Die hiſtoriſche Geſtalt Pindars bleibt auch hier
gänzlich unberückſichtigt; an dieſer Rezeption der Pindariſchen Odenform iſt
nichts literariſch, nichts humaniſtiſch und nichts hiſtoriſche Imitation in irgend⸗
einer Form, ſondern alles dämoniſcher Trieb auf Ergreifen des dichteriſch ge⸗
mäßen Ausdruckes gerichtet. Keine Pindariſche Reminiſzenz und nichts von der
bewußten Haltung eines Griechennachahmers iſt in dieſen Oden zu finden; aber
dafür lebt in ihnen eine ſelbſtgenugſame und beherrſchte Erlebnisſpannung, die
aus der eigenen Zeit geſchöpft iſt, ſo daß die klaſſiſche Benennung dieſer Oden
mit Recht auf eine Wiedergeburt antiken Geiſtes hindeuten kann.
Denn ein überindividuelles Gemeinſchaftsempfinden drückt ſich in den Oden
dieſes Barockdichters aus und leiht ihm die Möglichkeit eines gemeindeähnlich
vollen Tones: Verzweiflungsangſt und Glaubenszuverſicht chriſtlicher Herzen
— verſtärkt durch die Wucht des großen Krieges, die durch die Begabung eines
einzelnen poetiſche Verkörperung findet. Eine Gemeinſchaftsſtimme: der Ton
der Pſalmen und Propheten ſchwingt in dieſen Gedichten, die den pneumatiſchen
Oden der Urchriſten vergleichbar ſind 88). Die Urform, nach der wir dieſe Gedichte
benennen, war ein religiöfer Hymnus für die Götter der ſiegenden Familie und
der ſiegenden Stadt, in dem eine Zuſammenſchau von drei Elementen dieſer rit⸗
terlichen Zeit: Mythos, Agon und Eros in der einmaligen Form der Pindariſchen
Chorhymne ihren Ausdruck fand; dann übernahm das Heidenchriſtentum —
am bewußteſten Clemens von Alexandrien und Syneſius von Kyrene 89) —
dieſe Form heidniſcher Enkomiaſtik für ſeine chriſtlichen Geſänge und Lieder.
Der Strom chriſtlicher Hymnik durchfließt dann das katholiſche Mittelalter und
wird auch durch die Reformation nicht unterbunden. Das proteſtantiſche Ge⸗
meinſchaftsleben kriſtalliſiert ſich wieder im Kirchengeſang, für den Luther geiſt⸗
87) In der Vorrede von Homburgs „Schimpff⸗ und Ernſthaffter Clio“, Hamburg 1642, wird das
Wort „Pindariſierung“ im Sinne einer lobenden Empfehlung verwendet.
88) Vgl. Ed. Em. Koch, Seſch. d. Kirchenlieds u. Kirchengeſangs, Bd. 1, S. 13 f. und Viétor
(a. a. O.), S. 6.
80) Vgl. Koch (a. a. O.) ebd.
214 Wilhelm Koch
liche Lieder verfaßt. Der Franzoſe Marot transponiert die Pſalmen in ſingbare,
einfach ſtrophiſch abgeteilte Lieder. Schedes und Lobwaſſers deutſche Über⸗
ſetzungen folgen und Schede dichtet auch drei geiſtliche Oden in lateiniſcher
Sprache und Pindariſcher Struktur 0). Der Pindarherausgeber Erasmus
Schmid druckt zwei Kirchenlieder, die er nach Pindariſcher Art abgeteilt hat, als
Muſter für dieſe Gedichte ab [1616] 91). In dieſer Tradition wurzelt die reli⸗
giöſe Lyrik des Gryphius; ſeine pindariſierenden Oden erfüllt ein chriſtliches
Geſamterleben ?).
Die Oden des Gryphius ſind alſo nach Herkunſt wie nach Gehalt von den pin⸗
dariſierenden Gedichten der Opitzianer unterſchieden —, die Eigenheit ihrer äußeren
und inneren Struktur wird im folgenden gezeigt werden. Sie bilden — un⸗
gefähr in der Mitte des Barockzeitalters entſtanden — einen Gipfel barocker
Kunſtleiſtung: ſie verſuchen die Verklammerung der auseinanderſtrebenden Ge⸗
fühlshälften Leid und Luſt durch die zuſammenſchweißende Gewalt des Kunſt⸗
werkes.
Den Inhalt der Pindariſchen Oden des Gryphius bildet eine ununterbrochene
Spannung zwiſchen Verzweiflung und Hoffnung, zwiſchen poſitiven und nega⸗
tiven Gefühlsmomenten, ein dauernder Prozeß des Wachstums und Zerfalls
chriſtlicher Glaubenskraft —, von dem Dichter meiſt an dem Beiſpiel der ſich ſtets
wiederholenden Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, Schlaf und Wachen, Luſt
und Tod ausgedrückt. Es werden Gefühlsaktionen nicht als Folge von Ge⸗
ſchehniſſen, ſondern als ſelbſtgenugſame Lebensſituationen, die erſt unter
der Feder des Dichters geſchehnishafte Begebenheiten auslöſen, dargeſtellt. Der
altteſtamentariſche Bibelvers — der jeder Ode als Motto dient — iſt nicht von
Gryphius ausgewählt, um an ihm eine beſtimmte bibliſche Begebenheit zu
entrollen, ſondern um durch ihn einen ſeeliſchen Vorgang — nachträglich — tref⸗
0) Melissi Melematum piorum Libri VIII, 1595; in den Delitiae Poet. Germ. noch
weitere ſieben Pindariſche Oden von ihm; ſie bereiten teils die höfiſche Lob⸗Ode Weckherlins, teils
das Opitzſche Gelegenheits⸗Carmen vor, gehen jedoch in ihrem rein dichteriſchen Gehalt — da die
lateiniſche Sprache damals ein geſchmeidigeres Werkzeug war als die deutſche — über beide hinaus.
1) Pindar⸗Ausgabe, Vorrede „De Carminibus Lyricis“. Das Muſter des erſten nach Pin-
dariſcher Form abgeteilten Liedes iſt die erſte Strophe des Lutheriſchen Liedes „Mag ich Unglück
nicht widerſtahn“ (vgl. Wackernagel, Kirchenlied, Bd. 3, S. 119), das des zweiten iſt die erfte
Strophe des „Lobgeſanges vom heyligen Sacrament“, von Caſpar Querhammer aus dem katho⸗
ee Fra Geſangbüchlein“ von Michael Vehe, Leipzig 1537 (vgl. auch Wackernagel, Bd. 5,
„ 1185).
2) Für den Geſang find dieſe Gedichte nicht beſtimmt; zu dieſem Zwecke dichtete Gryphius nur
die Lieder ſeines 4. Odenbuches, das keine Pindariſchen Oden enthält (vgl. auch die Vorrede von
Palm zu den Oden, S. 201). — Ronſards 72ſtrophiſche Pindariſche Ode auf den Herrn von
Hoſpital iſt direkt mit Goudimels Vertonung zuſammen erſchienen (1552) (vgl. Tierſot, Ronsard
et la musique de son temps, Sammelbuch d. internat. Muſikgeſellſchaft 1902/3, S. 70 ff.). —
Weckherlins Oden find dagegen reine Vortragsſtücke. — Die deutſche Pindariſche Barock⸗Ode hatte
auch zuweilen den Charakter eines ſingbaren Liedes. Tſcherning ſchreibt in ſeinem „Unvorgreifflichen
Bedenken“, 1658: „Pindariſieren, das iſt auf pindariſche Art ein Lied ſpielen.“ Zeſen fordert für die
Epode eines Pindariſchen Gedichtes — im Gegenſatz zum Sonett — ein abgeſchloſſenes Sinn⸗
ganze, eine Erſcheinung, die ſich aus dem Vertonungsbedürfnis dieſer Gedichte in der damaligen Zeit
erklärt (in der „Erörterung, — ob in den Klinggedichten — die meinung — mit dem achten bande
enden — oder — ſich in folgende bände erſtrecken ſoll?“, 1641); Zeſen verſucht nicht einen „Kombi ⸗
nationsverſuch“, wie Keppeler interpretiert (a. a. O. S. 21), ſondern eine Trennung der beiden
Gattungen durchzuführen.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 215
fend zu benennen. Alle dieſe Motti faſſen die Gefühlsentladungen, die in
der Ode herrſchen, reſümierend zuſammen; keine Ode iſt als Erklärung oder als
Erläuterung einer Bibelſtelle gedichtet, ſondern die Bibelſtelle iſt als Reſümee
des Gefühlsvorganges, den die Ode enthält, nachträglich darübergeſetzt. Da die
eigenen Seelenſchwingungen des Dichters mit dem Inhalt der Pſalmenverſe zu:
ſammenfallen, ſind dieſe Gedichte aus innerer Notwendigkeit entſtandene Kunſt⸗
werke, die auch hierin von den Pſalmparaphraſen der Schede, Opitz und ſeiner
Nachahmer unterſchieden werden müſſen.
Die Seelentöne der Pſalmendichtung werden von Gryphius als leibhaft
räumlich⸗zeitliches Geſchehen ausgedrückt. Gefühlsmomente werden Körpers
gebärden, körperlicher Zuſtand tritt an die Stelle ſeeliſcher Empfindung. So iſt
der Bibelvers zerdehnt und über mehrere Gefäße einer Ode langgezogen.
Von weſentlicher Bedeutung iſt dabei die Tatſache, daß die Satzglieder niemals
Wortfüllung infolge eines Mangels an dichteriſcher Inſpiration ſind, ſondern
immer Naturausdruck, Leidenſchaft, Zwang. Der Aufbau dieſer Gefühlslyrik
des Gryphius vollzieht ſich nicht in einem Pathos der Gedankenhäufungen wie
bei Schiller, oder der Gefühlshäufungen wie bei Klopftod, ſondern in einer Häu⸗
fung von Phantaſievorſtellungen. Jede Seelenſchwingung beanſprucht ſofort
bei ihrem Erſcheinen die ihr gemäße körperliche Gebärde. Die dominierende
Menge dieſer Ausdrucksgebärden bewirkt das Schwere und zugleich das Phan⸗
taſtiſche des Gryphiusſchen Stiles. Ich ſetze für einige charakteriſtiſche Seelen⸗
töne je deren Ausdruck in einer körperlichen Geſte hierher:
der Ton „Verzweiflung — Angſt“:
Ich irre gantz allein
Verſtoßen und verlacht
Umbringt mit ſchmerz und pein
Bey dundel-graufer nacht.
Nicht einer beut die fauſt, nicht einer zeigt die wege,
Die müden füße ſind verletzet,
In dem mein elend mir nachſetzet
Auf dem geſpitzter ftein- und dörner vollen ſtege,
Woher? wo eil ich hin?
Ich der die rechte bahn verloren,
Auf den ſich freund und feind verſchworen
Ich, der von aller welt nunmehr verraten bin. 9)
oder der Ton „Hoffnung — Zuverſicht“:
Doch ſteht er (Gott) bey, wenn fie nun in den ſchauplatz ringen
Und krön't mit ſchönem preis;
Die bürde muß ihr fleiſch nicht gar zu grunde dringen,
Er trudnet ihren ſchweiß. “)
oder der Ton „Gnade Gottes — Friede Gottes“:
Der heilge wird mich bald mit höchſter freud erquicken;
Des herren gunſt und fein barmberkig-feyn
Wird durch die wolck entſetzung voller pein
Gleich als der ſonnen licht durch trübe nebel blicken.“)
) Ausgabe von Palm, Buch III, Nr. 3, 1. Satz.
c) Ebd. III, 1, B. 54 ff.
e) Ebd. III, 6, V. 55 ff.
216 Wilhelm Koch
oder der Ton „Die Trauer iſt vergangen“:
Ach, wiſcht die thränen ab! hört auf auf vom trüben weinen!
Wir ſind erlöſt aus ſchanden,
Strick, folter, ſtock und banden,
Der ewig’ heyland wird uns mehr denn ſchnell erſcheinen. ““)
Dieſen Vorgang der Bildwerdung pfychiſcher Momente unterſtützen prächtig
ausgeführte Gleichniſſe und breite Metaphern. Von Viétor wurde bereits die
innere Struktur dieſer Oden als Dialog zwiſchen den beiden Grundeigenſchaſten
chriſtlicher Gläͤubigkeit: der klagenden Verzweiflung über den Jammer irdiſcher
Not und der gläubigen Zuverſicht auf die Erlöſung durch den Glauben erkannt
und eine Analyſe der in den Oden ablaufenden Bewegung dieſer Weſenheiten
mit⸗ und gegeneinander gegeben. Von einer Ode, die uns hierzu beſonders ge⸗
eignet erſcheint, geben wir eine eingehendere Analyſe:
Ode Buch J, Nr. 1.
Bibelvers: Jeſaja Kap. 49 v. 14 — 16.
Satz:
Der Satz des Propheten: „Der Herr hat mich verlaſſen, der Herr hat mein vergeſſen“
wird in eine breite Schilderung dieſes Verzweiflungszuſtandes zerdehnt (V. 1 — 10),
= 5 Klageworte Zions in anſchwellenden Klageausdrücken herauswachſen
. 11-16).
Gegenſatz:
Der nächſtfolgende Bibelvers enthält die rhetoriſche Frage Gottes an Zion: „Kann
auch ein Weib ihres Kindleins vergeſſen, daß ſie ſich nicht erbarme über den Sohn
ihres Leibes?“ Die Vorſtellung eines fo unnatürlichen Geſchehens zwingt den Dichter
ſich in Gedanken eine ſolche Möglichkeit auszumalen: Zion möge die Welt nach einer
ſolchen Vergewaltigung des Muttergefühles durchſuchen (V. 17 26). Nachdem das
Bibelwort in ausgeführter Form noch einmal angebracht wird (V. 27 — 20), ſetzt als
Schluß der Strophe eine antwortähnliche Beruhigung der Situation ein, die durch
die geſchehnishafte Ausführung der Bibelſtelle begründet iſt, indem das mütterliche Ver⸗
halten einer um ihr Kind ſich ängſtigenden Frau beſchrieben wird (V. 30 — 32).
Zuſatz:
Die unnatürliche Gefühlsſituation wird noch einmal reflektierend erwogen (V. 33 — 38),
wobei Gryphius die reine Gefühlsbeſchreibung bei Jeſaja in die Vorſtellung eines
Geſchehniſſes transponiert. Den Schluß bilden wenig veränderte Troſtworte Gottes
an das klagende Zion.
Bei Gryphius hat jede Ode ihre beſondere metriſche Struktur ?“); auch darin
liegt ein Hauptunterſchied gegenüber den pindariſierenden Gedichten der
Opitzianer. Es ſcheint, als ob der Satz, den Opitz zur Erklärung des metriſchen
Baues der Pindaroden in feiner Erläuterung in der Poeterei eingefügt hatte: „—
und mag ich ſo viel verſe und reimen darine nemen als ich wil, ſie auch nach meinem
gefallen einteilen und ſchrencken —“, den vor Opitz niemand zu verwirklichen
gewagt hatte, allein dazu geſchrieben worden ſei, die autonome Dichtergabe des
Gryphius zu entfeſſeln. Die Metrik feiner Pindariſchen Oden iſt — an Opitz'
Vorgang gemeſſen — ein freies Spiel gebundener Kräfte. Auch bei ihm ſind
Jambus und Trochaeus die Elemente, aus denen er allein aufbaut. Dieſe Tat⸗
9s) Ebd. III, 6, V. 61 ff.
7) Vgl. Keppeler (a. a. O.) S. 13 ff. und Victor Mannheimer, Die Lyrik des Andreas Gry-
phius, 1904, S. 54 ff.
Das Fortleben Pindars in der deutſchen Literatur 217
ſache hat etwas überraſchendes an ſich, wenn man ſie ſich zum erſten Male klar⸗
macht. Er hat ausſchließlich durch jambiſche Zwei⸗, Drei⸗, Vier⸗, Fünf⸗ und
Sechsheber und durch trochaeiſche Vier⸗, Fünf⸗ und Achtheber das Gewoge und
Gewelle ſeiner Oden erreicht. Er hat das Opitziſche Grundmaterial nur um⸗
geformt ohne neues hinzuzunehmen, indem er den obligaten Opitzvers auf eine
neue Art hin und her wendete. Innerhalb eines geſchloſſenen Raumes ver⸗
wendet er ein reiches Kräfteſpiel ohne dieſen Raum zu ſprengen. Der
Strenge der Struktur (Dreigliederung der Strophe, Kongruenz der Geſätzefolge
und Opitziſche Metra) hat er ſich nicht entzogen, ſondern durch dieſes Ergreifen
unter dem Opitzkleid ein neues Pathos erweckt. Vor Gryphius richtete man ſich
im Metrum nach Opitz, in der Dreigliederung der Geſamtſtrophe nach einer kon⸗
firuierten Gedankenfolge, und in der Ausdehnung der Ode nach konventioneller
Anteilnahme an dem jeweilig zur Bedichtung ſtehenden Falle. Erſt Gryphius
verläßt ſich in der Wahl des Metrums auf ſeine Inſpiration, in der Gliederung
der Strophen auf den Ablauf ihrer inneren Bewegung und in der Ausdehnung der
Gedichte auf die Stimme ſeiner dichteriſchen Leidenſchaft. Er wählt das Metrum
willkürlich und doch notwendig, er gliedert die Strophen überlegt und doch emp⸗
funden, er ſpricht, ſolange der furor poeticus aus ihm redet. Wenn fein Schmerz
am wildeſten wühlt, wählt er das erregteſte Metrum; wenn er ſein Leid ganz
nach außen projiziert, in ſechzehnverſiger Strophe, Erde, Berge, Sterne, Gott,
Auge, Ohren, Seele, Nacht, Morgenröte, Abendſtunde nacheinander verflucht, von
ſich wegftößt, weil fie fein Leiden nicht mitzufühlen ſcheinen —, wechſelt er auch
elfmal das Versmaß 98). Dagegen kann feine Rede in gelaſſenen, müden Trochaen
dahinfließen, wenn er ſich in Empfindung ſeines Leides ganz in ſich verſenkt:
Wenn der morgen⸗glantz der erden
Tauſendfaches leid entdeckt
Wird von donnernden beſchwerden
Mein beſtürztes herz erſchreckt.
Wenn der abend hergeſchlichen,
Und der ſtille mond erwacht
Preis ich ſelig, was erblichen
Und der grufft zu pfande bracht.“)
Gryphius bringt gern ſcharfen Metrumwechſel — das Zeichen jäher innerer
Bewegung; dieſen Wechſel wiederholt er meiſtens nocheinmal 100). Auch mit
metriſchem Kontraſt der Strophe und Epode arbeitet er an einigen Stellen 101).
Neben den 12 geiſtlichen Pindariſchen Oden des Gryphius ſind aus ſeinem
Nachlaß auch zwei Trauergedichte in dieſer Form veröffentlicht worden. Auch
hier iſt Gryphius andere Wege als die Opitzianer gegangen und die konven⸗
tionelle Anpreiſung der Verdienſte der Verſtorbenen iſt in dieſen Gedichten der
chriſtlichen Kontraſtierung irdiſchen Jammers und ſeeliger Freude gewichen. In
der „Begräbnisode eines Kindes an die Eltern“ ſchwingt das Erlebnis perſön⸗
licher Erfahrung mit.
98) Ausgabe Palm, II, Nr. 1, 1. Satz.
900 Ebd. II, 2, V. 65 ff.
400 Ebb. 1,3. V. 17 ff.; II, 1 3 ff.; III, 1, V. 1.
101) Vgl. Keppeler a. a. O. S. 1
verfaßten „Thränen über das Leiden Jeſu Chriſti“ ſtehen, ausgeſprochen, in wel⸗
cher Geſinnung er ſeine geiſtlichen Gedichte — und darunter auch ſeine Pinda⸗
riſchen Oden — aufgenommen wie verfaßt wiſſen wollte; ich ſetze die bezeich⸗
nenden Stellen hierher:
Wem poetiſche erfindungen oder farben in derogleichen heiligen wercke belieben, den weiſe ich zu
meinem Oliveto, Golgatha und trauer⸗ſpielen, ja auch in vorhergehenden oden zu der
verlaſſenen Zion, oder den hin weggeführten kindern. Hier bringe ich zu dem
grabe meines erlöſers nicht theure alben und myrrhen, ſondern nur ſchlechte leinwand und ehre der
jenigen feder, die bey dem großen ſöhn⸗altar des ſohnes Gottes höher fliegen wollen. — Haben nun
irrdiſche und vergängliche dinge die krafft unſere leiber und gemüther zu verändern, was wird der
nicht können, der den ſeinen iſt ein geruch des lebens zum leben, und deſſen wehmütigſte blicke
Petrum bekehren, und den am creutze läſternden mörder umkehren? —
Hier war die religiöfe Kraft eines einzelnen mächtig genug, vorhandene poe⸗
tiſche Formen mit neuem Leben zu erfüllen; ſie war aus Gründen, die hier nicht
unterſucht wurden, nicht imſtande, zeitlos gültige Kunſtgebilde zu ſchaffen. Für
Gryphius bedeutet das Fortleben Pindars im deutſchen Geiſte eine Erweiterung
ſeiner künſtleriſchen Perſönlichkeit.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater.
Ein Beitrag zum Gehalt und zur Form feiner Dichtung wie feines Lebens.“)
Von Paul Böckmann in Hamburg.
I.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater ift eine der ganz wenigen
— wenn nicht die einzige — ſeiner Schriften, in der er ſelber Weſen und Be⸗
deutung ſeiner Dichtung theoretiſch zu faſſen und zu rechtfertigen ſucht. Aller⸗
dings tut er es auch hier nur mehr oder minder indirekt; aber darum bleibt der
Aufſatz doch entſcheidend genug, gerade weil das Werk Kleiſts immer wieder in
ſeiner faſt herben Strenge und doch auch leidenſchaftlichen Glut voller Fremd⸗
heit und Geheimnis bleibt. Es kann ebenſowenig unmittelbar hingebendes
Vertrauen erwecken, wie dieſer einſame Menſch ſelber. Sein Weſen ſcheint ſich
nur aus den dunkelſten Kräften des Blutes nähren zu wollen und erſt da ſich
ganz in ſeiner Exiſtenz zu fühlen, wo es mit dem härteſten Eiſen kämpfen oder
in der tiefſten Ergriffenheit lieben darf. So iſt ſein Werk fern von jeder
ſchönen, in ſich ruhenden Körperlichkeit oder überſchauenden einfachen Klarheit.
Es fehlt ihm die Nähe des ſinnlichen Gegenſtandes wie die Sicherheit des in
ſich beſchloſſenen, unmittelbaren Daſeins. Und doch iſt es uns faſt wieder ſo,
als hätte Kleiſt eigentlich eine neue, härtere und zugleich in tieferem Sinn freu⸗
102) Ausgabe Palm, S. 285 fi.
*) Ich möchte auch an dieſer Stelle Herrn Prof. Rudolf Unger danken für die tiefer in den
Gegenſtand eindringenden Geſpriche, die ich mit ihm im Anſchluß an die vorliegende Arbeit führen
konnte.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 219
digere Sicherheit gewonnen, die ihm die Unmittelbarkeit des Daſeins ebenſoſehr
zurückbringt, wie das ernſte Hinnehmen der Dinge und das Eingehen auf
Menſchen und Umwelt. Seine Dichtung verwirklicht ihm dieſes neue Verhält⸗
nis des Menſchen zu ſeiner Welt und iſt ſo voller geiſtiger Probleme und Wirk⸗
lichkeiten, wie wenig ſie ſelbſt ſich auch in der Ebene des Gedankens bewegen
mag. Wir haben uns um dieſen geiſtigen Gehalt zu bemühen und es zu be⸗
grüßen, wenn uns Kleiſt in ſeinem Aufſatz über das Marionettentheater ſelber
eine Handhabe dazu bietet.
Allerdings müſſen wir bei der Interpretation dieſer Schrift vorſichtig zu
Werke gehen. Wir dürfen uns nicht durch die ſcheinbar ſo eindeutigen Gedanken
verleiten laſſen, Kleiſt gar zu früh in eine uns geläufige Kategorie einzuordnen.
Auch hier kommt es faſt weniger auf das Gedankengerippe an, als auf die Bilder
und Gleichniſſe, in denen Kleiſt zu uns ſpricht. Er war nicht geſchaffen, über ſich
ſelbſt hinauszuſchweifen, um in Syſtemen einen Halt zu ſuchen; er will nicht
ein Weltgebäude zimmern, um ſich in ihm feinen Platz anzuweiſen, ſondern
nur Klarheit gewinnen über das, was ſich in ſeiner Kunſt und in ſeinem Leben
ausſpricht. Vor allem der Schluß des Aufſatzes verleitet dazu, den Blick von
Kleiſt weg auf weltgeſchichtliche Zuſammenhänge zu lenken, die doch für ihn
ſelbſt erſt in zweiter Linie wichtig ſind. Wenn er davon ſpricht, daß unſer menſch⸗
liches Verhängnis in jener Geſchichte vom Sündenfall dargeſtellt ſei und wir
recht eigentlich ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis eſſen müßten, ſo
iſt es doch zum mindeſten etwas voreilig, wenn Braig darin eine Hindeutung
auf Chriſtus ſehen möchte und Kleiſt damit faſt ſchon zum Katholiken gemacht
wird 1). Es iſt doch gerade die Frage, wie Kleiſt ſelber denn hier ſteht und ob
er nicht ſeine eigene Antwort in ſeinem Werk und Leben dargeſtellt weiß. —
Dieſen Einwand wird man auch gegen jenen anderen Deutungsverſuch erheben
müſſen, den Hanna Hellmann unternommen hat ). Hier wird darauf hin⸗
gewieſen, daß Kleiſt in dem Sündenfall vor allem an die Unordnungen denkt,
die das Bewußtſein im Leben des Menſchen hervorruft, und daß er die Löſung
von der voll verwirklichten Erkenntnis erwartet, von jenem Bewußtſein, das
durch das Unendliche hindurchgegangen und ſchließlich zu ſich ſelbſt zurückgekehrt
iſt. Mit dieſer Problemſtellung wäre Kleiſt dann ganz und gar in den Bahnen
der Romantik, ſeine Dichtung hätte das unendliche Bewußtſein darzuſtellen
verſucht und wäre an dieſer echt romantiſchen Zielſetzung geſcheitert.
Wir wollen verſuchen, eine möglichſt direkte Beziehung zwiſchen dem Aufſatz
und Kleiſts Dichtung herzuſtellen, um ſo vor allem das Eigene und Beſondere
herauszufinden, das Kleiſt gegenüber jenen allgemeinen Formen wie Chriſten⸗
tum, Rationalismus, Idealismus, Romantik uſw. beſitzt und das ſeiner Dich⸗
tung heute mehr als je eine wirkende Kraft verleiht. Wir dürfen uns nicht nur
an den Schluß halten, der mit gewohnten Vorſtellungen arbeitet, ſondern ebenſo⸗
ſehr an den Anfang, in dem doch das eigentlich Originelle Kleiſts enthalten iſt.
1) Friedr. Braig, Heinrich von Kleiſt, München 1925.
2) Hanna Hellmann, Heinrich von Kleiſt, Heidelberg 1911. S. 13 ff.; beſonders S. 24, 29 u. 50.
220 Paul Böckmann
Es wird ein Problem geſehen: Jene merkwürdige Zerſtörung des Lebens
durch das Bewußtſein; es wird der Marionette eine gewiſſe Bedeutung im Hin⸗
blick auf dies Problem zugeſtanden und ſchließlich eine Perſpektive gezeigt, die
auf den weltgeſchichtlichen Zuſammenhang hinweiſt. Jede dieſer drei Blickrich⸗
tungen müſſen wir im einzelnen vornehmen und uns fragen, welche Bedeutung ſie
im Leben Kleiſts und zugleich für ſeine Dichtung haben. Nur dann werden wir
hoffen können, wirklich von dieſem Aufſatz aus einen Aufſchluß über Kleiſts
Kunſt zu erlangen. Beginnen wir mit der Frage nach der Bedeutung jener Be⸗
wußtſeinsproblematik für Kleiſts Leben!
II.
Das eigentlich ſelbſtändige, eigengeformte Leben beginnt für Kleiſt 1799, nach
feinem Abſchied vom Militär in feinem 22. Lebensjahr. Zunächft iſt er noch ſtark
an die überlieferten Formen der Geſellſchaft und des bürgerlichen Strebens ge⸗
bunden; dann wird er immer unruhiger, ſpannungsreicher, faſt dämoniſch wild
und unausgeglichen. Die Problematik wächſt beſtaͤndig, kein Lebensgebiet
kann wirkliche Sicherheit geben und ſo ſteht Kleiſt 1801 vor faſt völliger Ver⸗
zweiflung: er weiß weder, was er arbeiten und erſtreben, noch warum er über⸗
haupt etwas tun ſoll. Und doch bereitet ſich gerade in dieſem Augenblick eine ge⸗
wiſſe Beruhigung vor: nicht inſofern, als er endlich die Formel gefunden hätte,
die ihm das Rätſel des Lebens aufzuſchließen vermag und nach der er ſo aus⸗
ſchließlich und faſt verbohrt geſucht hatte; aber für ihn ſelbſt gab es jetzt eine
Löſung, eine Darſtellungsmöglichkeit für die Spannungen, die er im Leben
empfand: in der Dichtung. — In unſerem Zuſammenhange iſt es bedeutſam,
daß gerade das Jahr 1801 der eigentlich entſcheidende Punkt in Kleiſts Leben
iſt, daß in dieſer Zeit die zerreißende Kraft der Problemſpannung am größten
geworden iſt und zugleich die Dichtung als Antwort und Löſung zuerſt ſich her⸗
vortraut. Unſer Aufſatz über das Marionettentheater iſt von Kleiſt ſelbſt in
jenes Jahr 1801 verſetzt worden — er beginnt: „Als ich den Winter 1801 in
M. . . zubrachte“ — und fo müſſen wir ſchon annehmen, daß eine Beziehung zu
jener ärgſten und zugleich bedeutſamſten Zeit feines Lebens hergeſtellt werden
ſollte. Das Datum ſagt ſicher nichts über die Entſtehungszeit des Aufſatzes aus,
wohl aber über die Zeit, in der für Kleiſt die dargeſtellten Fragen am brennend⸗
ſten und unmittelbarſten hervorgetreten waren.
Doch in welcher Weiſe hat ſich für Kleiſt die Problematik des Lebens dar⸗
geſtellt? Wir kommen mit dieſer Frage tiefer in die Bildungsgeſchichte ſeiner
Zeit hinein und beobachten zunächſt die Auseinanderſetzung mit ihr.
Nach der Entlaſſung aus dem Militärdienſt ſucht er ſein Heil zunächſt in der
Wiſſenſchaft, vor allem in der Mathematik und Philoſophie, und ſieht ſich bald
in dem Zwieſpalt zwiſchen Denken und Gefühl. Aber weder der Rationalismus
noch die Beziehungen zu ſeiner Braut können ihm Ruhe geben. Er wird zur kan⸗
tiſchen Philoſophie und ihrem Pflichtgebot weitergetrieben, während ſich zu⸗
gleich auf der Würzburger Reiſe ein engeres Verhältnis zur Natur anbahnt.
Aber all das genügt nicht, und ſo wird ſein Suchen nur immer drängender und
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 221
unerbittlicher. Geradezu gewaltſam verlangt er nach Sicherheit; er beſchloß,
nicht eher aus dem Zimmer zu gehen, als bis er über einen Lebensplan entſchie⸗
den wäre: „Aber acht Tage vergingen, und ich mußte doch am Ende das Zimmer
unentſchloſſen wieder verlaſſen.“?) Die Einſicht in das Ungenügen aller bis⸗
herigen Wertungen läßt ihn ohne Maßſtab nur mit der Frage in ſeinem völligen
Alleinſein zurück: „In meinem Kopf ſieht es aus wie in einem Lotteriebeutel,
wo neben einem großen Looſe tauſend Nieten liegen.“) Auch der Pflichtbegriff
Kants iſt bald zertrümmert, eben durch die radikale Auslegung dieſer Philo⸗
ſophie: „Wir können nicht entſcheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen,
wahrhaft Wahrheit iſt, oder ob es uns nur fo ſcheint. Mein einziges, mein höͤch⸗
ſtes Ziel iſt geſunken und ich habe nun keines mehr.“ Von Kleiſt aus geſehen iſt
es nicht ſo wichtig, ob er in dieſer Erkenntnis mehr durch Kant oder durch Fichte
— wie es Caſſirer wahrſcheinlich macht — beſtärkt wurde. Das Entſcheidende iſt,
daß Kleiſt ſo radikal zu fragen wagt; daß er vor der Selbſtvernichtung nicht
zurückſchreckt und daß ihm andererſeits die Antworten des Rationalismus wie
des Idealismus gleich wenig Sicherheit geben können. Er hat einen breiten
deutſchen Bildungsweg, der feſt gegründet ſchien, zurückgelegt und doch auf ihm
keine neue Verwurzelung für feine beunruhigte Seele gefunden. Die Angſt iſt
jetzt in ihm auf das Höchſte geſtiegen, er kann nicht mehr arbeiten, hat keine Ruhe
mehr und überredet ſchließlich ſeine Schweſter, mit ihm zu reiſen; er denkt vor
allem an Frankreich und an die Schweiz und will zunächſt nach Paris. Noch
immer hofft er im ſtillen, ſchließlich doch etwas zu finden, was ihm Halt geben
kann und ihn aus ſeiner Einſamkeit befreit. „Sobald ich einen Gedanken erſon⸗
nen habe, der mich tröſtet .. fo kehre ich um. .. Ich kehre um, ſobald ich weiß,
was ich tun ſoll.“ Die radikalſte metaphyſiſche Frage behauptet ſich in ihm, auch
in dem Augenblick ſeiner größten Vereinzelung. Er ſucht den Maßſtab für ſein
Tun und gibt damit das Thema ſeines Lebens, wie auch ſchließlich ſeiner Dich⸗
tung an. Nur die Antwort auf dieſe einfache und doch ſo unbedingte Frage kann
der Dichtung wie dem Leben Kleiſts die Geſtalt geben.
Zunächſt ſucht er durch die Lehren Rouſſeaus einen neuen Halt zu gewinnen.
Die Beurteilung des Lebens in Paris, der Gedanke, ſich in der Schweiz als Bauer
anzuſiedeln, ja ſelbſt noch das einſame Leben auf der Aarinſel „), all das iſt letzt⸗
lich von dem Naturideal des Genfers beſtimmt. Aber ebenſo raſch zerſtört Kleiſt
dieſen neuen Glauben wieder. Er erkennt, daß Natur wie Kultur beide gleich
viele Tugenden und Laſter mit ſich bringen, und uns alſo die Einſicht in den
Zweck und die Beſtimmung unſeres Daſeins ganz benommen iſt. Die Dinge der
Welt ſind tauſendfältig verknüpft und verſchlungen; wir können nur „für die
Quadratruthe leben, auf welcher, und für den Augenblick, in welchem wir uns
befinden“. Jetzt erſt, nachdem Kleiſt auf jede ſyſtematiſche Rechtfertigung ver⸗
2) Bd. V, S. 195. Zitiert wird hier und im folgenden nach der kritiſchen Gefamt-
ausgabe von Georg Minde⸗Pouet, Reinhold Steig und Erich Schmidt.
) Ebd. S. 199.
8) 3. dazu Rouſſeaus Leben auf der Inſel im Bieler See (Les Reveries du Promeneur so-
litaire V).
222 Paul Böckmann
zichtet hat und ganz die eigene Gegenwart und ihre Wirklichkeit zu bejahen ſucht,
wird ihm die Dichtung wirklich zum tiefſten Inhalt ſeines Lebens; jetzt ändert
er die vor einem halben Jahr ausgeſprochenen drei Wünſche und verlangt nicht
mehr ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen und ein Kind zu zeugen,
ſondern iſt bereit zu ſterben, wenn ihm drei Dinge gelungen ſind: ein Kind, ein
ſchön Gedicht und eine große Tat ). Damit iſt Rouſſeaus Verſuch, die Kriſe
durch den Rückgang auf die Natur zu überwinden, beiſeite geſchoben und end⸗
gültig ein eigener Weg der Löſung eingeſchlagen. Die Dichtung wird als Ant⸗
wort auf alle jene Problematik empfunden.
Fortan verzichtet Kleiſt in ſeiner Lebensdeutung auf jedes übergreifende
Syſtem, auf eine letzte, die Einzelſituation bewertende Zielſetzung wie auf das
Ideal eines urſprünglichen Naturzuſtandes: „Für die Zukunft leben zu wollen
— ach, es iſt ein Knabentraum, und nur wer für den Augenblick lebt, lebt
für die Zukunft.“ “) Er ſucht das Leben auf den Kreis einzuengen, in dem
es ihm unmittelbar — leidend und wirkend — im eigenen Daſein begegnet.
Hier will er es ganz ernſt und wirklich nehmen können, ohne durch ein mora⸗
liſches oder theologiſches Syſtem eine beſondere Sicherheit zu empfangen.
Damit bejaht er ganz die Härte, die in ſeinem Leben liegt und die ſpäter in
ſeiner Dichtung Geſtalt gewinnt. „Ja, tun was der Himmel ſichtbar, un⸗
zweifelhaft von uns fordert, das iſt genug — Leben ſolange die Bruſt ſich
hebt, genießen, was rundum blüht, hin und wieder etwas Gutes tun, weil
das auch ein Genuß iſt, Arbeiten, damit man genießen und wirken könne,
andern das Leben geben, damit ſie es wieder ſo machen und die Gattung erhalten
werde — und dann ſterben. — Dem hat der Himmel ein Geheimnis eröffnet,
der das tut und weiter nichts.“?) Was hier gedanklich ausgeſprochen wird, iſt
im Grunde nur die nähere Ausführung jenes Bildes, das Kleiſt auf der Würz⸗
burger Reiſe in einem Augenblick größter Verzweiflung erfaßt hatte und das
ſich ihm fo ſehr einprägte, daß er es noch Jahre ſpäter in die Penthefilea hin⸗
einnehmen konnte: „Mich ſchauerte, wenn ich dachte, daß ich vielleicht von
allem ſcheiden müßte, von allem was mir teuer iſt. Da ging ich, in mich gekehrt,
durch das gewölbte Tor ſinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, ſinkt
wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es ſteht, antwortete
ich, weil alle Steine auf einmal einſtürzen wollen — und ich zog aus dieſem Ge⸗
danken einen unbeſchreiblich erquickenden Troſt.“?) Kleiſt empfindet ſich fortan
als einen derartigen Stein in dem ſich ſebſt tragenden Gewölbe des Lebens, das
in ſich ruht, da iſt und für ſich ſeinen Sinn hat, ohne von einem außer ihm be⸗
findlichen Syſtem geſtützt werden zu müſſen. Wir ſind in dieſes Leben ſo ver⸗
ſtrickt, daß wir nicht hinausfallen können, wir müſſen nur unſeren Platz in die⸗
ſem Gewölbe ausfüllen und allen einwirkenden Kräften gerecht werden. — In
einem anderen, mehr dynamiſchen als ſtatiſchen Bilde ſpricht er den gleichen
6) Bd. V, S. 262; S. 250; S. 287.
7) Ebd. S. 225.
e) Bd. V, S. 249,
o) Ebd. S. 160.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 223
Sinn in ſpäterer Zeit in den Berliner Abendblättern aus und gibt durch die öfter
wiederholte Darſtellung desſelben Gedankens zu erkennen, daß hier wirklich
ein weſentlicher Punkt ſeiner Lebenshaltung zum Ausdruck kommt: „Wer das
Leben nicht wie ein Ringer umfaßt haͤlt und tauſendgliedrig, nach allen Win⸗
dungen des Kampfs, nach allen Widerſtänden, Drücken, Ausweichungen und
Reaktionen empfindet und ſpürt: der wird, was er will, in keinem Geſpräch
durchſetzen, viel weniger in einer Schlacht.“ !“) Das iſt fortan Kleiſts bleibende
Antwort, nachdem er lange darum gerungen hatte, ſeinen Platz gewiſſermaßen
eindeutig feſtzulegen und eine abſolute Norm für ſein Verhalten zu gewinnen,
wie es die zeitgenöſſiſche Bildung: der Rationalismus, der Idealismus und die
Naturgläubigkeit Rouſſeaus zu verſprechen ſchienen. Soweit dieſe Lebensrich⸗
tungen ihm ein Rezept anboten, war er an ihnen verzweifelt und hatte ſich nur
bei dem ſich ſebſt tragenden und ſtützenden Leben beruhigen können, das immer
neu iſt, immer andere Anforderungen ſtellt und von jedem einzelnen verlangt,
daß er ſeinen beſonderen Platz erfülle.
Erſt von dieſem erreichten Ziel aus wird deutlich, welche Problematik ſich
eigentlich in Kleiſt auftat. Er ſprach früh von dem Gegenſatz von Denken und
Gefühl. Hier klärt ſich der eigentliche Sinn dieſer Spannung: das Denken
ſtörte ihm die unmittelbare Reaktion auf die Vielgliedrigkeit des Lebens, es
trennte ihn von dieſem Leben ab, ſtellte ihn heraus und dem Daſein gegenüber;
als Frage blieb das Verlangen nach einer neuen Einordnung in den Zuſammen⸗
hang, nach dem Wiedererlangen jener unmittelbaren Reaktionsfähigkeit. Wie
ſoll ſich der einzelne, der ſich als einzelner bewußt geworden iſt, dem Ganzen
gegenüber verhalten? Wie kann er als ſelbſtbewußtes und eigenwilliges Weſen
das Gewölbe des Lebens ſo mittragen wie jener tote Stein in dem Tor? Wie
kann der einzelne, der ſich herausgeſondert hat, doch ſeinem Handeln die Not⸗
wendigkeit und Sinnhaftigkeit wiedergewinnen? Die Antwort lautet ihm
ſchließlich: indem er das Leben als ſolches hinnimmt und ſeiner beſonderen Si⸗
tuation wie ſeiner eignen Individualität in jedem Augenblick gerecht zu werden
ſucht. In welchem Sinne Kleiſt das für möglich hält, wird ſich weiterhin er-
geben. Zunächſt wird es gut ſein, ſeine eigene Frageſtellung mit derjenigen der
Klaſſik wie der Romantik zu vergleichen, um ſeinen geiſtesgeſchichtlichen Ort
näher zu beſtimmen.
Denn gerade im Hinblick auf dieſe Problematik ergibt ſich ein bedeutſamer
Gegenſatz zwiſchen jenen beiden Kulturbewegungen. Die Frage, die man dem
Leben gegenüber ſtellt, taucht für ſie an ganz verſchiedener Stelle auf; die ſpan⸗
nungsreiche Gegenſätzlichkeit des Lebens wird in ſehr verſchiedener Weiſe emp⸗
funden. Für die ältere Generation wird faſt durchweg ein Teil des Daſeins als
fremd und unheimlich abgewertet, ein anderer als vertraut und nah anerkannt.
In dem Erſtaunen über das bisher als ſelbſtverſtändlich hingenommene Leben,
wodurch erſt die eigentlich geiftige Geſtaltung hervorgerufen wird, wird verhält-
nismäßig raſch eine Beruhigung wiedergewonnen; es bleibt immer noch, trotz
10) Bd. IV, S. 180.
2
224 Paul Böckmann
Alles⸗in⸗Frageſtellens, ein abſoluter Beſitz erhalten, ſo daß angegeben werden
kann, worin das eigentliche Sein beſteht, gegenüber jenem Nichtſein, das die Be⸗
unruhigung hervorruft und das nun durch den jeweiligen Lebenswert überwunden
und geformt werden ſoll. Es iſt damit nicht geſagt, daß dieſe Generation nur
das ruhige Daſein einer in ſich beſchloſſenen und überſchaubaren Endlichkeit des
Sinnes gekannt hätte; ſie ſah immer zugleich das Fremde, Unheimliche, Zer⸗
ſtörende und Chaotiſche des Daſeins. Aber ſie nahm es nur als Gegenpol zu
jenem eindeutigen Sinnzuſammenhang, der ſchließlich auch dies Ungeformte
und Elementare bezwingen würde. Es waren wohl vor allem zwei Punkte, von
denen aus ſich das polare Denken dieſer Zeit immer wieder entwickelte: einmal
jener Gegenſatz, der im menſchlichen Gewiſſen auftaucht und die einzelne Hand⸗
lung als gut oder böfe bezeichnet und mit dem weiteren Gegenſatz von Sinnlich⸗
keit und Sittlichkeit, Trieb und Vernunft verquickt wird; dann jene doppelte Rich⸗
tung im allgemein⸗natürlichen und geſellſchaftlichen Leben, die ſich in der Ent⸗
gegenſetzung von Natur und Kultur ausprägt. Die einzelnen Vertreter dieſer
Generation mochten der Mehrgliedrigkeit dieſer Gegenſätze entſprechend das
Sinnhafte an verfchiedener Stelle ſuchen. Aber immer waren fie überzeugt, das
eigentlich Wahre und Gute eindeutig beſtimmen zu können. So iſt für Rouſſeau
das Landleben, die Natur, das eigentlich Wahre, Urſprüngliche und abſolut
Vollkommene, gegenüber jenem Luxus und der Künſtlichkeit des Daſeins in den
großen Städten, vor allem in Paris. Im deutſchen Idealismus dagegen, vor
allem bei Kant, Schiller und Fichte, kann — aus dem moraliſchen Gegenſatz her⸗
aus — die Vernunft mit ihren Beſtimmungen allein ein ſinnvolles Leben her⸗
vorrufen. Die Geſchichte der Menſchheit ſtellt ſich hier als die allmähliche Ent⸗
wicklung der Vernunftherrſchaft dar; die phyſiſche Notwendigkeit ſoll mit Hilfe
der Vernunft zu einer moraliſchen erhoben werden, damit der bloßen Natur
gegenüber ſich die wahre Beſtimmung des Menſchen geltend machen kann 11).
Bis zu einem gewiſſen Grade ſteht auch Goethe in dieſer Richtung, allerdings
weniger abſolut und in engerem Zuſammenhang mit der Fülle der Erſcheinun⸗
gen. Aber wie ſehr er ſich auch den Dingen hingibt, ſo macht er doch immer die
Unterſcheidung zwiſchen Allgemein⸗Menſchlichem und bloß Zufälligem oder auch
wohl zwiſchen dem Bedeutenden und dem bloß Merkwürdigen. Er überliefert
ſich der Fülle der Erſcheinungen und erwartet dann, daß ihm darin ein Zuſam⸗
menhang, eine geſtalthafte Einheit als Urphänomen ſichtbar wird. So vereint
ſich in ihm der Sinn für Mannigfaltigkeit und Individualität mit dem für Ord⸗
nung, Geſtaltung und Geſetz. Er ſteht gewiſſermaßen an dem Punkt, wo Geſetz
und Wirklichkeit in dauernder Berührung ſich durchdringen und gewinnt durch
ſeine Vereinigung von lebendigſter Anſchauung mit geſtaltender Ordnung ſeine
überragende Bedeutung. Er war ſo weit und offen, daß er auch noch der folgen⸗
den Generation zum Führer dienen konnte, in viel ſtärkerem Maße als Kant oder
Schiller, die nur anfangs auf die Romantik ſtärker wirken.
Denn die Romantik hat nun in der Tat eine andere Problemſtellung. Sie
11) Vgl. mein Buch über „Schillers Geiſtesbaltung als Bedingung feines dramatiſchen Schafſens““
Dortmund 1927: Hamburgiſche Texte und Unterſuchungen zur deutſchen Philologie II 3.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 225
fragt nicht mehr nach den Gegenſätzen von Natur und Geiſt, Trieb und Vernunft,
ſondern empfindet vor allem die Spannung zwiſchen dem Einzelnen und dem
Ganzen, der Selbſtändigkeit und der Einheit; zwiſchen dem Endlichen und dem
Unendlichen, zwiſchen den Dingen mit ihrer Bedingtheit und dem Unbedingten,
der Individualität und der Univerſalität. Ihr Erſchrecken iſt gewiſſermaßen ele⸗
mentarer und abſoluter, ſie behält nicht ein eigentlich Sinnhaftes und Weſent⸗
liches von Anfang an zurück, ſondern erkennt ſich plötzlich in jedem Einzelnen als
dieſer Einzelne, Vereinzelte, der mit ſich ſelbſt allein iſt und ohne allgemeingül⸗
tigen Maßſtab ſich ſelbſt folgt. Indem der Einzelmenſch ſich in dieſer punkthaften
Exiſtenz erfährt, ſteht er zugleich vor der innerſten Not: er darf und kann nicht
bei ſich bleiben, er muß den Punkt wieder auslöſchen und ſich in das Ganze ein⸗
zufügen ſuchen. Er iſt nur in dieſem Ganzen lebensfähig und doch von ihm ge⸗
ſondert. Die Einſicht in dieſe durchgängige Individualität alles Lebens iſt die
Not und zugleich auch die innerſte Freude der Romantik. Sie ſetzt an die Stelle
eines dualiſtiſchen Wertedenkens eine ſpannungsgeladene Lebensſchau. Der Sinn
für die Eigentümlichkeit jedes Menſchen und darüber hinaus jeder Epoche wächſt
ins Ungeahnte und zugleich ſteht immer die bange Frage dahinter, wie denn dieſe
Individualiſierung wieder zur Einheit des Lebens zurückkehren, wie die Subjek⸗
tivität auch an der Objektivität teilhaben kann. Die Grunderfahrung jedes Ein⸗
zelnen dieſer Generation, der Schlegel, Schleiermacher, Novalis, Hölderlin,
Hegel uſw., iſt immer die elementare Erkenntnis, daß ich „Ich“ bin und damit
als eigenes Daſein der Welt gegenübertrete. Das wird mit ganzer Beſeligung
und ganzer Erſchütterung erfahren. Die eigentliche Not bleibt immer, wie nun
noch das Du, das Es und das Wir erreicht und wie Menſch und Ding doch
wieder ganz ernſt und wirklich genommen werden können. Das erſcheint um ſo
ſchwerer, als ja auch jedes Volk und jedes Zeitalter ein ſolches Ich iſt. Selbſt⸗
ſicherheit und Sehnſucht iſt ſo in dieſen Menſchen ſeltſam gemiſcht und faſt ſcheint
es, als ob die Sehnſucht ſchließlich den Sieg davongetragen hätte.
Es iſt ſchwer und nur vermutungsweiſe zu ſagen, wie dieſe vielfältige Span⸗
nung ſich zu jener dualiſtiſchen Polarität der älteren Generation verhält. Es ſind
ſicher enge Beziehungen vorhanden. — Die ganze Einſtellung der Romantik iſt
auf das Stärkſte durch Kants Einſichten in das tranſzendentale Bewußtſein be⸗
dingt. Erſt durch die Wendung von den Dingen und von der naiven Auffaſſung
der Wirklichkeit weg auf das Bewußtſein, die Idee und die Norm hin, konnte
das Ich feine überragende Bedeutung erfahren. Nachdem zunächſt das allgemeine
Bewußtſein, das „Bewußtſein überhaupt“, in den Mittelpunkt geſtellt worden
war, mußte ſich für die folgende Generation die Not ergeben, daß dieſes Bewußt⸗
ſein doch immer nur individuell zu erfahren iſt. Man mußte ſich von der Welt
erſt zurückgewendet haben auf das Bewußtſein von der Welt, um die Mannig⸗
faltigkeit der Weltanſchauungen als wichtigſte Frage zu empfinden; eine
Frage, die ſelbſt wieder vor allem durch Herders Geſchichtsanſicht wie über⸗
haupt durch die Entfaltung des hiſtoriſchen Sinns im Sturm und Drang vor⸗
bereitet war. — Neben dieſer philoſophiſch⸗metaphyſiſchen Beziehung mag
dann eine allgemein kulturelle einhergehen. Damals wurde vielleicht zuerſt
Supdorion XXVII. 15
226 Paul Böckmann
die Jap des N Lebens N die Bielgliedrigkeit der
kulturellen Anforderungen ſtärker empfunden, jene Mechaniſierung und Stück⸗
haftigkeit jedes einzelnen Menſchen, die uns heute ſo geläufig geworden
iſt und die der vorangehenden Zeit mit ihrer Ziviliſationsfreude noch weniger
zum Problem geworden war. Sie hatte auch hier den Yortfchritt der Gattung
als wichtiger empfunden oder doch wenigſtens an eine „äſthetiſche Erziehung“
glauben können.
Wenden wir uns nach dieſem allgemeinen Überblick zu Kleiſt zurück! Seine
Problemſtellung bringt ihn in die unmittelbare Nähe der Romantik: auch er
weiß um ſein abgeſondertes, individuelles Daſein und ſucht nach dem Maßſtab
für ſein Handeln, um ſich dem unmittelbaren Zuſammenhang des Lebens wieder
einzufügen. Die Erſchütterung ſeines Wefens folgt aus der Erkenntnis, daß
die Frageſtellung und damit die Antworten der älteren Generation für ihn
nicht mehr ausreichen. Jenes ganze Ringen mit dem Rationalismus, mit Kant
und Rouſſeau erſcheint von hier aus als der Durchbruch zur eigenen Frage⸗
ſtellung, die ihn dann in die Nachbarſchaft ſeiner Altersgenoſſen bringt, wie ſehr
er auch im einzelnen und vielleicht auch in der entſcheidenden Antwort auf die
gemeinſame Frage von ihnen abweichen mag. Hier kommt es darauf an, zu
zeigen, wie er durch die Spannung, die er in ſeinem Leben erfährt, in naher
Beziehung zu jener allgemeinen Bewegung der Romantik ſteht — deren Einheit
ſich doch zunächſt und vor allem andern in einer gemeinſamen Lebens problematik
ausſpricht — während ihm die Ideale der vorangehenden Generation zerbrochen
find. So kann man denn auch die bildliche Vergegenwärtigung des Problems im
Aufſatz über das Marionettentheater in hohem Maße als Symbol des roman⸗
tiſchen Zwieſpalts auffaſſen. Jener Jüngling, der vor dem Spiegel ſeine Un⸗
ſchuld einbüßt, iſt ja eben der romantiſche Menſch, der um ſeine Individualität
weiß und in ihr ſo befangen bleiben kann, daß er daran zugrunde geht. In
dem Abbild des Spiegels reflektiert er nur auf ſich ſelbſt, verliert damit die
unmittelbare Verbindung mit dem Leben überhaupt und zerſtört ſich als Welt,
indem er ſich zum erſtenmal ſelber als Welt ſieht. — Kleiſts anderes Bild ver⸗
körpert gegenüber dieſer Not des Individuums die romantiſche Sehnſucht nach
der Einheit mit allem Leben. Der Bär kennt keine Gebrochenheit, er handelt uns
mittelbar richtig und durchſchant jede Finte, er weiß in jedem Augenblick, was
das Leben verlangt und iſt ihm ganz hingegeben.
Damit enthüllt ſich die wenigſtens vorläufige Verwandtſchaft Kleiſts mit der
Romantik, die ſich aus der gemeinſamen Problemſtellung ergibt und die für ihn
das Reſultat ſeiner Auseinanderſetzung mit ſeiner Zeit, vor allem mit Kant und
Rouſſeau war.
Wenn wir jetzt verſuchen, dieſe Problemſtellung in ſeiner Dichtung wieder⸗
zufinden, ſo werden wir vor allem auf ſein erſtes Werk, auf die Familie Schrof⸗
fenſtein, hingewieſen. Der Haupteindruck, den dieſes Stück hinterläßt, bezieht
ſich auf die dauernden Wißdeutungen aller Handlungen. Hier iſt die Welt wirk⸗
lich ohne Maßſtab, jeder einzelne iſt in ſich befangen und kann nicht erkennen,
was der andere wirklich meint und beabſichtigt. Es fehlt an jeder Orientierungs⸗
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 227
möglichkeit; es herrſcht ein allgemeines Mißtrauen und jede Handlung, jedes
Wort kann auch in ſein Gegenteil umgedeutet werden. Niemand weiß, welcher
Zuſammenhang der Dinge der wirkliche und echte iſt, man greift immer fehl und
kann ſich nur an die handgreiflichſten Zeugen und Beweiſe halten, deren Bedeu⸗
tung dann auch noch falſch ausgelegt wird. So erſcheint das ganze Stück als eine
große Frage nach dem Maßſtab für das Handeln: Wonach kann ich mich eigent⸗
lich noch richten, wenn die Auslegung der Handlungen, Worte, Meinungen und
Gedanken ſo völlig in die Irre führen kann? Dieſe Frage klingt ſtets als hervor⸗
treibender Unterton in der oft recht gewaltſamen Theatralik mit und macht ſie
eigentlich erſt lebensfähig. Jeder einzelne meint, daß er „der Feinde Schar leicht⸗
faßlich, unzweideutig, wie eine runde Zahl erkennen“ 12) kann und ſchließlich iſt
doch alles in einem ſolchen Wirrwarr befangen, daß ſelbſt Liebe und Haß nicht
mehr auseinander zu kennen ſind, daß die Liebesleidenſchaft für einen Mordver⸗
ſuch und der grauſamſte Haß, der den Mord ſchon vorbereitet hat, für gütiges
Entgegenkommen genommen wird. Handeln und Denken kommen nie zuſam⸗
men, immer herrſcht der Irrtum und beſtärkt das Mißtrauen, das nur von den
Liebenden überwunden und doch gefürchtet wird. Jeder einzelne iſt in ſich be⸗
fangen und kann nicht aus ſich heraus; ſo wird alles zum Rätſel, jede Handlung
führt nur in neue Verwirrung 13). Der Schluß des Stückes wird zum Symbol
dieſes ichbefangenen Lebens; weil das ſelbſtbewußte Denken an den Dingen
vorbeigeht und immer fehlgreift, trifft es in ſeinem Handeln ſchließlich nur ſich
ſelbſt. Jeder der beiden Väter ermordet das eigene Kind, ohne es zu bemerken:
der Blinde muß erſt kommen und den wahren Sachverhalt aufdecken; nur der
blöde gewordene Johann erkennt das Verhängnis, dem ſie alle unterworfen ſind
und ſpricht es faſt in den Worten unſeres Aufſatzes aus, als er mit dem blinden
Sylvius durch den Wald geht:
Sylvius: Weh! weh! Im Wald die Blindheit und ihr Hüter,
Der Wahnfinn! Führe heim mich, Knabe, heim!
Johann: Ins Glück? Es geht nicht, Alter. S' iſt inwendig
Verriegelt. Komm. Wir müſſen vorwärts.
Das Bewußtſein hat jeden auf ſich geſtellt und alles Handeln unſicher ge⸗
macht: die alte Hexe ſpricht das Motto des Stückes aus, wenn ſie zum Schluß
ſagt: „Wenn ihr euch totſchlagt, iſt es ein Verſehen.“ Nur dieſe drei Geſtalten,
die irgendwie wieder in das Geſamtleben zurückgetaucht ſind, behalten recht und
erkennen wirklich etwas: der Blinde, der Wahnſinnige, die Hexe. Alle anderen
ſind durch ihr Selbſtbewußtſein täppiſch und in ihrem Handeln dumm geworden.
Im ganzen bleibt das Stück allerdings ein Theatergeſchehen, wenn auch ſelbſt
dadurch noch die Maßſtabloſigkeit enthüllt wird. Ihm fehlt die eigentliche Form
des Kleiſtſchen Schaffens; es iſt mehr Präludium, indem es nur das Problem
aufnimmt, das ſich in dem Ringen mit der Bildung ſeiner Zeit ergeben hat.
12) Bd. I, S. 16.
15) Vgl. Vers 1212 ff.:
Jeronimus: Aus dieſem Wirrwarr finde ſich ein Pfaffe, ich kann es nicht.
Sylveſter: Ich bin dir wohl ein Rätſel? ... Gott iſt es mir.
228 Paul Böckmann
Noch fehlt jeder durchgeführte Verſuch einer wirklichen Löſung. Trotzdem behält
es feine Bedeutung, da es einen Zug deutlich macht, der auch im ſpäteren Schaffen
Kleiſts vorhanden iſt. Dieſe Täuſchung des Bewußtſeins, die den einzelnen in
Irrtum, Wirrwarr und Gefahr bringt, taucht immer wieder auf, ſei es in
Pentheſileas Mißverſtehen der Abſichten Achills, ſei es in dem Irrtum, in dem
Graf Wetter von Strahl ſich über Kunigunde von Thurneck befindet uſw.
Immer bleibt die Möglichkeit beſtehen, das Bewußtſein zu falſchen Schlüſſen
und Handlungen zu veranlaſſen. Nur iſt in dieſen ſpäteren Werken der Maßſtab
für die echten Handlungen eigentlich bekannt. Gerade er ſoll dargeſtellt werden
und ſo iſt jener Trug des Bewußtſeins nur noch ein Nebenmotiv. Die eigent⸗
liche Not, die ſich aus dem Wiſſen um die Individualität ergibt, iſt faſt verebbt
und nicht mehr in dem Sinne aktuell wie in den Schroffenſteinern.
Nur in einem Werk Kleiſts begegnet uns noch einmal das ganze Verhängnis
jener ſich ſelbſt erkennenden und gerade dadurch erſchütterten Individualität:
im Amphitryon. Allerdings iſt die Beurteilung inſofern erſchwert, als Motive
und Handlungsführung in enger Anlehnung an Molieres Luſtſpiel aufgenom⸗
men werden. Aber wir können doch ſoviel ſagen, daß Kleiſt gerade durch das
merkwürdige Spiel mit dem Ich zu dieſem Stoff hingezogen wurde, daß er
hier eine bedeutſame Verwandtſchaft mit ſeinen eigenen Problemen finden
mußte, indem das Selbſtbewußtſein dauernd in Frage geſtellt und gerade da⸗
durch erſt wirklich bewußt wird. Indem er dieſes Problem ernſthaft aufnimmt,
vertieft ſich ihm allerdings — ſelbſt da, wo er nur überſetzt — das Stück von
einem Ehrenhandel zu metaphyſiſcher Beſinnung. Sowohl Soſias wie Amphi⸗
tryon begegnen ſich ſelbſt: der eine lacht, der andere gerät in Verwirrung, und
ſo iſt hier faſt dasſelbe zur dramatiſchen Handlung geworden, was in unſerem
Aufſatz durch jenen Jüngling vor dem Spiegel ſymbolhaft dargeſtellt wird. Die
tiefſte Spannung des Stückes entſteht allerdings erſt in Alkmene, die in der
Sicherheit ihres Selbſt dadurch erſchüttert wird, daß ſie nicht mehr weiß, wem ſie
begegnet iſt; daß ſie plötzlich Zweifel in die Eindeutigkeit ihres Gefühls und Er⸗
kennens ſetzen muß. Sie iſt vor die Frage geſtellt, wen ſie eigentlich geliebt hat
und muß damit ſich ſelbſt und ihren Gatten in ganz neuem Zuſammenhang
ſehen. Was ſonſt eine in ſich geſchloſſene Welt ſchien, die nur ſo und nicht anders
ſein konnte, kaum ein Bewußtſein über Ich und Du beſaß und noch viel weniger
an die Fülle des Lebens dachte, iſt plötzlich erſchüttert; alles könnte jetzt auch anders
ſein, der enge Umkreis des Daſeins iſt geſprengt, und zwar durch die Erſchütte⸗
rung des naiven Selbſtbewußtſeins, das ſo ganz einfach meint, dieſen anderen,
eindeutig beſtimmten Menſchen lieben zu können und damit genug getan zu
haben. Indem der Gedanke auftaucht, daß dieſer ſo tief geliebte Menſch doch
auch ein anderer ſein könnte, bricht die ganze Fülle des Lebens in das Bewußt⸗
ſein ein, ſo daß ſich wahrhaft der Gott ankündigt, der da alles iſt, was war, iſt,
und ſein wird. Das Ich ſteht nicht mehr ſelbſtverſtändlich in dem Zuſammen⸗
hang des Lebens darin, ſondern ihm gegenüber und fragt ſich, wie es denn wieder
in ihn eintreten kann. Wenn in den Schroffenſteinern der Eindruck der Ver⸗
wirrung überwog, der durch die Maßſtabloſigkeit des ſelbſtbewußten Menſchen
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 229
entſteht, ſo iſt es hier vor allem die Spannung zwiſchen Gott und Menſch, zwi⸗
ſchen dem Einzelleben und dem Allleben, was das Stück beſtimmt. Zugleich
geht Kleiſt nun allerdings weiter, ſeiner eigenen Antwort entgegen: die Er⸗
ſchütterung der naiven Sicherheit führt zunächſt vor den Abgrund des Gottes,
aber dann doch zurück zu einer neuen Begrenzung des Lebens. Es geſchieht das
Merkwürdige, daß der Gott nur in der Geſtalt des Geliebten ſichtbar werden
kann, daß alſo im ſelben Augenblick, wo jenes Erſchrecken über die Möglichkeit
des Andersſeins eintritt, auch erfahren wird, daß dieſes Andere nur wieder ſo
erſcheinen kann, wie der Geliebte. Wenn die Begrenzung des Lebens durch⸗
brochen wird, muß zugleich erkannt und gefühlt werden, daß es nur in der Be⸗
grenzung möglich iſt. Alkmene kann nicht aus ihrer Liebe heraus und wo ſie
liebt, iſt es Amphitryon. Jeder Schritt darüber hinaus führt in den Wahn. Sie
iſt durch ihr Gefühl an dieſen beſtimmten Menſchen gebunden und gerade dadurch
Menſch. Sie kann nur Ehrfurcht vor dem Gott haben und Liebe zu Amphitryon.
Wohl iſt die Erſchütterung notwendig, die entſteht, wenn der Gedanke auf⸗
taucht, daß es auch ein anderer ſein könnte. Nur ſo weiß ſie um den Gott und
um ihre Pflicht, ihn zu ehren. Aber wahrhaft Menſch iſt ſie erſt durch die ein⸗
deutige Begrenzung ihres Gefühls: daß ſie nur Amphitryon denken, fühlen und
hören kann und ſonſt nichts.
Mit dieſer Wendung führt Kleiſts Dichtung aus dem Problem heraus zu der
ihm eigentümlichen Löſung und damit zur eigenen Form hin. Er ſieht die Mög⸗
lichkeit einer neuen Begrenzung auch nach dem Bewußtwerden der Individuali⸗
tät und ihrer Sehnſucht nach der Allheit. Der Amphitryon weiſt auf den gleichen
Punkt wie jenes Bild von dem ſich ſelbſt tragenden Gewölbe, wo jeder Stein
nur ſeinen Platz auszufüllen hat und nichts anderes braucht, noch ſein kann.
Wir haben uns zu fragen, wie ſich dieſe Antwort in dem Aufſatz über das Ma⸗
rionettentheater und weiterhin in ſeiner Dichtung darſtellt.
III.
Kleiſts nächſte und unmittelbare Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit
des beſchränkten und doch ſicheren Lebens findet ſich in ſeinen Ausführungen über
die Marionette, nicht erſt in jenen letzten Andeutungen über eine kommende
Menſchheitsentwicklung. Die Marionette bewegt ſich aus dem Schwerpunkt,
ihre Glieder ſind reine Pendel und können ſich nicht zieren, ihre Handlungen ſind
beſtimmt, ohne einem allgemeingültigen Syſtem unterworfen zu fein. Wir müf-
ſen den Sinn dieſes Symbols zu deuten ſuchen und uns fragen, wieweit es ſich
auf Kleiſts eigene Kunſt übertragen läßt. Wir dürfen das, weil doch ſchließlich
die Marionette in ähnlicher Weiſe bildlich auf das geſtellte Problem antwortet,
wie ſeine Dichtung auf die frühere Periode ſeines gedanklichen Ringens. Schon
das beſondere Intereſſe, das gerade der Tänzer an den Bewegungen des Glieder⸗
mannes nimmt, läßt ſich ſinnvoll auf das Verhältnis des Menſchen zur Kunſt
überhaupt übertragen. Wie der Tänzer an den körperlichen Bewegungen inter⸗
eſſiert iſt und nach ihrer Richtigkeit und Notwendigkeit verlangt, ſo ergibt ſich
aus Kleiſts Problemſtellung die Frage für den Menſchen, wie ſeine Hand⸗
230 Paul Böckmann
lungen, ſein geiſtig⸗ſeeliſches Leben inneren Zuſammenhang und wirkliche Not⸗
wendigkeit beſitzen können, obgleich er, dieſer beſtimmte Einzelmenſch, ohne Ver⸗
pflichtung durch ein allgemeines Geſetz iſt. Wie der Tänzer zur Marionette geht,
ſo geht der Menſch zur Kunſt; er nimmt an ihr nicht nur ein unterhaltendes,
artiſtiſches Intereſſe, ſondern kommt wirklich mit ſeiner Lebensfrage zu ihr und
nimmt ſoweit an ihr Anteil, als er durch ſie über ſich klarer werden kann. Die
Kunſt ſoll ihm ſeine Welt deuten, und ſo ſtellt er beſtimmte Anſprüche an ſie, er
plant und macht Entwürfe, wie ihre Geſtalten beſchaffen ſein müßten, um ihm
zu genügen. Kleiſts eigentlicher Anſatz liegt nun da, wo er von dem Bewegen
aus dem Schwerpunkt ſpricht. Wir dürfen ruhig annehmen, daß er ſelber die
dramatiſch⸗handelnden Perſonen auch anderer Dichter aus dieſem Geſichtspunkt
angeſehen hat, daß die Geſtalten des Dramas ihn gerade da intereſſierten, wo ſie
den Zuſammenhang ihres Handelns ſichtbar machen und uns überſchaubarer wer⸗
den als irgendein lebender Menſch. Ihn intereſſierte die Einſicht in die Antriebe und
in die ſich daraus ergebenden Folgen und Handlungen. Was im Drama zunächſt
als buntes Leben erſcheint, das faſt noch bunter, weil zuſammengedrängter iſt als
unſer Alltagsleben, enthüllt ſich zugleich als Auswirkung einfacher Antriebe, die
in ihrem Anfang und Ende gezeigt werden können. Der innere und äußere Ge⸗
ſchehensablauf entſpricht dem Weg der Seele des Menſchen und ſo muß der
Dichter ſich gerade ſo in dieſe Antriebe hineinverſetzen, wie der Maſchiniſt in den
Schwerpunkt der Puppen. Dieſe Parallelität des Marionettentheaters mit der
dramatiſchen Dichtung ſoll nicht bedeuten, daß Kleiſts dichteriſche Geſtalten tat⸗
ſächlich „Marionetten“ im ſtrengen Sinne des Wortes wären; es ſoll nur geſagt
werden, daß in ſeinen Außerungen über ſie dieſelben Fragen hervortreten und
in ihnen das gleiche Bildungsgeſetz wirkſam iſt, das die Figuren ſeiner Dramen
beſtimmt. Erſt auf dieſem indirekten Wege der Übertragung, der die Marionette
nur als Symbol aufnimmt, iſt eine Beziehungnahme zur Dichtung gerechtfertigt
und die Spannung zwiſchen jenem kleinen Aufſatz über die mechaniſchen Puppen
und der mächtigen Geſtaltenwelt ſeiner Dramen zu überwinden. Gibt man aber
dieſe Beziehung einmal zu, ſo kann man nun auch jene Verbeſſerungswünſche
des Tänzers als künſtleriſche Abſichten Kleiſts auffaſſen. Er möchte im Drama
Geſtalten zeigen, die in der Geſchloſſenheit und Sicherheit ihrer Handlung jeden
Menſchen übertreffen; er möchte dies durch eine naturgemäßere Anordnung und
durch eine reinere Auswirkung der Handlungsantriebe erreichen und im übrigen
größeres Ebenmaß, größere Beweglichkeit und Leichtigkeit ſeiner Geſtalten an⸗
ſtreben.
Wie ſehr dieſe Übertragung gerechtfertigt iſt, läßt ſich vor allem an jenen Über⸗
legungen aufweiſen, die über die Vorteile einer ſolchen Marionette angeſtellt
werden. Damit werden tatſächlich bedeutſame Stileigentümlichkeiten Kleiſts be⸗
rührt. Er ſpricht davon, daß ſich die Marionette niemals ziert und auch nicht
dem Geſetz der Trägheit unterworfen iſt, daß fie — wie er ſich ausdrückt — „anti⸗
grav“ ſei; ſelbſt die bedeutendſten Tänzer hätten oft ihre Seele an ganz falſcher
Stelle ſitzen: „Wenn die P. die Daphne ſpielt und ſich, verfolgt vom Apoll, nach
ihm umſieht,“ ſitzt ihr die Seele in den Wirbeln des Kreuzes. Auf die Menſchen⸗
Lleiſts Auffag über das Marionettentheater 231
und Kunſtwelt übertragen, würde dies bedeuten, daß die Menſchen, ſelbſt die,
die am ſicherſten und echteſten handeln, immer wieder ſeeliſche Regungen und
tatſächliche Handlungen zeigen, die in irgendeiner Weiſe verbogen, verkrampft
und dadurch willkürlich und gemacht wirken. Demgegenüber hätte die Kunſt den
reinen, ungebrochenen Verlauf des ſeeliſchen wie des tätigen Lebens zu zeigen.
Im Kleiſtſchen Drama iſt es nun tatſächlich ſo, daß hier die Handlung, wenn
ſie einmal in Bewegung geſetzt iſt, mit ungeheurer Wucht ihren Weg durchläuft
und inſofern niemals ein Sich⸗Zieren zuläßt. Sie kann wohl innig werden oder
auch ſchamvoll verhüllt, aber nicht ſpieleriſch, kokett, geziert, wie es doch wohl
ſonſt in der Dichtung immer wieder möglich iſt. Denn dieſes Zieren muß ja nicht
notwendig ſoweit gehen, wie bei jenem Jüngling vor dem Spiegel, der durch
fein Bewußtſein jede Unmittelbarkeit unmöglich macht, ſondern kann doch durch⸗
aus ein berechtigtes Lebensmoment ſein, eben als Schutz vor der Übermacht des
Gefühls und als eine Reflexion über ſich ſelbſt, die trotzdem die wirkliche Ergrif⸗
fenheit immer wieder anerkennt. Inſofern beſtärkt dann auch das Spiel mit und
über dem Leben nur die Lebensnähe und die immer ein wenig erdgebundene
Menſchlichkeit unſeres Daſeins. Es verläuft eben nie in dieſer bloßen Gerad⸗
linigkeit des Gefühls, ſondern ziert ſich zugleich wieder ein bißchen, um von
neuem ergriffen zu werden. Inſofern ſagt doch auch Fauſt vom Gretchen:
Sie iſt ſo ſitt⸗ und tugendreich
Und etwas ſchnippiſch doch zugleich
Wie ſie die Augen niederſchlägt
Hat tief ſich in mein Herz geprägt;
Wie ſie kurz angebunden war,
Das iſt nun zum Entzücken gar.
Hier iſt eben nicht nur Gretchens wirkliche Schamhaftigkeit geſchildert, wie bei
Käthchen, als fie den Bach durchwaten ſoll 1%, ſondern doch zugleich dieſer etwas
überbetonte Selbſtſchutz vor der Möglichkeit des Gefühlseinbruchs, der die Seele
ruhig an eine verkehrte Stelle verſteckt und der gerade dadurch wieder anreizend
wirkt. Dieſe ganz naive Form des Zierens und der Gebrochenheit durch das Be—
wußtſein fehlt bei Kleiſts Geſtalten ſtändig. Damit gewinnen ſie gerade eine
eigentümliche Stilform und zugleich doch auch das, was ſie von jener ſinnlichen
Fülle des einfach⸗menſchlichen Lebens ſcheidet; ſie wirken faſt wie eine Geſtalt,
die nur in ihren Muskeln, Sehnen und Bändern gezeigt wird, deren ganze Ber
wegungsfülle vor uns auftaucht, die aber nicht zugleich wieder alles unter der
Haut verbergen und im Spiel verſtecken kann. Seine Figuren ſind eben wirklich
in einem tieferen Sinn Gliedermänner, deren Bewegungen ſo abſolut eindeutig
verlaufen, wie die Schwingungen des Pendels; es fehlt ihnen das in dieſem Zu-
ſammenhang eigentlich Menſchliche, daß ſie ſich zieren können, was etwa
bei Goethes Geſtalten mit dazu beiträgt, ihnen die Lebensnähe und menſchliche
Wahrheit zu geben.
Dieſe Eigentümlichkeit des Kleiſtſchen Stils wird dann noch durch das andere
Merkmal unterſtrichen, das die Marionette von dem Tänzer ſcheiden ſoll: ſie iſt
1) Bd. II, S. 274.
232 Paul Böckmann
„antigrav“. Damit kommen wir zu einer ganz prägnanten Beſonderheit ſeines
Dramas, wie auch wohl ſeiner Erzählungen. Es herrſcht in ihnen eine ſolche
Flugkraft des ſeeliſchen Lebens, ein ſo direktes und abſolutes Drauflosgehen,
eine ſolche Hemmungsloſigkeit im Geſchehen wie im Ausdruck, eine Geradlinig⸗
keit im Verfolgen einer eingeſchlagenen Richtung, daß hier wirklich die Geſetze,
die im menſchlich⸗irdiſchen Leben wirkſam ſind, aufgehoben zu ſein ſcheinen. Die
Bindung an den Stoff, an dem ſich das Handeln vollzieht, die Beſchränkung, die
der Kraft des ſeeliſchen Lebens auferlegt iſt, ſcheint hier überwunden. Penthe⸗
ſilea jagt hinter Achill her, kein Sturz kann ihr etwas anhaben, keine Müdigkeit
ſcheint ſich zu regen, die Landſchaft mit Bergen und Schluchten wird wie im
Fluge überwunden. Jedes Gefühl ſucht ſeinen abſoluten Ausdruck, es gibt kein
Geſetz und keine Sitte, vor dem es ſich zu verantworten hätte. Nur in dieſer an⸗
tigraven Darſtellung kann das Gefühl ſich bis zu ſeinem wirklichen Ende hin
ausſchwingen und nun tatſächlich Pentheſilea die Zähne in den Leib Achills hin⸗
einſchlagen und ihn zerfleiſchen. Und auch Pentheſileas eigenes Ende iſt eben
nur möglich, wenn die Schwerkraft des körperlich⸗irdiſchen Lebens keine Rolle
ſpielt und das „Gefühl“ des Schmerzes ſich ganz auswirken kann. Wie in ihrem
Verhalten, ſo iſt es in dem Käthchens, Hermanns, Homburgs, Kohlhaaſens und
wie ſie alle heißen. Sie alle beſitzen die abſolute Flugkraft und ſind unabhängig
vom Geſetz der Schwere und der eigentlich irdiſchen Gebundenheit. Damit ſind
ſie von vornherein von den Geſtalten Goethes oder Shakeſpeares geſchieden, ſie
wollen deren plaſtiſche, lebensnahe Körperlichkeit nicht beſitzen, ſondern folgen
ihrem eigenen Geſetz, ſind antigrav und können ſich nicht zieren.
Wenn uns ſo die Übertragung der Ausführungen über die Marionette auf
Kleiſts Kunſt zu wirklichen Aufſchlüſſen über ſeinen Stil verhilft, ſo bleibt aller⸗
dings die Frage, in welchem Sinn wir von dem Schwerpunkt und ſeiner ein⸗
fachen Bewegung bei den dichteriſchen Geſtalten ſprechen ſollen. Braig nimmt
auch eine Übertragung vor und meint, daß mit dieſem Schwerpunkt eigentlich
der Schwerpunkt der Welt gemeint ſei, in den wir nur durch Jeſus Chriſtus zu⸗
rückkehren könnten 15). Hellmann wendet den Gedanken ins Romantiſche und
ſieht in jenem Schwerpunkt den Strahl, durch den wir am Unendlichen teilhaben,
den organiſchen Keim, den wir entfalten müſſen, „den göttlichen Funken der In⸗
dividualität der in beſtimmter Richtung zu Gott zurück will“ 16). Mir ſcheint,
daß die Dinge bei Kleiſt ſo einfach nicht liegen und daß wir auch gerade hier
gegenüber den allgemeinen Kategorien von Romantik oder Chriſtentum zunächſt
ſein Eigenes, Beſonderes faſſen müſſen.
Es wird gut ſein, ſich zu dieſem Zweck ſeiner Dichtung zu nähern und zu er⸗
wägen, ob ſich hier eine entſprechende einfache Bewegung eines Schwerpunktes
finden läßt. Es iſt nun in der Tat das Auffällige und für Kleiſts Kunſt
beſonders Charakteriſtiſche, daß in allen ſeinen Werken — von der Penthe⸗
ſilea ab —, ſowohl in den Dramen wie in den Novellen, ein derartig ent⸗
ſcheidender Punkt vorhanden iſt, wo der Menſch durch eine Begegnung, ein
15) Braig, S. 545.
16) Hellmann, S. 26.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 233
Ergriffenſein oder ein Ereignis in ganz beſtimmter Richtung in Bewegung
geſetzt wird und nun alle weiteren Einzelzüge der Handlung und des Ge⸗
ſchehens wie im Fortſchwingen des Pendels daraus folgen. Es ergibt ſich
daraus die vorwärtstreibende, immer weiter und ſchließlich an ein notwendiges
Ziel drängende Kraft der Bewegung, die — bis in die Sprache hinein — in der
Dichtung Kleiſts ſo auffällig iſt und die immer wieder auf einen derartigen
Einſatzpunkt zurückweiſt, von dem aus alles nur als organiſches Ausſchwingen
jener Urſprungsbewegung erſcheint. Anderſeits ſetzt faſt jede ſeiner Dichtungen
ſchon mit einer ſolchen antreibenden Bewegung ein, die gerade durch jenes be⸗
wegende Ereignis erſt als ſinnvoll erſcheint und darum möͤglichſt raſch auf
dieſes hindrängt.
Vergegenwärtigen wir uns dieſen Befund an der Pentheſilea und dem Käth⸗
chen. In beiden Dramen, ſo gegenſätzlich ſie ſonſt ſein mögen, iſt das Ereignis,
das die Bewegung in Gang bringt, faſt übereinſtimmend geſchildert. Ein ver⸗
hältnismäßig gleichmütiger, faſt geſtaltloſer und nur möͤglichkeitsreicher Menſch
trifft plötzlich auf jenen anderen, der in ihm alle Gefühle der Liebe und des
Beſitzverlangens löft und darum wie eine übermächtige Erſcheinung hingenom⸗
men wird, die ſchon ſeit langem mit der eigenen Exiſtenz verflochten iſt. Die
Form des bisherigen Daſeins zerbricht durch dieſen Einbruch von außen her, der
das ganze eigene Leben neu in Bewegung ſetzt und nur auf dieſes eine Ziel hin⸗
richtet. Das Ich erfährt in ſich eine äußere Wirklichkeit, mit der es ſchickſalhaft
verbunden iſt und erfaßt ſich in dieſer Begegnung eigentlich erſt ſelbſt, wird
plötzlich in allen Lebensregungen erſchüttert und auf dieſes Ziel hin geſpannt.
Pentheſilea trifft den Achill und ihr vordem ausdrucksloſes Geſicht wird von
Glut übergoſſen, ſo daß niemand weiß, was eigentlich geſchehen iſt:
Gedankenvoll, auf einen Augenblick
Sieht ſie in unſre Schar, von Ausdruck leer,
Als ob in Stein gehaun wir vor ihr ſtünden;
Hier dieſe flache Hand, verſichr' ich dich,
Iſt ausdrucksvoller als ihr Angeſicht:
Bis jetzt ihr Aug' auf den Peliden trifft:
Und Glut ihr plötzlich, bis zum Hals hinab,
Das Antlitz färbt, als ſchlüge ringsum ihr
Die Welt in helle Flammenlohe auf.“)
Dieſe Begegnung wird dann entſcheidend für den Verlauf des Dramas über⸗
haupt; ſie ſetzt das Stück eigentlich erſt in Bewegung und in der Dynamik, die
ſie erzeugt, liegt zugleich alle Tragik, alle Größe und alles Verhängnis der Ge⸗
ſtalten beſchloſſen. — Und ein ganz ähnlicher Punkt iſt im Käthchen vorhanden:
auch da iſt eine Begegnung, die wie ein Schickſal in eine Menſchenſeele ein⸗
ſchlägt, ſie überhaupt erſt formt und ihr weiteres Leben beſtimmt. „Wenn mir
Gott der Herr aus Wolken erſchiene, ſo würd' ich mich ohngefähr ſo faſſen wie
ſie. Geſchirr und Becher und Imbiß, da ſie den Ritter erblickt, läßt ſie fallen;
und leichenbleich, mit Händen, wie zur Anbetung verſchränkt, den Boden mit
Bruſt und Scheiteln küſſend, ſtürzt ſie vor ihm nieder, als ob ſie ein Blitz nieder⸗
17) Bd. II, S. 23.
234 Paul Böckmann
geſchmettert hätte!“ 18) Und wie an dieſen beiden Stellen, ſo iſt es in allen
Dichtungen Kleiſts: immer erfolgt ein ganz elementarer Einbruch in die Seele
des Menſchen. Wir erfahren von der Seele ſeiner Geſtalten überhaupt nur
etwas, indem ſie durch eine ſolche Erſchütterung in Bewegung geſetzt wird. Die
Seele — der Schwerpunkt bei der Marionette — iſt nichts für ſich Beſtehendes;
ſie wird erſt wirklich, indem ſie von einer ſchickſalhaften Begegnung ergriffen
wird, ſich in das Leben verſtrickt fühlt und in dieſer Begegnung ihre Geſtalt
gewinnt, indem ſie ſich nun in ihren Handlungen verkörpert. Wie die Seele
dem Schwerpunkt entſpricht und beide ſtumm und geſtaltlos ſind, ſo lange ſie
nicht mit dem Wirklichen um ſie her in Wechſelwirkung ſtehen, ſo entſprechen
dieſe elementaren Begegnungen jenen einfachen Bewegungen, durch die die
Marionette erſt ihr volles Leben, die ganze Fülle ihrer vielfältigen Ausdrucks⸗
möglichkeiten gewinnt.
Allerdings bleibt noch ein ſchwieriges Problem. Denn gerade wenn die Seele
für ſich allein in gewiſſer Weiſe geſtalt⸗ und faſt individualitätslos iſt, ſo muß
es um ſo überraſchender ſein, wenn nun doch eine gleiche oder wenigſtens ganz
ähnliche Begegnung zu ſo verſchiedenem Ausgang und ſo entgegengeſetzten Be⸗
wegungen führt wie bei Pentheſilea und Käthchen. Aber ſelbſt das können wir
uns von dieſer Ebene aus verſtändlich machen: wir müſſen uns nur vor Augen
halten, daß das ſeeliſche Leben in dem Umfang beſtimmte Geſtalt annimmt, als
es bereits derartigen elementaren und unausweichbaren Eingriffen gefolgt iſt
und in ihrem Anerkennen ſich zu einem beſtimmten Individuum geformt hat
oder vielmehr — da hier, wo alles dynamiſch iſt, Form und Geſtalt nicht die an⸗
gemeſſenen Begriffe ſind — ſchon in einer beſtimmten Bewegung begriffen iſt.
Es können dann gewiſſermaßen ſich widerſtreitende oder ſich gegenſeitig ſtärkende
Bewegungen entſtehen. Die eine, das Leben beſtimmende Begegnung, kann der
andern widerſprechen, beide ſind wirklich, verlangen nach Anerkennung, ſetzen
die Seele in Bewegung und vernichten ſie in ihrem Widerſtreit. Es entſteht dann
kein Konflikt von Pflicht und Neigung oder von widerſtreitenden Pflichten,
ſondern alles was Pflicht, Liebe, Ehre oder ſonſtwie heißen und ſich wider-
ſtreiten könnte, iſt erſt durch einen unmittelbaren Einbruch elementarer Lebens⸗
richtungen in die Seele wirklich, erregt ihre Kräfte, um hier im Kräfteſpiel der
Seele zum Ausgleich oder zur Vernichtung zu führen. Pentheſilea iſt in ihrer
frühen Jugend durch ihre Königinnenaufgabe beſtimmt worden, ihr iſt ſie
gefolgt, von ihr hat ſie ihr Leben formen laſſen. Jetzt trifft ſie Achill und will
nur dieſer neu erregten Bewegung folgen; ſie kann es nicht anders als mit den
ſchon belebten Kräften, ſie muß als handelnde Herrſcherin ſich auch die Liebe
erobern und kommt ſo in den Widerſtreit der Kräfte in ihr, der ſie und alles,
was an ihr hängt, zermalmt. Ihr Verlangen nach Selbſtbehauptung bäumt ſich
gegen jede Möglichkeit einer Unterwerfung — ſelbſt unter die Liebe — auf; und
doch möchte ſie die löſende Kraft der Hingabefähigkeit gewinnen und den Mann
ſo ſelbſtvergeſſen lieben, wie es ihr als Frau nur irgend gegeben iſt. Aber die
16) Bd. II, S. 188.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 235
Kampfſzenen löſen ſich nicht in die Liebesſzenen auf, fie überſchneiden einander
und müſſen darum ins Verderben führen. — Käthchen dagegen iſt in enger Bürger⸗
lichkeit aufgewachſen, ſie iſt nur im Gehorſam an den Vater gebunden und ſieht
doch zugleich ihre künftige Aufgabe als Frau und Mutter. In ihrer Begegnung
mit Graf Wetter von Strahl wird dies Planen und Denken auf ein Ziel ge⸗
ſammelt; all ihre Kräfte gehen in gleicher Richtung, die Bindung an den Vater
löſt ſich mit innerer Selbſtverſtändlichkeit und ſo iſt ſie „ebenſo mächtig durch
gänzliche Hingebung“ wie Pentheſilea durch ihr Handeln 19).
Die Art des Widerſtreits im Gefühl der letzteren läßt ſich vielleicht noch näher
erfaſſen, wenn man zum Vergleich einen ähnlichen und ebenſo verhängnis⸗
vollen Kampf betrachtet, den Kleiſt im Erdbeben in Chili dargeſtellt hat. Hier
iſt es nicht mehr eine Einzelexiſtenz, die durch ein ſchickſalhaftes Ereignis in
ihrem Leben beſtimmt wird, ſondern die Bevölkerung einer ganzen Stadt, die
durch das Erdbeben aus ihrer gewohnten Lebensbahn geriſſen wird, im Fühlen
und Denken plötzlich wie umgekehrt erſcheint und in ganz neuer und anderer
Weiſe als bisher ſich bewegt. Es iſt hier gewiſſermaßen eine Volksſeele ſo
elementar berührt worden wie die Seele Pentheſileas oder Käthchens durch die
Begegnung mit dem Geliebten. Alle Bewegung, alle Handlung iſt durch dies
Geſchehen beſtimmt; was vorherging, ſcheint zunächſt wie ausgelöſcht und ſo
können Jeronimo und Joſephe, die eben noch von ſämtlichen Bürgern ver⸗
urteilt wurden und dem Tode überliefert werden ſollten, wieder frei herum⸗
gehen und ſogar in ſo freundlicher Weiſe mit den Verwandten zuſammenſein,
als ob nie ein anderes Gefühl geherrſcht hätte: „Es war, als ob die Gemüter
ſeit dem fürchterlichen Schlage, der ſie durchdröhnt hatte, alle verſöhnt wären.
Sie konnten in der Erinnerung gar nicht weiter, als bis auf ihn zurückgehen.“ 20)
Aber nun geſchieht das Seltſame, daß dieſes Gefühl der Verſöhnung nicht vor⸗
hält, daß die Vergangenheit trotz eines ſo elementar wirkenden Einbruchs
nicht verdeckt bleibt, ſondern daß ſie wieder aufgerührt wird, daß irgendwo in
dem Bewußtſein dieſer Volksſeele die Erinnerung an frühere beſtimmende Ein⸗
drücke wach wird und nun ſogar in merkwürdiger Verquickung mit dem eben
erlebten Geſchehen geſehen, eins vom anderen faſt abhängig gemacht wird. Da⸗
mit taucht die alte Bewegung des Gefühls wieder auf, die durch den Frevel
im Kloſtergarten hervorgerufen worden war; ſie bemächtigt ſich der neuen Er⸗
regung und zerſtört die unglücklichen Opfer. Was eben noch volle Verſöhnungs⸗
ſtimmung zu ſein ſchien, wird durch die Worte des Prieſters zu flammendem
Haß aufgepeitſcht. Die Gemütsbewegung aus der Vergangenheit trifft mit der
gegenwärtigen zuſammen und aus ihrem Widerſtreit geht notwendig ein zer⸗
malmendes, tragiſches Ende hervor. Was in der Pentheſilea in der Einzelſeele
ſich vollzieht, wird hier in die vielen Glieder eines Volkes auseinandergelegt
und dadurch deutlicher. Das Entſcheidende für Kleiſt iſt immer der beſtimmende
Einbruch in die Seele; dieſer wirkt ſich ſeiner Kraft entſprechend aus, ruft eine
Fülle von Handlung und Geſchehen hervor und hat ſich mit den Bewegungen
10) Bd. V, S. 358.
20) Bd. III, S. 303.
236 Paul Böckmann
auseinanderzuſetzen, die von früheren derartigen Einbrüchen her noch wirkſam
ſind. Die Seele lebt nur durch dieſe ſchickſalhaften Ereigniſſe und wird damit
zum Schauplatz des Kräftewiderſpiels. Niemals werden dieſe Kräfte gegenein⸗
ander moraliſch gewertet, ſie ſind nur da und voll und ganz wirklich; ſie kommen
im glücklichen Fall zum Ausgleich, im tragiſchen zur gegenſeitigen Vernichtung.
Der Menſch muß ſie zur Auswirkung kommen laſſen, weil in ihnen ſein Leben
allein beſteht; wenn ihre Spannung zu groß wird, ſo muß auch ein ſolches
Schickſal beſtanden werden. In dieſer Haltung kommt Kleiſts tiefſtes Weſen
zum Ausdruck, ſeine dunkle, verhängnisvolle Schickſalsglut und ſein ſtrenger
Ernſt: das, was ihn geradezu zum Verkörperer eines ſeeliſchen Helden⸗
tums macht.
Wie ſehr Kleiſt ſelber dieſe Auffaſſung des ſeeliſchen Lebens und des Charak⸗
ters gehabt hat, zeigen vor allem einige Außerungen, in denen er das menſch⸗
liche Verhalten mit den Geſetzen der Elektrizität vergleicht und die „merkwürdige
Übereinſtimmung zwiſchen den Erſcheinungen der phyſiſchen und moraliſchen
Welt“ 21) betont. Wie ein beſtimmt geladener, elektriſcher Körper in der Be⸗
rührung mit einem gleichgültigen dieſen zum Gegenpol macht, ſo wird auch im
menſchlichen Leben ein beſtimmt gearteter Charakter einen anderen aus ſeinem
geſtaltlos-unbeſtimmten Schwebezuſtand herausreißen und ihn in eindeutige
Bewegung verſetzen; oder es kann ſich auch ereignen, daß in einer ſolchen Be⸗
gegnung, dadurch, daß zwei gleichgerichtete Menſchen zuſammenſtoßen, der eine
ſein Weſen geradezu umkehrt und ſich in ganz neuer Weiſe bewegt: „Dergeſtalt
daß ein Menſch, deſſen Zuſtand indifferent iſt, nicht nur augenblicklich aufhört,
es zu ſein, ſobald er mit einem anderen, deſſen Eigenſchaften, gleichviel auf
welche Weiſe beſtimmt ſind, in Berührung tritt: Sein Weſen ſogar wird, um
mich ſo auszudrücken, gänzlich in den entgegengeſetzten Pol hinübergeſpielt; er
nimmt die Bedingung + an, wenn jener von der Bedingung —, und die Be⸗
dingung —, wenn jener von der Bedingung + iſt.“?2) Hier find beide Mo⸗
mente in den Vordergrund gerückt, die uns bei der Betrachtung der dichteriſchen
Geſtalten auffielen: die faſt taube, geſtaltloſe Unentſchiedenheit, in die ein plötz⸗
liches Ereignis einbricht derart, daß es eine ganz beſtimmte Bewegung hervor⸗
ruft; ferner die Möglichkeit, daß ſich in einer Seele verſchiedene Bewegungen
auch ganz entgegengeſetzter Kraftrichtung treffen und um den Ausgleich ringen
können. Damit wird die tiefgehende Bedeutung von Kleiſts Ausſpruch über das
Verhältnis von Käthchen und Pentheſilea klarer: „Wer das Käthchen liebt, dem
kann die Pentheſilea nicht ganz unbegreiflich fein, fie gehören ja wie das +
und — der Algebra zuſammen und ſind ein und dasſelbe Weſen, nur unter ent⸗
gegengeſetzten Beziehungen gedacht.“??) Dieſe Äußerung ſetzt ſchon die ganze
Eigentümlichkeit von Kleiſts Charakterauffaſſung voraus, wie ſie der Vergleich
mit der Elektrizität deutlich zu machen ſuchte. In etwas anderem Zuſammen⸗
hang tritt dieſe Art der Charakterauffaſſung auch in dem Aufſatz „Über die
21) Bd. IV, S. 77.
22) Bd. IV, S. 211.
20) Bd. V, S. 380.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 237
allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ hervor. Auch hier ſoll
das, was man wiſſen oder ſagen möchte, nicht ohne weiteres im Gedächtnis
bereit liegen, ſondern ſich eigentlich erſt im Zuſammentreffen mit einer beſtimm⸗
ten Situation und beſonderen Ereigniſſen erzeugen. „Ich glaube, daß mancher
große Redner in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte,
was er ſagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedanken⸗
fülle ſchon aus den Umſtänden und der daraus reſultierenden Bewegung ſeines
Gemüts ſchöpfen würde, machte ihn dreiſt genug, den Anfang auf gutes Glück
hin zu ſetzen.“?“) Das iſt zunächſt ſicher eine tiefe Einſicht in die Art und Weiſe,
in der ſich Gedanken und Worte überhaupt bilden. Aber darüber hinaus iſt es
doch wieder ein Zeichen der beſonderen Lebenshaltung und Charakterauffaſſung
Kleiſts. Es iſt im Grunde immer das Symbol der Marionette, deren Schwer⸗
punkt in einfacher Weiſe bewegt wird und die dadurch die ganze Fülle der Be⸗
wegungen zeigt. Der Schwerpunkt ſelber iſt als ſolcher nicht greifbar, ſo wenig
wie die Seele oder das Wiſſen; er muß erſt in Schwingung verſetzt werden und
drückt ſich dann in der Geſtalt aus.
Wir überblicken jetzt ſchon deutlicher, in welchem Sinn die Marionette und
mit ihr die Kunſt tatſächlich auf Kleiſts Lebensfrage antwortet. Er hatte am
Menſchen die Notwendigkeit der Individualität erkannt und darin das menſch⸗
liche Verhängnis gefunden. Wie ſollte er — nachdem ihm ſein Ich bewußt ge⸗
worden war — noch aus ſich herauskommen, ſich einem größeren Zuſammen⸗
hang eingeordnet finden und ſeinem Handeln Notwendigkeit verleihen? Das
war Kleiſts große beunruhigende Frage geweſen. Seine Dichtung wie auch
dieſe wenigen theoretiſchen Außerungen zeigen, wie ihm bewußt geworden iſt,
daß das Ich für ſich allein genommen ſtumm und geſtaltlos und nur potentiell,
als bloße Möglichkeit, da iſt, wie es nun aber auf eine außerhalb des Ich liegende
Wirklichkeit ſtößt, der es zugleich ſchickſalhaft zugeordnet iſt, wie dieſe Wirklich⸗
keit immer als beſtimmtes Ereignis in das Ich einbricht, es in Bewegung ſetzt,
dadurch geſtalthaft und ſichtbar macht und zum eigenen Sein hinführt. Es hat
ſich dieſem elementaren Geſchehen zu öffnen, ihm zu folgen und beſitzt dann den
ſcheinbar verlorengegangenen Zuſammenhang mit dem Leben von neuem, iſt in
ſeinem Handeln notwendig beſtimmt, wie die Glieder der Marionette, die als
reine Pendel wirken. Die Dichtung und mit ihr die Marionette unterſcheidet
ſich nur inſofern vom tatſächlichen Leben, als ſie dieſe eigentlich bedeutſamen
und entſcheidenden Augenblicke mit allen daranhängenden Folgerungen beſon⸗
ders deutlich machen kann, ohne die trübenden und verwiſchenden Züge, die im
Alltagsleben des einzelnen den Zuſammenhang des Handelns ſtören. Die dich⸗
teriſchen Geſtalten haben eben den Vorteil, daß ſie antigrav ſind und ſo die her⸗
vorgerufenen Bewegungen ſich rein auswirken; ferner, daß ſie ſich nicht zieren,
d. h., daß fie jenen Einbruch des elementaren Geſchehens nicht durch die Refle⸗
xion aufzuheben ſuchen oder zerſtören. Der einzelne Menſch wird immer wieder
ſich auf ſein Ich, ſein Selbſtbewußtſein, zurückziehen und derartige unmittelbare
20) Bd. IV, S. 76.
238 Paul Böckmann
Einbrüche in das Gefühl nicht anerkennen wollen. Die Dichtung dagegen kann
ihnen ganz rein und ungebrochen nachgehen und damit deutlich machen, was
eigentlich dem menſchlichen Leben Richtung und Geſtalt gibt. Nur in bezug auf
dieſen Unterſchied haben wir Kleiſts Wort aufzufaſſen, daß „der Geiſt nicht
irren kann, da, wo keiner vorhanden ift“ 2°). Es ſoll damit nicht die Bedeutung
der Marionette überhaupt beſtritten, ſondern nur der Unterſchied von Kunſt und
Leben betont werden.
Wir haben uns jetzt zu fragen, welche Begegnungen und Ereigniſſe für Kleiſt
ſo elementar ſind, daß ſie das Leben des Menſchen beſtimmen können. Das iſt
um ſo wichtiger, als durch dieſe Einbrüche doch gewiſſermaßen das vorher iſo⸗
lierte Ich wieder die tatſächliche Wirklichkeit einer Außenwelt erfährt; damit
beantwortet unſere Frage zugleich, was für Kleiſt, dieſen Einſamen und durch
die geiſtesgeſchichtliche Lage, die er vorfand, faſt iſolierten Menſchen, an tiefſter
Wirklichkeit vorhanden geweſen iſt.
Bei der Betrachtung der Pentheſilea und dem Käthchen ſahen wir ſchon, wie
die Begegnung mit einem anderen Menſchen zum tiefſten Schickſal wird, und
zwar mit ſo innerer Notwendigkeit, daß das Zuſammentreffen mit dem Ge⸗
liebten wie von langer Zeit vorherbeſtimmt erſcheint. Ich und Du gehören zu⸗
ſammen; ſobald ſie ſich erkennen, entſteht die elementarſte und ungehemmteſte
Bewegung in jedem Einzelnen, ihr beiderſeitiges Leben kreiſt umeinander, wie ſehr
es auch noch voller Spannungen ſein mag. So iſt die Begegnung zweier Men⸗
ſchen in der Liebe immer wieder ein Hauptthema in Kleiſts Dichtung und faſt
ſtets klingt etwas von der Ausſchließlichkeit und elementaren Plötzlichkeit an,
mit der das Zuſammentreffen erfolgt. In der Verlobung von St. Domingo
etwa iſt die junge Meſtize zunächſt auf das Grauſamſte an der Verſchwöͤrung der
Neger gegen die Weißen beteiligt. Dann erfolgt die bis in ſeeliſche Tiefen hinab⸗
gehende Berührung mit dem Fremden; gewiſſermaßen in einem Augenblick ent⸗
ſteht in ihr eine völlige Wandlung und damit eine neue Lebensbewegung, die
nur noch die Rettung des Geliebten ſich zum Ziel nimmt. Als ähnlich beſtimmend
wird die Begegnung zweier Menſchen im Augenblick der höchſten Gefahr im
Findling geſchildert: ein junger Genueſer rettet Elvire aus den Flammen, ſtirbt
ſchließlich an den dabei erhaltenen Wunden und bleibt doch entſcheidend für das
ganze weitere Leben der geretteten Frau. Eine wirkliche Begegnung, die das
ganze innere Leben in Bewegung ſetzt, iſt eben für Kleiſt der eigentlich ent⸗
ſcheidende Lebensvorgang. ’
In der Hermannſchlacht wird die Gewalt eines ſolchen urſprünglichen Ges
troffenſeins auf einer anderen ſeeliſchen Ebene gezeigt. Die Römer ſind in Ger⸗
manien eingebrochen und haben alle Gemüter in Erregung verſetzt. Das ganze
Volk iſt in ſeinem Denken und Handeln auf dies Ereignis hin gerichtet, aller⸗
dings ohne ſich vereinigen zu können, da jeder zugleich an ſeinen Privatvorteil
denkt. Nur Hermann iſt in einer noch tieferen Schicht des Seelenlebens berührt
worden; er iſt nicht nur bedrückt von der Gefahr für Haus und Beſitz, ſondern
25) Bd. IV, S. 137.
zugleich ganz durchdrungen von dem Bewußtſein, daß die Freiheit eines Volkes
das höchſte Gut iſt 26). In dieſes Recht der Selbſtbeſtimmung haben die Römer
eingegriffen: ſo iſt jedes Mittel erlaubt, um ſie wieder zu vertreiben und der
Haß das tiefſte Gebot der Stunde. Wie die Liebe in dem Zuſammentreffen
zweier ſeeliſch verbundener Menſchen entſteht, ſo der Haß in dem frevelhaften
Eingriff in die Selbſtändigkeit eines Volkes oder auch wohl eines Einzelnen.
Im Prinzen von Homburg wird eine ganze Reihe unmittelbarer Gefühls⸗
erregungen verknüpft, übereinander geſchichtet und ſo am ſtärkſten ein wirkliches
Kräfteſpiel vorgeführt. Gerade dadurch gehört denn auch der Homburg mit zu
dem Tiefſten, was Kleiſt überhaupt geſchaffen hat. In der Traumſzene iſt der
Prinz ganz erfüllt von den Gedanken an Ruhm und Liebe; er flicht ſich den
Lorbeerkranz und glaubt ſchon das höchſte Glück in Händen zu halten. Der
Handſchuh, der ihm als geheimnisvolles Zeugnis zurückgeblieben iſt, beſtärkt
dieſe Gefühle auch im wachen Zuſtand und beunruhigt ihn doch zugleich. Er iſt
ganz von dem merkwürdigen Zuſammentreffen von Traum und Wirklichkeit
erfüllt und ſieht nichts anderes. In der Schlacht iſt er in ähnlicher Weiſe nur
auf die Situation des Augenblicks gerichtet und bricht los, wenn der Sieg ſich
ihm anzubieten ſcheint. Als er den vermeintlichen Tod des Kurfürſten bemerkt,
wird ſein Gefühl auf das Höchſte geſpannt, und in wildem Racheverlangen
überrennt er endgültig den Feind. — Wie ſehr die Gefühlsbewegung ſeines
Lebens immer gerade durch die im Augenblick ihn treffende Wirklichkeit beſtimmt
wird, zeigt dann vor allem das Erwachen der Todesfurcht, als er vor ſeinem
eigenen Grab ſteht. Er ſoll damit ſicher nicht als feige oder unedel gezeigt wer⸗
den, ſondern viel eher Zeugnis ablegen für die Art, wie Kleiſt ſeeliſches Leben
ſieht. Es gibt eben kein allgemeingültiges Syſtem der Werte, an das der Menſch
ſich jederzeit halten könnte, ſondern nur eine jeweilige Wirklichkeit, von der er
getroffen wird, die ihn in Bewegung ſetzt und die einen neuen Kräfteausgleich
notwendig macht. Der Tod iſt hier dieſe Wirklichkeit, und ſo nackt, wie er vor
Homburg auftaucht, muß er ſchlechthin vernichtend wirken. Wenn hier der
Menſch ſteht, dort fein Grab geöffnet wird, und nichts anderes dazwiſchen tritt,
fein religiöfer oder ethiſcher Gedanke und Glaube, dann muß jeder Menſch in
abſoluter Angſt erbeben, dann iſt mit dem Grab das abſolute Ende gegeben, ein
Aufhören alles Bisherigen, und das iſt ſo fremd, daß es unausdenkbar und zu⸗
tiefſt beängſtigend ſein muß. Und der Prinz iſt in dieſem Augenblick nur der
einſame Menſch, der das Grab vor ſich offen ſieht, der allein von dieſer Wirklich⸗
keit getroffen wird. Das war in der Schlacht nie der Fall geweſen; da ſtand
zwiſchen Menſch und Grab immer der Kampf und das Siegesverlangen, da
wurde der Tod nie ſo allein für ſich geſehen. So kommt Homburg über dieſe
Angſt erſt hinweg, als ihn eine neue Wirklichkeit packt, und er damit in eine ganz
andere ſeeliſche Bewegung gezogen wird, die ihn über die Todesfurcht hinweg⸗
hebt. Er erhält den Brief des Kurfürſten und wird damit vor die Frage nach
dem Recht geſtellt. Er lebt jetzt nur in dieſem Bezuge auf das Recht hin, will
0) Bd. II, S. 339.
240 | Paul Böckmann
es verwirklichen und ſteht damit dem Tod plötzlich überlegen gegenüber: er
will das heilige Geſetz des Kriegs durch einen freien Tod verherrlichen und
glaubt ſich ſo der Unſterblichkeit genähert zu haben. Aber es bleibt unendlich
rührend, wie der Vorgang des Todes als ſolcher, das Aufhören des gewohnten
Lebens, trotzdem unausdenkbar bleibt und Homburg in traumhafter Selbſtver⸗
geſſenheit ſagt, er wolle die Nelke zu Hauſe in Waſſer ſetzen. Er blickt jetzt nur
auf das Recht und damit auf ein Ziel, das ihn über das Grab hinweghebt,
genau ſo wie es in der Schlacht der Gedanke an den Sieg getan hatte. Aber
gerade indem er dieſe Wirklichkeit — daß doch Recht ſein ſoll — zutiefſt ergreift,
ſtellt ſich nun überhaupt ein Ausgleich der Seelenkräfte her: er überwindet den
Tod und gewinnt zugleich Ruhm und Liebe.
Damit ſcheint der Prinz von Homburg eine Stufe weiterzuführen, als die
übrigen Dramen Kleiſts: Dieſe Verſöhnung des Lebens, dieſe Feſtesfreude, die
alle Wünſche erfüllt, taucht als Lohn der Selbſtüberwindung auf und deutet
damit faſt wieder auf eine ſittliche Ordnung des Lebens hin, die doch für Kleiſt
ſchon 1801 nach dem Zuſammenbruch über dem Kantiſchen Idealismus end⸗
gültig abgetan zu ſein ſchien. Aber in dem damals abgelehnten Sinne kehren
die Gedanken von Recht und Pflicht hier ja auch gar nicht wieder: ſie geben nicht
ein Regelſyſtem für das Handeln und Wirken, das wie ein mechaniſches Geſetz
über gut und böſe entſcheiden kann, ſondern ſind ſelbſt in eine tiefe Dialektik
verſtrickt und halten gewiſſermaßen nur die Wage zwiſchen dem Gefühl des
Herzens und der Willkür des Zufalls. Hier hat der Kurfürſt ebenſo ſehr recht,
wie der Prinz richtig gehandelt hat: erſt daraus ergibt ſich die Möglichkeit der
Gnade wie der Selbſtüberwindung. Der Kurfürſt muß erfahren, daß ſeine
Generäle immer wieder ſo handeln werden wie Homburg, daß ſie den Buch⸗
ſtaben ſeines Geſetzes da mißachten müſſen, wo allein die Empfindung retten
kann. Und der Prinz muß einſehen, daß die „ Pflicht“ und das „Geſetz des
Krieges“ ebenſo wirklich zu nehmen ſind, wie das Gefühl des Herzens, da ſonſt
die bloße Willkür und der Zufall herrſchen und das ſtaatliche Leben zerſtören
würden. Aber gerade durch dieſe Hinwendung auf eine neue Wirklichkeit iſt die
Selbſtüberwindung Homburgs doch nur wieder das Zeichen dafür, daß er jede
ihn anſprechende Wirklichkeit — auch die, daß Recht ſein ſoll — ganz ernſt
nimmt und ihr bis zur Selbſtaufgabe gehorcht. Auch der Schluß des Homburg
führt alſo nicht Kantiſch⸗Schilleriſch auf ein moraliſches Weltbild zurück, ſon⸗
dern zeigt nur Kleiſts Verhältnis zu Leben und Wirklichkeit in ſeinem weiteſten
Umfang und tiefſten Sinn. Die Forderung der Vernünftigkeit des Handelns, die
Kant aus feinem Verlangen nach Geſetzmäßigkeit aufſtellt, liegt Kleiſt auch hier
ferner, als es nach Caſſirers Ausführungen den Anſchein haben könnte. Kleiſt
iſt wirklichkeitsergebener und fühlt ſich zu ſehr nur im Andrang des wechſelnden
Lebens ſelbſt lebendig, als daß er auf das Prinzip der Autonomie des Handelns
zurückgreifen könnte. Das iſt zu ſagen, wenn auch im Homburg ſtärker als ſonſt
das Gefühl der Verantwortlichkeit — das Ernſtnehmen auch der geiſtigſten
Lebensbegegnung — hervortritt.
Dieſe Ergriffenheit von dem Gefühl des Rechts, durch die Homburg ſchließlich
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 241
die Todesfurcht überwindet, zeigt ſich in grandioſeſter Einſeitigkeit auch im
Kohlhaas, allerdings in bedeutſamer Umkehr der Verhältniſſe. Hier wird nicht
dem Recht gedient, ſondern Gerechtigkeit gefordert: das verletzte Rechtsgefühl
verlangt Genugtuung und ſchwingt ſich zur Selbſtrache auf, als die Standes⸗
juſtiz den Frevel nicht ſühnen will. Aber auch hier iſt es entſcheidend, wie der
Gedanke, daß Recht ſein ſoll, das Leben eines Menſchen in Beſitz nimmt, in
ſeinem ganzen Verhalten beſtimmt und es ſchließlich zerſtört. Damit wird auch
hier deutlich, wie das Recht ebenſo als elementare Wirklichkeit hingenommen
wird, wie Liebe, Ruhm oder Tod, ohne daß darum definiert werden könnte, was
denn „recht“ iſt. — Auch die übrigen Novellen zeigen dieſen beſtimmenden Ein⸗
bruch in einen Menſchen. In der Marquiſe von O. fühlt ſich der ruſſiſche
Offizier durch die Vergewaltigung, die niemand vermutet, doch zutiefſt gebun⸗
den; wie er ſein weiteres Handeln durch dieſe Zeugung beſtimmen läßt, ſo wird
für die Marquiſe ſelber die Mutterſchaft zu einer entſcheidenden Wirklichkeit,
für die fie alles zu ertragen bereit iſt. — Im Erdbeben von Chili iſt es — wie
wir ſchon ſahen —das plötzliche Naturereignis, das dem Leben eine ganz neue
Bewegung verleiht. — In der heiligen Cäcilie wirkt die Muſik fo elementar,
daß ſie in einem Augenblick die böſeſten Abſichten vernichtet und die Seelen
völlig umwendet. Immer geſchieht dieſer merkwürdige Einbruch eines beſtimm⸗
ten Ereigniſſes in die Seelen der Menſchen, den wir mit dem Bewegen der
Marionette aus dem Schwerpunkt verglichen. Es ſind Geſchehniſſe, die den
ganz elementaren Wirklichkeiten des Lebens überhaupt entſpringen; zu ihnen
hat ſich Kleiſt aus ſeiner Einſamkeit hingefunden; er nimmt ſie ganz ernſt und
zeigt ihre Wirklichkeit, indem er ſie in ſeiner Dichtung als die das ſeeliſche
Leben beſtimmenden, bewegenden und geſtaltenden Kräfte verkörpert. Da ſich
das Individuum dadurch immer in Bewegung, im Ringen um den Ausgleich
des Kräfteſpiels befindet, mußte vor allem das Drama zur Kunſtform Kleiſts
werden; in ihm kann ſich der Ablauf wie der Widerſtreit der ſeeliſchen Ber
wegungen am deutlichſten darſtellen. Den erdhaften Hintergrund zu all ſeinen
Dichtungen geben immer die urſprünglichen Naturgewalten: Liebe, Haß, Zeur
gung, Mutterſchaft und Tod, ferner das elementare Naturgeſchehen wie Erds
beben oder Krankheit, und die natürlichen Lebensbeziehungen, wie das Ver⸗
langen nach Recht, Freiheit oder Rache und ſchließlich auch die Muſik, die faft
wie ein Zeichen des Gottes angeſehen wird. Dieſe elementaren Kräfte ent⸗
ſprechen gewiſſermaßen den einfachen Bewegungen, die den ganzen Tanz der
Marionette organiſieren.
Wenn ſo das Ergriffenſein von urſprünglichen Wirklichkeiten — der be⸗
ſtimmende Einbruch in das Gefühl — für Beginn und Verlauf von Kleiſts
Dichtung entſcheidend iſt, ſo laſſen ſich nun auch einige beſonders hervorſtechende
und merkwürdige Züge ſeines Schaffens verſtehen. Immer wieder ſchildert er
uns Geſtalten, die in halber oder voller Geiſtesabweſenheit wie im Traum
handeln. Im Grunde bedeutet das nichts anderes als jene volle Gefühls
ergriffenheit, die nur noch der erfahrenen Wirklichkeit folgt und alles andere
nicht mehr beachtet. Die Freunde Achills ſind über ſeine Rettung erfreut und
Suphorton XXVII.
242 Paul Böckmann
machen Pläne für das weitere Verhalten: er ſelber iſt noch ganz im Bann
Pentheſileas, denkt nur an einen Kampf mit ihr und verſteht nichts von dem,
was man ihm ſagt. Alles, was in der Richtung des erregten Gefühls liegt,
wird voll und ganz aufgenommen, während das übrige völlig verſinkt. Genau
ſo iſt es bei Pentheſilea, als nach ihrem erſten Zuſammenſtoß mit Achill die
Amazonen an Rettung denken, ſie aber ihr Verlangen nach dem Götterſohn nur
umſo mehr ſteigert und den Ida auf den Oſſa wälzen möchte. — Während
dieſe halbe Geiſtesabweſenheit dazu dient, das herrſchende Gefühl beſonders
deutlich zu machen, iſt jener traumwandleriſche Zuſtand, der uns im Prinzen
von Homburg und im Käthchen begegnet, noch etwas mehr. Er macht eigentlich
erſt das ſichtbar, was im tiefſten Grunde das Handeln und Denken dieſes
Menſchen bewegt, was aber im wachen Zuſtand das Bewußtſein nicht ſo klar
und eindeutig zugeben würde, da Scham und Sitte es dann verhüllen. Der
Traumzuſtand löſt jene Hemmungen und kann darum zur Ausſprache der be⸗
wegenden Kräfte führen: Homburg verdeutlicht ſein Streben nach Ruhm und
Liebe, Käthchen ſpricht zum erſtenmal ganz offen das aus, was ſie zutiefſt über
ihre Beziehungen zum Grafen Wetter von Strahl zu wiſſen meint. — Zugleich
wird uns im Käthchen noch von einem wirklichen Umgehen des Geiſtes erzählt;
der Graf ſoll in der Neujahrsnacht im Stübchen der Heilbronner Waffen⸗
ſchmiedstochter erſchienen ſein, während ſein Körper wie tot im Krankenzimmer
ſeiner Burg lag. Auch dies Motiv dient doch wohl vor allem dazu, um die
ſchickſalhafte Berührung der beiden ſymbolhaft vorzuſtellen. Die erſte Begeg-
nung wird ſo entſcheidend, weil ſie nicht zufällig geſchieht, ſondern wie von
langer Zeit vorherbeſtimmt gefühlt wird. So dienen all dieſe faſt hypnotiſchen
Traumzuſtände doch nur dazu, die Gewalt und Urſprünglichkeit des Einbruchs
jener Mächte in das Gefühl zu unterſtreichen; es wirkt in ihnen nur die Ein⸗
deutigkeit des Gefühls und ſo ſcheiden ſie die dichteriſchen Geſtalten von den
mannigfaltigen Figuren des Alltagslebens.
Denn allerdings iſt es ſo, daß im Hintergrund von Kleiſts Drama immer
wieder jene gewohnte Welt auftaucht, in der nicht allzeit die Menſchen von einer
derartigen das Gefühl beherrſchenden Macht gelenkt werden. Faſt durchweg iſt
es nur die Hauptperſon, die dieſen Zwang zum notwendigen Handeln beſitzt;
die anderen leben in einem Zuſtand der Gleichgültigkeit und relativen Unbe⸗
ſtimmtheit ihres Weſens und laſſen höchſtens die Möglichkeit vermuten, daß
auch ſie einmal ſo elementar getrofſen werden könnten. Bis dahin machen ſie
Pläne in ihrem Bewußtſein, ſuchen wohl auch bewußte Ziele zu erreichen und
beſitzen doch nicht dieſe alles beſiegende Notwendigkeit, die aus der Beſtimmtheit
des Gefühls herkommt.
Daraus ergibt ſich eine weitere Eigentümlichkeit von Kleiſts Stil. Da eine
Handlung ſowohl vom Bewußtſein planmäßig erfunden wie vom Gefühl wirk⸗
lich erzwungen ſein kann, ſo muß in dem Außenſtehenden immer das Miß⸗
trauen auftauchen, ob dieſes Verhalten denn auch wirklich echt iſt oder ob es nur
als Finte zu trügeriſchen Abſichten mißbraucht wird. Die Worte, ja, die Hand⸗
lungen und ſelbſt die Gefühlsäußerungen bergen für ſich allein genommen
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 243
— ſelbſt wenn ſie überzeugen — keine Wahrheit in ſich; ſie können jederzeit
auch Trug ſein und ins Verderben führen, wenn man ihnen folgt. So ſteht Graf
Wetter zwiſchen Käthchen und Kunigunde und hält die falſche Kaiſerstochter für
die wahre. Sein bewußtes Erkennen durchſchaut den Tatbeſtand nicht, da Worte
und Mienen lügen können. In der Novelle „Der Zweikampf“ ſtellt Kleiſt bewußt
zwei völlig gleichgewichtige Schuldbeweiſe zuſammen, von denen gerade der falſche
überzeugend wirkt. Graf Jacob wird des Mordes beſchuldigt, weil der gefun-
dene Pfeil ihm gehört und er in der fraglichen Nacht nicht zu Hauſe geweſen iſt.
An der Reinheit Littegardens wird gezweifelt, weil der Graf ihren Ring beſitzt
und in der Nacht des hl. Remigius ihre Kammerzofe nicht im Zimmer der Herrin
geſchlafen hat. Indem ſo jede Handlung und jedes Zeichen trügen kann, kommt
Kleiſt in feinen Dramen immer wieder auf die faſt inquiſitoriſch⸗quälenden
Geſpräche, durch die der wirkliche Sachverhalt bloßgelegt werden ſoll. In jener
erſten Frageſzene des Grafen Wetter vor der Feme kann Käthchen immer nur
auf die Eindeutigkeit des Gefühls zurückgehen: dadurch werden wir mit den
Richtern von der Reinheit ihrer abſoluten Hingabe überzeugt. Ebenſo gewinnt
Marbod in dem Frageſpiel mit den Söhnen Hermanns die Gewißheit, daß
deſſen Abſichten echt und aufrichtig ſind. Nur indem trotz der ſich wild kreuzen⸗
den Fragen das Gefühl in ſeiner Geradlinigkeit und beſtimmenden Macht her⸗
vortritt, kann die Gefahr abgewehrt werden, daß die vieldeutigen Zeichen der
Worte und Handlungen trügen. So wird auch mit dieſer Eigentümlichkeit der
Kleiſtſchen Dichtung nur wieder beſtätigt, daß allein die das Gefühl erregenden
Mächte dem Leben wirklich einen echten Halt und eine notwendige Richtung
geben können. Auf all jene Problematik des Bewußtſeins und deſſen völlige
Maßſtabloſigkeit antwortet eben immer wieder das durch eine urſprüngliche Ber
gegnung in ſeiner Richtung notwendig beſtimmte Gefühl, jene zum Handeln
aufgeregte und in ihm ſich erſt geſtaltende Seele und damit alſo das Symbol
der Marionette, die durch einfache Bewegungen ihres Schwerpunktes den Zus
ſammenhang ihrer komplizierten Bewegungen wahrt. |
Wenn wir jetzt noch einen Blick auf Kleiſts eigenes Leben werfen, fo werden
wir auch hier in ſtarkem Maße die Züge wirkſam finden, die er bei der Ge⸗
ſtaltung ſeiner dichteriſchen Charaktere hervorhob. Allerdings wiſſen wir über
fein ſpäteres Leben nur wenig und konnen darum nur einige ſichtbarere Punkte
herausgreifen. Je mehr die Dichtung für ihn zur Antwort auf ſeine Lebens⸗
frage wird, um ſo mehr ſchweigt er über ſich ſelbſt und über das, was in ihm
vorgeht. Aber wir wiſſen doch genug, um zu ſehen, wie Kleiſt bemüht iſt, immer
auf das zu achten, was unmittelbar auf ſeine Seele einwirkt. Das iſt ſchon
früh ſeine inſtinktive Lebenshaltung geweſen: mit beängſtigender Unerbittlich⸗
keit geht er der Problematik und dem Konflikt nach, den die Bildungswelt ſeiner
Zeit in ihm erregte. Ebenſo ſtreng und radikal verfährt er gegen ſich ſelbſt,
als er einzuſehen meint, daß ſeine Kraft nicht groß genug iſt, um das von
ihm erkannte künſtleriſche Ziel zu erreichen. Er verwirft und verbrennt ſein
Werk und will in der Schlacht den Tod ſuchen. Als ſich dieſer Wunſch ihm nicht
erfüllt, hält er ſich für die nächſten Jahre zurück und verſucht ein bürgerliches
244 Paul Böckmann
Amt auszufüllen. Aber ſchließlich bricht doch von neuem ſein Verlangen nach
der Dichtung mit urſprünglicher Gewalt wieder durch: er will fortan nur noch
Luſtſpiele und Trauerſpiele machen und erkennt darin ſeinen ihm auferlegten
Beruf: „Wär' ich zu etwas Anderem brauchbar, ſo würde ich es von Herzen
gern ergreifen: Ich dichte bloß weil ich es nicht laſſen kann.“ ?)) — Nach einem
kurzen glücklichen Aufſchwung in der Dresdner Zeit tritt ihm dann eine neue
gebietende Wirklichkeit entgegen, der er ſich unterwirft und von der er ſein
Handeln beſtimmen läßt: der Verſuch, allein ſeiner Kunſt und ihrer Schönheit
zu leben, iſt an der Ungunſt der Verhältniſſe geſcheitert: Die verderbliche Zeit
zerſtörte „den Erfolg aller ruhigen Bemühungen“ 28). So erkennt er jetzt mit
doppelter Gewalt, wie der einzelne mit dem Schickſal ſeines Volkes verflochten
iſt, und will deshalb nur noch den politiſchen Forderungen des Augenblicks
dienen: „Man muß ſich mit ſeinem ganzen Gewicht, ſo ſchwer oder leicht es
fein mag, in die Wage der Zeit werfen.“ 29) In ähnlicher Weiſe wie Kleiſts
dramatiſche Geſtalten durch ein elementares Geſchehen beſtimmt werden, beachtet
er ſelber das, was ihn innerlich berühren kann und ſucht ſo der jeweiligen Not⸗
wendigkeit zu folgen. — Bis zu einem gewiſſen Grade mögen wir auch in
ſeinem Tode — ſofern wir ihn überhaupt zu deuten wagen dürfen — ſein
Wiſſen um die beſtimmende Macht einer ſeeliſchen Begegnung und zugleich um
deren Vergänglichkeit wirkſam finden. Es iſt Kleiſts tiefe Überzeugung — wie
all unſere bisherigen Ausführungen gezeigt haben — daß das eigentlich Wirk⸗
liche im Leben jene wirkenden und bewegenden Eingriffe und Berührungen
ſind, die durch das Zuſammentreffen der eigenen Seele mit fremder und doch
zugehöriger Wirklichkeit entſtehen. Aber niemals iſt das dadurch entſtehende
Kräfteſpiel endgültig an einem Ziel; immer beginnt es von neuem, da eine ent⸗
ſcheidende Wirklichkeit die andere verdrängt. „Erfahrungen rings, daß man
eine Ewigkeit brauchte, um ſie zu würdigen, und, kaum wahrgenommen, ſchon
wieder von andern verdrängt, die eben fo unbegriffen verſchwinden.“ 0) „Das
Leben, mit ſeinen zudringlichen, immer wiederkehrenden Anſprüchen, reißt zwei
Gemüter ſchon in dem Augenblick der Berührung ſo vielfach auseinander, um
wie viel mehr, wenn fie getrennt find.“ 31) So muß in Kleiſt die Sehuſucht
auftauchen, eine Begegnung zu finden, die ſo abſolut beſtimmend für beide
Menſchen wirkt, daß kein Entweichen mehr möglich iſt. Der Einbruch in das
Gefühl ſoll ſo gänzlich das Leben überwältigen, daß keine Grenzen mehr gelten und
alſo auch der Tod gewählt werden kann, um dieſes höchſte Leben mit feiner vollen
Gefühlserfüllung zu beſiegeln. Dieſe Möglichkeit hat Kleiſt durch Henriette Vo⸗
gel gefunden. So kann er ſagen, daß ſeine Seele durch die Berührung mit der
ihrigen zum Tode ganz reif geworden iſt und daß er mit ſeinem qualvollen Leben
verſöhnt iſt, weil es ihm durch den wollüſtigſten aller Tode vergütigt wird. Von
17) Bd. V, S. 337.
26) Ebd. S. 377.
5) Ebd. S. 385.
20) Ebd. ©. 342.
21) Ebd. S. 428 (ſ. S. 326).
Kleiſts Auf ſatz üb über das Marionettentheater 245
hier aus wird auch die Schwere des Vorwurfs deutlich, den er noch zuletzt gegen
ſeine Schweſter Ulrike erhebt: „Sie hat die Kunſt nicht verſtanden ſich aufzu⸗
opfern, ganz für das, was man liebt, in Grund und Boden zu gehn: das
Seligſte, was ſich auf Erden erdenken läßt, ja worin der Himmel beſtehen muß,
wenn es wahr iſt, daß man darin vergnügt und glücklich iſt.“ 32) So find auch
die letzten Stunden Kleiſts von dem Bewußtſein durchdrungen, daß die volle
Ergriffenheit des Gefühls durch die Begegnung mit einem Menſchen das Höchſte
iſt, was dem Leben Gehalt und Richtung geben und ſelbſt unſere Vorſtellungen
von einem zukünftigen Leben allein beſtimmen kann. Allerdings zeigt ſich darin
zugleich auch wieder das ganze innere Angefochtenſein und die beängſtigende,
vertrauenslos⸗leidvolle Strenge ſeines Leben, das die Aufopferung und die
Hingabe an einen anderen Menſchen nur im Tode und nicht in neuer Zeugung
erproben kann.
Doch auch inſofern enthüllt Kleiſts Tod erſt ganz die tiefe, innere Einheit, die
zwiſchen ſeiner Kunſt und ſeinem Leben beſteht. In beiden prägt ſich die unruh⸗
volle Antwort aus, die ſich ihm aus der Problematik ſeiner frühen Zeit ergeben
hatte. Der Menſch iſt auf ſein eigenes Weſen zurückgedrängt, er weiß nichts
von einem moraliſchen oder religiöfen Syſtem, dem er nur zu folgen brauchte, um
ſeinem Handeln Richtung und Notwendigkeit zu geben. Aber als dieſes beſon⸗
dere und einſame Weſen erfährt der Menſch nun doch die Begegnung mit anderer
Wirklichkeit; dadurch wird er in Bewegung geſetzt und geſtaltet ſich im Zuſam⸗
menhang mit ſeinem Schickſal zu der einmaligen Individualität, als die er uns
erſche int. Er iſt ſo — um auf das frühe Bild Kleiſts zurückzukommen — wirk⸗
lich der tragende und zugleich gehaltene Stein in dem Gewölbe, das ſtehen bleibt,
weil alle Steine ſtürzen wollen. Das Individuum verſöhnt ſich nur dadurch mit
dem Ganzen, daß es in jedem Augenblick die Einwirkungen der Außenwelt rein
in ſich zur Auswirkung kommen läßt und in dieſer Wechſelwirkung die eigene
Scele zur Geſtalt verkörpert.
Wenn wir von dieſer Antwort Kleiſts auf ſein Verhältnis zur Romantik zu⸗
rückblicken, ſo ergeben ſich nun doch weſentliche Unterſchiede. In der allgemeinen
Frageſtellung ſtimmte er mit ihr überein; doch wenn wir mit ſeiner Antwort die
der eigentlichen Romantiker, alſo vor allem Friedrich Schlegels, Novalis' und
Schleiermachers, vergleichen, ſo wird nun auch der Gegenſatz deutlich. Das
Streben dieſer Männer ging dahin, Individualität und Univerſalität dadurch
zu vereinen, daß Endlichkeit und Unendlichkeit einander immer durchdringen,
daß im Endlichen das All zu ahnen iſt und andererſeits das Unendliche zugleich
als individuell empfunden wird. So ſuchte man die Grenzen wie jede eindeutige
Beſtimmung zu verwiſchen und immer einen „Sinn und Geſchmack fürs Unend⸗
liche“ zu erregen. Im Heinrich von Ofterdingen des Novalis iſt die Welt wie
mit einem magiſchen Schleier bedeckt, ſo daß alles allem verwandt erſcheint und
„vor der einzigen helldunklen, wunderbar beweglichen Empfindung einer neuen
Welt kein eigentlicher Gedanke“ mehr entftehen kann 33). Die Natur verliert das
*) Ebd. S. 433.
33) Novalis Ausgew. Werke. Hrsg. von Wilhelm Böl ſch e. Bd. II, S. 33.
246 Paul Böckmann
Schwere und Gewaltſame und wird , die zauberiſche Dichtung und Fabel unferer
Sinne“, während dagegen die Erzählungen und Fabeln der Dichter das „zarte
Gefühl für den geheimnisvollen Geiſt des Lebens“ enthüllen “)). So iſt immer
eins durch das andere zu erſetzen und alles in einer unendlichen Bewegung zu
allem. Das Ziel iſt wahre Univerſalität, d. h. Wechſelſättigung aller Formen
und aller Stoffe, wie Friedrich Schlegel ſagt 58). Dieſes Streben nach geſtaltver⸗
miſchendem Allgefühl liegt Kleiſt ganz fern. Auch im Amphitryon, wo die roman⸗
tiſche Problemſtellung am ſtärkſten hervortritt, wird ſchließlich die Beſchrän⸗
kung bejaht und nicht die Allvermiſchung. Kleiſt iſt immer auf die beſtimmte
Situation gerichtet, auf den einmaligen Zuſammenſtoß des Individuums mit
dem Leben, das ſelbſt wieder nur in einer beſonderen Erſcheinung wirkſam
werden kann. Die in dieſer konkreten Berührung entſtehende Bewegung muß
ausgeführt und ertragen werden, wie ſehr ſie auch zum Kräftewiderſtreit führen
mag. Inſofern endet Kleiſt in einer heldiſchen Haltung, er verkörpert in ſich
und in ſeiner Kunſt gewiſſermaßen von neuem die Epoche, die ihm unter
allen Zeitaltern als die größte erſchien: die heroiſche; und ſo können wir auch
die Schilderung, die er von ſeinem Freunde Pfuel gibt, als ſein eigentliches
Ideal anſehen: deſſen kriegeriſches Gemüt und ſchöner Leib verkörpern ihm das
Zeitalter der Griechen 5). Auch den ſpäteren Romantikern gegenüber bleibt
dieſer Gegenſatz beſtehen, jedenfalls ſoweit man etwa an Arnim, Eichendorff
oder E. T. A. Hoffmann denkt. Der letztere z. B. mag in ſeinen Erzählungen
bisweilen an Kleiſt gemahnen. In den „Bergwerken zu Falun“ wird Elis
Fröbom durch ſeine Begegnungen mit dem alten Bergmann und mit der ſchönen
Ulla in ſeinem Schickſal ähnlich wie Kleiſtſche Geſtalten beſtimmt. Aber der
Bergmann iſt nicht mehr eine konkrete Lebenserſcheinung, ſondern eher der Geiſt
des Berges und ſchließlich des Lebens überhaupt. So lebt nun in Elis der Zwie⸗
ſpalt zwiſchen der irdiſchen Liebe und derjenigen zur Königin des Berges, ein
Zwieſpalt, der ſich nur durch die Vernichtung des Ich, durch ein Hinabſteigen „in
den Mittelpunkt der Erdkugel“ löſen läßt. Statt der feſten Begrenzung auf die
konkrete Wirklichkeit ſteht hier die ahnungsreiche Hingabe an das All: „er fühlte,
daß fein Ich zerfloß in dem glänzenden Geſtein“. Dieſes Verfließen des Gefühls
in das Abſolute iſt für Kleiſt nie möglich geweſen. Er geht der Romantik gegen⸗
über ebenſo ſehr ſeinen eigenen Weg wie in anderem Sinne Hölderlin, der auch
in jene Problematik zwiſchen Endlichem und Unendlichem geſtellt war und in
frommer Hingabe an die Mächte der Natur und des Geiſtes ebenſo ſein beſon⸗
deres Weſen zu erfüllen ſuchte wie Kleiſt durch das tätige ſich Auswirkenlaſſen
der in ihm erregten Kräfte. Im ſelben Sinn, wie Kleiſt der Romantik gegen⸗
über einen heroiſchen Weg geht, auf dem er die ſeeliſchen Kräfte mit urſprüng⸗
licher Gewalt wiedererlebt und ſo zum Dramatiker wird, ergibt ſich für Hölderlin
ein wahrhaft frommer Weg der Heiligung der Lebenszuſammenhänge, auf dem
ihm die Götter in neuer Klarheit begegnen, ſo daß ihm der Hymnus zur ge⸗
34) Ebd. S. 50, 71.
25) Schlegel, Athenaeumsfragment 451.
6) Bd. V, S. 316, 359.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 247
mäßen Kunſtform wird. Beide folgen ihrer beſonderen, einmaligen Situation
und ſind dadurch von dem die Geſtalt auflöſenden Allvermiſchungsdrang der
Romantik geſchieden 57).
IV.
Die Ausführungen Kleiſts über die Marionette haben uns in den weiteſten
Umkreis ſeines Lebens und Schaffens hinausgeführt. Wenn wir uns jetzt dem
letzten Problemkreis des Aufſatzes zuwenden, jener weltgeſchichtlichen Perſpek⸗
tive vom Sündenfall und einer neuen Erlöſung, ſo werden wir nach all dem,
was wir bisher feſtgeſtellt haben, nur auf eine geringe Fruchtbarkeit dieſes
Geſichtspunktes rechnen können. Kleiſts Kunſt hat ſich uns in ihrem tiefſten Sinn
ohne dieſe Perſpektive erſchloſſen: wenn wir unbefangen auf ſie hinblicken, wer⸗
den wir nicht ſagen können, daß in ihr in irgendeinem Sinn eine weltgeſchicht⸗
liche Entwicklung dargeſtellt würde. Jener romantiſche Weg der Erkenntnis
durch ein Unendliches, der zur urſprünglichen Einheit zurückführen ſoll, iſt ſicher
nicht das eigentliche Thema ſeiner Dramen. Ebenſo fern lag es ihm, den Men⸗
ſchen zu einem göttlichen Weſen hinaufzuſteigern. Er faßt immer die eigentlich
menſchliche Situation mit ihrem Kampf der Kräfte ins Auge und inſofern konn⸗
ten wir von einer heldiſchen Lebensauffaſſung bei ihm ſprechen. Gott iſt ihm in
ein fernes Dunkel gerückt, er iſt mit menſchlichen Formen nicht zu faſſen. All
die aufkläreriſchen Gottesvorſtellungen waren für Kleiſt zerbrochen: Gott iſt ihm
weder der Hüter der Gerechtigkeit, noch eine allwiſſende, alles lenkende Vernunft,
ſondern ein „unbegriffener Geiſt“, vor dem uns nichts übrigbleibt, als uns in
unfere Situation hineinzufinden und dem Augenblick zu leben 58). So ſpüren
wir denn auch Kleiſts Gottesglauben weniger an den Punkten, wo er in ſeiner
Dichtung den Ausdruck Gott halb formelhaft einmal verwendet, als vielmehr in
einer Grundhaltung, die immer mitklingt, aber nie geſtalthaft wird. Er ſucht
die Kräfte ſichtbar zu machen, die in das Leben des Menſchen einbrechen und es
formen. Er muß damit ihre Wirklichkeit ganz bejahen. Wenn ſie auch noch ſo
zerſprengend zu wirken ſcheinen, ſo müſſen ſie eben doch gläubig zur Auswir⸗
kung gebracht werden, da nur dadurch das Leben ſich erhält. In jener Fülle der
beſtimmenden Wirklichkeiten, in Liebe, Tod, Zeugung, Krankheit, Recht, Freiheit,
Haß und Ruhm, in allem Geſchehen der Natur und in uns ſelbſt, ſpricht ſich jene
unfaßbare Einheit aus, die im Einzelfall ganz konkret und beſtimmt wirkt und
fordert, aber die in ihrem Zuſammenhang immer ungreifbar bleibt und deshalb
nur die Erfüllung der beſtimmten Situation verlangen kann, das Ernſtnehmen
ihrer jeweiligen Wirklichkeit. So erſcheint es als ein tiefes Symbol, daß Kleiſt
ſelbſt erſt in den letzten Stunden ſeines Lebens ſich an Gott zu wenden vermag.
Jenes Dunkel wird ihm vertraut, als er im Tode den Kampf der immer beſtimm⸗
ten und nie verſöhnten Kräfte verlaſſen will: „Meine liebſte Marie, wenn Du
7) Über Hölderlin hoffe ich in abſehbarer Zeit eine größere Arbeit vorlegen zu können. — Die
nähere Ausführung der mannigfach verſchiedenen Stellung der einzelnen Vertreter jener Generation
zum romantiſchen Problem behalte ich mir vor.
) Bd. V, S. 326.
meines Lebens mit Blumen, himmliſchen und irdiſchen, zu bekränzen, gewiß,
du würdeſt mich gern ſterben laſſen. Ach, ich verſichre Dich, ich bin ganz ſelig.
Morgens und abends knie ich nieder, was ich nie gekonnt habe, und bete zu Gott;
ich kann ihm mein Leben, das allerqualvollſte, das je ein Menſch geführt hat,
jetzo danken, weil er es mir durch den wollüſtigſten aller Tode vergütigt.“ 39%
Das ſind nicht die Worte eines Titanen, der ſich ſelbſt zum Gott geſteigert hat,
ſondern die eines heldiſchen Menſchen, der ſein Leben mit aller Qual ganz ernſt
genommen und ſich in ihm zu erfüllen geſucht hat, aber immer vor jenem ihm
unüberſchreitbaren Dunkel zurückbebt. So iſt es auch in dem Aufſatz über das
Marionettentheater ſicher nicht Kleiſts Abſicht geweſen, das Ziel aufzuſtellen,
daß der Menſch Gott werden müſſe; jedenfalls nicht, wenn wir dieſen Ausdruck
in ſeinem tiefſten und abſoluten Sinne nehmen, in dem er auch für Kleiſt Gel⸗
tung gehabt hat.
Aber in welchem Sinne ſollen wir dann jenen Schlußteil verſtehen?
Zunächſt iſt daran zu erinnern, in welchem Zuſammenhang von dieſem „letz ⸗
ten Kapitel von der Geſchichte der Welt“ geſprochen wird. Das Intereſſe an den
Marionetten wird auf den Zwieſpalt und die Problematik des bewußten Lebens
zurückgeführt und dieſe Problematik ruft wiederum als Gegenbild das Ideal
einer neuen Einheit und Grazie hervor. Je mehr ſich uns nun die Möglichkeit
einer Übertragung der Ausführungen über die Marionette auf Kleiſts Kunſt
ergeben hat, um fo mehr müſſen wir auch erkennen, daß in ihr nicht dieſe Bes
wußtſeinsproblematik dargeſtellt werden ſoll, ſondern gerade das, was das
Marionettenſymbol ausdrückt: die Notwendigkeit und Eindeutigkeit der menſch⸗
lichen Handlungen und ſeeliſchen Bewegungen, die dann allerdings ſelbſt wieder
im Kräftewiderſtreit zu einer tieferen Gegenſätzlichkeit hinführen. Nur in den
Nebenfiguren tritt die ahnungsloſe Halbheit des bloßen „Bewußtſeins“ ge⸗
wiſſermaßen als Folie hervor, jedoch ohne darum zum Problem gemacht zu
werden: etwa in den Führern der Griechen oder im Grafen Wetter. Es handelt
ſich eben nicht um den Zwieſpalt von Denken und Gefühl oder Vernunft und
Trieb, — nicht um die dramatiſche Ausgeſtaltung jener beiden ſymboliſchen
Bilder: des Juͤnglings vor dem Spiegel und des Fechters vor dem Bären —,
ſondern um die Auswirkung der erregten Kräfte und um deren Widerſtreit.
Kleiſts Kunſt ſteht wirklich an der Stelle des Martonettentheaters, fie ſteht
als Kunſt dem Leben gegenüber und macht es doch zugleich deutlicher, indem
es die eigentlichen Lebensantriebe in ihrer ungebrochenen Auswirkung zeigt,
gegenüber den unſicheren Halbheiten des Alltags. Daraus ergibt ſich, daß die
ſchließliche Entwicklungsperſpektive ſich ebenſowenig direkt auf Kleiſts Kunſt
bezieht, wie in dem Aufſatz auf die Marionette, daß ſie vielmehr aus der Kunſt
wieder in das Leben zurückführt. Sie gibt den weiteſten Rahmen ab, in dem
Kleiſt ſein Schaffen ſah. Es iſt gewiſſermaßen der Verſuch, ſich den Sinn ſeines
Tuns deutlich zu machen, in derſelben Weiſe, wie der Tänzer ſich ſein Intereſſe
0) Ebd. S. 435.
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 249
an der Marionette erklärt, und iſt alſo mehr der Verſuch zu einem perſönlichen
Glauben als eine darſtellbare Einſicht in die Kräfte des Lebens, die in der Dich⸗
tung Geſtalt annehmen könnten. Aus dieſer Bedeutung mag ſich dann der halb
ernſte, halb ſpielend⸗ verträumte Ton ergeben, mit dem der Aufſatz ſchließt:
„Mithin, fagte ich ein wenig zerſtreut, müßten wir wieder von dem Baum der
Erkenntnis eſſen, um in den Stand der Unſchuld zurückzufallen? — Allerdings,
antwortete er, das iſt das letzte Kapitel von der Geſchichte der Welt.“
In welchem Sinne aber hat ſich Kleiſt dieſe Entwicklung gedacht? Hat er wirk⸗
lich an das romantiſche Ideal eines abſoluten Bewußtſeins geglaubt? Das iſt
noch recht unklar und ſo mögen zur weiteren Klärung zunächſt einige Stellen aus
ſeinen Briefen beitragen. Das Problem einer Weltentwicklung und eines ver⸗
nünftigen Planes im Leben der Menſchen tritt im Sinne des Marionetten⸗
theaters zuerſt in der Auseinanderſetzung mit Rouſſeau hervor. Er ſchreibt 1801
aus Paris: „Es mußten viele Jahrtauſende vergehen, ehe ſo viele Kenntniſſe
geſammelt werden konnten, wie nötig waren, einzuſehen, daß man keine haben
müßte. Nun alſo müßte man alle Kenntniſſe vergeſſen, den Fehler wieder gut
zu machen; und damit finge das Elend wieder von vorn an.“ Der Unterſchied
gegenüber unſerem Aufſatz liegt darin, daß hier nur die Problematik mit ihrem
ewigen Auf und Ab geſehen wird, nicht eine Verſöhnung in einem künftigen
Ideal. Dies Vorwiegen der Problematik zeigt ſich auch in fpäteren Außerungen.
So ſchreibt er 1806 an Rühle: „Jede erſte Bewegung, alles Unwillkürliche iſt
ſchön; und ſchief und verſchroben alles, ſo bald es ſich ſelbſt begreift. O der Ver⸗
ſtand! Der unglückſelige Verſtand! Studiere nicht zu viel, mein lieber Junge
. . . Folge deinem Gefühl. Was dir ſchön dünkt, das gib uns, auf gut Glück. Es
iſt ein Wurf, wie mit einem Würfel; aber es gibt nichts Anderes.“ 40) Dieſe
Sätze erinnern an den Jüngling vor dem Spiegel, der in der Selbſtbetrachtung
ſeine Unſchuld verliert. Aber ausdrücklich wird dann geſagt, daß es als Gegen⸗
mittel nur ein Auswirken des Gefühls geben kann, trotz aller glückſpielhaften
Ungewißheit. So ſteht bei Kleiſt auf der einen Seite die Spannung zwiſchen
Denken und Fühlen — von dem Wiſſen, das ſich doch nicht in der Wirklichkeit
zurechtfinden kann — und auf der andern Seite das Bemühen, immer mehr der
unmittelbaren Gefühlserregung zu folgen und ſie als beſtimmende Kraft in der
Kunſt darzuſtellen. Der Entwicklungsgedanke im Sinne unſeres Aufſatzes taucht
gar nicht auf, ebenſowenig wie in den ſonſtigen Außerungen Kleiſts.
In den „Betrachtungen über den Weltlauf“ z. B. wendet er ſich zunächſt gegen
die ihm von Schiller her geläufige Vorſtellung, daß die Entwicklung von einem
Zuſtand der tieriſchen Roheit über die „Tugendlehre“ und die Kunſt zur Kultur
führe und entwirft dann eine Entwicklungslinie, die bis auf eine bedeutſame
Anderung mehr derjenigen Rouſſeaus entſpricht: die heroiſche Epoche war die
höchſte und der Anfang, dann ging der Weg abwärts, man erdichtete Helden,
abſtrahierte die Weltweisheit und wurde ſchließlich ſchlecht 71). Hier werden
zwei Motive ausgeſponnen: einmal wird der Glaube an die Vernunft und ihren
0) Bd. V, S. 328.
1) Bd. IV, S. 163.
250 Paul Böckmann
Fortſchritt abgelehnt, dann das Ideal des heroiſchen Lebens an Stelle von
Rouſſeaus „Natur“ aufgeſtellt. Dieſe beiden Motive wird man auch als den
eigentlichen Sinn der Schlußausführungen unſeres Aufſatzes anſehen müſſen,
nur daß in ihm die Begriffe nicht aus der rationaliſtiſch-idealiſtiſchen, ſondern
aus der bibliſchen Vorſtellungswelt genommen und den romantiſchen Gedanken
angeglichen werden. Der Sündenfall ſoll die „Unordnungen, die das Bewußt⸗
ſein anrichtet“, hervorheben; der Weg durch das Unendliche zu dem Ideal einer
urſprünglichen Einheit hinführen. Aber dieſes Ideal der Einheit, der „Grazie“,
ift ſchließlich nichts anderes als die heroiſche Epoche, die doch im Grunde auch
nicht etwas Vergangenes iſt, ſondern das Ideal, das ſich in Kleiſts Leben und
Dichtung verkörpert und das uns gerade an ſeinen Ausführungen über die Ma⸗
rionette deutlich wurde. — Wie ſehr ſich dieſe ganzen weltgeſchichtlichen Per⸗
ſpektiven für Kleiſt im Grunde auf ſeine konkrete Situation zuſpitzen, zeigen
dann noch vor allem die Außerungen — wohl aus dem Jahre 1809 —, in denen
er über Fehler und Aufgaben der Deutſchen ſpricht. Er ſtellt feſt, daß der Ver⸗
ſtand der Deutſchen durch einige ſcharfſinnige Lehrer einen Überreiz bekommen
habe: „ſie reflektierten, wo ſie empfinden oder handeln ſollten, meinten alles
durch ihren Witz bewerkſtelligen zu können und gäben nichts mehr auf die alte
geheimnisvolle Kraft der Herzen“ 42). Dieſer Situation, dem Zwieſpalt von
überlegung und Gefühl oder Tat gegenüber, möchte er ihnen den Rat geben:
„Die Überlegung findet ihren Zeitpunkt weit ſchicklicher nach, als vor der Tat.“
Damit ſind wir wieder unmittelbar im Zentrum unſerer Ausführungen über
Kleiſts Kunſt. Der Menſch trifft auf eine Wirklichkeit, die ihn in Bewegung
ſetzt und einen neuen Kräfteausgleich verlangt: das iſt das letztlich Entſcheidende
des Lebens. Demgegenüber kann die Überlegung, die vor oder in dem Augenblick
der Entſcheidung ins Spiel tritt, „die zum Handeln nötige Kraft, die aus dem
herrlichen Gefühl quillt“, nur verwirren, hemmen und unterdrücken. Nur nach
der Handlung hat ſie Bedeutung, um zu erkennen, „was in dem Verfahren
fehlerhaft und gebrechlich war“ und um das Gefühl für andere, künftige Fälle zu
regulieren. Das Leben iſt eben vor allem „ein Kampf mit dem Schickſal“; es
kommt in ihm auf das Handeln, auf die Auswirkung des Gefühls an, erſt in
zweiter Linie auf das Denken 23).
So bleibt uns nichts übrig, als dies Ideal des heroiſchen Lebens als den un⸗
genannten Zielpunkt auch des Aufſatzes über das Marionettentheater anzuſehen,
nur daß hier alles in die formalere Ebene der mechaniſchen Puppen gerückt iſt
und damit auch der Schluß die Entwicklung mehr formal auffaßt. Das Problem
iſt durch den Jüngling vor dem Spiegel ſichtbar gemacht: die naive Einheit des
Lebens iſt durch das „Bewußtſein“ unmöglich geworden und damit das Heroen⸗
2) Ebd. IV, S. 107 u. S. 180.
23) In einer faſt boshaft-ironifhen Weiſe deutet Kleiſt auf dieſe eingeſchränkte Macht des Be.
wußtſeins auch in dem Aufſatz: „Wiſſen, Schaffen, Zerſtören, Erhalten“, den J. Nadler in ſeiner
Beſprechung von Braigs Kleiſtbuch in Beziehung zum Marionettenaufſatz bringt (Euphorion Bd. 27,
S. 577; Ihg. 1926.). Kleiſt ſagt dort: „Die Weltherrſchaft wäre dem geſichert, der Menſchen wie
Beſenſtiele ſchnitzen und ihren Schädeln nach der Gallſchen Theorie eminente Diebs- und Rauf ·
organe imprimieren könnte!“
Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater 251
tum, die Grazie einer frühen Zeit. Jetzt gilt es, durch das „Bewußtſein“ und
ihm zum Trotz, eine neue heroiſche Einſtellung zum Leben zu gewinnen. Das
Bewußtſein muß lernen, auf ſich ſelbſt zu verzichten, dem Gefühl und dem
Handeln die Vorentſcheidung zu laſſen und nur nachträglich das Gefühl für
künftige Fälle klären zu helfen. Es muß zum „unendlichen Bewußtſein“ wer⸗
den, indem es ſich ſelbſt die Grenze beſtimmt und einſieht, daß es nie über dem
Leben ſteht, ſondern nur in ihm. Erſt dadurch kann es von neuem ein heroiſches
Leben ermöglichen, wo den entſcheidenden Gefühlserregungen nachgegangen und
der Kampf der widerſtreitenden Lebenskräfte zum Austrag gebracht wird. Eine
ſolche Lebensſtimmung ſucht Kleiſts Kunſt zu erregen: ſie ſoll den Menſchen auf
die urſprünglich beſtimmenden Mächte zurückführen; dadurch empfindet er das
moderne Drama als verwandt dem männlichen Weſen der griechiſchen Bühne.
Vom Griechentum aus ließe ſich dann auch verſtehen, inwiefern Kleiſt der
Marionette den Gott gegenüberſtellt, eben als letzte Erfüllung des heroiſchen
Menſchentums; und ſo könnten auch wir rückblickend ſagen, daß die Geſtalten
ſeiner Dramen ebenſofehr dem Symbol der Marionette entſprechen, wie auf die
Erfüllung des Gottes als des Heroen, der immer weiß, wann ſein Denken zu
ſchweigen hat, vorausweiſen.
Damit befände ſich Kleiſts Deutung des Lebens doch wieder in großer Über⸗
einſtimmung mit ſeiner Kunſt; allerdings auf Koſten einer erheblichen Umdeu⸗
tung der romantiſchen Tendenz, die Einheit des Lebens auf einer höchſten Stufe
der Bewußtheit wiederzuerlangen. Aber ſowohl die Dichtung wie die theore—
tiſchen Außerungen Kleiſts verlangen die hier verſuchte Ausdeutung, auch wenn
ſie im Aufſatz über das Marionettentheater nicht unmittelbar hervortritt und
höchſtens erraten werden kann, wenn geſagt wird, daß wir in den Stand der
Unſchuld „zurückfallen“ müßten und uns an anderer Stelle bedeutet wird, daß
dieſer Anfangszuſtand die heroiſche Epoche war ??).
Allenfalls in den frühſten Werken finden ſich einige wenige Andeutungen, nach
denen angenommen werden könnte, daß Kleiſt wirklich einmal einen anderen
Weg zu gehen verſucht hat. So ließen ſich in der Familie Schroffenſtein ein paar
Stellen ſo auslegen, als wenn hier verſucht worden wäre, aus dem Zwieſpalt
des Bewußtſeins durch eine höhere Bewußtheit im romantiſchen Sinne des ab⸗
ſoluten Bewußtſeins herauszukommen. Nachdem das ganze Drama immer wie⸗
der die Verwirrung gezeigt hat, in die das discurſive Denken durch ſeine Deu⸗
tungsverſuche führt, wird ſchließlich von dem blinden Sylvius und dem irren
Johann die Lage halb nachtwandleriſch-ſicher durchſchaut und geſagt, daß es
keinen Weg zurück, ſondern nur einen nach vorwärts gibt: „Führe heim mich,
Knabe, heim!“, worauf Johann antwortet: „Ins Glück? Es geht nicht, Alter,
s'iſt inwendig verriegelt. Komm. Wir müſſen vorwärts.“ 25) In dieſe Rich⸗
tung würde dann auch die Außerung Sylveſters weiſen, der in dem Augenblick,
40) Aus all dem wird deutlich, daß auch an dieſem Punkte Kleift weiter von der Romantik ent-
fernt iſt, als Hellmann meinte und daß er auch zu den Außerungen Adam Müllers nur bedingt in
Beziehung geſetzt werden kann (Hellmann S. 23f.).
=, Bd. I, S. 152.
252 P. Böckmann, Kleiſts Aufſatz über das Marionettentheater
———.—.ñ—ñññ —.. —. . —ñ.. ..
als ſeine Frau Gertrude ihm einen Stärkungstrank bringen will, auf die eigene
Kraft hinweiſt: „Dazu brauchts nichts als mein Bewußtſein.“ 46) Aber dieſe
wenigen Stellen ſtehen ganz vereinzelt in Kleiſts Werk da, ſo daß wir ihnen
keine größere Bedeutung beilegen können. Eigentlich iſt es nur noch eine Stelle
im Robert Guiskard, die ſich in dieſer Weiſe auslegen ließe: jene augenblick⸗
liche Überwindung der Peſt durch den bewußten Willen des Normannenherzogs:
Als ich das Zelt verließ, lag hingeſtreckt
Der Guiskard, und nicht eines Gliedes ſchien
Er mächtig. Doch ſein Geiſt bezwingt ſich ſelbſt
Und das Geſchick, nichts Neues ſag' ich euch!
Vielleicht hat es ja wirklich einmal eine Zeit in Kleiſts Leben gegeben, wo er
hoffte, durch die Dichtung eine derartige Vollendung des „Bewußtſeins“, das
über Körper und Gefühl ſo erhaben iſt, daß es ſie lenken kann, zu erreichen. Viel⸗
leicht ſollte gerade der Guiskard im Kampf mit der Peſt dieſen Triumph des
Bewußtſein ſichtbar machen. Aber all das iſt ungewiß und ſchon als menſch⸗
liches Unterfangen im Grunde ſo ungeheuerlich, daß es ſcheitern mußte. Wir
würden dann verſtehen, warum Kleiſt ſo bis zur Verzweiflung mit dieſem
Drama gerungen hat und es ihn ſchließlich doch nicht befriedigte. Es hätte ge⸗
wiſſermaßen die Grenzen des Menſchlichen ſprengen ſollen und ſie damit doch
nur um ſo ſtärker wieder vor Augen gerückt. Aber ob Kleiſts Ringen wirklich in
dieſer oder in einer andern Richtung ging, wird ſich nicht mehr ausmachen laſſen.
Jedenfalls können wir das uns allein vorliegende, aus ſpäterer Zeit ſtammende
Bruchſtück in ähnlicher Weiſe interpretieren, wie wir es bei den anderen Werken
Kleiſts getan haben. Die Peſt iſt in das normanniſche Heer eingebrochen und hat
alle Gemüter in Bewegung geſetzt. Das Volk ſendet den Sprecher ab, um die
Not zu ſchildern; jeder iſt voller Unruhe, ob nicht der Führer auch von der Peſt
befallen iſt; Robert und Abälard ſtreiten ſich faſt ſchon um die Nachfolge. Guis⸗
kard ſucht mit letzter Anſpannung der Peſt zu begegnen, ſeine Pläne erſt noch zu
einem Abſchluß zu führen und ſein Reich zu ſichern. So beginnt ein ungeheures
Kräfteſpiel, das ſchließlich ſo oder ſo an ein Ende führen muß. Die Peſt hätte
hier die gleiche erregende Bedeutung wie in anderen Fällen die Liebe, die Frei⸗
heit oder das Recht und von der alles verherrlichenden Macht des „Bewußt⸗
ſeins“ wäre hier ebenſowenig die Rede wie ſonſt.
So müſſen wir unbedingt annehmen, daß jener Dreiſchritt der Geſchichtsent⸗
wicklung: von der naiven Einheit durch den Zwieſpalt zur bewußten Einheit
für Kleiſt nur in jenem Sinn der bewußten Einſchränkung des Bewußtſeins
Bedeutung hat und ſo auch ſeine Dichtung nicht unmittelbar beſtimmt, ſondern
nur in der bewußtſeinsfernen Auswirkung des elementaren Gefühlszwanges
nachwirkt. An der Stelle, wo er ſelber einmal die Dreizahl als tief erregendes
Motiv verwendet, enthüllt ſie denn auch ganz etwas anderes: die jenſeits der Ver⸗
nunft und ihren Gegenſätzen liegende Unmeßbarkeit des elementaren Kampfes.
Der Gegenſatz der Zweizahl iſt überſichtlich und darum faſt beruhigend; erſt da⸗
26) Ebd. S. 56.
Wilhelm Hans, Strindbergs Weg nach Damaskus 253
durch, daß ein Drittes auftaucht, das weder zum einen noch zum andern Paar
des Gegenſatzes gehört, wird das Geſchehen zum Symbol des Lebenskampfes,
in dem es immer nur ein Zugreifen und nie ein Überſchauen gibt. Pentheſilea
wirkt auf die Griechen gerade darum ſo vernichtend, weil ſie weder zu ihnen noch
zu den Trojern hält und damit alle Begriffe des Weltverſtändniſſes umſtürzt:
Soviel ich weiß, gibt es in der Natur
Kraft bloß und ihren Widerſtand, nichts Drittes.
Was Glut des Feuers löſcht, löſt Waſſer ſiedend
Zu Dampf nicht auf, und umgekehrt. Doch hier
Zeigt ein ergrimmter Feind von beiden ſich,
Bei deſſen Eintritt nicht das Feuer weiß,
Ob's mit dem Waſſer rieſeln ſoll, das Waſſer
Ob's mit dem Feuer himmelan ſoll lecken.“)
Gegenüber jeder klar verſtändigen und im Bewußtſein zu entſcheidenden ge⸗
danklichen Richtigkeit ſteht Kleiſt immer auf der Seite der unüberfchaubaren Ir⸗
rationalität des Lebens, wo ſtets in einmaliger Situation eine beſtimmte Wirk⸗
lichkeit in dieſes beſondere Volk oder dieſen Menſchen einbricht, wo gehandelt
werden muß, immer in unmittelbarer Berührung mit dieſem angreifenden
Andersfein des Zugehörigen. Jeder einzelne Menſch iſt eben für Kleiſt ein
Ringer, der das Leben umfaßt hält und es „tauſendgliedrig nach allen Win⸗
dungen des Kampfs, nach allen Widerſtänden, Drücken, Ausweichungen und
Reaktionen empfindet und ſpürt.“ 49) Dieſes Bild des Menſchen hat Kleiſt in
all ſeiner wilden Glut, drängenden Gewaltſamkeit, ernſten Strenge und ſtillen
Gläubigkeit in ſeiner Kunſt wie in ſeinem Leben dargeſtellt.
Strindbergs Weg nach Damaskus.
Von Wilhelm Hans in Hamburg.
Strindberg war nahezu ein Fünfziger, als er ſein Damaskus erlebte, aus
einem Gottesleugner ein Gottverkünder, aus einem Atheiſten ein Chriftus-
bekenner ward. Ein Daſein, überreich an tiefen aufwühlenden Erlebniſſen, meiſt
leidvoller Art, durchſtürmt von furchtbaren aufreibenden ſeeliſchen Kämpfen,
fruchtbar an ſchöpferiſchem Wirken auf mannigfaltigen Gebieten, lag hinter ihm,
als er aus der ſchwerſten, ihn bis über die Grenze des Wahnſinns hinausführen⸗
den Kriſe ſeines Lebens, ſeinem „Inferno“ zu neuer Religioſität ſich hindurch⸗
rang. Es iſt nicht nur die auffälligſte, ſondern auch die tiefſte, bedeutungsvollſte,
folgenreichſte Kriſe und Wandlung ſeines an Wandlungen und Kriſen reichen
Lebens. Nur von ihr aus vermag man in den Kern des fo außerordentlich rätſel⸗
und widerſpruchsvollen, in ſo vielen kontraſtierenden Farben ſeltſam ſchillernden
Menſchen und Dichters Strindberg einzudringen. Seine religiöfen Nöte und
7) Bd. II, S. 25.
) Bd. IV, S. 180.
254 Wilhelm Hans
Kämpfe entſtammen dem innerſten und tiefſten Bezirke ſeines Weſens, die In⸗
ferno⸗Kriſe und ihre Überwindung enthüllen uns Strindbergs Perſönlichkeit in
ihrem wahrſten Sein, reißen die letzte Maske von dem Geſicht ſeiner Seele.
Die Urſachen zu Strindbergs religiöfer Umkehr liegen keineswegs, oder nur
zum geringften Teile, in der Wiſſensſphäre, nicht Fragen des Intellekts find es,
die den raſtloſen und ewig unbefriedigten Forſcher, Sucher und Zweifler den
Offenbarungswahrheiten in die Arme treiben, ſondern von ganz perſönlich emp⸗
fundenen und erlittenen Problemen her, aus wahrhaft religiög-ethifhen Qua⸗
len, Nöten und Kämpfen heraus ſucht er in der Religion Zuflucht, Heilung, Lö⸗
ſung, Erlöſung. Nur völliges Unvermögen, Religiöſes überhaupt zu verſtehen,
kann die Tiefe, Echtheit und Urſprünglichkeit von Strindbergs Erlebniſſen in
jener Zeit verkennen, ſie etwa aus der Sucht nach neuen Senſationen, als Wir⸗
kung fremden Einfluſſes oder gar als Alterserſcheinung zu deuten ſuchen, nach
dem bekannten Wort: Wenn der Teufel alt wird, wird er Mönch. Die nach der
Kriſe fo reich wie nie aufquellende dichteriſche Produktion von religiöfer Fär⸗
bung und ganz perſönlicher Eigenart ſtraft ſolche Deutungen allein ſchon Lüge.
Es handelt ſich in der Inferno⸗Kriſe um einen den ganzen Menſchen bis in ſeine
letzten, unterſten Tiefen aufwühlenden und erſchütternden, die mannigfachſten
Stadien durchlaufenden, mehrfach bis an den Rand des Grabes führenden,
immer wieder von Rückfällen unterbrochenen äußerſt langwierigen Krankheits⸗
und Geneſungsprozeß. Es iſt ein hartnäckiges Ringen mit Gott, ein unter Aufs
bietung aller Kräfte immer wieder trotziges Sich-Emporbäumen gegen die ers
ſehnte Erlöſung und endlich ein halb widerwilliges, immer noch zweifelndes
Die⸗Kniee⸗Beugen vor der göttlichen Übermacht. Nicht wie ein milder Regen
ſenkt ſich die Gnade der Wiedergeburt auf den Sich⸗Bekehrenden, nicht in ſtillem,
ſanftem Säuſeln kommt die Gottheit zu dem Suchenden, ſondern wie ein ge⸗
waltiger Sturmwind, der den ſtarken Baum erſt Aſt um Aſt entblättert, bevor
es ihm gelingt, den widerſtrebenden, ſtets wider emporſchnellenden zur Erde zu
zwingen. Jahre hindurch, von 1895 etwa bis 1898, dauerte, unter ſtändigem
Wechſel von Sieg und Niederlage, dieſes Ringen Jacobs mit Gott. Körperliche
und ſeeliſche, in erſter Linie aber ſeeliſche Qualen ſind es, die den Gehetzten bis
aufs Blut peinigen und nicht eher — und auch dann nicht ganz — freigeben, als
bis er in der Religion eine Zuflucht gefunden hat.
Pſychiater haben es unternommen, Strindbergs Erlebniſſe in jener Zeit als
Folgeerſcheinungen beſtimmter geiſtiger Erkrankung zu erklären. Für den Medi⸗
ziner iſt es auch zweifellos von hohem Wert und Reiz, den typiſchen Verlauf ge⸗
wiſſer pſychiſcher Krankheitsprozeſſe an dem Einzelfall Strindberg zu ſtudieren
oder zu erläutern, da der Patient, an ſich ein genialer Selbſtbeobachter und
Seelenanalytiker, ſeine Krankheitszuſtände bewußt erlebte und die ſeltene Fähig⸗
keit beſaß, ſie bis in die kleinſten Einzelheiten hinein exakt darzuſtellen. Für die
geiſteswiſſenſchaftliche Betrachtung aber iſt es belanglos, ob Strindbergs Zu⸗
ſtand in jener Kriſe ſich mit dem Krankheitsbild des Schizophrenen, des Autiſten,
des Neurotikers deckt oder nicht. Für das „Verſtehen“ der ſeeliſchen, ſpeziell
religiög-ethifhen Erlebniſſe Strindbergs, auf das es ihr allein ankommt, ſpielt
Strindbergs Weg nach Damaskus 255
die Auffindung ihrer phyſiologiſchen Urſache keine oder jedenfalls nur eine höchſt
ſekundäre Rolle. Mag Strindbergs religiöſe „Erweckung“ von einer Erkrankung
des Nervenſyſtems begleitet oder auch mit verurſacht ſein, dadurch verliert ſie
ſelbſt nicht im geringſten an Wert und Bedeutung. Uns intereſſiert, im Gegen⸗
ſatz zu dem Pſychiater, nicht die Art ſeiner Erkrankung, ſondern das Weſen, die
Beſonderheit feiner religiöfen Erfahrungen und Gefühle, die wir nacherlebend
zu erfaſſen und in den größeren Zuſammenhang feiner ganzen ſeeliſch⸗geiſtigen
Entwicklung einzureihen ſuchen, um dadurch ein Geſamtbild von ſeiner Perſön⸗
lichkeit zu gewinnen und von ihm aus tiefer in den Gehalt ſeines Werkes einzu⸗
dringen. Wichtig iſt für uns nur, daß die Furcht vor geiſtiger Umnachtung für
die religiöfe Wandlung mitbeſtimmend war. Strindbergs nervöſe Überreiztheit
erklärt ſich aus der aufs äußerſte geſpannten, auf ſchwache Reize ſchon mit ſtärk⸗
ſtem Ausſchlag reagierenden Senſibilität ſeiner Konſtitution, die ihn zum Leiden
prädiſponierte, und aus der niemals ruhenden, ſich ſelbſt verzehrenden, glühen⸗
den intenſiven geiſtigen Aktivität und Produktivität, durch die er ſein Gehirn
dauernd überlaſtete, überhitzte. „Ruhe iſt bei mir nicht Beſchäftigungsloſigkeit,
ſondern Abwechflung in der Arbeit“, ſchreibt er an C. Lovſtröm (2. Mai 1883),
und ein anderes Mal vergleicht er ſich mit einer Leydener Flaſche die ſtändig
Funken ſprüht. Zu dieſer Nervenüberſpannung aber geſellten ſich in der Mitte
der 90er Jahre eine Reihe qualvollſter, bitterſter Erlebniſſe, die den von Kind⸗
heit an zu depreſſiven Gemütsſtimmungen Neigenden völlig niederdrückten und
zerrütteten.
1894 begann ſeine zweite Ehe ſich zu löſen, nachdem noch kaum die Wunden
der erſten Scheidung vernarbt waren. Zum zweiten Male war ſein Traum von
Glück, das für ihn einzig und allein in der Gemeinſchaft der Ehe und Familie
beſtand, in Nichts zerronnen, zum zweiten Male mußte er erfahren, daß das
„Süßeſte im Leben“ zugleich das „Bitterſte“ iſt. Wie tief ihn die Trennung von
Frau und Kind bis ins innerſte Mark ſeiner Seele traf, davon zeugt ſeine
Dichtung an zahlreichen Stellen. Keine chirurgiſche Operation iſt ſo ſchmerzlich
wie „das Zerreißen der Bande, die zwiſchen Mitgliedern einer Familie geknüpft
ſind“ („Beichte eines Toren“, Kap. 10). Die Frau, die ihren Mann verläßt,
nimmt ein Stück ſeiner Seele mit, und das iſt vielleicht der heftigſte Schmerz, den
es gibt, „nur vergleichbar mit dem der Mutter, die ihr Kind verloren hat“ (Le⸗
genden 6). Wenn ein Mann in ſeiner Liebe getäuſcht wird, dann „empört ſich
ſein ganzes Weſen gegen die Weltregierung, die mit ſeinem Heiligſten geſpielt
hat, dem Heiligſten der ganzen Schöpfung“ („Erzählungen des Quarantänen⸗
meiſters“). Wenn der „heilige Baum“ des „Heimes“ zerſtört wird, „kommt Un⸗
ordnung ins Weltall und die ganze Natur ruft Wehe“ („Schwarze Fahnen“).
Empfand er zunächſt auch die Loslöſung wie eine Befriedigung von unerträg⸗
lichem Druck, die ihn aufatmen ließ, bald überwog doch der Schmerz der Sehn⸗
ſucht, der Entbehrung der mütterlich umhegenden Liebe, die Bitterkeit der Ver⸗
einſamung, der Heim⸗ und Heimatloſigkeit, die den Fried'⸗ und Freudloſen auch
äußerlich zum Gehetzten ſtempelte.
Dazu kam das Gefühl des Verfemt⸗, Verhöhnt⸗, des Ausgeſtoßen⸗Seins durch
ſchaftlichen Theorien und Verſuche mit überlegenem Lächeln abtaten und den
„Goldmacher“ und „Alchimiſten“ als Dilettanten oder gar als Charlatan ver⸗
ſpotteten und dem Gelächter der Welt preisgaben. Er empfand dies um ſo bit⸗
terer, als dieſe Forſchungen und Experimente, denen er jahrelang ſeine ganze
geiftige Kraft widmete, denen er Geſundheit und Vermögen opferte, tiefſtem
Wiſſensbedürfnis, reinſtem Streben nach Wahrheit und Klarheit entſprangen.
Auch in den poſitiven Wiſſenſchaften, auf die er ſich mit der ganzen Glut ſeiner
Seele geworfen hatte, fand er keine Antwort auf ſeine Fragen, auch vor ihnen
machte ſeine Zweifelſucht nicht halt, auch in ihnen entdeckte er die Herrſchaft
ſtarrer Dogmen und blinden Autoritätsglaubens, gegen die er ſich als geborener
Revolutionär kühn erhob. Mit dem Erfolg, daß er verlacht wurde. Die wirt⸗
ſchaftliche Not aber, in die ihn ſeine wiſſenſchaftliche Tätigkeit ſtürzte, da ſie ſeine
dichteriſche Produktion völlig hemmte, peinigte ihn vor allem deshalb, weil ſie es
ihm unmöglich zu machen drohte, die Verpflichtungen ſeiner Familie aus erſter
Ehe gegenüber zu erfüllen.
All das ſtürmte mit ungeheurer Gewalt auf den Senſiblen ein und machte
ihm das Leben buchſtäblich zur Hölle. Sich von allen verlaſſen, verraten, miß⸗
achtet, gehaßt, verfolgt fühlend, zieht er ſich ganz in die Einſamkeit zurück. Nur
noch in Geſellſchaft mit der eigenen Perfon lebend, gerät er in die äußerſte Selbſt⸗
verzweiflung, fängt an, in ſich ſelbſt die Schuld zu ſuchen, ſich ſelbſt zu haſſen,
bekommt wie der Unbekannte in „Nach Damaskus“ einen ſolchen Abſcheu vor
ſich ſelbſt, daß er frei von ſich werden möchte. All feine früheren Überzeugungen
ſind wankend geworden, nirgends findet er mehr feſten Halt, überall verliert er
den Boden unter den Füßen. Da naht ſich ihm die Religion des Chriſtentums
als Retterin und Helferin, das Kreuz als einzige Hoffnung taucht auf. Aber
noch will er ſich nicht unterwerſen, noch ſträubt ſich ſein Stolz und Trotz gegen
dieſe Flucht in den Schoß des Glaubens.
So wendet er ſich von der Chemie zur Alchymie, vom Poſitivismus zum Ok⸗
kultismus und zur Theoſophie, vertieft ſich in die Geheimniſſe des Spiritis⸗
mus und des Heilſehens, der ſchwarzen und weißen Magie, aber nicht in kühler
Forſchertätigkeit, ſondern mit der ganzen Leidenſchaft ſeiner gepeinigten Seele. Er
entdeckt die geheimnisvollen, rätſelhaften Vorgänge, mit denen er ſich beſchäftigt,
an ſich ſelbſt, entdeckt in ſich ſelbſt okkulte Kräfte und Fähigkeiten, fühlt magiſche
Mächte in ſein Schickſal eingreifen. Alltägliche Erſcheinungen und Geſchehniſſe,
zufällige Zuſammenhänge gewinnen für ihn ſymboliſche Bedeutung, Gegen⸗
ſtände werden in Geſichte, Zufälle in Abſichten umgedeutet. Aber Okkultismus
und Thesoſophie feſſeln ihn nicht auf die Dauer, die Beſchäftigung mit ihnen iſt
nur Durchgangsſtadium, öffnet ihm Blick und Sinn auch für die religiöſe Myſtik,
macht den Boden bereit für die Aufnahme Swedenborgs, der ihn endgültig zum
Chriſtentum feiner Jugend zurückführt.
Schon in der Kindheit war in Strindberg die Lebensangſt ſtärker als die Le⸗
bensfreude, die Lebensſehnſucht. Jetzt ſteigerte ſich das Gefühl zu einem furcht⸗
baren Grauen vor einer dämoniſchen Urmacht, die den Menſchen auflauert, um
Strindbergs Weg nach Damaskus 257
ihn zu quälen, und verdichtete ſich zu den Wahnvorſtellungen, von Menſchen
verfolgt zu ſein, die ihm nach dem Leben trachteten, Vorſtellungen von einer
ſolchen Lebhaftigkeit, daß er mehrmals nahe daran war, durch Selbſtmord
ſeinen vermeintlichen Feinden zuvorzukommen.
Dann aber wandelt ſich die Wahnidee, von Menſchen verfolgt zu ſein, um in
die Überzeugung, daß übernatürliche Gewalten in ſein Schickſal eingreifen, daß
er von Dämonen, boshaften Geiſtern geplagt wird, die ihn quälen aus Freude
am Quälen, die alſo nicht allzu verſchieden find von den Menſchen, von denen
er ſich zuerſt verfolgt fühlte. Aber die Vorſtellung, von den „Mächten“ heimge⸗
ſucht zu werden, richtet fein Selbſtbewußtſein wieder auf. Wenn fie feinen Weg
kreuzen, dann muß ein Grund vorhanden ſein, dann kann es nicht anders ſein,
als daß ſie ihn fürchten, daß ſie ihn hindern wollen an einer Aufgabe, die er zu
erfüllen hat, und das hebt ihn über die Maſſe der übrigen Menſchen hinaus, die
dem Haſſe der „Mächte“ nicht ausgeſetzt ſind. Und bald werden, unter dem Ein⸗
fluſſe Swedenborgs und der katholiſchen Umwelt die boshaften Dämonen zu
Zuchtgeiſtern, die ihn im Auftrage eines Höheren, des Unſichtbaren, des „Unbe⸗
kannten“ ſtrafen, ihn zu einem beſtimmten Ziele peinigen.
Damit iſt die entſcheidende Wendung zur Religioſität vollzogen. In dem
Furchtbaren, das er durchmachen mußte, ſieht er nun einen verborgenen Sinn,
eine tiefere Bedeutung. Das Schickſal wird zur „Vorſehung“, das Inferno zum
Purgatorio, und das rettet ihn vor der Nacht der Verzweiflung. Er gewinnt die
tröſtende Überzeugung, daß ihn der „Ewige“ wie Hiob dem Satan überlieferte,
um ihn zu prüfen, und nimmt dies als ein Zeichen des Vertrauens von ſeiten
des „Allmächtigen“ (Inferno 6). Die Idee des Auserwähltſeins ergreift von
ihm Beſitz. Er ſpürt über ſich die Hand einer göttlichen Macht, die ſein Geſchick
planvoll leitet, ihn durch Leiden reinigt, um ihn zu einer beſtimmten „Miſſion“
zu erziehen. Die krankhaften Zuſtände, denen er unterworfen war, erſcheinen ihm
jetzt als abſichtlich hervorgerufen, damit das Bewußtſein der eigenen Schuld
in ihm erwache.
Sein Leiden empfindet er jetzt als Wiedervergeltung für begangene Schuld,
mag ſie auch nur in Gedanken, Wünſchen, Neigungen beſtanden haben. Sein
ganzes früheres Leben zieht noch einmal an ihm vorüber und wird vom Blick⸗
punkt des neu erwachten Gewiſſens aus betrachtet. In der Erinnerung lebt er
das gelebte Leben noch einmal, leidet noch einmal die erlittenen Leiden, leert
noch einmal all die bitteren Kelche, die er ſo oft geleert hat. Alle Verſtöße, alle
Vergehen, alle Dummheiten, die er einſt begangen, treiben ihm das Blut bis in
die Ohren, preſſen ihm den Schweiß bis in die Haare, jagen ihm die Schande bis
in den Rücken (Inferno 16). Nichts hält vor dieſer ſcharfen Gewiſſensprüfung
ſtand, er findet ſein verfloſſenes Leben abſcheulich, Ekel erfaßt ihn vor der eige⸗
nen Perſönlichkeit (Legenden 9). Die Qualen, die er jetzt erleiden muß, ſind die
gerechte Strafe für ſeinen früheren Skeptizismus und Atheismus, insbeſondere
dafür, daß er die Jugend gegen das Beſtehende, gegen die Geſetze, die Obrigkeit,
die Sittlichkeit aufgehetzt hat. Dieſer Widerwille gegen ſein früheres Ich iſt der
Beginn des Sehnens nach einem „neuen Menſchen“, die Vorausſetzung für die
Aupborion XXVIII. 17
258 Wilhelm Hans
„Wiedergeburt“. „Selbſtverachtung, Entſetzen vor der eigenen Perſönlichkeit,
gewonnen durch die vergeblichen Anſtrengungen, ſich zu beſſern, das iſt der Weg
zu einem höheren Daſein“ (Legenden 9).
Er flüchtet vor ſich ſelbſt in die Arme des „Unbekannten“. Die Angſt, ein Un⸗
menſch zu werden, macht ihn religiös. Die Anrufung von Gottes Gnade und
Hilfe rettet ihn vor dem Wahnſinn und Irrenhaus. Der „Unbekannte“ wird ihm
zu einer perſönlichen Bekanntſchaft, er ſpricht mit ihm, dankt ihm, fragt ihn um
Rat. Er leidet, wenn Er zornig auf ihn iſt, wenn Er gnädig iſt, wird ihm das
Leben „ſüß“ (Legenden II). Er tritt mit der „unſichtbaren“ Welt in Beziehung,
für alles hat er jetzt eine übernatürliche Erklärung, hinter den rätſelhaften Ge⸗
ſchehniſſen, die ihn erſchreckten, erblickt er jetzt „bewußte“ göttliche Abſicht. Alles,
was um ihn geſchieht, was ſeinen Weg kreuzt, mögen es Menſchen, Bücher, ein⸗
zelne Worte oder Vorgänge fein, wird aufgefaßt als Werkzeug der Vorſehung.
Strindberg fällt damit in die naiv⸗religiöſen Vorſtellungen des Mittelalters
und der Reformationszeit zurück.
Bei anderen entdeckt er ähnliche Erlebniſſe, auch andere ſieht er zur gleichen
Zeit auf dem Wege nach Damaskus, vor allem Huysmans und Peladan in
Frankreich, in Dänemark Joh. Jörgenſen. Das bringt ihn zur Überzeugung, daß
eine allgemeine Erweckung durch die Welt gehe (Legenden 1). Er findet überall
den Wunſch nach Wiederkehr der Religion, wenn auch unter andern, neuen For⸗
men, nach einer „Verſöhnung mit den Mächten“, nach einer „Wiederannäherung
an die unſichtbare Welt“. Die naturaliſtiſch-atheiſtiſche Epoche fei endgültig vor⸗
über. Sie war ein notwendiges Durchgangsſtadium mit dem freilich rein nega⸗
tiven Ergebnis der Unfruchtbarkeit und Eitelkeit aller antireligiöfen Lehren.
„Ein Gott, bis auf weiteres unbekannt, entwickelt ſich und wächſt, offenbart ſich
mit Zwiſchenräumen“ (Inferno 14). Aber es wäre grundverkehrt, Strindbergs
Wandlung aus dieſer Zeitſtimmung heraus zu erklären, von der er ſich habe mit⸗
reißen laſſen. Sie wirkte nur beſtärkend, war aber weder Urſache noch Veranlaſ⸗
ſung. Seine „Wiedergeburt“ erfolgte aus ganz individueller Not, aus ganz per⸗
ſönlichem religiofem Bedürfnis heraus.
Freilich, Strindbergs Weg nach Damaskus war kein geradliniger, ſo wenig
wie der des Unbekannten im gleichnamigen Drama; ſondern führte im Zickzack,
und das Tempo der Entwicklung war kein gleichmäßiges Fortſchreiten, ſondern
ein ſtürmiſches Auf und Ab. Immer wieder bricht er aus, kehrt er um, aber
immer wieder beginnt er den Weg aufs neue. Immer wieder übermannt ihn der
Geiſt des Zweifels und des Aufruhrs, des Trotzes und der Auflehnung gegen
die göttliche Führung. „Willſt Du mich zum Propheten machen? Das iſt zu
große Ehre für mich, und ich ermangle der Berufung“ (Legenden II). „Trotz
aller Marter, die ich ausgeſtanden habe, hält ſich der Geiſt des Aufruhrs aufrecht
und redet mir Zweifel ein, ob die Abſichten meiner unſichtbaren Wegführer wohl⸗
wollend ſind“ (Legenden 10). Sobald er ſich von der Welt zurückzieht, wird er
von dem Dämon der Verrücktheit angegriffen. Das macht ihn ſtutzig. Hat er ein
Recht, die ſchöne Erde, des Ewigen Schöpfung, asketiſch zu verachten, ketten ihn
nicht heilige Pflichten, vor allem ſeinen Kindern gegenüber, an ein Wirken in
Strindbergs Weg nach Damaskus 259
der „Welt“? Vor allem läßt ihn das uralte, ungelöfte und nicht zu löſende
Problem der Theodizee nicht los. Iſt es gerecht, daß er für Sünden büßt, in die
ihn der „Unbekannte“ geführt oder die er zum mindeſten zugelaſſen hat, da er
doch der Allmächtige iſt. Wie kommt überhaupt das Böſe in die Weltordnung
eines allguten Schöpfers und Lenkers hinein?
Aber trotz aller Zweifel, trotz aller Rückfälle, die religiöfe Grundſtimmung
ſeiner Seele geht nicht wieder verloren. Nicht aus eigener Kraft, ſondern nur
unter dem Beiſtande der Religion hat er die Inferno⸗Qualen überwunden. Sie
kehren, in alter Stärke, nie wieder zurück. Das Geſpenſt des Wahnſinns bleibt
gebannt. Die furchtbare Diſſonanz hat ſich aufgelöſt, eine Erklärung für das
Leben iſt gefunden, das Leben, das eigene Schickſal, die Welt hat wieder einen
Sinn erhalten, an den er glaubt, wenn er ihn auch nicht völlig zu deuten weiß.
Die echt religiöſe Stimmung des Sichgeborgenfühlens, des Vertrauens in eine
göttliche Weltregierung iſt das Endergebnis der Kriſe. Die altteſtamentliche
Vorſtellung einer ſtrafenden, rächenden Gottheit hat ſich im Laufe der Kriſe in
die des neuteſtamentlichen liebenden Gottes gewandelt, deſſen Führung man ſich
ruhig überlaſſen kann, mögen ſeine Wege auch oft dunkel und unbegreiflich er⸗
ſcheinen. Die Sehnſucht nach mütterlich umhegender Liebe, die ſich ihm niemals
im Leben erfüllte, miſcht ſich mit dieſem religiöſen Gefühl. Er ſehnt ſich, „den
ſchweren Kopf an einen mütterlichen Buſen zu legen, im Schoße einer Mutter zu
ſchlafen, der keuſchen Göttin eines unermeßlich großen Gottes, der ſich meinen
Vater nennt und dem ich mich nicht zu nahen wage“ (Legenden 12). f
Die Echtheit, Tiefe und Nachhaltigkeit von Strindbergs religiöfer Wandlung
läßt ſich ernſthaft nicht bezweifeln. Eine innere Geſundung war die Folge und
führte zu einer ungeheuren Steigerung ſeiner dichteriſchen, insbeſondere drama⸗
tiſchen Produktivität. Er ſpürte ſelbſt mit Erſtaunen, wie er in jener Zeit ſich
„aufs ſtärkſte entwickelte, intenſiv lebte, glaubte und wuchs“ (Legenden 398).
Wie die Kriſe den innerſten Nöten ſeiner Seele entſprang, ſo kräuſelte auch die
Wandlung nicht nur die Oberfläche, ſondern ergriff den ganzen Menſchen bis in
ſeine letzten Tiefen. Sein ganzes Denken und Schaffen kreiſt fortan um religiös⸗
ethiſche Probleme, ſie ſtehen im Mittelpunkte ſeiner geſamten dichteriſchen und
ſonſtigen geiſtigen Produktion.
Freilich, Strindberg bleibt er ſelbſt auch nach ſeiner „Wiedergeburt“. Sie voll⸗
zieht ſich nicht ſo, wie die Methodiſten den Vorgang der „Erweckung“ ſich vor⸗
ſtellen, daß durch die Einwirkung der göttlichen Gnade ein ganz neuer Geiſt in
den Menſchen einftrömt, der eine völlige Weſensänderung in ihm hervorruft, ihn
von Kopf bis Fuß umwandelt, eine ganz neue Schöpfung aus ihm macht. Die
Ruhe, Feſtigkeit, Einheitlichkeit, wie ſie etwa Tolſtoi nach ſeiner „Umkehr“ in
Leben und Werk bezeugte, ward Strindberg nie zuteil. Dazu war er innerlichſt
eine zu unharmoniſche, zu zwieſpältige, zu dynamiſche Natur, die nach Ent⸗
ladungen drängte. Der Dämon des grübleriſchen Zweifels, des kämpferiſchen
Trotzes und glühenden Haſſes packte ihn gelegentlich immer wieder, aber er ſtieß
ihn doch nie wieder völlig in den Unfrieden und die Unſeligkeit der früheren Zeit.
Er vermochte auch nach ſeiner Rückkehr zum Chriſtentum noch ein ſo boshaftes
260 Wilhelm Hans
Werk wie die „Schwarzen Fahnen“ zu ſchreiben, in dem er rückſichtslos und un⸗
nachſichtlich mit den früheren Freunden abrechnete. Aber er litt unter ſolchen
Ausbrüchen ungezügelten Haſſes ſelbſt aufs ſchwerſte und ſuchte ſie vergeblich
vor ſich ſelbſt damit zu rechtfertigen, daß man Nachſicht gegen das Böſe bei
anderen ſo wenig üben dürfe, wie gegen das in ſich ſelbſt.
Der Fanatismus, mit dem er von der neu gewonnenen Poſition aus den
eigenen früheren Standpunkt bekämpft, iſt nicht etwa ein Zeichen innerer Feſtig⸗
keit, verrät nur den ſtarken Willen, alles noch in ihm ſelbſt Widerſtrebende ge⸗
waltſam zu übertäuben, niederzuzwingen. Er ſchlägt mit ſolch brutaler Hef⸗
tigkeit zu, weil er gegen ſich ſelbſt kämpft, gegen den Teil in ſich, in dem das
überwundene noch zäh widerſtrebend fortlebt. So gewinnt feine neue Haltung
oft etwas Krampfhaftes, Gewolltes, Abſichtliches, Übertriebenes. „Zuweilen
fragt jemand in mir: ‚Glaubſt Du daran? Ich bringe die Frage ſofort zum
Schweigen, denn ich weiß, der Glaube iſt nur ein Zuſtand der Seele und
kein Gnadenakt, und ich weiß, dieſer Zuſtand iſt mir heilſam und erzieheriſch“
(Einſam 3).
Es gelang Strindberg nicht, ſich ſo von ſeiner Vergangenheit, ſeinem früheren
Ich loszulöſen, wie er es wünſchte. Gewiß, der Bruch iſt ſchroff, der Gegenſatz
zwiſchen dem alten und neuen Strindberg ein denkbar tiefer. Vor der Kriſe ent⸗
ſchiedener Gottesleugner, Poſitiviſt, Verächter des Chriſtentums, der Religion
der „Schwachen“ und Niedrigen, Geiſtes⸗Ariſtokrat im Sinne Rietzſches, nach
der Kriſe Verkünder des Evangeliums, Chriſtusbekenner, Myſtiker, Büßer, De⸗
mokrat und Sozialiſt. Strindberg ſelbſt zog den Trennungsſtrich fo ſcharf wie
möglich. Im Vorwort zur Neuausgabe der „Entwicklung einer Seele“, 1886
zuerſt erſchienen, ſchreibt er im Jahre 1909: „Die Entwicklung des Verfaſſers iſt
mir ebenſo fremd geworden, wie ſie dem Leſer fremd iſt, — und unſympathiſch.
Da ſie nicht mehr exiſtiert, fühle ich keine Gemeinſchaft mit ihr, und da ich ſie
ſelbſt getötet habe (1897), glaube ich, das Recht zu haben, dieſe Vergangenheit
als geſühnt und ausgeſtrichen aus dem großen Buch zu betrachten.“ Die Auf⸗
führung ſeiner Werke aus jener überwundenen Epoche bereitet ihm Gewiſſens⸗
qualen wegen der in ihnen verkündeten falſchen Lehren, die er jetzt verdammt
und abgeſchworen hat, und er fordert, daß „jeder Hohn gegen Religion oder das
Heilige geſtrichen wird“ (Brief an Falck, April 1908). An alte Familienpor⸗
träts, um die ihn Schering befragte, will er ſich nicht erinnern, weil er bei ſeinem
„Schiffbruch“ alle Laſt, auch die des Gedächtniſſes, ins Meer geworfen habe,
„weil das, was zur Ausrüſtung des früheren Strindberg gehörte, jedes Inter⸗
eſſe für mich verlor, bald hätte ich geſagt, aufgehört hat, jemals exiſtiert zu
haben“. (An Schering, 13. November 1902.)
Aber dieſe Formulierungen ſprechen doch mehr den Wunſch als die Tatſache
aus. Gerade weil das frühere Ich noch nicht völlig ausgelöſcht war, weil er es
noch in ſich fortglimmen fühlte, wollte er es nicht wahr haben, um jede Möglich⸗
keit des Rückfalls zu erſticken. In Wirklichkeit war die Kluft nicht ſo tief, ging
es ihm vielmehr wie Auguſtin, der von ſich bekennt: „Der neue Wille, der ſich jetzt
in mir regte, war noch nicht ſtark genug, als daß er jenen anderen durch langes
Strindbergs Weg nach Damaskus 261
Nachgeben ſtark gewordenen Willen hätte überwinden können. So ſtritten dieſe
beiden Willensrichtungen, von denen die eine alt, die andere neu, die eine
fleiſchlich, die andere geiſtlich war, miteinander und verwirrten meine Seele.“
Und wie in dem neuen Menſchen Strindberg der alte durchaus nicht völlig ab⸗
geſtorben iſt, ſondern in der Tiefe weiterlebt, aus der er zuweilen plotzlich und
gewaltſam hervorbricht, ſo ſchimmert in dem alten Strindberg gelegentlich der
neue ſchon hindurch. Die Kriſe bedeutet keinen ſchroffen, unerklärlichen, geheim⸗
nisvollen Bruch, es klafft kein ſchwindelnder Abgrund zwiſchen den Epochen vor⸗
her und nachher, ſondern es laufen Verbindungswege herüber und hinüber.
Seine Flucht in die Religioſität iſt nur der endgültige Sieg des Chriſtentums in
einem wechſelvollen Kampfe, der bald heftiger bald ſchwächer ſein ganzes Leben
hindurch tobte. Auch in den Jahren als er ſich zum Atheismus und Materialis⸗
mus bekannte — es war übrigens eine verhältnismäßig kurze Epoche —, war
das Chriſtentum, der Pietismus nicht völlig getötet, ſondern nur verdrängt. Die
. radikale, ſchroffe, bis zum äußerſten Extrem gehende Art, in der er feine Bekennt⸗
niſſe formulierte, darf darüber nicht täufchen. Er will mit dieſer Heftigkeit und
Gewaltſamkeit nur das, was ſich innerlich noch auflehnt, zum Schweigen bringen.
Jonas Lie erwies ſich auch Strindberg gegenüber als der feine Seelenkenner, der
er war, wenn er unter der Hülle des Religionsfeindes den Pietiſten erkannte.
Er nennt ihn „einen gelehrten Mann in europäiſchem und ſchwediſchem Sinne,
aber die Sache iſt die, er iſt insgeheim Pietiſt mit Martyrien und Leiden und
halb, um nicht zu ſagen, ganz fanatiſch“. (An Werenskiold, Neujahr 1884.)
Seit ſeiner Kindheit war Strindberg ein Gottſucher, ein Menſch mit ſtarkem,
religiöfem Bedürfnis. „Mit Heimweh nach dem Himmel geboren, weinte ich
ſchon als Kind über den Schmutz des Daſeins, fühlte ich mich fremd und einſam
unter meinen Verwandten und in der Geſellſchaft.“ Was in den „Gotiſchen
Zimmern“ über Axel E. geſagt wird, paßt Wort für Wort auf Strindberg ſelbſt:
„er befand ſich immer auf dem Fluge, ſuchte immer hinter der Erſcheinung, nahm
das Leben als etwas Proviſoriſches, Vorübergehendes, ein Gaſtſpiel auf der
Durchreiſe, litt unterm Daſein und verlangte heim“.
Inkonſequent, launiſch, ſprunghaft, widerſpruchsvoll, vulkaniſch, niemals
geradlinig, auch nicht ſpiralförmig, ſondern in fortwährendem Auf und Nieder,
im Zickzack, in unberechenbaren Kurven verläuft Strindbergs Entwicklung. Es
iſt mehr ein Neben⸗ und Gegeneinander als ein Nacheinander. In unabläſſigem,
aufreibendem Ringen gewinnt bald das eine, bald das andere die Oberhand.
„Die Widerſprüche in meinem Schriftſtellertum beruhen darauf, daß ich mich auf
verſchiedene Standpunkte geſtellt habe, um die Dinge von vielen Seiten zu be⸗
trachten. Das iſt reich und human. Das heißt experimentieren.“ So ſchreibt er
1890 an Heidenſtam. Ahnlich äußert ſich Dr. Borg über Falk Strindberg) in
den „Gotiſchen Zimmern“: „Er experimentierte mit Standpunkten, und als
gewiſſenhafter Experimentator ſtellte er Kontrollexperimente an, ſtellte ſich ver⸗
ſuchsweiſe auf die Seite der Gegner ... und wenn das Gegenexperiment negativ
ausfiel, kehrte er zum erprobten Ausgangspunkt zurück...“ „Falk war ein Vivi⸗
ſektor, der mit ſeiner eigenen Seele experimentierte, immer mit offenen Wun⸗
262 Wilhelm Hand
den herumging, bis er fein Leben fürs Wiſſen hingab.“ Aber die Widerſprüche
in ſeinen Schriften löſen ſich nicht, wie Dr. Borg mit Anſpielung auf Kierke⸗
gaards gleichnamige Schrift meint, als „Stadien auf dem Lebenswege“, ſondern
haben ihren letzten Grund in des Dichters eigenem zwieſpältigem Weſen.
Es handelt ſich nicht, das weiß Strindberg ſelbſt zu anderen Zeiten ſehr
wohl, um ein „Experimentieren“ aus bewußter Abſicht, ſondern aus innerer
Not, aus dem Beſtreben heraus, auf irgendeinem Wege die ſchmerzlich empfun⸗
denen Disharmonien ſeiner Seele zu einer Einheit zuſammenzuzwingen. Hin⸗
und hergeriſſen zwiſchen konträren Empfindungen und Gedanken, gleitet er
ruhelos, flatternd, gehetzt, von Standpunkt zu Standpunkt, jeden mit extremem
Fanatismus verfechtend, um ihn ebenſo radikal bald darauf wieder zu ver⸗
werfen. Vom höchſten Selbſtgefühl ſtürzt er unvermittelt in die bitterſte Selbſt⸗
verachtung, den grimmigſten Selbſthaß, die furchtbarſte Selbſtverzweiflung.
Frauenliebe und Frauenhaß vereint ſeine Seele in merkwürdiger Verſchlingung,
Erotik und Askeſe, Weltflucht und Weltſehnſucht ruhen nebeneinander, in der
Einſamkeit verlangt ihn nach Menſchen, unter den Menſchen aber ſehnt er ſich
nach Einſamkeit zurück. Zufälligkeiten wie Geldverlegenheiten werfen ihn vom
Zweifel in den Glauben oder umgekehrt. Seinen Dichterberuf fühlt er bald als
höchſte Lebensaufgabe, bald verachtet, verſpottet und verläftert er ihn. Er iſt
wie Falk in den „Gotiſchen Zimmern“ ein ewiges Hin und Her zwiſchen
„Askeſe — Frömmigkeit und Sinnlichkeit — Gottloſigkeit“. Aber trotz dieſer
Zerriſſenheit verliert er ſich ſelbſt niemals ganz, die gegen- und auseinander⸗
fliehenden, divergierenden, zentrifugalen Kräfte gewinnen nie völlig die Ober⸗
hand, er findet immer wieder zu ſich ſelbſt zurück. Ein ſtarker Wille zwingt die
ſchier unvereinbaren Gegenſätze doch wieder zuſammen. Gerade weil Demut
und Gehorſam die Tugenden find, die er am ſchwerſten zu erfüllen vermag,
macht der Unbekannte in „Nach Damaskus“ die Kraftprobe und geht ins Kloſter,
wo ſie gefordert werden. Dieſes überaus heftige Spiel von dynamiſchen Kräften
und Gegenkräften in Strindbergs Innern prägt ſich deutlich ſchon in ſeinen
Geſichtszügen aus, in dem alle Fibern ſchmerzhaft zu zucken ſcheinen, kein
Muskel in Ruhe iſt, Linien und Flächen keine Harmonie, kein Gleichgewicht
zeigen. Man ſpürt die unruhige Beweglichkeit einer ſenſiblen Seele, deren Auf⸗
nahmebereitſchaft kein liebevolles, paſſives Hingegebenſein an die Außenwelt
bedeutet, ſondern ein von ihren Reizen zum Sprühen Geweckt⸗Werden. Das
verraten die ſeltſam nach innen gerichteten Augen mit ihrem aus der Tiefe her⸗
ausglühenden Blick, in dem etwas Sichſelbſtverzehrendes, Sichſelbſtverbrennen⸗
des liegt. Nietzſches Wort:
Unerſättlich gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich
ſteht in dieſem Geſicht geſchrieben, das ein Van Gogh hätte malen müſſen.
Nach dem Warum zu fragen gewohnt, ſuchte Strindberg die Erklärung für
die Zwieſpältigkeit ſeiner Seele in der Raſſenmiſchung ſeines Blutes und in
der ungleichen Herkunft ſeiner Eltern, Ariſtokrat vom Vater, Plebejer von der
Mutter her („Sohn der Magd“) ſchwankte er in ſeinem Zugehörigkeitsgefühl
Strindbergs Weg nach Damaskus 263
ſtändig zwiſchen der Ober: und Unterklaſſe. Sein Blut war nad) feiner eigenen
Überzeugung aus finniſchen, ſchwediſchen und deutſchen Beſtandteilen bunt zu⸗
ſammengeſetzt. Sein Mutterland Schweden, in dem däniſch⸗norwegiſche und
deutſche mit franzöſiſchen und ruſſiſchen Kultureinflüſſen ſich miſchen, gab ihm
nicht den Halt einer geſchloſſenen nationalen Kultur. Die feſte klare Form, die
dem Franzoſen die niemals abbrechende Linie der Tradition gibt, fehlte ihm
ebenſo, wie ihm, dem in der Großſtadt Aufgewachſenen die ſtarke geiſtige Nah⸗
rung, die die großen Ruſſen (Doſtojewski ebenſogut wie Tolſtoi) aus dem
bäuerlichen Volkstum ſogen, verſagt blieb. Liebe und Haß gegen ſein Vater⸗
land lagen beſtändig in ſeiner Seele im Kampf miteinander. Weder in Schwe⸗
den noch im Ausland, in Frankreich und Deutſchland, die ihn immer wieder
anlockten, fand er ſeine wirkliche Heimat. Aus der Großſtadt ſehnte er ſich nach
der ländlichen Natur, insbeſondere ſeiner geliebten Schären⸗Inſelwelt hinaus,
konnte aber auf die Dauer die Großſtadt doch nicht entbehren. Dänen Gierke⸗
gaard), Norweger (Ibſen, Björnſon), Schweden (Swedenborg), Deutſche
(Nietzſche), haben ebenſo ſtark auf ihn eingewirkt wie Franzoſen (Rouſſeau,
Huysmans, Balzac, Peladan, Maeterlind), Engländer (Shakeſpeare, Poe) und
Ruſſen (Doſtojewski, Tolſtoi). Dem proteſtantiſch Erzogenen und beſonders
vom Pietismus Beeinflußten trat in Frankreich und Oſterreich der Katholizis—
mus entgegen, und auch die Religionen des fernen Oſtens, namentlich der Bud⸗
dhismus blieben nicht ohne Einfluß auf ihn. Er hätte wie Richard Dehmel
dichten können:
Ich hab ein großes Vaterland
Zehn Völkern ſchuldet meine Stirn
Ihr bißchen Hirn.
Ich habe nie das Volk gekannt
Aus dem mein reinſter Wert entſtand.
Strindberg empfand ſich als einen Übergangstypus, als den Sohn zweier
Zeitalter, deſſen Seele in zwei Hälften geſpalten iſt, die miteinander leben wie
unglückliche Ehegatten, nur noch unglücklicher wie dieſe, weil ſie ſich nie von⸗
einander trennen können. |
In alle geiftigen Strömungen der Zeit, vom naturwiſſenſchaftlichen Poſiti⸗
vismus und Materialismus bis zum Myſtizismus und Okkultismus tauchte er
ein, ließ ſich eine Zeitlang von ihnen tragen, aber doch von keiner gänzlich mit⸗
reißen. Seine Sehnſucht nach abſoluten Werten, das Verlangen ſeines Wiſſens,
bis zu „den letzten Dingen“ vorzudringen, fein Drang nach harmoniſcher Be⸗
wältigung der diametralen Gegenſätze feines Innern trieb ihn von Illuſion zu
Illuſion, die fein ſcharfer Verſtand immer wieder rückſichtslos auflöfte, zerſtörte.
So fand die Zwieſpältigkeit, die Gehetztheit, die Ungeklärtheit unſerer Zeit in
Strindberg einen ganz beſonders ſcharf geprägten Ausdruck.
Als Kind unterlag Strindberg ſtarken religiöfen Eindrücken namentlich von
pietiſtiſcher Seite her. In dem entſchieden religiöfen Elternhauſe wurde er
namentlich von Mutter und Großmutter in dieſem Sinne beeinflußt. „Mein
Vater war ein religiöfer Mann, aber er ſprach nicht fo oft über Religion und
diskutierte nie über Dogmen. Meine Mutter war auch mäßig religiös, aber
264 Wilhelm Hans
Renaiſſance 1910).
Schon im Kinde iſt der depreſſive Charakter Strindbergs ſtark ausgeprägt.
„Ich weinte manchmal vor Schmerz, daß ich da war“, erzählte er 1908 in einem
Interview. Er lebte in beſtändiger Furcht vor den Menſchen, ſelbſt vor den
Nächſten, vor den Fäuſten der Brüder, vor Mutters Rute und Vaters Stock.
Schon im Kind iſt die Lebensangſt ſtärker als die Lebensfreude. Schon der
Achtjährige denkt an Selbſtmord. Er war bange vor den Menſchen „ſchon von
Geburt an“ („Einſam“). Sein Schutz⸗ und Anlehnungsbedürfnis läßt ihn bei
Gott eine Zuflucht ſuchen, wie er ſie in noch früheren Jahren in den Armen der
Mutter fand. Abends wenn ihn die Stille und die Dunkelheit bedrückten, oder
wenn ihn etwas in ſtarken Schrecken verſetzte, dann betete er zu Gott, den er ſich
als einen unendlich ſtarken Mann vorſtellte, von dem er durch das Gebet Kraft
entlehnte („Sohn einer Magd“ und „Entwicklung einer Seele“ 19).
„Ich war geboren mit einem ſtarken religiöfen Empfinden, daß mein Schick⸗
ſal von oben geleitet werde, und ich machte zeitig die Erfahrung, daß die
Menſchenkinder nicht helfen konnten“ („Religiöfe Renaiſſance“). Der ſonntäg⸗
liche Kirchgang, zu dem er angehalten wurde, blieb ebenſo wie das ganze kirch⸗
liche Chriſtentum ohne tieferen Eindruck auf ihn. Auch der Einfluß des Pietis⸗
mus entfaltete ſich nicht ſofort, ſondern erſt längere Zeit nach dem Tode der
Mutter, der ihn „auf gewiſſe Weiſe von der natürlichen Verbindung mit dem
Erdenleben löſte“, dann aber in außerordentlicher Stärke. Er fühlte ſich „einfam
in der Welt, aber um leben zu können, ſuchte ich den archimediſchen Punkt außer
mir, in der Religion“. Er fand ſeine Seele nicht ſo, wie er ſie haben wollte und
„ſuchte wie die Methodiſten zu einem Gnadenſtand in einem gegebenen Augen-
blick zu kommen“. Aber es gelang ihm nicht („Religiöſe Renaiſſance“). Dieſe
religiöfe Hochſpannung fällt in die Zeit feiner Pubertät, die offenbar außer:
ordentlich früh und ſehr heftig ſich regte und den Senſiblen in furchtbare ſeeliſche
Kämpfe warf. In ſeiner Not und Qual ſuchte er Rettung und Zuflucht im
Pietismus, der ihn mehrere Jahre, wenn auch mit Unterbrechungen, beherrſchte.
Jetzt erſt entfalten ſich die Keime, die die Mutter gepflanzt hatte. „Er holte die
alten pietiſtiſchen Schriften der Mutter hervor und las über Jeſus. Er betete
und peinigte ſich. Demütigte ſich. Wollte ſein Selbſt aufgeben und in Jeſus
aufgehen“ („Sohn einer Magd“ 6). Gegen ſeine ſexuellen Träume, die er dem
Teufel zuſchrieb, rief er Jeſus als Helfer auf (ebd. 8).
Der Pietismus, dieſe vielleicht innerlichſte und ſubjektivſte, zugleich ſtark
ethiſche und asketiſch beſtimmte Richtung des Proteſtantismus, die ſich ſo ganz
an den einzelnen wendet und ihn in ein perſönliches Verhältnis zu Gott bringen
will, entſprach durchaus der verſchloſſenen Natur des ſich einſam Fühlenden und
gab feinem religiöfen Suchen, feinem Glauben und feinen Zweifeln Anſtoß und
Richtung. Der Pietismus lehrte ihn die peinliche Gewiſſenserforſchung, die
ſcharfe Selbſtbeobachtung und Seelenanalyſe, das rückſichtsloſe Anſetzen der Sonde
auch an den wundeſten Seelen, ihm entſtammte die Neigung zur Selbſtverachtung
und Selbſtpeinigung, das Bedürfnis nach innerer Reinigung und Weltflucht.
Strindbergs Weg nach Damaskus 265
Aber den erſehnten Frieden brachte ihm der Pietismus nicht. Die Wieder⸗
geburt, die „Erweckung“ blieb aus, der „neue Menſch“ ſiegte nicht über den alten,
ſie kämpften nur einen erbitterten Kampf miteinander. Der Lebenshunger des
ſtark erotiſch Veranlagten war zu groß, der Erlebnisdurſt brannte zu heiß, als
daß er ſich von einer lebensfeindlichen Richtung ganz hätte gefangennehmen
laſſen. Die Natur forderte ihre Rechte. Seine ſtarke Vitalität ließ ſich nicht
zwingen. „Sein Fleiſch war zu jung und zu geſund, um ſich kreuzigen zu
laſſen“ („Sohn einer Magd“ 7). So wandte er ſich bald nach der Konfirmation,
die wie alles Kirchliche, keinen tieferen Eindruck in ihm hinterließ, vom Pietis⸗
mus ab und ſuchte dann nach vorübergehender völliger Abkehr und Auflehnung
und gelegentlichen Rückfällen in den Pietismus, chriſtliche Geſinnung mit
Lebensfreude, Weltbegehren zu verſöhnen. Den Weg dazu wies ihm der Ratio⸗
nalismus eines Theodor Parker, das milde Chriſtentum von Renans „Leben
Jeſu“, das chriſtliche Freidenkertum Boſtröms („Anmerkungen über die Höllen⸗
lehre“) und Rydbergs „Letzter Athener“. „Predigten ohne Chriſtus und Hölle,
das war, was er brauchte“. Chriſtus der Inquiſitor fiel, die Gnadenwahl, das
jüngſte Gericht, all das ſtürzte zuſammen, als ſei es längſt reif zum Fallen ge⸗
weſen. „Es war wie alte Kleider ablegen und neue anziehen“ („Sohn einer
Magd“ 7).
Dieſer Epoche eines rationaliſtiſchen, lebensfreudigen, antipietiſtiſchen Chri⸗
ſtentums entſtammt ſein erſtes größeres Drama „Der Freidenker“ (1869),
deſſen Held ſich gleich heftig gegen den Atheismus wie gegen den Pietismus
wendet und ſich zu einem „aufgeklärten“ Chriſtentum bekennt: „Ich hatte lange
nach der Gnade und dem inneren Frieden geſucht, den meine Religion ver⸗
ſprach — ich betete — nicht zu Gott — denn ihm wagte ich mich nicht zu
nähern — ſondern dem Sohne des Zimmermanns zu Nazareth, den ihr zu
einem Gott gemacht habt. Ich betete jeden Tag und jede Stunde um dieſe
Wandlung des Herzens, die man Neugeburt nennt — ich ſchwur jede irdiſche
Freude ab — ich hielt jeden Menſchen für verloren, der nicht an jeden Buch⸗
ſtaben in der Bibel glaubte, ja, ich ſuchte aufrichtig in den heiligen Schriften
die Aufklärung zu finden, die mich zur Herrlichkeit des Glaubens führen ſollte,
aber ich fand nur Dunkel — ein furchtbares Dunkel, keinen Leitſtern, der den
geringſten Strahl von Licht über meine zerriſſene Seele breiten konnte. Da
erwachte ein Zweifel an dieſer Lehre, die ſo viel verſprach, aber ſo wenig gab.“
Gott offenbart ſich ihm in der Natur. Er glaubt an ein Leben nach dem Tode
auf anderen Sternen, an eine Fortentwicklung zu höherem Leben, zu größerer
Reinheit. Jeſus iſt ihm nun der „gottgefandte Idealmenſch, der kam, um die
Menſchen zu lehren, wie ſie leben ſollten“.
Aber dieſes „freidenkeriſche“ Chriſtentum ſenkte keine tieferen Wurzeln in
Strindbergs Seele. Mehr nur luftiges Gedankengebäude, bot es ihm in ſeinen
ſchweren ſeeliſchen Nöten und Kämpfen keine Zuflucht und brach raſch in ſich
zuſammen, als ihn Ibſens „Brand“ und Kierkegaards „Entweder⸗Oder“ in
ein erneutes tiefes Ringen mit religiös-ethiſchen Fragen hineinführten. Der
20jährige lernte dieſe aus gleichem calviniſtiſchen Geiſte geborenen Werke kennen
266 Wilhelm Hang
in einer Zeit, da er gerade feiner dichteriſchen Begabung gewiß wurde, und fo
empfing er von ihnen die Idee von dem Dichterberuf als einer heiligen Miſſion,
einer von Gott auferlegten hohen Verantwortung und Verpflichtung, der gegen⸗
über alle andern Rückſichten, ſowohl auf ſich ſelbſt als auf andere zu ſchweigen
haben. „Brand gab ihm den Glauben an ein Gewiſſen, das reiner war als
das, was die Erziehung ihm gegeben hatte, und ein Recht, das höher ſtand als
das gewöhnliche Recht. Und er brauchte dieſe Eiſenſtange in ſeinem ſchwachen
Rücken“ („Sohn einer Magd“ 18).
Noch ſtärker wirkte Kierkegaard auf ihn, von dem der 62jährige bekennt, daß
er „mit ſeinem konfeſſionsloſen Chriſtentum“ den tiefſten Einfluß auf ihn
geübt habe“ („Erinnerungen an Dänemark“ 22. Jan. 1912). Er las „Entweder⸗
Oder“ mit „Furcht und Zittern“. „Es ritt ihn wie ein Alp.“ Er verwarf unter
feinem Eindruck feine bisherige äſthetiſche Auffaſſung vom Leben und Dichten
und machte ſich die des harten, rigoroſen Ethikers Kierkegaard zu eigen, der
in der dichteriſchen Gabe eine heilige Verpflichtung, eine hohe Aufgabe ſah. So
erwachte aufs neue ſein Sündenbewußtſein, vertiefte ſich ſein Schuldgefühl,
wurde er in neue Verzweiflung, neue Kämpfe geworfen. Kierkegaard brachte ihm
nicht etwa innere Ruhe und Sicherheit, ſondern weckte und rüttelte ihn auf, daß
es in ihm ſtürmte und gärte wie nie zuvor. Er fühlte ſich in ſeinen „innerſten
Grundfeſten“ erſchüttert und litt „alle Qualen der Hölle“.
„Wir eifern für Aufklärung, aber wir haben das Alte zu früh verworfen,
wir haben nichts mehr, wir ſind bankrott; wir zweifeln an allem; wir wiſſen
nicht, was wir glauben ſollen! Ja, möchte es Ernſt werden mit unſerem Zweifel,
daß wir ſchließlich ernſtlich verzweifeln müſſen, damit wir unſeren verzweifelten
Zuſtand einſehen!“ Das iſt die Stimmung, der der junge Student 1871 in der
Abhandlung für den Doktor Ausdruck gibt. (Zitiert nach Nils Erdmann, Strind⸗
berg, S. 174.)
Aus dieſen religiöfen Kämpfen, Zweifeln, Sehnſüchten und Nöten heraus
dichtete er ſein großes Jugendwerk „Meiſter Olof“ 1872. Es iſt kein Zufall, daß
der Held ein religiöfer Reformator iſt, dem von Gott die ſchwere hiſtoriſche Mif-
ſion auferlegt iſt, einem ganzen Volk ſeinen Glauben zu rauben; der ſich vor dem
Argernis fürchtet, das er geben wird, der aber doch hinein muß in den Wirbel,
wenn er auch darin untergehen muß, und der wie Ibſens „Brand“ alles ſeinem
Beruf opfern, der Wunden ſchlagen muß, während er lieber Wunden heilen
möchte. Was Magiſter Olof feiner Zeit war, das den eigenen Zeit und Volks⸗
genoſſen zu werden, iſt des Dichters ſehnlichſter Wunſch, aber er vermag nicht
den feſten Glauben zu gewinnen, daß er wirklich dazu „berufen“ iſt, ſei es auch
nur den Zweifel zu wecken, und das Alte, Morſchgewordene zu zerftören, um
dem Neuen die Bahn zu bereiten.
Die Abſpannung, die eintritt, nachdem er das Werk geſchaffen, ſtürzt ihn in
eine heftige Kriſe mit vorwiegend depreſſiven Stimmungen, die verſtärkt werden
durch das Ausbleiben des Erfolges, durch die völlige Teilnahmsloſigkeit, der
ſeine erſte große dichteriſche Schöpfung begegnet. Er wird nicht nur irre an
ſeiner eigenen dichteriſchen Berufung, er zweifelt an der Möglichkeit eines Fort⸗
Strindbergd Weg nach Damaskus 267
ſchritts in der Menſchen⸗Entwicklung überhaupt und vor allem an der göttlichen
Leitung der Geſchichte. Die Furcht vor geiſtiger Umnachtung taucht bereits ge⸗
legentlich auf. — „Ich glaube einmal, daß es eigens für mich beſtimmt ſei, eine
Schule des Leidens durchzumachen, um etwas zu werden oder vielmehr um
etwas Gutes tun zu können“, ſchreibt er an einen Freund den 25. September
1872. (Zitiert nach K. Warburg, IIlustreret Swensk Literatur historia 4, 2.)
Aber nun will er nichts mehr wiſſen von „Gott und Moralität und all dem
Zeugs“. Wieder greift er zu Kierkegaard und findet ihn „unheimlich“, er „reißt
einen hinaus in einen Totentanz“ (ebd.). Seine Wirkung auf ihn iſt jetzt eine
weſentlich negative, auflöſende, zur Verzweiflung treibende.
Dieſe Stimmungen machten ihn reif für die Aufnahme von Buckles ſkepti⸗
ziſtiſcher Geſchichtsphiloſophie und Eduard von Hartmanns Peſſimismus. Unter
dem ſtarken Einfluß von Buckles „Geſchichte der engliſchen Ziviliſation“ verlor
er jeden Glauben an irgendwelche abſoluten Wahrheiten und Werte. Was der
einen Epoche als heilig galt, mußte für die nächſte notwendig zu Irrtum und
Frevel werden. „Jetzt weckte jeder Gedanke feinen Gegenſatz, und alles löſte ſich
in einem endloſen Widerſpruch auf“ („Entwicklung einer Seele“ 5). Wenn alle
Entwicklung ſich in naturgeſetzlichem Ablauf vollzog, ſo war kein Platz mehr
für das Walten einer göttlichen Vorſehung, dann gab es für den einzelnen aber
auch keine Möglichkeit mehr, irgendeinen Einfluß auf dieſe Entwicklung aus⸗
zuüben, dann fiel auch der Glaube an die eigene „Miſſion“. Religion war ihm
nun nichts anderes als die Furcht vor dem Unbekannten, Idealismus nichts als
„Gehirnentzündung“, die Träume der Jugend nichts weiter als „Samenkonzen⸗
trationen zum Gehirn“. Nur vom Egoismus ſah er die Welt regiert.
In derſelben Richtung wirkte Hartmanns „Philoſophie des Unbewußten“.
Der Schlaf wurde ihm „eine Seligkeit und der Tod das höchſte Glück“. Aber er
dichtete Hartmanns unbewußten Willen um in einen böſen Gott, der die Schick⸗
ſale der Menſchen lenkt. „Es kam ihm ſo einfach vor, daß dieſe Welt von Lügen,
Täuſchungen, Schmerzen durch eine böſe Macht beherrſcht werde, welcher der
Höchſte die Regierung überlaſſen habe.“ Er fühlte ſich von einer perſönlichen
Macht perſönlich verfolgt. So erklärt er ſich jetzt ſeine Gewiſſensſkrupel. „Dieſer
Glaube war eine Art Troſt.“ Er befreite ihn von ſeinem Verantwortungsgefühl
für die eigene Schuld („Entwicklung einer Seele“ 5).
In dem eigenartigen Nachſpiel zu der letzten Faſſung des „Meiſter Olof“ (in
Verſen) aus dem Jahre 1878, einem „großen Geſpräch über die Erſchaffung und
den Sinn der Welt“, hat er dieſen peſſimiſtiſchen Anſchauungen dichteriſchen
Ausdruck verliehen. In ihm macht er in merkwürdiger Umkehrung der chriſt⸗
lichen Auffaſſung Gott zum „Böſen“ und Luzifer, den „Lichtbringer“ zur „guten
Macht“. Über ihnen aber thront (im Drama unſichtbar) der Ewige in uner⸗
gründlicher unnahbarer Ferne, läßt ſie gewähren, und erſcheint nur „jede
Myriade von Jahren in ihrem Herrſchaftsbereich, ſüdlich der Milchſtraße“. Gott
ſchafft aus dem Nichts, zu dem ſie wieder werden ſoll, die Erde, die Welt der
Torheit, um ſich mit feinen Engeln an dem Schauſpiel zu weiden, wie ihre Be⸗
wohner, die ſich Götter dünken, ſich mühen und brüſten. Ihre Qualen ſind ihnen
268 Wilhelm Hans
eine Freude. Luzifer aber Härt die Menſchen über den Urſprung und Sinn der
Erde auf, ſagt ihnen, daß ſie nur leben, um die Götter zu zerſtreuen und ſchenkt
ihnen den Tod als, das letzte Geſchenk der Befreiung“. Gott aber gibt ihnen die
Liebe, damit ſie über den Tod hinaus das Geſchlecht fortpflanzen, erweckt Illu⸗
ſionen in ihnen, um zu verhindern, daß ſie das Nirwanan erlangen. Luzifer aber
ſtreut über ſie „die unvergänglichen Gaben“ Krieg, Peſt, Hunger, Sturm und
Brand aus, durch die ſie ſich die Befreiung erringen ſollen, und endlich ſendet er
ihnen ſeinen Sohn, um die Menſchen zu erlöſen, durch ſeinen Tod dem Tode
den Schrecken zu nehmen und ſie ſterben zu lehren! Wir ſehen, es iſt nichts
anderes als Hartmanns Philoſophie, von Strindberg umgedeutet, in dichte⸗
riſche Bilder überſetzt.
Er war „zu weit fortgeſchritten, um an einen Gott glauben zu können, der
perſönlich in die kleinen Angelegenheiten des Menſchenlebens eingreift“. Darum
läßt er über den Kämpfenden den „Ewigen“ thronen. Gott mußte er noch be⸗
halten, wenn auch jetzt als „eine unbegreifliche Macht, deren Weſen nicht zu
ergründen iſt“ („Entwicklung einer Seele“ 9). Auch in Darwins Lehre von der
Entwicklung der Welt aus anorganiſchem zu organiſchem Leben bis zum Men⸗
ſchen fand er keinen Beweis für den Atheismus; „im Gegenteil fand er in der
geſetzmäßigen Entwicklung einen ſtarken Beweis für das Daſein eines weiſen
Geſetzgebers“ (ebd.).
Aber wenn er, wie auf Dalard durch feine Leidenſchaft zu Siri von Eſſen
(1875), in ſchwere ſeeliſche Not geriet, dann gewann der ferne „Ewige“ doch
gelegentlich eine ganz perſönliche Bedeutung für ihn, glaubte er an deſſen un⸗
mittelbares Eingreifen in ſein Schickſal, rief zu ihm und rang mit ihm. (Vgl.
Erdmann, Strindberg S. 225.)
Im „Roten Zimmer“ (1879) hat Strindberg die Stimmung des Peſſimis⸗
mus, den Zuſammenbruch aller Ideale, die Auflöſung aller Illuſionen, die ſkep⸗
tiſch⸗zyniſche Betrachtung bei ſich und gleichgeſinnten Jugendgenoſſen ausführ⸗
lich geſchildert, namentlich in Olle Montanus' nachgelaſſenen Aufzeichnungen
und in den Auslaſſungen des Schauſpielers Phalander. „Glaube mir, der Peſ—
ſimismus iſt der wahrſte Idealismus, und der Peſſimismus iſt eine chriſtliche
Lehre, denn das Chriſtentum lehrt das Elend der Welt, dem wir uns durch das
Sterben möglichſt entziehen ſollen.“ (Vgl. Erdmann, S. 248.) Auch für Olle
Montanus iſt der Pietismus nur , die Flucht der verzweifelten Seele aus der
Welt“. In der Weltverneinung trifft des Dichters neuer philoſophiſch⸗peſſi⸗
miſtiſch⸗ſkeptiziſtiſcher Standpunkt mit feinem früheren pietiſtiſchen Fühlen
zuſammen.
Nach dem Erfolg des „Roten Zimmers“ und in den erſten glücklichen Jahren
ſeiner erſten Ehe (mit Siri von Eſſen) machte dieſe trübe Stimmung einer opti⸗
miſtiſchen Lebensauffaſſung Platz, gewann er den Glauben an die Menſchen und
an ſich ſelbſt zurück. Das Bewußtſein, daß in ſeinem Kinde ein Teil ſeines
eigenen Selbſt ein eigenes Daſein gewonnen hatte, das ihn zu überleben be⸗
ſtimmt war, und für deſſen Entwicklung er ſich verantwortlich fühlte, führte ihn
aus der Enge ſeiner bisherigen, rein individualiſtiſchen Weltanſchauung heraus,
Strindbergs Weg nach Damaskus 269
ließ ihn dem Einzelweſen nur einen relativen Wert der Gattung gegenüber zu⸗
erkennen. Er glaubte wieder an das Gute im Menſchen, an die Entwicklungs-
fähigkeit der Menſchheit und damit auch wieder an ſeinen eigenen reformato⸗
riſchen Beruf. Die romantiſchen Dramen jener Zeit („Das Geheimnis der Gilde“
1880, „Ritter Bengts Frau“ 1882, „Glückpeters Fahrt“ 1881) geben Zeugnis
von dieſer Sinnesänderung. Namentlich in dem von mittelalterlichem Geiſte
umwehten „Geheimnis der Gilde“ zeigt ſich eine gewiſſe Rückwendung zum
Chriſtentum. Er verherrlichte darin nach ſeinem eigenen Bekenntnis („Entwick⸗
lung einer Seele“) den Glauben als die „treibende Kraft im Leben“. Er wollte
darin „die Zweifel aus ſich herausdichten“. Der verzehrende Zweifel, ſymboli⸗
ſiert durch den Einſturz des Kirchturms, iſt das Unheilbringende, das verlorene
Geheimnis der Gilde iſt nichts anderes als der verlorene Glaube, ohne den
nichts Großes geſchaffen werden kann. (Vgl. „Rede an die ſchwediſche Nation“.)
Aber dieſe romantiſche Sehnſucht nach der verlorenen Religioſität des Mittel:
alters bleibt doch nur eine kurze Zwiſchenepiſode in der Entwicklung einer
immer ſtärkeren Abkehr vom Chriſtentum, einer Verdrängung des Pietismus in
immer tiefere Seelenſchichten. Es gab für ihn keine perſönliche Verbindung mehr
mit Gott, wenn er ihn auch noch als Schöpfer, Geſetzgeber, oberſten Leiter gelten
ließ. Die Weltverachtung weicht unter dem Einfluß Nouſſeaus einer glühenden
Naturverehrung. Die Verachtung gilt nur noch der Ziviliſation, der gegenwär⸗
tigen Menſchheit, die ſich von der Natur allzuweit entfernt hat.
Die chriſtlich⸗asketiſche Moral wird jetzt als verderblich, als lebensfeindlich,
als wahnſinnige Sucht, ſich von der geſunden Natur emanzipieren zu wollen, zu⸗
gunſten einer naturaliſtiſchen Ethik verworfen und bekämpft. (In „Heiraten“
1883/85, in den „Schweizer Novellen“ 1884/85, in der „Inſel der Glückſeligen“
1884.) Das Natürliche iſt das Heilige, die Sinnlichkeit eine Naturkraft, die
man nicht ungeſtraft vergewaltigen darf. Die unterdrückte Natur rächt ſich und
leitet die natürlichen Triebe in perverſe Bahnen. „Die Natur kennt keine andere
Treuloſigkeit als die gegen ihre eigenen Gebote“ (Asra in „Heiraten“). Die von
der Natur getötete natürliche Lebensfreude gilt es wieder zu erwecken (Lebens⸗
freude in „Dies und Das“ 1884). „Die Erde iſt noch ſchön, wo die Kultur ſie
nicht zerſtört hat“ (Gewiſſensqual in den „Schweizer Novellen“). Die kirchliche
Religion und die Moral werden erklärt als Herrſchaftsinſtrumente der Ober⸗
klaſſe, mit denen fie ſich die Unterklaſſe gefügig macht. Aber iſt der Ton auch
zuweilen ſchon frivol und ſpöttiſch, es ſchimmert doch noch die Hoffnung auf
ein zukünftiges außerkirchliches Chriſtentum durch, das alle Konfeſſionen in der
Verehrung des gemeinſamen Gottes vereinigt („Gewiſſensqual“).
Der Verehrer der Natur und der Naturwiſſenſchaften fühlte doch gelegentlich,
wie Paul in der Novelle „Rückfall“ („Schweizer Novellen“), eine „innere Leere“
in ſich, die ihn frieren ließ, „als wäre er eine Schale ohne Eingeweide“. Die
naturwiſſenſchaftliche Welterklärung gab ihm keine Antwort auf die höchſten
Lebensfragen, fein tiefreligiöfes Sehnen blieb ungeſtillt. Die Philoſophie löſt
nicht die Welträtfel. „Die Bücher heilen keine Wunden.“ Die Theorie von Zelle
oder Urſchleim kann keine „Leiden ſtillen“.
270 Wilhelm Hans
Ach längſt, ach wußte das mein Geiſt,
Daß man nicht Seelen mit Zellen ſpeiſt
(„Schlafwandlernächte“, 4. Nacht 1884).
Erſt die Anklage der Gottesläſterung, die ihm die Verſpottung des Abend⸗
mahls in der Novelle „Asra“ zuzog (1884), löſte ihn ganz vom Chriſtentum.
Angegriffen ging Strindberg, wie immer, zur heftigſten Gegenoffenſive über
und bekannte ſich nach dem Prozeß, der übrigens mit einem Freiſpruch endete,
offen und entſchieden zum Atheismus. Er begann an einem Vorhandenſein
einer wohlwollenden Vorſehung und einem göttlichen Schöpfer zu zweifeln und
warf ſeinen lange ſchon ſchwankenden (zuletzt nur noch deiſtiſchen) Gottesbegriff
nebſt Unſterblichkeitsglauben gänzlich über Bord. „Gibt es einen Gott, ſo geht
es uns nichts an. Wir laſſen die Frage als ungelöft fallen, da er ſich nicht offen⸗
bart hat.“ Die Welt findet er „von ganz anderen Kräften gelenkt“ als von „einem
liebevollen perſönlichen Gott“, nämlich von den Motiven rückſichtsloſer Selbſt⸗
ſucht der Menſchen. Er glaubt nicht mehr an ein ſchöneres „Jenſeits“. Der
Zweck des Lebens iſt allein das Leben ſelbſt. „Das Leben kann keine andere
Aufgabe haben als die, das Leben zu unterhalten, bis man ſtirbt.“ Er leugnet
den geſchichtlichen Fortſchritt, ſieht nirgends „eine Entwicklung zur Vernunft
oder zum Glück der Menſchen“, ſondern nur „Bewegungen, Veränderungen,
Störungen, Umſtürze“, nirgends einen Plan und Sinn. Seinen früheren
Idealismus verachtet er jetzt als romantiſche Schwärmerei. Seine moraliſche
Deviſe iſt „Hilf dir ſelbſt“, es gibt kein anderes Ziel als für ſich und die Seinen
zu leben. „Die große Sache iſt nichts als das große Intereſſe vieler großer
Egoiſten.“ Auch der Glaube an den eigenen „Beruf“ fällt. Er fragt nicht mehr,
ob es ſeine Pflicht iſt, die „große“ Sache zu fördern, ſondern nur, ob er ein
Intereſſe daran hat, daß ſie gefördert wird („Entwicklung einer Seele“ 16).
Die Religion erklärt er jetzt rein ſoziologiſch als „ein im niederen Entwick⸗
lungsſtadium entſtandenes Bedürfnis, das die Oberklaſſe benützt, um die Unter⸗
klaſſe niederzuhalten“, das Gewiſſen als das „Gefühl, einer Vorſchrift (der
Oberklaſſe) nicht gehorcht zu haben“, die Moral als „ein von der Oberklaſſe
diszipliniertes Rechtsgefühl, um die Unterklaſſe zu friedlicher Lebensweiſe zu
verlocken“ („Kleine Katecheſe für die Unterklaſſe“ 1884/85). In einer Zeit⸗
ſchrift, die das „Zündholz“ heißen ſoll, will er dieſe neuen, „atheiſtiſchen, mate⸗
rialiſtiſchen“ Anſchauungen mit Heidenſtam zuſammen vertreten. Sie kommt
nicht zuſtande, aber in ſeinen „modernen Fabeln“ (1885) gießt er ſeinen ganzen
Spott über die Religion aus.
Das hindert ihn freilich nicht, in Augenblicken höchſter Not zu Gott zu
ſchreien. Als in einer Nacht des Jahres 1886 ſeine ſiebenjährige Tochter vom
Starrkrampf befallen wird, da beginnen auf die Bitten ſeiner Frau ſeine Lippen
ſich zu bewegen und alte Worte, die er ſeit 25 Jahren nicht wiederholt hat,
kommen hervor. „Mit den Worten ſteigen alte Gedanken auf, mit den Gedanken
wächſt meine Stärke.“ Er fühlte einen Strom von neuer Kraft aus ſeinen
Fingern ausſtrahlen. Das Kind fiel in Schlaf und wurde gerettet. Nachträglich
erklärte er ſich das fo, daß feine Nervenftröme die des Kindes durch Kontakt und
Strindbergs Weg nach Damaskus 271
Leitung regelten. Aber dunkel bleibt ihm, wie das Gebet die Ströme wecken
konnte („Entwicklung einer Seele“ Kap. 19, überſchrieben „Myſtik — vorläufig
noch Myſtik“). Blitzartig verrät ſich hier die innere Unſicherheit des „dezidierten
Atheiſten“, ebenſo wie in dem Brief an Gejerſtam, Neujahr 1886: „Ich bin
mit einem Wort bankrott — und weiß — verdammt — nicht mehr, was ich
glauben ſoll. Sammelſurium von Altem und Neuem.“ (Mitgeteilt von K. War⸗
burg, Illustreret Swensk Literarturhistoria IV, 2, S. 493.)
Auch der Prophet Rouſſeau wird verleugnet, auch das Naturevangelium wird
wieder verworfen. Die Natur iſt keineswegs ſo zweckmäßig, als ſei ſie von
Gott geſchaffen, es waltet in ihr nur der Kampf roher, ſinnloſer Kräfte. Sie
iſt nicht gut, ſondern grauſam. Vom Darwinismus aus kommt er zu ähnlichen
Konſequenzen wie Nietzſche. Noch bevor er etwas von ihm weiß, betont er wie
dieſer das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, nennt die chriſtliche
Moral eine Sklavenmoral, eine Schutzwehr, ein Verteidigungsinſtrument der
Kleinen gegen die Großen, und er ſteht jetzt unbedingt auf der Seite der Großen.
Den Sozialismus, dem er früher gehuldigt hat, ſchwört er ab und nennt ihn
„aufgekochtes Chriſtentum mit Zuſatz von deutſcher Philoſophie“. Die Natur
will, daß die Großen, Starken und Klugen herrſchen ſollen, und wenn der
Oſtrazismus der Athener dieſes Naturgeſetz bekämpfte, wirkte er genau ſo ver⸗
derblich wie das Chriſtentum, das Evangelium der Kleinen. (Fabel „Die Klei⸗
nen“ 1885, „Viviſektionen“ 1886/87, Aufſatz in „Politiken“ 1887.)
Als er dann im Herbſt 1888 durch Georg Brandes auf Nietzſche als „einen
Geiſtesverwandten“ aufmerkſam gemacht wird, findet er mit begeifterter Freude
die eigenen Anſichten in „Jenſeits von Gut und Böſe“, der „Genealogie der
Moral“, in der „Götzendämmerung“ wieder, und ſein Haß gegen das Chriſten⸗
tum ſteigert ſich aufs äußerſte, er nennt Nietzſche den „Befreiteſten, den Modern⸗
ſten von uns allen“, er preiſt ihn als den „Verkünder des Untergangs Europas
und des Chriſtentums“. Das Chriſtentum iſt ihm jetzt eine „Barbarei, die nur
durch die Völkerwanderungen zuſtande kommen konnte, da die Wilden im
chriſtlichen Aberglauben Ablöſung ihres eigenen fanden“, „ein Rückſchlag in der
Entwicklung, die Religion der Kleinen, der Weiber, der Kinder und Wilden“
(Briefe an G. Brandes, 2. Okt. und 4. Dez. 1888). Alle Freunde mahnt er in
feinen Briefen, Nietzſche den Befreier zu leſen. Freilich ift fein Ubermenſchen⸗
Ideal weſentlich verſchieden von dem Rietzſches. Für ihn beſteht das Über:
menſchentum in der Vereinigung von höchſter kultivierter Intelligenz mit ge⸗
zügelter, disziplinierter Willensſtärke. Mit der Kraft der Suggeſtion wirkt die
Überlegenheit ſolcher „befreiten“ Menſchen auf die Schwächeren in der Novelle
„Schleichwege“, im „Vater“ (Laura) 1887, im „Gläubiger“ (Guſtav) 1888, in
„Tſchandala“ (Magiſter Törner) 1888, in den „Leuten auf Hemſö“ (Carlßon)
1887, in dem Roman „Am offenen Meer“ (Dr. Borg) 1889/90. Gerade dieſer
Dr. Borg iſt ſicher kein Kraftmenſch im Sinne Nietzſches. Er iſt vielmehr
Kulturmenſch, ganz Intelligenz, ſeine Willensenergie hat etwas mühſam Er⸗
kämpftes. Er iſt wie Strindberg krankhaft reizſam, ſeinen Nerven unterworfen,
hat viel mehr von einem Dekadent als von einem Übermenſchen an ſich.
272 Wilhelm Hans, Strindbergs Weg nach Damaskus
Auch iſt Nietzſche für ihn durchaus nicht der „Weisheit letzter Schluß“. Das
Bekenntnis zu ihm bleibt nur Epiſode in Strindbergs Entwicklungsgang.
Schon 1890 ſtimmt er mit Brandes darin überein, daß man durch Nietzſche hin⸗
durchgehen, ſich von ihm befruchten laſſen und ſich dann von ihm reinigen müſſe
(Brief an G. Brandes, 22. April 1890).
Zur gleichen Zeit, da Nietzſches helle Geiſtigkeit auf ihn einwirkt, wird er von
der myſtiſchen Phantaſtik eines Edgar Allan Poe aufs tiefſte berührt (Brief an
Olla Hanſſon, 3. Januar 1889), vertieft ſich in die Probleme des Hypnotismus,
Okkultismus, Spiritismus und wirft ſich dann mit der Leidenſchaft ſeines
ganzen Weſens auf das Studium der exakten Wiſſenſchaften, insbeſondere der
Biologie und Chemie, in der Hoffnung, hier Antwort auf ſein Fragen nach dem
innerſten Sinn des Lebens zu finden. Aber er muß einſehen, daß die herrſchende
Phyſik und Chemie die Geheimniſſe des Weltalls nicht entſchleiert haben, daß
ſie nur Grenzen ſetzten, während die Erforſchung der in allem vorhandenen ver⸗
borgenen Einheit ihr Ziel ſein müßte. Er entdeckt, daß auch die exakten Wiſſen⸗
ſchaften mit „Erfindungen und Phantaſien“ arbeiten, daß auch in ihnen der
Glaube an Dogmen und Autoritäten herrſcht. So verſucht er ſelbſt in moni⸗
ſtiſchem Sinne die Naturwiſſenſchaften zu reformieren und bekämpft in ſeinen
naturwiſſenſchaftlichen und naturphiloſophiſchen Schriften (Antibarbarus
1893/94, Silva Silvarum 1895/96, Jardin des Plantes 1896, Alchymiſtiſche
Briefe an Jollivet Caſtelot 1894/98) die herrſchende Auffaſſung mit der ihm
eigenen Kühnheit und Energie. Sein Ziel iſt der Nachweis der Einheitlichkeit
alles Lebens und Seins. Materie und Geiſt ſind eins, Leben pulſt auch in den
toten Dingen. Er läßt den in der herrſchenden Chemie gebräuchlichen Begriff
des Elements nicht gelten, ſondern ſucht nachzuweiſen, daß alle Grundſtoffe ſich
auflöſen laſſen, daß ſie ineinander übergehen, nichts anderes ſind als verſchie⸗
dene Verdichtungsſtadien ein und derſelben Materie. Dies iſt der Ausgangs⸗
punkt ſeiner bekannten Verſuche, auch das Gold aus anderen Stoffen herzu⸗
ſtellen. In der Biologie will er den Unterſchied von Pflanze und Tier aufge⸗
hoben wiſſen, entdeckt auch bei den Pflanzen ein Nervenſyſtem, weiſt überall auf
die geheimnisvollen Gemeinſamkeiten hin und iſt überzeugt von der Allgegen⸗
wart des Lebens. Auch der „Kieſel atmet und hat die Bewegungsmöglichkeit des
Protoplasma“ („Das Seufzen der Steine“ 1896). Es wird ihm die ſchmerzliche
Erkenntnis, daß die Wiſſenſchaft die elementaren Vorgänge im Leben nicht zu
erklären, daß ſie die Rätſel des Lebens und des Todes nicht zu löſen vermag,
daß unſer Denkapparat für die Dimenſionen des Alls nicht ausreicht.
Die Skepſis, der Relativitätsſtandpunkt aber konnte den Feuergeiſt eines
Strindberg auf die Dauer nicht befriedigen. Ihm konnte es nicht genügen, in
der müden, kühlen Schau eines Oswald Spengler aus ferner Höhenperſpekt ive
die abendländiſchen Kulturleiſtungen an ſich vorüberziehen zu laſſen, ſie in hi⸗
ſtoriſcher Einfühlung noch einmal in ſich zu erleben, er verlangte von der Wiſſen⸗
ſchaft mehr, er forderte von ihr die Löſung der letzten Rätſel des Daſeins, ihn
dürſtete es nach Antwort auf die quälenden Fragen, die ihm die eigenen Lebens⸗
und Leidenserfahrungen ſtellten, ihn drängte es nach Erfaſſung abſoluter reli⸗
Alfred Drel, Beethoven und Grillparzer 273
giöfer: und ethiſcher Werte und Wahrheiten. Die Überzeugung von dem „Ban⸗
krott der Wiſſenſchaft“, die Verzweiflung über das Nicht⸗Wiſſen⸗Können weiſt
ihn daher auf den Weg des Glaubens, den er dann, wie wir ſahen, in der
Inferno⸗Kriſe beſchreitet.
Beethoven und Grillparzer.
Die Grundlinien ihrer geiſtigen Beziehungen 1).
Von Alfred Orel in Wien.
Die unmittelbaren perſönlichen Beziehungen zwiſchen Beethoven und Grill⸗
parzer erſtrecken ſich nur über eine kurze Zeit: im Herbſt des Jahres 1822
erhielt Grillparzer vom damaligen Leiter der Hoftheater, dem Grafen Moritz
Dietrichſtein, die Einladung, für Beethoven ein Operntextbuch zu ſchreiben.
Ob dieſer ſelbſt auf den Dichter hingewieſen hatte, wie es Grillparzer in ſeinen
Erinnerungen darlegt, ſei dahingeſtellt; möglich wäre es immerhin, da Beet⸗
hoven ſchon drei Jahre zuvor auf den erfolgreichen Dichter der „Ahnfrau“,
der „Sappho“, der „Medea“ aufmerkſam geworden war und deſſen Name in
den Konverſationsheften des Meiſters 2) mehrfach anzutreffen iſt. Jedenfalls
nahm Grillparzer den Antrag nur zögernd an und nach den Eintragungen im
Konverſationsheft Beethovens war es insbeſondere der Vizedirektor der Hof⸗
bühnen, Ignaz Franz v. Moſel, der den Dichter dazu zu bewegen ſuchte.
Dieſer Name läßt ſchon einen Blick auf die tieferen Gründe tun, aus denen die
ganze Angelegenheit erwuchs: Um die Mitte des 2. Jahrzehnts des 19. Jahr⸗
hunderts hatten Roſſinis Werke ihren ſiegreichen Einzug in Wien gehalten
und die deutſche Oper gänzlich zurückgedrängt; denn die Wiener wandten ſich
von den dem Hörer immerhin Probleme bietenden deutſchen Opern ab und
gaben ſich willig dem Zauber der einſchmeichelnden Weiſen des Italieners
gefangen. Grillparzer ſelbſt nahm in dieſem Kampfe zwiſchen deutſcher und
italieniſcher Oper entſchieden Stellung für die Italiener.
Grillparzer war in feiner kritiſchen Einſtellung zur Muſik ?) — ſie iſt viel⸗
leicht von der rein empfindungsmäßigen ſcharf zu trennen — durchaus konſer⸗
vativ. Mozarts Kunſt erſchien ihm als Idealbild, ſie war gleichſam der Maß⸗
ſtab, an dem er das muſikaliſche Schaffen maß, das ihm begegnete. Allerdings
ſind es wieder beſondere Eigenſchaften der Kunſt dieſes Meiſters, die wir
Grillparzer immer wieder betonen ſehen, Eigenſchaften, die kaum den geſamten
künſtleriſchen Gehalt des Problems Mozart ausmachen, ja ſogar Eigenſchaften,
2) Nach einem vor der Wiener Grillparzer⸗Geſellſchaft und dem Wiſſenſchaftlichen Club in Wien
im Januar 1927 gehaltenen Vortrage.
2) Hrsg. v. A. Sauer im 3. Band der Schriften des Literariſchen Vereines in Wien.
) Des näheren habe ich mich mit ihr in meiner Unterſuchung über „Grillparzers Verhältnis zur
Tonkunſt“ in Oskar Katanns „Grillparzerſtudien“ (Wien 1923) beſchäftigt; ich kann mich hier auf
das Wichtigſte davon beſchränken.
Gupborion XXVIII. 18
274 Alfred Orel
zu erklären iſt. In feiner Reflexion legte er ſich eine äſthetiſche Einſtellung
der Tonkunſt gegenüber zurecht, die wohl letzten Endes auf ſeinem Empfinden,
alſo einem irrationalen Grunde aufgebaut war, jedoch ſogleich auch einer ver⸗
ſtandesmäßigen Formulierung unterzogen wurde, die in ihrer konſequenten
Durchbildung, vielleicht ſogar in mancher Hinſicht zu einem Widerſpruch, zu⸗
mindeſt zu einer Inkongruenz mit dem naiven Empfinden Grillparzers führte,
auf dieſes aber wieder zufolge der rationalen Einſtellung des Dichters ſeiner
eigenen Pſyche gegenüber, die auch auf dem Gebiete der Dichtung wohl kaum
zu verkennen iſt, maßgebenden Einfluß gewann.
Man tut vielleicht nicht unrecht, feine äſthetiſche Einſtellung zur Tonkunſt vor
allem aus dem Gegenſatz heraus zu erklären, der ſein Verhältnis zur Dichtkunſt
und zur Muſik kennzeichnet. Fühlt er ſich auf dem einen Gebiet als Schaffender,
als Gebender, ſo ſteht er auf der anderen dem Kunſtwerk durchaus als Hörer,
als Empfangender gegenüber, allein als Empfangender von derart ſtarker
Aktivität, daß er irgendwelche Behinderung der eigenen geiſtigen Tätigkeit —
und als ſolche muß ihm ſchon die Beeinfluſſung nach einer beſtimmten Rich⸗
tung hin erſcheinen — von ſich weiſt und — als Mangel des Kunſtwerks erklärt.
Er geht in ſeiner Einſtellung zum muſikaliſchen Kunſtwerk durchaus von der
Wirkung auf den Hörer aus, eine ſubjektiv begreifliche, objektiv jedoch in ihrer
Einſeitigkeit durchaus abzulehnende Art der Muſikbetrachtung. Grillparzer
meint geradezu, „wenn man den Grundunterſchied der Muſik und der Dichtkunſt
ſchlagend charakteriſieren wollte, ſo müßte man darauf aufmerkſam machen,
wie die Wirkung der Muſik vom Sinnenreiz, vom Nervenſpiel beginnt und,
nachdem das Gefühl angeregt worden, höchſtens in letzter Inſtanz an das
Geiſtige gelangt, indes die Dichtkunſt zuerſt den Begriff erweckt, nur durch ihn
auf das Gefühl wirkt und als äußerſte Stufe der Vollendung oder Erniedri⸗
gung erſt das Sinnliche teilnehmen läßt; der Weg beider iſt daher gerade der
umgekehrte“). „Die Poeſie“, ſagte er, „will den Geiſt verkörpern, die Muſik
das Sinnliche vergeiſtigen.“ ?) Die Grenzen der Muſik ſeien daher durch das
„Schöne“ gezogen, während die Dichtung vor dem Häßlichen nicht haltzumachen
brauche, denn es werde bei dem Umwege über das Begriffliche der Verſtand
„die Vorſtellung der Zweckmäßigkeit, den Eindruck des Häßlichen (Unſchönen)
von vornherein inſoweit mildern, daß es als Reizmittel und Gegenſatz ſogar
die höchſte Wirkung hervorbringen kann“). Als das Schöne bezeichnet er „dass
jenige, das, indem es das Sinnliche vollkommen befriedigt, zugleich die Seele
erhebt. Was dem Sinnlichen allein genug thut, iſt angenehm. Was die Seele
erhebt, ohne durch das vollkommene Sinnliche dahin zu gelangen, iſt gut,
wahr, recht, was man will, aber nicht ſchön.“ Dann wieder: „Die Schönheit iſt
die vollkommene Übereinſtimmung des Sinnlichen mit dem Geiſtigen.“ 7)
) GW. (Grillparzers ſämtl. Werke, hrsg. v. A. Sauer, 5. Aufl., Cotta) XV, 113.
8) GW. XV, 115.
6) GW. XV, 113.
7) GW. XV, 24.
Beethoven und Grillparzer 275
Es erſcheint aus derartigen Gedankengängen heraus begreiflich, daß Grill⸗
parzer geradezu zu einer Formaläſthetik der Muſik gelangt.
Auch bei Mozart:
Der nie zu wenig that und nie zu viel,
Der ſtets erreicht, nie überſchritt ſein Ziel,
Das mit ihm eins und einig war: das Schöne!
— auch bei Mozart macht der Dichter noch Unterſchiede: „Wer die Arien der
Conſtanza in der ‚Entführung‘ hört, merkt, daß Mozart in feinem Anfange
dem Punkte näherſtand, auf dem Beethoven aufhörte. Die Empfindung
herrſcht noch vor über die Form. Mit zunehmender Reife aber lernte er, ohne
Schaden für die Empfindung, ſie der Form unterzuordnen, ſie zu geſtalten,
was Beethoven immer mehr verlernt hat.“ 8?) Das Charakteriſtiſche an der
Muſik — wie man es damals vielfach nannte — wird ihm damit ſelbſtverſtänd⸗
lich zum Mangel, und gerade in der „ziemlich vagen Bezeichnungsfähigkeit der
Muſik“ liegt ihr weſentlicher Vorzug. Auch der „charakteriſtiſchſten Symphonie
Beethovens“ würden „von zehn geiſtreichen, in der Muſik und Poeſie erfahres
nen Männern“ ſtaunenswert verſchiedene paſſende Texte unterlegt werden, und
bei Mozart erbietet ſich Grillparzer, bei jeder beliebigen ſeiner Opernarien
„die Worte durchaus, ja ſogar den Modus der Empfindung zu ändern, ohne
daß jemand, der das Muſikſtück zum erſtenmale hört, daran ein Arges haben
und es weniger bewundern ſoll“ 9). Für ihn ift der metaphyſiſche Bezirk der
Muſik auf das Gefühl beſchränkt, und zwar ſind gerade die dunkeln — alſo
unbeſtimmten, konkret geradezu unbeſtimmbaren — Gefühle nach ſeiner Anſicht
das eigentliche Gebiet der Muſik. Iſt es da zu wundern, wenn wir in ſeinen
Tagebüchern die Notiz leſen: „Ein Gegenſtück zu ſchreiben zu Leſſings Laokoon:
[nämlich] Roſſini oder über die Grenzen der Muſik und Poeſie“ 10)? Es iſt
nicht ohne Intereſſe, daß Grillparzer hier die gleiche Anſicht ausſpricht wie
Schopenhauer [worauf ſchon Horſt Geißler 11) hingewieſen hat], deſſen Schrif⸗
ten ihm 1819 bekannt wurden — Grillparzers Aufzeichnung ſtammt aus dem⸗
ſelben Jahre. Schopenhauer ſagt 12): . . . „wenn alſo die Muſik zu ſehr ſich den
Worten anſchließen und nach den Begebenheiten zu modeln ſucht, ſo iſt ſie
bemüht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige iſt. Von dieſem Fehler
hat ſich feiner fo rein gehalten wie Roſſini ...“ Kam dieſe italieniſche, in der
Tat ſich vorerſt durchaus an die Sinne wendende Opernkunſt mit ihren wohl⸗
lauterfüllten, allerdings auch wieder in anderer Hinſicht vielfach geiſtig leeren
Klängen, mit ihren abgerundeten Linien und Formen nicht den erwähnten
äſthetiſchen Vorſtellungen Grillparzers von Weſen und Aufgabe der Muſik in
weitem Maße entgegen? Erſcheint es uns da nicht völlig begreiflich, daß er
ſich durchaus zu ihr bekannte, ja zu ihr bekennen mußte, die Werke Carl Maria
s) GW. XV, 124.
9) GW. XV, 128.
10) GW. XV, 115.
11) Grillparzer und Schopenhauer, Weimar 1915.
12) Schopenhauers Werke, hrsg. v. E. Griſebach (Reclam) I, $ 52, S. 345.
276 Alfred Orel
v. Webers hingegen von Grund aus ablehnte? Wie mußte er beim Anhören
des „Freiſchütz“ empfinden, jener völlig aus dem Text und ſeinem Ideengehalt
erwachſenen, von ihm im Konkreten gleichſam abhängigen, zumindeſt mit ihm
untrennbar verbundenen Muſik, wo er doch den Grundſatz aufgeſtellt hatte:
„Keine Oper ſolle vom Geſichtspunkte der Poeſie betrachtet werden — von die⸗
ſem aus ſei jede dramatiſch⸗muſikaliſche Kompoſition Unſinn —, ſondern vom
Geſichtspunkte der Muſik: als ein muſikaliſches Bild mit darunter geſchriebe⸗
nem, erklärendem Texte“ 13), der aber, wie wir nach dem oben Geſagten ergänzen
dürfen, im Idealfall ebenſogut ein ganz anderer ſein könnte. Und ſo beſtätigt
ihm im Jahre 1823 die Aufführung von Webers Euryanthe, was er ſchon beim
Freiſchütz geahnt hatte. Weber iſt ihm ein muſikaliſcher Adolf Müllner, er iſt
ein poetiſcher Kopf, aber kein Muſiker. „Dieſe Oper kann nur Narren gefallen,
oder Blödſinnigen oder Gelehrten, oder Straßenräubern und Meuchelmördern.
. . Dieſes Umkehren des Wohllautes, dieſes Notzüchtigen des Schönen würde
in den guten Zeiten Griechenlands mit Strafen von Seite des Staates belegt
worden ſein.“ !“)
Und nun trat man an Grillparzer mit dem Erſuchen heran, für Beethoven
einen Operntext zu ſchreiben. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der
Dichter für den Tonkünſtler die größte Verehrung hegte. Er hätte nicht ein
Menſch von der geiſtigen Größe ſein müſſen, als den wir ihn erkennen, wenn
er nicht das Überragende an Beethovens Künſtlertum anerkannt hätte. Seine
perſönliche Einſtellung zu den Werken Beethovens war allerdings, nach den
kurz umriſſenen muſikäſthetiſchen Anſchauungen begreiflicherweiſe, durchaus nicht
die völliger oder kritikloſer Gefolgſchaft. Daß er dem ſpäten Schaffen Beet⸗
hovens nicht zu folgen vermochte, braucht uns nicht wunderzunehmen, er be⸗
kennt dies auch offen zu Littrow-Biſchoff noch im Jahre 1866, und 1843 hatte
er mit Beziehung auf Beethovens IX. Symphonie geſchrieben:
Ob's mir gefällt, ob nicht gefällt,
Sein Ruhm bleibt ganz und heil,
Denn jeder „Fauſt“, es weiß die Welt!
Hat ſeinen zweiten Teil.
Im Jahre 1834 verſucht er ſich Rechenſchaft zu geben über „Beethovens
nachteilige Wirkungen auf die Kunſtwelt, ungeachtet ſeines hohen, nicht genug
zu ſchätzenden Wertes“, und er gelangt zu folgenden vier Punkten, die voll-
kommen ſeiner Einſtellung zur Muſik überhaupt entſprechen:
1. Leidet das erſte und Haupterfordernis eines Muſikers, die Feinheit und Richtigkeit des Ohrs,
unter ſeinen gewagten Zuſammenſetzungen und dem nur gar zu oft eingemiſchten Tongeheul
und Gebrüll.
2. Durch feine überlyriſchen Sprünge erweitert ſich der Begriff von Ordnung und Zufammen-
hang eines muſikaliſchen Stückes ſo ſehr, daß er am Ende für alles Zuſammenfaſſen zu loſe
ſein wird.
3. Macht ein häufiges Übertreten der Regeln dieſe als entbehrlich ſcheinend, indes fie doch die
Ausſprüche des geſunden, unbefangenen Sinnes, und als ſolche unſchätzbar ſind.
12) GW. XV, 115.
1) GW. XV, 131.
4. Subſtituiert die Vorliebe für ihn dem Schönheitsſinne immer mehr den Sinn für das Inter⸗
eſſante, Starke, Erſchütternde, Trunkenmachende: ein Tauſch, bei dem, von allen Künſten,
gerade die Mufik am übelſten fährt ).
Beethovens Muſik entſpricht daher — wenigſtens wird man dies wohl ſicher
auf die Reife⸗ und Spätwerke des Meiſters beziehen dürfen — nicht mehr dem
muſikaliſchen Schönheitsideale Grillparzers, für ihn iſt ſie nicht ſo ſehr ſchön
als vielmehr intereſſant, ſtark, erſchütternd, trunkenmachend. Tönt uns aus
dieſen Kriterien Grillparzers nicht gleichſam das Wort Beethovens entgegen:
„Meine Muſik ſoll dem Manne Feuer aus dem Geiſte ſchlagen!“
Da begegnet uns aber nun in den geiſtigen Beziehungen Grillparzers zu
Beethoven eine Merkwürdigkeit, ſcheinbar ein Widerſpruch im Weſen Grill⸗
parzers. Der Dichter nimmt nicht nur den Antrag an, ein Opernbuch für den
berühmten Tonkünſtler zu verfaſſen, ſondern er wählt dazu einen hochroman⸗
tiſchen Stoff, das Märchen von der ſchönen Meluſine. Kurze Zeit zuvor hatte
er es in einem fragmentariſchen „Entwurf zu einem Kinderballet“ behandelt,
nun geſtaltete er es zu einem Opernlibretto aus. Daß der Gedanke, ein Opern⸗
buch zu ſchreiben, für Grillparzer nicht ſo fremdartig war, darauf wurde ſchon
von anderer Seite 16) unter Hinweis auf die vom Dichter im Jahre 1808
unternommene Umarbeitung von Shakeſpeares „Sommernachtstraum“ zu
einer komiſchen Oper „Der Zauberwald“ und eine ſpätere Opernſzene, worin
Penelope mit einem Chor von Jünglingen auftritt, hingewieſen. Wir können
nun beobachten, daß Grillparzer, der im Jahre 1822 ſchreibt, Friedrich Kind
hätte wohlgetan, ſich bei ſeinem Freiſchütz das Don Giovanni⸗Libretto Lorenzo
da Pontes zum Muſter zu nehmen, nunmehr von Beethoven ſelbſt auf die Ver⸗
wandtſchaft der Meluſinendichtung mit dem Freiſchütz aufmerkſam gemacht
wird. Über die Befetzung der Rollen wird geſprochen und beſonders der Jäger⸗
chor, den Grillparzer an den Anfang des Librettos geſtellt hatte, iſt wiederholt
Gegenſtand der Unterhaltung. Eben die Verwandtſchaft mit dem „Freiſchütz“
läßt Grillparzer den Vorſchlag machen, ihn allenfalls durch einen Nymphen⸗
chor zu erſetzen, dann wieder ſollten ſich nur die letzten Töne eines verhallenden
Jagdchors mit der Introduktion miſchen, ohne daß die Jäger ſelbſt auftreten,
denn „mit einem Nymphenchor anfangen zu laſſen, würde vielleicht die Wir⸗
kung dieſes Chors am Schluſſe des 1. Aktes ſchwächen“. Übrigens ſcheint Grill⸗
parzer ſich völlig den Wünſchen Beethovens anpaſſen zu wollen, allein es
kommt doch zu keiner Zuſammenarbeit.
Vielleicht empfand der Dichter ſelbſt, daß der Tonkünſtler ſich für den Stoff
nicht ſonderlich erwärmte, denn ſchon im erſten Geſpräche (kim Mai 1823)
notiert er in Beethovens Konverſationsheft: „Ich ſinne ſchon auf eine ganz
ernſte Oper“ und gibt als Stoff — offenbar auf die Frage Beethovens — an:
„Drahomira“. Es war dies bekanntlich der Stoff aus der altböhmiſchen Ge⸗
ſchichte, der in dem Gegenſatz zwiſchen der heidniſchen Drahomira und ihrem
chriſtlichen Sohn König Wenzel ſeine Konfliktsquelle hat. Ein Sujet, das bei
18) GW. XV, 125.
16) K. Wagner in „Ein Wiener Beethovenbuch“ (Wien, 1921), S. 158.
278 Alfred Orel |
dem Dichter ſchon im Jahre 1809 auftaucht und ihn immer wieder lockt. Der
Sprung von der Meluſine zu Drahomira iſt wohl ein ſehr weiter, und es mag
auf den erſten Blick wundernehmen und vielleicht nur Gegenſätzliches dieſe
beiden Stoffe verbinden, allein bei näherem Zuſehen zeigt ſich doch ſo manches
Gemeinſame, das wieder Grillparzers Stellung zur Muſik im allgemeinen, zu
Beethoven im beſonderen beleuchtet. Grillparzer ſelbſt führt uns darauf, wenn
er 1822 in ſeinem Tagebuche ſchreibt: „Drei Stücke einer leichteren Art ſollen
hintereinander gemacht werden. Als sfogo der übeln Laune, zur Unterhaltung:
Die ſchöne Meluſine, Drahomira, des Lebens Schattenbild.“!7) Iſt es nicht
merkwürdig, Drahomira, jenen Stoff, der — wie Auguſt Sauer ſagt — in
der Jugend Grillparzers, da uns Anſätze zu ſeiner dramatiſchen Geſtaltung
erhalten ſind, „ein echtes und rechtes Zauberſtück geworden“ wäre, „ſo graß und
grell, ſo fürchterlich und abenteuerlich, wie ſie eben damals auf der Wiener
Volksbühne beliebt waren“ 18), nunmehr als „leichten“, „zur Unterhaltung“
bezeichnet zu ſehen? Der nach den verfchiedenſten Richtungen hin reiche Stoff
hatte eben eine innere Wandlung des Dichters überdauert; dieſer ſtand ihm
nunmehr ganz anders gegenüber. Zur Zeit ſeines frühen Auftretens — ich
ſtütze mich hier auf die ausgezeichnete pſychologiſche Erfaſſung des Lebens und
Schaffens Grillparzers durch Edwin Rollett 19) — iſt das Wiedererwachen der
urfprünglichen, individualiſtiſchen, „zu Myſtik und Zauber, zu Geheimnis und
Schickſalsglauben neigenden Artung Grillparzers“ ?“) die Grundlage, auf der
dieſer Stoff erwächſt. Und „gerade in ihm drängten urſprünglichſte, überwelt⸗
liche Weſenselemente des Dichters zur Geſtaltung“. Allein er mußte weichen,
und die in Grillparzer nach Befreiung ringenden Kräfte fanden in der Ahnfrau
ihre Löſung. Allein es iſt beachtenswert, wie in dieſem geſtalteten Werke
an die Stelle der aktiven Dämonie Drahomiras die Paffivität der Kraftnaturen
der Ahnfrau getreten iſt, „ihre Gebundenheit, ihr Verſagen gegenüber den un⸗
berechenbaren und geheimnisvollen Mächten des Lebens, ihr vergebliches An⸗
rennen gegen ihre Grenzen“ 21). Dem dionyſiſchen Schwung Grillparzers, der
am liebſten „eine Tragödie in Gedanken ſchreiben“ möchte, tritt im Geſtalt⸗
werden die Erkenntnis tatſächlicher Unzulänglichkeit, der Inkongruenz zwiſchen
Idee und Wirklichkeit an die Seite. Dem Ausbruch der Ahnfrau folgt ſodann
die Abſicht der dichteriſchen Selbſterziehung Hand in Hand mit dem „Bedürf⸗
nis, den Kräften ſeiner Weſensart Spielraum zu geben, die nach harmoniſcher
Geſtaltung eines harmoniſchen Lebensbildes zielten“. Statt des geplanten
„Traum ein Leben“ entſtand aber vorerſt, aus der inneren Situation des Dich⸗
ters heraus, Sappho, „die Tragödie der bedeutenden, überragenden, überlebens⸗
großen Natur“, wohl von „wilder Leidenſchaft“ erfüllt, aber gebunden durch
eine „ruhigere, großlinige, edle Handlung“ 22). Noch ein Kriſenwerk entfteht,
17) GW. XII, 205.
18) A. Sauer, Reden und . 208/210.
16) Fr. Gr. 1170 Werke, hrsg. v. E. Rollett und A. Sauer, Wien 1925, I. XIII ff.
20) Ebd. XLIV.
21) Ebd. LI.
n) Ebd. LIV ff.
Beethoven und Grillparzer 279
die erſte Arbeit an der großen Trilogie, und erſt die italieniſche Reiſe bringt
eine Klärung im Innern des Dichters, die ſich deutlich in der Anderung des
Planes dieſes Monumentalwerks kundtut. Das Streben nach Harmonie
brachte „das ſtark betonte und gewollte Ausfchalten der ſubjektiven Elemente
aus dem Drama“ mit ſich, eine Art Objektivierung des Stoffes, die ſich dann
auch in der klaſſiſchen Größe des „König Ottokar“ dartut. Wie ganz anders
mußte der Dichter nunmehr der „Drahomira“ gegenüberſtehen! Der Stoff
feſſelte ihn immer noch, die geheimen Beziehungen, die ihn mit einem Teil des
innerſten Weſens Grillparzers verbanden, waren nicht zu löſen, allein für den
geſtaltenden Dichter traten nunmehr ganz andere Qualitäten in den
Vordergrund. Und Rollett hat völlig recht, wenn er aus der Zuſammenſtellung
der drei Stoffe „Meluſine“, „Drahomira“ und „Traum ein Leben“ unter der
Bezeichnung „leichterer Art“ erſchließt, daß „der Gedanke an die Buntheit und
Abenteuerlichkeit der Handlung, der romantiſche Charakter damit gemeint iſt,
der die aufgezählten Stücke in einen gewiſſen Gegenſatz zu der hiſtoriſchen
Tragödie rückt, die damals des Dichters eigentliche Hauptarbeit ausmachte“,
und daß „das freiere Spiel des Gefühls, die größere Ungebundenheit gegen⸗
über dem ſtrengen und genau vorgeſchriebenen Gang der Tragödie, das lyriſche
Element ihres Gehaltes, dieſe Leichtigkeit verurſachten“ ??).
Grillparzer, der ſtreitbare Gegner der muſikaliſchen Romantik, befindet ſich
als Textdichter im Banne durchaus romantiſcher Stoffe. Der Verteidiger ab⸗
ſoluteſter Inſtrumentalmuſik, von deren Standpunkt er auch die Opernmuſik
betrachtet wiſſen will und ſelbſt betrachtet, ſchlägt, wie ſich aus dem Konver⸗
ſationshefte Beethovens ergibt, dem Tonkünſtler ſogar vor, „jede Erſcheinung
oder Einwirkung Meluſinens durch eine wiederkehrende, leichtfaſſende Melodie
zu bezeichnen. Könnte nicht die Ouverture“ — ſchreibt er dem tauben Meiſter
auf — „mit dieſer beginnen und nach dem rauſchenden Allegro auch die Intro⸗
duktion durch dieſe ſelbe Melodie gebildet werden.“ ?“) Und dieſe Melodie foll
die fein, „auf welche Meluſine ihr erſtes Lied ſingt“. Leitmotivik, und darum
handelt es ſich doch hier letzten Endes, als Anregung aus dem Munde eines
Feindes der Romantik! Allerdings handelt es ſich hier um eine deutſche Oper
und im Geſpräch mit Beethoven, das auch auf die äſthetiſche Einſtellung Grill⸗
parzers zur Oper überhaupt hinübergleitet, vermag oder will Grillparzer ſeinen
ſchroff ablehnenden Standpunkt der einen Gattung gegenüber wahrſcheinlich
Beethovens nicht ſo aburteilender Haltung gegenüber nicht aufrecht erhalten
und einmal folgt ſeiner Erklärung, in der Oper ſei „die Poeſie ja nur wegen
der Muſik da“ auf die Antwort Beethovens, die vermutlich eine höfliche Ein⸗
wendung enthielt, die Abſchwächung vom Prinzipiellen ins Perſönliche, indem
er ſchreibt: „Es fol eine Oper von Beethoven fein“ 25); ein anderesmal ver-
teidigt Grillparzer ſeine Vorliebe für die italieniſche Oper und ſchreibt: „Und
doch kann ich mich mit jenen nicht vereinigen, die die italieniſche Oper unbedingt
9 Ebd. IC.
20) Grillp. s Geſpräche, 2. Abt. 196.
25) Ebd. 186.
280 Alfred Orel
verwerfen. Meiner Meinung nach gibt es zwei Gattungen der Oper, von denen
die eine vom Text ausgeht, die zweite von der Muſik. Letztere iſt die italienifche
Oper.“ 26) |
Man merkt deutlich eine tiefwurzelnde Verſchiedenheit in der muſikaͤſthetiſchen
Einſtellung Beethovens und Grillparzers. Gewiß wirkten äußere Urſachen mit,
daß Beethoven die Kompoſition der Dichtung Grillparzers nicht ernſtlich in
Angriff nahm; im Jahre 1826 laufen noch Verhandlungen mit Berlin und
dort wird das Werk im Hinblick auf E. T. A. Hoffmanns „Undine“, die dort
im Repertoire ſtand, begreiflicherweiſe abgelehnt, jedoch darin allein kann man
wohl kaum den letzten Grund dafür erblicken, daß Beethoven endgültig von der
Kompoſition abſah. Beethoven war im letzten Dezennium ſeines Lebens viel
zu berühmt, ſeine Künſtlerſchaft war zu allgemein anerkannt, als daß er um
das äußere Schickſal eines Werkes hätte beſorgt ſein müſſen. Die Urſache des
tatſächlichen Ausganges der Meluſinenepiſode — eine ſolche war es wohl für
den Komponiſten wie für den Dichter — liegt darin, daß Beethoven zu der ihm
vorgelegten Dichtung Grillparzers kein inneres Verhältnis gewinnen konnte.
Für Beethoven war eine Oper durchaus nicht ein Muſikſtück mit erläuterndem,
letzten Endes unweſentlichem Texte. Und wenn im „Fidelio“ ſchon zur Zeit
der Erſtaufführung ein Kritiker in Melodie und Charakteriſtik „jenen glück⸗
lichen, treffenden und unwiderſtehlichen Ausdruck der Leidenſchaft“ vermißt,
der ihn „an Mozartſchen und Cherubiniſchen Werken ſo unwiderſtehlich er⸗
greift“, ſo lag dies gewiß nicht daran, daß ſich Beethoven bei der Kompoſition
etwa vom Texte losgelöſt hätte, ſondern vielmehr daran, daß Beethovens
Begabung nicht auf dem Gebiete der dramatiſchen nach dem damaligen
Stande der Oper im Konkreten gebundenen Muſik lag, ſondern vielmehr auf
dem der abſoluten Inſtrumentalmuſik, deren ſubjektiv⸗„charakteriſtiſche“ For⸗
mung von der immer wieder zur Konkretiſierung neigenden Zuhörerſchaft da⸗
mals ebenſo wie vielfach auch heute noch fälſchlich als „dramatiſch“ aufgefaßt
wurde. Beethoven war in gewiſſem Sinne Ideenkünſtler, faſt wird man an
Grillparzers erſehnte „Dramen in Gedanken“ gemahnt. Er abſtrahiert auch
aus dem Konkreten die Idee; man erinnere ſich nur der Eroica, bei der es durch⸗
aus nichts verſchlug, daß Napoleon, deſſen Geſtalt dem Meiſter vorgeſchwebt
hatte, durch ſeine Proklamation zum Kaiſer, zum Tyrannen wie Beethoven es
nennt, den Künſtler ſo ſchwer enttäuſchte. Das Titelblatt, das den Namen
„Buonaparte“ getragen hatte, wurde zerriſſen, die konkrete Perſönlichkeit verſank,
die Idee, deren zufälliger Träger ſie geweſen war, ſie blieb unverändert beſtehen.
Wenn nun Beethoven ſich der ſtarken Bindung unterwerfen ſollte, die ein
Operntextbuch für den Komponiſten immer bedeutet — von den Fällen, in
denen es der ſchwachen geiſtigen Potenz als Krücke dient, braucht wohl nicht
geſprochen werden —, ſo mußte ihm eine Idee daraus entgegenleuchten, an der
ſich ihm die Fakel ſeines Genius entflammen konnte. Und dies fehlte wohl bei
260) Ebd. 197.
27) Die Freimütige, Berlin, IV. Ihg. 1806, Nr. 10.
Beethoven und Grillparzer 281
der Meluſine. Gewiß, Beethoven griff vorerſt nach dem romantiſchen Stoff,
der ſich ihm hier darbot. Der Erfolg C. M. v. Webers mag ihn nicht zuletzt den
Weg haben erkennen laſſen, auf dem die Zukunft der deutſchen Oper lag, allein
es war ein Weg, der für Beethoven nicht gangbar war, ein Weg, der aus einer
ganz anderen Gegend kam als Beethovens geiſtige Heimat war. Es konnte die
Seele Beethovens bei dem Meluſinenſtoff wohl nicht ganz mitſchwingen. Mag
auch die weibliche Geſtalt des Librettos in der Verbindung ihrer Gefühlswelt
mit dem „Überirdiſchen, Unfaßbaren, ewig Geheimnisvollen und ewig Erſehn⸗
ten“ 28) Beethoven angeſprochen haben, die Geſtalt Raimunds in der deut⸗
lichen Zeichnung ihrer äußerlichen, kleinen und gehaltloſen Verſtandeswelt,
jene haltloſe, der Feſtigkeit bare ?“) männliche Hauptfigur war wohl zu ſehr
der Beethovenſchen ideellen Einſtellung fremd, als daß ſich dieſer Künſtler, wie
es ihm ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung für das Schaffen war, ganz hätte
darein verſenken können. War die Geſtalt Raimunds — wie Rollett dartut —
für Grillparzer Bekenntnis, konnte ſie es für Beethoven nimmermehr werden.
Deutlich zeigt ſich ebenſo in der Meluſinenepiſode wie in den äſthetiſchen und
kritiſchen Aufzeichnungen das tiefe innere Verſchiedene, in mancher Hinſicht
Gegenſätzliche der beiden Erſcheinungen Grillparzer und Beethoven, die in
Wechſelwirkung mit ſo manchem Gemeinſamen, das ſie wieder innerlich ver⸗
band, ihr Verhältnis zueinander beſtimmt und erklärt.
An ſich könnte es merkwürdig erſcheinen, daß Grillparzer, der im Todesjahr
Mozarts geboren war, dem um 21 Jahre älteren Meiſter — wie er ſelbſt ein⸗
geſteht — nicht zu folgen vermochte, obgleich er gerade auf dem Gebiete der
Muſik durchaus nicht dem Durchſchnittspublikum zuzurechnen war, ſondern
eigenes muſikaliſches Empfinden wie bewußte Beſchäftigung mit den Erſchei⸗
nungen des muſikaliſchen Kunſtlebens in Wien ihn gewiß einigermaßen auch
in dieſer Hinſicht aus der Menge heraushoben. Hat man in dieſem Traditio⸗
nalismus, in dieſer Einſeitigkeit Grillparzers einen rein perſönlichen Mangel
an Einfühlung zu erblicken, oder ſpielen hier auch überperſönliche Momente
eine Rolle?
Wenngleich man gerade bei Grillparzer und Beethoven die eigenartige, nach
einer Hauptrichtung beſonders ſtark ausgeprägte, über dieſe hinaus aber be⸗
ſonders bei dem Dichter äußerſt komplizierte Individualität nicht nur nicht ver⸗
nachläſſigen, ſondern in mancher Beziehung ſogar geradezu in den Vordergrund
rücken muß, fo iſt doch auch der Einfluß der Geiſtigkeit nicht zu überſehen, aus der
dieſe überragenden Perſönlichkeiten erwuchſen, in der ſie wurzelten. Und zwi⸗
ſchen dem Bonn der ſiebziger Jahre und dem Wien der neunziger beſtanden
tiefgehende Unterſchiede. Dort die durch die Nähe Frankreichs begünſtigte,
durch die Naturanlage des Volkes bedingte Empfänglichkeit für den neuen
Geiſt, der ſich jenſeits der Grenzpfähle allmählich entwickelte und ausbreitete,
hier die durch zielbewußte Tätigkeit des Herrſchers nach einer beſtimmten Rich⸗
tung gelenkte, vor anderen, neuen Einflüſſen ſorglich behütete Geiſtigkeit. Dort
28) Rollett a. a. O. IC.
0 Ebd.
bild faſt möchte man ſagen zum Symbol der trotz teilweiſe ſtammlicher Ein⸗
heit auch in der Bevölkerung ſich geltend machenden Vielheit wird, hier die
durch jahrhundertelange Tradition des Bodens als des Zentrums eines großen
Reiches, über dies hinaus des Deutſchen Reiches gegebene Fähigkeit der
Bindung der verſchiedenen Elemente zu einer homogenen Einheit von über⸗
ſtrömendem inneren Reichtum. Dort, im Reich, die Zeit der Sturm⸗ und
Drangbewegung, jenes zum Teil dem Boden der Aufklärung erwachſenden
Ringens nach Irrationalität, des Kampfes um die Rechte des Herzens, um die
Echtheit des Lebens gegen die immer mehr der Unehrlichkeit verfallende Lebens⸗
einſtellung der Aufklärung 50), hier — um 20 Jahre ſpäter — der nunmehr erft
recht, gleichſam von Staats wegen geförderte Rationalismus, ein ſorgliches
Verſchließen der Fenſter und Türen vor dem friſchen Wehen des zu neuer Höhen⸗
fahrt anſetzenden deutſchen Geiſtes, dabei aber doch wieder die merkwürdige
Verquickung mit der Tradition des öſterreichiſchen Katholizismus, die gewollte
Betonung des Nationalen, wie es z. B. die Eröffnung des Nationaltheaters,
die Förderung des deutſchen Singſpiels dartut. So erſcheinen Grillparzer und
Beethoven der geiftigen Atmoſphäre nach, der fie entwachſen, völlig verſchieden.
Schon zeigen ſich aber auch wieder Gemeinſamkeiten. Sie liegen größtenteils
im Perſönlichen der beiden Künſtler. Grillparzer ſcheint der Zeit ſeines Wer⸗
dens nach ein Kind der Aufklärung. Und über allgemeine Einwirkungen hin⸗
aus, macht des Vaters Einfluß ſich nach der gleichen Richtung in ſtärkſtem Maße
geltend; dieſer „überträgt die politiſchen und religidfen Anſchauungen der
joſephiniſchen Ara auf den Sohn“ 31). Allein iſt Grillparzer feiner Indivi⸗
dualität nach danach angetan, ein richtiger Sohn der Aufklärung zu werden
und zu ſein? Iſt ſeinem Weſen, ſeiner tiefſten Weſensgrundlage die Bindung
in der unwahren Konvention entſprechend, die die Aufklärung ſchließlich an die
Stelle der ſeit den Zeiten der Renaiſſance bekämpften mittelalterlichen Bin⸗
dungen in religiöſer und ſozialer Hinſicht geſetzt hatte? War die Freiheit des
Individuums, jenes Ziel der Aufklärung, in der Geſtalt des tatſächlich Erreich⸗
ten übereinſtimmend mit dem Freiheitsideale Grillparzers? Sehen wir nicht
in ſo mancher Hinſicht Grillparzers ureigenſtes Weſen ſich geradezu aufbäumen
gegen die Bindungen dieſer Geiſtesrichtung? Wird man nicht vielmehr die durch
Umwelt und Erziehung bedingten Aufklärungselemente in Grillparzer vielfach
als Gegenſätze zu ſeinem eigentlichen Weſen, als Hemmniſſe einer organiſchen
Entfaltung anſehen müſſen? Das Bild der Entwicklung Grillparzers erhält
auf dieſe Art vielleicht ein etwas ungewohntes Ausſehen, allein — wie Typi⸗
ſierung und Schematiſierung ſtets nur ſehr vorſichtig anzuwenden ſind — ſo
iſt auch in unſerem Falle das Ausgehen von den allgemeinen Zeitgrundlagen
und der Verſuch einer Erklärung der Perſönlichkeit aus dieſen, ſowie ihre Ein⸗
20) Vgl. H. Kindermann, Entwicklung der Sturm⸗ und Drangbewegung (Wien 1925), ſowie
L. Mülldorfer, Das Mann ⸗Frau-⸗Problem in der Sturm- und Drangbewegung (Wien 1925),
[ungedr.]
) A. Sauer, GW. I. 11.
zweckdienlich, für die Syntheſe der Erkenntnis jedoch gerade umgekehrt die
Eigenart des perſönlichen Weſens zur Grundlage zu nehmen und in ſeinen
Beeinfluſſungen, wenn man will in den Inkongruenzen und Inkonſequenzen
der Entwicklung der künſtleriſchen Erſcheinung, eben die Folge der beſonderen
Verhältnisſtellung des Individuums zum Typus zu erblicken 2).
Mit Recht bezeichnet Rollett Grillparzer ſeiner Veranlagung nach als „eine
durchaus dionyſiſche Natur“. „Die Ekſtaſe nicht nur des Dichteriſchen, ſon⸗
dern allen Schaffens, die Hingegebenheit und Ausſchließlichkeit des Fühlens,
der furor poeticus, der ihm nie ſtark genug ſchien, ganz ebenſo wie die immer
nur halbe Zufriedenheit mit ſich und jedem, auch dem beſten vom ihm Geſchaf⸗
fenen, all dieſe Erſcheinungen ſind Teiläußerungen dionyſiſchen Lebens⸗ und
Kunſtgefühls.“ 33) Und können wir bei Beethoven nicht einen ganz ähnlichen
eben dionyſiſchen, aber hier von ungeheurer kinetiſcher Energie durchpulſten
Grundzug des Weſens erblicken? War es nicht das halb unbewußte Erfühlen
dieſer Gemeinſamkeit, die Grillparzer trotz verſtandesmäßigen Widerſtrebens
immer wieder zu Beethoven zieht, das ihm die große Verehrung dem Meiſter
gegenüber einflößt, dem er nicht zu folgen vermag. Zeigt ſich aber darin nicht
wieder das Sehnen Grillparzers, gleich jenem ſich zur vollen Entfaltung der Per⸗
ſönlichkeit, zur höchſten individuellen Freiheit durchzuringen? Allein gerade der
Vergleich Grillparzers mit Beethoven läßt das Schickſal des aufkläreriſch ge⸗
bundenen gegenüber dem zur Befreiung gelangten Menſchen erkennen. Mag
man es als zweite Komponente der natürlichen Anlage Grillparzers als Erbteil
von Vaters Seite her bezeichnen, die durch die Erziehung noch verſtärkt wurde,
oder als bloße Folge der letzteren, Tatſache iſt, daß gleichſam im entſcheidenden
Momente gerade in den der Abklärung vorangehenden Werken immer wieder
eine dunkle Macht über den Dichter Herrſchaft gewinnt, die ihn das vorge⸗
ſteckte Ziel entweder nicht erreichen läßt oder dieſes wandelt. Stets ſieht ſich
der Dichter enttäuſcht, es ſcheint ſich ihm eine Kluft zwiſchen Wollen und
Können aufzutun. Dem furor poeticus tritt die ratio entgegen; und fein
Schaffen wird ſo zu einem fortwährenden Kampf ſeines tiefſten Ich gegen
das aufkläreriſche Element über ihm, das die Phantaſie unter die Kontrolle des
Verſtandes ſtellte, das letzten Endes die Intuition aus der Dichtung als einer
vernünftigen verbannen wollte ). Gewinnt die Sehnſucht nach dem „Drama
in Gedanken“ derart nicht tiefen, tragiſchen Sinn?
Hatte Immanuel Kant den Wahlſpruch der Aufklärung in die Worte gefaßt:
„Habe Mut, dich deines eigenen Verſtandes zu bedienen“ 35), fo gab die Sturm⸗
und Drangbewegung dem Individuum das Recht, ſich ſelbſt als Ganzes, nicht
nur ſeinen Verſtand, auch ſein Wollen und Fühlen völlig zur Geltung zu
2) Vgl. hierzu G. Stefansky: „Grillparzers geiſtige Perſönlichkeit“ in der Feſtſchrift f. Auguſt
Sauer, Stuttgart 1925.
20 a. a. O. XV.
) Vgl. Kindermann a. a. O. 6.
3), Was iſt Aufklärung? (Berl. Monatsſchr. Dezember 1784).
284 Alfreb Orel
bringen. Hier finden wir die völlige Befreiung des Individuums, zu der
ſich der Rationalismus der Aufklärung in ſeiner dualiſtiſchen Lebensauffaſſung
nie hatte durchringen können. Gewiß, Beethoven iſt in dieſer Hinſicht der erſte
große Künſtler auf dem Gebiete der Tonkunſt, und hier liegt die Scheidewand,
die ihn von den vorangegangenen Meiſtern, insbeſondere von Haydn und Mozart
trennt, allein der Individualität des Künſtlers kam hier die Geiſtigkeit der Zeit
und des Ortes in weitem Maße entgegen, aus der er erwuchs, ſie trug ihn auf
ſeinem Fluge zu den Höhen ſeines Wunſchzieles, während ſie bei Grillparzer
in gewiſſem Sinne lähmend auf die Kraft des Dichters einwirkte. Faſt möchte
man ſagen, es ſei ein ſchickſalshafter Gegenſatz, der ſich derart zwiſchen Beet⸗
hoven und Grillparzer dartut. Nun erklären ſich aber auch die „nachteiligen Wir⸗
kungen Beethovens auf die Kunſtwelt, ungeachtet ſeines hohen, nicht genug zu
ſchätzenden Wertes“, die Grillparzer in die erwähnten 4 Punkte zuſammenfaßt,
nicht als der Ausſpruch eines konſervativen Geiſtes im Sinne von rückſchrittlich,
ſondern als völlig berechtigter Ausſpruch eines in einer anderen Geiſtigkeit
gebundenen Menſchen. Grillparzer ſah gleichſam Beethoven das durchführen,
beſſer dahin gelangen, wohin ihn ſein eigenes innerſtes Weſen auf dem Gebiete
der Dichtkunſt wies, aber dort wie hier ſetzte ſogleich wieder ſein „verkleinern⸗
des, prüfendes und zerſetzendes, richtendes und wägendes Empfinden“ 36) ein,
das unter der Kontrolle des Verſtandes zur Feſtſtellung der Nachteile der Muſik
Beethovens gelangte. Die Verſe:
Schau! der Ruhm, am Rand der Fernen
Glänzt in heller Zeichen Schein: —
Wen gelüſtet's nach den Sternen?
Man betrachtet ſie allein.
zeigen deutlich, wie der Dichter ſich bewußt wird, über die Hemmungen, die
ſeinem zwieſpältigen Weſen und ſeinem Schickſal entſprangen, nicht Herr zu
werden. Oder wenn er zu den „Großen“ ſpricht, „die längſt umwallt der Ruhm
wie Opferrauch“:
So boch wie euch mag mich kein Flügel tragen,
Doch, Meiſter, ſchaut! ein Maler bin auch ich.
ſo iſt dies wieder ein Zeichen dafür, wie der Dichter, in wahrhaft heroiſchem
Kampfe, zu jener gewaltſamen Selbſterziehung ſich zwang, „die ihn durch Ab⸗
härtung des Leibes ebenſo wie durch Klärung ſeiner geiſtigen Kräfte aus der
unbewußten der Inſpiration überantworteten, dionyſiſchen Hingeriſſenheit,
aus dem unruhigen Flackern des Stimmungsmenſchen, aus dem fluchtartigen
Bann ſeiner Kunſtverfallenheit zu überlegter, abgeklärter und beruhigter Tat,
zu geordneten, aus ſouveräner Beherrſchung und bewußter Sicherheit erfließen⸗
den Kraft leiten“) ſollte. Ihn beherrſcht ein „unabweisliches Streben, ſich
mit der Welt in Einklang zu bringen“. Er fühlt die Unmöglichkeit, ſich aus
den Bindungen der Aufklärung, in die er verſtrickt iſt, zur völligen Freiheit des
30) Rollett, a. a. O. XVII.
27) Rollett, XLIV.
Beethoven und Grillparzer 285
Individuums durchzuringen und ſucht ſich mit der Welt in Einklang zu brin⸗
gen; gleichwohl iſt er ſich aber wohl bewußt unter Feſſeln, die ihm eben dieſe
„Welt“, als ſeinem tiefſten Weſen gegenſätzlich, auferlegt, unendlich zu leiden.
Und auf dieſem Wege gelangt er in gewiſſem Sinne zu einer Objektivierung
des Dramas, aber nicht etwa auf dem Wege der ſiegreichen Überwindung der
Umwelt, ſondern auf dem der Überwindung ſeiner ſelbſt.
Beethoven bietet uns in ſeiner weiteren Entwicklung ein gradezu gegen⸗
ſätzliches Bild. Vergeſſen wir nicht, daß er nach Wien in eine Stadt gekommen
war, die in ihrer Geiſtigkeit letzten Endes ihm ebenſo fremd war, wie er ihr.
Allein einerſeits wurde ſein innerer Gegenſatz zur Aufklärung trotz mancher
Bedenken, die man ſeiner Kunſt entgegenſtellte, doch als Befreiung von den
Feſſeln des Rationalismus empfunden, in die die ſcheinbare Freiheit der
Aufklärung die Menſchen geſchlagen hatte. Dieſes Sehnen nach dem Irratio⸗
nalen war ja auch hier im Unbewußten durchaus vorhanden, nur künſtlich
niedergehalten, und wenn Grillparzer zu Beethoven ſagt: „Den Muſikern kann
doch die Zenſur nichts anhaben“ und: „wenn man wüßte, was ſie bei ihrer
Muſik denken“ 58), fo könnte man dies von dem ſpeziellen Fall der literariſchen
Zenſur wohl mit Recht verallgemeinern. Die Aufklärung war ja damals tat⸗
ſächlich eine bereits überwundene Ideenrichtung und es dürfte ſich erweiſen,
daß ſie keineswegs erſt in ſo ſpäter Zeit, wie man bisher annahm, hier zur
Herrſchaft gelangte. Fand derart Beethoven trotz der ſcheinbaren Gegenſätzlich⸗
keit einen aufnahmebereiten Boden in Wien vor, ſo war er ſeiner Ideenrichtung
und Individualität auch durchaus danach angetan, etwaige Widerſtände in ihm
ſelbſt oder in der Umwelt zu überwinden. Ein Wort wie das berühmte: „Ich
will dem Schickſal in den Rachen greifen; ganz niederbeugen ſoll es mich gewiß
nicht“ wäre aus Grillparzers Munde kaum möglich. Grillparzer kämpft mit ſich
und fühlt ſich dem Schickſal bis zu einem gewiſſen Grade unterworfen; er
hadert mit ihm, aber er ſucht ſich mit ihm abzufinden. Beethoven kämpft mit
dem Schickſal und will ſich darüber erheben. So gelangt auch Beethoven als
Sieger nicht im Kampfe über ſich ſelbſt zur Abklärung, ſondern im Kampfe
über die Welt. Nicht eine Objektivierung des Kunſtwerkes tritt bei ihm ein,
ſondern der Wandel liegt in der Abklärung des Ich, das auch dem Kunſtwerke
gleich ſubjektiv gegenüberſteht. Darin mag auch das Geheimnis des immer
deutlicher zum Ausdruck kommenden Optimismus in Beethovens Werken zu
erblicken ſein, der vielleicht in der allumfaſſenden Menſchheitsliebe der Dithy⸗
rambe des Schlußchores der IX. Symphonie feine Krönung findet.
Bei Grillparzer wieder das Enden in verbitterter Reſignation. Es iſt ihm
nicht gelungen, den Zwieſpalt zwiſchen Idee und Sinnlichkeit, Wunſchziel und
Wirklichkeit zu überwinden. Und deutlich kennzeichnet die verſchiedene Lebens⸗
einſtellung Beethovens und Grillparzers die Verſe, die der Dichter ſeinen Er⸗
innerungen an Beethoven anfügt, wenn darin das unentwegte Vorwärts⸗
ſtürmen des Tondichters geſchildert wird, wie er „Dickicht, Feld und Korn“
26) Gr. 's Geſpräche II. 185.
286 Karl Nef
durcheilt, den hemmenden Strom ohne Zagen durchſchwimmt, den Abgrund an
der Klippe mit kühnem Sprung überwindet:
Was andern ſchwer, iſt ihm ein Spiel,
Als Sieger ſteht er ſchon am Ziel;
Nur hat er keinen Weg gebahnt.
Grillparzer hatte den himmelſtürmenden Lauf, der ſeinem tiefſten Weſen,
ſeinem unendlichen Fühlen entſprochen hätte, immer wieder aufgegeben, das
irdiſche Müſſen hatte ihn ſich ein anderes Ziel ſetzen laſſen als jenes, das ihm
ſeine dämoniſche Genialität vorſchrieb. Durch Willenskraft ſteuerte er ſein
Schaffen nach einer beſtimmten Richtung, während eine unbewußte Kraft in
ihm, eben die tieffte perſönliche Grundlage, es nach einer anderen zog 39).
Bei Beethoven hingegen ſah er das ihm Verfagte zur Tat gemacht. Allein ſehr
wohl erkennt er, daß dies nur ein Weg des Einzelnen, Einmaligen war, keine
Straße für ſolche, die da nachher kämen. Bei jenem die Überwindung der Welt
durch das Ich, bei ihm ſelbſt die Überwindung des Ich im „Streben, ſich mit
der Welt in Einklang zu bringen“. Der Tragik des äußeren Lebens und der
inneren Befreiung bei Beethoven ſteht die innere Tragik von Grillparzers Weſen
gegenüber. Die in gewiſſen Grundqualitäten ihrer perſönlichen Art verwandten
Künſtlergeſtalten werden durch Umwelt, Erziehung und Lebensſchickſale in gänz⸗
lich verſchiedene Bahnen geſtellt, die aus verſchiedenen Richtungen herkommen
und über einen Kreuzungspunkt in ganz verſchiedene Regionen führen.
—
Beethovens geſchichtliche Stellung.
Von Karl Nef in Baſel.
„Haydn, Mozart, Beethoven“ pflegt der Muſikfreund zu ſagen, der gebilde⸗
tere fügt noch hinzu „die drei Wiener Klaſſiker“. Damit iſt Beethovens geſchicht⸗
liche Stellung im Allgemeinbewußtſein ſeſtgelegt. Merkwürdig früh ſchon wer⸗
den die drei Namen miteinander verbunden, bereits für die Zeitgenoſſen war
ihre Zuſammengehörigkeit eine Tatſache, an der niemand zu rütteln wagte.
Sogar ſchon dem Jüngling, der noch keine großen Werke geſchrieben hatte,
wurde vorausgeſagt, daß er der dritte im Bunde ſein werde. Als Beethoven
im Jahre 1792 von Bonn nach Wien reiſte, ſchrieb ihm ſein Gönner Graf
Waldſtein in das Stammbuch: „Mozarts Genius trauert noch und beweint
den Tod ſeines Zöglings, bei dem unerſchöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber
keine Beſchäftigung, durch ihn wünſcht er noch einmal mit jemandem vereinigt
zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie Mozarts Geiſt aus
Haydns Händen.“ 1)
Dieſe Prophezeiung hat ſich erfüllt, und die Mitwelt zögerte nicht, ſie anzu⸗
erkennen. In dem führenden Organ, der Leipziger Allgemeinen muſikaliſchen
9) Rollet, CI.
1) A. W. Thayer, Ludwig van Beethovens Leben. 1. Bd., 2. Aufl., 1901, S. 270.
Beethovens geſchichtliche Stellung 287
Zeitung, werden die drei Namen häufig miteinander angeführt, oder, um eines
der ſchönſten Beiſpiele hervorzuheben, ſei an die ehrfurchtsvolle Adreſſe erinnert,
welche die Wiener Muſikfreunde an den Meiſter richteten, als ſie hörten, daß
er die neunte Sinfonie vollendet habe, worin von der „heiligen Trias“ die Rede
iſt, in der der Name Beethovens mit denen Haydns und Mozarts „als Sinn;
bild des Höchſten im Geiſterreich der Töne“ ſtrahle 2).
Was hat man nun von der Dreinamensformel zu halten, iſt ſie ein nichts⸗
ſagendes Kliſchee, oder hat ſie einen tiefern Sinn? Sagt ſie mehr aus als nur
das, daß die drei Meiſter mit und nacheinander in Wien gelebt haben? Sehen
wir uns in der wiſſenſchaftlichen Literatur erſt ein wenig um, bevor wir dieſe
Frage beantworten. Nur ſelten ift hier die Zuſammengehörigkeit betont wor⸗
den; von den Ausnahmen ſei eine genannt, das populäre, aber ſchätzenswerte
Büchlein von Carl Krebs), deſſen Titel die drei Namen umfaßt. Sicherlich
wäre es fruchtbar, ſie einmal nicht nur nebeneinander zu behandeln, ſondern
im beſondern die Beziehungen, die ſie miteinander verknüpfen, die perſönlichen
und die geiſtigen, zu unterſuchen und feſtzuſtellen. Uns eigentümlich berührend,
Widerſpruch erregend iſt, daß der Zeitgenoſſe Beethovens R. G. Kieſewetter in
ſeiner im Jahre 1834 erſchienenen „Geſchichte der europäiſch⸗abendländiſchen
Muſik“ das letzte Kapitel „Beethoven und Roſſini“ überſchreibt. In den der
ſeinigen nachfolgenden Muſixkgeſchichtsdarſtellungen dagegen werden gern
Haydn, Mozart und Beethoven in einem Kapitel zuſammengefaßt “), A. von
Dommer ſchloß ſein vor andern geſchätztes Handbuch mit Beethoven ab, wäh⸗
rend der Neubearbeiter ſeines Werkes Arnold Scheering, den letzten abſchneidet
und mit Mozart aufhört. Wandlung alſo in den Anſchauungen.
Fragen wir nun noch einmal, worin der kunſtgeſchichtliche Zuſammenhang
liege, der ſicher beſteht, aber je nach Umſtänden mehr oder weniger betont wird,
ſo können wir darauf klipp und klar antworten, Beethoven hat die Formen
von Haydn und Mozart übernommen und ihre Errungenſchaften ſich zunutze
gemacht, ſeinem Weſen nach dagegen iſt er verſchieden von ihnen. In der Formel
würde man beſſer die Reihenfolge umſtellen und ſagen Mozart, Haydn, Beet⸗
hoven, denn Haydn wurde von Mozart beeinflußt und nicht umgekehrt; die
reifen Meiſterwerke Haydns ſtellen eine Zuſammenfaſſung der Beſonderheiten
ſeines eigenen und des Mozartſchen Stiles dar. Beethoven übernahm ſie in
ihrer ganzen Fülle und fügte fein Teil, fein Beſtes hinzu “).
Durch die aufbauende Tätigkeit Haydns und Mozarts war es Beethoven ver⸗
gönnt, ſich auf ſie ſtützend den Gipfel zu erklimmen, dem hoch ſich wölbenden
Bogen den Schlußſtein einzufügen. Es iſt das Wunderwerk der modernen
2) Thayer a. a. O. 5. Bd., 1908, S. 68.
3) Bd. 92 Sammlung „Aus Natur- und Geiſteswelt“. Leipzig, Teubner 1906.
) Z. B. Brendel, Geſchichte der Mufit 1851, und noch H. Niemann, Kleines Handbuch der
nn 1908 gruppiert „Die großen Wiener Meiſter, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven,
chubart“.
5) Die Errungenſchaften Haydns und Mozarts in der Sinfonie tief blickend erkannt und in
lichtvoller Weiſe dargeſtellt zu haben, gehört zu den bleibenden Verdienſten Hermann Kretzſchmars.
Vgl. Führer durch den Concertſaal, I. Abteilung. 1. Aufl. 1887, 4. Aufl. 1913.
die Sinfonie, das Streichquartett, die Klavier⸗, Violin⸗ und Violoncellſonate,
das Klaviertrio, das Klavier⸗ und das Violinkonzert. Völlig ausgeſchloſſen
blieb die Orgel, nur ſparſam bedacht wurden die Blasinſtrumente.
Gründe für dieſe Lücken im Geſamtbild der Spielmuſik finden ſich leicht,
Beethovens Intereſſeloſigkeit für gewiſſe Arten begreifen wir aus ſeinem Weſen.
Haydn hinterließ 104 Sinfonien, Mozart 41; ſie faſſen ſelbſt dieſe höchſte
Gattung der Inſtrumentalmuſik als Geſellſchaftskunſt auf, während Beethoven
in ſubjektivſter Geſtaltung für die Menſchheit ſchreibt, sub specie aeternitatis.
Selbſt die intime Klavierſonate zeigt den Zug ins Große, einem Konzert für
Fagott oder einer Flötenſonate hätte er ſchwer ſich einhauchen laſſen. Das an⸗
mutige Gewächs dieſer Art hielt vor dem Sturmwind Beethovens nicht ſtand,
wurde entwurzelt und verſchwand völlig; erſt heute ſehen wir wieder ein, daß
es ſeine beſondern Reize hatte.
Daß der Meiſter nichts für Orgel komponierte, kann ſeinen Grund in der
Größe der Bachſchen Orgelkompoſitionen haben, die zu überbieten nicht möglich
war; der tiefere und ausſchlaggebende dürfte aber der ſein, daß die Königin
der Inſtrumente in einem Punkte ihren Untergebenen nachſteht, in der Fähig⸗
keit, den Ton zu nüancieren und zu modulieren. Es iſt unmöglich, auf der Orgel
eine Melodie dynamiſch ſchattiert, ausdrucksvoll zu ſpielen, ausdrucksvolle
Melodie iſt aber das Kennzeichen der Beethovenſchen Kunſt, ihr ein und alles.
Jedes ſeiner Inſtrumentalwerke beſteht in einer groß dahinſtrömenden Melo⸗
die ), eine Stimme bildet ſtets die Hauptſache, alles übrige, fo reich es ſich
auch ausnehmen mag, iſt nur dazu beſtimmt, das Melos der Hauptſtimme zu
verſtärken, ſeine Wirkung zu erhöhen. Draſtiſch hat das einmal Richard Wagner
nachgewieſen; Felix Draeſeke, der bei ihm in Luzern weilte, erzählt: „Ganz
unvorhergeſehenerweiſe, und ich weiß auch nicht wodurch veranlaßt, fing Wag⸗
ner an einem ſehr heißen Auguſt⸗Nachmittag einmal an, den erſten Satz der
Eroica zu ſingen, geriet in einen furchtbaren Eifer, ſang immer weiter, wurde
ſehr heiß, kam ganz außer ſich, hörte aber nicht auf, als bis er an den Schluß
des erſten Teiles gekommen war. ‚Was iſt das?“, ſchrie er mich an, worauf ich
natürlich fagte, die Eroica‘. ‚Nun, iſt denn da die blanke Melodie nicht genug?
müßt Ihr denn da immer Euere verrückten Harmonien mit dabei haben? Im
Anfang war mir nicht klar, was er damit beabſichtigte. Als er dann aber in
ruhigerer Weiſe auseinanderſetzte, daß der melodiſche Fluß in den Beethoven⸗
ſchen Sinfonien unverſiegbar daher ſtröme, und man ſich an der Hand dieſer
Melodie die ganze Sinfonie deutlich ins Gedächtnis rufen könne, gab er mir
einen Anſtoß zum Nachdenken, der auf meine eignen Produktionen ſehr ein⸗
gewirkt hat.“ 7)
Dieſe originelle Demonftration Wagners iſt nichts anderes, als der Nachweis
davon, daß Beethoven als der Meiſter der Homophonie anzuſprechen iſt. Er
e) Vgl. meine Ausführungen in „Geſchichte der Sinfonie und Suite, Leipzig 1921, S. 181 ff.
7) Felix Draeſeke und Richard Wagner in Luzern, aus den unveröffentlichten Lebenserinnerungen
von Felix Draeſeke. Der kleine Bund. Sonntagsbeilage des „Bund“ 28. Okt. 1923, Nr. 43, Bern.
Beethovens geſchichtliche Stellung 289
enthüllt es uns auch ſelbſt durch die Art und Weiſe, wie er ſeine Kompoſitionen
ſkizzierte; ſtets ſchreibt er, ſogar bei Rieſenwerken wie der Eroica 8), nur eine
Stimme auf, höchſtens daß er einmal den Baß mit andeutet. Ein Bach hätte
unmöglich ſo ſkizzieren können. Damit iſt natürlich nicht gefagt, daß die Neben⸗
ſtimmen tot ſeien. Ganz im Gegenteil, ſchreibt der junge Meiſter doch ſelbſt ein⸗
mal, er ſei mit einem „obligaten Accompagnement“ auf die Welt gekommen 9).
Ja, in viel höherm noch als in bloß obligatem Accompagnement beſteht ſein
Verfahren, es iſt ſein Kunſtgeheimnis, eine Fülle ſcheinbar ſelbſtändiger Neben⸗
ſtimmen ſo zu führen, daß ſie doch alle nur dem einen großen Hauptzweck
dienen, das Melos der Hauptſtimme zu eindringlichſter Wirkung zu bringen.
Auf dem, auf dieſe Weiſe zuſtande gebrachten gewaltigen Geſamtmelos beruht
die zwingende, die ſuggeſtive Kraft ſeiner Schöpfungen. Anders ausgedrückt,
ſie ſtellen die höchſte Entwicklung des homophonen Stiles dar, wie er von der
erſten Hälfte des 18. Jahrhunderts an ſich auszubilden angefangen hatte.
Es wird nicht nötig ſein, zu betonen, daß ſich das Geſagte nur auf die Werke
bis zur achten Sinfonie bezieht, in ſeiner letzten Periode iſt Beethoven ein
anderer geworden, er, der mit Bachs wohltemperiertem Klavier aufgewachſen,
wendet ſich dem polyphonen Stil zu, erneuert ihn auf ſeine Weiſe. So in der
Missa solemnis, in der neunten Sinfonie, in den letzten Quartetten. Damit
iſt er ſeiner Zeit vorausgeeilt, hat die in der zweiten Hälfte des 19. Jahr⸗
hunderts von Bach ausgehende Renaiſſance vorweggenommen. Darum ſind
aber auch die genannten Werke zuerſt nicht verſtanden worden und erſt in der
neuern Zeit zur Geltung gekommen. In der Missa geht er ſogar bis auf das
16. Jahrhundert zurück darin, daß er den Singſtimmen die Hauptaufgabe zu⸗
erteilt und alles konzertierende Inſtrumentenſpiel vermeidet. Ein echt kirchlicher
Stil, wie man ihn nur wenigen Werken von Haydn und Mozart nachrühmen
kann, und der auch von Romantikern, wie C. M. von Weber arg vernachläſſigt
wurde, iſt damit wieder eingeführt, ein neues Ideal aufgeſtellt worden. Liſzt,
Bruckner und kleinere Meiſter wie Albert Becker haben ihm nachgeſtrebt, ſeine
volle Bedeutung erkennen wir jedoch erſt heute, heute noch iſt die Missa solem-
nis modern.
Daß in der neunten Sinfonie ein Vorbild geſchaffen worden ſei, kann bei
all' ihrer Tiefe und Größe nicht behauptet werden. Hier iſt Beethoven in der
Anregung ſtecken geblieben. Wäre es ihm vergönnt geweſen, ſeine zehnte Sin⸗
fonie, zu der er bereits in Worten einen Plan ſchriftlich feſtgelegt hatte, zu
vollenden, wäre wahrſcheinlich ein Muſter einer organiſchen Verbindung von
ſinfoniſcher Inſtrumentalmuſik mit Geſang entſtanden. Sein zu früher Tod
war ein Unglück für die Kunſtgeſchichte; die durch die Neunte gegebene An⸗
regung blieb ja nicht fruchtlos, aber fo wenig wie er ſelbſt ſind ſeine Nachfolger,
Berlioz, Liſzt, Mendelsſohn, Mahler u. a. zu einer harmoniſch abgerundeten,
äſthetiſch befriedigenden Form gelangt.
) Vgl. Guſtav Nottebohm, Ein Skizzenbuch von Beethoven aus dem Jahre 1803. Leipzig 1880,
S. 155.
9) Kaliſch, Beethovens ſämtliche Briefe I, S. 58. Berlin und Leipzig 1900.
Suphorion XXVII. 19
290 Karl Nef
Kehren wir zu dem jüngern Meiſter, zu den Werken aus der Zeit bis um
1815, zurück. Sammartini, Stamitz, Phil. Em. Bach, Monn, Haydn und
Mozart waren die Führer in der Entwicklung des homophonen Stiles, Beet⸗
hoven hat ihn zur höchſten Entfaltung gebracht. Er benützt die Formen ſeiner
Vorgänger, weitet ſie, vertieft ſie, aber er verändert ſie nicht, — und doch iſt er
ein ganz anderer. Man zählt ihn der öſterreichiſchen Schule bei; aber er war ein
geborener Rheinländer. Seine Vorſahren ſtammten aus den Niederlanden, und
Karl Lamprecht ſchreibt ihm in feiner „Deutſchen Geſchichte“ 10) „vlämiſche
Herbigkeit“ zu. Eine ſolche Beziehung herzuſtellen ſcheint gewagt, noch ge⸗
wagter iſt der Vergleich mit Rubens 11); ſicher aber iſt der Einfluß der Um⸗
gebung, in der Beethoven aufwuchs 12). Nicht wenig Erſtaunen rief es hervor,
als Ad. Sandberger 13) und G. Cucuel 14) den Nachweis erbrachten, daß Beet⸗
hoven beeinflußt iſt von den franzöſiſchen Singſpielkomponiſten Grétry, Duni,
und ohrenſällige Reminiszenzen aus den Werken dieſer bei ihm in großer Zahl
ſich finden.
Noch wichtiger als ſolche Anklänge aufzudecken, iſt es feſtzuſtellen, daß er
einen hervorſtechenden Charakterzug der franzöſiſchen Muſik aufnahm und in
ſeiner perſönlichen Weiſe weiterbildete, einen Charakterzug, der der öſter⸗
reichiſchen Muſik nicht weſenseigen iſt, das Pathos. Dieſes hatte gerade in der
Jugendzeit unſeres Komponiſten beſondere Formen angenommen in den für
die Revolutionsfeierlichkeiten geſchaffenen Stücken. Der Trauermarſch, geſchrie⸗
ben von Goſſec, für die Beiſetzung der Leiche Mirabeaus ſtellt das Urbild des
modernen Trauermarſches überhaupt dar 15). Niemand wird es leugnen, daß
hier Wurzeln der Beethovenſchen Kunſt ſtecken. Hier in der Muſik und noch mehr
in den Ideen und Stimmungen der Zeit überhaupt. Treffend hat es ſchon
Hettner 16) ausgedrückt, wenn er ſagt: „Die weitwirkenden Stimmungen der
franzöſiſchen Revolution hatten ſeine ganze Seele erfüllt mit der flammenden
Sehnſucht nach politiſcher Freiheit und Menſchenwürde. Und was ſeine Seele
erfüllte, das ſang er in ſeiner Muſik.“
Bonn, wo Beethoven aufwuchs, wo er Mitglied der Leſegeſellſchaft und an
der Univerſität immatrikuliert war, wo er in dem bildungsfreundlichen Hauſe
Breuning in die moderne Literatur eingeführt wurde, war unter der Regierung
des Kurfürſten Maximilian Franz, dem Bruder Joſephs II., ein Mittelpunkt
der Aufklärung, hat doch der Kurfürſt ſelbſt einen nicht nur aufkläreriſchen, ſon⸗
10) Neueſte Zeit, I. Bd. S. 685, Freiburg i. B. 1906.
11) Dagegen gewandt haben ſich H. Kretzſchmar, Internationale Wochenſchrift 1909, Nr. 21/22
und Ad. Sandberger, Beethoven⸗Aufſätze, S. 264.
12) Ausführlich und gründlich dargeſtellt in dem neuen Buch von Ludwig Schiedermair, Der junge
Beethoven, Leipzig 1925.
19) Ad. Sandberger, Beethoven und das Bonner Opernrepertoire feiner Zeit. Archiv für Mufit-
wiſſenſchaft 1920 auf Grund eines im Jahre 1911 in der k. b. Akademie gehaltenen Vortrages.
Abgedr. auch in „Beethoven⸗Aufſätze“, München 1924.
14) George Cucuel, Les créateurs de l'opera comique francais, Paris 1914, S. 235 ff.
15) Mitgeteilt von H. Radiguer in Lavignacs „Encyclopédie de la musique“. Histoire,
France p. 1574.
10) Geſchichte der deutſchen Literatur im 18. Jahrhundert. III. 2. Braunſchweig 1870, S. 38.
Beethovens geſchichtliche Stellung 291
dern geradezu revolutionären Dichter, wie Eulogius Schneider als Profeſſor
an die Univerſität berufen, und hat man doch den jungen Beethoven Verſe
komponieren laſſen, die die Überwindung des Ungeheuers Fanatismus durch
Joſeph II. preiſen und verherrlichen. Schillers Räuber und Fiesko lernte er auf
der Bühne kennen, mit Klopſtock und Goethe wurde er vertraut, die ſittlichen
Anſchauungen Kants hat er in ſich aufgenommen und zur Richtſchnur für ſein
Leben gemacht 17). Daraus geht für die Muſik der Willen zum wahren und
beſtimmten Ausdruck, den man als den Grundzug ſeines Künſtlertums bezeich⸗
nen muß, hervor. Weil er Wahrheit, Beſtimmtheit, Klarheit in der Inſtru⸗
mentalmuſik erſtrebte und dies gerade hier, in der unbeſtimmteſten aller Kunſt⸗
gattungen ſchwer zu erreichen iſt, machen gewiſſe ſeiner Kompoſitionen den Ein⸗
druck des Ringens mit dem Stoff, und weil es ihm ſo ernſt damit war, hat
er die Ausdrucksfähigkeit ſo ungeheuer geſteigert.
Somit war er kein Romantiker, wie oft behauptet wird. W. H. Riehl 18)
meint einmal, er ſei ein Vorkämpfer der muſikaliſchen Romantik, und damit hat
er vollkommen recht; dann aber fährt er fort: „ja er iſt wohl gar der größte
Romantiker der ganzen neuern Kunſtgeſchichte“, und damit iſt er auf dem Holz⸗
weg. Will man, wie es zurzeit Mode, eine Parallele mit der bildenden Kunſt
herſtellen und ein Schlagwort haben, ſo müßte man ſagen, Beethoven ſei der
Meiſter des Empire. Wer Vergleiche liebt, mag dieſen ausführen, notwendig
beizufügen iſt nur, daß Beethoven tiefer ſchürft, als die meiſten Baumeiſter,
Bildhauer und Maler ſeiner Zeit.
Rings um ihn lebte die romantiſche Geiſtesrichtung auf, er blieb von ihr
unberührt, ſtärker wohl als ſelbſt etwa Goethe. Mit Friedr. Schlegel und
Genoſſen, die in Wien ihr großes Weſen entfalteten, hatte er keine Verbindung.
Das geiſtreiche Geplauder der Bettina hörte er mit Vergnügen ſich an, von irgend
welchem Einfluß durch ſie auf ſein Denken und Schaffen iſt keine Rede. Für die
Muſik der Romantiker, für Schubert, für Weber, hat er wohl einmal ein freund⸗
liches Wort, aber er ſpricht zu ihnen wie der Vater zu ſeinen Kindern, der nicht
daran denkt, etwas von ihnen zu lernen.
Gegen das Phantaſtiſche und Wunderbare, das die Romantik bevorzugt, war
er eingenommen. Einmal ſpricht er es deutlich aus. Der Dichter Heinrich
von Collin hatte für ihn einen Operntext „Bradamante“ verfaßt; Beethoven
ſetzte verſchiedenes daran aus und hat ihn ja auch nicht komponiert. In dem
Briefwechſel mit dem Dichter leſen wir: „Und nun durchaus Zauberei — ich
kann es nicht leugnen, daß ich wider dieſe Art überhaupt eingenommen bin,
wodurch Gefühl und Verſtand fo oft ſchlummern müſſen.“ !“) Gefühl und
Verſtand ſollen nach ſeiner Meinung beim Kunſtgenuß nicht ſchlummern, es
handelt ſich dabei nicht um einen Opiumrauſch, ſondern um das bewußte Auf⸗
nehmen und Verarbeiten von Ideen und Gefühlen. So merkwürdig es klingt,
17) Ausgeführt bei Ad. Sandberger, Beethovens Fe zu den führenden Geiſtern feiner Zeit
in Philoſophie und Dichtung. Beethoven⸗Aufſätze 1924
18) Muſikaliſche Charakterköpfe, Bd. 3, Stuttgart 1878, S. 26.
10) Thayer a. a. O. III, S. 69.
292 Karl Nef
Beethoven ift im Grunde Rationaliſt, und als ſolcher hat er einen Widerwillen
gegen die Darſtellung des Wunderbaren und Überſinnlichen, wohlgemerkt, ſo
lange es ſich nicht um religiöfe Gefühle handelt 2%. Es wäre ihm unmöglich
geweſen, den „Freiſchütz“ oder den „Oberon“ zu komponieren, und wenn er ſich
mit der Natur auseinanderſetzt, ſo zieht er nicht wie Schumann mit dem Byron⸗
ſchen Manfred in die unwirtliche Gebirgswelt voller Zauberſpuk, ſondern ſchil⸗
dert die Freuden des Landlebens, wie er ſie in lieblicher Gegend ſelbſt emp⸗
funden, und mit Humor die Landbewohner.
So wenig wie andern großen Künſtlern, wie Goethe, Händel oder Mozart,
war ihm die Darſtellung des Dämoniſchen verſagt; aber deshalb iſt er doch
nicht, ſo wenig wie jene, zu den Romantikern zu zählen. Er wollte einmal eine
Oper Macbeth, deren Stoff Collin für ihn zu bearbeiten begonnen hatte, kom⸗
ponieren; aber er iſt über dürftige Anfänge nicht hinausgekommen. Doch
ſchrieb er, als er mit dieſem Plan ſich trug, das ſogenannte Geiſtertrio D- dur
op. 70 Nr. 1) mit dem unheimlich geſpenſtigen Largo, von dem die Bezeichnung
herrührt. Muß er nun aber, weil er einmal von Shakeſpeareſcher Phantaſtik
ſich anregen ließ, ein Romantiker heißen?
Von ſittlichen Ideen geht er aus; wie die Rhapſoden der Vorzeit die Taten
der Helden, ſo will er hohe Taten ſeiner Zeit in der Kunſt feiern und verherr⸗
lichen. Darum ſchrieb er einen „Fidelio“, das hohe Lied der Gattentreue, und
nicht aus Abneigung gegen die Vokalmuſik, ſondern weil er, in der romantiſchen
Zeit lebend, keinen ſeinen Anſchauungen entſprechenden Text fand, hat er keine
Oper mehr komponiert.
Niemand wird den in den Fußſtapfen Cherubinis wandelnden „Fidelio“ der
Romantik beizählen. Das aus dem Franzöſiſchen überſetzte Textbuch bietet eine
rein menſchliche Handlung, eine Errettungsgeſchichte, wie ſie damals in der
Oper beliebt waren. Davon, daß ſie ſich in Spanien abſpielt, nimmt die Muſik
feine Notiz, im Gegenſatz etwa zu der von ſpaniſchen Klängen erfüllten „Pre-
ziosa“ von C. M. von Weber und zu der geſamten neuern Oper mit ihrer durch
Farben wirkenden Milieuſchilderung.
Als neu erſcheint am Fidelio vielmehr, daß er von der erſten bis zur letzten
Note deutſch iſt, während die „Zauberflöte“ noch durch einige italieniſche Flos⸗
keln verunziert wird. Mit dieſer und dem fpäter nachfolgenden „Freiſchütz“
bildet er einen Grundpfeiler der neu aufblühenden deutſchen Oper 21).
C. M. von Weber, der in Prag den „Fidelio“ mit großer Liebe zur Auffüh⸗
rung brachte, iſt, wenn es auch nicht unmittelbar auffällt, doch von ihm beein⸗
flußt. Der Verſuch, den Zuſammenhang aufzudecken, ſollte einmal gemacht
werden.
Leichter iſt der Einfluß Beethovens auf die Romantiker in der Inſtrumental⸗
20) Daß die Franzoſen, das rationaliſtiſcheſte aller Völker, dem Miraculeuſen völlig abgeneigt find,
iſt bekannt, ausgeführt bei Hubert Matthey, Essai sur le merveilleux dans la littérature
francaise. Paris Payot 1915.
21) Von Ed. Hanslick mit Recht und entgegen der vielfachen Unterſchätzung feiner biftorifhen Be⸗
deutung betont in „Die moderne Oper“, Berlin 1892, S. 63 ff.
Beethovens geſchichtliche Stellung 293
muſik nachzuweiſen. Zu Karl Holz hat er einmal geſagt, heutzutage müſſe in
die Inſtrumentalmuſik ein neues, „ein wirklich poetiſches Moment“ 22) kommen.
Wie ſpäter alle Romantiker ging er von poetiſchen Ideen aus, was ihn aber
von jenen unterſcheidet, iſt, daß er ſie der Wirklichkeit des Lebens und ſeiner
Zeit entnimmt, während jene ſie mit Vorzug im Geiſterreich der Phantaſie, in
der Vergangenheit und in fremden Ländern ſuchten. Naheliegende Beiſpiele ſind
die Klavierſonate „Les Adieux“, die nach Beethovens Zeugnis einem Abſchied
von dem Erzherzog Rudolf ihre Entſtehung verdankt, die auf Napoleon geſchrie⸗
bene Eroica, die Neunte. Das bewußte Veranſchaulichen von Ideen führte zu
einer folgenſchweren Neuerung in der Inſtrumentation. Wenn Haydn oder
Mozart einmal etwas Beſonderes vorſchreiben, vier Hörner zum Beiſpiel, ſo
tun ſie es, weil dieſe zufällig gerade vorhanden, aus Freude an ihrem Klang,
aber nicht um etwas Beſonderes damit auszudrücken. Ganz anders Beethoven,
wenn er in der Fünften die Janitſcharenmuſik herbeizieht, ſo geſchieht es, um
den Siegesjubel voll zu machen, wenn er in der Paſtorale die Violoncelli teilt,
ſo ſoll dies das Murmeln des Baches charakteriſieren, dort, wo er in der Eroica
drei, in der Neunten vier Hörner verlangt, ſoll die Größe der poetiſchen Inten⸗
tionen ausgedrückt werden. Auf dieſe Weiſe wurde er der Begründer der
modernen Inſtrumentation. Als Wahrheitsſucher ging er bis an die Grenzen,
ruhte er nicht, bis er den entſprechenden Ausdruck gefunden hatte und wurde
ſo Realiſt, ja, er tat den Schritt bis zum Naturalismus. Daß ihm auch hier
Gefolgſchaft geleiſtet wurde, von Berlioz bis zu den Modernſten, braucht nicht
ausgeführt zu werden. Nur ſind die Vorausſetzungen meiſt verſchieden. Wenn
Beethoven am Schluß der Neunten den Freudenjubel der ganzen Menſchheit
darſtellen will, an dem jeder, auch der letzte Mann im Volke teilnehmen ſoll, ſo
weiß er ſich nicht anders zu helfen, als dadurch, daß er alle Mittel heranzieht,
die im Leben der Menge zum Freudenausbruch dienen. Anders Berlioz, wenn
er im Hinrichtungsmarſch der phantaſtiſchen Sinfonie die johlende Menge dar⸗
ſtellt. Das iſt nur ein pittoreskes Bild im Zuſammenhang mit dem Programm,
aber nicht der Ausdruck eines der Idee entſpringenden Gefühls.
Nicht nur in der Geſchichte der Muſik, ſondern auch in der Geſchichte der
Muſiker nimmt Beethoven eine beſondere Stellung ein. Dieſe iſt noch zu ſchrei⸗
ben, ſie wird einen lehrreichen Beitrag zur Geſchichte der Geſellſchaft bilden.
Bis in die Neuzeit hinein hat ſich ein Reſt der mittelalterlichen Anſchauung
erhalten, der Muſiker gehöre zum fahrenden Volk. Das ariſtokratiſche 18. Jahr⸗
hundert wandelte dieſe Anſchauung dahin um, daß es die Muſikerkaſte dem
Bedientenſtand zuwies. Noch Joſeph Haydn wartete ſeinem Herrn, dem Fürſten
Eſterhazy, als Hausoffizier auf, trug eine blauſeidene Uniform und holte ſich
jeden Morgen beim Lever den Tagesbefehl. Noch der in Wien neben Beethoven
wirkende Komponiſt Franz Krommer bekleidete die Stelle eines kaiſerlichen
Kammertürhüters. Wie anders unſer Meiſter, der erklärte, der Adel des Geiſtes
ſei mehr wert als der der Geburt, und den Vornehmen im Verkehr keinerlei Vor⸗
22) Thayer a. a. O. IV, S. 76.
294 Karl Nef
rechte zugeſtand. Selbſt hohen und höchſten Fürſtlichkeiten gegenüber benahm
er ſich als ein Ebenbürtiger 25); fein Beiſpiel hat viel dazu beigetragen, dem
Muſikerſtand die heutige ſoziale Stellung zu verſchaffen.
Für den ſchaffenden Künſtler forderte er nicht nur Gleichberechtigung, ſondern
auch Freiheit und materielle Unabhängigkeit. Der Zug zur Ungebundenheit lag
damals allerdings in der Luft, und die Romantiker haben ihm reichlich ſeinen
Lauf gelaſſen. Wie eine Karikatur der Erſcheinung Beethovens nimmt ſich der
Thüringer Ludwig Boehner aus, der E. Th. A. Hoffmann als Vorbild für den
Kapellmeiſter Kreisler gedient haben ſoll. Ohne das Genie und ohne die ſittliche
Kraft Beethovens hielt er den Gefahren des ungebundenen Daſeins nicht ſtand,
verfiel wieder dem Vagantentum und verkam. Die ſittliche Größe unſeres Mei⸗
ſters offenbart ſich auch darin, daß er, ohne je eine Stellung zu bekleiden, ohne je
unter irgend welchem Zwang zu ſtehen, nicht erlahmte, bis an ſein Lebensende
unentwegt fleißig war und immer höhern und höheren Zielen zuſtrebte.
Auch darin ſtellt Beethoven in der Muſikgeſchichte einen Wendepunkt dar, daß
er nicht mehr, wie alle ſeine Vorgänger, bis zu Haydn und Mozart, auf Be⸗
ſtellung ſchrieb, ſondern frei, nach ſeinem Willen ſich der Kompoſition hingab.
Für ihn war es ein Glück, es war es vielleicht auch für die nachfolgenden Ro⸗
mantiker, aber dieſe Neuregelung der Verhältniſſe hat es doch nach ſich gezogen,
daß heute die Komponiſten Mühe haben, ihre Werke zur Aufführung zu bringen,
während man früher ſolche beſtellte und immer und immer wieder neue haben
wollte. Heute fängt man wieder, wie in der bildenden Kunſt, ſo auch in der
Muſik an, einzuſehen, daß es für den Künſtler nicht entwürdigend iſt, einen Auf⸗
trag auszuführen. Doch darüber eingehender zu handeln iſt hier nicht der Ort.
Ein Blick ſei hingegen noch geworfen auf Beethovens internationale Stellung.
Bis in ſeine Jugendjahre, bis zu Haydn und Mozart herrſchte die italieniſche
Muſik als Weltmacht. Selbſtändig behaupteten ſich neben ihr nur die franzö-
ſiſche Oper in Paris und während der kurzen Zeit von Händels dortigem Wirken,
das engliſche Oratorium in London. Seb. Bachs kompoſitoriſches Schaffen kam
zu ſeiner Zeit in der großen Muſikwelt nicht zur Geltung, erſt im Lauf des
19. Jahrhunderts wurde es bekannt. Wohl gab es große, ja führende deutſche
Meiſter, aber ſie komponierten italieniſch, wie Haſſe, engliſch wie Händel, fran⸗
zöſiſch wie Gluck; mag man auch noch ſo viele deutſche Züge in ihren Werken
entdecken, der Stilgattung nach gehören ſie den Schulen der fremden Nationen
an. Mit dem Aufkommen der Inſtrumentalmuſik wendet ſich das Blatt. Schon
die Sinfonien der Mannheimer Schule, vorab diejenigen ihres Führers Joh.
Stamitz, wurden viel in Paris geſpielt. Haydn wurde dort und in London
populär und aufs höchſte gefeiert. Beethovens Sinfonie und Sonaten, die
Quartette und die Kammermuſik erhoben vollends die deutſche Muſik zur Welt⸗
macht. Weil Italien ſich ihnen verſchloß, verlor es ſeine Hegemonie und kam
ins Hintertreffen. Es darf ſogar behauptet werden, daß das als unmuſikaliſch
23) Draſtiſch der bekannte Brief an Bettina von Arnim, der zwar von ihr verfaßt iſt, aber doch
auf Tatſachen fußen muß. Genauer Abdruck bei Marx⸗Behnke, L. von Beethoven. 5. Aufl. des urſpr.
Marxſchen Buches. II, S. 304, Berlin 1901.
Beethovens geſchichtliche Stellung 295
verſchriene Paris zur muſikaliſchen Hauptſtadt Europas wurde, ſei nicht nur in
ſeiner Oper begründet geweſen, ſondern auch durch den Umſtand befördert
worden, daß es die Bedeutung der Beethovenſchen Sinfonien erkannte. Es hat
ihnen in den von Habenek geleiteten Konſervatoriumskonzerten eine Pflege⸗
ſtätte begründet, wie es, nach dem Urteil Richard Wagners, eine entſprechende
in Deutſchland nicht gab. Dem Anſcheine nach hat es hier etwas länger gedauert,
bis man die beſonders hohe Anforderungen ſtellenden Schöpfungen in ihrer
ganzen Schönheit wiederzugeben vermochte. Viel haben ſie zur Ausbildung und
Entwicklung der Berufsorcheſter, die es heute in jeder größeren Stadt gibt, bei⸗
getragen, und die allgemeine große Liebe zur Inſtrumentalmuſik reifen laſſen.
Bis auf den heutigen Tag bilden ſie den Kern des Repertoires; man denke ſie
ſich weg, und man wird ſich ſagen, trotz all dem Schönen, das die Romantiker
gebracht, hätten die Konzerte einen ſchweren Stand gehabt und kaum zu der
heutigen feſten Inſtitution ſich entwickeln können. Wenn jetzt die Jugend an⸗
fängt, ſich von ihnen abzuwenden, ſo ſagt man ſich mit Sorge, ein Erſatz dafür
iſt noch nicht geſchaffen. Auch das Größte iſt dem Wandel der Zeiten unter⸗
worfen, den Geſchmackswechſel wird man nicht verhindern können. Unter dem
Einfluß von Bach hat ſich eine neue Stilrichtung entwickelt, die ja auch Beet⸗
hoven ſchon in feinen letzten Schöpfungen, feine Zeit überflügelnd, vorbereitet
hat. Sie wird ſich auswirken und ausleben müſſen.
An Beethovens Größe ändert es nichts, wenn ſeine Werke vorübergehend
etwas in den Hintergrund treten. Ihr künſtleriſcher Gehalt, wie ihre ethiſche
Kraft bleiben unverloren, ſie werden ſich ſtets wieder bewähren, wenn die Kunſt
der Erneuerung bedarf, und Beethoven hat es ſelbſt auf dem letzten Krankenlager,
da die Wiener allzu enthuſiaſtiſch Roſſini zujubelten, mit berechtigtem Stolz
ausgeſprochen: „Den Platz in der Kunſtgeſchichte können ſie mir doch nicht
nehmen.“ 2%)
24) Thayer a. a. O. V, S. 480.
Forſchungsberichte.
Hebbel ⸗Eiteratur.
Sommerfeld, Martin, Hebbel und Goethe. Studien zur Geſchichte des Klaſſizismus im
neunzehnten Jahrhundert. Verlag von Friedrich Cohen in Bonn. 1923.
Die Arbeit umfaßt drei Hauptteile, die von einer Einführung und einem Nachwort um⸗
rahmt find; der dritte, „Analyſe und Kritik der ‚Neuen Klaſſik Hebbels“, in fünf Kapiteln
bildet den wichtigſten Teil des Buches.
In feiner „Einführung“ geht S. davon aus, daß Goethe ſehr tief im 18. Jahr-
hundert „verwurzelt“ war, während Hebbel „eine ausgeſprochen moderniſtiſche Natur“ ſei, die
als „autochthone Kraft“ nicht zum Nachfahren, aber auch nicht zum ſelbſtherrlichen Schöpfer
tauge. Der formale Grundzug von Hebbels Weſen als einer „im tiefſten oppoſitionellen Na⸗
tur“ kompliziere ſeine Stellung ungemein: er opponierte zwar gegen die neue bürgerliche
Schicht, hatte aber mit den ſogenannten Jungdeutſchen die Anmaßung einer „Neuen Klaſſik“
gemein, die die Herrſchaft der Goetheſchen ablöſen ſollte. Noch ſtärker aber als der der Zeit-
alter tritt zwiſchen Hebbel und Goethe der Gegenſatz der Individualitäten, der von außen her
„keine Ausgleichung, kaum einen Vergleich“ zu ermöglichen ſcheint. Daraus ſtellt ſich dann
für S. das eigentliche Problem in deutlichen Umriſſen heraus: zunächſt von der ſubjek⸗
tiven Seite. Und dieſem „inneren Wege, wenn er ſich auch in äußeren Etappen abzeichnete“,
ſei die Forſchung bisher noch nicht gefolgt, S. ſelbſt gedenkt alſo einen noch nicht begangenen
Weg auf dieſem Gebiete einzuſchlagen, was ſein Buch auch zu beſtätigen ſcheint. Der zweite
Teil der Frage iſt das objektiv geſtellte Problem: Das objektive Verhältnis Hebbels zu
Goethe kann für S. aber nur auf Grund des ſubjektiven Entwicklungsprozeſſes erörtert werden,
und dieſer grundſätzlichen Beſinnung habe man ſich bisher leider entſchlagen und ſich ſo um das
Ergebnis feiner Bemühungen gebracht. So glaubt S. dem unter Hinweis auf Fries’ Studien
(in denen gewiß manches geſucht und anfechtbar iſt) die Berechtigung der Annahme einer „Be⸗
einfluſſung“ Hebbels durch Goethe ſchon hier faſt gänzlich leugnen zu müſſen: „mit ſolch allzu
primitiver Kauſalität“ dürfe man einem Hebbel nicht gegenübertreten. Ich möchte dieſem Satz
nur mit Einſchränkung beipflichten. Denn dieſe Behauptung ſcheint mir ſchon mit der Tage⸗
buchſtelle T. 552 (vgl. unten S. 81) nicht ganz vereinbar, und ich habe den Eindruck, als ob
S. den Begriff „Stil“ hier zu eng aufgefaßt habe. Warum ſollte man ihn nicht auf Hebbels
ganze ſchriftſtelleriſche Tätigkeit beziehen dürfen, wo er doch im Zuſammenhang damit Goethe
als einen Schriftſteller erwähnt, „der auf ihn gewirkt“? Von bewußten Entlehnungen kann und
ſoll dabei natürlich keine Rede ſein. „Hebbel hat im Augenblick des Schaffens, des Dichtens
keine Ahnung von den fremden Einflüſſen, denen er unterworfen iſt, was Fries allerdings
nirgends betont hat. Die Dichtung eines anderen, die auf ihn wirkt, iſt dem direkten Erlebnis
zu vergleichen, das ‚in die Phantaſie des Dichters einen Keim gelegt, welchen er dann bebrü-
tete ). Ich brauche mich alſo durchaus nicht „einer bedenkenloſen und eilfertigen Gleich⸗
ſetzung von Eindruck und Einfluß, von Ahnlichkeit und Ubereinſtimmung, von äußerer Be⸗
rührung und innerer Richtung“ (S. 17) ſchuldig zu machen, wenn ich äußeren Ähnlichkeiten
doch etwas mehr Wert beilegen zu ſollen glaube. Hat doch ein Anklang an Goethe in der
„Maria Magdalena“ ſogar der Textkritik gute Dienſte geleiſtet! 2).
Der er ſte Teil des Buches behandelt die „Epochen der inneren Kultur: Romantiſche
Elemente und ihre Überwindung in Hebbels Entwicklungsjahren“. S. geht von T. 136 (Januar
1836) aus, die uns von der erſten Bekanntſchaft Hebbels mit Uhland berichtet ?), und will fie
1) A. M. Wagner, „Das Drama Fr. Hebbels“, S. 2.
2) A. Sauer, Euph. XI, 362; vgl. A. M. Wagner, a. a. O. S. 144ſ½½.
3) Tibal, Hebbel et ses œuvres de 1813 à 1845, S. 321 ff., zeigt, daß H. wohl mit Uhland
geiſtesverwandt ſei; ähnlich J. Collin in den Grenzboten 1894.
Hebbel⸗Literatur 297
— BJ FF > J J JJ — =— = Ja J JJ € ———,.
nur als eine „Interpretation nach den Bedürfniſſen des Rückſchauenden“ angeſehen wiſſen *).
Wenn S. als Wirkung des Uhland⸗Erlebniſſes auf Hebbel nur ein „erſtes Erwachen des
dumpf nachahmenden Dilettanten“ ſieht, ſo ſcheint mir dieſe Behauptung ſchon gewagt. Als
noch gewagter aber muß es bezeichnet werden, wenn er (ſich auf Bw. I, 33, nicht 32, ſtützend)
ſogar gegen Hebbel ſelbſt des Dichters Eintritt in Hamburg (März 1835) „viel tiefer grei⸗
fend“ nennt als die Epoche von 1830 / 1. Mit Recht bezeichnet S. das Tagebuch, das Hebbel
in dieſer Zeit anlegte, als „das eigentliche Gefäß für die Aufgaben und Löſungen ſeiner inneren
Entwicklung“ und als „erſten Schritt zur Bildung ſeiner menſchlichen und künſtleriſchen Indi⸗
vidualität“, nimmt aber meiner Anſicht nach den erſten dichteriſchen Verſuchen Hebbels doch
allzuviel von ihrer Bedeutung. Wenn man da z. B. nach Ablehnung von A. Scheunerts Ver⸗
ſuch, aus den (von S. als „durchaus zufällig“ bezeichneten) Äußerungen ein ſyſtematiſches Bild
der Gedankenwelt des jungen Hebbel zu abſtrahieren, eine ſchroffe Abweiſung auch von Zinckes
Anſicht bezüglich eines Fortſchreitens in der allgemein geiſtigen wie in der techniſch⸗formalen
Entwicklung Hebbels lieſt °), fo iſt man ein wenig überraſcht, da S. ſelbſt auf S. 124 von
„geiſtig⸗dichteriſcher Entwicklung im Sinne von Fortſchritten“ ſpricht. Die folgende Unter⸗
ſuchung über die tiefe Disharmonie im Weſen des jungen Hebbel ſtützt ſich im großen ganzen
nur auf Tagebuch⸗ und Briefſtellen unter Ubergehung der lyriſchen Erzeugniſſe dieſer Zeit.
Der „Grübler“ Hebbel wird in ſeinem reizbaren, leidenſchaftlichen Triebe zum Ungewiſſen,
Uberſinnlichen dargeſtellt, und wir ſehen, wie ihn fein ſeeliſcher Zuſtand für alle romantiſchen
Probleme und Motive diſponieren mußte. Bruns Werk über Hebbel, das S. in der deutſchen
Faſſung vorlag, wird merkwürdigerweiſe ſehr ſelten herangezogen. Und wenn auch dieſes erſte
Kapitel das eigentliche Thema Hebbel⸗Goethe noch kaum berührt, vermiſſe ich doch eine Er⸗
wähnung, daß auch Goethe, wenigſtens zu Zeiten, der romantiſchen Weltanſchauung ſehr nahe
geſtanden hat!). Erlebnismomente und Spekulation gehen bei Hebbel in dieſer Zeit ineinander
über; auch hier ſcheinen S. die Beziehungen zu Goethe entweder nicht erwähnenswert geweſen
oder ganz entgangen zu fein ).
Der Gedanke der Selbſtbewegung des Ich bei Hebbel führt S. dann auf den Begriff der
romantiſchen Ironie, auf den Dualismus Ironie und Humor. Wie darin, ſo iſt auch in dem
Satze: „Sinnlichkeit iſt Symbolik unſtillbarer geiſtiger Genüſſe“ (T. 907) nach S. ein ro⸗
mantiſcher Gedankengang zu erkennen, die geheime Hoffnung der Romantiker, „durch richtung⸗
gebende Gemütsbewegungen die Wirklichkeit zu beeinfluſſen“, wobei auch Novalis „magiſcher
Idealismus“ mitgeſtreift wird ). Auch die romantiſche Auffaſſung des Vitalitätsproblems
bei Hebbel führt den Verfaſſer zu einem Vergleich mit ähnlichen Gedanken bei Novalis.
In einem weiteren Abſchnitt, „Romantiſche Aſthetik und Poetik“, zeigt S. dann, wie ſich
die Not von Hebbels innerem und äußerem Werden in der ſpekulativen Begründung des
Dichter⸗Berufs widerspiegelt. Nicht einmal die Theorie des Unbewußten (wie bei Goethe, der
nicht erwähnt wird!) fehlt. Der Antike, in der das Plaſtiſche eine große Rolle ſpielte, ſteht
Hebbel ferner als Goethe. Der wichtige Begriff der „novantiken Kunſt“, der S. 249 noch
behandelt wird, findet ſchon hier beiläufige Erwähnung. Immer wieder zeigt ſich in Hebbels
kunſttheoretiſcher Reflexion der Gedanke der „unendlichen Steigerung“, der ganz das Ge⸗
präge der „romantiſchen progreſſiven Univerſalpoeſie“ aufweiſt). Für Hebbel iſt die
) Vgl. unten S. 77, wo der Hinweis auf T. 5983 (15. 11. 1862!) mir nicht ganz verſtändlich iſt.
„Hier“ muß man entſchieden auf dieſe Tagebuchſtelle beziehen, die doch Hebbel erſt am Ende ſeines
Lebens niedergeſchrieben hat.
6) A. Scheunert, „Der junge Hebbel“; Paul Zincke, „Hebbels philoſophiſche Jugendlyrik“,
Prager deutſche Studien XI, 1908.
6) Vgl. Collin, Grenzboten 1894, S. 144; Sickel, S. 28/9; Bielſchowsky, „Goethe“ II, 470;
auch Heine, Werke (1876) VI, 67 - 70.
7) Vgl. Sickel S. 53; (T. 3681).
s) Vgl. Stefansky, „Das Weſen der deutſchen Romantik“, S. 152 ff., 224 f., 270; Biel-
ſchowsky, a. a. O. Vorrede zum erſten Bande.
o) Ein Hinweis auf die bei Hebbel daraus reſultierende Interpretation der Goetheſchen Kunſt
(vgl. Sommerfeld S. 73 ff.) und auf die Ausführungen Bruns (S. 292 ff.) und Eckelmanns
(„Schillers Einfluß auf die Jugenddramen Hebbels“, S. 15) ſei hier eingeflochten.
298 Forſchungsberichte
vollendetſte äſthetiſche Erſcheinungsform die komiſche Dichtung, der dann auch in dieſer Zeit
in der Hauptſache ſein künſtleriſcher Ehrgeiz gilt (Schnock!). Der tragiſche Aſpekt und da⸗
mit die Möglichkeit dramatiſchen Ausdrucks fehlt noch gänzlich.
Wir kommen (S. 48 ff.) zu den Kriſen und Wandlungen Hebbels. S. zeigt an deſſen No⸗
velle „Matteo“ die jetzt unaufhaltſam durchbrechende Richtung, „die notwendig mit einer Ab⸗
kehr von der Epoche romantiſcher Spekulation und Kunſtübung verbunden war“; zum erſten⸗
mal findet hier die Verſöhnung im Diesſeitigen ſtatt. S. meint jedoch, Hebbel habe noch bittere
Jahre hindurch um ſolche Verſöhnung zu kämpfen gehabt, dies könne alſo nur als Vorklang
gelten. Auch der Gedanke der Notwendigkeit ſpielt in dieſer kriſenhaften Entwicklung eine
große Rolle. Den Verſuch Hebbels, „gegen die empiriſche und tranſzendentale Reizbarkeit
anzukämpfen“, gefährdet die Erinnerung an die verlorene Jugend immer wieder. Wir machen
ſeine Wandlungen bis zum Ende des Pariſer Aufenthalts (Oktober 1844) mit durch und ſehen
ſchließlich, wie ſich ſein Ziel völlig geändert hat. Vielfach kündigt ſich eine poſitive Wendung
zur Diesſeitigkeit an, und wenn man von feinen Schwankungen zwiſchen Iſoliertheit und ge ·
ſelligem Bedürfnis lieſt, wird man unwillkürlich daran erinnert, daß auch Goethe ähnliche Zu⸗
ſtände durchmachte. Auch Hebbels Stellung zur Muſik und zur bildenden Kunſt änderte ſich
damals. In Paris bemerken wir eine ungleich vielſeitigere Empfänglichkeit an ihm; er ſieht
ein, daß man als reiferer Menſch vorwiegend durch das Medium der Natur (früher hatte die
Welt zu ihm nur durch die Kunſt ein Organ; vgl. unten S. 1471) ein Verhältnis zur Welt
gewinne (Goethe !). Die Forderung der künſtleriſchen Form wird immer mehr betont und der
Widerſpruch gegen die Auffaſſung von früher, die Kunſt ſolle das Werdende, nicht das Fertige
darſtellen, laut, wie auch der Auffaſſung von der Progreſſivpoeſie abgeſagt wird (T. 3711 ein
Verdikt gegen die Romantik!) 10). Das Pariſer „Vorwort zu Maria Magdalena“ (1844),
das hervorragendſte Merkmal von Hebbels Sturm- und Drangzeit, bezeichnet S. als „den
gewichtigſten Einſatz in der theoretiſchen Fundamentierung ſeiner Tragödie“ und „das Credo
ſeines tragiſchen Peſſimismus“.
Der zweite Teil behandelt (vorwiegend in chronologiſcher Anordnung) „Aufnahme und
Kritik Goethes und ſeiner Werke durch Hebbel“. Nur einiges daraus ſei hier kurz erwähnt:
Gleich zu Anfang (S. 69) heißt es, Hebbels künſtleriſcher Bildungstrieb habe ſich in der
Weſſelburner Zeit als Nachahmungstrieb geäußert; in der Einführung (S. 16) ſagte S.:
„So unzuläſſig es erſcheinen muß, nach Hebbels Vorgang die Möglichkeit von geiſtigen und
künſtleriſchen Beeinfluſſungen ſchlechthin zu leugnen, ſo notwendig iſt es aber bei einer Natur
wie Hebbel zu betonen, daß nicht jeder noch ſo ſtarke Eindruck ohne weiteres einen Einfluß be⸗
deutet“, und S. 69 fährt S. nach oben beſagtem Satze fort: „Um ſo bemerkenswerter iſt, daß
ſich von jener Lektüre in den uns erhaltenen Stücken ſeiner Weſſelburner Produktion keine
Spuren finden.“ Worin ſich aber dann überhaupt noch beſagter „Nachahmungstrieb“ zeigen
ſoll, will mir nicht eingehen. Leider verbietet der Raum, hier ſolche Spuren aufzuzeigen, einige
Hinweiſe darauf müſſen alſo genügen 11).
Für die von S. auf S. 73 75 behandelte Tagebuchſtelle 114 ſei betreffs des Satzes: „.
daß Hebbel ſich auf Goethes Unfähigkeit zur Anlage eines Trauerſpiels als auf eine feſtſtehende
Tatſache beruft, ... macht feinen Anſchluß an eine beſtimmte literariſche Außerung über dieſen
Punkt wahrſcheinlich“, nur auf Goethes Brief an Schiller vom 9. Dezember 1797 (vgl.
Chamberlain, „Goethe“, S. 604 /5; Ende des 5. Kapitels „Der Dichter“) hingewieſen, wo
Verfaſſer die Beſtätigung ſeiner Vermutung hätte finden können. Dem Geſamturteil, das
S. dann S. 81/2 über T. 552 fällt, kann ich mich nicht anſchließen, da mir dabei zuviel
zwiſchen den Zeilen geleſen zu ſein ſcheint und es ſich wohl auch ſchwerlich mit dem S. 80
(unten und Anm.) Geſagten vereinbaren läßt.
Alles, was S. im weiteren Verlauf dieſes Teils feiner Abhandlung beibringt, zeigt in Aber ⸗
einſtimmung mit früheren Arbeiten anderer Forſcher nur wieder von neuem, wie verſchieden
10) Hier ſei auf Bruns Ausführungen (S. 563 ff.) mit hingewieſen; auch, was Heine a. a. O.
über Goethe ſagt, ſcheint mir nicht ganz bedeutunglos.
11) Brun a. a. O.: S. 198, 212-214, 224, 227, 230, 240 / 1, 247, 236 240, 243, 254,
377 380 und anderweit.
Hebbel⸗Literatur 299
und ſchwankend Hebbels Urteile über Goethe und ſein Werk in ſeiner Heidelberger, Münchner
und Hamburger Zeit (April 1836 bis November 1842) waren. Mit Recht wird betont, daß
Hebbel immer, vor allem in der ganzen Pariſer Dramaturgie, den poſitiven Teil ſeiner Be⸗
hauptung (daß Goethe eine Syntheſe zwiſchen dem Drama der Alten und dem Shake⸗
ſpeareſchen Drama verſucht habe) nicht im geringſten zu begründen für nötig hält, um ſo be⸗
ſtimmter aber den negativen (daß er ſie nicht zuſtande gebracht habe). Im Anſchluß an Hebbels
Bedürfnis „nach einer konſtruktiven Ausbeutung des Goetheſchen Werkes“ ſehen wir auch die
Antitheſe zwiſchen dem Goetheſchen und dem eigenen Schönheitsbegriff fi entwickeln 12).
Mit dem Pariſer Vorwort hatte Hebbel ſeine Wanderjahre abgeſchloſſen. Schon hier auf
ſein Wort von dem „Weg der Judith zur Iphigenie“, auf dem er ſich befinde, Bezug zu
nehmen, will mir etwas verfrüht erſcheinen; mindeſtens aber wird man hier (S. 103, 9. Zeile
von unten) an dem unklaren Begriffe „jetzt“ Anſtoß nehmen. Bedeutſam in dieſer Zeit
(T. 3807: 20. November 1846) ift Hebbels Beurteilung der Goetheſchen „Stella“, die be⸗
treffs feiner Stellung zur „Emanzipation der Frau“ im großen ganzen auf dasſelbe hinaus⸗
läuft, was er ſchon früher gegen die „Wahlverwandtſchaften“ einzuwenden gehabt hatte. Für
Hebbels Jahr in Italien weiſt S. (S. 105 ff.) auf die Einwirkung von Goethes „Italieni⸗
ſcher Reiſe“ hin, wenn auch für Hebbel der Aufenthalt in Italien nicht das ſein konnte, was
er für Goethe war. Nur zwei Elemente, „das ſinnliche der Natur und das geiſtige der
Sprache“, wurden für Hebbel zum Medium, durch das Italien zu ihm ſprach, er wollte dort
„genießend ſich läutern“, und bezeichnenderweiſe taucht wieder der Gedanke des Schönen als
„Reſultat des Kampfes“ auf und tritt zu dem Verſöhnlichen in der Tragödie in Beziehung.
Trotz der damals ſtark überwiegenden Beſchäftigung Hebbels mit Goethes Leben und Werken
ſcheint er doch Goethes Bild nicht im ganzen in ſich getragen zu haben, zeigte aber ein unver⸗
kennbares Bedürfnis nach gerechter Beurteilung. Goethe iſt für ihn der Hort jener ewigen
und ewig gültigen Geſetze geworden, und bald weiſt Hebbel ihm aus der hiſtoriſchen Perſpektive
überragende Bedeutung für die Gegenwart zu, ohne die eigene Individualität preiszugeben.
Im dritten Teile („Analyſe und Kritik der Neuen Klaſſik Hebbels“) ſtellt S. in
einem erſten Kapitel („Selbſtſchau und Lebensgeſtaltung“) Hebbels „Aufzeichnungen aus
meinem Leben“ Goethes „Dichtung und Wahrheit“ gegenüber (S. 116 146). Beſonders iſt
es hier die enge Beziehung zwiſchen „Beichtſtuhl und Autobiographie“, die Verfaſſer bei
Hebbel wie bei Goethe wiederfindet, während ſich Hebbels Stellung zur Vergangenheit (Ge⸗
fühl des Meides!) von der Goethes für ihn weſentlich unterſcheidet. Das vom Dichter T. 2516
über Lebens darſtellungen Geſagte (S. 125 und 127!) ſpricht S. für alle derartige Nieder⸗
ſchriften Hebbels als verbindlich an (das „Beſchwichtigende und Ausgleichende“ !). Von dem,
was S. ſonſt (S. 130 143) beibringt, ſei nur hervorgehoben, daß bei Behandlung der Nai⸗
vität (S. 131: Bw. 2, 200, nicht 203!) und ihrer Abgrenzung vom Zuſtande vollkommener
Dumpfheit (T. 42721) Goethe nicht erwähnt wird. Von den drei einmal von Goethe aufge⸗
ſtellten Epochen des Lebens jedes bedeutenden Menſchen wird von Hebbel nur die der erſten
Bildung behandelt. Merkwürdigerweiſe führt S. hier (S. 139) eine ganze Reihe an Goethe
anklingende Redewendungen auf. Die Kompoſition des Ganzen in ihrer fragmentariſchen Ge⸗
ſtalt entſpricht nach S. nicht der von Goethes „Dichtung und Wahrheit“.
Im zweiten Kapitel „Das Künſtlerproblem“ behandelt S., von T. 417 ausgehend (vgl.
S. 61)), teils vergleichend teils gegenüberſtellend Hebbels „Michel Angelo“ und „Der Dich-
ter“ und Goethes „Taſſo“ (S. 147 — 172). Trotzdem, daß Hebbel ſelbſt (Bw. IV, 292) die
zwei Akte des „Michel Angelo“ neben Goethes „Taſſo“ ftellte !“), verweiſt S. (ſchiefe Beur⸗
teilung des Werkes durch den Dichter felbft!) es mehr in die Nachbarſchaft des jungen Goethe
und verſucht nachzuweiſen, daß es ſich bei Hebbels ſpäterem Standpunkte nur um das Be⸗
mühen handelt, „Die gattungsmäßig⸗typiſche Repräſentanz nachträglich zu einer ſymboliſch⸗
menſchlichen zu erheben“. Eher als „Michel Angelo“ könnte, wie S. meint, das Fragment
13) Vgl. Brun a. a. > S. 429, 585/6, 607, Sn 651/2, 655, 725-727, 764; Möller,
„Hebbel als Lyriker“, S. 21 und 40; Sheen, „D „D. j. H.“, S. 176 ff.; Sommerfeld S. 226
und, 2c Hinz I. 3357 und B, IV, 4
9 Wit. E . 258, Anm. 1.
300 Forſchungsberichte
„der Dichter“ nach Grundriß, Sprache und Entſtehungsgeſchichte die Nachbarſchaft des
„Taſſo“ vertragen. Empfehlend hingewieſen ſei ſchließlich noch auf die Ausführungen des
Verfaſſers über das „Antonio⸗Motiv“ und die vergleichende Entſtehungsgeſchichte des „Michel
Angelo“ und des „Taſſo“!
Bei Behandlung der „Lyrik“ Hebbels hebt S. i in einem weiteren Kapitel zunächſt mit Recht
hervor, daß ſie nur ein „peripheres Schaffensgebiet“ des Dichters geweſen und deshalb weſent⸗
lich anders als die Goetheſche zu beurteilen ſei; auch die Epigrammatik ſei in ihren pſycho⸗
logiſchen Motiven mit der Goethes kaum zu vergleichen. Stoffliche und formale Parallelen
beſagen für S., wie wiederum betont wird, um ſo weniger, „als das Ganze ſchlechthin inkom⸗
menſurabel ſei“ 1“). Im Anſchluß an Hebbels Anthiteſe „Reflexionsdichtung“ und „Natur⸗
dichtung“ verſucht Verfaſſer nachzuweiſen, daß der Dichter von vornherein ſeinen eigenen Weg
ging, und zu zeigen, wie er ſchließlich zu dem „harmoniſchen Verhältnis des ausgeſprochenen
Individuellen zu dem vorausgeſetzten Allgemeinen“ im Uhlandſchen und Goetheſchen Sinne
gelangte 1°). Hebbel hat nie ein Gefühl für das Elementariſch⸗Lyriſche gehabt wie Goethe 10),
und bei ihm findet ſich kein Verſuch, „die unmittelbare Naturnähe, das Gefühl innigſter, un⸗
problematiſcher Verbundenheit von Zuſtand und Gegenſtand lyriſch zu verdichten“; das „leben⸗
dige Gefühl der Zuſtände“ hatte er nur ganz felten 17).
Der Schritt, den Hebbel mit dem Epos „Mutter und Kind“ von der Novelle zum Epos
tat, war nach S. Ausführungen in einem vierten Kapitel (S. 188 — 220) innerlich längft
vorbereitet und das Ergebnis einer Entwicklung von der ſubjektiv⸗ individuellen zur objektiv⸗
univerſellen Kunſtform. Bei der rein novelliſtiſchen Einſtellung feines Erlebens in der Heidel⸗
berger und Münchner Zeit dürfe man nicht an Goethe als vielmehr an die novelliſtiſche Kunſt
Arnims und E. T. A. Hoffmanns denken, wie ſich dem auch ſchematiſche und formale Ein⸗
wirkungen nur von deren Seite aufzeigen laſſen. Im Gegenſatz zu Goethe fehlt Hebbels No⸗
vellen durchaus das retardierende Moment, und er zeigt einen ausgeſprochen romantiſchen
Standpunkt auch in der Interpretation der Goetheſchen Kunſt. Zu Anfang des zweiten Ham⸗
burger Aufenthalts entfremdet ſich Hebbel der maleriſch⸗romantiſchen Novellenkunſt (erſte
Vorrede von 18411), im Novellentypus findet er jetzt den Anſchluß an den Begriff der Goethe
ſchen Novelle. Eine Kunſtübung tritt hervor, deren Ideal die harmoniſche Schönheit darſtellt,
und damit die Abkehr vom romantiſchen Kunſtideal. In Hebbels Geſamtwerk erſcheint die
Novelle als „ein im ganzen einheitlicher Ausdruck ſeiner Heidelberg⸗Münchner Entwicklungs⸗
epoche !. Die ſpäteren Bearbeitungen find nicht als tiefgreifend aufzufaſſen (vgl. „Abfertigung
eines äſthetiſchen Kannegießers“). Die Frage, warum „Mutter und Kind“ ein Epos, und
zwar am wenigſten im Goetheſchen Sinne, wurde, beſchäftigt S. ſodann in längerer Unter⸗
ſuchung. Die Beſchäftigung Hebbels mit dem Nibelungenlied hatte für ſein Epos dieſelbe Be⸗
deutung wie das Studium Homers für das Goetheſche; „Mutter und Kind“ iſt nach S. ein
echt Hebbelſches Pendant zu „Hermann und Dorothea“ (Goethes naive und Hebbels Schön⸗
heit „nach der Diſſonanz“!). Findet S. von der ſubjektiven Seite kaum etwas, worin ſich das
Hebbelſche mit dem Goetheſchen Epos vergleichen ließe, ſo hebt er nach der objektiven Seite
zwar die durchgehende ſtoffliche Ahnlichkeit hervor, meint aber, daß derſelbe gedankliche Gehalt
bei Hebbel auf ganz anderem Wege in das Epos gekommen ſei als bei Goethe. Auch werden
einige grundlegende Unterſchiede aufgezeigt.
Im letzten Kapitel („Zu Hebbels dramatiſcher Entwicklung“, S. 220 — 271) weiſt S. zu⸗
nächſt in langen Ausführungen die von Zinkernagel („Goethe und Hebbel. Eine Antitheſe“
1911) aufgeſtellte Antitheſe zurück. Hebbels Selbſtzeugniſſe der ſpäteren Zeit bezeugen für
S. alle dies eine: nämlich „daß Hebbel in dem Kreis, den er mit Maria Magdalena und Julia
abſchloß, innerlich ‚nichts mehr zu ſuchen habe“; habe Hebbel ja doch ſpäter das Vorwort zur
Maria Magdalena ſtark abgelehnt. Daß dieſes bloß äußerlich erzwungen geweſen ſei, iſt nach
14) Anmerkungsweiſe wird hier das von Möller, Patzak, Werner, Engelhard und Brun Geſagte
als „wenig überzeugend, ja höchſt willkürlich“ zurückgewieſen. Eine nähere Begründung vermißt man.
16) Vgl. auch S. 42, 85, 248; Brun 851-853, 1074.
16) Goethes Begriff der „Gelegenheit“ (XII, 7101 vgl. Möller S. 30; Brun 894, 928.
17) Vgl. Brun S. 316 und 330/1.
Hebbel-⸗Literatur 301
des Verfaſſers Meinung nur eine Selbſttäuſchung Hebbels. Die ganze Entwicklung weiſe
zwar in die Richtung Goetheſcher Anſchauungsweiſe, doch ſei „feſtzuhalten, daß es ſich bei den
Hebbelſchen Intentionen um die notwendige, eigengeſetzliche Feſtigung und Klärung längſt in
ihm wirkſamer, durch Bildung nicht gewonnener ſondern nur gereifter Elemente ſeines Weſens
handelt“; alſo könne von einer Einwirkung Goethes auf Hebbel nicht gut die Rede ſein, höch⸗
ſtens von einer Beſtätigung des eigenen Weges von dort her. Die Tatſache der Annäherung
allerdings (vgl. S. 252 — 256) wird nicht bezweifelt. In den Werken der Reifezeit fand nach
S. die ſubjektive Entwicklungstendenz Hebbels nur ihren objektiv⸗dichteriſchen Ausdruck. —
Uberblickt man ſchließlich Sommerfelds Arbeit in ihrer Geſamtheit, ſo gewinnt man den
Eindruck, daß er im großen ganzen den Einfluß Goethes auf Hebbel mit geringen Einſchrän⸗
kungen leugnet. Ob bei der mir wenigſten mitunter allzu ſubjektiven Einſtellung des Ver⸗
faſſers überall mit Recht, muß allerdings bezweifelt werden.
Pfannmüller, Guſtav, Die Religion Friedrich Hebbels, auf Grund der Werke, Tage⸗
bücher und Briefe dargeſtellt. Die Religion der Klaſſiker 8. Bd. Vandenhoeck & Ru⸗
precht, Göttingen 1922.
Das 192 S. ſtarke Buch, das nach dem Vorwort des Verfaſſers die zahlreichen Aphoris⸗
menſammlungen aus Hebbels Werken nicht um eine neue vermehren, ſondern tiefer in deſſen
religiöſe Gedankenwelt einführen will, zerfällt in folgende drei Abſchnitte:
Das erſte Kapitel ſtellt hauptſächlich an der Hand von Hebbels eigenen Äußerungen feinen
religiöſen Entwicklungsgang von feiner Geburt bis zu feinem Tode dar und iſt eigentlich nichts
anderes als eine Lebensgeſchichte, wie wir ſie ja mehrfach und ausführlicher ſchon von anderen
beſitzen, eine Lebensgeſchichte, bei der allerdings der Hauptwert eben auf des Dichters religiöſe
Entwicklung vom Chriſtentum zu einem myſtiſchen Naturpantheismus (wie Pf. ſich ausdrückt)
gelegt iſt. Abgeſehen von den wenigen, kurzen textlichen Uberleitungen beſteht fie meiſt aus
langen Zitaten und will mir bei ihrem großen Umfange (125 S.!) der im Vorwort vom Ver⸗
faſſer gegebenen Verſicherung nicht ganz entſprechen.
Im zweiten Kapitel „Die religiöſe Weltanſchauung Hebbels“ gibt Pf. auf die Frage: War
Hebbel eine religiöfe Natur? eine doppelte Antwort: Nach Hebbels Stellung zur poſitiven Re
ligion, nein; verſtehen wir jedoch unter Religion das tiefe Gefühl des innigen Zuſammenhangs
zwiſchen Menſch und Gott, ſo war er es durchaus. Verfaſſer bezeichnet des Dichters Religion
„im allgemeinen als einen myſtiſchen Pantheismus mit ſtark ethiſchem Einſchlag“. Hebbel
ſchließt ſich darin an den Naturpantheismus Goethes und der Romantiker 1°), vor allem aber
an Schellings Philoſophie an. Mit Paul Sickel hebt der Verfaſſer auch die auffallende Über-
einſtimmung in der metaphyſiſchen Grundlage der Religion zwiſchen Hebbel und Schleier
macher hervor, wie er denn auch in bezug auf des Dichters Anſchauungen von der Unſterblich⸗
keit Sickels Auffaſſung übernimmt. Anſchließend folgt wiederum eine Zuſammenſtellung von
diesbezüglichen Stellen aus Hebbels Werken.
Im dritten Kapitel über die Religion in Hebbels Dramen werden „Agnes Bernauer“ und
„Gyges und ſein Ring“ nicht mit in den Betrachtungskreis gezogen, da ſie für die religiöſe
Gedankenwelt des Dichters keinen Stoff liefern. Auch hier kommt wieder hauptſächlich nur
Hebbel ſelbſt zu Worte. Zunächſt werden „Judith“, „Moloch“, „Chriſtus“, „Herodes und
Mariamne“ und „Die Nibelungen“ betrachtet. Jedem dieſer Dramen wird ſozuſagen ein be⸗
ſonderes Motiv in bezug auf die Religion untergelegt: ſo ſehen wir in der „Judith“ den Kampf
zwiſchen Judentum und Heidentum, im „Moloch“ die Entſtehung der Religion und Kultur
überhaupt, in dem Fragment „Chriſtus“ das Weſen des Chriſtentums, in „Herodes und
Mariamne“ die Entſtehung des Chriſtentums und in den „Nibelungen“ den Kampf zwiſchen
18) ber Hebbels Pantheismus iſt ſchon viel geſchrieben und geſtritten worden. Paul Sickel (H.s
Welt- und Lebensanſchauung, 1912) behandelt ihn vor allem auf S. 170 /1, unterſcheidet ihn aller-
dings ſeinem Urſprunge nach ſcharf von dem Goethes und betont, daß Hebbels Ausdrucksweiſen ſich
oft von der rein pantheiſtiſchen Lehre entfernen (vgl. T. 2012, außerdem Scheunert, D. j. H.,
S. 3, Anm. 1). Auch Brun in feinem Hebbel⸗Buche, das Pf. wohl noch nicht gekannt hat,
kommt mehrfach darauf zu ſprechen, wie man bei näherer Erörterung des Problems auch auf Meu-
manns Programm und Zinckes Gegenſchrift über Hebbels Jugendlyrik wird zurückgreifen müſſen.
302 Forſchungsberichte
Chriſtentum und germaniſchem Heidentum behandelt. Die beiden zuletzt erörterten Dramen
„Genoveva“ und „Maria Magdalena“ fallen bereits in die Zeit des Chriſtentums als Kultur
macht: das erſte führt uns in den mittelalterlichen Katholizismus, das letztere hat als Hinter⸗
grund den norddeutſchen Proteſtantismus der vormärzlichen Periode des 19. Jahrhunderts
und ſtellt eine furchtbare Anklage gegen die oberflächliche Geſellſchaftsmoral dar. —
Im allgemeinen dürfte vorliegendes Buch Neues kaum bieten, doch ſcheint es mir als Zu⸗
ſammenſtellung möglichſt aller Außerungen Hebbels über Religion durchaus wertvoll. Aber
vor allem iſt gerade heutzutage rühmend hervorzuheben die ſtrenge Sachlichkeit des Verfaſſers,
der ſich nur an die Quellen hält, aus denen er nichts heraus- und in die er nichts hineinlieſt,
was nicht darin ſteht.
Hebbel und Röt ſcher unter beſonderer Berückſichtigung der beiderſeitigen Beziehungen
zu Hegel, von Dr. Walter Schnyder. (Hebbel⸗Forſchungen. Begründet von R.
M. Werner. Nr. X.) Berlin und Leipzig, B. Behr's Verlag, Friedrich Fedderſen 1923.
Die Beziehungen Hebbels zu Rötſcher, die Verfaſſer „möglichſt hell zu beleuchten“ ſich vor⸗
genommen hat, führen ihn mehr, als er ſelbſt gedacht und beabſichtigt hatte, in die letzten und
tiefſten Fragen von Hebbels Dichten und Denken hinein. Iſt der erſte Teil des Buches über die
Bekanntſchaft des Dichters mit dem Kritiker H. Th. Rötſcher, „deſſen Tiefe und Ausführlich⸗
keit“ auch Bamberg bewunderte, und mit feinen Werken in feiner rein chronologiſchen Darſtellung
ſchon wichtig und aufſchlußreich genug für Mentalität und Charakter, wie für die Arbeits⸗
weiſe Hebbels, ſo wird man erſt recht dem zweiten und Haupt⸗Teile über die geiſtigen Bezie⸗
hungen beider Männer, auch bei mannigfaltiger Problemſtellung, größte Beachtung ſchenken
müſſen. Nur die Hauptergebniſſe ſeien im folgenden hervorgehoben.
In einem erſten Kapitel behandelt Schn. die Stellung Hebbels zu Hegels Theorie des Tra⸗
giſchen. In langen, tiefſchürfenden Ausführungen, welche die Abhandlungen Rötſchers über
Shakeſpeares König Lear und Goethes Wahlverwandtſchaften und Hebbels Stellung dazu
zum Ausgangspunkte haben, ſtellt Verfaſſer ſchließlich die Hauptunterſchiede von Hebbels und
Hegels Auffaſſung des Tragiſchen zuſammen; es ſind kurz folgende: Gibt es für Hegel keine
Notwendigkeit, daß das Individuum als ſolches egoiſtiſch wäre, ſo ſteht ſie für Hebbel feſt.
Dieſer Egoismus iſt bei Hebbel als Trieb mit dem Leben ſelbſt geſetzt; daher bei ihm die Exi⸗
ſtenzſchuld, die den Menſchen eigentlich unſchuldig und verantwortungslos macht. Während für
Hegel ferner das Schickſal des einzelnen durchaus individuell iſt, faßt Hebbel das Schickſal des
Einzelmenſchen als typiſch; daher der Unterſchied von Charakterdrama bei Hegel⸗Rötſcher und
Zuſtandsdrama bei Hebbel 1).
Für das zweite Kapitel über das Luſtſpiel mag die kurze Angabe genügen, daß es zunächſt
nacheinander Rötſchers Stellungnahme zum „Diamant“, „Rubin“ und „Michelangelo“ be⸗
handelt, um dann über Hebbels und Rötſchers Anſchauungen vom Weſen der Komödie, die von
beiden in der Hauptſache Solger und Hegel entnommen, allerdings aber bei weitem nicht ſo
ſcharf wie bei der Tragödie ausgebildet ſind, zur Behandlung des „Trauerſpiels in Sizilien“
und der Theorien von der Tragikomödie (Humor!) überzugehen.
Das dritte Kapitel behandelt alsdann das wohl für Hebbel ſelbſt und daher nicht minder für
den Forſcher ſchwierigſte Problem, nämlich das der Verſöhnung. In Hebbels „Judith“ und
„Genoveva“ findet ſich zunächſt die abſolute Gegenüberſtellung von Idee (Gott) und Menſch
und daher Verſöhnung nur in der Selbſthingabe des Individuums oder in der Vernichtung
ſeiner Starrheit durch die Idee. In „Maria Magdalene“ ſetzt nach Schn. „der große Rela⸗
tivierungs⸗ und Hiſtoriſierungsprozeß in Hebbels Schaffen“ ein, wo ſich der abſolute Dualis⸗
mus, der ewige Konflikt, nur noch in zeitlich bedingtem Gewande zeigt. Beſonders in Paris
10) Ich möchte darauf hinweiſen, daß manches von dem, was Schn. hier und auch ſpäter feſtſtellt,
ſchon von Kutſcher in feiner Arbeit „Friedrich Hebbel als Kritiker des Dramas“ (Hebbel⸗Forſchungen
Nr. 1, 1907), in der beſonderer Wert auf Äußerungen Hegels, Schellings, Solgers, Rötſchers im
Vergleiche zu ſolchen Hebbels gelegt wird, mindeſtens angedeutet und vorbereitet worden iſt. Von
Schn. wird dieſe Schrift merkwürdigerweiſe nicht ein einziges Mal erwähnt. Der Raum einer
ſolchen Ankündigung verbietet es leider, die vielen Stellen anzuführen, in denen ich Schuypder
Anlehnung an Kutſcher nachweiſen könnte.
Hebbel-Literatur 303
unter dem Einfluſſe Bambergs entſtand die letzte Formulierung dieſes neuen Dramentyps, der
(nach Walzel) zwar hegeliſcher als Hegel ſelbſt iſt, im Grunde aber nur die Methode, auf den
tragiſchen Konflikt angewendet — Hegel ſelbſt hat es nie durchgeführt! —, von dieſem über⸗
nimmt. Hebbel bekennt ſich mit „Maria Magdalene“ zum entwicklungsgeſchichtlichen Drama,
das den Weltzuſtand, wie er iſt und ward, darſtellt, und macht es ſich ſeitdem zur Lebensauf⸗
gabe, der Forderung desſelben zu genügen (vgl. T. 3777. 3191) 2%). So entſprechen denn feine
„Julia“ und das „Trauerſpiel in Sizilien“ diefer Norm vollkommen. Eine andere Möglich⸗
keit der Verſöhnung im Drama 2) als die Ausſöhnung mit den kranken Weltzuſtänden ſah
Hebbel bis 1847 offenbar überhaupt nicht. Hier iſt es nun das Verdienſt Rötſchers, den
Dichter auf die „Verſöhnung mit weltgeſchichtlichem Eindruck“ (in ſeiner Abhandlung über
Shakeſpeares „Romeo und Julia“) hingewieſen zu haben, die Verſöhnung, die nach dem er⸗
ſchütternden Gericht noch im Rahmen des Dramas eine beſſere Welt auftauchen läßt. In
keinem ſeiner Dramen nach „Julia“ unterließ es Hebbel dann, einen Ausblick auf eine neue,
reinere Lebensform zu gewähren. Und ſeitdem iſt für ihn auch die Frage nach der Verſöhnung
beantwortet.
Als eng mit dem Verſöhnungsproblem zuſammenhängend kommt ſchließlich im letzten Ka⸗
pitel die hiſtoriſche Tragödie zur Abhandlung. Hebbels Neigung zur Geſchichte iſt ein typiſch
romantiſcher Zug in ſeinem Weſen; hatte er doch ſogar einmal den Plan, die Menſchheit ſelbſt
zum Dramenhelden zu wählen. Doch die Forderungen der Zeit an das hiſtoriſche Drama (ab-
ſolute Gleichheit von Drama und Geſchichte!) waren derartig, daß auch Hebbel zu unzweideu⸗
tigem Abſagen kam 22). Auch Rötſcher ſetzte ſich für die Freiheit des Dichters ein, wenn er als
Hegelianer der Geſchichte auch gewiſſe Zugeſtändniſſe machen zu müſſen glaubte. In Fragen
über das hiſtoriſche Drama beruft ſich der Dichter gern auf ihn („Aber das Recht der Poeſie in
der Behandlung des geſchichtlichen Stoffes“), und ſein „Herodes“ beſtätigt nur Rötſchers
Theorie: die große geſchichtliche Phaſe ſpiegelt ſich getreu wieder, während die Detailgeſtaltung
manche dichteriſche Freiheit aufweiſt. Schon Hebbels „Maria Magdalene“ iſt nach Schn. die
erſte hiſtoriſche und damit ſpezifiſch Hebbelſche Tragödie, und im „Herodes“ iſt es dann ſein
Ziel, „die geſchichtliche Modifikation der Menſchen⸗Natur in ihrer relativen Notwendigkeit“
darzuſtellen und ſein Drama der Relativität ſo auch auf das geſchichtliche Gebiet zu übertragen.
Bildete in der „Judith“ nur die Geſchichte den Boden, ſo iſt im „Herodes“, wie Schn. meint,
eine Vereinigung zweier Dramentypen feſtzuſtellen, da dort die pſychologiſche Handlung zu⸗
gleich den hiſtoriſchen Prozeß ſymboliſiert. Derjenige aber, der zuerſt den menſchlichen und
welthiſtoriſchen Gehalt dieſer Tragödie erkannte, war Rötſcher. Und gewiß hat er auch Hebbel
endgültig dazu beſtimmt, die Verſöhnung in dieſem neuen Drama in den Kreis des Werkes
einzubeziehen. So weiſt es denn eine Verſöhnung „von überwältigender Größe und Hoheit“
auf, wie fie eben nur ein welthiſtoriſch⸗ſymboliſches Drama zu geben vermag. Alle An-
regungen Rötſchers erſcheinen ſchließlich bei Hebbel ſelbſtändig verarbeitet, dazu in einer
Form, wie ſie Rötſcher gewiß nie vorgeſchwebt hat.
Betreffs des Dramas „Struenſee“ gehen die Anſchauungen Hebbels und Rötſchers eben ſo
auseinander wie die betreffs der Tragödie von Hebbel und Hegel. Als letztes Werk des Dich⸗
ters, auf das Rötſcher ausführlicher einging, iſt dann von Sch. noch „Moloch“ behandelt.
Den Hieram dieſer Fragment gebliebenen Tragödie hat Hebbel ſelbſt in eine Reihe mit dem
Albrecht der „Agnes Bernauer“ geſtellt, und da vollzieht ſich Sühne und Verſöhnung ganz
ähnlich, wie ſie Rötſcher für Hieram gefordert hatte, eine Verſöhnung, die Verfaſſer als Ver⸗
ſöhnung der Freiheit bezeichnet.
Wenn Schnyder auch ſchließlich einen Einfluß Rötſchers auf Hebbels Schaffen nicht zu-
zugeben vermag, ſo ſpricht er ihm doch eine aufmunternde und fördernde Anteilnahme an den
Werken des Dichters zu.
Zittau i. S. Willy Jokiſch.
20) Vgl. die Ausführungen bei Sommerfeld, Hebbel und Goethe, S. 56; Sickel S. 91.
21) Vgl. ebd. S. 243 — 245.
2 Vgl. hier beſonders Schnyders Ausführungen S. 126 — 130 mit denen Kutſchers auf
. 116 — 124]
304 Forſchungsberichte
Neue Schriften zur beutſchen Volkskunde.
1. Reuſchel, Karl, Deutſche Volkskunde im Grundriß I. Teil Allgemeines, Sprache,
Volksdichtung. Mit drei Figuren im Text (Aus Natur und Geiſteswelt 644). 1920;
II. Teil Sitte, Brauch und Volksglauben, Sachliche Volkskunde. (Ebd. 645.)
Teubner, Leipzig und Berlin 1924.
2. Naumann, Hans, Grundzüge der deutſchen Volkskunde. (Wiſſenſchaft und Bildung
181.) Quelle und Meyer, Leipzig 1922.
3. Jahrbuch für hiſtoriſche Volkskunde, hrsg. von Wilhelm Fraenger. 1. Bd. Die
Volkskunde und ihre Grenzgebiete. Mit Beiträgen von J. Bolte u. a. Mit 206 Ab-
bildungen. Stubenrauch, Berlin 1925.
1. Die Fertigſtellung dieſes zweibändigen Handbuches durch Reuſchel iſt meiner Anſicht
nach eine tapfere Tat, wenn auch dieſe Arbeit bei der Schwierigkeit einer erſten möglichſt
knappen Zuſammenfaſſung des weitverſtreuten Stoffes und der Verarbeitung einer über⸗
reichen Literatur nicht durchaus befriedigend ausfallen konnte, auch bei der mehrfachen Be⸗
laſtung des inzwiſchen leider vorzeitig verſtorbenen Verfaſſers. Wir beſitzen zwar ſeit einigen
Jahren zwei Bücher über die deutſche Volkskunde, bei denen aber nicht der geſamte Stoff
verarbeitet wurde; zunächſt das lebensvolle, aus Vorleſungen an der Univerſität Freiburg
i. Br. hervorgegangene Werk von Elard Hugo Meyer, Deutſche Volkskunde, Straßburg
1898. Ein in erzählende Form gegoſſenes Lehrbuch, das uns ein anſchauliches Bild der ge-
ſchichtlichen Entwicklung und des jetzigen Standes des deutſchen Volkslebens und Dichtens
bietet. Es fehlt aber hier vollſtändig eine Bibliographie, Methodologie, Quellenkunde und
Geſchichte der Volkskunde. Ferner R. F. Kaindl, Die Volkskunde. Ihre Bedeutung und
ihre Methode mit beſonderer Berückſichtigung ihres Verhältniſſes zu den hiſtoriſchen Wiſſen⸗
ſchaften. (Die Erdkunde XVIII.) Leipzig und Wien 1903. Mit einer guten Überſicht über
die verſchiedenen Methoden. Doch werden hier manche Gebiete der Volkskunde einſeitig und
keines vollſtändig behandelt. Hingegen hat Reuſchel eine vielſeitige Vorarbeit für fein Hand⸗
buch geſchrieben: Volkskundliche Streifzüge. Zwölf Vorträge über Fragen der deutſchen
Volkskunde. Dresden und Leipzig 19031).
Den geſamten Stoff auf Grund feines ausgebreiteten und gediegenen Wiſſens hat Reuſchel
vollſtändig behandelt in ſeinem Handbuch. Für die Darſtellung hat er, wie er ſelbſt im Vor⸗
wort zum zweiten Band ſagt, „bei möglichſter Kürze, wie ſie der vorgeſehene Umfang erfor⸗
derte, Fülle und Klarheit“ erſtrebt. Das I. Kapitel „Weſen und Wert der Volkskunde“ er⸗
öffnet er mit einer Betrachtung über die Geſchichte des Wortes Volkskunde. Vor einigen
Jahren hat Geramb in der Wochenſchrift Deutſch⸗Oſterreich (1, 300) und ich ungefähr gleich-
zeitig feſtgeſtellt (Zeitſchrift des Vereins für Volkskunde 23, 414 f.), daß das Wort Volks
kunde im Vorwort der kleinen von Franz Zis ka herausgegebenen Sammlung „Öfter-
reichiſche Volksmärchen“ Wien 1822 auftaucht. Später hat O. Stückrath (ebd. 29, 44)
darauf hingewieſen, daß in J. A. Damians Handbuch der Geographie und Statiſtik
des Herzogtums Naſſau 1823 der erfte Abſchnitt (13) die Überfchrift „Landes⸗ und Volks ⸗
kunde“ trägt, daß aber Ziska dieſes Buch nicht kennengelernt hat, wohl aber W. H. Ri e bl
als Naſſauer und das Wort Volkskunde für feinen 1859 gehaltenen Vortrag „Die Volks.
kunde als Wiſſenſchaft“ verwendet hat. Reuſchel (S. 5) verweiſt auf Goethes Beſprechung
der Monatsſchrift der Geſellſchaft des vaterländiſchen Muſeums in Böhmen 1830, wo von
der „Volks- und Landeskunde von Böhmen“ die Rede iſt?). Hoffmann ⸗Krayer meint
(Schweizeriſches Archiv für Volkskunde 23, 226), daß das Wort Volkskunde durch ſolche
ältere Zuſammenſetzungen wie Landeskunde ausgelöſt und zuerſt in Verbindung mit einer
ſolchen Zuſammenſetzung aufgetreten ſei und gibt weitere Beiſpiele für ſolche Zuſammen⸗
ſtellung: einen Titel Behlin, Der Speſſart, Forſt⸗, Erd⸗ und Volkskunde, Leipzig 1822;
Röder und Tſcharner, Der Kanton Graubünden, St. Gallen 1838 (S. 7 und 9,
Land- und Volkskunde). Nun iſt es aber Geramb gelungen, den verläufig älteſten Beleg
1) Vgl. meine Beſprechung dieſer Bücher im Euphorion 13, 144 150.
2) Erſchienen in den Jahrbüchern für wiſſenſchaftliche Kritik, Berlin Nr. 58-60. März 1830.
(Goethes Werke, Weimarer Ausgabe 42. Bd. 1. Abteilung, S. 36, Anm. S. 376 ff.)
Neue Schriften zur deutſchen Volkskunde 305
für das alleinſtehende Wort Volkskunde zu finden ), und zwar in einer vom Erzherzog Jo⸗
hann veranlaßten ſtatiſtiſchen Landaufnahme 1813 von dem Bezirksverwalter J. F. Knaffl
niedergeſchriebenen umfänglichen Beſchreibung des oberſteiriſchen Bezirkes Johnsdorf, wo
zweimal das Wort Volkskunde in unſerem Sinne verwendet wird. Geramb vermutet mit
Recht, daß Knaffl das Wort nicht geprägt, ſondern aus einem der Bücher der dem Erzherzog
Johann naheſtehenden Hiſtoriker und Statiſtiker entnommen hat.
Dann werden von Reuſchel die Geſchichte und der Begriff, Weſen und Aufgaben der
Volkskunde, die Begriffe Geſamtgeiſt, Volksſeele, Maſſenpſychologie uſw. erörtert. (Hinzu
fügt Reuſchel in der Einleitung vom 2. Bd. S. 5 f. nach inzwiſchen erſchienenen Schriften
neue Anſchauungen über prälogiſch⸗aſſoziatives Denken.) Ferner werden die Beziehungen der
Volkskunde zu Nachbarwiſſenſchaften: Völkerpſychologie, Völkerkunde, Kultur- und Litera⸗
turgeſchichte, auch zum Volkstum erörtert. Ein längerer Abſchnitt wird der angewandten
Volkskunde gewidmet, wobei ſich eine Fülle von Zukunftsaufgaben eröffnet. In der Tat
wird im letzten Jahrzehnt auf dieſem fruchtbaren Felde in vielen deutſchen Landſchaften rüſtig
geſät und geerntet. Im zweiten Abſchnitt werden die Quellen der Volkskunde und das Sam⸗
meln der Stoffe behandelt.
Ebenſo iſt in den meiſten übrigen Kapiteln beider Bände die Darſtellung der betreffenden
Volksüberlieferung ſachgemäß und bis ins Einzelne überſichtlich gegliedert, fo wie mit Bei⸗
ſpielen und, wo nötig, mit Proben verſehen. Bei jedem Kapitel, auch bei deſſen Unterabtei-
lungen wird die wichtigere dazugehörige Literatur, Bücher, Abhandlungen, auch fruchtbare Be⸗
ſprechungen verzeichnet. Vollſtändigkeit wird nicht angeſtrebt. Es hätte auch keinen Sinn,
bei einer Beſprechung, namentlich des erſten Bandes etwa die inzwiſchen reichlich erſchienene
Fachliteratur mitzuteilen. Dieſen Zweck erfüllen ja die in letzter Zeit wieder regelmäßig
erſcheinenden vortrefflichen volkskundlichen Bibliographien ).
3) Zeitſchrift des Vereins für Volkskunde, 32 u. 33. Ihg., 71 f. Bei der Durchſicht einiger
dieſer Bücher fand Geramb das Wort Völkerkunde zuerſt bei G. P. Norrmann 1785.
) Neben den regelmäßigen bibliographiſchen Uberſichten in den Jahresberichten für germaniſche
Philologie, wo ſeit vielen Jahren in den Abſchnitten „Volksdichtung“ ſowie „Mythologie und
Sagenkunde“ die Erſcheinungen der literariſchen, nicht die der ſachlichen Volkskunde verzeichnet
und beſprochen werden, hat die heſſiſche Vereinigung für Volkskunde in den von ihr herausgegebenen
Heſſiſchen Blättern für Volkskunde vom erſten Bande (1902) angefangen eine umfaſſende
„Volkskundliche Zeitſchriftenſchau“ für das unmittelbar verfloſſene Jahr herausgegeben mit Her⸗
anziehung der ſachlichen Volkskunde, bearbeitet von dem Gründer und Herausgeber dieſer Zeit⸗
ſchrift A. Strack. Vom J. — 5. Jahrgang erſchien dieſe Zeitſchriftenſchau in weſentlich erweiter⸗
tem Umfang, verſehen mit einer Bücherſchau und Regiſtern in eigenen Bänden. Da hier über die
Erſcheinungen aller Nationen der Welt berichtet wurde, und auch über den eigentlichen Kreis der
Volkskunde im weiten Ausmaß andere Wiſſensgebiete herangezogen und möglichſte Vollſtändigkeit
angeſtrebt wurde, ſo kamen die Koſten ſo hoch, daß die Vereinigung vom 6. Jahrgang ab dieſe
Zeitſchriftenſchau leider einſtellen mußte. Nach ſechsjähriger Pauſe erſchien eine volkskundliche
Bibliographie in neuer Geſtalt und anderem Titel: „Die volkskundliche Literatur des Jahres
1911.“ Ein Wegweiſer im Auftrage der heſſiſchen Vereinigung für Volkskunde und mit Unter⸗
ſtützung der dem Verband deutſcher Vereine für Volkskunde angehörigen Vereine herausgegeben
von A. Abt, Leipzig und Berlin 1913. Anders angeordnet und in mäßigerem Umfang. Leider trat
dann wieder eine noch längere Pauſe ein, bis endlich durch die Tatkraft von E. Hoffmann ⸗
Kraper, unterſtützt von einigen Mitarbeitern die volkskundliche Bibliographie wieder zu er⸗
ſcheinen begann und nun regelmäßig erſcheint: „Volkskundliche Bibliographie für das Jahr 1917.
Im Auftrage des Verbandes deutſcher Vereine für Volkskunde.“ Straßburg 1919. Hoffmann-
Krayer hat ſich hier ſtofflich auf das „unbeſtritten Volkskundliche“ und ethnographiſch auf die
Indogermanen und Juden beſchränkt mit Weglaſſung alles rein Sprachlichen. Auch die Anordnung
iſt jetzt überſichtlicher. Verzeichniſſe der Verfaſſer und Sachen ſind beigegeben. Der zweite Bericht
für das Jahr 1918 erſchien Berlin 1920, für 1919 im Jahr 1922 um 330 Nummern und
16 Seiten vermehrt. Für das Jahr 1920 im Jahre 1924 um 1048 Titel (im ganzen 2768) und
um 70 Seiten vermehrt.
Noch iſt ein ganz neues Unternehmen zu erwähnen mit dem beſonderen Vorzug, daß die wichtig⸗
ſten Schriften des geſamten deutſchen Sprachgebietes im unmittelbar darauffolgenden Jahr ver⸗
zeichnet und beſprochen werden. Eugen Mogk und Wilhelm Frels, Volkskunde (Jahresbericht
Supborion XXVIII. 20
306 Forſchungsberichte
Der Abrundung des Gegenſtandes wegen geht Reuſchel gelegentlich über deſſen engeren
Kreis hinaus, ſo beſonders beim dritten Abſchnitt „Die Sprache“, wo der Verfaſſer über den
Namen Germanen, der trotz vielen Verſuchen bis heute noch nicht befriedigend erklärt iſt,
über die beiden Lautverſchiebungen, über die Geſchichte der Sprache, deutſche Grammatiken
und Wörterbücher ſpricht. Eingehender als die Mundarten, werden die Standes⸗ und Be⸗
rufsſprachen behandelt. Bei der Namenkunde hätte den Flurnamen wegen ihrer grundlegen⸗
den Bedeutung für die Stammes⸗ und Siedlungsgeſchichte ein größerer Raum gewidmet wer⸗
den können. Das umfänglichſte vierte Kapitel „Die Volksdichtung“ iſt in mehrere Unter⸗
abſchnitte geteilt. Zunächſt kommt a) „Das Volkslied“, daran, deſſen Geſchichte, Sammlungen
und Begriffe (etwas zu ausführlich), Kunſtlieder im Volksmunde, Wanderſtrophen, Volks⸗
lieder aus der Unterſchicht, Soldatenlieder, geſchichtliche Volkslieder, Balladen und Vier⸗
zeiler. Zu den Schriften über die Geſchichte der Volksliedforſchung in der Schweiz und in
Schleſien von Geiger und Günther (S. 89) hätte auch Jungbauers Biblio-
graphie des deutſchen Volksliedes in Böhmen (Hauffens Beiträge XI) 1912 erwähnt werden
ſollen, wo in der umfänglichen Einleitung die Geſchichte der deutſchen Volksliedforſchung in
Böhmen gründlich dargeſtellt iſt und auch wertvolle Beiträge zur Volkslied⸗Geographie beige⸗
ſteuert werden. In die Liſte volkstümlicher Darſtellungen (S. 90) hätte die zweibändige
reichliche Auswahl von J. Sahr, Das deutſche Volkslied (Sammlung Göſchen) nicht fehlen
ſollen. b) „Kinderlied und Kinderſpiel“. Gründlich und eingehend. Nicht ganz befriedigt
c) „Das Volksſchauſpiel“, zumal wir Reuſchel gerade auf dieſem Gebiet wertvolle wiſſen⸗
ſchaftliche Leiſtungen verdanken. Den aus uralter Zeit ſtammenden und noch heute vieler⸗
orts üblichen Sommer- und Winterſpielen (S. 106), die ſich deutlich in zwei voneinander
ganz verſchiedene Gruppen, der oberdeutſchen und der oſtmitteldeutſchen ſcheiden laſſen 5), wer⸗
den nur drei Zeilen gewidmet. Die noch viel ältern, früher in allen deutſchen Landſchaften, im
Böhmerwald noch 1890 ausgeübten und jetzt in der Steiermark neu belebten Schwertlanz⸗
ſpiele werden überhaupt nicht erwähnt. In dem umfänglichen Abſchnitt d) „Sage und Mär⸗
chen“ werden zuerſt „Legende und Legendenbildung“ erörtert. Als Literatur dazu wird der
Inhalt zweier Abhandlungen von Adolf Harnack und W. Wun dt wiedergegeben. Doch
glaube ich, daß für dieſen Gegenſtand weit bedeutender nachfolgende zwei Bücher ſind: Heinrich
Günter, Legenden⸗Studien, Köln 1906 und von demſelben Verfaſſer: Die chriſtliche Legende
des Abendlandes (Religionswiſſenſchaftliche Bibliothek 2), Heidelberg 1910.
Wertvoller ſind die weiteren Abſchnitte „Dauer mündlicher Geſchichtsüberlieferungen“;
Sagen erzeugende Umſtände und Einteilung der Sagen; echte und unechte, romantiſche
Sagen, Sage und Dichtung. Geſchichte und wiſſenſchaftliche Behandlung der Märchen (wo
die verfehlten und längſt fallen gelaſſenen Anſchauungen und Behauptungen meiner Anſicht
nach zu ausführlich beſprochen werden). Vergleichende Märchenforſchung und Stil. Den
Schluß des erſten Bandes bildet e) „Die Kleindichtung: Rätſel, Sprichwort und Spruch.“
Erſt vier Jahre ſpäter, hauptſächlich durch den Weltkrieg verzögert, erſchien der zweite
Band dieſes Handbuches, der Brauch und Volksglauben ſowie die ſachlichen Volksüberliefe⸗
rungen enthält. Im Vorwort dazu ſagt Reuſchel man möge es dem Philologen nicht übel⸗
nehmen, wenn ihm trotz eifriger Bemühungen Literatur über Siedlung, Bauweſen, Volks⸗
kunſt, Volkstracht uſw. entgangen ſein ſollten. Wegen der Darſtellung ſtrebe er keine Voll⸗
ſtändigkeit an. Es genüge ihm „Richtlinien zu ziehen und auf die reichen Stoffſammlungen“
hinzuweiſen. Für die ſachlichen Volksüberlieferungen nimmt er den Standpunkt Naumanns
ein, man könne die Volkskunde auch in ihren „Realien zu einer reinen Geiſteswiſſenſchaft
erheben“.
Reuſchel beginnt mit J „Sitte, Brauch und Volksglaube“. Die pſychologiſchen Formen.
Inhalt und Zweck. Magiſch⸗religiöſe Bräuche. 1. Einzelne vollziehen fie um ihrer ſelbſt
des Literariſchen Zentralblattes, 1. Jahrgang 1924. Leipzig, Verlag des Börſenvereins 1925).
Mit folgender Anordnung: 1. Bibliographie zur geſamten Volkskunde, 2. Sachliche Volkskunde,
3. Volksglauben und Volksmedizin, 4. Sitte und Brauch. Volksdichtung.
8) Vgl. O. Hübner, Die deutſchen Sommer- und Winterſpiele. Diſſertation der deutſchen
Univerfität Prag. (Auszug daraus: Unſer Iſergebirge. 3. Jahr. 1925 und 1926 Beilage des
Gablonzer Tagblattes.)
Neue Schriften zur deutſchen Volkskunde 307
willen. 2. Einzelne vollziehen ſie für andere. Dieſe Zweiteilung iſt ganz ungewöhnlich, auch
ſachlich nicht berechtigt, weil dadurch Zuſammengehöriges getrennt wird. In dieſem Abſchnitt
wird auch die Volksmedizin behandelt. Zu den volkstümlichen Krankheitsbezeichnungen
(S. 24) wäre zu erwähnen, daß das Wort vreise, das vom Althochdeutſchen herauf bis ins
18. Jahrhundert einen weiteren Bedeutungskreis hatte: Schrecken, Gefahr, gegenwärtig in
der Umgangsſprache vieler Landſchaften nur noch in der Mehrzahl „Fraiſen“ üblich iſt, und
zwar nur für die mit Zuckungen verbundenen Krämpfe kleiner Kinder. J. Gemeinſchafts⸗
bräuche (Landwirtſchaftsbräuche und die während des Kirchenjahrs ausgeübten). Bedauerlich
iſt es aber, daß Reuſchel die Bräuche zu Geburt, Hochzeit und Tod nicht zuſammenhängend
darſtellt, ſondern nur gelegentlich Einzelheiten daraus erwähnt. Mit der Begründung
(S. 36), daß in der gleichen Sammlung „Aus Natur und Geiſteswelt“ von Fehrle,
„Deutſche Feſt⸗ und Volksbräuche“ dieſer Gegenſtand ausführlich behandelt werde, weshalb
er nur dort nicht Erwähntes heranziehen wolle. In der gleichen Sammlung befinden ſich
aber auch Monographien über die anderen Volksüberlieferungen, über die Reuſchel aus⸗
führlich berichtet. In einem Handbuch wünſcht man aber doch eine gewiſſe Vollſtändigkeit.
Auf S. 37 finden wir kurze Bemerkungen zur Taufe und Hochzeit innerhalb der Rechts-
bräuche (73 78) folgen noch einige Mitteilungen zu Verlobung, Hochzeit und Todesfall.
Beſonders ausführlich aber werden (59 — 64) die Zunftbräuche behandelt, natürlich mit be-
ſonderer Berückſichtigung der ländlichen Verhältniſſe mit mehreren Beiſpielen von noch heute
üblichen Zunftfeſtlichkeiten und von allgemeinen Volksfeſten. Bei den Rechtsbräuchen werden
auch die Haus⸗ und Hofmarken beſchrieben als deutliche Kennzeichen für das Privateigentum,
das ſich noch heute bei den deutſchen Bauern in den alten ſchroffen Formen äußert. Dann
werden die noch in einigen deutſchen Landſchaften ausgeübten Rechtsbräuche der ländlichen
Burſchenſchaft geſchildert, die Reſte der Volksjuſtiz, die Zuſammenhänge zwiſchen Verbrechen
und Aberglauben und die Seele des Proletariats.
Das II. Kapitel behandelt Siedlung, Haus und Hof, leider ohne Abbildungen, auch ohne
Pläne und Grundriſſe. Eingehend wird am Schluß die Dorfkirche und der Friedhof be⸗
ſprochen. III. Volkskunſt und volkstümliche Techniken. Über die Begriffe Volkskunſt, Haus⸗
fleiß, Hausinduſtrie und die Dorfhandwerker. Hiebei iſt auch vom Hausrat, allerdings nur
flüchtig die Rede. IV. Volkstracht. Gleich eingangs wird feſtgeſtellt, daß die Tracht im
Gegenſatz zu andern Volksüberlieferungen mit wenigen Ausnahmen nicht im Volke erwach⸗
ſen iſt, ſondern ſtädtiſche Moden verſchiedener Zeiten ſpiegelt, freilich dem bäuerlichen Ge⸗
ſchmack und den beſondern Zwecken der ländlichen Arbeit ſowie der Feiertage und Feſte
angepaßt. Dann folgen Ratſchläge für eine wiſſenſchaftliche Behandlung der Volkstrachten⸗
kunde, einzelne Beiſpiele landſchaftlicher Trachten, Betrachtungen über mutmaßliche Herkunft
und Alter einzelner Trachtenſtücke und Bauernſchmuck. Ein Verzeichnis der Verfaſſer und
ein Sachweiſer erleichtern die Benützung.
Zu erwähnen wäre ſchließlich, daß Reuſchel, was man in einem ſolchen Handbuch 95
ſucht, viele Anregungen gibt für volkskundliche Arbeiten auf verſchiedenen Gebieten. So I,
84 eine Unterſuchung über die von Soldaten, beſonders im Weltkrieg getroffene Auswahl aus
dem deutſchen Liederſchatz und ihre Vorliebe für Verballhornungen übernommener Lieder.
S. 96 wird die Frage geſtellt, wie erklären ſich die ſinnloſen Reimereien und die Wieder⸗
holung ſinnloſer Lautfolgen in unſern Kinderliedern? S. 105. Es gibt zwar eine vortreffliche
Geſchichte der Chriſti⸗Ankunft und Weihnachtsſpiele von Friedrich Vogt in dem Werke „Das
ſchleſiſche Weihnachtsſpiel“ (Schleſiens volkstümliche Überlieferungen I), Leipzig 1901, doch
noch keine Geſchichte der volkstümlichen Paſſions⸗ und Oſterſpiele. S. 130 f. wird ein ganzes
Bündel von Vorſchlägen gegeben für Unterſuchungen der Motive und Typen ſowie der Er⸗
zählungstechnik der Märchen. S. 133 eine Geographie der Volksrätſel nach den vorhandenen
landſchaftlichen Sammlungen. In Süddeutſchland wenige, in Mitteldeutſchland und beſon⸗
ders in Norddeutſchland ſehr viele, was ſicher mit der Volksart zuſammenhängt. Eine
Unterſuchung über die Beziehungen zwiſchen Volks⸗ und Kunſträtſel II, 115 eine Sachgeo⸗
graphie volkstümlicher Techniken.
Wenn auch andere, im ganzen günſtige Beſprechungen manches an dieſem Handbuch auszu⸗
ſetzen haben (vgl. die Beſprechungen von Hepding in den heſſiſchen Blättern für Volkskunde
308 Forſchungsberichte
19, 21 f. und 23, 148 — 150 von Hoffmann⸗Krayer im Schweizer Archiv für Volkskunde
25, 300), ſo müſſen wir uns doch freuen und dem Verfaſſer dankbar ſein, daß wir endlich ein
ſolches Handbuch unſeres Wiſſenszweiges beſitzen. Seine beſonderen Vorzüge find alfo eine klare,
ſachliche, zuſammenfaſſende und abgerundetete Bearbeitung faſt des geſamten Stoffes der
Volkskunde mit gewiſſenhafter Benutzung der wichtigſten einſchlägigen Literatur, die auch dem
Fachmann zugute kommt. Eine angenehme leichtverſtändliche Darſtellung. Ein Nachteil iſt
vielleicht der Mangel einer folgerechten perſönlichen Einſtellung zu dem Gegenſtand und deſſen
Problemen, was ſich beſonders in den einleitenden Abſchnitten kundgibt. Doch vom Geſichts⸗
punkt ſachlicher Beurteilung kann dies auch als ein Vorzug angeſehen werden.
2. Einen Gegenſatz dazu bildet das zwiſchen den beiden Bänden Reuſchels erſchienene Büch⸗
lein von Hans Naumann. Naumann hatte ſeinen neuartigen Standpunkt den Volks⸗
überlieferungen und der Wiſſenſchaft von der Volkskunde gegenüber zum erſten Male ein
Jahr vorher ausgeſprochen in ſeinem Buch: „Primitive Gemeinſchaftskultur, Beiträge zur
Volkskunde und Mythologie.“ Diederichs, Jena 1921, das unter anderem von G. Jung ⸗
bauer (Euphorion 24, 460 - 463) zum größten Teil ablehnend beſprochen wurde. Mit
voller Schärfe vertritt Naumann dieſe Anſicht in ſeinen „Grundzügen“, die nicht nur darum
einen Gegenſatz zu Reuſchel bilden. Naumann bringt auch ſtofflich weniger als Reuſchel.
Keine Geſchichte und Methodologie der Volkskunde. Mundarten⸗ und Namenkunde bleiben
ganz weg mit Ausnahme weniger Bemerkungen über die Ortsnamenſuffixe und der ländlichen
Taufnamen (71 f.). Sein am Schluß abgedrucktes Literaturverzeichnis kann durchaus nicht
als vollſtändig bezeichnet werden. Dabei iſt ſeine Darſtellung oft ſchwer verſtändlich und von
vielen, zum großen Teil ungewöhnlichen Fremdwörtern durchſetzt. Vor allem iſt ſeine Be⸗
trachtung mit großer Zuverſicht aus einer ganz beſtimmten einheitlichen Idee entwickelt, die
aber einſeitig, höchſt perſönlich und ſchwer zu erweiſen iſt. Mit wünſchenswerter Deutlichkeit
ſtellt er in ſeiner Einleitung dieſe Behauptungen auf. Es handelt ſich um zweifaches. Ent⸗
weder um eine von der Oberſchicht gekommenes „geſunkenes Kulturgut“ oder um ein von
unten gekommenes „primitives Gemeinſchaftsgut“. Weiters behauptet er, daß es ſich haupt⸗
ſächlich um das erftere handelt. Er ſagt nämlich S. 5 „Volkstracht, Volksbuch, Volkslied,
Volksſchauſpiel, Bauernmöbel uſw. find geſunkene Kulturgüter bis in die kleinſten Einzel-
heiten hinein und ſie ſind es nur langſam, im faſt zu errechnendem zeitlichem Abſtand ge⸗
worden. Mit andern Worten: Volksgut wird in der Oberſchicht gemacht“. Alſo bedingungs⸗
los. Folgerichtig ſtellt er nun auch die Forderung auf, daß von nun an Darſtellung und Be⸗
ſchreibung der Wörter und Sachen, der Dichtung und der Gegenſtände im Volksleben von
dieſem Standpunkt aus das Hauptarbeitsziel der (S. 2) „modernen Volkskunde“ ſein und
ſich daraus eine Art „Syſtem der Volkskunde“ entwickeln ſolle. Dieſe ſcharfe Gegenüber⸗
ſtellung mit der ſich daraus ergebenden zukünftigen Arbeitsweiſe wurde von vielen führenden
Volksforſchern abgelehnt, auch von Reuſchel I 6 f. und von Niemandem rückhaltlos an-
erkannt. Man hat Naumann vorgehalten, daß ſeine Behauptung nicht ſtichhaltig und ſub⸗
jektiv ſei, daß dieſe Zweiteilung eine zwangsmäßige Vorſtellung ſei und ein gewiſſes Fremd⸗
ſein des Beobachters dem Volke gegenüber erweiſe und zu einer falſchen Wertung des Volks⸗
lebens führe. Daß es ſolche ſchroffe Gegenſätze in Wirklichkeit nicht gebe, ſondern hundert
Ubergänge dazwiſchen. Das Wort „geſunken“ wurde auch bemängelt. Das Volk übernimmt
ſtädtiſches Gut, aber geſtaltet es um. Fehrles) ſchlägt die Ausdrucksweiſe vor: „Übernahme
ſtädtiſchen Kulturgutes durch die bäuerliche Schicht“, Lüers “): „Gewandeltes Kulturgut und
naturgegebenes Gemeinſchaftsgut.“ Denn unſer Bauerntum wenigſtens in der neuern Zeit iſt
nicht primitiv. Das iſt von vielen Kennern der deutſchen Bauern wiederholt betont worden.
Naumann kennt aber die deutſchen Bauern nicht, und die von ihm empfohlene künftige Ar⸗
beitsweiſe von einem voreingenommenen Standpunkt aus könnte nur ein ganz falſches Bild
e) E. Fehrle, Badiſche Volkskunde 1, 72 ff. F. Lüers, Hefte für bayriſche Volkskunde,
10, 40 und Volkstumkunde im Unterricht der böbern Lebranſtalten. Frankfurt a. M. 1924, S. 117.
Th. Siebs, Mitteilungen der ſchleſſiſchen Geſellſchaft für Volkskunde (23, 120 f. und 24, 144 f.).
G. Ko ch, Heſſiſche Blätter f. Volkskunde 23, 30. Beſonders ausführlich und nachdrücklich von
Michael Haberland (Wiener Zeitſchrift für Volkskunde 30, 1-3).
Neue Schriften zur deutſchen Volkskunde 309
ergeben, was ein unſachliches Vorgehen wäre. Es müſſen auch noch weiter alle Außerungen
und Erſcheinungen des Volkslebens erfaßt und dargeſtellt, in ihrer geographiſchen Verbrei⸗
tung, in ihrer geſchichtlichen Entwicklung und in ihre pſychologiſchen Wurzeln verfolgt werden.
Und erſt auf Grund eines umfaſſenden Stoffes könne man aus geſicherten Ergebniſſen heraus
große Geſichtspunkte erſchließen.
Naumann wendet nun ſeine neuen Geſichtspunkte in zehn Abſchnitten auf die verſchiedenen
Volksüberlieferungen an. Kennzeichnend iſt es für ihn, daß er gegen allen ſonſtigen Brauch
mit I „Tracht und Hausrat“ beginnt, weil er hier an vielen Beiſpielen das Sinken des Kul-
turgutes in das Landvolk zeigen kann. Zu bemerken wäre, daß nicht alle Kleidungsſtücke
aus der Stadt ſtammen. Die kurze, das Knie freilaſſende Hoſe und die ſchweren nägel⸗
beſchlagenen Schnürſchuhe der Alpenbewohner ſind aus den beſonderen Boden⸗ und Lebens⸗
verhältniſſen ſchon im Mittelalter hervorgegangen, ſind alſo bodenſtändig. In den nächſten
zwei Kapiteln II „Bauernhaus und Dorfkirche“ mit Plänen und III „Siedelung und Agrar⸗
weſen“ kommt mit einigen Ausnahmen kein Kulturgut in Betracht, was der Verfaſſer ſelbſt
feſtſtellt (S. 24). „So wenig meiſt der Inhalt des Hauſes in die primitive Gemeinſchafts⸗
kultur zurückführt, ſo tief reichen Bauernhaus und Siedelung ſelbſt noch in dieſe hinein.“
Über die Dorfkirche (S. 37) äußert er ſich ähnlich. „Die deutſche Dorfkirche iſt alſo boden⸗
ſtändig und vermutlich aus heimiſchen Elementen erwachſen. Faſt niemals kommt ein Quer-
ſchiff vor, meiſt handelt es ſich nur um das einfache kleine rechteckige Landhaus, das beſonders
in Holz einen uraltertümlichen Eindruck macht.“ Das IV. Kapitel „Primitiver Gemein⸗
ſchaftsgeiſt“ fordert durch einſeitige Auffaſſung Widerſpruch heraus. Naumann gibt zunächſt
eine Charakteriſtik unſerer Bauernſchaft, die er mit folgenden Worten eröffnet: (S. 56) „An
eine weſentliche Anderung der Maſſen glauben wir nicht und die oft bis ins Kleinſte gehenden
Parallelen zwiſchen den wilden Völkern der entlegendſten Gebiete und unſern Primitiven,
Parallelen in materieller wie in ideeller Hinſicht beſtätigen dieſe Anſicht.“ Michael Haberland,
der Verfaſſer einer „Völkerkunde“ und mehrerer verwandter Schriften, der die Naturvölker
im Gegenſatz zu Naumann gut kennt, bekämpft dieſe Behauptung (Wiener Zeitſchrift für
Volkskunde 30, 1 - 3). Auch die Bezeichnungen für unſere Bauern als „Rudel“ (S. 13), als
„ſozial gebundene Herdenmenſchen“, die in ihrer Lebensweiſe mit Ameiſen, Bienen, Bibern
und Affen verglichen werden, wurden dem Verfaſſer als Liebloſigkeit vorgeworfen. Weiter
gibt Naumann als beſondere Kennzeichen unſerer Bauern an: (63 f.) „Unſere Primitiven
arbeiten nicht gern und nur das allernotwendigſte, leben noch am liebſten von der Hand in
den Mund, treiben noch weithin Bedarfs, nicht Erwerbsarbeiten. Jedenfalls glaubt man
noch gern, daß Arbeit ſchändet, ... und fühlt ſich ſicherlich ſehr wohl und glücklich, wenn man
nichts arbeiten muß.“ Damit ſetzt er ſich in Widerſpruch mit den Ausſagen von G. Koch, der jahre⸗
lang unter den Oberheſſiſchen Bauern lebte, in deſſen grundlegender Abhandlung „Bauern⸗
kultur“ (Heſſiſche Blätter für Volkskunde 23, 20 38). „Obenan ſteht der Fleiß. Fleiß iſt
bäuerliche Kardinaltugend, noch heute, iſt eine Tugend erſten Grades auf der Stufenleiter
einer zweckhaften Lebenswertung, wie ſie dem Bauern eigen iſt in Unterſchied vom primitiven
Menſchen. So wird neben dem Fleiß die Ordnung zur Grundtugend des Bauern. ‚Ein
fleißiger und ein ordentlicher Mann’, das iſt allerhöchſtes Lob“ (S. 21 f.). Und gegen den
Ausdruck „primitiv“ richtet ſich hier auch Koch. „Auch gemeinſame Denkart, gemeinſame
Anliegen, gemeinſame äußere Erlebniſſe ſchließen ja an ſich noch nicht Seelengemeinſchaft ein,
im Gegenteil: je enger die äußere Verflechtung, um ſo ſtärker erhebt ſich in Einzelnen das
Bedürfnis nach Abgrenzung gegen die Andern.“ (Vgl. auch Spamer a. a. O. S. 92f.)
Vgl. auch Karl Rühle, Beiträge zur Seelenkunde der Vogelsberger Bauern. (Heſſiſche
Blätter f. Volkskunde 7 — 16) und Karl Stoffelmeier, Steiriſche Grenzbauern (ebd. 25, 85
bis 105).
Von den ſpäteren Kapiteln möchte ich nur einiges herausgreifen V „Die primitiven Ge⸗
meinſchaftsfeſte“. Hier gebraucht Naumann nicht die Eigenſchaftswörter bäuerlich oder land⸗
wirtſchaftlich, ſondern agrariſch, alfo: „agrariſche Feſte, agrariſcher Charakter, agrariſche Ver⸗
richtung, agrariſche Religion“, ſtatt des üblichen und guten Ausdrucks „Volksglauben“ oder
„Bauernglauben“. Das Wort agrariſch vom Lateiniſchen agrarius taucht erſt 1821 auf für
landwirtſchaftliche Geſetzgebung und Organiſation, ſpäter ſeit 1871 ausgeſprochen im poli⸗
310 Forſchungsberichte
tiſchen Sinne (vgl. Hans Schulz, Deutſches Fremdwörterbuch 1, 14). Bei VI „Volks⸗
ſchauſpiel und Gemeinſchaftsſpiel“ iſt es auffällig, daß als Beiſpiel eines typiſchen Schau⸗
ſpiels ein im Volksmund ganz verwildertes Adventſpiel aus Oſtpreußen geboten wird (105 f.)
Solcher im Wortlaut verderbter Spiele gibt es natürlich in den meiſten deutſchen Land⸗
ſchaften, aber viel häufiger finden ſich auch bei uns Weihnachtsſpiele, die erſt im Volks⸗
mund den Zauber naiver Poeſie und harmloſer Scherze mit dem Chriſtkind und dem als Greis
geſchilderten Nährvater Joſef erfuhren. Zu VIII „Volkslied und Gemeinſchaftslied“ äußert
ſich Naumann (S. 118). „Unter Volkslied ... verſtehen wir heute ein volksläufig gewordenes
Lied, das aus höherer Kultur ſtammt. Die ungeſtörte Volksläufigkeit äußert ſich in einer
fortſchreitenden Anpaſſung an die primitive Gemeinſchaftspſyche . Sodann verſtehen wir
unter Volksliedern auch ſolche Lieder, die von ‚Leuten aus dem Volke nach dem Muſter und
dem Stile und nunmehr populär gewordener höherer Kunſt gerichtet ſind. Stammt dann
nicht das einzelne Lied, ſo ſtammt doch ſein Stil und oft ganz genug auch ſein Stoff aus der
höheren Kulturſphäre!“. Dazu kommen noch ſeine theoretiſchen 3 über das Ge⸗
meinſchaftslied und die Dichter aus dem Volke (128 f.), ſowie die über Schnadahüpfeln
(132). Man ſieht deutlich, daß er hier Anſchauungen John Meiers verwertet. Doch nicht
ſo engherzig wie dieſer. Er gibt auch zu, daß Leute aus dem Volke Gedichte verfaßt haben, die
zu Volksliedern geworden ſind. Doch verlegt er auch hier das Schwergewicht auf die Rezep⸗
tion, während bei der Formel, die er von Hoffmann⸗Krayer übernommen hat, von Reproduktion
die Rede iſt, alſo von einer eigenſchöpferiſchen Umbildung des übernommenen Gutes (vgl.
A. Spamer a. a. O. S. 91). John Meier entſtammt einer Patrizierfamilie aus Bremen
und verbrachte den größten Teil ſeines Lebens in Städten, konnte alſo nicht in die Schaffens⸗
weiſe bäuerlicher Dichter ſo tief eindringen wie G. Jungbauer, der unter Bauern ſeiner
Heimat aufgewachſen iſt und darum einige unrichtigen Außerungen Naumanns berichtigen
konnte (Euphorion 24, 461) und noch ausführlicher in der Einleitung zu ſeiner umfänglichen
zweibändigen Ausgabe: „Das deutſche Volkslied im Böhmerwalde“, die leider noch nicht ge-
druckt vorliegt. Jungbauer hat aber ſchon 1908 in ſeinem Buch Volksdichtung aus dem Böhmer⸗
walde (Beiträge VIII) eingehend über die Begriffe Naturlied, Volkslied, volkstümliches Lied
und Kunſtlied gehandelt, auch mehrere Beiſpiele von einfachen Leuten verfaßter Gedichte ge⸗
geben, die im Böhmerwald in den Volksmund übergingen und „zerſungen“ wurden. Daß
das Wort „geſunken“ beim Volkslied nicht immer angebracht iſt, geht daraus hervor, daß
manchmal ein verfehltes Kunſtgedicht durch Umgeſtaltung im Volksmund zu einem wirkſamen
und entzückenden Liede werden kann. Dafür gibt Götze ') ein hübſches Beiſpiel. Pfeffels Ge⸗
dicht „Die Nelke“ 1779 wurde von mehrern deutſchen Landſchaften übernommen. Beſonders
7) Alfred Götz e, Vom deutſchen Volkslied, S. 122, Freiburg i. B. Boltze 1921 (S. 37).
Fünf feinſinnige mit warmer Liebe zu dieſem Gegenſtand geſchriebene Abhandlungen, von denen
die erſten drei früher in Zeitſchriften erſchienen und die letzten zwei der Buchausgabe hinzugefügt
wurden. 1. „Begriff und Weſen des Volksliedes“, wo unter anderem die einander widerſprechenden
Anſchauungen John Meiers und andererſeits die von Pommer, Wackernell und Jungbauer ſachlich
beurteilt werden. Lange vor dem Erſcheinen von Naumanns „Grundzügen“ zeigt Götze hier an vielen
Beiſpielen (S. 9), daß man die deutſchen Bauern nicht mit den Naturvölkern gleichſtellen könne,
und daß die Dichtung der „primitiven Völker“ (ſo bezeichnet Götze die Naturvölker) ſich nicht mit
den Volksliedern der Kulturvölker in eine Begriffsbeſtimmung vereinigen laſſen (S. 13). Die
Lieder der Naturvölker bezeichnet O. Immiſch als Erſter 1904 als „Gemeinſchaftsdichtung“.
Wundt hat dieſen Ausſpruch übernommen (S. 12 und 117). 2. „Der Stil des Volksliedes.“
3. „Das Schickſal des Volksliedes in der Gegenwart.“ Alles mit fruchtbaren neuen Geſichts⸗
punkten und Ergebniſſen. 4. „Jörg Grünwald.“ Hier gelingt es dem Verfaſſer auf Grund älterer
Forſchungen und Funde mit neuen Funden, ſtiliſtiſchen und metriſchen Kriterien drei Dichter
volkstümlicher Lieder aus dem 16. Jahrhundert mit dem Namen Grünwald ſäuberlich voneinander
zu ſcheiden. 5. „Goethe und das Volkslied.“ Der Verfaſſer verfolgt hier die faſt ſechzig Jabre
umfaſſende Beſchäftigung Goethes mit dem Volkslied und ſtellt feſt, daß deſſen Anſicht vom Begriff
und Bedeutung des Volksliedes die ganze Zeit über unverrückbar gleich blieb, trotzdem er mehrfach
mit geändertem Standpunkt zu „dieſem Lieblingsland ſeiner Jugend“ zurückgekehrt iſt. An vielen
Beiſpielen wird zum Schluß die reiche gegenſeitige Beeinfluſſung zwiſchen Goethes volkstümlicher
Lyrik und Balladendichtung mit dem Volkslied aufgezählt.
Neue Schriften zur deutſchen Volkskunde 311
in einer Lothringer Faſſung hat dieſe Parabel erſt die leichte, loſe Form gefunden, die ihr
allein gemäß iſt. Alles geſpreizte und unnatürliche iſt aus Pfeffels Gedicht „herausgeſungen“
und ſo aus ſeinem Machwerk eine wirkliche Dichtung geworden.
Durch Naumanns „Grundzüge“ angeregt hat Spamer, Profeſſor für deutſche Philo⸗
logie und Volkskunde in Dresden eine gehaltvolle Abhandlung verfaßt „Um die Prin⸗
zipien der Volkskunde“ (Heſſiſche Blätter für Volkskunde 23, 67 — 108). Er bezeichnet
Naumanns Buch „als einen Markſtein für volkskundliche Forſchung“, als „eine geiſtvolle
Darbietung des heutigen Standes unſeres volkskundlichen Wiſſens“, das er „durch Auf⸗
deckung pſychiſcher und kauſaler Zuſammenhänge vertieft“ hat. Als „einen ſtiliſtiſch wie ge⸗
danklich gleich einſchmeichelnden“ und „unter einer einheitlichen Idee geſtalteten Abriß“.
Doch fügt Spamer hinzu, daß das Buch „zu dankbarer Zuſtimmung wie zu Widerſpruch“
reizt (S. 67 f.). Nun folgt in großem Umriß eine überſichtliche Geiſtesgeſchichte der letzten
zwei Jahrhunderte, aus der unſere immer noch ungefeſtigte volkskundliche Disziplin hervor⸗
ging mit Heranziehung der beſonders von Frankreich gekommenen Einflüſſe und der Nach⸗
barwiſſenſchaften bis zur Gegenwart. Von dem auf dieſe Weiſe gewonnenen Standpunkt be⸗
urteilt nun Spamer eingehend und kritiſch die „Grundzüge“. Zum Schluß beſpricht er ſelb⸗
ſtändig mit viel fruchtbaren Winken und Vorſchlägen die Aufgaben und Motive der Volks⸗
kunde mit Verwertung der neueſten Arbeiten, auch der Sprachforſchung und Soziologie. Er
beobachtet mit Befriedigung, „die ſich langſam durchſetzende Erkenntnis von der praktiſchen
Bedeutung, ja Unentbehrlichkeit der Volkskunde“ (S. 99). Als beſondern Vorteil der
Volkskunde gegenüber andern Wiſſenſchaften, namentlich der Völkerkunde ſtellt er feſt, daß
der Volkskundler von der Heimat und der lebendigen Gegenwart ausgehen könne. Natürlich
müſſe er dieſe Ergebniſſe mit der hiſtoriſch⸗philologiſchen und der ſoziologiſch⸗pſychologiſchen
Forſchungsweiſe verarbeiten (S. 104 f.). Zum Schluß erhebt er den Ruf nach einer For⸗
ſchungsanſtalt und nach Landesämtern für Volkskunde (S. 108).
Ich habe auch die das Werk Naumanns rühmenden Ausſprüche Spamers angeführt, weil
ich ſeine Meinung teile. Auch die Ausſprüche Gerambs in ſeiner als Privatdozent für Volks⸗
kunde in Graz gehaltenen Antrittsrede: „Die Volkskunde als Wiſſenſchaft“ (Zeitſchrift für
Deutſchkunde 38, 323 341) führe ich an. Die „Grundzüge“ find „die wichtigſte methodiſche
Neuerſcheinung“ und bedeuten „einen weiteren weſentlichen Schritt in der Läuterung der
wiſſenſchaftlichen Volkskunde“ (338 f.). Gewiß bringt das geiſtreiche Werk Fachleuten reiche
Anregungen für weitere Forſchung. Doch Anfängern und Laien, die es kritiklos benützen, kann
es gefährlich werden. Es kann vorkommen, daß Dilettanten (Geramb S. 340) „eine kalt⸗
herzige, liebloſe und ſpöttiſche Betrachtungsweiſe des eigenen Volkes als wiſſenſchaftlich an⸗
ſehen und von allen guten Geiſtern, die an der Quelle der Volkskunde ſtanden, verlaſſen würden“.
3. Im Vorwort zum erſten Band des neuen Jahrbuchs rechtfertigen ſich Herausgeber
W. Fraenger und Verleger H. Stubenrauch damit, daß ſie neben den alt bewährten Zeit⸗
ſchriften, die ſich auf das geſamte Gebiet der Volkskunde erſtrecken, das neu begründete Organ
auf beſondere Aufgaben beſchränken, was ſchon aus dem Titel „Jahrbuch für hiſtoriſche Volks⸗
kunde“ hervorgehe. Für die nächſten Bände ſeien vier Wege als Ziele geſetzt. Der erſte be⸗
ſtehe darin, daß die Geſchichte dieſer Wiſſenſchaft vom Humanismus bis „zum Vermächtnis
der Romantik“ in ſyſtematiſch aufgebauten Einzelbänden dargeſtellt werden ſolle. Der zweite
Weg erſtrebe eine nach Kulturepochen eingeteilte „Ausbreitung der Quellendokumente“ dieſes
Wiſſenszweiges. Der dritte Weg beſtehe in der Würdigung volkswüchſiger Perſönlichkeiten,
die in ihren Werken den Inbegriff volkstümlicher Lebensformen bergen. Der vierte nehme
zum Ausgangspunkt die beſondern Gebiete: Volksdichtung, Bauformen, Bildnerei.
Der vorliegende erſte Band weiſt als Vorſtufe für die ſpäteren Bände in grundſätzlichen
und beiſpielhaften Abhandlungen die Wege des fruchtbaren Zuſammenwirkens der Volks⸗
kunde mit Nachbarwiſſenſchaften. Dieſe Aufgabe iſt tatſächlich von tüchtigen Fachleuten in
vortrefflicher Weiſe durchgeführt worden. Die Reihe eröffnet Arthur Haberlandt:
„Volkskunde und Vorgeſchichte“. Hier kommt es ihm hauptſächlich darauf an, nach kritiſcher
Würdigung der einſchlägigen Literatur die Stetigkeit im Kulturwandel von der Vorgeſchichte
bis in die geſchichtliche Zeit aufzudecken. Nach dieſem Ergebnis wird die Forderung aufge⸗
ſtellt, es mögen von nun an methodiſch die Zuſammenhänge zwiſchen vorgeſchichtlichen und neu⸗
312 Forſchungsberichte
zeitlichen Erſcheinungen der ſachlichen Volkskunde klargeſtellt werden. Bei dieſen Unter⸗
ſuchungen geht Haberlandt wie die nachfolgenden Darſtellungen mit Recht über den Kreis des
deutſchen Volkstums hinaus. Zunächſt folgt H. Naumanns „Prolegomena über ver⸗
gleichende Volkskunde und Religionsgeſchichte“. Dieſer Titel wurde gewählt, weil der weit⸗
ſchichtige Gegenſtand gegenwärtig noch nicht abſchließend behandelt werden kann. Naumann
beginnt mit einer Betrachtung über den jetzt leider ſo ſtark um ſich greifenden Spiritismus.
Er findet hier viele Züge wieder aus dem Glauben an wiederkehrende Tote, an Klopf-, Poch⸗
und Wurfgeiſter. Kurz berichtet er dann über den Einfluß der heidniſchen und chriſtlichen Re⸗
ligion auf den Glauben der untern Schichten und mit Beiſpielen vieler Naturvölker über den
Totenglauben, ſpäter über volkstümliche Anſchauungen von den Beziehungen zwiſchen Menſchen
und Tieren, von Schutzheiligen und ähnlichen Erſcheinungen. Schöne Worte findet Nau⸗
mann für die Aufnahme des Primitiven in das katholiſche Chriſtentum, welches ſchließlich
ſeinen Gläubigen „das weihevolle Gefühl ſteter Verbundenheit zwiſchen den himmliſchen und
irdiſchen Mächten ermöglicht“. Ein Beiſpiel zu dieſem Gegenſtand bietet Hans Fehr, „Das
Stadtvolk im Spiegel des Augsburger Eidbuches“. Dieſes iſt ein 1583 vollendeter Perga⸗
mentband mit 153 Eidesformeln, welche Stadtbeamte, Kontrollperſonen und Gewerbetrei⸗
bende zu beſtimmten Gelegenheiten der Stadt ſchwören mußten, um ſo dem Gefüge der Stadt
eine feſtere und juriftifche greifbarere Grundlage zu geben. Fehr teilt hier die 153 Uberſchriften
der Eide mit, die dazu gehörigen ſchönen, bisher von der Kunſtgeſchichte unbeachteten Minia⸗
turen eines unbekannten Malers und 44 Eidesformeln im Wortlaut als Beiſpiele aus allen
Lebensgebieten.
Seine ausgezeichnete Darſtellung „Rechtsgeſchichte und Volkskunde“ eröffnet E. v.
Künßberg mit der Bemerkung, daß man im Deutſchen noch keine Bezeichnung für die Er⸗
forſchung dieſes Grenzgebietes habe und ſchlägt dafür „Rechtswiſſenſchaftliche Volkskunde“
vor. Seine Abhandlung iſt in mehrere Kapitel geteilt: 1. Volkskundliche Quellen (Volks-
dichtung, Sagen, Rechtsſprichwörter, Kinderſpiele). Er unterſucht dieſe Überlieferungen vor-
ſichtig von dem Standpunkt aus, was ſie zur Aufhellung und Vertiefung rechtsgeſchichtlicher
Erkenntniſſe beitrügen. Dieſe Ergebniſſe ergänzt er dann durch die Betrachtung der Rechts⸗
quellen nach ihrem volkskundlichen Inhalt: 2. Weistümer, Volkstümliches Recht, Weistümer
Familien, Motive. 3. Aberglauben (Aberglaube und Recht, amtlicher Aberglaube, Privat-
recht, Strafrecht, Mißbrauch, krimineller und antikrimineller Aberglaube, Bekämpfung des
Aberglaubens). 4. Rechtsaltertümer (Rechtsſymbole allgemeiner Art, Rechtsaltertümer in
engerem Sinne, unbewegliche und bewegliche) mit mehreren Beiſpielen. 5. Aberrecht. Altes
Recht in der Erinnerung. Vermeintliches Recht. Aberrecht und Privatrecht, Prozeß, Straf⸗
recht. Schwankmotive. Zum Schluß faßt er die Ergebniſſe über Rechtsgeſchichte und Volks⸗
kunde, Rechtsbrauch und Volksbrauch, Humor im Rechte zuſammen. Alles mit ſicherer Be⸗
herrſchung der volkskundlichen und rechtsgeſchichtlichen Literatur und mit Verwertung eigener
Forſchungsergebniſſe. Als Anhang behandelt er noch gründlich einen Einzelfall: „Hühnerrecht
und Hühner-Zauber‘.
R. Pet ſch beginnt feine Abhandlung „Volkskunde und Literaturwiſſenſchaft“ mit einer
Erörterung über den Begriff „National⸗Literatur“. Dieſer hat ſich oft als ein feſtes Band
bewährt, das die aufeinander folgenden Geſchlechter zuſammenhält, ſowie die auseinander⸗
ſtrebenden Stämme und die nach ihren Lebens⸗ und Denkgewohnheiten, nach ihrer Welt⸗
anſchauung und Geſchmacksrichtung einander feindlich gegenüberſtehenden Kreiſe. Von einer
Nationalliteratur ſolle man verlangen, daß ſie wirkliche Dichtung ſei und von der Geſamt⸗
heit gehegte Anſchauungen ausſpreche, nicht das beſonders ſtammhafte, landſchaftliche und ſo⸗
zial Bedingte, ſondern das allgemein Völkiſche. Am reinſten präge ſie ſich in der Volks⸗
dichtung aus, die ihrem Weſen nach durch einzelne Individuen geſtaltete Gemeinſchaftsdichtung
iſt. Die Volksdichtung ſteht mit der Kunſtdichtung in ſteter Wechſelwirkung. Dieſe wird nun
im erſten Kapitel eingehend betrachtet. Hier iſt von den Kunſtliedern im Volksmunde, vom
volkstümlichen Denken und von den beſondern Kennzeichen der Volksdichtung die Rede. Zum
Schluß erwähnt Petſch auch A. Sauers akademiſche Rede „Literaturgeſchichte und Volks⸗
kunde“ 1907, wo „ein großzügiges, an praktiſchen Winken reiches Programm entwickelt
wird“ und die aus dieſen Anregungen erwachſene „Literaturgeſchichte der deutſchen Stämme
Zur Methode der Bibliographie 313
und Landſchaften“ von J. Nadler. Petſch ſelbſt hat dieſe Anregung für ſeine Darſtellung,
was man eigentlich vorausſetzen ſollte, nicht verwertet mit der Erklärung, daß er hier eine
andere Aufgabe zu erfüllen habe. Das II. Kapitel „Die einzelnen Dichtungsgattungen“ iſt
wieder in Unterabteilungen eingeteilt: a) Das primitive Geſamtkunſtwerk und die Urſprünge
der Poeſie. b) Das Drama. c) Märchen und Sagen. d) Rätſel und Sprichwort. III. Hier
unternimmt Petſch einen Gang durch die Geſchichte der deutſchen Dichtung von der heid⸗
niſchen Zeit angefangen. Beim Minneſang findet er Volkstümliches in Wolframs Lyrik:
„Hier iſt gleichſam dem Volke die Zunge gelöſt.“ Und bei Walther in den Liedern von der
niedern Minne fei „die Scheitelhöhe volkstümlicher Dichtung in Deutſchland überhaupt“ er-
reicht. Später werden beſonders hervorgehoben die Dorfdichtungen, die Volks⸗ und geiſt⸗
lichen Lieder, Luther, der Beginn der Beſchäftigung mit dem Volkslied durch Herder, die
Heimatkunſt um die Mitte des 19. Jahrhunderts und die mundartliche Dichtung bis nahe an
die Gegenwart. Alles nur in Andeutungen. Petſch erklärt ſelbſt, daß er ein abgerundetes
Bild dieſes Gegenſtandes hier nicht bieten könne. Dieſer Darſtellung folgt wieder eine bei⸗
ſpielhafte Unterſuchung: „Zur Geſchichte der Punktier⸗ und Losbücher“ von J. Bolte, deſſen
weltumfaſſendes Wiſſen ſich hier auch auf einige aſiatiſchen Völker erſtreckt. Der letzteren
Darſtellung über „Volkskunde und Kunſtwiſſenſchaft“ von Michael Haberlandt, wo na⸗
türlich hauptſächlich von Volkskunſt die Rede iſt, folgt als Beiſpiel die ebenfalls reich illu⸗
ſtrierte Unterſuchung W. Fraengers „Beiträge zur Frühgeſchichte des Neuruppiner Bil⸗
derbogens“.
Den Beſchluß bilden einige bibliographiſchen Uberſichten Naumann, „Volkskunde und
Religionsgeſchichte“. Künßberg, „Volkskunde und Rechtsgeſchicht““. Mackenſen,
„Volkskunde und Literaturgeſchichte“. Fraenger, „Volkskunde und Kunſtgeſchichte“.
Neben den jüngſten Erſcheinungen werden auch ältere beſprochen. Mackenſen geht bis 1912
zurück. Nadlers Literaturgeſchichte wird von dieſem viel ausführlicher gewürdigt als von
Petſch. Auch werden hier die Unterſchiede zwiſchen den beiden Auflagen gut dargeſtellt.
Der erſte Band hat ſich alſo gleich durch tüchtige wiſſenſchaftliche Leiſtungen und ſchöne Aus⸗
ſtattung glücklich eingeführt und eröffnet eine günſtige Ausſicht für die folgenden Bände.
Prag. Adolf Hauffen.
Sur Methobe ber Bibliographie.
Mallon, Otto, Arnim⸗ Bibliographie. S. Martin Fraenkel, Berlin 1925.
Mallon, Otto, Brentano⸗Bibliographie (Clemens Brentano 1778 — 1842). S. Martin
Fraenkel, Berlin 1926.
Otto Mallon beabſichtigt, eine Reihe von Bibliographien über die ſogenannte jüngere
(Heidelberger) Romantik vorzulegen, alſo etwa den von Reinhold Steig betreuten Kreis.
1925 iſt der Arnim⸗Band erſchienen, 1926 der über Brentano, 1927 ſollen in einem dritten
Bande Bettina, die Mereau und die Günderode behandelt werden; ob auch noch Bände über
Görres und etwa die Brüder Grimm folgen, wird offengelaſſen.
Die beiden bisher vorgelegten Bände ſind eine Augenweide für den Bücherliebhaber. Die
Schrift (Altſchwabacher) iſt ſo edel, wie ſie uns in Büchern ähnlicher Art faſt nur bei Griſe⸗
bach begegnet iſt; das Format (Klein⸗Quart) hält gerade die Mitte zwiſchen zu klein (Redlichs
Leſſing, Hirzels Goethe, Trömels Schiller, Berends Jean Paul) und zu groß (Buchholtz' Leſ⸗
ſing⸗Katalog und Schulte ⸗Strathaus Sturm und Drang). Wie freilich jeder Vorzug einen
Nachteil mit ſich zu bringen pflegt, ſo iſt hier der Schönheit die Uberſichtlichkeit geopfert: um
das Satzbild geſchloſſen zu halten, mußte der Verfaſſer es ſich verſagen, die Erſcheinungsjahre,
nach denen er das Ganze geordnet hat, als Überſchriften einzuſetzen; ſelbſt als Kolumnentitel
ſucht man ſie vergebens. Und um den Satz ebenmäßig zu halten, hat er es unterlaſſen, die
textgeſchichtlich wichtigen Drucke (wie Redlich und Muncker es dankenswerter Weiſe für Leſ⸗
ſing getan haben) durch auffallende Schrift hervorzuheben.
Der Schönheit des Satzes entſpricht die Sorgfalt und der Fleiß, die der Verfaſſer an die
große Arbeit gewendet hat; ein Mehr an Gewiſſenhaftigkeit, auch an Materialkenntnis läßt
ſich nicht denken. Das Buch iſt in dieſer Hinſicht das gerade Gegenteil von Fabrikarbeiten
Unberufener wie Marcuſes Schiller⸗ und Salomons Hoffmann⸗Bibliographie.
314 Forſchungsberichte
Wenn aber trotzdem das Ergebnis dieſes redlichen Sich⸗Bemühens auf jeden Unverbildeten
nicht wie eine klare Architektur wirkt, ſondern wie ein unüberſehbarer, regelloſer Haufen
großer und kleiner Steine, ſo liegt die Schuld daran ausſchließlich in der angewandten Me⸗
tho de. Es liegt uns fern, Mallon ſelbſt für dieſe verantwortlich zu machen. Wie Ref. 1917
bei Gelegenheit von Schulte⸗Strathaus „Sturm und Drang“ in der Zeitſchrift für Bücher⸗
freunde dargetan hat, iſt die Technik für bibliographiſche Arbeiten, deren ſchönſte Frucht Meu⸗
ſels Lexikon war, ſeit mehr als hundert Jahren verlorengegangen. So werden jedem Sach⸗
kenner zu den im Folgenden gerügten Mißgriffen Parallelen einfallen aus Goedekes
Grundriß und aus den oben genannten guten und ſchlechten Spezialbibliographien. Aber ge⸗
rade die Gründlichkeit und Gewiſſenhaftigkeit Mallons laſſen die Übelftände feines Verfahrens
gleichſam überlebensgroß in die Erſcheinung treten, und die Mängel der Methode laſſen ſich
ſomit an den vorliegenden beiden Prachtbeiſpielen beſonders deutlich zeigen.
1. Mallons Aufteilung ſeines Stoffs (Heidelberger Romantik) unter Einzelperſonen
bringt es mit ſich, daß die wichtigen großen Publikationen, die zwei oder mehr Mitgliedern
dieſes Kreiſes angehören oder ſolche betreffen, vom Wunderhorn (mit allen Neudrucken und
Kompoſitionen, ſowie der uferloſen Literatur, die ſich daran knüpft) bis zu Steigs Trilogie,
zweimal in voller Breite vorgeführt werden. Es hätte ſich empfohlen, dieſe umfaſſenden Werke
in einem allgemeinen Teil vorwegzunehmen. In dieſem Sinne haben doch auch die im allge⸗
meinen gut beratenen Klaſſikerbibliotheken von Meyer, Heſſe und Bong das „Wunderhorn“
geſondert herausgegeben, nicht innerhalb ihrer Ausgaben von Arnim und Brentano.
2. Mallon verzeichnet literariſche Werke im eigentlichen Sinne (nämlich Dichtungen und
für die Offentlichkeit beſtimmte Darlegungen) promiscue mit brieflichen und mündlichen
Privatäußerungen. Das iſt genau ſo unzuläſſig, als wenn man Gemälde und Briefe
eines Malers durcheinander in Einer chronologiſchen Folge verzeichnen würde. Briefe und
mündliche Äußerungen find keine Werke und find nicht Gegenſtand einer Bibliographie.
3. Mallon weiß, daß es eine Rangordnung unter den verſchiedenen Drucken einer Schrift
gibt, daß ein von Arnim oder Brentano beſorgter Druck wichtiger iſt als ein 1925 danach
angefertigter Neudruck. Er handelt dementſprechend, indem er die alten Drucke ſehr ein⸗
gehend beſchreibt, und zwar jeden für ſich unter ſeinem Erſcheinungsjahr; während er
moderne Neudrucke nur kurz anführt, und zwar nicht nach ihrem Erſcheinungsjahr, ſondern
nach ihrem Inhalt geordnet, ſo daß z. B. alle neueren Ausgaben des Wunderhorns, des
Tollen Invaliden, der Brentanoſchen Märchen an Einer Stelle vereinigt ſind. Ref. ſtimmt
dieſem Prinzip aus ganzem Herzen bei. Wo aber iſt die Grenze zwiſchen wichtig und un⸗
wichtig? Mallon antwortet: bei Arnim iſt die Grenze das Jahr 1857, denn damals hat
Arnims Witwe zuletzt eine Titelauflage von Arnims Werken herſtellen laſſen; bei Brentano
iſt es das Jahr 1862, denn damals hat Brentanos Bruder zuletzt eine Titelauflage von
Brentanos kleineren Proſaſchriften in den Handel gebracht. Aus dieſem Grunde beſchreibt
Mallon jeden Band aus den Jahren 1799 1857, der irgend etwas von Arnim enthält
(ſei es in Erſtdruck oder Neudruck oder Nachdruck oder Auszug, Kompoſttion, Uberſetzung),
und ebenſo jeden Band aus den Jahren 1795 — 1862, der irgend etwas dergleichen von
Brentano enthält, auf das allergenaueſte wie ein wichtiges Dokument, während er von den
ſpäteren Publikationen nur die Erſtdrucke in dieſer Weiſe behandelt. — Dazu iſt zu be⸗
merken, daß Arnims Witwe und Brentanos Bruder uns nichts angehen, und daß deren
Ausgaben auch dann für uns gleichgültig ſind, wenn es nicht (wie hier) bloße Titelauflagen
find. Der Wert eines Druckes hängt überhaupt nicht von feinem
Erſcheinungs jahr ab, ſondern davon, ob er urkundlichen Charakter
bat. Eine Urkunde für die Textgeſchichte ift aber nur ein Druck, der unter Mitwirkung des
Verfaſſers oder doch in feinem Auftrage hergeſtellt iſt (einerlei ob als erſter oder
zehnter Druck des Textes); nur ein ſolcher verdient (und erfordert) eine ins einzelne gehende
Beſchreibung.
4. Mallon verzeichnet promiscue unter laufender Zählung Bücher, an die der Autor
vielleicht Jahre gewendet hat, mit Erzeugniſſen des Tages von wenigen Seiten oder gar
nur wenigen Zeilen. Dieſe Dinge ſind aber nicht kommenſurabel, und ſie hintereinander
aufzählen, heißt das Bild der Produktion völlig verſchieben. (Analog aus einer anderen
Zur Methode der Bibliographie 315
Sphäre: „Bismarck gründete in mehrjähriger zäher Arbeit das Deutſche Reich, dann ging
er frühſtücken, und darauf ſchrieb er ſeiner Frau einen Brief.“) So finden wir als Nr. 14
Hollins Liebesleben, unter Nr. 15 einen 45 Seiten langen Auszug aus den Beobach-
tungen, die ein anderer über das Berliner Blau gemacht hat. Meuſel wußte, daß man erſt
die Bücher aufzählt, die ein Autor herausgegeben hat, und dann ſeine Beiträge zu
Sammelwerken.
5. Wie eben geſagt iſt, nennt Mallon jenen Auszug aus dem Berliner⸗Blau⸗Aufſatz unter
Nr. 15. Als Nr. 15 ſelbſt erſcheint nicht etwa der genannte Aufſatz Arnims, ſondern der
zehnte Band von Gilberts Annalen der Phyſik, der jenen Aufſatz auf S. 363/67 enthält.
Dieſer Zeitſchriftenband wird ebenſo genau beſchrieben wie vorher Arnims Erſtlingsroman;
wir erfahren, daß er ſich zuſammenſetzt aus einem Titelblatt, 3 Blättern Inhalt, 512 Tert-
ſeiten und 6 gefalteten Kupfertafeln. Mallon verzeichnet nämlich (wie im Prinzip das auch
Hirzel getan hat, der immerhin eine wirklich aufgeſtellte Sammlung katalogiſierte, und wie es
dann 1881 Goedeke bei Heine gemacht hat) unter feinen 323 reſp. 353 Nummern nicht
Werke oder Aufſätze Arnims, ſondern Bände, einerlei ob dieſe Bände als ſolche etwas mit
Arnim zu tun haben oder nicht. Lächerlich wirkt das gegen Schluß, wenn die Druckorte
einzelner Briefe Arnims angeführt werden. Statt zu ſagen, daß ein Brief Arnims an
Bettina in der Sonntagsbeilage zur Voſſiſchen Zeitung vom 19. Dezember 1915 erſchienen
iſt, oder daß Paul Graupe in Berlin am 3. Dezember 1924 einen Brief Arnims an
Zimmer aus Hermann Roſenbergs Beſitz verſteigert und vorher als Nr. 19 ſeines Kata⸗
loges 38 abgedruckt hat, wird folgender Apparat aufgefahren:
316 Voſſiſche Zeitung | Berlin [Begründet] Wappen | 1704 | Königlich privilegirte
Berliniſche Zeitung von Staats⸗ und gelehrten Sachen] Sonntagsbeilagen | für
das Jahr | 1915 | Redakteur: Prof. Dr. Alfred Klaar in Berlin | Im Verlage
von Ullſtein & Co.
2 Bl. Titel und Inhalt, S. 1 412 (No. 1-52). 4°.
Darin S. 403 404 (No. 51 zu No. 647, 19. Dezember 1915) im 1. Druck: 1 Brief
Arnims an Bettina.
323 BIBLIOTHEK | HERMANN ROSENBERG | BERLIN | AUKTION
XXXVIII AM 3.—4. DEZEMBER 1924 | PAUL GRAUPE ANTI-
QUARIAT | BERLIN W 35. LÜTZOWSTRASSE 38 |
2 Bl. Titel, ! Bl. Vorwort, S. 5 125, 1 Bl. Anzeigen 4°.
Darin S. 8 („19“) im 1. Druck: 1 Brief Arnims an Zimmer
Natürlich ſind in einer Monobibliographie ſolche dem Autor fremde „Bände“ nicht zu be⸗
ſchreiben, ſondern lediglich als Druckort zu nennen und zwar nicht ausführlicher, als gerade
ausreichend iſt zur Identifizierung.
6. Die drei Ausgaben der ſämtlichen Werke Arnims von 1839/57 verzeichnet Mallon
tabellariſch S. 140/42. Das iſt beſonders dankenswert für die lediglich aus umgeſtellten
Titelausgaben beſtehende dritte Ausgabe von 1857. Dagegen zeigt ſich der Bearbeiter bei
der Verzeichnung der beiden erſten Ausgaben wieder als reiner Formaliſt, als Titelblatt-
Anbeter. Tatſächlich hat die erſte Ausgabe, die im Laufe der zehn Jahre 1839/48 erſchien,
immer nur aus den 19 Bänden 1 — 3 und 5 20 beſtanden. Immer, das heißt hier: fo lange fie
neu zu kaufen war. Im Jahre 1853 ift fie dann unvollendet abgebrochen und aus dem
Handel zurückgezogen worden. Nun begann die zweite Ausgabe zu erſcheinen. Zunächſt
wurden, noch im Jahre 1853, die alten 19 Bände mit neuen Titelblättern verſehen, die den
Vermerk „Neue Ausgabe und das Erſcheinungsjahr 1853 trugen. 1854/56 wurde dieſe
Neue Ausgabe ergänzt durch die bisher fehlenden Bände 4, 21, 22. Herausgeber, Verleger
und Drucker ſtanden nun vor der Frage, ob ſie dieſe drei Bände gleichfalls mit dem Vermerk
Neue Ausgabe verſehen ſollten oder nicht. Dafür ſprach, daß nur noch die Neue Aus⸗
gabe der Werke im Handel war, alſo nur ihre Bände zuſammen mit den drei neu gedruckten
verkauft werden konnten. Dagegen ſprach, daß jeder einzelne dieſer drei Bände als Indi⸗
viduum nicht eine „neue Ausgabe“ darſtellte, denn Bände dieſes Inhalts (Kronenwächter II,
Wunderhorn IV und Gedichte Arnims) waren bisher überhaupt nie erſchienen. Der Zufall
316 Forſchungsberichte
entſchied, daß bei Band 21 (Wunderhorn IV) die Worte „Neue Ausgabe auf das Titelblatt
geſetzt wurden, bei Band 4 und 22 nicht. Da nun für Mallon der Wortlaut des Titel⸗
blattes maßgebend iſt, ſtellt er Band 4 und 22 zu der alten Ausgabe von 1839/48, Band 21
aber zur neuen aus den 50er Jahren!
7. Die allgemeine, d. h. nicht auf einzelne Werke beſchränkte Literatur über Arnim iſt
S. 161/71 in vortrefflicher Anordnung verzeichnet; den Hauptinhalt bildet mit Recht Arnims
„Verhältnis zu anderen Perſonen“ (S. 163/70, in alphabetiſcher Ordnung). Leider find
dagegen Brentanos Beziehungen zu anderen an der entſprechenden Stelle (S. 242/45) nur
teilweiſe verzeichnet, und auf das hier Fehlende iſt nicht einmal an der alphabetiſch ihm zu⸗
kommenden Stelle verwieſen. Gerade die Literatur über die wichtigſten Beziehungen Bren⸗
tanos iſt über das ganze Buch hin verſtreut; ſie wird nämlich aufgezählt bei den poſtumen
Briefpublikationen, d. h. bei Büchern, die mehrere Briefe oder Einen Brief oder das Frag⸗
ment eines Briefes von Brentano an die in Rede ſtehende Perſönlichkeit enthalten, und
die nach Mallons Grundſätzen unter das Erſcheinungsjahr geſtellt ſind. So muß man die
geſamte neuere Literatur über das Verhältnis Brentanos zu ſeiner Schweſter Bettina und
ſeinem Schwager Savigny unter dem Jahre 1844 ſuchen, nämlich jene bei Bettinas, Frühlings⸗
franz‘ (S. 108 / 10) und bei Dittenbergers Schrift über die Univerfität Heidelberg (Nach⸗
trag, S. 254); die Schriften über Brentanos Beziehungen zu Goethe dagegen find unter dem
Jahre 1899 verzeichnet bei Schüddekopf⸗Walzels ‚Goethe und die Romantik (Nachtrag,
S. 258), die zu Tieck unter 1864 bei Holtei (S. 158 und 256), die zu Luiſe Henſel unterm
Jahre 1885 bei Binder (S. 168/69) uff. Etwas Verfehlteres läßt ſich kaum denken.
8. Die Neudrucke, die nach den letzten von Arnims reſp. Brentanos Angehörigen veran⸗
ſtalteten Ausgaben erſchienen ſind, und die geſamte Literatur über die einzelnen Schriften der
beiden Dichter ſtellt Mallon mit Recht zuſammen: er führt dieſe ſekundären, nur ihres
Inhalts wegen intereſſierenden Publikationen nicht wie etwa Muncker (Leſſing) und Berend
(Jean Paul) nach den Jahren auf, in denen ſie erſchienen ſind, ſondern nach den Texten,
die ſie wiedergeben oder beſprechen. Hier wie überall arbeitet Mallon mit einem Fleiß und einer
Umſicht, für die ihm nicht genug Lob und Dank gezollt werden kann; als einige wenige Bei⸗
ſpiele nur erwähne ich ſeine umfangreichen Zuſammenſtellungen zu Godwi und Ponce de
Leon, zu Wunderhorn und Tröſteinſamkeit, zum Gockel und den anderen Märchen Brentanos
ſowie zu deſſen Roſenkranz⸗Romanzen, ſeinen kleineren Gedichten und den drei in vielen
Sprachen überaus verbreiteten Emmerich⸗Büchern, dieſen religiöſen Dichtungen Brentanos,
zu deren fünf ſtarken Bänden die geſtammelten Viſionen der ſtigmatiſierten Nonne nur das
Rohmaterial gegeben haben. Aber Mallon verſteckt dieſe willkommenen Gaben vor dem Leſer
wie Oſtereier; er verſtreut ſie über das ganze Buch hin wie die unter 7 beſprochene Lite⸗
ratur über die wichtigſten perſönlichen Beziehungen Brentanos: er ſtellt ſie nämlich zu dem
Erſtdruck, deſſen Stelle nur ein Spezialiſt auswendig wiſſen kann. Die neueren Aus⸗
gaben des Wunderhorns und die Literatur über dieſe Sammlung ſteht bei Arnim auf S. 12
bis 22 und bei Brentano auf S. 18 34 unter dem Jahre 1806, da in dieſem der erſte
Band der Sammlung erſchien; die neueren Ausgaben der eigenen Gedichte Arnims und die
Literatur über dieſe muß man jedoch S. 110/11 ſuchen, da Arnims Gedichte zufällig erſt
1856 (für die Geſamtausgabe) von Varnhagen gefammelt find, und die Brentanos S. 143,44,
da dieſe 1854 „in neuer Auswahl“ einzeln erſchienen. Dieſer chronologiſche Umſtand iſt
aber dem völlig gleichgültig, der eine neue Ausgabe von Arnims oder Brentanos Gedichten
oder Literatur über dieſe ſucht. Poſtume Drucke und Literatur über die Einzelſchriften laſſen
ſich nur ſyſtematiſch, nach der Gattung der Texte ordnen. |
9. Als allgemeines Schema für eine Monobibliographie ſchlägt
Ref. auf Grund der von ihm ſeit etwa 1900 geübten Praxis vor:
A. Eigene Veröffentlichungen des Autors (eingehend zu beſchreiben):
J. Buchpublikationen (f. u.);
II. Beiträge zu Sammelwerken (in der Regel nach dem Monat der Veröffent⸗
lichung geordnet, alſo ohne jede Rückſicht auf nachträglich gebildete Zeit⸗
ſchriftenbände).
Zur amerikaniſchen Literatur 317
B. Veröffentlichungen anderer (kurz aufzuführen):
I. Sammelausgaben (mit Inhaltsangabe);
II. Allgemeine Literatur über den Autor, ſoweit nicht ſchon als „Biographiſche
Einleitung“ zu einer Sammelausgabe unter ] genannt (ſachlich geordnet);
III. Ausgaben einzelner Schriften in ſyſtematiſcher Anordnung (wie in einer idealen
Geſamtausgabe) und unter jedesmaliger Beifügung der über dieſe Schriften
erſchienenen Literatur. An die (bereits unter A beſchriebenen) Originaldrucke iſt
hier lediglich durch Angabe ihrer Erſcheinungsjahre zu erinnern.
Die Anordnung innerhalb der erſten und wichtigſten Reihe (AI, die eigenen Buch⸗
publikationen des Autors umfaſſend) hängt in gleichem Maße ab von der Produktion des
Autors wie von der Druck- und Verlagsgeſchichte feiner Werke. Man hat ſich von Fall zu
Fall für das ſachgemäßeſte und überſichtlichſte Verfahren zu entſcheiden. Bei einer kleinen oder
gleichförmigen Produktion kann eine einfache Aufzählung nach dem Erſcheinungsjahr genügen
(wenn man auch mehrbändige Werke in der Regel unter das Jahr des erſten Bandes ſtellen
wird). In anderen Fällen empfiehlt es ſich, einige größere Reihen zu bilden, wie Goedeke
(gegen ſeine ſonſtige Gewohnheit) es bei Gottſched und Klopſtock gemacht hat.
Berlin. Hans von Müller.
Zur amerlkaniſchen Literatur.
Weber, Paul C., America in Imaginative German Literature in the First
Half of the Nineteenth Century. New York, Columbia University
Press, 1926.
Von allen den an amerikaniſchen Univerſitäten erſchienenen Doktorarbeiten auf dem
Gebiete der Germaniſtik haben wohl keine ein höheres Durchſchnittsniveau erreicht und
behauptet, als diejenigen, welche das Imprimatur des Department of Germanic
Languages and Literatures der Columbia -Univerſität tragen. Vorliegende Arbeit, die
einen Gegenſtand behandelt, der namentlich der Aufmerkſamkeit und des Fleißes eines Ameri⸗
kaners würdig erſcheint, ſteht wiederum auf derſelben Höhe, wie man das von den Zöglingen
Robert Herndon Fifes, des verdienten Nachfolgers von Calvin Thomas, nunmehr zu er⸗
warten gewohnt iſt.
Der Verfaſſer, Dr. Paul C. Weber, hat es ſich zur Aufgabe gemacht, die deutſche Dich⸗
tung der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Abſicht durchzuarbeiten, ihre langſam
ſich geſtaltende, verſchiebende und endlich ſich befeſtigende Stellung Amerika gegenüber dar⸗
zulegen. Amerika wird hier in dem engeren auf die Vereinigten Staaten von Nord⸗
amerika beſchränkten Sinne aufgefaßt. Daß ſich für einen ſpäteren Forſcher, der die
Stellung der deutſchen Literatur zu Mexiko, Mittel⸗ und Südamerika wird ermitteln wollen,
noch reichlicher Stoff darbieten dürfte, liegt nach Anſicht des Rezenſenten auf der Hand.
Aber das deutſche Intereſſe an Amerika als ſolches konzentrierte ſich zunächſt in ſeinen erſten
Erſcheinungen auf die Vereinigten Staaten. Von einem nennenswerten Intereſſe an den
anderen Staaten und Ländergebieten Amerikas kann erſt in einem ſpäteren Zeitabſchnitt die
Rede ſein. Soweit Südamerika in Betracht kommt, ſo darf ſogar behauptet werden, daß das
deutſche Schrifttum erſt jetzt in unſerer Zeit beginnt, ſich dieſem Weltteil ſchöpferiſch
zu nähern.
In ſeinem einleitenden Kapitel ſtellt der Verf. rückblickend feſt, daß die Neugier und das
Intereſſe in bezug auf Amerika (zunächſt wohl überwiegend die Neugier) hauptſächlich durch
den amerikaniſchen Freiheitskrieg wachgerufen wurden. Dieſer brachte eine reiche begeiſterte
Amerika⸗Literatur, ſowohl beſchreibender als auch wiſſenſchaftlicher Art mit ſich. Es war
dies eine Begeiſterung, die unter dem Banne des Schlagwortes „Zurück zur Natur“ ſtand und
der Sturm- und Drangbewegung einen ihrer ſtärkſten Antriebe gab. Was Sturm und Drang
anbelangt, fo hätte der Verf. deſſen wichtige Beziehung zur Amerika⸗-Literatur wohl ent-
ſchieden mehr betonen und eingehender beſprechen ſollen. Er begnügt ſich mit dem einen
kärglichen Satz (S. 3): The poets of Storm and Stress, such as Klinger and
Lenz, were influenced by the revolt of the colonies. Doch ſchon am Ende des
318 Forſchungsberichte
18. Jahrhunderts gewann in Deutſchland die Einſicht von der kulturellen und idealiſtiſchen
Rückſtändigkeit der neuen Republik Boden und ſetzte der naiven Begeiſterung ſcharf zu.
Die nächſte Stufe, die Era of Romanticism, kennzeichnet der Verf. durch ihren Mangel
an hiſtoriſchem Intereſſe, doch zugleich durch zunehmende Anteilnahme am demokratiſchen
Idealismus eines Jefferſon — eine Anteilnahme, die ſich der Hoffnung hingibt, daß die
Neue Welt den vielen lebensüberdrüſſigen Landesgenoſſen bald zur rettenden Zufluchtsſtätte
werden möge. Unter den Dichtern, die in knappem Überblick von dieſem Geſichts⸗
punkte aus betrachtet werden, ſeien Seume, Eichendorff, Chamiſſo, E. T. A. Hoffmann,
Platen, Zſchokke, Goethe, Hauff und Rückert erwähnt. Die vom Verf. kurz angedeutete
Möglichkeit einer ausgeſprochenen Einwirkung franzöſiſcher⸗ und engliſcherſeits auf die da⸗
malige deutſche Stellung zu Amerika würde ſicherlich eine weit eingehendere Unterſuchung
und Befeſtigung verdient haben.
Da die reichhaltige Reiſeliteratur nur in ganz beſchränktem Sinne in den Rahmen dieſer
Arbeit hineinpaßt, ſo erfährt ſie auch nur eine ziemlich oberflächliche Behandlung. Rezenſent
iſt aber der Anſicht, daß ſie es verdient hätte, weniger kurſiv herangezogen zu werden, und zwar
ſchon bevor die Betrachtung der überwiegend „imaginativen“ Literatur überhaupt in Angriff
genommen wurde, denn oft wird dieſe erſt durch jene bedingt und erklärt. Stärker betont
werden Sealsfield und Gerſtäcker und deren „ethnographiſche Romane“. Ihre Bedeutung
liege in der Tatſache, daß ſie dank ihrer weiten Verbreitung deutſchen Leſern zuerſt ein
treffendes Bild und ſachlich zuverläſſige Kenntniſſe amerikaniſcher Zuſtände gaben.
Die „öſterreichiſchen Schriftſteller“ außer Sealsfield — Feuchtersleben, Lenau, Grün,
Stifter und Grillparzer — werden zwecks Überſichtlichkeit in der Behandlung zuſammen⸗
genommen. Doch will es ſcheinen, als ob ihre Stellung zu Amerika ſolche Zuſammen⸗
knüpfung kaum rechtfertige. Vielleicht mit Ausnahme Lenaus wurde Amerika für keinen
einzigen dieſer Dichter zum inneren Erlebnis. Feuchtersleben ließ ſich in politiſcher Hinſicht
anziehen, Grün von ſeiner Vorliebe für Landleben und Natur, die er dort zu finden ver⸗
meinte. Bei Lenau tritt der enttäuſchte Idealismus in erſter Linie zum Vorſchein. Stifter
wird als der glühende romantiſche Schwärmer bezeichnet, während ſich Grillparzer Amerika
gegenüber als wohlwollender Realiſt zeigte.
Unter den Dichtern, die der Verf. zu den „romantiſch⸗realiſtiſch“ geneigten zählt, kommen
namentlich in Betracht Alexis und der, was Amerika anbelangt, ſchlecht unterrichtete Freili⸗
grath, der in feinen Amerika⸗Gedichten bekanntlich Reis am Miſſouri wachſen läßt und etwas
übertrieben ideal⸗idylliſch das Verhältnis zwiſchen Einwanderern und Eingeborenen darſtellt.
Dieſe Gedichte bahnen aber den Weg zu Auerbach und zu ſolchen verdienſtvollen Werken wie
Willkomms „Die Europamüden“ und Hoffmann von Fallerslebens „Texaniſchen Liedern“,
die den beachtenswerten Verſuch machen, ſich von der unklaren Schönfärberei, die Verf. als
Romanticism bezeichnet, zu befreien und ſich zu der realen Wirklichkeit durchzukämpfen. In
der jungdeutſchen Bewegung ſchließlich, ſowie bei Menzel, hat ſich dieſe realiſtiſche Strömung
ſo ſtark entfaltet, daß ſie in eine bittere Anklage gegen das kulturloſe Amerika ausmündet.
Verf. verſucht vergebens, das Amerika jener Tage gegen dieſe Beſchuldigungen zu verteidigen.
Trotz ſeiner Ausführungen muß aber geſagt werden, daß Laube z. B. die Wahrheit treffend
ausſprach, als er erklärte: „Gold haben und ſuchen fie (d. h. die Amerikaner), aber nicht das
Leben.“ Die neueren amerikaniſchen Kulturhiſtoriker, die freimütig dasſelbe Bild jener Zeit
entwerfen, geben eindeutig zu, daß wenn auch Reichtum und Luxus im Amerika der fünziger
Jahre, namentlich in den größeren Städten wie New Pork, Boſton, Philadelphia, keineswegs
unbekannt waren, ſich doch ein ausgeſprochener Ton ungeſchlachter Rohheit und eine offen-
ſichtliche Verachtung höherer Kultur breitmachten.
Im Schlußwort entfaltet der Verf. ein knappes, im ganzen freilich ir ref ührendes
Bild der Stellung der deutſchen Literatur zu Amerika ſeit 1890. Der hier erweckte Eindruck,
als ob die deutſchen Dichter der neunziger Jahre und des angehenden 20. Jahrhunderts
eine treffende Schilderung Amerikas hinterlaſſen hätten, muß richtiggeſtellt werden. Im
Gegenteil, erſt ſeit dem Weltkrieg befinden ſich die deutſchen Schriftſteller und Publiziſten,
namentlich die letzteren, auf dem richtigen Pfade, der ſie und ihre Leſer hoffentlich zu einem
beſſeren Verſtändnis Amerikas führen wird.
Zur amerikaniſchen Literatur 319
Man würde Webers Werk unrecht tun, wollte man darin eine erſchöpfende Behandlung
irgendwelcher Einzelfragen ſuchen. Vielmehr muß man es für das hinnehmen, was es
ſein will — nämlich für einen Überblick über ein großes Gebiet. Als ſolcher hat es un⸗
zweifelhaft einen großen Wert, der von Nachfolgern nicht überſehen werden darf. In einer
kurzen Anzeige in den Modern Language Notes (März 1927) hat Rezenſent bereits
einen Nachtrag zu dem vorliegenden Buche angeführt, und zwar das wichtige „Schreiben
eines deutſchen Juden an den amerikaniſchen Präſidenten O“. Herausgegeben von Moſes
Mendelsſohn (Frankfurt und Leipzig 1787).“ Es iſt dies eine im Namen der deutſchen
Juden an den Vorſitzenden des Continental Congress gerichtete Bittſchrift, die eine
Landbewilligung in Amerika beantragt. Im Anſchluß daran möchte ich noch einige wei ⸗
tere Nachträge zu Webers Arbeit bringen.
Es iſt zunächſt zu bedauern, daß der Verf. von einer Erörterung der Beziehungen Moſes
Mendelsſohns zu Amerika ganz abſieht, denn Mendelsſohn hatte mindeſtens ein ebenſo leb⸗
haftes und wiſſenſchaftliches Intereſſe und ein ebenſo gutes Verſtändnis für Amerika wie
irgendeiner ſeiner Zeitgenoſſen. Es war der amerikabefliſſene Mendelsſohn, der in ſeinem
„Jeruſalem“ (1784), an der Stelle, wo von den herrſchenden Religionen die Rede iſt, die ſcharf⸗
ſinnige Bemerkung machte: „Leider! hören wir auch ſchon den Congreß in Amerika das alte Lied
anſtimmen, und von einer herrſchenden Religion ſprechen.“ ) Und es war wiederum Mendels⸗
ſohn, der in ſeinen Kleinen Vermiſchten Schriften bemerkte: „Die Europäer würgen ſich
einander um den Ohiofluß, und kein Amerikaner hat ſich je gelüſten laſſen, die Spree zu
bekriegen. Und dennoch nennen wir die Amerikaner die Wilden. Nun möchte ich einen
amerikaniſchen Sittenlehrer vom Hochmute reden hören.“ 2) Äußerungen, die auf ernftes
Studium und große Beobachtungsfähigkeit ſchließen laſſen.
Was die frühzeitigen literariſchen Beziehungen zwiſchen Deutſchland und Amerika an⸗
belangt, ſo möchte ich auf die folgende ſehr wichtige Stelle aufmerkſam machen, die einer
am 15. Februar 1834 zu Philadelphia gehaltenen Rede eines gewiſſen Peter S. du Ponceau
entnommen iſt. Sie lautet:
Finding... that our weak efforts were derided by British critics. it
occurred to some patriotic gentlemen in Philadelphia and New Vork to seek
literary friends on the continent of Europe. A company was formed that had
ramifications in Boston and elsewhere, to carry that idea into effect ... We
began with Germany. Correspondences were opened with the literary charac-
ters of that land of genius and science. The works of our writers were sent to
them, and theirs received in turn. Two journals were established, one in
English at New York, under the title of „The German Correspondent“, and
another in German, at Philadelphia, under that of „Views of America”
(Amerikaniſche Anſichten). The object of the former was to make German litera-
ture known to our countrymen, and that of the latter to make our own known
in Germany. At the same time there appeared at Leipzick another periodical
publication entirely devoted to this country, and tending to the same end
with the two others, entitled „America described by herself“ (Amerika dar⸗
geſtellt durch ſich ſelbſt). These three periodicals lasted little more than one
year; the last, however, was followed by another, entitled „Atlantis“, also
published at Leipzick, . . and went through two octavo volumes.)
Dieſes ungemein aufſchlußreiche Dokument ſcheint ſowohl von Weber als auch von allen
ſeinen Vorgängern unbemerkt geblieben zu ſein. Es wird auch von S. H. Goodnight in
feiner Wiſeonſiner Studie „German Literature in American Magazines prior
to 1846“) nicht erwähnt. Wenn das, was du Ponccau fagt, zutrifft, fo läge die Not⸗
1) Moſes Mendelsſohns ſämtliche Werke. Ausg. in 1 Bde. Wien 1838, S. 291 Anm.
2) Ebd. S. 1004.
2) Dieſe Rede liegt als Flugſchrift (datiert Philadelphia 1834) vor. Ein Exemplar befindet ſich
Ä der Univerſitätsbibliothek zu Chapel Hill, North Carolina. Das Zitat ſteht
auf S. 24.
) Bulletin of the University of Wisconsin, No. 188. Philology and Literature
Series, Vol. 4, No. 1. Madison, Wisconsin, 1907.
320 Forſchungsberichte
wendigkeit nahe, die ganze Frage der deutſch⸗amerikaniſchen literariſchen Beziebungen noch
einmal aufzurollen. Für Weber kämen namentlich die „Amerikaniſchen Anſichten “ und
„Amerika dargeſtellt durch ſich ſelbſt“ in Betracht.
Cincinnati, Ohio, U. S.A. Edwin H. Zeydel.
Fi ſcher, Walther, Amerikaniſche Proſa vom Bürgerkrieg bis auf die Gegenwart (1863
bis 1922). B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1926.
Dieſes in der Sammlung „Pbilologiſche Studienbücher“ erſchienene Werk von Dr. Wal⸗
ther Fiſcher, Profeſſor der engliſchen Philologie an der Techniſchen Hochſchule zu Dresden,
ſtellt es ſich zur Aufgabe, deutſchen Studierenden nicht nur einen Einblick in die amerikaniſche
Proſa der Jabre 1863 — 1922 zu gewähren, ſondern ihnen gleichzeitig ein Bild der geiſtigen
Entwicklung Amerikas während jenes bedeutenden Zeitabſchnittes zu entwerfen. Der Ver⸗
faſſer hofft, damit einen beſcheidenen Beitrag zu jener neuen Wiſſenſchaft gemacht zu haben,
die Friedrich Schönemann kurzweg als Amerikakunde bezeichnet hat. Daß ihm dies gelungen
iſt, ſoweit dafür in dem beſchränkten Rahmen eines 250 Seiten ſtarken Büchelchens über⸗
haupt die Möglichkeit vorliegt, kann nicht geleugnet werden. Der Verſuch bedeutet ohne
Zweifel einen Schritt in der zugeſtrebten Richtung, denn wenn ſich die Deutſchen jemals einen
den Tatſachen entſprechenden Begriff von Amerika, ſeinen Idealbeſtrebungen, Sitten und
Gedankenrichtungen, bilden wollen, ſo wäre jetzt die geeignetſte Zeit dazu. Bücher von der
Art des vorliegenden werden den Weg ſicherlich ebnen helfen, wenn ſie auch natürlich nur
als Notbehelf dienen können. Denn daß eine gediegene Kenntnis von Amerika und deſſen
Literatur einzig und allein durch langjährigen Aufenthalt und fleißiges Studium an Ort
und Stelle zu erwerben iſt, darüber ſollte kein Zweifel herrſchen.
Die 67 Seiten betragende Einleitung bietet eine aufſchlußreiche Darſtellung der poli⸗
tiſchen und wirtſchaftlichen Entwicklung der Vereinigten Staaten ſeit dem Bürgerkrieg, des
demokratiſchen Gedankens, wie er ſich dortſelbſt geſtaltet hat, der ausgeprägt amerikaniſchen
philoſophiſchen Strömungen vom Puritanismus zum Neurealismus, mit einem Exkurs über
den Puritanismus in der Literatur und die „American Language“, eine Uberſicht über die
ſchöne Literatur in ihren drei wichtigſten Proſagattungen, der Kurzgeſchichte, dem Roman und
dem Eſſay, und ſchließlich eine Schilderung der geiſtigen Beziehungen Englands und Amerikas.
Der Verf. gelangt im Gegenſatz zur Anſicht des Lord Bryce zu dem ſehr vernünftigen Schluß,
daß die amerikaniſche Literatur echt demokratiſche Elemente aufzuweiſen habe, und daß ſolche
Schriftſteller wie Bret Harte, Mark Twain, W. D. Howells, O. Henry und Sinclair Lewis
in irgendeinem nichtdemokratiſchen Lande geradezu undenkbar wären. Auf Bryces Satz, daß
die Vereinigten Staaten in Sachen des Geiſtes und der Kunſt ein Teil Englands ſeien, ſo wie
umgekehrt England in dieſer Hinſicht als ein Teil Amerikas anzuſprechen ſei, erwidert der
Verf. höchſt verſtändig und einſichtsvoll (S. 67): „Das Verhältnis, wie es ſich uns im gegen-
wärtigen Augenblicke daſtellt, gleicht vielmehr dem Bilde zweier Kreiſe, die ſich urſprünglich
überdeckten, aber dann infolge der einem jeden innewohnenden, langſam divergierenden Eigen⸗
bewegung allmählich einen immer kleineren Teil ihrer Fläche gemeinſam haben. Daß ſie ſich
allerdings jemals bis zur Tangentialſtellung verſchieben ſollten, erſcheint im Hinblick auf die
hiſtoriſchen und ſprachlichen Tatſachen undenkbar.“
An der Hand dieſes wertvollen belehrenden Geleitwortes iſt der Leſer nunmehr bereit, ſich
dem Studium der den Reſt des Buches ausfüllenden amerikaniſchen Texte zu widmen. Ein
kurzer Überblick über die Texte ſei hier geſtattet. Sie reiben ſich in vier Rubriken ein, die
folgendermaßen bezeichnet find: I. Demokratie und Politik (Lincoln, Lowell, Karl Schurz, Booker,
T. Waſhington, Rooſevelt, Wilſon), II. Demokratie und Philoſophie (Emerſon, Whitman,
William James, Joſiah Royce), III. Die amerikaniſche Sprache (Brander Matthews),
IV. Die ſchöne Literatur (1. Kurzgeſchichte: Harte, Mark Twain, Cable, Harris, Bierce,
O. Henry; 2. Roman: Howells, Henry James, Margaret Deland, Mitchell, Norris, Sin-
clair, Hergesheimer, Lewis, Paſſos; 3. Eſſay: Higginſon, Bliß Perry, Menden, Spingarn).
Jede dieſer Rubriken wahrt die chronologiſche Reihenfolge und entfaltet ein deutliches
Bild der ſtiliſtiſchen und gedanklichen Entwicklung. Die Auswahl iſt freilich ſubjektiv
geſtaltet. So werden manche bedauern, daß unter den Philoſophen z. B. Santayana und
Zur amerikaniſchen Literatur 321
Dewey fehlen. Andere werden die Wahl von Upton Sinclair als Romanvertreter gewiß
mißbilligen. Schließlich werden einige die Zweckmäßigkeit der Aufnahme von Harris mit
ſeinem „Uncle Remus“ und deſſen für den Ausländer äußerſt ſchwierigem Negerdialekt
beanſtanden, namentlich weil der Dialekt im einleitenden Apparat und in den ſpärlichen Fuß⸗
noten ohnehin nur unzureichende Erklärung findet. Andererſeits werden die Kenner zu⸗
geben, daß der Verf. vollkommen recht hat, wenn er die politiſche Note durchwegs ſtark betont.
Ohne das Politiſche wäre das Verſtändnis Amerikas rein unmöglich.
Die theoretiſchen Kenntniſſe des Verf. auf dem Gebiete der amerikaniſchen Zuſtände und
der amerikaniſchen Sprache ſcheinen hinreichend zu fein. Das beweiſt nicht nur das Geleit⸗
wort. Auch die biographiſchen Skizzen und die Anmerkungen, die ſeine Texte begleiten, legen
Zeugnis davon ab. Seine praktiſchen Kenntniſſe jedoch laſſen zu wünſchen übrig, was kaum
zu verwundern iſt. Denn es handelt ſich hier um eine Schwäche, unter der alle deutſchen
Amerika⸗Forſcher notgedrungen leiden. Man bedenke, daß fie fi mit einem Stoffe befaſſen,
welchen man ja erſt jetzt ernſtlich zu bearbeiten beginnt. Man bedenke auch die großen
Schwierigkeiten, ſowohl theoretiſche Kenntniſſe als auch ſchwer zu erwerbende langjährige Er⸗
fahrung zu vereinen. Selbſt diejenigen Amerika⸗Forſcher, die mit praktiſchen, allerdings zu⸗
meiſt während anormaler Kriegszeit erworbenen Kenntniſſen ausgerüſtet ſind, können nicht
ohne Entgleiſungen, die ſofort den Ausländer verraten, ſchreiben. So z. B. Schönemann in
ſeiner „Maſſenbeeinfluſſung“. Und bedenkt man endlich, daß ſolche praktiſchen Kenntniſſe bei
dem ſich raſch entwickelnden Amerika innerhalb eines Jahrzehnts einroſten und veralten, ſo
werden einem die Schwierigkeiten um ſo klarer.
Auf einige der Entgleiſungen, die mir im vorliegenden Buche aufgefallen ſind, möchte
ich aufmerkſam machen. 148, 9: ary mag wohl eine Abart von every fein, hier aber
ſicherlich = any. flush, Z. 10, heißt nicht „reichlich gewinnend“, ſondern „bei Kaſſe“
und ift ein Pokerausdruck. 149, 14: das gewöhnliche Präteritum zu catch iſt caught,
nicht nur nach Menden, ſondern nach allen Regeln der Grammatik. 149, 19: doughnut
wird unzulänglich als „kleiner runder Eierkuchen“ erklärt; man ſtelle ſich eher einen
ungefüllten Berliner Pfannkuchen mit einem Loch in der Mitte vor. 150, 33: pried iſt
hier Präteritum zu prie, nicht zu prize. 179, 10: blue- coats heißt nicht Armenhäusler,
ſondern Schutzleute. 180, 14: Thanksgiving Day iſt niemals der erſte Donnerstag im
November, ſondern ſtets der letzte. 182, 15: Bedelia, der für Amerika nicht ſonderlich
„groteske“ Mädchenname und die Stelle beziehen ſich wohl auf einen alten Gaſſenhauer,
worin der Name vorkommt. 195, 30: Dampffähren zwiſchen New Pork und Brooklyn,
zur Zeit von James American noch üblich, gelten heute als völlig überwundener Stand⸗
punkt. 207, 6: Das Wort buff hat im Büffelleder zwar ſeinen Urſprung, bezieht ſich
aber hier wie gewöhnlich nur auf die ſo bezeichnete Farbe, Hellbraun ins Gelbe über⸗
gehend. 228, 26: Silos ſind in der Regel nicht Gruben, ſondern Türme. 231, 8: lots
of kill in the Kaiser. Die Erklärung „Schneid“ für kill iſt ſehr farblos; eher „Mord“
oder der Alliteration gemäß „Keile“.
Druckfehler enthält das Werk ſehr wenige. 70, 17: lies occasion, nicht occassion.
196, Note zu Z. 1: lies 108, nicht 168.
Die Silbentrennung läßt öfter zu wünſchen übrig. Folgende Trennungen laufen
amerikaniſchem Brauche völlig zuwider: 79, 2: ma-nufacturing; 106, 4: coöpe-
ration; 110, 21: unce-lebrated; 122, 4: na-mely; 137, 26: cri-tic u. dgl. mehr.
Die Schreibart neighbour (85, 29) iſt ganz britiſch; in Amerika ſchreibt man neighbor.
Dieſe Kleinigkeiten jedoch tun dem ganz entſchieden großen Werte des Buches keineswegs
Abbruch. Bedauerlich iſt es allerdings, daß dem Verf. vor der Drucklegung eine Einſicht in
Krapps verdienſtvolles Werk nicht vergönnt war. Krapp baut nämlich auf einer wiſſen⸗
ſchaftlichen Grundlage auf, die Mencken und die anderen Vorgänger weit zurückſtehen läßt.
Es wäre ſehr zu begrüßen, wenn ſich der Verf. nunmehr in ähnlicher Weiſe um die
amerikaniſche Versdichtung verdient machte.
Cincinnati, Ohio, U. S. A. Edwin H. Zeydel.
Gupborton XXVIII. 21
322 Forſchungsberichte
Sur Muſikgeſchichte.
Moſer, Hans Joachim, Geſchichte der deutſchen Muſik. Erſter Band: Von den An⸗
fängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Vierte völlig neugeſtaltete Auf-
lage. J. G. Cotta' ſche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart u. Berlin 1926.
Selten wohl iſt das Erſcheinen eines wiſſenſchaftlichen Werkes mit ſo einhelligem Jubel
begrüßt worden wie dieſes hier. Zum erſtenmal ward uns die Geſchichte der deutſchen Muſik
in Sonderdarſtellung geſchenkt; bis dahin war ſie in der allgemeinen Muſikgeſchichte zwar
enthalten, nicht aber in ihrer eigenartigen Entwicklung geſchildert. Mit erfriſchender Be⸗
ſtimmtheit iſt das nationale Moment betont, deſſen entſcheidende Wichtigkeit gerade auch in
muſikaliſchen Fragen immer ſtärker zur Geltung gelangt. Vor völkiſcher Überhebung bewabrt
den Verfaſſer ſein geſundes Gefühl und ſeine unerbittlich ſtrenge Wiſſenſchaftlichkeit. Aber er
erfaßt unſere Muſik, ſo wie es unſerm Weſen entſpricht, und gibt uns ein Stück deutſcher
Geiſtesgeſchichte, einen prachtvollen Beitrag zur Geſchichte des Deutſchtums überhaupt. Damit
iſt ein lang und tief empfundenes Bedürfnis geſtillt; kein Wunder, daß ſchon nach ſechs Jahren
die vierte Auflage erſcheint, von der bis jetzt der erſte Band vorliegt.
Wenn der Verfaſſer in der Vorrede ſagt, es ſei faſt ein neues Buch geworden, ſo iſt das
vollauf begründet. Die muſikaliſche Forſchung ſchreitet ſo raſch fort, daß ſie zahlloſe Ande⸗
rungen und Verbeſſerungen bedingt, die hier natürlich nicht aufgezählt werden können. Nur
auf das Wertvollſte ſei hingewieſen.
Das erſte Kapitel heißt nun „Die Eigenart der deutſchen tonkünſtleriſchen Begabung“.
Noch klarer und ſchärfer als in den früheren Auflagen iſt ſie gefaßt: die Dauereigenſchaften
des deutſchen Volkes ſind herausgearbeitet. Es iſt kein Schmeichelbild, das da entworfen
wird; weder unſere Begabung noch unſere Auffaſſung erſcheint in glänzendem Lichte, und
unſere Schwächen werden nicht beſchönigt. Aber die Hauptſache wird aufgezeigt: unſer
Muſikaliſchſein iſt ein Durchdrungenwerden mit Muſik bis ins Tiefſte. Sehr lehrreich iſt der
Vergleich mit andern Völkern und ihrer Grundeinſtellung zur Tonkunſt. Die Sagen von der
„Erfindung der Muſik“, ihre Wertung, ihre Aſthetik, überall verſchieden. Nur uns iſt ſie
Herzensſache und Seelenkünderin. In ſchlichten, nicht in hochtrabenden Worten wird das
feſtgeſtellt, vor jeder Uberhebung nachdrücklich gewarnt. Dann wird unſere Rhythmik,
Melodik und Harmonik eingehend erörtert, mit erläuternden, überſichtlichen Tabellen. Wenn
der Verfaſſer von unſerer „phonetiſchen Singanlage“ ſpricht, merkt man den „wohl geübten
Sänger“; ausgezeichnet iſt die Gegenüberſtellung von Vokalität und Inſtrumentalität und
die Auffaſſung der Virtuoſität, wiederum für die einzelnen Völker beſonders charakteriſtiſch.
Italiener, Franzoſen und Deutſche treten in ihren dreierlei Geiſteskräften und Tempera-
menten plaſtiſch einander gegenüber. Unſer ſchroffer Individualismus wird treffend als
kulturelle Stärke, zugleich aber auch als politiſches Unglück der hadernden Eigenbrötelei
gekennzeichnet. Beſtätigend ſchließt ein Blick auf die Auswüchſe und Übertreibungen ſowie
auf den Humor der drei großen Nationen.
Das zweite Kapitel heißt nicht mehr „Zeugniſſe des vorgeſchichtlichen Werdegangs“, fon-
dern „Indogermaniſche Zeit“. Zunächſt werden die Vermutungen über die Entſtehung der
Muſik vorgetragen und vorſichtig geprüft. Die Unterſuchung führt zu dem Schluſſe, daß
unſer indogermaniſches Muſikſyſtem notwendig zu Dur⸗ und Moll⸗Kadenz leitet, daß mit den
Kirchentonarten zwar Ausgleiche möglich find, eine Entſtehung aus dieſen aber undenkbar iſt.
Damit iſt der weſentlichſte Punkt der Entwicklung getroffen. Aus der Sprachwiſſenſchaft iſt
wenig Aufſchluß zu gewinnen, die indogermaniſche Metrik ſchwierig und umſtritten. Wobl
aber ſind uralte Weiſen in Tanz und Geſang reichlich bezeugt und vorgeſchichtliche Inſtrumente
durch Ausgrabungen bekannt. Bezeichnend iſt die Vorliebe für alle Arten von Hörnern, über-
haupt für Blasinſtrumente.
Das dritte Kapitel heißt ſtatt „Die heidniſch⸗germaniſche Muſikübung und ihre Fragen“
nun einfach „Die Muſik der vorchriſtlichen Germanen“. Sehr gut find die Anläſſe zur
Muſikausübung geſchildert: weniger Feſtfreude als Naturdienſt; das berüchtigte „l'art pour
l'art“ wird in feiner ganzen Weſenloſigkeit abgelehnt. Der Hauptnachdruck wird mit Recht
auf Tanz und Geſang gelegt mit guten Beiſpielen, als Hauptform das Lied erwieſen. Daran
Zur Muſikgeſchichte 323
ſchließt ſich die Inſtrumentalmuſik, vor allem die Harfe, das „königliche“ Inſtrument; es gibt
berufsmäßige Harfenſpieler. Der Sänger aber iſt eine geheiligte Perſon; Wotan iſt ſein
Schutzherr. Hier iſt am wenigſten verändert. Zum Schluß wird geſchildert, wie das Chriſten⸗
tum dem allem ein Ende machte, wie der Stand der Harfer im 10. Jahrhundert ausſtarb und
wie der Mimus den alten Sang verdrängte, fo daß zunächſt eine Zeit ſtark geiſtlichen Über-
gewichts folgen mußte.
Im zweiten bis ſiebenten Buch hat der Verfaſſer verſchiedene Umſtellungen vorgenommen,
die er ſelbſt in der Vorrede genau angibt. Seine Abſicht, eine weſentlich klarere und ſach⸗
gemäßere Stoffgruppierung zu erzielen, hat er damit ſicher erreicht. Beſonders zweckmäßig iſt
die Neugeſtaltung des dritten Kapitels des zweiten Buches, ganz neu das dritte Kapitel des
fünften Buches, in dem die geiſtlichen und weltlichen Singſpiele überſichtlich dargeſtellt
werden. Auch einzelne Überſchriften find geändert. Die Sorgfalt des Verfaſſers erſtreckt ſich
bis auf vermeintliche Kleinigkeiten: Auswahl der Beiſpiele, Milderung ſcharfer Ausdrücke,
Ausmerzung von Fremdwörtern, wobei aber eine vernünftige Grenze eingehalten wird. Wer
ſich die Mühe nicht verdrießen läßt, ganz genau zu vergleichen, wird faſt überall unleugbaren
Fortſchritt bekunden. Es ſei nur hingewieſen auf die neu eingefügte Bemerkung über Fach⸗
mann und Laien (S. 218) mit dem Zitat von Abert; über den Glockenguß (S. 286); auf
die Einleitung zum erſten Kapitel des ſechſten und zum erſten des ſiebenten Buches; auf die
Bemerkung über die Kirchenteilung (S. 431); über Villanelle und Madrigal (S. 457);
vor allem auch über das monodiſche Kunſtlied um 1500 (S. 417), ein beſonderes Eigen⸗
gebiet des Verfaſſers. Daß alle neuere Forſchung gebührend berückſichtigt iſt, und daß die
reichen Literaturangaben ſorgſam ergänzt ſind, braucht gar nicht eigens hervorgehoben zu
werden. Auch das Verzeichnis der Eigennamen iſt weſentlich weiter ausgedehnt; immerhin
wäre für die nächſte Auflage Vollſtändigkeit zu wünſchen. Warum fehlt z. B. der Mönch
von Salzburg? Sehr dankenswert wäre es, wenn auch ein Verzeichnis der Schlagwörter
hinzugefügt würde; denn es iſt nicht immer leicht, das zu finden, was man gerade ſucht.
Die ganze Neubearbeitung ſtellt dem Fleiß, dem Scharfſinn und dem Geſchmack des Ver⸗
faſſers das rühmlichſte Zeugnis aus; wir dürfen mit Spannung dem Erſcheinen des zweiten
und dritten Bandes entgegenſehen.
München. Hermann von der Pfordten.
Einlauf.
(Abgeſchloſſen am 1. April 1927.)
1. Bücher.
(Beſprechung vorbehalten.)
Alexander, Bernhard, Spinoza: Geſchichte der Philoſophie in Einzeldarſtellungen Abt. IV.
Die Philoſophie der neueren Zeit I. Bd. 18. Hrsg. von Guſtav Kafka. Verlag Ernſt Reinhardt in
München 1923.
Altkirch, Ernſt, Maledictus und Benedictus. Spinoza im Urteil des Volkes und der Geiſtigen
bis auf Conſtantin Brunner. Verlag von Felix Meiner in Leipzig 1924.
Bartels, Bernhard, Beethoven: Meiſter der Muſik. I. Bd. Druck und Verlag von Franz
Borgmeyer, Hildesheim, o. J.
Baumgardt, David, Franz von Baader und die Philoſophiſche Romantik: Deutſche Viertel ⸗
jahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtesgeſchichte. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Erich
Rothacker. Buchreihe 10. Bd. Max Niemeyer, Verlag Halle, Saale 1927.
Becher, Erich, Metaphyſik und Naturwiſſenſchaften. Eine wiſſenſchaftstheoretiſche Unterſuchung
ihres Verhältniſſes. Verlag von Duncker & Humblot, München und Leipzig 1926.
Behrendt, Leo, The Ethical Teaching of Hugo of Trimberg. Dissertation: The
Catholic University of America Studies in German. No. I. The Catholic University of
America, Washington, D. C. 1926.
Bekker, Paul, Muſikgeſchichte als Geſchichte der muſikaliſchen Formwandlungen. Deutſche
Verlags⸗Anſtalt Stuttgart, Berlin und Leipzig 1926.
Benda, Oskar, Die Lyrik der Gegenwart. Von der Wirklichkeits⸗ zur Ausdruckskunſt. Eine
Einführung: Bücherei für Deutſchkunde. Hrsg. von Dr. Rudolf Standenat. Oſterreichiſcher Bun⸗
desverlag Wien und Leipzig 1926.
Boelitz, Otto, Das Grenz- und Auslanddeutſchtum, feine Geſchichte und feine Bedeutung. Ge⸗
ſchichtswerk für höhere Schulen. Bd. 14. III. Teil hrsg. von Arnold Reimann. Verlag R. Olden⸗
bourg, München und Berlin 1926.
Boſchann, Hanns, Die Spontaneitätsidee bei J. J. Rouſſeau. Pädagogiſch⸗philoſophiſche
Studie. Emil Ebering, Berlin, o. J.
Brüggemann, Fritz, Verſuch einer Zeitfolge der Dramen des Herzogs Heinrich Julius von
Braunſchweig aus den Jahren 1590 - 1594: Veröffentlichungen des deutſchen Inſtituts an der
Techniſchen Hochſchule in Aachen. Heft 2. Aachener Verlags⸗ und Druckerei⸗Geſellſchaft 1926.
Buſſe, Kurt, Hermann Sudermann. Sein Werk und fein Weſen. J. G. Cotta'ſche Buchband ·
lung, Stuttgart und Berlin 1927.
Carus, Carl Guſtav, Zwölf Briefe über das Erdleben. Nach der Erſtausgabe von 1841 hrsg.
von Chriſtoph Bernoulli und Hans Kern. Niels Kampmann Verlag, Celle 1926.
Das Choudhur y. Jaganath, Das Unendlichkeitsproblem in Schellings Pbilofopbie.
Diſſertation. Verlag A. Collignon, Berlin 1926.
Deuſchle, Martha Julie, Die Verarbeitung bibliſcher Stoffe im deutſchen Roman des VBared.
H. J. Paris, Amſterdam 1927.
v. E ck, Elſe, Die Literaturkritik in den Halliſchen und Deutſchen Jahrbüchern (1838 — 1842). Ein
Beitrag zur Geſchichte der deutſchen Literaturwiſſenſchaft: Germaniſche Studien Heft 42. Verlag
von Emil Ebering, Berlin 1926.
EL, Karl, Über Gottfried Kellers „Sinngedicht“: Prager Deutſche Studien. Hrsg. von Erich
Gierach, Adolf Hauffen und Auguſt Sauer. 40. Heft. Sudetendeutſcher Verlag Franz Kraus,
Reichenberg i. B. 1926.
Floeck, Oswald, Die deutſche Dichtung der Gegenwart. (Von 1870 — 1926.) Verlag von
Friedrich Gutſch, Karlsruhe und Leipzig 1926.
Frank, Simon, Die ruſſiſche Weltanſchauung: Philoſophiſche Vorträge. Veröffentlicht von der
lem hrsg. von Paul Menzer und Arthur Liebert. Nr. 29. Pan⸗Verlag Nolf Heiſe,
erlin 1926.
Bücher 325
SS . .. ... ——..—.ññññ—
Friedrich, Paul, Ewige Mächte. Drei Künſtlernovellen. Concordia. Deutſche Verlags⸗
Anſtalt, Engel & Toeche, Berlin 1927. — Inhalt: Zwiſchen Diesſeits und Jenſeits. Eine Jean⸗
Paul⸗Novelle. — Giulietta Guicciardi. Eine Beethoven⸗Novelle. — Der Tod eines Helden. Eine
Beethoven⸗Novelle.
Gerhard, Melitta, Der deutſche Entwicklungsroman bis zu Goethes „Wilhelm Meiſter“:
Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtesgeſchichte. Hrsg. von Paul Kluck⸗
hohn und Erich Rothacker. Buchreihe 9. Bd. Max Nieymeyer Verlag, Halle, Saale 1926.
v. Gordon, Wolff, Die dramatiſche Handlung in Sophokles „König Oidipus“ und Kleiſts
„Der zerbrochene Krug“: Bauſteine zur Geſchichte der deutſchen Literatur. Hrsg. von Franz Saran.
Verlag von Max Niemeyer, Halle, Saale 1926.
Gotthelf, Jeremias, Die ſchönſten Erzählungen ausgewählt und hrsg. von Peter Jeruſa⸗
lem. Verlag Albert Langen, München, o. J. — Inhalt: Jeremias Gotthelf von Peter Jeruſalem.
— Wie Joggeli eine Frau ſucht. — Elfi, die ſeltſame Magd. — Die ſchwarze Spinne. — Wie
Chriſten eine Frau gewinnt. — Der Beſenbinder von Rychiswyl.
Häberlin, Paul, Das Geheimnis der Wirklichkeit. Verlag Kober, Baſel 1927.
Haenſel, Werner, Kants Lehre vom Widerſtandsrecht. Ein Beitrag zur Syſtematik der Kan⸗
tiſchen Rechtsphiloſophie: „Kant⸗ Studien“ Ergänzungshefte im Auftrag der Kant⸗Geſellſchaft, hrsg.
von P. Menzer und A. Liebert. Nr. 60. Pan⸗Verlag Rolf Heiſe, Berlin 1926.
Hankamer, Paul, Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im ſechzehnten und ſiebzehnten
Jahrhundert. Ein Beitrag zur Frage der literarhiſtoriſchen Gliederung des Zeitraums. Verlag von
Friedrich Cohen in Bonn 1927.
Hannoverſche Volkslieder mit Bildern und Weiſen. Hrsg. mit Unterſtützung des
deutſchen Volksliedarchivs von Paul Alpers. Bilder von Karl Reinecke⸗Altenau. Verlag Moritz
Dieſterweg, Frankfurt a. M. 1927.
Hebbel, Friedrich, Tagebücher. Hrsg. von Hermann Krumm (1) und Karl Quenzel.
3 Bde. Heſſe & Becker Verlag, Leipzig, o. J.
Hei 18 55 n, Betty, Syſtem und Methode in Hegels Philoſophie. Felix Meiner Verlag in
ipzig 5
einzelmann, Gerhard, Glaube und Myſtik. Rainer Wunderlich Verlag in Tübingen 1927.
Herders Briefwechſel mit Caroline Flachs land, nach den Handſchriften des
Goethe⸗ und Schiller⸗Archivs hrsg. von Hans Schauer. 1. Bd.: Auguſt 1770 bis Dezember 1771.
Verlag der Goethe⸗Geſellſchaft, Weimar 1926.
Howald, Ernſt, Mythos und Tragödie: Philoſophie und Geſchichte. Eine Sammlung von
Vorträgen und Schriften aus dem Gebiet der Philoſophie und Geſchichte. Nr. 12. Verlag von J.
C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1927.
Ingerslev, Frederik, Genie und ſinnverwandte Ausdrücke in den Schriften und Briefen
Friedrich Schlegels. Eine ſemaſiologiſche Unterſuchung. Askaniſcher Verlag, Berlin 1927.
Jaeger, Hans, Clemens Brentanos Frühlyrik. Chronologie und Entwicklung: Deutſche For⸗
men Hrsg. von Fr. Panzer und J. Peterfen. Heft 16. Verlag Moritz Diefterweg, Frankfurt
a. M. 1926. N
de Jon ge Alfred R. Gottfried Kinkel as Political and Social Thinker. Columbia
University Press, New York 1926.
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Kant, Immanuel, Einführung in die Kritik der reinen Vernunft. In neues reines Deutſch
überſetzt von Georg Deycke. Verlag Colemann, Lübeck 1921.
Kappſtein, Theodor, Fritz Mauthner. Der Mann und ſein Werk: Philoſophiſche Reihe, hrsg.
von Dr. Alfred Werner, 79. Bd. Gebrüder Paetel, Berlin⸗Leipzig 1926.
Lendi, Karl, Der Dichter Pamphilus Gengenbach. Beiträge zu feinem Leben und zu feinen
Werken: Sprache und Dichtung. Forſchungen zur Sprach- und Literaturwiſſenſchaft, hrsg. von Dr.
Harry Mayne und Dr. S. Singer, Heft 39. Verlag Paul Haupt, Bern 1926.
Lewald, Fanny, Römiſches Tagebuch 1845 — 1846. Hrsg. von Heinrich Spier o. Mit
8 Tafeln. Klinkhardt & Biermann Verlag, Leipzig 1927. N
326 Einlauf
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am 13. November 1926, dem 92. Stiftungsfeſte der Univerfität Bern. Verlag Paul Haupt,
Bern 1927.
Meyer, Conrad Ferdinand, Werke. Neue Oktav⸗Ausgabe in vier Bänden. H. Haeſſel Verlag,
Leipzig 1926. — (Im vierten Band als Anhang die Einführung in Conrad Ferdinand Meyers
Werke von Robert Faeſi. Die Texte revidierten Herbert Cyſarz, Jonas Fränkel und Friedrich
Michael.)
Meyer, Th. A., Friedrich Viſcher und der zweite Teil von Goethes Fauſt. Rede gehalten bei
der Übernahme des Rektorats der Techniſchen Hochſchule Stuttgart am 5. Mai 1926. Verlag von
A. Bonz' Erben, Stuttgart 1927.
Müller, Walther, Der ſchauſpieleriſche Stil im Paſſtonsſpiel des Mittelalters: Form und
Geiſt. Arbeiten zur germaniſchen Philologie. Unter Mitwirkung von B. Markwardt, P. Merker
und W. Stammler, hrsg. von Lutz Mackenſen I. Hermann Eichblatt Verlag, Leipzig 1927.
Philoſophiſcher Handkatalog. Hrsg. im Auftrag der deutſchen Verleger philoſophi⸗
ſchen Schrifttums von Felix Meiner Verlag, Leipzig 1926.
Pongs, Hermann, Das Bild in der Dichtung. I. Bd.: Verſuch einer Morphologie der meta ⸗
phoriſchen Formen. N. G. Elwert'ſche Verlagsbuchhandlung in Marburg 1927.
Poritzk v, J. E., Franz Hemſterhuis, feine Philoſophie und ihr Einfluß auf die deutſchen Ro⸗
„ Reihe, hrsg. von Dr. Alfred Werner, 81. Bd. Gebrüder Paetel, Berlin
und Leipzig 1926.
Porzig, Walter, Aiſchylos. Die Attiſche Tragödie: Staat und Geiſt. Arbeiten im Dienſte der
Beſinnung und des Aufbaus. Hrsg. v. H. Freyer, André Jolles, Gunther Jpſen. Bd. III. Ernſt
Wiegandt, Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1926.
Reallexikon der deut ſchen Literaturgeſchichte. Unter Mitwirkung zahlreicher
Fachgelehrter. Hrsg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Bd. 3. — 5. Liefe⸗
rung. Walter de Gruyter & Co., Berlin 1926.
Reinkemeper, Ferdinand, Adam Müllers ethiſche und philsſophiſche Anſchauungen im Lichte
der Romantik. Eine ſtrukturpſpchologiſche und charakterologiſche Unterſuchung. A. W. Zickfeldt
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und ergänzte Auflage. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1926.
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Weidmannſche Buchhandlung, Berlin 1927.
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Bruckmann A. G., München, o. J
Scherr, Johannes, Illuſtrierte Geſchichte der Weltliteratur. Elfte neubearbeitete und bis auf
die neueſte Zeit ergänzte Auflage von Dr. Ludwig Lang u. a. 2. Bd. Verlegt bei Dieck & Co.,
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Schindler, Robert, Eichendorff als Literarhiſtoriker. Diſſertation: Editions „Alsatia“
Mulhouse 1926.
Schöneba u m, Herbert, Der junge Peſtalozzi 1746-1782. O. R. Reisland, Leipzig 1927.
Bücher 327
— ... fr...... —ññ?D— n!... — —. —..—.
Schröer, Mich. Mart. Arnold, Grundzüge und Haupttypen der Engliſchen Literaturgeſchichte.
Erſter Teil: Von den älteſten Zeiten bis Spenſer. J. verm. Aufl.: Sammlung Göſchen Nr. 286.
Walter de Gruyter & Co., Berlin u. Leipzig 1927.
Schrofl, Alois, Der Urdichter des Liedes von der Nibelunge Not und die Löſung der Nibe⸗
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Schwarz, Ernſt, Die Ortsnamen des öſtlichen Oberöſterreich: Prager Deutſche Studien. Hrsg.
von Erich Gierach und Adolf Hauffen. 42. Heft. Sudetendeutſcher Verlag Franz Kraus, Reichen⸗
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ſtituts für Grenz⸗ und Auslanddeutſchtum an der Univerfität Marburg. Heft 5. Verlag von Guſtav
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Thöne, Joh. F. S. A., Weltanſchauungslehre vom Standpunkte der heutigen Naturkunde aus.
Ludwig Röhrſcheid, Bonn 1926.
Tillich, Paul, Das Dämoniſche. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geſchichte: Sammlung
gemeinverſtändlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeſchichte.
Nr. 119. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1926.
Ullmann, Richard und Gotthard, Helene, Geſchichte des Begriffes „Romantiſch“ in
Deutſchland. Vom erſten Aufkommen des Wortes bis ins dritte Jahrzehnt des neunzehnten Jahr⸗
hunderts: Germaniſche Studien. Heft 50. Verlag von Emil Ebering, Berlin 1927.
Wahle, Richard, Die Tragikomödie der Weisheit. Die Ergebniſſe und die Geſchichte des Philo⸗
ſophierens. 2. unveränderte, um ein Vorwort vermehrte Aufl. Univerſitäts⸗Verlagsbuchhandlung
Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1925.
Wallner, Nico, Fichte als politiſcher Denker. Werden und Weſen ſeiner Gedanken über den
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Wechlin, H. E., Der Aargau als Vermittler deutſcher Literatur an die Schweiz. 1798 — 1848:
Argovia. Jahresſchrift der Hiſtoriſchen Geſellſchaft des Kantons Aargau. XL. Bd. Verlag von
H. R. Sauerländer & Co., Aarau 1925.
Wenzl, Aloys, Das unbewußte Denken: Wiſſen und Wirken, Einzelſchriften zu den Grund⸗
fragen des Erkennens und Schaffens. Hrsg. von Prof. Dr. E. Ungerer. 41. Bd. Verlag G. Braun
in Karlsruhe 1927.
Prieſter Wernhers Maria. Bruchſtücke und Umarbeitungen. Hrsg. von Carl Wes le,
Max Niemeyer Verlag, Halle, Saale 1927.
Wierſtrait, Chriſtian, Hiſtorij des beleegs van Nuys. Reimchronik der Stadt Neuß aus
der Zeit der Belagerung durch Herzog Karl den Kühnen von Burgund. I. Teil: Geſchichtliche Ein⸗
führung, Text, Anhang, Nachweiſe und Anmerkungen, Gloſſar und Lageplan. Hrsg. von Karl
Meiſen: Rheiniſche Beiträge und Hülfsbücher zur germaniſchen Philologie und Volkskunde, hrsg.
von Theodor Frings, Rudolf Meiſſner und Joſef Müller. Kurt Schroeder, Bonn und Leipzig 1926.
Witzig, Erich, Johann David Beil der Mannheimer Schauſpieler. Aus dem Nachlaß hrsg.
von Hans Knudſen: Germaniſche Studien. Heft 47. Verlag von Emil Ebering, Berlin 1927.
2. Zeilſchriſten.
(Jahrbücher. — Jahresberichte. — Mitteilungen gelehrter Geſellſchaften.)
Archivfür Kulturgeſchichte. XVII. Bd. 1927. Heft 2: Goetz, W., Franz von Aſſiſi
und die Entwicklung der mittelalterlichen Religioſität. — Schrade, H., Franz von Aſſiſi und Giotto.
— Seiferth, W., Zur Kunſtlehre Dantes. — Literaturbericht: Baron, H., Renaiſſance in Italien.
Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen.
81. Ihg. (Februar 1927). Heft J und 4: Marcus, H., Friedrichs des Großen literariſche Propa⸗
ganda in England. (Mit 8 Fakſimiles.) — Kjelmann, H., Die Infinitive bei unperſönlichen Verben
und die Verallgemeinerung des de-nfinitivs im Franzöſiſchen. — Schultz⸗Gora, O., Die fran⸗
zöſiſchen Satzortsnamen I. — Lommatzſch, E., Zum Protheſilaus. — Schultz⸗Gora, O., Zwei Stellen
328 Einlauf
in André Cheniers Jambe Comme un dernier rayon, — Riegler, R., Zur Redensart avoir
un chat dans la gorge. — Schürr, Fr., Das franzöſiſche Epos. Zur Stilgeſchichte und inneren
Form der Gotik. Epochen der franzöſiſchen Literatur, I. (Werner Mulertt). — Urtel, H., Guy de
Maupaſſant. Studien zu feiner künſtleriſchen Perſönlichkeit (Kurt Glaſer). — Solalinde, A. G.,
Alfonso X el Sabio. Prölogo, selecciön y glosarios (F. Krüger). — Dornhof, J., Johann
Nikolaus Böhl von Faber, ein Vorkämpfer der Romantik in Spanien (Werner Mulertt). — Bell.
F. G., Portuguese Bibliography (F. Krüger).
Deut ſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiftes-
geſchich te. Halle, Saale. 5. Ihg. (1927), Heft 1: Fehr, H., Mehr Geiſtesgeſchichte in der
Rechtsgeſchichte. — Neumann, Fr., Wolfram von Eſchenbachs Ritterideal. — Hartig, P., Alfred
der Große und Thomas von Aquino. Unterſuchung zur Bedeutung volkheitlicher Verwurzelung im
Mittelalter. — Baethgen, Fr., Rota Veneris. — Auerbach, E., Über das Perſönliche in der Wir⸗
kung des heiligen Franz von Aſſiſi. — Schrade, H., Über Symbol und Realismus in der Spät⸗
gotik. — Müller, G., Ergebniſſe und Aufgaben der Minneſangforſchung. — Neumann, Fr., Das
Nibelungenlied in der gegenwärtigen Forſchung. — Bernhart, J., Vom Geiſtesleben des Mittel ⸗
alters. Ein Literaturbericht.
Europäiſche Revue. Hrsg. von Karl Anton Rohan. 2. Ihg., Heft 11 (Februar 1927):
Rilke, R. M., Zwei Briefe. — Weber, A., Der Deutſche im geiſtigen Europa. — Sir Chirol, V.,
British Commonwealth of Nations. — Bodrero, E., Fasziſtiſche Geſetzgebung. — Neumann,
A., Die Schwalben (Aus dem Altbretoniſchen). — Zeromski, St., Heimkehr zu Gott. — Kircher,
R., Die Welt der Forſytes. — Eßwein, H., Kunſt als europäiſche Funktion. — Der Horizont
(Das junge Europa): v. Salis, H. R., Zur Kritik des „Jungen Europa“. — Waller, B. C., Sr
land, das British Commonwealth und Europa. — Vallentin, A., Lord d' Abernons Anteil an
deutſcher Geſchichte (J).
Heft 12 (März 1927): Fabre⸗Luce, A., Nüchternes Locarno — Der Schuldenhebel. — Gut-
mann, H. M., Deutſchland in der internationalen Geldwirtſchaft. — Schmitz, O. A. H., Die
Komponenten Europas. — Landsberger, F., Der europäiſche Nietzſche. — Rakous, V., Das Wun⸗
der. — Der Horizont (Das junge Europa): Rohan, K. A., Das erſte Jahr des „Jungen Europa“.
— Bergſträßer, A., Der Preuße oder der Deutſche? — Vallentin, A., Lord d' Abernons Anteil an
deutſcher Geſchichte (II). — Rädulescu⸗Motru, C., Die europäiſche Kultur.
The Germanic Re vie v. Volume II, Number 1 (January 1927): Blankenagel,
J. C., Wallenſtein and Prinz Friedrich von Homburg. — Zeidel, E. C., An Unpublished Letter
of Dorothea Tieck. — Hewett-Thayer, H. W., Tieck and Hebbel's ee of Beauty. —
Quadt, M., Die Einkleidungsform der Novellen Paul Heyſes. — Jockers E., Franz Werfel als
religiöfer Dichter. — Sturtevant, A. M., Certain Old Icelandic Words with Diminutive
Suffixes. — Knudsen, H., Der Stand der Theaterwiſſenſchaft in Deutſchland. — Priest, G. M.,
A Note to Goethe's Faust. — v. Klenze, C., Profeſſor Franz Munder. — Book Reviews.
Germaniſch⸗Romaniſche Monatsſchrift. XV. Ihg. (Januar, Februar 1927),
Heft I und 2: Winkler E., Sprachmuſik und Stiliſtik. — Schaeffer, A., Die Technik der Darftel-
lung in der Erzählung. — Walzel, O., Von „Minna“ zur „Emilia“. — Koch, J., Sir Walter
Scotts Beziehungen zu Deutſchland I. — Hämel, A., Lateiniſche und franzöſiſche Literatur im Mit⸗
telalter. — Kleine Beiträge: Krappe, A., Eine mittelalterlich indiſche Parallele zum Beowulf. —
Kalepky, Th., Die „Einheit“ in Goethes Fauſttragödie. — Buchner, M., Auf den Spuren des ge⸗
ſchichtlichen Fauſt. — Laftmann, E., Als er das hörte, war er überraſcht. — Spitzer, L., Frz. il ne
faut pas que tu meures „du darfſt nicht ſterben“. — Bücherſchau. — Beſprechungen. — Selbſt⸗
anzeigen. — Neuerſcheinungen.
März, April 1927, Heft 3 und 4: de Vries, J., Die Wikingerſaga. — Lachmann, F. R., Goethes
Mignon. Entſtehung, Name, Geſtaltung. — Koch, J., Sir Walter Scotts Beziehungen zu
Deutſchland II. — Hämel, A., Roland-Probleme. — Kleine Beiträge: Strauß, Aus Briefen an
Hölderlin von ſeiner Schweſter. — Strauß, Zwei Briefe aus Hölderlins Homburger Kreis. —
Spitzer, Als er das hörte, war er überraſcht. — Vorwahl, Balzac und die Antike. — Selbſtanzeigen.
— Neuerſcheinungen. — Berichtigung.
Die Horen. Zweimonatshefte für Kunſt und Dichtung. 3. Ihg. (1926-1927) Heft 3:
v. Scholz, W., Die Bedeutung einer Akademie. — v. Scholz, W., Fünf Gedichte. — Ziegler, L.,
Meditation über Don Giovanni. — Benndorf, Fr. K., Teſſiner Oden. — Röttger, K., Die Wand-
lung. — v. Sydow, E., Wilhelm Gerſtel (mit 34 Abbildungen und einer Beilage). — Lernet⸗
Holenia, A., Auf Rainer Maria Rilkes Tod. — Schiel, Ch., Auf Rilkes Tod. — Lernet⸗Holenia,
A., Szene mit der Erſcheinung des Apollon auf der Hochzeit des Admet im Palaft von Pberä. —
Neumann, A., Gedichte. — Wentſcher, E., Hund und Schwan. — Keſſel, M., Vier Gedichte. —
Yun
- 02
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— 4
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Zeitſchriften 329
Wegwitz, P., Der Philoſoph Leopold Ziegler. — Sternberg, L., Da wir zuſammen wandelten. —
Goetz, W., Anton Mayer. — Richter, H., Die Freunde. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
Heft 4: Elſter, H. M., Die Kulturkriſe der Gegenwart. — Schaeffer, A., Das Haus in Feuer.
— di Caſanova, S., Arethuſa. — Schröder, A., Carl Emil Uphoff. — Burte, H., Neue Gedichte.
— Gerhard, A., Schickſalslied. — v. Molo, W., Der ewige Harlekin. — v. Molo, W., Weltmuſik.
— Hegemann, W., C. v. Brocke. — Röttger, K., Die Wandlung. — Luſchnat, D., Drei Gedichte.
— Michel, F., Joſeph⸗Legenden. — Köhler, W., Die ewige Faſtnacht. — Schilling, H., Gedichte. —
Elſter, H. M., Bücherſchau.
Kant⸗ Studien. Philoſophiſche Zeitſchrift. Bd. XXXI. 1926, Heft 4: Medicus, Fr., Ru⸗
dolf Eucken zum Gedächtnis. — Bühler, K., Die Kriſe der Pſychologie. — Jordan, H., Das Apriori
bei Tier und Menſch. Vortrag gehalten auf der Allgemeinen Mitgliederverſammlung der Landes⸗
gruppe Holland der Kant⸗Geſellſchaft am 15. April 1925. — Miſch, G., Die Idee der Lebensphilo⸗
ſophie in der Theorie der Geiſteswiſſenſchaften. — Heimann, B., Vergleich der Antitheſen euro-
päiſchen und indiſchen Denkens. — Maier, H., Alois Riehl. Gedächtnisrede, gehalten am 24. Ja-
nuar 1925. — Kowalewski, A., Dietrich Heinrich Kerler. Eine Würdigung. — v. After, E., Kants
geſammelte Schriften. Bd. IX. — Beſprechungen. — Selbſtanzeigen. — Mitteilungen.
Bd. XXXII, 1927, Heft 1: Ziehen, Th., Benedictus de Spinoza. — Höffding, H., Die Verflech⸗
tung der Probleme in Spinozas Philoſophie. — Baenſch, O., Ewigkeit und Dauer bei Spinoza. —
Jung, G., Die Affektenlehre Spinozas. — Lewkowitz, A., Die religionsphiloſophiſche Bedeutung des
Spinozismus. — Gebhardt, C., Rembrandt und Spinoza. — Baumgardt, D., Spinoza und der
deutſche Spinozismus. — Menzer, P., Eine neue Spinoza⸗Ausgabe. — Aufruf für das Spinoza⸗
Haus. Von der Societas Spinozana.
Die Literatur. Monatsſchrift für Literaturfreunde. 29. hg. des „Literariſchen Echo“,
Heft 4 (Januar 1927): Knöller, F., Die Komödie in Deutſchland. — Dülberg, F., Eine holländiſche
Dramatikerin. — Heilborn, E., Bekenntnis zu „Perpetua“. — Liſſauer, E., Benns „Spaltung“. —
Raff, H., Franz Muncker. — v. Bunſen, M., Schlözers Neffe. — Starkloff, E., Stand der Buch⸗
ausftattung. — Witkowski, G., Goethe⸗Bücher. — v. Scholz, W., Aus „Perpetua“. — Neumann,
R., Parodie. — Waſſermann, J., Eine Manuſkriptſeite. Carſten, F., Wie d' Annunzio Stoffe
findet. — Carſten, F., Almanache und Kalender.
Heft 5 (Februar 1927): Lilienfein, H., Dreißig oder fünfzig? — Cohn, F. Th., Dreißig Jahre. —
Dürr, E., Der Dichter im Zeitwinkel. — Brand, G. K., Die verlorene Erde. — Bruſſot, M.,
Meiſterkomödien der Spanier. — Bab, J., Ein literariſches Rätſel. — Forſt de Battaglia, O.,
Paul Claudel. — Günther, H., Friedrich Kayßler als Dichter. — Kayßler, Fr., Unveröffentlichte
Aphorismen. — Utitz, E., Neue Kunſtliteratur. — Neumann, R., Parodien. — Gotzes, A., Aus
A. Stifters Jugendtagen. — v. Hofmannsthal, H., Eine Manuſkriptſeite.
Heft 6 (März 1927): v. Schlözer, L., Rainer Maria Rilke. — Harten⸗Hoencke, T., Dichten in
fremder Sprache. — v. Scholz, W., Neuerſcheinungen im Okkultismus. — Frank, R., Glorie dem
Spießer! — Türk, W., Das Tagebuch Richard Dehmels. — Martin, E., Zwiſchen Ja und Nein.
— Oehlke, W., Oſtaſiatiſche Literatur. — Strecker, K., Neue Nietzſche⸗Literatur. — Dehmel, R.,
„Bekenntniſſe“. — Neumann, R., Parodie. — Rilke, R. M., Zwei Manufkriptſeiten. —
Runkel, F., Die Journaliſten⸗Hochſchule.
Literariſcher Handweiſer. 63. hg. Oktober 1926, Heft 1: Meerpohl, Fr., Kultur⸗
philoſophie des Katholizismus. — Schreyvogel, F., Gedanken zu „Orplid“. — Alker, E., Neue
däniſche Literatur.
November 1926, Heft 2: Schmid, J., Geographie, politiſche Geographie und Geopolitik. —
Forſt de Battaglia, O., Polniſche Umſchau. III. Teil. — Fleig, E., Das neue Staatslexikon. —
Binz, A. Fr., John Galsworthy.
Dezember 1926, Heft 3: Bopp, L., Arzt, Seelſorger und Erzieher. — Größer, M., Literatur
über Auslanddeutſchtum. — Lenzen, H. L., Wilhelm Matthießen.
Januar 1927, Heft 4: Dahlmann, J., Indiſche Sendung im Geiſtesleben der Menſchheit. —
Gießler, R., Zu Günther Müllers Liedgeſchichte. — Schröder, E., Franz Johannes Weinrich.
Februar 1927, Heft 5: Sprengler, J., Luſtſpiel und Komödie. — Wunderle, G., „Evangeliſche
Katholizität“. — Witkop, Ph., Georg Trakl.
März 1927, Heft 6: Bachmann, H., „Verſe der Lebenden“. Überblick über lyriſche Neu⸗
erſcheinungen. — Forſt de Battaglia, O., Polniſche Umſchau. IV. Teil. — Herz, H., Prediger
unſerer Zeit. IV. Adolf Donders und Auguſtin Wibbelt.
Logos. Internationale Zeitſchrift für Philoſophie der Kultur. Bd. XVI. 1927, Heft 1:
Holldack, F., Recht und Rechtswirklichkeit. (Zur Erinnerung an Ludwig Mitteis.) — Janentzky,
Ch., Goethe und das Tragiſche. Ein Vortrag. — Kroner, R., Kulturleben und Seelenleben. —
330 Einlauf
Stepun, F., Deutſche Romantik und die Geſchichtsphiloſophie der Slawophilen. — Tillich, P.,
Die Überwindung des Perſönlichkeitsideals. Ein Vortrag. — Sutton, C., Bericht über die
neuere engliſche Philoſophie. — Notizen.
Neophilolog us, Groningen, Den Haag. XII, 1927, 2: van Hamel, A. G., Over
den logischen zinsbauw. — Hoepffner, E., La tradition manuscrite des Lais de Marie de
France II. — van Tieghem, P., Les droits de l'amour et l'union libre dans le roman
francais et allemand (1760-17900). — van Dam, J., Der künſtleriſche Wert des Straßburger
Alexander. — Schlutter, O. B., Is there an OE. plant-name twinihte. — Stijfhoorn, G.,
Hamlet I. — van Eeden, W., Vinland. — van der Zanden, C. M., Un chapitre interessant
de la Topographia Hibernica et le Tractatus de purgatorio sancti Patricii. — Buch-
beſprechungen.
Neue Jahrbücher für Wiſſenſchaft und Jugendbildung. Hrsg. von Jo-
bannes Ilberg. 3. Ihg. 1927, Heft 1: Oertel, Fr., Die ſoziale Frage im Altertum. — Neubert, Fr.,
Das Nachleben antiker Philoſophie in der neueren franzöſiſchen Literatur. — Geigenmüller, P., Lu⸗
cian und Wieland. — Linden, W., Der methodiſche Stand der neueren Literaturgeſchichte. —
Schmid, P., Neuere engliſche Malerei in Londoner Muſeen (mit 8 Tafeln). — Richter, J., Deutſcher
Glaube im deutſchen Religionsunterricht. — Oehlke, W., Oſtaſiatiſche Jugendbildung. — de Boor,
H., Huizingas Herbſt des Mittelalters. — Roſenthal, G., Affizierte und effizierte Objekte im La⸗
teinunterricht. — Berichte: Lucke, W., Deutſchkunde: Deutſcher Unterricht; Mittelalterliche Literatur;
Landſchaftliche Literaturbetrachtung; Romantik. — Schön, E., Auslandskunde: Franzöſiſch (Litera ⸗
turgeſchichte, Geſchichte, Preußiſche Schulreform). — Schnabel, Fr., Geſchichte: Deutſche Probleme
der Gegenwart. — Nicolai, R., Die zweite Tagung des Reichsbundes der deutſchen Schullandheime
in Düſſeldorf. — Nachrichten.
Heft 2: Buſſe, A., Kulturgeſchichtliche Anſchauungen in den Dramen des Sophokles. — Bulle, H.,
Antike Techniker und Architekten. — Walzel, O., Schillers Anfänge. — Mayer, G., Bürgers Lenore
— eine viſionäre Ballade. — Meyer ⸗Benfey, H., Über Kalidaſas Sakuntala. — Nachod, H. und
Stern, P., Die Geſtalt Petrarcas in der neueſten Petrarca⸗Literatur. — Meubert, F., Das Nach-
leben antiker Philoſophie in der neueren franzöſiſchen Literatur. — Junker, P., Der Gottesbegriff in
der Philoſophie des Ungegebenen. — Rauſch, A., Heinrich Peſtolozzi und die Gegenwart. — Liebert,
A., Technik und Romantik. — Berichte: Weidel, K., Philoſophie. — Knapp, F., Kunſt. — Flitner,
W., Peſtalozzi. — Gedenktag und Peſtalozzi⸗Forſchung. — Nachrichten.
Die Neue Rundſchau. XXXVIII. Jyg. der freien Bühne. 2. Heft (Februar 1927):
Becker, C. H., Der Wandel im geſchichtlichen Bewußtſein. — Hirſch, J., Gemeinwirtſchaft in Eng ⸗
land. — Conrad, J., Der geheime Teilhaber (Novelle). — Döblin, A., Die große Natur und der
größere Menſch. — Lernet⸗Holenia, A., Saul (Drama). — Kaſack, H., Rainer Maria Rilke. —
Belzner, E., Rückblick auf Bücher. — Saenger, S., Politiſche Chronik. — Kayſer, R., Europäiſche
Rundſchau. — Scheller, W., Das unruhige Aſien.
3. Heft (März 1927): Oppenheimer, Fr., Die Lift der Idee. — Schickele, R., Meine Elſäßer. —
Zweig, St., Rahel rechtet mit Gott (Legende). — Romains, J., Gedichte. — Meier Graefe, J.,
Agyptiſche Reiſe. — Thieß, Fr., Die Geiſtigen und der Sport. — Flake, O., Drei Biographien. —
Saenger, S., Bücher. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau. — Greiner, L., Rudvard Kipling.
Modern Language Notes. Baltimore. Vol. XLI, Number 7 (November 1926):
Schinz, A., Bibliographie critique de Jean-Jacques Rousseau dans les cinq dernieres
années. — Shanks, L. P., Baudelaire and the Arts. — Zeidel, E. H., A Note on
Tieck's Early Romanticism. — Schwartz, W. L., The Question of Personal Caricature
in „Le Monde oü l'on s’ennuie”. — Menner, R. J., Four Notes on the West Midland
Dialect. — Smith, H. E., Horace Walpole anticipates Victor Hugo. — Tilley, M. P.,
A Neglected Sixteenth- century „of-or“ Construction. — Havens, R. D., Blake and
Browning. — Malone, K., A Notes on „Beowulf“ 1231. — Pillionnel, J. H., Voltaire et
Christophe de Beaumont. — Braginton, M. V., Two Notes on Senecan Tragedy. — Dun-
1 9 L., A Rhetorical Figure in Shakespeare, — Lancaster, H. C., „Toutes“ for
„Tous“.
Number 8 (December 1926): Campbell, T. M., History as Costume in Hebbel’s Dra-
mas.—Lathrop, H. B., The Translations of John Tiptoft.— Banks, T. H., Jr., Denham's
supposed Authorship of „Directions to a Painter“, 1667. — Chapman, C. O., „The Par-
doner's Tale“: a Mediaeval Sermon. — Bush, J. N. D., Two Poems by Henry Reynolds.
— Porterfield, A. W., „Wilhelm Meiſters Lehrjahre“ and „Immenſee“. — Wright. L. B.,
Will Kemp and the „Commedia dell’ Arte“. — Heller, E. K., Wolfram's Relationship to
the Crestien MSS. — Clark, E. G., „Titus and Vespasian“. — Thaler, A., Queen Eliza-
Zeitſchriften 331
beth and Benedick's „Partridge Wing”. — Hartman, H., The Home of the „Ludus
Coventriae”. — McKeehan, J. P., A Neglected Example of the „In Memoriam“ Stanza.
— Brereton, J. L., „L’Allegro’” 45-48. — Hammond, E. P., Boethius: Chaucer: Walton:
Lydgate. — Post, L. A., Note on Shakespeare’s „King John”. — Aurner, N. S., Bede
and Pausanias. — Stenberg, T., The Pater-Saintsbury Definition of Criticism.
Vol. XLII, Number 1 (January 1927): Raysor, Th. M., The Downfall of the Three
Unities. — Brinkley, R. F., Nathan and Nathaniel Field. — Clark, W. S., Dryden's Re-
lations with Howard and Orrery. — Watts, G. B., An Early Version of Voltaire's „A
Monsieur Louis Racine“. — Zeidel, E. H., Ludwig Tieck's Library. — Forsithe, R. S.,
Tacitus, „Henry VI, Part III“, and „Nero“. — Pierce, F. E., Some Literary Echoes. —
Sprague, A. C., A New Scene in Colley Cibber's „Richard III.“. — McCutcheon, R. P.,
„Amelia, or the Distressed Wife“. — Stein, H., A Note on the Versification of „Childe
Harold”. — Hillebrand, H. N., Thomas Middleton's „The Viper's Brood“. — Sehrt,
E. H., German „Trespe”.
Number 2 (February 1927): Lancaster, H. C., Sidney, Galaut, La Calprenède: an
Early Instance of the Influence of English Literature upon French. — Lemmi, C. W.,
Italian Borrowings in Sidney. — Case, A. E., Some Stage-Directions in „All's Well tha
Ends Well“. — Gifford, G. H., A Note on Rabelais I, 1. — Fletcher, H., Milton and
Walton's „Biblia Sacra Polyglotta“ (1657). — Baker, H., T., Shakespeare misquoted.
Fenton, F. L., The Autorship of Acts III and IV of „The Queen of Corinth“. — Smith,
H., The New Sainte-Beuve Material. — Curtiss, J. T., The Meaning of the Word
„Dade“. — Allison, T. E., On the Body and Soul Legend. — Anibal, C. E., Mira de
Amescua and „La ventura de la fea“.— Watts, E. B., Eustache Le Noble's „Le Fourbe“.
Noad, A. S., Ugo Foscolo and an English Magazine. — Sehrt, E. H., German „Krieg“. —
Hespelt, E. H., Irving's Version of Byron's „The Isles of Greece”, — Schaffer, A., A
Note on René Boylesve’s „La Becquee”. — Ibershoff, C. H., Nietzsche the Romanticist.
— Hart, E., The Heaven of Virgins.
PhilologicalQuarterly. Jowa City, Jowa. Vol, VI, Number 1 (January,
1927): Nicolson, M. H., Milton and the Conjectura Cabbalistica. — van Roosbroeck,
G. L., Preciosity in Corneille's Early Plays. — Spencer, H., The Forger at Work: A
New Case Against Collier. — Knapp, Ch., An Analysis of Cicero, Tusculan Dispu-
tations, Book I. — Anderson, R. L., A French Source for John Davies of Hereford's
System of Psychology. — Grant, E. M., Tartuffe Again. — Richards, A. E., The Day
Book and Ledger of Wordsworth's Carpenter. — Brief Articles and Notes: Zeydel,
E. H., A Note on Ludwig Tieck. — Zeydel, E. H., An Unpublished (?) Poem of
Emanuel Geibel. — Zeydel, E. H., An Unpublished Letter of Hebbel. — Starnes, D. T.,
Sources of Poems 48 and 49 in The Paradise of Dainty Devices. — Baker, H. T., The
Fair Cassio. — Book Reviews.
Revue de l Enseignement des Langues Vivantes. Paris, 43. Ange,
Nr. 11, Novembre 1926: Nigot, G., Edgar Poe devant la critique. — Muret, G., La
Grammaire historique dans les classes: La déclinaison allemande expliquse histori-
quement.
Nr, 12, Decembre 1926: Dresch. J., Agregation d’Allemand. — Dottin, P., A propos
d'un livre ame£ricain sur Fielding.
44. Anee, Nr. 1, Janvier 1927: Garnier, Ch. M., Certificat Secondaire d’Anglais. —
Loiseau, H., De la Genese de l’amiti& de Goethe et de Schiller. — D. A. et L. H., Cau-
series Bibliographiques sur les Auteurs d' Agrégation et de Certificat.
Nr. 2, Février 1927: Potel, M., Certificat d Aptitude d' Allemand. — Von, P., Quel-
ues notes sur les Animaux. — D. A. et L. fl. Causeries Bibliographiques sur les
uteurs d' Agrégation et de Certificat (suite).
Revue germanique. Paris XVIII. No. 1 (Janvier-Mars 1927): Brun, L., Her-
mann von Keyserling et son Ecole de Sagesse. — Michel, V., Lettres inédites de Sophie
de La Roche à Wieland, IX. — Fournier, A., Le Roman allemand, I. — Comptes Rendus
Critiques. — Bulletin. — Bibliographie. — Revue des Revues. — Chronique.
Die ſchöne Literatur. 28. Ihg. Januar 1927, Heft 1: Braun, F., Alfons Petzold. —
Behler⸗Hagen, M., Franziska Gräfin von Reventlow. — Romane und Erzählungen, Lyrik, fremde
Literatur, Literatur- und Geiſtesgeſchichte, Bildende Kunſt, Kalender, Almanache und Jahrbücher,
Neue Bücher im Dezember 1926, Zeitſchriftenſchau Dezember 1926, Bühnen (Uraufführungs ⸗
332 Einlauf
berichte), Mitteilungen, Beilagen: Jahresernte (Hans Chr. Kaergel), Dichterbildniſſe (Wilhelm
von Scholz, Hermann Burte, Thomas Mann, Frank Thieß).
Februar 1927, Heft 2: Binz, A. Fr., Katholiſche Literatur. — Brand, G. K., Paul Gurk. —
Romane und Erzählungen, Dramatiſches, Literatur- und Geiſtesgeſchichte, Weltanſchauung und
Philoſophie, Reifen, Länder, Völker, Geſchichte und Kulturgeſchichte, Kalender, Almanache, Jahr⸗
bücher, Neue Bücher im Januar, Zeitſchriftenſchau Januar, Bühnen (Uraufführungsberichte), Mit⸗
teilungen, Die Toten des Jahres 1926, Beilagen: Jahresernte 1927 (Hans Chr. Kaergel, Otto
Brües); Dichterbildniſſe (Frank Thieß, Hans Grimm).
März 1927, Heft 3: Reiſer, H., Fritz Reck⸗Malleczewen. — Roehl, M., Die große Rückkehr.
Anmerkungen über Dichtung und Zeitgeiſt. — Winckler, J., Schlußwort zu meinen „Gloſſen zur
katholiſchen Literatur“. — Romane und Erzählungen, Volks⸗ und Jugendlektüre, Lyrik und Epik,
Neudrucke, Volksdichtung, Jugendſchriften und Bilderbücher, Reiſen und Landſchaften, Sammlungen,
Verſchiedenes, Neue Bücher im Februar, Zeitſchriftenſchau, Uraufführungsberichte, Mitteilungen,
Beilagen: Jahresernte (Otto Brües, Wolfg. Goetz); Dichterbildniſſe (Hans Leip, Herm. Stehr).
Stimmen der Zeit. Monatsſchrift für das Geiſtesleben der Gegenwart. 57. Ihg. (Januar
1927), Heft 4: Janſen, B., Der Gottmenſch und die Weltphiloſophie. — Griſar, J., Görres reli⸗
giöſe Entwicklung: Vom Unglauben bis zur Pforte der Kirche. — v. Dunin Borkovski, St., Allerlei
aus alten Briefen des 16. und 17. Jahrhunderts. — Reichmann, M., Der Stockholmer Fortſetzungs⸗
ausſchuß über praktiſches Chriſtentum (Bern, Auguſt 1926). — Stockmann, A., Eckermann, Ein
Leben im Dienſte Goethes. — Pribilla, M., Zwei katholiſche Laienſchriften. — Beſprechungen von
Büchern über Philoſophie; Pädagogik; Dichtung.
Februar, Heft 5: Noppel, C., Weiter auf dem Friedensweg. — Griſar, J., Görres' religiöfe Ent⸗
wicklung: Die Rückkehr zum katholiſchen Glauben. — Schuſter, J. B., Volkswille und Staats wille.
— Pribilla, M., Die „Stimmen“ der Jungfrau von Orleans. — Stang, S., Die Gymnaſien von
St. Jürgen und Annenſtedt. — Wiederkehr, G., Joſeph Fraunhofer. — Beſprechungen von Büchern
über Pädagogik; Kunſtgeſchichte; Dichter⸗Anthologien.
März, Heft 6: Schröteler, J., „Geiſt des Bekenntniſſes“. Um die Grundfrage des Schulkampfes.
— Faller, O., Wege der Religionsvergleichung im Altertum und Mittelalter. — Przywara, E.,
J. H. Newmans Problemſtellung. — Stockmann, A., Eckermanns „Geſpräche mit Goethe“ und die
neueſte Forſchung. — Kreitmaier, J., Religiöſe Kleinkunſt. — Stockmann, A., Adalbert Stifters
„Studien“ in der Urfaſſung. — Rompel, J., Neue Wege in der botaniſchen Forſchung. — Be⸗
ſprechungen von Büchern über Caritas und Wohlfahrtspflege.
Una Sancta. Ein Ruf an die Chriſtenheit. Vierteljahrsſchrift. 3. Ihg. 1927, Heft 1:
Monod, W., Vers une catholicit& des ämes. — of Canterbury, D., Friendship an Unity.
— v. Martin, A., Una Sancta. Ein Geſpräch. — v. Arſeniew, N., Vom Sinn der Geſchichte. —
Roſenſtock, E., Auguſtin und Thomas. — Ehrenberg, H., Vom ökumeniſchen Logos. — Nötzel, K.,
Die ruſſiſche Volksreligioſität. — Platz, H., Anſätze zur innerkirchlichen Erneuerung. — Hoffmann,
H., Copec — Stockholm — Helfingfors. — v. Martin, A., Albert Schweitzer — ein Mahner unferer
Zeit. — Paquet, A., Indiſches Chriſtentum. — Bücherſchau. — Preſſeſchau. — Okumeniſche Chronik.
Zeitſchrift für Aſthetik und Allgemeine Kunſtwiſſenſchaft. XXI. Bd.,
Januar 1927, Heft 1: Siegel, C., Grundlinien einer Aſthetik als analytiſch⸗ſynthetiſcher Kunſt⸗
philoſophie. — Schultz, J., Pſychologie des Wortſpiels. — Berger, K., Sprachäſthetik bei Strich
und Gundolf. — Kecskeméti, P., Vom Werte der Geſtalten. — Bemerkungen: Schorn, K., Kunſt
und Natur. — Beſprechungen: Dilthey, W., Geſammelte Schriften. — Utitz, E., Charakterologie.
— Jahrbuch der Charakterologie. 2. und J. hg. 1926, Bd. 2 und 3. — Waldvogel, R., Auf ber
Fährte des Genius. (Biologie Beethovens, Goethes, Rembrandts.) — Lalo, Ch., Esthetique. —
Lalo, Ch., La beauté et l'instinct sexuel. — Bekker, P., Wagner. Das Leben im Werke. —
Peterſen, J., Die Entſtehung der Eckermannſchen Geſpräche und ihre Glaubwürdigkeit.
Zeitſchrift für deutſche Bildung. Frankfurt a. M. J. Ihg. 1927, Heft 1: Ver⸗
weyen, J. M., Bildung. — Conrad, O., Deutſche Bildung im Sinne Paul de Lagardes. — Spren⸗
gel, J. G., Das Kleiſtproblem, eine kritiſche Studie. — Meridies, W., Über Joſef Ponten. —
Roedemeyer, Fr. K., Betonung, ein Kapitel Sprechkunſt. — Böckmann, P., Aus der neueren Lite⸗
raturwiſſenſchaft. — Vom Herausgeber, Deutſchkundlicher Bücherbrief. — Link, H., Deutſche
Woche in Altona. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Heft 2: Becker, H. Th., Peſtalozzis Grundlegung der Sozialpädagogik. — Verweyn, J. M.,
Autorität und Freiheit. — Hartig, P., Religion, Religioſität und Kulturkunde. — Peters, U.,
Goethes Religion. — Pauls, E. E., Eine Novelle von Ida Boy-⸗Ed. — Sexau, R., Otto Freiherr
von Taube. — Roſenthal, G., Latein auf deutſcher Grundlage. — Janell, W., Zur philoſophiſchen
Zeitſchriften 333
Propädeutik. — Krämer, Ph., Schriftſteller, Verleger, Buchhändler, Leſer. — Grünewald, A., Die
Vortragsreihe zu Breslau am 7. und 8. Januar 1927. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Heft 3: Horſt, E., Weſen und Aufgabe der deutſchen Literaturgeſchichte als Wiſſenſchaft. —
Heyden, F., Lyriſche Gedichte, Nachſchaffende Betrachtungen. — Weſterburg, H., Paul Gurk's
Tragödie „Thomas Münzer“. — Klöpzig, W., Iſt die Waltherſage eine einheitliche Sage? —
Rüther, E., Die dramatiſche Struktur der erſten „Fauſt“ Szenen, Richtlinien für eine dramatur⸗
giſche Behandlung des Fauſt. — Peters, U., Die darſtellende Kunſt im Geſchichtsunterricht der Mit ⸗
telftufe. — Nippold, E., Jugend und Bühne; Ein Führer durch die Literatur. — Brüggemann, F.,
Die neue große Leſſing⸗Ausgabe. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchrift für Deutſchkunde. Ihg. 1927, Heft 1: Naumann, H., Stand der Nibe⸗
lungenforſchung. — Thieß, F., Gerhart Hauptmanns epiſcher Weg. — Wenz, G., Volkstum als
Bildungsgut. — Knapp, F., Über den verſchiedenfachen Sinn der deutſchen Baukunſt. — Havenſtein,
M., Die erften drei Kapitel von Leſſings Laokoon im deutſchen Unterricht. — Haacke, U., Das Auf⸗
ſatzthema. — Hofſtaetter, W., Um die Ausdrucksbildung. — Schneider, W., Uberſicht über neuere
und ältere Schriften zum Stil- und Aufſatzunterricht. — Hofſtaetter, W., Die ſächſiſche Reform und
die Deutſchkunde. — Literaturbericht: Stammler, W., Mittelalter. — Sonderbericht: Brie, Fr.,
Der engliſche Volkscharakter. — Vorbericht.
Heft 2: Hofſtaetter, W., Der Kampf gegen die Deutſchkunde. — Kainz, Fr., Stil und Form. —
Neckel, G., H. C. Anderſen und Deutſchland. — Havenſtein, M., Die erften drei Kapitel von Leſ⸗
ſings Laokoon im deutſchen Unterricht (Schluß). — Köllmann, A., Die Ermordung des Erzbiſchofs
Engelbert von Köln im Spiegel der Dichtung. — Geißler, E., Der Schauſpieler auf dem Podium.
— Schneider, W., Überfiht über neuere und ältere Schriften zum Stil- und Aufſatzunterricht
(Schluß). — Literaturbericht: Stammler, W., Mittelalter. — Sonderberichte: Chrismann, G.,
Schickſal und Heldentum. — Linden, W., Wertvolle deutſche Romane der letzten Zeit. — Linden,
W., Weltpolitiſche Bildungsarbeit. — Zeitſchriftenſchau. — Mitteilung.
Heft 3: Klemperer, V., Deutſches Weſen in der franzöſiſchen Auffaſſung des 19. und 20. Jahr-
hunderts. — Patzſchke, H., Der ſtudentiſche Roman der Gegenwart. — Schwartz, H., Vergangen⸗
heit und Gegenwart. Zur Frage der geſchichtlichen Betrachtungsweiſe der deutſchen Literatur im Un⸗
terriht. — Budde, F., Deutſchkunde, Sprechkunde, Bühnenkunde. — Literaturberichte: Unger, R.,
Romantik (1924 1926). — Weber, E., Neue Leſewerke. Ein kritiſcher Nachtrag. — Vor⸗
berichte. — Mitteilungen.
Zeitſchrift für deut ſche Philologie. Stuttgart, 51. Bd. (1926) Heft 4: Stamm⸗
ler, W., Guſtav Roethe. Ein Erinnerungsblatt. — Mackenſen, L., Sprachmiſchung als Wortbil⸗
dungsprinzip. — Mech, R., Zur Frage nach dem Verfaſſer des Walthariliedes. — Ibel, R., Studien
zur Formkunſt Hofmann von Hofmanswaldaus. — Schuchardt, G., Die älteſten Teile des „Urfauſt“.
— Schwarz, Fr., Zwei mittellateiniſche Gedichtchen. — Naumann, H., Söse gelimida sin. —
Götze, A., „Dietrichs Flucht“, „Rabenſchlacht“ und Wernhers „Helmbrecht“.
Zeitſchrift für Geſchichte der Erziehung und des Unterrichts. (Neue
Folge der „Mitteilungen der Geſellſchaft für deutſche Erziehungs⸗ und Schulgeſchichte“.) Ihg. XV.
(1925), Berlin 1927: Wohleb, L., Die Freiburger Lateinſchulordnung des Humaniſten Gervas
Sauffer (1518). — Herz, K., Auguſt Hermann Francke und die religiöfe Erziehung. — Kluge, O.,
Humaniſtiſche und neuhumaniſtiſche Bildungsziele in der Schulpädagogik des 18. Jahrhunderts. —
Berlet, E., Die Pädagogik Friedrichs des Großen in feinen politiſchen Teſtamenten von 1752 und
1768. — Schwartz, P., Zeitungleſen in preußiſchen Schulen. — Bode, M., Friedrich Fröbels Er⸗
ziehungsidee und ihre Grundlage. Mit phototypiſchen Nachbildungen Fröbelſcher Figurenzeich⸗
nungen und einer Handſchriftwiedergabe. — Anzeigen. — Mitteilungen der „Geſellſchaft für
deutſche Erziehungs⸗ und Schulgeſchichte“. — Perfonen- und Ortsregiſter.
* *
Jahrbuchdes freien deutſchen Hochſtifts. 1926. Im Auftrag der Verwaltung
hrsg. von Ernſt Beutler. Frankfurt a. M. — Inhalt: Schultz, Fr., Die Göttin Freude. Zur
Geiſtes⸗ und Stilgeſchichte des 18. Jahrhunderts. — Walzel, O., Klopſtock. — Brüggemann, F.,
Leſſings Bürgerdramen und der Subjektivismus als Problem. Pſychogenetiſche Unterſuchung. —
v. Mutius, G., Schiller und die Wahrheit. — Meyer⸗Benfey, H., Das Schöne der Natur und der
Kunſt. Eine Studie zu Schillers philoſophiſchen Schriften. — Petſch, R., Die Geiſterwelt in
Goethes „Fauſt“. — Hering, R., Goethes „Geſchwiſter“. — Sommerfeld, M., Goethes Wahlver⸗
wandtſchaften im 19. Jahrundert. — Wendel, H., Die Welt der Südflawen im Spiegel Goethes.
(Vortrag, gehalten am 17. Januar 1926 in der Frankfurter Geſellſchaft der Goethefreunde). —
Strich, Fr., Joſef von Eichendorff. — Preitz, M., Hoffmann von Fallersleben und fein Deutſchland⸗
lied. — Pfeiffer⸗Belli, W., Giorgio Fuentes, ein Frankfurter Theatermaler des 18. Jahrhunderts.
334 Einlauf
— Bacher, O., Die deutſchen Erſtaufführungen von Mozarts „Don Giovanni“. — Ebrard, Fr. Cl.,
Ungedrudtes von Goethe. — Forbes⸗Moſſe, J., Briefe von Bettina und Achim von Arnim. —
Pfeiffer⸗Belli, W., Würde der Hofräte von Auguſt v. Kotzebue. — Jahresbericht.
Shakeſpeare Jahrbuch. Hrsg. im Auftrage der deutſchen Shakeſpeare⸗Geſellſchaft von
Wolfgang Keller. Bd. 62 (Neue Folge III. Bd). Verlag Bernhard Tauchnitz, Leipzig 1926. —
Inhalt: Deetjen, Werner, Die 62. Hauptverſammlung der deutſchen Shakeſpeare⸗Geſellſchaft. —
Gundolf, Friedrich, Shakeſpeares Antonius und Kleopatra. Feſtvortrag. — Engelen, Julia, Die
Schauſpieler⸗Okonomie in Shakeſpeares Dramen. — Fiſcher, Walther, Zu Ludwig Tiecks eliſabe⸗
thaniſchen Studien: Tieck als Ben Jonſon⸗Philologe. — Vollhardt, W., Italieniſche Parallelen zu
Shakeſpeares Hamlet. — Anders, Heinrich, Randgloſſen zu Shakeſpeares Beleſenheit. — Keller,
Wolfgang, Sidney Lee. — Bücherſchau.
Jahrbuch der Philoſophiſchen Fakultät der Deut ſchen Uni verſität
in Prag. III. Ing. Dekanatsjahr 1925 1926. Verlag J. G. Calve, Prag 1927. Aus dem
Inhalt: Deut ſche Philologie: Diehl, Fr., Das Böhmerwald⸗Hieſelſpiel, Unterſuchungen zu
dem von J. J. Ammann in den „Beiträgen“ III, 1. veröffentlichten Spiel XII: Der baieriſche
Hieſel. — Feeg, A. M., Das Motiv der Verwandlung. — Götz, K., Heimarbeit und Volksdichtung
im deutſchböhmiſchen Erzgebirge. — Haar, K., Der Einfluß Montaignes auf Lichtenberg. — Hackel,
H., Die Prager Hausnamen. — Hampel, H., Das religiöſe Problem in der Dichtung Gerhart
Hauptmanns. — Hauſchild, H., Die Entwicklung der deutſchen Dorfgeſchichte in der erſten Hälfte
des 19. Jahrhunderts bis zum Hervortreten Gotthelfs und Auerbachs. — Hrozuy, M., Achim von
Arnim und Clemens Brentano, Gegenſätze und Übereinſtimmungen. — Longin, F. G., Volksglaube
und Volksbrauch bei Andreas Gryphius. — Lorenz, Fr., Die deutſche Literatur in Böhmen in der
Zeit von der Aufklärung zur Romantik. — Mühlberger, J., Die deutſchböhmiſchen Dichter der
Gegenwart. — Popper, R., Die engeren geiſtigen Beziehungen zwiſchen Hölderlin und Schelling. —
Repp, Fr., Zur Sprache Ulrichs von Eſchenbach und des Herzogs Ernſt D. — Rösler, K., Die
Ortsnamen des politiſchen Bezirkes Komotau. — Schaffer, O., Die volkstümlichen Stilmittel des
Volksbuches vom Ulenſpiegel. — Schier, B., Das Siedlungsweſen im Bezirke Friedland in Böhmen.
3. Sonberabzũge.
Alewyn, Richard, Felſſecker und Fillion. Zur Verlegerfrage bei Grimmelshauſen: Sonder⸗
druck aus der Zeitſchrift für Bücherfreunde. hg. 1927, S. 38 40.
Berend ſohn, Walter, A., Rede auf den Tod Rilkes: „Vorſpruch“, Blätter der Volksbühne,
Groß⸗Hamburg, J. Ihg., Heft I, S. 1-6.
Dörrer, Anton, Innsbruck, Deutſche Kultureinheit und Oſterreichs Literatur: Das Neue
Reich. Wochenſchrift für Kultur, Politik und Volkswirtſchaft. Nummer 19, Ihg. 9, S. 367 370.
Gudde, Erwin G., E. Th. A. Hoffmanns Reception in England: Publication of the Modern
Language Association of America, Vol. XLI, No. 4, December 1926, S. 1005— 1010.
Hirt, Karl, Emmerich, Trauerrede auf Profeſſor Dr. h. c. Albin Egger⸗Lienz. Gehalten
am 14. November 1926 in der vom Tiroler Künſtlerbund veranſtalteten Trauerfeier. (Privatdruck.)
Kainz, Friedrich, Geſtaltgeſetzlichkeit und Ornamententſtehung. Separatabdruck aus „Zeit⸗
ſchrift für angewandte Pſychologie“, hrsg. von Williams Stern und Otto Lipmann. Bd. 28 (1927), Heft 3/4.
Knudfen, Hans, Berlin, Deutſche Theatergeſchichte. Sonderabdruck aus: Grundriß der
Deutſchkunde. Hrsg. von O. Brandt. Velhagen und Klaſing, Bielefeld 1927. S. 635 — 662.
Marl, Joſef, Graz, Hauptſtrömungen in der modernen ſüdſlaviſchen Literatur. Sonderabdrud
aus: Jahrbücher für Kultur und Geſchichte der Slaven. N. F. Bd. I. Heft I. Breslau. S. 1-60.
Pfannkuch, Karl, Geiſteswiſſenſchaft ſtatt Philoſophie? Gedanken über die Grundlagen der
Sprangerſchen Pädagogik. Sonderdruck des Sympoſion. Heft 4 (S. 193-232). Im Weltkreis⸗
Verlag, Erlangen 1926.
Sauer (1), Auguſt, Prag, Genealogiſche Studien zur Literaturgeſchichte: Earröußtov, Heinrich
Swoboda dargebracht. S. 1-15.
Seripture, E. W., Das Weſen des Verſes: Neuſprachliche Studien. Feſtgabe Karl
Lu ick zu feinem ſechzigſten Geburtstage. Sonderabdruck: Die neueren Sprachen. 6. Beiheft. N.
G. Elwert'ſche Verlagsbuchhandlung, G. Braun, Marburg a. d. Lahn 1925.
Speter, Max, Grimmelshauſen Simpliciſſimus⸗ „Flugblätter“. Sonderdruck aus der Zeit⸗
ſchrift für Bücherfreunde. Ihg. 1927. S. 119 f.
Unger, Rudolf, Romantik (1924 - 1926). Sonderabdruck aus Zeitſchrift für Deutſchkunde.
41. Ihg. Heft 3. S. 225 — 243.
Nachrichten 335
Nachrichten.
Franz Muncker f. Als im Herbſt 1926 das große Sterben unter den älteren Literar⸗
hiſtorikern anhub, da iſt auch Franz Muncker mitgegangen, ſtill und unauffällig, und — ſo möchte
man beinahe ſagen — kollegial auch hier. Forſchen wir nach den weſentlichen Charakterzügen des
verehrten Toten, ſo leuchtet vieles deutlich und unüberſehbar entgegen, ſchönes, einfaches, gediegenes:
der Grundzug von Munckers Charakter war Schlichheit. Wozu viele und geſchwollene Worte machen?
Wozu einen Aufwand machen, wo man doch etwas war und es oft genug bewieſen hatte?
Muncker war alles andere als modern. Dazu nahm er die Dinge und die Erſcheinungen viel zu ehr⸗
lich. Er war einer von den wenigen, der die alten Maßſtäbe nicht aus dem Auge verlor. Somit
brachte er dem, was im Laufe ſeiner langen Arbeitszeit an ihn herantrat, Bereitwilligkeit entgegen.
Nicht etwa Nachgiebigkeit! Muncker war kein Freund von Kompromiſſen. Seine Liebenswürdigkeit
im perſönlichen Verkehr wurde leider von ach ſo manchem ausgenützt, ſie wurde auch oft nicht ver⸗
ſtanden oder gar mißdeutet: denn es iſt ein anderes, zu leben und leben zu laſſen, ein anderes aber
wiederum, einer ſtrengen Wiſſenſchaft treu und unbeugſam in der Weiſe zu dienen, wie man ſie nun
einmal als gut und richtig erkannt hat. Viele haben Muncker vor allem im Alter völlig mißver⸗
ſtanden: ſie meinten, er ſei nicht deutlich im Bilde, wenn er in den unruhigen und extravaganten
Kriegs ⸗ und Revolutionszeiten zu vielem ſchwieg und manches gewähren ließ, wo Jüngere vielleicht
eingegriffen, intrigiert oder gekämpft hätten. Muncker war nur allzu genau im Bilde. Er wußte,
daß vieles Neue ſich abſurd gebärdet und hatte es erfahren, daß ſehr oft der Aufwand nicht im Ver⸗
hältnis zum Ergebnis zu ſtehen pflegt, wenn Neuigkeiten des Geiſtes auftauchen und die tüchtige Be⸗
triebſamkeit der Tauſendſaſſas ein Feld „zu bearbeiten“ vorgibt. Das aber iſt die ſchönſte Tugend
des akademiſchen Lehrers —, des Lehrers überhaupt: daß er warten kann, daß er da iſt, wenn etwas
verunglücken will, und daß er den Neid nicht kennt und ſelber billig denkt und handelt: hierin aber
lag Munckers Weſenhafteſtes. In der Beurteilung von Menſchen, von literarhiſtoriſchen Tatbe⸗
ſtänden, von wiſſenſchaftlichen Arbeiten, überall: er ſtrebte, das Entſcheidende zu faſſen und es zur
Wirkung zu bringen. Dies iſt nun auch der Grund, warum er in ſeiner Lehrtätigkeit den verſchieden⸗
artigſten Perſönlichkeiten Möglichkeiten und Raum ſchuf, warum er für die verſchiedenartigſten
Arbeiten und Verſuche ein offenes Gemüt hatte. Deutlichſter Beweis ſind allein die zwei Feſt⸗
ſchriften zu ſeinem 60. und 70. Geburtstag, in denen ſich ſehr heterogene Dinge grundverſchiedener
Menſchen zuſammenfanden, ohne daß es berechtigt wäre, von einer Art Eklectizismus zu reden. Aber
während dies alles ſo war, ſtand allmählich der Alternde immer mehr und mehr allein. Er zog ſich
auf 10 eigenes Werk zurück, ſoweit ihm bei ſeiner ſtrengen Auffaſſung der Amtsgeſchäfte dieſe Zeit
dazu ließen.
Munckers Leben iſt voll Arbeit, beſtimmt durch die bayriſchen und bayreuther Belange. Mit
24 Jahren 1879 in München habilitiert, blieb er in dieſer Stadt. Es war eine Epoche des deutſchen
Geiſteslebens, über deren Beurteilung jetzt die Meinungen ſehr geteilt ſind. Muncker hat, wie ſo
manche ſeiner Altersgenoſſen, das ſchwere Schickſal erleben müſſen, daß all dies zuſammenbrach vor
ſeinen Augen. Vielleicht werden Jüngere dies in ſeiner vollen Tragweite gar nicht ermeſſen können.
Muncker war ein exakter Forſcher, ey war gründlich, genau; er glaubte an abſolute, ſichere Maße und
Dinge. Das beſtimmte fein Arbeiten. Aus dieſer Einſtellung heraus entſtanden die vielen Textaus
gaben, mit der Leſſingausgabe an der Spitze, entſtanden die Goedekeparagraphen, entſtanden die Auf⸗
ſätze. Relativismus oder gar Skeptizismus waren ihm und ſeiner Arbeit fremd. Er ſtellte dar, er
ordnete Vorhandenes. Was die Problematik des Lebens anlangt, die ja doch das Treibende im deut⸗
ſchen Schrifttum iſt, ſo mied er ſie nicht, aber er überſchätzte ſie auch nicht. Er liebte eine äſtheti⸗
ſierende Beurteilung, die nach eindeutiger Klarheit ſtrebte. Was mag er wohl im ſtillen gelitten
haben, als die Zeitläufte immer mehr ſich eben dem zuneigten, was er mied? Was mag er gekämpft
haben, wenn von allen Seiten Dinge in Mode kamen, denen er ſo gelaſſen und ſo diskret und vor⸗
ſichtig gegenüberſtand? Wer ermißt das Leid des Mannes, der in eine Zeitwende ſo hineingeſtellt
wurde, wie er es war?
Es iſt leicht, zu lächeln, wenn man jung iſt und Altere beobachtet, die ſich bis zu einem gewiſſen
Grade umzuſtellen verſuchen. Aber es iſt eine Frage, wie man ſelbſt im Alter ſich einer ſolchen Lage
gegenüber praktiſch verhalten wird. Denn, wenn auch der gute Wille da iſt, — ſo, wie die Menſchen
jetzt geworden find, genügt er nicht. Muncker hat jedem Radikalismus in feiner Wiſſenſchaft gegen-
über die Geduld und die unerſchütterliche Liebenswürdigkeit gegenübergeſtellt. Damit hat er großen
Segen geſtiftet, vielleicht gerade dann, wenn viele ihn nicht verſtanden, ſondern in jugendlicher Kurz⸗
336 Nachrichten
ſichtigkeit die darin liegende Stärke als Nachgiebigkeit oder Schwäche deuteten. Muncker iſt ſehr
ſtark geweſen; im Alter hat er es ertragen müſſen, daß die Nation ſich und damit auch die Grund ·
lagen feiner Wiſſenſchaft bezweifelte, mit guten Gründen ..., das ſah Muncker als einer der erften:
aber nun feinen Mann zu ſtellen, n un da zu fein, nun treu zu bleiben und ſich in dem allgemeinen
Chaos nicht irre machen zu laſſen: das war feine größte Leiſtung. Man wird fie erſt ſpäter völlig
erkennen, wenn ſich die Rückſtände der ganzen Periode überblicken laſſen, wenn ſich die Waſſer ver⸗
laufen haben und wenn der Weizen von der Spreu geſondert fein wird. Dann aber wird man er-
kennen, wie männlich Muncker geweſen iſt, wenn er als Greis jahraus jahrein ſtandhaft am Poſten
blieb und das viele Geſchwätz in der neueren deutſchen Literaturgeſchichtſchreibung über ſich ergehen
ließ, ohne zu verzweifeln, daß ſeine frühere Welt vor ſeinen Augen zerbrochen war. Munckers For⸗
ſchertum iſt hoch zu werten, gerade wo man es und feine ſicheren Ergebniſſe oft fo ſelbſtverſtändlich
hinnimmt. Freilich, es gab auch dürre Zeiten, trockene Stellen. Aber Muncker hat fie hingenommen,
und er hat ſie nicht durch allgemeine Redensarten und ſcheinbar tiefſinnige Sprüche vertuſcht. Viele
haben bei ihm mehr gelernt, als ſie nur wiſſen. Es wird einſt die Zeit kommen, wo man ſich auf den
ſtillen und treuen Mann beſinnen wird, vielleicht dann, wenn die Zuſtände innerhalb der deutſchen
Literaturwiſſenſchaft noch verwirrter find, als heute, und wenn ſchließlich alle aneinander vorbei⸗
reden werden. Dann wird man ſich nach dem billig und klar denkenden, ſachlichen und ehrlichen
Manne zurückſehnen und wird verſtehen, warum er ſo war und nicht anders. Man wird ſeine Ge⸗
duld und Großzügigkeit in einem ganz anderen Lichte ſehen, als heute, und dann wird aus dem Werk
des Toten mancher Segen entſtehen. Muncker iſt für kommende Dinge ein Vorläufer: er hat mit
andern die moderne Literaturwiſſenſchaft erſt möglich gemacht, er hat daran mitgearbeitet, ſie von der
Philologie einer einſeitigen Germaniſtik inſoweit freizumachen, als es nötig war und iſt. Das ſind
Dinge, die man leicht vergißt. Sie ſind ſozuſagen jetzt ſelbſtverſtändlich geworden. Aber ſie waren es
nicht in der Epoche von 1880 — 1910.
Gedankenvoll ſinnt man über Muncker nach: Was man fo „Glück“ nennt, es war ihm nicht be-
ſchieden. Darin aber zeigt ſich der Mann, daß er ſich nicht irremachen läßt, und vom Leben keine ro⸗
mantiſchen Phantaſtereien erwartet, ſondern Leid. Leid allein macht ſtark, dann, wenn es einer auf
ſich genommen hat. Das Leben des echt wiſſenſchaftlichen Menſchen iſt nur Leidträgertum. Muncker
iſt auch hierin ein echter Wiſſenſchaftler geweſen, gerade dann und dort, wo er ſchwieg. Nun er tot iſt,
ziemt es ſich, an all das zu denken, und dem Schatten des treuen Mannes die Spende darzubringen.
Karlsruhe i. B. Adolf v. Grolman.
Ich bin mit dem Abſchluß eines biographiſch⸗literarhiſtoriſchen Werkes über den Dichter Sieg ⸗
fried Schmid (Goedeke V? 451) beſchäftigt, den Freund Hölderlins, für den ſich auch Schiller
und Goethe zeitweiſe intereſſierten. Wer könnte bisher unbekanntes oder an entlegener Stelle ver⸗
öffentlichtes Material über dieſen Dichter (geb. 1774 in Friedberg in der Wetterau, geſt. 1859 als
penſionierter öſterr. Rittmeiſter in Wien) nachweiſen? Insbeſondere wäre erwünſcht, den Verbleib
der Originale der 1923 von Wilhelm Böhm in der Deutſchen Rundſchau (Bd. 196, S. 187 ff.) aus
dem Nachlaß von Guſtav Schleſier veröffentlichten Briefe von Siegfried Schmid an Hölderlin aus
den Jahren 1797 — 1801 zu erfahren, von denen bisher nur dieſe in Abſchrift von Schleſier über-
lieferten Bruchſtücke bekannt ſind. Für jede noch ſo geringfügig erſcheinende Mitteilung wäre ich
dankbar. Etwa entſtehende Koſten erſetze ich gern.
Mainz⸗Gonſenheim, Kapellenſtr. 26. Prof. Dr. Waas.
Anläßlich der 200. Wiederkehr des Geburtstages Moſes Mendelsſohns im Jahre 1929 bereitet
ein Komitee eine kritiſche Geſamtausgabe der Schriften Moſes Mendelsſohns vor. Da es alles er ·
reichbare Material zu verwerten beſtrebt iſt, bittet es alle diejenigen, die Handſchriften, ſeltene Drucke
oder Briefe Moſes Mendelsſohns (von ihm und an ihn) beſitzen, um gütige Nachricht und, wenn nötig,
um leihweiſe Überlaffung. Alle Zuſchriften find an die Adreſſe von Herrn Prof. Dr. Julius Gutt
mann, Berlin NW 87, Wullenweberſtr. 2, zu richten.
Anmerkung der Schriftleitung. Die in dieſem Heft enthaltene Abhandlung von Fried
rich Kainz, Literaturwiſſenſchaft und neue Pſychologie entſpricht in ihren grund⸗
ſätzlichen Problemen nicht völlig der Auffaſſung der Herausgeber. Dennoch bringen wir fie, um der
Objektivität unſerer Zeilſchrift die weiteſten Grenzen zu geben.
In der Handſchrift abgeſchloſſen am 1. April, im Satz am 1. Juli 1927.
NEUE QUELLEN ZUR GEISTESGESCHICHTE
DES 18. UND 19. JAHRHUNDERTS II.
[Vgl. Band XXVII, Seite 321 ff.]
1
Briefe Nicolais an Gerſtenberg.
Mitgeteilt von Max Kirſchſtein in Berlin.
R. M. Werner veröffentlichte in der Zeitſchrift für deutſche Philologie Bd. 23, S. 43 bis
67 ſieben Briefe, die zwiſchen Gerſtenberg und Nicolai gewechſelt worden waren, darunter von
letzterem nur einer, der nach der Schreiberkopie wiedergegeben wurde. Die Briefe beanſpruch⸗
ten deshalb größeres Intereſſe, da in ihnen ſich die Vertreter zweier Generationen äußerten,
und ob Klopſtock, Stil, Kritik das Thema ihrer Unterhaltung war, jedesmal drohten die Aus⸗
einanderſetzungen mehr zum Streit als zu freundſchaftlicher Unterhaltung zu führen. In
dieſem Zuſammenhang gegenſätzlicher Weltanſchauungen ſind ſie zuletzt von M. Sommerfeld,
F. Nicolai und der Sturm und Drang (Halle 1921) beſ. S. 94 ff. und A. M. Wagner,
Gerſtenberg und der Sturm und Drang (2 Bände, Heidelberg 1920 1924; paſſim) be⸗
ſprochen worden. Der natürliche, manchmal etwas derbe oder ironiſche Ton macht fie äußerſt
lebensvoll und jedenfalls als perſönliche Dokumente bemerkenswert. Zu dieſen Briefen treten
hier fünf Briefe Nicolais, der ſechſte iſt das Original zu dem in der Zeitſchrift für deutſche
Philologie Bd. 23, S. 49 ff. gedruckten, und ich beſchränke mich darauf, zu dieſem in der
Fußnote die wichtigſten Beſſerungen anzugeben 1).
Hatte Sommerfeld S. 94 noch offenlaſſen müſſen, wie die Verbindung zuſtande gekommen
war, ſo ſehen wir jetzt, daß Nicolai verſuchte, Gerſtenberg als Korreſpondenten und ſogar als
Mitarbeiter für die Allgemeine Deutſche Bibliothek zu gewinnen. Gerſtenberg hat in dem
erſten, nicht erhaltenen Brief das Angebot angenommen, ja bereits ſelbſt Rezenſionen ange⸗
boten. Daraufhin ſendet ihm Nicolai mehrere Bücher zur Beſprechung, mit denen er nicht
nur deſſen poetiſche, ſondern auch ſprachliche und militäriſche Kenntniſſe ausnutzen will. Erſt
8 Monate fpäter lehnt Gerſtenberg mit Rückſicht auf feine Tätigkeit an den „Briefen über
die Merkwürdigkeit der Litteratur“, innerlich aber auch wegen der ſcharfen Kritik ſeiner
Freunde Duſch und Zachariae durch die Literaturbriefe ab (vgl. Sommerfeld S. 95). Trotzdem
iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß wenigſtens die Rezenſion des Kinderbuchs, die er ſelbſt angeboten
hatte, von ihm ſtammt (Allgemeine Deutſche Bibliothek Bd. 5, 2. St., S. 300). Über die
1) Ich ſtelle den Text des Abdrucks voran und gebe danach die richtige Leſung: S. 49, Zeile J v. u.:
werden freilich] werden für mich freilich. S. 50, 3. 2 v. o.: wenig] die wenigſten, neuen Bücher;
Z. 16 v. o.: am End] eben; Z. 19 v. o.: Vergleichung] Vergleichung mit dem Homer; Z. 4 v. u.:
in Berlin] bloß in Berlin. S. 51, 3. 4 v. o.: mediocris] melioris [I]; 3. 10 v. o.: noch! nicht;
Z. 21 v. o.: feiner] der; Z. 23; Briefe der Litteratur] Litteratur⸗Briefe; Z. 9 v. u.: meiner Be⸗
kümmerniß] meines Bedrückens [1]; Z. 6 v. u.: ſagen wie] ſagen wenn ich bey ihr [übergefchr.];
Z. 5 v. u.: Feuer] Feuer fände übergeſchr.J. S. 52, Z. 1 v. o.: fo neue] ſonore [I] Z. 3 v. o.:
zuweilen] dazu [I]; 3. 12 v. o.: lange währen] lange Jahre werden; Z. 22 v. o.: [habe] (vom Her⸗
ausgeber ergänzt)] hege übergeſchr.]; Z. 10 v. u.: ſehen] werden ſehen. S. 53, Z. 16 v. o.:
1. t. Stück] 2. Stück bort ſteht auch die betreffende Vorrede!]; Z. 21 v. o.: am Ende angezeiget]
(am Ende geſtrichen); des Werks iſt] des Werks vermuthlich iſt; Z. 22 v. o.: nicht genug! nicht
deutlich genug.
Euphorion XXVIII. 22
338 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
andern Kritiken, die über die aufgeführten Bücher erſchienen ſind, läßt ſich noch weniger
ſagen, wir müſſen daher Gerſtenbergs Ablehnung Glauben ſchenken, ſo reizvoll es auch wäre,
ihn in der Geſellſchaft der Bibliothek, in die er nach Temperament und Anſchauungen nicht
hineinpaßt, zu ſehen.
Folgende Briefe müſſen wir vorläufig als unbekannt annehmen: Brief Gerſtenbergs zwi⸗
ſchen 9. Juli und J. Dezember 1765; Brief Nicolais zwiſchen 2. Auguſt 1766 und 31. Januar
1767; Brief Gerſtenbergs zwiſchen 27. Mai 1767 und 6. September 1767; Brief Nicolai
vom 28. November 1767: vgl. Zeitſchrift für deutſche Philologie Bd. 23, S. 60; Brief
Nicolais zwiſchen 7. Dezember 1767 und 27. April 1768; mit Nicolais Brief vom 6. De⸗
zember 1768 hat aber die Korreſpondenz noch nicht ihren Abſchluß gefunden, da ein Brief
Gerſtenbergs aus dem Jahre 1772 erwähnt wird, vgl. Zeitſchrift für deutſche Philologie
Bd. 23, S. 67.
Bei aller Verſchiedenheit der Anſchauungen haben ſich die Korreſpondenten die gegenſeitige
Achtung nicht verſagt, und ſo nehmen die Briefe einen recht freundſchaftlichen Ton an, beſon⸗
ders wenn ſie muſikaliſche Themen behandeln, die beiden gleich ſehr am Herzen lagen.
Die Erlaubnis zum Abdruck verdanke ich der Schleswig⸗Holſteiniſchen Landesbibliothek in
Kiel, der ich auch hier meinen beſten Dank ausſpreche.
Berlin d. 9. Jul. 1765.
Hochwohlgebohrener / Inſonders Hochzuehrender Herr.
Von Leipzig aus habe ich mir die Freiheit genommen Ew. Hochwohl⸗
gebohrnem ein Exemplar des erſten Stüks der deutſchen Bibliothek, und von
Hrn. P. Abbts Abhandlung vom Verdienſte zuzuſenden. Die beſten Köpfe in
Deutſchland machen der weiten Entlegenheit ohnerachtet, zuſammen eine Art
von kleiner Republik aus, und für ſich untereinander ſchreiben ſie weit mehr, als
für den großen Haufen unwiſſender Leſer 2). Mein Freund Abbt hat alſo ſein
Buch hauptſächlich auch geſchrieben, daß es Ew. Hochwohlgebornen leſen ſollen,
ich habe alſo nur ſeine natürliche Beſtimmung beſchleuniget, da ich es Ihnen
zugeſendet habe.
Die deutſche Bibliothek wird Sie vermuthlich nicht ſo ſehr intereßieren; ich
wünſchte zwar auch ſehr, daß ſie unſere beſte Köpfe leſen möchten, ob ſie aber
ihren Beifall erhalten wird, iſt eine andere Frage. Ebendeswegen weil ſie alle
Theile der deutſchen Litteratur in ſich faßen ſoll, ſo kann ſie freilich nicht jeden
einzelnen Leſer gleich intereßieren; Vielleicht geht es mit dieſer Bibliothek gar,
wie mit der hieſigen Akademie der Wißenſchaften, wo von den Mathema⸗
tikern, Methaphyſikern, Philologen, Arzneygelehrten und Chymikern alzumahl
viere gähnen, wenn der fünfte vorlieſet. — Ich will es alſo nur geradezu ge⸗
ſtehen, daß ich mit Ueberſendung der Bibliothek eine eigennützige Abſicht gehabt
habe: Ich habe in der Vorrede erwähnet, daß ich mich um Correſpondenten in
allen Gegenden von Deutſchland, bemühet habe, aus deren Briefen ich Auszüge
bekannt machen werde. Bloß in Norden habe ich noch keinen, ich habe alſo Ew.
Hochwohlgebornen, um dieſe Gefälligkeit erſuchen wollen. Ich bin nicht ſo un⸗
2) Dem Gedanken des Gelebrtenſtaats bat Nicolai auch in der Allgemeinen Deutſchen Bibliochel
[im folgenden abgekürzt: ADB.] X. Bd., 2. Stück, S. 104, Ausdruck gegeben; die Rezenſion über
Klopſtocks „Gelehrtenrepublik“ (1774) in der ADB. Bd. 28, 1. Stück, S. 102 ff. iſt nicht figniert,
trotz aller Wahrſcheinlichkeit Nicolais Autorſchaft nicht erweisbar, vgl. M. Sommerfeld S. 81,
Anm. 3. Daß der dort konſtruierte Gegenſatz gegen Klopſtock auf einem Mißverſtehen von deſſen
Anſchauung beruht, hoffe ich in meiner Arbeit über die Gelehrtenrepublik zeigen zu können.
Kirſchſtein, Briefe Nicolais an Gerſtenberg 339
verfhämt Sie zu einer beſtimmten oder gar zu einer weitläuffigen Arbeit ver⸗
binden zu wollen. Ich bitte um nichts als zuweilen, um einige kurze Nachrichten
von dem Neueſten aus der deutſchen Litteratur der dortigen Gegenden, und zwar
insbeſondere, um Nachrichten von ſolchen Werken, welche in den hieſigen Gegen⸗
den wahrſcheinlicherweiſe nicht recht bekannt werden dürfen. Dieſelben würden
mich ungemein verbinden, wenn Sie mir auch viertl.] ? J jährlich ein paarmahl
meine Bitte gewähren wolten.
Ihre Cantate) iſt hier von Kennern mit Vergnügen gelefen worden, aber
mit Hrn Scheibens Compoſition ſind die hieſigen Tonkünſtler gar nicht zu⸗
frieden. Ich ſelber kan mich nicht genug wundern, da er eine gute Abhandlung
vom Recitative geſchrieben hat, wie er ſo grobe Schnitzer wider die Deklamation
und ſonſt machen kan. Was er in der Vorrede von den Italiäniſchen Sängern
ſagt, iſt, wenn man die wahre Lage der Sache anſiehet, wirklich ungerecht. Sie
haben Fehler, das läugnet niemand, aber Italien iſt doch das einzige Land, wo es
Singeſchulen und Sänger gibt. Den ſeligen Graun hätte er am wenigſten zum
Beweiß anführen ſollen; der billigte gewiß gar keine andere als die gute
Italiäniſche Art zu ſingen, man redet aber von der guten Art zu ſingen und
nicht von der ſchlech t en, wenn man die Staliäner vertheidigt. Solte aber auch
wohl Hr. Scheibe gute Italiäniſche Sänger etwa gar nicht gehöret haben. In
Dreßden und in Berlin ſind gewiß welche, und wir haben hier voriges Car⸗
naval eine obgleich theuer bezahlte Bertolotti“) ausgelacht, als fie uns ein
Adagio vorhäulen wolte. Dieſe neue Italiän. Art zu fingen, die die beften
Stimmen verdirbt, findet hier keinen Beifall.
Ich ſetze nur noch die Verſicherung der vollkommenſten Hochachtung hinzu mit
der ich verharre
Ew. Hochwohlgebornen
ergebenſter Diener
Friedrich Nicolai.
Berlin d. 3. Decbr. 1765.
Hochwohlgebohrner / Inſonders Hochzuehrender Herr
Ew Hochwohlgebornen haben meine Bitte um einigen Beitrag zur deutſchen
Bibliothek alzu gütig aufgenommen. 5) Sie gewähren mir nicht allein dieſelbe,
ſondern verſichern mich auch einer Gewogenheit, die mir ſchätzbar iſt, nicht
allein weil ſie meiner Eigenliebe ſchmeichelt, ſondern auch weil ſie mich auf⸗
muntern muß mich derſelben würdig zu machen — weil ſie mir ein Sporn ſeyn
2) „Tragiſche Kantaten für ein oder zwei Singſtimmen und das Clavier. Nämlich: Des Herrn
von Ariadne auf Naxos und Johann Elias Schlegels Prokris und Cephalus. — In
die Muſik geſetzt, und nebſt einem Sendſchreiben, worinnen vom RNecitativ überhaupt und von
dieſen Kantaten inſonderheit geredet wird, herausgegeben von Johann Adolf Scheiben.“ Kopenhagen
u. Leipzig 1765. (Danach iſt die Angabe bei Goedeke 3 IVI. S. 190. 2: zu ergänzen.)
Lina Bertolotti, geb. 1740, geſt. 1798 zu München; Mendel, Muſik. Converſ.⸗Lexik. (1870)
I, 571: „. .. fang mit größtem Beifall in Berlin.
6) Die Antwort auf den vorigen Brief fehlt, ſo konnte Sommerfeld S. 94 f. annehmen, daß
Gerſtenberg die Teilnahme an der ADB. von vornherein abgelehnt habe, während er nach Nicolais
Angaben angenommen batte.
340 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
muß, das zu verdienen, was ich itzt nur Ihrer Gütigkeit zu danken habe. Sie
haben Recht, daß es eine große Glückſeligkeit iſt, mit denen in Verbindung zu
ſtehen, die man hochſchätzet, und in Deutſchland iſt leider der Briefwechſel das
einzige Mittel hiezu, da alles was Urſach hat ſich hochzuſchätzen, mehrentheils
weit von einander entfernet ift.
Wie ſolte ich nicht wünſchen, von der Arbeit die Sie unter Händen haben ©),
näher unterrichtet zu werden! Ich bitte Sie vielmehr recht ſehr darum — der
deutſche Parnaß, iſt ſo arm, daß man ſchon neugierig wird, wo man nur etwas
gutes hof fet, geſchweige da, wo man es ſich gewiß verſpricht.
Mit wie vielem Vergnügen ſehe ich Ihren Nachrichten von dem Zuſtande der
deutſchen Litteratur im Norden entgegen; Noch mehr aber bin ich auf die wirk⸗
lichen Beiträge begierig, dazu Sie mir gütigſt Hofnung machen wollen;
Nicht allein eine Nachricht von den kleinen Beſchäftigungen für
Kinder“) wird mir ſehr angenehm ſeyn, ſondern auch von folgenden Schrifften
Die Noachide Neue Ausgabe in gr 8°)
Schlegels Vergleichung des Däniſchen und Deutſchen 89)
Poeſien eines Soldaten, Berlin 8 10)
Belidors Königslexicon. 8 Nürnb. 65 11)
Der vollkommene Pferdekenner mit () Hrn Reizenſtein Vorrede Uffenheim 764.1?)
Neue Erfindung wider das Koppen der Pferde. 13)
Sie ſehen, daß ich nicht allein Ihre feine Beurtheilungskraft in den ſchönen
Wißenſchafften, ſondern auch Ihren Soldaten⸗ und Cavalleriſtenſtand zu nutzen
trachte. Ueber die dahin einſchlagende Dinge konnen freilich wir anderen Pe⸗
danten nicht urtheilen und ich muß daher um Erlaubniß bitten Ihnen auch
fernerhin ſolche Schriften vorzulegen, und Sie um Ihr Urtheil darüber zu
erſuchen. Es kommen ohnedem nicht eben gar zu viel dergleichen Bücher heraus.
Beigehende Cantate, die Ar Ramler nur für feine Freunde hat drucken
laßen, 1% wird Ihnen vermuthlich angenehm ſeyn. Er hat ſichs von dieſer Art
gemacht, und iſt itzt mit derſelben Ausbeßerung beſchäfftiget. Dieſe Ino hat
Hr Adv. Krauſe, (der Vlerfaſſer! des Werks von der Muſikal. Poeſie) 15)
recht gut in Muſik geſetzt; ich habe fie einigemahl mit Vergnügen gehöret.
Wenn Hrn Scheibens Compoſition Ihrer Cantate in der deutſchen Bibl. wird
e) Wahrſcheinlich das „Gedicht eines Skalden“.
7) Erſchien im 5. Bd., 2. Stück (1767), S. 300 der ADB., unterzeichnet L.
s) Bodmer, Die Noachide in zwölf Geſängen. Berlin 1765. Eine Beſprechung in der ADB.
erſchien nicht.
9) Nicht in der ADB. beſprochen.
10) Johann George Scheffner, Freundſchaftliche Poeſien eines Soldaten. Berlin u. Leipzig
[1764]; Beſprechung nicht erſchienen.
11) Aus dem Franzöſiſchen überſetzt von Kratzenſtein; Beſprechung ADB. Bd. X, S. 277 ff.
12) Beſprechung ADB. Bd. XI?, S. 368 ff.; unterzeichnet C.
13) Auszug aus dem vorigen; Erwähnung ADB. Bd. XI, S. 370.
10) „Ino“, eine Cantate. Berlin 1765.
16) Goedeke IVI, S. 1146, gibt 1772 als Erſcheinungsjahr an, nach E. v. Kleiſt, Brief an
J. K. Hirzel (Euphorion 18, S. 670) ſollte es ſchon 1748 „eheſtens“ gedruckt werden.
Kirſchſtein, Briefe Nicolais an Gerſtenberg 341
recenſirt werden 16), wird man Hrn Scheiben gewiß nicht zu viel zur Laſt legen.
Man ſieht ſeine theoretiſchen Verdienſte wohl ein, weiß aber, daß er zur Com⸗
poſition zu wenig Feuer und Geiſt hat.
Herr Leßing, der itzt bey uns iſt wird auf Oſtern eine Abhandlung von den
Gränzen der Dichtkunſt und Malerey herausgeben. Die Herausgabe ſeiner
Dramatiſchen Gedichte wird noch wohl etwas länger währen. Darf ich Sie um
die Fortſetzung Ihrer mir fo ſchätzbaren Freundſchafft bitten, und Sie nochmals
verſichern, daß ich mit der volkommenſten Hochachtung bin
Ew Hochwohlgebornen
ergebenſter Diener
Friedrich Nicolai.
[Neben den beiden letzten Abſätzen am linken Rand:]
Herr Bock !“) den ich unglücklicher Weiſe erſt ein Paar Stunden vor feiner
Abreiſe habe kennen lernen, verſicherte mich, daß Ihre Reiſe nach Holſtein eine
Vermählung zur Urſach gehabt. 19) Ich nehme dieſe Gelegenheit Ihnen meinen
aufrichtigſten Glückwunſch zu ſagen, und Ihre Fr. Gemahlin meiner Ehrerbietig⸗
keit zu verſichern.
Leipzig d. 27. May 1767. 19)
Mein hochzuehrender Herr und ſehr werther Freund, denn Freund will
ich Sie nennen, wenn ich darf; wenn Sie glauben, daß meine Offen⸗
herzigkeit nicht eigenſinn iſt, wenn Sie mir zutrauen, daß ich in der
Freundſchafft empfindlicher bin, als in der Poeſie — denn geſtehen Sie
es nur; Sie argwohnen von mir, daß ich gegen hohe poetiſche Schönheiten
unempfindlich wäre. Ich will nicht entſcheiden, in wie fern Sie recht
haben. Ich weiß zwar wohl, daß Bo mer mich von der Zeit an, daß ich ihn
geleſen beſtändig entzücket, ich weiß auch wie viel mich in Kloppſtoks Gedichten
äußerft rührt, ich weiß aber auch, daß mir daran vieles mißfällt, da — mir am
Homer, noch bisher alles gefällt. Wo aber dieſes Gefallen und Misfallen
ſich ſcheidet, möchte ohne weitläufige Erörterungen ſchwer zu beſtimmen ſeyn;
vielleicht unter uns beiden am ſchwerſten, weil wir in vielen Grundſätzen
uneinig zu ſeyn ſcheinen. Mündlich könte ſich viel darüber ſagen laßen, und
man könte vielleicht über etwas einig werden; Schriftlich aber gehören dazu
lange Dißertationen, die viel Zeit erfodern, und am Ende den freundſchafft⸗
lichen Gegner doch wohl ermüden, ja, weil man in einem flüchtigen Briefe ſich
vielleicht offt nicht ganz beſtimmt ausdrücken kan, vielleicht etwas aufbringen
können.
10) ADB. Bd. X, S. 155 169 (fign. X): „Wir verehren immer die kritiſchen Bemühungen
des Hrn. K. Scheibe, Zur Aufnahme der Muſik. Aber feine Compoſitionen find freylich nicht fo
ſchön, als ſeine kritiſche Werke.“
17) Unbekannt.
8) Gerſtenberg heiratete am 12. Juli 1765 die Tochter eines Schleswiger Ratsherrn, Sophie
Trochmann.
10) Antwort auf den Brief vom 6. April, von Nicolai erhalten 4. Mai.
342 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Zum Unglück iſt die Materie von der Religion in dieſem Streit ſehr genau
verwikelt. Ueber keine Materie aber haben die Menſchen ſchwankendere Begriffe,
über keine Materie ſind ſie uneiniger, ſelbſt in denen ſie glauben einig zu ſeyn.
Sie ſagen es könne von der guten Religion gelten was die Briefe von der
Moral ſagen. Aber mein liebſter Gerſtenberg Sie und ich haben beide ſicherl ich
Religion; der Senior Götze, D Cruſius Cramer und D Teller haben auch Reli⸗
gion; aber verſuchen Sie es ob Sie mit allen dieſen Leuten über einen be⸗
ſtimmten Begriff von der Religion einig werden können. Das
wird eine unfruchtbare Disputation ſeyn, ſo wie alle, ja wahrhaftig
alle Religionsdisputationen. Denn jeder Gegentheil komt mit
dem ſichern Vorſatze feine Grundſätze die er für unumſchränkt wahr hält nicht
fahren zu laſſen. Dis ſchafft leicht Erbitterung. Diejenigen alſo die für
ihre Gegner keinen beßern Titel als der beßere Godſchedian er wißen 20),
will ich nur bitten, zu glauben, daß man Religion ſchätzen und hohe poetiſche
Schönheiten empfinden könne, wenn man gleich ſich überzeugt, daß Geſinnungen
der Religion ſehr offt hoher poetiſcher Schönheiten nicht fähig ſind.
Daß Klopſtok ſich über das Urtheil der Menge hinwegſetzt, daran thut er recht;
er würde ſonſt nicht original ſeyn können. Aber wie leicht der der ſo origi⸗
nal denkt, auch ſich zu weit verſteigen könne, und wie weit innige Empfindungen,
die jederzeit auf ein feuriges Genie ſo heftig wirken, als die andern ſchwer
mitzutheilen ſind, will ich nicht entſcheiden. Glücklich der Poet dem in
ſolchen Fällen Cynthius aurem vellit. 21)
Nun auf etwas anders. Ich habe ihrem Gedichte eines Scalden in einer Nec.
die ich für die deutſche Bibl. gemacht,) alle Gerechtigkeit wiederfahren laßen.
Aber ich muß auch geſtehen, daß ich es im Anfange, der vorangeſetzten Erklärung
ohngeachtet gar nicht verſtanden habe. Beym ſechſten Leſen fing ich an
Licht zu bekommen. Ich weiß nicht ob es gut ſeyn wird dieſe nordiſche Mytho⸗
logie öffters zu gebrauchen. (Zwar will es auch Klopſtoks [sic!] thun wie ich
höre) ſchon alzuviel Anſpielungen auf die Griechiſche Mythologie mißfällt mir
an Ramlern, der übrigens unter allen deutſchen Dichtern die Mythologie am
beſten zu nützen weiß. Die nordiſche Mythologie hat vielleicht für einen Dänen
etwas intereßantes ??) als für einen Deutſchen, doch dis führt mich wieder zu weit.
Ueber den Phäpdon Ihr Urtheil zu hören bin ich ſehr begierig. Mein Leben
Abbts beurtheilen Sie ſo offenherzig, als ich Ihnen meine Meinung zu
ſagen pflege.
Ueber die Schreibart muß ich mich unbequem ausgedrückt haben, daß Sie
mich nicht verſtanden haben. Horaz dünkt mich, ſagt: rem verba sequuntur 24)
20) Bezieht ſich auf Gerſtenbergs Bemerkung: „Wenn Sie fo etwas drucken ließen, fo würde
Mancher in dem Verdachte beſtärkt werden, daß es, wie die Schweizer einmal ausſprengten, in
Berlin wirklich eine nikolaiſche Schule gebe, die mit einigen Verbeſſerungen, nur eine Erneuerung
der weiland Gottſchediſchen ſey.“
1) Vergil, Eclog. VI, 3.
72) Erſchien Bd. V., S. 210 ff.
23) „. .. teres“ geſtrichen.
24) de art. poet. v. 311.
_ Kir ſchſte in, Briefe Nicolais an Gerſtenberg 343
ſo meine ichs auch. Nun halte ichs für ſehr mislich, ſonderlich bey einem jungen
Schrifftſteller ſeine Denkungsart der Schreibart zu gefallen, zu zwingen. Ich
wenigſtens ſuche was ich ſchreiben will, ganz lebhafft und beſtimmt zu denken,
alle Hauptabſätze und wendungen der Schreibart denke ich mit, (ſchreibe
ſie mir auch wohl auf nach Gelegenheit der Sachen auf) 25) itzt laſſe ich meine
Feder laufen, und ſobald ſie ſtockt, denke ich weiter; ſo wird meine Schreibart ein
Abdruck meiner Denkungsart; Ein Schrifftſteller, der an der Schreibart künſtelt
nimmt gegen das Publikum eine Maske vors Geſicht. — Es verſteht ſich, daß
man immer verbeßern und ausfeilen kan; Aber der Schreibart zu gefallen, ſeiner
Denkungsart eine andere Falte zu geben, ſcheint mir, ich ſage es nochmals ſehr
mislich, man wird ſehr leicht ſeicht und oder affectirt.
Der Verfaſſer der Fragmente heißt Haerder [sic!] und iſt mirabile dictu
Collega an der Domſchule zu Riga!
Leben Sie wohl mein liebſter Gerſtenberg und lieben Sie mich. Ich danke
Ihnen für Ihre Offenherzigkeit gegen mich; ich kann Wiederſprüche ohne Bitter⸗
keit geſagt ſehr gern ertragen. Ich bin der Ihrige
Nicolai.
Am Rande der 2. Seite.
Sie bekommen Hın Reſewitz als Prediger der deutſchen Kirche nach Copen⸗
hagen; 26) Er iſt ein ſehr würdiger Mann, und bey ſeinem vormaligen Auf⸗
enthalt in Berlin mein beſonderer Freund geweſen.
Am Rande der 3. Seite.
Wegen der Dreſchmaſchine will ich mich in Berlin erkundigen, und von da
Ihnen antworten.
Ich bat Sie um eine Gelegenheit, daß ich Ihnen die deutſche Bibl. zwiſchen
der Meße ſchiken kann, denn Profft läßt zwiſchen der Meße nichts kommen.
Berlin d. 6. September 1767.
Wertheſter Herr und Freund
Sie haben recht, daß wenn wir die Wahrheit, jeder auf ſeinem eigenem Wege
ſuchen, daß wir vielleicht am Ende zuſammenkommen werde [!]. Mündlich
ließe ſich über viele Sachen etwas ausmachen, aber Schrifftlich iſt es alzu weit⸗
läufig und führt uns auf Abwege.
Abbt kam von Halle wo er in Anweiſung unter der Anweiſung [sic!] eines
mittelmäßigen Kopfs, wie der D. Miller iſt in eim?) ſchlechten Wochenſchriff⸗
ten einige Blätter geſchrieben hatte die ſich doch etwas auszeichnen. Er fing aber
bald an, ſelbſt für ſich zu denken, und wolte von ſolchem Geſchmier nichts mehr
wißen. Von da kam er nach Frft an der Oder, 28) wo er ſich durch Baumgartens
25) „auf“ noch einmal übergeſchrieben.
) Der Mitarbeiter der Litteraturbriefe und (von 1765 — 1768) der ADB. wurde am 2. Auguſt
1767 als Prediger der St. Peterkirche in Kopenhagen eingeführt.
27) sich übergeſchrieben, wohl für „einigen“.
28) 1760.
344 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Umgang und eignes Nachdenken weiter bildete. Hier ſchrieb er ſeinen Tod für's
Vaterland 29) und bildete fi darin feinen eigenthümlichen Styl; durch dieſes
Buch, das er mir zum Verlage anbot, ward er mir bekannt, und einige Monate
darauf fing er an, an den Briefen zu arbeiten. 3% Hier ſuchte er ſich einiger
maßen nach der vorigen Schreibart der Briefe zu richten.
Die Nachricht wie die Briefe nach Fez 300) entſtanden iſt mir angenehm. Aber
es iſt auch ausgemacht, daß diejenigen die dieſe Nachricht nicht wißen, und wie
wenige wißen ſie, dieſe Briefe gar nicht verſtehen können und daher ſie unge⸗
ſchmakt finden müßen. Ich halte es daher nach dem itzigen Zuſtand der Litte⸗
ratur gar nicht ratſam launiſch zu ſchreiben. Unſere Litteratur iſt in hundert
Städtgen zerſtreuet, und niemand verſteht, den beſonderen Charakter den der
Verf. annehmt, die Anſpielungen gehen verloren, und man findet alles un⸗
geſchmakt Ich ſehe dis an vielen Beiſpielen. Auf Ihre beide Trauerſpiele bin
ich höchlich begierig. Den Ugolino erwähnte mir Leßing in ſeinem letzten
Briefe 81) ſchon mit großem Lobe. Das Sujet finde ich immer auf mancherley
Art unbequem.
Apropos wer hat denn meine Rhapſodie vom Trauerſpiele in der Samling
af adskillige Skrifter ins Däniſche überfegt. 32) Zu meinem damaligen Zwek
konte dieſer Aufſatz hinreichend ſeyn, aber ſonſt, bin ich nichts weniger als da⸗
mit zufrieden und wundere mich, wie man auf die Gedanken gerathen, ſo etwas
unvollkommenes zu überſetzen. Wenn ich einmahl die Muße erhalte, die ich itzt
noch nicht zu erhalten hoffen kan, ſo führe ich dieſe Materie vielleicht einmahl
etwas weniger unvolkommen aus.
Auf Klopſtoks Abhandlung von den griechiſchen Sylbenmaßen bin ich ſehr
begierig. Ich habe über die alten Sylbenmaße, und überhaupt über die grie⸗
chiſche Muſik in Vergleichung mit der Neuern verſchiedene Grillen gefangen,
die mich auf die Meinung eines Mannes wie Klopſtok von dieſer Sache ſehr
neugierig machen. Meine Gedanken find noch nicht reif genug um fie gehörig
ausführen zu können, ich habe auch zwar ſchon viel, aber noch nicht genug ge⸗
leſen wenn ich einmahl etwas aufſetze, fo werden Sie judex competens ſeyn,
weil ich aus Ihrem letzten Briefe ſehe, daß Sie der Muſik kundig ſind. Hr
Zachariae 33) den ich in der letzten Leipziger Oſtermeße, von dieſer Sache ger
ſprochen, gab mir Beifall.
So viel habe ich ſchon eingeſehen, daß alle die von der alten Muſik geſchrieben
haben, die Sache gar nicht recht eingeſehen. Sie hatten mehrentheils ſehr wenig
Kentniße von der Muſik und urtheilten wie der Blinde von der Farbe. Ins⸗
200 Berlin und Stettin bey Friedrich Nicolai 1761.
9 Von 1761, Brief 148 an arbeitete er an den Literaturbriefen.
a) „Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur“, 12. Brief.
31) Leſſing an Nicolai, Hamburg 4. Auguſt 1767. Lachmann⸗Muncker, Bd. 17, S. 233 ff.: „Es
iſt viel Kunſt darin und man ſpürt den Dichter, der ſich mit dem Geiſte des Shakeſpeare genährt
hat. — Ich bedaure nur, daß weder durch dieſe, noch durch Klopſtocks Tragödie [Hermanns Schlacht“
das deutſche Theater im geringſten reicher geworden. Denn beide können ſchwerlich, oder gar nicht
aufgeführt werden.“
2) Mol. 23, S. 59 und Anm. 2. Der Überfeger war Fleiſcher.
*) Mit ihm war Gerſtenberg beſonders befreundet, vgl. Sommerfeld S. 95.
— — —
66— ......
Kirſchſtein, Briefe Nicolais an Gerſtenberg 345
beſondere iſt Vossius de viribus rythmi der unwißenſte Tropf den ich jemals
geſehen! Er wirft der Neuen Muſik den Mangel des Rythmus vor, und doch
iſt der Rythmus in der Neuen Muſik weit mannigfaltiger als in der Alten.
Er würde die neue Muſik auf einer ganz andern Seite angegriffen haben, wenn
er ſie gekannt hätte.
Daß der Hexameterals Muſik betrachtet, einen beſonders großen
Effect gehabt habe, kann ich mich nicht bereden. Ich glaube unwiederſprechlich
darthun zu können, daß er nichts geweſen als eine Art von Polonoiſe und
daß der Pentameter bloß der Mußik zu gefallen erfunden worden, damit
man zwey Tacte lang wenigſtens den Tact mit einem viertel ſchließen konte.
Daß die theatraliſche Declamation der Alten nicht ſcandiret oder nach
dem Ta ct (zwei kurze Sylben für eine lange gerechnet) geſungen worden,
glaube ich auch unwiederſprechlich beweiſen zu können. Ich will nur einen
Beweis anführen. Die Jambi senarii (die die komiſchen Poeten gebrauchen)
heißen bey allen alten Schrifftſtellern nur ein quasi Sylbenmaß; wären aber
dieſe Jamben nach dem Tact geſungen worden, ſo wären ſie das allermarkirteſte
Sylbenmaß, das möglich wäre, weil kurz und lang beſtändig abwechſeln würde;
Nach unſerer Art:
FEIrgIrgIr In BI Ir»
Die Hauptfehler der meiſten Schriftfteller find wohl 1. daß fie von dem was in
der neuen Muſik Thesis und Arsis (Gute und ſchlechte Tacttheile, Anſchlagende
und durchgehende Noten) faſt gar keine Begriffe, und was noch ſchlimmer iſt,
daß ſie es mit dem was die Alten Arsis und Thesis nannten verwechſeln, welche
Worte bey den Alten ganz etwas anders bedeuten als bey uns. 2. daß man ſich
einbildet jeder pes eines Verſes wäre nach unſerer Art zu reden ein Tact; dis
gibt zu den ungeheuerſten Begriffen Anlaß. Ein Hexameter würde alſo aus
ſechs / Tacten beſtehen; Jeder Muſikus wird gleich einſehen, daß es ganz natürl.
in 2 Tacte einer Polonoiſe zerfalle. Die Pindariſchen Strophen, deren Rhyth⸗
miſches Gebäude hin und wieder dem erſten Anſchein nach, fo wenig Beziehung
der Theile auf einander zu zeigen ſcheint, waren meines Erachtens bloß der
Muſik zugefallen ſo zuſammengeſetzt, und das Muſikaliſche rythmiſche Gebäude
dem ſie entſprachen, war vielleicht ſehr ſimpel. So wie (doch dis Exempel muß
nicht falſch verſtanden werden) etwa die Franzoſen ein Reimgebäude, von ganz
ungleichen, und dem Schein nach nicht wohl zuſammenpaßenden Verſen machen,
die ſich doch hernach ganz leicht in einem Menuetten oder andern Tact ſingen
laßen. Ich läugne überhaupt, (und kan aus den alten Rhythmicis offenbaren
Beweiß führen), daß wenn die Alten, Verſe in Muſik geſetzt, ſich nicht al le
kurze zu den langen wie 1 zu 2 verhalten haben.
Doch was ſchwatze ich Ihnen da vor. Sie werden dieſe ſo einzelnen Stücke
meines Syſtems, das ich noch nicht auseinander ſetzen kan, vielleicht nicht ein⸗
mahl verſtehen, und vielleicht nicht einmahl zu verſtehen verlangen.
Hrn Moſes thun Sie wegen ſeines Phädons meines Erachtens in etwas
346 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
8——— . ——. —. ... ñ —. —— . ——
Unrecht: daß ſeine Schreibart ſich von der griechiſchen des Plato unterſcheidet,
dazu hat er ſehr gute Urſachen. Aber daß ſich der Sokrates des Hrn Moſes von
ſeinen Jüngern loben ließe, finde ich nicht. Sie müßen mir einige Exempel
geben, uncorrekt, dächte ich wäre ſeine Schreibart eben nicht, wenigſtens hat er
ſich um dieſes zu vermeiden viel Mühe gegeben. Das Beiſpiel, das Sie an⸗
führen, iſt untadelhafft: Sie haben vielleicht nicht bedacht, daß Schluß Syllo-
gismus und Conclusio bedeutet. Einen Vernunftſchluß ziehen, kan
man nicht ſagen aber aus gewißen Prämißen, eine Folge, Schlußfolge
oder Schluß ziehen, iſt — nach dem Erachten aller die ich darum gefragt
volkommen richtig. Was Sie in meines Freundes Schreibart ſte if nennen,
darüber wünſchte ich eine nähere Erläuterung und ich ſoll Sie ſelbſt in ſeinem
Namen darum erſuchen, ſich ſobald als moglich, ja wenn es möglich wäre mit
dererſten Poſt, darüber zu erklären. Die Urſach iſt dieſe: Die Erſte Aus⸗
gabe dieſes Buches iſt verkaufft, und noch vor der Michaelmeſſe ſoll die Zweite
angefangen werden. Hr Moſes wünſchte ſich dabey Ihre Erinnerungen, wenn
er ſie gegründet fände zu Nutze zu machen. Ich bitte Sie alſo ſo geſchwind als
möglich mir Ihre fernere Erinnerungen über den Phädon, ſonderlich wegen
des Steifen aus. Sie werden Herrn Moſes und mir, dadurch die größte Ge⸗
fälligkeit erzeigen.
Die Compoſition des ſel. Uhden über ihre Chloe werde ich Ihnen auf die
Michaelmeſſe ſchicken; ſie iſt zwar abgeſchrieben, aber muß erſt durchgeſpielt
werden der Schreibfehler wegen, alsdann ſollen Sie auch Bachs Anweiſung,
fein Concert aus A # die Stimmen zu dem aus E # haben. Wenn Sie mir
ſchreiben wollen, was Sie von Bachs Sachen haben, ſo kann ich Ihnen viel⸗
leicht, noch etwas dazu verſchaffen.
Daß Hr Bach für die Violine unbequem ſetzt, kommt vielleicht daher weil er
das Inſtrument nicht genug kennet, vielleicht auch, aus Nachläßigkeit. Er iſt
meiſt in Potsdam, wollen Sie Ihrer Cantate wegen, an Ihn ſchreiben, ſo wil
ich die Antwort beſorgen. Wenn Sie Ihm die Compoſition bezahlen wollen,
ſo componirt er ſie gewiß. Der Organiſt Soct iſt ſchon ſeit 6 Jahren tod. Die
Lieder der Deutſchen find von verſchiedenen Meiftern, der Advocat Krauſe iſt
der Herausgeber. Die Lieder nach dem Anakreon fol H. Rolle 33*) in Magde⸗
burg componirt haben. Leben Sie wohl und lieben Sie mich ich bin mit aus
geſuchter Hochachtung
Der Ihrige
F. Nicolai.
Am Rande der 1. Seite.
Sie haben neulich wegen der Holfeldiſchen Dreſchmaſchine angefragt. Der Er⸗
finder hat nur eine auf den Gräfl. Podewilsſchen Gütern gebauet, wo ſie ſeit
3 Jahren mit dem größten Nutzen in Gange iſt. Sie hat keine Unbequemlich⸗
keit, als daß ſie das Stroh etwas ſtärker zerſchlägt, das daher nicht zum Futter,
8 Joh. Heinr. Rolle (1718 - 85); vgl. Friedländer, Das deutſche Lied im 18. Jahrhundert, I“,
. 224 f.
— m — ——— — .
Kirſchſtein, Briefe Nicolais an Gerſtenberg 347
ſondern nur zur Streu zu gebrauchen iſt. Ein genaues Modell, wonach ſie könte
gebauet werden, erbietet ſich H. H. für 2 à 3 Louisdör zu machen.
Am Rande von S. 3.
Selbſt Muſici ſind ſehr unwiſſend hierin. Mattheſon hat in ſeinem Capell⸗
meifter 335) die alten Sylbenmaße höchſt falſch und ganz abgeſchmackt in
Text geſetzt.
Am Rande von S. 5.
Ob Herr Bach, den ich ſonſt in ſeinem Fache außerordentlich hochſchätze, zur
Vokalmuſik vorzügliche Talente habe, will ich nicht entſcheiden. Etwas
ſingbarer müßte er dann billig ſetzen. Agricola oder Hiller in Leipzig iſt der
Mann, letzterer iſt für ſeine Muſiken genug bekannt.
Berlin d. 6. Dec. 1768.
Liebſter Freund
Ich habe Ihren Brief v. 6. Aug. noch nicht beantwortet. Meine viele Be⸗
ſchäftigungen, haben mich nicht von einer der angenehmſten Beſchäftigungen,
nämlich an Sie zu ſchreiben, abgehalten. Auch itzt thue ich es nur in Eil.
Nachdem ich es wohl überlegt habe, wie ich die Gedanken über Ihre Briefe“)
ungezwungen, in der Bibl. anbringen könte, ſo ſehe ich keine recht Mittel dazu.
Erſtlich müſſen Sie wißen, daß wir uns entſchloßen haben, um Streitigkeiten
zu vermeiden gar keine Journale alſo auch das Ihrige nicht zu recenſieren 35) ;
hernach kann ich mich auf keine Gelegenheit beſinnen, wo man ungezwungen
darauf kommen könte. Sie müßen ferner wißen, daß ich in der deutſchen Bibl.
ſonderl. von ſchönen Wiſſenſch. faſt gar nichts mache, und daß von den Recen⸗
ſenten in den ſchönen Wiß., kein einziger in Berlin iſt; (dis
werden Sie kaum glauben, aber es iſt wahr, Hr Moſes hat einmahl Ramlers
Oden und Duſch (1) Gedichte recenfirt, 3% aber ein Gelübde gethan, ſich gar
nicht mehr damit abzugeben) ich müſte alſo deshalb correſpondiren, und wäre
es die Frage, ob der Recenſent, in Ihre und meine Gedanken entrirte. In⸗
zwiſchen enthält Ihr Vorbericht viel nützliche Sachen, von denen ich wohl wolte,
daß ſie öffentlich bekannt würden. Wie wäre es wenn man dem Publico reinen
Wein einſchenkte und gerade herausſagte: Auf Verlangen der V. der
Br. üb. die M. wird folgendes eingerükt. Wollen Sie dis, ſo
kann es noch in das IXte Bl. 1 abgedrukt werden. Ich erwarte aber ſchleunige
Antwort.
Ueber Ihren Ugolino wolte ich gern mündlich mit Ihnen ſchwatzen,
ſchrifftlich iſt es zu weitläufig. Ich geſtehe ich kann nicht mehr mit Leuten ſym⸗
b) Joh. Mattheſon, „Der vollkommene Capellmeiſter .. Hamburg 1739.
20) Gerſtenbergs „Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur“; er hatte Nicolai gebeten, die
Gedanken möglichſt ungezwungen, d. h. ohne Nennung feines Namens anzubringen; fie er ſchienen
nicht in der r 4555.
35) Trotzdem brachte die ADB. in Bd. 227, S. 608 ff. eine Rezenſtion des 1. Teils der Fort ;
ſetzung von „Über die Merkwürdigkeiten der Literatur
3) Ramlers Oden ADB. Bd. 71, S. ff.; Duſchs „Sämtliche poetiſche Werke“, Bd. 51, S. ff.
348 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
2 —— ——r.. .. .. . —
phatiſieren (1), denen jeder geringſte Stral der Hofnung benommen iſt. Mein
Gefühl wird ſtumpf, wenn ich ſehe, vier Menſchen die verhungern ſollen iſt gar
nicht zu helfen. Ihre Sprache iſt auch unſtreitig alzu bilderreich, doch davon ein
andermahl. Die Poſt eilt.
Ich bin mit ausnehmender Hochachtung
Ihr
Nicolai.
Am Rand.
Haben Sie ſich nicht mahlen laßen? Wolten Sie mir Ihr Bildniß nicht
mittheilen um es vor die Bibl. ſtechen zu laßen? Sie dürften es auf die Oſter⸗
meße nur einem dortigen Buchhändler mitgeben; auf die Michaelmeße erhielten
Sie es wieder. Ich bitte Sie recht ſehr darum.
2.
Ungedruckte Wieland⸗Briefe.
Mitgeteilt von Werner Deetjen in Weimar.
Die vorliegenden drei Briefe, die ich in einem ſächſiſchen Privatarchiv fand, ſind ſämtlich
an Friedrich Hildebrand von Einſiedel gerichtet. In dem erſten humorvollen Schreiben bittet
der Dichter, der ſeit 1772 in Weimar lebte, den ſiebzehn Jahre Jüngeren, den er bald zum
Freunde gewonnen hatte, Patenſtelle bei ſeinem fünften Kinde, einem am 18. September
1774 geborenen Sohne Carl Friedrich (geſtorben am 5. November desſelben Jahres) zu
übernehmen. Der zweite Brief, der nicht datiert iſt, fällt in eine weſentlich ſpätere Zeit. In
welchem Jahre Boßler mit ſeinem Schützling, wahrſcheinlich der blinden Virtuoſin Maria
Thereſia v. Paradis aus Wien (1759 — 1824), in Weimar war, ließ ſich nicht feſtſtellen.
Die Tatſache aber, daß Wieland vom „Sel. Mozart“ ſpricht, deutet darauf hin, daß der
Brief nicht vor dem 5. Dezember 1791 geſchrieben worden tft. Das dritte Schreiben zeigt
den alternden, kränkelnden Dichter, der von ſeinem 1797 erworbenen Landgut Osmannſtedt
für einige Tage nach Weimar gekommen war, aber bald wieder in ſein Tusculum zurück⸗
ſtrebte. Am 26. November 1798 hatte er an Caroline Herder geſchrieben: „Wenn die
Witterung (wie es allen Anſchein hat) ſo günſtig bleibt, ſo komme ich vielleicht ſchon
Morgen Nachmittag in die Stadt. Ich ſage vielleicht, weil es darauf ankommen
wird, ob ich mich völlig wohl befinde, welches vor einem Paar Tagen nicht der Falle war.
Meine Konſtitution wäre gut genug, wenn Sie nur nicht ſo abſcheulich zart und filigranartig
wäre. Ich bin wirklich ſo weit, daß ich nirgends mehr hintauge, als hinter den Ofen in
meinem eignen Zimmer. Ein Lüftchen, das mich ein wenig ſchief anweht, ſtöret die ganze
Ordnung der Dinge in dem dünnen einfältigen Etui meiner Seele.“ Wieland wohnte
damals im Herderſchen Hauſe.
1.
Partagés ma joye, mon cherissime Baron! Je vous annonce la nais-
sance d'un beau garcon dont ma chere petite femme vient de me regaler,
et je vous somme au nom de l’amiti& dont vous nous honorez, de remplir
demain matin vers les XI. heures la promesse que vous avez eu la bonte
de me donner pr&alablement, de renoncer pour lui au grand diable et ä
ses uvres, et d’aider Messire Schulze de tout votre pouvoir ä fin que
Deetjen, Ungedruckte Wieland- Briefe 349
le dit Seigneur Diable soit düement et plenierement chasse et delogé du
corps de mon dit garcon, et defense à lui faite de n'y rentrer plus in
secula seculorum — — — —
Pardon, mon cher Einsiedel, que je ne viens pas en personne vous
faire ma cour à cette occasion. Vous connoissez ma paresse, et je con-
nois votre indulgence et vos bontes pour celui qui vous sera attaché de
coeur et d’ame ad extremum halitum, en qualit& de Votre
tres humble et tres devouẽ serviteur
Weimar ce 19. sept. 1774. ami et compere
Wieland.
2,
[Ohne Datum.]
Vielleicht, liebſter Herr Cammerherr, ſind Sie ſchon vom Conzertmſtr. Kranz
praevenirt, daß der bekannte Muſikverleger Rath Boßler von Speier mit einer
jungen, ſeit ihrem vierten Jahr blinden Virtuoſin auf der Harmonica hier iſt,
aber ſich nicht wohl länger als 1 oder 2 Tage aufhalten kann. Dieſer Mann, der
(beyläufig zu ſagen) ein competenter Richter in ſolchen Dingen zu ſeyn ſcheint,
ſpricht in ſolchen Terminis von dieſer Perſon daß wir es weder vor Gott noch
Menſchen verantworten könnten, wenn wir fie ungehört von hinnen ziehn
ließen. Er ſagt, ihr Spiel übertreffe alles was man bisher auf der Harmonica
gehört habe; ſie ſpiele nicht nur das adagio ſondern auch allegro und ſogar
presto auf eine ſo reine delicate und bezaubernde Art, daß man ſie ſelbſt hören
müſſe, um es glaublich zu finden; mache die ſchnellſten Paſſaggien, Doppel⸗
triller, u. dergl. mit der höchſten Reinheit und Zierlichkeit, und leiſte, kurz und
gut, auf der Harmonica beynahe alles, was ein geſchikter Clavierſpieler auf
dem Clavier. Sie habe ſich mit ihm Boßler über 5 Monat in Wien aufgehalten,
wo der Sel. Mozart dieſes Mädchen ſehr geſchätzt, und verſchiedene Sonaten
ausdrücklich für ſie componirt habe ppp.
Ich habe Hrn. Boßler verſprochen, Sie vorläufig von dieſem allem zu benach⸗
richtigen, und ihm von Ihnen die Erlaubniß zu erbitten, Ihnen morgen vor⸗
mittag aufwarten zu dürfen; wo Sie dann ſelbſt das Mehrere von ihm ver⸗
nehmen werden. Ich zweifle nicht, daß unſre Sereniſſima wenn Sie von Ihnen
und Hrn. Kranz von dieſem muſicaliſchen Wunder Nachricht erhält, Luſt bekom⸗
men wird, ſich einen ſo überirdiſchen Ohrenſchmaus zu geben.
Verzeihen Sie indeſſen dieſe meine Zudringlichkeit, wenn es eine iſt, und
leben Sie wohl! T. a. V.
P. S. Hr. Rath Boßler logirt im Erbprinzen. Wieland.
3.
Es ſcheint die Götter gönnen mir nichts gutes mehr. Ich unterliege endlich
den Stürmen der dermahligen Witterung und Jahreszeit; geſtern abend war ich
gar nicht wohl, in dieſer Nacht hatte ich ein ſtarkes Indigeſtionsfieber, das bloß
in Störung der Digeſtion und Tranſpiration durch Verkältung ſeinen Grund
350 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
hat. Meine gewöhnliche Arzney und Diät wird mich in einigen Tagen unfehl⸗
bar wieder in einen leidlichen Zuſtand bringen, aber bey einem längeren Auf⸗
enthalt in der Stadt würde das übel ärger werden. Kurz, liebſter E. ich muß
nach Hauſe, dafür iſt kein Mittel. Ich entſage ungern dem Vergnügen, die Sra
Calderini ſingen zu hören; aber ich kann und darf nicht länger hier verweilen —
und kehre dieſen Nachmittag ad locum unde. — Entſchuldigen Sie mich, wenn
ich bitten darf, bey der Herzogin, bey der ſchönen Sängerin und bey Sich ſelbſt.
Ich beraube mich wahrlich dieſer Gelegenheit einmahl wieder etwas vortreff⸗
liches zu hören, nicht aus caprice. Ich kenne meine körperliche Conſtituzion,
und weiß wie wenig oder viel ſie vertragen kann, wenn der Grund zu einer
Katarrhalkrankheit einmahl gelegt iſt. Ich kann nicht bald genug wieder zu
Hauſe ſeyn, dabey bleibts. Alſo adio, caro Signor Padrone! Auf Wieder⸗
ſehn unter einer günſtigeren Conſtellazion!
Ganz der Ihrige
d. 2. December 98. Wieland.
3.
Neues aus dem Caroline⸗Kreis.
Mitgeteilt von Waldemar v. Olshauſen in Berlin.
Wie Erich Schmidt in den Anmerkungen zur neuen Ausgabe der „Caroline“ von 1913
mitteilt, war er für die Briefe Carolines an ihre Schweſter Luiſe Wiedemann nur auf die
Kopien Waitzens angewieſen (I, 669). Wo ſich die Urſchriften befanden, war ihm offenbar
unbekannt. Sie liegen mir vor aus dem Nachlaß meines Großvaters, des Orientaliſten
Juſtus Olshauſen (1800 — 1882), deſſen erſte Frau Zoé (1809 — 1829) eine Tochter jener
Luiſe Wiedemann war; aber auch in zweiter Ehe heiratete er eine Nichte Carolines, die
Tochter Marie (1805 — 1874) ihres jüngeren Bruders, des Arztes Gottfried Philipp. Als
Luiſe Wiedemann 1846 ſtarb, werden die von ihr aufbewahrten, dem Caroline ⸗Kreis zu⸗
gehörigen Papiere in die Hände von Marie Olshauſen übergegangen ſein.
Es ſind das zunächſt 10 Briefe Carolines an die Schweſter Luiſe, die ich mit den Nummern
der Ausgabe von 1913 bezeichne: 379, 380, 381, 419, 421, 429, 432, 438, 439 und 441.
Die letzten beiden tragen außen als Anſchrift den Namen des Däniſchen Herrn Juſtizrat und
Profeſſor Dr. Wiedemann, aber offenbar nur um die Zuſtellung in den kriegeriſchen Zeiten
möglichſt zu ſichern; auch fie find an Luiſe gerichtet. Der Münchener Poſtſtempel von Nr. 439
zeigt den 21. Februar 1800; Nr. 441 iſt von Carolines Hand datiert: 17. März. Ferner
liegen vor: Carolines Brief an den Bruder Gottfried Philipp, Nr. 443, und Schellings
Schreiben an dieſen, Nr. 452, die Totenklage um die Verlorene. Dieſer Brief weiſt im
Druck zwei Auslaſſungen auf, die nicht gekennzeichnet ſind. Die erſte betrifft Geſchäftliches,
feine Rechenſchaft über den Nachlaß. Ein Abſatz iſt hier aber doch von allgemeinerem Intereſſe.
Er lautet:
Ihnen empfehle ich Eines insbeſondre; das Denkmal für Auguſte. Von
allem, was ich als Willen und Auftrag der Seligen anſehen kann, iſt mir dieſer
der heiligſte. Die Ausführung wurde zu ihren Lebzeiten nur darum verzögert,
weil wir immer ſelbſt nach Rom zu kommen hofften, wo das Ganze unter
unſern Augen verfertigt werden ſollte.
v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-⸗Kreis 351
Weiter liegt ein Brief von Auguſte Böhmer an Luiſe Wiedemann vom 30. März 1800
vor. Er wäre vor Nr. 259, Auguſtes Brief an Luiſe Gotter vom 31. März, einzuordnen.
Enthält er auch nichts ſonderlich Belangvolles, ſo iſt er doch ein höchſt charakteriſtiſcher Aus⸗
druck des frühgereiften, liebenswürdig⸗ beweglichen Geiſtes dieſes ſeltſamen Kindes, deſſen
Tod wenige Monate ſpäter ernſte Männer mit der in ihrem Lebensnerv getroffenen Mutter
wehmutsvoll beklagten, und am tiefſten wohl ihr Stiefvater Schlegel. Gerade die Möglichkeit
des unmittelbaren Vergleichs dieſes Familienbriefes an die Tante mit dem förmlicheren vom
folgenden Tage, der an die mütterliche Freundin, Madam Gotter gerichtet iſt, erſcheint beſon⸗
ders reizvoll.
Jena den 30ſten März [1800].
Die guten Nachrichten auf die du fo feft hofteſt kann ich dir leider noch nicht
geben liebe Tante. Der Mutter ihr Nervenfieber iſt zwar vorbey aber nun hat
ſie Krämpfe die ſie ſehr angreifen und wobei ſie ſehr leiden muß, wahrſcheinlich
die Volge von den heftigen Schmerzen des Senfpflaſters. Seit 7 Nächten hat
ſie geſtern Nacht zum erſtenmal wieder ein bischen geſchlafen, aber die Heutige
hat ſie wieder ganz ſchlaflos zugebracht, und überhaupt iſt ſie heute nicht ſo gut
wie geſtern und vorgeſtern die Krämpfe ſind heftiger und eben hat ſie ſogar
eine kleine Ohnmacht gehabt. Hufeland ſagt aber es wäre gar nicht von Be⸗
deutung und die Krämpfe wären im Abzug, wehrten ſich aber immer noch ganz
wegzugehn und es würden wohl noch mehr ſolche Anfälle kommen. Doch hoft er
daß die Mutter in ein paar Tagen wieder ausfahren darf und wenn es nur erſt
ſo weit iſt ſo wird es gewiß recht geſchwind gehn.
Bäder und Opium ſind beinah die einzigen Mittel die der Mutter etwas
helfen. Baden muß ſie des Tags zweymal und geſtern wie ſie gar nicht ſchlafen
konnte hat ſie auch des Nachts gebadet, zum ſchlafen hat es aber nichts geholfen,
aber die Krämpfe lindert es ſehr. Heute ſind es nun ſchon 4 Wochen daß ſie ſo
krank iſt, es geht würklich über Maß und Ziel und muß bald beſſer werden oder
wir vergehn alle ſamt.
Winkelmann der dieſen Zettel mitnimt wird dir vielleicht noch mehr von dem
Verlauf der Krankheit melden können, denn ob er die Mutter gleich nicht geſehn
hat ſo wird er doch wohl als Arzt von den andern unterrichtet ſein. Er bringt
dir auch ein Exemplar von Wilhelms Gedichten mit.
Der Stargard ihren Tod hatte uns die Hufeland ſchon ſagen laſſen, wie ſie
denn überhaupt ſehr gütig iſt, ſie hat der Mutter neulich Gelee geſchickt, und ſich
auch verlauten laſſen daß, wenn es die Mutter nur nicht zu ſehr alterirte ſie ſie
wohl einmal beſuchen würde. Sie hat jezt auch Hauskreuz Sophie iſt krank
und recht ſchlim geweſen man hat ihr auch der Stargard ihren Tod noch nicht
ſagen können.
Die Mumme iſt glücklich angekommen und auf wohlfein verzehrt, fie hat
vielen Beifall gefunden.
Tiſchbeins ſind jezt zwar noch in Dresden aber Oſtern gehn ſie nach Leipzig und
wenn wir hingehn werden ſie allſo nicht mehr daſein. Wenn die Mutter wieder
geſund iſt, ſo kommt die Tante Ernſt aus Dresden hierher zu uns und läßt ihr
Kind hier inokulieren.
Was du alles von deinem Emmachen ſchreibſt iſt ja ganz übermenſchlich, es
352 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
muß ein wahres Wunderkind ſein, ich mögte es gerne einmal ſehn. Du könnteſt
es eben ſo wohl von der Kuſine Utteline unterhalten und ſagen wie lieb die es
hätte, und wenn es dann was von mir hörte ſo müßte es auch Lieb ſagen als
du es von der armen Tante Schlegel, die jezt ſo krank iſt. Sie läßt euch übrigens
ſehr grüßen und ihr möchtet euch ja nicht ängſtigen ſie würde bald beſſer ſein.
Das Emmachen ſolteſt du nur einmal ſchicken ſie mögte es gerne ſehn.
Nun muß ich aufhören liebe Luiſe die Mutter geht ins Bad und Winkelmann
will den Brief haben. Grüße und küſſe alles! der lieben Großmutter küſſe ich
die Hände.
Deine
gehorſame Niece
Auguſte B.
Die Hufeland, deren Güte Auguſte hier beſonders erwähnt, iſt nicht die Frau des Arztes:
vielmehr handelt es ſich um die Familie des Juriſten Gottlieb H. Hufeland, des Mitheraus-
gebers der ALZ. An Gries hatte Caroline am 27. Dezember 1799 von ihnen geſchrieben:
„Seit Schlegels Bruch mit der ALZ. ſehn wir ſelbſt unſre nä ch ſten Nachbarn nicht
mehr.“ Bei Joh. Friedrich Auguſt Tiſchbein war Auguſte im Herbſt 1799 in Deſſau zu
Beſuch geweſen, von wo Tiſchbeins dann nach Dresden reiſten. Für Auguſt Winckelmann
verweiſe ich auf „Caroline“ II, 599. Doch möchte ich über dieſe zweifellos intereſſante Perfön-
lichkeit noch etwas hinzufügen.
Man kennt von ihm, außer ſeinen in Meuſels „gelehrtem Teutſchland im 19. Ihdt.“, IV,
1812, S. 238 f., aufgeführten wiſſenſchaftlichen Schriften, die „Geſpräche über die Kunſt“
und einige poetiſche Beiträge in Auguſt Klingemanns „Memnon“ von 1800. Er gehört trotz
ſeines mediziniſchen Studiums und ſeiner ſpäteren mediziniſchen Tätigkeit in den Jenaer
Kreis der jungen Romantiker, iſt einer der ihren.
Dabei laſſe ich es dahingeſtellt, ob die Mitteilung des Herausgebers von Brentanos Ge⸗
ſammelten Schriften (VIII, 18) zutrifft, daß die Nachrichten eines Zurückgebliebenen am
Schluß des „Godwi“ (II, 431 ff.) wirklich von Winckelmann herrühren, und ihm alſo auch
die dortige Kennzeichnung Johann Wilhelm Ritters zugeſchrieben werden darf. Kempner
(Kerr) berührt die Frage nicht. Daß Winckelmann als Freund Brentanos auch mit Ritter in
perſönliche Beziehung trat, dürfte jedoch unbedenklich angenommen werden, auch wenn es nicht
belegbar wäre. Das iſt es aber. Die Bayer. Staatsbibliothek in München beſitzt als
„Ritteriana 3“ ein als viertes bezeichnetes Diarium Ritters, das am 13. Februar 1800
begonnen wurde und 177 Seiten enthält. Auf Seite 166 findet ſich als letztes Datum:
26. Okt. 1801. Die letzte Seite und die Innenſeite des rückwärtigen Deckels benutzte Ritter
zur Aufzeichnung von Titeln verliehener Bücher und der Namen der Entleiher. Hier findet
ſich dreimal auch der Name Winckelmanns, dem er u. a. „Tiecks Journal. 1.“ lieh, das er
nicht zurückerhielt, denn der Name iſt dann nicht durchſtrichen worden; oder er ſchenkte es ihm,
weil der Freund ſich für Tieck begeiſterte. Daß er das tat, beweiſt ſein Sonett „An Tieck“
im „Memnon“, das ich hierher ſetze, damit man ein Beiſpiel belegter Verskunſt Windel:
manns zum Vergleich mit den folgenden Verſen vor Augen hat. Der „Memnon“ iſt ein
ſeltenes Buch. Keine einzige Bibliothek Preußens beſitzt ihn. Mir liegt ein Exemplar der
Stadtbibliothek in Zürich vor.
An Tieck.
Der Frühling blüht, die goldnen Sterne ſingen,
Es rauſcht die Fluth, die Wolken fliehen weit,
Und wunderbar, im liebevollen Streit
Des Einen Lebens bunte Töne klingen.
v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-Kreis 353
Ein frommer Geiſt nur kann den Streit bezwingen,
Nur wer ſich kindlich der Natur geweiht,
Sieht Stern' und Blüth' in Einen Kranz gereiht,
Und kann in Ein Gedicht das Weltall bringen!
O, wie ſo ſchön iſt Dir der Sieg gelungen!
Vertrauet gern mit Deiner Freundlichkeit,
Ihr Innerſtes die Poeſie Dir beut!
Dich trägt der Mai, wenn er erſcheint, im Arm;
Und die Muſik feir't, dankbar Dir und warm,
Dein Angedenken mit beredten Zungen.
Das Ritterſche vierte Diarium bringt auf Seite 144, inmitten von wiſſenſchaftlichen Auf⸗
zeichnungen, auch ein Sonett, das S. M. [Sophie Mereau?] als Uberſchrift trägt und A. W.
unterzeichnet iſt. Ich möchte annehmen, daß ſein Verfaſſer unſer, wie Erich Schmidt ihn
charakteriſtert, „Schellingiſch angehauchter Mediziner“ iſt, und ich ſtelle, indem ich das
Sonett mitteile, die Frage zur Erörterung.
S. M.
O du Natur! wie ringt dein innres Streben
Im Duft des Morgens, in des Abends Glanze
Im Sturme wie im ſtillen Seyn der Pflanze
Sich liebend deinen Kindern kund zu geben.
Wie tröſtlich lächelt uns das heitre Leben
Gezieret mit des Frühlings ſchönem Kranze:
Es lebt der Geiſt der Liebe durch das Ganze,
Und Aller Blicke muß die Hoffnung heben.
Hier nimmt der Geiſt des Weltalls alle Lieder
Und allen Duft ulnd] allen Glanz der Blüthen
Und ſagt in einem Blicke alles wieder.
Hier iſt die Liebe ſelbſt der Liebe Feier:
Und Blumen, Lieder, welche einſam fühlen?
Vereint der liebenden Geliebten Leier. |
A. W.
Die hier ausgeſprochene Auffaſſung mochte Ritter damals beſonders zuſagen, der ſich
Seite 16 das Hardenbergſche Diſtichon aus dem Athenaeum notierte:
Welten bauen genügt dem tiefer dringenden Sinn nicht:
Aber ein liebendes Herz ſättigt den ſtrebenden Geiſt.
Und davor ſteht ein Eintrag, der vielleicht als zuſammenfaſſender Abſchluß der vorangehen⸗
den poetiſch⸗naturphiloſophiſchen Ergüſſe angeſehen werden darf:
Wer in der unendlichen [verbeflert aus: ganzen] Natur nichts als nur Ein
Ganzes, Ein Vollendetes Gedicht findet, wo [verbeſſert aus: in dem] in jedem
Eupborion XXVII. 23
354 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Wort, in jeder Silbe, die Harmonie des Ganzen wiedertönt, und nichts ſie
ſtört, der hat den Preis errungen, der unter allen der höchſte und das aus⸗
ſchließliche Geſchenk der Liebe iſt.
Daß Ritter für Winckelmann intereſſiert blieb, lehrt der Hinweis auf ihn im Brief an
Orſted vom 16. 17. Auguſt 1805: „uber den Gegenſatz von Raum und Zeit glaube ich wirſt
du Winckelmann's Verſuch einer dynamiſchen Phyſiologie leſen können. Es iſt mir wenig⸗
ſtens erinnerlich, daß er ihn abgehandelt hat.“ (Correſpondance de H. C. Orſted, Copenhague,
1920, II, 119.) Der „Verſuch“ erſchien 1803. Spekulationen über Raum und Zeit be⸗
gegnen übrigens auch in dem Vierten Diarium Ritters. Auf Seite 160, die das Datum des
18. September 1801 aufweift, ſteht ein Eintrag, die ſich mit der Polarität des Raumes und
der Zeit befaßt. Wir finden ihn wieder als Nr. 76 der „Fragmente aus dem Nach-
laſſe eines jungen Phyſikers“ von 1810, die Ritter, wie man ſieht, a us
feinen Diarien zuſammenſtellte, geordnet nach den Jahren ihrer
erſten Aufzeichnung. Drei Seiten vorher, bei Fragment 68, findet ſich in Klammer
geſetzt die Jahreszahl 1801. In dem Diarium wurden die ausgewählten Eintragungen mit
zwei ſchrägen Strichen am Rande bezeichnet !).
Auf Winckelmann bezieht ſich ein Wort in Carolines Brief an Schelling (Nr. 271) vom
Oktober 1800. Im Hinblick auf „Friedrich ſeine Querſpiele“, der ſich, wie Schelling es
Fichte gegenüber am 31. Oktober 1800 nannte, in Jena ſeinerſeits „der verlaſſenen Tran⸗
ſzendentalwiſſenſchaft annehmen wollte“, meint ſie, Schelling ſolle, „dem Wickelmann“ immer
nur ein humanes gutes Wort geben, damit er ſeine Divinität wieder bekenne. „Man muß
nichts vernachläſſigen im Spiel.“ Schelling wird das gewiß nicht getan haben. Er war deſſen
ſicher, daß fein Auftreten allein genügen werde zu hindern, daß „der poetiſche und philo⸗
ſophiſche Dilettantismus nun aus dem Kreis der Schlegel auch unter die Studenten über⸗
gehe“. Aber Carolines Wort iſt doch nicht ohne Bedeutung. Es beweiſt, daß Winckelmann
mindeſtens früher Schellings „Divinität“ bekannt hatte, wenn er auch dann „als eine immer
wieder kommende Fliege“ eifrig und erfolgreich bemüht war, für Friedrich Schlegel Studenten
zur Subſkription auf feinen angekündigten „Idealismus“ zuſammenzutreiben ( „Caroline“,
II, 274). So erklärt ſich die erſtaunliche Zahl eingeſchriebener 60 Zuhörer, von denen
Friedrich Schlegel ſchon am 22. Auguſt 1800 Tieck berichten kann.
Unſere Frage iſt hier, ob Winckelmann etwa ſeinem Bekenntnis zu Schelling irgendwann
poetiſchen Ausdruck gab? 2) Früher ſchon oder vielleicht nun erſt, nach Schellings neuem fieg-
haften Auftreten? Daß irgend etwas dergleichen im Verlauf des Winters erfolgte, lehrt eine
Außerung Carolines in ihrem Brief an Schelling (Nr. 279) von Anfang Januar 1801:
„Ja, Du triffſt meine Schwäche recht gut, indem Du mir die Verkündigung Deiner Größe
überſchickſt, ich leſe erſchrecklich gern davon, und dieß ſcheint mir auch ganz geiſtreich aus⸗
gedrückt und mit Sinn abgefaßt zu ſeyn. Weißt Du, wer es geſchrieben hat?“ Die Antwort
Schellings fehlt. Eine Deutung, worum es ſich handeln möchte, vermochte auch Erich Schmidts
umfaſſende Kenntnis nicht zu geben. Vielleicht, daß ein ſchmal roſa umränderter Zierbogen in
unſerm Nachlaß Aufklärung bringt — vielleicht! Denn Carolines Frage, ob Schelling den
Verfaſſer kenne, muß auffallen, wenn fie wirklich dieſe Verſe vor Augen hatte, die „Zu ⸗
eignung an Schelling“ überſchrieben ſind und offenbar die Erſtlingsleiſtung eines jungen
Dichters begleiteten. Es liegt auf der Hand, daß Schelling den Verfaſſer kennen muß, der ihm
ja Förderung und Beſtärkung dankt. Aber wie dem auch ſei. Das Widmungsgedicht des
Unbekannten iſt zum mindeſten biographiſch nicht ohne Belang; und ſo teile ich es mit. Für
ſeine Datierung iſt zu bedenken, daß mit Carolines Tod die Familienbeziehung Schellings
zu den Nachkommen von Johann David Michaelis gelöſt war.
1) Ich behalte mir vor, auf die Papiere Ritters in anderm Zuſammenhange näher einzugehen.
2) Wir geben die folgenden Ausführungen wieder, ohne mit dem Verfaſſer darin ganz überein-
zuſtimmen. Die Schriftleitung.
v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-Kreis 355
Zueignung an Schelling.
Es muß ein Volk beſtändig höher ſteigen,
Es kann zurück ſich nicht ergehn zum Kinde:
Der Dichtung erſter, jugendlicher Reigen
Zog längſt vorüber, flog vorbei geſchwinde:
Sophiſten kamen, ſie begann zu ſchweigen,
Und löſte nach und nach die goldne Binde;
Doch jene Nüchternen bezwang dein Streben,
Und ſo entflammteſt du das neue Leben.
Was deutſche Kraft in dieſer Zeit erreichte,
Gehört dir an, und neigt ſich deinem Bilde,
Und dein vor allem ſey dieß Lied, das leichte,
Das du zuerſt empfingſt mit edler Milde,
Verſammelnd rings um deſſen frühſte Beichte,
Von Frau'n und Männern eine ſchöne Gilde:
Sey 's, daß das Volk es nun mit Ruhm bezahle,
Du ließeſt leben es zum erſtenmahle!
Nun mögen Lieder ſich zum Liede reihen,
Geſchichte zu Geſchichte, Sag' an Sage,
Sie alle ſehnen ſich, ſich dir zu weihen,
Die noch verhüllt ich in der Seele trage,
Dir, der gehört, mit gütigem Verzeihen,
Die frühſten Klänge meiner jüngſten Tage,
Da noch ich ſang des Stolzes muth'ge Triebe,
Und jenen brennenden nach Ruhm und Liebe.
Doch hat das Herz ſich nie zurecht gefunden
In dieſes Lebens ird'ſchen Paradieſen,
Die Liebe, die es liebesüberwunden
Den Menſchen bot, ſie ward verlacht von dieſen,
Und frühe fühlt' ich, in verlaßnen Stunden,
Mich auf mein eignes dunkles Selbſt verwieſen,
Und früh begann ein unausſprechlich Sehnen
Die Bruſt durch Seufzer mächtig auszudehnen.
Das iſt vorbei! Ich lernte viel verſchmerzen,
Ich fühle Kraft, mir alles zu verſagen,
Und eine Welt von Heiterkeit und Scherzen
Im leicht beweglichen Gemüth zu tragen;
Nur ſelten ſoll die tiefe Qual im Herzen
Ergießen ſich in ungeheure Klagen,
Und jeder Hörer fühle dann mit Beben,
Was für ein trauriges Geſchenk das Leben!
356 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
So ward geſtählt ich denn und ausgeſtattet
Zu Thaten, die ich länger nicht verſchiebe;
Mein Muth, in Qualſen] nach und nach ermattet,
Wird nie mehr betteln gehn um weiche Liebe.
Vielleicht, da Stunde ſich zu Stunde gattet,
Gelingt es meinem glühenden Betriebe,
Daß ich dereinſt, wenn deutſches Wort ich meiſtre,
Die ganze Jugend dieſes Volks begeiſtre.
A. W. Schlegel brachte der Tochter Carolines ſein Totenopfer im „Muſenalmanach für das
Jahr 1802“ dar, den er mit Tieck gemeinſam herausgab. Aus welcher tiefen Erſchütterung
des Herzens dieſe Gedichte entſprangen, läßt der Brief an Tieck vom 14. September 1800
erkennen. Spuren von Thränen ſind die Flecke auf der erſten Seite. „Es iſt, als hätte ich alle
meine Thränen hierauf geſpart, und manchmal habe ich ein Gefühl gehabt, als ſollte ich ganz
in Thränen aufgelöſt werden. Wenn die geliebten Weſen in unſern Geſinnungen leben, wie
Du ſagſt, ſo hätte Auguſte nie mehr gelebt, als jetzt; ich wußte zwar, daß ich ſie ſehr liebte,
aber ihr Tod hat alle noch verborgene Liebe ans Licht gerufen.“ Das letzte Lied des „Totenopfers“
iſt Novalis, dem nun auch ſchon abgeſchiedenen, gewidmet. Das Erlebnis ſchmerzlicher Sehnſucht,
das in der 5. Strophe dieſer Klage um Tochter wie Freund Form gewann, liegt auch einem
Sonett zu Grunde, das ungedruckt blieb; unzweifelhaft weil hier Gefühl und Ge⸗
danke, wie offenſichtig, nicht zur reinen Form ſich banden.
Es kommt mir ins Gemüth, vielmehr vergehen
Kann nie, was Lethe ſelbſt nicht tilgt, ihr Bilde,
Wie ich ſie ſah auf blühndem Lenzgefilde,
In ihres Sternes Stralen leuchtend ſtehen.
So ganz erſchien ſie mir beym erſten Sehen
Schön, ſtill, in ſich gekehrt, ſo gleicher Milde
Daß ich „fie iſt es ſelbſt“ ganz ein mir bilde
„Sie lebt noch“ und um Rede ſie muß flehen.
Bald giebt und bald verweigert ſie mir Kunde.
Ich wie ein Menſch der irrt, ſich dann verwundert,
Spreche zum Herzen: Herz du biſt im fehle,
Du weißt daß in dem Jahr achtzehenhundert,
Den zwölften Tag des Juls, zur dritten Stunde,
Schied aus dem Leibe dieſe ſel'ge Seele.
Das folgende Sonett, das in dem „Totenopfer“ gleichfalls nicht Aufnahme fand, wofür
vielleicht nicht nur künſtleriſche Gründe maßgebend waren, iſt an Caroline gerichtet, die
Schlegeln damals mehr und mehr entglitt.
Wenn der Planete der die Stunden ſcheidet
Zum Zeichen wieder ſich des Stiers erhoben
Fällt aus den Flammenhörnern Kraft von oben
So ganz die Welt in neue Farbe kleidet.
v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-Kreis 357
Und nicht nur was den Blick von außen weidet
Bach, Hügel ſind mit Blümlein rings umwoben
Nein, auch der Erd' inwendigs feucht gehoben,
Geſchwängert, was den Tag, verborgen, meidet.
Verſchiedne Frucht entquillet dieſem Triebe.
So ſie die unter Frauen eine Sonne
Zuwendend mir der ſchönen Augen Schimmer
Wirkt in mir Wort, Gedanken, That, das Liebe,
Jedoch wie ſie auch lenkt der Stralen Wonne
Frühling nur iſt für mich von nun an nimmer.
Die beiden Sonette liegen nicht in Niederſchrift von Schlegels Hand vor. Sie ſtehen auf
Vorder⸗ und Rückſeite eines Kleinoktav⸗Blattes, das unzweifelhaft aus dem Nachlaß Luiſe
Wiedemanns ſtammt, die zum erſten oben rechts am Rand vermerkte: „An Auguſte Böhmer“,
worauf zwei Worte folgen, deren erſtes nicht lesbar iſt, während das zweite Wort „ebenfals“
heißt und ſich anſcheinend auf das Sonett der Rückſeite bezieht. Eine handſchriftliche Notiz
von Luiſe Wiedemann findet ſich auf dem mitgeteilten Brief Auguſtes und iſt dort von Juſtus
Olshauſen, ihrem Schwiegerſohn, als von ihr herrührend bezeichnet. Und von ſeiner Hand
ſteht auf dem Umſchlag, der die Sonette enthielt: „2 Sonette von A. W. Schlegel.“ Daß
ſie ihm zugehören, erſcheint danach zweifellos.
* *
Man weiß aus Carolines Briefen, daß in ihrem Leben geraume Zeit ein Mann namens
Tatter eine bedeutſame Rolle ſpielte. Das lehrt insbeſondere der aus verzweifelter Lage an F.
L. W. Meyer gerichtete Brief aus Kronenberg vom 15. Juni 1793 (Nr. 120). Kein Zweifel
iſt danach möglich, daß ihr Herz damals ganz dieſem Manne gehörte, dem einzigen, deſſen
Schutz ſie je begehrte, und der ihn „verſagte“, wie ſie es nennt, oder doch jedenfalls im kri⸗
tiſchen Augenblick nicht das rechte Wort fand. Denn daß auch er ſie liebte, ſteht außer Zweifel.
Seit wann er ihr verfallen war, läßt das einzige kleine Bruchſtück von ſeiner Hand erkennen,
das die beiden Caroline⸗Bände enthalten, die Zeilen an Meyer vom 25. Januar 1789 aus
Göttingen (Nr. 89). f
Von Briefen, die zwiſchen ihnen gewechſelt wurden, iſt nicht eine Zeile erhalten. Es muß
aber eine ſehr beträchtliche Zahl geweſen ſein; vermutlich war es ſogar der umfangreichſte
Briefwechſel, den Caroline je geführt.
Das würde längſt allgemein bekannt ſein, wenn nicht eine Fußnote Walzels zu einem Brief
Friedrich Schlegels an Wilhelm auf eine falſche Fährte gewieſen hätte. Ich meine die An⸗
merkung Walzels zum Brief an Wilhelm vom 13. November 1793, der die Worte enthält:
„Den einliegenden 218ten Brief hat mir Caroline offen zum Leſen geſchickt. Er gefällt mir
nicht, ich finde manches darin beinah unedel. Beſonders daß er nun will, fie ſoll auch unglück⸗
lich fein, weil ihn die Unnatur zu fo einem armen Knechte gemacht habe. Sie gibt ſich in die
Notwendigkeit ſchön und menſchlich. „Ich kann dieſen Mann nie gering ſchätzen — werde mich
des Verlohrnen immer mit Liebe erinnern', ſchrieb ſie mir bei dem Briefe.“ Nicht von Cranz
iſt hier die Rede, dem jungen Mainzer Offizier, ſondern von Tatter. Schrieb dieſer aber
damals ſeinen 218ten Brief an Caroline, ſo dürfen wir daraus wohl auf etwas mehr
ſchließen, als auf ein im Grunde belangloſes Verhältnis, wie es Erich Schmidt mit der
nüchternen Feſtſtellung glaubte abtun zu können, daß Carolinen, als ſie jung verwitwet nach
Göttingen zurückkehrte, dort eine Leidenſchaft für den geſcheiten, kalten Höfling Tatter hin⸗
nahm (I, S. VII). Vielleicht, daß es ſich um das einzige ganz urſprüngliche Liebeserlebnis
dieſes im Grunde mütterlichen Frauenherzens handelte. Und bei der Kataſtrophe in Mainz in
ſolchem Sinne ſchließlich auch um den Verluſt ihrer „liebſten Hoffnungen“ (I, 292).
358 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
2 —...—.. e. — e. !...
Friedrich Schlegel fragt den Bruder am 2. Juni 1793 in Bezug auf Carolines Verhaftung
und die Bemühungen ſie zu befreien: „Iſt denn Tatter gar nicht tätig bei der Sache?“ Am
13. November wußte er, warum dieſer ſchlechterdings nicht helfen konnte. Aber auch Erich
Schmidt ſpricht von dem „nicht recht aufgeklärten Verhalten“ Tatters zu Caroline, „der er
nach der Mainzer Kataſtrophe keinen Beiſtand leiſtete “. Es ſcheint ihm „ſelbſtiſche Kühle“ zu
zeigen (I, 286); wie er auch ein andermal ſchlechtweg von dem „Egoiſten“ ſpricht. Aber war
denn Tatter überhaupt in Deutſchland? Schreibt denn nicht Caroline ſelbſt am 6. Oktober
1792 an Meyer: „Vor 8 Tagen ging Tatter mit dem Prinzen nach Italien — er war bey mir
ein paar Tage, und ich bin glücklich“ (I, 269). Und teilt nicht Luiſe Michaelis am 7. Mai
1793 A. W. Schlegel mit: „Ich habe Tatter gleich geſchrieben und ihm einen ausführlichen
Auszug gemacht aus ihrem Briefe, fo daß er die völlige Uberſicht hat und ſehn [kann], daß fie
nicht ſelbſt Schuld war: noch habe ich keine Antwort von ihm, und weiß auch nicht beſtimmt
wo er iſt. Die lezten Briefe erhielt ich vor 6 Wochen aus Rom, aber da ſchrieb er, er würde es
bald verlaſſen, . Ja wohl wird ihn hart treffen dieſer Schlag, zumal da er unzufrieden war
mit ihrem Bleiben, und mir ſchrieb, er dürfe ſo oft nicht mehr ſchreiben als ſie und er es
wünſchten, weil er ſich ſonſt um allen feinen Credit bringen könnte“ (I, 65 1). Schon Caroline
alſo hatte im Dezember 1792 — „wie ich ihm ängſtlich über meine Zukunft fhrieb” — nach
Italien ſchreiben müſſen; und es iſt ſomit auch ſo verwunderlich nicht, daß Tatter von dort
antwortete, er ſei in Verzweiflung, nichts für fie tun zu können (I, 298).
Tatter war als Begleiter des zweitjüngſten Sohnes Georgs III., dem Prinzen Auguſt,
fpäterm Herzog von Suſſex, ſeit Ende 1792 in Rom. Dieſer ließ ſich dort im April 1793
ohne Wiſſen des Königs mit der Lady Auguſta Murray, Tochter des ſchottiſchen Grafen von
Dunmore trauen und wurde darauf nach England zurückgerufen. Es war Ernſt Friedrich
Herbert Graf von Münſter, damals Hof⸗ und Kanzleirat in Hannover, der den Auftrag er⸗
hielt, den Prinzen nach England zurückzugeleiten. Und was wurde aus Tatter? Das erſehen
wir aus einem Briefe, den er in den erſten Tagen des Oktober 1793 an Demoiſelle Louiſe
Michaelis in Göttingen ſchrieb, die ſpätere Frau Wiedemann. Er liegt mir aus dem Nachlaß
mit 4 anderen vor. Ich laſſe ihn hier ungekürzt folgen, damit die Perſönlichkeit Tatters
wenigſtens in einem Dokument unverſtellt vor Augen tritt.
An
Demoiſell Louiſe Michaelis
in
Göttingen.
Ich ſchrieb Ihnen das letzte Mal aus Piſa, am 26. Jul. und bat Sie, liebe
Freundin mich bei meiner, damals ſo Gott wollte, vermuthlichen und zu hoffen⸗
den Ankunft in England, ein Wörtlein Nachricht vorfinden zu laſſen; Sie
ſcheinen aber ſo gewiß auf meinen ſeligen Uebergang in jenes Leben gerechnet
zu haben, daß Sie gedachten, es verlohne ſich ja dann doch der Mühe nicht, einen
Brief zu ſchreiben, der, wenn ich längſt von Heifiſchen verzehrt ſeyn würde, für
vielleicht neugierige Finger reiſen würde. Allein die Sachen ſind ganz anders
ausgefallen und ich habe noch einmal in meinem Leben das Vergnügen, Ihnen
auf feſtem Lande die Verſicherung zu geben, daß ich Sie noch ferner in dieſem
irdiſchen Leibe als meine liebe Freundin anſehen und ſo das Schickſal will, auch
noch einſt anſchauen werde. Hier iſt mit Zwei Worten die Beſchreibung meiner
vollbrachten Seereiſe. Am 2. Auguſt gingen wir an Bord unſrer Fregatte und
den Tag drauf unter Seegel, ſahen am 8. Lord Hood und ſeine herrliche Flotte,
etwa in der Gegend von Marſeilles und ſpeiſten den Tag am Bord feines
Schiffes von 100 Kanonen, kamen am 22. mit einem heftigen Winde vor Gibral⸗
— . — — — D w-n . 6ů — —ẽůà w nr _ ⅛ ůUwf̃ 7 ¼ ˙—⅛ůãwĩ̃ > mn ln — . — . 5
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v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-Kreis 359
tar, blieben den 23. und 24. am Lande und beſahen den Felſen, kehrten am
25. Abends nach dem Schiffe zurück, ſegelten ab den Tag darauf, kreutzten wid⸗
rigen Windes wegen faſt 8 Tage an der barbariſchen Küſte herum, ſtiegen end⸗
lich aus Langeweile bei Tetuan in Africa ans Land, beſahen die Stadt, gingen
dann wieder unter Seegel, fuhren mit ſtarkem Winde am 1. Septbr. durch die
Straße von Gibraltar, ſahen nun in 18 Tagen kein Land und — legten endlich
am 19. bei Portsmouth vor Anker. Weil wir aber Quarantaine halten mußten,
fo kamen wir nicht eher als den 21. in Wiln]dfor an, und wurden am 22. dem
Könige und der Königin vorgeſtellt. Auf dieſer ganzen langen Reiſe habe ich
das ſehr unbegreifliche Glück gehabt, nicht einen Augenblick ſeekrank zu ſeyn
was ſo wenig dem Prinzen, als den andern Herrn zu theil fiel und habe mich
auch faſt beſtändig recht ſehr wohl befunden, doch aber nicht zu dem Gefühl
kommen können, daß eine Seereiſe und das Seeleben überhaupt, eine für mich
wünſchenswürdige Sache je werden könne. Von den Begegnißen hier, feit wir
am Lande find, laßt ſich nicht viel erzälen; von der Dauer unſres Aufenthalts
nichts beſtimmen und überhaupt nur noch das ſagen, daß mancherlei, was ich
noch etwa von dieſem und jenem zu erzälen haben könnte, ſich ungleich beßer
mündlich wird abthuen laßen, wenn ich je noch in dieſem Leben meine Freunde
jenſeits des Meeres wieder zu ſprechen kriegen ſoll. Aber deſto ſehnlicher
wünſchte ich jetzt recht umſtändliche Nachrichten von ihnen zu erhalten und bitte
Sie daher recht angelegentlich, mich doch nicht zu lange vergebens darauf warten
zu laſſen. Ich bemühe mich recht eigentlich, mir keine unruhige Vorſtellungen
über die Urſache Ihres Stillſchweigens zu machen; warum ſchrieb Ihr Bruder
nicht eine Zeile! Und wo iſt Sie und wie geht es ihr? — Säumen Sie nicht,
ihr bekannt zu machen, daß ich hier angekommen bin; was Sie mir zuletzt von
ihrem Befinden ſagten, ſchreckt mich ab, ihr zu ſchreiben; guter Gott! wenn ich
an ſie ſchriebe, die nicht mehr wäre! Es fährt kalt über mich her, wenn ich nur
von weitem dieſer Vorſtellung nahe komme. Ich habe ſo oft und ſo lebhaft an
Lotte?) gedacht; ich kann fie nicht aus meinen Gedanken laſſen. Doch weg da⸗
von! Ich hoffe, daß Ihre liebe Mutter wohl iſt; ſagen Sie ihr viel ehrerbietiges
von mir. Philip herzliche Grüße. Auch ja an Feders, von denen Gh. Beſt mir
keine friſchen Nachrichten geben konnte. Wollen Sie dem Hofrath ſagen, daß ich
ihm vom Felſen Gibraltar verſteinerte Knochen mitgebracht habe, die ich hoffte,
durch den Courier überſchicken zu können; es ſey ſehr was rares und wenn er
ſich nicht mit Verſteinerungen abgäbe, gute Stücke zum Vertauſchen.
Octbr. 5. So weit hatte ich geſchrieben als ich Ihren Brief vom 16. v. M.
erhielt. Dank für die mir mitgetheilten Nachrichten obgleich vieles darin meinem
Herzen weh thut. Aber darüber läßt ſich kaum ſchreiben. Ihre Aufträge will ich
ſuchen auszurichten, allein ganz gewiß kann ichs nicht verſprechen, weil ich
22. engl. Meilen weit von London wohne und vielleicht ſo bald nicht wieder hin
komme; Mad. Beſt wohnt dann wieder 7 Meilen von London, und in der
Stadt ſelbſt zählt man die Entfernungen auch nach Meilen; doch will ich alles
) Die mit dem Sohn des Buchhändlers Dieterich verheiratete Schweſter Lotte, die zwiſchen
Caroline und Luiſe ſtand, war am 2. April 1793 im Kindbett geſtorben.
360 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
thuen, was ich kann. Meine Geſundheit iſt noch ſehr gut; ich fürchte auch
eigentlich nur das Frühjahr. H. Dornford iſt in London; H. Bra... aber eben
ſeiner zerrütteten Geſundheit wegen, nach Liſſabon abgereiſt; dieſe Nachricht
wird Hofr. Heynen nicht gleichgültig ſeyn.
Leben Sie recht wohl und bleiben Sie gewogen
Ihrem .
Die Anlage gehört C. Sie oder Phil. wollen gütigſt die Addreße, die ich
nicht weiß, beſorgen.
Es iſt wohl kaum ein Zweifel, daß die für Caroline beſtimmte Anlage dieſes Schreibens
vom 5. Oktober jener 218te Brief Tatters iſt, von dem wir vorher durch Friedrich Schlegel
hörten. Im übrigen verweiſe ich auf F. Frensdorffs Darſtellung des Lebens des Grafen
von Münſter in der Allg. D. Biogr. XXIII, 1886, S. 157 ff.
Im Januar 1794 kehrte Prinz Auguſt nach Italien zurück. In ſeiner Begleitung waren
wieder Graf Münfter und Tatter. Annähernd 5 Jahre währte dieſer zweite italieniſche Auf⸗
enthalt. Drei weitere Briefe Tatters aus Rom liegen mir vor: vom 4. November 1795 und
2. März 1796 an Mademoiſelle Louiſe, der vom 28. Mai 1796 an die nunmehrige Madame
Wiedemann. Ein fünfter Brief iſt aus Hannover vom 17. Dezember 1798 datiert.
Der zweite Brief iſt nach Braunſchweig gerichtet, wohin die Witwe Johann Davids über⸗
geſiedelt war und wo nun auch Caroline eine neue Heimat fand. Der Brief ſchließt mit den
Worten: „und ſeyn Sie und Caroline nicht gar zu karg mit Briefen. An Philip tauſend
Grüße.“ Der Briefwechſel mit Caroline war alſo auch jetzt noch nicht abgebrochen.
Der dritte Brief antwortet bereits auf Luiſes Mitteilung von ihrer Verlobung mit Wiede⸗
mann. Es ſei mehr großmütig als wahr, wenn ſie ihm, „einem nun alt gewordenen Hage⸗
ſtolze“, bei dieſer Gelegenheit verſichere, daß er ihr ehemals nützlich geworden ſei.
Glauben Sie mir, ich weiß jetzt beſſer zu ſchätzen, wie viel das werth ſeyn
kann, was man durch bloße Vorſtellungen nützt und ſeyn Sie verſichert, das
Gute, was Sie in ſich ſelbſt bemerken, was Ihnen jetzt verſpricht, eine gute Frau
zu werden, wurde durch andere Hände dahin gepflanzt als durch die meinigen ..
Ich muß bei dieſer Gelegenheit, welche bloß freudige Empfindungen in mir
erregen ſollte, mich zurückhalten, um nicht traurigen mich hinzugeben, weil ſie
eine ganze Reihe von Erinnerungen in mir aufruft. Ein ſchneller Blick auf die
letzten 6 oder 8 Jahre meines Lebens geworfen, kehrt nur immer mit Traurig⸗
keit zurück, wenn er auf manche Stellen fällt. Doch es iſt nicht artig von mir,
daß ich Ihnen jetzt damit beſchwerlich falle. ... ich will nicht bloß den Tag
[der Hochzeit] an Sie denken, ſondern fo oft, als ich das Bedürfniß fühle mein
Herz durch Empfindungen des herzlichen Wohlwollens zu erweitern und mich
an tauſend lieben Hofnungen für Sie weiden und erquicken. Jetzt fühle ich auch
eine beſondre Theilnehmung an den Empfindungen, die Ihre würdige Mutter
hiebei haben muß. Ich möchte ſo gern, daß ſie noch recht viel Freude in der Welt
genießen möchte, da Sie es ſo ſehr verdient durch das was ſie ſchon darin gethan
und entbehrt hat. Machen Sie Ihr meine ehrerbietigſte Empfelung. Caroline
ſcheint auch zufrieden zu ſeyn. Philip wird nicht zurückbleiben, um den bin ich
unbekümmert. Alſo wäre denn Ihre Familie einmal wieder glücklich. Dieß
Gemälde will ich mir ausmalen und damit dieſe und jene Erinnerung aus⸗
v. Olshauſen, Neues aus dem Caroline-Kreis 361
löſchen? — nein das geht nicht! — aber doch etwas ſchwächen und ſanfter
machen, welche mir ſonſt ſo unwillkührlich ſchneidend durch den Geiſt fährt —.
Es drängt ſich der Eindruck auf, daß Tatter, ſei es durch Philipp oder auch durch Caroline
ſelbſt, über den Kernpunkt der Mainzer Kataſtrophe volle Aufklärung erhalten hatte. (Vgl.
Friedrich an Wilhelm Schlegel, 10. November 1793; Walzel, 138.)
Der vierte Brief an die ſich in ihrer jungen Ehe glücklich fühlende Freundin zeigt denſelben
herzlichen Ton inniger Teilnahme und beweiſt aufs neue, welchen zuverläſſigen, ſittlichernſt ⸗ und
tieffühlenden Freund die Familie Michaelis an dieſem Manne hatte. Gegen Ende heißt es:
„Sie haben mir in Ihrem letzten Briefe ſo wenig Ihre theure Mutter, als Carolinen genannt;
empfehlen Sie mich erſtrer ehrerbietigſt; ich würde letztrer gewiß ſelbſt ſchreiben, aber ich
weiß nicht, wo ich den abgerißnen Faden wieder aufgreifen ſoll und ich bin auch ſo wenig auf⸗
gelegt, Briefe zu ſchreiben, wie ich fie ehmals ſchreiben konnte —.“
Der letzte mir vorliegende Brief Tatters aus Hannover vom 17. Dezember 1798 wünſcht
Luiſe Wiedemann zu der bevorſtehenden Geburt eines dritten Kindes Glück. Und er hofft
von Herzen, daß es ihr erhalten werden möge, nachdem der erſtgeborene Sohn früh dahinſtarb.
Und wieder begegnet eine Caroline⸗Erinnerung; diesmal aus der erſten Zeit der Göttinger
Bekanntſchaft.
Mein beinahe zu ſtumpf gewordenes Herz kann denn doch noch etwas von
den Empfindungen einer Mutter bei ſolchen Anläßen ahnden; ehmals konnte
ich auch weinen; das haben Sie geſehn, als ich über dem entſeelten Körper des
Sohnes einer Mutter hieng, die ich mehr liebte, als ich noch etwas auf Erden
geliebt habe. Jetzt mag ich lieber doch über das alles philoſophiren und mir kalt
vorſagen, daß im Schoße der Erde die Kinder beßer aufgehoben ſind, als wenn
ſie ſich, wenigſtens neun Menſchen unter Zehnen, dürftig an Genüſſen des
Lebens auf ihrer Oberfläche herumtreiben müßen.
Und am Schluß:
Wenn Sie nach Jena ſchreiben, fo beſtellen Sie gütigft meine Grüße.
Seit dem 1. Juli 1796 war Caroline die Gattin Wilhelm Schlegels und nach Jena über⸗
geſiedelt. Für den Tod des einzigen, nachgebornen Sohnes der „lieben Frau“, aber verweiſe
ich auf das ſchon erwähnte Briefbruchſtück Tatters an Meyer vom 25. Januar 1789 (Nr. 89).
Tatter war nach ſeiner Rückkehr in die Heimat zunächſt in den Hofſtaat des Prinzen Adolf
eingetreten. Vgl. Eliſe Campers knappe Vorbemerkung zu den Briefen Tatters an Meyer
in Italien, „Zur Erinnerung an F. L. W. Meyer“, I, 311; Erich Schmidt ſagt: „nach Auf⸗
zeichnungen der Frau Rehberg“ („Caroline“, I, 686). Wenn es aber dort heißt, Tatter habe
ſich die Zuneigung dieſes vortrefflichen Fürſten in dem Grade zu gewinnen gewußt, „daß er ihm
bis zu ſeinem Tode ein geprüfter Vertrauter blieb“, ſo erweckt das den irreführenden Anſchein,
als ob Tatter nun ſtändig in der Umgebung des Herzogs von Cambridge geblieben wäre. Daß
dem nicht ſo iſt, wiſſen wir aus Briefen Carolines an Wilhelm Schlegel (II, 91, 104). Aber
als er im April 1801 durch die Abreiſe des Prinzen Adolf nach England den „fürſtlichen
Tiſch“ verlor, ergab ſich bald genug eine andere Verwendung für ihn, in der er ſeinen Titel
Legationsſekretär, den er ſeit 1787 führte („Caroline“, I, 163), zu Ehren bringen konnte.
Er ging noch im ſelben Jahre mit dem Grafen von Münſter, deſſen politiſche Laufbahn hiermit
beginnt, in beſonderer Miſſion nach Petersburg. „Unterſtützt von dem Legationsſekretär
Tatter, dem italieniſchen Gefährten, einem gewandten und erfahrenen Manne“, gelang es, wie
Frensdorff ſagt, dem Grafen von Münſter ſchnell am ruſſiſchen Hof Fuß zu faſſen und ſeine
Aufgabe, eine für Hannover möglichſt günſtige Entſcheidung über die Zuteilung der ſäku⸗
lariſterten geiſtlichen Gebiete herbeizuführen, zu erfüllen. Bis Ende 1803 dürfte Tatter mit
dem Grafen von Münſter in Petersburg geblieben ſein. Ob er dann mit dieſem an den eng⸗
362 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
liſchen Hof zurückkehrte, wo Münſter Ende Mai 1805 Staats- und Kabinettsminiſter bei der
5 75 des Königs wurde, iſt mir nicht bekannt. Daß er in Hannover ſtarb, ſcheint aber außer
rage.
Die Göttinger Univerſitätsbibliothek beſitzt nämlich das „Verzeichnis der von weil. Herrn
Legations⸗Rat Tatter hinterlaſſenen Bücher, hiſtoriſchen, philoſophiſchen und belletriſtiſchen
Inhalts, welche am 14. April 1806 und folgenden Tagen zu Hannover ... verkauft werden
ſollen“ (Hiſt. lit. libr. 2576). Es iſt ein Klein⸗8⸗Heft von 71 Seiten. Die Bibliothek zeugt
von umfaſſender Bildung und ungewöhnlich vielſeitigen Intereſſen. Das Hauptverzeichnis
nebſt Anhängen ergibt an Büchern insgeſamt 1725 Nummern.
Geſtorben iſt Tatter anſcheinend ſchon im Auguſt 1805. Denn in Luiſe Wiedemanns Brief
an Caroline vom 4. September 1805 (Nr. 396) iſt der Freund, von deſſen Hinſcheiden ge⸗
ſprochen wird, natürlich Tatter. Und wenn ſie dort ſagt: „Ich dächte, man könnte an Möller
ſchreiben und dieſen um die etwa zurückgebliebnen Briefe bitten“, ſo iſt auch die Frage geklärt,
was aus dem umfangreichen Briefwechſel Carolines mit Tatter wurde. Offenbar ward er
reſtlos vernichtet. Das Endurteil über den Geſtorbenen ſcheint nach der Andeutung die ſes
Briefes kein günſtiges geweſen zu ſein. Was den hier erwähnten Norweger Nikolaus Möller
angeht, ſo verweiſe ich in Ergänzung der Notiz Erich Schmidts (II, 628) auf G. H. v. Schu⸗
berts Selbſtbiographie I, 1854, S. 365 f., 420. Im Sommer 1801 lebte er in Jena, ein
Freund von Steffens, mit Ritter zuſammen in jenem Gartenhaus vor der Stadt, das in dem
neuerdings von der Preußiſchen Staatsbibliothek erworbenen Briefen Ritters an Voigt eine
ſo ärgerliche Rolle ſpielt, und im Herbſt 1811, jenem Jahre, das ſich „durch früh eingetretene
und kräftige Wärme auszeichnete“, traf ihn Schubert auf dem Gute Unterzell am Main, Carl
v. Hardenbergs, des Bruders von Novalis, als Verwalter an, ſeinen „alten Bekannten und
Freund von Jena her“. Von einer perſönlichen Beziehung Möllers zu Tatter iſt mir nichts
bekanntgeworden. Vielleicht war er 1805 in Hannover bei einer Behörde tätig, die ſich amt ·
lich mit der Nachlaßregelung Tatters zu befaſſen hatte.
4.
Frau von Krüdener und Achim von Arnim.
Mitgeteilt von Roſe Burger in Göttingen.
Die beiden hier veröffentlichten Briefe befinden ſich in der Varnhagen von Enſe ſchen
Sammlung auf der Staatsbibliothek in Berlin, der ich für die freundliche Erlaubnis des
Druckes zu Dank verpflichtet bin.
Ludwig Achim von Arnim (1781 — 1831) hatte während feines Aufenthaltes am
Genfer See im Herbft 1802 die Bekanntſchaft von Frau von Krüdener gemacht. Sie ſchrieb da ·
mals an ihrem Roman, der 1803 in zwei Bänden in Paris und Hamburg erſchien: „Valérie
ou Lettres de Gustave de Linar à Erneste de G. -“ (deutſch Leipzig 1804). Einen
der Briefe hatte ſie aus „Arnam“, einen anderen aus „Hollyn“ datiert aus Höflichkeit gegen
Arnim. Sein Dankſchreiben iſt unvollendet — vielleicht verhinderte ihn die ſchwere Erkran⸗
kung, die fein Leben im Mai 1804 in London gefährdete, mehr hinzuzufügen. Der fein
Tadel, den er über dieſen, ſelbſt für jene Zeit, überſentimentalen Roman ausſpricht, iſt ſehr
bezeichnend für die vornehm liebenswürdige Art des ritterlichen Romantikers.
Barbara Juliane von Krüde ner geb. v. Vietinghoff (1764 — 1824) hatte als
Gattin des Livländers Burckhard Alexis von Krüdener, der an verſchiedenen Höfen ruſſtſcher
Geſandter war, eine Rolle in der Geſellſchaft geſpielt als „anmuthigſte und entſchloſſenſte
Kokette“ wie Varnhagen boshaft bemerkt, um ſich „dans l’äge ingrat“ der Literatur
Frömmigkeit und Politik zuzuwenden. Aber warmherzig und opferbereit hatte fie im Unglüds-
jahr 1807, als der preußiſche Hof in Königsberg war, für die Verwundeten und Gefangenen,
Burger, Frau von Krüdener und Achim von Arnim 363
die nach der Schlacht von Pultusk und Preuß.⸗Eylau in die Stadt ſtrömten, unermüdlich ge⸗
ſorgt, und die Königin Luiſe vermocht, mit ihr die Militärhoſpitäler zu beſuchen und das Elend
der gefangenen polniſchen Inſurgenten zu mildern. Uber dieſe charitative Tätigkeit veröffent⸗
lichte Arnim, der damals in Königsberg war, einen kurzen Aufſatz in der „Veſta“ ).
Das fpätere Leben Frau von Krüdeners iſt bekannt, auch ihr Anteil an der „Sainte
Alliance“, die 1815 von Alexander I. von Rußland, Friedrich Wilhelm III. von Preußen
und Franz I. von Oſterreich in Paris unterzeichnet wurde. In den folgenden Jahren trat fie
öffentlich auf als Predigerin der myſtiſchen „reinen Liebe“. Die Schriften der Frau de la
Motte Guyon (1648 — 1717) und ihr Verkehr mit Jung⸗Stilling und Johann Friedrich
Oberlin (1740 1826) hatten dieſen Hang in ihr beſtärkt. In den Hungerjahren 1816 und
1817 verehrte man ſie als Tröſterin und Helferin der Armen und Kranken im Süden
Deutſchlands und in der Schweiz. Sie ſtarb in der Krim in dem Tatarendorfe Karaſu⸗
Bazar, wohin ſie eine deutſche Bauernkolonie begleitet hatte, die die Fürſtin Anna Szerge⸗
jewna Galitzin dort auf ihren Beſitzungen anſiedelte.
Das geſchichtliche Urteil über fie iſt ſchwankend. Charles Eynard, der Genfer Philhellene,
hat ihr in ſeiner Lebensbeſchreibung, Vie de Madame de Krüdener, Paris 1849 ein
glänzendes Denkmal geſetzt.
London d. 1. May 1804
Geehrte Freundin!
Erſt heute erhielt ich Valerie, Ihre Tochter aus Secheron 2), ich habe fie emp⸗
fangen mit Freude; der Montblanc ſah einmal wieder hervor aus den rothen
Wolken, ich dachte im grünenden Frühling mit Luſt eines vergangenen
Herbſtes. Jede Erinnerung hat einen Vollglanz wie wir ſie am liebſten ſehen,
ich vergeſſe gern die abnehmenden Viertel in Lyon und Paris und denke Sie
lieber am Fenſter der einſamen Burg in Secheron über den Schiffen, über dem
See in lebendiger Seele das Schickſal des armen Guſtav abwägend. Was ſchön
iſt, das erkennen wir, daß es uns gegenwärtig: während der Geiſt von ſeinem
reinen Gewinn allen leichten Staub ſorgſam abſchüttelt, legt er ewige Falten
dem Mahler, der ihn bittet ſtille zu ſtehen, ſie bildend ewigen Zeiten darzuſtellen.
Daß Ihre Bildungen in Frankreich gefallen, ſagen die Zeitungen, eine böſe
Zeit die mir nur auf dieſen Wege Nachrichten von Ihnen geſtattet, mich er⸗
freut in dem Werke, wie es zu mir ſpricht aus Ihrer Gegenwart, es iſt ſchön,
weil es mir gegenwärtig geblieben. Werden Sie bald in mildere Luft zurück⸗
kehren? Ich habe hier beynahe ein ganzes elendes Jahr verlebt, vieles habe ich
gethan um mich zu erfriſchen, aber friſcher blieb mir Vergangenheit und ich
kehre mit Wonne in mein Vaterland zurück wie zu Ihrer Valerie, weil dieſe mir
ein neues Vaterland gegeben, zu den beyden neuerbauten Städten Arnam und
Hollyn. Bei einer zweyten Auflage hoffe ich Aufſchluß über die Lage dieſer
Orte über ihre Länge und Breite zu hören, aber noch lieber in einem Briefe von
Ihnen. Es hat mir leid gethan, daß Sie einige lebhafte Briefe über Gefell-
ſchaften ausgelaſſen, wahrſcheinlich auf den Rath einiger alten grämligen
Franzoſen, man kann wohl in der Welt zu viel weinen aber nie zuviel lachen.
Ihr Guſtav iſt jetzt zu früh finfter und weinend. Das Weinen iſt dem geſunden
1) Veſta für Freunde der Wiſſenſchaft und Kunſt, hrsg. von Ferd. Freih. v. Schrötter und
Max v. Schenckendorff. Königsberg 1807. Bd. I, S. 119.
2) Sccheron, kleiner Ort am Genfer See nahe der Stadt Genf.
364 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Manne ſehr ſchwer, das Weinen iſt eine Herſtellung des Gleichgewichts phy⸗
ſiſcher Kräfte, die geiſtig bewegt worden, die Poeſie ſieht ihre Wirkung in ihnen
vernichtet, ſie ſind daher nur da anzuwenden, wo ſie ſelbſt nicht höher ſteigen
kann. Die Natur des Mannes erhebt das Schrecklige zur Poeſie, die Natur des
Weibes verſenkt es in Thränen. Ein alter Spruch ſagt: den Männern geziemt
nicht Trauer ſondern Angedenken ... bricht ab!.
2. Auguſt 1808.
Lieber Arnim, es iſt freylich unverzeyhlich nach 10 Wochen einen Brief zu be⸗
antworten ich werde ihnen aber eine ganz neue Entſchuldigung darbringen. es
iſt weil ich ihnen ſo herzlich gut bin, daß ich es mir erlaube ſo nachläſſig zu
ſeyn; und nun müſſen fie mir noch dancken; Hören ſie ... doch ein Wort auch
über mein Stillſchweigen; ich war abweſend als ihr Brief kam, und lange ab⸗
weſend: mußte eine Reiſe machen die mich ſehr aufhielt. ſie wiſſen es das
meine Correſpondentz ſo ausgebreitet iſt; das es mir würklich ſchwer iſt exact
zu feyn. ſeyn fie alſo der gute Arnim wie immer und verzeyhn fie hübſch; ich
bin ſeit 8 Wochen in den Voghöéſen, erſt wollte ich nach Baden, aber die tiefe
Einſamkeit dieſer Gebirge wo ich ganz ohne mich zu genieren nur Quellen und
Wieſen und hohe Wälder beſuche, ſtatt Fürſtenkinder, hat einen ſolchen reiz auch
für mich, das ich dieſe Voghéſen ausnehmend liebe. würklich iſt die Natur aus⸗
nehmend ſchön; was machen ſie denn lieber Arnim ſchreiben ſie doch 2 zeilen
bloß nach Carlsruhe bey hofrath Jung.?) man ſchickt alle Briefe her. Haben
fie Werner“) geſehen ich habe ihn verfehlt können fie mir ſagen, in welchen theil
der Schweitz er gegangen?
er ſchrieb mir er käme nach Carlsruhe mehr nichts. ſobald meine Othilde 5)
zum Druck kömmt, ſollen ſie wills Gott das was ſie ſo gütig ſind zu fordern
bekommen, noch mache ich es wie ein gewiſſer Man mit den Königen, ich ſetze
ab und ſetze neue Ritter ein, und ſo einen abgeſetzten ritter könen ſie nicht be⸗
kommen ... warten fie alſo lieber Arnim etwas; ſchreiben fie mir was fie
machen; und gedenken ſie an meine Worte, es vergeht alles in der Welt, darum
wollen wir uns an der Wahrheit halten.
beyleibe nicht an der, die man in teutſchland verkauft, und die ſich auf Catheder
und Univerſitäten herumtreibt, und mit dumen und ſchlechten ſtreichen zuweilen
ganz vertraut lebt — Nein an der Himelstochter wollen wir uns halten; die
rein und herrlich wie die perle von ein thautropfen der die Muſchel tränkt ge⸗
bohren wird, und nur zu reinen Herzen geth — die zu Flügel Liebe und demuth
wählt und ſich ſo zum Himel hebt — die ein Lichtfunke Gottes iſt und Licht⸗
menſchen bildet. die den thieriſchen Menſchen ſiegreich zu Boden treten und den
Blick nach den ſternen wenden.
) Jung -⸗Stilling (1740 — 1817).
) Zacharias Werner (1768 — 1823) ging im Juli 1808 zum erſtenmal in die Schweiz über
Schaffhauſen nach Zürich, Bern und dann nach Coppet zu Frau von Staél.
5) Wohl ungedruckt geblieben.
Requadt, Ein Brief Adam H. Müllers 365
Lieber Arnim, dieſe Wahrheit, findet ſich nur in einen Buch und kömmt nur
zu denen denen Gott die Herzen und die Geiſtes Augen öffnet: Darum wollen
wir beten zu dem den Gott erwählte ſie zu verkündigen und der geſagt hat ich
bin der Weg, die Wahrheit und das Leben niemand kömt zum Vater als durch
mich. Gott ſegn fie lieber Arnim.
9:
Ein Brief Adam H. Müllers an Johannes von Müller.
Mitgeteilt von Paul Requadt in Heidelberg.
Dresden 6. July 1806.
Ich mag es Ihnen nicht verhelen, mein verehrungswürdiger Freund, wie un⸗
auslöſchlich der Eindruck iſt, den Ihre Perſönlichkeit auf uns alle (doch die
andern mögen für ſich ſelbſt ſprechen) beſonders auf mich gemacht hat: wie weh⸗
müthig die Erinnerung, wenn ich an die Kürze der Augenblicke denke, darüber
ſchweige ich lieber. Ich höre mit einiger Satisfaction, daß man ſich die lächerliche
Mühe gegeben hat, Ihnen zu ſagen, daß der Adam ſeine Laufbahn damit be⸗
ginnen würde, den Johannes in ſeiner glorreichen, halb ſchon vollendeten, zur
Freude des Vaterlandes noch lange nicht geſchloſſenen Laufbahn, anzubellen.
Wenn Homer zuweilen ſchlafen darf, ſo kann die Wachſamkeit und Sorge kleiner
Klätſcher in Augenblicken auch bedeutend und prophetiſch ſeyn: und ſo ſchöpfe
ich aus dem, was man Ihnen hinterbracht weder Unwillen noch Haß, ſondern
mer die Ahndung daß die Vortrefflichſten dereinſt mich als freundlichen Gegner
und als kriegeriſchen Freund, an das Gedächtniß Ihres unſterblichen Nahmens
knüpſen könnten. Ich werde über Ihre Schweizergeſchichte viel ſchreiben weil ich
eiferſüchtig darauf bin den Charakter dieſes Werks beſſer zu erkennen als andre;
weil ich der wiſſenſchaftlichen Feigheit der Zeit, das heißt dem verderblichen Con⸗
ſtruieren und aprioriſchen Erfinden der Geſchichte, das die Mißbräuche der
Philoſophie aufgebracht eine kräftige Rede entgegenſetzen will, nicht verläugnend
die göttliche Philoſophie, ſondern grade auf ihr und das geliebte theure Muſter
der ſchweizeriſchen Geſchichte mich ſtützend. Mögen die „Pfennigsſcribenten“
dann fagen, ich ſelbſt habe die Geſchichte conſtruirt, wölbend über den erhabenen
Pfeilern des griechiſchen und germaniſchen Weſens die erhabene Kuppel des
Chriſtentums; ferner mitten in der Fülle der Bewunderung menſchlich und be⸗
ſcheiden tadelnd den Johannes, daß aus dem herrlichen Werke minder als es
ſeyn ſollte der fromme Geiſt des Autors hervorleuchte, daß er, erzogen auf grie-
chiſchen und römiſchen Boden und doch offen für den leiſeſten Klang germaniſchen
Gefühls feinem pſeudoprometheiſchen Zeitalter zuviel Helden Wort, zu wenig
Gottes wort darreiche. Er wird mich verſtehen, mich lieben, der Strafe mich wür⸗
digen, wenn ich gefehlt. — Jeder empfange in reiner, keuſcher Seele die heiligen
Bilder der Vorwelt; jeder ſuche die Schatten in ihre erhabenen Leiber wieder zu
366 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
kleiden, nicht mit Willkühr, aber mit freier, eigenthümlicher Kraft; nicht mit
ſylbenſtechender Angſt, mit Sklaverey, aber mit kindlichem Gehorſam und mit
Treue gegen die Denkmäler, die von ihnen ſprechen. Jeder endlich, wie er ver⸗
mag, bilde ſich die Geſchichte zum Heiligthum, in deſſen kühlender Betrachtung
ſich ſein Wirken für die Nachwelt und für das Reich Gottes entwickeln möge,
keiner aber ſtöre den andern in dieſem Gottesdienſt. Je mehr ihr mit eigener
Kraft und Individualität den Gedanken der Treue und des Bleibens (das iſt:
Gottes) aus den Vorgängen verfloſſener Zeiten zu erkennen vermögt, um ſo
mehr werdet ihr den Gottesdienſt der andern ehren und ſchonen.
Den großen Sinn (ich meine den religiöſen) den euch die Univerſalhiſtorie
darreicht, den ſprechet unbefangen vor der Zeit, ſey ſie auch die verderbteſte, aus.
Bey ſo Heiligen giebts keine Entweihung; jeder der das Geheimnis verſteht, iſt,
wie jener Unvergeßliche ſagte, Eingeweihter, Je menſchlicher, milder, anſpruchs⸗
loſer ihr Gott dient, um ſo edlere Bekenner, ſey es auch in entfernten Gene⸗
rationen werden ſich um eure Fahnen verſammeln. Daß Sie mein Freund,
deſſen religiöfen Geiſt ich ſchon oft in feiner Schrift, nun auch, ich wünſche mir
Glück im Worte feines Mundes begegnet habe; daß Sie aus Geringſchätzung
der Zeitgenoſſen, oder aus Beſorgnis das Heilige zu entweihen zwar nicht po⸗
litiſche, aber doch religiöſe, chriſtliche Glaubensbekenntniſſe zurückhalten —
dieſer Vorwurf, der zuletzt vielleicht eine ſehr ſchöne Seite Ihrer Natur treffen
wird; iſt der Einzige, den ich Ihnen machen darf, noch mehr den ich Ihnen
machen kan n. Auch ihnen kann man ſich nur im Allerheiligſten ſtreitend gegen⸗
überſtellen.
Halten Sie mich, ich bitte Sie, ehe Sie mehr Zeichen meines Lebens geſehen
haben, nur für keinen Schwärmer. Ich argwöhne ſo etwas in der Verweigerung
des Lavater in Ihrem letzten Briefe. Der deutſche Geiſt halte zuſammen, befeſtige,
verbinde, erhebe ſich damit er ſtehen bleibe, wenn die immer höher ſteigende
Pyramide dieſes neuen occidentaliſchen Kaiſerthums dereinſt bricht!
Ich werde Ihnen ſehr oft ſchreiben, mein väterlicher Freund!
Adam H. Müller.
Der Briefwechfel zwiſchen Adam Müller und Johannes von Müller 1) begann im Früh⸗
jahr 1805. Vielleicht veranlaßt durch Gentz, der mit Johannes von Müller feit 1799 in
Korreſpondenz ſtand, überſandte dieſem Adam Müller, wie aus deſſen Schreiben vom
24. März 1905 mit einiger Sicherheit hervorgeht ?), feine „Lehre vom Gegenſatz“, die zwar
nicht den völligen Beifall des Geſchichtſchreibers fand, aber doch freundſchaftliche Beziehungen
zwiſchen ihnen vermittelte. Der hier zum erſtenmal abgedruckte Brief iſt der letzte unter den
bisher Veröffentlichten von Adam Müller an Johannes von Müller. Er fand ſich in dem
Nachlaß des Schweizer Hiſtorikers auf der Stadtbibliothek Schaffhauſen (Mſe. Mull. 235).
Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß der Briefwechſel bis gegen Ende des Jahres 1806 fort-
1) Der Briefwechſel iſt an folgenden Stellen veröffentlicht: Briefe an Johannes von Müller,
hrsg. von Maurer-Eonftant. Bd. 3. Schaffhauſen 1839, S. 93 ff. — Hiſtoriſch⸗politiſche Blätter
für das katholiſche Deutſchland, Ihg. 1909. 2. Bd., S. 74 f. — Briefwechſel zwiſchen Friedrich
Gens und Adam Heinrich Müller 1800 - 1829. Stuttgart 1857, S. 41 ff. — Wiener Friedens
blätter, Ihg. 1814 ff. — Die letztere Zeitſchrift war mir nicht zugänglich, da das einzige Exemplar
fi) aui der Wiener Nationalbibliotbek (Sign. 49 D 45) befindet.
2) Maurer⸗Conſtant, a. a. O. S. 101.
Requadt, Ein Brief Adam H. Müllers 367
geführt iſt. Die Audienz Johannes von Müllers bei Napoleon (20. November 1806), die
ſeinen politiſchen Abfall von Preußen dokumentierte, und von der Adam Müller durch Boet⸗
tiger erfuhr ), mag den Bruch verurſacht haben. Auch Gentz löſte zwar erſt nach der
bekannten Akademierede Müllers „De la gloire de Frédéric“ — im Februar 1807 feine
Beziehungen zu ihm ).
Der vorliegende Brief Adam Müllers beantwortet ein Schreiben Johannes von Müllers
vom 1. Juli 1806 5), das er ihm durch Zacharias Werner überſandte. Beide Briefe find kurz
nach einem Beſuch Johannes von Müllers in Dresden geſchrieben. Hier begegnete er im
letzten Drittel des Juni 1806 Adam Müller und Gens ). Die Spannung zwiſchen Preußen
und Frankreich wird nicht zuletzt die drei durch politiſche Geſinnungen verbundene Männer zu
ihrer Zuſammenkunft beſtimmt haben. Johannes von Müller, als Freund des Prinzen Louis
Ferdinand Glied der Berliner Kriegspartei, und Gentz der Wiener Diplomat, zogen ſchon ſeit
Langem ein öſterreichiſch⸗preußiſches Bündnis in Betracht. Aber im Mittelpunkt der Ge⸗
ſpräche ſtanden religiöfe Fragen, die vornehmlich Adam Müller und Johannes von Müller
bewegten. Der heimliche Konvertit und der Univerſalhiſtoriker, der ſeit dem Erſcheinen Na⸗
poleons einer chiliaſtiſchen Geſichtsphiloſophie zuneigte, kamen ſich darin entgegen. In dieſen
Tagen hörten ſie eine Predigt F. V. Reinhards über die Weltbegebenheiten und beſuchten
eine katholiſche Kirche). Johannes von Müller ſcheint einen ſtarken Eindruck von der katho⸗
liſchen Atmoſphäre des Dresdener Kreiſes um Frau von Haza empfangen zu haben. Wenn
er Adam Müller auch Lavaters Handbibliothek nicht zuſendet, weil der Romantiker in ihr nur
„eine meiſt fröliche, freundliche, apoſtoliſche Einfalt “)“ finden wird, fo ſchickt er ihm dagegen
ſeine „Reiſen der Päpſte“ und verſichert: „einſt wird aus höherer Anſicht viel feyerlicher dieſer
Gegenſtand von mir behandelt werden?)“. Der allen Einwirkungen leicht zugängliche Geiſt
des Hiſtorikers konnte ſich in den Wirren der Zeit dem Zauber einer ewigen, dem Einzelnen
Ruhe gewährenden kirchlichen Inſtitution nicht völlig verſchließen. So bemerken wir in dem
Antwortbrief Adam Müllers die feine Tendenz, Johannes von Müller, den Proteſtanten, zu
der von ihm ſelbſt erſt kürzlich bekannten Religion zu bekehren.
Tritt er ihm hier noch mahnend als „freundlicher Gegner“ und „kriegeriſcher Freund“ ent⸗
gegen, ſo geht er in ſeinen folgenden Schriften, von den „Elementen der Staatskunſt“ (1809)
bis zu einem Aufſatz in den „Oelzweigen“ (1820), in die offene Oppoſition über. Der Brief
iſt der Auftakt zu der ſpäteren Kritik der auf proteſtantiſchen Grundlagen ruhenden Geſchichts⸗
auffaſſung Johannes von Müllers durch die katholiſche Geſchichtsphiloſophie des romantiſchen
Konvertiten. Er hat nicht aufgehört, ſeine eigene Poſition von der ſeines Gegners abzuheben
und ſie an dem Gegenbild des Mannes zu erhellen, der, nach ſeiner Meinung, der wahren
religiös-hiftorifhen Einſicht nicht teilhaftig geworden war.
Eine ſchematiſche Skizze der Geſchichtsanſicht Johannes von Müllers fixiert den Stand⸗
punkt, gegen den ſich Adam Müller in feinem Briefe wendet. Das Problem der Univerſal⸗
hiſtorie ſteht zur Diskuſſion. Seit der Wendung Müllers von der Aufklärung zum inner⸗
lichen Glauben, die er im Jahre 1782 unter dem Eindruck Herders vollzogen hatte, ſah er die
Weltgeſchichte von einem perſönlichen Gott gelenkt. Die Erſchließung des teleologiſchen Ge⸗
ſchichtszuſammenhangs konnte einzig auf dem Wege der Quellenforſchung geſchehen, und ſo
war für Müllers zwar religiös fundierte, aber doch empiriſch fortſchreitende Geſchichtſchrei⸗
bung nie eine vollendete Gottes erkenntnis möglich. Das Zeugnis dieſer proteſtantiſchen Welt⸗
geſchichtſchreibung iſt Müllers Univerſalhiſtorie. In der Faſſung von 1784, in der ſie uns
weſentlich vorliegt, blieb fie innerlich Fragment. Die im Frühjahr 1806, alſo zur Zeit feiner
3) Friedrich v. Gens, Schriften, hrsg. v. Guſtav Schleſier, 4. Teil. Mannheim 1840, S. 267 f.
) Gentz, Schriften, a. a. O. S. 260 ff.
8) Hiſt.⸗pol. Blätter, a. a. O. S. 74f.
6) Vgl. Gens, Schriften, a. a. O. S. 233 ff.
) Joh. von Müllers ſämtliche Werke. Stuttgart⸗Tübingen 1835. Bd. 39, S. 191 und
Bd. 33, S. 88.
8) Hiſt.⸗pol. Blätter, a. a. O. S. 75.
) Ebenda, S. 74.
368 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Begegnung mit Adam Müller, begonnene Umarbeitung wurde nicht fortgeſetzt. Erſt nach
ſeinem Tode geſchah die Veröffentlichung, ohne daß er vorher ſeine ſpäten Erkenntniſſe in ihr
hätte niederlegen können.
Wir haben den äußeren Lebenszuſammenhang abgegrenzt, aus dem der Brief entſtand, die
univer ſalhiſtoriſche Anſchauung Johannes von Müllers umriſſen, um die polemiſche Haltung
des Abſenders zu begründen. Da hinter dem Brief die ganze geſchichtsphiloſophiſche Gedanken⸗
welt Adam Müllers ſteht, wie er ſie dann in den „Vorleſungen über die deutſche Wiſſenſchaft
und Literatur“ und beſonders in den „Elementen der Staatskunſt“ entwickelt hat, ſo läßt der
Brief ſich allein aus dieſen Schriften analyſieren.
Den geiſtigen Hintergrund des Briefes bildet der von Adam Müller formulierte Gegenſatz
von Luthertum und Katholizismus. Johannes von Müller iſt ihm „nicht katholiſch genug“,
wie er 1805 an Gent ſchreibt 10). Der romantiſche Katholizismus Adam Müllers hat in
dieſem Zuſammenhang eine doppelte Funktion. Er repräſentiert zuerſt das Offentliche, Staat⸗
liche, die univerſale Kirche. Er verſchmilzt ferner in feiner jetzt werdenden Geſtalt die Antike
und das Mittelalter.
Als Verehrer des Altertums und Lutheraner, als Vertreter eines „antiken Proteſtantis⸗
mus“ 1), bleibt Johannes von Müller im Bereich des Privaten, in der die Ausbildung der
Perſönlichkeit 1?) und die Beziehung des Einzelmenſchen zu Gott 18) vorherrſcht. Und ſelbſt
in dieſer Sphäre gelangt er nicht zu einem Ausgleich von antiker Heldenverehrung und per⸗
ſönlicher Religioſität: „Der Dienſt dieſes Geſchichtſchreibers iſt zwiſchen Götter und Helden
und dem einzigen Gott getheilt.“ 1) Er reicht „feinem pſeudoprometheiſchen Zeitalter zu viel
Helden Wort, zu wenig Gotteswort“ dar.
Adam Müller richtet an den Hiſtoriker die Forderung, in dieſer Zeit des Zuſammenbruchs
den großen religiöſen Sinn der Weltgeſchichte auszuſprechen, hatte er doch aus ſeinem
eigenen Munde ſein Bekenntnis zum chriſtlichen Glauben vernommen. Wir ſahen, daß die
auf die Erkenntnis Gottes gerichtete, ſtets fortſchreitende Forſchung Johannes von Müllers
eine endgültige univerſalhiſtoriſche Sinngebung ausſchloß. Hier bot ſich für Adam Müller ein
zweiter Angriffspunkt. Der empfängliche Geiſt des Geſchichtſchreibers war ſeit dem Anbruch
der napoleoniſchen Ara zur relativiſtiſchen Anerkennung aller hiſtoriſchen Erſcheinungen
gelangt. Ihm fehlte die „Idee des Staates“, die „Idee des Bleibenden unter allem Vergäng⸗
lichen“ 15). Maßſtablos die welthiſtoriſchen Begebenheiten rechtfertigend, vermochte er kaum
noch politiſch aktiv zu handeln. Die „heiligen Bilder der Vorwelt“ hatte Johannes von
Müller mit vollendeter Meiſterſchaft wieder belebt, aber ſein Selbſt verlor er an die Fülle
der wechſelnden Geſtalten. Gegen dieſen kontemplativen Hiſtorismus ſtellt Adam Müller die
„tätige Betrachtung“ der vermittelnden Geſchichte“ “). Hier fühlt ſich das Individuum zu⸗
gleich als paſſives Glied und als frei ſchaffender Faktor des Weltgeſchehens. „Mit eigener
Kraft und Individualität“ taucht es, ſich ſelbſt bewahrend, in die Geſchichte ein und erfährt
„den Gedanken der Treue und des Bleibens (das iſt: Gottes)“. Von dieſem feſten Stand⸗
punkt aus kann es „den Gottesdienſt der andern ehren und ſchonen“.
Den Begriff der „Treue“ und der „Tradition“ hat Adam Müller als katholiſches Prinzip
dem proteſtantiſchen des „Buchſtabens“ entgegengeſetzt !“). Der Proteſtantismus halt ſich
nach ihm an die zufällig erhaltenen hiſtoriſchen Quellen und ſucht die Geſtalt einer geweſenen
Perſönlichkeit aus ihnen zu rekonſtruieren. Sein Denken iſt pragmatiſch und revolutionär.
Der Katholizismus bettet den Einzelnen ein in den weltgeſchichtlichen Strom und ſchließt ſich
10) Briefwechſel zwiſchen Gens und 0 Müller, a. a. O. S. 39.
11) Maurer⸗Conſtant, a. a. O. S. 1
12) Ad. H. Müller, Die Elemente 15 Staatskunſt. Die Herdflamme. Bd. 1, hrsg. v. Jakob
Baxa. Jena 1922. 2. Halbbd., S. 179.
13) Elemente der Staatstunft, a. a. O. S. 223 f.
14) Ebenda, S. 160.
15) Ebenda, S. 161.
16) Adam Müller, Vorleſungen über die deutſche Wiſſenſchaft und Literatur, hrsg. v. Arthur
Salz. München 1920, S. 149.
17) Vorleſungen, a. a. O. S. 140 ff.
Strauch, Ein Brief Thereſe Hubers an Docen 369
traditionaliſtiſch dieſer ſinnerfüllten Entwicklung an. Indem er den proteſtantiſchen Geiſt
dialektiſch in ſich aufnimmt, Buchſtabe und Tradition vereint, findet der katholiſche Ge⸗
ſchichtsphiloſoph die religibſe Deutung der Univerſalhiſtorie. Auch er verwirft, wie es
Johannes von Müller 1806 in feiner Schelling⸗Polemik 18) tat, das „verderbliche Con⸗
ſtruieren und aprioriſche Erfinden der Geſchichte“. Doch dem Einwurf, daß er ſelbſt ge⸗
ſchichtsphiloſophiſch⸗konſtruktiv vorgeht, wird er kaum begegnen können. Denn aus der Philo⸗
ſophie des Gegenſatzes ergibt ſich ſeine welthiſtoriſche Haupttheſe, die der Brief andeutet.
Die gegenwärtige Situation erforderte die Syntheſe des antiken und mittelalterlichen
Prinzips 1). Auch hier vollzog Johannes von Müller nicht den letzten Schritt der welt-
geſchichtlichen Erkenntnis. „Erzogen auf griechiſchem und römiſchem Boden und doch offen für
den leiſeſten Klang germaniſchen Gefühls“, iſt er zugleich der Kenner des Altertums und der
Entdecker des Mittelalters. Mit Grund hebt Adam Müller ſein Studium der Schweizer⸗
geſchichte hervor: er verdankt ihr weſentlich ſeine Anſchauung von den Gemeinſchaftsſtruk⸗
turen des Mittelalters 2°). Mit den „Reiſen der Päpſte“ (1782) hatte er einſt das Zeichen
gegeben für die romantiſche Verherrlichung der Hierarchie, und im vierten Band der
Schweizergeſchichte, dem reifſten Produkt feiner Geſchichtſchreibung, die religidfen Kräfte
des ſpäten Mittelaters wachgerufen. Aber gerade aus dieſem Werk erſah Adam Müller,
daß die Liebe zur Antike und der Proteſtantismus dem Geſchichtſchreiber die letzte welt⸗
geſchichtliche Sinndeutung verſchloſſen.
Adam Müller ſpricht ſie aus: er „wölbt über den erhabenen Pfeilern des griechiſchen und
germaniſchen Weſens die erhabene Kuppel des Chriſtenthums“. Griechiſche Antike und ger-
maniſches Mittelalter, das Männliche und das Weibliche, vermählen ſich in dem Vermittler
und Verſöhner Chriſtus ). |
Die Aufgabe, dieſe Syntheſe zu vollziehen, ift nach dem Zuſammenbruch der napoleoniſchen
Macht dem deutſchen Geiſte aufbehalten.
6.
Ein Brief Thereſe Hubers an Docen.
Mitgeteilt von Philipp Strauch in Halle Saale).
Mein werther Herr,
gehen Sie nur dem wackern Profeſſor Schwab zu Leibe daß die Studien !) noch
nicht wieder auf dem Weg ſind, denn der giebt ſie nicht her. — Er grüßt Sie
mit herzlicher Anerkennung Ihrer Verdienſte um Euer) greulvolles Mittel⸗
alter und bittet Sie ihm die Studien gegen gleich baare Bezahlung abzulaßen
— Nein, ohne Scherz — er bittet Sie ihm das Exemplar zu laßen und Cotta
anzuweiſen, daß er von?) ihm die Bezahlung fordre. Diefe Güte von Ihnen
hoffend, dankt er Ihnen in Voraus aufs herzlichſte.
Ich bin ſehr begierig wie die Aufführung des Ludwigs in München ausfallen
wird und bitte Sie in Voraus“) uns eine recht kühle, aber ausführliche Be⸗
18) Vgl. Fr. Gundolf, Ein Aufſatz Schellings. Preuß. Jahrb. Bd. 130, S. 201 ff.
19) Vorleſungen, a. a. O. S. 20.
20) Vgl. Elemente der Staatskunſt. 1. Halbbd., S. 310.
21) Vorleſungen, a. a. O. S. 23 f. und Elemente der Staatskunſt. 2. Halbbd., S. 190.
1) [Ludwig Aurbacher], Studien. Ein Beitrag zur neueſten Dramaturgie oder über Müllners
Schuld, Uhlands Ernſt und Kogebues Rehbock. München 1818. 8. — ) Aus eu er gebeſſert. —
3) von ih m über ausgeſtrichenem Ihre in. — ) Aus voraus gebeſſert.
Supborion XXVIII. 24
370 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
ſchreibung zu ſenden. Um fo mehr dad) der Red. d. M.“) eine ſehr lobredne⸗
riſche vom Haimeran “) zu gekommen iſt. Auch ſucht Müllner Uhland zu deni⸗
griren wie Sie nächſtens s) wahrnehmen werden. Müllner will kein talent
neben ſich ſehen. Um ſo mehr wünſche ich Gefühl für Uhlands Werth.
Ich begrüße Sie mit herzl. Achtung.
Thereſe Huber.
Der Brief (aus dem Jahre 1819) iſt dem letzten Convolut der Doceniana k auf der Bay⸗
riſchen Staatsbibliothek zu München entnommen und an den damaligen Kuſtos der genannten
Bibliothek und altdeutſchen Philologen Bernhard Joſeph Docen gerichtet. Thereſe Hubers
Vater, der Göttinger Philologe Heyne war für Docens wiſſenſchaftliche Ausbildung von be⸗
ſtimmendem Einfluß geweſen.
2.
Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin über feine
italieniſche Reiſe: Siena und Rom.
Mitgeteilt von Walther Schulz in Berlin.
Am 15. Juli 1820 trat der J ljährige Graf Wolf Baudiſſin mit feiner Gemah⸗
lin Julie und ſeinem Bruder Otto eine Reiſe an, deren Ziel Italien war; ſie ſollte
ihn drei Jahre von der Heimat fernhalten. Die Gründe für dieſe Reiſe ſcheinen nicht
ausſchließlich wiſſenſchaftlich⸗äſthetiſche geweſen zu ſein; die politiſche Stellung des Grafen
iſt wohl nicht ohne Einfluß auf deren Antritt und auf deren Ausdehnung geweſen.
Graf Wolf Baudiſſin, der ſchon früh dem Kreiſe Fritz Reventlows auf Emkendorf nahe ge⸗
treten war und die verfaſſungsrechtlichen, wie nationalpolitiſchen Anſchauungen dieſer Männer
und Frauen des holſteiniſchen Adels, die Otto Brandt in ſeinem Werke „Geiſtesleben und
Politik in Schleswig⸗Holſtein um die Wende des 18. Jahrhunderts“ geſchildert hat, in ſich
aufgenommen hatte, bekannte ſchon 1811 in einem Briefe an E. M. Arndt aus Stockholm,
wo er als däniſcher Geſandtſchaftsſekretär feinen Oheim, den Grafen Dernath, vertrat:
„Schweden und Dänemark ſind mir völlig gleich, eines iſt ſo wenig mein Vaterland als das
andere.“ — „Aber was rede ich, ein Deutſcher, zu meinem Landsmann ein fo Langes und
Breites über dieſe Nordländer und nicht lieber über uns und unſere Hoffnungen? Schreiben
Sie mir darüber in Ihrem nächſten Brief, wie ich Ihnen über die Skandinavier.“
Oft geſchildert iſt die Szene, wie der Graf am 20. Mai 1813 in Emkendorf eintrifft mit
dem feſten Entſchluß, ſich dem verhaßten, vergeblich abgelehnten Auftrag zu entziehen, der ihn
zuſammen mit dem Miniſter Kaas nach Dresden in das Hauptquartier Napoleons führen
ſollte, um dort den Bündnisvertrag mit Napoleon auch für den neuen Kampf abzuſchließen.
Das mutige Bekenntnis des Sohnes gegenüber dem Könige, daß ſein deutſches Gefühl ihm
die Ausführung dieſes Auftrages verbiete, und die Erklärung, daß er bei dieſer Weigerung
beharre, veranlaßten den Vater, der zwar den Schritt des Sohnes als &tourderie inconce-
vable et r&pr&hensible beurteilte, es aber ablehnte, dem Sohne die Forderung Fried⸗
5) Aus daß gebeſſert. — ) Thereſe Huber redigierte das Morgenblatt von Ende 1816-1823 S. L. Geiger,
Thereſe Huber, S. 281 303. — 7) Heimeran. Ein Trauerſpiel — von Andreas Erhard, Profeſſor,
München 1819, erhielt den vom König von Bayern ausgeſetzten Preis für ein Stück aus der bav⸗
riſchen Geſchichte vor Uhlands Ludwig der Bayer. Vgl. Goedeke 8, 216. 3 (1881), 866 f.; Allg.
deutſche Biographie 6, 196; H. Schneider in den Blättern für das bayr. Gymnaſialweſen 1897,
33, 529-556. — 8) Müllners Recenſion erſchien im Literaturblatt 1819 Nr. 37. Eine zweite Be⸗
ſprechung des Uhlandſchen Stückes wurde nicht gebracht. S. Geiger, a. a. O. S. 420.
il mu
1
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 371
richs VI., daß er ſofort Kaas nachreiſe, zu übermitteln und der urteilte, daß Wolf in dieſer
Angelegenheit mehr Charakter als Klugheit gezeigt habe, zu der Erwägung: „Si la cause
qui fit agir Wolf s' emporte, tout cela s oubliera sous peu. Si elle succombe,
il faudra quitter le Danemarc et je prévois alors que mes terres ne resteront
point à l'avenir la propriété de la famille Baudissin. Car Otto n' attend que
le moment de passer decemment au service d'une des grandes puissances.“
Bis zum Tage von Leipzig war Baudiſſin Staatsgefangener in Friedrichsort bei Kiel. Nach⸗
dem er als Begleiter Bernſtorffs, der im April 1813 vergeblich Dänemark auf die Seite
der Verbündeten hinüberzuführen verſucht hatte, am Wiener Kongreß teilgenommen, verließ
er zum zweiten Male den däniſchen Dienſt. Inzwiſchen hatte er 1814 ſeine Baſe Julie
Baudiſſin⸗Knoop geheiratet und nach dem Tode ſeines Vaters die Verwaltung Rantzaus über⸗
nommen. Als Mitglied der „Fortwährenden Deputation“ beteiligte er ſich an den Ver⸗
faſſungskämpfen der holſteiniſchen Ritterſchaft; in einem Aufſatz in den „Kieler Blättern“
(1816) ſuchte er darzulegen, welche bleibende Bedeutung dem Adel auch in der neuen Ge⸗
ſellſchaftsordnung zukomme, eine Frage, die gerade di e Führer des Adels bewegen mußte, die,
wie Baudiſſin, über den beſtimmten Anlaß des Kampfes gegen die abſolutiſtiſche däniſche
Staatspolitik Friedrichs VI. hinaus den nationaldeutſchen Gedanken vertraten.
Der Kampf der Ritterſchaft um das ſtändiſche Steuerverweigerungsrecht, um die verfaſ⸗
ſungsrechtliche Einheit Schleswig⸗Holſteins und ſeine Sonderſtellung endete ſchließlich 1822
mit einer Niederlage. Schon vorher hatte Wolf Baudiſſin mit feinem Bruder Otto Hol⸗
ſtein verlaſſen. Hatte er beſondere Gründe für einen ſolchen Schritt? Im September 1819
wurde E. M. Arndts Briefwechſel beſchlagnahmt. Die „Kieler Blätter“ wurden auf Grund
der Karlsbader Beſchlüſſe von der däniſchen Regierung unterdrückt. Baudiſſin hatte 1810/11
mit E. M. Arndt im Briefwechſel geſtanden; erhalten ſind uns bei den Akten der Unter⸗
ſuchungskommiſſion nur zwei Briefe Baudiſſins aus dem Jahre 1811 und die Abſchrift eines
Geheimberichtes ſeines Oheims aus dem Jahre 1810; der Briefwechſel iſt aber umfangreicher
geweſen. Arndt hat angegeben, daß er 1816 die Abſicht gehabt habe, Baudiſſin in Holſtein zu
beſuchen. Jene Briefe Baudiſſins enthielten allerdings Ausführungen, die für ihn, der Diplo⸗
mat in däniſchen Dienſten geweſen war, gefährlich werden mußten, wenn ſie der däniſchen
Regierung bekannt wurden, und das geſchah, allerdings erſt im Mai 1821. Es iſt nicht
möglich, auf die bemerkenswerten Schickſale dieſer Briefe weiter einzugehen. Ich möchte
nicht bezweifeln, daß alle dieſe Dinge die Reiſe Baudiſſins veranlaßt haben. Im Jahre 1852
hat er von ſeiner „Ausweiſung bei Gelegenheit der bei Arndt gefundenen Briefe“ geſprochen.
Die Reiſe führte durch Mitteldeutſchland über Dresden nach Teplitz; von hier durch Böh⸗
men, über Salzburg, durch Süddeutſchland an den Genfer See. Dann über Mailand und
Florenz nach Rom. Das Tagebuch beginnt mit dem 17. Juli 1820 und ſchließt mit dem
1. Juli 1821, mitten im Wort, obwohl das Heft noch mehrere leere Seiten enthält. Der
Grund dürfte darin zu ſuchen ſein, daß das zuletzt ſchon nicht regelmäßig Tag für Tag geführte
Tagebuch zurückblieb, als am 14. Juli eine Reiſe nach Neapel angetreten wurde. Erſt am
17. Oktober 1821 kehrten Baudiſſins wieder nach Rom zurück.
Begleiterin der Familie Baudiſſin war die junge Auguſte von Witzleben, ſpäter die Ge⸗
mahlin des vierten Bruders Hermann. Sie hat gleichfalls ein Tagebuch über dieſe Reiſe in
vier umfangreichen Heften geführt, das durch die Lebendigkeit der Darſtellung ſeinen Wert
beſitzt. Es bedeutet an vielen Punkten eine erwünſchte Ergänzung. Sie berichtet am 21. No⸗
vember 1821: „Ich bekam einen Brief von Mathilde (Gräfin Holſtein); in Holſtein ſiehts
traurig aus. Exekution auf allen Gütern, Klagen und Jammern überall.“ Eine Nachricht,
die in einem Briefe Schnorrs an ſeinen Gönner, den ſächſiſchen Freiherrn von Quandt,
gerade in Beziehung auf Baudiſſin beſtätigt wird (3. März 1822). Am 1. Dezember 1821
notiert Auguſte von Witzleben: „Als ich zurückging, fand ich Julchen allein. Wir hatten ein
langes Geſpräch. Neu angelangte Briefe. Reichsbank und mancherlei machen es wahrſchein⸗
lich, daß ſie noch länger in Italien bleiben; ich aber müßte doch zu meinen Eltern zurück. Doch
Gott weiß, wie alles noch wird; ich quäle mich vielleicht mit unnützen Sorgen, und es kann
ja doch ſein, daß wir im März alle zuſammen der Heimat zueilen.“ Auguſte von Witzleben
kehrte tatſächlich im April 1822 nach Plön zurück. Baudiſſin erwog einen Aufenthalt in
372 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
München. 1822 wurde das Verfahren gegen Arndt eingeſtellt. Baudiſſin blieb bis zum
Juli 1823 in Italien. Leider verſagen die Quellen für dieſes Jahr — April 1822 bis
Sommer 1823 — völlig. Dann kehrte er nach Holſtein zurück. Schnorr berichtet an den
Freiherrn von Quandt am 28. Juni 1823: „Ihnen mehr von meinen Arbeiten für Maſ⸗
fimi zu ſagen, will ich andern überlaſſen. Hoffentlich wird Graf Baudiſſin Ihnen davon
erzählen, welcher, kurz bevor ich für diesmal endigte, mich in der Villa beſuchte.“ Am
20. Mai 1824 ſchreibt er an feinen Vater: „Mich freut, daß Du den Grafen Baudiſſin
haſt kennen lernen; vielleicht, daß Du ihn in Zukunft öfter ſiehſt; denn er hat große Luſt, mit
der Zeit ſich nach Dresden zu wenden.“
Siena, 8. Jan. 1821.
Wir!) waren ſchon um 3 aufgeſtanden, um zeitig genug wegzukommen; allein
für das erſte Abreiſen nach langem Aufenthalt gibts einen eigenen Dämon. Wir
fuhren endlich gegen 5 durch die Porta S. Frediano mit ö klingelnden, nicht ſehr
ſchnellen Maultieren. Die Luft war ſo warm, daß mich der Mantel zu heiß
dünkte. Julchen hatte Kopfweh, Luiſe war liebenswürdig und ſorgſam. 2) Bald
hinter Florenz zwang uns ein Wegelagerer einen Korb mit Brot und Feigen
auf. In Poggibonzi ward unſere übrige Reiſegeſellſchaft eingeholt und Mittag
gemacht. Wir ſind zuſammen 7 Herren und 7 Diener. — Zwiſchen Siena und
Poggibonzi links eine ſchöne, mit herrlichem Epheu bewachſene Grenzfeſte;
ſpäterhin ein Wald von immergrünen Eichen rechts am Wege. Julchen kam mit
ſtarkem Kopfweh hier an und ging ſogleich zu Bett. Rumohr ?) verſchaffte uns
noch heute abend einen trefflichen gefälligen Führer. Gutes Wirtshaus in der
Aquila nera.
Siena, Dienstag d. 9. Jan. 1821.
Julchen zum Geburtstag gratulieret. Rumohr brachte ihr zum Geſchenk einen
hübſchen antiken Ring. — — — — führte uns Rumohr nach dem tiefliegenden
Battiſterio des Domes, wo ein ſchöner, noch vergoldeter Taufſtein von Jacopo
della Quercia und Ghiberti.“) Vortreffliche Faſſade und Durchſicht über die
hohe Marmortreppe hin. — Im Innern eine wahre Marmorpracht allenthalben;
mich haben die brettſpielartigen Pfeiler nicht geſtört und die blaugeſtirnte
Kuppel ſehr erfreut. Marmorſchraffierte Zeichnungen von Beccafumi. 5) Kanzel
von Niccolo Piſano, Holzmoſaik an den Chorſtühlen von einem Veroneſer
Meiſter Giovanni; fie find früher in Monte Oliveto maggiore geweſen.“)
Alte ſieneſiſche Bilder von Duccio in der Sakriſtei. Aber vor allem die köſtliche
Kapelle Libreria mit den Bildern aus dem Leben des Aneas Sylvius von
1) Graf Wolf Baudiſſin und ſeine Gemahlin Julie, geb. 1784, geſt. 1836; ſein Bruder Otte
Friedrich Magnus, geb. 1792, geſt. 1866, und Luiſe von Witzleben.
2) Lruiſe von Witzleben begleitete Baudiſſins für zwei Monate nach Rom, während die Schweſter
oc 85 der Familie des Grafen Holſtein in Florenz blieb; dann löſte Auguſte die Schweſter
in Rom ab.
3) Karl Friedrich von Numohr, geb. 1785, geſt. 1843, lebte ſeit 1805 meiſt in Italien.
) Der Taufbrunnen aus Marmor von J. della Quercia (1374 1438). — Die Reliefs mit
Darſtellungen aus dem Leben Johannes des Täufers von Lorenzo Ghiberti (1378 — 1455).
6) Domenico Beccafumi (1486 — 1551), Schüler Soddomas.
e) Niccolo Piſanos Kanzel wurde 1265 in Auftrag gegeben. — Monte Oliveto maggiore =
1 bei Siena. — Das Chorgeſtühl mit Veroneſer Intarſien ſtammt aus dem
ahre :
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 373
Pinturicchio und den ſchönen Grazien.7) An dieſen friſchen, guten Freskobil⸗
dern und ihrem lebhaften Geiſt habe ich hier etwas Unvergleichliches gefunden
und bisher noch nichts ſo Wohlerhaltenes geſehen. Darnach müßten herrliche
Kopien zu fertigen ſein. Nach dem Dom wandten wir uns zur Auguſtiner⸗
kirche, wo eine ſehr ſchöne Kreuzigung von Perugino, ganz in ſeinem Stil und
in ſeinen Zügen, um eine Anbetung der Könige von Sodoma, einem neuen
ſieneſiſchen Malergeſtirn, das uns hier aufgegangen.) Endlich zu S. Domi⸗
nico, wo viel Vortreffliches zuſammen ſich findet. Vor allem eine Seitenkapelle
rechts, mit Freskobildern vom Sodoma, die gar ſehr ſchön ſind; eine Gruppe
heiliger Frauen, von denen eine in Ohnmacht ſinkt, iſt ſehr edel, die Geſichter
weit ſchöner von Zügen als die immer wiederkehrenden des Guido und faſt
in derſelben ſchönen vorrafaeliſchen Art wie Francucci von Imola.?) Dann
ein uraltes Bild, lange vor Cimabue, von 1221, von Guido von Siena, un⸗
gefähr im Stil, wie das in Maria Novella ;10) in einem Seitengemach ein
Abbild von der hl. Katharine. Dann ſahen wir noch vor Tiſche den großen,
ſchönen, muſchelförmig ausgehöhlten Markt mit ſeinem gewaltigen öffentlichen
Palaſt, deſſen Turm leichter und höher hinaufſteigt als der vom Palazzo Vecchio
in Florenz. Im Innern des Palaſtes gar ſchöne Gemälde von Sodoma und
im Ratsſaal von Beccafumi; treffliche Ausſicht über den Platz und von der
anderen Seite über das Gebirge. — Otto und ich gingen vor Tiſch noch einmal
in den Dom, um uns die Kanzel zu betrachten, an der wir im jüngſten Gericht
unter den Verdammten den Frauenrücken aufſuchten, von dem Hagen 11) ſpricht.
Welch ein Mann, dieſer Ricolo Piſano, der eine ſolche Kunſt ſo wieder an⸗
gefangen hat. Das iſt das Rührende und Erhebende aus dieſer Zeit, daß alle
Stände, eine ganze Republik, mit allen Kräften und alle Künſtler mit den ver⸗
ſchiedenſten Talenten in frommvereintem Eifer ſo ſchön zuſammengewirkt haben.
Wir hatten heut früh außer dem genannten noch die guten alten Bilder im
Hoſpital von Matteo, dem ſieneſiſchen Maſaccio geſehen;!?) dagegen haben wir
den Brunnen Branda und den auf dem Markt von Jacopo della Quercia ver⸗
7) Duccio di Buoninſegna, 1319 geſtorben; fein großes Altarwerk wurde 1311 vollendet. —
Bernardino Betti, genannt Pinturichio (1445 — 1513), ſchmückte die Dombibliothek im Auftrag
Pius III. (1503) mit zehn Fresken aus dem Leben feines Oheims, des Aneas Silvius Piccolomint,
des Papſtes Pius II. .
8) Die Kreuzigung Peruginos aus dem Jahre 1510, eines feiner letzten Bilder. — Giovanni
Antonio de Bazzi, genannt Soddoma (1477 — 1549).
9) Das Bild Soddomas iſt die Verzückung der hl. Katharina. — Innocenzo Francucci da Imola
(1494 1550) hatte Baudiſſin in Bologna kennen und ſchätzen gelernt.
10) Das Madonnenbild Guidos von Siena trägt die Jahreszahl 1221, iſt aber wohl jünger. —
Die Cimabue (ca. 1240 1300) zugeſchriebene Madonna Rucellai in S. Maria novella in Florenz
iſt wohl ein Werk Buoninſegnas (ſ. W. Rothes, Die Blütezeit der ſieneſiſchen Malerei, 1904, S. 39).
11) Friedrich Heinrich von der Hagen unternahm 1816/17 zuſammen mit Raumer eine wiſſen⸗
ſchaftliche Reiſe nach Italien, deren Frucht „Die Briefe in die Heimat aus Deutſchland, der
Schweiz und Italien“ 1816/21 waren (f. hier II, S. 256).
12) Matteo di Giovanni, Schüler des Sano di Pietro, der als der „ſieneſiſche Fra
Angelico“ gefeiert wurde. — Etwas jünger als Angelico iſt Tommaſo di Ser Giovanni, genannt
Maſacc io, geb. 1401, geſt. 1428 in Rom, der Künſtler der Brancaccikapelle in der Karmeliter⸗
kirche S. Maria del Carmine zu Florenz. Über Matteo di Giovanni ſ. W. Rothes, a. a. O.
S. 27 u. a.
374 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
ſäumt; ich wäre auch gern auf den Turm geſtiegen. Siena hat uns allen einen
großen Eindruck von Heiterkeit und Freundlichkeit gemacht, den auch die Ein⸗
wohner, ſo viel wir an uns erfahren konnten, beſtätigten. Nach Tiſch ward
noch einmal in den Dom gefahren, der bei der einzelnen Kerzenerhellung un⸗
geheuer hoch und wunderbar und heilig ausſah. Diesmal galt aber unſer Gang
eigentlich den Grazien, die in der Nachtbeleuchtung noch viel geiſtiger und
weicher ausſahen; dies waren die erſten Antiken, die ich alſo geſchaut. 3)
Viterbo, Freitag d. 12. Jan. 1821.
— Schöne Gegend hinter San Lorenzo, wo man zuerſt den See von Bolſena
ſieht. In Monte Fiascone ſtieg ich hinauf ins Städtchen und beſah die uralte
Kirche, wo der Dominus Giovanni de Fugger begraben liegt, das mit dem
dreifachen Est, Est, Est bezeichnet iſt. Die Kirche heißt San Frediano und iſt
aus dem 11. Jahrhundert. Der Dom iſt neu und wenig dran, dafür aber eine
ganz göttliche Ausſicht am Ende des Ortes über den See von Bolſena, aus
welchem 2 Inſeln ſich ſehr reizend und in eigentümlichen Formen erheben.
Der Tag ward noch benutzt, um ein Bild von Sebaſtiano del Piombo in der
Franziskanerkirche zu ſehen; dann ſtreiften wir noch mit Rumohr durch die alte,
ſtarkummauerte Stadt, die mit Lärm, Geſchrei und Gedränge ſchon recht echt
italieniſch und mittelalterlich erſchien.
Monte Roſi, den 13. Jan. 1821.
Ehe wir ausführen, ward noch wieder ein Gang nach dem Palazzo Publico
in Viterbo mit Rſumohr] gemacht, wo wir flüchtig ein leider übermaltes
Freskobild über der Tür von Perugino oder aus ſeiner Schule ſahen. Züge und
Umriß ſind nicht zu verkennen. So iſt auch an jene Art erinnernd ein Freskobild
in einer Seitenkapelle des Doms, die ſich auswendig durch ein rundes gotiſches
Fenſter kenntlich macht. Noch iſt zu merken ein altes ſieneſiſches Bild in der
Sakriſtei des Domes links, ein Chriſtus mit aufgehobenem Arm und ziemlich
ſchwerem Faltenwurf; es gleicht in Art und Stil den Sachen von Dürer oder
Pencz !)), und der Heiland hat ein ſchönes Geſicht. — Von Viterbo] nach Monte
Roſi ward gefahren, ohne zu futtern; ich ſetzte mich zu Rlumohr] in die Kutſche,
und wir führten allerlei gute Geſpräche über den Kultus diesſeits und jenſeits
der Alpen. Die 4 Wagen hielten einträchtig zuſammen, und die Fahrt ward
beim allerprächtigſten Wetter zurückgelegt. Zur Rechten die jetzt, nachdem Kar⸗
dinal Conſalvi 15) zu mehrerer Sicherheit den Wald hat umhauen und ab⸗
brennen laſſen, freie Ausſicht auf den See Vico, der gar hübſch um einen mitten
davor liegenden Berg ſich herumſchlingt; links auf die ſchönen ſabiniſchen Ge⸗
birge, wo Rlumohr!] mir den Velino und den weltbekannten Soracte zeigte.
45) Über die Gruppe der drei Grazien |. Iwan Müller, Handbuch, Bd. VI (München 1895),
S. 832 und 748. — Die damals hochgeſchätzte Gruppe iſt von Canova, wie von Thorwaldſen nach⸗
geahmt worden.
10) Georg Pencz, nach dem Urteil Dehios der begabteſte unter den Schülern Dürers.
18) Ercole Conſalvi, ſeit 1800 Staatsſekretär Pius VII., geſt. 1824.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 375
Unſere Reifenot endigte heut nacht mit einem ſehr ſchlechten Bett für jeden; es
war Zeit, daß unſer Zigeunerleben ein Ziel fand. — Alſo Morgen in Rom! 16)
Rom, den 14. Januar 1821.
Ich hielt meinen Einzug bis vor die ewige Stadt in Rumohrs Wagen, den
Kopf mehr außer der Kutſche als drinnen. Schon im Garten der Storta !“)
hatte ich die Schönheit der Kampagna einſehn lernen; nachher nimmt ſie noch
zu. Uns entzückten die weichen Erdformen, der ſchöne Horizont, das friſche
Grün, die welligen Linien. Ausſicht auf Rom am Grabe des Nero. Wald von
Korkeichen, Ponte Molle, mit der Ausſicht auf die Villa Madama. 18) Peters⸗
kuppel — Platz und Porta del Popolo; unſer zierliches, angenehmes Haus in
Via Frattino, no 122. Die Zimmer waren kaum beſetzt und verteilt, als ich
meinen längſt gefaßten Entſchluß ausführte und mit Luiſe und Otto trotz des
trüben Wetters zur Peterskirche ging. Platz und Springbrunnen und Treppen
über alle Erwartung groß und edel. Faſſade und Kuppel kleiner als man ſich
denkt. Das Innere wieder gewaltig und höchſt edel, mögen auch die Neueren
ſie verdammen.
Rom, Montag d. 15. Jan. 1821.
Viſite bei Kaas, der uns zugleich dem Prinzen vorſtellte. 19 Dann bei den
Hofdamen und den übrigen Hofleuten. Darauf, nachdem auch Julchen in der
Zeit bei den Hofdamen geweſen und Otto und ich die Treppe von Trinitä dei
monti erſtiegen, zum Forum hinausgefahren. — Dann zum überherrlichen Koloſ⸗
ſeum. Julchen und ich fuhren zuerſt rund umher und traten dann hinein; ich
kenne nichts Gewaltigeres und Schöneres. Wie ſchien der blaue, römiſche Him⸗
mel durch die Bogen! Wie dicht war das alles bewachſen! Welche wunder⸗
baren Beleuchtungen und welches Wetter! Beim Zurückfahren gingen wir ins
Pantheon, deſſen heitre Schönheit freilich noch mehr iſt als die Peterskuppel.
Der Reſt des Tages ward im größten Weltleben zugebracht. Den Mittag aßen
wir beim Prinzen Chriſtian, der ſehr natürlich und freundlich gegen ſeine
Landsleute iſt; — den Abend aber waren wir abermals durch die Vermittlung von
Kaas auf einem ſtupenden Ball beim Duca di Bracciano eingeladen, wo das
Lokal an Herrlichkeit und Größe wirklich alles übertrifft, was ich noch in Privat⸗
häuſern geſehen habe. Neue Bekanntſchaften wurden außer den Eigentümern
vom Hauſe folgende gemacht: Die Familie Reden, Thorwaldſen, der Kron⸗
prinz von Bayern und ſeine Kavaliers; er ſpricht ſehr munter und lebendig.
Roffini ſah ich gleichfalls. Dann ein däniſcher Baumeiſter Koch und Herr von
Link, der lange in Griechenland geweſen. 20)
16) S. Goethe, Italieniſche Reiſe, 28. Oktober in Citta Caſtellana: „Morgen abend alſo in Rom.“
17) la Storta, die letzte Poſtſtation vor Rom.
16) Auf dem rechten Tiberufer, nach Entwürfen Raffaels von Giulio Romano gebaut.
10) Prinz Chriſtian Friedrich von Dänemark, Vetter des Königs Friedrichs VII., als König
Chriſtian VIII. (1839 — 1848). — Fr. Julius Kaas, Präſident der däniſchen Kanzlei.
0) Baron von Reden, der hannoverſche Geſandte, bewohnte die Villa Malta. Seine beiden
Töchter, Henriette und Eliſe, erſcheinen oft im Tagebuch. Die Familie wird charakterifiert in den
Erinnerungen der Malerin L. Seidler, hrsg. von Uhde⸗Bernays, S. 163. — Kronprinz Ludwig
376 Reue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Ro m, Dienstag d. 16. Jan. 1821.
Otto und ich gingen früh hinaus auf den Quirinalberg und weideten uns
an den herrlichen Koloſſen, die den ganzen Platz und alle Häuſer rund umher
klein machen und ſcharf von der Morgenſonne beſchienen waren. Da iſt leben⸗
diges Griechentum, und wenn es einem ſo friſch und aus der erſten Hand be⸗
gegnet, mag man ihm wohl einmal wieder gut ſein. Dann fuhren wir zum
Theater des Marcellus 21) und zur Peterskirche, deren Herrlichkeit Julchen
noch nicht geſehen und die wir aufmerkſam mit einem Cicerone durchgingen. —
Die Pferde wurden heut nicht geſchont; denn ſie mußten uns noch zu Thor⸗
waldſens Atelier bringen; in dem iſt die griechiſche Kunſt viel reiner wieder⸗
geboren als im Mittelalter. Wie reiten ſeine Macedonier auf dem Fries! Wie
ſchön in der Basrelief des Achilles und Priamus! Wie ſtark und rein der Jaſon!
Welche ſchöne Ähnlichkeiten haben feine Büſten, vor allem die beiden jetzt be⸗
gonnenen von unſern Prinzen! 22) Nach dem Eſſen brachte Rumohr Overbeck
und Suter hierher. 23) Mit letzterem wurden Zeichnungen verabredet. Overbeck
hat ein ſehr ſchönes, liebes Geſicht und eine gar zu angenehme Ausſprache.
Rom, Mittwoch d. 17. Jan. 1821.
Während Rumohr heute früh mit Rehbenitz 2% bei Julchen geweſen, hatten
Otto und ich uns aufs Kapitol verſügt und dort das herrliche Kapitoliniſche
Muſeum durchwandert. Das find Antiken, vor denen man Reſpekt behält! —
Um 12 fuhren wir zuſammen, zuerſt in die Logen, wo die bekannten Jugend⸗
erinnerungen aus dem weißen Eßſaal mich erfreuten und rührten; 25) dann
von Bayern weilte in Rom, während biefes feines dritten Aufenthaltes, Winter 1820/21 und
wohnte am Monte Pincio. — Linckh, ein Landſchaftsmaler aus Cannſtatt, Begleiter des Barons
Otto Magnus von Stackelberg auf der griechiſchen Reife 1810 / 14.
21) Das Theater des Marcellus, 11 v. Chr. von Agrippa vollendet, der Palazzo Savelli⸗Orſini;
hier wohnte 1817/24 B. G. Niebuhr.
22) Thorwaldſens Atelier befand ſich, wie auch W. Schadows, im Haufe der Frau Buti, das
Karoline von Humboldt gemietet hatte und bewohnte, in der Nähe des Palazzo Barberini, dort,
wo heute im Park des Palazzo Thorwaldſens Denkmal ſich erhebt. — Sein Alexanderzug entſtand
1811; das Werk in Gips befindet ſich heute in den Fürſtenzimmern des Quirinals; in Marmor,
heute in der Villa Carlotta am Comerſee, wurde das Werk erſt 1828 ausgeführt. — Das Pris-
musrelief entſtand 1815. Der Jaſon, 1803 im Gipsmodell vollendet, wurde erſt 1828 in Marmot
ausgeführt.
23) Joſeph Sutter, geb. 1781 in Linz, geſt. dort 1866; Schnorr nennt ihn „den edlen“ — „den
trefflichen Sutter, mit dem ich ſchon in Wien zuſammengelebt habe“. Er gehörte als Glied der
St. Lukas⸗Bruderſchaft in Wien zu dem engſten Freundeskreis Overbecks.
20) Theodor Rehbeniz, geb. 1791, geſt. 1861, als Univerſitätszeichenlehrer in Kiel. Durch feine
Vermittlung wurde Schnorr mit Rumohr bekannt.
25) In Emkendorf. Chriſtoph Heinrich Pfaff nennt in feinen „Lebens erinnerungen“ 1854
(S. 118) ein Gemälde „Die Hauptgruppe aus Raphaels Schule von Athen“ darſtellend, „von dem
berühmten Mengs kopiert“. Ferner den hl. Michael, als Uberwinder des Satans, nach Guide Neni,
eine Verkündigung der Maria nach ebendemſelben; eine höchſt gelungene Kopie einer der anſprechend⸗
ſten hl. Familien Raphaels, ein großes Originalgemälde von Angelika Kaufmann, — Juno, welche
die Venus um ihren Gürtel bittet, mit dem kleinen ſchelmiſch ausſehenden Amor zur Seite der
letzteren. Ferner eine trefflich gedachte Zeichnung von Carſtens: Sokrates im Korbe ſchwebend und
fein trefflich harakteriſiertes Publikum apoſtrophierend nach Ariſtophanes, zwei ſchöne Hackertſche
Landſchaften, ferner eine des Sees von Albano mit ruhenden Kühen und ihrem Hirten im Vorder ⸗
grunde — von Denis u. a.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 377
in die göttlichen Stanzen. — — Noch trunken von höchſter Freude gingen wir
durch die Logen zurück in die borgianiſchen Zimmer, wo unſer noch mehr
harrte. Denn hier empfing uns gleich die Verklärung, die doch in Wahrheit
ein A und O aller Malerei iſt. Dann die Krönung Mariä von Raphael; die
Kommunion des hl. Hieronymus von Domenichino; die Madonna von Foligno
mit dem ſüßen Engel, der im Paradieſe fehlt; neben dem Krönungsbilde der
faſt ebenſo ſchöne Perugino; dann mehrere vielliebe Fra Beato Angelicos. Als
wir mit großem Entzücken unſern Vatican verlaſſen, der doch viele Sünden
wieder gut macht, fuhren wir hinaus in den Garten der Villa Pamfili.28) —
Von der Villa Plamfili] zur ſchönen Pauliniſchen Fontona, nach meiner Anſicht
der ſchönſten in Rom; ſchon dort iſt die Ausſicht herrlich. Noch ſchöner wird ſie
nah daran vor der Kirche S. Pietro in Montorio, wo ehemals die Verklärung
und gegenwärtig noch ein Bild von Sebaftiano del Piombo 27) und im Vorhof
eine zierliche kleine Kapelle von Bramante. Nachdem wir nachmittags einen
Beſuch von den Kavalieren des Kronprinzen und Rumohr gehabt, fuhren
Oltto!] und ich noch mit letzterem den Abend zu Niebuhrs, wo ein paar gute
Bilder, worunter ein Francia, 28) das Erfreulichſte waren; er und Rumohr
machten die Sache gar zu gelehrt. Folgendes habe ich mit davon heimgebracht.
Die alten Einwohner von Spanien haben nicht die geringſte Affinität in ihrer
Sprache mit den Galen; dieſe ſind von den Germanen ins Wandern gebracht;
die Karthager haben den Niger gekannt und benannt. In Italien iſt wohl ſchon
zu den Zeiten der Völkerwanderung italieniſch geſprochen und lateiniſch nur
noch, und zwar vortrefflich, in Schulen gelehrt worden; in Amerika gibts ein
Volk, wo die Weiber eine ganz andere Sprache haben als die Männer. Endlich
iſt die Kampagna vor Rom, wie auch Siſmondi ſagt, im Mittelalter viel be⸗
wohnter geweſen.
Rom, Donnerstag d. 18. Jan. 1821.
Unſer Gang war eigentlich der Villa Maſſimi zugedacht, wo wir Overbeck
fanden. 2%) Er malt al fresco ein Zimmer mit Szenen aus dem Taſſo; ich bin
nun von der Arbeit nicht ſo entzückt wie Rumohr, ſo ſchön ich manches einzelne
gedacht finde. Beſuch bei Rohden, 50) den wir nicht in feinem Atelier fanden;
26) Raffaels „Verklärung“, fein letztes Werk, jetzt in der Vatikaniſchen Pinakothek; ebendort
feine Madonna di Foligno, 1512, das Jugendwerk „Die Krönung Marias“ 1502 in Perugia
entftanden. — Der erwähnte Perugino iſt feine „Madonna mit 4 Heiligen“, 1495 entſtanden. —
Die „Komm. des hl. H.“ = das berühmtefte Tafelgemälde Domenichinos (1581 — 1641). — Die
erwähnten Angelicos find wohl das kleine Madonnenbild und die Bilder mit Szenen aus dem
Leben bes hl. Nicolaus.
27) Sebaſtiano Luciano, genannt del Piombo (1485 — 1547). — Das erwähnte Gemälde iſt eine
Seißelung Chriſti nach einer Zeichnung Michelangelos.
28) Francesco Raibolini, genannt Francia (1450 - 1518), lernte B. in Bologna kennen.
200 1818 hatte Overbeck die Ausmalung eines Zimmers der Villa Maſſimi mit Fresken nach
Taſſos Befr. Jeruſalem übernommen; 1827 trat Führich an ſeine Stelle.
200 Joh. Martin Rohden, geb. in Kaſſel 1778. Mit einer Landſchaft hatte er auf der Weima⸗
riſchen Kunſtausſtellung 1802, zuſammen mit Hummels „Perſeus und Andromeda“, den Preis
erhalten (Goethes Werke Bd. 35, S. 140 und Bd. 48, S. 57). Sein bekannteſtes Werk, „Der
Waſſerfall von Tivoli“, beſchreibt Schnorr S. 506. — S. über ihn L. Seidler S. 150.
378 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
nächſt Koch und Reinhard 81) iſt er wohl der beſte hier. Als ich zu Haufe ge⸗
kommen, erfuhr ich eine Einladung des Prinzen an uns alle, die Muſik in der
Peterskirche zu hören und dann bei ihm zu eſſen. Große Affabilität und
Freundlichkeit des Prinzen und der Prinzeſſin; man ſehnt ſich faſt nach der
Zeit, wo in Dänemark, Preußen und Bayern die jetzigen Thronfolger regieren
werden. Gang mit dem Prinzen ins Pantheon, in welches der Mond hell hin⸗
einſchien.
Rom, Freitag den 19. Jan. 1821.
Viſite mit Otto bei den bayriſchen Kavalieren; dann in den Palazzo Borgheſe
gegangen, wo ein ſchöner Francia und eine große Grablegung von Raphael aus
ſeiner mittleren Zeit, mit ſchlanken Figuren; mir nicht eben das liebſte, aber doch
ein ſchönes, tiefes Bild, das Suter jetzt kopiert. Unſer Prinz wirft den deut⸗
ſchen Künſtlern vor, dieſer Stil ſcheine ihnen der hoͤchſte; fie find indes gewiß
auf beſſerem Wege als er, der die Prinzeſſin jetzt von Agricola kopieren läßt.
Dann nach der Dianenjagd von Dominichino und dann die Sibylle von ihm,
die Meiſter Jenſen jetzt ſchändlich genug für den Prinzen kopiert hat. 32) Wir
fuhren heut hinaus nach S. Paolo fuori le mura. Unterwegs fiel uns die zier⸗
liche Geſtalt des Veſtatempels auf. — Von da kamen wir endlich zum Koloſ⸗
ſeum, das nie genug geprieſen werden kann; als wir es betraten, hatte eben
ein Kapuziner ſeine Predigt angefangen. Wir achteten nicht ſehr auf ihn und
erſtiegen die inneren Wölbungen und Etagen, durch deren zerrißne Offnungen
ſich die herrlichſten Bilder darſtellen. Als wir wieder herabgeſtiegen waren,
hatte ſich die Rede des Mönchs ihrem Ende genaht; viele Leute aus dem Volk
und einige elegante Welt hörten ihm aufmerkſam zu. Wirklich ſprach er mit
großer Wärme und Begeiſterung, und als er nun ſeine Bußpredigt damit ſchloß,
das Bild des Gekreuzigten hoch aufzuheben und Worte der Reue und Sühne
zu ſprechen, die alles Volk kniend und ſich an die Bruſt ſchlagend nachſprach,
war der Eindruck ſehr tief und ergreifend. Alle ſtürzten zugleich nieder auf die
Knie, wir hätten gern mitgekniet. Julchen und Luiſe ſtanden die Tränen in den
Augen. Er ſchloß dann, indem er kurz abbrach, und eine Prozeſſion von Grau⸗
verhüllten zog ſingend durch die Ruinen weiter. Dieſe Rede im Freien, auf
dieſer Stätte, von ſo energiſcher Wirkung, war ſehr feierlich und eindringlich,
und ich hätte ſie um vieles nicht miſſen mögen. Wir haben darin Glück gehabt;
denn viele, die lange Zeit hier geweſen, haben ſolche Predigten nicht erlebt.
Und welches Wetter! Welcher blaue, heitere Himmel, an den hohen, gewaltigen
Gebäuden hinaufgeſehen! Welche Vegetation von Ranken und Gras und
Kräutern auf allen dieſen Ruinen!
31) Der Tiroler Joſ. Anton Koch (1768 — 1839), der „alte“ Koch, „der Vater der klaſſiziſtiſchen,
ftilifierten heroiſchen Landſchaft“, ſetzte ſeit 1825 Phil. Veits Dante ⸗Fresken in der Villa Maſſimi
fort. S. über ihn A. Keſtner „Römiſche Studien“ S. 94 f. und die Charakteriſtik bei L. Seidler
S. 127/29. — Joh. Chn. Reinhart, Landſchaftsmaler, geb. 1761 in Hof, geſt. 1847 in Rom. Der
„geiſtreiche, kraft⸗ und kunſtvolle R.“ heißt er bei Schnorr. Er hatte 1785 in Leipzig Schiller
kennengelernt.
2) Raphaels Grablegung aus dem Jahre 1507. — Domenichinos „Triumph der Diana“ und
ſeine „Sibylle“ — nicht im Palazzo B., ſondern in der Villa B., der heutigen Villa Umberto.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 379
Rom, Sonntag d. 21. Jan. 1821.
Otto und ich gingen heut früh bei herrlichem Wetter aus, um allerlei Viſiten
zu machen. Wir verfehlten Rebnitz, der eine herrliche Ausſicht von der Höhe des
Palaſtes Caffarelli hat; dann ſahen wir im Corſo den Palaſt Sciarra Colonna,
wo im letzten Zimmer ein über alle Maßen ſchönes Porträt eines Violinſpielers
von Raphael, von der ſchönſten Färbung, wie außer ihm nur noch Leonardo
da Vinci gemalt. — Von da zu Keſtner, 3) der uns das ſchöne Panorama aus
ſeinen Zimmern und vom Turm herab zeigte und mir lebhafte Luſt zum Ankauf
einiger Gipsſachen gab; er hat den einen Diskobulen und die Venus, die ihr
Haar teilt. Dann zum Maler Beſe,?“) der 3 Kopien nach Raphael aus Florenz
mitgebracht hat, die er wohl gern verkaufte. Endlich zu Herrn von Stackel⸗
berg, 55) der uns die Kupferſtiche und feine eigenen Handzeichnungen zum
Frieſe des Apollotempels zeigte. Das wird ein herrliches Werk geben. Dieſe
köſtlichen Ruinen ſind ganz zufällig gefunden, als man einem Fuchsbau nach⸗
ſpürte. Endlich beſchloſſen wir noch den ſchönen, langen, ſonnigen Vormittag,
indem wir im Garten der Villa Medici und in dem der Villa Borgheſe ſpazieren
gingen. — — Julchen und Luiſe waren heut früh mit Stein in der lutheriſchen
Predigt geweſen, von der fie wenig erbaut zurückkamen. 6) Sie wurde in einem
Zimmer gehalten; Gebet für „das ehrwürdige Oberhaupt der katholiſchen Kirche
und die deutſchen Künſtler“.
Rom, Dienstag d. 23. Januar 1821.
Otto und ich gingen heut früh, unſern Landsmann Koch, den Architekten,
abzuholen; der uns ein paar hübſche Zeichnungen atheniſcher Tempel (Theſeus
und Minerva), ſo wie von dem zu Päſtum zeigte. Wir gingen dann zuſammen
zu Haus, und Koch fand ſich nachher zum zweitenmal wieder zu uns, um
einige Künſtler mit uns zu beſuchen. Leider waren die Freskoſachen bei
Bartholdi 57) nicht zu ſehen. Dafür fanden wir Veit aber zu Haufe. Er hat nicht
viel fertig, das Vorhandene iſt aber ſehr herrlich; vor allem das Bild eines
franzöſiſchen Geiſtlichen in ſo ſchöner Behandlung der Farben, als habe Leo⸗
nardo es gemalt. Ferner ſeine Judith; ſein Karton zu den 7 fetten Jahren.
Die Skizze zu den Scenen aus Dante in Villa Maſſimi, die mir ſchöner an⸗
33) Auguſt Keſtner, hannoverſcher Geſandtſchaftsſekretär, der Sohn von Goethes Lotte; feine
Wohnung war in der Villa Malta am Monte Pincio.
8) Joh. Bäſe, geb. in Braunſchweig, geſt. in Madrid 1837; als Kopiſt Raffaels tätig; fein
tragiſches Ende erzählt L. Seidler S. 214.
3) Otto Magnus von Stackelberg, geb. 1787 in Reval, geſt. 1837 in Petersburg. Seit 1808 in Rom,
unternimmt er von hier aus mit vier Begleitern die große Reiſe nach Griechenland, die zur Aufdeckung des
Apollotempels von Phigalia führte. S. die „Schildernng ſeines Lebens und ſeiner Reiſen“ durch N. von
Stackelberg, Heidelberg 1882. Er weilte ſeit 1816 wieder meiſt in Rom. Über Baudiſſin heißt es
in jener „Schilderung“: „Nächſt Keſtners aufopfernder Liebe half auch der Umgang mit den
Freunden Reden und Baubiffin über die ſchwerſte Zeit des Kummers hinweg.“ (S. 352.) Später
haben ſich beide in Dresden wiedergetroffen.
26) Der Freiherr von Stein weilte ſeit Dezember 1820 mit den beiden Töchtern in Rom. —
Preuß. Geſandtſchaftsprediger war bis 1823 Eduard Schmieder, ſpäter Direktor des Prediger⸗
ſeminars in Wittenberg. An ſeine Stelle trat R. Rothe.
7) Auf Vorſchlag von Cornelius wurden Phil. Veit und Wilh. Schadow mit der Ausführung
der Fresken in der Villa des preußiſchen Generalkonſuls Bartholdi beauftragt (18 16).
380 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
gelegt ſcheinen als Overbecks, und ein gar hübſcher Transparent, der bei einer
Fete gebraucht worden, das die deutſchen Künſtler dem Kronprinzen von
Bayern gegeben. 38) Da ſtehen Albr. Dürer und Raffael und reichen ſich die
Hand; ferner Fra Beato, Giotto, Erwin, Michelangelo, David, Homer; alle
ſehr geiſtreich und hübſch gedacht. Bei Bartholdi ward noch ein vergeblicher Ver⸗
ſuch gemacht, dafür fanden wir aber Näcke zu Haus,“) an deſſen reinlicher,
ſchöner Zeichnung der hl. Eliſabeth ich viel Freude gehabt. Wir fuhren endlich
noch zu Schadow, der nächſt Thorwaldſen hier wohl der erſte iſt;“ ) feine Spin⸗
nerin und Sandalenbinderin, dann das ſchöne Dioskurenbasrelief und der ganz
aus der Natur genommene Diskuswerfer. Weiterhin ward die Weihe der Tiere
vor St. Anton mit angeſehen, wo gerade eine Menge Poſtpferde ſtattlich ge⸗
ſchmückt vorüberzogen. Dann nach S. Maria Maggiore und über den Quirinal
zu Haus gefahren. Koch blieb den Mittag bei uns. Abends um 9 ſuhren wir
mit Redens zu der Herzogin von Devonſhire, der hieſigen Protettrice delle
belle arti.
Ro m, Freitag den 26. Jan. 1821.
Otto und ich machten heut morgen die Bekanntſchaft von Schnorr, 1) der
mit Rehbenitz, welchem letzteren wir eigentlich unſeren Beſuch zugedacht, in
einem Hauſe wohnt. Er ſcheint mir mit Näcke auf einer Höhe zu ſtehen. Sein
Chriſtus, wie er den Segen austeilt, ſeine Federzeichnungen von Bekannten und
vor allem ſeine in Ol fertig gemalte Verkündigung ſind ſehr hübſch und viel
verſprechend. Noch zeigte er uns die Skizze einer Begrüßung Jakobs und
Rahels, und die hl. Weiber, wie fie den Engel im Grabmal finden. Letzteres
hat er ſelbſt ſehr lieb und verſpricht ſich viel davon.“) Wir ſtreiften nachher
noch etwas auf dem Forum umher, um uns Stellen zum Zeichnen auszuſuchen
— fuhren zum Palaſt Falconieri, wo Kardinal Feſch feine Gemäldefammlung
hat, die mit Reuß und Ranzau beſehen werden follte. 3) — Unter den Nieder⸗
ländern ein paar gute Rembrandts; es iſt ihrer eine ganze Menge da; aber es
38) Veit war 1815/30 in Rom; das Bild des Abbé Noirlieu iſt 1818 entſtanden; das Freske
„Die 7 fruchtbaren Jahre“ 1816 in der Caſa Bartholdi; die „Judith“ 1820/23 für den ſächſiſchen
Freiherrn von Quandt. An den Dante⸗Fresken arbeitete er bis 1825; ihre Weiterführung über ·
nahm dann Koch. — Das Feſt vom 29. April 1818 beſchreibt Schnorr S. 344 f.; in Ningseis
„Erinnerungen“ Bd. I, S. 522 ff.
0) Guſtav Heinr. Mäke, geb. 1786, geſt. 1835 in Dresden. Die hl. Eliſabeth war von Herrn
von Quandt 1819 beſtellt worden (ſ. Schnorr S. 169); erſt 1823 ward das Werk vollendet; jetzt im
Naumburger Dom.
40) Der ältere der Brüder Rudolf (geb. 1786; geſt. 31. Januar 1822 in Rom). Sein „Schei⸗
benwerfer“ findet Anerkennung bei Schnorr S. 361; ebenſo eine tanzende Bacchantin S. J00.
Die übrigen Werke werden als „größtenteils ſüßlich modern und ungediegen“ abgelehnt. (Siebe
Schnorr S. 391/92.) 8
21) Julius Schnorr lebte feit Januar 1818 in Rom.
2) „Die 3 Frauen am Grabe“ beſtellte Freiherr von Quandt bei Schnorr (ſ. Br. S. 159);
Baron von Ampach, Domherr zu Naumburg, die Verkündigung (Februar 1820; — ſ. Br. S. 164,
214 und 217). „Jacob und Rahel am Brunnen“ war für Ringseis beftimmt, wurde aber ſchließlich
von dem Kronprinzen von Bayern übernommen (ſ. Br. S. 214, 217 und 434).
% Die Villa Falconieri am Ponte Sisto gelegen. — Die beſonders an Niederländern reiche
Sammlung des Kardinals Feſch wurde von ihm in feiner Tätigkeit als Kriegskommiſſar der Mepn-
blik zuſammengebracht; nach ſeinem Tode 1839 wurde ſie zerſtreut.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 381
wird einem nicht wohl bei all dem weltlichen Zeug, wenn man ſich an die Alten
gewöhnt hat. Ich fand mit Verwunderung und Wohlgefallen in einem Wouver⸗
mans das Bild wieder, welches oben in Ranzau in der Südſtube hängt, auf
welchem ein Schäck beſchlagen wird, und meins ſcheint mir ebenſo gut. Schöne
Ausſichten von den Fenſtern des Palaſtes auf die Tiber und S. Pietro in
Montorio und die Eiche des Taſſo. — Abends war große Verſammlung von
Engländern und andern Fremden bei der Prinzeſſin; wir hatten ſonſt zu Rein⸗
holds gewollt. — Gar zu große Entzückung, mit welcher Henriette Stein von
ihrer Präſentation beim Papſt ſprach. Man ſoll über dem Verehren des Alten
auch die gar zu gröblichen Verſtöße nicht überſehen; es iſt hier denn doch ein
ſchlimmes, verwelktes und niederdrückendes Prieſterregiment, das alles erlaubt,
was es eben verboten, und aus weltlichen Rückſichten die heilloſeſten Dinge
nicht beſtraft. Und dann die „verfluchten“ Bibelgeſellſchaften! und die nicht
erlaubten Schulen in Olevano und die Ausartung aller religiöſen Begriffe!“
Rom, Sonnabend d. 27. Jan. 1821.
Julchen und Luiſe und ich fuhren heut zu Schnorr, der mein Porträt zeich⸗
nen wird, und ſahen dann die fertigen Sachen von Eggers (große weibliche
liegende Figur von ſchönem Kolorit) und Overbeck, deſſen Einzug in Jeruſalem
recht reich und herrlich ift. 25) Ganz vortreffliche Handzeichnungen von ihm in
Bleiſtift; Rumohr geſellte ſich noch zu uns, und wir fuhren mit ihm aufs
Forum.
Rom, Sonntag d. 28. Januar 1821.
Stein machte uns in der Zeit vor dem Eſſen einen Beſuch, in welchem er viele
Liebenswürdigkeit zeigte. Fiktion des Dänentums. Pläne für Italien und
Dänemark im J. 1814.
Rom, Dienstag d. 30. Jan. 1821.
Julchen empfing mich heut zum Geburtstag mit 30 Blättern der ſchönen,
geiſtreichen Roſſiniſchen Abdrucke römiſcher Altertümer. Von Otto bekam ich
das Blatt vom Forum, von Luiſe eine Kapſel für Bleiſtifte; endlich von Titi
und Bentheim ein paar Marmorſachen. Ich ging um 11 mit Ranzau und Otto
dem Vatican zu. — Mittag ward bei Rumohr gehalten, der außer dem Kanonikus
auch noch Bentheims eingeladen. Es war wieder die gewohnte Weiſe: ein
Pour parler über das Aufgeben unſeres Planes, Thorwaldſens Studium heut
abend bei Fackellicht zu ſehen, wozu Rumohr trieb, hatte zu meiner Freude keine
weiteren Folgen. Denn dieſer Anblick, zu dem wir auch Steins und Frau von
Alopeus, ſowie Reuß und Dr. Ringseis eingeladen, 9) bleibt unübertrefflich
24) In dem Haufe des niederländiſchen Geſandten Reinhold verkehrten Baudiſſins viel und gern.
— Neigung zum Übertritt bei Henriette von Stein behauptet auch Ringseis Bd. II, S. 47.
48) Karl Johann Eggers, geb. 1787 in Neu⸗Strelitz. Eggers begann in dieſen Tagen eine große
Kompoſition Chriſtus bei Maria und Martha (ſ. Schnorr S. 367, 427 und 444). (Über Eggers
Häuslichkeit im Palazzo Caffarelli ſ. L. Seidler S. 132.)
20) Joh. Nepomuk von Ringseis, Leibarzt des Kronprinzen von Bayern. S. über ihn R. Huch,
ee 2. Bd., S. 264; f. feine Erinnerungen, hrsg. von Emilie Ringseis 1886, im II. Bd.,
S. 30/89.
382 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
und ſetzt alles Leben und Seele dieſer göttlichen Geſtalten erſt in wahre Wirk⸗
lichkeit. Welche breite, ſtarke Schatten und warme Lichter! Wie rein und edel
ſind alle dieſe Schönheiten! Thorwaldſen hatte ſeine Sachen zum Teil ſelber
noch nicht ſo geſehen und gab auf die gewohnte Weiſe ſein Wohlgefallen an
dieſem und jenem zu erkennen. Merkur, Venus, Mars, die Achilles⸗ und Alex⸗
anderbasreliefs, der kleine Genius mit der Leyer, der ſiegreiche Amor (deſſen
Marmorbild eben zerſtört worden) und ein Ganymed, der den Adler tränkt,
find mir die liebſten.“7). — Prinz Chriſtian war heut vorgefahren und wußte
von meinem Geburtstag; auch Thorwaldſen gratulierte; das ſollte doch Glück
bringen!
Rom, Sonnabend d. 3. Febr. 1821.
Wir machten heut mit dem Prinzen und ſeiner Suite folgende Künſtler⸗
beſuche und Bekanntſchaften, die freilich nicht alle neu für uns waren. Die
Riepenhauſen: hübſche Zeichnungen, in den Olgemälden viel Affektiertes
und Verfehltes. 23) Thorwaldſen: feine vortrefflichen Büſten, Basreliefs für
den Kronprinzen von Bayern, die Verkündigung und die 3 Marien am Grabe.
Freskogemälde bei Bartholdi, von Cornelius (Traumdeutung), “) Overbeck
(Verkauf, Magre Jahre, Benjamin), Veit (fette Jahre, Potifar) und Schadow
(Joſephs bunter Rock und Gefängnisſchaft). In den Kartons müſſen alle dieſe
Sachen vortrefflich geweſen ſein, denn gezeichnet und gedacht ſind ſie herrlich.
Aber in die Färbung iſt etwas Kaltes und Unheimliches gekommen, und wo
dies weniger, z. B. bei Schadow, da iſt mit Waſſerfarben übermalt worden.
Im Zimmer nebenan eine hübſche Federzeichnung von Röſel und eine andre
vom ehemaligen römiſchen Forum. 50) Dann zu dem unvergleichlich guten, in
ſeiner beſchränkteren Sphäre vollkommenen Klein 51), der uns notwendig einige
römiſche Ochſen oder Braunmäntel malen muß. Dann zu Schadow und Koch:
endlich noch die Villa Maſſimi, wo ich heute auch Veits ſchönes Deckenſtück zu⸗
erſt ſah. 52)
Ro m, Montag d. 5. Febr. 1821.
— ein Beſuch bei Eggers, bei dem ich ein Porträt der Frau von Bunſen ſab
und der einige recht gute Geſpräche mit mir über die Kunſt bei Gelegenheit feiner
nackten Figur und die Nachahmer des 15. Jahrhunderts führte. Dann endlich
47) Thorwaldſens einzige Venus entſtand im Jahre 1816; im ſelben Jahre der knieende Ganr⸗
med, des Zeus Adler tränkend. Mars mit dem Pfeile Amors 1811; der triumphierende Amor 1817;
Merkur als Argostöter 18 18; im ſelben Jahre der ſitzende Amor mit der Leyer.
#8) Die beiden Brüder Friedrich Franz und Chriſtian Johann Riepenhauſen arbeiteten an jedem
Werke gemeinſam. Sie wurden die Entdecker der Präraffaeliten und wirkten durch ihre Kopien
en auf den jungen Overbeck (f. Keſtner S. 110 f.). In jenen Monaten entſtand ihre
hl. Eliſabeth.
40) Das Fresko aus der Caſa B., entſtanden 1815/17, befindet ſich jetzt in der Berliner National ·
galerie. Ebendort auch Overbecks Fresken „Die 7 mageren Jahre“ und „Der Verkauf Joſepbs“
und Veits, ſowie Schadows genannte Fresken; mit Overbecks „Benjamin“ iſt des Cornelius
„Wiedererkennung“ gemeint.
50) Samuel Röſel, Landſchaftsmaler aus Breslau; geſt. 1843 in Potsdam; f. über ihn L. Seidler
S. 151f.
51) Joh. Adam Klein, geb. 1792, geſt. 1875 in München.
52) Maria als Himmelskönigin, St. Bernhard und Dante zu ihren Füßen.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 383
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noch zu Koch gegangen und mit Wiener Bleiſtiften nach ſeinem Skizzenbuch ge⸗
zeichnet.
Rom, Dienstag d. 6. Febr. 1821.
Wir hatten verabredet heut bei Rumohr zu frühſtücken und ſeine Zimmer zu
beſehen, die vielleicht im März gemietet werden ſollen. Nachher ward mit ihm
gemeinſchaftlich ausgefahren, und zwar zuerſt zum Palaſte Sciarra; dann zu
Canova 53), der weder im Weichen, noch im Koloſſalen zu ertragen iſt; er iſt
nichts beſſer als Carlo Dolci unter den Malern oder, um ein derbes Wort zu ge⸗
brauchen, Kotzebue unter den Dramaturgen. Eine liegende Nymphe, die einem
Amor zuhört, die ſtehende Venus, die der im Palaſt Pitti gleicht, der Waſhington
und eine Hebe ſind mir faſt das Erträglichſte. Dicht neben Canova iſt das Stu⸗
dium eines jungen deutſchen Künſtlers, der für die Glyptothek des Kronprinzen
von Bayern einen Perikles in Arbeit hat; der iſt ſchon weit beſſer als Canova. 5“)
Weil wir einmal in die Stalienerei hineingekommen, fuhren wir endlich noch zu
Camucini, der doch über jenem flachen, manirierten Bildhauer ſteht und in ſeiner
Zeichnung ſich nach Raphael gebildet. Er hat ſein Studium herrlich eingerichtet
mit Abgüſſen und Kartons, ein paar Porträts von ihm ſind viel beſſer als
Grögers. Szenen aus der römiſchen Geſchichte komponiert er wohl am beſten. 55)
Rom, Mittwoch d. 7. Febr. 1821.
Ich ließ mich von Schnorr zeichnen und ging von da zu Koch, mich an meinem
Gott⸗Vater zu verſuchen. Mittlerweil war zu Hauſe Kriegsrat gehalten worden,
und nach Zuziehung von Steins und eingeholten Nachrichten über das, was
Apponys und Niebuhrs geäußert 59), iſt beſchloſſen, die gewiſſe Unannehmlich⸗
keit der vielleicht noch ſehr unbeſtimmten Gefahr nicht vorzuziehn. So war das
Reſultat von langen Beängſtigungen und niederſchlagenden Sorgen, man wolle
ſo wenig als möglich an die kommenden Schreckniſſe denken, und wirklich hat
Julchen ſeitdem ihren guten Humor wiedergefunden. — Den Abend fuhren
Luiſe und ich zu Niebuhrs, nachdem wir Julchen im Theater abgeſetzt. Es hört
ſich ihm ganz vortrefflich zu. Geſpräch über das Unglück der Campagna, das aus
dem Mangel an kleinen Eigentümern oder Erbpächtern herrührt. Über die Herr⸗
lichkeit, die Rom hätte darbieten müſſen, wenn es wie Palmyra eine große
88) Canovas Najade mit dem Harfe ſpielenden Amor ſtammt aus dem Jahre 1815; die ſtehende
Venus aus dem Jahre 1818. Die Florentiner Venus im Pal. Pitti wurde von Baudiſſin als
„pariſiſch“ abgelehnt; der „Waſhington“ gleichfalls aus dem Jahre 1818. Ein älteres Werk iſt die
Hebe aus dem Jahre 1796, deren Marmorcopie in der Berliner Nationalgalerie ſich befindet. —
Der Vergleich mit Kotzebue iſt veranlaßt durch die Begeiſterung, die Kotzebue in ſeinem Buche über
Italien (1805) für Canova gegenüber Klaſſizismus, wie Romantik zur Schau getragen hatte.
Carlo Dolci (1616 — 1686), am Ausgang der Schule von Florenz; „weiche und ſentimentale Kraft-
loſigkeit“ charakteriſtert ihn (Lübcke IV S. 165). — Siehe A. von Kotzebue, Erinnerungen von einer
Reiſe aus Liefland nach Rom und Neapel, Berlin 1805, S. 149 und 161.
A), Nicht feſtſtellbar.
88) Vincenzo Cammuccinis „Tod der Virginia“ war gleichfalls von Kotzebue begeiſtert gerühmt
worden. L. Seidler nennt ihn „den erſten Hiſtorienmaler Roms“, „einen vortrefflichen Zeichner und
guten Koloriſten“ (165). — Fr. C. Groeger, geb. 1761 in Plön, lebte als Maler und Lithograph
in Hamburg.
56) Der öſterreichiſche und preußiſche Geſandte am Vatikan.
384 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Ruine hätte bleiben können; über gefallene Kornpreiſe bei vermehrter Bevölke⸗
rung; endlich aber das unerſchöpfliche Thema des holſteinſchen Zuſtandes.
Rom, Donnerstag, d. 8. Febr. 1821.
Der Prinz hatte uns anbieten laſſen, Canovas Studium bei ihm zu ſehen,
und wir uns um 11 bei ihm eingeſtellt. Außer dem neulich Geſehenen machten
wir heut die Bekanntſchaft von Canova ſelbſt, der ein guter, freundlicher Alter
ſcheint. Oben eine ſchlafende, ſehr reizende Nymphe, noch ſchöner als die eben
erwachte; endlich in einem 2. Studium das jetzt angefangene koloſſale Pferd für
den König von Neapel, Gegenſtück zu dem der Statue Karls III, das mir unter
der Kritik ſcheint. Es ſteht auf 3 Beinen, davon das vordere ſo ſchief, daß der
knochenloſe glatte Koloß fallen muß. 59) Es kann einem faſt leid tun, wenn ein
großer Meiſter ſo ſeinen eigenen Schimpf bereitet. Von da nahm uns der Prinz
noch mit zur Vatikaniſchen Bibliothek, deren heitres, immenſes Lokal wohl jeden
in Erſtaunen ſetzen muß.
Rom, Sonnabend d. 10. Febr. 1821.
Den Abend, nachdem Rumohr und Seinsheim hier geweſen, fuhren wir zu
Redens, wo Frl. Elischen beſſer ſang als gewöhnlich. Stackelberg ſpielte ein
paar ſehr allerliebſte Sachen. Bekanntſchaft mit dem Maler Senff. 58) Große
Kämpfe, ob ich mit Veit über ein Bild von Julchen reden ſolle. — Alle Welt iſt
jetzt in großer Spannung, ob die Napolitaner kommen werden oder ſich vertei⸗
digen. Im äußerſten Notfall könnten wir mit dem Prinzen reiſen. Daß die
Oſtreicher in Anmarſch ſind, weiß man, und der Papſt hat eine Proklamation
darüber erlaſſen. Es weiß niemand etwas Sicheres, und jeder glaubt, was er
hofft.
Rom, Sonntag d. 11. Febr. 1821.
Mit Bülow in die Kirche gefahren; die lutheriſchen Gebräuche, und beſonders
das Singen, haben doch etwas Rührendes. Die Predigt war gut, ward nur zu
weich und zögernd geſprochen. Wir ſahen nachher die Kopien und übrigen Ge⸗
mälde und Porträts von Senff, die ich trotz der Geringſchätzung, die ihm hier
widerfährt, ſehr hübſch finde, beſonders das von Thorwaldſens Grablegung
und Madonna von Foligno. Tag und Nacht von Thorwaldſen. Karton zu
einem ſchlafenden Chriſtuskinde mit zu kleinen Händen und Füßen. Große Ma⸗
donna über einer von der aufgehenden Sonne beleuchteten Landſchaft ſchwebend,
wohl ein Nachklang der Dresdener, das Chriſtkind hält eine Erdkugel. — —
Abends waren wir beim Prinzen — Stackelberg und Steins waren dort, und
erſterer zeigte die ſchoͤnen Kupferſtiche nach feinen Frieszeichnungen.
Ro m, Montag d. 12. Febr. 1821.
Nachdem heut morgen an Bunſen und Veit wegen unſres Quartiers und des
Bildes geſchrieben worden, gingen wir zu Stackelberg. Was iſt das für ein Ta⸗
67) Die ſchlafende Nymphe aus dem Jahre 1820, jetzt in London.
53) Graf Karl von Seinsheim aus dem Gefolge des Kronprinzen von Bayern. — Adolf Senff
aus Halle; in ſeinen Armen ſtarb Rudolf Schadow.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 385
lent und wie fleißig iſt er geweſen! Seine Kartons von der Madonna, der
2 Engel das Chriſtuskind bringen, und von der Flucht nach Agypten, wo das
ſchlafende Kind das Kreuz im Traum ſieht, ſind höchſt geiſtreich und ſchön, ganz
vortrefflich aber beſonders die vielen großen Horizontlandſchaften, die die aller⸗
vortrefflichſte Anſicht und Idee des Landes geben. Ich hoffe recht, daß dieſe
Sachen noch geſtochen werden.
Rom, Dienstag d. 13. Febr. 1821.
Am heutigen Lendemain de bal ward erſt ſpät ausgefahren; beſonders da
ein Brief an Luiſe mit der Nachricht von Chriſtian Stolbergs Tod gekommen.
Ebenſo hatte Auguſte vor einem Jahre den Verluſt ihres Onkels Fritz bei uns
erfahren. 59) Ihm iſt gewiß ſehr wohl und wohler, als wenn er feine Baucis
überlebt hätte; er hat ſich viele Tränen an ſeinem Grabe erworben. „Bittet, ſo
wird euch gegeben!“ und die 2 Zeilen: „Ich ſuchte dich, ich flehte dir. Nun ſteh
ich klopfend an der Tür“ hat er für ſeinen Grabſtein beſtellt. Luiſe blieb zu
Haus; wir andern fuhren mit Ranzau zur Villa Albani, deren Vorhalle doch gar
herrlich iſt und faſt der Peterskirche gleicht. Ausſicht auf die Gebirge, mit herr⸗
lichen Cypreſſen im Vordergrunde; Prachtſaal im oberen Stock, wo herrliche
Marmorarten, Moſaik und Scagliöla als Zierden vereinigt find. 60)
Rom, Mittwoch d. 14. Febr. 1821.
Der kl. Koch komponierte uns heut unſern Vormittag, und er verſteht ſich dar⸗
auf, ihn immer reichlicher zu beſetzen. Dahl, ein kleiner halbwilder norwegiſcher
Landſchaftsmaler, der im Hauſe von Schinz und Angelica Kaufmann gewohnt
haben ſoll. 51) Er hatte eine Menge geiſtreicher, flüchtig mit Ol auf Papier
gemalter Skizzen, unter denen ein glühender Veſuv ſehr gut. — — Die ägine⸗
tiſchen Statuen, die dem Kronprinzen von Bayern gehören. 2) Sie wurden von
den 4 Reiſenden in Trümmern gefunden, dann meiſtbietend verkauft und von
ihrem jetzigen Beſitzer durch den Maler Wagner, der ſie uns zeigte, um
22 000 Scudi erſtanden. Sie verhalten ſich zu den ſpätern Sachen wie Ghir⸗
landajo oder Francesco Francia zu Raphael; unglaubliche Naturfriſche und
Urſprünglichkeit. Schnorr ſagt, man glaube hier ein Reh im Walde laufen zu
ſehen; die andern wären darnach die zugerittenen edlen Pferde. Es iſt in den
Geſichtern viel Mythiſches und Konventionelles; die Art, wie die Haare ge⸗
wachſen ſind und wie ſie alle, auch die erliegenden und verwundeten, lächeln.
Zum Teil ſind ſie bemalt geweſen. Alle haben ohne Stützen geſtanden. Die
80) Friedr. L. Stolberg ſtarb am 5. Dezember 1819; Chriſtian Stolberg am 18. Januar 1821.
Friedrichs erſte Gemahlin war Agnes von Witzleben, geſt. 15. Nov. 1788. Ihr Bruder, Rochus
Friedrich von Witzleben, war der Vater der beiden Schweſtern Auguſte und Luiſe.
©) Scagliöla erklärt Petroechi, dizionario II, S. 856 als Sorta di stucco gessoso adesivo
e resistente a cui si aggiungon materie coloranti per imitare sassi venati.
7, l Dahl, geb. 1788 in Bergen, geſt. 1857 in Dresden. Über ihn Schnorr, Briefe
=) Über die Entdeckung und Bergung der äginetiſchen Sculpturen im Jahre 1811 ſ. Stackelbergs
Bericht J. c. S. 171 f. — Joh. Martin Wagner, Maler und Bildhauer, geb. 1777, vermittelte für
den 5 die RER von Antiken. — S. über ihn L. . S. 1 130 und u Briefe,
S. 209, 470. 5 a
on XXVIII. 25
386 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Bogenſchützen ſind geharniſcht, die andern führen große Schilde. — Wahrſchein⸗
lich haben ſie zu einem Minerventempel gehört; denn die Hauptfigur iſt eine
Pallas, die zwiſchen Streitende tritt; andre wollen einen Tempel des Zeus. Sie
ſind hier in vielen 100 Stücken angelangt; da hat nun auch Thorwaldſen recht
ſein Talent bewährt und herrlich reſtauriert, ſo daß er das Neue ganz wie alt
gemacht. Studium von Catel, er ſelber war abweſend. 53) Schöne Landſchaften,
aber flüchtig und nur auf Effekt berechnet gemalt. Zuſammengeflickte Ausſicht
auf das Forum, und eine andre von St. Peter, die ich mir ſchnell nachzog. Mo⸗
delle vom Koloſſeum, wie es wohl geweſen, im nämlichen Hauſe; ſehr ſchön und
intereſſant in Holz gearbeitet. — — Teerlink, niederländiſcher Landſchafts⸗
maler 64): ſehr flach und modern. Unter den kleinen Studien ein hübſcher rös
miſcher Hirt, kniend, in ſeinem Schafspelz. Vooghd um vieles beſſer. Er hat
ſchöne Skizzenbücher und gibt jetzt eben gute flüchtige Steindruckzeichnungen
heraus. 65)
Ro m, Montag d. 19. Febr. 1821.
Nachdem heut früh bei Koch gezeichnet worden und wir den kleinen Horni
dort geſehen 6%, fuhren wir bei trübem und dann regnichtem Wetter zu der
ſtupenden Kirche der Maria degli Angeli, welche M. Angelo aus dem einen
gewölbten Saal der Diokletianiſchen Bäder eingerichtet.
Dann fuhren wir noch in ſtarkem Regen zur Kirche S. Maria della Vittoria,
woſelbſt ein abſcheulicher Engel, der ich weiß nicht welche Heilige mit dem Pfeil
der himmliſchen Liebe entzündet. 7)
Rom, Dienstag d. 20. Febr. 1821.
— gingen wir zum Lateran und ließen uns das alte Chioſtro zeigen, wo herr⸗
liche vorgotiſche Säulen paarweiſe vor den großen Orangenbäumen des innern
Hofes in maleriſchem Verfall ſtehen. — — Zu S. Agnese fuori le mura hin⸗
ausgefahren. Eine ſehr ſchöne, uralte, vom Kaiſer Konſtantin gebaute Baſilika,
zu der man auf Stufen tief hinabſteigt.
Mich haben alle Baſiliken, und dieſe beſonders, höchſt ernſt und lieb geſtimmt
und angezogen; ſie tragen etwas vom Reiz jener erſten wiedergeborenen Vor⸗
zeit, der unſre deutſchen Dichter beſtimmt hat, ihre Gedichte aus den Zeiten der
Völkerwanderung zu wählen; es kommt einem vor, als ſähe man den Siegfried
63) Franz Ludwig Catel, geb. 1778 in Berlin, geſt. 1856 in Rom. Er lebte ſeit 1809 dauernd in
Italien, zu jener Zeit meiſt in Neapel. Von ihm ſtammt das bekannte Bild der Münchener Neuen
Pinakothek, das den Kronprinzen Ludwig in Geſellſchaft von Thorwaldſen, Ringseis, Phil. Veit,
Schnorr und Catel in dem Wirtshaus an der Ripa grande zeigt.
4) Abraham Teerlink, geb. 1777 in Dortrecht, geſt. 1857 in Rom.
8) Vooghd — fo zu leſen, nicht Voigt, wie es bei Schnorr S. 315 heißt —, noch am 13. De-
zember 1820 in Florenz genannt. Otto Baiſch „Johann Chriſtian Reinhart und feine Kreiſe“,
Leipzig 1882, nennt ihn als Freund Reinharts (S. 70). Er war geboren 1766 in Amſterdam, ging
1788 nach Italien, malte Landſchaften aus der Umgebung Roms.
es) Franz Horny aus Weimar, wohl der Sohn des von Goethe im Bericht an den Marſchall
Berthier erwähnten Weimarer Zeichners Konrad Horny (Bd. 53, S. 247). Er lieferte 1822 für
Baudiſſin „eine Landſchaft in Ol“; er ſtarb 1824 in Rom. Siehe über ihn Schnorr, Briefe S. 53,
401, 468 und Rumohr, Drei Reifen nach Italien, 1832, S. 209 und 224.
67) Berninis Verzückung der hl. Tereſe di Geſü (1646).
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 387
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und die erſten Heiligen hier knien. — Im Zurückfahren ward noch mitgenommen
die Kapuzinerkirche, wo gleich rechter Hand der ſchöne Erzengel Michael von
Guido Reni aus Emkendorf hängt. Dann die Galerie des Palaſtes Barberini;
anfänglich große, wüſte Säle, endlich freundliche, wohnliche Zimmer mit bren⸗
nendem Kaminfeuer, und im letzten derſelben eine Menge vortrefflicher Bilder.
Die Cenci und ihre Mutter, Rafaels Fornarina (wohl kaum dieſelbe Perſon wie
in Florenz. 68)
Rom, Sonnabend d. 24. Febr. 1821.
Ich begann den Tag mit einer Viſite bei Redens, um mich über den Ankauf
einer Kette Rats zu erholen, und ſiehe da, ich traf zu meinem beſonderen Glücke
ein wunderbar ſchönes, kleines Albanermädchen dort, die eben von Thorwaldſen
und Schadow modelliert und von Käftner, Schoppe und Bäſe gezeichnet ward.
Der Kronprinz von Bayern kam auch hin und bezeigte ſich als ein warmer Be⸗
wunderer ihrer Schönheit; ſie hat auch ein vollkommenes Geſicht; ſeit ich ſie ge⸗
ſehen, glaube ich an die Wirklichkeit aller Madonnen und antiken Statuen. ““)
— — Heute fängt der Carneval an, und zwar mit der humanen Ceremonie, die
im Kapitolspalaſt vorgeht, daß der Senator von Rom einem Juden auf den
Kopf tritt. Der Kronprinz von Bayern beſah ſich die Sache mit Wut. — Als
wir zurückgekehrt, hatte das römiſche Frühlingsfieber ſeinen Anfang genommen,
und wir kamen bald in den Zauber des Confettiwerfens hinein.“) Die vielen
roten Teppiche, das wimmelnde und doch ſo ruhige Volk, das Geſchwirr der
Masken, machte einen ganz fantaſtiſchen Eindruck. Mörners 71) Umriſſen fehlt
doch noch viel. Die gedrängten Wagen, die vermieteten Stühle, die Madchen
in weißen Kitteln mit antiken Masken, die den ganzen Carneval füllen. Die
Galopp reitenden Dragoner, die ängſtlich laufenden Hunde, und vor allem die
ſich kreuzenden Confetti. Unſere Loge, nicht weit von der Ecke der Via Frattina,
iſt gar gut; am Pferderennen war übrigens heut nicht viel zu ſehen.
Rom, Sonntag d. 25. Febr. 1821.
Ein Verſuch, den Otto und ich machten, im Urſulinerinnenkloſter eine Nonne
einkleiden zu ſehn, mißlang. Julchen beſtand ihn dagegen glücklicher. Dafür
5) In S. Maria della Concezione Renis Erzengel Michael, den Satan beſiegend. — Das an⸗
gebliche Porträt der Beatrice Cenci wohl nicht von G. Reni. Dieſe Fornarina wahrſcheinlich von
Siulio Romano; die erwähnte Florentiner Fornarina ein Werk Seb. del Piombos.
%) Das Albanermädchen iſt die berühmte Vittoria Caldoni, deren Entdeckung im Jahre 1820 in
ihrer Heimat Albano Keſtner (I. o. S. 80 f.) erzählt. Sie wurde von Thorwaldſen und R. Schadow
modelliert, 44mal, wie Keſtner berichtet, gezeichnet; am bekannteſten find Schnorrs Graphitzeich⸗
nungen in der Nationalgalerie zu Berlin und im Kupferſtichkabinett zu Dresden. — Julius Schoppe
aus Berlin. Schnorr erwähnt von ihm eine Kopie der hl. Cäcilie Raffaels und die für den
Srafen Baudiſſin beſtimmte Kopie eines Francesco Francia, deren Schickſale Schnorr S. 398/9 er-
zählt. Goethe hat an feinem Dantebild ſcharfe Kritik geübt (Bd. 49 I S. 59/60) und gegen ihn das
Epigramm Zahme Xenien Bd. 3, S. 281 geſchleudert: „Modergrün aus Dantes Hölle Bannet fern
von eurem Kreis! Ladet zu der klaren Quelle Glücklich Naturell und Fleiß!“ Günſtiger hat er in
Kunſt und Altertum VI, 2 (Bd. 49 S. 199) feine Zeichnung der Markgrafenſteine beſprochen.
70) Auch Ringseis berichtet vom gleichen Tage: „Dies Jahr wirft man nicht mit Gipsmehleiern,
ſondern mit echten, ſüßen Confetti“ (Erinnerungen II, S. 75).
71) Graf O. von Moerner, ſchwediſcher Offizier. 1821 erſchienen ſeine Radierungen: Der römiſche
Carneval in 24 Bildern.
388 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
erwählten wir ein beſſeres Teil und gingen zum Landſchaftsmaler Rohden,
deſſen treufleißige Art mir bisher noch unter den hieſigen Landſchaftsmalereien
am beſten gefallen. Nachher brachte ich Otto noch zu Senf, und wir beſahen zu⸗
ſammen die Kirche auf Trinità dei Monti, wo erſchreckliche neufranzöſiſche Sachen
find 72) ; dann aber auch, rechts, eine gute Kapelle. Als wir zu Haufe gekommen,
fanden wir eine Einladung des Prinzen vor, mit ihm Camuccinis Studium
und Sammlung zu ſehen. Es ſind unter letzterer ſehr ſchöne, gelungene Dinge,
beſonders eine hl. Familie nach Raphael (in Neapel), die auch ſo ſchön in Em⸗
kendorf kopiert iſt. Dann ein kleiner, ſchöner Raphael, deſſen Madonna der im
P. Tempi gleicht; ein Bild, auf welchem Titian die Landſchaft und Mantegna
die Figuren gemalt. Handzeichnungen von Raphael. 73)
Rom, Montag d. 26. Febr. 1821.
In ſtarkem Regen zu Schnorr und Bunſen aufs Kapitol gegangen, um mit
letzterm über die neue Wohnung Rückſprache zu nehmen; ferner zu Eggers, bei
dem Julchens Bild beſtellt ward.
Ro m, Mittwoch d. 28. Febr. 1821.
Beſuch bei Adler, der mir des Prinzen eben gekauftes Bild zeigte, das Klein
ihm gerade brachte. Dann gingen Otto und ich zu Koch, der verſprochen, uns zu
Reinhard zu führen. Seine Kreidezeichnungen find in der Tat unſäglich ſchön.
Otto hat das kleine Bild von Tivoli bei K. beſtellt; ich werde mich wohl an ein
paar Sachen von R. halten. Dann gingen wir noch zu Reinhold, einem ſehr
talentvollen jungen Künſtler, und zu Faber, der ſchon mehr handwerksmäßig
arbeitet, bei dem ich mir aber einige Stellen zum Zeichnen notierte. Reinholds
beſuchten uns nachher.““). Im Korſo fuhr ich mit Luiſe und Otto; wenn einem
der Kronprinz von Bayern begegnet, iſts jedesmal ein gegenſeitiges Freuden⸗
geſchrei. Mir ward heut die Brille von einem Wurf mit Mandeln zerſchlagen;
Otto gleichfalls. Den Abend ein allerliebſter Ball bei Apponys, auf welchem ich
fleißig mittanzte.
Rom, Sonntag d. 4. März 1821.
Wir waren heute ſämtlich zur Kirche gefahren. Die Predigt iſt nie ſo ganz
ſchlimm. Sie ſollte nur beſſer und freier herausgeſprochen werden und der Pre⸗
diger weniger fränkiſchen Dialekt ſprechen, als welcher von der Sünde unſrer
deutſchen Ausſprache, von 25 Buchſtaben 13 verkehrt und verwechſelt auszu⸗
ſprechen, viel auf ſeinem Gewiſſen hat. Stein beſuchte uns nachher noch und
machte uns in komiſchem Eifer die unnützen Manieren der Heidelberger Stu⸗
denten nach.
2): Trinita dei monti iſt die franzöſiſche Nationalkirche, den Ordensfrauen du sacr& coeur
gehörig
72) Eine „kleine Madonna“ wird auch von L. Seidler S. 166 erwähnt.
74) Adler: wohl ein Begleiter des Prinzen Chriſtian. — K. = Koch; — N. — wohl Reinhart:
doch auch bei Reinhold ließ Graf B. arbeiten (ſ. Schnorr S. 398) — 8 Reinhold, geſt. 1825
in Albano; er wird auch von Schnorr gerühmt (S. 389 f.), zumal feine Landſchaften (S. 405 u. 467)
— „Reinholds“ find jedesmal die Familie des niederländiſchen Geſandten. — Joh. Faber aus Dam-
burg (geb. 1778); ging 1827 dorthin zurück.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 389
— —. . —ñ—.—. ... —
Rom, mardi gras, den 6. März 1821.
— Die Corſozeit war heute bald da. Ich fuhr mit Luiſe und Titi und erſchuf
allerlei Abenteuer, um meine mitgebrachten Schätze loszuwerden. Den Redens
ward eine große Schlacht von Blumenſträußen geliefert. Wir fuhren nachher
zum Kardinal Haefelin, um das Pferderennen zu ſehen. Staatskanzler
Hardenberg war in Rom angelangt und ward halb und halb dort erwartet. 75)
Der Kronprinz ſprach mit großer skogo von ihm und verlangte mir ein Sonett
auf die gazza Reime über ihn ab, welches ich freilich anfangs für unmöglich
hielt, nachher aber abends ſpät doch noch ausführte. Wir fuhren hernach weiter,
um die Moccoli zu ſehen. Der Anblick iſt in der Tat ganz zauberiſch, die dunkle,
lange Straße, die Tauſende von Lichtern, die auf⸗ und abwogen und in allen
Fenſtern ſtehn; dabei das unerhörte Geſchrei und die Wagen mit Masken und
Laternen; das alles iſt zauberiſch und über alle Vorſtellung, und wir ſahen es,
nachdem Julchen und Luiſe mit vieler Mühe über die Straße geſchafft worden,
aus unſerer Loggia ganz vortrefflich.
Rom, Sonnabend d. 17. März 1821.
Mit Otto hinaus zum Winzerhauſe auf dem Grabe der Scipionen, wo wir eine
Zeichnung von der hübſchen Stelle verſuchten. Bentheim kam nachher mit Jul⸗
chen und Auguſte dazu; wir gingen zu Fuß, nachdem Auguſte und ich das Ge⸗
wölbe und die vor 8 Jahren noch geprieſene Winzerei geſehn, zur S. Balbina
und kamen auf einen Turm mit verfallener Treppe, der noch über unſerer erſten
Plattformenausſicht erhaben iſt. Freilich iſt es ſchlimm und wackelig hinauf⸗
zukommen. Herrlich grünende Saatfelder und blühende Ulmen. Den Abend
nahm die Prinzeſſin Viſiten an. Es war viel die Rede von dem Aufſtand in
Piemont, an welchem der Prinz von Carignan teilhaben ſoll. Wir fuhren von
dort noch zu Redens, wo Madame Vera fang. Präſentation an Frau von
Ramdohr. Vierhändige Sonate zwiſchen Dr. Müller und feiner Tochter. 7%
Saillien des Kronprinzen von Bayern, der immer noch das Sonett im Munde
führt und über den König von Neapel und ſein Volk ſich dahin äußert, einer ſei
des andern wert: talis rex, qualis grex. Er iſt jetzt beſchäftigt, einen Kon⸗
ſtantin den Großen für ſeine Walhalla aufzutreiben. Plänkeleien zwiſchen ihm
und Julchen.
Rom, Dienstag d. 20. März 1821.
Julchen hatte heut ihre erſte Sitzung bei Eggers, zu der ich ſie begleitete und
mit Vergnügen und Verwunderung die Bravour betrachtete, mit welcher er mit
der Kohle auf die Leinwand hineinwütete. Von dort endlich noch im Regen zu
Thorwaldſens Studio. Abends ging ich mit Otto durch die Stadt; — ich ſah
78) Kardinal Häffelin iſt der bayriſche Geſandte am Vatikan. — Über Hardenbergs Aufenthalt
in Rom berichtet auch Ringseis 1. c. II, S. 46 f.
re) Charlotte Häſer, geb. 1784 in Leipzig; in Dresden und Wien tätig, heiratete 1813 in Rom
den Advokaten Vera; von W. Chr. Müller in feinen „Briefen an deutſche Freunde von einer Meife
durch Italien“ 1824 rühmend genannt (Bd. II, S. 551). Baron von Ramdohr, preußiſcher Ge⸗
fandter in Neapel; — Wilhelm Chriſtian Müller (1752 1831) aus Bremen, dem Grafen B.
ſchon aus früherer Zeit bekannt. — Schnorr entwirft von ihm kein günſtiges Bild (S. 98).
390 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
bei der Gelegenheit den Café Ruſpoli und die Illumination aller römiſchen
Straßen; beſonders des Corſo, der mit vielen flammenden Teertonnen und
Papierlaternen zur Bezeichnung der architektoniſchen Linien wirklich ſehr ſtatt⸗
lich ausſah. Es iſt nämlich morgen der Jahrestag des Regierungsantritts
Pius VII.
Rom, Donnerstag d. 22. März 1821.
Julchen hatte heut ihre 2. Sitzung, in welcher Eggers, ohne ſich beim Contour
viel aufzuhalten, ziemlich leichtſinnig gleich mit Farben einmalte und am
Ende der Sitzung wirklich eine Ahnlichkeit zuſtande brachte. Von da fuhren wir
mit Titi und Otto zu Redens, die uns folgende Kunſtſammlungen und Studien
auftaten. 1) Rebell, der das Meer wirklich geiſtreich auffaßt und für die Blome
ein ſchönes Bild gemalt hat. 2) Mörner, der jetzt am ſchwediſchen ?“) Carneval
illuminiert. 3) Byſtröm, der doch faſt noch über Canova ſteht, obgleich er etwas
handwerksartig arbeitet. 7) Eine Gruppe von Venus und Amor, die ſich herzen,
iſt hübſch und die Stellung ſchwierig. Er hat jetzt die intereſſante Aufgabe be⸗
kommen, 3 ſchwediſche Könige in Marmor zu hauen; nur hat man ihm leider
die Stellungen vorgeſchrieben, und da ſoll er z. B. Karl XII. eine ruhige und
nachdenkliche geben. Wie verfehlt! — Den Abend war eine kleine Geſellſchaft
bei der Prinzeſſin, wo außer uns noch Redens und die Riepenhauſen. Elischen
ſang nicht übel, auch Keſtner tat ſich mit Singen auf. Als wir kamen, überreichte
Otto ſeine Federzeichnung von der Neptungrotte, die mit unglaublicher Blödig⸗
keit gegeben und empfangen ward.
Freitag d. 23. März 1821.
Mit Julchen zu dem vortrefflichen Reinhard gefahren, dann zu Klein, bei
welchem ich ſofort ein Paar Ochſen beſtellte und bei dem vielleicht auch Otto ein
Bild bekommt. —Zum Abend hatten wir folgende Herren bei uns geladen:
Thorwaldſen, Koch, Eggers, Schnorr, Rehbenitz, der mir, als er kam, einen
3. Brief von Rumohr und ein Bild von Schäfer brachte, das ich dem Prinzen
zeigen ſolle, und Keſtner. Brönſtedt 78) kam nicht, dafür aber Titi. Die Unter⸗
haltung hinkte etwas. Eggers und Keſtner waren eigentlich die einzigen Spre⸗
chenden. Der alte Stein wird jetzt von Schnorr und Rebenitz gezeichnet.
Rom, Sonnabend d. 24. März 1821.
Heut morgen ward in der Tat ernſt gemacht und der Ankauf einiger Rumohr⸗
ſcher Beſtellungen beſorgt; wir ſahen bei der Gelegenheit die Sammlung des
Antiquars Maldura, in welcher einige hübſche Sachen; — — wir fuhren dann
mit Titi zu Agrikola, einem jungen, ſehr braven italieniſchen Maler, der das
Porträt der Prinzeſſin jetzt malt. Er hat das Verdienſt, gar nicht in der fran⸗
708) Wohl verſchrieben für römiſchen.
77) Joſeph Rebell, geb. 1787 in Wien, geſt. 1828 in Dresden. — Joh. Niklas Byſtröm, ſchwe⸗
diſcher Bildhauer (f. L. Seidler S. 179).
78) Dr. Bröndſtedt, ein Däne, war der Teilnehmer an der griechiſchen Reiſe Stackelbergs. —
Schäfer iſt Joh. Scheffer von Leonhardshof (1795 1822), ein Wiener, Overbeck beſonders nahe⸗
ſtehend; ſeit 1814 in Rom, Mitglied der Lukasbruderſchaft (ſ. Fr. Binder, Fr. Overbeck I S. 320).
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 391
zöſiſchen Art zu malen; ein Bild von ihm, das Raphael vorſtellt, wie er die
Fornarina für die Transfiguration malt, iſt ſehr einfach und wohlgelungen. Er
iſt, wie Eggers uns vorgeſtern erzählte, einer der erſten Italiener, der mit La⸗
ſuren gemalt. Sehr ſchön ſind von ihm ein paar in Kreide gezeichnete Kartons
nach der Madonna von Foligno. Bis jetzt iſt aber die Prinzeſſin fchöner als
ihre Copie. ?)“) Wir trafen mit den Prinzen dort zuſammen. Nachher fuhren wir
aufs Capitol und ſahen wieder die Gemälde dort, die mir doch ſehr wohlgefallen.
— Abends ward bei Redens vorgefahren, um Entſchuldigungen darüber zu
machen, daß wir morgen nicht bei ihm würden eſſen können; unſre Prinzen
waren da, und es verſprach ein angenehmer Abend zu werden; wir mußten
aber, um ein an Stein gegebenes Wort zu halten, noch zu Lady Drummond
fahren, wo wir uns gleich mit dem Kronprinzen von Bayern zuſammenfanden,
der nach ſeiner gewohnten Art ſo wunderliches Zeug mit Julchen und Thereſe
Stein ſprach, daß der junge Kielmannsegg 80) und Bülow, die drüber hin⸗
zukamen, wohl kaum wußten, was ſie draus machen ſollten.
Rom, Sonntag d. 25. März 1821.
Die Sonne ſchien heut einmal wieder hell und ſchön, und man konnte ſich des
Wetters freuen. Otto und ich hatten uns mit dem kleinen Koch verabredet,
einige Künſtler zu beſuchen und holten ihn deshalb ab. Wir gingen zuerſt zu
Robert, einem jungen Schweizer Maler, der beinah in derſelben Art malt
wie Klein, nur nicht fo zierlich. !) — Dann zu Granet, einem Franzoſen;
er malte im nämlichen Genre, aber nicht fo gut. 52) Dann zu den Riepen⸗
hauſenz; es läßt ſich kaum begreifen, wie die Blome 4 Bilder von dieſen
guten Leuten hat zuſammenbringen mögen. 3) Zum Eſſen brachte ich dem
Prinzen das Bild von Schäfer mit: ich wußte im voraus, daß er es nicht
kaufen würde. Er hat wohl ſchon mehr als genug an einigen nazareniſchen
Zeichnungen, die er ſich von Overbeck (zwei Mädchen mit einer Taube), Schnorr
(Laßt die Kindlein zu mir kommen!), Eggers (eine Sibylle) und Suter (eine
Grablegung) hat machen laſſen, er zeigte fie uns nach Tifche. 29) — Den Abend
blieb ich zu Haus und zeichnete. Es iſt ein eigenes Ding mit der rechten Stim⸗
mung für die chriſtlichen Bilder. Otto und, ich fürchte, auch der Prinz haben
fie beide nicht. Religiöſe Unerzogenheit unfrer ſchönen, guten Prinzeſſin.
Rom, Montag d. 26. März 1821.
Der heutige Vormittag ward ungefähr wieder zugebracht, wie der geſtrige;
ich fuhr mit Julchen und Auguſte zu Robert, bei dem ich im Andrange meines
70) Philipp Agrikola, geb. in Rom. Schüler der römiſchen Akademie. Außer dem Porträt der
däniſchen Kronprinzeſſin wurden beſonders geſchätzt ein „Petrarca und Laura“ und „Dante und
Beatrice“. |
80) Der „junge Kielmannsegg“ wurde der Schwiegerſohn Steins.
81) Leopold Robert (1794 1835) ſtammte aus der franzöſiſchen Schweiz; Bilder aus dem
italieniſchen Volksleben.
82) Francois Granet (1775 — 1849).
83) Die Gräfin Titi Blome.
94) Schnorrs Bild wird zuerſt im Januar 1821 von ihm erwähnt.
392 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Herzens den Räuber und die Spinnerin beſtellte. Dann zu Faber, der eine
Ausſicht von S. Balbina für mich ſkizzieren und mir dafür vergönnen wird,
nach ſeinen Entwürfen zu kopieren. Darauf holten wir Titi ab und fuhren
mit ihr zu dem ſchlechten, modernen Verſtappen, der am Ende wenig beſſer iſt
als Strack 85) und dann auf den Monte Mario, bei gelindem Regen. — —
Ich denke, wir bleiben bis zum 1. Mai in dieſem Hauſe, gehn dann nach Albano
und in die Umgegenden und den 15. Mai gen Neapel; dann könnten wir zum
1. Juli wieder hier in Rom ſein. Ob wir dann noch den Winter werden weg⸗
bleiben können, muß die Zeit lehren. Es wäre ſonſt recht intereſſant, in
München zu ſein, wenn die Stände ſich verſammeln. Den Abend fuhren wir zu
Apponys, wo ich den kleinen Bartholdy ſah; anfangs waren wenig bekannte
Menſchen da; nachher füllten ſich die Zimmer, bis eine Art von Börfe daraus
entſtand. Unſer Prinz kam auch noch hin, obgleich er in Oſtia geweſen und
12 Miglien gegangen war. Dafür hat die Prinzeſſin ſich den Genuß gemacht,
einige deutſche Künſtler zu beſuchen, namentlich Schnorr und Eggers, die ſie
lobte. Die piemanteſiſche Geſchichte iſt nun auch vorbei. Zuletzt fand ſich noch
der Kronprinz von Bayern mit Schwänken ein und erzählte uns die Urſache,
warum Rumohr Rom ſo verhaßt worden ſei.
Rom, Dienstag d. 27. März 1821.
Die Eiche Taſſos bei Faber angefangen; Vorſchläge über einen gemeinſchaft⸗
lichen Aufenthalt in Albano. Nachdem ich im Regen zu Haus gekommen, fuhren
wir zu Thorwaldſen, der uns ſeine neue Prinzeſſin und ſeine ganz vortreffliche
Sammlung von Zeichnungen zeigte. Wie herrlich ſind die Basreliefſtücke von
Overbeck! Er war heut höchſt liebenswürdig und eigentümlich witzig; — — die
Zeichnungen von Overbeck hätte man faſt ebenſo gern als den Fries ſelber. Von
Thorwaldſen gingen wir noch zum Ramboux, 85) dem ich vorher einen
Zettel geſchrieben, um ihm zu erzählen, der Prinz werde vielleicht ſein Blumen⸗
feſt kaufen. Ramboux iſt recht brav, obwohl auch zu weit gegangen; aber feine
Parabel vom Weinberge gleicht doch dem Campo Santo ſehr, und wenn man
jenes liebt, wie ſollte einen dieſes nicht rühren?
Rom, Donnerstag den 29. März 1821.
Bei Faber die Eiche Taſſos fertig gezeichnet; als ich zu Hauſe gekommen,
zeigte uns Schnorr das neue beinah fertig gewordene Bild von Stein, welches
ein wahres Meiſterſtück zu nennen iſt. Die Albaneſerin iſt ihm nicht ſo gut
gelungen.
88) Martin Verſtappen, geb. 1775 in Antwerpen, zuerſt Hiſtorienmaler, ſeit 1804 in Nom, floh
fi) hier Reinhart an; malte Anſichten aus der Umgebung Roms. — Ludwig Phil. Strack, geb. 1761
in Heſſen. Verwandter der Familie Tiſchbein. rch Johann Heinrich Tiſchbein in Caſſel ant;
gebildet, lebte er feit 1788 in Rom, dann in Oldenburg, Holſtein und feit 1815 meiſt wieder in
Oldenburg.
6) Ramboux aus Trier (1790 - 1866); Schnorr bezeichnet ihn als Schüler Davids: „er hat
an und alles Franzöſierende gänzlich abgeſchüttelt und verſpricht treffliche Werke“ (Schnorr,
. 355).
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 393
Rom, Sonnabend d. 31. März 1821.
Die Zeichnung vom V. und Romatempel mit mehr Aufmerkſamkeit an⸗
gefangen als die geſtrige. Um 12 fuhren wir zu Catel, deſſen an Ort und Stelle
gemalte Skizzen wirklich vortrefflich ſind, ſo daß ſie Otto und mir auch große
Luft gaben, in Ol zu malen, welches nach reiflicher Überlegung für mich doch
nicht ratſam wäre. Dann erfragten wir mit einiger Mühe die Villa Nelli, in
welcher Rafael den Alexander und Rorane, ein Venusſtück und eines mit vielen
Pfeilſchützen gemalt oder doch wenigſtens gezeichnet. Mir haben die Sachen
beſſer gefallen als die der Farneſina; beſonders allerliebſt ſind einige wippende
Knaben. — Dann gingen wir zu Fuß in die Villa Borgheſe, in der wir Eliſe
Rheden mit dem Canonikus trafen. — In der Villa ſelbſt ſind noch bewun⸗
dernswerte Reſte alter Pracht. — Ich ſah mit Verwunderung im 2. Stockwerk
eine Reihe unglaublich ſchlechter Gemälde von Hackert. Im unteren ſieht es gar
wüſt aus. Aller Augenblicks ſtößt man auf ausgebrochene Basreliefſtellen oder
Pfähle, die ſtatt ehemaliger Marmorſäulen prächtige Frieſe tragen. Das feh⸗
lende hat der Herr Fürſt verſpielt oder verkauft. Statt des Hermaphroditen und
des borgheſiſchen Fechters ſollen einen jetzt nur ein paar recht berniniſche
Gruppen tröſten; Apoll und Dafne und ein übermäßig grimmiger, kleiner
David. 87)
Rom, Mittwoch d. 4. April 1821.
Wir waren heut durch die Prinzeſſin zu einem wunderlichen Frühſtück in
Villa Miollis gebracht, zu welchem Lady Weſtmoreland halb Rom in ihren
ſchönen Garten invitiert. In einer kleinen Allee ritten 3 Bauern auf ſcheuen
Eſeln unter einem Bogen durch und mußten nach einer Kumme Waffer ftechen,
die ſie gewöhnlich weidlich begoß. Dieſer wäſſerige Spaß ward bis in die Un⸗
endlichkeit wiederholt, und eine Probe Sacklaufens war nicht beſſer. Zuletzt
fing nun gar das Waſſerſtechen wieder an, nur daß die Bauern diesmal ihre
Pulcinellentracht ausgezogen hatten. Das gute Wetter, die vielen geputzten
Menſchen und der gar zu hübſche Garten waren doch allerliebſt. — Wir ſind
dieſe Tage über ſtark mit Ausrechnungen beſchäftigt geweſen, ob ſich nicht der
Winter würde in München zubringen laſſen, welches freilich allerliebſt wäre.
Otto würde dann wahrſcheinlich in Rom bleiben.
Rom, Donnerstag d. 5. April 1821.
— — Am Abend ſahen wir mit Steins, Stackelberg und Thorwaldſen die
Vatikaniſchen Sachen bei Fackelſchein. Es iſt unglaublich, wie viel ungeahnte
Herrlichkeiten da noch hervortreten, wie beſonders der Torſo und der Apoll ſich
verklärten. Eine neue Eroberung machten wir durch Stackelberg an dem Phocion
und der Mnemofyne neben der großen Ariadne. Der Torſo hat wohl zu einer
Gruppe gehört und ift kein Herkules in Verzweiflung, weil alle Muskeln ruhig
find. Spitzheit des Knies am Laocoon; Alter der Kinder; dunkelroter Hinter⸗
grund in den Titusbädern.
ST), Beides Jugendwerke Berninis, die feinen Ruhm begründeten (1619 und 1625).
394 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Rom, Sonnabend d. 7. April 1821.
Wir langten bei Thorwaldſen höchſt precis um 7 Uhr an und fuhren dann
mit ihm im Palazzo Negroni vor, wo wir Adler und Kaas im Grauen der
Rechnungen fanden. Thorwaldſen wollte noch erſt den Prinzen ſehen; ich ſiegte
aber glücklich wider ein daraus drohendes doppeltes Abſchiednehmen; ich brachte
uns ſämtlich in Bewegung zur Storta hin. — Die Reiſenden kamen erſt ſehr
ſpät und nach unglaublichem Warten. Der Abſchied iſt wohl allen nahegegangen.
— — Wir behielten Thorwaldſen dann zum Eſſen. Mit unglaublicher Gut⸗
mütigkeit und Unbefangenheit erzählte er uns ſeine Lebensgeſchichte, wie er
ganz wider ſeinen Willen ſein erſtes Bassorilievo gemacht; wie er feinen Jaſon
mit abfallenden Armen und Beinen nach 3jährigem Nichtstun in Rom zuſtande
gebracht und nur durch die zufällige Beſtellung des Hauſes Hope, nachdem er
ſchon mit dem Vetturin die Rückreiſe beredet, ein römiſcher und weltgeſchicht⸗
licher Künſter ſtatt eines Kopenhagener Akademieprofeſſors geworden. — Bei
Redens ward heut ſehr hübſche Muſik gemacht.
Rom, Mittwoch d. 11. April 1821.
Nach Nibbys Stunde beſahen wir allerlei Wohnhäuſer und entſchieden uns
für eines, das Eliſe Reden uns geſtern angewieſen; ein recht klaſſiſches auf
Monte Pincio, wo Claude Lorraine gewohnt haben ſoll, mit dem römiſchſten
Balkon von der Welt. Otto und ich gingen nach dem Nachmittag wieder hin,
um es feſtzuhalten. Den Abend fuhren wir zu Niebuhrs, wo Julchen für ihre
Aufopferung belohnt ward. Denn Niebuhr verſprach ihr, ſich für eine Eskorte
nach Neapel zu verwenden und empfahl uns die hieſigen Küraſſiere.
Rom, Sonntag d. 15. April 1824.
Früh mit Auguſte zum Quirinal gefahren, um die Palmenausteilung in der
päpſtlichen Kapelle zu ſehn. Schöne Koſtüme der Kardinäle, mit altdeutſchen
Falten; beſonders ſchön ſehen der armeniſche und griechiſche Biſchof aus. Die
Palmen ſahen ſehr zierlich geflochten aus. Der gemeinere Klerus bekam Ol⸗
zweige. Prozeſſion, in der der Papſt aus der Kapelle getragen wird; der ab⸗
klingende ferne Geſang, wenn er draußen iſt, klang ſehr hübſch. Dann wird
angeklopft und ihm wieder aufgethan; darauf folgt, geſungen, die Paſſions⸗
geſchichte des Herrn, zu der der Chor als Volk der Juden wild einfällt. Dann
kommt die Meſſe und zuletzt noch ein Chor von Paleſtrina. Ich traf nach der
Kirche mit Keſtner bei Eggers zuſammen, wo wir Julchens Porträt ſahen, das
mir bis jetzt noch wohl gefällt.
Rom, Gründonnerstag den 19. April 1821.
Der heutige reichbeſetzte Tag drängt ſich folgendermaßen. Um 9 Uhr Meſſe in
der Sixtiniſchen Kapelle mit ſehr ſchöner Muſik von Paleſtrina. Die Gemälde
von M. Angelo fühnen ganz wieder mit ihm aus; ich kenne nichts Gewaltigeres
als die Propheten und Sibyllen und die Schöpfung Adams. Ich finde mit
Wohlgefallen in dieſen Figuren die Vorbilder zu denen von Koch wieder. Nach
MW *
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 395
der Meſſe zieht der Papſt in Prozeſſion nach der herrlich erleuchteten Paulini⸗
ſchen Kapelle und begräbt die Hoſtie. Die Damen ſehen von einer Tribüne in
der Scala Regia zu. Er wird nicht getragen, ſondern geht unter einem Bal⸗
dachin. Dann treibt alles durch die Korridore und Höfe, um auf die äußere
Galerie des großen Petersplatzes zu gelangen und von da den Segen austeilen
zu ſehen. Otto und ich gingen nicht mit hinauf, ſondern auf den Platz. Ich
hatte mir mehr erwartet; der Platz war nicht gefüllt; das Knien der Menge
nicht gleichzeitig, der Kanonendonner nicht mächtig genug. Vielleicht iſt dies
alles am Oſterſonntag ſchöner. Julchen und Auguſte fuhren dann zu Haus.
Otto und ich gingen wieder hinauf und ſahen in der Capella Clementina das
Fußwaſchen der 13 Pilger. Der Papſt macht die Reihe herab bei jedem die
Ceremonie und reicht ihm nachher einen Blumenſtrauß von Levkojen. Recht
ſchön war der verſchiedene Ausdruck der 13 Leute, und ſehr vortrefflich ſahen die
orientaliſchen Prieſter aus. Die anweſenden Herrſchaften von Neapel, Sachſen
und die Prinzen von Bayern und Preußen nahmen ſich ſehr ſtattlich aus. Dann
drückte man ſich mit ungeheurem Gewühl und Gedränge in den letzten großen
Saal, wo eine Tafel für die 13 bereitet ſteht und der Papſt die Honneurs macht.
Otto und ich hielten dies letzte nicht bis zu Ende aus, ſondern brachen durch
und auf und ergötzten uns an der ſchönen Beleuchtung der Pauliniſchen
Kapelle, die von 650 Lichtern nach M. Angelos Zeichnung herrlich erhellt wird.
Der Schein auf den gewirkten Tapeten ſieht ſehr magiſch aus. Gar ſchön iſt in
der Clementina die gewirkte Cena von Leonardo und die Tapete hinter dem
päpſtlichen Throne nach Raphael. Otto und ich fanden uns ganz zufällig wieder
zuſammen und fuhren im ganzen doch ſehr erbaut von der Grandioſität des
Vatikans zu Hauſe. Nach Tiſch trafen wir wieder zu rechter Zeit in meiner
lieben Siſtina ein; ich hatte das Offizienbuch mit, fo daß ich den ſchönen Text⸗
worten folgen konnte, und Keſtner führte mich aus dem Gedränge vorn an einen
ruhigen Seitenplatz zum Sitzen. Die 15 Lichter wurden der Reihe nach bis
auf das letzte verlöſcht und heute auch die 6 großen, die auf der mittleren Scheide⸗
wand ſtehen. Dann fing dieſes himmliſche echte Miserere von Allegri an, das
einer wohl nie vergißt, der es ſo vollkommen gehört. 88) Die höchſte Stimme
glich einer vollkommen reinen, durchaus nicht ſchmetternden Harmonika; der
eine ſchöne, dreimal wiederkehrende Gang trägt einen bis in den Himmel;
Keſtner und ich ſaßen im Dunkeln mit zurückgelegtem Kopf und begehrten nichts
Höheres. Die erſte Anordnung und Erfindung dieſer Feierlichkeiten in der
Karwoche iſt höchſt tief und ſinnvoll. Und wenn man nun noch ganz ergriffen
und entzückt die ſchöne Scala Regia hinab in die Peterskirche tritt, ſtrahlt
einem das Kreuz entgegen, ſo ſiegreich und herrlich durch die Nacht, daß es auch
bei Julchen alle Erwartung überflog. Ich wollte jedem gönnen, fo die Peters⸗
kirche zuerſt zu ſehen. Dieſe Lichter und Schatten in den Bögen, dieſe ſcharfen
Profile der Pfeiler, wo ſie ſich gegen einen dunkeln Hintergrund abſetzen; dieſe
zauberiſchen Effekte, wenn man ſich ſo ſtellt, daß man das Kreuz nicht ſelber
86) Gregorio Allegri in Rom (1582 — 1652); fein neunſtimmiges Miserere in der Karwoche in
der Sirtinifhen Kapelle geſungen.
396 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
..... . ——
ſieht, ſondern nur ſeine Wirkung, das geht über alle Beſchreibung und Erinne⸗
rung. Ganz herrlich ſind die Lichtblitze an den gewundenen Säulen des Hoch⸗
altars. Wenn man ans letzte Ende des kleinen Kreuzes tritt und ſchließt die
Augen, fo glaubt man zuverläffig, man ſtehe am Wogenſchlage des Meeres; es
gibt nichts Ahnliches und Täuſchenderes. Ich kenne nichts beſſer und ſchöner
Angeordnetes als dieſe Kreuzerleuchtung, was auch manche Philiſter dagegen
ſagen mögen.
Rom, Karfreitag d. 20. April 1821.
Ich ging heut morgen allein mit meinem Officium in die Sixtiniſche Kapelle
und bekam glücklich noch Platz zum Sitzen. Mich rührt dieſer alte, einfache und
hier ſo ſchön ausgeführte Gottesdienſt doch ſehr; wir Lutheraner ſollten ihn
auch noch haben; denn er hat zu Luthers Zeiten noch beſtanden. Nur ſollte man
nicht ſo viel Vigilien in die kurze Zeit zuſammendrängen. Die Abſingung des
Evangeliums iſt ſehr einfach und ſchön; es iſt dramatiſch verteilt, eine Stimme
ſingt die Erzählung, eine Tenorſtimme die Reden des Pilatus, ein ſehr ſchöner
rührender Baß die Worte Chriſti; der Chor die des Volkes oder der Prieſter.
Dann folgen die Orazionen, auch für Proteſtanten und Juden. Darauf die
Zeremonie der Kreuzadoration, wo der Papſt und nach ihm alle Kardinäle und
ſein geiſtlicher Hofſtaat mit abgelegten Schuhen vor dem Kreuze knien. Wäh⸗
rend der Zeit werden die herrlichen Improperien von Paleſtrina geſungen,
deren Worte das rührendſte Geſpräch Chriſti mit der Menſchheit enthalten.
Endlich zieht der Papſt mit einer Prozeſſion hinaus zur Pauliniſchen Kapelle
und holt die Hoſtie von da zurück. Julchen war den Morgen in unſerer Kirche
geweſen und ganz wohl zufrieden von der dortigen Art des Gottesdienſtes zu
Hauſe gekommen; man hatte abwechſelnd geſungen und die Paſſion vorgeleſen.
Vom Miserere hörten wir leider heut abend nicht viel. — Wir langten ſo ſpät
dort an, daß, weil heut die Feier um eine Stunde vorgerückt wird, wir nur
die letzten Akkorde noch vernahmen. Wir haben auch weniger dran verloren;
es war eine neue Kompoſition von Baini und ich preiſe den Himmel, der mir
geftern fo wohl gewollt. 89) Wegen dieſes früheren Miserere kommt man aber
auch viel zu früh in die vom Kreuz beleuchtete Peterskirche, die beim Tageslicht
gar keinen fo großen Eindruck macht und erſt viel ſpäter ſchön wird. Ich fuhr
von dort aus noch mit den Vera's zur Akademie der Arkadier, die am heutigen
Tage allerlei Abhandlungen zum beſten gibt. Die erſte war in italieniſcher
Proſa und führte den Beweis, es habe bei Petri Ableugnung kein Hahn ge⸗
kräht, ſondern ein Nachtwächter geblaſen. Dann folgte ein emphatiſches lateis
niſches Gedicht in Hexametern über die Erlöſung. Merkwürdige Ausſprache
des Lateiniſchen.
Rom, Oſterſonnabend den 21. April 1821.
— Als wir von Klein zu Julchen zu Haufe fuhren, knallten unzählige
Flinten und alte Töpfe; denn um 12 verkünden alle Glocken die Auferſtehung
20) Die Improperien - Die Klageworte Jeſu am Kreuz, vor der Meſſe in der Bearbeitung
Paleſtrinas (1650) gefungen. — Giuſeppe Baini (1775 — 1844); fein 1Oftimmiges Miserere wurde
1821 zum erſten Male in der Karwoche in der Sixtiniſchen Kapelle gefungen.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 397
des Herrn, und dann darf keine Flinte unabgeſchoſſen und kein Kind ein⸗
gewickelt bleiben. Auguſte und ich brachten Julchen dann zu Eggers, deſſen
Bild vielleicht nicht vollkommen ähnlich, aber gewiß ſehr gut gemalt und koſtü⸗
miert wird. Ich führte in der Zwiſchenzeit Auguſte zu Schnorr, der eine Profil⸗
zeichnung von Harnier in einem Harniſch gemacht hat und von wo aus Reh⸗
benitz mich zu Olivier, ſpäterhin zu Schäfer brachte und uns den tarpejiſchen
Felſen zeigte.“) Nach dem Eſſen fuhren wir zur armeniſchen Kirche San
Niccola in Carcere; herrliche Geſichter und Koſtüme, ſchöne Gruppen, eine
monotone eintönige Sprache und ſchlechte Litanei. — — Abends bei Redens
war's ziemlich ſtill und leer; — Abſchied von Stein, der nun wirklich ſeinen
Töchtern zu Liebe mit der übrigen undankbaren Geſellſchaft nach Neapel reiſt.
Rom, Oſterſonntag d. 22. April 1821.
Wir fanden uns bei Zeiten im Vatikan ein, damit Julchen und Titi gute
Plätze erhielten. Otto und ich ſtellten uns an den Abſatz der Scala Regia, um
den Zug des Papſtes zur Meſſe vorbeikommen zu ſehen; außer uns hatte ſich
kein Fremder da eingefunden, als die königlichen Herrſchaften, die in der Vor⸗
halle ſtanden. Die roten Kardinäle mit weißen Biſchofsmützen, die armeniſchen
Geiſtlichen, der Papſt mit der dreifachen Krone und einem gewaltigen gold⸗
ſtoffenen Mantel, der auf den Schultern ſeiner 8 Träger zwiſchen den Strauß⸗
wedeln herabſchwebt, ſahen da noch ſchöner im Hinunterſteigen aus als in der
Kirche ſelber. Von der Meſſe war nicht viel zu ſehen. Wir winkten unſern
Frauen frühzeitig genug zum Aufbruch, um diesmal einen vortrefflichen Platz
auf der Galerie zu erhalten, von wo aus wir den Segen austeilen ſahen. Dieſes
Mal war der Platz ungleich voller und beſetzter; eine Menge öſtreichiſcher
Jäger waren neben den päpſtlichen Soldaten aufgeſtellt, um den Segen zu
empfangen, und aller dieſer Truppen regelmäßiges Niederknien machte wirklich
einen großen Effekt. Chriſti Nachfolger ſollte freilich nicht ſo viel Gepränge und
Stolz aufwenden; aber als Hofſtaat und Parade betrachtet iſt dieſes päpſtliche
Regiment wohl das herrlichſte in Europa, und der Vatikan gewiß der Fürft
aller Reſidenzſchlöſſer. Der Nachmittag und Abend ſetzte allem aber die Krone
auf; denn den vielen anweſenden fremden Herrſchaften zu Ehren wurde
St. Peter erleuchtet und das Feuerwerk von der Engelsburg abgebrannt. Wir
waren um 7 über den Korſo auf den Petersplatz gefahren, um die Wirkung
des erlöſchenden Tageslichts noch zu ſehen. Kuppel und Kirche ſind mit tauſen⸗
den von Papierlaternen in architektoniſchen Linien illuminiert, und dazu ſcheint
die Architektur der Faſſade denn auch recht eigentlich eingerichtet und beſtimmt.
Es nimmt ſich aus, wie durchgeprickeltes Papier vor ein Licht gehalten; der
Grund, beſonders an der Kuppel, ſieht erſt ſilbergrau⸗ſammten, dann dunkel⸗
grau, dann ſehr ſchön braun, dann ſchwarz, endlich wirds eine Farbe mit dem
so) W. de Harnier, als Kunſtkenner geſchätzt, Sekretär bei der heſſiſchen Geſandtſchaft. —
Friedrich Olvier, geb. 1791, geſt. 1859 in Deſſau; feit den Wiener Jahren mit Schnorr eng be⸗
freundet, als Schnorr 3 Jahre bei der Familie feines Bruders Ferdinand wohnte; ſeit Dezember
1818 weilte er in Rom.
398 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Tr —.— — . —
Himmel. Gar ſchön ſchwebt das Kreuz oben allein im Himmel; denn der große
Knopf, ders trägt, iſt nicht mit illuminiert. Auch die runden Säulengänge
nehmen ſich herrlich aus; wenn man es mit halbgeſchloſſenen Augen anſieht,
dünkt einem, die ganze Kirche ſtehe in Feuer. Endlich, wenn es völlig Nacht ge⸗
worden, fängt eine Flamme oben vom Kreuz an aufzulodern; und nun über⸗
ſtröͤmt in Zeit von wenigen Sekunden die ganze Kuppel von der Spitze herab
eine ſolche Glut von Pechfackeln und großen Feuern, daß die vorige Lampen⸗
beleuchtung gar nicht mehr geſehn wird und die ganze Kirche in hell glühender
gelber Farbe wie bei Tage daſteht. Dieſer ſchnelle Übergang iſt ganz zauberiſch
und unglaublich. — — Und doch folgt nun noch ein gewaltigeres Spektakel an
dem Feuerwerk der Engelsburg, das wir von einem vortrefflichen Fenſter
gegenüber mit anſehen und das nach langem Harren und Erwarten endlich
anfing, und zwar gleich mit einer ungeheuren, zahlloſen Garbe von Raketen.
Wie ſoll man von dieſem veſuviſchen, ſchlachtartigen Geknall, Gepraſſel, Ge⸗
donner, von dieſen Lichtkugeln, Sonnen, Schwärmern, Schlangen, Fröſchen
und Fiſchen, von dieſen himmelanſtürmenden Raketen und endlich von der
letzten Girandola, die im Hinunterfallen einer den ganzen Erdball bedeckenden
Tränenweide von Feuer gleicht, mit Worten einen Begriff geben. Kann man
ſich doch kaum mit lautem Schreien und Rufen helfen. Unglaubliche Effekte
kamen vor vom Widerſchein im Fluſſe und großen, weißen Rauchmaſſen gegen
den dunkeln Himmel. Alles ging höchſt ordentlich und folgte ohne Störung.
Wir fuhren nachher noch einmal zum Petersplatz und ſahen die Kuppel durch
die Springbrunnen glühen. Dann ſtiegen Auguſte und ich noch die Treppe von
Trinita dei monti hinauf und ſahen ſie von oben ganz im Feuer. Sie ſcheint
in dieſer Ferne ungeheuer und ſehr ſchlank, faſt wie eine Klingel mit ihrem
Stiel und mit ihrem Unterſatz pyramidenartig, wie die Faſſade des Mai:
länders Domes. Der würde ſich auch herrlich ausnehmen.
Rom, Freitag d. 4. Mai 1821.
Vor Tiſch kam Horni und brachte ſeine Baumzweige und andre Sachen;
aus dem wird wohl nichts Eigenes, Gutes werden. Den Nachmittag kam
Keſtner, und wir unternahmen mit ihm die Beſichtigung der ſonſt unerreich⸗
baren Villa Ludoviſi, zu der Steins uns aus beſonderer Güte ihre Licenz
zurückgelaſſen. Ich halte ſie für die ſchönſte in Rom; gleich vorn ſtehn zwei
Platanusbäume von großer Pracht auf einem weiten Plateau; hinten längs
der Stadtmauer zieht ſich eine herrliche Cypreſſenallee hin und kontraſtiert gar
ſchön mit den alten Niſchen und Strebepfeilern des Honorius. Mitten durch
geht ein beſchnittener, unendlich langer, ganz tapetenartiger Cypreſſenhecken⸗
gang. — Träumeriſche ſtille Steineichengänge und dunkelglänzende Lorbeer⸗
hecken dahinter. Aber das Allerſchönſte iſt die Ausſicht von der Galerie des
Caſino; ſo ſchön ſieht man die Wellen der Campagna, den Sorakte und die
borgheſiſchen Pinien wohl nirgends. Es war aber auch der ſchönſte Abend und
die ſchönſten Baumbeleuchtungen; ich ſehnte mich lebhafter wie je nach dem
E
— U
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 399
Suſel. 91) Aber die Kunſtſachen ſind auch von köſtlicher Art und nächſt den
Vatikaniſchen vielleicht die ſchönſten Statuen in Rom. Die ſitzende Muſe mit
der Schreibtafel; der uralte Kopf mit kleinen Locken; der bronzene Mark Aurel.
Der herrliche, urgriechiſche Mars, neben welchem alle vatikaniſchen Leute zurück⸗
treten, und endlich der koloſſaliſche Junokopf mit ſeinem unſäglich ſchönen
Munde ſind wohl die erſten Perlen Roms. Sehr charakteriſtiſch und ähnlich
iſt wohl auch der bronzene Julius Cäſar. Die berühmte Gruppe der Arria und
des Pätus finde ich theatraliſch und den Oreſt und Elektra oder Papirius und
feine Mutter zwar hübſch, aber nur die weibliche Figur graziös. Wie Winkel⸗
mann aus erfterem fo viel hat machen können, verſtehe ich nicht.?2) Die Aurora,
die Fortuna und die Kette von balgenden Knaben des Guercin ſind auch Zierden
der Villa; ein greuliches Stück Arbeit iſt aber der Pluto von Bernini.)
Rom, Montag d. 7. Mai 1821.
— — Ich ſollte abends Blaccas auf einen Ball, dem ſchon Julchen und
Auguſte untreu geworden. Eben aber, als ich mich anziehen wollte, kamen
Schoppe, Senf und Thorwaldſen; da wurde dann geblieben. — Ich war den
ganzen Tag ſchwermütig und angegriffen von der römiſchen Luft geweſen;
das Lachen von heut abend machte mich wieder geſund. Horni war heut da und
brachte ſeine nicht eben meiſterlichen Studien von Kaſtanien und Ulmen und
ſein Koloſſeum, das er da ließ.
Rom, Dienstag d. 8. Mai 1821.
Im Garten Colonna die Steine fertig gezeichnet; dann das Forum ein⸗
ſchattiert. Darauf an der Ulme neben dem Kapitol. Als ich zu Hauſe gekom⸗
men, ging ichs mit Sepia über, Keſtner beſuchte uns indeſſen und tadelte ſtark
an Hornys Zeichnungen.
Ro m, Dienstag d. 15. Mai 1821.
Dann in Schoppes Studium; er malt freilich modern und nicht ſehr tief;
aber manches beſticht denn doch; beſonders eine hl. Familie, auf der das Chriſt⸗
kind ſchläft und Engel einen Mantel über die Gruppe ausbreiten.
Oſtia, Montag d. 21. Mai 1821.
Fahrt mit Otto und Schnorr nach Oſtia. Wir ſprachen in der Paulskirche
vor, die ich micht recht freute wiederzuſehen; ſahen dann die Kirchenallee tre
Fontane und langten vor der großen Hitze in Oſtia an. Schönheit des
Palazzo Vescovile von Julius II., von dem nie die Rede iſt und der alle alten
Ruinen dort weit übertrifft. Wir gingen zu Fuß zur alten, jetzt wie Gräber
21) Die Schweſter Suſanne, vermählt mit Adolf von Bülow, der 1816 ſtarb.
92) Die „Arria und Pätus“ genannte Gruppe iſt „Der Gallier und ſein Weib“, das zweite die
Gruppe des Menelaus, beide jetzt im Thermenmuſeum. — Winckelmann ſpricht über die 1. Gruppe,
deren Bezeichnung als A. und P. er ablehnt, in der „Vorläufigen Abhandlung zu den Denkmalen
„„ des Altertums“ § 179 und in der „Geſchichte der Kunſt des Altertums“, 11. Buch,
2. Kap., § 26.
u) 8 Deckenfresken Guercinos aus dem Jahre 1621. — Berninis „Raub der Proſerpina“
(1622).
an a, ER NEE SE
400 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
eines Kirchhofs verſunkenen Stadt, wo wir noch Ruinen eines Theaters und
die viereckige große Cella eines Tempels aufrecht ſahen. Dann wird man bei
Tor Bovacciana zur Isola Sagra übergeſetzt — auf der eigentlichen Tiber —
und geht dann durch Scharen von Büffeln nach Porto, jenſeits des vom Kaiſer
Claudius gegrabenen zweiten Arms der Tiber, der viel ſchneller fließt, als der
alte verſandete. Ich hätte gern noch das Meer bei Tinmicino oder die alte
Tibermündung bei Tor S. Michele geſehn, allein es ward zu fpät. Ehe wir
zurüdfamen, ward noch der Palazzo Vescovile gezeichnet. — Endlich kamen
wir bei ſehr ſchönem Wetter und zufrieden mit dem heutigen Tage wieder heim.
Rom, Donnerstag d. 24. Mai 1821.
An dem Quartett geſpielt, gezeichnet und im Zerbino geleſen. Den Mittag
waren wir in Villa Malta zu Tiſch gebeten. Otto war nach Fraſcati geritten,
hatte ſich auch neulich von der Komödie losgemacht. Den Abend nahm Titi
von uns Abſchied. Ich fing an, dies Tagebuch wieder nachzuholen und las
Julchen den „Garten der Poeſie“ vor. Reiner Ariſtokratismus des alten Reden;
Geſpräch von Thorwaldſen mit Auguſte über das Beten und ganz naives Ges
ſtändnis von ihm, er habe gar nicht nötig, den lieben Gott oft zu inkommodie⸗
ren; er ſtehe früh auf, arbeite fleißig, hätte keine böſen Gedanken und tue
nichts Unrechtes.
Rom, Sonntag d. 27. Mai 1821.
Wir waren geſtern Abend von dem großen Wilhelm, der darin wirklich für
unſer wahres Beſte geſorgt hat, eingeladen, mit ihm zu Wicar zu fahren. Der
ſchwere Sciroccotag hätte gar nicht beſſer ausgefüllt werden können, als durch
die Bekanntſchaft mit deſſen prachtvollen Sammlungen. — Wicar beſitzt herr⸗
liche, alte florentiniſche Bilder, ein paar Franceſco Francias, wenigſtens nennt
er ſie ſo —, ein Porträt von Lionardo da Vinci gemalt, auch einige altdeutſche
Sachen. Aber bei weitem fein herrlichſter Schatz iſt ein Basrelief von Michel⸗
angelo, ſo großartig und lieblich zugleich, wie er nur dichten konnte, und eine
Menge von Originalhandzeichnungen ſehr großer, alter Meiſter. Jenes, das
dritte exiſtierende in der Welt, ſtellt die Madonna mit dem Chriſtuskinde und
dem kleinen Johannes vor. Die Madonna iſt von ſeltener Schönheit. Dann
hat er auch Originalbriefe alter Meiſter; einen vom Sebastiano del Piombo,
worin er ſeinem Meiſter Michelangelo Bericht gibt über den Succeß eines
Bildes, das im Wettſtreit gegen die Transfiguration gemalt worden und das
alle gelobt hätten, bis auf die ordinarii: Rafaels Anhänger. 99) — Wir fahen
hernach noch die ſchöne Chiesa nuova und allerlei Reminiszenzen von H. Phi
lipp Neri, deſſen Feſt heut gefeiert wird. Den Nachmittag fuhren wir mit
Redens zu einem ſeltſamen Abenteuer; es ward eine geiſtliche Andachtsübung
dem hl. N Neri zu Ehren unter der Taſſos Eiche gehalten. ?5) Sie fing damit an,
% Jean Baptiſte Wicar, geb. in Lille, Schüler Davids, Hofmaler Murats, dann in Ren.
Als an geſchätzt: „Pius III. das Konkordat mit Frankreich unterzeichnend.“ —
Pius II — Murat. H. Knackfuß ſpricht von zwei Basreliefs als Jugendwerken Michelasgelse
in Sen und in Florenz. Das Londoner könnte das von B. beſchriebene fein.
) Im Garten des Kloſters Sant Onoffrio.
Schulz, Aus dem Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin 401
daß ein kleiner Marcheſe Maroſcotti eine Lobrede auf ihn hielt. — Dann
folgte ſehr ſchlechte Muſik und Sang und Klang. Es ward ſehr zerſtreut zu⸗
gehört und wenig Acht gegeben; — das werfe ich der katholiſchen Kirche haupt⸗
ſächlich vor, daß ihre Feierlichkeiten ſo ſchön ſein könnten und es ſo wenig ſind.
Ro m, Freitag d. 1. Juni 1821.
— Als ich unterwegs war, begegnete mir Schoppe, der mich freundlicher—
weiſe mit zu Palmaroli nahm, von dem er eben hergekommen war. Bonnard
hat 2 ſehr merkwürdige Bilder bei ihm ſtehen, von denen es eine Schande iſt,
daß ſie Rom verlaſſen; eine angefangene hl. Familie von Michelangelo, in
Tempera, aus ſeiner früheſten Zeit, mit untermalten grünen Figuren, und ich
glaube ſie gewiß von ihm, und auch Riepenhauſens ſind der Meinung. Mir
-: wäre fie lieber als die in Florenz in der Tribuna. Das andere, ein Profilkopf
- einer Colonna, von Sebaſtiano del Piombo, ihrem Liebhaber, ganz prachtvoll
gemalt; dann ſtand noch ein Andrea del Sarto und ein ſchöner Bordone da.
Hernach gingen wir noch zu Granet, deſſen hohe Preiſe mich in Erſtaunen ſetzten,
- und zum Palaſt Albani. Der Perugino iſt doch ſehr übermalt; die Handzeich⸗
*
„ nungen vom Ginlio Romano aber unvergleichlich. 96)
an & Me
am.
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1%
Den 19.
Den Nachmittag mit Augufte und Henriette Redens Dahl beſucht, deſſen
kleine Skizzen vortrefflich ſind. Bild von Villa Malta aus ſeinem Fenſter.
Den 20.
Das Bild von Villa Malta will mir Dahl nicht laſſen; ungenierter Tadel
über Eggers Bild von allen Ecken und Enden.
Sonntag, d. 24. Juni 1821, Albano.
Mit Stackelberg zur Infiorata nach Albano gefahren. Sehr hübſche Beſchrei⸗
bungen aus Griechenland. Allerliebſter Weg nach Tiſch nach Genzano. Das
Streuen der Blumen fing eben an, als wir kamen; es iſt ſehr hübſch und wirk⸗
lich nur bei ſo guten Leuten möglich. Und welcher Fleiß und welche Liebe für
zwei Stunden. Zwei Straßen gehen breit und gerade wie ein lateiniſches V den
Berg hinauf und ſind in der Mitte ganz bedeckt von dem ſchönen, farbigen
Blumenteppich, der ſich in viele Felder abteilt. — — Wie zauberiſch iſt das
Heraustreten der Prozeſſion mit den weißen und ſchwarzen Prieſtern und
ſchönen Kerzen; — ich finde das Corpus Domini in Rom gar nicht damit zu
vergleichen.
Albano, d. 25. Juni, Montag.
Morgenbeſuch im Bosco Doria; dann fuhren wir nach Ariccia zum wunder:
vollen Park Chigi und über die allerliebſte Villa Poniatowski wieder heim.
o) Palmaroli als italieniſcher Reſtaurator genannt. — Der erwähnte Michelangelo konnte nicht
identifiziert werden. — Bonard, Landſchaftsmaler aus Paris, malte italieniſche Landſchaften mit
Nuinen. Paris Bordone, geſt. 1571, Schüler Tizians. — Der Perugino iſt die für den ſpäteren
Papft Julius II. ausgeführte hlg. Familie mit Engeln und anbetenden Heiligen aus dem Jahre 1491.
@upborion XXVIII. 26
402 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Blick auf den Albanerſee. Geſpräch bei Tiſch über die gemalten Statuen der
Alten. — Hernach ritten wir auf Eſeln zum Emiſſär und Nymphäum und ſahen
die Sonne untergehen in Villa Barberini. Es liegt ein großer Zauber in der
Vegetation am See und in den großen Feigenbäumen dicht am Waſſer.
Freitag d. 29. Juni, Petersfeſt.
Ich ging heut früh in großer Hitze hinaus, um den geputzten heiligen Petrus
und ſeine Krone und Mantel zu ſehen und welcher Götzendienſt mit ihm ge⸗
trieben wird. Darauf um 10 in Julchens Zimmer die 2. Probe, die ſchon
weniger ſchlecht ging. Meine Hofratsrolle iſt mir gar zu ſchwülſtig und quäſig,
und ich weiß keinen ſtärkeren Freundſchaftsbeweis zu geben, als indem ich ſolches
Zeug auswendig lerne. Abends fuhren Otto und ich mit den beiden Fräulein
zur Kuppelerleuchtung, die vom göttlichſten Wetter begünſtigt ward, und ſahen
dann die Girandola in dem dazu herrlich gelegenen Haufe des Singlehrers Gio⸗
vannini; man ſieht zugleich die Engelsburg und die Kirche. — Beſonders poe⸗
tiſch find die weißen Leuchtkugeln, die oben in der Luft ſich wie eine Garbe aus⸗
ſtreuen.
Rom, Sonnabend d. 30. Juni 1821.
Infiorata auf Redens Turm, mit welcher Henriettens heutiger Geburtstag
celebriert ward. — — Stackelberg und ich hatten auch noch an unſern zwei
Klavierſachen, deren Aufführung wir erſt geſtern beſchloſſen, genug zu probieren.
Nachmittags ließ ich mich in Schoppes Zimmer als miſanthropen Hageſtolz melan⸗
choliſch anmalen und pudern und zog mich bei ihm an. Alle waren gut koſtü⸗
miert, Julchen ganz vortrefflich. Nachher lief alles recht gut ab, obgleich Stackel⸗
berg und ich beim Klavierſpielen uns einander nicht hören konnten. Im
Ahasverus ſpielten wir alle gut, und es fehlte daran nichts, als daß mein
Bart nicht ordentlich ſaß. Veit war zu meiner Freude nicht da. Nachher unter⸗
hielt mich Bunſen mit den ägyptiſchen ungeheuren Tempelentdeckungen von Gau
und dem geiſtreichen Büchlein des Principe di Canossa in Neapel. Otto hat
ſein Oſterienbild von Stein bekommen. Die eigentliche Gruppe darin iſt vor⸗
trefflich.““)
Samstag d. 1. Juli 1821.
Beſuch von Rohden hier bei uns; wir gingen darauf alle zu ihm und beſahen
die herrlichen Sachen in ſeiner Mappe. Dann kam die gute Henriette, mit der
wir nachmittags einen hübſchen Beſuch bei Overbeck machten. Ich finde die Frau
ſehr angenehm und ſeine Bilder und Zeichnungen jedesmal ſchöner. Das iſt
97) Geſpielt wurden ein Vorſpiel von Keſtner, Szenen aus Ifflands „Hageſtolzen“ — Wolf B.
als Hofrat Reinhold —, und Goethes „Spiel von Ahasverus und der Eſther“ (aus dem „Jahr ·
marktsfeſt von Plundersweiler“) — Wolf B. als Mardochai. An dem letzten hatten einige Phil.
Veits wegen Anſtoß genommen. — Franz Chriſtian Gau, geb. 1790 in Köln, geſt. 1853 in Paris.
Maler und Architekt; kam 1814 nach Italien, verkehrte in Rom mit Cornelius, Veit und Overbeck.
Von Miebuhr empfohlen begleitete er 1818 einen Baron von Sack nach Agypten; kehrte 1819 nach
Nom zurück.
Petzet, Briefe Fontanes an Heyfe 403
lautere reine Milch des Chriſtentums.“ ) Den Abend ging ich mit Schoppe und
Otto ins Mauſoleum des Auguſt, wo das erſte der Sommerfocchetti gegeben
ward; dies macht ſich ſehr ſchön, und ... bricht ab.]
8.
Die Anfänge des Briefwechſels zwiſchen Theodor Fontane
und Paul Heyſe.
Mitgeteilt von Erich Petzet in München.
Als Paul Heyſe im Jahre 1854 dem Rufe des Königs Maximilian II. folgend von Ber⸗
lin nach München überſiedelte, war unter den Dichterfreunden aus dem Tunnel über der
Spree Theodor Fontane der einzige, mit dem ſich ſofort ein herzlicher und bis ans Lebensende
fortdauernder Briefwechſel entwickelte. Die Handſchriften dieſer Briefe find mit geringen
Lücken erhalten und befinden ſich jetzt nach gegenſeitigem Austauſch der Beſitzer in dem Theodor
Fontane⸗Archiv des Verlagsbuchhändlers Herrn Friedrich Fontane in Neu⸗Ruppin und in
dem Paul Heyſe⸗Archiv von Frau Anna von Heyſe in München. Im Einvernehmen mit
dieſen verfügungs berechtigten Erben wird eine Buchausgabe des Briefwechſels von 1854
bis 1897 durch den Unterzeichneten vorbereitet. Hier aber dürfen die früheſten Zeugniſſe
der Freundſchaft der beiden Dichter mitgeteilt werden, die der endgültigen Trennung ihres
Wohnortes vorangingen.
Es ſind in der Hauptſache Briefe Fontanes, die bei der bekannten widerſpruchsvollen
Eigenart dieſes ganz ſeinen augenblicklichen Eindrücken und Stimmungen hingegebenen Brief⸗
plauderers manchen neuen und berichtigenden Zug zu den bisher veröffentlichten Freundes⸗
briefen aus den Jahren 1850 — 1853 beibringen. In dieſen aber, die in der II. Sammlung
der Briefe Fontanes Bd. I, S. 11 — 100 von Otto Pniower und Paul Schlenther mit knap⸗
pen ſachlichen Erläuterungen herausgegeben vorliegen, ſind ohne weiteres alle zum Verſtänd⸗
nis der Briefe an Heyſe etwa noch wünſchenswerten Nachweiſe zu finden. Neu aber iſt, daß
Fontane ſchon im Jahre 1850 bei der Verlegerſuche ſich, ähnlich wie Storm und fpäter noch
viele andere, entſchloß das geſchätzte Fürwort des um 11 Jahre jüngeren Heyſe in Anſpruch
zu nehmen. Uberhaupt beleuchten die Briefe in charakteriſtiſcher Weiſe nicht nur Fontanes mit
überlegenem Humor getragene Nöte beim Beginn ſeiner Schriftſtellerlaufbahn, ſondern auch
die ungewöhnlich glückbegünſtigten Anfänge des jungen Heyſe und führen ſo die gelegentlichen
kleinen Bosheiten Fontanes über Heyſe anderen gegenüber aus jener Zeit, indem ſie ſie menſch⸗
lich verſtändlich machen, auf das ihnen wirklich innewohnende Maß zurück.
1.
Berlin den 21 Juni 50.
Freitag.
Lieber Paolo Malateſta.
Beifolgend die Sachen. Sie werden Manches darunter finden, was nicht
24 karäthig iſt, was ohngefähr auf der Spruch⸗Höhe ſteht, doch müſſen Sie be⸗
denken, ſechs ſchlechte Gedichte auf ein gutes, iſt immer noch ein günſtiges
Verhältnis.
98) Über Overbecks Frau, Eliſabeth Härtel aus Wien, „Signora Nina“, ſ. die etwas boshafte
won der Seidler S. 130 f. Sehr viel ſympathiſcher äußert ſich Schnorr über die „Zürftin”
(ſ. S. 78).
404 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Daß Cotta die Sachen zurückgewieſen hat, wäre wohl gut zu verſchweigen;
andererſeits dürfte hervorzuheben ſein, daß mehr denn ein Dutzend dieſer
meiner Gedichte in dem bekanntlich ſehr wähleriſchen Morgenblatte bereits
einen Platz gefunden hätte. Vielleicht können Sie auch einfließen laſſen, daß
ſich Herr Schwab in der Vorrede ſeiner „Muſterſammlung“ ſehr anerkennend
über meine Fabrikationen geäußert habe. — Nun, Sie werden fhon machen;
ich habe vollkommenes Fiducit zu Ihrer Beredtſamkeit.
„Den Ball in Paris“ hab ich heut früh noch abgeſchrieben und pack' ihn als
ein Hauptparadepferd bei. Wenn Sie 's reiten, fo ſchonen Sie nicht den Pathos⸗
Sporn, damit an ein Erlahmen gar nicht zu denken iſt. Wo der Renner nicht
ausreicht, muß der Sporn nachhelfen.
Noch eins: Vielleicht können Sie Dunckern, wenn er ſchwanken ſollte, da⸗
durch ködern, daß — im Fall er die Sachen nähme, — noch eine Rubrik unter
dem Titel: „Vaterländiſches“ hinzukommen würde. Die betreffenden Reſerven
würden den „Männern und Helden“ ähnlich ſehen, wie ein Ei dem andern, und
würden „Stein“ „Hardenberg“ „Scharnhorſt“ „Gneiſenau“ und ähnliche nicht
zu verachtende Kaffern darunter auftauchen. Und nun mit Gott an's Werk.
Leben Sie wohl!
Ihr
Th. Fontane.
Die Anrede erklärt ſich aus dem Namen des Helden von Paul Heyſes eben damals erſchienenem
Trauerſpiel „Franceska von Rimini“. — Guſtav Schwabs „Muſterſammlung zum Gebrauch in
Schulen“ war 1848 in J. verm. Aufl. erſchienen unter dem Titel: „Fünf Bücher deutſcher Lieder und
Gedichte. Von Albrecht von Haller bis auf die neueſte Zeit.“ — Bei Alexander Duncker war
Ende 1849 Heyſes Erſtlingswerk „Jungbrunnen. Märchen eines fahrenden Schülers“ ohne
Namensnennung erſchienen. — Th. Fontane hatte feine acht Preußenlieder „Männer und Helden“
als ſelbſtändiges Heft, Berlin 1850, erſcheinen laſſen, und ſtarken Eindruck damit gemacht.
2.
Altona d. 2ten Aug. 50.
Lieber Friedrich Eggers
auch
dto. Paul Heyſe.
Wenige Zeilen auch an Euch.
Vielleicht habt ihr von ohngefähr ſchon erfahren, daß ich mit meinem Mobi⸗
liarvermögen von 4 Hemden, 3 Paar Strümpfen, 1 Hutſchachtel und einem
gepumpten Koffer, mich 4 Wochen lang hier aufhalten werde. Der eigentliche
Grund iſt — Uebereilung — was aber nur als vertrauliche Mittheilung zu
betrachten iſt. Und wenn ich vor Langerweile ſterbe, ich will hier aushalten,
ich will meine 4 Thaler Miethe abſitzen. Fiat Beharrlichkeit (ich bin außer
Stande aus pertinax ein richtiges Hauptwort zu bilden) pereat Fontane.
Uebrigens iſt hier viel Schönes, und wenn ich meine 5 Wochen nur erſt abge⸗
brummt und in der Rückerinnerung das 35tägige Vergnügen auf einen Tag
verdichtet habe, ſo wird es doch eine recht liebe Erinnerung ſein. Gott leih
mir Kraft!
Petzet, Briefe Fontanes an Heyfe 405
Umgang hab ich nicht; ich ſpreche gar nicht, höre aber ſehr viel — nämlich
Ausrufer. Um 7 Uhr morgens fängt es an, und dauert gerade ſo lange
wie ich arbeiten will. „Milch, Kirſchen, Bickbeeren“, dieſe hohe Dreiheit wird
mich bald vielleicht auf dem Gewiſſen haben; nehmt dann in den „Sonetten“,
die Ihr als meine Nachrufer pflichtſchuldigſt loslaſſen werdet, auf jene Ausrufer
ſoviel wie möglichſt Bezug.
Ich habe Lepeln eingeladen mich zu befuchen: „getheiltes Leid, iſt halbes
Leid“. Vielleicht läßt ſich auch Einer von Euch verführen. Die Koſten n
mäßig, das Vergnügen — ſehr groß.
Ich arbeite jetzt (für die Herausgabe meiner Sachen) ziemlich fleißig; ſo—
bald ich damit am Rande bin, beginnt das eigentliche Reiſen, zunächſt nach
Kiel u. ſ. w.
Empfehlt mich der Familie Kugler (Paul Heyſe auch ſeiner Mutter, Eggers,
damit er nicht zu kurz kommt, kann den alten Schottländer von mir grüßen)
und laßt mal von Euch hören. Meine Ruheſtätte iſt „Altona, kleine Mühlen⸗
ſtraße 34. p. adr. an Dr. Thormaehlen.“
Adieu! mit Heimweh und leider auch Zahnſchmerzen Euer
Th. Fontane.
pertinax: Anſpielung auf Franz Kuglers im Tunnel vorgeleſenes Trauerſpiel „Kaiſer Pertinax“.
3.
Berlin d. Sten Decemb. 52.
Mein lieber Paolo.
Deine Braut hat mir dieſe Zeilen geſtattet. Sollte Dir dadurch ihrerſeits
auch nur eine einzige Exclamation wie: „mein ſüßer Paul!“ oder ſonſt der⸗
gleichen abgezogen werden, ſo würd' ich untröſtlich und von Dir, vermutlich für
immer zu den Todten geworfen ſein.
Da ich Dich nicht mit Fragen beſtürmen will, die wahrſcheinlich bis zum
jüngſten Gericht auf Antwort zu warten hätten, ſo laß Dir lieber von hier und
in specie von dem „Unterfertigten“ erzählen. Seit 2 Monat bin ich von
England zurück, noch nicht lange genug um ſchon vollſtändigſt wieder um die
Wirkung jener Douche gebracht zu ſein, womit London meine rückenmarks⸗
kranken Lebensgeiſter übergoß. Wie lang es noch vorhält, ſteht freilich dahin.
Außer dieſem Segen hab ich nicht viel profitirt. Nicht mal famoſe „Londoner
Briefe“ hab ich an Mann bringen können. Unter den Refüſirenden befand ſich
auch Dein Freund Hertz, dem Du glaub ich einen unausrottbaren Glauben an
meine Mittelmäßigkeit beigebracht haſt. Schad't übrigens nichts. Meine Reiſe,
um das neue Bild zu gebrauchen, liegt wie ein Traum hinter mir, weil es näm⸗
lich keinem Menſchen einfällt mit mir darüber zu ſprechen und ich doch unmög-
lich verfahren kann, wie jener berühmte Anekdotenerzähler: „hörten Sie den
Schuß?“ nein! „ja, ſehen Sie bei dem Schuß fällt mir ein“ u. ſ. w.
Unter den Freunden hier bin ich wohl der, der am meiſten an Dich denkt
(ſchon weil ich der faulſte bin und immer Zeit übrig habe) und am aufrichtigſten
406 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Dich lobt. Lepel erkennt Dich noch mehr an, aber — da ich kein milderes Wort
finden kann — er beneidet Dich auch mehr. Mein Lob iſt nicht nur ruhiger, es
läßt mich auch ruhiger.
Bei Eggers (der nothwendig verheiratet werden muß: ich denke
dabei immer an den aufgeſchnallten Mazeppa) verſammelt ſich jetzt allwöchent⸗
lich ein gemüthlicher Kreis: dichtert, rhetort, muſicirt, philoſophirt und —
frißt. Als Stern erſter Größe glänzt der kleine Otto Roquette, wiewohl er mit
Berückſichtigung ſeines 8. Auflageſchweifes mehr zu den Kometen zählt. Ich
hab' ihn ſehr gern, denn er iſt ein gutes, harmloſes und in Erwägung von
8 Auflagen äußerſt beſcheidenes Menſchenkind. Es fehlt ihm nur eins: Potenz.
Ich habe mal was vom kaſtaliſchen Quell gehört, weiß aber wahrhaftig nicht
recht genau wie es damit zuſammenhängt. Ich glaube, daß Roquette davon
getrunken, aber in Sommerszeit, wenn er nur noch „drippelt“ und lauwarm
iſt wie Spülwaſſer. Das Sprichwort „Glück muß der junge Menſch haben“
ſcheint eigens für Ottochen erfunden. Weiter reicht das Papier nicht. Leb wohl,
empfiehl mich Ribbeck und bewahre in Deinem vielfach in Anſpruch genomme⸗
nen Herzen ein Pünktchen woran ſich Bild und Name anheften läßt
Deines Th. Fontane.
Der dritte Brief iſt wie der vierte nach Rom gerichtet, wo Heyſe 1852/53 mit Otto Nibbed
zuſammen weilte. — Fontanes Feuilletons, „Ein Sommer im London“, ſind 1854 in Deſſau bei
Gebr. Katz erſchienen. Heyſes Verleger und Freund aber, Wilhelm Hertz in Berlin, wurde erfi
ſpäter, nachdem er 1860 auf Heyſes dringendes Fürwort zuerſt die „Balladen“ von Theodor Fontane
herausgebracht hatte, für lange Zeit auch der Hauptverleger und ein treuer Freund und Verehrer
Fontanes. — Die Eigentümlichkeiten von Friedrich Eggers hat ſpäter Adolf Wilbrandt in freier
Ausgeſtaltung in feiner Novelle „Fridolins heimliche Ehe“ humoriſtiſch dargeſtellt. — Der Freundes
kreis bei Eggers, der ſich die Ellora nannte, beſtand aus den Mitgliedern: Friedrich Eggers,
Otto Roquette, Fontane, Luc, Zöllner und Wilh. Lübke. Vgl. Otto Roquette, 70 Jahre. Ge-
ſchichte meines Lebens (1894, Bd. II, S. 10 ff.).
4.
Berlin den 18. März 53.
(Vorweg die Verſicherung: „Berlin iſt ruhig!“)
Mein lieber Paul.
Im Hannoverſchen exiſtirt ein Sprichwort das lautet: wer beharrlich dem
Glücksrade nachläuft, findet doch mal ne Nabe. Demzufolge hab' ich es zum
Redacteur gebracht und zwar zum Herausgeber eines „Belletriſtiſchen Jahr⸗
buchs“, das anderweitig noch nicht getauft iſt, den Familienrath aber (aus
6 Vätern beſtehend) auch in Bezug auf einen hübſchen, chriſtlichen Namen Tag
um Tag beſchäftigt. Wenn ich nicht ſehr irre, hat Dir Schwiegerpapa Kugler
bereits das Weſentliche mitgeteilt; indeſſen könnten die inzwiſchen abgeſchloſſe⸗
nen Verhandlungen theilweiſe doch einen andern Ausgang genommen haben
als wir anfänglich erwarteten, ſo daß Du mir erlauben mußt auf das Unter⸗
nehmen noch mal zurückzukommen. Die Rütli⸗Verſammlungen — eine Schöp:
fung unſeres Eggers, der nach wie vor ſich mit Vereinegründen beſchäftigt —
führten alsbald den Wunſch nach einem Organ herbei und wir machten
Petzet, Briefe Fontanes an Heyſe 407
Verſuche eine Vierteljahrsſchrift oder dem Ähnliches zu Stande zu bringen. Auf:
ſätze und Kritiken, zumeiſt über Dinge, die unſer Beiſammenſein verhandelte,
ſollten den Hauptinhalt bilden. Die Sache ſcheiterte, weil ſich kein unter⸗
nehmungsluſtiger Buchhändler fand. Beiläufig bemerkt haben wir bei der Ge⸗
legenheit mal wieder recht erkannt, daß Berlin der eigentliche Sitz des Buch⸗
händler⸗Philiſteriums iſt. Endlich erklärten Gebrüder Katz in Deſſau, ſie wollten
um der berühmten Namen willen auf das Unternehmen eingehn, wenn wir uns
entſchlöſſen demſelben die Form eines novellengeſpickten Jahrbuchs zu geben.
Wir biſſen an und haben nun die Verpflichtung übernommen bis ſpäteſtens
Ende Juni 20 Bogen Manuffript zu liefern. Das Manuffript wird durch mich
zuſammengetrommelt (daher Redacteur) und ſoll beſtehn aus 10 Bogen in No⸗
vellen, 5 Bogen Verſe und ebenſoviel Aufſatz, Abhandlung, Kritik u. dgl. m.
Für die beiden letzten Kategorien iſt geſorgt, womit nicht geſagt ſein ſoll, daß
nicht auch nach der Seite hin Beiträge von einem gewiſſen Paul Heyſe will⸗
kommen ſein würden, — um was wir Dich aber beſchwören, das iſt eine Novelle,
eine Erzählung, eine Schilderung römiſchen Lebens (nicht in einer Reihenfolge
von Briefen, ſondern mehr in einem abgerundeten Aufſatz) und hab' ich Auf⸗
trag Dir im Voraus den Rütli⸗Dank für jede, auch die kleinſte Deiner Zuſen⸗
dungen auszuſprechen. Das Beſte wird fein (denn ich zweifle faſt, daß Du Dich
unſertwegen beſonders incommodiren wirſt) Du ſchickſt an Kugler eben ein,
was Du haſt und überläßt ſeinem Geſchmack und Urtheil, zu denen Du ja Ver⸗
trauen haſt, die Auswahl. Die Geſellſchaft, in der Du Dich befinden würdeſt,
iſt folgende: Kugler, Merckel, Borman, Lepel, Eggers, Storm (wie ich hoffe),
Goldammer (vielleicht) und meine Wenigkeit. An Stoff iſt da: ein halb Dutzend
guter Balladen (namentlich eine lange und ſchöne „Thomas Cranmers Tod“
von Lepel), „Cornelius“ eine Biographie von Eggers,, der letzte Cenſor“ eine
ächt merckelſche Erzählung von Merckel, „die Shakeſpeare⸗Bühne“ von Kugler,
altengliſche Balladen mit einem längeren Vorwort von Fontane und noch
einiges andre, fo daß dem Raume nach für die gute Hälfte geforgt iſt. Über-
haupt, es wird ſich ſchon machen und nur die „Novelle“ macht uns noch Sorge; —
nimm Du dieſe von uns! Honorar 16 Rth. per Bogen, ſetz uns in den Stand,
Dir einen 50 Thalerſchein wohlverpackt überſenden zu können. Ablieferungs⸗
termin ſpäteſtens die letzten Tage des Juni.
Was ſchreib' ich Dir ſonſt noch? Familienbriefe erhältſt Du in Menge, es
bleibt alſo nur noch der Freundeskreis. Eggers, der Vereinegründer, iſt munter
und liebenswürdig; man ſagt, eine Profeſſur hinge drohend über ſeinem
Haupte, oder umgekehrt. Roquette, der Sänger, hat ſein Saitenſpiel und ſeinen
Reiſeſack zur Hand genommen und iſt gen Meißen gezogen, in das Land des
Weins und ſeiner Liebe. Er hat ein saktiges Luſtſpiel geſchrieben, das von der
Kumpanei ſehr gelobt wird, Deſſoir indeß (ich glaube mit Unrecht) zuckte die
Achſeln. Beiläufig bemerkt kannte letztrer den 10 Auflage⸗Mann nicht mal dem
Namen nach. Und für ſolchen Ruhm und für ſolche Popularität quält ſich das
Herz des deutſchen Jünglings! Lepel geht im Vorleſer auf, andere ſagen —
unter. Deine „Brüder“ hat er neulich vortrefflich geleſen; dies Dein Gedicht
408 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
22 —. . —.—.—.—ñ m Ju
muß übrigens öfter herhalten, ſelbſt Schramm reitet unbarmherzig drauf rum.
— Ich könnte ſo noch fortfahren, doch ich weiß aus meinem Aufenthalt in
London her, daß ſolche heimatlichen Notizen — wenn man was Großes vor
Augen und Seele hat — einen jämmerlichen Eindruck auf uns machen, — ich
brech drum lieber ab. Leb mir wohl, geh es Dir nach Wunſch und hab in Deiner
Erinnerung ein Plätzchen für
Deinen
Th. Fontane.
Das belletriſtiſche Jahrbuch erhielt den Titel „Argo“ und erſchien, hrsg. von Th. Fontane und
Franz Kugler, 1854 bei Gebr. Katz in Deffau, ſpäter 1857 — 1860 von Eggers, Kugler und anderen
Mitgliedern des Rütli fortgeführt, bei Trewendt in Breslau. Der Inhalt des Jahrgangs 1854
entſpricht im weſentlichen den Angaben in Fontanes Brief, auch Storm und Goldammer fehlen
nicht; doch gab Merckel ſtatt des „letzten Cenſors“ den „Frack des Herrn von Chergal [Anagramm
von: Gerlach!“. Heyſes „La Rabbiata“ eröffnete den Band, feine „Lieder aus Sorrent“ be
ſchloſſen den dichteriſchen Teil. — Otto Roquette berichtet über fein Luſtſpiel „Das Reich der
Träume“ in ſeiner Lebensgeſchichte. Bd. II, S. 27 ff.
Liebſter Theodor!
[Dürkheim Sept. 1853.
La Rabbiata! — willſt Du fie an Hertz beſorgen? Sie wird in kürzeſtem
dort nötig ſein.
Ich bin auf der Schwelle von hier. Wenn ich po rt bin, darfſt Du mich nicht
ganz vernachläſſigen. Lieber Menſch, grüße Deine Frau von uns, behaltet
uns lieb.
Paul.
Bei Wilhelm Hertz ſollte die erſte Sonderausgabe der Novelle „La Rabbiata“ wie vorher der
Versnovelle „Die Brüder“ erſcheinen. — In Dürkheim in der Rheinpfalz war Paul Heyſe auf
ſeiner Rückreiſe von Italien mit Kuglers zuſammengetroffen und kehrte mit ihnen im Oktober 1853
nach Berlin zurück.
9.
Ein unbekannter Brief Gutzkows.
Mitgeteilt von Alfred Schneider in Breslau.
Der nachſtehende Brief Karl Gutzkows führt zurück in die Gründungszeit der „Deutſchen
Schiller⸗Stiftung', jener ſeit ſiebzig Jahren beſtehenden Schöpfung, die den Zweck hat,
„deutſche Schriftſteller und Schriftſtellerinnen, welche für die Nationalliteratur verdienſtlich
gewirkt, dadurch zu ehren, daß ſie ihnen oder ihren nächſt angehörigen Hinterlaſſenen in
Fällen über ſie verhängter ſchwerer Lebensſorge Hilfe und Beiſtand darbietet“. Gutzkows
Anteil an dieſem Werk läßt ſich bis ins Einzelne verfolgen an der ausführlichen Dar⸗
ſtellung, die Goehler ') dieſem Gegenſtand gewidmet hat; feiner Arbeit find auch die folgenden
Angaben entnommen, die zum Verſtändnis des vorliegenden Briefes dienen.
Des Dichters Name iſt mit der Schiller⸗Stiftung eng verbunden. Seit ihren Anfängen
im Jahr 1855 gehörte er ihrem Vorſtand an und von 1861 — 1864 war er ihr erſter
1) Rudolf Goehler, Die deutſche Schiller⸗Stiftung 1859 — 1909. Eine Jubilaumsſchrift.
Berlin 1909. 2 Bde.
Schneider, Ein unbekannter Brief Gutzkows 409
Generalſekretär. Von dem Gründungsort Dresden aus wurden, beſonders auch auf Gutz⸗
kows Betreiben, Zweigſtiftungen in anderen Städten errichtet. In Breslau wirkte hierfür
Rudolf Gottſchall und im Herbſt 1859 trat der dortige Filialverein ins Leben. In der
konſtituierenden Verſammlung, die in Dresden vom 8. — 10. Oktober 1859 ſtattfand, waren
auf Einladung auch die Filialvorſtände erſchienen, darunter als Vertreter Breslaus der
Univerfitätsprofeflor Friedrich Haaſſe. Nach Annahme der Satzungen wurde Weimar
zum Vorort für die nächſten fünf Jahre beſtimmt; zum Vorſitzenden wählte man Franz
Dingelſtedt. — Inzwiſchen hatte ein anderer Mitbegründer der Schiller⸗Stiftung, der
Major Joh. Friedrich Anton Serre auf Maren bei Dresden, feine glückliche Idee einer
allgemeinen deutſchen Nationallotterie zum Beſten der Stiftung verwirklicht. Der Chef der
Königl. Sächſiſchen Regierung, Staatsminiſter Frhr. v. Beuſt, übernahm bei den anderen
Regierungen Deutſchlands die Verantwortung für dieſe Lotterie, deren Ziehung am Schiller⸗
tage 1860 zu Dresden ſtattfand. Bald drohten hier gewiſſe Differenzen, da der Hauptverein
der Nationallotterie über die erzielten Einnahmen frei verfügen zu wollen ſchien, während der
Verwaltungsrat der Schiller⸗Stiftung die alsbaldige Ablieferung des ſo erzielten Kapital⸗
vermögens anſtrebte.
Nach Ablauf des erſten Verwaltungsjahres erkannte Dingelſtedt, daß ein literaturkundiger
Beirat für die laufenden Geſchäfte notwendig wurde. So beantragte er im Frühjahr 1861,
vom 1. Juli an „mit einem Jahresgehalt von 500 Thalern einen Generalſekretär ohne
Stimmrecht im Verwaltungsrat anzuſtellen“. Hierfür ſchlug er Gutzkow vor; denn dieſer
beſäße, wie kaum ein zweiter in Deutſchland, „genaueſte Kenntnis aller Perſonalien in der
zeitgenöſſiſchen Literatur, dabei ein warmes Herz, ſo für die Ehre wie für die Leiden des
Schriftſtellerſtandes, in formaler Beziehung endlich eine Stilgewandheit, ja Stilgewalt,
die über jedem Zweifel, faſt über jedem Lobe ſteht“. — Am 11. Juni erfuhr Gutzkow, daß
ihn der Verwaltungsrat einſtimmig zum Generalſekretär gewählt hatte, und er erklärte ſich
zwei Tage darauf zur Annahme des Amtes bereit. Aber noch ſtand das Votum der 21 Zweig⸗
ſtellen aus; nur 11 beantworteten die an fie gerichtete Umfrage, davon 9 ohne weiteres zu⸗
ſtimmend. Auch von Breslau war noch kein Beſcheid eingetroffen. So ſchrieb denn Gutz⸗
kow an den dortigen Vertreter, Profeſſor Haaſe, den er bei der Gründungsverſammlung im
Oktober 1859 zu Dresden perſönlich kennengelernt hatte, am 27. Juli 1861 den hier
folgenden Brief 2), der mit ſeinem leidenſchaftlichen Kampf gegen vermeintliche Wider⸗
ſtände für des Dichters Weſen äußerſt bezeichnend iſt.
Hochgeehrter Herr Profeſſor!
Ich kann nicht umhin, in der mich betreffenden Angelegenheit der Schiller⸗
ſtiftung an Sie zu ſchreiben mit Vorausſetzung, daß Ihr Breslauer Votum noch
nicht erfolgt iſt.
Anfangs glaubt' ich, das Vertrauen auf den Verwaltungsrath würde den
Ausſchlag geben und die Zuſtimmung zu meiner Ueberſiedlung und möglichſt
energiſcheren Führung der anwachſenden Geſchäfte ſo theilnehmend erfolgen,
wie Wien, Hamburg, München zugeſtimmt haben. Jetzt ſeh' ich, daß theils
meine literariſche Gegnerſchaft dem Plane opponirt, theils Serre, der ſchon jetzt
anfängt, auf Grund feines Lotteriegewinnes der Sch. iller⸗Stiftung] Geſetze
vorſchreiben zu wollen.
Durch mein Verzichten auf den Gehalt einer, wenn man nicht eigenſinnig und
unbillig gegen den Vorort verfahren will, nothwendig gewordenen Sekretärs⸗
ſtelle, glaubte ich den Misdeutungen vorgebeugt zu haben. Aber die Zeitungen
2) Dieſer Brief, der dem Nachlaß des im Jahre 1867 verſtorbenen Profeſſors Haaſe entſtammt,
iſt mir von ſeinen Töchtern zur Veröffentlichung überlaſſen worden.
410 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
ignorirten leider meinen Verzicht, viele auch deshalb, weil manche Kreiſe ſich
freuten, die Sch. iller⸗ Stiftung] immer thatkräftiger in die Schickſale deutſcher
Schriftſteller eingreifen zu ſehen; ſie hielten dies „Generalſekretariat“ für eine
cachirte, anſtändige Förderung eines Schriftſtellers, von dem man wol weiß,
daß ihm Fürſtenbeiſtand nie zu Theil wird und wenn die Schillerſtiftung
recht wirken will, ſoll fie die Autoren unterſtützen, ehe ſie zuſammenbrechen.
Serre's Oppoſition, deren literariſche Vertreter wahrſcheinlich demnächſt in
Leipzig die H. Hleinrich! Wuttke“) und Marggraf“) fein werden, hängt mit den
Gefahren zuſammen, in!vie dieſer Mann den ganzen gegenwärtigen Beſtand der
Sch. iller⸗Stiftung] bringen will. Wir haben zwei Klippen zu vermeiden, eine,
daß die Schillerſtiftung dem Großherzog von W. gebunden überliefert wird,
(daran würd' ich nimmer mehr mitarbeiten), die andere, daß Serre, durch
Zurückhaltung ſeines Lotteriegewinnes, Einfprüche von Beuſt, Nichtanerken⸗
nung unſrer Verfaſſung (die er freilich ſelbſt unterſchrieben hat), die Sch. iller⸗
Stiftung] unter die Controle des Sächſ. Cultusminiſteriums ſtellt. Es handelt
ſich um den Sitz Dresden oder Weimar. War ich auch vor zwei Jahren für
Dresden, fo iſt doch jetzt Weimar als noch Zjahriger Vorort Ausdruck der zu
Recht beſtehenden und Serre gegenüber als unerſchütterlich zu behauptenden
Verfaſſung. Indem er den Filialen, wie ich höre, meine Ueberſiedelung wider⸗
räth, will er die Zunahme des Schwerpunktes, die Verſtärkung des geſetzlichen
Centrums hintertreiben. Wer da glaubt, ich würde mich in Weimar durch Hof⸗
gunſt verleiten laſſen, der Sch. [iller⸗Stiftung] ihren freien nationalen Charakter
nehmen zu helfen, kennt meinen Charakter nicht. Meine Ehre verlangt jetzt, daß
ich die einmal in die Blätter gekommene Nachricht wahr mache und nach Weimar
gehe; geh' ich nicht in der Eigenſchaft, die mir Dingelſtedt, Voigt, Förſter,
Fiſcher, Braunfels und Zabel ) einſtimmig angeboten haben (wohl wiſſend,
daß am Vorort die Fortfetzung meiner nunmehr 6jährigen Thätigkeit den Ge⸗
ſchäftsgang fördern wird), ſo komm' ich vielleicht ganz aus der Schillerſtiftung
heraus und muß die ſich durchkreuzenden Intriguen, die binnen einem Jahr,
(wenn Serre endlich zahlen ſoll) zu einem Eclat kommen werden, immer weiter
gehen ſehen, ohne dabei noch helfen zu können, unfrer guten Sache die Ober:
hand zu erhalten.
Wer jetzt der Schillerſtiftung gegen Serre dienen will, anerkennt die Be—
ſchlüſſe des Verwaltungsraths und genehmigt ſeine Vorſchläge, die aus der
ernſteſten und das Ganze wahrenden Berechnung der Verhältniſſe hervorgehen.
Vergeben Sie mir dieſe offne, mehr ſachliche als perſönliche Darlegung und
ſehen Sie ſowohl dieſe wie meine Bitte um Discretion über alle dieſe Ver⸗
hältniſſe als einen Beweis der hohen Achtung an, mit der ich mich nenne Ihren
wahrhaft ergebenen
Dresden,
d. 27. Juli 61.
) Vorſtand des Leipziger Schiller⸗ und Schriftſtellervereins.
9 Hermann Marggraff, ſeit 1853 in Leipzig Redakteur der Blätter für literariſche Unterhaltung.
*) Sämtlich Mitglieder des erſten Verwaltungsrats der Schiller⸗Stiftung.
Gutzkow.
Glaſer-Gerhard, Briefe von und an G. Keller 411
Ergänzend ſei bemerkt, daß der Empfänger dieſes Briefes, Profeſſor Haaſe, von 1857 bis
zu ſeinem Tode 1867 den Vorſitz des Breslauer Zweigvereins der Schillerſtiftung innegehabt
hat. In dieſer Eigenſchaft iſt er wiederholt mit Gutzkow noch perſönlich bei Beratungen zu⸗
ſammengetroffen. Bei der Generalverſammlung, die im Oktober 1862 zu Weimar ſtattfand,
wurde Haaſe zum Stellvertreter des Vorſitzenden Dingelſtedt gewählt. —
Der von Gutzkow in der Serre ſchen Angelegenheit befürchtete „Eelat“ erfolgte nicht; viel⸗
mehr kam bald ein Vergleich zuſtande, in dem das durch die Lotterie erworbene Vermögen
zum integrierenden Beſtandteil der allgemeinen deutſchen Schiller⸗Stiftung erklärt und ihr mit
3 feiner Jahreszinſen zur Verfügung geſtellt wurde. — Gutzkow hat vom 1. Oktober 1861
ab drei Jahre lang, bis zu ſeinem freiwilligen Ausſcheiden, das Amt des Generalſekretärs ver⸗
ſehen. Er, der von Anbeginn die Seele des Unternehmens geweſen, war hier an ſeinem rich⸗
tigen Platze. Durch ſein auf milde und unbefangene Beurteilung geſtütztes tatkräftiges Ein⸗
treten ®) für hilfsbedürftige Schriftſteller hat er bewieſen, daß man, nach Dingelſtedts Wort,
in ihm nicht einen literariſchen Parteimann gewählt hatte, ſondern den „Mann der Schiller⸗
Stiftung“.
10.
Briefe von und an Gottfried Keller.
Aus Hermann Hettners Nachlaß.
Mitgeteilt von Ernſt Glaſer⸗Gerhard in Halle.
Kein Biograph G. Kellers unterläßt es, der Lebensfreundſchaft ein wohlwollendes Wort
zu ſpenden, die „Meiſter Gottfried“ und H. Hettner zu Heidelberg im Winter 1848 an-
geſponnen hatten. Und faſt alle rühmen den 1850 mit des Dichters Überfiedelung nach Berlin
einſetzenden „ſchwerwiegenden“ Briefwechſel, „in welchem jeder ſein Beſtes gab, was er ein⸗
zuſetzen hatte, der über kunſttheoretiſche, vor allem dramaturgiſche Fragen gehaltvollſten Auf⸗
ſchluß gibt“. Tatſächlich ruht dies Urteil lediglich auf den Briefen Kellers an Hettner;
die Erkenntnis ihres perſönlichen und literariſchen Wertes hat uns erſt Emil Ermatinger
ermöglicht durch vollſtändige Aufnahme in feine Keller⸗Briefe (im 2. und 3. Band der
Lebensbeſchreibung, Stuttgart und Berlin 1919).
Durch die Urſprünglichkeit des Tones und die leidenſchaftliche, faſt fanatiſche Verbohrung
in äſthetiſche, beſonders dramatiſche Probleme nimmt dieſe Briefreihe unter den bedeut⸗
ſamſten aus der Feder des Dichters eine vorzüglich charakteriſtiſche Stelle ein. Hier poltert
nicht der ſcharfkantige, knorrig⸗borſtige Eigenbrödler gegen Menſchen und Welt, es plaudert
auch nicht feinſinnig⸗geruhig der Künſtler im beglückenden Beſitz erſtrittener Meiſterſchaft.
Ein Jüngling iſt noch am Streiten. Und er ringt, der Autodidakt, in gewählter Einſamkeit
und Strenge, oft mit dem Herzblut der Verzweiflung, um die weit und weiter entſchwebende
Palme des Dramatikers. Unter der brieflichen Anleitung des kritiſchen Mentors. Ihm
ſteht er Rede, erhält und erſtattet Bericht, läßt ſich ermuntern, treiben und — muß doch
ſcheitern, um (nach München zum zweitenmal) die eigenwüchſige Beſtimmung ſich wieder allein
zu erkämpfen. Und dem Jugendtraum gilt noch die wehmütig⸗lächelnde Sehnſucht des
fpäteften Alters.
Nicht nur den „Grünen Heinrich“ „ſchmiert“ der berliner Keller „buchſtäblich unter Tränen“.
Auch manchen dieſer Briefe. Da blinken ſie zwiſchen Hoffen, Glauben, Verſichern und
Jubeln, kaum noch verſtohlen, hindurch. Erwacht der Zweifel, ſchlägt Verzweiflung ihn zu
Boden, ſo ſchweigt er: Monate, ein Jahr lang. Und immer kommt der Freund zu ihm
mit Lob, Mahnung, Troſt und Vorbild.
6) Gutzkows intereſſante literariſche Gutachten hat Goehler aus den Akten der Stiftung im
2. Bande ſeines oben genannten Werkes faſt vollſtändig zum Abdruck gebracht.
412 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Vergeſſen ſollte man ihm das nicht, ſelbſt wenn dieſer Freundesdienſt allein die Be⸗
deutung ſeiner Briefe ausmachte. Es iſt nicht ihr einziger, kaum ihr größter Wert ſogar.
Einſt drängte Baechtold (1892 ff.) zwiſchen die Kellerſchen Antworten ergänzend Teile
dieſer Briefe; Teilchen gab (wenig glücklich) A. Stern in feiner unzulänglichen Hettner⸗
Biographie. Den Späteren lagen die Briefe ſelbſt nicht mehr vor ). Das hat ſich gerächt.
Jede einſeitige Briefſammlung verſchiebt ungewollt, meiſt auch unbemerkt, das geiſtige Bild
der Teilnehmer, der Ausgeſchiedene tritt ungebührlich ins Dunkle. Zumal, wenn die Briefe
nicht Menſchliches nur geben, Perſönliches, ſondern ſich ſammeln um ein Thema wie die
Erörterung der dramatiſchen Kunſt⸗Theorie, wenn ſie die Form ſprengen und zur Abhand⸗
lung ſich ausweiten für Jedermann, dann gehört zur Medaille auch die Kehrſeite.
Der Schaden läßt ſich heilen. H. Hettners unveröffentlichter Briefnachlaß, reich an manch
feinem Stück, bewahrt die von Keller einſt treulichſt und peinlich gehüteten Freundesbriefe
auf. Die Zeit verſagt die Wiedervereinigung der Freunde in einem Büchlein; ſo mag
H. Hettner dem Jugendgenoſſen auch hierin nachfolgen. Und was Raummangel verbietet,
die liebevolle Ausmalung des Freundesbildes, das wird der Leſer ſelbſt leiſten müſſen.
Der Abdruck erfolgt mit Erlaubnis von H. Hettners Erben, getreu nach den Hand-
ſchriften nur unverſtändliche Abkürzungen find aufgelöſt, den Umfang der unumgänglich not-
wendigen Auslaſſungen beſtimmten ſie im Sinne der Freunde. Die Anmerkungen unter⸗
ſtützen nur Ermatingers unentbehrliches Werk; nicht immer war ein Nachweis mit den er⸗
reichbaren Hilfsmitteln einwandfrei zu führen.
I. Gottfried Keller an Frau A. Hettner.
1 Hochverehrte Frau.
Tief erſchüttert durch die ganz unerwartete Trauernachricht 1) nimmt ſich ein
alter Freund des Verewigten die Freiheit, Ihnen und Ihrem geehrten Hauſe
die Bezeugung ſeiner innigſten Theilnahme darzubringen.
Ohne jede Nachricht von einem Krankſein trug ich mich gerade in den letzten
Wochen mit dem Vorſatze, unſere eingeſchlafene Correſpondenz 2) wieder aufzu⸗
nehmen und auch eine lang beabſichtigte Reiſe nach dem Norden endlich auszu⸗
führen, wobei ich mich auf ein Wiederſehen freute.
Das iſt nun nach der Uebung des alten Menſchenſchickſals wieder einmal dahin,
und es bleibt mir nichts übrig, als einen traurigen Gruß ungebrochener An⸗
hänglichkeit in das Freundesgrab hinüberzurufen.
Genehmigen Sie, verehrteſte Frau, den Ausdruck meiner vollſten Hochachtung
und Ergebenheit.
Zürich 3. Juni 1882. Gottfried Keller
a. Staatsſchr.
2 (Juni oder Juli 1882).
Hochverehrte Frau!
Es war mir eine tröſtliche Beruhigung, und, wenn der Anlaß tiefer Trauer
den Ausdruck erlaubt, eine wahre Freude, Ihre freundlich wohlwollenden Ant⸗
wortzeilen zu empfangen.
') Abgeſehen von M. Preitz, der fie für feine „Dramatiſchen Beſtrebungen Gottfried Kellers“
1909 mit Nutzen einſah.
1) H. Hettner war am 29. 5. 1882 geftorben. Der Brief iſt bereits abgedruckt bei Ermatinger
III, 302 (Nr. 462).
2) Hettners letzter Brief iſt datiert: 24. 12. 1874 (ſ. u. II Nr. 44), Kellers Antwort: 31. 1. 1875.
Glaſer-Gerhard, Briefe von G. Keller 413
Sie lichten wenigſtens einigermaßen das dunkle Gefühl, welches nach manchen
Unterlaſſungsſünden, wie das dämmerige Leben ſie mit ſich bringt, uns be⸗
ſchleicht, wenn plötzlich dann das Unabänderliche, Unwiederbringliche eintritt.
Ich kann nur, verehrte Frau, herzlichſt wiederholen, daß ich nicht nur jetzt,
ſondern jeder Zeit und bei jedem Anlaß des Verewigten mit der Theilnahme des
guten Freundes gedacht habe.
Die Briefe find wol alle noch vorhanden 3). Es war mir leider nicht möglich,
mich ſofort an das Auspacken der Kiſten zu machen, in welchen meine älteren
Papiere ſeit Jahren liegen. Anfangs nächſter Woche werde ich es aber thun und
Ihnen die Briefe nebſt einer gedrängten Aufzeichnung meiner perſönlichen Erin⸗
nerungen an Hettner “) unverweilt zur Verfügung ftellen.
Es gereicht mir zur größten Genugthuung, daß ein biographiſches Denkmal
von der Hand des Herrn Prof. A. Stern 5) in Ausſicht ſteht.
Ihr mit Verehrung und Ergebenheit verharrender
G. Keller.
3: Zürich 22 Juli 1882.
Hochverehrte Frau!
Hiemit überſende ich Ihnen die verſprochenen Briefe unſers verewigten
Freundes nebſt einer Notiz) über die Entſtehung meines Verhältniſſes zu ihm.
Einen einzigen Brief vom Jahr 1855 habe ich zurückbehalten “); derſelbe iſt
ein Denkmal liebevollſter Geſinnung, allein ſo intimer Natur, daß ich ihn bei
meinen Lebzeiten nicht gern aus der Hand gebe. Einige Briefe aus den ſechziger
Jahren 7), die ſich auf eine Berufung nach Zürich beziehen, befinden ſich vermuth⸗
lich in den Archiven der Behörde, auf deren Veranlaſſung ich an Hettner geſchrie⸗
ben hatte.
Ich glaube wol fröhlich vorausſetzen zu dürfen, daß allerlei kritiſche oder gar
harte Aeußerungen über Dritte, zumal noch lebende Perfonen, die in der Corre⸗
ſpondenz vorkommen, ſowie andere Perfonalien bedenklicher Art keine Verwen⸗
dung finden werden. Ich würde dieſe indiskrete Bemerkung gewiß nicht machen,
wenn dergleichen nicht immer wieder vorkäme. So hätte der unglückliche Gutz⸗
kow fein unglückliches Longinus⸗Buch 9) ſchwerlich geſchrieben, wenn nicht in
der Kuh'ſchen Biographie Hebbels?) das Wort „Schuft“ geſtanden hätte, welches
Hebbel von Gutzkow gebraucht haben ſoll. Für dieſe Wiedergabe bei Lebzeiten
) Wie die Anmerkungen zu Hettners Briefen zeigen, irrte ſich Keller.
) Siehe Nr. 5 auf S. 415.
8) A. Stern, H. Hettner, Leipzig 1885.
6) Wahrſcheinlich meint Keller den Brief vom 4. 11. 1855 (II Nr. 31), da der Briefwechſel keine
Lücke aufweiſt, die die Annahme eines ausgeſchalteten Briefpaares ſtützt. Gemeint iſt Hettners
Stellungnahme zu Kellers Geſtändnis feiner Liebe zu Betty Tendering (vgl. Anm. 219 f.).
7) Vgl. Anm. 328 zu Hettners Briefen und die „Notiz“ Nr. 5.
2) Gemeint iſt „Dionyſius Longinus“, Stuttgart 1878, die literariſche Streitſchrift des über⸗
reizten Gutzkow.
9) 1877, 2 Bde.; vorher erſchien: Friedrich Hebbel, Eine Charakteriſtik, Wien 1854.
414 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
des alternden Gutzkow hat Emil Kuh ſeinen frühen Tod 10) vollkommen ver⸗
dient, obgleich er mein Freund war und Gutzkow eher ein Feind.
Doch muß ich für dieſe in Frauenaugen doppelt unliebſame Erörterung ſehr
um Verzeihung bitten, und dies um ſo mehr, als es mir ja frei ſtand, die ver⸗
fänglichſten Stücke zurückzubehalten.
Für diesmal will ich abbrechen, obgleich mir noch eine Sache auf dem Herzen
liegt, die noch geordnet ſein will, und ich hoffe ſchriftlich oder mündlich eheſtens
darauf zurückzukommen.
Ihr in aller Verehrung ergebener
G. Keller.
4. Zürich 12 Aug. 1882.
Hochverehrte Frau!
Es gereicht mir zur großen Genugtuung und Freude, wenn die Briefe einen
kleinen Beitrag oder vielmehr einen ſchönen weiteren Charakterzug zu dem
Lebensbilde Hermann Hettners geben können. Ich bitte, dieſelben ſo lange zu
behalten, als Sie ſie irgend brauchen. Für die mir gütig überſandte Photo⸗
graphie ſage ich meinen herzlichen Dank. Das Bild hatte mir wirklich gefehlt
und ruft mir in ſeiner keck jugendlichen Friſche längſtvergangene Zeiten hervor,
wird auch nicht ſo bald von meinem Schreibtiſche verſchwinden.
Gegen die von Ihnen in Ausſicht genommene Art der Verwendung der Corre⸗
ſpondenz habe ich keinerlei Widerſpruch zu erheben und ebenſo wenig wüßte ich
ſelbſt mithandelnd einzugreifen.
Bei der begeiſtert entgegenkommenden Weiſe, welche Hettner gegen ſeine
Freunde beſeelte, hat er auch manche meiner Aeußerungen oder Mittheilungen,
namentlich über die dramatiſchen Beſtrebungen 11), die mich während meines
Berliner Aufenthaltes, freilich fruchtlos, beſchäftigten, für bedeutſamer und
wichtiger gehalten, als ſie mir ſelbſt ſpäter erſchienen ſind. Ich weiß nicht
mehr, was ich alles geſchrieben habe, mußte aber neulich beinahe weh:
mütig lächeln, als ich ſo manche teilnahmvolle Antworten las. Wenn ich daher
ſ. Z. im gegebenen Falle die betreffenden Correkturabzüge einſehen könnte, ſo
würde ich vielleicht Gelegenheit finden, dies oder jenes zu beſeitigen. Im
Ganzen aber denke ich doch, ich werde Herrn Profeſſor Stern und ſeiner litera⸗
riſchen Erfahrung eigentlich doch die Sache zutrauensvoll anheimſtellen können.
Ich denke, nächſtes Frühjahr endlich nochmals eine Reiſe nach dem Norden
Deutſchlands zu machen, oder wenigſtens im Laufe des Jahres, und werde dann
gewiß nicht verfehlen, verehrteſte Frau, Sie in Dresden aufzuſuchen.
Mich indeſſen Ihrem ſo freundlichen Wohlwollen ferner empfehlend verbleibe
ich Ihr hochachtungsvoll ergebener
G. Keller.
10) 30. 12. 1876.
11) Hettner nahm mehrere Briefſtellen wörtlich oder inhaltlich in fein „Modernes Drama“ anf
(vgl. die Anm. zu Hettners Briefen 1850 — 1851 und den entſprechenden Gegenbriefen von Keller bei
Ermatinger II).
Glaſer-Gerhard, Briefe von G. Keller 415
Notiz. 12)
Im Herbſt 1848 kam ich, 29 Jahre alt, nach Heidelberg, um gewiſſen Studien
obzuliegen. Von ſtudirenden Landsleuten hörte ich von einem jungen Privat⸗
docenten ſprechen, Hermann Hettner, welcher an den Samstag Abenden ein ſog.
Publikum leſe, das Aufſehen errege, und zwar über Spinoza. !) Ich fand den
größten Hörſaal der Univerſität von Studenten und älteren Herren angefüllt
und fühlte mich von dem freifließenden belebten Vortrag ſo angeſprochen, daß
ich denſelben nie mehr verſäumte, auch, gegen meinen Plan, die übrigen Colle⸗
gien Hettners über deutſche Literaturgeſchichte, Aeſthetik u. d. gl. häufig beſuchte.
Immer von ſeinem Gegenſtande begeiſtert, in ſeinem Forſchen und Denken
leicht und glücklich vordringend, von dem freiſinnigen Geiſte der Zeit getragen,
machte der junge Mann auf die ihm noch ſo nahe ſtehende Jugend den beſten
Eindruck und riß auch Aeltere mit ſich fort.
Ich wurde bald perſönlich mit Hettner bekannt und gewann einen ausdauern⸗
den und theilnehmend treu geſinnten Freund an ihm, ohne daß ich wußte, wie
das geſchah.
In jenem Winter war es, daß Ludwig Feuerbach, von der Studentenſchaft
berufen, auf dem Heidelberger Rathhauſe ſeine Vorleſungen über das Weſen der
Religion hielt.“) Hettner nahm lebendigen Antheil an dem mit der Sprache
ringenden Philoſophen, deſſen Auditorium aus Studenten, Arbeitern, Profef-
ſoren und Bürgern aller Art gemiſcht war. Weniger ſchwerfällig bewegte ſich
Feuerbach im geſelligen Kreiſe z. B. bei Chriſtian Kapp 15), wo auch Hettner
und Moleſchot(t) 10), die unter ſich in engerer Freundſchaft ſtanden ſich einfanden.
Während des Sommers 1849 ſahen wir ſowol die badiſche Revolution, als
in der Ferne den Dresdner Aufſtand ete vorübergehen. Man theilte die Gefühle
und Hoffnungen des Volkes und ertrug mit Vergnügen den Groll der Gothaer
Gentry der Univerſität, die ihrerfeits ſchon allen Illuſionen entwachſen war.
Im Frühjahr 1850 ging ich nach Berlin 17); im Jahre darauf 18) zog Hettner
nach Jena. Im Jahre 1853 19), wenn ich nicht irre, ſah ich ihn in Berlin wieder,
wohin er eingeladen war zu einem Vortrage in der Singakademie. Er las ſeine
ſchöne Studie über Defoe und die Robinſonaden und glänzte mit einer Muſter⸗
leiſtung wiſſenſchaftlicher Rednergabe.
12) Der Anfang ift ſchon gedruckt bei A. Stern, H. Hettner, Leipzig 1885, S. 101 f.
13) Moleſchott („H. Hettners Morgenroth“, Gießen 1883, S. 128) ſieht in dieſen Vorleſungen
den Keim zur „Literatur⸗Geſchichte des 18. Ihdts.“. Seine freund ſchaftliche Erzählung aus den
gemeinſamen Heidelberger Jahren (1847 — 1851) kann als Ergänzung ſtets herangezogen werden.
10) Vgl. Ermatinger I, 195 ff.
15) Der Philoſoph Chriſtian Kapp, Schellings Gegner, vgl. Ermatinger I, 206 — 211.
10) Hettners beſter Heidelberger Freund; Anatom und Pſychologie, vgl. Ermatinger I, 192.
17) April 1850, vgl. Ermatinger I, 213.
18) Vgl. Hettners Brief Nr. J. Oſtern 1851 wurde Hettner a. o. Profeſſor f. Kunft- u. Lit.
Geſchichte in Jena.
10) Schon im Winter 1851/52 (um Weihnachten) war Hettner wahrſcheinlich in Berlin (vgl.
feine Briefe Nr. 9 — 10). Zum Robinſon⸗Vortrag weilte Hettner Anfang März 1854 (ungefähr
9. 11.) in Berlin (vgl. feine Briefe 17 — 20).
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je hen ſegeu, ohne Daher nach gerren zu knnen. un: rer urn Sache die Ober⸗
an zu erhalten.
Vier jezt der Ser ert mung zeden Serre enen mul. dncrfennt die Re⸗
4% res Terwstanssraris und denebpmrar ferne Torrhläge, die dus der
er niteſten unt tas Ganze rabrenden Bere uu der Terkäimme bervergeben.
Ver geben Sie mit tieie effne, mehr fache zus verfénlice Darlegung und
jeken Sie ſowobl dieſe wie meine Bitte um Discretten über alle diefe Ver⸗
bältnife als einen Peweis ter boben Artung an, mit der ich mich nenne Ibren
wahrhaft ergebenen
| Gutzkow.
Dresden,
d. 27. Juli 61.
2) Vorſtant des Leipziger Schiller⸗ und Schriftſtellervereins.
) Hermann Margarafi, feit 1853 in Leipiig Redakteur der Blatter für literariſche Unterbaltung.
*) Sämtlich Mitglieder des erſten Verwaltungsrats der Schiller Stiftung.
Glaſer-Gerhard, Briefe von und an G. Keller 411
Ergänzend ſei bemerkt, daß der Empfänger dieſes Briefes, Profeſſor Haaſe, von 1857 bis
zu ſeinem Tode 1867 den Vorſitz des Breslauer Zweigvereins der Schillerſtiftung innegehabt
hat. In dieſer Eigenſchaft iſt er wiederholt mit Gutzkow noch perſönlich bei Beratungen zu⸗
ſammengetroffen. Bei der Generalverſammlung, die im Oktober 1862 zu Weimar ſtattfand,
wurde Haaſe zum Stellvertreter des Vorſitzenden Dingelſtedt gewählt. —
Der von Gutzkow in der Serre ſchen Angelegenheit befürchtete „Eclat“ erfolgte nicht; viel⸗
mehr kam bald ein Vergleich zuſtande, in dem das durch die Lotterie erworbene Vermögen
zum integrierenden Beſtandteil der allgemeinen deutſchen Schiller⸗Stiftung erklärt und ihr mit
*/, feiner Jahreszinſen zur Verfügung geſtellt wurde. — Gutzkow hat vom 1. Oktober 1861
ab drei Jahre lang, bis zu ſeinem freiwilligen Ausſcheiden, das Amt des Generalſekretärs ver⸗
ſehen. Er, der von Anbeginn die Seele des Unternehmens geweſen, war hier an ſeinem rich⸗
tigen Platze. Durch fein auf milde und unbefangene Beurteilung geſtütztes tatkrãftiges Ein⸗
treten °) für hilfsbedürftige Schriftſteller hat er bewieſen, daß man, nach Dingelſtedts Wort,
in ihm nicht einen literariſchen Parteimann gewählt hatte, ſondern den „Mann der Schiller⸗
Stiftung“.
10.
Briefe von und an Gottfried Keller.
Aus Hermann Hettners Nachlaß.
Mitgeteilt von Ernſt Glaſer-Gerhard in Halle.
Kein Biograph G. Kellers unterläßt es, der Lebensfreundſchaft ein wohlwollendes Wort
zu ſpenden, die „Meiſter Gottfried“ und H. Hettner zu Heidelberg im Winter 1848 an-
geſponnen hatten. Und faſt alle rühmen den 1850 mit des Dichters Überfiedelung nach Berlin
einſetzenden „ſchwerwiegenden“ Briefwechſel, „in welchem jeder ſein Beſtes gab, was er ein⸗
zuſetzen hatte, der über kunſttheoretiſche, vor allem dramaturgiſche Fragen gehaltvollſten Auf-
ſchluß gibt“. Tatſächlich ruht dies Urteil lediglich auf den Briefen Kellers an Hettner;
die Erkenntnis ihres perſönlichen und literariſchen Wertes hat uns erſt Emil Ermatinger
ermöglicht durch vollſtändige Aufnahme in feine Keller⸗Briefe (im 2. und 3. Band der
Lebensbeſchreibung, Stuttgart und Berlin 1919).
Durch die Urſprünglichkeit des Tones und die leidenſchaftliche, faſt fanatiſche Verbobrung
in äftbetiihe, beſonders dramatiſche Probleme nimmt dieſe Briefreibe unter den bedeut-
ſamſten aus der Feder des Dichters eine vorzüglich charakteriſtiſche Stelle ein. Hier poltert
nicht der ſcharfkantige, knorrig⸗borſtige Eigenbrödler gegen Menſchen und Welt, es plaudert
auch nicht feinſinnig⸗geruhig der Künſtler im beglückenden Beſitz erſtrittener Meiſterſchaft.
Ein Jüngling iſt noch am Streiten. Und er ringt, der Autodidakt, in gewäblter Einſamkeit
und Strenge, oft mit dem Herzblut der Verzweiflung, um die weit und weiter entſchwebende
Palme des Dramatikers. Unter der brieflichen Anleitung des kritiſchen Mentors. Ihm
ſteht er Rede, erhält und erſtattet Bericht, läßt ſich ermuntern, treiben und — muß doch
ſcheitern, um (nach München zum zweitenmal) die eigenwüchſige Beſtimmung ſich wieder allein
zu erkämpfen. Und dem Jugendtraum gilt noch die webmütig⸗lächelnde Sehnſucht des
fpäteften Alters.
Micht nur den „Grünen Heinrich“ „ſchmiert“ der berliner Keller „buchſtäblich unter Tränen“.
Auch manchen dieſer Briefe. Da blinken ſie zwiſchen Hoffen, Glauben, Verſichern und
Jubeln, kaum noch verſtohlen, hindurch. Erwacht der Zweifel, ſchlägt Verzweiflung ihn zu
Boden, ſo ſchweigt er: Monate, ein Jabr lang. Und immer kommt der Freund zu ihm
mit Lob, Mahnung, Troſt und Vorbild.
6) Gutzkows intereſſante literariſche Gutachten hat Goebler aus den Akten der Stiftung im
2. Bande feines oben genannten Werkes faſt vollſtandig zum Abdruck gebracht.
416 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Erſt im Jahre 1855 kehrte ich in mein Vaterland zurück und weilte auf dieſer
Reiſe eine Woche in Dresden 20), wo ich täglich einige ſchöne Stunden in ſeinem
Hauſe verbrachte.
Zum letzten Male ſah ich ihn in Zürich, wohin er auf der Hochzeitsreiſe mit
feiner zweiten Gattin gelangte.?!) Dort weilte auch die Familie Moleſchot(t),
da letzterer inzwiſchen als Profeſſor der Phyſiologie dahin berufen wor⸗
den war. 22)
In den ſechziger Jahren, nach dem Abgang F. Th. Viſcher's vom Schweiz.
Polytechnikum 23) erhielt ich confidentiell einen Auftrag, Hettner anzufragen,
ob er den erledigten Lehrſtuhl übernehmen würde. Er bezeugte viel Luſt dazu
und ließ ſich einiges Nähere über die Anſtellungsbedingungen mittheilen. Hiebei
war er der Meinung, er ſei in Dresden wegen ſeiner politiſchen (kleindeutſchen)
Geſinnung nicht persona grata. Als er aber auf eine entſcheidende Informa⸗
tion hin das Gegentheil erfuhr, lehnte er die Stelle in Zürich ſchließlich ab.
Durch Uebernahme eines Staatsamtes 2%) war ich indeſſen auf Jahre von aller
Correſpondenz abgezogen worden, ſodaß unſere Verbindung äußerlich einſchlief.
G. Keller.
II. Hermann Hettner an Gottfried Keller.
1. Heidelberg 21 Juni 50.
Lieber Keller,
Ich danke Ihnen aufs herzlichſte für Ihren lieben Brief. 25) Er iſt für mich
eine wahre Pandorabüchſe geweſen; mit fo viel Reichthum haben Sie mich, der
ich arm und einſam in öder Wüſte ſchmachte, aus der Fülle Ihres Schatzes
überſchüttet. Fahren Sie recht fleißig fort mit Ihren Berichten. Vielleicht
können Ihnen dieſe Mittheilungen dazu dienen, daß Sie dann und wann Ihre
Gedanken, Anſchauungen und Stimmungen reſümiren; und mir bieten Sie
mit dieſen raſch hingeworfenen Aphorismen unendlichen Genuß und Nutzen.
Verlaſſen von allen äußeren Anregungen einer kunſtreichen Stadt, ja ſelbſt ab⸗
geſchnitten von dem Verkehr gleichgeſtimmter Kunſt⸗ und Fachgenoſſen bin ich
jetzt lediglich dazu verdammt, die Broſamen, die von des Reichen Tiſche fallen,
zu ſammeln. Dieſe Ungunſt der Lage müſſen Sie bedenken, wenn ich auch darin
dem Bettler gleiche, daß ich Ihre reiche Gabe nicht mit einer Gegengabe erwie⸗
dern kann, ſondern nur mit einem armſeligen: Ich danke oder Gott vergelts. —
20) Anfang Dezember (vgl. Hettners Brief Nr. 32 und Anm. 230 u. 232).
21) Ende Juni 1858 (vgl. Hettners Brief Nr. 39 und Anm. 301).
22) Herbſt 1855, an das neugegründete Polytechnikum.
23) Ende 1866 ging Viſcher an das Polytechnikum in Stuttgart. Vermutlich irrt ſich Keller
über den Anlaß. Nach ſeinem eigenen Brief vom 27. 2. 1866 handelte es ſich um die Nachfolge
Wilh. Lübkes (vgl. Hettners Briefe, Anm. 328); oder (wabrſcheinlicher!): in beiden Fällen bat
man in Zürich auf Hettner gehofft.
24) Seit 14. 9. 1861 erſter Staatsſchreiber.
25) Ermatinger II, Brief 79 (Berlin, 29. 5. 1850).
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 417
Meine Tage fließen hier ſehr einförmig hin. Inzwiſchen iſt bei mir eine
kleine Tochter angekommen, die mir ſehr viel Freude macht und mit der ich ſehr
viel Zeit vertändle. Meine Frau iſt wieder wohl auf und iſt überhaupt über
die ganze Kataſtrophe leicht hinübergekommen. Ich werde Ihnen noch ſpäter
erzählen, wie ſehr ſie ſich über Ihren Brief gefreut hat. Faſt ſcheint es mir, als
habe ſie in kleines Tendre für Sie. Wir alle Beide vermiſſen Sie herzlich.
Locher 26), der nach feiner Rückkehr von Berlin, noch einige Monate hier gelebt
hat, hat geſtern Heidelberg für immer verlaſſen. Wahrſcheinlich wird er Dres⸗
den zu ſeinem ſtändigen Wohnſitz wählen. Er hat in dieſem Frühling eine neue
Tragödie „Johanna Gray“ geſchrieben! Ein Stück, das, glaube ich, den Weg
auf die Bühne finden wird; es enthält vortreffliche Sachen. Ob aber Locher eine
dramatiſche Zukunft hat? Faſt möchte ich daran zweifeln. Es iſt auffällig, daß
er ſich für ſeine Trauerſpiele immer thatloſe, weiblich paſſive Naturen heraus⸗
ſucht und dann geht er auch in ſolchen Stoffen allem energiſchem Handeln
quietiſtiſch aus dem Wege. Bei dieſer Johanna Gray war es ihm paſſirt, daß
er alle Momente, die einen wirklichen Konflikt darbieten, hinter die Bühne
verlegt hatte und ſie dann hinterdrein nur epiſch erzählen ließ. Als er mir den
Plan, noch ehe er an die Ausarbeitung ging, mittheilte, gelang es mir, ihn von
dem Undramatiſchen einer ſolchen Oekonomie zu überzeugen; und nachher iſt
es ihm vortrefflich gelungen, dieſe Motive, die er dem Plane nach nur er⸗
zählen wollte, dramatiſch in Scene zu ſetzen. Nun brachte er mir vor einigen
Tagen das Stück fertig. Da fand ich einen neuen Fehler, der mir bei der Durch⸗
ſicht des Planes entgangen war. Er hatte zwar den Knoten ſchön und wirkungs⸗
reich geſchürzt; ihn aber nachher nicht aufgelöſt, ſondern gewaltſam durchhauen.
Ein Krieg, der im früheren gar nicht vorbereitet war, ſtürzte wie ein reiner
Deus ex machina, Joh. Gray vom Throne und bildete die Kataſtrophe. Nur
mit Mühe konnte ich ihm begreiflich machen, daß es nicht genug ſei, wenn in
der Tragödie eine Kolliſion vorhanden ſei; die Hauptſache ſei, daß nun auch
wirklich die Kataſtrophe aus ihr nothwendig und folgerichtig abgeleitet werde.
Jetzt hat er dies eingeſehen. Und wenn ich nach dem Beiſpiele jenes früheren
Vorganges ſchließen darf, ſo wird es ihm wohl noch gelingen, dem Ganzen
einen nothwendigen und folgerichtigen Schluß zu geben. Er geht nach Wien,
um mit Laube 27) für eine Aufführung auf dem Burgtheater zu unterhandeln.
Dies Beiſpiel, glaube ich, iſt ein Normalbeiſpiel für viele unſerer jungen
Dramatiker. Poetiſche Kraft iſt vorhanden; aber ſie geht zu Grunde an dilettan⸗
20) Eduard Locher, Dichter eines Trauerſpiels „Friedrich II.“. Uber ihn ſchreibt Hettner an
Fanny Lewald am 27. 10. 1849 (ungedrudt!): „. .. Locher geht für dieſen Winter nach Berlin,
theils um Verſuche zu machen, ein von ihm geſchriebenes Luſtſpiel auf eine der dortigen Bühnen zu
bringen, theils um ſich die nöthige Anſchauung und Bühnenpraxis zueigen zu machen.. Er iſt
kein Literat gewöhnlichen Schlages, ſondern ein reicher Rentier, verheirathet, und nebenbei in drama⸗
tiſcher Dichtkunſt dilettirend. Er hat ein Trauerſpiel geſchrieben, Friedrich II., als Ganzes ohne
Bedeutung, mit ſchönen Einzelnheiten. Sein jetziges Luſtſpiel, Antigone, hat namentlich im zweiten
Akt die entſchiedenſte Komik und berechtigt zu den beſten Erwartungen.“ Am 28. 4. 1850 iſt er
„ſeit einigen Wochen mit Frau und Kind wieder hier“ und ſchreibt ein Trauerſpiel (f. o.).
27) Direktor des Wiener Burgtheaters feit 1849 — 1867).
Suphorion XXVill. 27
418 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
tiſchem Naturalismus. Die Phantaſie 9) allein erſchafft kein Drama; das
Drama verlangt weſentlich auch Kunſtverſtand. Niemand hat größeren Kunſt⸗
verſtand als Sophokles, Shakeſpeare und Calderon; nur dadurch ſind ſie dieſe
großen Meiſter geworden. Ich weiß nicht, inwiefern dieſe künſtleriſche Weisheit
bei dieſen großen Meiſteren) blos Sache des Gefühls und des künſtleriſchen
Taktes geweſen iſt; aber das weiß ich, daß in unſeren kritiſchen Zeiten, das
inſtinktive Gefühl zwar viel, aber nicht Alles thun kann. Dem heutigen Dra⸗
matiker iſt eine klare äſthetiſche Durchbildung unentbehrlich; der Mangel an
einer ſolchen prinzipiellen Einſicht in die ewigen Geſetze und Forderungen
ſeiner Kunſt rächt ſich an ihm jederzeit. Das romantiſche Dogma von der Un⸗
bewußtheit des dichteriſchen Schaffens hat unter unſeren jungen Genies unſäg⸗
lich viel Unheil angerichtet. Nicht wahr, hierin ſind (Sie) vollkommen einverſtanden?
Was meinen Sie, lieber Keller, ſollte es nicht möglich ſein, daß hier die Kritik
ſelber unſerer jungen Dramatik ein wenig unter die Arme greifen könnte? Ich
geſtehe, ich trage mich ſchon ſeit einigen Wochen mit einer derartigen Idee; ich
möchte gern einen ſolchen kleinen dramatiſchen Katechismus 29) geben, nur
kann ich die rechte Form dazu noch nicht finden! Meine Aufgabe wäre, in Weiſe
der Ariſtoteliſchen Poetik klar und ſcharf die Hauptgeſetze des Dramas, beſon⸗
ders der Tragödie, herauszuheben; nicht aber, wie unſere gewöhnlichen Aeſthe⸗
tiker 20), von oben herab, in metaphyſiſchen Deduktionen, ſondern praktiſch als
Maximen der Technik, der Kompoſition und Geſtaltung. Ich müßte überall
meine Sätze durch ſtete Hinweiſung auf die ewigen Muſterwerke bewahrheiten
und in ihrer unverletzlichen Nothwendigkeit beweiſen; und zugleich müßte ich
jederzeit durch Beiſpiele aus unſerer jüngſten dramatiſchen Literatur ad oculos
demonſtriren, wie ein Verſtoß gegen dieſe ewigen Grundgeſetze und Muſter⸗
bilder auch jederzeit ein Verſtoß gegen das Weſen der dramatiſchen Kunſt iſt.
Sagen Sie mir aufrichtig Ihre Meinung darüber. Es iſt wahr, Niemand
kann für eine derartige Arbeit eine üblere Stellung haben als ich, der ich hier
von allen Anſchauungen und Theatererfahrungen entblößt bin. Aber vielleicht
laſſen ſich aus einem genauen Studium der alten, der franzöſiſchen, der ſpa⸗
niſchen, engliſchen und deutſchen Dramatik auch wieder einige Ideen und Er⸗
fahrungen gewinnen, die dem bloßen Routinier nicht zugänglich ſind. Ueberdies
könnte und müßte ich für eine Arbeit dieſer Art eine Form wählen, ähnlich der
Form von Leſſings Laokoon. Der Anſpruch auf abſchließende Vollſtändigkeit
wäre damit von vornherein abgelehnt und zugleich hätte man den Vortheil,
ſpäter bei neuen Erfahrungen den Gegenſtand wieder beliebig aufgreifen und
fortſetzen zu können, wie es auch Leſſing mit dem Inhalte ſeines Laokoon vor⸗
hatte. Schreiben Sie mir recht bald hierüber; denn ſo lange ich über dieſen
Plan Ihren Rath entbehre, quäle ich mich nutzlos. Sollten Sie ihn billigen, ſo
wiſſen Sie ſelbſt, von wie unermeßlicher Wichtigkeit mir Ihre gütigen Mit⸗
33) Vgl. Hettner, „Das Moderne Drama“ (1852), S. 12.
20) Erſtes Auftauchen der Idee zum „Modernen Drama“.
0) Gemeint iſt vor allem F. Th. Viſcher und Hegel (vgl. Hettner, Gegen die ſpekulative Iſthetik,
1845 Kleine Schriften, 1884, S. 164 200).
Ölafers Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 419
theilungen aus Ihrer Theaterpraxis ſein müſſen. Fahren Sie daher ja recht
fleißig fort damit. Ich würde dieſe Bitte nicht mit ſo unerſchrockener Dreiſtig⸗
keit wagen, wenn ich nicht dächte, daß ein fleißige(s) Buchführen über Ihre
Ideen, Anſchauungen und Erlebniſſe auch Ihnen ſelbſt in vieler Beziehung
zu gute käme. N
Haben Sie denn den Othello einmal auf der Bühne geſehen? Ich fürchte ſehr,
auch Othello iſt nicht ganz frei von jenen Zufälligkeiten und Mißverſtändniſſen,
die wir bei Gelegenheit der Deborah ?!) als ein Erbübel unferer jungen dramat.
Literatur kennen gelernt haben. Ja das Mißverſtändnis wird hier ſogar zur
Intrigue geſteigert. Der Unterſchied iſt nur, daß Othello 32) nicht blos auf
Mißverſtändniß und Intrigue gebaut iſt, ſondern ebenſo ſehr auf die meiſter⸗
hafteſte Charakteriſtik. Der Eindruck des Othello iſt nicht rein tragiſch, ſondern
peinigend. Die Schuld Othellos iſt nicht eine an ſich nothwendige, ja ſie liegt
nicht einmal unmittelbar in Othellos Charakter; die Kataſtrophe wird nur aus
der Schurkenhaftigkeit Jagos abgeleitet.
Die Alten 33) haben das Unding einer Intriguentragödie nicht gekannt. Hier⸗
aus erklärt ſich auch, warum fie keine abſtrakten Böſewichter haben. Intriguen⸗
hafte Verwicklung geſtattet ſich bei den Alten nur d. Drama mit heiterem Aus⸗
gange. Philoktet des Sophokles. Die Intrigue ) iſt in der Tragödie nur dann
erlaubt, wenn ſie nur als Vehikel der Charakterentwicklung dient, wenn ſie die
Situation herbeiführt, von der aus dann der Charakter ſich ſelbſtändig ent⸗
faltet, mit der freien Wahl, ob er in die tragiſche Schuld fällt oder dieſe zu ver⸗
meiden weiß. So ift es z. B. in Schillers Demetrius. 35) Demetrius kommt
allerdings durch Intrigue auf den Thron; bald aber erfährt er, er ſei der falſche
Czaar. Indem er nun frei und abſichtlich trotzdem auf dem Thron beharrt, aus
dem Betrogenen ein Betrüger wird, verſällt er mit voller Freiheit in die Schuld.
Nur fo bleiben wir auf dem Boden der Tragödie; aber freilich werden alle ders
artige Motivirungen immer an dem Mangel leiden, daß die Schuld äußerlich
und willkürlich ausſieht, da ſie doch in der echten Tragödie — wie in der Anti⸗
gone — ſelbſt wieder Grund, Recht und innere Nothwendigkeit in ſich
tragen muß.
Zur Michaelismeſſe werden Sie ja mit ungeheuren Ballen aufziehen. Der
grüne Heinrich 56), Gedichte 37) und — nicht wahr? — auch Ihr Trauerſpiel ).
21) Von Moſenthal (1849). Vgl. Hettner, Das moderne Drama, S. 123 f. und H. Th. Rötſcher:
D. von Moſenthal, Jahrb. f. dramatiſche Kunſt u. Literatur, Berlin u. Frankfurt 1849, S. 222 ff.
) Vgl. Hettner, Das moderne Drama, S. 127.
) Ebenda, S. 126.
) Ebenda, S. 127.
26) Ebenda, ©. 127f.
20) Ein Teil des Manuſkripts ging am 28. 2. 1850 an Vieweg in Braunſchweig ab, der Schluß
des I. Bandes erſt am 14. 7. 1851; Band I—III erſchien Ende 1853 (1854), das ganze Werk
Mai 1855 (nel. über die ganze Entftehungs- und Drudmifere: Ermatinger l, S. 2% — 297).
1 „Neueren Gedichte“ 1851 — 1854 (vgl. über die Druckgeſchichte: Ermatinger I, S. 254
die „Therese“ (vgl. Ermatinger J, 269 273 und M. Preis: G. Kellers dramatiſche Beſtre⸗
bungen, Marburg 1909); das Stück wurde 1849 — 1850 in Heidelberg begonnen, September 1851
vorläufig aufgegeben.
420 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Wie haben Sie denn das Kind noch getauft? Ich bin ſehr geſpannt darauf, ob
Sie noch bei Ihrem alten Vorſatz beharren, es zuerſt drucken zu laſſen oder ob
Sie es als Manuscript den Bühnen zuſchicken. Kaum kann ich den Augenblick
erwarten, daß ich dies Stück in die Hände bekomme. Ich müßte mich ſehr
irren, aber ich bin feſt überzeugt, grade als Dramatiker haben Sie eine große
Zukunft. Trotz aller hoffnungsreichen Anfänge, wie ſteht es doch immer noch ſo
ſchlimm um unſere junge dramatiſche Kunſt! Aus gerechter Oppoſition gegen
das romantiſche Leſedrama haben ſich die Neueren einzig auf das Theatraliſche
gelegt und ſuchen dies entweder in dem blos Bühnengerechten, — worin ihnen
zuletzt jederzeit die Birch⸗Pfeiffer 39) den Rang abläuft — oder in eitlen Coups,
in Effekthaſcherei. In beiden Fällen kommt das wahrhaft dramatiſche zu kurz,
das allerdings theatraliſch, aber zu gleicher Zeit auch poetiſch ſein will. Und
hier, glaube ich, winkt Ihnen die Palme. G. Freytag 0), ein unzweifelhaft
dramatiſch wirkſames Talent, verpufft ſich in blaſirter Geiſtreichigkeit, die er
ſeltſamer Weiſe mit Poeſie verwechſelt, und Hebbel ſcheint auch ſeine gute Zeit
hinter ſich zu haben. Hebbel iſt doch lediglich ein Opfer krankhaft forcirter
Genialität geworden. Was ſagen Sie zu feinem „Herodes und Mariamne“? 41)
Dieſe Willkür, mit der Geſchichte umzuſpringen ganz nach ſubjektivem Belieben
ohne irgend Rückſicht zu nehmen auf den Zeitcharakter, iſt ganz gewiß nicht dem
Dichter geſtattet. Gefühle, Stimmungen und Kämpfe, die nur eine Schülerin
der George Sand haben kann, in die Zeit um Chriſti Geburt zu legen, das geht,
wie die Berliner ſagen, doch über die Bäume! Und dann, leidet das Ganze nicht
an einer Unklarheit der Motive, die zwar aus Reichthum entſprungen iſt aber
doch Unklarheit bleibt und eben deshalb auch nothwendig verwirrt? Was mich
hauptſächlich an dieſem Stücke anzieht, iſt das ſichtliche Streben nach Ruhe der
Scene, nach Würde und Idealität. Nur möchte ich, daß ſich der Dichter auch
in der Unart des „zur Seite Sprechen“ ein wenig beſchränkt hätte. Dies iſt hier
ſo häufig, daß es gerade ſtört; ich glaube auch nicht, daß es ein gutes Zeugniß
iſt, wenn der Dichter ſo oft zu dieſem fatalen Mittel greifen muß. Es iſt dies
„zur Seite Sprechen“ doch immer nur ein Beweis, daß ſich der Charakter in
ſeinen Handlungen nicht klar genug ausprägt; es iſt zu guter Letzt nur ein
maskirtes Zwiegeſpräch zwiſchen Dichter und Zuſchauer, ein zudringliches Vor⸗
treten des Dichters und ſeiner Maſchinerie, das die Illuſion ſtört. Es iſt eine
konventionelle Unnatur, die ſich die Alten nie geſtattet haben.
Geht es an, ſo ſchicken Sie mir ja den „grünen Heinrich“, noch bevor er im
Buchhandel ausgegeben wird. Meine Anzeige fällt dann mit ſeinem erſten Auf⸗
treten in der Welt zuſammen. Ich freue mich herzlich auf die Stunden, in
denen ich meiner Frau den Roman werde vorleſen können. Ich bilde mir ein,
30) 1800-1868; zuletzt waren erſchienen: „Dorf und Stadt“ (1848), „Eine Familie“ (1849),
„Anna von Oſterreich (1850). Vgl. Hettner, Das moderne Drama, S. 111.
20) Gemeint ſind die Schauſpiele „Valentine“ (1847) und „Graf Waldemar“ (1848).
a1) 1847 1848 (vgl. Hettners Aufſatz: Hebbel und die Tragikomödie [Blätter f. lit. Unter ⸗
haltung, 1851, 2 2, ©. 7 f.], über das „Trauerſpiel in Sieilien“). Ahnlich auch „Das moderne
Drama“, ©. 1
N
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 421
Ihre Individualität, die uns ſo lieb iſt, wird darin doppelt liebenswürdig ſich
produziren.
Kapps 42) laſſen Sie beſtens grüßen. Vor Kurzem war eine allgemeine Aus⸗
wanderung des ganzen Hauſes nach München. Auguſt hatte das Nervenfieber;
jetzt iſt er aber wieder völlig geneſen. Gegenwärtig find Alle zurückgekehrt.
Johanna iſt in Tyrol und malt Studien. Fries 23) iſt für einige Wochen nach
Dresden gegangen und ſoll ſich ſehr auf das Porträtmalen werfen.
Daß Sie bisher noch wenig oder gar nicht mit der Berliner Literatur ver⸗
kehrt haben, thut mir in mancher Beziehung leid. So verächtlich auch literariſche
Kameraderie iſt, ſo ſind doch für das erſte Auftreten namentlich eines jungen
Dramatikers perſönliche Verbindungen durchaus nicht gleichgültig. Hie und da
finden Sie wohl auch eine tiefere Natur, von der Sie Förderung und An⸗
regung erwarten dürfen. Varnhagen wohnt ganz in Ihrer Nähe; machen Sie
doch einen Verſuch mit ihm. Fanny Lewald )) kehrt, fo viel ich weiß, zum
Herbſt nach Berlin zurück. Die bewußten 3 rh. behalten Sie nur bis dahin in
Ihrem Verſchluſſe.
Für diesmal, lieber Keller, leben Sie herzlich wohl. Ich wiederhole meine
Bitte, mir recht bald wieder zu ſchreiben. Meine Frau ſo wie meine kleine
liebenswürdige Tochter Eliſabeth tragen mir für Sie die herzlichſten Grüße
auf; ich habe jetzt hier in Heidelberg Niemand, mit dem ich über das ſprechen
könnte, was mir zunächſt in Kunſt und Wiſſenſchaft am Herzen liegt. Daraus
ermeſſen Sie, was mir Ihre Briefe ſind. Wollte ich Ihnen ein vollſtändiges
Bild von Heidelberg geben, ſo gehörte nothwendig dazu, daß ich noch eine
Lauge attiſchen Salzes über Henle“), Gervinus 29) und Häußer ?7) zu träus
feln verſuchte; warum aber Sie mit ſolcher Mifere behelligen? Haben Sie den
4 Band von Gervinus' Shakeſpeare 45) geleſen? Wer jetzt noch Gervinus als
Aeſthetiker zu preiſen vermag, an dem iſt für immer Hopf und Malz verloren.
Und doch läßt ſich die ganze Nation düpiren; d. h. die deutſche Nation, die ſich
vorzugsweiſe als die ideale Nation preiſt. — Auch Moleſchotts 48) grüßen
herzlich.
Gedenken Sie meiner in Liebe und laſſen Sie bald von Ihnen hören.
Der Ihrige
H. Hettner.
2) Vgl. Anm. 15 zu Kellers Briefen an Frau A. Hettner.
43) Der Heidelberger Landſchaftsmaler Bernhard Fries (1820 - 1879), vgl. Ermatinger I, S. 190.
4) Hettner hatte Keller einen Empfehlungsbrief für Fanny Lewald, mit der er ſeit 1846 im
Briefwechſel und Verkehr ſtand, mitgegeben. Zurzeit befand fie ſich auf der Reiſe nach England,
Schottland und Paris. (Vgl. vor allem: Grete Schlüpmann, Fanny Lewalds Stellung zur ſozialen
Frage. Diſſ. Münſter 1921.)
5) Jakob Henle, Anatom und Phyſiologe in Heidelberg, Urbild des Univerſitätslehrers in Kellers
„Grünem Heinrich“, Bd. 4 (vgl. Ermatinger I, 192 ff.).
0) Der Literarhiſtoriker (1805 — 1871), ſeit 1847 Leiter der von ihm und Häußer uſw. gegründe-
ten „Deutſchen Zeitung“. Der „Shakeſpeare“ erſchien 1849 1852 in Leipzig.
ar sn 18 - 1867, Hiſtoriker und Politiker, Schüler Fr. Chr. Schloſſers (vgl. Ermatinger I,
45) Vgl. Anm. 16 zu Kellers Briefen an Frau A. Hettner.
422 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
2: Heidelberg 17 Oktbr 50.
Mein lieber Keller,
Ich bin recht undankbar, daß ich Ihnen auf Ihr(e) letzten beiden Briefe“),
mit denen Sie mir eine ſehr große Freude gemacht haben, bisher noch nicht
antwortete. In Gedanken habe ich mich inzwiſchen viel mit Ihnen beſchäftigt.
Binnen Kurzem wird Ihnen ein Heft der Blätter für literariſche Unterhaltung
in die Hände fallen, in dem ich mir den Scherz erlaubt habe unmittelbar an
Ihren letzten Brief anknüpfend meine Gedanken über die altfranzöſiſche Tra⸗
gödie 50) in die Welt hinaus zu ſchreiben. Sie würden mich aufrichtig ver⸗
binden, wenn Sie mir namentlich über die letzte Partie dieſes Aufſatzes, wo ich
die Rückkehr unſeres Dramas zum Klaſſizismus behandle, Ihre Meinung ſagen
wollten. Die Sache iſt mir ſehr wichtig. Im Allgemeinen bin ich von der Rich⸗
tigkeit dieſer Anſichten überzeugt; aber es kann ſich leicht ereignet haben, daß
dieſe Dinge im Eifer der Propaganda eine ausſchließlichere und pedantiſchere
Form angenommen haben, als ich ihnen urſprünglich zu geben beabſichtigte. Ich
denke gar nicht daran, den Reichthum der Handlung und Scenerie im Mindeſten
zu beſchränken, — wie darf da die Kritik gegen die Macht des Dichters irgend⸗
wie ſich eine Einrede geſtatten? —, ich dringe im Grunde genommen auf gar
nichts Anderes, als worauf ſeit der Sturm⸗ und Drangperiode und der Ros
mantik alle Dichter gedrungen haben, auf größere Ruhe und Einfachheit, auf die
Reaktion gegen die Haft und Breite und Unruhe des Götz von Berlichingen. 51)
Mein dramatiſches Büchlein 5% ſteckt mir noch immer im Kopf. Ich will es
betiteln „Ideen über das moderne Drama“. Es beſteht aus 4 Abhandlungen
4) die hiſtoriſche Tragödie. 2) das bürgerliche Trauerſpiel. 3) die Komödie.
4) Shakeſpearomanie und Klaſſizismus. 55) Ich gedenke nächſtens an die
Ausarbeitung zu gehen. Wenn Sie erlauben, ſchicke ich Ihnen wenigſtens den
erſten Abſchnitt über die hiſtoriſche Tragödie zu, damit Sie mir ſagen können,
ob ſich das Ding der Veröffentlichung lohnt und ob Ton und Richtung richtig
gehalten iſt. Sehen Sie doch einmal nach, ob Sie in einem Berliner Antiquariat
jenen Band von Rötſchers Jahrbüchern 5“) finden, der die Abhandlung über
Zufall und Nothwendigkeit enthält. Kaufen Sie ihn dann für mich und ſchicken
Sie mir ihn augenblicklich per Fahrpoſt. Auch wenn Sie Eduard Gans' 55)
kleine vermiſchte Schriften — worin viel Dramaturgiſches — billig erhalten,
ſo fügen Sie dieſe bei. Den Betrag ſende ich Ihnen umgehend.
Wie ſteht es mit Ihrem Heinrich? Wie mit Ihrem Drama? Eilen Sie, mir
49) Der erſte iſt verloren, der zweite —= Ermatinger II, Brief 81, Berlin, 16. 9. 1850.
6) Blätter f. lit. Unterhaltung 1850, Nr. 256-258 = Kl. Schriften, 1884, S. 397 — 412.
51) Vgl. Hettner, Das moderne Drama, S. 132 — 135.
82) Leider iſt gerade die erſte Aufnahme des Planes durch Keller verloren (vgl. Ermattinger II, S. 244).
63) Iſt in der endgültigen Faſſung in die anderen Teile (beſonders I, 2) hineingearbeitet.
84) Jahrb. f. dramatiſche Kunſt u. Literatur, Berlin 1847 — 1849; gemeint ift Ihg. 1847 (vgl.
auch Anm. 7). Über die „Jahrbücher“ ſ. Rob. Klein, H. Th. Rötſchers Leben und Wirken, Berlin,
1 8 lea 1919, 8.64— 79. Keller fand die Schriften nicht, vgl. Ermatinger II,
rief 84, S. 253.
6) Ed. Gans (1798 — 1839), Prof. d. Rechtswiſſenſchaft in Berlin, Vertreter der „pbilsfe
phiſchen Schule“ (Schüler Hegels). (Vermiſchte Schriften, 1834, 2 Bde., Berlin.)
A Ei
Dart
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 423
wenigſtens erſteren zuzuſenden. Prutz 55) giebt von Neujahr an eine neue
Zeitſchrift heraus „Deutſches Muſeum“. Es wäre mir lieb, wenn ich Sie dort
in einer der erſten Nummern beſprechen könnte.
Wahrſcheinlich iſt Dr. Bachmeyer 57) mit einer Karte von mir bei Ihnen
geweſen. Ich glaubte Ihnen ſowohl wie Bachmeyer durch dieſe Empfehlung
einen Gefallen zu thun. Hat er Ihnen fein Drama 58) vorgelefen? Und was
meinen Sie dazu? Ich wünſchte ſehr, wenn Sie mir ausführlich Ihr Urtheil
ſchrieben. Ich glaube, Bachmeyer wird noch den Brief beſitzen, in dem ich aus⸗
führlich meine erſten Eindrücke ausſpreche und motiviere. Es wäre mir inter⸗
eſſant, wenn Sie Sich einmal dieſen Brief von ihm geben ließen und mir ſagten,
in wie weit Sie damit übereinſtimmen. Jedenfalls iſt Bachmeyer ein ſehr be⸗
deutendes Talent, das in jeder Weiſe die regſte Unterſtützung verdient. Geſtern
habe ich Julia 5% von Hebbel (Iheatermanuffript) geleſen. Es iſt meine völligſte
Ueberzeugung, daß Hebbel nunmehr das Schickſal Lenaus und Hölderlins theilt
oder nächſtens ſicher theilen wird.
Haben Sie inzwiſchen Bekanntſchaften gemacht? Fanny Lewald kommt
ſpäteſtens den 1 Novbr in Berlin an. Es würde mich freuen, wenn Sie ſie recht
bald aufſuchten. Jedenfalls iſt ſie eine ſehr intereſſante Bekanntſchaft.
Bei uns iſt Alles beim Alten. Nächſte Woche beginnt das Winterſemeſter,
die Auſpicien auf Studenten find zweifelhaft. Die Gothaner 80) werden um fo
hochmüthiger, je mehr ſie faktiſch an Terrain verlieren. Kapp iſt aus dem Bade
zurück. Sein Auguſt lebt dieſen Winter auch wieder hier, mit ihm ein junger
Architekt aus München, der recht talentvoll zu ſein ſcheint. Johanna wird in
München bleiben. Sonſt durchaus nichts Neues.
Sie ſehen, lieber Keller, dieſer Brief iſt ſehr dürftig. Rechnen Sie den ge⸗
druckten in den Blättern für literariſche Unterhaltung als ſeine natürliche Er⸗
gänzung. Sie leben in der großen Stadt, Sie haben ſo leicht Briefe ſchreiben.
Nehmen Sie alſo meinerſeits den guten Willen für die That und ſchreiben Sie
mir recht bald wieder und recht ausführlich. Ich danke es Ihnen herzlich.
Nächſten Sonnabend ſehe ich die Rachel 61) in Karlsruh.
In Liebe
Hettner.
Frau und Kind grüßen beſtens.
56) Deutſches Muſeum, Leipzig 1851 - 1867, hrsg. v. Rob. Prutz, zuſammen mit Wilh. Wolfſohn
1851 - 1852, feit 1866 mit K. Frenzel.
7) J. N. Bachmayr (1819 - 1864), der unglückliche öſterreichiſche Dramatiker (vgl. Ermatinger
I, S. 222, ferner J. Minor im Grillparzer⸗Jahrbuch X [1900], 129-190, Alfr. Schaer im
Grillparzer⸗Jahrbuch XVIII [1908], 269 — 288 = Briefe an G. Keller). Im Nachlaß H. Hett⸗
ners befinden ſich 14 Briefe von ihm, die ſein Lebensbild und Dichterſtreben weſentlich ergänzen,
jetzt mitgeteilt vom Herausgeber im Grillparzer⸗Jahrbuch XXVIII (1926), S. 106 — 169.
36) Sein „Trank der Vergeſſenheit“, 1851 bei Brockhaus⸗Leipzig gedruckt. Hettner beſprach
das Drama in den Blättern f. lit. Unterhaltung 1851, Nr. 112; vgl. G. Keller, Nachgelaſſene
Schriften, Berlin 1893, S. 165 ff
56) 1850; vgl. Otto Ludwigs bekannte Kritik.
0) Die erbkaiſerliche Partei aus der Frankfurter Nationalverſammlung, die Juni 1849 dann in
Gotha zuſammentrat. (Mitglieder: Dahlmann, Gagern, Simſon, Häußer, Gervinus u. a.)
en) Eliſa Rachel (1820 — 1858), die geniale franzöſiſche Tragödin, die Keller in Berlin geſehen
hatte (vgl. Ermatinger II, Brief 81, S. 240 f.).
424 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
3. Heidelberg 25 [Febr. s)] 51.
Mein lieber Keller,
Ihr lieber Brief 52), den Sie mir durch einen heimwärts fahrenden Studen⸗
ten überſchickten, hat mich um ſo herzlicher gefreut, da ich mir allerdings ſchon
längſt im Stillen Vorwürfe machte, unſeren brieflichen Verkehr ſo lange ſtecken
zu laſſen. 3) Ich hoffe, Sie find in Ihrer liebenswürdigen Humanität mild
und nachſichtig genug, mir auch dieſen Fehl zu verzeihen. Jedenfalls rechne ich
ſicher darauf, daß Sie mir nicht Böſes mit Böſem vergelten.
Uebrigens darf ich ſagen, daß ich eigentlich in den letzten Monaten fortwäh⸗
rend an Sie gedacht und geſchrieben habe. Ich bin nämlich nun wirklich auf
meinen längſt beabſichtigten dramatiſchen Katechismus eingegangen, und ich
hoffe, er wird im Laufe des kommenden Sommers unter dem Titel „Drama⸗
turgiſche Studien“ bei Brockhaus 5% in Leipzig das Licht der Welt erblicken.
Dieſe Studien habe ich in Gedanken eigentlich an Sie geſchrieben, mein theuer⸗
ſter Freund; es iſt kein Wort darin, bei dem ich mich nicht gefragt hätte, ob es
Ihre einſichtige Zuſtimmung erhalten würde. Trotzdem habe ich bisher noch
Nichts geſchriftſtellert, über deſſen innere Berechtigung ich ſo arg im Zweifel
geweſen wäre als grade bei dieſen dramaturgiſchen Dingen. Ich nehme daher
dabei ſehr Ihre Güte in Anſpruch. In dieſem Augenblicke habe ich etwa zwei
drittel vollendet. Wenn Sie erlauben, ſchicke ich Ihnen dieſe etwa in 14 Tagen
zur Anſicht, und bitte Sie herzlich, dies Manuſkript durchzuſehen und mir Ihre
Gedanken darüber mitzutheilen.
Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß ich hier im Voraus von Ihrer rückſichts⸗
loſeſten Wahrheitsliebe überzeugt bin. Wollten Sie Mängel verhehlen oder be⸗
ſchönigen — es wäre mir ein ſchlechter Gefallen; ich hätte dann in der Offent⸗
lichkeit von Ihrer falſchen Höflichkeit den Schaden. Vor einiger Zeit ging ich mit
einem Freunde in einen Kleiderladen, auf daß er mir ſein Urtheil ſage, ob ein
Rock, den ich eben kaufen wollte, paſſend ſei oder nicht. Jener Freund meinte, er
ſitze vortrefflich und ich kaufte den Rock bona fide. Nun hat ſich aber heraus⸗
geſtellt, daß dieſer Rock ein wahres Scheuſal iſt, das trotz aller ſpäteren Reform⸗
verſuche ſchlechterdings nicht zur facon und raison gebracht werden kann. Der
Erfolg jener freundſchaftlichen Unaufrichtigkeit iſt nun, daß ich für ein Jahr der
Menſchheit zum Skandal herumlaufe und einen fortwährenden Ingrimm dar⸗
über in meinem Herzen trage. An dieſer tragiſchen Geſchichte, mein lieber Keller,
nehmen Sie Sich ja ein lehrreiches Exempel. Nennen Sie eine ſchlechte Schrift
von mir aus freundſchaftlicher Gutmüthigkeit gut und veranlaſſen mich dadurch,
ſie in die Welt zu ſchicken, ſo wäre das ein ſchlechter Dienſt. Litera scripta ma-
net. Hier wäre der Schaden irreparabler als bei jenem verwünſchten Node.
Für Ihre freundliche Zuſendung des „Grünen Heinrich“ danke ich herzlichſt.
42) Ermatinger II, Brief 87, S. 264 ff. (Berlin, 17. 2. 1851). Hettner datiert falſch 25. 7.
63) Zwei Briefe: Berlin, 23. 10. 1850 und 24. 10. 1850 (Ermatinger II, Brief 84, S. 253 ff.
und Brief 85, S. 258 ff.) hatte Hettner bisher nicht beantwortet.
60%) Tatſächlich bei Vieweg⸗Braunſchweig 1852 (das Vorwort trägt das Datum: 21. 8. 1851).
vie
„
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 425
Bisher habe ich aber erft die erften 20 Bogen 95) ; die aber grade hinreichen, mich
nach dem Genuſſe des Ganzen leckern zu machen. Es iſt mir innig wohlthuend
geweſen, in dieſer geräuſchvollen Zeit wieder einmal ein „ſtilles“ liebes Roman⸗
leben mit durchleben zu dürfen. Und ich bin gewiß, daß tauſend gleichgeſtimmte
Herzen Ihnen dies herzlich danken werden. Vor der Hand nur ſo viel, daß mich
Ihre ſchöne treue Dichtung tief in innerſter Seele getroffen hat. Ueber Kompo⸗
ſition uff. urtheile ich gern erſt, wenn ich einen Ueberblick über das Ganze habe.
Und dann, hoffe ich, werde ich Gelegenheit finden, auch öffentlich ein Wort dar⸗
über zu ſagen.
Von Bachmeyer höre ich eben ſo wenig wie Sie. Jedoch wird ſein „Trank der
Vergeſſenheit“ in dieſen Tagen erſcheinen. 6) Ich bitte, zeigen Sie das Stück im
Prutz'ſchen Muſeum an; ich bin für die Bl. für lit. Unterhaltung in Beſchlag
genommen. Das Mannheimer Theater Comité hat mir Hoffnung gemacht,
das Stück in Mannheim zur Aufführung zu bringen, dies wäre mir eine innige
Freude. Ueberhaupt ſcheint es als rege ſich jetzt das Mannheimer Theater. Schicken
Sie nur Ihre Stücke im gedruckten Manuſprikt an Otto Müller ““); dieſer hat
Einfluß auf die Regie. Mit Otto Müller habe ich in letzter Zeit Bekanntſchaft
gemacht und ich bedaure, daß Sie ihn nicht kennen gelernt haben. Er iſt Redakteur
des Mannheimer Journals; aber ein kerngeſunder Menſch. Das iſt auch einer
von den traurigen Fällen, wo eine vernünftige ſozialiſtiſche Natur durch die
Verhältniſſe gezwungen iſt, ein verſimpeltes Gotha'ſches Blatt zu redigiren.
Leſen Sie ſeinen neuſten Roman „Georg Volker“. Es iſt viel Schönes darin, ob⸗
gleich der Schluß völlig unmotivirt iſt. Müller hat jedenfalls eine ganz bedeu⸗
tende Zukunft.
Die hieſigen Gothaner liebäugeln mit der Demokratie. Sie find zwar ſüf—
fiſant nach wie vor; aber ſie fangen an zu ahnen, daß ſie herzlich dumm ſind
und daß ihre Zeit für immer vorüber iſt.
In etwa 3 Wochen gehe ich über Koburg nach Schleſien; gegen den 20t April
treffe ich in Jena 68) ein, dort beſuchen Sie mich hoffentlich recht bald; wir
machen von da aus Göthe'ſche Wallfahrten. Bis zum 15 März trifft mich Ihr
Brief noch hier. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir etwas Näheres über die An⸗
fänge einer neuen politiſchen Komödie ſagten, die ſich ja offen in den Berliner
Lokalpoſſen vorzubereiten beginnt. Die Kolatſcheck'ſche Monatsſchrift 69) brachte
jüngſt eine Poſſe „Der Reichsprofeſſor“ von Reinhold Solger. 7%) Das iſt das
Beſte, was ich von politiſcher Komik kenne.
65, Ohne Willen Kellers hatte Vieweg Aushängebogen an sine geſandt, ohne ſogar „den
Abſchluß des 1. Bandes abzuwarten“. (Vgl. Ermatinger II, S. 267.)
6) Vgl. Anm. 58.
7) Redakteur und Romanſchriftſteller (18 16 1894); feit 1848 Redakteur des Mannheimer
Journals. Sein Roman „Georg Volker“ erſchien 1851, Bremen, 3 Bde.; vorher (Frankfurt
1845): „Bürger. Ein deutſches Dichterleben.“
8) Als a. o. Profeſſor d. Kunſt⸗ u. Lit.⸗Geſchichte.
09 Ae Monatsſchrift f. Politik, Wiſſenſchaft, Kunſt und Leben“, hrsg. v. Ad. Kolatſchek,
Stuttgart 1850 f.
70) S. hg. 1851.
426 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Meine Frau grüßt Sie aufs herzlichſte. Sie haben in ihr eine große Freun⸗
din; auch ſie dankt herzlich für Ihren grünen Heinrich. Eliſabeth iſt wohl; ſie
würde einen Gruß beifügen, wenn ihre erſten ſtammelnden Sprachverſuche ſich
bereits zu ſolcher Kühnheit des Denkens zu erheben vermödteen). Moleſchott
gedenkt Ihrer aufs herzlichſte. Kapp's leben in ſtiller Zurückgezogenheit und
bauen Waſſerkünſte und Treibhäuſer und erfreuen ſich in glücklicher Aelternliebe
an der zunehmenden Virtuoſität Johannas.
In treuſter Freundſchaft
Hettner.
4. Koburg 25 März 51.
Mein lieber Freund,
Da Sie mir in Ihrem letzten Briefe 71) es fo freundlich erlaubt haben, Ihnen
meine dramaturgiſchen Manuffripte überſenden zu dürfen, fo thue ich es heute
und rechne ſicher darauf, daß Sie Ihrem Verſprechen treu bleiben und mir ohne
Rückhalt und ohne falſche Komplimente Ihre aufrichtigen Urtheile und Rath⸗
ſchläge zukommen laſſen.
Das Ganze iſt auf 3 Abhandlungen angelegt. 1) Die hiſtoriſche Tragödie.
2) Das bürgerliche Drama. 3) Die Komödie. Voran ein einleitendes Vorwort,
hinterdrein eine reſümirende Schlußbetrachtung. 79
Sie erhalten hier die beiden erſten Abhandlungen. In der 2t fehlt ein Stück,
das ich gelegentlich ausfüllen muß. Ich habe vorläufig den Notizzettel beigefügt,
der die Gedanken enthält, die an dieſer Stelle Platz finden ſollen.
Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen durch meine ſchlechte Schrift das Leſen des
Ms. erſchwert habe. Sie haben volle Muße. Ich gehe jetzt über Jena — von wo
aus Sie das Paket erhalten werden — nach Schleſien zu meinem Vater und kehre
erſt gegen den 18 April hieher nach Koburg zurück, um meine Frau abzuholen.
Wenn Sie bis dahin die Lektüre beendet haben, ſo ſchicken Sie mir geſälligſt das
Paket hieher, an mich adreſſirt mit dem Beifügen „abzugeben bei Herr Baron
von Stockmar“. )) Später würde es mich in Jena treffen. Jedoch würde ich es
vorziehen, Ihre Bemerkungen ſchon hier vorzufinden. Ich könnte dann auf der
Landſtraße von hier nach Jena ruhig über Ihre Lehren und Winke nachdenken.
Hie und da werden Sie die Benützung Ihrer lieben Briefe finden. Verzeihen
Sie es. Ich mochte nicht mit Kupfer bezahlen, was Sie mir in Gold einge⸗
händigt hatten. Alſo bis auf Weiteres Lebewohl! Betrachten Sie mein Manu⸗
ſkript mit Nachſicht. Vor Allem aber ſeien Sie ehrlich und aufrichtig.
In Liebe
Hettner.
71) Ermatinger II, Brief 88, S. 267 273 (Berlin, 4. 3. 1851).
72) Fehlt im gedruckten Werk.
78) Hettners Schwiegervater Chr. Fr. Freiherr v. Stockmar (1787 — 1863), Arzt, Freund us
Ratgeber Leopolds I. von Belgien ſowie der Königin Viktoria von England (vgl. U. Stern,
H. Hettner, Leipzig 1885).
wer
„
.
Glaſer⸗Ger hard, Briefe Hettners an G. Keller 427
Die letzte Abhandlung über den Haushalt 7% der trag. Kunſt iſt noch durchweg
in der Rohheit des erſten Entwurfes. Ich ſchicke ſie aber mit, weil es mir auf
Ihre Kritik der darin niedergelegten, zum Theil in Geſprächen mit Ihnen ent⸗
ſtandenen Gedanken ankommt. Alfo ſehen Sie ab von der Form. Wo Sie in den
vorhergehenden Abhandlungen ſtiliſtiſch Correkturen wünſchen, ſo ſchreiben Sie
ſie an den Rand.
5. Mein guter Keller,
Ich habe fo lange Nichts von Ihnen gehört, 7%) daß ich gar nicht weiß, ob Sie
noch in Berlin ſind. Ich ſchreibe Ihnen daher jetzt nur wenige Zeilen, die Sie
fragen ſollen, wo Sie Sich jetzt befinden. Schreiben Sie mir umgehend, da⸗
mit wir unſere Correſpondenz aufs neue eröffnen können. Noch beſſer iſt es,
Sie ſetzen Sich augenblicklich auf die Eiſenbahn. Wir machen dann eine
Partie miteinander zu Fuß durch den Thüringer Wald. Wie ſchön wäre das!
Aber ſchnell!
Jena 27 Auguſt 51. In treuſter Liebe
Hettner.
6. Jena 29 Auguſt 51.
Mein lieber Keller, N
Ich habe mich herzlich über Ihren lieben Brief 7%) gefreut, obgleich er mir die
bedauerliche Nachricht brachte, daß ich auf Ihre liebe Reiſegeſellſchaft verzich⸗
ten foll.
Der Gedanke, daß Sie friſch und luſtig produziren und nächſten Winter auf
dem Berliner Theaterzettel prangen, tröſtet mich. Sorgen Sie nun aber auch
wirklich dafür, daß das Alles ſchnell von Statten geht. Man muß das Eiſen
ſchmieden, ſo lang es noch warm iſt. Aber warum ſind Sie denn ſo karg und
laſſen mich nicht einmal Stoff und Titel Ihres neuen Luſtſpiels 77) wiſſen?
Allerdings gedenke ich dieſen Herbſt auf einige Tage nach Berlin zu kommen.
Aber erſt ſpäter. Ich möchte Sie nicht in der Arbeit ſtören, alſo erſt die Vollen⸗
dung Ihres Stückes abwarten, und doch möchte ich zugleich noch mit Ihnen in
Berlin zuſammenſein. Schreiben Sie mir alſo hierüber. Ich habe in Betreff der
Zeitanordnung bis gegen den 20t Octbr hin völlig freie Hand.
Scheerenbergs Waterloo 78) kenne ich und ſchwärme dafür. Ich freue mich,
daß Sie ihn kennen. Und noch mehr freue ich mich, wenn er Ihnen in der
Scenirung Ihrer Theatralia von Nutzen ſein kann.
Meine dramaturgiſchen Unterſuchungen ſind ſeit einigen Wochen bereits in
Braunſchweig bei Vieweg und werden bald in Druck kommen. Jedenfalls
74) — Hettner, Das moderne Drama, II, 3 (Die Okonomie der trag. Kunſt), S. 110 ff.
75) Keller hatte am 16. 4. 1851 geantwortet (Ermatinger II, 283 ff., Brief 90); ſomit ſcheint ein
Antwortbrief Hettners verloren zu fein (April bis Auguſt 1851).
70) Ermatinger II, 286 ff., Brief 91 (Berlin, 29. 8. 1851: wohl irrtümlich für ein früheres
Datum 7).
77) „Die Roten“; vgl. Ermatinger I, 274 über Stoff uſw., und M. Preis a. a. O.
78) 1849.
müſſen Sie dieſe, wo möglich in den Brockhaus'ſchen Blättern anzeigen. Das
eilt aber nicht. Bis dahin ſind Sie mit Ihrem Luſtſpiel fertig.
Im letzten Abſchnitt, der über die Komödie handelt, habe ich einen Ihrer
Briefe abgeſchrieben.??)) Im Manufkript ſteht Ihr Name; bei der Correktur
ſteht mir aber noch frei, beliebig zu ändern. Ich frage alſo hiemit um er⸗
gebenſte Erlaubniß, ob ich Ihren Namen nennen darf.
Wenn Sie Ihren Aufſatz über Bachmayr 80) abdrucken laſſen, fo verbinden
Sie mich ſehr. Ich möchte gern dem guten Kerl förderlich ſein. Ich habe alſo
einen Brief an den Redakteur der Conſtit. Zeitung beigelegt. Dieſen Brief
packen Sie mit Ihrem Manuſcript zuſammen, adreſſiren ihn, ſchreiben auf
die Adreſſe: Abſender Dr. Hettner, und geben ihn auf die Stadtpoſt, wenn
Sie nicht vorziehen, Rochaus 81) perſönliche Bekanntſchaft zu machen. Er iſt
ein ſehr lieber und netter Menſch.
Mir gefällt es hier ſehr gut. Meine Frau, die Sie beſtens grüßt, hat mir
vor einiger Zeit wieder ein allerliebſtes Gedicht geſchenkt, das ich „Felix“
getauft habe. Das erſte Kind, Eliſabeth, läuft ſchon.
So ſehe ich denn einer recht baldigen Antwort entgegen. Ende nächſter Woche
werde ich allerdings einen Ausflug in den Thüringer Wald machen. Ich habe
inzwiſchen einen anderen Reiſegefährten gefunden.
Herrn Dr. Widmann 82) kenne ich. Er iſt unleugbar geſcheut; aber ich mag
aus leicht begreiflichen Gründen Nichts mit ihm zu thun haben, da ich ſeine
Vergangenheit kenne. Er iſt einige Zeit hier Führer der demokratiſchen Partei
geweſen. Als aber ſeine Züricher und Berliner Antecedentien hier bekannt
wurden, da hat man ihn an die Luft geſetzt. In dieſen Tagen iſt ein Buch von
ihm erſchienen „Geſetze der ſozialen Bewegung“, das enthält eine „Recht⸗
fertigung“, die merkwürdig iſt und geleſen zu werden verdient.
Adieu. Hettner.
7. 5 Jena 22 Septbr 51.83)
Mein lieber Keller,
Ich rechne ſicher darauf, daß wenn Sie dieſen Herbſt nach der Schweiz 8“)
gehen, bei Jena nicht vorüberfliegen, ohne mich beſucht zu haben. Gegen Neu⸗
jahr komme auch ich wohl einmal nach Berlin. Wir ſehen uns alſo in kurzer
Zeit ganz beſtimmt.
Alles Weitere demnach der mündlichen Unterhaltung aufſparend, komme ich
heute nur mit einer Bitte. Ich weiß nicht, ob Sie in der Sache etwas thun
75) Hettner, Das moderne Drama, 177 180, mit Namensnennung (Ermatinger II, Brief 81).
60) Keller wußte nicht, „wohin damit“. Abdruck erfolgte am 19. 9. 1851 in der „Konſtit.
Zeitung“ (= Nachgel. Schriften 1893, S. 165 ff.).
61) A. L. v. Rochau (18 10 1873), infolge feiner Verurteilung zu 20 Jahren Zuchthaus (Sturm
auf die Frankfurter Hauptwache 1833) nach Paris entflohen, war 1848 heimgekehrt, ſeitdem tãtig
für die nationale Einigung.
2) Chr. Ad. Fr. Widmann (18 18 - 1878), Freund Scherenbergs, Sozial politiker und Dichter
(vgl. Ermatinger I, S. 226 u. 496 f.).
62) Kellers Brief vom (18., fo Ermatinger!) September 1851 (Ermatinger II, 289 ff. Brief 92)
kann erſt nach dieſem Brief, alſo nach dem 22. 9. beendet und abgegangen fein, vgl. Aum. 86.
85) Keller hatte am 29. 8. (Ermatinger II, 286 f., Brief 91) dieſen Plan geäußert.
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 429
können. Heinrich Simon 85), der bekannte Reichstagsdeputirte und Reichs⸗
regent, lebt als politiſcher Flüchtling in dem Kanton Zurich. Er möchte gern
in Zürich das politiſche Bürgerrecht erwerben, und er meint, es nütze ſeinen
Zwecken, wenn der Züricher Regierung, ſei es nun auf privatem Wege oder
durch die Schweizer Preſſe, gelegentlich unterbreitet werde, daß er in ſeinem
Vaterlande als ein ganz ehrenhafter und unbeſcholtener Charakter daſtehe.
Können Sie in dieſer Sache etwas thun, ſo iſt es mir lieb.
Sie haben mir noch nicht geantwortet“), ob Sie mir erlauben, Ihre Anſichten
über die neuere politiſche Komödie unter Ihrem Namen vorführen zu dürfen.
Wie ſteht es um Ihre dramatiſchen Dinge? 87) Schreiben Sie mir recht
bald darüber. Sie glauben gar nicht, wie innig ich an Ihren theatraliſchen
Beſtrebungen theilnehme.
Darf ich darauf rechnen, daß Sie meine dramaturgiſchen Unterſuchungen in
den Bl. f. lit. Unterhaltung beſprechen? 86) Ich hoffe, Sie find bis dahin mit
Ihrer Production zum Abſchluß gekommen und erholen ſich dann in dieſem
gelegentlichen kritiſchen Streifzug. Glauben Sie mir, mein guter Keller, Sie
können friſch vom Herzen wegſprechen mit rückſichtsloſem Tadel; Sie können,
wenn Sie meinen, das ſei für Ihre jetzigen) Verhältniſſe paſſender, Ihren
Namen verſchweigen; nur wünſchte ich, daß die Beſprechung in dieſem Blatte in
rechte Hand käme
Ich freue mich ſehr darauf, daß nun der grüne Heinrich bald ganz in meinen
Händen iſt. Ich kann meine Spannung kaum bezwingen, hie und da verſtohlen
in die Bogen hineinzugucken; aber ich ſuche es über mich zu gewinnen, das
Ganze abzuwarten, um den Geſammteindruck rein zu haben.
Leben Sie wohl, mein treuer Freund, und behalten Sie mich und meine
kleine Frau in treuem Andenken! Schrieb ich Ihnen denn ſchon, daß zu der
kleinen Tochter inzwiſchen ein noch kleinerer Sohn gekommen iſt? Wenn Ihr
Luſtſpiel 86) in Berlin gegeben wird, komme ich jedenfalls zur erſten Vor⸗
ſtellung hinüber.
In alter Liebe
Hettner.
8. [Herbſt 88) 1851.
Mein lieber Keller,
Wundern Sie Sich nicht über den wunderlichen Pack, den ich Ihnen hier in's
Haus ſchicke.
85) September 1851 war er wegen politiſcher Tätigkeit in contumaciam zu lebenslänglichem
Zuchthaus verurteilt und lebte in Murg am Walenſee als Bergwerksdirektor; 1860 ertrank er beim
Baden. — Herbſt 1851 nach Zürich übergefiedelt, erhielt er Juli 1852 den Schweizerpaß, wofür ſich
Keller bei Wilh. Baumgarten (Muſikdirektor i. Z.) verwandte. (Vgl. Ermatinger II, S. 282, Anm.
und J. Jacoby, Heinr. Simon, Berlin 1865, 2 Bde.)
86), Mithin iſt Kellers Brief vom (18.) 9. 51 erſt nach dieſer Anfrage Hettners beendet und
abgegangen, ſ. Anm. 83.
ST) Keller berichtet (Ermatinger II, 290) von einem 2. Luſtſpiel: „Jedem das Seine“ (vgl.
Ermatinger I, 274 f. und Preis).
88) Wahrſcheinlich im Oktober 1851.
430 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Es liegt mir ſehr viel daran, daß Sie in der That ein öffentliches Wort 89)
über mein neues Schriftchen ſagen. Es wird ohnehin eine ſchwierige Stellung
in der Welt haben. Nun weiß ich aber, daß Sie jetzt viel beſchäftigt ſind, daß
Sie Luſt⸗ und Trauerſpiele 90) im Kopfe herumtragen und daß Sie zu guter letzt
ſogar an eine Reiſe nach Zürich denken. Ich will Ihnen daher die Sache mög⸗
lichſt bequem machen und ſchicke Ihnen einſtweilen Aushängebogen und Cor⸗
rekturbogen bunt durch einander, nur damit Sie das Ganze vor Augen)
haben und Ihre Rezenſion ſchreiben können, wenn Ihnen dieſe Arbeit grade
am wenigſten für Ihre dichteriſche Muſe ſtörend iſt.
Sobald die übrigen Aushängebogen in meinen Händen ſind, ſchicke ich
Ihnen dann dieſe ebenfalls, damit Sie ein vollſtändiges Exemplar haben. Auf
dem letzten Correkturbogen fehlen noch etwa 8 Druckſeiten. Dieſe enthalten
den Gedanken, daß ſich vielleicht einmal eine Tragödie herausbildet, in der
große Volksſcenen die Maſ(ſen)wirkung der Muſik melodramatiſch zu Hilfe
ruf(en). 91)
Was nun näher Ihre Anzeige anlangt, ſo wäre mir es lieb, wenn Sie dieſe
für die Bl. f. lit. Unterhaltung ??) einrichten wollten; vorne für den großen
Druck, nicht für den kleinen. Vielleicht wäre ein(e) räſonnirende In⸗
haltsanzeige am zweckdienlichſten. Ich hoffe, Sie kennen mich genug, um zu
wiſſen, daß mir Ihre Beſprechung um fo lieber fein wird, je offener und rüds
haltsloſer ſie iſt. Wenn ich grade Sie angelegentlich um eine ſolche Beſprechung
bitte, ſo geſchieht das nicht darum, weil ich von Ihnen als meinem Freunde
laxere Nachſicht verlangte und erwartete, ſondern nur darum, weil ich weiß,
daß Sie die Sache ſelbſt kennen und mein Buch objectiv beurtheilen. Und
um ein ſolches objectives Urtheil iſt es mir zu thun, denn das Buch ſchlägt ſo
derb den herrſchenden Coterien 2) in's Angeſicht, daß ich auch auf ſehr viele
Angriffe gefaßt bin, die nicht eben die lauterſte objective Quelle haben möchten.
Schreiben Sie mir recht bald, wieweit Sie mit Ihren Productionen ſind.
Und laſſen Sie Sich durch meine Bitte zunächſt nicht ſtören. Die Rezenſion hat
noch Zeit; das Buch wird ja erſt etwa in 4 Wochen erſcheinen.
In Liebe
Jena Montag. Hettner.
9. (Herbſt 1851.)
Mein lieber Keller,
Ihren lieben Brief“) habe ich erhalten. Ich freue mich herzlich, wenn ich
Ihnen mit beifolgender Summe dienen kann.
80) Wie Keller verſprochen hatte (vgl. Ermatinger II, 290, Brief 92).
90) Auch eine „Agnes Bernauerin“ (vgl. Ermatinger Il, 290, Anm. 2).
1) Faſt wörtlich jo im „Modernen Drama“, S. 194.
2) 1826 — 1898 bei F. A. Brockhaus in Leipzig (1826 — 1852 mit literar. Anzeiger).
93) Eine ſehr kenntnisreiche und eingehende (nicht immer zuſtimmende) Kritik ſchrieb E. Palleske
ſtatt Keller in den Blättern f. lit. Unterhaltung, 1852, Nr. 9, 28. 2., S. 193 - 196; in der Auge
burger Allg. Zeitung beſprach O. Müller das Buch am 12.— 13. I.
%) Der Brief iſt verloren gegangen. Kellers Bitte und Hettners Antwort fallen in die letzten
Monate 1851, vgl. Ermatinger II, 311, Brief 100 (Berlin, 16. 7. 1853).
Glaſer-⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 431
Wenn Ihnen mein Buch zugeſagt hat, iſt mir das natürlich ſehr angenehm.
Wollen Sie Ihrem Verſprechen treu bleiben und einige Worte an Brockhaus
ſchicken, ſo verbinden Sie mich ſehr. Sobald der Reindruck vollſtändig beſorgt
und die Verſendung erfolgt iſt, ſo ſchicke ich Ihnen die fehlenden Aushänge⸗
bogen und bitte allerdings um Eile der Beſprechung. Das Buch wird ohne⸗
hin Feinde genug finden, ſo daß ihm für's erſte eine freundliche Einführung
wohl zu wünſchen iſt.
Wenn Sie Sich ein Gewiſſen über Ihren abgedruckten Brief 95) machen,
ſo thun Sie Unrecht. Nur ein Eſel kann Ihre Meinung über Wieland und die
deutſche Einheit mißverſtehen.
In den Weihnachtsferien komme ich ſicher nach Berlin. Dann treffe ich Sie
noch dort und laſſe mir viel von Ihren dramatiſchen Geſchichten erzählen und
vorleſen. Vielleicht höre ich dann das eine oder das andere Ihrer Stücke ſchon
von der Bühne herab. Palleske 96) hat mir erzählt, daß Sie immer ein Stück
nach dem anderen ſchreiben.
In treuſter Liebe
Hettner.
10. Jena 6. 1. 52.
Mein lieber Keller,
Sie werden täglich einen Brief von mir erwartet?“) haben, und ich habe
Ihnen allerdings täglich ſchreiben wollen. Wenn ſich mein Vorſatz bis jetzt
verzögert hat, ſo liegt der Grund lediglich daran, daß ich Ihnen den ver⸗
ſprochenen Layard 98) zu ſchicken gedachte. Dieſer iſt aber jetzt nicht in meinen
Händen. Ich hatte in Berlin vergeſſen, daß ich ihn einem Weimarer Kompo⸗
niſten Raff 99) geliehen hatte. Dieſer hat ihn mir noch nicht zurückgeſchickt.
Und ich mag ihn mir nicht fordern, weil ich weiß, daß er ihn braucht. Er
ſchreibt nämlich eine Oper Simſon, und will ſich aus dieſem Buche eine An⸗
ſchauung des alten aſſyriſchen und phöniziſch-philiſtäiſchen Cultus holen. So⸗
bald ich alſo kann, ſchicke ich ihn Ihnen ſogleich.
95) Vgl. Anm. 79 (Hettner, Das moderne Drama, S. 177 f.).
ve) Emil Palleste (1823 1880), Dichter und Rezitator, Verfaſſer vom „Leben Schillers“, mit
dem auch Hettner im Briefwechſel ſtand. (Vgl. Ermatinger I. S. 224f.)
97) Dieſem Briefe liegen perſönliche Beſprechungen mit Keller zugrunde (vgl. z. B. Anm. 98
und 100), da Hettner um Weihnachten 1851 in Berlin war (f. Brief 9). Damals ſcheint Keller
die wiſſenſchaftliche Rezenſion des „Modernen Drama“ in den Blättern f. lit. Unter⸗
haltung abgelehnt zu haben, ſo daß Palleske ſie geben mußte (ſ. Anm. 93); dagegen hat er vielleicht
(Chiffre ) die gewünſchte Anzeige in der „Deutſchen Allg. Zeitung“ am 30.1.1852, Nr. 50,
geſchrieben.
98) Auſten Henry Layard (geb. 1817), berühmter engliſcher Staatsmann, Altertums forſcher und
Schriftſteller. Seit 1839 auf Reiſen im Orient, begann er 1845 umfaſſende Ausgrabungen auf
dem Boden des alten Ninive und Babylon. Die Ergebniſſe wurden niedergelegt in dem Werke:
„Niniveh and its remain“, London 1848, 2 Bde. (überſ. v. Meißner, Leipzig 1850). Um dieſe
Uberſetzung hatte Keller gebeten aus einem nicht mehr erſichtlichen Grund (dramatiſcher Plan ?).
90) Joach. Raff (1822 - 1882), Komponiſt von großer Produktionskraft, 85 Liſzts, dem .
1850 nach Weimar rise Als Schriftſteller tätig für die „neudeutſche Schule“, z. B.
Wagnerfrage“ 1852, Braunſchweig. — Die Oper „Simſon“, deren Text Raff ſelbſt ſchrieb, blieb
un veröffentlicht (1852 vollendet).
432 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Die Zwiſchenzeit, hoffe ich, vollenden Sie Ihren grünen Heinrich, ſo wie
Sie nun wohl auch den Romancero 100) vollendet haben.
Ihre neuen Gedichte 101) habe ich mit großer Freude geleſen. Der Fortſchritt
ſeit Ihren erſten Gedichten iſt unverkennbar. Eine reife, durchgebildete Ge⸗
dankentiefe, verbunden mit lyriſcher Friſche! Wenn Sie mir erlauben, werde
ich dieſe Geſchichte in der Brockhaus'ſchen Zeitung 102) beſprechen, in der ich
überhaupt eine Novitätenſchau zu übernehmen gedenke, in der Weiſe, wie die
Conſtitutionelle Zeitung in ihrem „Büchertiſch“ ſolche ſtändige Ueberſichten
giebt. Das wird in etwa 14 Tagen geſchehen. Bis dahin bin ich von anderer
Arbeit ganz und gar überladen.
Wenn Sie vielleicht eben dahin, d. h. in die Allgemeine Deutſche Zeitung eine
kurze, etwa 40 — 50 Zeilen enthaltende Feuilletonanzeige meines Buches ſchicken
wollten, fo wäre ich Ihnen herzlich verbunden.!“ ?:) Und zwar um ſo herzlicher, je
früher das geſchähe. Es wäre mir meiner hieſigen Verhältniſſe halber ſehr angenehm.
Ich wiederhole meinen Dank für die freundliche Zeitaufopferung, mit der
Sie meinen Berliner Aufenthalt verfchönt haben. Ich habe doch recht viel An⸗
regung von dort mitgebracht, und dieſe verdanke ich größtentheils Ihnen.
Sollte es mir gelungen ſein, Ihnen recht Luſt zu Ihrem vortrefflichen Luſt⸗
ſpielplan 103) gemacht zu haben, und wollten Sie recht bald an Ihre beiden
Tragödien 10% gehen, fo wäre ich aufrichtig erfreut darüber. Es find fo vor⸗
treffliche Stoffe, und der Muth und die Kraft der Ausführung wird Ihnen
nicht fehlen. Laſſen Sie dies Wiederſehen uns dazu gedient haben, daß wir
uns, wo möglich, für das Leben als treu zuſammengehörig betrachten. Sie
meinerſeits können meiner herzlichſten Zuneigung verſichert ſein.
Und damit ich ſogleich Ihre Freundſchaft auf eine recht proſaiſche Probe
ſtelle, bitte ich Sie, daß Sie Sich bei Miquel einmal nach meiner Spickgans
erkundigen. Ich habe nämlich vor etwa 8 Tageln) einen Brief incl. 1 rh.
geſchickt und ihn gebeten, er möge mir eine Spickgans hieher nach Jena be⸗
ſorgen. Aber weder Antwort noch Spickgans iſt gekommen.
Meine Frau grüßt herzlichſt. Ein gutes neues Jahr! Nächſtens mehr!
In Liebe
Hettner.
Am Rande: Das Wagnerſche Schriftchen 105) ſchicke ich mit dem Layard.
100) „Der kleine Romanzero“ — alter Titel des „Apothekers v. Chamounix“, den Keller als
. des 1851 erſchienenen Heine⸗Werks ſchrieb. (Vgl. über die Entſtehung: Ermatinger
400 ff.
101) Erſchienen 1851 bei Vieweg (vgl. Ermatinger I, 254 ff.), angezeigt u. a. durch Prutz im
„Deutſchen Muſeum“ 1852, II, 835 ff.
102) Die „Deutſche Allg. Zeitung“ (urſprünglich, d. h. ſeit 1. 10. 1837: Leipziger Allg. Zeitung).
1028) Siehe oben Anm. 97.
103) „Jedem das Seine“, vgl. Anm. 87.
104) „Thereſe“, die Keller allerdings September 1851 „zurückgeſtellt“ hat (an Baumgartner, vgl.
Ermatinger II, 277, Brief 89) und „Agnes Bernauerin“, vgl. Anm. 90. Zugleich dachte Keller an
Dramatiſierung von Gotthelf⸗Novellen, z. B. „Elfi, die ſeltſame Magd“, ein Stoff, den ihm
Moſenthal mit dem „Sonnwendhof“ (1854) fortnahm (vgl. Ermatinger I, 275).
1 =) 1 Theater in Zürich“, 1851. Über Kellers Stellung zu R. Wagner vgl. Ermatinger
375 ff. |
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 433
11. (Jena, 6. März 1852.) 106)
Mein lieber Keller,
Ich hoffe, daß Sie meine Anzeige 107) über Ihre Gedichte in der Brockhaus⸗
ſchen Zeitung geleſen haben werden. Ob ſie in Ihrem Sinne war, weiß ich
nicht; ſollte dies nicht der Fall ſein, ſo bitte ich dies auf Rechnung der unend⸗
lichen Zerſtreutheit und Zerſplitterung zu ſetzen, die ſich jetzt meiner bemächtigt
hat. Es iſt mir nämlich ganz unerwartet die Gelegenheit gekommen, unter
günſtigen Umſtänden Griechenland 108) bereiſen zu können und ich werde dieſe
Gelegenheit benutzen. Und zwar ſo, daß ich ſchon in 8 Tagen abreiſe. Ende
Mai ſpäteſtens bin ich jedoch wieder zurück. In Betreff des Geldes 109) ſorgen
Sie Sich nicht. Erhalten Sie jedoch in nächſter Zeit eine Sendung, die Sie ent⸗
behren können, ſo ſenden Sie dieſe nur an meine Frau, da Sie Sich leicht
denken können, daß meine jetzige Reiſe mir arg in den Beutel greift.
Leben Sie wohl. Schreiben Sie mir noch einmal vor meiner Abreiſe, die
den 14 März erfolgt und bewahren Sie mir ein freundliches Andenken.
Herzlich Ihr
Hettner.
32; Jena 21 Juni 1852.
Mein lieber Keller,
Ich will Ihnen nur mit wenigen Worten melden, daß ich ſeit Pfingſten
wieder in Deutſchland bin. Ihnen von meiner Reiſe erzählen, hieße ein
Buch 108) ſchreiben; ich hoffe, Sie machen dieſen Herbſt einmal eine Thüringer
Reiſe, und da finden wir Gelegenheit genug, uns von unſeren gegenſeitigen
Erlebniſſen vorzuplaudern. Für heut alſo nur ſo viel, daß Griechenland wun⸗
derbar ſchön, in ſeinem jetzigen Zuſtand aber entſetzlich elend iſt.
Widmann 110) erzählt mir, daß er Sie in Berlin geſehen hat. Was machen
Sie und was treiben Sie? Sie müſſen ſich den Roman vom Halſe ſchaffen,
eher haben Sie keine Luſt zu neuer Production. Schreiben Sie mir ausführlich.
In alter Treue
Hettner.
13. Jena 6 [Juli 111) ] 1852.
Mein lieber Freund,
Nur höchſt ungern entſchließe ich mich zu der Bitte, daß Sie mir, ſo bald
es Ihnen nur irgend möglich iſt, wenigſtens einen Theil des Geldes, das Sie
106) Auch auf den Brief Nr. 10 hat Keller anſcheinend nicht geantwortet.
107) „Deutſche Allg. Zeitung“ 28. 2. 1852, Nr. 100 (unter Chiffre n), zugleich über „Grünen
Heinrich“ J ganz kurz.
108) Hettners griechiſche Reiſe dauerte von März bis Mai (Pfingſten) 1852. Die Eindrücke der
Reiſe ſind zuſammengefaßt in den „Griech. Reiſeſkizzen“ 1853. Reiſebegleiter: K. Göttling (Pro⸗
feſſor in er und L. 1 (vgl. Stern, 134 — 156).
109) Vgl. Brief Nr. 9 u.
210) Bg. Anm. 82.
211) Hettner ſchrieb irrtümlich: Februar. Auf Brief. 11 — 12 hat Keller nicht geantwortet, trotz
Hettners Bitte.
28
Suphorion XXVIII.
434 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
2... —. —. . — — . —
von mir in Händen haben, zurückerſtatten. Ich habe in der griechiſchen Reiſe
viel, ſehr viel Geld gebraucht. Und bin jetzt wirklich gradezu in Noth, da meine
laufenden Finanzquellen bis zu nächſtem Weihnachten faſt gänzlich verſiegt ſind.
Seien Sie nicht böſe. Ich wage dieſe Bitte nur, weil ich nicht anders kann.
In alter treuer Liebe
Hettner.
14. Jena 18 Juli 1853. 112)
Mein lieber Freund,
Nur mit wenigen Worten will ich Ihnen umgehends melden, eine wie große
Freude Sie mir mit Ihrem lieben Briefe 113) gemacht haben. Ich habe hundert⸗
mal jenen unſeligen Augenblick verwünſcht, da ich mir beikommen ließ, Sie um
die Rückſendung der bewußten Summe zu bitten. Ich war aber damals in
großer Verlegenheit. Jetzt iſt dieſe Verlegenheit längſt vorüber und mir war
aus derſelben keine andere Spur zurückgeblieben als das drückende Bewußt⸗
ſein, mir durch dieſelbe leichtfertig einen wahren und wackeren Freund ver⸗
ſcherzt zu haben.
Ich hätte Ihnen ſchon ſeit langen Monaten geſchrieben, aber zuerſt fürchtete
ich, ein Brief von mir möge Ihnen unangenehm ſein, und ſodann war in der
That unſer Briefwechſel ſo lange Zeit unterbrochen, daß ich nicht wagte, ſo aufs
blinde Ungefähr Ihnen einen Brief zuzuſchicken. Ich wußte nicht, wo Sie in
Berlin wohnten und ob Sie überhaupt noch in Berlin ſeien. Freuen wir uns
alſo, daß das Schweigen gelöft iſt. Laſſen Sie Sich über jenes alberne Geld
kein graues Haar wachſen. Glauben Sie mir, daß ich in meinem viel verwickelten
Leben in allzu viel ähnlichen Lagen geweſen bin, als daß ich nicht die Ihrige aus
tiefſter Erfahrung gründlich verſtände. Knüpfen wir da wieder an, wo wir
aufgehört haben. Vor Allem, bleiben wir Freunde! Es iſt in dieſer Wirrniß
aller Richtungen und Stimmungen ſo außerordentlich ſelten, wenn zwei Men⸗
ſchen in den wichtigſten Dingen ihres Denkens und Seins übereinſtimmen, daß
Solche, die durch eine ſo ſeltene Uebereinſtimmung miteinander verbunden
ſind, nicht alberner Dinge halber auseinanderlaufen dürfen.
Ich freue mich ſehr zu hören, daß Sie ſo luſtig oder vielmehr ſo ſtetig und
unverdroſſen fortarbeiten. 114) Es giebt heute Wenige, ſehr Wenige, denen das
Dichten heut noch wirklich inneres Erlebniß und inneres Bedürfniß 115) iſt.
Was Sie von Widmann 115) fagen, daß er nur auf das fingerfertige Machen
112) Auf Hettners Bittbrief (Nr. 13) hatte Keller ein volles Jahr lang nichts geantwortet.
113) Erſt am 16. 7. 1853 (Ermatinger II, 311 ff.), Brief 100, nimmt Keller den Briefwechſel
wieder auf.
114) Keller ſpricht in feinem Brief von einem Luſtſpiel (wohl „Jedem das Seine“), der „Heine⸗
Romanzero⸗Geſchichte“ (= „Apotheker v. Chamounix“), dem „Grünen Heinrich“, von dem I—III
bald verſendet werden ſollen (1854), und der 2. Aufl. der „Neueren Gedichte“.
115) Keller hatte (Ermatinger II, 313) Ad. Widmanns Erzählungen „Am warmen Ofen“ ſcharf
als Mache kritiſiert; den „Niederſchlag der Berliner Erlebniſſe“ bringen als Literaturſatire dann
die „Mißbrauchten Liebesbriefe“, in der Hauptſache 1855 geſchrieben, doch erſt 1865 in der „Deut ⸗
ſchen Reichszeitung“ von Vieweg abgedruckt, 1873 mit den früheren Erzählungen zum 2. Bd. der
„Leute v. Seldwyla“ bei Weibert vereinigt (vgl. Ermatinger I, 485 ff. u. 495 — 497).
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 435
ausgehe, daß überall Abſicht und äußere Rückſicht hindurchleuchte, das gilt von
den Meiſten. Darum werden und müſſen Sie den größten Erfolg haben. Sie
meinen es ernſt mit der Kunſt, und der Ernſt gewinnt zuletzt immer den Sieg.
Leider iſt mir Ihr grüner Heinrich ſo unterbrochen und in ſo langſamer Folge
zugekommen, daß mir in meiner unordentlichen Wirthſchaft ſchon einzelne
Bogen verloren ſind. Sobald aber das Ganze erſchienen ſein wird, werde ich
mir es verſchaffen. Und Sie werden aus meiner Beſprechung erſehen, daß ich
redlichen Antheil an dieſer Schöpfung nehme.
Die Lewald 116) ſchickt jetzt auch wieder einen dreibändigen Roman in die
Welt. Soviel ich weiß, eine Pathologie der Ehe. Ich habe kein groß(es) Zu⸗
trauen; obgleich Stahr 117) bis in den ſiebenten Himmel über dieſen Roman
entzückt iſt. Uebrigens bin ich mit Stahr und Lewald faſt gänzlich ausein⸗
ander. ... So viel ich weiß, kommt es wirklich noch zur Heirath. ...
Leſen Sie doch gelegentlich einmal meine griechiſchen Skizzen. 118) Und
ſagen Sie mir Ihr Urtheil. Es iſt in öffentlichen Blättern 119) ſehr viel ver⸗
worrenes Zeug darüber geredet worden. Ich habe viel Arbeit in das Buch
geſteckt; ich wollte verſuchen, ob mir auch das nicht rein didactiſche, ſondern
auch das mehr ſchildernde und darſtellende Genre zugänglich ſei. Und darüber
wäre mir ein Wort von Ihnen von großem Werth. Jetzt arbeite ich an einem
ſehr weitſchichtigen Werk über die Literatur des 18 Jahrhundert. 120) 1 Theil
die engliſche 2 Theil die ſranzöſiſche 3 Theil die deutſche Literatur. Jetzt ſtecke
ich in der engliſchen Literatur, bringe aber allerhand hübſche und neue, und
für die ganze Aufklärungsgeſchichte wichtige Thatſachen und Geſichtspunkte.
Leider habe ich mich etwas abgearbeitet und leide viel an geſchwollenen
Augenlidern. Ich gehe deshalb vom 10 Aug —10 Septbr in das Seebad zu
Wangeroge. Auch meine Frau iſt jetzt im Bade. Sie war im März und April
ſo krank, daß die hieſigen Arzte ſie alle aufgegeben hatten. Das Bad aber,
Sulza bei Weimar, kräftigt und ftärft fie.
Nun leben Sie wohl, alter treuer Freund, behalten Sie mich lieb, und ſchrei⸗
ben Sie mir, wo möglich, umgehends. Ich wiederhole nochmals, daß ich mit
alter und unveränderter Liebe an Ihnen hänge und daß ich auch nie einen
Augenblick in dieſer alten treuen Geſinnung ſchwankend geweſen bin.
Hettner.
116) „Wandlungen“, Braunſchweig 1853, 3 Bde. (vgl. Anm. 44).
117) Ad. Stahr (1805 — 1876), Schriftſteller und Dramaturg in Oldenburg, der Fanny Lewald
1845 in Rom kennenlernte und 1854 nach Trennung feiner erſten Ehe heiratete. (Vgl. über beide
vor allem Kellers „Mißbrauchte Liebesbriefe“ .)
118) Keller (im Brief vom 16. 7. 1853 — Ermatinger II, 312) hat das Buch noch nicht geleſen;
fein | Urteil (ausführlich und befriedigt) ſteht im Brief vom 15. 10. 1873 (Ermatinger II, 319 f.).
110) Z. B. 1. Augsburger Allg. Zeitung vom 2. 4., Nr. 92: Ablehnung von Hettners Urteil über
geſellſchaftliche und politiſche Zuftände in Griechenland; 2. Deutſche Allg. Zeitung vom 19. J.,
Nr. 114: mit Lob der eleganten Darſtellung; J. Blätter f. lit. Unterhaltung vom J0. 7., Nr. 31
und 5. 11., Nr. 45: dsgl., aber Tadel der Urteile über das jetzige Griechenland; 4. Prutz „Deut-
ſches Muſeum“ vom 18. 8., Nr. 34: ähnlich. — Über Hettners Schilderung der politiſchen Zuſtände
in Griechenland entſpann ſich eine köſtliche Fehde zwiſchen Jak. 8 und L. Roß im „Deut⸗
ſchen Muſeum“ 1854.
120) J: Braunſchweig 1856, II: 1860, III: 1862 — 1870.
436 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
2 — —ñ——ñ— . —
15. Jena 16 Septbr 1853. 121)
Mein lieber Freund,
In Wangeroge bin ich nicht dazugekommen, Ihnen einige Mittheilungen
zugehen zu laſſen; denn ich war dort in einem fo göttlichen Nichtsthun und
in einem ſo angenehmen Geſellſchaftsleben 122), daß ſelbſt ein einziger Brief
mir wie eine höchſt ſchädliche und gar nicht zu überwindende Arbeit vorkam.
Laſſen Sie Sich alſo kurz ſagen, daß die Wochen, die ich in Wangeroge ver⸗
lebte, zu den angenehmſten meines ganzen Lebens gehören, und ich Ihnen recht
herzlich gewünſcht hätte, auch einige Zeit dort zu ſein. Das Meer, das Meer! —
Wie erweitert es die Seele und wie macht es friſch und lebendig.
Meine Nachhauſekunft ſtach gegen dies Glück freilich gewaltig ab! — Zu
Hauſe fand ich meine arme Frau und meine drei Kinder arg am Keuchhuſten
darniederliegend und dieſer unerträgliche Zuſtand dauert bis jetzt ununter⸗
brochen fort. Kein Ende iſt abzuſehen; ja das kleinſte Kind Anna 123) iſt ſogar
in wirklicher Gefahr. Da muß man ſich eben in das Unvermeidliche ſchicken und
dafür Sorge tragen, daß man über dem Elend des Lebens den Humor nicht verliert.
Was treiben Sie? Wie ſteht es um den grünen Heinrich? Es thut einem ſo
wohl, wenn man Ihr ernſtes Streben und Schaffen anſieht; denn der Ernſt
und die künſtleriſche Andacht iſt doch jetzt eine ſehr ſeltene Waare geworden.
In Wangeroge habe ich den neuen Roman 12) der Lewald geleſen. Er hat
mich förmlich angewidert. Dieſe geiſtreichen, meiſt unverſtandenen Raiſonne⸗
ments, ... und dieſer Mangel an aller Charakteriſtik und Kompoſition! — Es
wäre mir ſehr lieb, wenn Sie mir über dieſen Roman einiges ſchreiben wollten,
falls Sie ihn nämlich ſchon geleſen haben. Ich bin in abſcheulicher Verlegenheit.
Stahr und die Lewald, die in dieſem Roman das größte Meiſterſtück der neueren
Literatur bewundern, drängen mich zu einer Rezenſion. !?“) Loben kann ich
nicht; tadeln mag ich nicht, — was thun?
Haben Sie denn das Jugendidyll von Bogumil Goltz 125) geleſen? Ich leſe
es jetzt mit großem Entzücken. Eine ungehobelte, aber durch und durch urſprüng⸗
liche Kraft. Ich bin in der That auf die fernere Entwicklung dieſes Talents
ſehr geſpannt. Wahrſcheinlich verkommt er in allerhand Schnurren und Son⸗
derbarkeiten; aber er hat das Zeug zu Großem und Aechtem in ſich.
Auch leſe ich jetzt behufs meiner Literaturſtudien den Robinſon Cruſoe von
Defoe. 126) Das iſt eine Feinheit der Detailmalerei und eine Kunſt der Moti⸗
121) Keller hatte am J. 8. 1853 geantwortet (Ermatinger II, S. 313 - 318, Brief 101).
122) Begeiſtert ſpricht ſich Hettner über den Verkehr in Wangeroge z. B. zu Fanny Lewald in
einem (ungedruckten) Brief vom 14. 9. 1853 aus.
123) Das Töchterchen ſtarb im September.
124) Fanny Lewald ſelbſt gegenüber ſpricht ſich Hettner über die „Wandlungen“ zurückhaltend aus
(14. 9. 53), ſagt ihr auch eine Rezenſion in den „Blättern f. lit. Unterhaltung“ zu, ſchiebt ſie aber
dann auf, wie er ihr am 11. 10. meldet. Geſchrieben iſt fie nicht.
135) „Ein Jugendleben“ (1852). Später, am 27.5.1865, überſandte Bog. Goltz es mit einem
Harakteriſtiſchen Schreiben (ungedrudt!) und der Bitte um dae an Hettner. (Vgl. Kellers
ſchönes Urteil über Goltz im Brief vom Januar 1855 = Ermatinger II, 360 f.
126) Aus dieſen Studien entſtand der im März 1854 in der Berliner Singakademie von Hettner
gehaltene ſchöne Vortrag: „Robinſon und die Robinſonaden“, gedruckt 1854 bei Hertz (vgl. Brief
17 —20 und die Beſprechung v. Prutz, Deutſches Muſeum, 4. 5. 54).
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 437
virung, die ich gar nicht genug bewundern kann. Wahrſcheinlich geht es Ihnen
wie mir, wahrſcheinlich haben Sie dies treffliche Buch ſeit Ihrer Kindheit
nicht mehr in Händen gehabt. Suchen Sie es ſich ja wieder hervor; der
Dichter kann ſehr viel aus ihm lernen. Aber Sie müſſen den wirklichen echten
Robinſon leſen, wie er aus der Feder Defoes kam; die pädagogiſchen Um⸗
arbeitungen ſind ſämtlich Verflachungen, die allerhand altkluge Dummheiten
hineingeſpritzt haben, ohne den mindeſten Sinn für die feinen pſychologiſchen
Züge, durch die dieſes Buch ſo einzig groß iſt.
Mein Buch 127) wird noch lange Zeit auf ſich warten laſſen, denn Sie glau⸗
ben gar nicht, was für eine wüſte Vielleſerei es erfordert. Aber ich arbeite ſehr
gewiſſenhaft, und ich bin gewiß, daß es dereinſt ſeine Wirkung nicht verfehlen
wird. Es ſteckt ein Leben und ein Geiſt in dieſer Literatur des achtzehnten
Jahrhunderts, von dem Niemand eine Ahnung hat, der nicht einmal mit einer
gewiſſen ſyſtematiſchen Ordnung dieſe wackeren Altvorderen von Schritt zu
Schritt verfolgt.
Doch ich will mit meinem Geplauder abbrechen. Es ſollte nur dazu dienen,
Ihnen ein Lebenszeichen von mir zu geben und nunmehr Ihnen einen recht
langen, ausführlichen Brief zu entlocken. Ein Brief von Ihnen iſt mir immer
ein Feſttag. Seien Sie nicht ſäumig, (mir) recht bald einen ſolchen Feſttag
zu bereiten.
In treuſter Anhäcnglichkeit)
Hettner.
16. Mein lieber Freund,
Vor einiger Zeit 128) ſchrieb ich Ihnen und bat Sie um recht baldige Ant⸗
wort. Ihr beharrliches Schweigen beunruhigt mich, beſonders da jetzt in Berlin
eine ſo böſe Cholerazeit iſt. Thun Sie mir die Liebe und laſſen Sie bald von
Sich hören.
Jena 11 Oktbr 1853.
In alter Treue
Hettner.
17. Jena 3 Jan 54.
Mein lieber Keller,
Eben ſendet mir mein Buchhändler den grünen Heinrich 129). Noch iſt mir
von Vieweg kein Exemplar zugekommen außer den erſten Bogen vor zwei
Jahren, die ich aber nicht einmal alle wieder zuſammenfinde. Ich frage daher,
ob Sie mir wohl eine Ueberſendung eines Exemplares und zwar eine recht
137) Lit.⸗Geſchichte des 18. Ihdts. I, vgl. Anm. 120.
128) Keller hat auf den Brief 15 nicht geanwortet, erſt am 15.10.53 (= Ermatinger II,
S. 318-322, Brief 102) ſchreibt er.
1200 Am 15. 10. 53 hatte Keller gemeldet, daß I—III beendet feien und „ſofort verſandt würden“.
Band IV ſoll allein folgen als „Buch der urſprünglichen Intention“.
438 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
baldige vermitteln wollen? Ich verſpreche Ihnen ſicher eine baldige Anzeige
in der Allgem. Zeitung. 130)
Künftigen März komme ich nach Berlin und halte dort in der Singakademie
eine Vorleſung. 131) Da ſehen wir uns! — Uebrigens denk ich, kommen Sie
nächſten Sommer hieher; ich habe einen ſchönen Garten gekauft und die Luft
von Jena iſt bekanntlich den Muſen günſtig. Meine Frau grüßt beſtens. Ein
gutes fröhliches Neujahr!
In alter Treue
Hettner.
18. Jena 12 Febr. 54.
Mein lieber Keller,
Ich beeile mich Ihnen ſogleich Ihren lieben Brief 132) zu beantworten, da
ich mir denken kann, daß Ihnen allerdings ſehr viel darauf ankommt, nach
Zürich beſtimmte Antwort zu melden. Ich rathe Ihnen zur feſten Annahme
und gratulire Ihnen zu dieſer Stelle ganz aufrichtig.
Es iſt allerdings wahr, daß Sie einen Theil Ihrer Unabhängigkeit auf⸗
geben; aber im Ganzen ſcheint die Sache ſchlimmer als ſie iſt und eine nach
außen vollſtändig geſicherte Stellung iſt auch von großem Werth und kommt
der Poeſie mehr zu gut als man zunächſt denken möchte. Wenn Sie Bedenken
tragen, der Aufgabe gewachſen zu ſein, ſo ſind Sie in der That zu beſcheiden.
Ich glaube nicht nur, daß Sie vortreffliche Vorträge halten werden, ſondern
freue mich ſchon im Voraus auf die feinen Sachen, die ſich bei dieſen Profeſ⸗
ſoralſtudien Ihnen unter der Hand ergeben werden; ich weiß nur allzu ſehr,
wie grade die feinſten Bemerkungen in meiner dramaturgiſchen Schrift Ihnen
entſtammen. Ihre Poeſie wird unter dieſer Tätigkeit ſicher nicht leiden, vor⸗
ausgeſetzt, daß Sie Sich nicht allzu viel Stunden aufhalſen laſſen.
Zunächſt würde ich Ihnen vorſchlagen, die Literatur nur von Gottſched an zu
leſen, und ich mache Sie für Ihre Vorſtudien auf die ſehr ſchwerfälligen, aber
ſehr bedeutenden Werke von Danzel 183) über Leſſing und Gottſched aufmerk⸗
ſam. Daß Sie Sich ein Heft für das ganze Semeſter anlegen, iſt gar nicht
möglich. Es genügt der Entwurf, die volle Klarheit über den Gedankengang;
die einzelnen Vorleſungen arbeiten Sie dann für jede Stunde aus. Das nimmt
190) Keller hatte (mit Rückſicht auf die Beliebtheit der Allgemeinen Zeitung in der Schweiz)
darum gebeten.
11) Vgl. Anm. 126.
1) Im Brief 105 (Berlin, 5. 1. 1854) = Ermatinger II, 328 ff. gibt Keller eine ausführliche
Darlegung des Plans für den IV. Band des „Grünen Heinrich“. Der folgende Brief vom 11.2.
= Ermatinger II, 330 ff., Brief 106 berichtet über das geplante Züricher Polytechnikum und den
an Keller ergangenen Ruf, eine Profeſſur „für Lit.⸗Geſchichte, Kunſt uſw.“ anzunehmen; er bittet
um den fachmänniſchen Rat Hettners.
133) Th. Wilh. Danzel (1818 - 1850), Literarhiſtoriker in Leipzig, ſchrieb 1848: . sr
feine Zeit“; dann erſchien 1850 „G. E. Leſſing, fein Leben und feine Werke“ I; Band I
1853 f. (nach Danzels Tode) Guhrauer heraus. Hettner hat beide Werke angezeigt (Heidelb. —
d. Lit. 41 [1848], 761 ff. und Blätter f. lit. Unterhaltung 1850, Nr. 272 ff.), und mit ngl
über den „Gottſched“ korreſpondiert. Danzels Brief (Leipzig, 29. 12. 48) iſt erhalten.
«
***
„
a Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an ©. Keller 439
für ve dag Serie Semeſter den ganzen Mann in Anſpruch; nachher aber iſt das Heft
ein für allemal fertig, und die Paukerei erfordert nur wenig Stunden.
Alſo noch einmal: ſagen Sie beſtimmt zu; weder Ihre Muſe noch Ihr Geld⸗
beutel kommt zu kurz dabei.
Was nun Ihr gütiges Anerbieten anlangt, für mich bei dieſer Gelegenheit
ein gutes Wort einzulegen 13%, fo bin ich ſehr dankbar dafür. Ich wurde
einen ſolchen Ruf, wenn er mich nicht pecuniär ſchlecht ſtellt, mit Freuden an⸗
nehmen, da die deutſche Reaction für die Zukunft mir wenig Chancen bietet.
Machen Sie auf meine „Vorſchule für die bildende Kunſt der Alten“, Olden⸗
burg 48 und auf meine griechiſchen Reiſeſkizzen aufmerkſam und heben Sie
meine italieniſchen 135) und griechiſchen Reifen hervor. Auch Profeſſor Köchly 13)
in Zürich würde mich, wenn man ihn zu Rath ziehen wollte, aufs beſte emp⸗
fehlen. Es wäre ſchön, wenn wir Collegen würden. Wir könnten dann aller⸗
hand ſchöne Dinge ſpintiſiren und ausführen.
Schicken Sie mir ja Ihren Heinrich. Ich konnte ihn hier von meinem Buch⸗
händler nicht bekommen, da er das ganze Exemplar bereits verkauft hatte.
Vieweg hat mir ihn nicht geſchickt. So habe ich die beiden letzten Bände noch
nicht geleſen; thue es aber nach Empfang augenblicklich und wer(de) Ihnen
dann treulich Bericht erſtatten.
Ihr Anerbieten bei Ihnen zu wohnen, nehme ich an. Ich leſe 187) den
18 März. Wir können dann recht viel traulich beſprechen. n
In höchſter Eile, aber in alter Treue
Hettner.
19. Jena 19 Febr. 54. 138)
Geſtern, mein lieber Freund, habe ich Ihren grünen Heinrich vollendet. Heut
iſt es mein erſtes Geſchäft, Ihnen für den tiefen und anregenden Genuß, den Sie
mir verſchafft haben, den herzlichſten Dank zu ſagen.
Ich erfülle damit ein wahrhaftes Herzensbedürfniß. Es iſt das Zeichen jeder
tüchtigen Production, daß ſie wieder productiv wirkt. Ihr Roman hat eine
Ruhe und Sammlung, ich möchte ſagen, eine Stille der Beſchaulichkeit in mir
hervorgebracht, daß es mich drängt, dieſe Einkehr in mich ſelbſt in mir noch einige
Zeit feſtzuhalten und mir über die künſtleriſchen Mittel, die dieſe harmoniſche
Stimmung hervorriefen, Rechenſchaft abzulegen. Ich wünſche Ihnen zu Ihrer
136) Keller will Hettner als „Prof. par excellence für Archäologie und Kunſtgeſchichte“ in
Zürich vorſchlagen (Ermatinger II, 332).
5 8 5 weilte von 1845 bis Anfang 1847 in Italien zu Kunſtſtudien (vgl. Stern, H.
ettner).
136) Herm. Köchly (1815 - 1876), der klaſſiſche Philolog, der (aus Deutſchland geflohen) 1850
bis 1864 in Zürich wirkte. Ein Brief an Hettner (Zürich, 15. J. 1856) iſt erhalten.
137) Vgl. Anm. 126.
138) Keller ſandte auf Hettners Bitte (Brief 18) die 3 erſten Bände des „Grünen Heinrich am
14. 2.54 ( Ermatinger II, 333 f., Brief 107), dazu die 2. Auflage der „Neueren Gedichte“ von
1854, mit der Bitte 75 Mitteilung der Fehler. (Teile des Briefes Nr. 19 hat Ermatinger bereits
abgedruckt, I, S. 334 ff.).
440 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Schöpfung aufrichtig Glück. Er ſichert Ihnen unzweifelhaft in unſerer Literatur
für immer eine hervorragende Stellung.
Was uns in Ihrem Roman ſo tief und nachhaltig anſpricht, das iſt das Ge⸗
fühl, daß wir es hier mit einem nothwendig gewordenen, nicht willkürlich
gemachten Werke zu thun haben. Man fühlt überall die Wärme des Erleb⸗
ten hindurch; wir haben hier im höchſten Sinne Dichtung und Wahrheit. Jeder,
der ſelbſt ein innerliches Bildungsleben geführt hat, findet ſein eigenſtes Weſen
hier wieder; nur klarer und tiefer als er ſelbſt es darzuſtellen vermocht hätte. Ich
bin gewiß, daß jeder ſinnige Leſer gern immer wieder zu Ihrem Buche zurück⸗
kehren wird; immer wird er ſich an der Anſchauung der reichen und kräftigen
Natur der hier dargeſtellten Helden tröſten, erbauen und fördern können.
Und das um ſo mehr, als in der That die einzelnen Schilderungen von der
wunderbarſten Friſche und Poeſie durchhaucht ſind. Namentlich die idylliſchen
Scenen auf dem Lande, die Familie des Paſtors, der Schulmeifter, die lieblich
ſeelenhafte Anna und die geſund ſinnliche Judith, ſo wie der Held ſelbſt, wie er
naiv und doch immer klar und tactvoll durch alle dieſe mannichfachen Situatio⸗
nen und Verwicklungen hindurchſchreitet, ſind von unübertrefflicher Meiſter⸗
ſchaft der Situations malerei ſowohl wie der Charakteriſtik. Dazu die klare, eins
fache, im edelſten Sinne Goethe'ſche Sprache, die doch nur wieder der naturnoth⸗
wendige Ausdruck der maßvollen Klarheit der Conception iſt! Ich ſage Ihnen
in Wahrheit, dieſe Jugendgeſchichte iſt ein Juwel, und ich bin ſtolz darauf, den
Helden und Dichter derſelben meinen Freund nennen zu dürfen.
Nun will ich Ihnen aber auch meine Bedenken nicht verhehlen.
Sie ſelbſt machen in Ihrer Vorrede 159) auf das Mißverhältniß aufmerkſam,
das zwiſchen der Jugendgeſchichte und dem eigentlichen Roman ſtattfindet.
Allerdings iſt dies Mißverhältniß unleugbar vorhanden. Jedoch lege ich nicht
allzu großes Gewicht auf dieſen Kompoſitionsfehler, zumal da er ſich bei einer
zweiten Ausgabe leicht heben läßt. Vielleicht könnte man ohne Weiteres den
Roman mit dem Anfang der Jugendgeſchichte beginnen 1%) und auch das
Uebrige in dieſe hineinverweben; denn das Ganze trägt doch einmal die Hal⸗
tung autobiographiſcher Bekenntniſſe.
Wichtiger ſcheint mir das Bedenken, daß der Roman ungleich ſchwächer iſt
als die Jugendgeſchichte. Es ergeht Ihnen wie Ihrem Helden in München; die
Friſche der Naturwahrheit nimmt ab, die Darſtellung wird ſpiritualiſtiſcher,
die Charakterzeichnung conventioneller. Es iſt möglich, daß der vierte Band !*!)
hier manches Dunkel aufhellen wird. Aber wie die Sache jetzt vorliegt,
fragt man ſich vergebens, warum die Liebesgeſchichte zwiſchen Roſalie und
Ericſon, ja ſelbſt zwiſchen Agnes und Lys ſo weit ausgeſponnen iſt; man
1% Vom Mai 1853. Für den ganzen Brief und den „Grünen Heinrich“ in dieſer erſten Faſſunz
vgl. Ermatinger: Studienausgabe der erſten Faſſung des Grünen Heinrich (vor allem, die aufſchluß⸗
reiche Einleitung), Stuttgart u. Berlin 191428, 2 Bde.
140) Keller hatte ſelbſt am 14. 2. 54 auf eine vielleicht nötige Umarbeitung hingewieſen, die dam
en — 55 (jegt unter dem Einfluß von Em. Kuh) durchgeführt wurde. (Vgl. dazu Ermatinger
„36s ff.
1) 1855 erſchienen.
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 441
ſieht nicht recht ein, was aus dieſen Dingen für eine innere Wandlung des
Helden entſprießen ſoll. Jedoch will ich hier mein Urtheil noch unentſchieden
laſſen; man muß erſt den Schluß abwarten. Soll aber, wie es mir ſcheint,
Ferdinand den Uebergang vom Rationalismus zum Atheismus oder Pantheis⸗
mus oder wie man unſere menſchlich freie Anſchauungsweiſe ſonſt bezeichnen
will, vermitteln, fo hätte er allſeitiger ausgeführt werden müſſen; jetzt erſcheint
er uns als allzu ſchwankend und lumpenhaft. Sei dem aber wie ihm wolle.
Jedenfalls iſt der Maskenzug viel zu weitläufig. Er iſt eben ein Maskenzug;
nichts weiter. Er kann ſich weder an innerer Poeſie mit der vortrefflichen
Schweizeriſchen Darſtellung des Wilhelm Tell meſſen, noch kann er für den
Helden eine andere Bedeutung haben, als daß er das Motiv für ſeine Verwick⸗
lung mit Ferdinand abwirft.
Doch genug von dieſen Dingen! Sie ſehen, daß ich ehrlich bin und dürfen
daher um ſo unbedenklicher auch an die Ehrlichkeit meiner unbedingteſten An⸗
erkennung glauben. Ich bin ſicher, daß, wer ſich den Sinn für das Wahre und
Einfache in der Kunſt bewahrt hat, denſelben mächtigen Eindruck durch Ihren
Roman bekommen wird, den ich bekommen habe. Ich las jetzt nochmal im erſten
Band Ihrer Gedichte jene Liebeslieder 142), die auf das zarte liebe Engels⸗
kind 143), das ihre Zartheit durch den Tod büßte, gedichtet find. Ich konnte fie
nicht ohne die tiefſte Erſchütterung leſen. Das mag Ihnen ein Beweis ſein,
wie tief Sie Ihren Leſer zur Mitleidenſchaft zu bannen wiſſen.
Was nun die Züricher Angelegenheit 14) anlangt, ſo will ich gern geftehen,
daß die Ausſicht, mit Ihnen wieder in lebendigem Ideenaustauſch leben zu
können, für mich ein unendlicher Reiz iſt. Hier iſt man gar zu arm an Menſchen;
überall nur gelehrte Handwerker, nirgends wirkliche Bildung. Hören Sie
etwas Näheres, fo melden Sie mir es ſogleich. Es iſt nämlich möglich, daß jetzt
eben auch in Breslau ein Ruf für mich vorbereitet wird. Ich würde einer halb⸗
wegs ſicheren Stellung in Zürich den Vorzug geben; aber eben deshalb wäre es
mir lieb, wenn ich nicht allzu lange im Unbeſtimmten bliebe. Ich habe aus dem
Buchhändlerblatte 145) erſehen, daß die Berliner Bauzeitung eine Rezenſion
über meine Reiſeſkizzen gebracht hat. Ich werde fie mir zu verſchaffen ſuchen.
Iſt ſie, wie ich hoffe, anerkennend, ſo ſchicke ich ſie Ihnen unter Kreuzband und
will mit dieſer Sendung die ſtillſchweigende Bitte ausgeſprochen haben, daß
Sie ſie an die Züricher Erziehungsräthe ſchicken. Es muß ihnen von Werth ſein,
zu wiſſen, was Architekten von mir denken; denn da an der neu zu gründenden
Anſtalt Kunſt und Gewerb und nicht das blos theoretiſche Alterthumsſtudium
im Vordergrund iſt, ſo muß ihnen ein mehr in die künſtleriſche Richtung ein⸗
ſchlagender Archäolog lieber ſein als ein blos philologiſcher. Natürlich aber
muß dieſe Sendung als von Ihnen ausgehend geſchehen. Ich möchte meiner
m) N: (vor allem: „Da 115 ich in meinem Fenſterlein“, „Das Grab am Zürich⸗
fee) NS Nußberger, Kellers Werke, VIII, 471 ff. (1921).
e „lieblich ſeelenhafte Anna“ des „Grünen Heinrich“.
1 Keller hatte ſich (im Brief vom 14. 2. 54) auf Hettners Rat zur Annahme der Profeſſur
entſchloſſen.
185) Gemeint iſt wohl das „Lit. Centralblatt“, Leipzig.
442 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
hieſigen Verhältniſſe halber nicht gern, daß es den Anſchein habe, als trete ich
ſelbſt als Bewerber in Zürich auf.
Ein Brief, den ich dieſer Tage aus Berlin erhielt, meldet mir, daß ich nicht,
wie urſprünglich beſtimmt war, am 18, ſondern ſchon am 11 März leſe. Ich
komme daher am 10t März. Jedoch ſchreibe ich vorher noch. 146) Mein Thema
iſt: Robinſon und die Robinſonaden.
Ich bleibe in alter Treue
Ihr Hettner.
[Am Rande:! Meine Frau grüßt beſtens und iſt eben mit der Lectüre des
erſten Bandes beſchäftigt.
20. Jena 7 März 1854.
Mein lieber Keller,
Wenn Sie alſo erlauben, wohne ich bei Ihnen; ich werde Ihnen nicht lange
zur Laſt fallen. Umſtände machen Sie ja nicht; ich nehme mit dem Sopha herz⸗
lich gern vorlieb.
Ich komme Donnerstag Abend gegen halb zehn Uhr an. Es iſt mir lieb,
wenn ich Sie zu Hauſe treffe. Das Nähere bleibt mündlicher Unterhaltung vor⸗
behalten. Ich freue mich ſehr aufs Wiederſehen.
Hettner.
21. Jena 3 April 1854.
Mein lieber Keller,
Ihren geſtrigen Brief 147) habe ich in dem Trubel großer Gemüthsaufregung
empfangen. Mein kleiner Felix war mir plötzlich krank geworden und ſchwebte
in großer Gefahr. Jetzt iſt er wenigſtens auf dem Wege der Beſſerung; wir
wollen von der Zukunft das Beſte hoffen.
Beifolgend meine kleine Broſchüre.!“8) Sie ſei Ihnen ein ſchwacher Dank
für die genußvollen Tage, die ich jetzt wieder mit Ihnen verlebt habe. Sorgen
Sie nur ja dafür, daß Sie recht bald zu uns kommen. Ich wiederhole, daß
Jena ein ganz gemüthlicher Ort iſt, und daß Sie Sich hier vortrefflich für
einige Wochen einrichten können.
Die Rezenſion über Ihren Roman iſt ſchon längſt in den Händen der Na⸗
tionalzeitung; der Abdruck wird nun wohl in den nächſten Tagen erfolgen. 149
Es iſt mir lieb, wenn Sie mir offen Ihre Meinung ſagen. Ueber Varn⸗
hagens Urtheil 150) habe ich mich gefreut. Sie ſollen ſehen, daß Sie einen gläns
140) Vgl. Brief Nr. 20.
147) Ermatinger II. S. 338 f., Brief Nr. 110 (Berlin, 31. 3. 1854).
14) Vgl. Anm. 126.
140) Ff. 5. 1854; wiederholt mußte Hettner bei Zabel auf ſchnelleren Druck drängen; zwei Brieft
von Zabel ſind erhalten.
50) Hatte Keller als günftig gemeldet am J1. J. 54. (Vgl. Varnhagen v. Enſe, „Denkwürdig ⸗
keiten“, VIII, 492.)
Slafers&erhard, Briefe Hett ners an G. Keller 443
zenden Erfolg haben werden. Heut kündigt bereits das Prutzſche Muſeum 3
ein Luſtſpiel von Ihnen an. Kurz, Aller Augen richten ſich auf Sie.
Die Schweizer Sache 152) wird ſich ſehr in die Länge ziehen und am Ende
wird ein Herr Eckardt 153), der in Bern Privatdocent iſt und einige kleinere Bro⸗
ſchüre über Hamlet und Goethes Taſſo geſchrieben hat, der Sieger bleiben. Ich
muß geſtehen, daß mir der hauptſächlichſte Reiz das Zuſammenleben und Zu⸗
ſammenwirken mit Ihnen war. Fällt alſo dieſes weg, ſo mache ich mir verflucht
wenig daraus.
Bodenſtedt und Paul Heyſe ſind im Verein mit Geibel dazu beſtimmt, in
München ein neues belletriſtiſches Journal 154) zu unternehmen. Man ſagt,
König Max habe das Morgenblatt zu dieſem Behuf gekauft.
Grüßen Sie Max Ring 155) und ſagen Sie mir, wie ſein neues Luſtſpiel ge⸗
fallen hat.
Meine Frau grüßt beſtens.
In alter Liebe
Hettner.
22. Jena 6 Mai 54.
Mein lieber Keller,
Ich habe Ihnen etwas abzubitten. Sie werden in der geftrigen National⸗
zeitung 166) meine Rezenſion gelefen haben, die über ſechs Wochen im Redak⸗
tionsbureau gelegen hat. Ich ſchrieb dieſe Rezenſion unter dem Trubel größter
Aeußerlichkeit, eben beſchäftigt mit der Einrichtung des neuen Quartieres. Und
nun ſehe ich zu meinem großen Schrecken, daß ſich dieſer Mangel an Sammlung
in einer für mich höchſt ärgerlichen Weiſe gerächt hat. Ich habe da, wo das dich⸗
teriſche Nachempfinden walten ſoll, nur kurz verweilt, und dagegen da, wo der
großſprecheriſche Verſtand ſein Weſen treibt, nur um ſo länger. So iſt es mir
begegnet, daß die Rezenſion den Anſchein gewinnt, als lege ſie ein großes Ge⸗
wicht auf die einzelnen Mängel, die ich meiner Abſicht nach doch nur ſehr bei⸗
läufig berühren wollte. Kurz die Rezenſion iſt tadelnder als Ihr ſchöner Ro⸗
man verdient und als in der That meine Herzensmeinung iſt.
181) Prutz' Deutſches Muſeum, 1.4.1854: „Gottfried Keller hat ein Luſtſpiel vollendet.“
(Arrilſcherz r)
152) Keller hatte nach der mündlichen Beſprechung mit Hettner (11. J. 54) für ſich die Züricher
Profeſſur abgelehnt, „dagegen noch einmal weitläufig“ auf Hettner hingewieſen (Brief an Jak.
Dubs, März 1854 = Ermatinger II, 335 ff., Brief 109).
1569) Ludw. Eckardt, Dichter und Schriftſteller (1827 1871); 1848 aus Wien infolge der
Oktober ⸗Revolution flüchtig, habilitierte er ſich für Literatur und Aſthetik in Bern. Die Züricher
Stelle erhielt er nicht. Als Pater Brey verſpottet ihn Keller im Aufſatz „Am Mythenſtein“, vgl.
auch den „Schiller⸗Prolog“ und das „Lied vom Mutz“: Eckardt machte einen laut auspoſaunten Ver⸗
ſuch, ein Nationaltheater in Zürich zu gründen.
184) Nicht zuſtande gekommen.
185) Keller hatte ihn in Berlin kennengelernt und war Frühjahr 1854 aufgefordert worden, die
Aufführung des Luſtſpiels „Unſere Freunde“ mitanzuſehen (vgl. Ermatinger I, 227 u. a.; Ring,
„Erinnerungen“, Keller, „Mißbrauchte Liebesbriefe“).
156) Vgl. Anm. 149.
444 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Ueber dieſe Ungeſchicklichkeit bin ich wahrhaft untröſtlich. Ich kann kein
anderes Auskunftsmittel finden als daß ich den vierten Band abwarte und
dann, wie ich Ihnen hiemit heiligſt verſpreche, nach Kräften den begangenen
Fehler gut zu machen ſuche. Einſtweilen kann ich mich nur Ihrer gütigen Nach⸗
ſicht empfehlen und werde nicht eher Ruhe finden als bis Sie mir mit einigen
Worten offen und aufrichtig geſagt haben, ob Sie mir zürnen.
Dieſe vorliegenden Zeilen ſollen nur dazu dienen, Ihnen zu ſagen, wie pein⸗
lich mir die ganze Sache iſt und Ihnen Gelegenheit geben, Ihren ſtillen Zorn
laut gegen mich zu äußern. Es iſt beſſer, man ſpricht ſich in ſolchen Dingen aus
als daß ein ſtilles Mißverſtändniß im Geheimen wühleriſch fortfrißt. 15
Sagen Sie mir zugleich, wann Sie hieher kommen. Sie können Sich hier
bequem einrichten und in Muße auch hier Ihren Heinrich vollenden.
Adieu, Adieu! Sie glauben nicht, wie ärgerlich mir dieſer fatale Vorfall iſt.
Werden Sie nicht irre an mir. Ich bleibe in
treuſter Anhänglichkeit
Hettner.
Meine Frau grüßt beſtens.
23. (Jena, 8. 5. 1854.)
Mein lieber Keller,
Sie werden meinen geſtrigen Brief erhalten haben, in welchem ich Sie um
Entſchuldigung für meine Rezenſion bat. Ich darf nach dem Tone Ihres heut
erhaltenen Briefes hoffen, daß Sie mir dieſe Verzeihung angedeihen laſſen. 158)
Zugleich habe ich aus Ihrem Briefe erſehen, daß die Schweizer 159) Sie noch
immer im Stich laſſen. Erlauben Sie mir daher, daß ich Ihnen wenigſtens für
das Nächſte inliegende 25 rh. ſchicke; ich hätte gerne mehr beigefügt, wenn mich nicht
jetzt die Ausgaben für das neue Haus ganz entſetzlich bedrängten. Sie würden
ſicher am beſten thun, wenn Sie ſich in Berlin loseiſen könnten unb hieher kämen.
Ueber Zürich denke ich wie Sie. 160) Kommt Zeit, kommt Rath.
Wollen Sie mir in einigen Zeilen Beruhigung 158) über die Rezenſion
geben, ſo bin ich ſehr dankbar. Inliegenden Brief befördern Sie wohl durch
Stadtpoſt oder auf einem Spaziergang, aber ſogle ich, an feine Adreſſe. Meine
Frau grüßt. In alter Liebe
Hettner.
24. (Jena, 28. 6. 1854.)
Mein lieber Freund,
Ihren geſtrigen, mir höchſt lieben und angenehmen Brief 161) habe ich richtig
erhalten und hatte anfänglich vor, Ihnen recht weitläufig darauf zu antworten.
187) Kellers Brief vom 6.5.54 (= Ermatinger II, 342 — 344, Brief Nr. 112) hat ſich mit
dieſem gekreuzt, vgl. Nr. 23. Keller dankt „demütigſt ! aber kurz für die „notwendige“ Rezenſſon.
188) Keller hat dieſe Angelegenheit erſt im Januar 1855 wieder berührt (Ermatinger II, 361).
180) Gemeint find die ſtaatlichen Unterſtützungen, die Keller zum Studium aus Zürich
(vgl. Ermatinger I, 187, 212, 232 f.), die ihn aber oft nicht vor Not bewahren konnten.
100) Keller will nach ſeiner Heimkehr die Angelegenheit für Hettner perſönlich betreiben.
161) Ermatinger II, 345 — 351 (Berlin, 26. 6. 54), Brief Nr. 114.
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 445
Trotzdem fchreibe ich Ihnen heut nur einige Zeilen. Herr Scheube 162) nämlich
meldet mir, daß er nach Berlin reiſt. Natürlich wird er Sie beſuchen, und es
muß Ihnen daran gelegen ſein, vorher über ihn orientirt zu ſein.
Scheube iſt ein höchſt liebenswürdiger und in ſeiner Art ſtrebſamer junger
Mann. Er hat wie ich aus ſicherer Quelle weiß, ein ganz ſolides Vermögen.
Von geſchäftlicher Seite iſt alſo nichts gegen ihn einzuwenden. Man muß
ihn vielmehr warm halten. Darnach haben Sie Ihre Unterhandlungen
zu leiten.
Was mein Verhältniß zu ihm anbetrifft, ſo hat es ſich in folgender Weiſe
geſtaltet. Vor einigen Wochen ſchrieb er an mich, daß er von meiner beabſich⸗
tigten Literaturgeſchichte gehört habe und daß er dieſelbe in Verlag begehre. Ich
ſchrieb ihm zurück, er möge zu mir kommen. Dies that er. Darauf ſchloſſen wir
einen Vertrag pro Bogen 33 rh. ab; jedoch machte ich mir den Vorbehalt, daß
der Vertrag erſt dann rechtsgiltige Kraft erlange, wenn ich zuvor bei Vieweg
angefragt hätte, ob er unter denſelben Bedingungen ſeinerſeits den Verlag
übernehmen wolle. Gleich nach Scheubes Abreiſe ſchrieb ich an Vieweg. Heut
früh erhalte ich von Vieweg die Antwort. Dieſer acceptirt den Vertrag..
Und ſo muß ich denn nolens volens bei Vieweg bleiben; was mir inſo⸗
fern allerdings lieb iſt, als Vieweg doch dann mein lebenslänglicher Verleger
bleiben wird.
Jedoch bitte ich Sie, Herrn Scheube davon noch nichts zu ſagen. Mein ab⸗
lehnender Brief trifft ihn erſt, wenn er aus Berlin zurückkehrt. Und ich möchte
nicht, daß er dieſen für ihn unangenehmen Ausgang eher aus einem fremden
als aus meinem eigenen Munde erfahre.
So möchte ich Ihnen denn ein ähnliches Verfahren anrathen. ... Ich habe
zwar allerdings Scheube geſagt, daß Sie mein Freund ſind und ihm Ihre
Adreſſe gegeben; aber er war ſchon vorher von Ihrem Roman höchſt entzückt
und hätte auch aus eigenem Antrieb an Sie geſchrieben. 169)
Wenn Sie Ihren Roman 19%) fertig haben, fo kommen Sie hieher. Sie kön⸗
nen die Correktur hier auch beſorgen und Sie miethen Sich ein billiges Stu⸗
dentenſtübchen. Hat Vieweg Ihr Manuffript in Händen, fo giebt er Ihnen ja
ſicher ſo viel Vorſchuß, daß Sie Berlin gut verlaſſen können.
Schreiben Sie mir baldigſt und behalten Sie mich lieb.
In Liebe
Hettner.
102) Keller hatte vom Verleger Scheube aus Zeitz eine Zuſchrift erhalten, worin dieſer ihm
feinen in Heidelberg zu gründenden Verlag anbot und dabei den Kontrakt mit Hettner (betr. Verlag
der Lit.⸗Geſchichte des 18. Ihdts.) erwähnte (Ermatinger II, 346 f.); daher bat er Hettner um Aus-
kunft über Scheube. Schließlich blieb auch Keller bei Vieweg, da die Unterhandlungen mit Scheube
füch zerſchlugen (vgl. Anm. 170).
163) Keller vermutete nämlich, Hettner habe erſt auf ihn aufmerkſam gemacht, fo daß er ſich, wie
er ſchreibt, „alſo nicht zu viel einbilden darf auf dieſen Brief“ (Ermatinger II, 346).
164) „Ich werde nächſtens dem Vieweg den vierten Band abſchicken“ (26. 6. 54), tatſächlich hat
Vieweg Ende Oktober „noch keinen Bogen Manufſkript“ (Ermatinger I, 296).
446 Neue Quellen Zur r Geiſtesgeſchichte. des 18. u. 49. Jahrh.
Mein lieber Keller,
Sie werden aus der Allgemeinen Zeitung Beilage erſehen haben 165), daß
das Polytechnikum jetzt offiziell die Profeſſuren zu offener Bewerbung aus⸗
geſchrieben hat. Ich habe in Folge deſſen geſtern an den Dr. Kern 166) geſchrie⸗
ben und meine Schriften und ſiebenjährige Lehrthätigkeit vorgeritten, es den
Leuten anheimgebend, ob ſie mich als Profeſſor der Archäologie und Kunſt⸗
geſchichte oder der deutſchen Literatur oder vielleicht auch gar nicht haben wollen.
Ich geſtehe, daß die neue Stellung für mich ſehr großen Reiz haben würde.
Es wäre mir daher von Werth, wenn Sie jetzt, da die Tage der Entſcheidung
nahen, noch einige Schritte zu meinen Gunſten thun könnten. 167) Die Haupt⸗
ſache iſt, glaube ich, die Herrn Erziehungsräthe darauf hinzuweiſen, daß ſie
nicht einen mythologiſch⸗antiquariſchen, ſondern einen wirklich kunſtgeſchicht⸗
lichen Archäologen haben müſſen und, wenn ſie mich für deutſche Literatur haben
wollen, daß ich in der literariſchen Welt bereits ein wenig bekannt ſei.
Am ſchönſten dächte ich es mir, wenn wir an der neuen und, wie ich feſt
glaube, zukunftreichen Anſtalt vereint wirken könnten. Was könnten wir dann
für hübſche Pläne ausführen! —
Wieder iſt der Sommer vergangen, ohne daß ich Sie hier geſehen habe.
Schreiben Sie mir aufrichtig, wie es um Sie ſteht und was Sie noch immer in
dem abſcheulichen Berlin zurückhält. Was macht der grüne Heinrich, 168) was
die Novellen? 169) Wo find Sie, bei Vieweg oder Scheube? 170)
Bei mir iſt inzwiſchen ein kleiner Junge eingeſprungen. Meine Frau iſt
wieder wohlauf.
Unter den herzlichſten Grüßen mit der Hoffnung auf baldiges Wiederſehen
In alter Treue
Jena Hettner.
19 Oktbr 1854.
26. Jena 1 Novbr 1854.
Mein lieber Freund,
Ich hätte ſchon längſt Ihren lieben Brief 171) beantwortet, wäre er nicht
grade in die Zeit des ärgſten Trubels gefallen. Ich habe nämlich noch immer
100 In der der Beilage zum 17. 10. 1854.
ee) Joh. Konr. Kern, feit 1854 Präſident des eidgenöſſiſchen Schulrates.
107) Keller ſagt feine Hilfe am 21. 10. zu (Ermatinger II, 352, Brief 116), auch mündlich nach
der Rückkehr.
108) Der 4. Band iſt noch nicht abgeliefert (21. 10.54), „rückt aber vorwärts“.
100) Nach dem Vertrage mit Vieweg durfte Keller bis zur Ablieferung des „Grünen Heinrich“
nichts anderes . fo ſehr ihn Pläne aller Art (darunter die „Leute von Seldwyla“) beſchaf⸗
tigten (21. 10.
170) Keller bot dieſem zuerſt Novellen an, die ſchon in Viewegs Händen ſeien, der ſie aber nicht
an (wahrſcheinlich nur Inhaltsangaben zu Schweizer⸗Movellen!). Daher wurden ſtatt dieſer
mit Scheube „Charakteriſtiken und Schilderungen in der Art der Jugendgeſchichte“ ( „Leute von
Seldwyla“) projektiert (21. 10. 54); da Scheube nur einen in Berlin unbrauchbaren Wechſel als
Vorſchuß gab, brach Keller die Verhandlungen ab (vgl. Ermatinger I, 342 f.).
171) Ermatinger II, 351-355, Brief Nr. 116 (Berlin, 21. Io. 1854).
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 447
nicht den für mein Haus nöthigen Umbau vorgenommen und ſo bin ich noch
bis auf Weiteres genöthigt im Winter in der Stadt zu wohnen. Der Umbau iſt
durch die Spekulation auf Zürich verzögert, und das iſt auch der Grund, warum
ich der endlichen Entſcheidung des Schweizeriſchen Erziehungsrathes mit mehr
Ungeduld entgegenſehe als ich es ſonſt thun würde.
Da ich nun einmal bei dieſem Thema bin, ſo will ich Ihnen auch ſogleich vor⸗
tragen, was ich in Betreff desſelben noch auf dem Herzen habe. Ein Freund
von mir, der hier Profeſſor der Zoologie 172) iſt, hat ſich ebenfalls in Zürich für
dieſes Fach gemeldet. Nun hat derſelbe umgehends die Aufforderung erhalten,
ſeine Schriften einzuſenden. Ich meinerſeits habe keine ſolche Aufforderung,
obgleich auch ich weder Schriften noch Zeugniſſe eingeſendet habe. Das kann ich mir
gut auslegen oder ſchlecht, jenachdem meine Laune roſenfarben oder ſchwarz⸗
gallicht iſt. Gut, inſofern die Leute vielleicht einige meiner Schriften kennen und
in Züricher Bibliotheken beſitzen, alſo eine ſolche erneute Zuſendung nicht nöthig
haben; ſchlecht, inſofern ſie möglicherweiſe ſchon ihre Candidaten feſt auf dem
Korn haben und alſo von vornherein von mir abſehen. In den Zeitungen las
ich, daß Semper 173) als Profeſſor der Architektur berufen wird; eine Beruſung,
zu der Zürich recht herzlich Glück zu wünſchen iſt. Seitdem glaube ich, daß auch
Kinkel 179 dorthin kommen wird. Und fo iſt meine Hoffnung gleich Null.
An ſich gefällt es mir hier in Jena ſehr gut. Ich würde daher eine abſchlägliche
Antwort mit Gleichmuth aufnehmen, obgleich ich hier keine Seele habe, mit der
ich mich hier über literariſche und künſtleriſche Dinge unterhalten könnte. Der
Zweck dieſes Briefes iſt daher auch nicht, Sie etwa zu einer neuen Solicitation
zu veranlaſſen; eine ſolche könnte nur ſchaden. Nur darum möchte ich Sie bitten,
falls Sie etwas Beſtimmtes erfahren, mir davon augenblicklich Meldung zu
thun. Ich warte nur auf Ja oder Nein, um dann den Contract für den Bau
eines Seitenflügels abzuſchließen.
Hoffentlich iſt nun der grüne Heinrich 175) unter der Preſſe. Das Buch, weiß
ich, hat überall den beſten Anklang gefunden und jene Bremer Buchhandlung 179
ſteht mit ihrer Nachforderung nicht vereinzelt. Der Teufel ſollte auch unſer
Publikum holen, wenn es nicht mehr für dieſe ſtille Sinnigkeit Ohr und Ver⸗
ſtändnis hätte. f |
Ich glaube, daß Vieweg in der Reviſion des Contractes 177) vernünftig fein
wird. ... Anders aber ſtellt ſich meiner Meinung nach das jährliche Fixum
172) Osk. Schmidt, der indeſſen von Jena nach Krakau, 1855 nach Graz ging (feine Briefe an
Hettner find erhalten).
175) Der geniale Architekt Gottfr. Semper, Erbauer des 1855 eröffneten Polytechnikums, Lehrer
dort 1855 1871 (3 Briefe an Hettner find im Nachlaß Hettners).
176) Gottf. Kinkel erhielt erſt April 1866 einen Ruf als Profeſſor der Archäologie und Kunſt⸗
geſchichte nach Zürich, der ihn aus ſeinem Londoner Exil zurückführte. Keller ſah richtig („des
deutſchen Bundes wegen“) ſeine „Unmöglichkeit“ in Zürich voraus, wenigſtens „für die Gegenwart“
(vgl. Ermatinger II, 361).
175) Keller wollte ihn Ende Oktober abſenden (Ermatinger II, 354).
170) Vieweg hatte als „Mahnung“ den Beſtellzettel einer Bremer Buchhandlung auf drei Exem⸗
plar vom 4. Band des „Grünen Heinrich“ ohne Begleitwort Herbſt 1854 an Keller überſandt.
177) Keller will nunmehr 2½ — 3 Louisdor pro Bogen fordern (vgl. Ermatinger I, 291 — 297).
448 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
von 600 rh. 178) Kein Buchhändler, ſcheint mir, geht auf eine Leibrente ein;
was ich von Arrangements dieſer Art kenne, bezieht ſich immer auf neue Auf⸗
lagen bereits gethaner Werke, nicht auf noch zu thuende. Und andrerſeits iſt
ein ſolches Firum auch nicht für Sie von Vortheil. Sie verkaufen Ihre Frei⸗
heit; Sie werden zum Heloten. Der Buchhändler drängt und drängt; und
für jeden Spaziergang ſtellt er Ihnen einen Aufpaſſer auf. Man muß nur be⸗
denken, daß Buchhändler Kaufleute ſind.
Wie ſteht es um Ihre Rückkehr nach der Heimath? Warum noch länger in
Berlin bleiben, wenn Sie durch Vieweg und Scheube im Stand ſind, ſich dort
loszueiſen? Ich mache Ihnen wiederholt den Vorſchlag, kommen ſie auf einige
Wochen hieher nach Jena. Ich habe mein Gartenhaus, das ſich gut heizt, völlig
leer ſtehen; mein Tiſch erleidet durch Sie nicht die mindeſte Veränderung. Kom⸗
men Sie alſo. Namentlich können Sie doch von hier aus die Correctur beſorgen.
A propos Scheube.!“ ) Ich höre, daß er allerdings ein vermögender Menſch
iſt, daß aber ſein Vermögen noch unter der Gewalt ſeines Schwiegervaters ſteht.
Wie alſo, wenn dieſer nicht alle Unternehmungen ſeines Schwiegerſohnes gut⸗
heißt? Mit einzelnen Büchern kann man es wagen; aber nicht mit lebens⸗
länglichen Contracten.
Um noch einmal auf die Schweiz zurückzukommen, ſo wäre es mir lieb zu
wiſſen, ob Sie auch mit Kern ſelbſt in Verbindung ſtehen und an wen Sie ge⸗
ſchrieben haben. 180)
Die orientaliſchen Dinge gefallen mir nicht. Sewaſtopol wird ſchwer zu
nehmen ſein und, fällt es, ſo kommt es in einem Zuſtand in die Hände der
Alliirten, daß dieſe ſich in der Krim nicht halten können. Die Zeche wird
Preußen zu bezahlen haben, und das iſt ſchließlich auch nicht mehr als billig.
Denn wer trägt die Schuld an Rußlands Uebermuth?
Meine Frau grüßt beſtens und vereint mit mir die Bitte um Ihren gütigen
Beſuch.
In alter treuer Anhänglichkeit
Hettner.
27. | (Sena, 10. Sanuar 1855.)
Lieber Keller,
Unſere lang unterbrochene Correſpondenz 181) eröffne ich heut wieder mit
einigen flüchtigen, aber in vieler Beziehung inhaltsſchweren Zeilen.
Ich weiß nicht wie die Sachen für mich in Zürich ſtehen. Nach einem Briefe
Köchlys 182) aber darf ich vermuthen, daß die Ausſichten gut ſind. Trotzdem habe
178) Um ſich von der ewigen Geldnot zu befreien, gedachte Keller (21. 10.54) Vieweg gegen ca.
600 Taler jährliche Rente (auf 5 Jahre) alle feine noch geplanten Werke zum Druck zu überlaffen
(21.10.54, Ermatinger II, 354).
170) Vgl. Anm. 170.
180) Keller hatte zwar in Zürich angefragt, auch von anderer Seite günſtigen Beſcheid bekommen
(Ermatinger II, 360), Hettner aber erft im Januar 1855 (auf Brief 27) geantwortet.
181) Auf den Brief vom 1. 11. 1874 (Nr. 26) erhielt Hettner keine Antwort.
182) Vgl. Anm. 136.
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 449
ich geſtern an den Erziehungsrath geſchrieben, daß ich meine Bewerbung zu⸗
rücknehme.
Ebenſo ſchnell als unerwartet nämlich bin ich zum Direktor der Antiken⸗
ſammlung 183) in Dresden ernannt worden und ſiedle nächſte Oſtern dahin über.
So ſehr es mich ſchmerzt, die reizende Ausſicht, mit Ihnen wieder längere Zeit
zuſammenleben zu können, aufgeben zu müſſen ſo kann ich doch kaum im Zweifel
ſein, daß die Stellung in Dresden der Züricher Stellung den Rang abläuft. Ich
habe fie daher definitiv angenommen. 18“)
Gutzkows 185) Nähe wird mir hoffentlich nicht anſteckend werden. Auer⸗
bach 186) bin ich dankbar verpflichtet; von ihm geht die erſte Anregung der ganzen
Sache aus. Jedoch mache ich mich ſicher nicht zu ſeinem Trabanten.
Schreiben Sie mir recht bald, wie es Ihnen ergeht. Mein erſter Band 187)
wird nun wohl gegen Pfingſten vom Stapel laufen.
Einem baldigen ausführlichen Brief von Ihnen entgegenſehend und Ihnen
das Beſte zum neuen Jahr wünſchend bleibe ich in treuſter Liebe Ihr
Hettner.
28. Dresden 10 Mai 1855. 188)
Mein guter Keller!
Wie können Sie nur glauben, daß ich Ihnen böſe ſei? 189) Ich habe ja ſchlech⸗
terdings keinen Grund dazu, da im Gegenteil Ihre freundlich treue Geſinnung
mich zur wärmſten Erwiderung verpflichtet und in der That von mir aufs
wärmſte erwidert wird. Ich glaube ohne Anſtoß ſagen zu dürfen, daß ich Ihnen
ein treuer Freund bin und es für immer ſein werde.
Der Grund, warum Sie ſo lange Zeit nichts von mir gehört haben iſt ein
ſehr kläglicher. Ich reiſte geſund in Jena ab und kam hier ſo von Rheumatismus
geplagt an, daß ich nicht gehen und ſtehen konnte, ſondern von zwei Laſtträgern
in die Droſchke getragen werden mußte. Dieſe Gicht hat volle 5 Wocheln) mich
an das Bett gefeſſelt und noch jetzt ſind meine Beine ſo ſteif und ſtelzfüßig, daß
ich wie ein ſiebzigjähriger Mann laufe und nur ſehr vereinzelt bei äußerſt gün⸗
ſtigem Wetter das Zimmer verlaſſen darf. Mein neues Amt habe ich natürlich
unter dieſen Umſtänden noch nicht antreten können. Jedoch hoffe ich, daß der
Gebrauch der (ruſſ)iſchen Dampfbäder mich wieder auf den Strumpf bringen
wird. Jedenfalls bin ich jetzt auf dem Wege der Beſſerung.
183) Auf Anregung Berth. Auerbachs, als Nachfolger von H. W. Schulz (vgl. Stern, S. 164 ff.);
1 ſeinen (ungedruckten) Briefen an Hettner berichtet Auerbach ausführlich die Geſchichte dieſer
rufung.
184) Am 4.1.1855 hatte Schulz dazu gedrängt.
180) Seit 1847 in Dresden (bis 1861).
190), Seit 1850 in Dresden (bis 1859); die in Heidelberg geſchloſſene Freundſchaft kühlte ſich in
Dresden dann ab.
187) Vgl. Anm. 120. Tatſächlich erſchien Bd. J erſt 1856 infolge Krankheit Hettners.
180 Keller hatte auf den Brief Nr. 27 im Januar geantwortet (= Ermatinger II, 359 ff.,
Brief 119) und am 9. 5.55, da Hettner nichts von ſich hören ließ, einen weiteren Brief folgen laſſen
(Ermatinger II, S. 164 - 366, Brief Nr. 121).
1% Keller am 9.5.55 (Ermatinger II, S. 365).
@upborion XXVIII. 29
450 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Mit Ihrer Lage habe ich das innigſte Mitgefühl. 190) ... Uebrigens — wenn es
in ſolchen Dingen überhaupt einen Troſt gieb
ſagen, daß jetzt in der Vieweg'ſchen Druckerei eine grenzenloſe Unordnung zu
herrſchen ſcheint. Vieweg hat das Manuſkript von drei Vierteln meiner Lite⸗
raturgeſchichte 191) ſchon ſeit Januar in Händen und noch immer harre ich ver⸗
geblich auf den erſten Correcturbogen. Mir iſt dieſe Verzögerung jetzt ſehr an⸗
genehm, da ich durch meine Krankheit ſehr in der Arbeit zurückgekommen bin
Ueberlaſſen Sie Sich daher nicht allzu trüber Melancholie. Die Sache muß ſich
klären und Ihr Glücksſtern wird ſich Ihnen nicht gänzlich verdunkeln.
Scheube 192) iſt ... weder in Dresden geweſen noch hat er mich geſprochen.
. . . Trauen Sie ihm alſo nicht allzu fehr. 193)
Wenn Sie mir recht bald ſchreiben, will ich Sie auch mit einer Schilderung
der hieſigen Literaturkreiſe beglücken, von denen ſich manches Intereſſante mit⸗
theilen läßt. Für heute genug!
Das Schreiben fällt mir immer noch ſchwer. Dresden iſt ein vortrefflicher Ort
und, werde ich erſt geſund, ſo werde ich hier ſehr glücklich ſein. Meine Frau
grüßt beſtens.
Bergſtraße Nro 1. Treu und herzlich
Hettner.
29. Dresden 11 Juni 1855.
Bergſtraße Nro 1.
Was werden Sie nun von mir denken, mein lieber Keller, daß ich auf Ihre
freundliche Zuſendung des letzten Bandes vom grünen Heinrich 19%) noch immer
nicht geantwortet habe. Aber wenn Sie wüßten, in welchem abſcheulichen
Trubel von Beſuchen und Gegenbeſuchen, von neuen Muſeumseinrichtungen
und ähnlichen Aeußerlichkeiten ich ſtecke, Sie würden meine bisherige Zögerung
entſchuldbar finden.
Nun zunächſt meinen herzlichſten Dank für den hohen Genuß, den Sie mir mit
Ihrer ſchönen, mild heiteren, gedankenklaren Dichtung gemacht haben. Die ruhige
Plaſtik des Stils iſt wahrhaft goethiſch, die Geſammtwirkung eine ſo rein dichte⸗
riſche, wie man ſie wenigen Dichtwerken der neueren Zeit nachrühmen kann. Das
Idyllion auf dem Schloſſe des Grafen 195) iſt ein Meiſterſtück, fo zart und innig
empfunden und ſo durchaus lebensfriſch und geſund, daß alle neuen Poeten
ſammt und ſonders bei Ihnen in die Schule gehen können. Wie fein iſt nament⸗
100) Keller, der Palmſonntag 1855 „buchſtäblich unter Thränen“ das letzte Kapitel des „Grünen
Heinrich“ „geſchmiert hatte“, klagte bitter am 9. J., daß Vieweg weder Correkturbogen noch Ab-
rechnung fende.
101) Band I; Keller fragte am 9. 5. danach.
102) Scheube wollte in Dresden geweſen ſein und erzählte Keller von Hettners Krankheit.
103) Keller unterhandelte 15 Scheube über den Druck der „Leute von Seldwyla“ (Ermatinger
II, 360 und 366 und Anm. 170).
100 Mit dem Brief vom 18. F. 75 ( Ermatinger II, 366 f., Brief Mr. 122).
5s) Die angeführten Situationen vgl. in Ermatingers Studienausgabe der 1. Faſſung. Hettner
meint des Schulmeiſters Töchterlein Anna.
Glaſer⸗-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 451
lich die Steigerung dieſer rein harmoniſchen Liebe, verglichen mit der ätheriſchen
Liebe zu Agnes 195) und der ſinnlichen zu Judith! So gewahrt man am beſten,
was für Früchte ſich der Held inzwiſchen aus ſeinen Irrfahrten gewonnen! —
Sie ſprachen in Ihrem lieben Briefe 19% die Furcht aus, daß die Partie über
die anthropologiſchen Studien ein wenig zu doctrinär ſei. Dieſe Furcht theile ich
durchaus nicht. Dagegen könnte es meiner Anſicht nach nicht ſchaden, wenn Sie
die Erzählung von den Heimathsträumen des Helden kürzer gehalten hätten.
Doch werden ſie lieblich durchbrochen von der vortrefflichen, äußerſt lebhaft ge⸗
zeichneten Geſtalt des alten Kunſttrödlers.
Bedenken hatte ich Anfangs gegen den Schluß. 177) Warum, fragte ich mich,
laſſen Sie Ihren Helden ſterben? Faſt dünkt es mir, Sie predigen das „In der
Beſchränkung zeigt ſich erſt der Meiſter“ etwas allzu eindringlich, wenn der Held
ſeine ſtrebſamen Bildungswirren mit dem Tode büßt. Iſt er nicht ſchon genug⸗
ſam geſtraft, wenn er ſich ſagt, daß er das kümmerliche Alter und das gramvolle
Abſterben feiner treuen Mutter verſchuldet? Jedoch haben ſich mir dieſe Be-
denken allmälich gemildert, indem ich mir ſage, daß der Ernſt der Bildungs⸗
tragödie nur um ſo durchſchlagender auftritt. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir
hierüber etwas ſchrieben. 195) Sobald ich nur ein wenig mehr als jetzt zur
Sammlung komme, erfülle ich das Verſprechen einer öffentlichen Anzeige 199).
Was iſt doch aber Vieweg 200) für ein ... Aergerlich iſt die Sache beſonders
auch deshalb, weil ich fürchte, daß Sie nun noch immer länger in Berlin feft-
ſitzen. Das wäre ein Uebel für Sie und für Ihre treue Mutter! — Ich bin feſt
überzeugt, daß Sie in der Landluft wieder zu mehr Heiterkeit und mit dieſer
zu erhöhter Leichtigkeit der Production kommen.
Jetzt hat auch der Druck meiner Literaturgefchichte begonnen. Doch ſitze ich
noch mit meinem Manuffript im Nachtrab und weiß kaum zu ſagen, wann die
Stimmung und Ruhe kommt, es zu vollenden.
Was in den Zeitungen über Gutzkows Berufung nach Weimar 201) geſchwätzt
wird, iſt eitel voreiliges Weſen. Der Großherzog hat es im Willen, iſt aber
geizig und will möglichſt billigen Kauf haben; Gutzkow aber verlangt 2000 rh.
und nicht die Stellung eines Dramaturgen, ſondern die eines Intendanten. So
kann man die Unterhandlungen von vornherein als geſcheitert betrachten. Zu⸗
gleich wirbt Frankfurt um Gutzkow und will ihm das Stadttheater übertragen,
der Marinerath Jordan iſt aber ein Gegenkandidat; der Mindeſtfordernde, d. h.
19), a, O., S. 376. Wörtlich heißt es dort: „Die autodidaktiſchen Bildungskapitel find ſchlecht
geraten
197) Über Kellers Ringen um einen befriedigenden Ausgang vgl. Ermatinger I, 288 ff. und
298 ff. und die ſpäteren Bedenken und brieflichen Ratſchläge Em. Kuh's (Ermatinger III).
198) Ausführlich äußert ſich Keller über alle Fragen im Brief vom 25. 6. 55 (Ermatinger II,
367 ff., Nr. 123), beſonders über das Schlußkapitel.
199) Wohl wieder in der Nat. Zeitung; vgl. das Urteil von Prutz im Deutſchen Muſeum 1855
(19. 7., Nr. 29), der auch den Schluß tadelt.
300) Keller teilte Hettner im Brief vom 18. 5. die für ihn ungünſtige Endabrechnung Viewegs
über den „Grünen Heinrich“ mit (vgl. Ermatinger II, S. 366).
we 1861 ging Gutzkow nach Weimar als Generalſekretär der Schiller-Stiftung (vgl. oben
S. ff.).
452 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Jordan 202) erhält wahrſcheinlich den Zuſchlag. Perſönlich iſt Gutzkow ſehr um⸗
gänglich und beſcheiden; nur ſelten guckt der Wolf aus dem Schafspelz.
Auerbach, der mit Gutzkow in ewigen Plänkeleien lebt, iſt in ſeinen Ehever⸗
hältniſſen ſehr unglücklich. 203) Er iſt das Nordſtetter Bauernkind und feine
Frau 204) eine Wiener Salondame. Daran ſcheitert auch ſeine Productionskraft.
Er hat jetzt ein Volksbuch geſchrieben, „Schatzkäſtlein des Gevattersmann“ 205),
das einzelne treffliche Erzählungen enthält, dabei aber auch eine ſolche Unmaſſe
von Trivialitäten, daß das Gute im Schlechten und Mittel mäßigen erſäuft wird.
Um Gutzkow und Auerbach ſchaart ſich nun ein Hof von Lokalliteraten.
Innerlich find beide Höfe Capuletti und Montecchi, 20%) äußerlich find fie ſehr
freundlich und haben ein Kränzchen, in dem ſie alldienstaglich Kaffee miteinander
trinken und eine Friedenscigarre rauchen. Dieſe Dinge wären lächerlich, wenn
ſie nicht zugleich ſo entſetzlich traurig wären; jedenfalls liegt hier ein guter
Luſtſpielſtoff.
Geben Sie bald Nachricht von Ihnen. Meine Frau grüßt beſtens. Schreiben
Sie auf der Adreſſe nicht Direktor, ſondern Profeſſor. In unſerm titelreichen
Zeitalter habe ich beide Titulaturen; die letzte dünkt mir bequemer.
In alter Treue
Hettner.
30. Dresden 27 Juni 55.
Inliegend, mein lieber Keller, ſchicke ich Ihnen fünfzig Thaler.?“7) Mehr ift
mir bei dem beſten Willen nicht möglich, da mich Umzug und Krankheit ſehr
ſtark derangirt haben und ich in Schulden bis über die Ohren ſtecke. Nehmen
Sie dieſe Sendung als ein Zeichen meines guten Willens. Hoffentlich reißt Sie
dieſe Summe wenigſtens aus den dringendſten Verlegenheiten.
Ihre Mittheilungen über Stahr 208) haben mich ſehr ergötzt. Die Rezenſion
über Freytag, 209) die auch ich in der Köln. Zeitung geleſen habe, hat mich
empört. Was ſoll man von einer Kritik halten, die ſo durch und durch auf
Selbſtſucht und Clique baſirt iſt! Der Torſo 210) iſt ein ganz erbärmliches Mach⸗
werk; obgleich gut geſchrieben, ſo doch ganz und gar zuſammengeſtohlen. Schon
203) Auch Wilh. Jordan wurde nicht Intendant, ſondern Rod. Benedix, von 1855 — 1858.
203) Keller ſchrieb am 28. 6. 55 beluſtigt: „Daß Auerbach nunmehr fein eigenes Lorle iſt, iſt gar
zu komiſch. Lorle Auerbach!“ (Ermatinger II, 370).
204) In 2. Ehe ſeit 1. 7. 49 verheiratet mit Nina Landesmann (Schweſter von Hieronymus
Lorm).
200) Sammlung der kleineren Geſchichten aus dem alten „Gevattersmann“ von 1845 — 1848,
erſchien 1856, Stuttgart.
200) Bei Shakeſpeare die engliſchen Formen: Capulet und Montague, obige bei Bellini.
207) Im Brief vom 25. 6. (Ermatinger II, 367 ff., Nr. 123) hatte Keller um 70 Thaler gebeten.
208) g. a. O., S. 370 f.; Stahr hob G. Freytag Goethe gegenüber als „Romanmuſter“ in den
Himmel, vgl. Anm. 209.
200) Vgl. auch die Rezenſion in der Augsburger Allg. Zeitung 1855: a) 23. 6., Nr. 174; b) 7. 9.,
Nr. 250 (B. Auerbach).
210) „Torſo, oder Kunſt, Künſtler und Kunſtwerke der Alten.“ Braunſchweig 1854 f. Schon
Keller wies am Schluß feines Briefes (S. 370) auf „das hundsgemeine Kompilations - und
Plagiatsweſen“ Stahrs hin.
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 453
hat ein Dr. Friedrichs 211) in einer kleinen Schrift über Praxiteles ihn darüber
zuſammengehauen; ohne Zweifel aber werden noch gar manche ähnliche ver⸗
diente Angriffe erfolgen. ...
Auerbachs 212) Demoraliſierung hat in ſeiner unglücklichen Ehe ſeinen
Grund... Selbſt feine beſten Freunde müſſen geftehen, daß ... die Hauptſchuld
auf des Mannes Seite liegt. ... Ich ſchreibe dieſe Anklage mit Schmerz nieder,
denn trotzalledem liebe ich Auerbach und bin ihm mannigfach verpflichtet.
Uebrigens lieſt Auerbach jetzt Ihren grünen Heinrich und iſt ſehr erbaut da⸗
von. Er iſt ſehr empfänglich für ſolche ſtille Sinnigkeit und rühmt mit großer
Freude; was z. B. Gutzkow nimmermehr thun würde. Ich habe bei Gutzkow
mehrfach angeklopft; er behauptet aber, Ihren Roman nicht geleſen zu haben.
Sobald ich mein Exemplar von Auerbach zurückerhalte, will ich ihn Ihnen [7 ]218)
ins Haus ſchicken.
Haben Sie „Soll und Haben“ 21%) geleſen? Ich noch nicht; und ich werde
jetzt auch nicht ſobald eine freie Stunde dafür finden. Aber es wäre mir lieb,
Ihre Meinung zu wiſſen.
Für heut genug. Schreiben Sie mir recht bald. Eiſen Sie Sich von Berlin
los. Vieweg muß für Ihre Novellen 215) ein gutes Honorar geben, da Ihr
Roman auch hier 216) in allen Leihbibliotheken zu finden iſt. Ueber meinem
Buch 217) wird jetzt gedruckt.
Freundlichſt grüßend
Bergſtraße 1. Hettner.
31. Dresden 4 Novbr 1855.
Lieber Freund,
Sie haben die Unart, daß Sie niemals Ihre Adreſſe ſchreiben. So muß ich
denn dieſen Brief dem blinden Zufall anvertrauen; hoffend, daß er Sie noch
in Ihrer alten Behauſung findet.
Ich bedaure Sie wegen Ihres Ungemachs 218) und nehme herzlich Theil
daran. Meine Meinung iſt ſchon lange geweſen, daß Sie unter allen Um⸗
ftänden von Berlin losgeeiſt werden müſſen. Dort kommen Sie nicht zur Ruhe
ungeſtörter Production. Sie müſſen nach Zürich. Oder beſſer, machen Sie
einſtweilen hier eine Zwiſchenſtation.
211) C. Friederichs, Praxiteles und die Niobidengruppe. 64950 1855; ll erfolgten auch
durch Mor. Carrière (Blätter für lit. Unterhaltung 18. 10. 55, Nr. 425 S. 766) und Prutz,
Deutſches Muſeum 1855, 15. J., Nr. 11, und 1856, 1. J., dir A |
212) Vgl. Anm. 203.
210 Schreibfehler: = „ihm“.
214) 1855, 3 Bände, vgl. Anm. 209.
215) „Die Leute von Seldwyla“ 5 5 Keller nach dem Bruch mit Scheube auch Vieweg bis An-
fang Juli liefern will (a. a. O. S. 369 f.).
210) Keller erzählt a. a. O., daß in Berlin ſchon einige Leihbibliotheken den Roman „doppelt an⸗
geſchafft“ haben.
217) Lit.⸗Geſchichte des 18. Ihdts. I.
18) Keller berichtet (Berlin, 2.11.55 = Ermatinger II, 380 ff., Brief Nr. 129) über feine
pekuniären Nöte mit Scheube und Vieweg, die ihn bisher an der Rückzahlung feiner Schuld gegen-
über Hettner hinderten.
454 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Ich will mich nicht unnöthig in Ihr Vertrauen drängen; aber Sie kennen
meine aufrichtige Geſinnung. Sagen Sie mir alſo, woran es eigentlich hängt,
daß Sie nicht von Berlin loskommen? Haben Sie Gläubiger, ſo läßt ſich mit
dieſen vielleicht ein Abkommen treffen. Auswärts können Sie viel ungeſtörter
dichten und ſchaffen und damit viel früher aus der Klemme ſich reißen.
Daß ein Liebesleid 219) in Ihnen ſtecke, glaubte ich ſchon aus Ihrem letzten
Brief 220) herausleſen zu dürfen. Sind Sie glücklich, wohlan! — Stemmen
ſich Ihnen Hinderniſſe entgegen, ſo iſt auch hier mein Refrain: Fort von Berlin!
Vieweg 221) iſt ... gegen Sie. ... Künftig ſchließen Sie doch ja keinen
Contract ab, ohne vorher Sachverſtändige zu Rathe zu ziehen. Ich erbiete
mich Ihnen als ſolchen. Denn wenn ich auch vielleicht alle Urſache habe, in
dieſer Hinſicht gegen mich ſelbſt mißtrauiſch zu ſein, ſo habe ich doch hier in
Karl Andree 222) einen Freund, der das Buchhändlercontractmachen aus dem
Grunde verſteht und mit ſeinem Rath gern bereit iſt. Auch ich habe mich über
Vieweg zu beklagen. Auch bei mir trödelt und zaudert er; über einem erſten
Band, der etwa 33—35 Bogen umfaßt, druckt er 8 Monate. ... Sobald das
Buch in meinen Händen iſt, ſchicke ich es Ihnen. Aber Sie müſſen erſt Ihre
Adreſſe näher bezeichnen.
Wie mein Buch wirken wird, bin ich ſehr geſpannt. Herrn Julian Schmidt 223)
wird es unbequem ſein und er wird daher ſchimpfen. Die übrigen Blätter
werden flüchtig darüber hinweggehen; denn es behandelt eine Literaturepoche,
zu deren Beurtheilung nicht Alle das nöthige Zeug haben. Das Liebſte wäre
mir, wenn einzelne Journale einzelne Auszüge brädhten. ??% Bis Mitte Dezem⸗
ber wird das Buch, wenn auch nicht auf dem Markt, ſo doch auf der Welt ſein.
Im Manuffript ift es laͤngſt vollendet.
Jetzt ſchreibe ich in wahrhafter Kärnerarbeit einen Katalog für das Antiken⸗
fabinet.225) Dazu meine Vorleſungen an der Kunſtakademie, die äußerſt beſucht
ſind und mir daher viel Zeit rauben. So komme ich nicht einmal zu der Er⸗
holung, die ich mir ſo ſehr wünſchte.
Freytags Soll und Haben 226) iſt mir fatal; obgleich namentlich der erſte
Theil höchſt elegantes Machwerk hat. Jetzt iſt er ſein eigener Birchpfeiffer ge⸗
worden und hat den Roman zu einem Trauerſpiel umgearbeitet. Kann man
denn zur Statue machen, was man erſt als Bild gedacht und gemalt hat?
210) Zu Betty Tendering (a. a. O. S. 381 angedeutet), vgl. Ermatinger I, 240 ff.
220) Bezieht ſich vermutlich auf eine Andeutung Kellers in feinem Briefe vom 9. 5. (Ermatinger II, 365).
221) g. a. O., S. 380 f.: Verringerung des Honorars für die „Leute von Seldwyla“ und Ver⸗
zögerung des Druckes.
222) Seeger und Publiziſt (1808 — 1875).
223) 1849 — 1857 zuſammen mit G. Freytag Herausgeber der „Grenzboten“. Die Sorge war
begründet, vgl. Grenzboten 1856, II, S. 361 ff., wo Schmidt die novelliſtiſche Form, die geiſt ⸗
reiche „esprit“ ⸗Manier Hettners tadelt und ihm Unvollſtändigkeit des Materials vorwirft.
224) Hettner hat mit mehreren Gelehrten (vor allem W. Biedermann) ausführlich darüber korre⸗
ſpondiert; eine äußerſt lobende Beſprechung gab H. Marggraff (Blätter für lit. Unterhaltung 1856,
24. 4., Nr. 17, u. 8. 5., Nr. 19).
225) „Die Bildwerke der Königlichen Antikenſammlung zu Dresden“ 1856 (18810.
226) Iſt das wirklich erfolgt? Oder fußt Hettner auf der Notiz von Prutz (Deutſches Muſeum
1854, Nr. 43, 19. 10): Freytag habe ein bürgerliches Trauerſpiel unter der Feder?
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 455
Was ſind nun Ihre nächſten Arbeitspläne? Drama oder Roman? Auerbach
hat wieder ein verunglücktes Trauerſpiel 227) geſchrieben was ihm von allen
Bühnen zurückgeſchickt wird. Gutzkow iſt vollſtändig bankerott; was ſind die
Unterhaltungen am häuslichen Heerd 223) jetzt fad und trivial. Ueberhaupt will
das hieſige Literaturleben ſich über alles Maß forciren und iſt doch innerlich
klein und hohl.
Kommen Sie und ſehen Sich die Dinge ſelbſt an. Schreiben Sie mir bald
und genau, und ſeien Sie von meiner aufrichtigſten Theilnahme und Freund⸗
ſchaft überzeugt.
Hettner.
32. Dresden 27 Nov. 55.
Mit herzlichſter Freude, mein lieber Keller, habe ich vernommen, 227) daß
Sie uns in den nächſten Tagen in Dresden befuchen. 23% Ich freue mich un⸗
endlich auf dies trauliche Zuſammenſein. Und beſonders ſegne ich auch Ihren
Entſchluß, Berlin zu verlaſſen.
Es trifft ſich dumm, daß gleichzeitig eine Freundin?? ) meiner Frau hier zum
Beſuch erwartet wird und deshalb unſer kleines Fremdenzimmer mit Be⸗
ſchlag belegt iſt. Ich bitte Sie daher, in der „Stadt Gotha“ abzuſteigen. Mit
dem Wirth dort bin ich bekannt, und die Entfernung von meiner Wohnung iſt
nicht allzuweit. Ich habe bereits Alles mit dem Wirth arrangirt. Wenn Sie
zu uns kommen, ſo fragen Sie zunächſt die Leute nach dem „Plauen'ſchen Schlag“
und dann ſehen Sie unmittelbar mein Haus, groß und alleinſtehend, auf
offener Feldchauſſee. Noch beſſer iſt es, Sie nehmen eine Droſchke.
Wir wollen recht viel miteinander beſprechen. Gutzkow und Auerbach ſollen
Ihnen vorgeführt werden, und Alles, was zum Metier gehört.
Treulichſt
Meine Frau grüßt. Hettner.
33. Dresden 1 Febr. 1856.
Sie werden mir arg zürnen, mein lieber Freund, daß ich ſo lange Zeit ihren
freundlichen Brief 232) unbeantwortet ließ. Arbeiten und Zerſtreuungen der
mannichfachſten Art haben die Schuld dieſer Zögerung; mein Leben iſt hier ſo
überhetzt und trubelvoll, daß ich mich oft in allem Ernſt nach der ländlichen
Einſamkeit kleiner Univerſitätsſtädte zurückſehnen kann.
Es freut mich, daß es Ihnen in Ihrer Heimath wieder gefällt. Namentlich
freut mich Ihre Rückkehr auch für Ihre gute Mutter, die ich aus der Geſchichte
des grünen Heinrich verehren und lieben gelernt habe. Und Zürich bietet jetzt
227) Nicht näher feſtzuſtellen
228) 1852 1864 (bis 1861 von Gutzkow, dann von K. Frenzel).
220) Keller hatte am 25.11.55 geſchrieben ( Ermatinger II, S. 390 f., Brief Nr. 137).
230) Keller teilte (a. a. O. S. 391) feinen Entſchluß mit, in die Heimat zurückzukehren.
231) Frl. Hilgenfeld, Schweſter des Theologen Adolf Hilgenfeld, ſeit 1850 a. o. Profeſſor in Jena.
232) Der Brief iſt verloren, geſchrieben Ende Dezember 1855 nach der um die Mitte des Monats
erfolgten Heimkehr.
456 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
ſo viele Anregung und Mannichfaltigkeit des Verkehrs, daß Sie auch in dieſer
Beziehung Berlin ſchwerlich ſehr vermiſſen werden. Ich denke mir, daß Sie
jetzt ſchon recht tüchtig im Sinnen und Denken, Dichten und Ausführen ſtecken.
Die Leute von Seldwyla find mir noch nicht zugekommen. 233) Ich ſehe ihnen
mit Spannung entgegen. In der öffentlichen Beſprechung 234) will ich gutzu⸗
machen ſuchen, was ich in der Anzeige des Romans etwa geſündigt habe.
Sie nehmen ſo freundſchaftlich Theil an meinem Geſchick, daß ich Ihnen vor
Allen melden muß, wie meine gute Frau jetzt in Geſundheit und Gemüths⸗
ſtimmung wieder zu ihrer früheren Friſche und Unbefangenheit zurückgekehrt
iſt. 235) .. . Fräulein Hilgenfeld, 239) deren Bruder ich nochmals Ihrer einfluß⸗
reichen Obhut empfehle, weilt noch in unſerem Hauſe. Am Weihnachtsabend
las ich ihr und meiner Frau einen großen Theil des erſten Bandes Ihrer
Gedichte vor. Wir überzeugten uns aufs Neue, wie ſinnig und lieblich dieſe
Gedichte ſind und wie feinfühlig und edel das Gemüth, das ſich in dieſen Ge⸗
dichten ausſpricht.
Iſt Ihnen denn mein Buch 237) endlich zugekommen? Ihnen und Viſcher 238)
und Köchly? Bestiavia 239) hat ſich in der That als ächte Beſtia gezeigt in der
Saumſeligkeit, mit welcher er die Verſendung betrieben hat. Noch habe ich meine
Freiexemplare nicht .. Sagen Sie mir Ihr Urtheil offen. Wollen Sie etwas
für die Oeffentlichkeit thun, ſo bin ich Ihnen um ſo dankbarer verpflichtet. Da
die Züricher Jahrbücher 240) noch zu ſtocken ſcheinen, fo wäre wir eine andere
große Schweizer Zeitſchrift ebenſo erwünſcht, oder irgendein deutſches Blatt.
Machen Sie es ganz nach Ihrem Belieben. Ich hetze und dränge nicht.
Auerbach iſt wieder mit einem nichtsnutzigen Drama, “!) das eine ganz
elende Spielergeſchichte iſt, niedergekommen und holt ſich ſoeben wieder bei den
verſchiedenen Directionen und Intendanzen etzliche Körbe. Wem nicht zu rathen
iſt, iſt Aicht zu helfen. Gutzkow 242) bringt in den nächſten vierzehn Tagen fein
neues Stück „Ella Roſe“ zur Aufführung; Dawiſon 24) meint, daß es einige
dankbare Effecte habe. Auch hat Dawiſon durch ſein meiſterhaftes Spiel ſehr
den Königsleutnant 244) zu Ehren gebracht .. Moſenthal 245) hat hier den
„Goldſchmid von Ulm“ am Neujahrstage aufführen laſſen. Ich habe das Stück
233) Januar 1856 bei Vieweg (vgl. Ermatinger I, 340 ff., Entſtehungsgeſchichte!).
240 Vgl. Anmerkung 258.
385) Vgl. auch Kellers Antwort vom 6.— 21. 2. 1856 ( Ermatinger II, S. 400).
220) Vgl. Anm. 231. Hilgenfeld hatte anſcheinend um Kellers Vermittlung (durch Hettuer)
gebeten, um in Zürich eine Profeſſur zu erlangen. Er blieb indeſſen in Jena.
237) Lit.⸗Geſchichte Bd. I (1856). Keller hat das Buch am 6. 2. „ſeit länger als vierzehn Tagen“
(a. a. O., S. 394).
238) Fr. Th. Viſcher war 1855 an das Polytechnikum in Zürich berufen worden.
) Keller hatte Vieweg fo oder „via bestia“ ſcherzweiſe getauft (Brief vom 6. 2. 56).
20) Am 6. 2. 56 (a. a. O. S. 395 ff.) ſpricht Keller fein Urteil lobend aus, verſpricht auch eine
Rezenſion (a. a. O., S. 396).
2) Vgl. Anm. 227.
42) „Ella Roſa“, Schauſpiel, 1856, Uraufführung in Dresden am 15. 2.
203) Bogumil Dawiſon (1818 - 1872), der bewunderte Schauſpieler der Dresdener Hofbühne.
24) Erſchien 1849.
248) Dramatiſches Märchen mit Muſik von H. A. Marſchner, aufgeführt in Dresden 1. 1. 56,
vgl. Deutſche Allg. Zeitung 1856, 5. 1., Nr. 4.
Ölafer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 457.
nicht gefehen; die Bayer⸗Bürk 246) nannte es poeſielos, pries es aber als ein
gutes Scenarium für einen geſchickten Regiſſeur; die Menge iſt entzückt, denn
es iſt ein Spectakelſtück mit Opernmuſik. Uebrigens hat mir Moſenthals Per⸗
ſönlichkeit gefallen; er ſieht wie ein philiſtröſer Kanzleibeamter aus, erſcheint
aber als beſcheiden und ehrlich. Auch habe ich inzwiſchen Guſtav Freytag kennen
gelernt. Er hat auf mich einen viel günſtigeren Eindruck gemacht als ich er⸗
wartete, obgleich allerdings ein Stück Waldemar ??7) und Find in ihm unver⸗
kennbar iſt.
Nun erzählen Sie aber auch mir, was Sie inzwiſchen geſehen, erlebt und ge⸗
arbeitet haben. Mit Bedauern höre ich, daß Viſcher von feiner Frau getrennt
lebt. Mir ſind dieſe Fälle beſonders auch deshalb ſo leid, weil die Gegner ſo
leicht Angriffswaffen zur Bekämpfung des neuen Prinzips 248) erhalten; was
wird der Verfaſſer des Eritis sicut Deus 249) jubiliren! Wiſſen Sie etwas
Näheres über die Veranlaſſung?
Auch ſchreiben Sie über die Verhältniſſe des Polytechnikums. Moleſchott 250)
iſt ſehr entzückt von Zürich. Sie werden ihn ſicher liebgewinnen; er iſt eine
kreuzbrave Seele.
Mein kleiner Georg 251) treibt ſeine Schauſpielerſtückchen luſtig fort. Auch
ſcheint ſich Felix's Augenleiden allmälich zu beſſern. Eliſabeth iſt ein ſtilles
gutes Kind. Am Weihnachtsabend waren alleſammt ſehr luſtig und glücklich.
Meine Frau grüßt herzlichſt. Baldigſter Antwort entgegenſehend verbleibe
ich in treuſter Liebe
herzlichſt der Ihrige
Hettner.
Bergſtr. Nr. 1.
34. | Dresden 24 März 1856.
Lieber Freund,
Sie werden Sich gewundert haben, ſo lange Zeit 252) ohne Nachricht von mir
zu bleiben. Leider iſt die Veranlaſſung dieſer beharrlichen Schweigſamkeit eine
246) Marie Bayer⸗Bürck, ſeit 1841 am Hoftheater in Dresden.
247) Hauptperſon des Schauſpiels „Graf Waldemar“ (1847); Fink iſt der Ariſtokrat in Freytags
„Soll und Haben“ (1855).
248) Die Philoſophie Ludw. Feuerbachs.
200) Anonymer Roman von 1854, Hamburg (Rauhes Haus), 18552. Geſchrieben vom Stand⸗
punkt der inneren Miſſion mit tleinlich- ſchwächlicher Polemik gegen alle moderne Wiſſenſchaft
(Viſcher, Strauß u. a.). Verfaſſerin Wilhelmine Canz; Bekenntnis der Autorſchaft 1860: „Auf⸗
ſchlüſſe über Eritis sicut Deus“ (vgl. Holzmann⸗Bohatta, Deutſches Anonymen⸗Lexikon V,
Nr. 2977, Weimar 1909; Bettelheim, Biogr. Jahrb. VI, 1904, S. 78; Krauß, Schwäb. Lit.
Geſchichte II, 287 f. — Rezenſionen: a) Blätter für lit. Unterhaltung 1.4. 1854, Nr. 14 durch
H. Marggraff, der den weiblichen Verfaſſer ſchon ahnt; b) Grenzboten 1855, I, 295 ff.; c) Prutz,
Deutſches Muſeum 16. J. 54.
250) Seit 1856 am Polytechnikum in Zürich (vgl. Kellers Mitteilungen über den „Lärm bei
feiner Berufung“, a. a. O., S. 397.
251) Keller hatte die Kinder bei feinem Dresdner Aufenthalt (November 1855) kennengelernt, vgl.
a. a. O., S. 400.
a Keller hatte am 6. 2. 56 (Fortſetzung 21. 2.) geſchrieben = Ermatinger II, 394 ff.,
rief 139
458 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
ſehr traurige. Meine Frau iſt ſeit länger als ſieben Wochen ſehr gefährlich er⸗
krankt und noch immer läßt ſich für die Geneſung kein ſicherer Ausweg finden.
Das Sorgen und Mühen nimmt in den letzten Jahren bei mir gar kein Ende.
Auch heut nur einige Zeilen.
Zunächſt die Nachricht, daß weder Auerbach noch ich bis jetzt in den Beſitz
Ihres neuen Buches 253) gelangt find. Als Sie mir in Ihrem letzten Brief 252)
ſchrieben, daß das Buch wahrſcheinlich ſchon längſt in meinen Händen ſei, ſchrieb
ich ſofort an Bestiavia. Aber ich habe bis jetzt weder Buch noch Antwort
Thun Sie Ihrerſeits gefälligſt noch einige weitere Schritte. Ich verſpreche Ihnen
ſicher eine ausführliche Anzeige in der Allgemeinen Zeitung oder in der Köl⸗
niſchen oder in der Nationalzeitung, je nach Ihrem Wunſch.
Haben Sie Stahrs Perfidie 25% gegen mich in der Nationalzeitung geleſen?
Wenn Sie noch Neigung fühlen, eine befürwortendes Wörtlein zu ſagen, ſo
würde mir die Kölniſche Zeitung ſehr erwünſcht ſein. Ich würde Sie in dieſem
Fall bitten, den Aufſatz unmittelbar an „Herrn Joſeph Du Mont 255) Verleger
der Kölniſchen Zeitung“ zu ſchicken und ihm zu ſchreiben, daß Sie dies auf
meine ausdrückliche Veranlaſſung thun. Ich kenne Dumont perſönlich. Es
verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß mir der offenſte Freimuth von Ihrer Seite ge⸗
nehm iſt. Haben Sie keine Luft, fo ſchadet es auch nichts..
Ihre Nachrichten aus Zürich 256) haben mich ſehr angeſprochen. Viſcher iſt
und bleibt doch ein unverbeſſerlicher Doctrinär. Moleſchott wird jetzt ſchon bei
Ihnen ſein.
Was arbeiten Sie jetzt? Schreiben Sie mir recht bald.
In alter Liebe und Treue
Hettner.
35. Dresden 12 April 1856.
Lieber Keller,
Vor einigen Tagen endlich habe ich Ihre Leute von Seldwyla erhalten. 237)
Ich bin jetzt in der traurigſten Lage. Seit acht Wochen wankt meine Frau mit
unſäglichen Leiden ihrer unrettbaren Auflöſung entgegen. Meine Stimmung
iſt troſtlos. In dieſer Zeit hat mich Ihre vortreffliche Dichtung erhoben und er⸗
quickt in einer Weiſe, wie es nur die vollendetſte Schönheit vermag.
Freund, Sie haben ein klaſſiſches Werk geſchaffen. Namentlich Ihre Frau Res
gula und Ihr „Romeo und Julie“ wird leben, ſo lange die deutſche Zunge lebt.
Glückauf, Glückauf!
283) „Leute von Seldwyla“ I.
286) Stahr hatte bei der Beſprechung der Lit.⸗Geſchichte zum Nachweis von Widerſprüchen einzelne
aus dem Zuſammenhange geriſſene Stellen zitiert. An ihn ſelbſt ſchreibt Hettner entrüſtet und ſcharf
am 21. 3. 56 (vgl. Keller am 14. 4. 56 — Ermatinger II, 406, Brief Nr. 141).
286) 1811 - 1861; nach dem Tode des Vaters (1831) Leiter der Zeitung (im Verein mit ſeiner
klugen Mutter) und Begründer ihres Aufſchwungs. Keller verſpricht die baldige Abſendung am
16. 4 (a. a. O., S. 407).
80) Allerlei Univerſitätsklatſch, z. B. einen Streit zwiſchen Köchly und Viſcher hatte Keller
gemeldet (a. a. O., S. 396 ff.).
257) Geantwortet hat Keller auf den Brief Nr. 34 nicht.
Per 4
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 459
Sobald ich nur ein klein wenig wieder zu Athem komme aus meinem ſchweren
Drangſal, mache ich Ihnen eine ausführliche Anzeige ? 58). Es iſt dies nicht ein
Freundſchaftsdienſt, den ich Ihnen erweiſe, ſondern ein Herzensbedürfniß, das
ich erfülle.
Auerbach 259) theilt mit mir das Entzücken über Ihre Dichtung. Er hat
geſtern eine ſehr ausführliche Anzeige an die Allgemeine Zeitung geſchickt, die
Ihnen hoffentlich Freude machen wird. Ich will nur hoffen, daß die Redaction
nicht allzu lange mit dem Abdruck zögert.
Sagen Sie Moleſchott, was für ein trauriges Schickſal mir bevorſteht. Laſſen
Sie den ſchönen Frühling warm und ſtrahlend in Ihr Herz ziehen; für mich
bietet er diesmal nur Schmerz und Trauer.
An Moleſchotts die beſten Grüße.
Treulichſt
Hettner.
36. Dresden 9 October 1856.
Lieber Keller,
Warum laſſen Sie gar Nichts von Ihnen hören? 280) Ich weiß weder, wie
es Ihnen ergeht und wie Sie Sich in Zürich eingerichtet haben, noch was Sie
machen und treiben. Nur muthmaßlich nehme ich an, daß Sie Sich in Ihre No⸗
vellen 261) vertieft haben und daß Sie Ihren trefflichen „Leuten von Seldwyla“
recht bald noch andere gleich treffliche Erzählungen folgen laſſen wollen.
Sie werden mir einen großen Freundſchaftsdienſt erzeigen, wenn Sie mir
bald und möglichſt ausführlich ſchreiben. Seitdem ein ſchweres Geſchick mein
häusliches Glück vernichtet hat 262), bin ich fo ganz ausſchließlich an meine
Freunde gewieſen, daß es doppelt Unrecht von dieſen iſt, wenn auch ſie mich im
Stiche laſſen. Freilich muß ich hinzufügen, daß ich in der That nicht einmal
weiß, ob Sie mir eine Antwort ſchulden oder ich Ihnen. 263) Jedenfalls ver:
diene ich jetzt Nachſicht. Rechnen Sie nicht allzu ſtreng mit mir.
Was haben Herr Stahr und ſein herrliches Ehegeſponſt in Zürich geſpon⸗
nen? 264) Sind ſie hinlänglich in Zürich gefeiert worden? Wie namentlich hat
ſich Viſcher zu ihnen geſtellt? ... Vieweg ſcheint fie jetzt auch überdrüſſig zu
haben. Wenigſtens weiß ich, daß Vieweg den Verlag von Stahrs neuem Buch
über Paris 265) abgelehnt hat.
253) Keller bittet am 16. 4. 76 (Ermatinger II, S. 406, Brief Nr. 141) um die Kölner Zeitung.
Der Tod ſeiner Frau hinderte Hettner an der Ausführung.
250) Unter dem Titel „Gottfr. Keller von Zürich“, 17. 4. 1856 (Beilage).
200) Falls kein Brief Kellers anläßlich des Todes von Hettners Frau verloren iſt, ſeit 16. 4. 56.
261) Die „Galatea“-⸗Novellen können gemeint fein, da fie von Keller ſeit 19. 9. 55 im Brief⸗
wechſel mehrmals erwähnt werden, vgl. Ermatinger I, 589 ff., II, 372 ff. uſw., Hettner ſelbſt gegen-
über am 16.4. ( Ermatinger II, 407).
262) Marie Hettner ſtarb am 16.5.1856.
2 Keller hatte zuletzt 16. 4. geſchrieben, vgl. Brief vom 18. 10. (Ermatinger II, 423 ff.).
284) Keller hatte ihre für den Sommer bevorſtehende Ankunft am 21. 2. berichtet (Ermatinger II,
399), über ihren Aufenthalt in Zürich ſchreibt er am 18. 10. (II, 425 f.).
265) „Nach fünf Jahren“, Pariſer Studien, 1857, 2 Bände, Oldenburg.
460 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Ich kann mir das Glück Ihrer guten Mutter und Schweſter recht lebhaft aus⸗
malen, daß Sie jetzt endlich in ihrer Mitte ſind, und zwar als ein gemachter und
geſuchter Mann.
Mir geht es noch immer ſehr armſelig. Was es heißt, eine fo vorzügliche Frau
verlieren, wie ich beſaß, kann ſchwerlich Jemand ermeſſen. ... Unſere Ehe war
glücklich wie nur wenige Ehen glücklich ſind ... Es iſt mir mein ſchönſter Troſt,
daß die Gute im Rückblick unſerer Ehe mit dem Gefühl des vollſten Glücks
geſchieden iſt und daß ſie mir mit rührender Liebe dankte, wie ich ihr jederzeit
ein guter und treuer Mann geweſen.
Auerbach ... läßt jetzt eine neue Dorfgeſchichte 269) drucken, die ich aber kenne.
Sonſt weiß ich ſchriftſtelleriſch nichts Neues.
Dagegen iſt es in unſeren Ateliers ſehr rege; namentlich bei den Bildhauern.
Es iſt doch eine Freude, ſich mitten in dieſe neuen Eindrücke friſcher Schaffensluſt
verſetzt zu ſehen.
Mein Buch hat durch die letzten traurigen Ereigniſſe ſehr ſchlimme Störungen
erfahren. Der zweite Band 267) rückt nur ſehr langſam vorwärts; doch macht er
mir viel Freude. In dieſem Augenblick ſtudire ich das Systeme de la Na-
ture 268) und bin erſtaunt zu ſehen, wie klar, vollſtändig und mit welch klaſſi⸗
cher Einfachheit hier bereits Alles geſagt iſt, was Vogt 269) und Moleſchott 27%
neu entdeckt zu haben glaubten und nur höchſt aphoriſtiſch darſtellen. Dies Sy-
steme de la Nature iſt mein ganzes Entzücken; ich kenne nur Feuerbach's
Weſen des Chriſtenthums 271), das ſich mit ihm vergleichen läßt. In beiden
Büchern iſt die gleiche Freudigkeit der Ueberzeugung und die gleiche ſtrenge Sach⸗
lichkeit.
Neulich war Max Kapp 27?) und der Hofrath Kapp bei mir. Manx ſcheint ein
junger Dandy, der nicht recht weiß, was er mit ſich anfangen ſoll; ich konnte
nicht erfahren, was er eigentlich will und treibt. Der alte Kapp hat ſich merk⸗
würdig verjüngt und ſah friſch und munter aus; er kam von der Naturforſcher⸗
verſammlung aus Wien. Johanna 273) iſt dieſen Sommer in der Schweiz ger
weſen und ſoll rückenmarksleidend fein. Fries 27%, höre ich, iſt nach wie vor in
Heidelberg; doch habe ich ſeit langer Zeit keine ſeiner Arbeiten geſehen. Für
einen Künſtler iſt eigenſinnige Vereinſamung immer vom Uebel.
266) „Barfüßele“, 1856. — Die „unvergorne Bauerbengelei“ in Auerbach rügt auch Keller in
der Antwort vom 18. 10. (Ermatinger II, 428).
267) Lit.⸗Geſchichte des 18. Ihdts., II, Frankreich.
206) Von Freih. P. H. von Holbach (1723 — 1789), dem „Nährvater“ der Eneyklopädiſten. Das
Buch erſchien 1770 (London), 2 Bände.
200) K. Vogt (geb. 1817, ſeit 1852 in Genf), der Vorkämpfer des Materialismus und Darwinis⸗
mus. In Frage kommen von feinen Werken u. a.: „Phyſiologiſche Briefe“ 1845 f., „Bilder aus
dem Tierleben“ 1852, vor allem die ſatiriſchen „Unterſuchungen über Tierſtaaten“, 1851.
270) Vgl. Anm. 48. Gemeint ift vor allem: „Kreislauf des Lebens“, Mainz 1852, die wie ferne
ſonſtigen Schriften den Lebensprozeß materialiſtiſch darſtellte.
271) Leipzig 1841.
272) Sohn Chr. Kapps, vgl. Anm. 15 zu Kellers Briefen an Frau A. Hettner.
273) Über Kellers Verhältnis zu Johanna Kapp in der Heidelberger Zeit, vgl. Ermatinger l,
206 ff. und Kellers Brief vom 18. 10.56 (= Ermatinger II, 428 f.).
274) Vgl. Anm. 19.
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 461
Kommen Sie oft mit Moleſchott zuſammen? Glauben Sie mir, er iſt ein
ganz vortrefflicher Menſch. Bedenken Sie mich wieder mit einigem Züricher
Univerſitätsklatſch, und ſagen Sie mir namentlich, ob Sie etwas Näheres über
Viſchers 275) Stellung wiſſen. Man ſagt hier, es gefalle ihm in Zürich nicht.
Sonſt wüßte ich nichts weſentlich Neues zu berichten. Jedenfalls ſehe ich recht
baldiger Nachricht von Ihnen entgegen. Je einſamer es mir jetzt daheim iſt,
deſto mehr freue ich mich, wenn ich von außen Eindrücke empfange. Ich lebe
ohnehin jetzt nur von Minute zu Minute und habe kein großes Intereſſe mehr,
das mich in Athem und Spannung erhält. Auch die Begeiſterung für mein Buch
iſt geſchwunden.
Leben Sie wohl. Grüßen Sie Moleſchott herzlich von mir und fragen Sie
ihn, ob ihm das Gewünſchte aus Dresden zugekommen ſei. Auch können Sie
ihm erzählen, daß ich eine Erzieherin angenommen habe, die für meine Kinder
ſorgt ſo gut es eben gehen will.
In alter Treue
H. Hettner.
37. Dresden 19 November 1857.
Ich freue mich herzlich, mein lieber Freund, nach ſo langer Zeit wieder etwas
von Ihnen gehört zu haben. 276) Und um ſo herzlicher, da die Nachrichten gut
ſind und ich Sie in friſcher Thätigkeit erblicke. Mögen recht bald einige Bände
Novellen 277) der Leſewelt Zeugniß ablegen, wie ernſt und gewiſſenhaft und zu⸗
gleich wie ächt dichteriſch und urſprünglich Sie empfinden, denken und arbeiten.
Wolfgang Müller 278) ſchreibt mir, daß er Ihnen auf meinen Anlaß ſogleich
auf gradem Wege weitere Mittheilungen über die Kölner Sache gemacht hat.
Sie werden darnach am beſten ſelbſt die Sachlage beurtheilen können. An Ihrer
Stelle würde ich am Polytechnikum 27°) zugreifen. Große Anforderungen an
Ihre Lehrtätigkeit wird man nicht machen. Für Doctrin und Syſtem iſt durch
Viſcher 280) mehr als hinlänglich geſorgt. Auch die Behörden ſehen Ihre An-
ſtellung wohl mehr als akademiſche Sinecure an und Sie können dieſe Sinecure
mit gutem Gewiſſen annehmen, da es verfluchte Schuldigkeit eines Staats iſt,
nicht blos junge Talente zu erziehen, ſondern auch reifen Talenten die Möglich⸗
keit ungeſtörter Entwicklung und Wirkſamkeit zu ſichern. Oder ſoll nur die
Münchner Kleindichterbewahranſtalt 281) allein und ausſchließlich ſich dieſer
2758) Keller berichtet a. a. O., S. 426 nur Viſchers Trennung von feiner Frau.
276) Antwort auf Kellers Brief vom 11.11.57 (Ermatinger II, 458 ff., Brief Nr. 159). Das
einjährige Stocken des Briefwechſels war vor allem bedingt durch Hettners Reiſe nach England und
Frankreich (vgl. Anm. 284).
a. a. O., S. 460 ſpricht Keller von „zwei weiteren Bänden Leuten von Seldwyla“ und den
Galatea-⸗Novellen.
278) Der Dichter W. Müller von Königswinter, den Keller im April 1850 bei Freiligrath kennen⸗
lernte, ließ ihm die Stelle eines Sekretärs des Kölner Kunſtvereins anbieten (a. a. O., S. 458 f.
und Ermatinger I, S. 389).
270) Eine „Lehrſtelle ... für allerlei freie und beliebige Vorträge“ wolle man ihm in Zürich an-
bieten, erzählt Keller (a. a. O., S. 459). N
280) Auch Keller ſpricht von dem „eingepaukten Vortragsvirtuoſen“ (a. a. O.).
251) Der um Maximilian II. in München verſammelte Dichterkreis, in dem Geibel den Dichter⸗
könig darſtellte, Heyſe, Lingg, Dingelſtedt uſw. die wichtigſten Mitglieder waren.
462 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Pflicht unterziehen? Gehen Sie übrigens nach Köln, fo finden Sie in Müller
einen friſchen und edlen Menſchen. ... Sehr liebenswürdig iſt feine Frau, eine
reiche Banquierstochter.
Auerbach ſitzt auf hohem Pferd und freut ſich feiner neueſten Triumphe. 82)
Doch möchte ich ein beſcheidenes Veto einlegen. Sein neuer Kalender, namentlich
die Stiefmutter, iſt ganz entſetzlich ſchwach. Er knaupert jetzt an ſeinen früheren
Erzählungen, Dichter und Kaufmann, Spinoza, Neues Leben, herum und möchte
gern dem Todtgeborenen ein ruhmreiches Scheinleben geben; aber es wird
ſchwerlich angehen. ...
Gutzkow arbeitet an einem neuen neunbändigen Roman. 283) Ich komme mit
ihm ſonſt gar nicht mehr zufammen ...
Stahr, Mann und Frau, waren auch einige Zeit hier. Mir iſt unheimlich in
ihrer Nähe. Sie ſind gar zu eitel und haben keinen Ernſt der Arbeit mehr.
Jedenfalls iſt mir die Frau lieber als der Mann.
Mir geht es erträglich. Meine Stimmung iſt freudlos, ohne Ausſicht in die
Zukunſt; je me laisse exister. Aber glücklicherweiſe ſind meine drei Kinder
ſehr lieb, geſund, jedes in ſeiner Weiſe anziehend. Eliſabeth zierlich, mädchen⸗
haft verſchloſſen, lerneifrig; Felix munter, manchmal flegelhaft, aber gut und
nobel; der kleine Georg, deſſen ſchauſpieleriſche Künſte Sie ſchon bewundert
haben, derb, poſſenhaft, immer lächelnd. In den Arbeiten bin ich leider fort⸗
während geftört worden. Im Winter habe ich das Muſeum der Gypsabgüſſe neu
eingerichtet; die kunſtgeſchichtlichen Vorleſungen an der Kunſtakademie mit
einem Auditorium von 186 Zuhörern nehmen mir auch viel Zeit weg; dazu
eine im Sommer unternommene große Reiſe nach England und Frankreich 284);
zuletzt Fremdenbeſuche, Diners und Soupers zum Tollwerden. So ſchreitet der
zweite Band meiner Literaturgeſchichte nur ſehr langſam vorwärts; doch hoffe
ich ihn zu Weihnachten künftigen Jahrs auf den Markt zu bringen. In dieſem
Augenblick bin ich mit Rouſſeau beſchäftigt, welcher außerordentlich ſchwer zu
packen iſt.
Einen ſehr großen Gefallen könnten Sie mir thun. In den Diderot'ſchen
Kreiſen lebte ein junger Züricher, Namens Meifter. 285) Er war beſonders mit
Grimm 286) befreundet und hat eine Lebensgeſchichte Grimms geſchrieben. Von
Grimm will ich eine „Rettung“ geben, da ihn Rouſſeau höchſt ungerecht und
ſchändlich verleumdet hat. Es iſt mir nicht möglich geweſen, dieſe Meiſterſche
262) Durch „Barfüßele“. — Hettner meint das „Schatzkäſtlein des Gevattersmanns“ von 1856.
Die erwähnten früheren Romane erſchienen 1839 — 1840, 1837, 1851.
283) „Der Zauberer von Rom“, 1858 — 1861.
284) Im Sommer 1857 in Begleitung des Arztes Profeſſor Eberh. Richter und des Malers
Profeſſor Gonne mit Frau. Über die Kunſtausſtellung in Mancheſter führte die Reiſe nach Liver ⸗
pool, Oxford, London und Paris (vgl. A. Stern, S. 174 f.).
86) Jak. H. Meiſter (1744 1826), in Frankreich 1766 - 1768 als Jünger von Diderot und
Grimm. 1769 wegen feiner Schrift „De l’origine des principes religieux’ verbannt, fleb er
nach Paris, dann England. Nach der Rückkehr befreundete er ſich mit Lavater.
286) Freih. Fr. Melch. v. Grimm (1723 1807), durch Rouſſeau in dem Diderot ⸗Kreis ein-
geführt, berühmt geworden durch ſeine „Correspondance littéraire, philosophique et criti-
a Paris 1812 — 1813, die eine glänzende Uberſicht der franzöſiſchen Literatur von 1753 — 1790
darſtellt.
Glaſer-Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 463
Lebensgeſchichte aufzutreiben! Iſt ſie in Zürich? Und ſind von Meiſter viel⸗
leicht noch andere Druck⸗ oder Handſchriften vorhanden? Die von ihm geleitete
Fortſetzung der Grimm'ſchen Correſpondenz befindet ſich auf der Bibliothek zu
Gotha und iſt von mir benützt worden. Im Fall Sie mir die Meiſterſche Bio⸗
graphie ſchicken können fo ſchicken Sie fie natürlich unfrantirt. 287)
Jul. Schmidts franzöſiſche Literaturgeſchichte 288) berührt mich nicht. Erſtens
behandelt ſie eine ganz andere Epoche, und zweitens ſtehen wir auf ſo durchaus
verſchiedener Auffaſſungsweiſe, daß ich mich ſelten entſchließen kann etwas von
ihm zu leſen. Bei dem Durchblättern habe ich geſehen, daß die Einleitung
größtentheils Plagiat aus Tocqueville's 289) L' ancien régime iſt. Freytag wird
in dieſen Tagen hier erwartet; er ſoll mit einem Trauerſpiel 290) ſchwanger
gehen.
Dresden iſt angenehm. Aber mir fehlt ein näherer Freund, wie ich ſolche in
Heidelberg und Jena hatte. Umgang zum Ueberfluß >; wirklich innige Ver⸗
hältniſſe gar keine. Und dazu fehlt mir Diejenige, die mir am nächſten ſtand!
Mir iſt oft ſehr öde zu Muthe, dumpf, gleichgültig, ohne Ziel und Plan.
Mir machen Sie eine große Freude, wenn Sie mir recht bald wieder über
Zürich berichten. Was treibt Viſcher? Seine Broſchüre über Fauft 73) iſt
ſchwerfällig in der Form und nicht ſonderlich eindringend, oft ſogar entſchieden
ſchief. Burkhardt 293) iſt ein tüchtiger Hiſtoriker. Auch ſagen Sie mir, wie ſich
Moleſchott in Zürich geſtellt hat. Ich habe ihn ſeit ſechs Jahren nicht mehr ge⸗
ſehen, ſo daß ich nicht mehr vollſtändig au fait bin.
Bei Viſcher bringen Sie mich in freundliche Erinnerung. Ich habe leider die
verſprochene Beſprechung feiner Aeſthetik ??“) noch immer nicht geliefert; aber
ich bin fürchterlich mit Arbeit überlaſtet. Ein Lump, wer mehr leiſtet als er
vermag. Und dieſe Aeſthetik würdig zu beſprechen, iſt allermindeſtens eine Sache
von ſechs Wochen.
Adieu, mein lieber alter Freund. Ich ſehe einer recht baldigen Antwort ent⸗
gegen. 295) Die herzlichſten Grüße an Moleſchott.
In alter Treue
Hettner.
287) Die Biographie iſt abgedruckt in den „Mélanges de philosophie, de morale et de
littérature“. Paris und Genf 1822, 2 Bände.
288) „Geſchichte der franzöſiſchen Literatur feit der Revolution“, Leipzig 1857.
2890) Ch. de Tocqueville (1805 — 1859), Publiziſt, 1849 — 1851 Miniſter des Auswärtigen. 1856
erſchien: „L'ancien régime et la révolution“ (deutſch 1857).
200) „Die Fabier“ (1859) könnten von Hettner gemeint fein.
291) 3. B. mit dem Bildhauer E. Rietſchel, den Malern Gonne und Grahl, dem Bildhauer
Bendemann (vgl. A. Stern, S. 178 ff.).
22) „Kritiſche Bemerkungen über den 1. Teil von Soethes Be N ben Prolog im
Himmel“ ( Monatsſchrift des wiſſenſchaftlichen Vereins in Zürich, 1857).
35 2 Burckhardt, damals Profeſſor am Polytechnikum, mit dem ae verkehrte (a. a. O.,
298) Erſchienen in 3 Bänden, Stuttgart 1847 — 1858, neue Ausgabe von Rob. Viſcher, 1922 f.
258) Nicht erhalten.
464 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
38. Dresden 28 Mai 1858.
Lieber Keller,
Ich weiß nicht, ob Ihnen Moleſchott beſtellt hat, daß ich mich wieder verlobt
habe. 296) Ich will mich über dieſen Schritt nicht vor Ihnen rechtfertigen. Ich
muß es der Zeit überlaſſen, die Sache als fait accompli hinzunehmen. Für
meine Kinder habe ich eine vortreffliche Mutter, für mich eine gute Frau ge⸗
wonnen. Sich ein neues Glück gründen heißt nicht das alte vergeſſen. Marie
wird nie aus meinem treuen Andenken ſchwinden.
Wahrſcheinlich komme ich in den erſten Tagen des Juli nach Zürich mit meiner
jungen Frau. Ich freue mich ſehr, Sie auf einige Tage ſehen zu können. Wir
haben ſo Vieles auszutauſchen, an Erlebniſſen, an Plänen, an Thatſachen. Ich
rechne darauf, daß wir einige gute Stunden mit gemeinſamen Freunden und
Bekannten zubringen. Sie und Moleſchott ſind die Haupturſache, daß ich meine
Schritte grade nach der Schweiz wende.
Sie ahnen ſchwerlich, was Sie täglich mehr Freunde und Verehrer gewinnen.
Faſt möchte ich Sie beneiden, daß Sie in der Schweiz ſind. Sie wirken ſtill
und gediegen für ſich fort; in Deutſchland unterwühlt ſich Alles im haltloſeſtem
Cliquenweſen. Ich habe mich von dem hieſigen Literatentreiben völlig losgeſagt.
Man muß entweder mit den Wölfen heulen und dann iſt man ein Schuft, oder
man muß ihnen fernbleiben und ihnen gelegentlich Feind ſein.
Für heut nicht mehr. Alles Nähere auf mündliche Beſprechung.
In alter Liebe und Freundſchaft
H. Hettner.
Palleske 297) hat ein gutes Leben Schillers geſchrieben.
Bachmayr 298) iſt verrückt. |
Dolfuß 299), der Redacteur der Revue Germanique, wird bei Ihnen geweſen
ſein; er lebt auf einem Landhaus bei Zürich. Er iſt ein liebenswürdiger Menſch.
Setzen Sie ihn ein wenig über deutſche Zuſtände au fait. Auerbach und ſein
Handlanger Wolfſohn 00) haben ihn ſehr für die jüdiſche Wirthſchaft bearbeitet.
39. Dresden 17 Decbr 59.
In einigen Tagen, lieber Keller, wirſt Du von Herrn Vieweg den zweiten
Theil meiner Literaturgeſchichte erhalten. Möge er Gnade vor Deinen Augen
finden, vor der Welt wird er es ohnehin wenig.
296) Mit Anna Grahl, Tochter des Dresdner Malers Grahl, der auch Alfr. Rethels Schwieger ·
vater war. Die Hochzeit fand am 23. 6. 1858 ſtatt (vgl. Stern, 179 f.).
257) „Schillers Leben und Werke“, 1858-1859, 2 Bände.
28) Vgl. Anm. 57 58. Der Unglückliche war mit einem Drama bei der Münchner Konkurrenz
1857 gegen Heyſes „Sabinerinnen“ unterlegen und ſchrieb Hettner am 1. 12. 57 verzweifelt darüber.
Über Heyſes Drama vgl. Kellers Brief vom 31. 1.60 an Hettner (Ermatinger II, 492).
209) Charles Dolfuß, der 1857 mit Nefftzer die Revue Germanique gründete, um zwiſchen
deutſchem und franzöſiſchem Geiſtesleben eine Vermittlung herzuſtellen.
990) Wilh. Wolfſohn, Dramatiker und Journaliſt, geb. 1820 in Odeſſa, geſt. 1865 in Dresden,
Vermittler für ruſſiſche Literatur durch die von ihm gegründete „Ruſſiſche Revue“.
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 465
Warum ſo lange Zeit kein Lebenszeichen von Dir? 301) Auch in der Literatur
mußt Du Dich dann und wann in Erinnerung bringen. Es iſt etwas Schönes
um die Langſamkeit und Stille des Schaffens; aber Deine Pauſen ſind jetzt zu
lang. Herzlich habe ich mich über Dein ſchönes Gedicht zum Schillerfeſt 302)
gefreut.
Zugleich komme ich mit einer Bitte. Ein hieſiger Freund, Mr Mailliard, ge⸗
borener Franzoſe, ſeit einigen Jahren Lehrer an der hieſigen Artillerieſchule,
hat ſeine Augen auf die vacante Profeſſur der franzöſiſchen Sprache und Lite⸗
ratur am Züricher Polytechnikum geworfen. Glaubſt Du, daß ſeine Bewerbung
Ausſicht auf Erfolg hätte? Und willſt Du, der Du ein Mann der Stadt und
wohlbeſtallter Republikpoet biſt, Deinen gewichtigen Einfluß dabei geltend
machen? Ich kann ihn aus vollſter Seele empfehlen. Er iſt ein Menſch von
ſeltener Bildung; kein Sprachlehrer, ſondern Literarhiſtoriker. Schreibe mir
darüber.
An Viſcher die beſten Grüße; auch er wird von Vieweg ein Exemplar erhalten.
Was treibt er denn jetzt und wie geht es mit ſeiner Geſundheit? Meine Frau
grüßt beſtens. Lebe wohl. Gutes Neujahr.
In alter Treue
Hettner. 303)
40. Lieber Freund,
Aus beifolgendem Programm 300) erſiehſt Du, um was es ſich handelt. Ich
beſorge interimiſtiſch die Redaktion der erſten Hefte. Ich rechne ſicher darauf,
daß Du mir etwas Kritiſches ſchickſt. Die Fixierung des Honorars ſteht ganz
in Deinem Ermeſſen; ein Beitrag von Dir geht über allen Etat.
Herzlichſt gratuliere ich Dir zu Deiner neuen Stellung. 05) Man ſagt mir,
daß Dich das Amt wenig Zeit koſtet; alſo ſcheint mir der Vortheil durchaus
überwiegend.
Ich ſchreibe heut in großer Eile. Ich denke, wir gehören zu der Klaſſe von
Freunden, die ſich als zueinandergehörig betrachten, wenn ſie auch äußerlich nicht
in ſtetem Verkehr ſind. Aber allerdings möchte ich Dich um eine Antwort wegen
des Beitrags bitten. Wie wäre es, wenn Du Dich einer Geſammtcharakteriſtik
Auerbachs 306) unterzögft.
In alter Freundſchaft
Hettner.
Dr. 12 Juli 62.
91) Die Freunde hatten ſich auf Hettners Hochzeitsreiſe zuletzt geſprochen, d. h. Ende Juni 1858
(vl. A. Stern, S. 181 f.).
22) „Prolog zur Schillerfeier in Bern 1859“ (Nußberger I, S. 147 ff.).
03) Keller hat Anfang 1860 in 2 Briefen geantwortet (1. Zürich, 31. 1. Ermatinger II,
491 ff., Nr. 174; 2. Zürich 22.3. = Ermatinger II, 500 f., Nr. 177), dann ſtockt der Brief
wechſel bis Nr. 40.
0), Vgl. Brief 42: Die „Kritiſchen Jahrb. der Wiſſenſchaft und Kunſt“ kamen nicht zuſtande.
305) Vgl. Anm. 24 zu Kellers Briefen an Frau A. Hettner.
) Wegen „der Ahnlichkeit der Produktion“ lehnte Keller am 29. 7. (Ermatinger III, 2, Nr. 195)
dieſe Bitte ab als „heikle Sache“.
Sushorion XXVII. 30
466 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
41. | Lieber Freund,
Dein lieber Brief 397) macht mich ſehr glücklich. Vieweg hat ſich auf die Sache
ſehr capricirt; und ich habe ihm die Hand für die erſten Hefte geboten, weil er
in der letzten Zeit ſich überaus anſtändig gegen mich benommen hat. Dein Be⸗
denken über die Stellung zur Buchhändlerſchaft 308) theile ich nicht. Es kommt
nur darauf an, daß der Redakteur ſich in ſeinem Contract ſeine abſolute Sou⸗
veränetät genügend zu wahren weiß.
Jene beiden Themata 309), welche Du mir vorſchlägſt, entzücken mich. Wähle,
was Du willſt; am liebſten Beide. Nur ſorge dafür, daß Du Dich ſicher zur
rechten Zeit mit dem Manuffript einſtellſt; Ende October wäre der letzte Termin.
Dem Plan der Zeitſchrift gemäß wäre es gut, wenn Du Deine Ausführung an
irgendeine Buchhändlerneuheit anknüpfen könnteſt; vielleicht an das Münchner
Dichterbuch 510) oder etwas Aehnliches. Doch iſt dies nicht unbedingt nöthia.
Alſo raſch ans Werk! Ich wäre Dir ſehr, ſehr dankbar. Auch Notizen.)
Von Viſcher habe ich noch keine Antwort. Erinnere ihn und ermuntere ihn zu
thatſächlicher Förderung. Er ſelbſt empfindet ſicher am meiſten, daß der Ge⸗
winn eines uns angehörigen Organs ſehr wünſchenswerth iſt.
Ich bin mit Moleſchotts 312) Ueberſiedelung nach Turin durchaus nicht ein⸗
verſtanden.
Dr. 31. (7). 62. In alter Treue
Hettner.
42. Dresden 14 März 63.
Lieber Freund,
Herzlichſten Dank für Deinen lieben Brief. 513) Ich habe es längſt gefühlt,
daß es meine Schuldigkeit geweſen wäre, Dir über das projektirte Journal
nähere Nachricht zu geben. Die Schuld, warum ich dies bisher nicht gethan habe,
liegt nicht an mir, ſondern an Vieweg, deſſen Schreibfaulheit Du kennſt.
Das ganze Unternehmen iſt von Vieweg ausgegangen; er will es im Ge⸗
ſammtverlag der Leipziger Buchhändlerbörfe, d. h. des deutſchen Buchhändler⸗
vereins, erſcheinen laſſen. Weil der Vorſtand ſich bisher ſtörrig zeigte und ſeinen
Endentſchluß bis zur nächſten Oſtermeſſe ausgeſetzt hat, wollte Vieweg einſt⸗
weilen auf eigene Hand den Anfang machen, und hatte mich für dieſe erſte In⸗
angriffnahme aufgefordert. Obgleich ich mich nicht zum Journaliſten berufen
997) 4. a. O., 29. 7. 1862.
2°) a. a. O., S. 2, Keller traute der „geſamten Buchhänd lerſchaft“ als Herausgeberin nicht den
„unparteiiſchen und uneigennützigen Ton“ zu.
00) a. a. O., S. 2 f., „Über den gegenwärtigen Zuſtand und die Zukunft der dentſchen Lvrik“
und eine „Geſamtcharakteriſtik der deutſchen Romanſchriftſtellerinnen“.
20) Von Geibel, 1862.
311) Kleine Rezenſtionen und Notizen ſchlug Keller ſelbſt vor (a. a. O. S. 3).
1) Moleſchott ging 1861 an die Univerfität Turin.
313) Keller hatte Ende 1862 (Ermatinger III, S. 3, Nr. 196) ſich für den Aufſatz über die Lyrik
entſchieden (der Brief hatte feine Adreſſe nicht erreicht) und fragte am 10. 3. 63 (Ermatinger III,
S. 3 f., Nr. 197) nach dem Stande des Unternehmens.
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 467
fühle und obgleich ich die Bedenken Viſchers 31 theile, daß für unſere mit Recht
vorzugsweiſe politiſch beſchäftigte Gegenwart ein ausſchließlich auf Literatur⸗
und Kunſtanliegen beſchränktes Journal nicht leicht Boden gewinnen wird, ging
ich doch auf Viewegs Wunſch auf dieſes Interimiſticum ein, weil ich ihm damit
einen großen Gefallen bezeigte und weil er in letzter Zeit ganz unerwartet an⸗
ſtändig ſich gegen mich und mein Buch 315) benommen hatte. Ich ſchrieb an
einige paſſende Perſönlichkeiten, wie ich an Dich und Viſcher geſchrieben habe.
Es kamen faſt lauter unbeſtimmte, oft ſogar abſchlägliche Antworten. Dies ver⸗
anlaßte mich Vieweg von dieſem Interimiſticum abzurathen. Nun ſteht alſo die
Sache noch in der Schwebe. Nimmt dieſe Oſtern der Buchhändlerverein den
Vorſchlag Viewegs an, ſo kommt das Unternehmen zu Stande; lehnt er es ab,
ſo fällt es ins Waſſer. Ob Vieweg in letzterem Fall trotzdem einen Verſuch
machen will, iſt auf meine wiederholte Anfrage von ihm unbeantwortet ge⸗
blieben; jedenfalls würde ich ihm ein ſolches Gelüſt entſchieden widerrathen.
Aus dieſem Grund habe ich Dir bisher nicht geſchrieben. Ich wollte Dich nicht
zu einer Arbeit anſtacheln, die ich wahrſcheinlich nicht verwerthen kann; und ich
wollte Dich doch an der Ausführung Deines loͤblichen Vorſatzes, mir nöthigen⸗
falls durch Deine gütige Hilfeleiſtung beizuſpringen, nicht verhindern, weil
möglicherweiſe doch die Nothwendigkeit ſofortiger Hilfeleiſtung eintreten könnte.
Meine Meinung iſt: Haſt Du die Arbeit vollendet, ſo halte ſie noch einige Zeit
zurück, bis weitere Antwort vor mir kommt. Haſt Du ſie noch nicht begonnen, ſo
thut keine Eile noth.
Recht lieb war mir von Dir zu erfahren, daß Du Dich auch wieder auf dem
Literaturforum einſtellen 316) willſt. Deine letzte Erzählung in Auerbachs Ka⸗
lender 517) habe ich mit ſehr großem Vergnügen geleſen. Es iſt wirklich nöthig,
daß Du Dein Schweigen brichſt. Die Miſere macht ſich wieder breiter als je.
Auerbachs einſt ſo erfreuliche und verdienſtvolle Thätigkeit halte ich für ab⸗
geſchloſſen. Berlin 518) ruinirt ihn vollends.
Der zweite 319) Band meiner Literaturgeſchichte ſchreitet nur ſehr langſam
vorwärts. Ich habe die Aufgabe, die alte geächtete Aufklärungsphiloſophie
wieder geſchichtlich zu Ehren zu bringen; und dies bringt mich in eine Reihe von
Detailſtudien, die nicht nur höchſt zeitraubend, ſondern zuweilen auch recht lang⸗
weilig find. Haft Du denn das erſte Buch gelefen? 520) Und biſt Du mit Ton
und Tendenz einverſtanden? Obgleich der Abſatz gut zu ſein ſcheint, ſo fürchte
ich, daß grade Geſinnungsgenoſſen ſich am wenigſten die Mühe nehmen, es zu
210) Keller hatte in beiden Briefen (a. a. O. S. 3 und 4) Viſchers Bedenken mitgeteilt.
2) Lit.⸗Geſchichte II, Franzöſiſche Literatur, die Keller Anfang 1860 erhalten hatte; 1862 war
dann die 1. Abteilung der Deutſchen Lit.⸗Geſchichte erſchienen.
31%) f. a. O. S. 4: Keller hofft, „einige Produkte endlich abſchließen zu können“, vor allem die
„Sieben Legenden“.
217) „Das Fähnlein der 7 Aufrechten“, in Auerbachs Volkskalender 1860.
2) Seit 1859.
se) en iſt die 2. Abteilung des III. Bandes (= Deutſche Lit.⸗Geſchichte des 18. Ihdts.),
erschienen |
so) III. 5 = Vom Weſtſäliſchen Frieden bis zur Thronbeſteigung Friedrichs des Großen, 1862.
468 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
beachten. Ich fange an, der weitſchichtigen Arbeit müde zu werden, und werde
mich erſt an Goethe und Schiller 321) wiedererhohlen.
Sonſt geht es mir gut; und ich glaube aus Deinem Brief zu entnehmen, daß
auch Du Dich wohl befindeſt. Machſt Du nicht bald einmal einen Abſtecher nach
Deutſchland?
Viſcher grüße aufs herzlichſte. Was arbeitet er denn jetzt? Laſſe recht bald
von Dir hören; ich hänge an Dir mit treuer Liebe. Auch meine Frau grüßt
beſtens. Beifolgendes Briefchen beförderſt Du wohl.
In treuer Freundſchaft
H. Hettner.
43. Dresden, 26. 2. 65.
Alter Freund,
Ich hätte Dir längſt Deinen lieben Brief 322) beantwortet, wenn ich nicht
grade jetzt mehr als je in der unerträglichſten Arbeitslaſt ſteckte. Sch bin ein Sklave
Viewegs und arbeite eben jetzt an der zweiten Auflage 323) der engliſchen und
franzöſiſchen Literaturgeſchichte. Lieber wäre es mir geweſen, wenn ich erſt hätte
das Ganze vollenden können. So wird ſich wohl aber der letzte Band noch um
einige Zeit verzögern.
Sehr erfreulich iſt mir die Ausſicht, welche Dein letzter Brief eröffnet, Dich
in dieſem Sommer hier zu ſehen. Ach, was war es erquicklich, als wir in Heidel⸗
berg ſo vieles miteinander durchdenken und durchſprechen konnten. Hier fehlt
mir ein ſolcher Ideenaustauſch gänzlich. Und ich fühle, daß dadurch meine
Schriftſtellerei zwar fleißiger, aber trockener wird.
Bin ich erſt mit dieſer fünfbändigen 32% Arbeit zu Ende, kehre ich zur Kunſt⸗
geſchichte zurück, auf welche mich Neigung und Amt weifen.
Was machſt und treibſt Du? Es iſt nicht recht, daß Du fo lange pauſirſt. 325)
Begeiſterung iſt keine Heringswaare, die man einpökeln kann auf viele
Jahre. 326)
Ich ſchicke dieſen Brief durch Morell 327), den ich in Dingen der Schweizer:
geſchichte um Auskunft gebeten habe.
Laſſe bald wieder etwas von Dir hören.
In alter Treue und Liebe
Beſten Gruß an Viſcher. Hettner.
* III. 3 = Das klaſſiſche Zeitalter der Deutſchen Literatur, in 2 Abt. (1. Sturm - und
Drangperiode; 2. Das Ideal der Humanität).
22) Verlorengegangen.
323) Erſchienen 1865.
224) Vgl. Anm. 320 — 321.
228) Seit den „Leuten von Seldwyla“ I, 1856 hatte Keller nichts veröffentlicht.
20) Leichte Abwandlung von Goethes Verſen in „Friſches Ei, gutes Ei“ (1815).
7) K. Morell (1822 — 1866), als „angehender Dramatiker“ mit Keller ſeit Heidelberg bekannt,
feit 1861 als Privatdozent der Kulturgeſchichte in Zürich. 2 Briefe an Hettner find erhalten.
Glaſer⸗Gerhard, Briefe Hettners an G. Keller 469
44. Dresden, Bergſtraße 17.
24. 12. 74.
Lieber Freund,
Eine freudigere Veranlaſſung, den lang unterbrochenen Briefwechſel 325)
wieder aufzunehmen, kann ſich wahrlich nicht bieten, als mir die ſüße Pflicht
iſt, Dir für die „Leute von Seldwyla“ 529) den herzlichſten Dank zu fagen.
Mit dem Dank verbinde ich den herzlichſten Glückwunſch. Du haſt Dir einen
ſchönen Ehrenſitz erobert.
Was mich an dieſen Novellen ſo tief erfreut, daß iſt der entzückend friſche Na⸗
turton. Man kann über einzelne Motive rechten 530), immer aber haben wir es
mit dem ächten Poeten von Gottes Gnaden zu thun. Was iſt das für ein wunder⸗
bares ſeltenes Zuſammen von reinſter Herzenszartheit, von erſchütternder Tra⸗
gik und ſchalkhafteſtem Humor! „Das verlorene Lachen“ gehört zum Gewal⸗
tigſten, was ich an Novellenpoeſie kenne.
Fahre fort, lieber Freund, die Welt mit Deinen herrlichen Gaben zu erfreuen.
Heut in der Zeit der nichtswürdigſten Buchmacherei darf der nicht ſchweigen, der
an Begabung und Einſicht ein Künſtler iſt, wie wir jetzt keinen Zweiten neben
Dir haben.
Auch für die prächtigen Legenden 331) nachträglich den beſten Dank. Schreibe
mir recht bald. Ich ſehne mich, ein altes Freundeswort von Dir zu hören.
Wir haben nur allzulange den Verkehr unterbrochen 55), und ich fürchte faſt,
daß Du als Abſicht deuteſt, was nur Nachläſſigkeit und Faulheit war.
Von mir weiß ich wenig zu berichten. Ich wandle in der Tretmühle eintöniger
Arbeiten und Geſchäfte. Oft iſt mir, als käme ich vor lauter Lernen und Lehren
nicht mehr zum eigenen Denken und Schaffen. Es beſchäftigt mich eine Bil⸗
dungsgeſchichte des italieniſchen Renaiſſancezeitalters. 333) Aber ich habe den
Muth nicht mehr zu ſo kühnem Wagen.
In den nächſten Wochen gehe ich an eine neue Auflage meiner beiden Goethe⸗
und Schillerbände. 5!) Ich habe noch gar kein Urtheil darüber von Dir
gehört. Es wäre ein lieber Freundesdienſt, wenn Du mir Einiges ſagen wollteſt.
Ich würde Deine Bemerkungen und Rügen und Verbeſſerungen dankbarſt ö
Thu mir die Liebe.
28) 1866 bot ſich für Hettner die Möglichkeit, als Nachfolger W. Lübkes an das Polytechnikum
zu kommen (vgl. Kellers Brief vom 27. 2. 1866 = Ermatinger III, 5 ff., Nr. 199). Hettners
Antworten ſind nicht mehr vorhanden, weil zu den Akten der Behörden genommen (vgl. Keller an
Frau Hettner, 22. 7. 82, Brief Nr. 3). Hettner ſchlug den Ruf aus (A. Stern, S. 231). Lübkes
Nachfolger wurde im April 1866 G. Kinkel.
820) Teil II, zuſammen mit den früheren gedruckt in 4 Bänden 1873 f. (vgl. Ermatinger I,
S. 485 ff.).
=. es war die Aufnahme geteilt, oft ablehnend (Viſcher, Kuh), vgl. Ermatinger I,
a Di „Sieben Legenden“, Oftern 1872.
332) Seit 1866.
333) Nur ein Anſatz wurde noch ausgearbeitet in den „Italieniſchen Studien“ 1879.
334) 2. Aufl. 1875, zuletzt hrsg. von O. Harnack in 4. Aufl. III. Band 1893 f., I-II in 5. Aufl.
1894 von Al. Brandl. i
470 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
Beifolgende Karte ſpedirſt Du wohl baldmöglichſt an Dr. Stiefel. 588) Sie
enthält die gleiche Bitte. Viel wird er nicht bieten können, aber vielleicht be⸗
richtigt er einige data.
Kömmſt Du denn gar nicht einmal zu uns nach Deutſchland? Wie vieles
möchte ich mit Dir durchplaudern in alter Traulichkeit.
Lebewohl alter Freund. Ein gutes neues Jahr, voll Glück und Thätigkeit.
In alter Treue
Hettner. 36)
11.
Unbekannte Briefe Richard Dehmels.
Mitgeteilt von Helmut Henrichs in Berlin.
Das Leben des Mannes, an den die folgenden bisher unbekannten Briefe Richard Dehmels
gerichtet find, hat eine eigentümliche Kurve beſchrieben. Von Haufe aus Uhrmacher gehörte
Friedrich Binde zu jenen Menſchen, die von ihrem inneren Dämon getrieben immer
wieder Schranke und Hemmung von Beruf und Milieu durchbrechen und ſich an das Licht
einer ſelbſterrungenen und ſelbſtverantworteten inneren Freiheit hinaufarbeiten, die ſich ſelbſt
aus äußerer Kleinheit und Begrenzung emporzüchten zu Adeligen des Geiftes. Binde ging
dieſen Weg zur geiſtigen Höhe als echtes Kind ſeiner Zeit. Faſt ein Knabe noch verſchlingt er
vierzig Bände vom „Wiſſen der Gegenwart“, jenen Buchreihen der achtziger Jahre, die Er⸗
löſung durch Wiſſen predigten, er ſteht im Bann der Büchnerſchen Philoſophie, wird Frei⸗
denker, Sozialiſtenführer, kehrt ſich enttäuſcht vom Sozialismus ab, weil er dort den Brot ⸗
hunger über den Geiſthunger ſiegen ſieht, wendet ſich dem Anarchismus zu und vertritt in
leidenſchaftlichen Reden und Aufſätzen deſſen Ziele, ſieht auch hier ſein Ideal vom freien
Menſchen nicht verwirklicht, ſucht nun die Erlöſung fern vom Politiſchen in der Kunſt, wird
Kritiker und Kunſtſchriftſteller, verſucht ſich als Dichter, bis er ſchließlich nach vielen Wande⸗
rungen und Wandlungen merkwürdig und doch folgerichtig — hatte er doch ſchon als Sozialiſt
ſtets die „Innenrevolution“ verkündigt — endigt als gläubiger Chriſt. Der Mann, der eben
begonnen hatte, in der Welt der Politik und Kunſt einen Namen zu erlangen, wird Volks⸗
miſſionar und predigt in Zelten, Konzertſälen und Kirchen den Tauſenden die Erlöſung durch
Chriſtus. Wie meteorhafte Erſcheinungen ſtehen die Geſtalten ſeiner Freunde und Genoſſen
bis zu ſeiner Chriſtwerdung im ſchnellen Ablauf dieſes Lebens, das ſich keine Form verſagt
und dem es doch in keiner Form behagt hatte: Guſtav Landauer, der bei der Münchner Revo⸗
lution erſchlagene Sozialiſten⸗ und Anarchiſtenfreund, Moritz v. Egidy, der Prediger all⸗
feitiger Liebe und Gewaltloſigkeit, der ſich Ende der neunziger Jahre als religiöfer Reformer
einen Namen machte, der Philoſoph Ludwig Woltmann und die Dichter Wilhelm Schäfer und
Richard Dehmel. Bindes Bekanntſchaft mit Dehmel fällt in das Jahr 1896. Binde,
der damals in Vohwinkel bei Elberfeld ein Uhrmachergeſchäft hatte, ſchickte Ende 1895 an
Dehmel auf deſſen Uberſendung des Dramas „Der Mitmenſch“ hin einige Proben feiner Ge⸗
dichte, auf die Dehmel mit herzlichen Worten antwortete. Ein Artikel Bindes über Dehmels
„Lebensblätter“ führte bald darauf die beiden Männer einander zu. Bei den Reiſen, die
Dehmel im Januar, Juli und Oktober 1896 nach Elberfeld machte, haben fie ſich dann per ·
235) Jul. Stiefel (1847 — 1908), Profeſſor für deutſche Literatur und Aſthetik am Polytechnikum,
einer der nächſten Freunde Kellers.
236) Keller antwortet zum letztenmal am 31.1.1875 (Ermatinger III, S. 119 ff., Brief
Nr. 272) und rundet mit dem Plan, die dramatiſchen „Konzeptionen des Dreißigers“ nun bald aut⸗
zuführen, den Briefwechſel zum Kreis.
Henrichs Briefe Dehmels 421
fönlih kennen und lieben gelernt. Es entſpann ſich zwiſchen ihnen eine berſlaliche u,
ſchaft und ein reger Briefwechſel, aus dem die erhaltenen Dehmelſchen Briefe hier vorgelegt
werden. Dehmel war dem um einige Jahre jüngeren Freunde Helfer und Rater in feinem
Leiden zu ſich ſelbſt hin. Der Dichter, der ſich in dieſen Jahren zu immer ſtärkerer
Selbſtbewußtheit durchrang, fühlte ſich erhoben und getragen von dem Enthuſiasmus,
der ſeine Elberfelder Freunde Schäfer und Binde für ihn beſeelte. Das gab ihm
das Gefühl des Führen⸗ und Leitenmüſſens, das überall aus ſeinen Briefen an Binde
herausklingt. Binde ſeinerſeits war völlig im Bann der Dehmelſchen Perſönlichkeit,
aus der er Maße und Geſetze ſeiner inneren Haltung entnahm. Kritiſch und philo⸗
ſophiſch zwar fühlte er ſich Dehmel ebenbürtig, künſtleriſch und menſchlich aber ſtand er in
einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem Dichter, das ſich gelegentlich bis zur inneren Selbſt⸗
aufgabe an ihn ſteigerte. Bindes Briefe an Dehmel (in denen ſich viele und reiche gedankliche
wie menſchliche Werte offenbaren) legen davon beredtes und ergreifendes Zeugnis ab. Es
war ein etwas ungleiches Verhältnis, das die beiden verband: Dehmel war im Künſtleriſchen
zu ſehr der ſelbſtbewußt gebende Meiſter und Binde zu ſehr der ſuchend empfangende Schüler,
als daß eine freudig reſtloſe Gleichheit zwiſchen ihnen hätte beſtehen können; der innige und
herzliche Ton der Dehmelſchen Briefe iſt ſicherlich zum großen Teil miterzeugt durch die
rührende, ſehnſüchtige Anhänglichkeit Bindes an ihn. Viel und vielen hat Dehmel in dieſer
Zeit geſchrieben, aber kaum einem andern hat er fo freundliche, aus vãterlich⸗brüderlicher Liebe
kommende Helferdienſte getan wie Friedrich Binde. Immer wieder hat er ihm, der ſich mit
ſeiner ganzen Sehnſucht als Dichter ſehen wollte, in herzlicher, mitleidender Freundſchaft und
Geduld ſeine Schranken und Irrwege als Dichter und ſeine wirkliche Begabung als Redner
und Schriftſteller gezeigt und vorgehalten. Eine ſolche Freundſchaft aber konnte nicht lange
Zeit ihre volle innere Intenſität bewahren. Binde war ein zu per ſönlicher Menſch, als daß er
ſich auf die Dauer hätte ſelbſt aufgeben können. Schon aus einem Brief an Dehmel vom
April 1897 klingt es heraus: „. .. Deine Perſon laſtete zu ſchwer auf mir. Ich fühlte mich
Dir gegenüber immer deutlicher als ein Objekt. Dieſes Gefühl erzeugte bei mir Unbehagen
und Unfreiheit und führte mich in wilde Kriſen, Kriſen, die eigentlich ſchon längft eingeleitet
waren. Es hatte noch niemand vor Dir von mir etwas anderes gefordert, als ich ihm frei⸗
willig gegeben hatte, Du nun beabſichtigteſt im Verkehre mit mir ſtets eine gewiſſe Wirkung;
Du wollteſt ein Teil meines Wollens werden ... Und drum haft Du mich erdrückt mit der
Größe Deiner Maße, und biſt mir lange eine ſchwere Laſt geweſen. Du biſt wahr und rück⸗
ſichtslos und darum danke ich Dir .. Du haft alles in mir erſchreckt, haft alles ſchuldig ge⸗
macht, niedergeworfen und aufgereckt zugleich; ich habe jeden Tag an Dir gelitten. Mein
Genußleben, meine Willensohnmacht; verſtehe: Alles! Unter Deiner Wucht habe ich gegen
mich zu kämpfen verſucht, und ich glaube, ich habe Dein ganzes Leben in mir getragen. Darum
konnte ich Dich fo ſchmerzvoll felig verſtehen und erfühlen ... Jetzt habe ich mich fo ziemlich
wiedergefunden und tappe leidlich im Gleichgewicht ..“ Binde hat die ſchmerzliche Ent⸗
täuſchung über ſeine mangelnde Anerkennung als Dichter (die ihm Dehmel doch nur aus
höherer Erkenntnis, nicht aber aus Herrſchaftsſucht verſagte) nie ganz verſchmerzt; noch in
der Novelle feiner ſpäten chriſtlichen Zeit (er iſt 1921 geſtorben) „Lacrimae Christi“ tönt
ſie nach, wo er von Dehmel leider ein abſichtlich entſtelltes Bild entwirft. Das aber war
ſpäter, als die verſchiedene Entwicklung ihres Lebens die beiden Männer, die in ihrer Jugend
zu einer ihrem Weſen und ihrer Notwendigkeit nach kurzen Freundſchaft vereint geweſen
waren, ſchon weit auseinander geführt hatte. Während ihrer Freundſchaftszeit ſelbſt offen⸗
bart ſich in ihr eine reiche menſchliche Fülle. Die folgenden Briefe Dehmels werden gelten
dürfen als eine beſondere Enthüllung feiner großen, leuchtenden Mitmenſchlichkeit. Die
Handſchriften ſind im Beſitz des Dehmel⸗Archivs.]
1. Pankow, 9. 11. 95.
Verehrter Herr!
Ich ließ Ihren liebreichen Brief ſo lange unbeantwortet, weil ich Ihnen Ihre
Gedichte möglichſt haarklein zerpflücken will; dazu fand ich früher keine Zeit.
472 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
FF — — . | —ñ—
Sie brauchen alſo nicht die mindeſte Furcht zu haben, daß ich Sie unter meine
ſogenannten Flügel nehmen werde; dazu bin ich nicht anmaßend genug. Das
Zerpflücken braucht Ihnen aber auch nicht weh zu tun; denn wenn mir nicht ein
eigner Flügelſchlag aus Ihren Verſen entgegenſchlüge, würde ich es vorziehen,
Sie wie manchen Anderen mit einigen liebenswürdigen Redensarten abzu⸗
ſpeiſen. Beſonders das Gedicht „Nun geh“ !) hat mir den Eindruck gemacht,
daß Ihrer dichteriſchen Neigung vielleicht ein künſtleriſcher Beruf zu Grunde
liegt. Falls Sie den Trieb verſpüren ſollten, dieſen in ſich, oder beſſer aus ſich,
zu entwickeln, wollte ich nicht unterlaſſen, Ihnen ein paar Fingerzeige für die
alsdann ganz unumgängliche Selbſtkritik zu geben. Ein von Natur äſthetiſches
Individuum find Sie auf alle Fälle; eine formſchöpferiſche Anlage haben Sie
gleichfalls, und haben den Sinn für das Höchſte. Ob aber auch die Kraft in
Ihnen ſteckt, ſich zur ſelbſteigenen Vollkommenheit durchzuringen, das läßt ſich
vorläufig noch nicht entſcheiden, da müſſen Sie ſich ſelbſt befragen; ſolchen
Naturen, wie Sie ſind, ſagt die innere Stimme ſtets die Wahrheit.
Daß ich auf Ihre Meinung über mich ) mit einer ſeltenen Neugier warte,
wird Ihnen hiernach ſelbſtverſtändlich ſein.
Mit Herz und Hand
R. Dehmel.
2. Pankow, 16. 1. 96.
f Lieber Binde!
Hurra, alter Kategorikus, heiraſſaſſa: die Frauen ſind doch die vernünftigſten
Geſchöpfe auf der Welt, denn Montag komme ich nach Elberfeld!! — )
Wahrſcheinlich wenigſtens. Das Nähere laß Dir von der Schäferin ſagen!
Aber ohnedaß ihr Wilhelm % etwas davon merkte! Sie will mir nämlich Geld
ſchicken, daß ich ihn zu ſeinem Geburtstag überraſchen kann. Mach Dich
alſo ſchleunigſt zu ihr auf und karte Alles mit ihr ab!
Herrgott, vor lauter Freude hab' ich Dich nun doch ſchon Du genannt. Das
wollt' ich mir für Uns zwei Beide eigentlich bis Montag Abend verkneifen.
Na, umſo raſcher können wir uns in die Haare krigen; meine Mähne iſt ziem⸗
1) Wahrſcheinlich nicht erhalten.
2) Dieſe Äußerung bezieht ſich auf den erwähnten Artikel Bindes über Dehmels „Lebensblätter“,
den Binde angekündigt hatte und von dem Dehmel bald danach den erſten Teil las. Daraufhin
ſchrieb der Dichter am 14. 12. 95 an Wilhelm Schäfer: „Hier alſo Binde's Aufſatz zurück.
Und ſagen Sie ihm ruhig, daß ich ihn geleſen habe. Der Mann iſt ja geborener Aeſthetiker;
eine ſo intenſive Wahrnehmungskraft für das Weſentliche einer künſtleriſchen Arbeit findet man
fonft nur bei ernſten Künſtlern ſelbſt.. ..“ Aus Bindes Artikel ſeien einige Sätze hier angeführt:
„Dehmel will das Wort, den Laut, auf den urſprünglich ſinnlich⸗anſchaulichen Weg zurückfübren.
Übereinftimmung des Lautbildes mit dem Sehbilde, des Tongeflechtes mit dem Sinngeflechte, der
Empfindung mit dem Gedanken, der ſinnlichen Vorſtellung mit dem geiſtigen Inhalt — das if
für Dehmel oberſtes künſtleriſches Geſetz. Da wird die lyriſche Stimmung ein begriffsfreies Ein ·
heitsbewußtſein von Menſch und Welt, eine wahrhaft äſthetiſche Empfindung, eine vom Begehren
reine Anſchauung aller Dinge
2) Dehmels Reiſe nach Elberfeld im Januar 1896.
) Der Dichter Wilhelm Schäfer, der damals in Elberfeld lebte und mit Binde befreundet war.
Henrichs, Briefe Dehmels 473
lich ebenſo üppig wie Deine, Und wenn mir Lacrimae Christi 5) winken, dann
pfeife ich auf jedes Kantiſche Tüftelmüftel! —
Alſo wenn die Schäferin mir goldne Wolle ſchickt, dann komme ich am
20. d. M. (Montag) 7? 46 früh in Elberfeld an. Wir werden uns wohl leicht
erkennen; im Übrigen trage ich einen dunkelblauen Wettermantel mit braunem
Pelzkragen und dito Mütze. Ich warte im Warteſaal, bis Du kommſt; der Zug
von Vohwinkel läuft, wie ich eben im Kursbuch ſah, einbißchen ſpäter ein als
meiner. Daß Du nicht etwa unnütz früher kommſt! ich warte gern ein halbes
Stündchen und bekucke mir die Elberfelder Menſchen.
Dein verdrehter Mitmenſch Dehmel.
3. Pankow, 8. 2. 96.9
Lieber Herzenskerl!
Verzeih, daß ich erſt heute ſchreibe. Ich fand aber nach meiner Heimkunft “)
ſoviel Korreſpondenzpflichten vor, daß ich nicht eher dazu kam, Deine Novelle“)
gründlich zu leſen. Nun willſt Du mein äſthetiſches Urteil darüber, trotz meiner
ethiſchen Antipathie gegen ſolche ſchwindſüchtigen Stimmungshelden. Das iſt
immer eine heikle Sache; die Form iſt halt vom Weſen nicht zu trennen, und ein
ſogenanntes „rein techniſches“ Urteil läßt ſich a priori zwar ſehr leicht ver⸗
langen, aber ſchwer a posteriori geben. Die Aeſthetiker ſind mit ſolchen ſpeku⸗
lativen Trennungen immer ſchnell zur Hand; der praktiſche Künſtler weiß, wie
innig Stoff und Stil einander bedingen. Wenn ich Dir z. B. einwende, daß
Deine Darſtellung zuweilen ins Redſelige zerfließt und deshalb keinen mich
von Grund aus packenden Fluß hat, fo wirft Du mir ſofort erwidern: dasſoll
ja eben ſo ſein, das bringt der Stoff ſo mit ſich. Trotzdem habe ich das Gefühl,
daß ſolche Seelenkrämpfe von d'Annunzio, Johannes Schlaf und ſelbſt von
Przybyszewsky 9) ſchon ſpannender verwertet worden find, Ich glaube, daß der
Stoff ſchon z u fehr hinter Dir lag. Grade ſolche Themata müſſen mit Liebe zur
Sache behandelt werden, wenn überhaupt ein Mitgefühl im Leſer aufkommen
ſoll. Man kann ſich weder für dies Mädchen noch für dieſen Mann erwärmen;
der Dichter iſt in ihnen nicht lebendig aufgegangen, ſteht beiden faſt mit Wider⸗
5) Ein bei den Künſtlerzuſammenkünften im Haufe Binde gern und häufig genoſſener Wein.
Binde hat eine Novelle ſeiner ſpäteren chriſtlichen Zeit danach benannt. („Lacrimae Christi“ aus
dem Novellenband „Die Letzten“, Verlag G. Koezle, Wernigerode.)
6) Dieſer Brief iſt von Dehmel datiert mit dem 8. 1. 96. Der Dichter hat fi hier jedoch im
Datum geirrt; denn der Brief liegt offenſichtlich nach der Elberfelder Reiſe, die im vorhergehenden
Brief am 16. 1. 96 angekündigt wird. Außerdem wurde die Novelle, von der in dem Brief die
Rede iſt, erſt am J. 2. 96 von Binde abgeſchickt. Dehmels Brief iſt alſo wohl am 8. 2. 96
geſchrieben.
7) Von Elberfeld.
8) Um welche Novelle Bindes es ſich handelt, iſt nicht entſcheidbar. Binde ſchreibt am 3. 2. 96
an Dehmel: „Hier Haft Du beſagte Novelle. Übe herzloſe Kritik. Der Stoff der Novelle ent-
ſpringt einem Erlebnis, das ſich vor ca. 1½ Jahren zutrug. Heute ſtehe ich ganz darüber, aber ich
wollte jenen Zuſtand nun einmal zu einer Prüfung meiner künſtleriſchen Befähigung benutzen
9) Stanislaw Przybyszewsky (geb. 1868 in Lojewo in Pofen) iſt heute dem allgemeinen Gedächt⸗
nis faſt ganz entſchwunden. Bei den Berliner Naturaliſten um 1895 ſtand er in kurzer, rauſch⸗
artiger Berühmtheit als der „deutſche Sataniker“, der Naturaliſt der „nackten Seele“. Seine
„Totenmeſſe“ iſt Dehmel gewidmet. Vgl. Euphorion XX VII (1926), S. 545.
474 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
willen gegenüber, und die liebevolle Behandlung der zufälligen Landſchaft ent⸗
ſchädigt für den Mangel einer weſentlichen, menſchlichen Ergriffenheit durchaus
nicht, läßt vielmehr den Zwieſpalt zwiſchen Menſch und Welt, deſſen Über⸗
brückung doch das A und O jedweder künſtleriſchen Wirkung iſt, noch peinlicher
hervortreten. Nicht daß Du dieſen armen Schächer für lebensunwert anſiehſt, iſt
das Schlimme, ſondern daß auch nicht der Wert des Todes aus ihm ſpricht. Du
biſt nicht in ihm wie der Heiland am Kreuz: „Heute noch wirft Du mit mir
im Paradieſe ſein!“
Du ſiehſt als Künſtler viel zu ſehr noch auf das Was ſtatt auf das Wie.
Nicht daß ein Menſch zu Grunde gehen muß, ftößt ab oder zieht an; fterben
müſſen wir ja Alle, das iſt ſelbſtverſtändlich und für Unbeteiligte daher gleich⸗
giltig. Erſt dadurch, wie der Künſtler Einen ſterben läßt, macht er uns zu
Beteiligten. Sieh mal: auch mein Ernſt 10) z. B. iſt des Lebens nicht wert. Aber
wie ich ihn mit innerſter Anteilnahme ſeiner Selbſtaufopferung entgegen⸗
führe, Das hat ihn ſo für andere lebendig gemacht, daß man mir ſogar die
Lebensphiloſophie dieſer Bühnengeſtalt auf meine eigne Rechnung ſetzen zu
dürfen glaubt, ohne zu bedenken, daß der Ernſt doch nur ein Rad im Uhrwerk
meines Dramas iſt. Und grade dieſe innere, vom Dichter miterlebte Entgegen⸗
führung bis ans Ende, die vermißt man in Deiner Novelle. Ich würde mir
nicht ſoviel Mühe geben, Dir das auseinanderzuſetzen, wenn die Art, wie Du
den Mann das landſchaftliche Bild des Sterbens miterleben läßt, mir nicht
ſagte, daß Du ſehr wohl fähig wäreſt, auch ſeeliſches Geſchehen organiſch zu
entwickeln. Nimm Dir mal zur Probe einen Stoff zur Hand, deſſen Handlung
reich genug iſt, daß Du nicht Gefahr Täufft, allzuſehr der bloßen Beſchreibung
ſtimmungsvoller Zuſtände anheimzufallen. Und hüte Dich vor ſolchen impo⸗
tenten Schwelgereien wie auf Seite 6; ein Augenblick wie der dort ausgemalte,
geht im Leben zehnmal ſchneller vor ſich und wirkt ſelbſt dann ſchon widerlich
genug. Kunſt iſt doch Konzentration des Lebens; einzig dieſe macht den indi⸗
viduellen Stil. Anlage dazu haft Du; haft auch Selbſtkritik, und Übung macht
den Meiſter. Alſo feſt drauf los! —
Auch die beiden Nummern des „Sozialiſt“ 11) anbei zurück. Es iſt ein wirk⸗
lich gutes Blatt und Deiner Mitarbeit würdig. Den Dr. E. H. Schmitt 12) als
Rezenſenten kannſt Du Dir gern gefallen laſſen; beſonders hat mir ſein Be⸗
ſtreben, philoſophiſche Fremdwörter zu vermeiden, äußerſt zugeſagt.
Woltmanns 13) Beſuch wird mir natürlich hochwillkommen fein, zumal mir
mein bisheriger Hausphiloſoph, ein Mediziner wider Willen, vor kurzem nach
10) Ernſt Wächter aus dem Drama „Der Mitmenſch“.
1) „Der Sozialiſt, Organ für Anarchismus — Sozialismus.“ Binde, der ſich ſeit 1895 der
anarchiſtiſchen Bewegung angeſchloſſen hatte, ſchrieb damals zahlreiche Aufſätze für dieſe Zeitſchrift.
) Dr. Eugen Heinrich Schmitt (geb. 1851), ein Anarchiſtenführer, der wegen feiner anarchi⸗
ſtiſchen Propaganda in Deutſchland unmöglich geworden war und von Budapeſt aus die Sache des
Anarchismus vertrat. Er rezenſierte Bindes Aufſatz „Die Ethik des Anarchismus“, von dem er
fagte, es ſei „ein Artikel, der als Wahrzeichen einer neuen Wendung und Entwicklung des Anarchis⸗
mus daſtehe“. Schmitt gab ſeit 1897 die Zeitſchrift „Ohne Staat“ heraus, an der Binde Mit-
arbeiter wurde.
19) Der Philoſoph Ludwig Woltmann, der damals in Solingen lebte und ein Freund Bindes war.
— — 02 — — 7
Henrichs Briefe Dehmels 47⁵
eek 5 iſt, als Schiffsarzt. Seine Philof 5 hatte ihn nicht
davor bewahren können, als Liebhaber eines Freudenmädchens mit den be⸗
ſtehenden Strafgeſetzen in Konflikt zu kommen; doch hatte er noch Willenskraft
genug, ſich ſchleunigſt aus dem Staube zu machen. Er wird wohl jetzt mit Kant
die Liebe einen pathologiſchen Zuſtand nennen; vielleicht entdeckt ein Jünger
Schopenhauers noch, daß auch das Eſſen pathologiſch iſt, oder vielmehr der
Hunger. Jetzt muß ich aber ſchließen: meine Frau ruft zum Mittagbrot.
Hoffentlich alſo wird uns Woltmann bald ein lieber Gaſt ſein! Desgleichen
Du im Sommer! Die Gewerbe⸗Ausſtellung ſcheint ein wirklich impoſantes
Ding zu werden. Mein Bruder 1“) ſchenkt da „Deutſchen Meth“ aus, eigene
Erfindung, chemiſches Fabrikat; was würde Tacitus dazu ſagen?! —
Deiner Frau von Herzen gute Beſſerung wünſchend und Deine Kinder
küſſend, bin ich Dein
Richard.
N. B. I] Bei meinem Urteil über die Novelle legte ich natürlich meinen höch⸗
ſten Maßſtab an. An der zeitgenöſſiſchen deutſchen Produktion gemeſſen, ver⸗
dient ſie alles mögliche Lob. Jedenfalls kannſt Du ſie getroſt veröffentlichen.
Biete fie doch mal der „Freien Bühne“ 15) oder der „Geſellſchaft“ 16) zum Ab⸗
druck an. Dein R.
4. Pankow, 17. 3. 96.
Lieber Goldkerl!
Ich hätte Dir ſowieſo geſchrieben, auch ohne Deinen Brief. Schäfer hat mir
Deinen Aufſatz 1 geſchickt, und ich küſſe Dein zappliges Schwärmerherz, trotz
aller Druckfehler und Streichungen. Natürlich haſt Du Perlen vor die Säue
geworfen, und nach dem Prinzip des kleinſten Kraftaufwandes würde Herr
Profeſſor Avenarius wohl eine arg verſchwenderiſche Jugendeſelei darin er⸗
blicken. Aber wie herrlich ſind doch ſolche Eſeleien, Du alter Querkopf, der
meinen Ernſt Wächter einen Narren zu nennen beliebte, Du lieber Mitmenſch
Du! Schließlich hat doch Alles ſeinen Zweck im großen Weltgetriebe, ſelbſt der
Baubau vom Generalanzeiger, und vielleicht fällt doch ein Samenkorn aus
Deiner Dreſchflegelpredigt (was war doch dieſer Jeſus für ein großer Dichter!
man kommt um ſeine Wahrheitsbilder garnicht herum) auf irgendeinen frucht⸗
baren Boden. Vor Allem nochmals: mir war 's a Fraid, ob mit ob ohne
Zweck.
Sei doch nicht immer ſo überbeſcheiden, Du Weltſeelenmenſch! Gegen die
Menſchheit im Menſchen, jawohl, da wollen wir beſcheiden ſein, aber doch nicht
14) Dehmels Bruder Otto, von Beruf Bierbrauer und Gaſtwirt.
15) Die „Freie Bühne“, das Organ der Berliner Naturaliſten, gegründet 1890 von Otto Brahm.
16) Die „Geſellſchaft“, das Blatt der Münchner Naturaliſten, gegründet 1885 von Michael
Seorg Conrad.
17) Ein Elberfelder Zeitungsſchreiber hatte einen abfälligen Artikel über Dehmel geſchrieben, auf
See 1 7 mit einem Gegenaufſatz antwortete, der verſtümmelt und druckfehlerentſtellt aus der
e kam.
476 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
gegen die paar Eigenſchaften des Einzelnen, mögen fie noch fo löblich fein. Wir
ſind doch Alle ohne Verdienſt um Würdigkeit! Als ob Dein Suchen nach der
ſchönen Wahrheit nicht ebenſo dienlich fürs Ganze wäre wie mein Finden der
wahren Schönheit! Klarheit ſchaffen helfen, mehr kann keiner; ob mehr durch
ſinnliche, mehr durch vernünftige Wahrnehmung, das iſt vor Gott ganz gleich⸗
bedeutend. Es iſt geſchmacklos von Dir, mich immer ſo anzuhimmeln in Deinen
Briefen. Das paßt garnicht zu Deinem Selbſtgefühl; auch Dein Stil gerät
dann immer in die Brüche, in eine backfiſchhafte Nietzſchelei. Du biſt doch ſozu⸗
ſagen Vater von zwei Kindern; die enthalten zehnmillionenmal mehr Unend⸗
lichkeit und Ewigkeit als das genialſte Kunſtwerk. Das war Nietzſche's Unzu⸗
länglichkeit, daß er „nie noch das Weib fand, von dem er Kinder haben mochte,“
dieſer übermenſchliche Homunculus! Sich ſelbſt im Gleichgewicht zu jedem
Andern fühlen, das iſt die wahre Welt⸗ und Gottes⸗Weisheit; das Übers wie
das Unterlegenheitsgefühl, das iſt das Allzumenſchliche. Wie kannſt Du mich
z. B. bitten, „nachſichtig“ gegen Woltmann zu ſein?! 18) Ich bin doch kein
Geheimer Hofrat. Ein ſichtig in die Menſchen zu ſein, iſt meine Seligkeit. Ich
lege Maßſtäbe nur an Leiſtungen, nicht an's Leben; das laſſe ich einfach auf mich
wirken, ſo Leib wie Seele, und erweitere dadurch mein eigenes Weſen. Iſt mir
jemand antipathiſch, ſo hilft doch alle Nachſicht nichts. Mit welchem Rechte
ſollte ich auch Nachſicht üben? es hat doch niemand die Pflicht, mir zu gefallen.
Woltmann iſt überdies ein ganz famoſer Kerl, mit welchem Gattungsnamen
ich alle die Leute belege, aus denen mir der alte Geſangbuchvers entgegenklingt:
Ich habe nun den Grund gefunden,
Der meinen Anker ewig hält. 18a)
Wer dieſen Philoſophen für „unecht“ anſieht, der iſt ſelber Talmi. Schäfer tut
das übrigens nicht, im Gegenteil; er hat allen Reſpekt vor ihm, nur daß er ſich
mit ſeiner Art der Weltbetrachtung nicht befreunden kann. Das fällt aber ſelbſt
mir ſchwer, trotzdem ich eine natürliche Anlage habe, mich in Jedermanns
Augenlinſen hineinzufühlen. Der Philoſoph ſtrebt eben vom entgegengeſetzten
Pole aus zum Mittelpunkt der Welt wie der Künſtler; drum finden ſie ſich wohl
am Ziel, aber ihr Weg kann nicht gemeinſam ſein. Und lieben können ſich nur
ſolche Menſchen, die auf die Dauer gemeinſam wandern können; es iſt bezeich⸗
nend, daß Kant die Achtung über die Liebe ſtellte. Der Philoſoph will eben
geachtet ſein, der Künſtler geliebt. Die deutſche Sprache iſt da wieder mal ſehr
tief; „achten“ ſtammt vom gothiſchen „Aha“, d. h. Verſtand, — „lieben“ von
der Sanskritwurzel „lubh“, d. h. Verlangen. Und mir iſt Woltmann's Leiden⸗
ſchaft, ſich den vernünftigen Zuſammenhang der Dinge zu beweiſen, beinah
liebenswert; es ſteckt was Kindliches in ſeinem Eifer, ein unwillkürliches Ver⸗
langen, das höher iſt als alle Vernunft, und Das wirkt immer rührend auf mich,
16) Binde ſchrieb am 16. 3. 90 an Dehmel: „... Sei nachſichtig gegen ihn [Woltmann!], wenn er ein
wenig zu ſehr aus der Tiefe philoſophiert; er meint es himmliſch ehrlich, er iſt ein koſtbares weiſes
Kind, ſo koſtbar, daß viele ihn für unecht halten, weil ihnen der Maßſtab zur Schätzung fehlt, leider
gehört zu dieſen Leuten auch Wilhelm Schäfer] und das thut mir ſehr weh..“
18a) Kirchenlied von Joh. Andr. Rothe, 1728.
Henrichs, Briefe Dehmels 477
das iſt das wahrhaft Echte im Menſchen. Notabene: echt ſtammt von Ehe, Ehe
vom gothiſchen aiws (lateiniſch aevum, griechiſch u), d. h. Ewigkeit.
Nun iſt es aber genug geſchwätzt. Fortſetzung im Sommer — well — bei
„Deutſchem Meth!“ Inzwiſchen ſei nicht traurig, daß der liebe Gott 400 M.
von Deinem Taſchengeld in eine andre Taſche bugſiert hat. 19) Solche Erfah⸗
rungen ſind freilich tragikomiſch. Im Grunde lacht man darüber, aber „unter
den beſtehenden Verhältniſſen“ kommt das Lachen ziemlich gepreßt heraus.
Trinken wir alſo ein paar Lacrimae Christi weniger! — ...
Leb wohl!
Dein Richard.
NB] Schick mir doch den Aufſatz „Einſiedler und Genoſſe“ zurück! Ich habe
kein Duplikat davon.
5. Pankow, 6. 6. 96.
Lieber Friedrich, Du biſt ein Schaf. Vielleicht iſt Dir das lieber, als daß Dich
jemand „blos als Menſchen“ liebt. Du geſelchter Aff Du! Was haſt Du denn
in meinem Brief 20) hineingedeutelt? und in was für Widerſprüche verſtrickſt
Du Dich! Wenn ich nicht Dein Menſchentum verehrte, den Ernſt und Eifer,
mit dem Du Deinen Adel ſelbſt gezüchtet haſt: würde ich mir denn die Mühe
machen, Dir mal die Leviten zu leſen? Oder denkſt Du, das macht mir ein
Vergnügen?
Du weißt und fühlſt doch mehr als Irgendeiner, daß auch mir das Künſtler⸗
tum nur ein Mittel zur Offenbarung reinſten Menſchentums iſt. Aber hier, wie
nirgendſonſtwo, ſind Mittel und Zweck dasſelbe. Form und Weſen läßt ſich
in der Kunſt nicht trennen, ſo wenig wie in irgend einem Gebilde der Natur.
Wer es als höchſte Aufgabe des Menſchen erkannt hat, rein ſein Weſen zum
Ausdruck zu bringen, und vergreift ſich dabei in der Form, der bringt es eben
unrein zum Ausdruck und vergreift ſich an ſich ſelbſt, d. h. an der Menſchheit, an
der Natur, an Gott.
Darum eben ſchrieb ich Dir, Du ſchieneſt mir berufen, Dein Weſen in der
Form des Schriftſtellers, des Redners von Dir zu geben, nicht in der des Dich—
ters, des Künſtlers.2!) Seinen Beruf zu erkennen, darauf kommt es für den
Menſchen an, der fein Glück und Schickſal, Geſchick und Mißgeſchick als Eins
mit dem der Menſchheit fühlt. Zu begreifen, wozu man innerſt geſchickt iſt, und
ſich darin ſchicken, Das iſt es; nur dadurch wird man ſo äußerſt geſchickt im
Ausdruck, daß man auf Andre innerſt wirkt, fie feiner eigenen Entwicklung teil-
haftig macht.
10) Bindes Uhrmachergeſelle war unter Mitnahme von Uhren im Werte von 400 Mark durch-
gegangen.
0) Ein Brief Dehmels, der nicht erhalten iſt.
71) Dieſes Urteil Dehmels über Binde iſt durchaus zutreffend. Dieſelbe Anſicht ſpricht auch
Bindes Biograph aus: E. Schultze Binde, Fritz Binde. Ein Bild feines Werdens und
Wirkens. Evangeliſche Buchhandlung P. Ott, Gotha 1926.
Du ſchreibſt, Dein Sonnenpfalm 22) follte „nur eine Predigt“ fein. Jawohl!
Das eben war mir fo langweilig und ſchien mir Deiner unwert. Wann wird
man endlich die Prediger zum Teufel jagen?! Dieſe verſchwommenen Dichter
und überſpannten Redner! Dieſe Baſtardkünſtler, die aus der Un klarheit des
Denkens und Unreinheit des Fühlens einen Beruf machen. Aus jeder Predigt
kann man als Philoſoph die eine Hälfte ſtreichen, als Künſtler die andre, und
das Ganze hat im beſten Falle nur für die geiſtig Armen Wert. Die Zeiten
aber ſind vorbei, in denen man glauben durfte, ihnen gehört das Himmelreich.
Aber wie kannſt Du Menſch, der jede ſeiner Außerungen ernſt nimmt — allzu
ernſt vielleicht, denn man ſoll ſich nicht wichtig machen —: wie kannſt Du Dich
damit entſchuldigen wollen, daß Du „ja gar noch nicht ernſtlich und ausſchließ⸗
lich Kunſtproduktion getrieben“ hätteſt, ſondern „nur nebenbei“, 23) in Folge
Deiner Überbürdung mit Alltagsgeſchäften! Das eben kennzeichnet ja den
Dilettanten, daß er meint, man könne das „fo nebenbei“ betreiben. Nein, mein
Lieber: man treibt nicht „Kunſtproduktion“, man wird dazu getrieben! Du
kannſt mir glauben, Verehrter, ich bin [ehr kompetent in Dingen der „mühfam
errungſten Zeit“. In meinen 8 Dienſtjahren als Verſicherungskuli 2% mit täg⸗
lich 10—12 Arbeitsſtunden, habe ich ungefähr beurteilen lernen, was für den
„Kunſtproduzenten“ die Überbürdung mit Alltagsgeſchäften bedeutet. Ich ſage
Dir, das war noch ſchlimmer als Uhrenflicken! Aber ich habe niemals die
Empfindung gehabt, daß ich nur nebenbei ein Dichter ſei.
Dilettiren mögen Leute, die keine ſchöpferiſchen Anlagen haben. Wem man
ſolche aber zutraut, dem rät man ab davon, damit er ſeine Kräfte nicht ver⸗
ſchleudere, ſondern zu Leiſtungen verwende, zu denen er wirklich be⸗
rufen ſcheint. Auch darüber, lieber Friedrich, darf ich mitreden, denn ich habe
auch mal dilettirt; als Maler nämlich, bis ich merkte, daß ich keiner ſei noch
werden könne.
Meinen albernen Ärger über das verkniffte und unvollſtändige Handexem⸗
plar 25) wirſt Du mir hoffentlich ſchon verziehen haben; durch meine Beamten⸗
jahre bin ich in ſolchen Dingen etwas zu pedantiſch geworden. Daß Du aber
glauben konnteſt, ich ſei in meinem Urteil über den „Sonnenpſalm“ von
„andrer Seite“ beeinflußt geweſen, iſt nicht ſchön von Dir und nur ein
Zeichen Deiner Empfindlichkeit als Dilettant. Von Herzen Dein
Richard.
P. S. Die Sache iſt durch dieſen Brief für mich erledigt. Wenn Du das
Dichten und Malen nicht laſſen kannſt, ſo kann es Dir gleichgiltig ſein, was ich
von Deinen Kunſterzeugniſſen halte. Es iſt ja moglich, daß ich im Irrtum bin.
22) Vermutlich nicht erhalten.
23) Dehmel ſchreibt am 14. 12. 97 an Wilhelm Schäfer: „... Sonſt aber täuſcht ſich Binde,
wenn er meint, Dichten ſei blos ſogenannte Arbeit. Ein Wort kann einem manchmal ſchlafloſe
Nächte bereiten!
20) Dieſe Bemerkung bezieht ſich auf die Zeit, da Dehmel Sekretär des Verbandes Deutſcher
Feuerverſicherungsgeſellſchaften war.
25) Es iſt unklar, worum es ſich handelt.
Henrichs, Briefe Dehmels 479
6. Elberfeld, 22. 7. 96. 26)
Alſo übermorgen (Freitag) Abend, punkt 8 Uhr. Du brauchſt mir nur den
Namen des Lokals (nebſt Straße) zu ſchreiben, dann treffen wir uns dort um 8.
Aber bitte nochmals: Niemand weiter als Woltmann und Hardt! 7)
Dein Richard.
Es ſcheint mir, daß auch Schäfer mitkommen wird.
2 3. Z. Elberfeld, bei Schäfer. 2%)
Lieber Binde!
Schäfer ließ mich eben Deinen Brief über den bevorſtehenden Liliencron⸗
Caſino⸗Abend leſen. Es war mir lehrreich zu erfahren, daß Du Menſchen, die
den Namen „Künſtler“ verdienen, für „käuflich“ halten kannſt; 29) meines Er⸗
achtens ſchließen dieſe beiden Begriffe einander aus. Freilich brauchen Künſtler
Geld zum Leben, und Taſchengeld zur Lebensfreude; vorläufig wenigſtens noch.
Und wenn ſie ſolches Geld und Taſchengeld nicht haben, oder nicht genug, ſo
müſſen ſie ſich's leider irgendwie „verdienen“. Und da die armen Arbeiter
ſelbſt nichts haben, ſo müſſen ſie es eben von den reichen Faullenzern nehmen.
Im Übrigen gönne ich jedem Menſchen feine Freude an der Kunſt, dem
Kröſus ſo gut wie dem Proletarier. Damit Du aber Gelegenheit haſt, Deinen
ſozialrevolutionären Idealismus praktiſch zu bethätigen, ſtelle ich Dir hiermit
meinen Kehlkopf wiederholt zur Verfügung. Du wirſt Dich vielleicht erinnern,
daß ich ſchon bei meinem erſten Aufenthalt in Elberfeld den Vorſchlag machte,
nach Art der Berliner Freien Volksbühnen hier einen Deklamationsabend für
die Arbeiter zu veranſtalten. Damals warſt Du der Meinung, die hieſige (Wup⸗
perthaler) Bevölkerung ſei „noch nicht reif genug dazu“, 0) und ich begnügte
mich mit der Vorleſung in Eurer literariſchen Geſellſchaft. Da Du inzwiſchen
andrer Meinung geworden zu ſein ſcheinſt, erkläre ich mich bereit, nächſten
Sonntag (1. Novbr.) oder Mittwoch in 8 Tagen (4. Novbr.) den hieſigen
Sozialdemokraten, und wer ſonſt in die Verſammlung kommen will, unent⸗
geltlich etwas vorzuleſen; es wird Dir ja, nachdem Du Dich zu meiner
Freude wieder auf Deine volksredneriſche Fähigkeit beſonnen haſt, ein Leichtes
ſein, die Leute bis dahin zuſammenzutrommeln. Der Saal darf allerdings
nicht mehr als höchſtens 600 Perſonen faſſen; ſonſt kommt Lyrik überhaupt
nicht zur Wirkung. Über das Programm können wir uns mündlich verſtändigen,
und ich bitte Dich, mir zu dieſem Zwecke ein Lokal in Elberfeld zu beſtimmen,
20) Im Juli 1896 weilte Dehmel in Bingen und danach erneut in Elberfeld, wo er Binde ſah.
Um welchen Zweck es ſich bei dieſer kurzen Mitteilung handelt, iſt nicht erſichtlich.
27) Ein Pianiſt aus Elberfeld, der Dehmels „Trinklied“ komponiert hat.
25) Dieſer Brief iſt undatiert. Dehmel war im Oktober 1896 abermals in Elberfeld. Da die
im Brief ſelbſt angegebenen Daten damit übereinſtimmen, ſo iſt anzunehmen, daß der Brief Ende
Oktober 1896 geſchrieben iſt.
20 Was Dehmel hier meint, iſt unklar.
20) Die Bevölkerung des Wuppertals galt lange Zeit wegen ihrer pietiſtiſchen Enge bis in die
Arbeiterkreiſe hinein als unempfänglich und unfreundlich gegenüber künſtleriſchen Dingen.
480 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
wo wir uns nächſten Freitag (30. Oktbr.) treffen können, zu einer Dir be⸗
liebigen Tagesſtunde. Bis Donnerstag bin ich mit der hieſigen und der Düſſel⸗
dorfer Vorleſung, die ich mir noch einüben muß, beſchäftigt. Ich bin unter
Umſtänden (wenn das proletariſche Kunſtpublikum groß genug iſt) auch bereit,
am 1. und 4. Novbr. (alſo 2 mal) zu rezitieren.
Dein R. D.
8. Pankow, 29. 11. 96.
Lieber Friedrich!
Anbei den Windelband 31) zurück. Soviel ich gegen den Gedankengang des
Buches einzuwenden habe, ſo tiefe Freude hat mir das Gefühl gemacht, aus
dem heraus es geſchrieben iſt; noch nie habe ich ein philoſophiſches Werk mit
ſolcher Spannung geleſen, und noch keines hat mich ſo in meinem Vorſatz be⸗
ſtärkt, nie wieder eins zur Hand zu nehmen — wenigſtens nicht der Philoſophie
wegen, ſondern höchſtens noch aus Gründen der Kulturpſychologie. Es iſt ſehr
erbaulich, durch wie viel Einſchränkungen, Säuberungen und Ergänzungen die
Kantiſche Lehre ſchon von ihren eigenen Anhängern entwertet wird; nach Jahr⸗
hunderten wird nichts mehr von ihr übrig ſein als die Entdeckung des Unter⸗
ſchiedes zwiſchen Urteil und Beurteilung. Dann wird man aber auch erkannt
haben, welch ein ungeheurer und gefährlicher Irrtum es war, das ideale Bedürf⸗
nis in das „Bewußtſein“ zu verlegen. Kant hat die Teufel durch Beelzebub
vertrieben, nicht durch Gott! Aus den einzelnen Bewußtſeinsgebieten hat er die
metaphyſiſchen „Vermögens“⸗Popanze ausgeräuchert, aber dafür dem Bewußt⸗
ſein ſelber, dieſer Hebamme aller Sinnestäuſchungen, eine gradezu päpftliche
Machtvollkommenheit eingetrichtert. Das Bewußtſein aber — wie ſchon das
Wort beſagt — iſt niemals etwas andres als ein Wiſſen über etwas, iſt nie⸗
mals ſelber ein Sein, niemals eine ewige Kraft, ſondern ſtets nur ein bewirk⸗
ter Zuſtand in einem endlichen Weſen; und wer dieſem Zuſtand die Fähigkeit
zuſchreiben will, aus ſich ſelber „Normen“ zu erzeugen, der iſt ein Myſtiker der
ſchlimmſten Art. Denn grade das, was in der wirklichen Welt nach Form wie
Inhalt allereigenſter Einzelzuſtand iſt, in eine ideale Welt als ſchöpferiſchen
Inbegriff der Allgemeingiltigkeit zu entrücken: ein ſolches X für U ſpricht jede
Willkür der Beurteilung, auch die böswilligſte, ſofern ſie nur für einen guten
Zweck zu kämpfen glaubt, von vornherein heilig. Es iſt mir ganz unzweifel⸗
haft, daß Kant nicht wenig ſchuld iſt an der teils bewußten, teils unbewußten
Jeſuiterei, die grade in Gelehrtenkreiſen heutzutage heimiſch iſt; denn eine ſolche
überſchätzung des Bewußtfeins ſtraft ſich ſchließlich an ſich ſelber. Niemand
wird leugnen wollen, daß alle menſchliche Entwicklung gleichbedeutend iſt mit
ſtetiger Erweiterung des Bewußtſeins; man kann gradezu ſagen, daß es das
Weſen der Menſchheit iſt, den Menſchen immer bewußter zu machen. Wer aber
dem Bewußtſein ſelber eine zweckſetzende Machtgewalt unterſchiebt, der er⸗
weitert es nicht, ſondern beſchränkt es auf ſich ſelbſt, d. h. auf ſeine inhaltloſe
31) Wahrſcheinlich Windelbands „Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil“, Freiburg 1884.
Henrichs, Briefe Dehmels 481
Form. Das Bewußtſein kann nichts als ſeinen Inhalt feſtſtellen, ordnen und
unterordnen, alſo Urteile des Verſtehens fällen, d. h. Zuſammenhänge erklären.
Aber Zuſammenhänge erzeugen, Beurteilungen des Geſchehens veranlaſſen, In⸗
halt hervorbringen, d. h. Zweckvorſtellungen ſchaffen: Das können nur die unter⸗
bewußten (oder meinethalben überbewußten) Seelenkräfte: Vernunft und Wille
und Gefühl — mit Einem Wort: die Triebe! Sie haben die Kraft, ins Be⸗
wußtfein zu treten, und kraft ihrer tritt das Bewußtſein mit dem An⸗
ſpruch der Allgemeingiltigkeit auf. Und einzig ihnen, den Trieben, darf der
erkennende Menſch mit myſtiſcher Ehrfurcht eine dreieinige Allmacht unterlegen
und ſein Gewiſſen als die Offenbarung dieſer Allmacht hinnehmen; denn nur
wenn dieſe drei im Einklang miteinander ihn bewegen, wird fein Be⸗
wußtſein frei vom Widerſpruch der Menſchheit gegen die Natur, wird er der
Gottheit teilhaftig. Alſo dann erſt, wenn wir endlich uns dahin beſcheiden, auch
die „Vernunft“, das ideale Bedürfnis par excellence (denn „Vernunft“ ſtammt
von „Vernehmen“, wie dase von ideöv, und iſt urverwandt mit vonos, d. h. Geſetz)
nicht mehr als menſchliche Errungenſchaft aus einem übermenſchlichen Bewußt⸗
ſein anzuſtimmen, ſondern umgekehrt als einen Urtrieb zu betrachten, der in
jedem endlichen Geſchöpfe wirkſam iſt und im Menſchen das Bewußtſein hat
entwickeln helfen: erſt dann können wir hoffen, unſer Z weck bewußtſein lang⸗
ſam von dem unheilvollen Schwarm der Selbſttäuſchungen zu reinigen. Und ich
kann mir nicht helfen: ein ſolcher Schwarm von Selbſttäuſchungen ſcheint mir
bis auf heute noch jedes philoſophiſche Syſtem geweſen zu ſein — und wird es
immer ſein, ſolange Menſchen ſich anmaßen wollen, aus dem Bewußtſein ihrer
Triebe allgemeingiltige Regeln der Beurteilung zu folgern, die nur die
Menſchheit als Ganzes oder eine künftige Übermenſchheit richtig folgern
könnte. Das eben iſt der große Fehlſchluß der Philoſophie, daß ſie ſich ein⸗
bildet, die Vernunft allein vermöge den Weltzweck zu offenbaren; nur in
den ſeltenen Augenblicken, wo ſich Vernunft, Gefühl und Wille im Gleich⸗
gewicht befinden, iſt unſer Bewußtſein einig mit der Welt — und alle Wahr⸗
heit, alle Gutheit, alle Schönheit erprobt ſich doch nur daran, ob ſie der einzelnen
Menſchenſeele ihre Einheit mit dem All erſchließt. Das alſo iſt der Zweck der
Welt: ſich als All⸗Einheit zu erweiſen, ihre „Harmonie“ zu offenbaren, jedes
Teilchen mit dem Trieb zum Ganzen zu erfüllen, jeden Trieb zur Selbſterhal⸗
tung zwecklos zu machen. Womit die Philoſophen ſich vergebens den Verſtand
zerquälen: hinter den „teleologiſchen Zuſammenhang“ der menſchlichen
Beurteilungsbedürfniſſe zu kommen: das liegt für Jeden, der nicht an der
Überſchätzung des Bewußtſeins leidet, klar auf der Hand als teleo pſychiſcher
Zu ſammenhang. „Zwecke“ find nichts als Triebe zur All⸗Einheit. Kein Zweck
iſt Selbſtzweck, ſondern immer Mittel zur Zweckloſigkeit. Jeder Zweck hat einen
Inhalt über ſich hinaus. Der Inhalt der Vernunftzwecke iſt der Wille, der In⸗
halt der Willenszwecke das Gefühl, der Inhalt der Gefühlszwecke die zweckloſe
„Ruhe in Gott“, d. i. die Einheit mit der Welt. Das Bewußtſein hat keinen
andern Zweck, als unfre Glückſeligkeit feſtzuſtellen, wenn das Gewiſſen in uns
ſchweigt, d. h. wenn unſre Triebe im Einklang miteinander, alſo unſre Seele
&uphorion XX VIII. 31
482 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
thätlich wie gedanklich im Einklang mit der Welt, unſer Gewiſſen zwecklos iſt.
Das iſt das Ideal der „reinen Anſchauung“, der äſthetiſche Menſch, wie ich ihn
in dem Vorwort zu den „Lebensblättern“ als Zweck der Menſchheit aufgeſtellt
habe: der Menſch mit dem zwecklos gewordenen Bewußtſein! der Menſch
ohne Ideale, weil er ſie nicht mehr nötig hat, ſondern ſie unwillkürlich
erfüllt. Und nun werdet ihr wohl endlich, Du und Woltmann, auch den Sinn⸗
ſpruch zu „Weib und Welt“ empfinden lernen; er iſt jenſeits des Ver⸗
ſtandes! er iſt — reine Vernunft!
Dein Richard.
Anbei auch noch ein kleiner Aufſatz 32) von mir. Kannſt ihn auch an Wolt⸗
mann ſchicken; desgleichen dieſen Brief. Den Aufſatz ſchickſt Du mir dann wohl
gelegentlich zurück. Und ſei mir niemals böſe! —
9. Pankow, 10. 5. 97.
Friederiziſſime!
Hiermit begrabe ich feierlichſt die Streitart gegen Kant. Wenn ſeine Ausleger
ihm ſoviel unterlegen können wie z. B. Du, dann wird er wohl für alle Ewig⸗
keit Recht behalten. 33) .. . Wegen der Dichtungen von Stefan George und
Hugo v. Hofmannsthal (Loris) mußt Du Dich an den „Verlag der Blätter für
die Kunſt“ wenden (Berlin, Behr'ſche Buchhandlung, Unter den Linden). Von
Verlaine empfehle ich Dir „Sagesse“ und „Choix“ (Paris, bei Leon
Vanier). 34) Mit Herz und Hand
Dein Richard.
10. Pankow, 20. 5. 97.
L. Fr. Ein ſpeziell etymologiſches Werk habe ich leider nie zur Hand be⸗
kommen. 55) Was ich darüber weiß, iſt mir teils aus gelegentlicher Lektüre ver⸗
wandter Schriften hängen geblieben, hauptſächlich aus Max Müller's „Eſſays“,
die Du wohl kennen wirft, teils aus Gymnaſial-⸗ Reminiszenzen; und zu Hilfe
kommt mir außerdem ein gewiſſes intuitives Gefühl für die Zuſammenhänge
der Wortwurzeln. Als kleines Nachſchlagebuch, das natürlich in keiner Weiſe
erſchöpfend, aber für praktiſche Zwecke recht brauchbar iſt, kann ich Dir Dr. F.
Tetzners „Deutſches Wörterbuch“ (bei Reclam) empfehlen. Herzensgrüße! auch
an Woltmann.
Dein Richard.
92) Welcher Aufſatz gemeint iſt, iſt nicht feſtſtellbar.
3) Binde hatte auf Dehmels Brief vom 29. 11. 96 hin am 30. 4. 97 einen langen Vertei⸗
digungsbrief für Kant geſchrieben. Auf die obige Bemerkung Dehmels antwortete Binde: „... Aber
ſchön iſt's nun doch, daß jetzt auch die Philoſophen, dieſe großen Denkkünſtler der Welt, platz in
Deinem ſonſt fo willigen Herzen gefunden haben. Es iſt alles eine Kollegenſchaft! .“
*) Binde hatte um dieſe Angaben gebeten.
95) Binde hatte am 17. 5. 97 geſchrieben: „. .. Gieb mir, ſofern Du kannſt, den Titel einiger
guter ethymologiſcher Werke an. Du haſt doch ſicher ſo etwas, denn Deine Briefe enthalten viele
gute Wortdeu tungen“
Henrichs, Briefe Dehmels 483
11. Pankow, 20. 11. 97.
Dank, lieber Friedrich, für Deinen zukunftsfreudigen Glückwunſch 86) und
für den augenblicksfrohen Trinkgruß vom Apfeltiſch! Die Andern leben ja
auch in uns. Was iſt der Andre, der in mir ſelber lebt, mich anſchaut, mit
mir redet, anders als „die“ Andern?! Daß Ich „Du“ zu mir ſagen kann, das
ſagt ja Alles: das All iſt das Eine. Ich bin ſehr neugierig auf Woltmanns
Buch 37) und werde zwiſchen den Zeilen nach Dir ſuchen — und nach mir.
In Liebe Dein R.
12. Pankow, 14. 4. 98.
Lieber Friedrich!
Ich gratulire Dir zu Deinem Berufswechſel; 38) ſchon der Stil Deines
Briefes, der handfeſter iſt als je früher, zeigt mir, daß Du auf glücklichem Wege
biſt. Zu welchem Ziele Du darauf gelangſt, darf Dich im Augenblick nicht
kümmern; Dein inneres Ziel ſteht Dir ja feſt, und in welcher Form Du das
aus Dir herausſtellſt, braucht eine ſo von Grund aus ſittliche Natur wie Deine
nicht bedenklich zu ſtimmen. ... — Über die Uthmann'ſche Muſik 9) habe ich
mich ganz wie Du gefreut. Bitte, beſtelle dem Komponiſten wie dem Geſang⸗
verein meinen allerherzlichſten Dank! Und grüß Woltmann!
Dein R.
13. Heidelberg, 28. 11. 00.
Nein, Lieber: bis jetzt hat die „Dramat. Gef.“ 0) noch nichts von ſich hören
laſſen. Wenn Du ſie anpuvven willſt, dann thu es aber nicht etwa in meinem
Namen! An der Vorleſung ſelbſt liegt mir garnichts; ſie würde mir nur ein
willkommenes Mittel ſein, ein paar gute Stunden mit Freunden zu verleben.
Mit allen Grüßen
Dein Dehmel.
6) Binde hatte zum 18. 11. einen Geburtstagsglückwunſch an Dehmel geſchickt. Dabei ſchrieb
er: „. . . Du haſt in mir geſiegt. Von Dir kam alles. Aber es hat lang gedauert, bis ich gegen
Dich angekämpft hatte
27) „Syſtem des moraliſchen Bewußtſeins mit beſonderer Darlegung des Verhältniſſes der
kritiſchen Philoſophie zu Darwinismus und Sozialismus“, Düffeldorf 1898. Binde ſchrieb am
17. 11. 97 an Dehmel: „. .. Woltmanns Buch iſt im Druck. Ich habe fleißig mitgeſchafft an dem
Werke. Nun habe ich das Buch ſelbſt überwunden
38) Binde war eine Redaktionsſtelle in Düſſeldorf bei einer Monatsſchrift für Düſſeldorfer Kunſt
angeboten worden. Davon hatte er Dehmel Mitteilung gemacht.
20) Uthmann, ein früherer Arbeiter und Schloſſergeſelle, hatte Dehmels „Gethſemane“ kompo⸗
niert und mit ſeinem Arbeitergeſangverein aufgeführt.
0) Die „Dramatiſche Geſellſchaft“, eine Vereinigung von Literaten und Dichtern, in der aus
eigenen Werken vorgeleſen wurde. Auch Dehmel war dort zu Gaſt. Binde ſchrieb am 27. 11. 00
an Dehmel nach Heidelberg: „Ich habe Deine Antwort dem mir bezeichneten Mitgliede der
„Dram. Geſ. mit dem Bemerken zugeſchickt, Du erwarteteſt baldige Antwort, habe aber ſeitdem
nichts mehr gehört. Wenn man Dir noch 5 gemeldet hat, werde ich dem Herrn auf die Bude
rücken und ihn mindeſtens an die Pflicht, Dir zu antworten, erinnern..“
484 Neue Quellen zur Geiſtesgeſchichte des 18. u. 19. Jahrh.
14. Blankeneſe, 13. 11. 01.
Ihre Eheschließung melden
R. Dehmel
J. Dehmel geb. Coblenz
22. Okt. 1901
Blankenese bei Hamburg, Parkstr. 40.
[Auf der Rückſeite des Blattes.]
Lieber Binde! Hoffentlich paßt das umſtehende Manifeſt in Dein Welt⸗
bild von mir. 11) Jedenfalls kannſt Du mir mehr als je dazu gratuliren. Über
Deinen anſteckend wirkenden Enthuſiasmus habe ich mich wieder von Herzen
gefreut. Sage Deinen Geſinnungsfreunden meinen ſchönſten Dank!
Wie immer Dein D.
Das iſt der letzte Brief Dehmels an Binde. Bald darauf hat Binde ſeine chriſtliche Be⸗
kehrung erlebt und alle früheren Beziehungen, auch die zu Dehmel, abgebrochen.
1) Darauf antwortete Binde am 19. 11. O1: „. .. ich gratuliere Dir von Herzen. Das Welt⸗
bild, das ich von Dir habe, iſt eben ſo groß als die Welt ſelber iſt. Alſo, was ſollte da nicht
paſſen? ..“
Einlauf.
(Abgeſchloſſen am 1. Juli 1927.)
1. Bücher.
(Beſprechung vorbehalten.)
Der Ackermann aus Böhmen. Ein Streitgeſpräch zwiſchen Menſch und Tod aus dem
Jahre 1400. In heutigem Deutſch, mit Einleitung und Anmerkungen, von Hans Böhm: Kunſt⸗
wart ⸗ Bücherei. 46. Bd. Kunſtwart⸗Verlag Georg D. W. Callwey, München 1927.
Adolph, Heinrich, Die Philoſophie des Grafen Keyſerling. (Mit einem Bildnis.) Verlag
von Strecker und Schröder, Stuttgart 1927.
Ball, Hugo, Hermann Heſſe. Sein Leben und fein Werk. S. Fiſcher, Verlag, Berlin [1927].
von Bamberg, Eduard, Drei Schauſpieler der Goethezeit: Karl Friedrich Leo, Karl Wolf⸗
gang Unzelmann, Marianne Schönberger⸗Marconi: Theatergeſchichtliche Forſchungen 36. Verlag
von Leopold Voß, Leipzig 1927.
Bebermeyer, Guſtav, Tübinger Dichterhumaniſten. Bebel, Friſchlin, Flayder. Der Eber⸗
hardina Karolina zu ihrem 450jährigen Jubelfeſt dargebracht. Mit einem Holzſchnitt, zwei Bild⸗
niſſen und einem Wappen. Verlag der H. Laupp'ſchen Buchhandlung, Tübingen 1927.
Behaghel, Otto, Von deutſcher Sprache. Aufſätze, Vorträge und Plaudereien. Druck und
Verlag von Moritz Schauenburg, Lahr in Baden 1927.
Berdiajew, Nikolaj, Der Sinn des Schaffens. Verſuch einer Rechtfertigung des Men⸗
ſchen. Deutſch von Reinhold v. Walter. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1927.
Bettinas Leben und Briefwechſel mit Goethe. Auf Grund des von Reinhold
Steig bearbeiteten handſchriftlichen Nachlaſſes neu hrsg. von Fritz Bergemann. [Mit ſiebzehn
Bildtafeln und zwei Fakſfimiles.] Im Inſel⸗Verlag zu Leipzig 1927.
Beyer, Harald, Norwegiſche Literatur: Jedermanns Bücherei. Natur aller Länder, Reli ⸗
gion und Kultur aller Völker, Wiſſen und Technik aller Zeiten. Abteilung: Literaturgeſchichte.
Hrsg. von Paul Merker. Ferdinand Hirt in Breslau 1927.
Blei, Franz, Glanz und Elend berühmter Frauen. Ernſt Rowohlt, Verlag, Berlin 1927.
Bo ß, Georg, Erziehertum im Sinne Goethes und Fichtes. Gedanken zur Kriſis der modernen
Bildung. C. H. Beck'ſche Verlagsbuchhandlung, München 1927.
[Brentano] Die Geſchwiſter Brentano. In Dokumenten ihres Lebens. Hrsg.
und mit einem Nachwort verſehen von Herbert Levin Derwein: Merkwürdige Geſchichten
und Menſchen. Hrsg. von H. Heſſe. S. Fiſcher, Verlag, Berlin 1927.
Brücken zum Ewigen. Die religiöſe Dichtung der Gegenwart. Hrsg. von Wilhelm
Knevels. Zweite Auflage. Hellmuth Wollermann, Verlagsbuchhandlung (W. Maus), Braun⸗
ſchweig 1927
Buſſe, Kurt, Hermann Sudermann. Sein Werk und fein Weſen. J. G. Cotta ſche Buch⸗
handlung, Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1927.
Carus, C. G., Goethe. Zu deſſen näherem Verſtändnis. Hrsg. und mit einem Nachwort ver⸗
ſehen von Kurt Karl Eberlein. Verlag Wolfgang Jeß in Dresden, o. J.
Dante. Die lyriſchen Gedichte. Neu übertragen und mit der Urſchrift verſehen von Richard
Zoozmann. Dritte Auflage vermehrt und verbeſſert. Verlag C. F. Müller, Karlsruhe i. B. 1927.
486 Einlauf
Deutſch⸗Oſterreichiſche Literaturgeſchichte. Ein Handbuch zur Geſchichte der
deutſchen Dichtung in Oſterreich⸗ Ungarn. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgenoſſen nach dem
Tode von Johann Willibald Nagl und Jacob Zeidler, hrsg. von Eduard Ca ſt le. Dritter
(Schluß ⸗) Band 1848 - 1918. 2. und 3. Abteilung, Verlagsbuchhandlung Carl Fromme, G. m.
b. H., Wien 1927.
Dünnhaupt, Rudolf, Sittlichkeit, Staat und Recht bei Kant. Autonomie und Heteronomie
in der Kantiſchen Ethik. C. Dünnhaupt Verlag, Deſſau 1926.
Ellinger, Georg, Angelus Sileſius. Ein Lebensbild. Verlag von Wilh. Gottl. Korn, Bres-
lau 1927.
Engels, Friedrich, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klaſſiſchen Philoſophie. Mit einem
Anhang: Quellenmaterial zum Marx⸗Engels'ſchen Materialismus, hrsg. und mit Vorwort und
Anmerkungen verſehen von H. Duncker: Marxiſtiſche Bibliothek, Werke des Marxismus⸗Leninismus
Bd. 3. Verlag für Literatur und Politik, Wien⸗Berlin, o. J.
Erismann, Guſtav, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters.
Erſter Teil: Die althochdeutſche Literatur. — Zweiter Teil: Die mittelhochdeutſche Literatur. Erſter
Abſchnitt: Die frühmittelhochdeutſche Zeit. — Zweiter Teil: Die mittelhochdeutſche Literatur. Zwei⸗
ter Abſchnitt: Blütezeit. (Erſte Hälfte): Handbuch des deutſchen Unterrichts an höheren Schulen.
Begründet von Adolf Matthias. VI. Bd. C. H. Beck ſche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck,
München 1918 1927.
Feiſt, Lore, Rahel Varnhagen. Zwiſchen Romantik und jungem Deutſchland. Hofbauer ſche
Buchhandlung G. m. b. H., Elberfeld 1927.
Forke, Alfred, Die Gedankenwelt des chineſiſchen Kulturkreiſes: Handbuch der Philoſophie.
Druck und Verlag von R. Oldenbourg, München und Berlin 1927.
Fricke, Gerhard, Der religiöſe Sinn der Klaſſik Schillers. Zum Verhältnis von Idealismus
und Chriſtentum: Forſchungen zur Geſchichte und Lehre des Proteſtantismus. Bd. II. Chr. Kaiſer,
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Friſche Fahrt. Eine Auswahl deutſcher Gedichte für die reifende Jugend von Wilhelm
Friedrich. Verlag Moritz Dieſterweg, Frankfurt a. M. 1926.
Griechiſche Staatstheorie n. Platon und Ariſtoteles. Zuſammengeſtellt von Fritz
Geyer: Der Dreiturmbücherei Nr. 26 (Herausgeber: Jakob Brummer und Ludwig Haſenelever).
Druck und Verlag von R. Oldenbourg, München und Berlin 1926.
Hadwich, Rudolf, Totenlieder und Grabreden aus Nordmähren und dem übrigen ſudeten⸗
deutſchen Gebiete: Beiträge zur ſudetendeutſchen Volkskunde, geleitet von Prof. Dr. Adolf Hauffen
und Prof. Dr. Guſtav Jungbauer. XVI. Band. Sudetendeutſcher Verlag Franz Kraus, Rei⸗
chenberg 1926.
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Tatſächliches: Wiſſenſchaft und Hypotheſe. Nr. XXX. Verlag und Druck von B. G. Teubner,
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Hegels Schriften zur Geſellſchaftsphiloſophie: Teil I. Philoſophie des
Geiſtes und Rechtsphiloſophie. Hrsg., mit Einführung und Anmerkungen verſehen von Alfred
Baeumler: Die Herdflamme. Sammlung der geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Grundwerke aller
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Sakmann, Paul, Ralph Waldo Emerſon's Geiſteswelt nach den Werken und Tagebüchern:
Frommanns Klaſſiker der Philoſophie. XXVII. Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz), Stuttgart 1927.
Schär, Oskar, Arno Holz. Seine dramatiſche Technik. Paul Haupt, Akademiſche Buchhand⸗
lung, Bern 1926.
Schmidt, Adalbert, Ein unbekannter Großer. Zum 20. Todestage Wilhelm Holzamers.
Wilhelm Braumüller, Univerſitäts⸗Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H., Wien u. Leipzig 1927.
Schuchard, G. C. L., Studien zur Verskunſt des Jungen Klopſtock: Tübinger Germaniſtiſche
Arbeiten. Hrsg. von Hermann Schneider. 2. Bd. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1927.
Schwarz, Hermann, Ernſt Moritz Arndt, ein Führer zum Deutſchtum: Schriften zur poli⸗
tiſchen Bildung. Hrsg. von der Geſellſchaft „Deutſcher Staat“. VIII. Reihe. Das Erbe des
deutſchen Geiſtes. Heft 6. Friedrich Mann's Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen vom
Gebiete der Pädagogik und ihrer Hilfswiſſenſchaften. Heft 1131. Hermann Beyer Söhne
(Beyer & Mann), Langenſalza 1927.
Sieber, Dorothea, Stifters Nachſommer: Jenaer Germaniſtiſche Forſchungen. Hrsg. von
A. Leitzmann. Nr. 10. Verlag der Frommannſchen Buchhandlung (Walter Biedermann), Jena 1927.
Spieß, Emil, Die Religionstheorie von Ernſt Troeltſch. Mit einem Bildnis von Ernſt
Troeltſch. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1927.
Bücher — Zeitſchriften 489
Spranger, Eduard, Der deutſche Klaſſizismus und das Bildungsleben der Gegenwart.
Feſtrede, gehalten am 5. Dezember 1926 bei der Eröffnung der Abteilung für Erziehungswiſſenſchaft
und Jugendkunde in der Erfurter Akademie gemeinnütziger Wiſſenſchaften: Akademie gemeinnütziger
Wiſſenſchaften zu Erfurt. Abteilung für Erziehungswiſſenſchaft und Jugendkunde. Nr. J. Verlag
Kurt Stenger, Erfurt 1927.
Stäplin, Karl, Aus den Papieren Jacob von Stählins. Ein biographiſcher Beitrag zur
„ des 18. Jahrhunderts. Im Oſt⸗Europa⸗Verlag, Königsberg i. Pr.
und Berlin 1926.
Steckner, Hans, Der epiſche Stil von Hermann und Dorothea: Sächſiſche Forſchungs⸗
inſtitute in Leipzig, Forſchungsinſtitut für Neuere Philologie. I. Altgermaniſche Abteilung unter
Leitung von Friedrich Neumann. Heft IV. Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale) 1927.
Steigelmann, Karl, Platens Aſthetik. J. B. Hoheneſter Verlag, München o. J.
Storm, Theodor, Sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Gertrud
Storm. Schlüter & Co., G. m. b. H., Leipzig 1927.
Strauß, Walter, Friedrich Nicolai und die kritiſche Philoſophie. Ein Beitrag zur Geſchichte
der Aufklärung. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1927.
Stroppel, Robert, Liturgie und geiſtliche Dichtung zwiſchen 1050 und 1300. Mit befon-
derer Berückſichtigung der Meß⸗ und Tagzeitenliturgie: Deutſche Forſchungen. Hrsg. von Friedrich
Panzer und Julius Peterſen. Heft 17. Verlag Moritz Dieſterweg, Frankfurt a. M. 1927.
Tonnelat, Ernest, Histoire de la Langue Allemande: Collection Armand Colin
(Section de Langues et Litteratures). Librairie Armand Colin, Paris 1927.
Vorländer, Karl, Geſchichte der Philoſophie. 7. Aufl. I. Bd.: Altertum und Mittelalter;
II. Bd.: Die Philoſophie der Neuzeit bis Kant. Felix Meiner Verlag, Leipzig 1927.
Voßler, Karl, Italieniſche Literaturgeſchichte: Sammlung Göſchen. Nr. 125. Walter de
Gruyter & Co., Berlin u. Leipzig 1927.
Waſer, Maria, Joſef Viktor Widmann. Vom Menſchen und Dichter, vom Gottſucher und
Weltfreund. Eine Darſtellung: Die Schweiz im deutſchen Geiſtesleben. Eine Sammlung von
Darſtellungen und Texten, hrsg. von Harry Mayne (Bern). 46. 47. Bändchen. Verlag von
Huber & Co., Frauenfeld u. Leipzig o. J.
Weber, Harald, Die Weltdeuter des Oſtens [China — Indien]. Verlag von Georg Weſter⸗
mann, Braunſchweig, Berlin, Hamburg 1927.
Wechßler, Eduard, Eſprit und Geiſt. Verſuch einer Weſenskunde des Deutſchen und des
Franzoſen. Verlag von Velhagen & Klaſſing, Bielefeld u. Leipzig 1927.
Wenke, Hans, Hegels Theorie des objektiven Geiſtes. Max Niemeyer Verlag, Halle
(Saale) 1927.
Williams, Charles A., Oriental affinities of the legend of the hairy anchorite.
The theme of the hairy solitary in its early forms with reference to Die lügend von fanct
Johanne Chryſoſtomo (Reprinted by Luther, 1537) and to other European variants.
Part I: Pre- Christian. Part II: Christian: University of Illinois Studies in Language
and Literature. Vol. XI., No. 4. The University of IIlinois 1925, 1927.
Wundt, Max, Rudolf Eucken. Rede gehalten bei der Eucken⸗Gedächtnisfeier der Univerſität
Jena am 9. Januar 1927: Schriften aus dem Eucken⸗Kreis. Hrsg. vom „Eucken⸗Bund“. Heft 22:
Friedrich Mann's Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer
Hilfswiſſenſchaften. Heft 1124: Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), Langenſalza 1927.
2. Jeitſchriſten.
(Jahrbücher. — Jahresberichte. — Mitteilungen gelehrter Geſellſchaften.)
Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen.
82. Ihg. (Juni 1927), Heft 1 u. 2: Ludwig, A., Ortsnamen in neuerer deutſcher Lyrik. —
Dörrer, A., Gilms erſte (Wiener) Gedichtausgabe. — Schleich, G., Zur Textgeſtaltung der mittel-
engliſchen Bearbeitung von Suſos Orologium Sapientiae. — Schultz⸗Gora, O., Die franzö⸗
490 Einlauf
ſiſchen Satzortsnamen II. — Nobiling, Fr., 14 Poèmes saturniens von Paul Verlaine, ins
Deutſche übertragen. — Kleinere Mitteilungen: Seripture, E. W., Die Silbigkeit und die Silbe.
— Jordan, L., Beiträge zur Kenntnis der ſpaniſchen Handelsſprachgeſchichte. — Levent, K., Zum
altprovenzaliſchen Wortſchatz I. — Migliorini, B., Plaiones — Blaiones. — Schulze, A.,
Zu Archiv 150, 242 — 246.
Blätter für deut ſche Philoſophie. Zeitſchrift der Deutſchen Philoſophiſchen Ge⸗
ſellſchaft. Bd. 1 (1927), Heft 1 u. 2 (Metaphyſiſche Werkgeſtaltung): Krueger, F., Vorwort. —
Koch, Fr., Herder und die Myſtik. — Schmalenbach, H., Die religiöſen Hintergründe der kantiſchen
Philoſophie. — Cohn, J., Perſönliche und überperſönliche Bedeutung von Schillers Philoſophie. —
Schwarz, H., Ernſt Moritz Arndts Panentheismus. — Schingnitz, W., Erkenntnis und Selbſt⸗
erkenntnis in Friedrich dem Großen. — Wundt, M., und Lockemann, Th., Unbekannte Schriftſtücke
zu Fichtes Atheismusſtreit. — Buchbeſprechungen.
Deut ſche Bildung. Mitteilungen der Geſellſchaft für deutſche Bildung. 8. Ihg., Nr. 2,
Juni 1927: Einladung zu der ordentlichen Tagung der Geſellſchaft für deutſche Bildung (Deutſcher
Germaniſten⸗Verband) E. V. und 7. Deutſchkundlichen Woche des deutſchen Heimatbundes Danzig
in Danzig, vom 3. 8. Oktober 1927 (Tagungsplan). — Schultz, Fr., Die Ausdrucksfähigkeit in
der Mutterſprache. — Schmidt⸗Voigt, H. H., Alte Ziele, neue Wege! — Hofſtaetter, W., Die
ſächſiſche Neuordnung des höheren Schulweſens. — J. G. S., Das deutſchkundliche Inſtitut in
Düſſeldorf. — Mitteilungen aus der Geſellſchaft. — Anzeigen.
Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiftes-
geſchichte. Halle a. d. Saale. 5. Ihg. (1927), Heft 2: Miſch, G., Wolframs Parzival. Eine
Studie zur Geſchichte der Autobiographie. — Handſchin, J., Die Muſikanſchauung des Johannes
Scotus (Erigena). — Ritter, G., Romantiſche und revolutionäre Elemente in der deutſchen Theo⸗
logie am Vorabend der Reformation. — Moſer, H. J., Renaiſſancelyrik deutſcher Muſiker um
1500. Mit zwei Tafeln.
Edda. Nordisk tidsskrift for Litteraturforskning. Ihg. 14, Bd. XXVI, Heft 1, 1927:
Vinberg, O., Den svenska proletärdiktningens gestalter. — Bull, E., Häkon Jvarsons
saga. — Nergärd, E., Forholdet mellem Swift a. ap — Grieg, N., Rudyard Kipling
and the British Empire. — Juell-T£nnessen, B., Litt om mennesket Sigbj@rn Obstfelder.
TheGermanicReview. Volume II, Number 3 (July 1927): Kaufmann, F. W.,
Romanik und Gotik. — Blankenagel, J. C., Deeds to Lenau's Property in Ohio, — Wahr,
F. B., Hauptmann's Promethidenlobos. — Bachmann, Fr., Die Theorie, die hiſtoriſchen Be⸗
ziehungen und die Eigenart des Erpreffionismus. — Uppvall, A. J., The Poetic Art of Erik
Axel Karlfeldt. — Book Reviews.
Germaniſch⸗Romaniſche Monatsſchrift. XV. Ihg. (Mai- Juni 1927),
Heft 5/6: Weisgerber, L., Die Bedeutungslehre — ein Irrweg der Sprachwiſſenſchaft? — Brink⸗
mann, H., Zu Weſen und Form mittelalterlicher Dichtung. — Weidemann, C., Bibliſche Stil⸗
elemente bei Carlyle. — Neubert, Fr., „Textkritik“ im 18. Jahrhundert. — Kleine Beiträge: Bert ;
hold, Eine mißverſtandene Eckhartſtelle. — Körner, Zu H. v. Kleiſts Würzburger Reife. —
Körner, Ein Schreibfehler in Hebbels „Herodes und Mariamne“? — Zur altfrieſiſchen Wortkunde.
— Holthauſen, Die Runeninſchrift auf dem Thorsberger Schildbuckel. — Selbſtanzeigen. —
Neuerſcheinungen.
Die Horen. Zweimonatshefte für Kunſt und Dichtung. J. Ihg. (1926 - 1927), Heft 5:
Elſter, H. M., Vom Sinn der Lyrik in unſerer Zeit. — v. Schaukal, R., Neue Gedichte. —
Ponten, J., Römiſches Idyll. — Kallai, E., Ernſt Fritſch (mit Abbildungen). — Faeſi, R., Fünf
Gedichte. — Wegner, A. T., Begierde. (Novelle.) — Sturmann, M., Der Aufgang und andere
Gedichte. — Strauß, L., Albrecht Schaeffers Odyſſeeüberſetzung. — Kuhn, A., Das deutſche
Kunſtgewerbe von heute und feine Meiſter (mit acht Bildern). — von Scholz, W., Hölty. —
Gürſter, E., Traum-Erſchrecken. — Talbof, A., Jean Willi. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
The Journal of English and Germanic Philology. Vol. XXV.
(July 1926) No. 3: Jones, H. S. V., The Fairie Queene and the Mediaeval Aristotelian
Tradition. — Flom, G. T., Old Norse Fränn „Gleaming“. Orkedal Dial Fraena,
„Tohain“. — Dehorn, Wm., Mann, Th., eine philoſophiſch⸗literariſche Studie. — Hughes,
H. S., The Middle-Class Reader and the English Novel. — Blankenagel, J. C., Shaw's
an Joan and Schillers Jungfrau von Orleans. — Munsterberg, M., The Gift of Tongues.
— Reviews.
Zeitſchriften 491
(October 1926) No. 4: Tremaine McDowell, G., The Negro in the Southern Novel
Prior to 1850. — Heffner, R. M. S., Borrowings from the Erlöſung in a „Missing“
Frankfurt Play. — Maxwell, W. C. and Padelford, Fr. M., The Compound Words in
Spenser's Poetry. — Davies, J., The Earliest Musical Setting to Goethe's Faust. —
Mensel, E. H., James Howell as a Practical Linguist. — Geissendoerfer, Th., Carlyle
and Jean Paul Richter. — Reviews,
(January 1927) No. 1: Brewer, E. V., Lessing and The Corrective Virtue in Comedy.
— Curtiss, J. T., The Horoscope in Chaucers Man of Law’s Tale. — Seiberth, Ph.,
Das Element des Romantiſchen in Goethe. — Baldwin, T. W., Posting Henslowe's Accounts.
— Stovall, Fl., Feminine Rimes in the Fairie Queene. — Hollander, L. M., Were the
Mythological Poems of the Edda composed in the Pre-Christian Era. — Mahr, A. C.,
Vom Optativ des kindlichen Spiels. — Ibershoff, C. H., Bodmer and Klopstock Once
More. — Reviews.
Literariſcher Handweiſer. 63. Ihg. (April 1927), Heft 7: Wieſebach S. J., W.,
Der Bühnenvolksbund. — Schleußner, W., Die Rechtfertigung Meiſter Eckeharts. — Forſt de
Battaglia, O., Polniſche Umſchau V. Teil. — Weinrich, Fr. J., Neue Dramen Claudels. —
Buchbeſprechungen. ö
(Mai 1927) Heft 8: Kahl, W., Peſtalozzi⸗Literatur. — Ehl, H., Das romaniſche Stilproblem.
Prinzipielles und Bibliographiſches. — Arns, K., Ein Streifzug durch das neueſte engliſche
Schrifttum. — Hankamer, P., Das Görres⸗Werk. — Buchbeſprechungen.
(Juni 1927) Heft 9: Rombach, H., Wege und Umwege in der Jugendſchriftenfrage. — Alter, E.,
Die Grundlagen der heutigen norwegiſchen Literatur. — Mumbauer, J., Satansknechtſchaft —
oder Freiheit der Kinder Gottes? Gedanken über die zwieſpältige Geiſteshaltung der neueren
„katholiſchen“ Literatur. — Siemens, G., Technik als Kulturfaktor. — Buchbeſprechungen.
(Juli 1927) Heft 10: Mumbauer, J., Dreißig Jahre katholiſcher Literaturbewegung und
Literaturarbeit. Ein Rückblick. — Antz, J., Johannes Mumbauer zum 60. Geburtstage. Eine
Uberſicht über fein Schaffen. — Dengel, J. Ph., Der Aldobrandini⸗Papſt Klemens VIII. (1592
bis 1605). Eine Würdigung des XI. Bandes von Ludwig v. Paſtors Geſchichte der Päpſte. —
Linfert, K., Hugo Balls „Flucht“ (1913 1921). — Buchbeſprechungen.
Die Literatur. Monatsſchrift für Literaturfreunde. 29. hg. des „Literariſchen Echo“,
Heft 7 (April 1927): Strunz, F., Literaturgeſchichte. — Winkler, H., Zu Brandes Hingang. —
Hermann, G., „Zwiſchen zwei Revolutionen“. — Ranſohoff, G., Zu Voßlers Racine. — Netzle,
Chr., Moderne Eschatologie. — Binding, R. G., Betrachtung eines Gedichtbandes. — Bauer, P.,
Joſeph Georg Oberkofler. — Rheinfurth, K., Waldemar Bonſels. — Müller⸗Raſtatt, C.,
Bluncks Mythendichtung. — Golther, W., Neue muſikaliſche Bücher. — Blunck, H. Fr., Das
Stelldichein. — Viebig, Cl., Eine Manuſkriptſeite. — Morgenſtern, S., Politifierung des
Theaters. — Arnold, Rob. F., Zu C. F. Meyers Gedichten.
Heft 8 (Mai 1927): Wenz, R., Vom Weſen der rheiniſchen Dichtung. — Saekel, H., Von
belgiſcher Dichtung. — Spanier, M., Probleme europäifher Dichtung. — Liſſauer, E., Die
Gedichte von A. Miegel. — Diebold, B., Romanhafter Roman. — Lucka, E., Schnitzler als
Charakterologe. — Wolff, G., Annie Vivanti. — Forſt de Battaglia, O., Dmitrij Mereſch⸗
kowskij. — Miegel, A., Drei Gedichte. — Liſſauer, E., Eine Manuſkriptſeite. — Palgen, R.,
Keller und Gogol. — Mansholt, T., Das Urbild des Hauke Haien.
Heft 9 (Juni 1927): Koſſow, K., Was lieſt der deutſche Arbeiter? — Frank, R., Der geſprochene
Chor. — Hirth, Fr., Der literariſierte Jazz. — Rockenbach, M., Über Ernſt Wiechert. —
Wiechert, E., Zu meinem Leben. — Luſchnat, D., Zu Nadels „Sündenfall“. — Heilborn, E.,
Der Doppelroman. — Kuh, E., Dichter und Dichtkunſt. — von Zobeltitz, F., Wanderbücher. —
Schnitzler, A., Eine Manuſkriptſeite. — von Scholz, W., Ein Brief. — Fouqué, Der Ein-
ſiedler. — Brücher, A., Stendhal⸗Dokumente. — Gotzes, A., Zu Adalbert Stifter.
Logos. Internationale Zeitſchrift für Philoſophie der Kultur. Bd. XVI., Heft 2: Klemperer,
V., Gibt es eine ſpaniſche Renaiſſance? — Rickert, H., Die Erkenntnis der intelligibeln Welt und
das Problem der Metaphyſtik. — Larenz, K., Die Wirklichkeit des Rechts. — Cohn, J., Zu
Nicolai Hartmanns Ethik. Verſuch kritiſcher Mitarbeit. — Notizen.
Modern Language Notes. Baltimore. Vol. XLII., Number 3 (March 1927):
Scudder, H. E., A Queen at Chesse. — Nock, S. A., Denis Saurat on Milton's Color
Vision. — Tilley, M. P., The Comedy an and the „Faerie Queene”. — Richards,
J. T., A New Poe Poem. — Gilman, M., „Le Dissipateur” and „Timon of Athens”. —
492 Einlauf
SSS Y ——— —x—— . ee
Balderston, K., C. Goldsmith's Supposed Attack on Fielding. — Brown, J. E., Gold-
smith and Johnson on Biography. — Schwartz, W. L., The Influence of E. A. Poe on
Judith Gautier. — Magoun, F. P., The Burning of Heorot: an Illustrative Note.
— Watts, G. B., An Unpublished Letter by Louis Racine. — Case, A. E., Aaron Hill
N „Sophonisba”. — Kurrelmeyer, W., The Term „Sturm und Drang“.
— Reviews.
Number 4 (April 1927): Bush, D., The Influence of Marlowe’s „Hero and Leander”
on early Mythological Poems. — Gould, C. N., „Which are the Norns who take
Children from Mothers“. — Taylor, A., „Das Schloß in Oſterreich“. — Lineberger, J. E.,
An Examination of Professor Cowling's new Metrical Test. — Noyes, E. S., Another
Smollett Letter. — Stewart, G.R., JR, A Note on the Sleep-walking Scene. — Malone,
K., A Note on „Brunanburh”. — Freemann, E. L., A Note on Bacon’s Influence. —
Vos, B. J., Two Notes on Heine’s „Harzreiſe“. — Zucker, A. E., A Note on the Poet
of the „Trug-Nadtigall”. — Shanks, L. P., A Possible Source for Rousseau's Name
„Emile“. — Emerson, O. F., Two Lexical Notes. — Kane, E. K., Parrot and Pajarote.
— Reviews.
Number 5 (May 1927): Bernbaum, E., Recent Works on Prose Fiction before 1800.
— Tilley, M. P., The Comedy „Lingua“ and Du Bartas’ „La Sepmaine”. — Stevenson,
L., A French Text-book by Robert Browning. — Austin, H. D., Dante Notes, IX. —
Nykl, A. R., Old Spanish Terms of Small Value. — Bush, D., Some Allusions to
Spenser. — Lemmi, C. W., Leopardi's „Passero solitario“. — Coffman, G. R., A Note
on Shakespeare and Nash. — Dale, G. J., Spanish „Fondo en“ once more. — Caskey,
J. H., Two Notes on Uncle Toby. — Caskey, J. H., Tracing an Epigram. — Sehrt,
E. H., Goethe's „Fauſt“, Line 1520. — Cooper, L., A Note on Legouis and Cazamian,
„Histoire de la Litterature Anglaise”. — Schwartz, W. L., The Significance of
D’Annunzio's „Outa Occidentale”, — Reviews.
Neophilologus. Groningen, Den Haag. XII, 1927, 3: Salverda de Grave, J. J.,
Indirecte Rede in onafhankelike zinnen. — van Roosbroeck, G. L., Corneille's Early
Theories. — Roſenfeld, H. Fr., Zum Wilhelm von Wenden Ulrichs von Eſchenbach. — Scholte,
J. H., Kleiner Beitrag zum Bildungsgang des Simpliciſſimusdichters. — Alter, E., Pſycho⸗
Analyſe und Literaturwiſſenſchaft I. — Kern, J. H., Phoenix 25. — van der Gaaf, V.,
Contributions to the History of English. — Stijfhoorn, G., Hamlet II, — Chotzen,
Th. M., Un ancien fragment des Colloques en gallois. — Hesseling, D. C., Het Nieuw-
griekse ae — Boekbespreking. — Aankondiging van eigen Werk.
Neue Jahrbücher für Wiſſenſchaft und Jugendbildung. Hrsg. von
Johannes Ilberg. J. Ihg. 1927, Heft 3: Tumarkin, A., Das Apolliniſche und das Dionyſiſche in
der griechiſchen Philoſophie. — Petri, F., Die Wohlfahrtspflege des Auguſtus. — De Boor, H.,
Gemeingermaniſche Kultur. — Pfandl, L., Die Zwiſchenſpiele des Cervantes. — Schücking, L. L.,
Shakeſpeares Perſönlichkeitsideal. — Scherwatzky, R., Die moderne Wertphiloſophie und ihre Be⸗
deutung für das humaniſtiſche Gymnaſium. — Reichwein, G., Georg Kerſchenſteiners „Theorie der
Bildung“. — Berichte: Ilberg, J., Altertumskunde. — Hübner, W., Auslandskunde: Engliſch
(Literaturgeſchichte, insbeſondere Romantik). — Schnabel, F., Geſchichte: Sozialgeſchichte. — Nach⸗
richten.
Die Neue Rundſchau. XXXVIII. Jahrgang der Freien Bühne. 4. Heft (April 1927):
Hellpach, W., Parlaments⸗Dämmerung. — Mauriac, Fr., Der junge Menſch. — Süskind, W. E.,
Raymund (Novelle). — Maren, V., Antoine de Rivarol und Jean-Paul Marat. — Meier ⸗Graefe,
J., Die Fahrt nach Nubien. — Zuckerkandel, V., Der Geiſt im Wort und der Geiſt in der Tat. —
u P., Weſt⸗öſtliche Romane. — Saenger, S., Politiſche Gloſſen. — Kayſer, R., Europäiſche
Rundſchau.
5. Heft (Mai 1927): Pannwitz, R., Der Geiſt Europas. — Heſſe, H., Traktat vom Steppen ⸗
wolf. — Heſſe, H., Ein Stück Tagebuch. — Ball, H., Hermann Heſſe und der Oſten. — Süskind,
W. E., Hermann Heſſe und die Jugend. — Hauſenſtein, W., Notizen aus Südfrankreich. —
Mauriac, Fr., Der junge Menſch. — Saenger, S., „Religiöſe Erneuerung“. — Kayſer, R.,
Europäiſche Rundſchau.
6. Heft (Juni 1927): Bonn, M. J., Amerikaniſche Proſperität. — Mann, H., Erinnerungen an
Frank Wedekind. — Lichnowsky, M., Das Rendezvous im Zoo (Novelle). — Conrad, J., Briefe an
Freunde. — Matthias, L., Bericht über das andere Spanien. — Bie, O., Bücher über Kunſt und
Muſik. — Saenger, S., Politiſche Chronik. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Zeitſchriften 493
7. Heft (Juli 1927): Hellpach, W., Parlaments⸗Zukunft. — v. Hofmannsthal, H., Das Schrift⸗
tum als geiſtiger Raum der Nation. — Dos Paſſos, J., Manhattan Transfer (Aus dem Roman
einer Stadt). — Matthias, L., Bericht über das andere Spanien. — Shaw, B., Dämmernde
Wirklichkeit (ein Akt). — Elias, J., Max Liebermann. — Flake, O., Der Ruf nach Bindungen. —
Landsberger, F., Alfred Döblins „Manas“. — Saenger, S., Die Wiederkunft des Gleichen? —
Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Oberdeutſche Zeitſchrift für Volkskunde. 1. Ihg. (1927) Heft 1: Fehrle, E.,
Zum Geleit. Walter, M., Die Kunſt der Ziegler. — Künzig, J., Der Pfeffer. Ein Hochzeitslied
im Fränkiſchen. — Hünnerkopf, R., Der wilde Jäger in Oberdeutſchland. — Weiſer, L., Das
Bauernhaus in Tirol. — Fehrle, E., Joh. Pet. Hebel. — Pfalz, A., Angebliche fränkiſche Mund⸗
arten in Öfterreih. — Lämmle, Aug., Vom Volkstum in Württemberg. — Verſchiedenes.
Philoſophie und Leben. 3. Ihg. (April 1927) Heft 4: Strecker, R., Der Sinn der
demokratiſchen Staatsform. — Wundt, M., Volk, Staat und Kirche im Sinne der deutſch⸗völkiſchen
Weltanſchauung. — Meſſer, A., Max Wundt über völkiſches Denken. — Unold, J., Die Volks⸗
vertretung in einem organiſchen Kulturſtaat. — Unold, J., Freiheit und Gleichheit. — Meinecke,
Fr., Das Weſen der Staatsräſon. — Zur Einführung in die Philoſophie. — Ausſprache. — Be⸗
ſprechungen. — Eingegangene Schriften.
Phoenix. Zeitſchrift für deutſche Geiſtesarbeit in Südamerika. Hrsg. vom Deutſchen wiſſen⸗
ſchaftlichen Verein in Buenos Aires. Ihg. XIII (April 1927) Heft 1 und 2: Feſtſchrift für Prof.
Dr. Hermann von Ihering.
Revue del Enseignement des Langues Vivantes. Paris, 44. Année,
No. 3 (Mars 1927): Douady, J., Agrégation d Anglais. — Loiseau, H., De la Genèse de
l’amitie de Goethe et de Schiller. — Yvon, P., Quelques notes sur les Animaux (Suite).
— D. A. et L. H., Causeries Bibliographiques sur les Auteurs d’Agregation et de Certi-
ficat (Suite). — Nécrologie: Meneau, P., Paul Chabas. — Servajean, H., Le Souper
Angellier en 1926. — Bibliographie. — Chronique Universitaire. — Revue des
Périodiques.
No. 4 (Avril 1927): Koszul, A., La technique dramatique de Shakespeare. — Loiseau,
H., De la Genese de l'amitié de Goethe et de Schiller (Suite). — Yvon, P., Quelques
notes sur les Animaux (Suite). — D. A., Causeries . sur les Auteurs
d Agrègation et de Certificat (Suite). — Bibliographie. — Chronique Universitaire. —
Revue des Périodiques.
No. 5 (Mai 1927): Loiseau, H., De la Genese de l'amitié de Goethe et de Schiller
(Suite). — Yvon, P., Quelques notes sur les Animaux (Suite). — X, Type de Disser-
tation d’Agregation (Anglais). Pitollet, C., „Tirren“ allemand et „Tirria“ espagnol. —
Loiseau, H., La Crise de l' Enseignement de l’Allemand en Amérique. — Bibliographie.
— Chronique Universitaire. — Revue des Périodiques.
No. 6 (Juin 1927): Garnier, Ch. M., Emerson, annonciateur. — Yvon, P., Quelques
notes sur les Animaux (Suite). — Buriot-Darsiles, H., Rudolf Borchardt. — Muret, G.,
Les verbes causatifs en allemand et en anglais. — Bibliographie. — Chronique Uni-
versitaire. — Revue des Périodiques.
Revuegermanique. Paris XVIII. No. 2 (Avril—Juin 1927): Brun, L., Her-
mann von Keyserling et son Ecole de Sagesse, Il. — Michel, V., Lettres inedites de
Sophie de La Roche à Wieland, X. — Fournier, A., Le Roman allemand, II. — Comptes
Rendus Critiques. — Bulletin. — Bibliographie. — Revue des Revues. — Chronique.
Die ſchöne Literatur. 28. Ihg. April 1927. Nr. 4: Brandt, O. H., Timm Kröger. —
Euringer, R., Der Schaffende als Kritiker. — Buchbeſprechungen. — Neue Bücher; Zeitſchriften⸗
ſchau; Uraufführungen; Mitteilungen; Beilagen: Dichterbildniſſe (Ric. Huch, L. v. Strauß ⸗Torney).
— Jahresernte 1927 (Rud. Paulſen).
Mai 1927, Nr. 5: Witkop, Ph., Emil Strauß. — Buchbeſprechungen. — Neue Bücher; Zeit⸗
ſchriftenſchau; Uraufführungsberichte; Mitteilungen; Beilagen: Dichterbildniſſe (Emil Strauß,
Hans⸗Chriſtov Kaergel). — Jahretzernte 1927 (Ina Seidel, Paul Ernſt).
Juni 1927, Nr. 6: von Grolman, A., Friedrich Huch. — Euringer, R., Außenſeiter der Ge⸗
ſellſchaft. — Buchbeſprechungen. — Neue Bücher im Mai; Zeitſchriftenſchau im Mai; Urauffüh⸗
rungsberichte; Mitteilungen; Beilagen: Jahresernte 1927 (Paul Ernſt, Hans Roßmann). Bild⸗
beilage (Hanns Johſt, Otto Brües). N
494 Einlauf
Juli 1927, Nr. 7 (Hermann Heſſe⸗Heft): Witkop, Ph., Hermann Heſſe. — Bibliographie:
1. Werke und Aufſätze von Hermann Heſſe; 2. Schriften über Hermann Heſſe (zuſammengeſtellt von
E. Metelmann). — Veſper, W., Romane der Welt. — Buchbeſprechungen. — Bildbeilage (H. Heſſe);
Manuſkriptſeite H. Heſſes. — Jahresernte 1927 (Hans Franck).
Slavia. Casopis pro slovanskou filologii. Prag. V. Ihg. Heft 3: Brückner, A., Mo-
deles d’&tymologie et de critique des sources II. — Sobolevskij, A., Remarques &tymo-
logiques. — Sobolevskij, A., Remarques sur la morphologie slave. — Gudzij, N.,
L’alliteration et l'assonance dans Tjutéev. — Janöw, J., Les sources de l’Evangile de
Peresopnica. — Murko, M., Die Bedeutung der Reformation und Gegenreformation für das
geiftige Leben der Südſlaven (Fortſetzung). — Zelenin, Dm., Les coiffures de femmes chez les
Slaves Orientaux (Russes) (fin). — Critiques et comptes-rendus. — Necrologie. — Notes
et informations: Vernadaskij, G., Apercu des travaux sur le byzantinisme depuis 1914
(fin). — Pata, J., La bibliotheque nationale de Sofia. — Fr£ek, J., Les relations scienti-
fiques franco-russes. — Personalia. — Extraits des revues.
Heft 4: Stender-Peterfen, Ad., Zur Etymologie des urſlav. gorazd:. -van Wijk, N., Evan-
gelistar und Tetraevangelium.—Dolobko, M., N6&6-no&&s6, ösen6-osen&s6, zimä-zimus6,
leto-tetos6. — Murko, M., Die Bedeutung der Reformation und Gegenreformation für das
geiſtige Leben der Südſlaven (Schluß). — Val’denberg, V., Les idées sociales et politiques
de Pososkov et KriZani&, — Mosin, V., La „troisieme" tribu russe. — Critiques et
comptes-rendus. — N&crologie. — Notes et informations: Mladenov, St., En l’honneur
et en m&moire de Louis Leger. — Stränskä, Dr., Les musees ethnographiques yougo-
slaves. — Fröek, J., L'organisation des ẽtudes de slavistique en France. — Ljackij, E.
A., Mélanges Paul Boyer. — Manning, Cl. A., Les „Ténèbres“ d’Andrew et „Souvenir
de littérature clandestine’ de Dostojevskij. — Bem, A., La littérature dans les revues
russes. La presse et la Revolution (19231925). — Savickij, P., Aurelio Palmieri:
La geographie politique de la Russie soviétiste. — Swela, G., Næponse à Mr. Taszycki.
xtraits des revues.
Stimmender Zeit. Monatsſchrift für das Geiſtesleben der Gegenwart. 57. Ihg. (April
1927) Heft 7: v. Noſtitz⸗Rieneck, R., Die Weltanſchauung Gottes. — Koch, L., Hundert Jahre
Kulturkampf in Mexiko. — Rompel, J., Fortſchritte im Naturſchutz. — Griſar, J., Das erſte
Verbot der Ordensgründung Maria Wards (1628). — Stang, S., Nordiſche Romane. — Kreit⸗
maier, J., Dialekte des gregorianiſchen Chorals. — Haas, R., Laienhilfe in der Seelſorge. —
Reichmann, M., Hat der hl. Ignatius von Loyola für die deutſchen Proteſtanten die Todesſtrafe ver ·
langt? Konjektur zu einer berühmten Briefſtelle. — Beſprechungen von Büchern über Philoſopbie.
Mai, Heft 8: Böminghaus, E., Marienverehrung als Kulturmacht. — Gatterer, A., Beweiſen
okkulte Spontanerſcheinungen das Fortleben der Menſchenſeele nach dem Tode? — Pribilla, M., Um
Glaubenseinheit und konfeſſionellen Frieden. — Przywara, E., Integraler Katholizismus? — von
Dunin⸗Borkowski, St., Pädagogiſches aus dem alten China. I. Die früheſten Deutungen des
älteſten chineſiſchen Buches. — Griſar, J., Der Endkampf um Maria Wards erſte Ordensgründung
(1628 1631). — Kreitmaier, J., Verklingende Weiſen. — Stang, S., Handel ⸗Mazzettis Karl ⸗
Sand⸗Roman. — Beſprechungen von Büchern über Kulturgeſchichte; Deutſche Erzählungsliteratur.
Juni, Heft 9: Lippert, P., Die Sonne Satans die Sonne Gottes. — Muckermann, Fr., Das
Chriſtentum im Kampf um die deutſchen Klaſſiker. — v. Noſtitz⸗Rieneck, R., Die Chriſtozentrik der
Weltanſchauung Gottes. — v. Dunin Borkowski, St., Pädagogiſches aus dem alten China. II. Das
Buch der Wandlungen. — Faller, O., Wege der Religionsvergleichung ſeit der Renaiſſanee. — Over ⸗
mans, J., Georg Brandes als europäiſcher Kritiker. — Reichmann, M., Die Konferenz von Law
ſanne. — Beſprechungen von Büchern über Philoſophie, Soziologie und von Nachſchlagewerken.
Una Sancta. Ein Ruf an die Chriſtenheit. 3. Ihg. 1927, Heft 2: Moraſch, C., Evan-
geliſches oder proteſtantiſches Chriſtentum? — Glinz, G. A., Katholiſche Geiſteshaltung und Theo⸗
logie der Kriſis. — Schwär, Fr., Die Theologie der Krifis und die Kirche. — Getzeny, H., Grund-
fragen der Theologie. — Bücherſchau. — Preſſeſchau. — Okumeniſche Chronik.
Zeitſchriftfürdeutſche Bildung. Frankfurt a. M., 3. Ihg. (1927) Heft 4: Mever,
Fr., Kant⸗Schiller⸗Fichte, ein Beitrag zur Entſtehung des nationalen Ethos der Deutſchen aus dem
Gedanken des allgemeinen Menſchentums. — Heyden, F., Lyriſche Gedichte, nachſchaffende Betrab ;
tungen. — Pauls, E. E., Goethes Führung. — Sprengel, 8. G., Deutſchkunde im franzöſiſchen
Unterricht, La Fontaine. — Janell, W., Zur philoſophiſchen Propädeutik. — Steche, Th., Weſter
burg, H., Sprengel, J. G., Matthias, Th., Bücherſchau. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchriften 495
Heft 5: Walzel, O., Religiöſe Dichtung des jungen Goethe. — Pauls, E. E., Goethes Führung.
— Muris, O., Politiſche Geographie und Geopolitik im erdkundlichen Unterricht. — Muris, O.,
Erdkundlicher Bücherbrief. — Meiners, E., Buchtitel im Spiegel der Zeit. — Leiſegang, H. W.,
Mietzſche und das Deutſchtum. — Wilhelm, Fr., Paul Häberlin als Pädagog und Philoſoph. —
Brohmer, P., Beiträge der Naturwiſſenſchaften zum Gedanken einer deutſchen Bildung. —
Matthias, Th., Balder und dabei manches andere. (Nach:) Fr. R. Schröder, Germanentum und
Hellenismus. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau. — Ordentliche Tagung der Geſellſchaft für
deutſche Bildung (D. G. V.) und 7. Deutſchkundliche Woche des Danziger Heimatbundes in Danzig
vom J.— 8. Oktober 1927.
Heft 6: Kühlhorn, W., Carl Spittelers Welterlebnis. — Vowinckel, E., Philoſophiſche Lektüre
in der Arbeitsgemeinſchaft der Prima. — Vowinckel, E., Philoſophiſche Arbeitsgemeinſchaft in
der Prima, ein Lehrbeiſpiel aus Lotze. — Pauls, E. E., Goethes Führung. — Vontin, W., Moderne
Lyrik im deutſchkundlichen Unterricht, eine Einführung in das Weſen des dichteriſchen Kunſtwerks. —
Weſterburg, H., Lyrik, ein Bücherbrief. — Peters, U., Der Bildungsbegriff Kerſchenſteiners, eine
Buchanzeige. — Peters, U., Walther Claſſens „Werden des deutſchen Volkes“ im Geſchichtsunter⸗
richt, eine Buchanzeige. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchrift für Deutſchkunde. Ihg. 41 der Zeitſchriftfür den deutſchen
Unterricht. Heft 4: Pongs, H., Der Kampf um die Auffaſſung Conrad Ferdinand Meyers. —
Sternberg, L., Zur Geiftes- und Kulturgeſchichte des Rheingaus. — Gieſe, K., Rheiniſche Heimat⸗
kunde im Rahmen der deutſchen Geſchichte des Mittelalters. — Braun, Fr., Das Weichſelland im
deutſchen Unterricht. — Kügler, H., Volkskunde, beſonders der Großſtadt, und höhere Schule. —
Schmid, P., Eine Schülerfahrt ins Gebiet ſächſiſch⸗romaniſcher Baukunſt. — Oelsner, R., Eine
Schülerfahrt nach Süddeutſchland. — Konetzky, St., Heimatkundliche Studienfahrten des Zentral⸗
inſtituts für Erziehung und Unterricht. — Fittbogen, G., Ein Gang durch die neuere Literatur über
die Auslanddeutſchen. — Sonderberichte: Der deutſche Entwicklungsroman bis zu Goethes „Wilhelm
Meiſter“. Goethes Werke. — Chriſtoph Netzle. — Fräulein Mozart.
Heft 5: Linden, W., Die Lebensprobleme in Goethes „Taſſo“. — Willige, W., Deutſchland,
Hellas und Hölderlin. — Steinert, W., Wilhelm Schäfers rheiniſche Novellen. — Buchheit, G.,
Shakeſpeare im Geiſte der Gegenwart. — Pauls, E. E., Der große Stoff der Natur. — Plecher,
H., Literaturgeſchichte in der Volksſchule. — Bergmann, K., Kulturgeſchichtliche Wortbetrachtungen.
(Der menſchliche Körper, ſeine Krankheiten, ſein Bau und die Aufgaben gewiſſer körperlicher
Organe.) — Literaturbericht: Hofſtaetter, W., Sammlungen und Ausgaben. — Zeitſchriftenſchau.
Heft 6 [Schweizer Heft]: Ermatinger, E., Der Anteil der Schweiz an der deutſchen Literatur
des 18. Jahrhunderts. — Muſchg, W., Schweizeriſche und deutſche Dichtung. — Aeppli, E., Zur
Schweizerdichtung der Gegenwart. — Schaffner, P., Neuere ſchweizeriſche Malerei. — Hoffmann⸗
Krayer, E., Die Erforſchung des Volkstums in der Schweiz. — Zollinger, M., Die Aufgabe des
Deutſchunterrichts in der deutſchen Schweiz. — Gautier, L., Der Deutſchunterricht auf den Mittel-
ſchulen der franzöſiſchen Schweiz. — Tagung der Geſellſchaft für Deutſche Bildung in Danzig. —
Zeitſchriftenſchau. — Nachwort.
Zeitſchrift für Deutſche Philologie. Stuttgart, 52. Bd. (1927), Heft 1 u. 2:
Baeſecke, G., Heinrich der Glicheſare. — de Boor, H., Frühmittelhochdeutſcher Sprachſtil. —
Singer, S., Arabiſche und europäiſche Poeſie im Mittelalter. — von Zingerle (), O., Die
Heimat des Dichters Freidank. — Stammler, W., Zu „Portimunt“. — Simon, K., Zu Sachſen⸗
ſpiegel I, Art. 4. — Fuchs, E., Die Beleſenheit Johannes Geilers von Kaiſersberg. — Hübſcher,
A., Zu Theobald Hock. — Ellinger, G., Zur Frage nach den Quellen des „Cherubiniſchen
Wandersmannes“. — Spieß, Anmerkungen zu dem von Barbara Schultheß gefertigten Verzeichnis
Soethiſcher Gedichte. — Becker, H., Eine Quelle zu Goethes „Neuer Meluſine“. — Körner, J.,
Brentano parodiert den Arnim. — Thalmann, M., Heinrich Heine „Die Nordſee“. — Panzer, Fr.,
Wilhelm Braune. — Anzeigen.
* *
*
Jahrbuch der Kleiſt⸗Geſellſchaft 1925 und 1926. Hrsg. von Georg Minde⸗
Pouet und Julius Peterſen. Schriften der Kleiſt⸗Geſellſchaft. Hrsg. im Auftrage des Vor⸗
ſtandes der Geſellſchaft. Band 7 und 8. Weidmannſche Buchhandlung, Berlin 1927. — Inhalt:
Engert, H., Perſönlichkeit und Gemeinſchaft in Kleiſts Drama „Prinz Friedrich von Homburg“. —
Petſch, R., Die Entwicklung der tragiſchen Idee in der dramatiſchen Dichtung Heinrich von Kleiſts.
— Minde-Pouet, G., Briefe von, an und über Kleiſt. — Meyer⸗Benfey, H., Die Liebe in Kleiſts
496 Einlauf
Leben und Dichtung. — Deetjen, W., Luiſe Wieland und Kleiſt. — Lazarsfeld, S., Kleiſt im
Lichte der Individualpſychologie. — Schultze⸗Jahde, K., „Verflucht das Herz, das ſich nicht mäß gen
kann“. — Schultze⸗Jahde, K., Kleiſts Shakeſpeare⸗Anekdote. — Viétor, K., Tieck oder Kleiſt? —
Fritz, A., Die Kleiſt⸗Büſte im Aachener Stadttheater. — Groeper, R., Die Kleiſt⸗Büſte im Stadt ⸗
theater zu Frankfurt a. d. O. — Fiebiger, O., Die Kleiſt⸗Ausſtellung der Säſiſchen Landesbibliothek
Mai 1925. — v. Schönfeldt, E., Die Nachkommen der Geſchwiſter Heinrich von Kleiſts. — Nach⸗
trag. — Selbſtanzeigen.
3. Gonderabzüge.
Habermann, Paul, Des Adam Olearius „Luſtige Invention, woher das Taback⸗Trinken
kommt“. Sonderdruck aus „Die loſen Blätter“. (Zeitſchrift des Verbandes ehemaliger Schüler
des Stephaneums zu Aſchersleben.) Bd. 27 (1927), S. 35 — 39.
Overmans, Jakob, SGegenſtand und Einteilung der wiſſenſchaftlichen Literaturgeſchichte.
Sonderabdruck aus Doitsu Bungaku. Zeitſchrift für deutſche Literatur. Hrsg. von der deutſchen
Abteilung der Kaiſerlichen Univerſität in Tokyo. Tokyo 1927. II. Bd., S. 1-30.
Nachrichten.
Quellen zu Caſanova. In Ergänzung meines 1926 erſchienenen Werkes „Caſanova in Köln“
ſetze ich meine Quellenſtudien zu dem Leben des venezianiſchen Abenteurers J. Caſano va fort, be ⸗
ſonders, ſoweit ſein mehrfacher und längerer Aufenthalt in Deutſchland in Frage kommt. Ich wäre
dankbar für Hinweiſe auf unbekannte Archivalien, die ihn erwähnen — Fremdenliſten, Prozeß · und
Polizeiakten, Eingaben, Briefe, Magiſtratsprotokolle, Geſandtſchaftsberichte, Zeitungsartikel uſw.
F. Walther Ilges, Köln⸗Bayenthal.
In der Handſchrift abgeſchloſſen am 1. Juli, im Satz am 31. Auguſt 1927.
SS YR x X xX v. ß e ö ö
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie.
Methodologiſch⸗kritiſche Betrachtungen.
Von Oskar Kraus in Prag.
J.
Beſchreibende und erklärende Pſychologie. Dilthey und Brentano.
Daß die Pſychologie als Wiſſenſchaft vom menſchlichen Geiſte und ſeinem
Bewußtſein in beſonders inniger Beziehung zu den übrigen Geiſteswiſſen⸗
ſchaften ſteht iſt ſo ſelbſtverſtändlich, daß dieſer Satz bis vor kurzem ſchier all⸗
gemein zugegeben worden iſt 1). Heute aber macht man gewiſſe Einſchraͤnkungen
und will nur eine beſondere Art der Pſychologie als für die Geiſteswiſſenſchaften
fruchtbar anerkennen, andere aber keineswegs. Um hier klar zu ſehen, muß
man einen Überblick zu gewinnen ſuchen über die Geſamtheit der Probleme hier
und dort und ſie nach ihren fundamentalſten Verſchiedenheiten ſcheiden. Eine
ſolche vorerſt die Pſychologie betreffende Scheidung iſt die in beſchreibende
und kauſal erklärende Pſychologie; die beſchreibende, deſkriptive, heute
gerne „phänomenologiſche“ Pſychologie genannt, ſetzt ſich zum Ziele, das Inven⸗
tar unſeres Bewußtſeins aufzunehmen, die gemeinſamen Merkmale alles Be-
wußtſeins aufzuweiſen, die fundamentalſten Unterſchiede der Bewußtſeins⸗
zuſtände feſtzuſtellen, und ihre Klaſſifikation nach den durchgreifenden Geſichts⸗
punkten vorzunehmen; hauptſächlich aber werden die allgemeinen und innerhalb
der einzelnen Klaſſen obwaltenden phänomenognoſtiſchen Strukturgeſetze zu erfor⸗
ſchen geſucht. Dieſe pſychologiſche Forſchungsart beruht auf der inneren Wahrneh⸗
mung, auf innerem Bemerken (Perzeption und Apperzeption), auf Vergleich und
Unterſcheidung, auf unmittelbarer und gedächtnismäßiger Beobachtung. Auch
das Experiment kann in ihren Dienſt geſtellt werden 2). Trotzdem werden jene
phänomenognoſtiſchen Strukturgeſetze nicht auf dem Wege der ſogenannten
induktiven Forſchung gewonnen; ihre Erkenntnis erfolgt, wie zu erſt
Brentano im „Urſprung ſittlicher Erkenntnis“ 1889 feſtgeſtellt hat, durch das
Denken der Begriffe motiviert „mit einem Schlage und ohne jede
Induktion“).
1) Erich Becher, in ſeinem Werke „Geiſteswiſſenſchaft und nen Münden
1921, berichtet polemiſierend über vereinzelte andersartige Auffaſſungen S. 114/11
2 Man vergleiche hierzu insbeſondere die vermehrte Neuauflage von Franz 8 rentanos
„Pſychologie vom empiriſchen Standpunkte“ Bd. I und II (Bd. 192 und 193 der philoſophiſchen
Bibliothek, Verlag Felix Meiner, Leipzig), ſowie das Werk „Vom ſinnlichen und noetiſchen Bewußt⸗
ſein“, das als III. Band der Brentanoſchen Pſychologie Bd. 207 der philoſophiſchen Bibliothek
(Meiner) ſoeben von mir aus dem Nachlaſſe herausgegeben und wie die anderen Bände mit einer
erg daher Einleitung und erläuternden Anmerkungen verſehen wurde.
äheres in meiner Einleitung zu Bd. III der Pſychologie und zur Neuauflage des „Urſprungs
1 Erkenntnis“, Bd. 55 der philoſophiſchen Bibliothek.
@upborion XXVIII. 32
498 Oskar Kraus
Huſſerl hat in feinen „logiſchen Unterſuchungen“ für dieſe Art der Pſycho⸗
logie den Namen „phänomenologiſche Pſychologie“ eingeführt; in feinen ſpä⸗
teren Schriften aber verwendet er den Namen „Phänomenologie“, der ſich ein⸗
gebürgert hat, nicht mehr für die deſkriptive Pſychologie, ſondern für die von ihm
vermeintlich entdeckte, mit, Einklammerung“ verbundene neue „ Weſensſchau“. Es
wäre ſomit im Intereſſe einer einheitlichen und unzweideutigen Terminologie
wünſchenswert, für die „deſkriptive Pſychologie“ entweder einfach dieſen Namen
beizubehalten oder den Namen der Phänomenognoſie oder „Pſychognoſie“ zu
wählen. Auch der von Dilthey gewählte Ausdruck „zergliedernde“ Pſychologie
iſt nicht unzutreffend. Dilthey hat in ſeiner Schrift „Ideen über eine beſchrei⸗
bende und zergliedernde Pſychologie“ aus dem Jahre 1894 dieſe Bezeichnung
für die früher auch introſpektive Pſychologie genannte Seelenforſchung ver⸗
wendet und fie von der kauſalerklärenden Pſychologie geſchieden. Dilthey war
ſich jedoch über den Umfang der introſpektiven Pſychologie nicht klar. Anders
Franz Brentano, der bereits im Jahre 1887/88 ein Kolleg über „deſkriptive
Pſychologie“ geleſen hat und im Jahre 1890 zum erſten Male unter dem Titel
„Pſychognoſie“ ). Nach Brentano fällt in das Gebiet der Introſpektion, d. h.
der unmittelbaren inneren Wahrnehmung, nur jener Bewußtſeinskomplex, den
man im ſtrengſten Sinne als gegenwärtig bezeichnen kann. Nicht der geringſte
Teil der Vergangenheit. Das von Brentano ſogenannte ſekundäre Bewußtſein
(die innere Wahrnehmung im engſten Sinne des Wortes) umfaßt das primäre
Bewußtſein (die primäre Intention) oder Beziehung ſamt dem ſekundären Be⸗
wußtſein, d. i. den ganzen ſogenannten Akt oder Zuſtand, aber eben nicht mehr
als den augenblicklich vorhandenen. Dilthey jedoch hat jenen Begriff der
„inneren Wahrnehmung“, wie ihn Brentano geprägt hat, mißverſtändlich über
das Gebiet des momentanen Erlebniſſes hinaus erweitert, indem er wähnte,
man nehme den Zuſammenhang des Seelenlebens als einen urſprünglich ge⸗
gebenen wahr. „Denn“, lehrt Dilthey, „in der inneren Erfahrung ſind auch die
Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen der einzelnen
Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben“ (vgl. Diltheys Gef. Schr.
5. Bd., S. 144 und wiederholt). Carl Bühler hat vor kurzem in den Kant⸗
Studien XXXI, Heft 4, und ſodann in der erweiterten Buchausgabe jenes
Artikels „Die Kriſe der Pſychologie“, Jena 1927, S. 110, anläßlich ſeiner
Polemik gegen Eduard Spranger, der bis zu einem gewiſſen Grade den Spuren
Diltheys folgt, darauf hingewieſen, daß ein Erlebniszuſammenhang nur in den
Fällen der Motivation, ſei es der emotionellen, ſei es der intellektuellen Moti⸗
vation (Schlußfolgerung) gegeben iſt. Außer Schopenhauer, der an einer Stelle
und nur von der Willens motivation annimmt, daß wir hier, hinter den Kuliſ⸗
ſen ſtehend, gewahren, wie die Urſache die Wirkung erzeuge, hat in neuerer Zeit
) Carl Stumpf bezeugt in feiner Abhandlung „Zur Einteilung der Wiſſenſchaften“, preuß.
Akad. d. Wiſſenſchaften, Berlin 1907, S. 63, daß Brentano mehrfach in feinen Wiener Vorleſungen
die Pſychologie als genaue Beſchreibung der ſtatiſchen Verflechtung geiſtiger Elementarfunktionen
durchgeführt hat, bemerkt aber gleichzeitig, daß die „elementaren pſychiſchen Strukturgeſetze“ von
altersher der bevorzugte Gegenſtand der introſpektiven Pſychologie find, da fie die Grundlage aller
weiteren pſychiſchen Forſchung bilden müſſen.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 499
niemand anderer als Franz Brentano auf dieſe und einige andere Fälle un⸗
mittelbaren Erlebniszuſammenhanges hingewieſen und zwar in der erwähnten
Schrift: „Vom Urſprung ſittlicher Erkenntnis“ (Erſtauflage 1889). In dem
Vorworte zählt Brentano dieſe Unterſuchungen zum „Gedankenkreiſe einer de⸗
ſkriptiven Pſychologie“. Da die von David Hume vermißte „impression“
des Urſachbegriffes von Brentano an derartigen Motivationsvorgängen, im
„Verſuche über die Erkenntnis“ (posthum ed. Kaſtil: phil. Bibl. Bd. 194) auch
an den Fällen der aus den Begriffen entſpringenden aprioriſchen Einſichten
und richtigen Wertungen aufgewieſen worden iſt, haben wir, nebenbei geſagt,
hier eine der in erkenntnistheoretiſcher Beziehung wichtigſten phänomenognoſti⸗
ſchen Tatſachen vor uns. Ich glaube darum, die Angabe Bühlers hier durch
dieſe philoſophiegeſchichtliche Feſtſtellung ergänzen zu ſollen, und dies um ſo
mehr, als Dilthey ſich den Gedanken Brentanos zu eigen gemacht hat und unter
die erlebten Zuſammenhänge den Fall begreift, „wenn etwa von den Prämiſſen
aus in uns ein Schlußſatz entſteht“ („Ideen“, S. 134). Man wird in der
Philoſophiegeſchichte der neueren Zeit vergeblich nach einem Autor ſuchen, der
dieſe Quelle unſeres Urſachbegriffes vor Brentano namhaft gemacht hat.
David Hume hat weder ſie noch die anderen von Brentano herangezogenen
Fälle berückſichtigt.
Die Vorgänge des Erwirkens einzelner Glieder des Seelenlebens liegen uns
alſo nur in den hervorgehobenen vier Fällen anſchaulich vor ) und für alles
andere Bewußtſeinsgeſchehen find fie uns völlig verborgen. Wenn Dilthey den
Satz von dem Erleben des Strukturzuſammenhanges und ſeines Erwirkens in
jener Allgemeinheit aufgeſtellt hat, ſo hat er hierin zweifellos geirrt. Schon
Ebbinghaus hat in ſeiner Erwiderung in der Zeitſchrift für Pſychologie IX,
261 —305 gegen Dilthey eingewendet, daß von einem ſolchen allgemein vor⸗
handenen Erleben des Strukturzuſammenhanges nicht die Rede ſein könne. In
dem Briefwechſel zwiſchen Dilthey und dem Grafen Porck v. Wartenburg ſucht
dieſer vergeblich jene „frechen“ Einwendungen von Ebbinghaus zu wider:
legen (). Wie über den Begriff der phänomenognoſtiſchen (beſchreibenden, zer⸗
gliedernden) Pſychologie fo hat Dilthey auch über den Begriff der erklärenden
Pſychologie nicht klar gedacht. Wenn er die „erklärende Pſychologie“ einmal aus
der Zergliederung der Wahrnehmung und Erinnerung entſtehen läßt (a. a. O.
S. 156) oder die Ableitung aus der in der inneren Erfahrung vorgefundenen
begrenzten Zahl von analytiſch gefundenen Elementen als ihr Weſen bezeichnet
(S. 158), dann wiederum die kauſale und pſycho-phyſiſche Erklärung in den
Vordergrund rückt, jo iſt dies nicht geeignet, ein deutliches Bild von den eigen-
tümlichen Aufgaben der „erklärenden Pſychologie“ gewinnen zu laſſen. Im
5) Nach Anton Marty („Raum und Zeit“ posthum ed. 1916) wäre der Begriff der Urſache
ſynthetiſch gebildet, und wenn dies — was freilich meines Erachtens in der Weiſe, wie Marty es
denkt, nicht möglich iſt — richtig wäre, würde überhaupt nichts von ſeeliſchen Kauſalzuſammen⸗
hängen uns anſchaulich gegeben ſein.
6) Vgl. Georg Stefansky, Euphorion Bd. XXVI, S. 109 130: Forſchungsbericht über
Diltheys Geſammelte Schriften.
500 Oskar Kraus
weſentlichen aber iſt es jedenfalls die kauſale und hauptſächlich pſycho⸗phyſiſche
Erklärung nach naturwiſſenſchaftlicher Methode, die Dilthey hierbei vorſchwebte;
Brentano bezeichnet fie als genetiſche Pſychologie, „fie belehrt uns“, fo heißt es
in Brentanos „Letzten Wünſchen für Sſterreich“ (bei Cotta 1895), „über die
Geſetze, nach welchen die Erſcheinungen kommen und ſchwinden. Da die Be⸗
dingungen wegen der unleugbaren Abhängigkeit der pſychiſchen Funktionen von
den Vorgängen im Nervenſyſtem großenteils phyſiologiſche ſind, ſo ſieht man,
wie hier die pſychologiſchen Unterſuchungen mit phyſiologiſchen ſich verflechten
müſſen.“
Erich Becher a. a. O. S. 39/40 meint nun freilich, daß die Unterſcheidung
beſchreibender und erklärender Wiſſenſchaften von denſelben Gegenſtänden „nur
eine ganz untergeordnete Rolle“ ſpiele. „Es handelt ſich hier — auch z. B. bei
der Unterſcheidung von beſchreibender und erklärender Pſychologie — eher um
verſchiedene, aber verbundene Aufgaben derſelben Wiſſenſchaft, als um verſchie⸗
dene Wiſſenſchaften: höchſtens kommt Untereinteilung einer Wiſſenſchaft in
Partialdiſziplinen in Betracht.“
In gewiſſer Hinſicht handelt es ſich jedoch bei allen Geiſteswiſſenſchaften um
dasſelbe „Objekt“, nämlich eben um den menſchlichen „Geiſt“, d. h. vor züg⸗
lich um die ſogenannten ſeeliſchen bewußten und unbewußten Eigenſchaften,
Zuſtände des Menſchen, um ihre Urſachen und Wirkungen (Werke,
Handlungen), allein je nach der begrifflichen Seite, der die Unterſuchung ſich
zuwendet, unterſcheidet man „Partialdiſziplinen“, denen man dann eben auch
verſchiedene „Objekte“ im Sinne von begrifflich erfaßbaren Momenten, Seiten,
Merkmalen jenes Dinges zuzuteilen pflegt. In dieſem Sinne hat dann die
Phänomenognoſie ihr eigenes „Objekt“, nämlich eben die oben gekennzeichnete
beſchreibende, klaſſifizierende, ſtrukturgeſetzliche Erforſchung des in die innere
Wahrnehmung Fallenden; wie ſchon Marty darlegte, iſt ſie die einzige reine
Geiſteswiſſenſchaft, da nichts Außerbewußtes fie beſchäftigt, während die kauſal
erklärende Pſychologie es mit dem phyſiologiſch bedingten „Kommen und
Dauern und Vergehen“ der Bewußtſeinszuſtände zu tun hat. Da nun zugleich
da und dort zum Teile verſchiedene Methoden Platz greifen, werden verſchie⸗
denen Zweigdiſziplinen — wie auch Becher hervorhebt — von verſchiedenen
Forſchern betrieben. Das Spezialobjekt der phänomenognoſtiſchen Diſziplinen hat
jedoch, wie wir noch ſehen werden, eine ganz eigenartige und bevorzugte Stel⸗
lung 7). Die genetiſche Pſychologie iſt, wie allgemein zugeſtanden wird, großen⸗
teils phyſiologiſche und pſycho-phyſiſche Pſychologie, die deſkriptive, phäno⸗
menognoſtiſche aber bedarf der Phyſiologie nicht oder nur in geringem Maße,
nämlich höchſtens inſoweit, als es phyſiologiſcher Kenntniſſe bedarf, um etwa im
Experiment die Bedingungen zur möglichſt iſolierten Beobachtung der ſeeliſchen
7) Vgl. zu allen dieſen Fragen: Anton Martys Rektoratsrede, „Was iſt Philoſophie“, ab-
gedruckt in den Geſammelten Schriften Bd. I, Halle 1916 - 1920 bei Max Niemeyer; auch die
Schrift von Joſef Eiſen meier, „Die zentrale Stellung der Pſychologie“, kann mit Nutzen
verglichen werden, obgleich dort der Eigenart der phänomenognoſtiſchen Pſychologie nicht voll
Genüge geſchieht. Beachtenswert auch Erismanns „Eigenart des Geiſtigen“.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 501
Vorgänge zu ſchaffen; dies wird wiederum vorzugsweiſe auf dem Gebiete der
Sinnespſychologie der Fall fein 8). a
Im übrigen ift die beſchreibende (zergliedernde, deſkriptive, phänomenognoſtiſche)
Bewußtſeinspſychologie, beſonders in ihren allgemeinen Lehren, ſobald nur
ihre Begriffsbeſtimmung von den Entgleiſungen Diltheys befreit iſt, wirklich
die Grundlage und unentbehrliche Vorausſetzung aller anderen pſychologiſchen,
philoſophiſchen und geiſteswiſſenſchaftlichen Diſziplinen und die Geiſteswiſſen⸗
ſchaft xe EEoyiv. Es iſt auch wohl leicht einzuſehen, daß man vorerft über
das „Was“ und „Wie“ der Bewußtſeinsvorgänge im klaren ſein muß, ehe
man daran gehen kann, auch das „Wodurch“ in Angriff zu nehmen. „Die Er⸗
klärung“, ſagt E. Becher, „ſtützt ſich auf die Beſchreibung.“ Hierbei muß man
allerdings beachten, daß die vorwiſſenſchaftliche phänomenognoſtiſche Piycho-
logie, alſo jene, die auch der Alltagsmenſch und pſychologiſche Laie beſitzt, einen
großen Schatz von Kenntniſſen und allgemeinen Einſichten aufgeſtapelt hat, ja
daß auch über die Geneſe, insbeſondere unſerer Affekte und Entſchlüſſe, wichtige
Kenntniſſe weit verbreitet ſind; nur ſo erklärt es ſich, daß nicht nur unter den
Dichtern, ſondern auch im ſchlichten Volke Menſchenkenntnis ſich nicht ſelten
vorfindet.
Zu den Fehlern, von denen die Diltheyſche Begriffsbeſtimmung befreit wer⸗
den muß, gehört ſchließlich außer den ſchon beſprochenen Irrtümern noch der
Glaube, daß die beſchreibende Pſychologie teleologiſche oder Zwed-
mäßigkeits zuſammenhänge unmittelbar erfaſſe. (Dilthey a. a. O. Bd. V,
S. 176, 238 und öfter.) Carl Stumpf hat in der zitierten Akademieabhandlung
hiegegen bereits Einſpruch erhoben. Es heißt dort S. 63: „Eine beſchreibende
Pſychologie verlangt Dilthey als Grundlage der Geiſteswiſſenſchaften (Einlei⸗
tung in die Geiſteswiſſenſchaften I, 1883, S. 41). Fr. Brentano, der in feinen
Wiener Vorleſungen mehrfach die Pſychologie mit dieſer Beſchränkung durch—
führte, nannte fie auch „Pſychologie'.. In unſeren Sitzungsberichten hat Dil-
they 1894 (S. 1309 f.) ihre Aufgaben erläutert. Unter dem pſychiſchen Struk⸗
turzuſammenhang' verſteht auch er?) Struktur geſetze zwiſchen den Teilen
oder Seiten des pſychiſchen Ganzen (S. 1346). Nur den Begriff eines teleolo⸗
giſchen' oder Zweckzuſammenhanges' möchte ich von dem des Strukturgeſetzes
im allgemeinen getrennt haben. Dieſen wende ich in gleicher Bedeutung auch
auf die materielle Welt an, ſelbſt auf die unorganiſche, ja auf die einem einzel-
nen Atom innewohnenden, es konſtiutierenden Kräfte, Affinitäten uſw., bei
denen ein Zweck⸗ oder Wertzuſammenhang nicht erſichtlich iſt und jedenfalls nur
auf ſehr indirektem Wege konſtatiert werden könnte“ 10).
9) Eine ganz beſondere Hilfe fließt der Phänomenognoſie von Seiten der Pſychopathologie im
weiteſten Sinne dieſes Wortes zu. Ausfallserſcheinungen und dergleichen können hier Aſſoziationen
und Komplexe auslöſen, deren Entwirrung der Analyſe des normalen Bewußtſeins unüberwindliche
Schwierigkeiten entgegenſetzt.
2) Von mir geſperrt, um deutlich zu machen, daß nach Stumpfs Überzeugung Brentano in der
Scheidung von beſchreibender und erklärender Pſychologie Dilthey vorangegangen ift.
10) Von mir geſperrt, um die Wichtigkeit dieſer methodiſchen Erkenntnis hervorzuheben. Te leo ⸗
logiſche Zuſammenhänge können ebenſowenig wie ſoziale durch innere Wahrnehmung oder durch
Intuition oder Weſensſchau feſtgeſtellt werden.
502 Oskar Kraus
So eingeſchränkt und berichtigt bleibt die Scheidung von deſkriptiver und
erklärender „genetiſcher“ Pſychologie einwandfrei. Die Bedeutung dieſer auf
innerer Wahrnehmung beruhenden Seelenanalyſe hat Dilthey erkannt und auch
an Beiſpielen dargelegt. Er war auch nicht im Zweifel darüber, daß gerade die
Geiſteswiſſenſchaften dort, wo es ſich um die Klärung ihrer Grundbegriffe
und Grundwahrheiten handelt, in erſter Linie der beſchreibenden Pſychologie
bedürfen. So hat er denn auch gegen die völlige Unabhängigkeit der Erkenntnis⸗
theorie von der Pſychologie argumentiert CV 147 ff.) und es gibt Stellen, die
das Verhältnis der deſkriptiven zur genetiſchen Pſychologie mit Brentano
übereinſtimmend formulieren. So z. B., wenn S. 153 geſagt wird: „Die er⸗
klärende Pſychologie erhielte in der beſchreibenden ein feſtes
deſkriptives Gerüſt, eine beſtimmte Terminologie, genaue
Analyſe und ein wichtiges Hilfsmittel der Kontrolle für
ihre hypothetiſchen Erklärungen“. —
Es iſt ſchon durch den innigen Kontakt von Stumpf und Dilthey, der ja
Stumpf für Berlin gewonnen hat, zweifellos, daß Dilthey mit der deſkrip⸗
tiven, analyſierenden Methode Brentanos 11) nicht nur durch deſſen Pſychologie
vom empiriſchen Standpunkte und „Urſprung ſittlicher Erkenntnis“, ſondern auch
durch ſonſtige Fühlungnahme bekanntgeworden iſt.
II.
Sprangers geiſteswiſſenſchaftliche Pſychologie. Die Teleologie des objektiven
Geiſtes.
Es iſt höchſt merkwürdig, zu ſehen, wie gerade der angeſehenſte unter den⸗
jenigen, die in bezug auf „verſtehende Pſychologie“ Dilthey folgen, Eduard
Spranger juſt jenen Teil der Lehre Diltheys preisgibt, der den wahren Kern
der beſchreibenden oder zergliedernden Pſychologie ausmacht.
Sie wird bei Spranger zur „zerſtören den Analyſe“. — Die ganze Art
und Weiſe, wie Spranger von der „zergliedernden Pſychologie“ redet, trägt das,
was Bentham einen, dislogiſtiſchen Charakter“ nennt. Er will ſie in ihrer Würde
möglichſt herabſetzen. Brentano ſelbſt hat wohl von einer „mikroſkopiſchen
Anatomie“ des Bewußtſeins geſprochen. Spranger vergleicht ſie mit der
„Viviſektion eines Froſches“, um die Abſcheu vor ihr zu vermehren.
Nach Spranger, auch nach W. Stern, hat die Pſychologie der Elemente nur
dann ein methodiſches Recht, wenn ſie die letzten unterſcheidbaren Inhalte
jedesmal!) in Beziehung auf die Teilſtrukturen (Einzelleiſtungen) und
über dieſe zuletzt auf die Totalſtruktur unterſucht. Sie iſt alſo von der Struktur-
pſychologie methodiſch abhängig und folgt ihr. „Vorſtellungen, Gefühle,
u) Vgl. auch Wilhelm Diltheys Geſammelte Schriften, 1923, V. Bd., Einleitung von
E. Miſch p. LXXIII., der allerdings die Verwandtſchaft von Diltheys und Brentanos Schei⸗
dung von genetiſcher und deſkriptiver Pſychologie als „Ausdruck der Zeit“ betrachtet, während ich
ſie im Texte durch unmittelbaren Einfluß Brentanos erkläre. Vgl. auch die Einleitung zu Her⸗
mann Lotzes Logik von E. Miſch p. XVI ff. über den Einfluß von Brentanos „phänomenaler
Pſychologie“ auf die zeitgenöſſiſche Philoſophie.
10 Von mir geſperrt.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 503
Wollensakte ſind ſowohl beim reinen Erkennen, wie beim techniſchen Geſtalten
oder beim äſthetiſchen Verhalten beteiligt. Aber jedesmal in einer eigenen,
beſonderen Verbindung. Man kann dies auch ſo ausdrücken: Vorſtellungen, Ge⸗
fühle, Begehrungen find an ſich ſinnloſes Material.“ (S. 9.)
So iſt denn die Definition der zergliedernden Pſychologie nach Spranger im
Grunde: zerſtörende Pſychologie an ſinnloſem Material. Hiemit iſt der Wahr⸗
heitskern der Diltheyſchen Auffaſſung entfernt. An einer Stelle, wo ihr Spranger
doch noch eine gewiſſe Exiſtenzberechtigung zuerkennt (S. 110), bezeichnet er es
als ihre Aufgabe, daß ſie „Erſcheinungen, die ſich als gleichartig erweiſen, mit
allgemeinen Namen benennt und dies zur immer feineren Beſchreibung erſt der
einfachen und dann der verwickelten Seelenerſcheinungen verwendet“. — Dadurch
iſt der Problemkreis der phänomenognoſtiſchen Pſychologie bei weitem nicht ab⸗
gegrenzt. Es handelt ſich vielmehr, wie oben auseinandergeſetzt wurde, auch
darum, die dem Bewußtſein eigentümlichen Strukturgeſetze feſtzuſtellen. — Es
iſt wohl wahr, „daß durch dieſe Arbeit nicht alles erſchöpft wird, was von der
Pſychologie zu leiſten iſt“, das haben ja Brentano und Dilthey durch die
Scheidung in beſchreibende und genetiſche Pſychologie ausdrücklich zugeſtanden.
Ja vom Standpunkte kauſaler Erklärung iſt die genetiſche Pſychologie in
gewiſſer Weiſe das letzte Ziel der Pſychologie, da fie ja das „Wodurch“ zu er⸗
forſchen beſtrebt iſt. Aber die deſkriptive Pſychologie wiederum iſt die unent⸗
behrliche Vorausſetzung jener kauſalen Forſchung, da man ja nicht wüßte, wonach
man fragt, wenn man nicht wüßte, hinſichtlich welcher Elemente des Bewußt⸗
ſeinskomplexes die Frage nach einem ſelbſtändigen Werden und Vergehen auf⸗
geworfen wird.
Spranger beruft ſich auf die „Pſychologie“ in Gottfried Kellers „Romeo und
Julie auf dem Dorfe“, die mit jener Form der Analyſe nichts zu tun habe!
Er überſieht alſo, daß dieſe von ihm ſelbſt unter Gänſefüßchen geſetzte Pſycho⸗
logie Kellers weder phänomenognoſtiſche noch genetiſche Pſychologie iſt, einfach
darum, weil ſie überhaupt keine Geſetzesforſchung iſt, keine wiſſenſchaftlichen,
ſondern künſtleriſche Zwecke verfolgt. Es gibt, wie oben geſagt, eine vorwiſſen⸗
ſchaftliche Pſychologie und dem Dichter genügt ſie in den meiſten Fällen. Er
braucht die pſychiſchen Geſetze und Regelmäßigkeiten, die er uns in Typen vor
Augen ſtellt nicht ſelbſt entdeckt zu haben und auch wenn er ſie ſelbſt endeckt hätte
(vgl. Thomas Mann, „Zauberberg“, ift fein Werk weder eine wiſſenſchaftliche
Abhandlung noch eine populäre Darſtellung. Künſtleriſche Ziele dominieren und
ſelbſt Verſtöße gegen die wiſſenſchaftliche Exaktheit (vgl. Ibſens „Geſpenſter“)
ſind ihnen nicht abträglich.
Spranger ſagt weiter: „Das geiſteswiſſenſchaftliche Denken geht alſo in der
Regel nicht bis in die letzten unterſcheidbaren Elemente zurück, ſondern bleibt
in einer höheren Begriffsſchicht ſtehen und nimmt den inneren Vorgang gleich
als ein ſinnbeſtimmtes Ganzes, das einer geiſtigen Geſamtſituation angehört
und von ihr aus feine Bedeutung empfängt. Man hat nie gehört, daß ein Dich⸗
ter Vorſtellungen, Gefühle und Begehrungen gemiſcht habe, um aus ihnen die
ſeeliſche Welt ſeiner Helden zu erzeugen.“ (S. 12.)
504 Oskar Kraus
Man hat wohl nie davon gehört, daß ein Dichtwerk ein geiſtes wiſſen⸗
ſchaftliches Werk ſei und der Dichter als ſolcher zu den Geiſteswiſſenſchaft⸗
lern gehöre! Man hat ferner auch nie davon gehört, daß irgendein geiſteswiſſen⸗
ſchaftlicher Forſcher Vorſtellungen, Gefühle und Begehrungen „gemiſcht“ habe,
um aus ihnen ſeeliſches Leben zu erzeugen, ſondern der phänomenognoſtiſche
Forſcher weiſt lediglich dieſe und andere Züge in dem ſeeliſchen Leben auf, ohne
zu behaupten, daß dieſes aus jenen gemiſcht ſei. Seine Hauptaufgabe bleibt,
die Art ihrer Beteiligung am Bewußtſein und ihre eigene Struktur zu er⸗
forſchen.
Das „geiſteswiſſenſchaftliche Denken“ hat nach Spranger den Vorgang gleich
als ein „ſinnbeſtimmtes Ganzes“ zu nehmen. „So einfach“, ſchreibt z. B.
Spranger S. 14, „wie Dilthey den Begriff der Struktur durchführt liegt das
Problem nicht.“ Die individuelle Seele iſt nämlich nach Spranger nicht nur wie
für Dilthey eine „immanente Teleologie“, ſie iſt vielmehr in einen noch weit
größeren Wertzuſammenhang verwoben, nämlich „in das geiſtige Leben oder
die objektive Kultur oder den Geiſt“. „Das empiriſche Ich findet ſich bereits
eingebettet in überindividuelle geiſtige Wertgebilde, die ſich in ihrer Exiſtenz
vom erlebenden Ich losgelöſt haben.“ 13) Was in dieſen und ähnlichen Wen⸗
dungen des Buches ausgedrückt wird, iſt nicht mehr als ein poetiſches Gleichnis.
S. 19 fährt Spranger fort: „Die Pſychologie der Elemente für ſich genom⸗
men, wenn ſie methodiſch ganz ſtreng verfährt, wäre ebenſo eine Wiſſenſchaft
von ſinnfreien Teilen wie die Naturwiſſenſchaft, die die Natur aus materiellen
IT) Iſt der Ausdruck „wir finden uns eingebettet in geiſtige Wertgebilde“ metaphoriſch zu ver⸗
ſtehen, welchen Sinn follen wir ihm beilegen? „Wertgebilde“ iſt an und für ſich ein ſinnloſes Wort-
gebilde, es fungiert lediglich ſynſemantiſch, mitbedeutend, es iſt kein Name. Es hat keine Bedeutung,
ſondern eine Funktion. Von ſolchen Worten, wie „Sinn“, „Wert“ und unzähligen anderen gram-
matiſchen Abſtraktis kann man mit Recht ſagen, ſie fänden ſich „eingebettet“ in gewiſſe
ſprachliche Gebilde, nämlich in Sätze und ganze Reden, die erſt dem einzelnen Worte zwar nicht
eine Bedeutung, aber eine mitbedeutende Funktion verleihen, die zum Sinne des Ganzen bei ⸗
trägt. Aber dieſe Erkenntnis kann nur durch jene zergliedernde Pſychologie gewonnen werden,
die Spranger „zerſtörend“ nennt. Ja zerſtörend iſt ſie, ſie zerſtört die luftigen Gebäude der
ſprachlichen Fiktionen. Friedrich Kainz (im Euphorion XXVIII, S. 172 ff.) rechnet
den Verdienſten der Geſtaltpſychologie auch die Erkenntnis zu, daß „im Sprachkomplex alles
anders wirke als in der Iſolation“. Er fügt hinzu: „Hier können die Ergebniſſe der Mauthner⸗
ſchen Sprachkritik herangezogen werden. Das Sprachverſtändnis geht vom Ganzen aus. Das Einzel⸗
wort wird erſt durch den Satz verſtändlich, der Satz erſt durch die Situation“ uſw. ufw. Weder
die Geſtaltpſychologie, noch Mauthners Sprachkritik haben hier in neuerer Zeit zuerſt den richtigen
Weg eingeſchlagen, ſondern Anton Martys „Urſprung der Sprache“ auf den Mautb⸗
ner ſelbſt verweiſt, und insbeſondere die Abhandlung „Uber das Verhältnis von Grammatik und
Logik“, in der Marty z. B. in § J ausführt: „Ich verſtehe unter Syntaxe jeden Fall, wo eine Ver⸗
bindung von Zeichen eine Bedeutung beſitzt, welche nicht die einfache Summe der
Bedeutungen der Elemente bildet, und wo eine Weiſe des Bedeutens auftritt, die
keine ſelbſtändige, ſondern ein Mitbedeuten iſt.“ Die Abhandlung erſchien 1893 (jetzt Geſammelte
Schriften bei Niemeyer, Halle, II. Bd., 2. Abt.), wiederholte aber hier nur die ſchon 1875 im
Urſprung der Sprache dargelegte Lehren. Vgl. daſelbſt S. 109. Aber ſchon die frühere Scheidung
in kategorematiſche und ſynkategorematiſche Zeichen zielte auf Verwandtes, fo daß die Hervorbebung
von Ganzen, die nicht die Summe ihrer Teile find — wie das obige Zitat beweiſt —,
nicht der „Geſtalttheorie“ eigentümlich iſt. Ihr eigentümlich iſt die Anwendung des Namens
„Geſtalt“ auf ſolche Ganze — eine terminologiſche Neuerung, die nicht empfehlenswert if,
weil der Name „Ganzes“ derartige Gebilde viel angemeſſener bezeichnet, während der Name „Ge⸗
ſtalt“ nur in ſehr übertragener Bedeutung gebraucht wird.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 505
Elementen aufbaut, aber ſo niemals zu einem Sinn — des Naturgeſchehens
gelangen kann. Erſt innerhalb einer Struktur empfangen die ſeeliſchen Ele⸗
mente eine Sinnbeziehung, wie die Teile eines Organismus zueinander in
Sinnbeziehungen ſtehen.“ Hiezu bemerke ich: Es kann nicht Aufgabe der vor⸗
ausſetzungsloſen Wiſſenſchaft ſein, von vornherein vorauszuſetzen, daß immer
und überall ein „Sinn“ vorliegen müſſe. Stumpf hat hier vergebens ſeine war⸗
nende Stimme erhoben. Spranger übertrifft hier Dilthey. Iſt es von vorn⸗
herein einleuchtend, daß Natur und Geiſt „ſinnvoll“ ſein müſſen? Iſt das ein
Axiom?
Iſt die „Teleologie“ des Seeliſchen und feine Eingliederung in ſoziale Zus
ſammenhänge etwas unmittelbar Geſichertes? Das einzige, was der voraus—
ſetzungsloſe Forſcher, der an keinerlei poſitiv religiöſe „Bewußtſeinslage“ ge—
bunden iſt, als Tatſache annehmen darf, iſt, daß ſowohl die phyſiſche als auch
die beſeelte Natur, ſowohl das Belebte als auch das Unbelebte vielfach uns
teleologiſch anmutet, eine Kollokation und Wirkungsweiſe zeigt, als ob dieſe
Ordnung eine Anordnung wäre. Dieſes „Als Ob“, dieſen „Anſchein“ gilt es zu
prüfen und zu zeigen, ob es ſich um bloßen Schein oder um Wirklichkeit handelt.
Die unbezweifelbaren Disteleologien dürfen hiebei nicht außer acht bleiben! In
der lebloſen und in der belebten Natur iſt jener Schein ſeit jeher beachtet und
zum Ausgangspunkt metaphyſiſcher Frageſtellung gemacht worden. In der An⸗
tike hinſichtlich des Makrokosmos, neueſtens hinſichtlich des Mikrokosmos, der
ſelbſt das Atom als planetariſches Gefüge zeigt. — Ob es ſich um wirkliche oder
nur um ſcheinbare Teleologie handelt iſt die höchſte Frage der Naturphiloſophie
und Metaphyſik. Dogmatismus wäre es, die Teleologie vorauszuſetzen. Aber
noch mehr! Was die ſozialen Gebilde, das geſellſchaftliche und kulturelle Leben
anlangt, ſo muß man, wenn man von Teleologie redet, hier zwei Bedeutungen
auseinanderhalten. Einmal kann man hier in ebendemſelben Sinne von Teleo—
logie ſprechen, wie in der belebten und unbelebten Natur: Gibt die Tatſache, daß
es ein ſtaatliches, rechtliches, religiöfes, wirtſchaftliches uſw. Leben gibt, Anlaß,
ein tranſzendentes Prinzip zu erſchließen, das dieſe Formen des Lebens gewollt
hat? Das iſt eine metaphyſiſche Frage 14). Oder man fragt nach einer Teleologie
in ganz anderem Sinne des Wortes! Vielfach nämlich vollzieht ſich das menſch⸗
liche Leben, Zuſammenleben und Schaffen in ſolcher Weiſe, daß es dem Beob—
achter ſcheinen muß, als ob dieſe Weiſe einer Verabredung, einem Plane oder
einem Befehle aller oder einiger der daran Beteiligten oder beteiligt Ge—
weſenen entſpringe und entſpräche. Man denke an das Staats- und Rechtsleben,
an Wirtſchaft, Geldweſen, Kredit und Kapitalismus, an Kunſtſtil, Religion, an
Sprache und Schrift. Der Glaube, daß jene Ordnungen irgendwelchen Anord—
nungen ihreEntſtehung und ihren Beſtand verdanken, wird dadurch gefördert, daß in
hiſtoriſcher Zeit bei manchen von ihnen tatſächlich Regelungen durch Verabredung,
Übereinkunft, Verordnung oder Geſetzgebung ſtattgefunden haben. — In dieſer
10) Es iſt zu beachten, daß ſchon die Konſtruktion des „Gottesbegriffes“ vorausſetzt, daß wir den
ſogenannten Begriff „des Wertvollen“ oder „Guten“ bereits gebildet haben, denn dieſer Begriff
geht in den Gottesbegriff ein.
506 Oskar Kraus
Beziehung iſt für Sprache, Sitte, Recht und Wirtſchaft, Religion, Kunſt und Kultur
von der Geſchichtsforſchung ſo manches aufgeklärt worden. Auch die prähiſto⸗
riſche Geſtaltung dieſer und verwandter geſellſchaftlicher Tatſachen iſt ihrer Auf⸗
klärung beträchtlich nähergekommen. Vieles iſt erforſcht worden, was geeignet
iſt, ſowohl das Teleologiſche als auch das Zweckwidrige an dieſen früher dem
Wirken des „Volksgeiſtes“ oder neueſtens dem Einfluß geheimnisvoller „über⸗
individueller“ Weſenheiten zugeſchriebenen Einrichtungen zu erklären. Ich
nenne nur beiſpielsweiſe für das Gebiet der Sprachbildung Anton Martys „Ur⸗
ſprung der Sprache“, für das Geldweſen Carl Mengers Forſchungen, für das
Rechtsleben Rudolf v. Iherings und Immanuel Beckers Hypotheſen, ich erin⸗
nere an das, was Lujo Brentano zur Entwicklungsgeſchichte des ſozialen Lebens
beigetragen hat, ebenſo an Franz Brentanos „Zukunft der Philoſophie“, worin
über Rechts⸗ und Staatsentwicklung Grundſätzliches ausgeführt iſt. Es ſollte
auch niemand behaupten, daß ſelbſt die ſog. „materialiſtiſche Geſchichtsauffaſ⸗
ſung“ und die Klaſſenkampftheorie, ſo unrichtig ihr extremer Standpunkt iſt,
jedes Wahrheitskernes entbehrt. Eine moderne Wiederauffriſchung der Theorie
Baſtiats von der harmonie économique und romantiſcher Spekulationen
ſcheint wenig am Platze. Vielmehr beſtätigt jede methodiſch richtige Unter⸗
ſuchung, was Anton Marty ſchon in ſeiner Schrift über die „Entwicklung
des Farbenſinnes“ feſtgeſtellt hat, daß die ſcheinbare Planmäßigkeit der ſozialen
Einrichtungen und der Kulturerſcheinungen nicht auf vorausſchauenden Plänen,
Beſchlüſſen oder Verabredungen einzelner oder einer Mehrheit beruht, ſondern
durch unzählige erfinderiſche Wollens- und Wahl⸗Akte der Individuen er:
klärt werden muß, von denen jedes nur beabſichtigte, ſein oder der Seinen un⸗
mittelbares eigenes Bedürfen oder Verlangen zu befriedigen, aber keines eine
Ahnung hatte von dem „Ganzen“, das nach Jahrhunderten oder Jahrtauſenden
aus ſeinen und unzähligen anderen Beiträgen entſtehen ſollte. Dieſe Ent⸗
ſtehungsweiſe durch Nachahmung und Ausleſe erklärt auch die zahlreichen und
kraſſen Disteleologien, die ſich in allen ſozialen Einrichtungen bemerkbar machen.
Worauf gehen ſie zurück? Im Weſentlichen auf zwei Umſtände: erſtens auf die
intellektuellen Mängel der Sprach-, Rechts⸗, Staats⸗ und Verkehrs⸗
bildner, die eben keinen Plan vor Augen hatten und haben konnten, der die
fernere Zukunft umfaßte, zweitens aber auf ihre nicht geringeren ethiſchen
Fehler, die weniger in der Sprache, als im Rechts-, Staats- und Wirtſchafts⸗
weſen ſchwere Disteleologien zur Folge haben. — Dieſe und ähnliche Annahmen
über die Entſtehung und Entwicklung unſerer Kultur und Unkultur ermöglichen
ein hiſtoriſches und geſchichtsphiloſophiſches, „geiſtesgeſchichtliches“ Verſtändnis.
Ich komme noch darauf zurück 1).
Es iſt logiſch unerlaubt an die Geiſteswiſſenſchaften, insbeſondere die Geiſtes⸗
geſchichte mit dem Dogma von der Sinnhaftigkeit = Teleologie („Wertbezogen⸗
heit“) der Kulturphänomene und Geiſtesprodukte heranzutreten. Roſen ſind
jene „Gebilde“ nicht, in die der überwiegende Teil der Menſchheit ſich „ein⸗
18) Vgl. meine Beſprechung von O. Spanns „Tote und lebendige Wiſſenſchaft“ in der fubeten-
deutſchen Zeitſchrift Hochſchulwiſſen IV (1927), Heft 6, S. I ff.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 507
gebettet“ findet. Will man ihre „Wertbezogenheit“ unterſuchen, ſo iſt es ge⸗
boten, ſich vorher über die Worte „Wert“ und „Wertbezogenheit“ Klarheit zu
verſchaffen. Keine andere Wiſſenſchaft kann fie bieten als die phänomeno⸗
gnoſtiſche Pſychologie. Sprangers „Lebensformen“ ſelbſt ſollen uns zeigen, daß
er ſegnen ſollte, was er verdammt.
III.
Das Wertproblem.
Das Problem der ſog. ſubjektiven und objektiven Werte beſpricht Spranger
auf S. 15 f. „Manche“, ſo heißt es dort, „ſind geneigt, nur das als wertvoll
anzuſehen, was tatſächlich gewertet wird. Dieſe Anſicht iſt aber nicht beſſer als
die Meinung, daß nur das wirklich ſei, was tatſächlich von den Sinnen wahr⸗
genommen werde. Auch die Fiktion, daß die gemeinſamen Wertungen aller
möglichen Menſchen (entſprechend: die Sinneswahrnehmung aller Menſchen)
das ſubjektive Korrelat zum objektiv Wertvollen (bzw. objektiv Wirklichen) ſeien,
vermag dieſen äußerſten Empirismus und Relativismus nicht zu retten. Denn
es iſt die Frage, ob dieſe zahlloſen Menſchen nun auch richtig werten.“
Dieſe Frageſtellung iſt ebenſo vollkommen korrekt, wie die vorangeſtellte Pa⸗
rallele zwiſchen logiſchem und axiologiſchem Relativismus: Weder die Richtigkeit
unſeres Urteilens noch die Richtigkeit unſerer Gemütstätigkeit, d.i. unſeres Wer⸗
tens und Vorziehens, kann durch Majorität verbürgt werden; aber nicht nur
dieſe Heteronomie iſt unfähig hiezu, auch die bloße Autonomie des Wer⸗
tens genügt nicht, wenn darunter eine jede beliebige Wertung verſtanden wird,
die irgendein „Selbſt“ vornimmt. Es iſt bedauerlich, daß Spranger die Parallele
zwiſchen intellektuellem und emotionellem Verhalten, zwiſchen Richtigkeit des
Urteils und Richtigkeit des Wertens am entſcheidenden Punkte abbricht! Was
ift es, wodurch wir ſicher find richtig zu urteilen? Gibt es da irgendeine In⸗
ftanz außer unſerem Bewußtſein, die wir als höchften Richter über wahr und
falſch anrufen können? Oder iſt es nicht abſolut ſicher, daß wir keinen anderen
Maßſtab haben als den unſeres eigenen Wahrheitsbewußtſeins, mit anderen
Worten die Einſichtigkeit, die Evidenz, die gewiſſe unſerer Urteile vor anderen
auszeichnet? In uns ſelbſt finden wir ein logiſches Normbewußtſein vor,
d. i. das einſichtige, erkennende Urteil. Der einſichtig urteilende Menſch iſt das
Maß aller Dinge, der ſeienden, daß ſie ſind, und der nichtſeienden, daß ſie nicht
ſind. — Das evidente Urteil iſt die Norm für wahr und falſch. Ganz analog bei
unſerem wertenden und vorziehenden Bewußtſein! Wie es evidente Urteile
gibt, ſo gibt es als richtig charakteriſierte Gemütstätigkeiten (Wertungen und
Bevorzugungen) und ſie ſind der letzte Maßſtab des emotionell Richtigen. —
Auch hier gibt es keine Inſtanz außerhalb unſeres Bewußtſeins, die uns über
das, was wir lieben ſollen, d. h. was zu lieben recht iſt, und was wir haſſen
ſollen, d. h. was zu fliehen recht iſt, belehrt.
Auf intellektuellem Gebiet, ebenſo wie auf emotionellem alſo: weder He⸗
teronomie, noch Autonomie, ſondern Orthonomie.
508 Oskar Kraus
Es gibt ein Normbewußtſein, ein logiſches und ein axiologiſches, ein norma⸗
tives Wahrheitsbewußtſein und ein normatives Wertbewußtſein.
Wie jenes Wahrheitsbewußtſein und dieſes Wertbewußtſein in gewiſſen
Fällen ſich als „als richtigcharakteriſiert“ kundgibt, hat Brentano in
ſeinem „Urſprung ſittlicher Erkenntnis“ und ſeinen ſonſtigen Werken und
Kollegien aufgewieſen. Von hier iſt die Lehre „vom richtigen Werten“ und Be⸗
vorzugen als Analogon des richtigen Urteilens in die Philoſophie Stumpfs und
Huſſerls, die ſich beide ausdrücklich auf Brentano berufen, eingedrungen; nach
langjährigem Widerſpruch hat 1911 auch Alexius Meinong ſich zu dieſer Lehre
bekannt (beim Philoſophenkongreß zu Bologna), von Huſſerl hat ſie Scheler
übernommen und in ſeiner „materialen Wertethik“ in eigentümlicher, vielfach
anzuzweifelnder Weiſe verwendet. In meinem Berichte über die „Grundlagen
der Wertlehre“ in den Jahrbüchern der Philoſophie 1914 (II. Band) iſt darüber
Ausführlicheres nachzuleſen. Die ganze Frageſtellung Sprangers, ob dieſe
zahlloſen Menſchen auchrichtig werten' deutet auf dieſelbe Quelle
hin. Man könnte verſucht ſein auch Windelbands und Rickerts Wertlehre als
Standpunkte zu bezeichnen, die ſich dem unſern nähern. Verwandter als jene bei⸗
den erſcheint jedenfalls Lotzes Lehre, inſofern dieſer „werterfaſſende Gefühle“
kennt, während Windelband und Rickert, wie ja auch von anderer Seite kritiſch
bemängelt worden iſt, Erkennen und Werten miteinander vermengen und
lehren, daß ein objektives Prinzip vom wertenden Subjekt aus nicht zu gewin⸗
nen iſt. So Rickert, „Der Begriff der Philoſophie“ im „Logos“ I. Dieſe Lehre
iſt nicht nur unrichtig, ſondern auch unkantiſch, was bei der hohen Verehrung, die
z. B. Windelband dem kantſchen Denken zollte, um ſo verwunderlicher iſt. In
der Richtung der kopernikaniſchen Wendung liegt ſie jedenfalls nicht!
Die Frageſtellung Sprangers, ob jene zahlloſen Menſchen denn auch richtig
werten, klingt an die Frageſtellung Brentanos an. — Aber wie ſteht es mit der
Antwort? S. 326 heißt es: „Die tatſächliche Struktur des Menſchen kann nicht
Maßſtab für die Rangordnung der Werte ſein. Er befindet ſich zu ihr immer in
einem durchaus ſubjektiv bedingten, perſpektiviſchen Verhältnis. Dieſe Subjek⸗
tivität iſt nur zu überwinden, wenn normative Geſetze anerkannt werden wie —
unter den gegebenen Bedingungen gewertet werden ſol l. Und das Sollen
ſtammt aus einer anderen Quelle als aus der die Pſychologie ſchöpft.“ Tiefe
Antwort, aus der Rickerts Denkweiſe zu ſprechen ſcheint, iſt der folgenden genau
parallel: „Die tatſächliche ſeeliſche Struktur des Menſchen kann nicht Maßſtab
für Wahrheit und Falſchheit ſeiner Urteile ſein. Er befindet ſich zu ihr immer
in einem durchaus ſubjektiv bedingten, perſpektiviſchen Verhältnis. Dieſe Sub⸗
jektivität iſt nur zu überwinden, wenn normative Geſetze anerkannt werden —
wie unter den gegebenen Bedingungen — geurteilt werden ſol l. Und das
logiſche Sollen ſtammt aus einer anderen Quelle als aus der die Pſychologie
ſchöpft.“
Ich erwidere auf eine derartige Argumentation zunächſt, was das Logiſche
betrifft: Der Ausdruck, die tatſächliche ſeeliſche Struktur“ iſt unklar; wenn dar⸗
unter gemeint iſt, daß nicht jeder Urteilsakt, den ich fälle, nicht jede meiner
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 509
Überzeugungen der Maßſtab für wahr und falſch fein kann, fo iſt dem zuzuſtim⸗
men. Ebenſo iſt nicht zu leugnen, daß „normative Geſetze“ anerkannt werden
müſſen, d. h. daß wir irgendwoher wiſſen müſſen, wie geurteilt werden ſoll.
Daß aber dieſes logiſche Sollen aus einer anderen Quelle ſtammt als aus der⸗
jenigen, aus der die Pſychologie ſchöpft, dieſer Gedanke iſt ſelbſt nach keinem
„normativen Geſetze“ einzuſehen.
Wann endlich wird der „Kritizismus“ ſoweit Frucht getragen haben, daß die
Philoſophie den wahren Kern der „kopernikaniſchen Wendung“ Kants erfaßt
und einzuſehen beginnt, daß die Urteilskritik aus keiner anderen Quelle
geſchöpft werden kann, als aus unſerem eigenen Inneren, daß nicht von irgend⸗
welchen heteron omen logiſchen Inſtanzen das logiſche Kriterium bezogen
werden kann? Daß nur der einſichtige, der evidente Urteilsakt, das iſt jener, der
ſich als erkennender Zuſtand von anderen intellektuellen Zuſtänden unter⸗
ſcheidet, das Maß für wahr und falſch abgibt? Daß mithin das logiſche Sollen
aus eben der Quelle geſchöpft wird wie alle ſeeliſche Erfahrung, wie alle phäno⸗
menognoſtiſche Pſychologie! Nicht der beliebig urteilende Menſch, wohl
aber der erkennende Menſch iſt das Maß aller Dinge, der ſeienden, daß ſie
find und der nichtſeienden, daß fie nicht find. — Die „Subjektivität“ S Rela⸗
tivität kann nur durch das einſichtig urteilende, erkennende Subjekt überwunden
werden. Und analog auf werttheoretiſchem Gebiete.
„Die tatſächliche ſeeliſche Struktur kann nicht Maßſtab für die Rangordnung
der Werte ſein“; wenn darunter gemeint iſt, daß nicht jede meiner Wertungen,
nicht jedes beliebige Lieben, Haſſen, Bevorzugen den Maßſtab liefern kann für
das, was man „gut“ und „ſchlecht“, „liebenswert“ und „haſſenswert“ nennt, fo
iſt der Satz richtig. Dieſe Subjektivität kann nur überwunden werden, wenn
normative Geſetze anerkannt werden. Aber dieſe normativen Geſetze, dieſes
Sollen, ſtammt doch nicht etwa aus irgendwelchen Geſetzestafeln, die ein anderes
Subjekt uns vor Augen hält! Das wäre Heteronomie. Es iſt nichts ſicherer,
als daß wir den Maßſtab dafür, ob wir „richtig werten“ oder unrichtig werten
und bevorzugen, in uns ſelbſt finden müſſen, daß er uns nicht von außen
oktroyiert werden kann! Kant hat — wie ſchon bemerkt — hier von Auto⸗
nomie geſprochen. Er hat darin Recht, daß es unſer Selbſt, unſer eigenes
Ich es iſt, dem wir die Norm des Richtigen entnehmen, aber eben deswegen,
weil es ſich um die Norm des Richtigen und Rechten handelt, iſt durch das Wort
„Orthonomie“, das ich gewählt habe, das Weſentliche angemeſſener be⸗
zeichnet. Es liegt das ſchlichte Faktum vor, daß gewiſſe Wertungen und Bevor⸗
zugungen als richtig charakteriſiert ſind, ſich unmittelbar als gerechtfertigt an⸗
zeigen. Nur der pſychiſchen Erſahrung ſind dieſe Bewußtſeinsvorgänge zugäng⸗
lich, nur die phänomenognoſtiſche Pſychologie vermag über fie im einzelnen
Rechenſchaft zu geben. Sagt doch Spranger ſelbſt S. 87: „Oder die Totalnorm
ſteigt als mein höchſtes geiſtiges Erzeugnis, als eigener echter Wertwille aus den
Tiefen meines individuellen Bewußtſeins empor.“ — Es iſt alſo nach Spranger
ſelbſt die Erfahrung des eigenen Bewußtſeins, die uns die Kenntnis der Norm
offenbart und fo kann es denn auch keine andere Forſchung als die pſychologiſche
510 Oskar Kraus
ſein, die uns eine klare und diſtinkte Erkenntnis dieſes Normbewußtſeins
vermittelt.
Was richtig iſt an Sprangers Ausführungen, entſtammt eben dieſer Quelle.
„Die Urſprungſtelle der kollektiven ethiſchen Werturteile und Normen iſt alſo
ſchließlich doch das Einzelbewußtſein, gleichviel, ob neue Maßſtäbe in vielen
zugleich oder in einzelnen durchbrechen“ (S. 307). So auch S. 308, 310, 346,
wo von „ethifchen Urakten“, vom „Sollenerlebnis“, „Werterlebnis“ geſprochen
wird. Seite 335 heißt es: „Unſere Unterſuchung ſcheint alſo ſehr negativ zu
enden. An Stelle der erhofften objektiven Rangordnung der Werte finden wir
nur immer mehr ſubjektive Faktoren, die eine Wertperſpektivik bedingen, und
immer mehr individualiſierende Faktoren an Stelle der eindeutig ewigen Ord⸗
nung. Von der objektiv⸗adäquaten Erfaſſung der allgemeinen Wertweſenheiten
wurden wir zu dem aktuellen Werterlebnis und ſeiner wechſelnden Intenſität
geführt; von den angeblich für ſich beſtehenden Werten zu dem erlebten Wert⸗
zuſammenhang, in dem der Gehalt der Werte verſchieden gelagert ſein kann.“
Somit weiſt Spranger nunmehr ſelbſt expresis verbis auf die Erlebnis⸗
pſychologie hin. Pſychologie iſt aber nicht weniger Pſychologie, wo ſie Wert⸗
erlebniſſe erforſcht, als wo ſie ſich anderen Bewußtſeinszuſtänden zuwendet.
Noch mehr! Im folgenden bringt Spranger eine Kritik, die, als ſie Brentano in
der „Klaſſifikation der pſychiſchen Phänomene“, 1911, vorbrachte, ihm den Vor⸗
wurf des „Pſychologismus“ zuzog. Die Stelle lautet: „Demgemäß iſt es Zeit,
jene methodiſche Fiktion vom ewigen Wertreich, das in ‚reinen’ Akten intentio⸗
nalen Fühlens, Vorziehens und Nachſetzens erfaßt würde, überhaupt aufzugeben.
Sie hat geleiſtet, was fie uns leiſten konnte, aber auch ihre innere Unmöͤglich—
keit erwieſen. Denn, was ſoll es heißen, daß die Werte an ſich in einem Reiche
der reinen Weſenheiten ruhen? Es kann für den Anhänger dieſer Auffaſſung
nicht einmal bedeuten, daß fie immer an den gleichen oder auch nur gattungs—
mäßig verwandten realen Gegenſtänden haften. Sie treten ja aber auch nur in
dem geiſtigen Lebensprozeß auf, der immer in eine Subjekt⸗Objektdualität ge⸗
ſpalten iſt. Sie können aus dieſem Prozeß nicht „herausgeſetzt' und „hypoſta⸗
ſiert' werden, ſondern ſie ſind und bleiben ſinnvolle organiſche Glieder allein in
dieſer Struktur.“ Wenn Spranger fortfährt: „Unſere Hypotheſe kann jetzt nur
noch ſein, daß in der Totalität des geiſtigen Lebens genau wie in den Sonder⸗
gebieten eine normative Geſetzlichkeit waltet, die ſich im Erlebnis als die Er⸗
fahrung von Höherſein und Niedrigerſein des Wertes, von Sollen und Hinter;
dem⸗Sollen⸗zurückbleiben darſtellt“, ſo hat er nur mit anderen, durchaus nicht
klareren Worten die Lehre von den Erfahrungen als berechtigt erkannter Bevor⸗
zugungen (Nachſetzungen) aus dem „Urſprung ſittlicher Erkenntnis“ und hier⸗
mit ein Kapitel deſkriptiver Pſychologie reproduziert. Ja die Polemik Sprangers
gegen die „Hypoſtaſierung“ eines Reiches der ewigen Werte, die Kennzeichnung
dieſer Art von „Phänomenologie“ als Fiktionalismus geht vollſtändig parallel
mit Brentanos Abhandlung „Von den wahren und fiktiven Objekten“ und
„Vom Pſychologismus“ aus dem Anhang zur Klaſſifiktion der pſychiſchen Phä⸗
nomene 1911, die in der Neuausgabe der Piychologie II. Band noch um weitere
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 511
kritiſche Eſſais vermehrt find. Wie ſich freilich dieſe phanomenognoſtiſchen Ein⸗
ſichten Sprangers mit dem Satze vertragen: „Aber dieſes Soll ſtammt aus einer
anderen Quelle, als aus der die Pſychologie ſchöpft“, bleibt unverſtändlich.
In feinem Kampfe gegen die Hppoſtaſierung „ewiger Werte“ verdient
Spranger Zuſtimmung, und dies um ſo mehr, als das, was man „Objektivität“
— „Allgemeingiltigkeit“, „Abſolutheit“ auf dem Wertgebiete nennt, mit dieſer
Ablehnung ſehr wohl zuſammen beſtehen kann. Wenn wir mit einer als richtig
charakteriſierten Bevorzugung die Schmerzverminderung — an und für ſich be⸗
trachtet — der Schmerzvermehrung vorziehen, ſo erkennen wir daraufhin, daß
unmöglich jemals jemand unſerer Bevorzugung zuwider und doch richtig be⸗
vorzugen kann. Und ſo ähnlich in allen anderen Fällen richtigen Wertens und
Bevorzugens. Und Analoges gilt, was die Wertung der Erkenntnis und der
Vorſtellungsbereicherung anlangt und die der edlen Gemütstätigkeiten und die
Bevorzugung ihrer Vermehrung gegenüber ihrer Verminderung — und was an
dergleichen Wertungs⸗ und Bevorzugungsprinzipien ſonſt noch hierher ge⸗
hören mag.
Das menſchliche Denken von jenen Hypoſtaſierungen endgültig zu befreien, da⸗
bei aber ontologiſche und axiologiſche Erkenntnis unverſehrt zu erhalten, iſt
die nächſte und dringendſte Aufgabe der Geiſteswiſſenſchaften und der Sprach⸗
kritik insbeſondere. An keine idealen Weſenheiten, keine Bedeutungen, „objektiv⸗
gegenſtändliche Sachverhalte“, „Wertverhalte“, „ewige Werte“, und an keine
anderen entia rationis und Irrealien werden wir zu glauben haben, ohne auch
nur das Geringſte von der ſogenannten „Objektivität“ und „Abſolutheit“, „All⸗
gemeingiltigkeit“ der Erkenntnis zu opfern 16). Ein jäher Abfall von jeder
„kopernikaniſchen Wendung“ iſt es aber, wenn nun Hans Freyer von den
modernen „Neorealiſten“ (Meinong, Huſſerl, Scheler, Ruſſel und andern) be⸗
ſtimmt, ausdrücklich die „objektive Wendung“ an ihre Stelle ſetzt, ohne
die Sprachkritik Brentanos auch nur mit einem Blicke zu beachten.
IV.
Die Perſönlichkeit. Verſtehen und Erklären.
So einfach die Unterſcheidung phänomenognoſtiſcher und kauſal erklärender
Pſychologie iſt, fo kompliziert und verworren iſt das Chaos der Verkennungen,
gegen die ſie und jede der beiden Forſchungsrichtungen verteidigt werden muß.
Auch über die Aufgaben und die Methode der induktiven, kauſalerklärenden
Individual⸗, Sozial⸗ und Kulturpſychologie herrſcht Unklarheit. Die erſte Ver⸗
kennung war jene von Seiten Diltheys, der ſie von der beſchreibenden nicht ſcharf
zu trennen wußte, und gewiß nicht die letzte, die von Seiten Litts, der offenbar
Scheler folgend, ſie „phänomenologiſch“ bewältigen zu können wähnt. So wäre
denn auch von vornherein zu ſcheiden geweſen der Begriff der Bewußtſeins⸗
ſtruktur, die phänomenognoſtiſch erforſcht wird, und der Perſönlichkeitsſtruktur,
die lediglich auf dem Wege der induktiven Hypotheſenbildung zugänglich wird,
10 Vgl. E. Miſch, Einleitung zu Lotzes Logik a. a. O.
512 Oskar Kraus
wobei die phänomenognoſtiſchen Erkenntniſſe nur den unumgänglichen Aus⸗
gangspunkt bilden.
Principiis obsta. An der Schwelle jeder Perſönlichkeits⸗Strukturforſchung
und Charakterologie muß der Wahn abgewehrt werden, als ob irgendwelche
„Evidenzen“ uns unmittelbar Charaktereigenſchaften erkennen ließen 17). Die
erſte Theſe, die aller charakterologiſchen Strukturforſchung zugrunde gelegt wer⸗
den muß, iſt die vollkommene Tranſzendenz des Charakters, der perſonalen un⸗
bewußten Perſönlichkeitsſtruktur, der fremden, insbeſondere auch der eigenen.
Das „Erkenne Dich ſelbſt“ iſt nicht nur in phänomenognoſtiſcher Hinſicht eine
der ſchwierigſten Aufgaben, ſondern auch in charakterologiſcher. Iſt es ſchwierig,
die Bewußtſeinsſtruktur, die ich anſchaulich konfuſe perzipiere, diſtinkt zu apper⸗
zipieren, ſo iſt es auch nicht leicht, die Struktur meines Unbewußten, die mir
tranſzendent iſt, hypothetiſch zu konſtruieren. Ja die eigene, wie man treffend
bemerkt hat, iſt ſchwieriger zu erkennen als die fremde. Ich ſpreche von Konſtruk⸗
tion. Denn weit entfernt, daß hier eine Struktur oder gar ein Strukturzuſam⸗
menhang wahrgenommen werde, betreten wir hier den Spielraum der Hypo⸗
theſe, der vernünftig⸗wahrſcheinlichen Annahmen. Es iſt gerade das Gegenteil
von dem richtig, was Schiller ſeinen Wallenſtein ſagen läßt: „Hab ich des
Menſchen Kern erſt unterſucht, ſo weiß ich auch ſein Wollen und ſein Handeln.“
Nein! Habe ich des Menſchen Handeln und Wollen unterſucht, ſo kenne ich auch
ſeinen Kern. Ich kann mir wenigſtens eine Annahme von gewiſſem Wahrſchein⸗
lichkeitsgrad über ihn bilden 19).
Dem hier Vorgebrachten liegt die Überzeugung von der univerſellen Not⸗
wendigkeit alles Seins und Geſchehens, daher auch des menſchlichen Wollens
und Wählens zugrunde. Mit Erich Becher geſprochen: die „Geſetzmäßigkeits⸗
vorausſetzung“. Daß alles notwendig iſt, und was nicht in ſich ſelbſt notwendig
iſt, durch etwas anderes notwendig erwirkt iſt, muß die gemeinſame Grun d⸗
vorausſetzung für alle erklärende Wiſſenſchaft bleiben; ſie war es zu
Platons und Ariſtoteles' Zeit und iſt es heute und für immer. Hier das Wie
ihrer Evidenz aufzudecken iſt unmöglich. Der philoſophiſche Wirrwarr unſerer
Zeit, die Unſicherheit betreffend das Sicherſte und längſt Erwieſene hat den
Zweifel an dem Geſetz der univerſellen Notwendigkeit und Kauſalität ſelbſt in
das Gebiet der Naturphiloſophie und Naturwiſſenſchaft übertragen; konnte mir
doch Born in einer Entgegnung auf meine Kritik der Relativitätstheorie
triumphierend entgegenhalten, daß durch die „neuefte Phyſik“ nicht nur Raum
und Zeit, ſondern auch die Kauſalität ins Schwanken geraten ſei !“).
17) Vgl. zu all dieſen Fragen Emil Utitz, „Charakterologie“ 1927 und das von ihm heraus
gegebene „Jahrbuch der Charakterologie“ 1924 1927, ſämtlich im Panverlag. Dann „Die
. Expreſſionismus“ desſelben Autors bei Ferdinand Enke 1927, insbeſonders
Teil I und III.
18) Vgl. meine Monographie über Albert Schweitzer im Panverlag 1926, meine Arbeiten zur
Strafrechtphiloſophie, insbeſondere „Das Recht zu ſtrafen“ 1911 bei Enke, Stuttgart, und „Über
den Begriff der Schuld ...“ in der Monatsſchrift für Kriminalpſychologie 1911.
10) Vgl. auch die Zeitſchrift „Forſchungen und Fortſchritte“, Korreſpondenzblatt der deutſchen
Wiſſenſchaft und Technik, Nummer 11, Ihg. 1927 „Die Grundprinzipien der Quantenmechanik“
v. Dr. W. Heiſenberg.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 513
Es iſt daher nicht zu verwundern, daß die Zweifel am Determinismus im
Gebiete des Seeliſchen nicht verſtummen wollen, da ja hier tatſächlich gewiſſe
metaphyſiſche und ethiſche Aporien ihre Löſung fordern, die denn auch längſt ge⸗
geben worden iſt. Es iſt aber unmöglich, die Apriorität des Geſetzes der uni⸗
verſellen Notwendigkeit und des Kauſalitätsgeſetzes jedesmal von neuem dar⸗
zutun, wenn man, ſei es in der Naturwiſſenſchaft, ſei es in der Geiſteswiſſen⸗
ſchaft oder einem Grenzgebiet von jenen Lehrſätzen Gebrauch macht. So tue ich
es denn auch hier nicht und ſetze ſie als ebenſo ſelbſtverſtändlich voraus, wie dies
jeder tun muß, der genetiſch erklären will.
Die Bedeutung dieſer Grundſätze erſieht man aus folgendem: Ein der Inten⸗
ſität nach gleicher Schmerz kann bei einer Folterung den minder Standhaften
zum Geſtändnis bewegen, während der Standhafte in ſeinem Schweigen ver⸗
harrt. Das verfchiedene ſeeliſche Verhalten iſt in dieſen Fällen nicht auf ver⸗
ſchiedene Bewußtſeinszuſtände zurückzuführen, ſondern auf verſchiedene im Un⸗
bewußten liegende ſeeliſche Perſönlichkeitsſtrukturen, „Konſtitutionen“; ſeit
altersher nennt man fie Charaktereigenſchaften, Dispoſitionen, Habitus, &e / g.
Dieſe im Unbewußten liegenden Strukturen (es bleibe dahingeſtellt, ob ſie rein
ſeeliſch oder pſycho⸗phyſiſch ſind) ſind die Miturſachen des Entſchluſſes, ſie ſind
nicht „bewußte Motive“, aber unbewußte determinierende Faktoren; ſie ſind es,
auf welche die ſogenannte „Widerſtandskraft“ gegen Verſuchungen zurückzu⸗
führen iſt. Überfieht man dieſen in der unbewußten Subjektivität begründeten
Determinationsfaktor, ſo hat der „Indeterminismus“ gewonnenes Spiel. Denn
er verweiſt mit Vorliebe darauf, daß zwei verſchiedene Perſonen, ja dieſelbe
Perſon zu verſchiedenen Zeiten, auf dasſelbe „Motiv“ verſchieden reagiert, wo⸗
bei unter „Motiv“ aber eben nur die aktuell bewußten Velleitäten,
Wünſche, Begierden verſtanden werden. Der Indeterminismus behandelt die
unbewußte Charakterſtruktur als nicht vorhanden und kann dann natürlich
leicht zeigen, daß auf verſchiedene „bewußte“ Motive verſchieden, d. h. frei von
Determination, geantwortet wird.
Zugleich aber ſieht man aus dem Geſagten, daß es ein Irrtum iſt zu glauben,
man „verſtünde“ die menſchlichen Handlungen und Entſchlüſſe, wenn man die
„Motive“ im Sinne der emotionellen, motivierenden Bewußtſeinszuſtände ver⸗
ſteht, d. h. kennt. Dieſe kann man verſtehen, d. h. kennen, inſofern man ſelbſt
ſpezifiſch gleiche Bewußtſeinszuſtände erlebt, aber das Z u ſtandekommen
des Willensentſchluſſes, ſeine unbewußten Determinationskomponenten bleiben
uns in ihrer Eigentümlichkeit verſchloſſen, fie find völlig tranſzendent. Wir
ſind hier bei dem ſogenannten Problem des „pſychologiſchen Verſtehens“ ange⸗
langt, das auf das Wort Diltheys zurückgeht: „Die Natur erklären wir, das
Seelenleben verſtehen wir“. Meines Erachtens iſt es nicht ſchwer zu verſtehen,
d. h. zu erkennen, daß man nur auf zwei Wegen mit Sicherheit dazu gelange
zu „verſtehen“, d. h. zu erkennen, was unter „Verſtehen“ zu verſtehen iſt. Der
erſte Weg iſt der, von den ſprachüblichen Funktionen des Wortes „Verſtehen“ in
ſeinen verſchiedenen Verwendungsmöglichkeiten auszugehen, und das gleiche bei
dem Worte „Erklären“ zu tun. Der andere Weg iſt dieſer: da es ſich zweifellos,
eupborion XXVIII. 33
514 Oskar Kraus
ſowohl wenn man von „Verſtehen“ als auch, wenn man von „Erklären“ ſpricht,
um irgendwelche Erkenntniſſe handelt, ſo muß eine Überſicht über die verſchie⸗
denen Arten der menſchlichen Erkenntnis und der Methoden, die zu ihr führen
(und Erkenntnis vorbereiten oder erſetzen) auch jene Methoden oder Erkennt⸗
nisarten enthalten, die man „Verſtehen“ nennt. Dasſelbe gilt natürlich auch
vom „Erklären“. Die beiden Wege müſſen, wenn ſie richtig ſind, zu gleichem Er⸗
gebnis führen. Der erſte Weg: „Von der mannigfachen Bedeutung des Ver⸗
ſtehens.“ Ich verſtehe eine Rede, wenn ſie für mich Anlaß wird, richtig zu er⸗
faſſen, was der Redende ausdrücken will 20). Ich ſage „richtig zu erfaſſen“ ſtatt
„Erkennen“, weil es ſich hierbei in der Regel nicht um ein wiſſenſchaftliches
oder evidentes Urteilen handelt, ſondern um gewohnheitsmäßige Erwartungen.
Dieſe gewohnheitsmäßige, inſtinktive Erwartung deſſen, der eine Sprache und
daher eine gewiſſe Rede verſteht, kommt nämlich meiſt zu demſelben Ergebnis,
zu dem eine Unterſuchung kommen würde, die auf wiſſenſchaftlichem Wege nach
einer Kauſalerklärung jenes Zeichenkomplexes ſuchen würde, aus dem ſie beſteht.
Dieſes „Verſtehen“ iſt praktiſch äquivalent einem kauſalen Erklären der Zeichen.
Die Erklärung liegt in einem Bewußtſeinszuſtand der zeichengebenden Perſon.
Daher kann Fauſt ſagen: „Umſonſt, daß trockenes Sinnen hier die heiligen
Zeichen mir erklärt.“ Sprechen aber iſt eine Art des Handelns und in ganz
analogem Sinne wie eine Rede verſteht oder mißverſteht man eine Handlungs⸗
weiſe oder ein äußeres Gehaben. Man hat es „verſtanden“, wenn man aus
ihm in richtiger Weiſe erklärende Schlüſſe zieht oder auch ohne logiſches Vor⸗
gehen inſtinktiv, gewohnheitsmäßig, blind zu richtigen Überzeugungen betref⸗
fend die Bewußtſeinsvorgänge, insbeſondere Entſchlüſſe, des Nebenmenſchen
gelangt, der jenes Verhalten an den Tag legt. Wie Sprechen, Verhalten und
Gehaben Zeichen ſein können, für ſeeliſches Leben, das jene Zeichen bewirkt und
wie jene Zeichen als durch ein gewiſſes Bewußtſein oder eine Bewußtſeinsfolge
bewirkt, verſtanden und erklärt werden, fo kann auch ein gewiſſes Be wußt⸗
ſein, das wir als vorhanden in der angedeuteten Weiſe „erkennen“, ſeinerſeits
Zeichen fein für gewiſſe un bewußte Perſönlichkeits⸗ und Seelenſtrukturen
jenes Individuums, dem die Bewußtſeinsvorgänge zukommen. Dieſe unbe⸗
wußten Perſönlichkeits⸗, Charakter⸗ und Seelenſtrukturen ſind uns in jedem
Falle tranſzendent, alſo auch dann, wenn die Bewußtſeinsvorgänge unſere
eigenen ſind.
Dieſe „verſtehende“ Pſychologie iſt genetiſch erklärende, charakterolo⸗
giſche, pſycho⸗phyſiſche Pſychologie (man denke an die Konſtitutionstypen). Sie
muß, um zu „verſtehen“, aus tranſzendenten Beſchaffenheiten erklären, aus
20) Mäher kann auf dieſe ſprachphiloſophiſche Frage hier nicht eingegangen werden. Ich verweiſe
auf Anton Martys „Unterfuhungen zur Grundlegung einer allgemeinen Grammatik und
Sprachphiloſophie“, auf meine Einleitung zu A. Martys „Geſammelte Schriften“ und dieſe ſelbſt,
auf Otto Funkes Buch über Martys „Innere Sprachform“, auf meine Einleitung zu Bren;
tanos Pſychologie I und auf deſſen Pſychologie II Anhang; endlich auf O. Kraus, „Die leitenden
Grundſätze der Geſetzes interpretation“ in Grünhuts Zeitſchrift für das private und öffentliche Recht
1905 und die dort dargelegte Unterſcheidung zwiſchen hiſtoriſcher und juriſtiſcher Inter⸗
pretation und auf Diltheys Entſtehung der Hermeneutik 1900 (Geſammelte Schriften Bd. V,
insbeſondere S. 332).
Beſchaffenheiten, Strukturen, die fie hypothetiſch konſtruiert, ganz analog wie
der Phyſiker zur Erklärung materieller Vorgänge ſeine Atommodelle erſinnt.
Geht man auf dieſe Weiſe vom Sprachverſtändnis zum Handlungs⸗ und Ge⸗
habensverſtändnis und endlich zum Bewußtſeinsverſtändnis über, ſo ſieht man
ganz deutlich, daß es ſich jedesmal um ein hypothetiſch⸗konſtruierendes Zeichen⸗
oder Symptomverſtändnis handelt, alſo merkwürdigerweiſe gerade darum, was
Dilthey nicht als verſtehende Pſychologie gelten laſſen wollte. Hierbei iſt es
wohl zu beachten, daß unſer Bewußtſein ein Komplex von ſinnlichen und
noetiſchen Vorgängen iſt, und daß, wie Lindworsky richtig hervorhebt, dieſinn⸗
lichen Zuſtände (Sehen, Hören, Spüren) eine pfychologiſche Erklärung nicht nur
zulaſſen, ſondern fordern und aufdrängen, während dies bei den noetiſchen
Zuſtänden nicht in gleicher Weiſe der Fall iſt, ſo daß bei dieſen „ein gewiſſes
übergewicht des Pfſychiſchen“ zu beſtehen ſcheint, wie bei jenen ein „Übers
gewicht des Phyſiologiſch⸗Phyſiſchen“. „Wohl gibt es Störungen des Erken⸗
nens und Wollens infolge organiſcher Verletzungen, ſie laſſen ſich aber unge⸗
zwungen daraus verſtändlich machen, daß eben die Vorausſetzungen
beider Akte, nicht dieſe ſelbſt angegriffen find“ (Lindworsky S. 38 feiner „Theo⸗
retiſchen Pſychologie“). Dies könnte richtig fein, ohne daß die Bedeutung der
phyſiologiſchen Konſtitutionstypen, die dann zu den „Vorausſetzungen“ zu
zählen wären, geleugnet werden müßte. Lindworsky ſcheint mir jedoch mit
dieſer vielleicht nicht unwichtigen Unterſcheidung eine andere wichtige, aber
phänomenognoſtiſche, zu vermengen, nämlich die Scheidung in Zuſtände, die
wir verſtehen, infofern fie ſelbſt verſtehende, d. h. einſichtige find (3. B. die Er⸗
kenntnis 171 = 2) und ſolche, die kein „Verſtehen“ find (vgl. S. 37), wie
3. B. die Empfindungen, die Schmerzaffekte und andere ſinnliche Akte, die
eben nicht einſichtig ſind. Dieſe Vermengung wird dadurch erleichtert, daß die
einſichtigen, verſtehenden Zuſtände dem noetifchen, die anderen dem Empfin⸗
dungsleben angehören. Es gibt aber unter den noetiſchen Akten ſolche, die nicht
einſehende ſind, wie z. B. alle Irrtümer und fehlhaften Gemütsentſcheidungen,
die wir begehen.
Jener Sinn, der Lindworsky bei dem eben erwähnten Gebrauche des Wortes
„Verſtehen“ vorſchwebt, iſt nun abermals eine neue Bedeutung des Wortes,
und zwar eine, die von außerordentlicher Wichtigkeit für das menſchliche Geiſtes⸗
leben iſt: „Verſtehen“ im Sinne von „Einſehen“, a priori ex terminis Er⸗
kennen, ein Aufleuchten allgemeiner apodiktiſcher Einſichten. Es gibt nun
— wie wir ſchon wiſſen — auch ein ſolches Verſtehen, d. h. ein aprioriſch⸗
apodiktiſches Erkennen 21), das ſich auf das Bewußtſein ſelbſt bezieht. Die
phänomenognoſtiſche Pſychologie ſtrebt ſolche Erkenntniſſe an, wie bereits oben
und anderwärts ausführlich gezeigt worden iſt. Es gibt a priori verſtändliche
Strukturgeſetze des Bewußtſeins. Dieſes eben behandelte Verſtehen ſetzt aber
wiederum voraus, daß die Spezies der betreffenden Bewußtſeinszuſtände
von uns ſelbſt erlebt wurden, daß ſie in unſere innere Wahrnehmung oder Er⸗
22) Vgl. Brentanos Pſychologie I—III in Meiners philoſophiſcher Bibliothek ed. Kraus.
516 Oskar Kraus
fahrung fallen oder fielen. Da, wie ſchon Ariſtoteles wußte und Brentano
neuerlich nachgewieſen hat, unſere Bewußtſeinsvorgänge uns niemals in indi⸗
vidueller Beſtimmtheit vorliegen — wie wäre ſonſt, um nur eines zu erwähnen,
der Streit über die geiſtige oder körperliche Natur unſeres Bewußtſeinsſub⸗
jektes möglich? — ſo gewinnen wir aus unſeren eigenen Bewußtſeinszu⸗
ſtänden allgemeine Begriffe, die unverändert, nicht etwa bloß analog, auf
fremdes Seelenleben anwendbar ſind, und inſofern verſtehen wir fremden
Schmerz, fremde Luſt, fremdes Sehen, Hören, Denken, Wollen.
Betreten wir den zweiten Weg, um zum Verſtehen des pſychologiſchen
„Verſtehens“ zu gelangen, ſo hat ſchon Dilthey bemerkt, daß es unter den All⸗
gemeinbegriff des Erkennens falle. Ebenſo unbeſtreitbar aber gibt es zwei
Arten des Erkennens, die Leibniz als Vernunfterkenntnis und Tatſachen⸗
erkenntnis (verit& de raison und de fait) bezeichnet hat. Die einzige Quelle
der unmittelbaren Tatſachenwahrheiten iſt die innere Erfahrung und Apper⸗
zeption. Wir haben ſoeben von ihr geſprochen. Die andere Erkenntnisart iſt die
aus den Begriffen einleuchtende („aprioriſche“) apodiktiſche Erkenntnisweiſe.
Aus einer von beiden oder aus einer Kombination von beiden, das iſt auf
Induktion — die auf aprioriſchen Einſichten, z. B. dem Kauſalgeſetz, auf Wahr⸗
ſcheinlichkeitsrechnung und Erfahrung beruht —, beſtehen alle unſere Erkennt⸗
niswege. Nichts anderes als eine ſolche Kombination iſt auch das oben be⸗
ſprochene Verſtehen von Werken, Zeichen, Gehaben, Handeln, Sprechen, aber
auch das Verſtehen des Bewußtſeinsverlaufes aus dem Charakter, falls es
nicht ein blindes, gewohnheitsmäßiges oder inſtinktives Vertrauen, ſondern
ein logiſch berechtigtes Erkennen ſein ſoll. A priori, d. h. aus Begriffen un⸗
mittelbar einleuchtend, iſt das phänomenognoſtiſche („phänomenologiſche“)
Erkennen auf Grund der Begriffe der inneren Wahrnehmung und Apperzep⸗
tion. Man überblicke die beſprochenen mannigfachen Bedeutungen des „Ver⸗
ſtehens“ und die verſchiedenen Bedeutungen des „Erkennens“ und man wird
ſehen: So viele Weiſen des Erkennens es gibt, ſo viele Arten des Verſtehens
gibt es. Es iſt demnach gänzlich überflüſſig, ja unmöglich, eine Verſtehenstheorie
aufzuſtellen, die nicht Erkenntnistheorie wäre, jene geht völlig in dieſer auf.
Niemals wird man erkennen, was Verſtehen iſt, wenn man nicht verſteht, daß es
ein Erkennen iſt.
V.
Die Methode der Geiſteswiſſenſchaſten.
Neben der reinen Geiſteswiſſenſchaft der Phänomenognoſie gibt es, wie wir
geſehen haben, eine pſycho⸗phyſiſche — phyſiologiſche —, das Bewußtſein
kauſal erklärende Pſychologie, neben dieſen beiden aber kann man drittens,
wenn man will, eine phyſiko⸗pſychiſche Pſychologie unterſcheiden, jene
nämlich, die Tatſachen und Veränderungen der phyſiſchen Außenwelt durch Be⸗
wußtſeinstatſachen, d. h. als ihre Wirkungen und als ihre gewollten Erzeug⸗
niſſe erklärt. Letzten Endes iſt freilich auch dieſe nichts anderes als eine
genetiſche Erklärung unferer ſeeliſchen Erlebniſſe, die uns an jene
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 517
Veränderungen oder Tatſachen der Außenwelt (unſeren Leib mit einbegriffen)
glauben laſſen!
„Die Geiſteswiſſenſchaften finden ihr Material und ihre Probleme überall
da, wo Gebilde und Veränderungen der äußeren Welt als Ausdruck menſchlichen
Lebens aufgefaßt werden können.“ Mit dieſen Worten beginnt Hans Freyer
ſein viel beachtetes Werk „Theorie des objektiven Geiſtes“. An dieſem Satze iſt
zu bemängeln, daß er den Begriff der Geiſteswiſſenſchaft inſofern zu
enge faßt, als gerade die einzige reine Geiſteswiſſenſchaft, die Phäno⸗
menognoſie, die von den phyſiſch unfaßbaren Gebilden der inneren gei⸗
ſtigen Welt ausgeht, ausgeſchloſſen erſcheint, und mit ihr dann auch die
genetiſch⸗erklärende pſycho⸗phyſiſche Pſychologie. Als Geiſteswiſſenſchaft gilt
dem Verfaſſer nur die Wiſſenſchaft von dem „objektiven Geiſt“, d. i. in
minder verfänglicher Ausdrucksweiſe: die Wiſſenſchaft von dem „objekti⸗
vierten Geiſte“, d. h. von den menſchlichen Werken und Kulturhandlungen.
Ob jedoch gewiſſe „Gebilde und Veränderungen der äußern Welt“ als Aus⸗
druck menſchlichen Lebens aufgefaßt werden dürfen, iſt eine Frage, die keinen
anderen Charakter hat als irgendeine Frage der Naturwiſſenſchaften. Ja ſie iſt
in gewiſſen Fällen ebenſo eine Frage, die der Naturforſcher ſich ſtellt als eine,
die der Kulturforſcher vor Augen hat. Eine noch völlig unbekannte „Kunſtform
der Natur“ kann jedem von beiden das Problem vorlegen, ob es ſich eben um
eine ſolche, oder um ein Gebilde von Menſchenhand, um „objektivierten Geiſt“
handelt. Engen wir jenen Ausſpruch Freyers auf die „Kulturwiſſenſchaften“
ein, ſo wäre ihm zuzuſtimmen, wenn nur die philoſophierenden Soziologen
und Kulturforſcher unſerer Tage darüber richtig dächten, wie wir in logiſch
(methodiſch) berechtigter Weiſe dazu gelangen „ein Gebilde oder eine Verände⸗
rung der äußern Welt als Ausdruck menſchlichen Lebens aufzufaſſen“? — Es
ſollte uns doch die erkenntnistheoretiſche Beſinnung nicht ganz verlaſſen, und
darüber kein Zweifel obwalten, daß die Grundhypotheſe aller Natur- und Kultur-
wiſſenſchaft, nämlich die Annahme einer Außenwelt überhaupt, bereits eine ledig⸗
lich induktiv zu ſichernde und geſicherte Hypotheſe iſt! Wir fordern nicht,
daß der Beweis jedesmal neu erbracht werde, wir fordern aber, daß man ſich
deſſen bewußt bleibe. Erſt auf Grund der Sicherung jener und der Abweiſung
der ſolipſiſtiſchen Hypotheſe kann die Frage in Angriff genommen werden, ob
ein Ding der ſo geſicherten Außenwelt ein Natur⸗ oder Kulturding ſei? Auf
welchem Wege? Laplace hat in feinem „essai philosophique sur la probabilité“
(Überſetzung von Norbert Schwaiger 1866, S. 174) die Antwort gegeben: „Ins
duktion, Analogie, auf Tatſachen gegründete und unabläſſig durch neue Beob-
achtungen richtig geſtellte Hypotheſen, ein angeborener glücklicher
wiſſenſchaftlicher Takt, der durch zahlreiche Vergleiche feiner Winke mit der Er⸗
fahrung gereift iſt; das ſind die hauptſächlichſten Mittel, zur Wahrheit zu ge⸗
langen.“ Man huldigt aber leider neueſtens dem unheilvollen Wahne, nicht mehr
auf dieſem Wege, ſondern, ſei es durch eine myſtiſche, ſoziologiſche „Phäno⸗
menologie“ oder eine neue „Dialektik“ oder gar durch ein Zwittergebilde dieſer
methodologiſchen Abwege das Ziel zu erreichen. Ich behaupte demgegenüber, daß
518 Oskar Kraus, Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie
SGS ———— . —————— ——————— — — — —
fein einziger Fall geſicherten Wiſſens innerhalb der Kultur- und Geſellſchafts⸗
forſchung wird aufgewieſen werden können, der nicht nach jener Methode ge⸗
funden wurde, die Laplace anläßlich ſeines VI. Prinzipes erörtert: „Wenn wir
dort, wo wir Symmetrie bemerken nach einer Urſache forfchen, fo glauben
wir nicht etwa, daß ein ſymmetriſches Gebilde weniger möglich ſei, als ein nicht⸗
ſymmetriſches: aber, da nun einmal dieſe Tatſache entweder die Wirkung einer
regelmäßigen Urſache oder die des Zufalls ſein muß, ſo iſt die erſte dieſer An⸗
ſichten wahrſcheinlicher als die zweite. Wir ſehen z. B. Lettern zu dem Worte
Konſtantinopel zuſammengeſtellt und wir betrachten dieſe Gebilde nicht als die
Wirkung des Zufalls, nicht darum, weil ſie weniger möglich iſt als die anderen,
da, wenn dieſes Wort in keiner Sprache verwendet würde, wir ihm auch nicht
eine beſondere Urſache unterlegen würden; aber nachdem dieſes Wort in Gebrauch
iſt, ſo iſt es unvergleichlich wahrſcheinlicher, daß irgendeine Perſon jene Lettern
ſo angeordnet haben wird, als daß dieſe Anordnung nur dem Zufall zuzu⸗
ſchreiben iſt.“ — Dieſer Auseinanderſetzung geht die Darlegung jenes VI. Prin⸗
zipes der Wahrſcheinlichkeitsrechnung voraus, das für die Kulturwiſſenſchaften
und die Geſchichtswiſſenſchaften von größter Bedeutung iſt, und beſonders
deutlich zeigt, daß die „Wahrſcheinlichkeitsrechnung“ im Grunde nur der der
Berechnung unterworfene geſunde Menſchenverſtand iſt. War dies der einzig
mögliche wiſſenſchaftliche Weg, um im allgemeinen „Gebilde und Verände⸗
rungen der äußern Welt als Ausdruck menſchlichen Lebens aufzufaſſen“, ſo iſt
ſelbſtverſtändlich die Deutung im Einzelfall eben nichts als eine beſondere An⸗
wendung dieſer Methode der Hypotheſenbildung. — Hierbei bildet allerdings
die phänomenognoſtiſche Pſychologie wegen der Allgemeinheit ihrer Ergebniſſe
nicht nur die Erfahrungsgrundlage, ſondern auch die Grundlage zur Gewinnung
aprioriſcher Strukturgeſetze des Bewußtſeins, die bei jener Hypotheſenbildung
verwendet werden.
Jene Wiſſenſchaft, die Freyer und andere als allein des Namens „Geiſtes⸗
wiſſenſchaft“ für würdig halten, iſt eine Wiſſenſchaft, die von irgendwelchen
Feſtſtellungen phyſiſcher Gebilde vermittels Wahrſcheinlichkeitserwägungen auf
ſeeliſches Leben und auf Bewußtſeinszuſtände ſchließt, die in jenen Gebilden
ihren Ausdruck gefunden haben, oder die Zeichen für jenes find. Ihr Aus—
gangspunkt iſt das eigene Be wußtſein, das von jenen Gebilden Kunde er⸗
hält, ihr Ziel die Erkenntnis jenes fremden Bewußtſeins und jener Pers
ſönlichkeiten, die als wirkende oder mitwirkende Urſache jener Gebilde zu be⸗
trachten ſind. Da aber jener Ausgangspunkt allen Erfahrungswiſſenſchaften
gemein iſt, ſo liegt die ſpezifiſche Differenz in dem ſpezifiſchen Forſchungs⸗
gegenſtand, das ſind die in der menſchlichen bewußten und unbewußten Perſön⸗
lichkeitsſtruktur liegenden Urſachen.
„Induktion, Analogie, Beobachtung, wiſſenſchaftlicher Takt ſind ihre For⸗
ſchungsmittel“; aber die Phänomenognoſie oder Phänomenologie in dem oben
begrenzten Umfange geſellt ſich bei der geiſteswiſſenſchaftlichen Forſchung hinzu,
weil dort, wo wir menſchliches Bewußtſein induktiv erſchließen, unſere menſch⸗
lichen ſtrukturellen phänomenognoſtiſchen Bewußtſeinsgeſetze ohne weiteres an⸗
A. Freſenius T, Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 519
wendbar ſind. Noch ein letzter Hinweis mag das Geſagte beſtätigen. Für den
Naturphiloſophen und Metaphyſiker kehrt — wie oben gezeigt wurde — die
Frageſtellung jener „Geiſteswiſſenſchaften“ in höherer Region wieder: Er fragt,
ob die Gebilde und Veränderungen der „äußeren Welt“, ebenſo freilich auch die
der „innern Welt“, als Ausdruck eines geiſtigen, ſchöpferiſchen, teleologiſch wir⸗
kenden Urprinzipes und Urlebens aufgefaßt werden dürfen oder nicht? — Und
hiermit wandelt ſich die Naturwiſſenſchaft zur Naturphiloſophie und mit dieſer
Wandlung ſogleich zur Geiſtesphiloſophie in jenem höchſten Sinne dieſes
Wortes, der die Frage nach dem göttlichen Geiſte in ſich begreift. Daß keine
aprioriſche, phänomenologiſche Weſensſchau hier zum Ziele führt, das dürfte
und follte feit der Zerſtörung des ontologiſchen Argumentes 22) doch unbeſtritten
bleiben. Der Weg der Hypotheſenbildung vermittels Induktion und Analogie
(vgl. Brentanos Verſuch über die Erkenntnis) iſt der einzig logiſch zuläſſige,
auch bei der Bildung der Hypotheſe eines göttlichen Geiſtes. Und ſo bleibt es
dabei, daß keine Wiſſenſchaft außer der reinen Mathematik und der reinen
Phänomenognoſie eine andere als die induktive Methode der Hypotheſenbildung
je mit Erfolg benützt hat, noch je mit Erfolg benützen wird: wobei den Geiſtes⸗
wiſſenſchaften die phänomenognoſtiſchen, den Naturwiſſen⸗
ſchaften die mathematiſchen Geſetzeserkenntniſſe als aprioriſches Ele⸗
ment vorzügliche Dienſte leiſten.
Was die Meinung erweckt, als ob es bei den Kulturwiſſenſchaften ohne In⸗
duktion abgehe und „Intuition“, „Weſensſchau“ an die Stelle trete, dürfte auf
zwei Momente zurückzuführen ſein; einmal kann der Ausſpruch von Laplace
auch anders gewendet werden, und es darf geſagt werden, daß der geſunde
Menſchenverſtand, den der Geſchichts⸗ und Kulturforſcher gebraucht, eine der Be⸗
rechnung nicht unterzogene fortlaufende Wahrſcheinlichkeitserwägung ſei, dann
aber iſt es die ununterbrochene Anwendung gewiſſer allgemein verbreiteter
phänomenognoſtiſcher Erkenntniſſe, die jenen Irrtum begünſtigt ??).
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts.
Von Auguſt Freſenius Tin Wiesbaden.
Auguſt Freſenius hatte eine Ausgabe der älteſten Erzählungen Wielands für
die „Deutſchen Literaturdenkmale“ vorbereitet, mit ſeiner unvergleichlichen Sorgfalt
und das Feinſte beachtenden Umſicht. Da er über die beſte Einrichtung des ſchwierigen
Lesartenverzeichniſſes nicht ſchlüſſig werden konnte, blieb ſie leider liegen, zumal bald
andere Pflichten ihn feſſelten. Aber die hier vorliegende Einleitung war 1885 fertig
abgeſchloſſen. Für die Güte der Arbeit zeugt, daß ſie auch heute noch durchaus ſelb⸗
ſtändigen Wert hat, weil ſie die Entwicklung der Erzählungsliteratur in der Mitte des
18. Jahrhunderts neu ausdeutet. Was auf die Umgeſtaltungen des Textes Bezug
nimmt, wurde zurückgelegt; einige Zitate waren auf jüngere Ausgaben umzuſtellen.
1 Bernhard Seuffert (Graz).
23) Vgl. meinen Eſſai über Spinoza, Eupborion XXVIII. S. 161— 172.
23) Vgl. Wilhelm Bauers vortreffliche „Einführung in das Studium der Geſchichte“, Tü⸗
dingen 1921.
520 Auguft Freſenius 7
Wieland war achtzehn und ein halbes Jahr alt als er ſchon, halb ſcherzhaft
freilich, die Beſorgnis äußerte, gar zu fruchtbar zu erſcheinen. Am 6. März
1752 bei Überfendung der „Moraliſchen Briefe“ ſchrieb er an Bodmer (Aus⸗
gewählte Briefe 1, 45): „Was werden meine Freunde davon denken, daß ich
alle Meſſen im Druck zu erſcheinen anfange? Doch nur getroſt! ich werde bald
aufhören. Noch ein kleines Buch von zwölf Bogen, und hernach keine Verſe
mehr!“ In Wahrheit kamen dann freilich in der nächſten Zeit ſtatt des ver⸗
ſprochenen einen noch drei Werkchen von ihm heraus, der „Anti⸗Ovid“, der
„Frühling“ und die „Erzählungen“. Daß nur dieſe Letzteren in jener Brief⸗
ſtelle gemeint fein können, lehrt ſchon der Umfang: der Anti⸗Ovid füllt mit dem
Anhang lyriſcher Gedichte vier Bogen, der Frühling einen, die Erzählungen mit
der Widmungsode und dem „Eingang“ ſechzehneinhalb. Der Plan, die Erzäh⸗
lungen zu ſchreiben, nach einer naheliegenden Vermutung auch ſchon ihre
Zahl ), ſtand demnach Anfang März bereits feſt, während von Anti⸗Ovid und
Frühling noch keine Rede iſt. Unmittelbar darauf muß dann der Anti⸗Ovid
entworfen, ausgeführt und gedruckt worden ſein, denn ſchon am 18. April
konnte ihn Wieland verſchicken. Vermutlich ergab ſich der Plan dazu, als ſich
Wieland näher mit den Erzählungen, insbeſondere mit „Zemin und Gulhindy“
zu beſchäftigen begann. Denn zu dieſer Erzählung, der zweiten in der Reihe,
aber der erſten, ſofern es ſich um ſelbſtändige Entwürfe Wielands handelt, ver⸗
hält ſich der Anti⸗Ovid wie die Theorie zur Praxis. Von der Abſicht, im näch⸗
ſten Mai den Frühling zu beſingen, macht Wieland in einem Brief vom
18. April vertrauliche Mitteilung. Der Adreſſat des Briefes iſt Schinz, ein
junger Pfarrer aus Bodmers Kreis, mit dem Wieland brieflich eine enthu—
ſiaſtiſche Freundſchaft geſchloſſen hatte. Nach einem andern Brief an Schinz
aus dem Mai — von welchem Tag, wiſſen wir nicht — war zwar beſtimmt,
daß das Gedicht „mehr gelegentliche Betrachtungen, die der Frühling veran⸗
laßt, als eine Schilderung des Frühlings“ enthalten ſollte, aber geſchrieben war
es noch nicht, ja der Dichter ſchwankte noch, ob er es „in Hexametern oder in
Hendecaſyllabis ohne Reimen“, d. h. in fünffüßigen Jamben, ſchreiben follc.
„Die letztern“, ſchreibt er, „gefallen mir ſehr, und es wäre wohl billig, dieſes
annehmliche Silbenmaß bey uns ſo gewöhnlich zu machen, als es bey den
Italiänern und Engländern iſt.“ Offenbar hatte er ſich in dieſem neuen Vers⸗
maß bereits verſucht, d. h. begonnen, die „Erzählungen“ auszuarbeiten. Aber
von dieſer Arbeit ſchweigen die Briefe. Bodmer erhält keine andere Andeutung
darüber als jene vom 6. März und noch weniger darf Schinz etwas davon
wiſſen. Ihm war dieſes neue Buch beſonders zugedacht, ihm wurde es in einer
Widmungsode zugeeignet wie die „Moraliſchen Briefe“ Bodmer; und wie vor⸗
her dieſem väterlichen Gönner, ſo bereitete Wieland nun dem Freunde mit dem
Werke wie mit der Widmung eine Überraſchung. Geſchrieben ſind die „Erzäh⸗
lungen“, wie Wieland in der zweiten Ausgabe angibt, im Mai. Sie legen,
mag auch die Ausführung vielleicht ſchon im April begonnen haben, Zeugnis
1) Es ſind ihrer ſechs, alle von ungefähr gleicher Länge. Zwei Bogen auf die Erzählung gerech⸗
net, macht zwölf Bogen.
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 521
ab, mit welcher wunderbaren, freilich auch verführeriſchen Leichtigkeit dem
jungen Autor die Arbeit vonſtatten ging. Zwiſchendurch hatte der „Frühling“
hexametriſche Form empfangen und war unverzüglich gedruckt worden; ſchon
am 2. Juni ſchickte ihn Wieland an Profeſſor Johann Chriſtian Volz in Stutt⸗
gart ?), am 5. Juni an feine „unſchätzbare Freundin“ und Braut Sophie
Gutermann, die ſpätere Frau von La Roche, nach Augsburg. „Von heut über
14 Tage“, ſchrieb er damals an Sophie, „reiſe ich nach Hauſe.“ Er wartete
offenbar nur noch den Druck der Erzählungen in Tübingen ab und kehrte, nach⸗
dem er ſie am 16. Juni Schinz überſandt hatte, nach Biberach zurück. Nun
erſt trat die verſprochene Pauſe in der Produktion ein. Es kamen fürs Erſte
„keine Verſe mehr“. Aber — fo raſtlos drängte und trieb es in dem Jüng⸗—
ling — ſchon am letzten Juni ging eine Rezenſion über die vier erſten Geſänge
von Bodmers „Noah“, der Anfang eines umfangreichen Buches, handſchriftlich
nach Zürich ab.
Dort waren inzwiſchen die „Erzählungen“ enthuſiaſtiſch aufgenommen wor⸗
den. Die Antwort von Schinz war „in einer Art von Entzückung geſchrieben“,
ſo daß Wieland ihn bittet „ins künftige ſeine zu große Zärtlichkeit gegen ihn zu
mäßigen, wenn er von ſeinen Schriften rede“. „Es wiſſen es alle, die mich näher
kennen“, ſchreibt er, „daß zu viel Lob meiner Seele Gift ift“. Als dann Bod⸗
mers Urteil eintraf, ſchrieb er an Schinz (Ausgew. Br. 1, 99), es habe ihn un⸗
gemein vergnügt gemacht, ob Bodmer ihm gleich für jetzt nur das Gute ſeiner
Erzählungen geſagt habe. Und Bodmer ſelbſt dankt er in Ausdrücken, die deut⸗
lich erkennen laſſen, welchen glänzenden Erfolg er mit dieſer neuen Überraſchung
errungen hatte. Das enthuſiaſtiſche Gefühl auf beiden Seiten war auf ſeinem
Höhepunkt: günſtiger konnte für Wieland der Moment nicht werden, ſelbſt in
Zürich zu erſcheinen. Nur die Erwartung feine Sophie in Biberach zu ſehen ver-
zögerte noch die Abreiſe.
Hatte er vorher das Geheimnis der „Erzählungen“ ſtreng gewahrt, ſo machte
er nun bereitwillig Mitteilung über ſie. So ſchon in den Briefen vom 16. und
vom letzten Juni an Schinz, beſonders aber in zwei Mitte Juli an Bodmer und
Schinz gerichteten Briefen und in einem im Juli oder Auguſt geſchriebenen?)
an Volz. Die Stelle des Briefes an Bodmer vom 14. Juli 1752 iſt bisher nur
lückenhaft gedruckt (Ausgew. Br. 1, 95); ſie lautet mit Seufferts Ergänzung:
„Die Erzählungen zu ſchreiben faßte ich den Entſchluß, als ich Ihre aus Thomſon
überfegte Erzählungen las; doch hatte mir ſchon vorher Pygmalion und Eliſa
) Wieland an Volz 2. Juni 1752 (Morgenblatt 1839, S. 381): „Sie erhalten hiemit meinen
Erſtling. Sie werden ohne mein Bemerken ſehen, daß dieſes Gedicht nichts enthält, als Gedanken
und Ausſchweifungen, die durch eine Frühlingsnacht veranlaßt worden; es hätte alſo einen andern
Titel haben ſollen, doch der Kürze wegen gab ich ihm dieſen.“ Daß damit nur der „Frühling“
a fein kann, nicht, wie im „Morgenblatt“ angenommen wird, der Anti⸗Ovid, liegt auf
er Hand.
) Das Datum im Morgenblatt (Ihg. 1839, S. 386) „Biberach, 1753“ iſt in ſich widerſprechend.
Es muß heißen: 1752. Der Brief iſt, wie der vom 7. Auguſt an Schinz, unter dem Eindruck der
„Gedanken üb. d. Erdichtungen in criſtl. Epopeen“ im 1. Stück des 3. Bandes der „Samml.
vermiſcht. Schriften“ geſchrieben.
522 Auguft Freſenius 7
etwas dergleichen eingegeben. Die Briefe der allerliebſten Rowe belebten dieſen
Vorſatz noch mehr. Ihr gehören die ſchönſten Gedanken und Bilder der Erzäh⸗
lungen. Z. E. S. 132 Ja Schöpfer uſw. Ich habe gar wenig Erfindungskraft.
Balſora gehört Hr. Addiſon, wie Sie ſchon wiſſen werden, Serena großentheils
dem Verfaſſer des Tattler, den ich im Franzöſiſchen geleſen habe, denn zu meinem
Unglük habe ich noch nie Gelegenheit gehabt Engliſch zu lernen. Zu den Un⸗
glyklichen wurde ich veranlaßt weil vor 3 Jahren Doris beynah eine Serena
und ich Ariſt worden wäre. Jocaſto ſollte hier ſeyn und der Doris Großvater
iſt Harpax:
D. Harpax Augen gilt der Reichtum
ie ganze Schaar der armen Tugenden.
Ein coup von providence wendete dieſes Unglück ab, welches alle meine
Schriften in ihrer Praeexiſtenz erſtickt hätte. Selima iſt vornehmlich durch
Leſung der Empfindungen eines Blindgebohrnen und ein gewiſſes Stück des
Babillard entſtanden.“ Summariſch ſpricht er ſich über die Quellen der Erzäh⸗
lungen in den Briefen an Schinz und Volz aus. An Schinz ſchreibt er (Ausgew.
Br. 1, 101): „Daß ich kein Esprit createur bin“ — als einen ſolchen hatte
Meier in ſeiner Beurteilung des Meſſias Klopſtock bezeichnet —, „werden Sie
daraus ſehen, daß der Inhalt aller meiner Erzählungen, oder die primae lineae
davon, entweder aus dem Babillard oder dem Guardini“ (lies Guar⸗
dian) „oder der Rowe genommen ſind“ und ähnlich an Volz (Morgenblatt
1839 S. 387): „Alle meine Erzählungen gehören dem Deſſein und der Erfin⸗
dung nach entweder Hr. Steele oder Addiſon oder meiner geliebteſten Rowe,
von der ich auch hie und da ſchöne Gedanken entlehnet habe; denn ich bin nicht
ſo ſtreng gegen den ſogenanten Plagiat als einige gelehrte Herren. Sie ſehen
alſo, daß vieles von dem Lob, das den Erzählungen gebühren mag, den ange⸗
führten Schriftſtellern gehört.“ Die moraliſchen Wochenſchriften von Steele und
Addiſon alſo und die Briefe der Eliſabeth Rowe waren Wielands hauptſäch⸗
liche Stoffquellen, und zwar unter jenen Wochenſchriften nicht die berühmteſte
und umfangreichſte, der „Spectator“, ſondern deſſen Vorläufer, der „Tatler“
und ſein Nachfolger, der „Guardian“. |
Wieland ſelbſt hat ſich in dieſem Punkt ſpäter getäufcht. Bei der erſten Er⸗
zählung, Balſora, an der nicht viel mehr als die Verſifikation ſein Eigentum
iſt und von der er darum auch vermutet, Bodmer werde ſchon wiſſen, daß ſie
Addiſon gehöre, hielt er es in der zweiten Ausgabe (1762) für nötig ſeine Vor⸗
lage zu nennen. Aber nun ſchob ihm ſein Gedächtnis ſtatt des „Guardian“ den
bekannteſten Repräſentanten der Gattung, den „Spectator“ unter, und dieſer
Irrtum hat ſich durch alle folgenden Ausgaben bis auf den heutigen Tag fort⸗
gepflanzt. Jüngeren Generationen lagen dieſe moraliſchen Wochenſchriften
ſchon ſo fern, daß in dem Brief an Schinz ſtatt Guardian Guardini gedruckt
wurde. In Wahrheit iſt die „Balſora“ dem 167. Stück des Guardian entnom⸗
men, den Wieland in der Überſetzung der Frau Gottſched benutzte. Schon die
Bezeichnung „Guardian“ in dem Brief an Schinz weiſt auf dieſe, nicht etwa auf
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 523
die franzöſiſche Überſetzung hin“); andere Indizien treten beweiſend hinzu, fo
beſonders der von Wieland ſpäter ausgemerzte Ausdruck „zufrieden ſprechen“
(Balſ. 147; vgl. Wielands ſpätere Anm.: es ſei „nicht das rechte Wort“), der
eben jener Überſetzung der Frau Gottſched entſtammt. Zu den Erzählungen
Die Unglücklichen, Melinde und Selim hat die franzöſiſche Über⸗
ſetzung des „Tatler“, der „Babillard“, die Grundlinien geliefert 5). Dies ließ
ſich ſchon auf Grund des Briefes an Schinz ermitteln, für „Serena“, d. h. für
die „Unglücklichen“, und für „Selima“, d. h. für den „Selim“ wird es jetzt durch
die vollſtändig vorliegenden Mitteilungen an Bodmer ausdrücklich beſtätigt.
Die dritte der von Wieland genannten Quellen, die Briefe der Engländerin
Rowe waren, aus einer franzöſiſchen Überſetzung liederlich und ſchwerfällig ins
Deutſche übertragen, 1745 in Göttingen erſchienen “). Auch in dieſer traurigen
Geſtalt übten ſie, wie auf Klopſtock und ſeinen Kreis, ſo auf den jungen Wie⸗
land vorübergehend großen Zauber aus.
Er ſelbſt hat in Zürich nach dem Vorbild der engliſchen Dichterin „Briefe von
Verſtorbenen an hinterlaſſene Freunde“ geſchrieben. Was er ihr in den „Er⸗
zählungen“ Stoffliches entlehnt hat, ſind ergänzende Materialien zu den drei
eben genannten, auf dem „Babillard“ beruhenden Stücken, nicht beſondere Er⸗
zählungen. In den „Unglücklichen“ hat die Situation der an einen ungeliebten
Gatten gefeſſelten Frau, die von einer ſublimen Leidenſchaft für einen andern
verzehrt wird, eine gewiſſe Ahnlichkeit mit einer Geſchichte bei Frau Rowe
(S. 240 ff. der deutſch. Übers.), namentlich auch hinſichtlich des entſchieden tra⸗
giſchen Ausgangs; im einzelnen ſind von der Rowe entlehnt: Serenas Apo⸗
ſtrophe an den Tod (V. 407 ff. Rowe 194.) und die Schilderung, wie fie als
ſeliger Geiſt in himmliſchem Glanz und auf goldener Laute ſpielend dem Ariſt
erſcheint CB. 509 ff. Rowe 68 ff.). Das letztere Motiv knüpft ſich auch ſchon bei
) Der Titel der von mir benutzten deutſchen Uberſetzung lautet „Der Engländiſche
Guardian oder Aufſeher. Ins Deutſche überſetzt von L. A. V. Gottſchedinn. I. (II.) Theil.
Leipz. 1749.“ Doch iſt dies, wie die Übereinftimmung der Seitenzahlen mit den in Gottſcheds
„Neuem Bücherſaal“ 1, 538 angegebenen zeigt, nur eine Titelauflage der 1745 unter dem Titel
„Der Aufſeher oder Vormund, aus dem Engländiſchen ins Deutſche überſetzt, von
L. A. V. G.“ erſchienenen Ausgabe. — Die franzöſiſche, von van Effen verfaßte Uberſetzung nennt
ſich „Le Mentor moderne“ (La Haye 1723. III. 12°; Bale 1737. III. 8°).
8) Die betreffenden Stücke finden ſich in der mir vorliegenden, Amſterdam 1735 erſchienenen,
zweiten Auflage, die ſich nicht mehr „Le Babillard“, ſondern „Le Philosophe Nouvelliste“
nennt, Bd. II Art. XVIII S. 187 ff., Bd. I Art. XXXIII S. 444 ff. und Bd. II Art. XX
S. 211 ff.
6) Die Freundſchaft nach dem Tode, in Briefen der Verſtorbenen an die Lebenden. Nebſt mora⸗
liſchen und ſcherzhaften Briefen. Aus dem Engliſchen der Frau Rowe, nach der Fünften Auflage
ins Deutſche überſetzt. Göttingen, bey den Gebrüdern Schmid, 1745. 8°. — Daß dieſe deutſche
Ausgabe die Uberſetzung einer franzöſiſchen Überfegung der fünften Auflage iſt, hat bereits Blanken⸗
burg (Literar. Zuſätze zu Sulzers allgem. Theorie der ſchönen Künſte II, 88 a) richtig bemerkt.
Nur gibt er als Druckort der deutſchen Überſetzung irrtümlich Leipzig an. Ob feine Angaben über
die franzöſiſche Überſetzung genau find, weiß ich nicht. Sie iſt nach ihm von Bertrand verfaßt und
„Sen. 1740. 8.“ erſchienen, während ich fonft überall Amſterdam als Drudort angegeben finde. —
Da der deutſche Überfeger mit keiner Silbe auf den wahren Sachverhalt hinweiſt, ſieht ſich der
deutſche Leſer ſeltſam überraſcht, wenn er in der „Vorrede des ÜUberſetzers“ (S. XVIII) erſucht
wird, die Verſe der Dichterin nicht nach der Überſetzung zu beurteilen, da es fo felten gelinge, den
engliſchen poetiſchen Schwung „ins Franzöſiſche“ zu übertragen. (Vgl. L. Wolf, El. Rowe in
Deutſchland. Diff. Heidelberg 1910.)
524 Auguſt Freſenius 7
Frau Rowe an den Namen „Serene“. Zur „Melinde“ hat dieſe Quelle
(S. 248 ff.) Argumente und Wendungen für die große letzte Rede der Heldin,
namentlich aber das Motiv beigeſteuert, daß Melinde ins Kloſter geht. Auch
hier wieder gewinnt ein dem „Tatler“ entnommener Stoff erſt mit Hilfe der
Rowe die tragiſche Zuſpitzung. Im Selim geht der Schutzgeiſt Ariel auf Frau
Rowe (S. 446 ff.) zurück, die ihn ernſthaft verwendet; in ſcherzhafter Anwen⸗
dung kannte ihn Wieland ſchon aus Pope's Lockenraub. (Vgl. Böttiger in Raus
mers Hiſtor. Taſchenb. X, 389.)
Wäre Wielands Angabe in den Briefen an Schinz und Volz ſtreng zu
nehmen, ſo müßten ſich für alle ſechs Erzählungen die Grundlinien in dieſen
drei Quellen nachweiſen laſſen. Es bleiben aber zwei Erzählungen übrig, bei
denen dies nicht gelingt. Die erſte derſelben, Ze min und Gulhindy, hat
das, was man ihre Seele nennen kann, von Klopſtocks Elegie „Die künftige
Geliebte“ und der nah verwandten „Choriambiſchen Ode“ J. A. Schlegels emp⸗
fangen. Was ihre ziemlich dürftige Leiblichkeit anlangt, ſo iſt für das Motiv
von dem Jüngling und der Jungfrau, die in der Einſamkeit ohne Kenntnis des
anderen Geſchlechts aufwachſen, vor allem auf die erſten Geſänge von Bodmers
„Noah“ zu verweiſen. Aber auch die „Gans des Bruder Philipps“ wie ſie,
Lafontaine nacherzählt, im zweiten Band der Bremer Beiträge (St. 3 S. 208 ff.)
erſchienen war — in derſelben Zeitſchrift alſo, welche (IV, 6. 446 ff.) Klop⸗
ſtocks „künftige Geliebte“ und (IV, 6. 412 ff.) Schlegels „Choriambiſche Ode“
gebracht hatte —, muß Wieland gekannt haben. Sie konnte bei feiner damaligen
Sinnesweiſe nur abſtoßend auf ihn wirken, aber eben darum bin ich geneigt,
einen bewußten Gegenſatz zwiſchen ſeiner empfindſamen und dieſer ſchwank⸗
haften Bearbeitung des Motivs anzunehmen. Ein ähnliches Verhältnis, nicht
ſowohl der Abhängigkeit als des Gegenſatzes, ſcheint zwiſchen Wielands Erzäh⸗
lung Der Unzufriedne und dem gleichnamigen „epiſchen Lehrgedicht“ J.
A. Schlegels obzuwalten, das in demſelben zweiten Band der Bremer Bei⸗—
träge einen breiten Raum einnimmt. Daß aber für dieſe beiden Erzählungen
noch eine andere Quelle in Betracht kommt, laſſen ſchon die orientaliſchen Na⸗
men vermuten. Zohar und Thirza zwar (im „Unzufriednen“) ſind bibliſche
Namen, aus Bodmers „Jacob und Rachel“ entnommen, ohne daß ſich daran
eine Übertragung von Motiven oder Charakterzügen knüpft. Aber der Geiſt
Firnaz, der in beiden Erzählungen figuriert, die Namen Zemin, Gulhindp,
Sirma und Sittim, gewiſſe äußere Umriſſe von „Zemin und Gulhindy“ ſowie
Motive des „Selim“ ſtammen aus einer von Wieland nicht genannten Quelle,
aus Gueullette's „Mille et un Quart d'heure“ )). Dies Buch hat ſchon auf
7) Wieland wird das Original (Paris 1715 u. ö.; im „Cabinet des Fées“, Genf und Paris
1785 ff., Bd. 21. 22) geleſen haben. Wenigſtens fehlt in der Leipziger Überfegung die mir in den
Ausgaben von 1716 / 1717 und 1738 vorliegt, die Geſchichte, in welcher der Name Zemin vor⸗
kommt. Die Namen finden ſich im „Cabinet des Fées“ Bd. 21 an folgenden Stellen: Firnaz
264 ff., Zemin 189, Gul⸗Hindy (in der Pariſer Separatausgabe der Mille et un quart d' heure
von 1778 neben Gul⸗Hindy auch die Schreibung Gul⸗hindy, in der Leipziger Überfegung von 1716
Gulhindy und gelegentlich Gul⸗hindy) 56 ff., Sirma 250 ff., Sidhim (in der Ausgabe von 1778
und in der Überfeßung von 1716 dieſelbe Schreibung), als Name eines Mädchens, 263 ff. Für
„Zemin und Gulhindy“ kommt befonders, aber nicht ausſchließlich, die Geſchichte von Cheref⸗
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 525
Wielands „Hermann“ eingewirkt“ und er hat es, man kann ſagen ſein Leben
lang nicht aus den Augen verloren. Charakteriſtiſch für Wieland dieſe früh her⸗
vortretende Neigung zum Märchenhaften; aber auch bemerkenswert, daß er
von Gueullette's Märchenbuch in ſeinen Briefen nichts verlauten läßt, ſelbſt da
nicht, wo er zu erklären ſucht, warum ſeine Gulhindy ſo wenig arabiſchen Na⸗
tionalcharakter habe (Ausgew. Br. 1, 100). Offenbar hielt er eine Erwähnung
Gueullettes nicht für opportun. Die Richtung auf das Wunderbare hatte ſich ja
ſeit einigen Jahren ganz auf das geiſtliche Gebiet geworfen. Auf der Tages⸗
ordnung ſtanden der Meſſias, der Noah und — die geiſtlichen Feenmärchen der
Frau Rowe.
Von den obigen Briefſtellen gibt die ausführlichſte nicht nur über die
Quellen der „Erzählungen“, ſondern auch über deren Vorbilder und Anläſſe
Auskunft. Die gefeierten Meiſter der poetiſchen Erzählung waren damals in
Deutſchland Hagedorn und Gellert. Sie waren es auch für Wieland noch kurz
vor Abfaſſung ſeiner „Erzählungen“ ſo ſehr, daß er am 4. Februar 1752 an
Bodmer ſchrieb (Ausgew. Br. 1, 31 f.): „Sie geben mir ſchon etlichemahl zu ver⸗
ſtehen, daß Sie mit unſern Erzählungen nicht ganz zufrieden ſind. Außer
Hagedorns und Gellerts hab' ich wenige geſehen, die mir gefallen
hätten. Aber die Art, wie dieſe erzählen, iſt nach meinem Geſchmack. Herr Gel⸗
lert iſt mein Mignon. Dieſe naiven Annehmlichkeiten, dieſer natürliche Witz,
dieſe anmuthige, einfältige Sprache der Erzählung, die die Seele ſeiner Fabeln
und Erzählungen ſind, gefallen mir unendlich. Mich däucht faſt, wie er erzählt,
würde jeder geiſtreiche Kopf unter ſeinen Freunden mündlich erzählen. Je mehr
ich alſo von Gellert halte, deſto begieriger bin ich von Ihnen zu erfahren,
was Sie an ihm ausſetzen.“ Was Bodmer hierauf im einzelnen gegen Gellert
vorbrachte ), führte, wie Wielands Brief vom 6. März zeigt, in deſſen Urteil
keinen entſchiedenen Umſchwung herbei: wenigſtens nicht augenblicklich, denn
freilich pflegt dergleichen nachzuwirken. Aber was die Lehre nicht vermochte,
wirkten Beiſpiele, die ebenfalls Bodmer ihm gab oder vermittelte. Die Proſa⸗
erzählung Pygmalion und Eliſe, von der Wieland die erſte Anregung
zu feinen „Erzählungen“ herleitet, das hexametriſche Gedicht „Empfindun⸗
geneinesgebornen Blinden“, das feinen „Selim“ mit veranlaßt hat,
find Produkte Bodmers 9). Vor allem aber entzündeten Wielands empfängliche
Eldin und Gul⸗Hindy in Betracht, für den „Selim“ die Rahmenerzählung der 1001 Viertelſtunde.
Daß Wieland in der Ausgabe von 1762 und 1770 von Vers 132 an Gülhindy oder Gülindy
ſchreibt, beruht auf der nachträglichen Erwägung, daß franzöſiſch u deutſchem ü entſpricht.
8) Einiges Hierhergehörige enthält der 62. der „Neuen critiſchen Briefe“, die Bodmer damals
vielleicht gerade im Hinblick auf die von Wieland geſtellte Frage, dieſem geſchickt zu haben ſcheint.
Wenigſtens legt Wielands Brief vom 6. März 1752, der mit den Worten beginnt „Eben komme
ich von der Durchleſung Ihrer neuen eritiſchen Briefe“ diefe Annahme ſehr nahe.
9) Der „Pygmalion“ des St. Hyacinthe, durch den Bodmer zu dem ſeinigen angeregt wurde,
hatte mit ſeinen materialiſtiſchen Tendenzen ſchon auf der Schule revolutionären Zündſtoff in
Wielands frühreife Seele geworfen. Wieland erwähnt ihn in der „Natur der Dinge“ (S. 38 f.
der 1. Ausgabe) und in den „Moral. Briefen“ (S. 148 der 1. Ausgabe). Bodmers „Pyg⸗
malion und Eliſe“ hatte er, als er in den „Moral. Briefen“ einmal neben dem franzöſiſchen
Pygmalion den deutſchen erwähnte (S. 59 Anm. 2 der 1. Ausgabe), wohl noch nicht lange kennen⸗
gelernt, vermutlich in der Ausgabe von 1749. Zuerſt war Bodmers Pygmalion in den „Neuen
526 Auguft Freſenius 7
Phantaſie die erzählenden Epiſoden aus Thomſons Jahreszeiten, die
Bodmer in reimloſen fünffüßigen Jamben, dem Versmaß des Originals, über⸗
ſetzt und als Anhang zu „Thirſis und Damons freundſchaftlichen Liedern“ her⸗
ausgegeben hatte 10). Die Erzählungen Thomſons waren fo offenbar das
Muſter der Wielandſchen, daß E. von Kleiſt die letzteren einfach als „Erzäh⸗
lungen im Geſchmack des Thomſons“ bezeichnete 11), daß Leſſing die richtigſte
Vorſtellung von ihnen zu geben glaubte, wenn er ſie „Nachahmungen der Erzäh⸗
lungen des Thomſons nenne, deren Werth nach dem Werthe der Originale zu
beſtimmen ſei“ 12) und daß Wieland felbft im Vorbericht der zweiten Ausgabe
bezeugte, zu dieſen Erzählungen ſeien ihm keine anderen Muſter bekannt ge⸗
weſen als diejenigen, welche Thomſon in ſeine Jahrszeiten eingerückt habe.
Dem Eindruck Thomſons alſo iſt es zuzuſchreiben, daß Gellert jetzt für ihn in
Schatten tritt. In Wielands Briefen an Bodmer und Schinz findet ſich am
26. März 1752 die erſte Erwähnung Thomſons, am 11. April wird Gellert noch
zweimal genannt, dann nicht mehr.
Was bedeutet dieſer Umſchwung? Er bedeutet eine Abwendung von der
Enge des bürgerlichen Lebens, überhaupt von verwickelten Kulturverhältniſſen
zugunſten eines idealen Naturzuſtandes, von dem aus die Brücke in die freie
Region des Märchens dann leicht geſchlagen war; eine Abwendung von der
Vielgeſtaltigkeit des wirklichen Lebens zugunſten des in den Jahren des Gefühls
ſtehenden Menſchen, eine Abwendung von vorwiegend ſatiriſcher Sittenſchilde⸗
rung zugunſten des Idylliſchen und Elegiſchen. Er bedeutet die Hinwendung
von einem eng mit der Fabel verwandten zu einem aus der beſchreibenden Poeſie
hervorgewachfenen Erzählungstypus, Begünſtigung der Schilderung gegenüber
der Handlung, Begünſtigung des Gefühlserguſſes in Monolog und unerwider⸗
ter Anrede gegenüber dem Dialog. Er bedeutet die Vertauſchung einer gewiſſen
Magerkeit und Eckigkeit der Zeichnung mit Weichheit und Rundung, die Ver⸗
tauſchung des herkömmlichen Reimverſes mit der freieren Form des reimloſen
fünffüßigen Jambus, die Vertauſchung eines ſchlichten, nüchternen, nur durch
gefällige Natürlichkeit geſchmückten Vortrags mit einer blühenden, kühnen, zum
Extremen geneigten Sprache. Er bedeutet eine Abwendung vom großen Publi⸗
kum zugunſten der „wenigen Edlen“. Er bedeutet, alles in allem, einen ent⸗
ſchiedenen Durchbruch der Empfindſamkeit.
Mit Recht ſagte Wieland, als er die „Erzählungen“ zum letzten Mal heraus⸗
gab, daß ſich eher das Beiwort empfindſam für ſie geſchickt haben möchte,
als das Beiwort moraliſch. Nur hat — ihm auch hier wieder ſein Ge⸗
Erzehlungen verſchiedener Verfaſſer“ (Leipzig (2) 1747 erſchienen, aber „nicht genug bekannt wor ⸗
den“. Die „Neuen Erzehlungen“ enthalten außer dem 1 den „geplagten Pesaſus und die
5 von Epheſus“. Vgl. Freimüth. Nachrichten 1747 S. 1749 S. 420 f. Bodmer
„Empfindungen eines gebohr nen i Fe in den „Neuen eritiſchen
Briefen“, Zürich 1749, S. 282 287.
10) Deutſche Litteraturdenkmale 22.
11) Kleiſt an Gleim, Zürich den 22. Nov. 1752 (2, 212 Sauer).
12) In ſeiner Anzeige 1 „„ „Erzählungen“ in der Berliniſchen Zeitung vom
15. März 1753. Hempel 1 2.
Die Berserzählung des 18. Jahrhunderts 527
dächtnis einen Streich geſpielt, wenn er annahm, ſie hätten in den beiden erſten
Ausgaben „Moraliſche Erzählungen“ geheißen; der Titel lautet in der erſten
wie in allen folgenden Ausgaben einfach „Erzählungen“ 13).
Wieland hat nicht nur den ganzen Typus ſeiner Erzählungen, für den
übrigens auch die geringe Perſonenzahl charakteriſtiſch iſt !“), von Thomſon
übernommen; auch in bezug auf einzelne Züge, Bilder und Wendungen hat er
die drei Thomſonſchen Erzählungen, die zuſammen noch nicht dreihundert Verſe
betragen, ſtark ausgebeutet, worauf ich hier nicht näher eingehe. Das Vorbild
wird ihm zugleich Fundgrube, wie umgekehrt die Briefe der Rowe ihm nicht
nur als Quelle dienten, ſondern auch den durch Thomſon geweckten Vorſatz die
„Erzählungen“ zu ſchreiben „noch mehr belebten“. Dies weibliche Vorbild mit
ſeiner im Sublimen ſchwelgenden Phantaſie und mit ſeiner jugendlichen
Energie des Gefühls konnte die „tranſcendentaliſchen Ideen“ der Wielandſchen
Erzählungen nur verſtärken; in der „diſtillirten Zärtlichkeit“ ging er über das⸗
ſelbe ſogar noch hinaus. Diſtillirte Zärtlichkeit — ſo drückte ſich Leſſing damals
aus 15), denn noch hatte er ja die Sprache nicht durch das Wort „empfindſam“
bereichert. 5
Früh ſchon waren die in Wielands Geiſt ſtreitenden Kräfte und Richtungen,
Verſtand und Einbildungskraft, Satire und Schwärmerei, neben einander ent⸗
wickelt. Der plötzliche Übergang von Gellert zu Thomſon wäre nicht zu erklären,
wenn nicht Wieland Berührungspunkte mit Gellert auch in dem gehabt hätte,
worin dieſer ſich von Thomſon unterſcheidet. Auch hörte Gellerts Einwirkung
nicht mit einem Schlage auf. Dem geübteren Auge leicht erkennbar, tritt ſein
Einfluß auf den Stil der Wielandſchen Erzählungen naturgemäß da am meiſten
hervor, wo die Handlung fortrückt. (Balſ. 36: „Er ruft dem Elim“. Ungl.
483: „Er floh die Welt“. Unzufr. 293: „Itzt wird doch Zohars Wunſch be⸗
friedigt ſein?“ uſw.) Aber doch konnte es, wenn einmal zwiſchen Thomſon und
Gellert die Wahl geſtellt war, nicht zweifelhaft ſein, für wen ſich Wieland ent⸗
ſchied. Er war doch ſeinem Naturell nach mehr Künſtler als Lehrer, mochte er
auch ſich und Andere bereden, daß er nur darum „poetiſche Schriften ſchreibe“,
weil die Poeſie den Zweck, „die nützlichſten und zur Glückſeligkeit nötigſten
Wahrheiten“ zu lehren, „gewiſſer erreiche, als die philoſophiſche Lehrart“. (An
Volz Morgenbl. 1839 S. 382.) Er war doch mehr Epiker als für die dem
Drama und dem Epigramm verwandte Gattung der Fabel und der fabelähn⸗
13) Im Jahr 1764 ging Wieland auf Zureden einer „Dame von feiner Bekanntſchaft“, offenbar
der Sophie von La Roche, damit um, ausgerüftet mit der formellen Virtuoſität, welche feine
komiſchen Erzählungen bekundeten, „auch moraliſche Erzählungen, im Geſchmack des
Marmontels zu machen“. Unter andern wollte er „auch etliche von den wenigen reimfreyen Er⸗
zählungen umſchmelzen und wohlgereimt in dieſe Sammlung bringen“. (Ausgew. Br. 2, 251.
Denkw. Br. 1, 19.) Dieſe Abſicht wurde nicht ausgeführt, aber die Bezeichnung der reimlofen
Erzählungen als der moraliſchen zum Unterſchied von den komiſchen wird ſeit dieſer Zeit Wieland
geläufig geblieben ſein. Daher denn auch ſein Irrtum.
1) Die erſte Erzählung, die nicht von Wielands, ſondern von Addiſons Erfindung iſt, weicht in
dieſem und in einigen anderen Punkten von dem Typus der übrigen Erzählungen ab, eine Ausnahme,
welche die Regel der andern auffälliger macht.
16) In der ſchon genannten Anzeige der „Erzählungen“.
528 Auguft Freſenius +
lichen Erzählung beanlagt. Er war, bei all feiner Altklugheit, jung und, wie
es feinen Jahren ziemte, Enthuſiaſt; zudem überaus geneigt in „füßen
Träumen“ zu ſchwelgen und deshalb „nicht der größte Freund der Wahr⸗
heit“ (Ausgew. Br. 1, 43). Die Welt kannte er nur aus Büchern, darum hat
er nicht leicht etwas Schlechteres geſchrieben als die „Moraliſchen Briefe“:
wie hätte er mit Gellert in der Darſtellung von Typen der damaligen Ge⸗
ſellſchaft wetteifern können? Aber wenn ihm Thomſon Schilderungen emp⸗
findſamer Liebe brachte, fo traf hier das literarifche Vorbild gerade auf den
Punkt, wo der jugendliche Dichter Eigenes einzuſetzen hatte. Er brauchte
nur feine ſchwärmeriſche Liebe für Sophie Gutermann in Verſen auszuſtrö men,
um ſeinen Darſtellungen Wärme und eine gerade in ihrer Vagheit individuelle
Wahrheit zu geben. Nicht umſonſt leuchtet uns der Name Doris auf den
Blättern der „Erzählungen“ ſo vielfach entgegen, unter dieſem Geſtirn be⸗
ginnt, unter ihm endet der Dichter 16). Aber auch in die Geſtalten feiner
„Arabiſchen Mädchen“ (Ausgew. Br. 1, 89) ſelbſt ſpielt das Bild feiner Gelieb⸗
ten herein. Wieland verhehlte ſich nicht, daß keiner von den kleinſten Fehlern
ſeiner Erzählungen der ſei, „daß die Charaktere der Balſora, Gulhindy, Serena,
Melinde und Selima beinahe alle gleich ſeien“ (Ausgew. Br. 1, 86 f.). Sie
mußten wohl einander gleichen dieſe Mädchen, da jedes von ihnen ſehr nah
mit feiner Doris (= Sophie) verwandt war. Es iſt trotz des orientaliſchen
oder idealen Koſtümes, das Wieland feinen „Bewohnern der goldnen Zeit“
gibt, nicht ſchwer, ſeiner Darſtellung anzufühlen und aus ſeinen Briefen auch
nachzuweiſen, daß er ſein perſönliches Empfinden, ſeine eigene Hoffnung und
Furcht in dieſe Erzählungen gelegt hat. Aber wer hätte vermutet, daß in dem
Grade, wie es jetzt für die „Unglücklichen“ bezeugt wird (ſ. o. S. 522), Per⸗
ſönliches und Erlebtes in ihnen enthalten — oder ſoll man ſagen ver⸗
flüchtigt — iſt?
Liebe iſt das Hauptthema dieſer Erzählungen, die glückliche, die unglüͤck⸗
liche, die getäuſchte; immer aber handelt es ſich um eine ätherifch zarte, immer
um eine erſte Liebe, und bedeutſam tritt das erſte Erwachen der Liebe hervor.
Darin ſpiegelt ſich das jugendliche Alter nicht nur unſeres Dichters, ſondern
auch unſerer damaligen Poeſie. Jener übergang von Gellert zu Thomſon ent⸗
ſprach nicht nur Wielands Individualität und Entwicklungsſtufe, er entſprach
zugleich dem Punkt, an welchem die mit Brockes beginnende Wiedergeburt
unſerer Poeſie angelangt war. Wenn ſich Thomſon in einzelnen erzählenden
Epiſoden ſeines beſchreibenden Gedichts von der Darſtellung der äußeren Natur
zu der des Menſchen erhebt, ſo ſtellt ſich uns im Kleinen, im Rahmen der ein⸗
zelnen Dichtung dar, was ſich ähnlich, nur in viel größeren Dimenſionen, zu
jener Zeit in Deutſchland vollzog. Brockes, der am Ende ſeiner Laufbahn Thom⸗
ſons Jahreszeiten überſetzte, Haller und E. von Kleiſt, der, von Thomſon
inſpiriert, ſeinen „Frühling“ dichtete, erſchloſſen die äußere Natur. Dazu ge⸗
ſellte ſich bei Haller in den „Alpen“, bei Kleiſt im „Frühling“ die Schilderung
16) Wie unter Doris Sophie, fo iſt unter Daphne (Zueignungs⸗Ode 16. Sel. 56) Schinzens
Braut zu verſtehen.
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 529
des Menſchen in einfachen, ländlichen Zuſtänden. Aber eben nur das Zuſtänd⸗
liche gelangte hier zur Darſtellung, noch nicht bewegte Innerlichkeit, geſchweige
denn Handlung. Unter dieſen Geſichtspunkt fällt es auch, daß von den Er⸗
ſcheinungen des Seelenlebens anfangs die elementarſten, die Sinnesempfin⸗
dungen, eine ſo große Rolle ſpielen, wie denn ſchon für Brockes die Natur zur
„Sinnenſchule“ wird. Wir haben uns hier, im Hinblick auf Wieland, an Bod⸗
mers „Empfindungen eines geborenen Blinden“ und an die beſeelte Statue
ſeines Pygmalion zu erinnern, die ſich nach und nach ihrer Sinnesenergien
bewußt wird, um dann bald auch höherer Empfindungen teilhaft zu werden.
Dieſes höhere Empfindungsleben in unſerer Poeſie zu erneuern waren aber
Jüngere als Bodmer berufen. Dazu bedurfte es der jugendlichen Trunkenheit
akademiſcher Jahre. Das Gefühl begeiſterter Freundſchaft fand in Lange und
Pyra und im Kreis der Bremer Beiträger ſeine dichteriſchen Vertreter. Der
größte dieſes Kreiſes, Klopſtock, tat dann den weiteren Schritt und wagte es,
der Welt ſeine Liebe zu offenbaren. Auch er blieb noch, wie Gervinus ſagt,
„gleichſam in dem Vorhof platoniſcher Frauenliebe ſtehen, wo ſich ihm Wieland
in feiner erſten Jugend geſellte“. Von dieſer Entwicklungsreihe, die natürlich
weder die Breite noch die Vielgeſtaltigkeit des erneuerten Geiſteslebens in ſich
faßt, ſondern in dem Geäder desſelben nur als ein Hauptaſt zu betrachten iſt,
ſtehen Hagedorn und Gellert etwas abſeits. Zwei in die Augen fallende Kenn⸗
zeichen dafür ſind, daß ſie nicht in den Streit der Schweizer und Gottſchedianer
verwickelt werden 17), und daß ſie ſo gut wie gar nicht an den Verſuchen teil⸗
nehmen, reimloſe Verſe einzuführen. Aller auffallenden Neuerung, allen Extre⸗
men abhold, auf dem feſten Boden des wirklichen Lebens ſtehend, ſorgfältig in
der Form und nicht ohne Humor, haben ſie zu ihrer Zeit einen ganz allgemei⸗
nen Beifall gefunden und ſind in den beſten ihrer Dichtungen bis auf den
heutigen Tag lebendig geblieben. Beides läßt ſich von den Dichtern jener Ent⸗
wicklungsreihe nicht ſagen. Aber wenn Hagedorn und Gellert in ihrer Art nicht
übertroffen ſind, wenn ſie eine Art hausbackene Klaſſizität noch heute behaup⸗
ten, jo haben uns jene Anderen entſchieden einer neuen, höheren Poeſie ent-
gegengeführt. Sie haben ihren Wert weniger in dem, was ſie ſind, als in dem,
was ſie vorbereiten.
Wielands „Erzählungen“ beſtätigen ſelbſt die ihnen hier angewieſene literar⸗
hiſtoriſche Stellung. Zunächſt ſchon äußerlich durch die Dichternamen, die der
Autor, nach damaliger Mode, ſeinen Schildereien eingewebt hat. Unter dem
Motto der Erzählungen (es iſt aus dem „Mann nach der Welt“) ſteht Hallers
Name. Die Namen Brockes und Kleiſt durften in den Erzählungen fehlen, zu⸗
mal fie in dem gleichzeitig entſtandenen „Frühling“ genannt werden. Im
„Eingang“ der Erzählungen (V. 25) begegnen Lange und Pyra, im „Selim“
17) Angegriffen wurde in der „Aeſthetik in e. Nuß allerdings auch Gellert als 5
Deutſcher“ und als einer von den Leuten „die wir die Mitmacher nennen“ (S. 371. 284.
Vol. Gellert an Cronegk 21. Dec. 1754. — Vgl. auch die „Erläuterungen üb. d. ganze Ask
in e. Nuß“, beſonders S. 93 ff.), ja wegen feines gebrechlichen (!) Ausdrucks ſelbſt H—— d- un
(S. 127), Hagedorn, den Gottſched und die Seinigen doch ſonſt ſtets gegen die neumodiſchen
Dichter ausſpielten.
Suphorion XXVIII. 34
530 Auguft Freſenius 7
(51 ff.) 18) Bodmer und Klopſtock. Die von Bodmer wiedererweckten Minne⸗
ſinger paradieren im „Unzufriednen“ (110 ff.). Gellert dagegen fehlt, während
ſelbſt auf Hagedorn und Uz gelegentlich ein Blick fällt (Mel. 271). Dafür
kommen Thomſon und Frau Rowe je zweimal vor, letztere unter ihrem Mäd⸗
chennamen Singer (Zem. 427. Sel. 62. — Ungl. 482. Mel. 278). Auch dem
Dichter, der, aus einer früheren Epoche herüberragend, als ein anderer Homer
an der Spitze dieſer ganzen engliſch⸗deutſchen Entwicklung ſteht, auch Milton
wird eine Huldigung zuteil (Sel. 49) 19).
Tiefer noch und innerlicher bekunden die Erzählungen ihre Zugehörigkeit zu
dieſer Entwicklungsreihe durch ihren Inhalt. Man braucht nur zu beachten, daß
die Situation aus Miltons „Verlornem Paradies“ (IV, 453 ff.), wie Eva zum
erſtenmal ihr Bild im Waſſer erblickt, in Bodmers „Pygmalion und Eliſe“
(S. 41 f. der Ausg. von 1749) und in Wielands „Zemin und Gulhindy“
(V. 224 ff.) wiederkehrt 20), um mit einem Blick zu überſehen, wie berechtigt es
iſt, Wielands Erzählungen mit dieſer ganzen engliſch⸗deutſchen Familie bis
zu ihrem Urſprung hinauf in Beziehung zu ſetzen.
Hier nur noch ein Wort über ihr Verhältnis zu der deutſchen Verwandtſchaft.
Wenn Liebe das Hauptthema der „Erzählungen“ iſt, ſo ſind doch die früheren
Phaſen jener Entwicklung in ihnen gewiſſermaßen mit enthalten. Am wenig⸗
ſten gilt dies vom Freundſchaftskultus, was ſich daraus erklärt, daß Wieland
ſelbſt ſeine Jahre einſiedleriſch verlebt und in Schinz zum erſtenmal — vor⸗
läufig nur brieflich — einen Freund gefunden hatte. Die Erzählungen Wie⸗
lands ſpielen, wie die Thomſonſchen, im Freien; der Natur fällt bei ihm eine
bedeutſame Rolle zu. Aber die Stufe, auf welcher die poetiſche Durcharbeitung
der Natur Selbſtzweck war, liegt ſchon hinter ihm. In dieſer Hinſicht iſt nichts
charakteriſtiſcher als ſein „Frühling“. Ahnlich wie mit der Natur ſteht es mit
dem Thema der Sinnesempfindungen. Es nimmt in Wielands „Selim“ den
Vordergrund ein, aber es tritt nicht mehr ſo abſichtlich und ſelbſtherrlich, nicht
mehr mit der „carricaturartigen Pedanterie“ 2!) auf wie bei Bodmer; es iſt
von andern Motiven durchſchlungen und mit ihnen zu einem auch menſchlich
anziehenden Ganzen geordnet.
Anziehend vom Standpunkt der damaligen Zeit, obwohl gerade dieſe unter
den Wielandſchen „Erzählungen“ noch am erſten auch bei heutigen Leſern
Gnade finden dürfte. Wieland hat fie wohl nicht ohne Abſicht ans Ende ge⸗
18) Das Werk Bodmers, auf welches Wieland anſpielt und dem die Namen Sipha, Sem, Ja-
phet und Kerenhapuch (Sel. 60 f.) angehören, iſt der „Noah“.
10) Sonſt bezieht ſich Wieland — von verſteckteren Anſpielungen abgeſehen — auf Homer und
Vergil (Unzufr. 124 f.), Anakreon oder vielmehr die Anacreontea (Unzufr. 37), Taſſo (Unzufr.
140 f.), auf den „Comte de Gabalis“ des Abbé de Villars (Mel. 93, vgl. Zem. 34), auf den Natur⸗
forſcher Leeuwenhoek (Sel. 9) und auf die Maler Timanthes und Dürer (Ungl. 478).
20) Vgl. auch Klopſtocks Meſſias II,. 30 f., Bodmers Noah VI, 178 ff. und Wielands Abhand⸗
lung über den Noah (Werke Ausg. der preuß. Akademie J, 410).
21) Ich wende abſichtlich dieſen Ausdruck, den Gervinus von Brockes gebraucht, auf Bodmer an,
denn es ſcheint mir nicht zufällig, daß innerhalb dieſes vorbereitenden Curſus unſerer Poeſie das
jeweilige Thema mit einer Einſeitigkeit und Rückſichtsloſigkeit ergriffen wird, die je nach der Natur
des Gegenſtandes und des Autors entweder zu karikaturartiger Pedanterie oder zu Uberſchwänglichkeit
und Tändelei führt. N |
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 531
ſtellt, und daß er ſie mit beſonderer Sorgfalt ausgeführt, bezeugt er in einem
ſeiner Briefe (an Volz. Morgenbl. 1839, S. 387) mit folgenden Worten:
„Wegen des Selims muß ich Ihnen, mein hochgeſchätzteſter Freund, ſagen, daß
ich ihn mit größerm Fleiß als alle andere gearbeitet und alle Gedanken, Emp⸗
findungen und Ausdrücke genau beurtheilt habe. Der amarantne Mund ſoll
nicht die Farbe ſondern die angenehme Weichheit der Lippen, die mit
den ſammetähnlichen Amaranthblättern viel ähnlichs haben, anzeigen. Der
heitre Himmel heißt in Selims Mund nicht ein blauer Himmel,
ſondern eine reine, von Dünſten erleichterte Luft, die ein Blindgebohrner noch
beſſer als wir empfindet und von einer wolkichten und mit groben Dünſten
geſchwängerten unterſcheiden kan. Sie werden bei genauer Unterſuchung, wie
mich dünkt, finden, daß mein Selim die Welt blos durchs Gehör, den Geruch
und das Gefühl kennt. Sein Geſichtspunkt, ſeine Empfindungen und Urtheile
verrathen dieſes, obſchon vielleicht nicht genug.“
Die Wielandſchen „Erzählungen“ wurden bei ihrem erſten Erſcheinen nicht
ungünſtig, von ſeiten der urteilsfähigſten Männer ſogar mit Auszeichnung
aufgenommen. „Ich werde wenig Beyfall in Sachſen finden“, ſchrieb Wieland
an Schinz, als er ihm die Erzählungen ſchickte, und fügte erläuternd hinzu:
„Ich wollte kein Boccaccio oder Lafontaine ſeyn .. (Ausgew. Br.
1, 87). Er hatte dabei wohl die Geſchmacksrichtung im Auge, welcher der
„Unzufriedene“ von J. A. Schlegel, die „Gans des Bruders Philipps“, über⸗
haupt die große Maſſe der Produktionen in den „Bremer Beiträgen“ angehört
und welche durch ſie noch am vorteilhafteſten vertreten wird 22). Daß er von
den Gottſchedianern nichts zu hoffen habe, verſtand ſich von ſelbſt. Wie⸗
land wurde, wie bekannt, in ihren Streitſchriften nicht geſchont. Aber ſo zahl⸗
reich die gegen ihn gerichteten, zum Teil ſogar auf falſchen Vorausſetzungen
beruhenden, Invektiven ſind: daß ſpeziell die „Erzählungen“ irgendwo an⸗
gegriffen wären, vermag ich bis jetzt nicht nachzuweiſen. Und doch legt Bod⸗
mers Gedicht „Der ſatyriſche Hexameter“ (Fragmente in der erzählenden Dicht⸗
art uſw., Zürich 1755, S. 128 ff.) dieſe Annahme nahe. Wenigſtens wüßte ich
nicht, welche Balſora Bodmer in dieſem Gedicht (S. 129) gegen die Dunſe,
gegen Typhon (Gottſched) und Geta (Schönaich) verteidigte, wenn nicht die
Wielandſche. |
Um fo größere Freude herrſchte über die „Erzählungen“ im Lager der
Schweizer. Von dem Beifall, welchen ſie bei Bodmer und Schinz fanden,
iſt ſchon die Rede geweſen. Großes Lob muß ihnen, trotz einzelner Einwen⸗
dungen, auch Volz geſpendet haben (vgl. Morgenbl. 1839, S. 386 ff.), der
offenbar der Schweizeriſchen Partei günſtig, wenn auch vielleicht, wie Gem⸗
22) Vgl. Wieland an Volz 2. Juni 1752 (Morgenbl. 1839 S. 382) und die „Ankündigung einer
Dunciade für die Deutſchen“ (Werke Ausg. d. preuß. Akademie 4, 79). Da Wieland auch an
Hagedorn auszuſetzen fand, daß er „zuweilen gar zu ſehr Lafontainiſire“ (Ausgew. Br. 1, 18), fo
berührt ſich ſeine Befürchtung hinſichtlich der Aufnahme in Sachſen mit dem, was der Rezenſent der
„Erzählungen“ in den Jenaiſchen gelehrten Zeitungen (ſ. unten S. 533) durchblicken läßt, aber fie
deckt ſich nicht damit.
532 Auguſt Freſenius 7
mingen 23), „kein geſchworner Anhänger einer der zwei großen Factionen“ ?“)
war. Mit gleicher Wärme wie die Züricher nahm die „Erzählungen“ der lite⸗
rariſche Vertreter der Schweiz in Berlin auf, Sulzer, der damals, voll Be⸗
wunderung für das neu auftauchende Geſtirn, Bodmer mit Fragen über den
jugendlichen Wieland beſtürmte. „Seine Erzählungen“, ſchreibt er am 11. No⸗
vember 1752 an Bodmer, „machen jezt unſer“ (d. h. ſein und ſeiner Frau)
„gröſtes Ergötzen, und das Gaſtgeſchenk, das wir den Fremden geben, die uns
beſuchen, beſteht in dem Leſen, einer dieſer Erzählungen, und eines Buches
aus dem Noah“ (Br. d. Schweizer 192). Ra ml er und deſſen Berliner Freunde
dagegen, die ſchon den Anti⸗Ovid abfällig beurteilt hatten, verhielten ſich
Sulzers Verſuch gegenüber, ſie für die Erzählungen zu intereſſieren, äußerſt
kühl. Sulzer hatte es, wie er bei dieſer Gelegenheit gewahr wurde, dahin ge⸗
bracht, daß er „nur etwas rühmen durfte, um ihnen einen Eckel dafür zu
machen“. „Es ſind drei Wochen,“ heißt es in dem Brief vom 11. November,
„ſeitdem ich Ihnen“ (nämlich Ramler und ſeinen Freunden) „von Wielands
Erzählungen geſprochen und noch hat keiner das Herz gehabt, ſie zu leſen, oder
zu fodern, daß ich ſie ihnen weiſen ſoll“ (ebd. 191). Aber wenigſtens zum
Leſen der „Erzählungen“ muß ſich Ramler doch bald bequemt haben, denn er
ſchickt ſie am 23. November 1752 an Gleim 25). „Damit ich doch mein Wort
halte,“ ſchreibt er, „ihnen die Blumen des deutſchen Witzes zu ſchicken, ſo lege
ich noch Erzählungen bey, deren Verfaſſer ſie errathen ſollen, wenn ſie ihn
nicht ſchon wißen, Sie, der ſie alles aus den verborgenſten Winkeln der Ge⸗
lehrtenhiſtorie herauszuhohlen Mittel haben.“ Worauf Gleim (4. Dezember
1752) anwortet: „Für die Blume des deutſchen Witzes danke ich ihnen ſehr
ob ich gleich fie ſchon in Halle, und Helmſtedt gepflückt hatte. Wie folte ich den
Verfaſſer der Erzählungen, (die ihnen gefallen müßen das ſage ich ihnen, mein
lieber Criticus) wie ſolte ich den nicht kennen? Es iſt mein Götze, dem ich
demohngeachtet noch nicht geſchrieben habe.“ 2%) Anerkennend äußerte ſich auch
Spalding. Er ſchrieb am 18. Januar 1753 an Gleim: „Das Beſte ... was
ich kürzlich geleſen, ſind die zu Heilbronn gedruckten Erzählungen und der Sieg
des Liebesgottes von Herrn Uz. Beyde“, fügt er einſichtig hinzu, „ſind ſich,
meinem Bedünken nach, darin ähnlich, daß die Ausbildung beſſer iſt als der
Plan und die Erfindung“ (Briefe von Spalding an Gleim, S. 111). Wenn
Sulzer, der die „Erzählungen“ mit Begeiſterung aufgenommen hatte, nicht
lange nachher die „Briefe von Verſtorbenen“ entſchieden ablehnte (Br. d.
Schweizer 210 f.), fo entſpricht das fo ziemlich der Aufnahme, welche dieſe
25) J. L. Huber ſchreibt den 22. Jänner 1752 an Bodmer: „Ich habe ein paar herzlich gute
Freunde in Stuttgart, Herrn Regierungsrath von Gemmingen und Herrn Volz, die mich
beſtändig mit Aufmunterungen (zum Dichten) angehen“ (Stäudlin, Briefe berühmt. u. edl. Deutſcher
an Bodmer S. 243).
24) Vgl. Leſſing üb. Gemmingen 12, 509 Hempel.
25) Dieſer Brief ſowie Gleims Antwort, beide meines Wiſſens ungedruckt, befinden ſich im Archiv
der Gleim⸗Stiftung in Halberſtadt. Ich verdanke die Abſchrift der beiden Stellen C. Schüddekopf.
76) Gleim fährt fort: „Aber wer hat den Antiovid gemacht? Sie ſolten ihn in der Correctur ge-
habt haben, ſo könte er recht ſchön ſeyn. H. Wieland der Verfaſſer des Lobgeſangs auf die Liebe
arbeitet an einer Critik des Noah.“
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 533
beiden Wielandſchen Werkchen bei Leſſing fanden. Während er die Verſtor⸗
benenbriefe — ohne darum die Bedeutung des Autors zu verkennen — durch⸗
aus ironiſch behandelt (12, 531 f. Hempel), fo daß wir ſchon von fern das
Gewitter grollen hören, das ſich dann in den Literaturbriefen entlud, urteilt er
von den Erzählungen recht günſtig: „Eine feurige und doch ſittſame Einbil⸗
dung, die Sprache der Natur, Schilderungen, die nicht in Eil entworffen ſondern
mit Fleiß ausgearbeitet zu ſeyn ſcheinen, geben ihm (dem Verfaſſer) das Recht
auf einen vorzüglichen Rang unter unſern Dichtern.“ Freilich ſpielt ein Zug
von Ironie auch hier ſchon um ſeine Lippen, wenn er fortfährt: „Sollte aber
einmal die Nachwelt ſein Zeitalter nicht gleich aus gewiſſen tranſcentendaliſchen
Ideen, aus der diſtillirten Zärtlichkeit, und einer mehr als thelematologiſchen
Anatomie der Leidenſchaften ſchließen können?“ Von anderen Stimmen der
Preſſe — denn außer Leſſings Beſprechung haben wir ja nur briefliche Auße⸗
rungen gehört — iſt mir vorläufig nur die Anzeige bekannt, welche die „Jena⸗
iſchen gelehrten Zeitungen“ am 24. Januar 1753 brachten (Stück 7
S. 54 f.). Schon die lateiniſchen Lettern, heißt es hier, hätten den Rezenſenten
vermuten laſſen, „daß wir eine Arbeit eines berühmten Freundes der Schweizer
an dieſen poetiſchen reimfreyen Erzählungen erhalten hätten“, und die innere
Einrichtung habe ihn in dieſer Vermutung beſtärkt. „Das Gedankenvolle“, fährt
er dann fort, „das neue, das poetiſche, die glückliche Schilderungen, und die
ganze Art der Ausführung, verrathen wohl niemand anders, als den Herrn von
Kleiſt“ ?“). Sollte es dieſer nicht fein, fo gebühre jedenfalls dem Verfaſſer
„gleicher Rang unter den teutſchen Dichtern“. Es folgt eine kurze Inhalts⸗
angabe und dann zum Schluſſe die Bemerkung: „Wenn einigen Leſern dieſe
Erzählungen nicht ſo vorzüglich gefallen ſollten, wie die Gellertſchen: ſo liegt
das nicht ſowohl an einem Mangel der Schönheiten, als vielmehr an dem
Unterſchiede der Charaktere. Es ſind hohe Perſonen, und Morgenländer, welche
in den Heilbronniſchen Erzählungen aufgeführt worden; darnach und nach
der Gröſe ihrer Geſinnungen, Sitten und Handlungen, richtet ſich das hohe in
der Schreibart, welches freylich nicht bey allen Leſern ſo viel Eindruck macht, als
die edelniedrigen und ſinnreichen Erzählungen eines Gellert oder Hagedorn.“
Wir werden hier wieder an die bewährten Meiſter der poetiſchen Erzählung
erinnert und fragen unwillkürlich, wie denn ſie von dem jungen Rivalen dachten.
Sowohl in Gellerts als in Hagedorns Briefen wird Wielands in den ehren-
vollſten Ausdrücken gedacht?8). Hagedorn aber zollte auch ſpeziell den Er-
zählungen und zwar öffentlich ſeine Anerkennung; um ſo feiner, als es an⸗
ſcheinend ganz beiläufig geſchah. In der zweiten Auflage ſeiner „Moraliſchen
Gedichte“ (Hamburg 1753) ergänzte er den Vorbericht durch ein „Schreiben an
einen Freund“. Hier äußerte er (S. XIII) in bezug auf die „lächelnde Hen⸗
27) Im 76. Stück dieſes Jahrgangs wird in einer ſehr günſtigen Anzeige der „Briefe von Ver⸗
ſtorbenen“ auf die früher beſprochenen Wielandſchen Schriften, darunter auch auf die „Erzäh⸗
lungen“ verwieſen.
28) Gellert an Curtius 26. Febr. 1754 (10, 164 f. Klee), Hagedern an Bodmer 24. Sept. 1754
(5, 119. 123 Eſchenb.).
534 Auguſt Freſenius 7
riette“, unter deren Bild er den ſeichteſten literariſchen Dilettantismus zeichnet:
„Einem ihrer poetiſchen Verehrer iſt angerathen worden, ihr einen Roman zu
entwenden, und dafür die Erzählungen eines Ungenannten hinzulegen,
den die wohlgeſitteſte Liebe ſelbſt die Sprache des Herzens gelehrt zu haben
ſcheinet.“ Daß hier nur Wielands Erzählungen gemeint ſein können, beweiſen
die lateiniſchen Lettern, mit denen das Wort Erzählungen geſetzt iſt.
Mit ſolchem Urteil aus ſolchem Munde durfte der jugendliche Autor wohl zufrie⸗
den ſein. Aber freilich geſtatten die anerkennenden Außerungen, die wir vernom⸗
men haben, keinen Schluß auf eine gleich günſtige Aufnahme im großen Publi⸗
kum. Gehörten doch, die fo urteilten, großenteils felbft zu den „wenigen Edlen“.
In der „Ankündigung einer Dunciade“ (1755), wo er die Deutſchen einer ſträf⸗
lichen Gleichgültigkeit und Trägheit in Sachen des guten Geſchmacks zeiht,
nimmt Wieland von dieſem Vorwurfe „das artige Geſchlecht gänzlich aus“.
„Ich weiß“, ſagt er (Werke a. a. O. 4, 75) von den liebenswürdigen Schönen,
die in anſehnlicher Anzahl durch Deutſchland zerſtreut ſeien, „daß die gleiche
Empfindlichkeit, die ſie über das Schickſal der Clariſſa weinen macht, ſie Ge⸗
ſchmack an Balſora oder Selim finden läßt“ ??). Das deutet doch darauf hin,
daß er der Männerwelt gegenüber zu dem Vorwurf der Gleichgültigkeit auch
hinſichtlich ſeiner Erzählungen berechtigt zu ſein glaubte. Es iſt beachtenswert,
daß während die Auflagen von Kleiſts „Frühling“ ſich in ſchneller Folge dräng⸗
ten, Wielands „Erzählungen“ nach ihrem erſten Erſcheinen niemals wieder für
ſich gedruckt wurden, ſondern neue Auflagen nur in den geſammelten „Poe⸗
tiſchen Schriften“ und ſpäter in den Geſamtausgaben ſeiner Werke erlebten.
Vorübergehend hatte Wieland — es war noch in Zürich, im Mai 1759 —
dem Gedanken Raum gegeben, die Werke ſeiner erſten Jugend nicht „von neuem
zu agnoſciren und in die Welt zu ſetzen“, ſondern ſtatt deſſen ihre kritiſche Ge⸗
ſchichte zu ſchreiben. Sehr bald aber wurde er wieder anderen Sinnes und be⸗
reits in Bern, im Auguſt 1759, „tändelte er mit einer neuen Edition ſeiner
poetiſchen Werke“, d. h. er begann an der „Natur der Dinge“ zu beſſern (Ausgew.
Br. 1, 368. 378. 2, 88. 92). Im folgenden Jahr wurde auf die poetiſche Samm⸗
lung feiner poetiſchen Schriften eine Suffription eröffnet“) und 1762 — der
39) In den „Erinnerungen an eine Freundin“ (Zürich 1754, Werke Ausg. d. preuß. Akad. 2,
205) heißt es:
. . . mich ryhrt in amuthsvollen augen
Die unverſtellte ſich bevvußte unſchuld,
Ein menſchenfreundliches ſtets heiters laecheln,
Und auf die reizendern geſpielen
Ein blik den nicht der neid vergiftet.
Nur ſolchen moege mein geſang gefallen
Nur ihnen ſoll aus dem geryhrten auge
Serenens unglyk eine thraen entlocken!
Und unter ihnen dir, o Freundin
20) Ausgew. Br. 2, 121. Morgenbl. 1839 S. 476. Wenn Wieland im Hinblick auf dieſe Sub;
feription aus Biberach (6. Juni 1760) an Volz ſchreibt: „Ob ich gleich zweifle, in unſerm Vater
lande viele Liebhaber zu finden, ſo wird es doch nicht ſchaden, wenn wir diejenigen aufſuchen, die ſich
finden laſſen“, ſo iſt unter dem „Vaterlande“ Schwaben zu verſtehen, nicht etwa Deutſchland im
en zur Schweiz. Vgl. Wieland an Gleim 3. Nov. 1771 bei Pröhle, Leſſing Wieland Heinſe
. 77.
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 535
erſte Band vielleicht ſchon 1761351) — traten fie bei Orell, Geßner u. Comp.
in drei Bänden ans Licht. Die Sammlung fiel in eine dem Dichter wenig gün⸗
ſtige Zeit. Den anfänglichen Beifall der Kritik hatte er durch eigene Schuld ver⸗
loren, und was er in Vorberichten — zum „Cyrus“, zu „Araſpes und Panthea“
und beſonders jetzt zu den „Poetiſchen Schriften“ — verſuchte, um ein unbe⸗
fangeneres Verhältnis zwiſchen ſich und den Kritikern, oder doch zwiſchen ſich
und den Leſern wiederherzuſtellen, blieb ohne Erfolg. Er hatte zwar ſeine Ver⸗
ehrer, ja feine Anbeter, wie Leſſing in den Literaturbriefen bezeugt); nicht
minder, wie aus Gellerts Briefwechſel (9, 92. 94 ff. 115 Klee) erſichtlich iſt,
ſeine Verehrerinnen. Aber im Ganzen war er Deutſchland und Deutſchland ihm
entfremdet 55). Schon Gruber (Wielands Werke 3, 239) hat mit Recht darauf
hingewieſen, daß weder in den Literaturbriefen noch in der „Bibliothek der
ſchönen Wiſſenſchaften“ dieſer erſten Sammlung der Wielandſchen Jugend⸗
gedichte Erwähnung geſchah 3“). Beſonders auffallend und für die damals
herrſchende Stimmung bezeichnend iſt es, ein wie geringes Intereſſe Herder bis
zum Erſcheinen des „Agathon“ Wielands Schriften ſchenkte, auffallend gerade
bei ihm, der ſich Wielands des Menſchen gegen perſönliche Angriffe ritterlich
annahm. Haym hat in ſeiner Biographie (2, 30 ff.) die Außerungen Herders über
Wieland ſorgfältig zuſammengeſtellt, aber man iſt einigermaßen überraſcht,
angeſichts dieſes Materials von den „zahlreichen Lobſprüchen“ zu hören (S. 29),
welche Herder in ſeinen Erſtlingsſchriften — den gedruckten nämlich — Wie⸗
land geſpendet habe. Der „Erzählungen“ hat Herder ſelbſt da nicht gedacht, wo
er vom fünffüßigen Jambus handelt (Werke 2, 36 f. Suphan); er müßte denn
unter anderm auch ſie mit einem Seitenhieb haben treffen wollen, wenn er an
Kleiſts und Gleims Jamben eine gedrungene Kürze rühmt, „Die nicht in wilden
Überfluß der Worte ausſchießt“. Sichere Beziehungen auf die „Erzählungen“
finden ſich bei Herder nur zweimal in handſchriftlichen Aufzeichnungen: im
„Journal“ ſeiner Reiſe (Werke 4, 429 Suph.), wo übrigens nicht ausſchließlich
31) Er ſollte ſchon zur Michaelismeſſe 1761 herauskommen (Morgenbl. 1839 S. 490) — der
„allgemeine Vorbericht“ an der Spitze dieſes Bandes iſt vom 18. Auguſt 1761 datiert —, aber am
4. Sept. 1761 hatte Wieland von der „Ausfertigung“ dieſes 1. Theiles noch keine Nachricht und
„mit äußerſtem Mißvergnügen“ wartete er noch am 23. Det. darauf, „endlich etwas von feinen
poetiſchen Werken zu ſehen“ (Schnorrs Arch. f. Littgeſch. 7, 489. 490). Auf dem Titelblatt trägt
auch der erſte Band die Jahreszahl 1762.
2) Im 8. Brief bei Gelegenheit der „Empfindungen des Chriſten“. — Wieland ſelbſt im „all⸗
gemeinen Vorbericht“ zu den „Poetiſchen Schriften“ ſpricht davon, daß „vom Fuße des Jura bis
zum Baltiſchen Meere eine ſchöne Anzahl wakrer Leute wohnen“, deren Freundſchaft er
ſeinen Gedichten zu danken habe.
39 Einige Anhaltspunkte für den Erfolg der Subſcription ergeben ſich aus Wielands Briefen an
die Verleger. Am 4. Sept. 1761 gibt er ihnen die Weiſung, von 160 ihm zuſtändigen Exemplaren
22 nach Frankfurt an den Buchhändler Brönner, 100 nach Leipzig an Reich und 10 nach Stuttgart
an Volz zu ſchicken. Aus einem Brief vom 14. Detob. 1762 geht hervor, daß Orell, Geßner u. Comp.
ſelbſt 100 Exemplare übernommen hatten, für welche ſie dem Dichter Zahlung leiſteten (Schnorrs
Arch. f. Littgeſch. 7, 489 f. 493). — Bei dieſer Gelegenheit ſei erwähnt, daß nach Wielands
Berechnung (Denkw. Br. 1, 90) das Eigentum dieſer feiner älteren Werke der Zürcher Societät,
als ſie es bei der Ausgabe von 1762 an ſich brachte, ungefähr einen Dukaten der Bogen koſtete.
Das wären etwa 59 Dukaten.
) Irrig iſt nur feine Annahme, daß die „Bibliothek“ in jener Zeit eine mehrjährige Unter-
brechung erlitten babe. Vgl. Minor, Weiße S. 301. 404.
536 Auguft Freſenius 7
an ſie, ſondern auch an andere Schriften Wielands, z. B. an das „Geſicht des
Mirza“ zu denken iſt, und in den Studien zur „Plaſtik“ (Lebensbild 2, 391),
wo die Worte „Eine ſolche blinde Liebe! ich glaube, Wieland hat ſie beſungen:
ſie verdient wenigſtens beſungen zu werden“ eine dunkle Erinnerung an „Selim
und Selima“ enthalten.
In einen ungleich günſtigeren Zeitpunkt fiel die zweite, oder wie Wieland,
indem er die urſprünglichen Einzeldrucke mitzählte, ſie nannte, die dritte Auf⸗
lage der „Poetiſchen Schriften“. Bis in die letzte Biberacher Zeit war Wieland
der Wirkungen ſeiner literariſchen Tätigkeit nicht froh geworden. Wie nach⸗
drücklich fand Leſſing die Ungunſt und Gleichgültigkeit zu rügen, mit welcher die
Shakeſpeareüberſetzung und der „Agathon“ aufgenommen wurden! Erſt als
1768 „Muſarion“ und „Idris“ erſchienen, trat eine entſcheidende Wendung ein.
Dieſen Wendepunkt bezeichnet ein Brief Geßners an Wieland vom 20. Januar
1769 (Schnorrs Archiv f. Litgeſch. 11, 525 f.), in welchem Geßner vor allem der
herzlichen Freude über den endlich befeſtigten Ruhm des Freundes Ausdruck
gibt 55), zugleich aber als Buchhändler, als Teilhaber der Firma, welche ſich die
„Muſarion“ und den „Idris“ hatte entgehen laſſen, die Hoffnung ausſpricht,
daß Wielands Verbindung mit den Zürichern Verlegern nicht dauernd aufge-
hört habe. In eben dieſem Brief meldet er, daß von den „Poetiſchen“ und
„Proſaiſchen Schriften“ — die Letzteren waren geſammelt 1758, in zweiter Auf⸗
lage 1763/64 erſchienen — bald eine neue Auflage veranftaltet werden müſſe,
und fragt an, ob Wieland Veränderungen dabei vorhabe. Wielands Antwort
vom 16. Februar 1769 (Denkw. Br. 1, 78 ff.) enthält die Nachricht von ſeiner
Berufung nach Erfurt. Zu Veränderungen, die er an ſeinen älteren Schriften
freilich zu machen hätte, werde ihm der bevorſtehende Übergang in ganz neue Ver⸗
hältniſſe wenig Zeit laſſen. Da er aber gleichwohl nicht im Sinne habe, große
Veränderungen zu machen, und für billig halte, daß die Werke ſeiner jüngeren
Jahre, als Denkmäler der allmählichen Entwicklung ſeines Geiſtes, das was
ſie ſeien, ſo lange bleiben ſollten als ſie könnten und möchten, ſo gehe er auf
den Vorſchlag neue Auflagen zu veranſtalten ein. Noch in Biberach reißt er ſich
dann, obwohl mit Geſchäften überhäuft, auf zwei oder drei Wochen von allem
los, „um alle Aufmerkſamkeit auf die Verbeſſerung der poetiſchen Schrif-⸗
ten zu wenden“ 36) und ſcheint damals die beiden erften Teile — den dritten
ſchickt er aus Erfurt am 18. Oktober 1769 (Denkw. Br. 1, 100) — fertig ge⸗
bracht zu haben. Von einer Umgießung der „Erzählungen“ in Reimverſe, ein
3) Mol. dazu Wieland an Geßner 18. Oct. 1769 (Denkw. Br. 1, 98): „wenn es ein Vergnügen
wäre, ſich von denen präkoniſirt zu ſehen, die uns getadelt haben, ſo genöſſe ich deſſen nun in vollem
Maße; denn wer lobt mich nicht, ſogar in der allgemeinen deutſchen Bibliothek bin ich nun, Dank
ſey es dem Himmel, ein großer Mann. Ein großer Mann, bedenken Sie, was das ſagen will!
— Die ſchlechten Kerls! Und warum war ich es nicht vor zwey Jahren ſo gut als jetzt.“
36) An Geßner 2. April 1769. Dieſe Verbeſſerung, ſchreibt er, ſei zwar eine Pflicht des Autors
gegen das Publikum und gegen ſich ſelbſt, gleichwol ſcheine es ihm nicht unbillig, wenn er dieſe ſeine
Arbeit, um fie nicht gar umſonſt zu machen, auf einen großen Thaler für den Bogen taxiere. (Denkw.
Br. 1, 90. Der Brief ſteht zwiſchen zwei falſch datierten Briefen. Im Datum des vorausgehenden
iſt ſtatt 1769 zu leſen 1768, der folgende iſt nicht vom 20. März, ſondern vom 20. Map 1769.)
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 537
Gedanke den er 1764 einmal gefaßt hatte, und der ihm auch jetzt nicht fremd
geworden war (ſ. oben S. 527 Anm. 13), konnte bei der Eile, welche ihm die
Umſtände auferlegten, nicht die Rede ſein. Im übrigen nahm er an den „Er⸗
zählungen“ (außerdem beſonders am „Anti⸗Ovid“) bedeutendere Veränderun⸗
gen vor, als er vorausgeſehen hatte. In einem Brief vom 8. Dezember 1769
(Pröhle, Leſſing, Wieland, Heinſe S. 227 = Ausgew. Br. 2, 341) macht er
Gleim auf dieſelben aufmerkſam. Nicht lange ehe „Muſarion“ und „Idris“
hervortraten, hatten ſich zwiſchen Wieland und der deutſchen Schriftſtellerwelt,
zum erſtenmal ſeit langen Jahren, wieder perſönliche Beziehungen geknüpft,
mittelbar war dadurch — und auch das war kein ganz gleichgültiger Umſtand
(vgl. Denkw. Br. 1, 105 f.) — Reich fein Verleger geworden, nun erhielt er die
Berufung nach Erfurt, und ſo wirkte vieles zuſammen ihn gerade damals recht
in den Vordergrund der literariſchen Bühne zu ſtellen. So kam es, daß ſeine
„Poetiſchen Schriften“, die er ſelbſt im Vorbericht dieſer neuen Ausgabe als
„eine Art von Werken“ bezeichnet, „welche bereits aus der Mode gekommen zu
ſeyn ſcheint“, jetzt, im Jahre 1770, allem Anſchein nach einen günſtigeren
Boden fanden als acht Jahre zuvor. Der Almanach der deutſchen Muſen auf
das Jahr 1770 (S. 144) erwähnt, wo er von Wieland ſpricht, auch daß er ſeine
Poetiſchen Schriften neu herausgebe. Und J. A. Schlegel, derſelbe, den einſt der
jugendliche Moraliſt Wieland nicht ohne einiges Stirnrunzeln hatte paſſieren
laſſen, ſagte in der 1770 erfchienen 3. Aufl. ſeines Batteux (II, 283), der durch⸗
gängig ernſthafte Ton ſondere die Wielandiſchen Erzählungen von dem Tone
der Hagedorniſchen und Gellertſchen „auf eine gar merkliche und doch vorteilhafte
Weiſe“ ab, diejenigen Erzählungen nämlich, „die Herr Wieland ehemals ge⸗
ſchrieben“. „Denn“, ſagt Schlegel, „wie ſollte ich ſeiner komiſchen Erzählungen
gedenken wollen?“ So hatten inzwiſchen beide ihre Rollen getauſcht. Dieſer
neuen Ausgabe der „Poetiſchen Schriften“ fehlte es denn auch nicht an Be—
ſprechungen. Die von Klotz herausgegebene „Deutſche Bibliothek der ſchönen
Wiſſenſchaften“ beeilte ſich noch im Jahrgang 1770, d. h. in ihrem fünften Band
(S. 429 ff.; vgl. Gruber a. a. O. 3, 242 ff.), eine panegyriſche Anzeige zu
bringen, aus welcher ich die folgenden Stellen hervorhebe: „Schriften, womit
ſich ein Genie, wie Wieland, ankündigt, hören nie auf, die Achtung des Publi⸗
cums zu erregen, auch ſelbſt dann, wenn ſich der Verfaſſer übertroffen, oder einen
ganz andern Weg eingeſchlagen hat. ... Sie werden vortrefliche Beyſpiele von
dem Umfange ſeiner Talente, von ihrem ſtufenweiſen Wachsthum, und von
ihrer Biegſamkeit bleiben. Einige dieſer Schriften blieben ehemals in unſern
Gegenden unbekannter, oder wurden mit Kaltſinn geleſen, oder gar (wie von
Nicolain in den Briefen über den Zuſtand der ſchönen Wiſſenſchaften) unan⸗
ſtändig verſpottet — blos weil ſie aus der Schweitz kamen. Jetzt wird ihr An⸗
denken gleich zu rechter Zeit erneuert, da das Publikum in der Lage iſt, ſie aus
dem gehörigen Geſichtspuncte zu beurtheilen.“ Hinſichtlich der „Erzählungen“
wird Wielands Bemerkung, daß die Thomſonſchen Erzählungen ihm zum
Muſter gedient hätten, wiederholt; „daher“, heißt es dann, „das Mahleriſche
und die Stärke des Ausdrucks, worinnen dieſe Erzählungen von allen andern
538 Auguft Freſenius 7
abweichen“. In bezug auf Dorats Überſetzung von „Selim und Selima“, für
die Wieland dem Überſetzer ſeine Erkenntlichkeit bezeige, obwohl er bekenne ſie
noch nicht geleſen zu haben, ſagt der Rezenſent: „Ich, der ich ſie geleſen habe,
bekenne, daß ich ſie als eine Arbeit von Dorat ſehr gern, aber als Nachahmun⸗
glen] von Wieland mit großer Unzufriedenheit geleſen habe.“ Die Themata
der einzelnen Erzählungen werden kurz angegeben. Dabei fällt die Bemerkung:
„Selim und Selima hat mit dem blinden Ehemanne faſt einerley Fabel.“
Das Luſtſpiel „Der blinde Ehemann“ von Johann Chriſtian Krüger, auf welches
ſich dieſe Hindeutung bezieht, wurde zum erſtenmal am 8. Juli 1747 in Hamburg
aufgeführt und in Krügers „Poetiſchen und Theatraliſchen Schriften“, Leipzig
1763, S. 213— 290 gedruckt. Es hat zwar eine ganz andere Fabel als der Wie⸗
landſche „Selim“, aber allerdings ſpielt auch in ihm das Thema der Sinnes⸗
empfindungen eine Rolle, wird auch in ihm ein Blindgeborner geheilt, und
dieſe Heilung, die poetiſche Spiegelung damals in England geglückter, auf-
ſehenerregender Operationen, wird von Krüger wie von Wieland in die Region
des Märchens verlegt. Der Verfaſſer dieſer Rezenſion hatte ſich in Gedanken
ſchon daran geweidet, „mit welchen Krümmungen, ärger als bey der Über:
ſetzung des Shakeſpear die allgemeinen Bibliothekare ſich winden würden, ...
nun einzuräumen, ... daß nicht Affectation, nicht Waffenträgerey, ſondern ..
ein wirklicher Enthuſiasmus ...“ die Quelle der Wielandſchen Jugendſchriften
geweſen ſei. Aber dieſes Vergnügen bereitete die „allgemeine Bibliothek“ den
Klotzianern nicht. Sie lieferte im Jahrgang 1771 (Bd. 14 S. 547 ff.; vgl.
Gruber a. a. O. 3, 239 ff.) eine unbedeutende, aber ganz unbefangene Beſpre⸗
chung, welche einen Sekretär Buſchmann in Stralſund zum Verfaſſer hatte. Von
den „Erzählungen“ heißt es hier: „An den Erzählungen, meynt der Verf.
wäre vielleicht der Reim der größte Mangel. Wir ſtimmen darinn bey, daß er
in kleinern Stücken, wie dieſe ſind, von vorzüglicher Anmuth ſey, ob gleich die
gewählte Versart von fünffüßigen reimloſen Jamben nicht unbequem zu ſeyn
ſcheint. Unter dieſen Erzählungen ſind übrigens einige in der That ſchön.“ Zur
Probe wird dann die Stelle der „Serena“ (Ungl. 172 ff.) „O ſprich, Verhängniß
— Berbeut? u. ſ. w.“ mitgeteilt.
Hinſichtlich der Aufnahme ſeiner Jugendarbeiten in die „Sämmtlichen Werke“
des Göſchenſchen Verlags hat Wieland feine Anſicht wiederholt geändert?“).
Anfangs ſollten ſie ganz ausgeſchloſſen, dann ſollten nur einige, namentlich die
„Erzählungen“ und „Araſpes und Panthea“ aufgenommen werden. „Die mo⸗
raliſchen Erzählungen“ ſchrieb Wieland damals an Göſchen, „da fie nach dem
Urtheil der Weiſen das Beſte und Korrekteſte von allem, was ich vor meinem
25ſten Jahre geſchrieben habe, ſind, können billig unter die Werke des reiferen
Alters untergeſteckt werden“. Aber er gab dieſen Gedanken wieder auf und da
er in den weiteren Verhandlungen über dieſen Punkt Göſchen zugeſtehen mußte,
daß ſeine Jugendwerke „gewiſſermaßen zur Geſchichte unſrer Literatur gehören,
37) Das Folgende nach Gruber, Wielands Leben 4, 44 ff., deſſen Darſtellung ſich auf die nicht
gedruckten Briefe Wielands an Göſchen gründet.
Die Verserzählung des 18. Jahrhunderts 539
und daß ſie zeigten von welchem Punkt er ausgegangen“, ſo entſchloß er ſich ſie
als „Supplemente“ der ſämtlichen Werke zu geben. Er erließ „die Sup⸗
plemente betreffend“ eine Benachrichtigung an die Käufer ſeiner ſämtlichen
Werke, datiert vom 30. April 1797 (Werke 38, 660 ff. Hempel), in der er von
ſeinen „erſten Verſuchen“ ſagt, ſie könnten, wie ſchwach und unvollkommen ſie
auch im Vergleich mit eigentlichen Kunſtwerken fein möchten, doch nicht etwa
ohne allen innern Wert ſein, da er die Freunde ſeiner Jugend — eine ſchöne
Anzahl der edelſten und vorzüglichſten Perſonen beiderlei Geſchlechts — haupt⸗
ſächlich ihnen zu danken gehabt habe. „Überdies“, fährt er fort, „gehören ſie
als unentbehrliche Beläge zu der Geſchichte meines Geiſtes und
Herzens, welche zu ſchreiben ich mich verbindlich gemacht 28), und wovon
ein großer Theil ohne ſie den Leſern unverſtändlich bleiben müßte; ja, ich darf
vielleicht hinzuſetzen, daß ſie in mehr als einer Rückſicht für eine kritiſche
Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur, die man von dem
Genius des neunzehnten Jahrhunderts mit Recht erwarten kann, nicht ganz
gleichgültig ſein dürften“. Im zweiten der Supplementbände erſchienen 1798
die „Erzählungen“. Die außerordentliche Sorgfalt, welche Wieland der Aus⸗
gabe letzter Hand zuwandte, erſtreckte ſich auch auf die Supplemente. Die Er⸗
zählungen erfahren jetzt eine noch tiefer greifende Überarbeitung als in der Aus—
gabe von 1770. In einem „Zuſatz“ zum Vorbericht ſprach Wieland die Hoff-
nung aus, daß ihm die Bemühung dieſe Erzählungen von ihren Fehlern zu
befreien „wenigſtens bey den beiden letzten (Serena und Selim)“, geglückt
ſein werde. Er beabſichtigte alſo der „Serena“ die vorletzte Stelle zu geben,
während es dann im Druck doch bei der alten Reihenſolge geblieben iſt. Der
„Zuſatz zum Vorbericht ift „geſchrieben am 16. Jun. 1797“. Ende April dieſes
Jahres war Wieland nach Oßmannſtädt übergeſiedelt. Die Überarbeitung der
„Erzählungen“ wird dort ſeine erſte Beſchäftigung geweſen ſein, ihre Anfänge
mögen aber leicht noch in die Weimarer Zeit zurückreichen. Auch jetzt, im Bal⸗
ladenjahre 1797, erregte die erneute Beſchäftigung Wielands mit den Pro-
dukten ſeiner Jugend immer noch ein gewiſſes Intereſſe. Der frühverſtorbene
Friedr. Aug. Eſchen, damals Student in Jena, ſchreibt am 3. Auguſt 1797
nach einem Beſuch in Weimar unter anderm (Schnorrs Arch. f. Litgeſch. 11,
564): „Wieland arbeitet jetzt an der Verbeſſerung feiner Jugendſchriften,
welche er glaubt dem Publicum genießbar machen zu können. Ob dieſes möglich
fein wird, vorzüglich mit feinen religiöfen Sachen, daran zweifle ich.“ Amalie
von Imhoff wurde zu ihrer Dichtung „Adallah und Balſora“ die im 8. Stück
der „Horen“ von 1797 erſchien — das Manuſkript hatte Schiller am 14. Sep⸗
tember 1797 erhalten (Schillers Kalender S. 49) — vermutlich durch Wielands
letzte Überarbeitung feiner „Balſora“ angeregt. Denn ich glaube nachweiſen zu
können, daß ihrer Dichtung neben dem „Guardian“, den wir als Wielands Vor⸗
lage kennen, auch die Wielandſche „Balſora“ als Quelle gedient hat, und zwar
3) Im Vorbericht der ſämtlichen Werke.
540 Walther Rumpf
in ihrer letzten, damals noch gar nicht gedruckten Faſſung 39). Als Manſo
ſeine „Geſchichte der deutſchen Poeſie ſeit Bodmers und Breitingers kritiſchen
Bemühungen“ ſchrieb (Nachträge zu Sulzers allgem. Theorie d. ſchön. Künſte
Bd. 8, Lpz. 1806. 1808), glaubte er ſich (S. 145) für das Fach der poetiſchen
Erzählungen ernſthaften Inhalts auf die Erwähnung der „moraliſchen Erzäh⸗
lungen von Wieland“ und des „Tempels der Liebe von Duſch“ beſchränken zu
dürfen, „um ſo mehr da beyde eigentlich erſt, durch den ſpäterhin ihnen geſchenkten
Fleiß ihrer Verfaſſer, den Grad von Vollkommenheit erlangt haben, der ihnen
ein Recht giebt, genannt zu werden“.
Das literariſche Publikum der ſechziger Jahre
des 18. Jahrhunderts in Deutſchland.
Von Walther Rumpf in Frankfurt (Main).
I.
In den äußeren Lebensverhältniſſen, und zwar ebenfo im politifchen als auch
im geiſtigen Leben der ſechziger Jahre, waren die Höfe und ihre Umgebung
noch immer die beſtimmenden Mächte 1). Ihr allgemeines Verhalten und den
vorzüglich von Frankreich beſtimmten Geſchmack kennen wir aus der Kultur⸗
geſchichte zur Genüge. Wichtiger erſcheint eine Unterſuchung bezeichnender
Einzelfälle, welche die Bewegungen und Wechſelwirkungen innerhalb dieſer
ſcheinbaren Ganzheit greller ins Licht rückt. Dieſen Quellen nachzuſpüren ſind
wir imſtande einmal durch die Memoiren und biographiſche Literatur, alsdann
durch die Pflege des Theaters. Was uns an Briefen und ſonſtigen Außerungen
dieſer Kreiſe zugänglich iſt, beſagt über ihre literariſche Beſchäftigung aller⸗
dings nur wenig und wir ſind hierbei hauptſächlich auf indirekte Zeugniſſe an⸗
gewieſen, welche uns Rückſchlüſſe ermöglichen. Die Spärlichkeit brauchbarer
Außerungen in unſerem Sinne erklärt ſich aus dem ganzen Weſen des da⸗
maligen Adels, denn deſſen Maſſe „lebte vorzugsweiſe dem behaglichen Genuß,
die Frauen im ganzen mehr als die Männer durch die Poeſie und die großen
wiſſenſchaftlichen Kämpfe der Zeit angeregt“ 2).
9) Nach einem Brief Göſchens an Wieland vom 14. Auguſt 1797 ließ der Verleger damals den
Druck der „Erzählungen“ anfangen. Am 9. Janr. 1798 (Göſchen ſchreibt falſch 1797) meldete er, die
Setzer ſeien mit dem 2. und J. Band der Supplemente fertig, aber die Drucker noch nicht; Wieland
erhalte anbei Bd. 2 bis Bogen K. Am 5. November 1798 ſchickt Göſchen 2 Bände Supplemente in
4° an Wieland, wie es ſcheint, Bd. 1 und 2.
1) Werner Sombart, Luxus und Kapitalismus, München 1922, S. 102: „Vom Hofe allein, von
der Ariſtokratie wird der Ton angegeben, bald noch vom Hofe, wie im 17. Jahrhundert, bald mehr
von der [höfiſch⸗ariſtokratiſchen] ‚Geſellſchaft', wie im 16. und 17. Jahrhundert ... Diefe Kreiſe
heben ſich in ihrer eigenen Vorſtellung und in der der anderen ſcharf ab gegen die bürgerliche
Welt... Vgl. auch Brüggemann, Dtſche Vierteljahrsſchr. III, S. 96: „Noch bis tief über die
Mitte des Jahrhunderts hinaus herrſchten der Fürſt und die Perſonen vom Stande uneingeſchränkt,
.. . in den Städten das Patriziat, das ſich in feinem Lebenszuſchnitt und in feinen Anſchauungen
ganz nach dem der höfiſchen Kreiſe richtete.“
2) Guſtav Freytag, Bilder aus der deutſchen Vergangenheit, Bd. IV, Berlin o. J., S. 314.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 541
Werfen wir zunächſt einen Blick auf diejenigen Höfe, welche für unſeren Zeit⸗
raum als Pflegeſtätten und Träger des ſchöngeiſtigen Lebens vorzüglich in Be⸗
tracht kommen, wobei unter den damaligen Umſtänden das Schwergewicht im
weſentlichen in den proteſtantiſchen Gegenden liegt?). An führender Stelle
ſteht dank ſeines Vorranges als politiſcher Hauptſtadt Berlin. Hier reſidierte
einer der maßgebendſten und angeſehendſten Fürſten Europas, deſſen Tätigkeit
ſich nicht auf diplomatiſch⸗politiſche Handlungen beſchränkte, der vielmehr darauf
ausging, ſeine Hauptſtadt zu einer Metropole auch des europäiſchen Geiſtes⸗
lebens zu machen. In welcher Weiſe er hierbei verfuhr und welche Leute er um
ſich verſammelte, iſt hinreichend bekannt. Bemerkenswert iſt das durchaus fran⸗
zöſiſche Gepräge dieſer Beſtrebungen, welche in ihrem Drange nach höchſter Voll⸗
endung in Deutſchland keine genügende Nahrung fanden und daher jeglichen
Intereſſes an der einheimiſchen Literatur ermangelten ). Voltaire, der Geiſtes⸗
held Europas, weilte in höchſteigener Perſon in der Umgebung des großen
Königs und beſtimmte den franzöſiſchen „goüt“ mit bewußter Selbſtherrlich⸗
keit. Wir wiſſen, daß ſein königlicher Herr die deutſche Sprache verſchmähte und
faſt nur franzöſiſche Schauſpiele und italieniſche Opern beſuchte. Wir kennen
ſeinen Standpunkt zur gleichzeitigen deutſchen Literatur aus ſeiner eigenen
Feder und wiſſen daraus, wie wenig Verſtändnis er hatte für die ſchöngeiſtigen
Beſtrebungen ſeiner Untertanen. Und trotzdem weilten in den Mauern der⸗
ſelben Stadt diejenigen Männer, welche einſt die Tafel von Sanſſouci ſprengen
und die größten Werke der Nation an ihren Platz ſetzen ſollten. Hand in Hand
mit dem politiſchen Aufſchwung Berlins ging das zunehmende ökonomiſche
Aufblühen, deſſen Träger das junge Bürgertum wurde, dem damit auch im
Geiſtesleben die Führung zufiel.
War ſomit Berlin unumſtritten die führende Hauptſtadt des deutſchen Nor⸗
dens, ſo beſtanden daneben doch noch mehrere kleine Höfe, die als Pflegeſtätten
des Geiſteslebens an Bedeutung der Hauptſtadt kaum nachſtanden. Gerade ihre
geringere Beteiligung an der großen Politik ermöglichte ihnen eine weitgehende
Beſchäftigung mit der Literatur und Kunſt, welche hier fern von dem Strome
des europäiſchen Völkerlebens ſich entfalten und aufblühen konnten. An dieſen
kleinen Höfen zeigte man auch zuerſt Verſtändnis für das deutſche Geiſtesleben
und keinen ſchöneren Ruhmestitel hätten ſie ſich erwerben können, als den eines
„Muſenhofes“.
Da war es in Braunſchweig die Herzogin Philippine Charlotte, die Schweſter
Friedrichs d. Gr., welche der deutſchen Literatur freundlich begegnete. Während
der Herzog Karl die italieniſche Oper Nicolinis und das franzöſiſche Schauſpiel
unterſtützte, konnte doch ſchon ſeit 1764 die Ackermannſche Truppe deutſche Stücke
von Leſſing und Chr. F. Weiße zur Aufführung bringen, ja die Prinzen brachten
3) Vgl. zu folgendem: Joſef Nadler, Literaturgeſch. d. deutſch. Stämme und Landſchaften,
Bd. II und III, Regensburg 1923 bzw. 1924 (2. Aufl.). — M. Marterſteig, Das deutſche Theater
im 19. Jahrhundert, Leipzig 1904, I. Buch, Kapitel 2.
) Vgl. Bogdan Krüger, Lektüre und Bibliothek Friedrich d. Gr., Hohenzollernjahrbuch 15,
Leipzig⸗Berlin 1911, S. 168 ff.
542 Walther Rumpf
der deutſchen Literatur ſchon das „Intereſſe des geſchmackvollen Gönners zu“ ).
Anna Amalia, eine Tochter dieſes Hofes, ſetzte in Weimar die Beſtrebungen
ihres Elternhauſes fort und führte ſie zu einer einzigartigen Höhe. Faſt alle
namhaften Gelehrten, Schriftſteller und Künſtler ihrer Zeit wußte ſie für länger
oder vorübergehend in ihre Umgebung zu ziehen und ihren großen Plänen
einer deutſchen Nationalliteratur dienſtbar zu machen 6). Die Höfe von Gotha,
Herzog Ernſt II., und Deſſau unterhielten trotz des franzöſiſchen Charakters
Beziehungen zu den deutſchen Dichtern und Gelehrten I. Größere Bedeutung
hatte die kurfürſtliche Reſidenz in Erfurt. Um die Hebung der dortigen Uni⸗
verſität, welche ſich damals am Ende ihrer Glanzzeit im Stadium der Erſtarrung
befand, war der Mainzer Kurfürſt, Joſeph Emmerich von Breidenbach⸗Bürres⸗
heim ſehr bemüht und erwirkte im Jahre 1769 die Berufung Wielands als
Profeſſor der Philoſophie. Hören wir auch aus deſſen Munde noch viele Klagen
über den mittelmäßigen Geſchmack ſeiner neuen Umgebung, ſo liegt in der Tat⸗
ſache ſeiner Berufung doch ſchon eine bemerkenswerte Aufmerkſamkeit auf das
deutſche Schrifttum der Gegenwart. War Wieland ſozuſagen der erſte Weg⸗
bereiter, ſo wurde die Ernennung Karl Theodors von Dalberg zum Statthalter
im Jahre 1772 entſcheidend für die ganze Richtung dieſes Hofes. In ihm er⸗
ſtand unſerer klaſſiſchen Literaturperiode einer ihrer berühmteſten Mäzene, deſſen
Reſidenz zu einem Mittelpunkte der deutſchen Dichtung ward 8).
Weiter ſüdlich fortſchreitend müſſen wir den mit Erfurt in Verbindung ſtehen⸗
den kurfürſtlich⸗erzbiſchöflichen Hof in Mainz anmerken. Bereits 1760 konnte
hier Ackermann eine fruchtbare Tätigkeit entfalten und ſogar die Domherren zu
ſeinem Publikum zählen. Seit dem Regierungsantritt des bereits erwähnten
Kurfürſten Emmerich Joſeph fand das Theater eine beſondere Pflege und ſogar
der Geiſtlichkeit wurde der Beſuch empfohlen. Zwar ward durch die Wirkſamkeit
Joſephs von Kurz — genannt Bernardon — der Hanswurſt noch einmal zu
neuem Leben erweckt, daneben aber wieſen ſeine Bemühungen auch in ernſtere
Richtung 9). An dem Hofe von Heſſen⸗Darmſtadt zeigte die Landgräfin Karoline
durch eine Sammlung der Klopſtockſchen Oden 1771 ihre Teilnahme am ein⸗
heimiſchen Literaturleben 10), während der Landgraf Friedrich II. von Heſſen⸗
Kaſſel noch ganz dem franzöſiſchen Geſchmack huldigte und man dort an nie⸗
drigen Späßen Gefallen fand 11). In Süͤddeutſchland konzentrierte ſich das
höfiſche Leben des Weſtens insbeſondere in Stuttgart, wo rauſchende Feſtlich⸗
keiten in franzöſiſchem und italieniſchem Stil ungeheure Summen verſchlangen
8) F. Hartmann, Sechs Bücher braunſchweigiſcher Theatergeſchichte, Wolfenbüttel 1905, S. 170ff.
s) Vgl. Wilhelm Bode, Der Weimarer Muſenhof, Berlin 1917.
7) Joſeph Nadler, Bd. III, S. 112 ff. — A. Koberſtein, Grundriß der Geſchichte der deutſchen
Nationalliteratur, 5. Aufl., von Karl Bartſch, III, Leipzig 1872, § 262.
8) Boxberger, Jahrbücher der Akademie zu Erfurt, Neue Folge, Heft 7, Erfurt 1870, Erfurts
Stellung zu unſerer klaſſiſchen Literaturperiode. — Allgemeine deutſche Biographie, IV, S. 703 ff.,
Artikel Dalberg.
) J. Peth, Geſchichte des Theaters und der Muſik zu Mainz, Mainz 1879, Kapitel IV und V.
10) Koberftein, III, $ 262.
11) W. Schoof, Die deutſche Dichtung in Heſſen, Marburg 1901.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 543
und für Werke deutſchen Geiſteslebens weder Platz noch Geld vorhanden war 12).
Als ſüdlichſte Reſidenzſtadt kommt ſchließlich noch München in Betracht, wo die
fremden Einflüſſe ebenfalls noch ſehr beſtimmend waren und die Anſätze zur
Pflege deutſcher Kunſt erſt ſpärlich auftraten 13). Dieſer kurze Überblick über die
für das literariſche Leben beſonders bemerkenswerten Höfe und Reſidenzen mag
zur allgemeinen Orientierung genügen. Es ſei nun verſucht, durch eine Auswahl
kritiſcher Außerungen und Nachrichten einen Einblick in die Geſchmacksverhält⸗
niſſe dieſer Kreiſe zu gewinnen.
Die weitaus größere Mehrheit ſtand noch unter franzöſiſchem bzw. italieni⸗
ſchem Einfluß, fo daß Uz noch 1767 ſeinem Freunde Gleim als beſonders be⸗
merkenswert mitteilte: „Ihr blöder Schäfer verdient den größten Beifall und ich
freue mich, daß ich ihn an einem erleuchteten Hofe gefunden, der auch an deut⸗
ſchen Sachen Geſchmack findet. Es iſt noch keine Hoffnung, daß er viele Höfe
zu Nachfolgern haben werde !“).“ Sehr ausſichtsreich ſtand es alſo demnach für
die deutſche Literatur in dieſen Kreiſen nicht. So meldete Schubart ſeinem
Schwager Böckh ſeinen Eintritt in die Stuttgarter Hofkreiſe folgendermaßen:
„Ich bin nunmehr ein Hofmann ... meine Studirſtube hat ſich in ein Puz⸗
zimmer verwandelt, mein Pult iſt eine Toilette, meine Bücher habe ich einem
kontrakten Schulmeiſter geſchenkt 15).“ Ein wenig lobenswertes Zeugnis für die
geiſtige Atmoſphäre ſeiner neuen Umgebung, deren Ton er ſich gefliſſentlich an⸗
zupaſſen verſuchte. In demſelben Briefe gibt er auch eine Schilderung der Art
dieſer Beluſtigungen „im Lerm der großen Welt, welche die Stimmen der
ruhigen Muſe überſchreit“. Die gewöhnlichen Hofluſtbarkeiten nehmen den
breiteſten Raum ein: Opern, Bälle, Kapuzinaden, Harlekinaden, „wo der Hans⸗
wurſt den Geſchmok des hochadeligen Publici mit verfluechten Stroachen, Zoten
und Wortſpielen vergnüegt, daß ma krepirn möcht“ 18). Aus einer ſolchen Stim⸗
mung heraus macht ihn der Gedanke an den wiſſenſchaftlich arbeitenden Schwa⸗
ger mit der Pelzmütze lachen. Mit Recht klagt daher J. Fr. Löwen über das
mangelnde Intereſſe der Fürſten und Wohlhabenden am Theater und ruft ſie
flehend an:
Ihr werdet die Seele der Bürger
Erhöhen, die Herzen erweitern, die Sitten verbeſſern
und Gefühl und Geſchmack wird alle Stände beleben.“)
12) R. Kraus, Schwäbiſche Literaturgeſchichte, Freiburg i. Br. 1897.
13) P. Legband, Münchener Bühne und Literatur im 18. Jahrhundert, München 1904. — Vgl.
an — der bayeriſchen Literatur vom Jahre 1778, Nürnberg 1781, I, 1, S. 17 ff.,
40, 47 ff. |
14) Gleims Briefwechſel mit Uz, hrsg. von C. Schüddekopf, Tübingen 1899, Brief vom
195 9, 1767 aus Anspach. Gemeint ift die Aufführung in Ballenſtedt „der itzigen Reſidenz des
en“.
18) Chr. Fr. D. Schubarts Leben in feinen Briefen von D. Fr. Strauß, II. Aufl., Bonn 1878,
Brief vom 6. 2. 1771 (I. Teil, S. 176).
16) a. a. O. S. 176.
17) J. Fr. Löwen, Geſchichte des deutſchen Theaters (1766) und Flugſchriften über das Ham⸗
burger Nationaltheater (1766 und 1767), Neudrucke literarhiſtoriſcher Seltenheiten von F. v. Zo⸗
beltitz, Nr. 8, S. 57.
der Großen und macht unter den Hemmniſſen für eine freie Entwicklung u. a.
namhaft „den ſchlechten Schutz der deutſchen Fürſten und der angeſehendſten
Perſonen in den großen Städten“ 18).
Das Hofleben war durchaus verwelſcht und die Teilnahme an der deutſchen
Dichtung aus dieſen Kreiſen verbannt. So heißt es in einem Briefe aus Wien:
„. . . Der Adel beſucht das fremde Schauſpiel ... man lieſt wiederum weit
weniger, der Geſchmack iſt in der Tat noch wenig verbreitet, das Nationaltheater
liegt im Wuſt, das franzöſiſche iſt allein beſucht, geſchätzt, ſowie auch die Opera
Buffa, die ebenfalls gut iſt. Wir Deutſchen allein ſind verachtet, nur zu oft durch
unſere eigene Schuld, und kein Ausländer verachtet uns empfindlicher, als unſere
deutſchen Kavaliere, als unſere eigene Nation.“ 19)
Oft ging jahrzehntelang kein deutſches Stück über die deutſchen Bühnen, wie
das z. B. R. Krauß für den württembergiſchen Hof nachweiſt 0), demzufolge von
1746 ab „auf ein Vierteljahrhundert hinaus zum letztenmal eine einheimiſche
Truppe in Stuttgart Vorſtellung gehalten“ ?!). Und für München haben wir
eine ausführliche Unterſuchung über die Zeit von 1748 —1773, die uns ebenfalls
Hof und Adel als Geſchmacksträger zeigt, „die des Volkes ſtumpfe Bedürfnis⸗
loſigkeit in höheren Dingen nicht teilten“ 22). Der Grund für dieſes Verhalten
der „bürgerlichen“ Schichten iſt in ihrer allgemeinen Bildung und nicht zuletzt
auch in den konfeſſionellen Verhältniſſen zu ſuchen, denn es iſt zu beachten, daß
Wien und München als katholiſche Höfe einer Bildungsſphäre angehören,
welche ſich gerade im Hinblick auf die bürgerlichen Schichten von den anderen
proteſtantiſchen Gegenden ſtark unterſcheiden, während die Oberſchichten ſich in
ihrer Geſamthaltung enger berühren.
Die paſſive Haltung des breiteren Publikums aber gegenüber der deutſchen
Literatur, vielmehr deſſen Fehlen überhaupt, machte ſich eben in einer Ver⸗
welſchung des ganzen Geſchmackes geltend, ſo daß im Jahre 1760 ſogar öffent⸗
lich franzöſiſche Schauſpiele gepflegt wurden, „welche in dem damaligen Mün⸗
chen genügendes Verſtändnis für franzöſiſche Sprache und franzöfifhe: Kunſt
vorausſetzen konnten“ 23). Bis zum Jahre 1769 laſſen ſich hier franzöſiſche
Schauſpieler nachweiſen, die ſich ſchließlich den bürgerlichen Gewerben zu⸗
wandten und damit den Geſchmack der einſtigen Oberſchicht, in deren Dienſt ſie
geſtanden hatten, in die bürgerlichen Kreiſe übertrugen, wie es ſich in den Sitten
und dem Verhalten der Bürger in den 70er und 80er Jahren ausprägte ?“). Die
Herausgeber der „Briefe, die neueſte Literatur betreffend“ befaßten ſich im An⸗
ſchluß an Weißes Beiträge zum deutſchen Theater ebenfalls mit dieſem all⸗
18) a. a. O. S. 55.
19) Allgemeine deutſche Bibliothek, X, 2, S. 32.
20) RN. Krauß, a. a. O. 143 ff.
21) a. a. O. S. 143.
22) P. Legband, a. a. O. S. 101 ff.
25) P. Legband, a. a. O. S. 114.
20) a. a. O. S. 115,
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 545
gemeinen Zuſtänden und machen neben der Intereſſeloſigkeit der Großen auch
noch die niedere Herkunft der Schauſpieler für den allgemeinen Tiefſtand mit
verantwortlich 5). Ferner heißt es: „Unſere Großen finden entweder keinen Ge⸗
ſchmack an der Schaubühne, oder fie kennen die franzöſiſche zu gut“ 26). Grad⸗
meſſer ſind immer noch die höfiſchen Kreiſe. So gibt des Freiherrn von Gebler
theatraliſcher Verſuch „Der Miniſter“ Klotz zu der Bemerkung Anlaß: „Das
Anſehen eines ſolchen Mannes allein kann dem Theater ſchon ſehr wichtige
Dienſte leiſten, und wenn die Großen einer Stadt einen verfeinerten Geſchmack
haben, ſo wird man die Wirkungen davon bald auf dem Theater wahr⸗
nehmen ).“ Es kündigt ſich hier nun zugleich aber auch eine aktive Beteiligung
der höheren Schichten am kunſtſchaffenden Literaturleben an, die alsbald reiche
Früchte tragen ſollte durch die rege Teilnahme adliger Hofleute an dem ein⸗
heimiſchen Schrifttum.
Welche untergeordnete Stellung jedoch zu unſerer Zeit die deutſche Literatur
noch ihm Rahmen der adligen Erziehung einnahm, dafür ſprechen die ſpärlichen
Nachrichten in den Biographien bekannter Zeitgenoſſen. Ritter Karl Heinrich
von Lang nennt als ſeine erſten Bücher Baſedow, Raffs Geographie und Natur⸗
geſchichte, Mme. Beaumont, Lafontaine, Gellert und die Berliner Bibliothek 28).
Weſentlich alſo auf Realwiſſenſchaften und die franzöſiſche Bildung gerichtete
Werke, in deren Reihe Gellert wohl weniger aus Liebe zur deutſchen Literatur
als unter dem Zwange der allgemeinen Bewunderung und Anerkennung einen
Platz gefunden hat. Gerade in dieſem Falle Gellert mag einmal hingewieſen
werden auf die ungeheure Bedeutung der öffentlichen Meinung, welche bei der
Auswahl der Lektüre einen entſcheidenden Einfluß ausübt, der ſchließlich zu
einer traditionellen Macht wird, deren ſymptomatiſche Bedeutung in jedem
Falle der genauen Prüfung bedarf 2).
In der Erziehung des Freiherrn vom Stein finden wir keine Spur irgend⸗
welcher literariſchen Beſchäftigung. Allerdings dürfen wir hierbei die perſön⸗
liche Einſtellung des Biographen ſelbſt nicht überſehen, welcher durch ſeine eigene
Zeit und dann durch die Darſtellung eines vorzüglichen Staatsmannes auf
dieſen Punkt weniger Wert gelegt hat, doch wird es trotzdem erlaubt ſein,
wenigſtens die Erkenntnis daraus zu entnehmen, daß im Rahmen der ariſto⸗
kratiſchen Privaterziehung die fchöngeiftige Bildung keinen eben ſehr breiten
Raum einnahm, denn die Kavaliersreiſen galten der Aneignung weltmänniſchen
Benehmens und nicht literariſchen Studien 50). Erſt ſehr langſam treten die
Angehörigen dieſer Oberſchicht aktiv an die Literatur heran. Bei Prüfung dieſes
Punktes iſt jedoch von Fall zu Fall darauf zu achten, ob es ſich um Geburtsadel
25) Briefe, die neueſte Literatur betreffend, hrsg. von Fr. Nicolai, Berlin 1759 ff., 81. Brief.
(Zitiert als Literatur- Brief.)
20) a. a. O. 190. Brief.
27) Deutſche Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften, hrͤg. von Herrn Geheimdenradt Klotz, VI,
S. 565. (Zitiert als Klotzens Bibliothek.)
28) Ritter Karl Heinrich von Lang, Aus der böſen alten Zeit, Stuttgart o. J., S. 39.
29) Vgl. hierzu Julian Hirſch, Die Geneſis des Ruhmes, Leipzig 1914.
00 G. H. Pers, Das Leben des Miniſters Freiherr vom Stein, Berlin 1849.
Supbarion XXVIII. 35
546 Walther Rumpf
oder Briefadel handelt, wie letzteres z. B. für fo bekannte Männer wie Sonnen⸗
fels und Gebler in Wien zutrifft.
Geographiſch verläuft die literariſche Bewegung des Adels jedoch im Gegenſatz
zu früher nunmehr weſentlich von Norden und Oſten her nach Süden und
Weſten. Das Stammland des alten Adels lag in der Mark und hier bildete ſich
auch der neue politiſch⸗ökonomiſche Schwerpunkt, der alsbald ſeine mannig⸗
fachen Kräfte ausſtrahlte. Bisher war die Geſchmacksrichtung weſentlich weſt⸗
lich, d. h. nach Frankreich orientiert, deſſen Stil ebenſo wie der italienifche über
die Reſidenzen der Grenzlande Eingang und allgemeine Geltung erlangt hatte.
Es genügt zur Verdeutlichung dieſes Verlaufes, auf die zunehmende Bedeutung
Berlins, Leipzigs und Hamburgs hinzuweiſen, wovon die beiden letzteren be⸗
zeichnenderweiſe keine Reſidenzſtädte mehr find, ſondern aufblühende Handels⸗
ſtädte des neuen Bürgertums. Am markanteſten zeigt das neue Gebiet vielleicht
der däniſche Hof, deſſen Gaſtfreundſchaft für deutſche Künſtler jener Zeit nur zu
bekannt iſt 51).
Ein Vertreter der jungen Ariſtokratie tritt uns entgegen in dem Kammer⸗
herrn Karl Ludwig von Knebel 2), dem Mitgliede des Weimariſchen Muſen⸗
hofes. Bedeutſam für uns find die Mitteilungen über feine literariſche Ent⸗
wicklung und ſeinen Aufenthalt in Potsdam im Jahre 1765. „Während ein
Dezennium vorher Ewald von Kleiſt im Kreiſe ſeiner Kollegen keine Teilnahme
für ſeine Dichtung hatte finden können, bildete ſich jetzt um Knebel ein Kreis
von Offizieren, welche die Muſe des Friedens zu poetiſcher Tätigkeit und ſchrift⸗
ſtelleriſchen Betrachtungen verwendeten 33).“ In welchen Bahnen ſich der Ge⸗
ſchmack dieſer Leute bewegte, verſuchen wir Knebels kritiſchen Außerungen zu
entnehmen, wie ſie uns in ſeinem literariſchen Nachlaſſe vorliegen?“). Am
5. Auguſt 1766 ſchreibt er ſeinem Freunde Gilbert: „Die Lieder der Deutſchen
des Herrn Rammlers habe ich geleſen ... ich glaube der Einfall der Verbeſſerung
. . iſt ziemlich beſonders und auf dieſe Art wenigſtens in der Literatur beinahe
unerhört ... Es bleibt allemal unrecht, was er getan hat und feine Verbeſſe⸗
rungen .. find auch hin und wieder ziemlich ſteif und gezwungen ..“ 35) Er be⸗
ſchäftigt ſich alſo recht eingehend mit literariſchen Fragen, wenngleich wir ſolche
Kritiken nicht allzu ernſthaft nehmen dürfen, denn ſchon zwei Monate ſpäter
ſpricht er ſich ſeinem Freunde gegenüber bei deſſen Bekanntſchaft mit Rammler
um ſo anerkennender aus. Er ſchreibt da: deſſen Umgang „wird Dir doch ſehr
viel zu der Liebe zur dramatiſchen Dichtkunſt beitragen können .. 36). Er ers
kennt alſo in Rammler eine durchaus maßgebende Perſönlichkeit des literari⸗
ſchen Lebens an, der er ſich trotz des früheren ſehr ſcharfen Tadels (beinahe uner⸗
hört!) in allen literariſchen Fragen unterordnet. Aus der Reihe der lebenden
) Vgl. Kürſchners deutſche Nationalliteratur, Bd. 50. — Nadler, Bd. II, S. 353.
=) 5 deutſche Biographie, XVI, S. 275, Artikel K. L. von Knebel von Jakob Minor.
0 a. a
A) K. L. von 1 591 Literariſcher Nachlaß, hrsg. von Varnhagen von Enſe und Th. Mundt,
Leipzig 1835.
200 a. a. I., S. 6.
30) Brief vom 28. 11. 1766 (S. 9).
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 547
Dichter bleibt ihm auch Jakobi nicht unbekannt und er „hat mir recht ſehr ge⸗
fallen. Er hat mir ein einem Dichter anſtändiges Herz“ 37). Und in demſelben
Zuſammenhange nennt er wiederum Rammler feinen „Lieblingsdichter“ 0),
deſſen Erkrankung ihn zu dem Ausrufe veranlaßt: „Apollo, der Arzt und
Dichter, wird feinen erſten Sohn nicht fallen laſſen.“ ??) Dieſe wenigen Bemer⸗
kungen, welche ſich über das literariſche Leben der ſechziger Jahre in ſeinen
Aufzeichnungen finden, erfahren eine Ergänzung durch die Briefe, welche er
von Gleim empfing, durch deſſen Vermittlung er mit dem geſamten literariſchen
Leben ſeiner Zeit in enger Verbindung ſtand. Beſonders zahlreich ſind Boies
Berichte, der ebenfalls in lebhafter Wechſelbeziehung mit ihm ſtand und das
Wollen der Zeit anſchaulich charakteriſierte, wenn er ſchreibt: „Wir alle, die wir
Scherz und Liebe ſingen, meinen wir nicht den Geſchmack an grober Wolluſt da⸗
mit auszurotten?“ 0) Es kommt hier neben der wichtigen Tatſache höfiſcher
Teilnahme an der deutſchen Literatur auch die Richtung dieſes Verhaltens und
der Inhalt zum Ausdruck. Man war ſich eben doch ſehr wohl des weitgehenden
Einfluſſes auf die Bürgerkreiſe bewußt und ſuchte mit gutem Beiſpiel voran⸗
zugehen. Über den Verlauf dieſer Wandlung, welche von grundlegender Be⸗
deutung wurde, verdanken wir den Unterſuchungen Wilhelm Bodes recht wert⸗
volle Angaben 41). Sehr bezeichnend iſt da z. B. K. Chr. Starkes Spiel in Wei⸗
mar im Winter 1768/69, anläßlich der Geburtstagsfeier Anna Amalias 2).
Als Feſtvorſtellung ging Leſſings Minna von Barnhelm in Szene, während im
Vorſpiel die Fürſtin gefeiert wurde. Sein Titel lautete in nicht mißzuverſtehen⸗
der Weiſe „Die aufgehende Sonne“ und unter den auftretenden Perſonen war
auch der „gute Geſchmack“ *3), deſſen literariſche Feier ſeit Voltaires „temple
du goũt“ 44) einen breiten Raum in der Literatur einnahm und wohl auch hier
feine Spuren hinterlaſſen hat 2°). Daß es ſich hier nicht nur um die übliche
Schmeichelei handelte, vielmehr gerade im Kreiſe dieſer Fürſtin eine gründliche
Geſchmackswandlung ſich vollzog, iſt ja durch die Entwicklung der Folgezeit voll⸗
auf beſtätigt worden. Mag auch die Einſtellung des Verfaſſers des Vorſpieles
weſentlich von traditionellen und perſönlichen Zweckmäßigkeitsgründen be⸗
ſtimmt geweſen fein, fo glauben wir doch cum grano salis auch in dieſem Zeugniſſe
einen Beitrag zum höfiſchen Geſchmackswandel zu finden. Nicht weniger inter⸗
eſſant iſt dann die Errichtung eines Theaterſaales im öſtlichen Flügel der Reſi⸗
37) Brief vom 8. 11. 1770 (S. 14).
3) Brief vom 8. 11. 1770 (S. 14): „. .. noch iſt er mein Lieblingsdichter.“
89) Brief vom 27. 11. 1770 (S. 16).
0) a. a. O. Boie an Knebel 6. 12. 1770.
u) Wilhelm Bode, Der Weimariſche Muſenhof, 1756 — 1781, Berlin 1917.
) a. a. O. S. 51 ff.
0) a. a. O. S. 51.
29) Herm. A. Korff, Voltaire im literariſchen Deutſchland des 18. Jahrhunderts, Heidelberg
1917, S. 138 ff.
48) „So wie der Sonne Licht den Erdenbau belebet,
den Bäumen Saft erteilt, die Saat zur Reife hebet
ſo biſt du, große Frau, die Zierde deiner Länder.“
Nach Bode, S. 52.
548 Walther Rumpf
denz, deſſen Zuſchauerraum 100 Perſonen faßte und zwar 30 Plätze für Hof
und Adel auf dem Rang und 70 bürgerliche im Parterre, ſo daß auf 60 Ein⸗
wohner ein Platz kam“). Der Sinn dieſer Zahlen iſt der, daß der Hof um eine
Erweiterung des literariſchen Publikums und damit überhaupt um eine Hebung
des allgemeinen Bildungs⸗ und Geſchmacksniveaus bemüht war, woraus wir
eine günſtige Wandlung der literariſchen Verhältniſſe entnehmen dürfen. Selbſt⸗
redend war damit auf dem Gebiete des Theaters z. B. noch keine prinzipielle
Durchführung des deutſchen Schauſpieles erzielt, denn noch immer wurden von
der Herzogin und ihrem Hofe Tanzſpiele und Singſtücke mit beſonderer Freude
gepflegt, da eben das Vergnügen an ſolchen leichten und ſcherzhaften Stücken zu
ſehr durch die ganze Atmoſphäre des internationalen unter franzöſiſchem Ein⸗
fluß ſtehenden Hoflebens geweckt war, dem ſich die Ariſtokratie bei ihrer Son⸗
derung und ſtraffen Organiſation im geſellſchaftlichen Leben nicht entziehen
konnte. Gerade in ihrer Lektüre war ſie wie kaum ein anderer Stand dem Traditio⸗
nalismus ausgeliefert. Denn, „was iſt Geſchmack anderes, als ein inſtinktives Ur⸗
teilen, ein Urteilen, wie es faſt unbewußt aus Erziehung und Bildung hervor⸗
quillt““7). Zwei Faktoren alſo, deren ſtrenger Gebundenheit wir immer wieder
begegnen werden und die gerade bei dieſem Stande beſonders zu beachten find.
Um ſo anerkennenswerter iſt daher die Überwindung dieſer Widerſtände und
„die gute Auswahl der Stücke, welche — nach einem Zeugniſſe Wielands —
unter der Oberaufſicht des Hofes ſelbſt getroffen wird“ #5), In dem gleichen
Zuſammenhange wird auch die bewußt pädagogiſche Abſicht der Fürſtin er⸗
wähnt, welche über reine Unterhaltung, Erholung, Zeitvertreib hinaus, an eine
Gemütsergötzung der unteren Klaſſen dachte, „die zugleich für Selbige eine
Schule guter Sitten und tugendhafter Empfindungen iſt“ ““). Schillers Schau⸗
bühne als moraliſche Anſtalt iſt alſo hier vorausgedacht, vollendete er doch nur
eine Entwicklung, welche ganz konſequent der Anlage unſeres modernen Bil-
dungsweſens folgte. Setzen wir dieſe pädagogiſch moraliſche Abſicht mit dem
Geſchmack in Beziehung, ſo dokumentiert ſie einmal ſeine Anerkennung als
eines öffentlichen Faktors, dann aber beſagt ihre Motivation eine zunehmende
Wendung zu den bürgerlichen Kreiſen, welche aus der Schule moraliſch-welt⸗
licher Lektüre kommend 50) das ſittliche Moment mitbrachten, während die fran⸗
zöſiſch⸗italieniſche Hofkultur bisher wenig davon wußte.
Ebenſo wichtig als die Säkulariſation der Bühnenliteratur war aber auch
die Offnung der Bibliotheken, welche in ihrem Bücherbeſtande der höfiſchen Pros
tektion entſprechend zuſammengeſetzt waren. Wollte man ſie einer Hebung des all⸗
gemeinen Geſchmacksniveaus dienſtbar machen, dann war eine leichtere Zugänglich⸗
keit notwendig. Daher ließ Anna Amalia 1763—66 eine Überführung der Bücher⸗
%) d. a. O. S. 72 ff.
7) Egon Cohn, Geſellſchaftsideale und Geſellſchaftsroman des 17. Jahrhunderts, Berlin 1921,
S. 82. (Sperrung vom Verf.)
40) Zitiert nach ol S. 114.
40) a. a. O. S. I
80) Vgl. hierzu N. Sn Der deutſch⸗lateiniſche Büchermarkt. Nach den Leipziger Oſtermeß⸗
talen von 1740, 1770 und 1800 in feiner Gliederung und Wandlung. Leipzig 1912, S. 75 ff.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 549
ſammlung aus der Schloßburg in das „Grüne Schlößchen“ vornehmen. Durch
dieſen Schritt ermuntert „trugen die einheimiſchen Bücherfreunde nun kein Be⸗
denken mehr, häufig bei den Brüdern Bartholomäi vorzuſprechen und den
Durchreiſenden wurde von jetzt an dieſe Bibliothek als eine Sehenswürdigkeit
gezeigt“ 51).
Wie es mit den Beſtänden ſolcher Bücherſammlungen beſchaffen war, geht
aus einem Briefe Leſſings aus Wolfenbüttel hervor, in welchem er Nicolai um
die Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften und freien Künſte bittet, denn „auf
der Bibliothek iſt ſie auch nicht und wir haben kein Geld, deutſche Journale zu
kaufen“ 22). Ein ſehr deutliches Zeugnis für die Abhängigkeit von dem Ge⸗
ſchmack des Hofes. Dieſe Einſtellung war ſo ſehr zu einer Selbſtverſtändlichkeit
geworden, daß man jede Nachricht und Ankündigung mit Aufmerkſamkeit ver⸗
folgte, welche auch einmal auf deutſche Dichtung Bezug hatte. So ſchreibt Leſſing
an Eva König, „daß man am Pfälziſchen Hofe auf die Einrichtung eines
deutſchen Theaters denke, höre ich von Ihnen zuerſt. Ich wünſche ſehr, daß etwas
daran fein möge“ 53). Mit beſonderer Genugtuung teilt ihm daher fein Bruder
Karl aus Berlin die Anweſenheit der Fürſtlichkeiten bei Aufführung der Minna
von Barnhelm mit, welche aber allein zur Befriedigung des Publikums kaum
hingereicht hätte, daher am Schluſſe noch der „Bocksbeutel“ gegeben wurde, denn,
fährt Karl fort „er — (Döbbelin) — kennt die Großen, denen der Bocksbeutel
ein ſehr ſchönes Stück iſt ... Ich kam und fand ein Parterre etlicher zwanzig
Perſonen, von denen ich weiß, daß fie keinen beſſeren Erholungsort wiſſen .
Auf der Gallerie befanden ſich die Kenner und Gelehrten“ ). Vielleicht ſoll dieſe
Schlußbemerkung einen Seitenhieb auf die Urteilsloſigkeit des vornehmen Par⸗
terres ſein, und man könnte darin eine Ankündigung des aufkommenden Mittel⸗
ſtandes ſehen, der eben nicht mehr mit „bon goüt“, ſondern mit geſundem Emp⸗
finden kritiſiert.
Die Bedeutung der adligen Kreiſe ſank immer mehr gegenüber dem jungen
Bürgertum, wie deutlich aus einem Berichte Eva Königs aus Wien hervorgeht,
wo ſie über „Die Witwe“ und „Das Lotto“ des Freiherrn von Gebler nichts
ſagen will, denn dieſer habe ſelbſt geäußert, „er habe dieſe Stücke für die Logen
geſchrieben“ 55). Der Wandel des Publikums wird ſomit immer offenſichtlicher
und das Geſicht des ganzen literariſchen Lebens bekommt andere Züge 56). Da⸗
her erlitt Joſeph von Kurz bei ſeiner Rückkehr nach Wien im Jahre 1770 auch
einen völligen Mißerfolg. „Man ſchob es auf ſein Alter, aber er hatte ſich nicht
geändert, ſondern der Geſchmack 57.“
Die alte klaſſiſche Forderung, nach „Natur“, wie fie durch Batteux ihre theo⸗
81) Bode, a. a. O. S. 46.
5) G. E. Leſſings Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann, 3. Aufl., Leipzig 1904, beſorgt
von Fr. Muncker, XVII. Bd., Brief vom 17. 5. 1770, S. 323.
55) a. a. O. Brief vom 29. 11. 1770, S. 352.
50 Lachmann, Bd. XIX, Brief Karl Leſſings an feinen Bruder vom 11. 4. 1768, S. 251.
55) a. a. O. Brief vom 19. 12. 1770, S. 429.
se) H. A. Korff, a. a. O. I, S. 82.
37) E. Devrient, Geſchichte der deutſchen Schauſpielkunſt, Leipzig 1848, II, S. 221.
550 Walther Rumpf
retiſche Formulierung gefunden hatte 58), fand ebenſo ihre Fortfegung in der
Oberſchicht, als ſie nunmehr auch nach unten durchſickerte. Bei dieſem Vorgang
blieb der Name zwar derſelbe, aber ſein Inhalt ward neu beſtimmt vom Stand⸗
punkte des Fordernden aus, d. h. das junge Bürgertum deutete „Natur“ nun⸗
mehr in feinem Sinne. Aber man blieb in „den hohen Kreiſen ... noch lange
den gedämpften Farben treu, die der franzöſiſche Klaſſizismus als Natur emp⸗
fand ... der Begriff der Natur hatte ſich geändert in dem Maße, wie ſich das
teilnehmende Publikum geändert hatte, von dem die Literatur nunmehr ge⸗
tragen wurde“ 59). 1
Die bürgerliche Geſellſchaftsſchicht dieſer Zeit hatte in ſtrenger Sonderung
von den Höfen und dem Adel ihren eigenen Bildungsgang, der aus den ver⸗
fchiedenartigſten Quellen geſpeiſt wurde. Ihre beſondere Aufgabe lag in der
Ausbildung des Gelehrtenſtandes und des ſogenannten „gebildeten Bürger:
tums“ durch die Herkunft ihres Bildungsideals aus dem humaniſtiſch-pro⸗
teſtantiſchen Anſchauungskreiſe und dem davon beſtimmten Erziehungsweſen,
deſſen Bedeutung für die Geneſis des neuen Publikums vor allem von Herbert
Schöffler für die engliſche Literatur des 18. Jahrhunderts nachgewieſen wurde.
Faſſen wir zunächſt einmal die Städte ins Auge, in welchen die neuen Geſell⸗
ſchaftskreiſe zur Geltung kamen. Im Gegenſatz zu früher ſind dies nunmehr in
erſter Linie die Univerſitäten, welche als Hüterinnen der Geiſtesgüter eine ganz
hervorragende Stellung einnehmen und das geſamte akademiſche Leben in ſich
vereinigten. Der Heiligenſchein des „Traditionalismus“ ſicherte ihnen von
vornherein ein ungetrübtes Anſehen, unter deſſen Schutz ſich das philiftröfe und
konſervative Gelehrtenweſen, vorzüglich die Geiſtlichkeit, breitmachen konnte.
Von den Kathedern aus ward der gute Geſchmack beſtimmt und ſie gaben auch
dem Bürgertum zunächſt noch das Gepräge.
Die Hauptbildungszentren haben wir in Mittel⸗ und Norddeutſchland zu
ſuchen, wo ſeit der Reformation alle Bildungstendenzen zuſammenſtrömten.
Es waren vor allem Jena, Leipzig, Halle und Göttingen, während die Uni⸗
verſität Erfurt ihren Höhepunkt überſchritten hatte. An die Seite dieſer Uni⸗
verſitätsſtädte traten nunmehr als äußerer Ausdruck des ökonomiſch⸗geſell⸗
ſchaftlichen Umſchwungs auch die großen Handelsſtädte, und zwar mit immer
ftärferer Entſchiedenheit. Die bürgerlichen Finanzkreiſe verſtanden es, ihre
Geldmittel einer bürgerlichen Kultur nutzbar zu machen, und der Kaufmanns⸗
ſtand trat als Mäzen an die Stelle des verarmenden Adels. Am bezeichnend⸗
ſten tritt dies bei der Entwicklung des Bühnenweſens zutage, deſſen erſtes
bedeutendes Unternehmen in der Stadt Hamburg von bürgerlichem Kapital
getragen wurde. Es iſt kein Zufall, daß gerade in dieſer Stadt das erſte
deutſche Nationaltheater zur Taufe gehoben wurde und in der Folgezeit die
Kaufmannsſtädte die Reſidenzen überflügelten. Ausdrücklich bemerkt z. B.
8 Vgl. H. Hettner, Literaturgeſchichte des 18. Jahrhunderts, J. Aufl., Braunſchweig 1879, II,
. 259 ff.
96) H. A. Korff, a. a. O. S. 82.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 551
Klotzens Bibliothek bei der Übernahme des Theaters in Wien durch Herrn
von Bender: „... es iſt abermals ein Kaufmann, welcher die deutſche Bühne
in Aufnahme zu bringen ſucht ... 60) Neben Hamburg tritt Leipzig nun
wiederum hervor, aber weniger um ſeiner Univerſität willen als aus merkan⸗
tilen Gründen. Mit Stolz nannte es ſich „Klein⸗Paris“, worin eine entſchie⸗
dene Abſage an die philiftröfe Univerſitätsſtadt von geſtern liegt. Aus der theo⸗
logiſch⸗moraliſchen Hochſchule war eine „Weltſtadt“ geworden, der aus allen
Gegenden Deutſchlands die jungen Studenten zuftrömten, jedoch nicht um zu
ſtudieren, ſondern um den Ton der großen Welt kennenzulernen und ſich
denſelben anzueignen, wie es uns Goethe im 7. Buche von Dichtung und
Wahrheit anſchaulich geſchildert hat.
In der gleichen Richtung entfaltete ſich auch die preußiſche Hauptſtadt Ber⸗
lin, wo neben dem franzöſiſchen Hofe das junge Bürgertum ſeine literariſchen
Kreiſe bildete. Die erſten Grundlagen der ſpäteren Salons wurden hier gelegt
und geiſtreiche Juden die treibenden Kräfte des literariſch-ſchöngeiſtigen
Lebens. So führte der junge Leſſing ſeinen Freund Boie in einen Kreis „ſehr
artiger und geiſtreicher Jüdinnen, die mit Verſtand und Geſchmack von unſerer
Literatur redeten“ 61).
Zu dieſen führenden Städten tritt dann noch Frankfurt / Main hinzu, wo
gerade in den ſechziger Jahren der Verſuch zur Errichtung einer Dauerbühne
unternommen wurde und die alten Patrizierfamilien und Kaufherren neben
ihren politiſchen Beziehungen und Handelsintereſſen auch an dem Geiſtesleben
Anteil nahmen 52).
Im Mittelpunkt des ſüddeutſchen Handels hatte lange Zeit Augsburg ge:
ſtanden, welches aber ſeine Glanzzeit längſt hinter ſich hatte und für unſere
Zeit kaum mehr in Frage kommt. Schubart bezeugt uns dies in einem Briefe
an Haug „. ., ſelbſt Ulm und Augspurg zeigen Ihnen auf der Karte lauter
poetiſche Wüſteneien“ 69). |
Verſuchen wir nun nach dieſem kurzen Überblick durch einige Beiſpiele einen
Einblick in die tatſächlichen Verhältniſſe zu gewinnen, indem wir von einer
Betrachtung der Zuſammenſetzung der literariſch intereſſierten Kreiſe ausgehen.
Der Schwerpunkt liegt ganz bei den Gelehrten und Männern des Bildungs⸗
weſens, deren größerer Teil „ſitzt in kleinen Städten, hat nur einfeitige Ideen,
die er eifrig fortzupflanzen ſucht, weil die paar Leute, die um ihn ſind, ſolche
ausſchließlich billigen“ “). Durch ihren Beruf und ihre Stellung im Rahmen
des Geſellſchaftslebens waren ſie von vornherein zu Geſchmacksträgern be⸗
ſtimmt und daher auch die einzig wirklich Intereſſierten, welche einen Kreis
eo) Klotzens Bibliothek, IV, 16.
61) K. Weinhold, Chriſtian Heinrich Boie, Halle 1868, S. 28.
4) Vgl. E. Mentzel, Geſchichte der Schauſpielkunſt in Frankfurt / Main 1882. — A. H. E. von
Oven, Das erſte ſtädtiſche Theater zu Frankfurt / Main, 1872.
s) David Fr. Strauß, a. a. O. vom 15. 7. 1763 (1, S. 16).
64) Nicolai in feinen, von Göckingh in deſſen Lebensbeſchreibung mitgeteilten Bemerkungen
Nr. 23, zitiert nach Biedermann, Deutſchlands geiſtige, ſittliche und geſellſchaftliche Zuſtände im
18. Jahrhundert, Leipzig 1867, II, 2, 1, S. 233 Anm.
552 Walther Rumpf
„akademiſcher“ Bürger um ſich ſammelten und mit ihnen die Produkte des
Geiſteslebens aufnahmen. Als akademiſche Lehrer waren ſie in ihrem Urteil
angeſehen, oder als Geiſtliche und Beamte mit dem Odium einer beſonderen
Qualifizierung umgeben, wodurch ihnen ein beſonderer Einfluß geſichert war.
Daher ſagt z. B. die Allgemeine deutſche Bibliothek: „Die Geiſtlichkeit kraft
ihres Einfluſſes in die Gewiſſen .. könnte viel dazu behülflich fein und die
Bemühungen derſelben dieſerwegen find ſehr zu loben ...“ 65) Auch Lamprecht
ſtellt die alleinige Teilnahme der Gelehrtenwelt an den neuen Strömungen,
vorwiegend der Theologen und Juriſten, und das Beiſeiteſtehen der anderen
Stände feſt. „Surifterei aber hieß Beamtentum.“ 56) In dieſem Berufsſtande
war ein Zuſammentreffen von Ariſtokratie und Bürgertum gegeben, wenn⸗
gleich natürlich die erſtere noch bei weitem das Übergewicht hatte und der Um⸗
ſchwung einiger Zeit bedurfte. Immerhin müſſen wir bei allen bürgerlichen
Geſchmacksäußerungen, ſei es bei der Auswahl der Jugendlektüre, ſei es in
ſchöngeiſtigen Zirkeln, auf den Einfluß der Geiſtlichen und Gelehrten achten,
die hier die Stelle der Tradition, wie wir ſie bei der Oberſchicht kennengelernt
haben, vertraten.
Wie einſeitig das literariſche Leben beſtimmt war, beſagt noch im Jahre
1770 eine Klage Boies: „Göttingen hat eben den Fehler wie Potsdam; wo
nur ein Stand bemerkt wird, verliert man diejenige Abwechſlung der Stände,
die den Aufenthalt in größeren Orten angenehmer und die eigentliche Geſell⸗
ſchaft macht.“ 67) Darin liegt eben auch der Grund für die Spärlichkeit brauch⸗
barer Äußerungen aus den gebildeten Bürgerkreiſen, welche ſich erſt gegen
Ende unſerer Epoche der Selbſtbeobachtung zuwandten und auch Aufzeichnungen
über ihre Lektüre machten. Deswegen können wir auch nur ſehr ſchwer die Zu⸗
ſammenſetzung ihrer Bibliotheken nachprüfen und nur indirekt laſſen ſich
Schlüſſe in dieſer Richtung ziehen. Wirklich greifbar iſt nur das Verhalten
zur Bühnenliteratur.
Der „eine Stand“ Boies ſind die Gelehrten und „Kunſtrichter“, wie ſie ſich
nannten und dieſe repräfentieren auch das literariſche Publikum. Sie waren
„im Beſitze der freieſten Bildung jener Zeit. (Ihr Stand) umſchloß Dichter,
Denker, Künſtler, alle welche auf irgend einem Gebiete des geiſtigen Lebens
als Führer, als Belehrende und Urteilende Einfluß gewannen“ 58). Daß fie
ſich tatſächlich ſozuſagen im Beſitze eines Privilegiums der Geiſtesgüter be⸗
fanden, dürſen wir einer Angabe Nicolais entnehmen, welche zwar aus dem
Jahre 1779 ſtammt, aber mit einigen Abſtrichen doch auch für die ſechziger
Jahre zutreffen mag. Nicolai zählt 60 größere Privatbibliotheken. Ihre Be⸗
ſitzer waren Prinzen, hohe Staatsbeamte, Stadtbeamte, Theologen, Arzte,
Juriſten, Philoſophen, Privatgelehrte und Kaufleute 69). Zweifellos dürfen
65) Allgemeine deutſche Bibliothek, X, 2, S. 32.
6e) K. Lamprecht, Deutſche Geſchichte, III. Abt., 1. Bd., Freiburg i. Br. 1906, S. 221.
67) Karl Weinhold, a. a. O., Brief Boies an Knebel vom 9. 3. 1770.
8) Guſtav Freytag, a. a. O. S. 369.
0 Ludwig Geiger, Berlin 1688 — 1840, Berlin 1893, Bd. I, S. 563.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 553
wir einen Teil der zuletzt genannten bereits für das Jahrzehnt von 1760 bis
1770 in Anſpruch nehmen und ihre Bibliotheken als Zeichen literariſcher Inter-
eſſiertheit deuten. Es wäre Aufgabe einer beſonderen Unterſuchung, einmal
ſolche Bibliotheken auf ihren Beſtand hin genau zu prüfen, wodurch zweifellos
ſehr weſentliche Aufſchlüſſe gewonnen würden 70).
Einen direkten Einblick in das bürgerliche Geiſtesleben gibt uns der Ritter
Karl Heinrich Lang, deſſen Bekanntſchaft wir bereits früher bei Feſtſtellung
der vorwiegend praktiſchen und franzöſiſchen Lektüre ſeines ariſtokratiſchen
Elternhauſes gemacht haben. Sehr inſtruktiv iſt nun der Gegenſatz zu dem Hauſe
ſeines Oheims Georg Lang, der Pfarrer zu Brühl war und die Erziehung
ſeines Neffen leitete. Die berufliche Stellung dieſes Mannes gibt ſogleich
einen Hinweis auf die Art ſeiner Lektüre und wir gewinnen hier einen Ein⸗
blick in die Art des Zuſtandekommens eines literariſchen Publikums, wie es
ſich ſelten ſo günſtig darbietet. Lang — der Neffe — erzählt: „Während der
Winterabende wurden vom Oheim laut vorgeleſen die Schriften von Lavater,
Claudius, Stilling, Niemeyer ... auch der Merkur, die Göttinger Muſen⸗
almanache ... 71) Eine Schriftenreihe alſo, welche durchaus Schritt hielt mit
der zeitgenöſſiſchen Produktion, in ihrer Auswahl aber ſehr bezeichnend iſt für
die moraliſche Geſchmackshaltung des geiſtigen Mittelpunktes dieſer Abende,
des Pfarrers Georg Lang, der ſeiner Gemeinde nicht nur Seelſorger, ſondern
auch literariſcher Berater war. Sein Neffe ſchildert ihn als „lebensmunteren
Mann, mit ſchönen geſelligen Talenten in Muſik und Sang, gewandt in Spott⸗
verſen und Witzreden ... gutherzig und höfiſch“ 72). So müſſen wir uns da⸗
mals zahlreiche Geiſtliche als Mittelpunkte literariſchen Lebens im Rahmen
bürgerlicher Literaturintereſſen denken und für die bildungstragende Bedeu-
tung dieſes Standes iſt ja wohl das ſchlagendſte Zeugnis die Tatſache, daß
faſt die Mehrzahl unſerer führenden Männer des Geiſtes in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts aus ihm hervorging. Bemerkenswert dabei iſt allerdings,
wie mit dem wachſenden Einfluß der Aufklärung die Söhne der Geiſtlichen
und die jungen Leute ihrer Umgebung immer mehr weltliche Wege einſchlugen
und damit natürlich auch eine Verallgemeinerung des moraliſchen Geſchmackes
Schritt hielt. Ebenfalls ein Angehöriger des gebildeten Bürgertums war der
Bürgermeiſter von Wismar, Dr. jur. Ehrenfried Jakob Dahlmann, über den
uns Anton Springer unterrichtet hat 73). „Die Literatur trat allmählich in den
Mittelpunkt des nationalen Lebens, das Fachwiſſen verlor feine ſpröde Hal⸗
tung gegen das ſchöngeiſtige Weſen, die bloße Gelehrſamkeit gewann eine will⸗
kommene Ergänzung in der äſthetiſchen Bildung. Auch Johann Ehrenfried
Dahlmann widerſtand nicht der Lockung literariſcher Intereſſen.“““) Im
70) Vgl. z. B. Gellert, Kleine deutſche Bibliothek für das Fräulein v. Schönfeld. Gellerts
Werke, hrsg. von F. Behrend, Bongs Klaſſikerbibliothek, II, S. 210 ff.
71) Ritter Karl Heinrich von Lang, a. a. O. S. 34.
7) a. a. O. S. 18.
78) A. Springer, Friedrich Chriſt. Dahlmann, Leipzig 1870.
70) a. a. O. S. 4.
554 Walther Rumpf
Jahre 1758 erſchienen von ihm in Roſtock vermiſchte kritiſche Briefe mit Sei⸗
tenhieben auf den ſeraphiſchen Wieland, während ihn Leſſings kritiſche Schärfe
erſchreckt. Er verteidigt darin S. G. Lange und Klopſtock, „deſſen Meſſiade die
ganze Seele erfüllt und entzückt“ 75), Er ſchwärmt für reimloſe Poeſie, Leſſings
Miß Sara und Shakeſpeare. Ein ſicherer und geſunder Geſchmack liegt in
dieſer Auswahl und es kündigt ſich darin ein neues Publikum an, welches ganz
unabhängig von dem höfiſchen Geſchmack an der deutſchen Dichtung immer mehr
Gefallen findet. Wir dürfen vielleicht auch noch hinweiſen, daß dieſe Stimme
aus Norddeutſchland kommt, denn wir ſahen ja ſchon früher, daß von dort
aus ſehr wichtige Anregungen ihren Ausgang nahmen. Aber auch bei Dahl⸗
mann kommt der Traditionalismus wieder zum Durchbruch, wenn er ſeinen
jüngſten Sohn, Fr. Chr. Dahlmann am liebſten der Theologie zugeführt hätte,
wie wir aus des berühmten Hiſtorikers Fragmenten ſeiner Autobiographie
wiſſen 76).
Wie wenig aber noch die Bürgerkreiſe zu Beginn der ſechziger Jahre zur
Aufnahme der Gegenwartsdichtung vorbereitet waren, ſtellt Nicolai mit Be⸗
dauern feſt, denn „Das deutſche Publikum begünſtigt meinen Anſchlag auf die
Engländiſche Schriftſtellerei bisher eben nicht ſehr“77). Die ganze Einſtellung
der Oberſchicht auf franzöſiſche Kultur und die Übernahme aller Geſchmacks⸗
formen aus dem Weſten hatten eben doch zu tiefe Wurzeln geſchlagen, ſo daß
neuen Anſchaungen der Eingang nicht leicht gemacht wurde. Für den Adel kam
eine Umſtellung zunächſt kaum in Frage und das gebildete Bürgertum war bei
ſeiner Abhängigkeit von der Oberſchicht und ſeiner Trägheit ebenſowenig ge⸗
eignet, neue Gedanken aufzunehmen 79).
Am bezeichnendſten ſehen wir das bei der Bühne. Zurzeit als in den Hof⸗
kreiſen ſich noch das franzöſiſche Theater und die italieniſche Oper des lebhafte⸗
ſten Zuſpruches erfreuten, beſucht „der Pöbel das deutſche, wo man Hexereien
und Poſſenſpiele häufiger als jemals ſehen kann“ “?), d. h. es „blieb das
deutſche Theater nur zur Unterhaltung der unteren Bildungsſchichten im Publi⸗
kum“ 80). Da dieſem deutſchen Theater aber das Intereſſe der Oberſchicht ver⸗
ſagt war, mußte es ſich in eine Abhängigkeit begeben, welche immer ſchädlich
iſt. „Der Verlauf der Theatergeſchichte ſtellt es zur Genüge heraus, daß kein
Theater, welches ausſchließlich von dem Geſchmacke des Publikums abhängig
ift, fi) unverückt in einer edlen Richtung zu erhalten vermag.“ 51) Mit anderen
Worten iſt bei einer Unterſuchung unſerer Art über die Schaubühne immer eine
ökonomiſch ungünſtige Zeit ein beſonders brauchbarer Gradmeſſer, weil in ihr
78) a. a. O. S. 4.
70) Abgedruckt bei Springer, S. 450.
77) M. Sommerfeld, F. Nicolai und der Sturm und Drang, Halle 1921, S. 331, Nicolai an
Uz am F. 12. 1762.
6) H. A. Korff, a. a. O. S. 69: „ . .. nur langſam dem Geſetze ihrer Trägheit gehorchend
(folgt) die große Herde der Gebildeten.“
76) Allgemeine deutſche Bibliothek, X, 2, Briefe aus Wien, S. 32.
80) E. Devrient, a. a. O. II, S. 239: „Die feine 5 „beſuchte außer den Karnevalsvorſtel⸗
lungen die italieniſche Oper und das franzöſiſche Theater.
81) a. a. O. S. 112.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 555
der Kunſtkonſument, d. h. das Publikum ſeine Forderungen nachdrücklich durch⸗
ſetzen und damit ſeinen Geſchmack zum Ausdruck bringen kann. Wir dürfen
überhaupt das ökonomiſche Moment bei derartigen Unterſuchungen nicht über⸗
ſehen, weil gerade hierbei manche Aufſchlüſſe über das Publikum zu gewinnen
ſind. Denn es iſt offenſichtlich, daß die Geldunterſtützungen für Theater, Biblio⸗
theken und ſonſtige Sammlungen auch oft mit ſehr weſentlichen Geſchmacks⸗
beeinfluſſungen verbunden ſind und außerdem ſpielt ja auch der perſönliche Er⸗
werb von Büchern und das Verhalten des Buchhandels hierbei eine bemerkens⸗
werte Rolle 82).
Wir haben bereits geſehen, wie die höfiſchen Kreiſe in dieſer Richtung ihre
Einflüſſe geltend machten und ſehen es nunmehr wieder beim Bürgertum, deſſen
Teilnahme an der deutſchen Nationalliteratur erſt Ende der ſechziger Jahre
näher bezeugt iſt.
über den Stand des Publikumsgeſchmackes berichten uns die Literaturbriefe,
welche im Anſchluß an eine Aufführung des „Codrus“ leider zu der Feſtſtellung
kommen, „das Volk haßt die Trauerſpiele und beſucht Codrus, um den Zeus zu
bewundern, der am Ende den Blitz ſo trefflich zu ſchleudern weiß. Die unter
dem Haufen der Liebhaber den Ton angeben, ſind junge Leute, die von der Uni⸗
verſität den Glauben mitgebracht, daß ſie Geſchmack haben. Eine glückliche
Tirade, einige ſpitzfindige Sittenſprüche, bringen ihre Hände in Bewegung, ſie
klatſchen, das Volk gähnt und die wahren Kenner ſchweigen“ 83). Ein ſehr be⸗
zeichnendes Momentbild des damaligen Theaterpublikums, deſſen größere
Maſſe ſich aus ſchauluſtigem Volk und den Studenten zuſammenſetzte. Erſtere
kann uns wegen ihrer relativen Gleichheit zu allen Zeiten wenig beſagen, wäh⸗
rend die Bemerkung über das Verhalten der Studenten recht aufſchlußreich iſt.
Die Bezeichnung derjenigen Stellen, welche ihren beſonderen Beifall fanden,
deutet auf eine verſtandesmäßig gelehrte Geſchmackshaltung, welche von den
Hörſälen der Univerſitäten aus beſtimmt war, oder aber ſie „ſchöpften ihre An⸗
regungen und Belehrungen weit mehr aus Büchern, als aus dem Leben in der
Geſellſchaft“ 2%. Andererſeits aber macht ſich der Einfluß der weltlichen Geiſtes⸗
richtung in der freundlichen Aufnahme der moraliſierenden Stellen bemerkbar.
Noch im Jahre 1766 berichtet Schubart „gegenwärtig ſpricht, wer nur leſen
mag, von des Herrn Moſers Reliquien ..., größter Vorzug tft der, daß er
Religion athmet, eine Eigenſchaft, die vor unſere Zeiten wie Balſam iſt, der auf
blutige Wunden träufelt“ 85). In dieſem Sinne wurden dieſe Reliquien wohl
auch von der Allgemeinheit aufgenommen und nicht nur ſie, ſondern wahrſchein⸗
lich auch alle anderen literariſchen Erzeugniſſe. Das ganze ſchöngeiſtige Leben
82) Vgl. Paul Drey, Die wirtſchaftlichen Grundlagen der Malkunſt. Verſuch einer Kunft-
ökonomie, Stuttgart 1910, S. 16: „... der standard of life einer Geſellſchaftsklaſſe umfaßt auch
ein Normalmaß künſtleriſcher Bedürfniſſe ... der wirtſchaftlichen und kulturellen Differenzierung
der Volksklaſſen entſpricht alſo auch eine Differenzierung ihres Kunſtbedürfniſſes uno jede Klaſſe in
einem Volke erzeugt eine Sonderkunſt, die ihrem Standesbedürfnis entſpricht.“
83) Briefe, die neueſte Literatur betreffend, 190. Brief.
82) Biedermann, a. a. O. S. 231.
85) Schubart, Brief an Böckh vom 6. 6. 1766 (I, S. 63).
556 Walther Rumpf
ſpielte ſich eben nur in ſehr engen Grenzen ab, im Familienkreiſe, oder höchſtens
in den Mauern kleiner Städte, wo ein Stand den Ton angab und geſellſchaft⸗
licher Zwang das Aufkommen eigener Anſchauungen ſtark behinderte. „Da wir
kaum ein Theater haben, wo haben wir dann dramatiſche Schauſpiele und Stücke
und was das meiſte iſt, wo haben wir dann ein Parterre oder Publikum, das
an dramatiſchen Stücken Anteil nimmt, ſeinen Beifall erteilt, oder mit ſeinem
Tadel zu Boden wirft?“ 86) Es muß eben erſt ein öffentliches Literaturleben
vorhanden und zu einem geſellſchaftlichen Faktor geworden ſein, wenn ſich ein
Geſchmack bilden und bekunden ſoll. „Auch hier iſt es die Geſellſchaft, ihr Ethos
und nicht das ſubjektive Empfinden des Einzelnen, das den Werken der Kunſt,
der zeitgenöſſiſchen wie der vergangenen Anerkennung und Ablehnung zuteil
werden läßt.“ 87)
Die Antriebe zum Theaterbeſuch waren oft ſehr ungeiſtiger Art und weder
ausſchließlich von literariſchem Intereſſe, noch dem Bedürfnis nach Geſchmacks⸗
kultur angeregt, wenn wir den Literaturbriefen glauben dürfen. „Die wenigen
Perſonen, welche Müßiggang oder Neugier in die Schaubühne lockt, ſcheinen
nicht den geringften Anteil an den vorgefundenen Stücken zu nehmen ... es iſt
ihnen gleichgültig, ob ſie im Timoleon gähnen oder in der Miß Sara wei⸗
nen ... 88) Tatſächlich war ja auch in den meiſten Fällen keine regere Teil⸗
nahme möglich, weil die Stücke zu ſpeziell und in ihrem Geſichtskreiſe zu be⸗
ſchränkt waren, d. h. genau wie das allgemeine Bildungsniveau waren auch
ſie Produkte ſtandesmäßiger und geographiſcher Abgeſchloſſenheit. Wir dürfen
uns auch hier wieder auf die Literaturbriefe beziehen. „Nun ſind aber gemeinig⸗
lich unſere Verfaſſer in dieſer Gattung Profeſſoren, Magiſter, Studenten, denen
nicht allein kein anderer als der gemeine bürgerliche Stand, ſondern auch wohl
nur gar derjenige, welcher in der Stadt, wo ſie wohnen oder lernen, angetroffen
wird, insbeſondere bekannt iſt .. Wie kann man wohl bei dieſen Umſtänden
hoffen, daß ein ſolches Luſtſpiel 89) den größten Teil der Fürſten, den Adel und
die Bürger anderer Städte treffen oder ergötzen ſoll?“ ?) Unter dieſen Um⸗
ſtänden war eine einheitliche Literatur gar nicht möglich und andererſeits der
Lokaldichtung breiter Spielraum gegeben. Zur Intereſſenerweckung in den Zu⸗
hörerkreiſen war dieſes Entgegenkommen aber unbedingt notwendig, wie auch
die Kritik zugeben mußte: „... es kann fein, daß die Wiener Schauſpieler itzt
das Bedürfnis haben, anſtatt der vertriebenen Poſſenſpiele gewiſſe lokale Schil⸗
derungen aufs Theater zu bringen, damit die Zuſchauer beim lauten Lachen
bleiben können ... aber es ift auch wahr, daß die Stücke dieſer Art ... außer
Wien wenig Beifall haben können.“ 91) Wir müſſen in dieſen Lokalſtücken
neben den Singſpielen zugleich eine neue Quelle bürgerlicher Literatur erblicken
86) 200. Literaturbrief.
7) Egon Cohn, a. a. O. S. 82.
88) 201. Literaturbrief.
80) Gemeint iſt „Penelope“, erſchienen bei Trattner in Wien.
90) 202. Literaturbrief.
91) Allgemeine deutſche Bibliothek, XIV, 2, S. 560.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 557
und aus hiſtoriſcher Gerechtigkeit dem Rezenſenten von Ayrenhoffs „Hermann
und Thusnelde“ zuſtimmen: „... wenn alle dieſe Poeſien längſt werden Maku⸗
latur geworden ſein, ſo wird ſich immer noch die Tradition erhalten, daß ſie es
waren, die den erſten Anſtoß gaben ... da nun einmal faft jede deutſche Provinz
ſich als eine abgeſonderte Nation betrachtet, ſo finden die einheimiſchen Dichter
allemal mehr Eingang als die auswärtigen ...“ 92) Wir begreifen es daher,
wenn in der Bevölkerung nicht eben viel Intereſſe und Sinn für ein höheres
Theater herrſchte 93). Im allgemeinen ſetzte doch nur an den Stellen eine wirk⸗
liche Neugeſtaltung des literariſchen Lebens ein, wo das Geiſtesleben Reſonanz
fand bei einer beſtimmten Geſellſchaftsſchicht oder bei Körperfchaften, wie z. B.
den Univerſitäten und in privaten Zirkeln, deren beſtimmender Einfluß ſich
durchgehend geltend macht. Wir können z. B. ganz deutlich in München ſehen,
„daß ein guter Teil des Bürgertums durch die geiſtigen Kämpfe, die von der
Akademie ausgegangen waren, ſo ſtark berührt und zum Geſchmack erzogen war,
daß es eigenen ernſten Verſuchen Beachtung und Verſtändnis entgegen⸗
brachte,“ ““) während das breitere Publikum noch den Burlesken und Hans⸗
wurſtiaden zujubelte, weil es zu ehrlichen „Verſuchen, wie ſie der Kurfürſt und
einige der wenigen Geſunden und Geſchmackvollen anſtrebten, noch nicht
reif war“ 95),
Der Wunſch nach derb⸗komiſcher Unterhaltung war, wie im Süden, auch in
Mitteldeutſchland noch ſehr ſtark und H. G. Koch ſah ſich bei der Eröffnung
des Leipziger Theaters am 8. Dezember 1765 gezwungen, im Anſchluß an
J. E. Schlegels „Hermannſchlacht“: „ein Balett, von vergnügten Schäfern ge⸗
tanzt .. . (ſowie) als Nachſpiel die ‚unvermutete Wiederkunft von Regnard“
über die Bühne gehen zu laſſen 96). Bekannt iſt die Stellungnahme der Uni⸗
verſität Leipzig zu der Schaubühne, indem die theologiſche Fakultät alsbald
nach Eröffnung des Theaters ein Nachlaſſen des Vorleſungsbeſuches feſtſtellen
zu müſſen glaubte, und die bekannten Eingaben an das Miniſterium richtete 99,
ohne aber von dort die gewünſchte Antwort zu erhalten. Dieſes Verhalten der
oberſten Behörde iſt wohl fo zu erklären, daß ihr franzöſiſcher Geſchmack ſich dem
des Theologenſtandes überlegen fühlte und daher auch noch eine zweite Eingabe
an ſich herankommen ließ. Dieſe Anklageſchrift s) ſtrotzt von Beleidigungen
und Anſchuldigungen. Intereſſanter als dieſe ſelbſt aber iſt für uns die Remon⸗
ſtration Kochs, „es kämen zu ihm nur wenige Studioſii von Adel, der größte
92) Klotzens Bibliothek, III, 7.
) Vgl. M. Koch, J. P. H. Sturz, München 1879, S. 8.
9) Legband, a. a. O. S. 151.
95) Legband, a. a. O. S. 151; vgl. ferner H. Tietze, Die Methode der Kunſtgeſchichte, Leipzig
1913 S. 435 ff. (Wir müſſen aber immer im Auge behalten, daß) „die allgemeine geographiſche
Lage ... einem Kunſtkreis feinen Platz innerhalb der ſtiliſtiſchen Bewegungen, die ſich immer in
einer beſtimmten Richtung abſpielen, Wellenläufe von Oſten nach Weſten, oder in umgekehrter Rich⸗
tung, (beſtimmt) und zum Durchlaufen ihrer Bahnen eine Zeit (brauchen), die für jeden Zwiſchenpunkt
eine Berechnung nach der Entfernung vom Zentrum der Bewegung ermöglicht“.
vo. G. Witkowski, Geſchichte des literariſchen Lebens in Leipzig, Leipzig 1909, S. 440.
97) a. a. O. S. 441.
s) Abgedruckt bei Witkowski, ebd. S. 441.
558 Walther Rumpf
Teil der Univerfität, beſonders die Theologen, garnicht” 9%. Diejenigen Kreiſe
alſo, welche für ein neues literariſches Publikum hätten in Frage kommen
können, waren entweder als Oberſchicht ganz im Fahrwaſſer der franzöſiſchen
Bildung, oder aber ſie ſahen ſich in ihrer einflußreichen Stellung als Univerſi⸗
tätslehrer und Erzieher bedroht und fürchteten von einem Eindringen der neuen
Literatur eine Minderung ihres Einfluſſes und als Theologen eine Gefährdung
der Orthodoxie, als deren berufene Hüter ſie ſich fühlten; das beſagt der Leip⸗
ziger Fall ganz unzweideutig. Daß tatſächlich die Inanſpruchnahme dieſes
Privilegs ganz bewußt betrieben wurde, geht auch aus einer Rezenſion der
„Schriften beim Auftreten der Starckſchen Geſellſchaft in Jena“ hervor, worin
das Theater eine Schule des Geſchmackes genannt wird, „der an Akademien und
Höfen zu Hauſe ſein ſoll“ 100). In dieſem Zuſammenhange ſei auch an Goezes
Streitſchrift 101) und den berühmten Theaterkrieg erinnert. Symptomatiſche Be⸗
deutung hat in demſelben die Stellungnahme der Göttingiſchen Anzeigen von
gelehrten Sachen. Der Beifall, den Goeze in dieſen Blättern fand und die Art
der Begründung ſind ſehr bezeichnend. Es heißt da: „Die Schrift unterſcheidet
ſich ſo ſehr von gewöhnlichen theologiſchen Abhandlungen ähnlichen Inhalts,
iſt mit ſo vieler Gründlichkeit, Anmut und Mäßigung geſchrieben, daß wir ſie
unter die Hauptſchriften dieſer Materie rechnen und einem jeden empfehlen
müſſen, welcher gewiſſenhaft überlegen will, was die Gegner der Schaubühne,
fo wie fie jetzt iſt, daran zu tadeln haben. ... Seine Gründe find aus der Eins
richtung der berühmteſten und beſten Schauſpiele, aus dem Zuſtande unſerer
jetzigen deutſchen Schauſpieler und aus demjenigen hergenommen, was bei
den theatraliſchen Vorſtellungen allgemein gebräuchlich iſt. Dieſes alles hat der
Verfaſſer mit ſo viel eigener Kenntnis und reifer Beurteilung vorgetragen, daß
der Rezenſent .. ihm feinen Beifall nicht verſagen kann.“ 102)
Eine wirkliche Wandlung des literariſchen Geſchmackes kündet ſich im Sing⸗
ſpiel an. Dieſe Kunſtform war von der franzöſiſch ſprechenden Oberſchicht des
Hofes und der Ariſtokratie aus dem Weſten übernommen worden, denn ſie allein
waren imſtande, die Originalform zu verſtehen. Die ganz natürliche Weitergabe
an die nächſt niedere Schicht vollzog ſich durch die Vermittlung deutſcher Be⸗
arbeiter, die zunächſt nur Überſetzungen lieferten, und erſt allmählich im An⸗
ſchluß an ihre Vorlagen die franzöſiſchen Formen mit dem Bildungsgute ihres
Publikums füllten. Die Anpaſſung ging ſehr langſam vor ſich und wir ge—
winnen einen Einblick in dieſelbe durch eine Stelle in Klotzens Bibliothek:
„. .. Auch die Namen werden deutſch gemacht, allein noch immer kann ich mich
nicht im Deutſchen an die ausdrucksvollen Namen gewöhnen. Z. B. Graf von
9) Witkowski, a. a. O. S. 141.
100) Jenaiſche gelehrte Zeitung, 1768, Bd. IV, S. 749.
101) J. M. Goeze, Theologiſche Unterſuchungen der Sittlichkeit der heutigen deutſchen Schaubühne.
102) Göttingiſche Anzeigen von gelehrten Sachen, 123. Stück, 14. 10. 1769; vgl. auch G. Wuſt ·
mann, 75 Leipzigs Vergangenheit, Leipzig 1885, S. 226 ff., wo auch die Frage der Zenſur be-
handelt wird.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 559
Biedersdorf, Fräulein von Schönleben war ſelbſt den Schauſpielern anſtoßig
geweſen.“ 103)
Fr. E. Haupt erzählt in ſeiner Lebensgeſchichte: „Damals machten die
Weißiſchen Operetten mit Hillers Kompoſition großes Aufſehen. ... So wur⸗
den nach und nach faſt alle Weißiſchen Opern durchgeſpielt und durchgeſungen.
Mein Vater ſelbſt hörte, bisweilen einſtimmend, mit Vergnügen zu.“ 104) Für
den Mangel an wirklichen Komödien hatte das Publikum überhaupt kein Ver⸗
ſtändnis, wie wir aus den zahlreichen Klagen entnehmen können. So meinte
beiſpielsweiſe Boie: „... ich ſchenke Weiße und allen, die gute komiſche Opern
machen werden, alle ihre Arbeiten für ein gutes komiſches Stück, wie wirs noch
nicht haben.“ 105) Wo wirklich einmal Anſätze zu einer Beſſerung in dem Ver⸗
langen nach wertvolleren Werken ſich geltend machen, wie etwa nach Leſſings
Emilia Galotti, bleiben dem ſchärferen Auge die recht unliterariſchen Gründe
nicht verborgen. So ſchickte Boie ſeinem Freunde G. A. Bürger das eben ge⸗
nannte Werk mit dem Zuſatze: „Es iſt eine große Gefälligkeit, daß ich ſie (die
Emilia) aufs Land ſchicke, wo ſie ſo viele Liebhaber und Liebhaberinnen in der
Stadt hat. Aber es geht ihr wie allen Frauenzimmern von außerordentlichem
Verdienſte, die meiſten loben ſie nur, weil ſie itzt Mode iſt.“ 106) Das Intereſſe
an Singſpielen war eben bei dem neuen Bürgertume zum Schmerze der Kunſt⸗
richter noch viel ſtärker. „Die komiſchen Opern verdrängen uns alle Tragödien
und regelmäßigen Komödien. Im Dorfbalbier war es geſtern außerordentlich
voll, in den Brüdern (des Terenz) ... war es fo leer, als es noch nie geweſen
iſt.“ 107) Der Raum, den dieſe neue Kunſtgattung einnahm, erweiterte ſich
immer mehr auf Koſten aller anderen Beſtrebungen. „Der Geſchmack, den unſer
Publikum daran zu finden beginnt, droht auch die Hoffnung zur wahren
Komödie zu erſticken, die uns noch gänzlich fehlt.“ 108) Dieſe Erkenntnis war
unter den Kunſtrichtern zu einer allgemeinen geworden und kam allenthalben
zum Ausdruck. Daher nimmt Klotzens Bibliothek bei Kritik der komiſchen Oper
„Der Aerndtekranz“ (Leipzig 1771) zu dieſer Frage energiſch Stellung. Es
heißt da: „Die üblen Folgen zeigen ſich ſchon jetzt. Wie viele oder wie wenige
ſehen ein Trauerſpiel gerne? Wollen wir denn unſer Publikum noch mehr ver⸗
wöhnen, ihm noch mehr Spielgerät in die Hand geben, damit es ja nicht böſe
werde und das gute Kind doch auch einen Zeitvertreib habe? ... Bisweilen
kann ein ehrlicher Mann den Gedanken nicht los werden, wenn er den Spaß⸗
macher der komiſchen Oper betrachtet: es fehlen nicht viel, daß der liebe Hans⸗
wurſt wieder auftrete.“ 109) Ganz ähnlich äußert ſich auch der Rezenſent über
Weißes „Dorfbalbier“, wobei er ſich beſonders über die Vergröberung der
102) Klotzens Bibliothek IV, 14. Stück „Theatraliſche Vorſtellungen von der Michaelismeſſe 1769“.
104) Guſtav Freytag, a. a. O. II, 7, S. 320.
105) Weinhold, a. a. O. S. 28.
106) Adolf Strodtmann, Briefe von und an G. A. Bürger, I, Berlin 1874. Brief vom
22. 4. 1772.
107) K. L. von Knebels Nachlaß, a. a. O. Ramler an Knebel am 2. 8. 1771 (II, S. 108).
106) ebd. Boie an Knebel am 4. 3. 1771 (II, S. 108).
100) Deutſche Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften, Bd. VI, 25. Stück.
560 Walther Rumpf
Sprache aufregt 110). Zweifellos gab es hier unerfreuliche Auswüchſe, doch
regte ſich auch andererſeits ein geſunder Volksinſtinkt gegen die Künſtlichkeit des
herrſchenden Geſchmackes, ſo daß mit einer unbedingten Abſage an die leichtere
Literatur des Singſpieles und der komiſchen Opern das Ziel kaum zu erreichen
war und der Übergang zu einem neuen Geſchmacksverhalten ſich langſam durch
das Abſterben der Auswüchſe vollziehen mußte. Des Herrn von Sonnenfels
Krieg gegen den Publikumsgeſchmack ſchien z. B. Leſſing „garnicht der rechte
Weg, das Publikum zu gewinnen“ 111). In dieſer Beziehung erwies ſich der
Nachfolger des Herrn von Sonnenfels, der Freiherr von Bender, als beſſerer
Pſychologe, denn „er hat aufgetragen nur gute Stücke zu wählen und damit
das Volk ſich daran gewöhne, hat er es durch die prächtigen Noverriſchen Balette
herbeizulocken verſucht“ 112). Er erwies ſich alſo in ſeinem Vorgehen diploma⸗
tiſcher als ſein Vorgänger, denn er wußte nur zu gut, welchen Umfang die Ver⸗
welſchung des Publikums angenommen hatte, daß Sonnenfels ſogar in ſeinen
„Briefen über die wieneriſche Schaubühne“ (1768) die Maske eines Franzoſen
annahm, um überhaupt Gehör zu finden 113),
Leſſing hatte den richtigen Weg beſchritten und mit der Aufführung ſeiner
Minna von Barnhelm am 21. März 1768 durch Döbbelin war ein „großer
Wurf“ für die Entwicklung des Berliner Geſchmackes 119) getan. In vier Wochen
wurde das Stück 19mal wiederholt und Anna Luiſa Karſchin ſchrieb darüber:
„Vor ihm hats noch keinem deutſchen Dichter gelungen, daß er den Edlen in dem
Volke, den Gelehrten und den Laien zugleich eine Art von Begeiſterung ein⸗
geflößt und ſo durchgängig gefallen hat.“ 115) Zur Ergänzung ſei noch Karl
Leſſings Bericht hinzugefügt: „Geſtern ſah ich ... ein ganz volles Parterre
und was noch ſeltener iſt, ein vergnügtes.“ 116) Könnte der 1. Teil dieſes Satzes
auch auf das beſondere Ereignis der Erſtaufführung bezogen werden, ſo beſagt
der Schluß doch, daß man wirklich Geſchmack an dem Werke fand, und daß ein
Publikum dafür vorhanden war.
110) ebd. 24. Stück. „. . . es iſt unſerem Geſchmack zuwider, lange unter dergleichen Herren, als
hier auftreten, zu verweilen ... Es ſcheint, daß dieſe Sprache, die man ſonſt für unanftändig er-
klärte, gegen die man ſo ſtark eiferte, jetzt wieder Beifall finde. Und überhaupt, iſt dieſe ganze
komiſche Oper etwas anderes, als ein Poſſenſpiel von der Art, die ſonſt in Deutſchland vor der
Verbeſſerung der Bühne gefiel?“
111) Lachmann, XVII, S. 344, Brief an Eva König vom 25. 10. 1770.
112) Deutſche Bibliotheken der ſchönen Wiſſenſchaften, IV, 16.
115) ebd. III, 6:
Ein Gellert? — ein Gellert iſt zu matt!
Ein Gleim? — Gleims Scherze ſind zu platt!
Ein Kleiſt? — iſt ſtolpernd — Haller? — hart!
Ein Uz? — ſehr ungleich — Weiß' nicht zart.
Ein Geßner? — zu unedel ländlich!
Und Klopſtock? — ſchwülſtig, unverſtändlich.
Nur Frankreichs Dichter, ſie allein
ſind naif, erhaben, witzig fein!
110) Erich Schmidt, Leſſing, Berlin 1899, I, S. 486.
118) ebd. I, S. 400.
116) Lachmann XIX, S. 248. Brief vom 22. 3. 1768.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 561
Dieſes kam von unten her und brachte zu dem Geſchmacksgute der höfiſchen
Oberſchicht neues Bildungsgut hinzu und bereitete ſich vor, als eigene Gefell⸗
ſchaftsſchicht Träger des literariſchen Lebens zu werden. So erblickte eine Bür⸗
gersfrau, wie Eva König, in Leſſings Stücken einen Gradmeſſer für den all⸗
gemeinen Geſchmack und teilte ihm erfreut mit: „. .. die Salzburger machen
Anſpruch auf den guten Geſchmack und es dient zum Beweis, daß ſie ihn wirk⸗
lich haben, weil man Ihre Minna ſechsmal hintereinander gegeben hat, wo es
allemal gepfropft voll geweſen ſein ſoll.“ 117) Wenn dieſe Zeugin auch ſicher⸗
lich ſtark befangen iſt, ſo dürſen wir trotzdem ihr geſundes Urteil auch für einen
Teil des neuen Bürgertums in Anſpruch nehmen und müſſen es nur bedauern,
daß ſie uns über die Zuſammenſetzung des Publikums bei den Salzburger
Vorſtellungen nichts berichtet hat. Ein unbeeinflußtes Zeugnis für ihr bürger⸗
Iich⸗literariſches Urteil iſt auch die Ablehnung des „Krummen Teufels“ von
Bernardon: „was abgeſchmackteres und langweiligeres können Sie ſich nicht
vorſtellen“ 118) und beim „Hausvater“ erfreut es ſie am meiſten, „daß von den
niedrigſten Plätzen die beſten Stellen mit Beifall bemerkt wurden“ 119).
Dieſe Zeugniſſe aus Wien laſſen den Schluß zu, daß nicht auf Seiten des
Publikums der Rückſtand und die Stagnation war, wie wir ſie für das Kunſt⸗
ſchaffen ſelbſt gegenüber dem Norden feſtzuſtellen haben. Die Hauptſtadt des
aufgeklärten Joſeph II. zeigte innerlich ſehr verwandte Züge mit dem prote⸗
ſtantiſch⸗aufkläreriſchen Norden. In Berlin hatte man im allgemeinen für die
Wiener Stücke wenig Sinn 120), nur „Der Poſtzug“ und die „Abgedankten
Offiziere“ konnten ſich neben den Singſpielen behaupten, „welche bis zum
Brechen voll waren“ 121). Chr. F. Weiße hatte die Gunſt des Publikums ge⸗
funden, dem „die Freundſchaft auf der Probe“ beſſer gefällt als Gellerts „Bet⸗
ſchweſtern“, denn die „will vollends Niemand ſehen“ 122).
Demnach trifft Guſtav Freytags Charakteriſtik zu, daß „das Parterre der
Hauptraum (war) in welchem Offiziere oder Studenten und junge Beamte
nicht ſelten als feindliche Parteien den Ton angaben. Die Schauerdramen ent⸗
zückten den Anſpruchsloſen, die rührenden Familienſtücke ... füllten den Ge⸗
bildeten mit Gefühlen, der ſchlechte Geſchmack der Stücke ſetzte den Fremden in
Erſtaunen“ 123).
Auch der Pietismus hatte noch großen Einfluß auf ſchwärmeriſche Gemüter
und förderte zugleich die Empfänglichkeit für frivole Sentimentalitäten, wie ſie
beſonders im Singſpiel beliebt waren. Th. G. v. Hippel bemerkt dies z. B. bei
einer Aufführung von Weißes „Crispus“: „Empfindliche Seelen weinten und
117) ebd., S. 380. Brief vom 21. 9. 1770.
118) ebd., S. 429. Brief vom 19. 12. 1770.
119) Lachmann XX, S. 13. Brief vom 26. 1. 1771.
100 Lachmann, XX, S. 64. K. Leſſing an feinen Bruder am 10. 8. 1771 „An den Wiener
Stücken ... kann Berlin keinen Geſchmack finden“.
121) ebd., Brief vom J. 7. 1771 „Die Jagd von Weiße wurde zweymal gegeben. Es war bis
zum Brechen voll
123) Lachmann six, S. 245. Brief vom 10. 2. 1768.
12) G. Freytag, II, 7, S. 291; vgl. ferner Chr. H. Schmidt, Das EN Erfurt 1771.
Suphorion XXVIII. 36
562 Walther Rumpf
unempfindliche waren bis auf einige inkompentente des Parterres ſtille.“ 124
„Der Pöbel allein wollte bloß beluſtigt, das Publikum auch gerührt fein.“ 125)
Die Rührung erſchien Hippel ſehr weſentlich und wir dürfen annehmen, daß er
hier im Sinne des Publikums ſpricht. Daher bemerkt er denn auch bei Auf⸗
führung der Miß Sara: „Bürgerliche Trauerſpiele haben überhaupt den Vor⸗
zug, daß fie näher ans Herz gehen.“ 126) Die Fehler find nicht fo wichtig, wenn
das Stück nur rührt.
Die Zunahme des Intereſſes an der Bühnenliteratur zeigen auch Jentzſchs
ſtatiſtiſche Unterſuchungen, welche den Anteil der dramatiſchen Literatur an der
Geſamtproduktion der ſchönen Wiſſenſchaften und Künſte für das Jahr 1740
noch mit 0,26 / angeben, während er 1770 bereits auf 3,67% geſtiegen iſt.
(Von 42 Erſcheinungen waren 19 Überſetzungen, d. h. 45,24 %, davon 8 aus
dem Franzöſiſchen, 8 aus dem Engliſchen und 3 aus dem Italieniſchen.) Epik
und Lyrik hatten keine ſolche Zunahme aufzuweiſen. Lyrik 1740: 1,32 %,
1770: 3,23 % und Epik 1740: 2,69 %, 1770: 4,02 % 127). Einen Kommentar
zu dieſen Zahlen gibt Rudolf Unger: „Bei allen ihren künſtleriſchen und ſon⸗
ſtigen Mängeln hat dieſe proſaiſch⸗realiſtiſche Bühnenliteratur ... eben doch
inſofern große Bedeutung erlangt, als ſie den ſozialen und geiſtigen Zeittenden⸗
zen zu dramatiſcher Ausſprache verholfen, zwiſchen dem Theater und den breiten
Schichten des Publikums, insbeſondere den Frauen, wieder eine lebendige Be⸗
ziehung hergeſtellt und weſentliche Lebensmomente des deutſchen Bürgertums
der dichteriſchen Behandlung wiedergewonnen hat.“ 128) Erſt mit Aufgabe
feiner eigenen Zurückhaltung und öffentlicher Bekundung ſeiner geſellſchaft⸗
lichen Anſprüche konnte das gebildete Bürgertum Träger der neuen Literatur
werden und ſich ſelbſt darin betätigen. Erſt in ſeinem Spiegelbild in der Lite⸗
ratur fand es den Weg zu eigenem Selbſtbewußtſein. Nun beginnen die Lebens⸗
beſchreibungen, die Briefwechſel und Aufzeichnungen des Bürgertums 129).
Auch gegen Ende der ſechziger Jahre fließen die Quellen noch recht ſpärlich.
Im allgemeinen zählten nach wie vor die Bibel und der Katechismus zum
Hauptbücherbeſtand weiter Volkskreiſe und ſehr vereinzelt nur finden wir Werke
der weltlichen Literatur in ihren Händen. So waren noch zur Zeit von J. G.
Fichtes Aufenthalt in Schulpforta (17741) Leſſings, Wielands und Goethes
Werke verboten. „Von den neueren Dichtern wurde nur Haller und nicht einmal
alles von Klopſtock und Gellert ihnen verſtattet.“ 130) Wir ſehen hier wie tyran⸗
niſch die alte Generation auf ihre Rechte pochte und insbeſondere wie lange der
moraliſierende Pädagogenſtand auf eine Niederhaltung aller neuen Ideen und
Geſchmacksrichtungen bedacht war. Viel freier dachte da Heinrich Zſchokkes gut
124) F. J. Schneider, Th. G. Hippel, Prag 1911. Bericht über die Aufführung vom 9. 11.1767
S. 177.
128) g. a. O. S. 179.
126) g. a. O. Bericht vom 16. 7. 1767.
127) Jentzſch, a. a. O. S. 116.
128) R. Unger, Hamann und die Aufklärung, Jena 1911, S. 59.
120) Vgl. Biedermann a. a. O. II, 3, S. 1083.
130) J. G. Fichtes Leben von feinem Sohne J. Hermann Fichte, Sulzbach 1830, S. 22.
Das literariſche Publikum des 18. Jahrhunderts 563
bürgerlicher Bruder in Magdeburg, von dem er in ſeiner „Selbſtſchau“ er⸗
zählt: „Bruder Andreas, ... von nicht gemeinen Talenten, die er durch
Leſung guter Schriften gebildet hatte, betrieb ... Gewerbe und Handel mit
Wollentüchern .. Mich wollte er, wie alles in feinem Bereich in einen
höheren Bildungskreis emporziehen ... Um Sinn für das Edle und Schöne
in mir anzufachen, las und erklärte mir Bruder Andreas ſehr begeiſtert Kleiſts
Frühling“, den Zſchokke freilich „vornehm⸗fade“ fand 131). In dieſer kernigen
Handwerker⸗ und Kaufmannsſchicht war nunmehr derjenige Geſchmack hei⸗
miſch geworden, dem die ſtädtiſche Ariſtokratengeſellſchaft etwa eine Gene⸗
ration früher gehuldigt hatte. Dies dürfen wir aus Zſchokkes Ausführungen
entnehmen, die uns einen Einblick gewähren in eine Publikumsſchicht, deren
Bedeutung vielleicht noch nicht genügend gewürdigt worden iſt, wohl darum,
weil eben nur ſehr wenig Aufzeichnungen darüber vorhanden ſind. Es ſeien
daher auch noch einige Nachrichten aus dem Leben von J. H. Voß angeführt,
der 1759 —1765 die Penzliner Stadtſchule beſuchte und von dem Rektor A. K.
Struck mit den Werken der deutſchen Literatur bekanntgemacht wurde. Als Lek⸗
türe werden die weitverbreiteten Schriften Luthers genannt, ferner Volkslieder
bis auf Gellert und Gleim 152). Dieſe Auswahl paßt ganz zu der Umgebung
und dem Vermittler der Werke 133). Als Voß dann nach Neubrandenburg über⸗
ſiedelte, kam die Lektüre Hagedorns, Hallers, Uzens und Geßners hinzu 139.
Müſſen wir auch ſehr vorſichtig ſein, aus ſolchen biographiſchen Angaben
Schlüſſe auf die Lektüre zu ziehen, fo möchten fie doch immerhin hinreichen,
uns in Ermangelung direkter Quellen einige Anhaltspunkte für das Milieu und
auch das Tempo des bürgerlichen Publikums und ſeines Geſchmackes zu geben.
In den Städten hatte das raſcher pulſierende Leben natürlich auch in der Lite⸗
ratur ſeinen entſprechenden Niederſchlag gefunden und die abenteuerlichen Leben
und Begebenheiten, welche im Anſchluß an Defoes Robinſon nach Deutſchland
gekommen waren, nahmen deshalb einen breiten Raum in der Lektüre ein 135),
Dies erkannte auch Goethe, der darüber an Oeſer ſchrieb: (Er könne ſich) „nicht
enthalten, den guten Geſchmack zu predigen, richtet man gleich nicht viel aus, ſo
lernt man doch immer dabei und ſollte man auch nur bei der Gelegenheit er⸗
fahren, daß weit ausgebildete Gelehrſamkeit, tiefdenkende, ſpitzfindige Weisheit
.. fliegender Witz und gründliche Schulweisheiten mit dem guten Geſchmack
ſehr betrogen ſind. Das Frauenzimmer liebt ſich hier (in Frankfurt) ſehr das
Erſtaunliche, vom Schönen, Naiven, Komiſchen, halten fie weniger .. Von der
Wilhelmine ... habe ich trotz aller Nachfragen in keiner Damenbibliothek ein
Exemplar auftreiben können“ 136). Wahrſcheinlich eben, weil faſt nur die „er⸗
ſtaunlichen“ Werke Beifall fanden.
1) H. Zſchokke, Selbſtſchau, Aarau 1843, S. 11. (Neudruck hrsg. v. H. Bodmer [1911] S. 12.)
182) W. Herbſt, J. H. Voß, Leipzig 1872, S. 27.
133) Man beachte hierbei auch, daß Voß aus einem Wirtshausbetriebe ſtammte, woher feine
Kenntnis der Volkslieder zu erklären ſein wird.
138) Allgemeine deutſche Biographie, 40, S. 334.
135) Vgl. auch R. Der ch a. a. O. S. 125.
136) Max Morris, Der junge Goethe, neue Ausgabe, Leipzig 1910, Bd. I, S. 312, Brief vom
24. 11. 1768.
564 Konrad Gaiſer
Dieſe Außerung Goethes gibt uns zuſammenfaſſend ein anſchauliches Bild
von dem Publikum und ſeinem Geſchmack, deſſen Freude an dem Abenteuer⸗
roman auch darin zum Ausdruck kommt, daß im Jahre 1770 unter 46 epiſchen
Neuerſcheinungen noch 17 derartige Geſchichten waren. Bedenken wir aber, daß
dieſe Zahlen für das Jahr 1770 gelten, alſo für das Ende dieſer Geſchmacksepoche,
dann ſind wir berechtigt, den Anteil dieſer Erzählungen für die vorhergehende
Zeit noch höher anzuſetzen. Mit Recht kommt daher Jentzſch zu dem Schluß:
. Die Äußerungen der Zeitgenoſſen, der Kritik uſw. laſſen genugſam er⸗
kennen, welcher literariſchen Qualität dieſe Lektüre, aber auch wie weit verbreitet
ſie war und welches Licht daraus auf die Bildung und den Geſchmack des leſen⸗
den Publikums fällt“ 137).
Schubart im Exorziſtenſtreit.
Von Konrad Gaiſer in Cannſtatt.
Der Federkrieg, den Gaßner durch feine Wunder ⸗
kuren erregt hat, iſt eine Erſcheinung, darüber die
Nachwelt ſtaunen wird. D. F. Strauß.
„Prieſterhaß, der nicht eher verliſcht, als bis er den Gegenſtand ſeiner Wut
zerftört hat“: das erſchien dem unglücklichen Ch. F. D. Schubart, wenn er
hinter den Eiſengittern des Aſpergs das dunkle Rätſel ſeiner Einkerkerung durch
den württembergiſchen Herzog überdachte, als „die alleinige Urſache“ ſeiner
Leiden 1). Einen ſchlüſſigen Beweis für dieſe feine Überzeugung hätte er aller⸗
dings wohl nicht führen können — dies iſt ja auch der ſpäteren Forſchung nicht
gelungen. Aber wenn die letztere an dieſem Punkt Verzicht leiſten muß, ſo kann
ſie doch wenigſtens Entſtehung und Ausdrucksformen jenes Prieſterhaſſes
einigermaßen aufhellen und uns fo in den Beſitz des Erfahrungsmaterials
ſetzen, auf Grund deſſen Schubart ſein Urteil gefällt hat.
Die vorliegende Arbeit will dazu einen Beitrag liefern durch die Darſtellung
eines Konflikts zwiſchen Schubart und den „Prieſtern“, d. h. aber, den Jeſuiten,
der trotz ſeiner hohen Wichtigkeit für das Schickſal des Dichters bisher nicht im
Zuſammenhang behandelt worden iſt, nämlich des Gaßner- Streits. Dieſer
lärmende Streit, der ſich beſonders im Jahr 1775 um Perſon, Lehre und Tätig:
keit des Exorziſten und Wundermannes, „des Wohlehrwürdigen Herrn J. J.
Gaßners, der Gottesgelahrtheit und des geiſtlichen Rechts Kandidaten, freireſi⸗
gnierten Pfarrers im Klöſterle, nun Hofkaplan und geiſtlicher Rat Sr. Hoch⸗
fürſtlichen Gnaden des Biſchofs von Regensburg, Probſten und Herrn zu Ell⸗
wangen uſw.“ erhob, bietet gleichzeitig ein höchſt intereſſantes hiſtoriſches Klein⸗
17) R. Jentzſch, a. a. O. S. 128.
1) Schubarts Leben und Geſinnungen, von ihm ſelbſt im Kerker aufgezeichnet, Stuttgart 1839,
I, S. 295 (im folgenden zitiert als „LG. “).
Schubart im Exorziſtenſtreit 565
bild aus der Geſchichte der Aufklärung in Süddeutſchland am Ende des
18. Jahrhunderts.
1
Der merkwürdige Mann, für den ſich Lavater ſo leidenſchaftlich inter-
eſſierte, daß er demjenigen, der ſich zu einer genaueren Unterſuchung nach
Ellwangen begeben würde, 6 Louisdor an den Reiſekoſten zu erſetzen ver⸗
ſprach?) — mit dem ſich Theologen, wie der große Semler in Halle und
Ch. A. C. Cruſius in Leipzig, in eigenen Schriften auseinanderſetzten?) —
über den Ch. Walch in feiner „neueſten Religionsgeſchichte““) ausführlich
handelte —, den die einen als einen begnadeten Arbeiter im Reich Gottes
begrüßten, die andern als frechen Schwindler bezeichneten — der auch bei
den Späteren die allerverſchiedenſte Beurteilung erfahren hat 5): J. J. Gaßner
war 1727 in Bratz bei Bludenz Vorarlberg) geboren, hatte bei den Je⸗
ſuiten in Innsbruck und Prag ſtudiert und war als Pfarrer in Klöſterle am
Arlberg (Diözeſe Chur), geplagt von einem Kopf⸗, Magen⸗ und Bruſtleiden,
das ihn ſelbſt in der Verrichtung ſeiner geiſtlichen Pflichten ſchwer beeinträch⸗
tigte, auf den Gedanken verfallen, für den Fall, daß ſeine Krankheit von teuf⸗
liſcher Anfechtung herkomme, es mit dem Exorzismus zu probieren. Nach einigen
vergeblichen Verſuchen hatte er damit auch Erfolg und wandte nun die Kraft,
deren er dadurch inne geworden war, zuerſt bei ſeinen Pfarrkindern, dann, raſch
berühmt geworden, bei einem großen Kreis zuſtrömender Patienten an. Seiner
Sache völlig ſicher, ging er nun, meiſt auf Grund dringender Einladungen, nach
verſchiedenen Orten Süddeutſchlands, mußte aber infolge der ablehnenden
Haltung des Kardinalbiſchofs von Konſtanz, Freiherrn von Rodt, in deſſen
Didzefe er ſich zumeiſt aufhielt, wieder auf feine Pfarre zurück. Von dort wurde
er im Oktober 1774 von dem erblindeten Grafen Anton Ignaz von Fugger⸗
Gloett, Fürſtprobſt von Ellwangen und ſeit 1769 auch Biſchof von Regensburg,
zu einer Kur berufen und blieb von da an in deſſen Dienſten, obgleich ihm die
Heilung jenes Augenleidens nicht gelungen war. Als biſchöflicher Kaplan ver-
legte er jetzt den Schauplatz ſeiner Tätigkeit nach Ellwangen, wohin nun die
Maſſe der Hilfeſuchenden — und zwar aller Konfeſſionen 6) — ſtrömte: bis zu
1500 am Tag und insgeſamt weit über 20 000 ſchätzen die Quellen 7). Gegen
2) Brief an Semler, ſ. J. S. Semler, Sammlungen von Briefen und Aufſätzen über die
„ und Schröͤpferiſchen Geiſterbeſchwörungen, mit eigenen vielen Anmerkungen. Halle
1776, S. 5.
2) Semler a. a. O.; Cruſius in der Schrift: Eines großen Gottesgelehrten Gedanken über Herrn
Gaßners Teufelsbeſchwörungen. (Anonym) 1775.
9) 9 Teile, 1771 1783.
5) Einige Angaben bei Fieger, P. Don Ferdinand Sterzinger, München u. Berlin 1907,
S. 219, Anm.; unter den dort genannten Beurteilern iſt auch J. Kerner.
©) Dies rief eine kleine Sonderkontroverſe hervor im Anſchluß an eine Schrift des paſſauiſchen
Domherren Grafen von Auerſperg: Bedenken über die Gaßneriſchen Kuren, die er mit Acatholicis
vornimmt, der geſamten Geiſtlichkeit des ſchwäbiſchen und der benachbarten Kreiſe zur Beurteilung
vorgelegt. (Anonym), München 1775.
7) Ein geſchickter Gegner Gaßners — nach einem handſchriftlichen Vermerk auf dem Exemplar
der Münchner Hof- und Staatsbibliothek P. Reiſach, C. R. — nimmt in der Schrift: Politiſche
Frage, ob ein weislich regierender Landesfürſt über die Gaßneriſchen Kuren ohne Nachteil ſeiner
566 Konrad Gaiſer
Ende 1774 war der Zulauf in die Stadt — ein Ort von etwa 200 Bürger:
häuſern — fo bedenklich geworden, daß in der „Augsburger Ordinari⸗Zeitung“
das folgende „Avertiſſement“ erſchien: „Ellwangen, den 21. Dezember. Anmit
wird zu männiglichem Wiſſen bekanntgemacht, daß bis zu gänzlicher Abfer⸗
tigung deren allſchon in großer Überzahl aufgeſchriebenen Leute, ſo bei dem
Herrn Gaßner, Pfarrherrn im Klöſterle, ſich anmelden laſſen, niemand Fremder
mehr allhier aufgeſchrieben oder angenommen werde, wie auch, daß vom erſten
bis letzten Jenner nächſthin keine fremde Perſon mit oder ohne Numero, ſondern
lediglich die Ellwangiſchen Stadt⸗ und Landsleute für denſelben gelaſſen wer⸗
den dürfen.“ Trotzdem Gaßner morgens um 5 Uhr mit ſeinen Kuren begann,
mußten die Kranken, wie bei modernen Wunderdoktoren auch, oft wochenlang
warten, bis fie — in der Reihenfolge einer Eintragungsliſte, falls es keine
„Perſonen von Stand“ waren — drankamen; der Zugang zu den zwei Zim⸗
mern, in denen Gaßner arbeitete, mußte bewacht werden (doch konnte man um
ein kleines Trinkgeld leicht als Zuſchauer in das erſte der beiden Zimmer Zutritt
erlangen; Gaßner ſelbſt nahm weder Geld noch Geſchenke 8). Die Kuren fanden
ſtets vor Zeugen ſtatt und wurden mit deren Unterſchriften protokolliert; unter
den Zeugen befinden ſich vom Reichs fürſten an Perſonen aller Stände, auch nicht
wenig Arzte 9). Gaßner ſelbſt war außer in Ellwangen hauptſächlich noch in
dem pfalz⸗zweibrückenſchen Sulzbach 19 und in Regensburg tätig; bald begann
jedoch fein Verfahren Schule zu machen, indem auch in anderen Diözefen, be⸗
ſonders der Prager, von Geiſtlichen Exorziſationen vorgenommen wurden. Dies
nun ſowohl, wie auch andererſeits der immer größer werdende Streitſchriften⸗
lärm, führte zum Eingreifen der geiſtlichen und weltlichen Autoritäten, und
dieſes machte der ganzen Sache raſch ein Ende. Kurfürſt Maximilian III. Jo⸗
ſeph von Bayern nahm eine von 4 Ingolſtädter Profeſſoren veröffentlichte, mit
Entſchiedenheit für Gaßner Partei nehmende Erklärung 11) zum Anlaß, ſeine
Untertanen noch länger gleichgültig ſein kann? 1775, den Maſſenzulauf nach Ellwangen zum Anlaß,
um die Fürſten, die ja auf ihre Geldausfuhrverbote großen Wert legten, darauf aufmerkſam zu
machen, daß „die Reiſenden bis auf dieſe Stunde faſt gegen eine Million Gulden aus ihren reſpek ⸗
tiven Landſchaften geſchleppt haben müſſen“.
8) Genauere Angaben über dieſe äußeren Verhältniſſe, z. B. in der Schrift: Unparteiiſche Ge⸗
danken oder etwas vor die Arzte von der Kurart des Tit. Herrn Gaßners in Ellwangen, beraus-
gegeben von Doktor Schiſel, gedruckt nach dem Exemplar von Schalbutz, 1775. (Namen durch⸗
ſichtige Pſeudonyme für den pfalz⸗zweibrückenſchen Leibarzt Dr. Schleis in Sulzbach, einen der
Hauptkämpen auf Seiten Gaßners.)
0) Eine ſehr ausführliche Liſte findet ſich in der gleich zu erwähnenden Abhandlung des Ingol⸗
ſtädter Theologieprofeſſors Benedikt Stattler: Was ſoll man an den Kuren des Herrn geiſtlichen Rats
Gaßner, die er bisher im Namen Jeſu gemacht hat, noch unterſuchen, ſo nicht ſchon längſt hundert
Mal iſt unterſucht worden? (Anonym) 1775.
10) Dieſer Aufenthalt iſt inſofern von Bedeutung, als er Anlaß gab zu einer der wenigen kritiſch
ablehnenden Schriften über Gaßners Tätigkeit: Uber Gaßners Aufenthalt und Weſen in Sulzbach,
Frankfurt und Leipzig, 1776 (anonym; Verfaſſer Pfarrer Chr. Heinrich Seidel); Schleis ließ ſo⸗
gleich eine außerordentlich reich dokumentierte Gegenſchrift erſcheinen: Beiträge zu Gaßners Aufent⸗
halt und Weſen in Sulzbach, 1776, allda gedruckt in Gallwitziſchen Schriften.
11) Siehe oben Anm. 9, die Profeſſoren waren der Prokanzler und Theolog Stattler, ber
Juriſt Prugger, der Philoſoph Gabler und der Anatom Leveling. Daß es an der Univerfität übrigens
auch Gegner Gaßners gab, beweiſt das Beiſpiel des Profeſſors Steigenberger, der Gaßners Tätig-
keit une charlatanerie nannte, f. Fieger a. a. O., S. 228.
Schubart im Exorziſtenſtreit 567
ablehnende Haltung öffentlich zu bekunden 12); er ließ ſich auch durch einen ſehr
langen und beweglich für den Wundertäter eintretenden Brief ſeines Neffen,
des Fürften zu Hohenlohe-Schillingsfürſt, vom 5. Januar 1776, in feiner Stellung
nicht irremachen 13) und verbot nicht nur eine Verlegung der Tätigkeit Gaßners
auf kurbayriſches Gebiet, ſondern auch den Vertrieb des von dem Exorziſten ver⸗
faßten Büchleins „des Wohlehrwürdigen Herrn J. J. Gaßners, der Gottes⸗
gelahrtheit und des geiſtlichen Rechts Kandidat, ſeeleifrigen Pfarrers in Klöſterle,
Weiſe, fromm und geſund zu leben, auch ruhig und gottſelig zu ſterben: oder
nützlicher Unterricht, wider den Teufel zu ſtreiten, durch Beantwortung der
Fragen: 1. Kann der Teufel dem Leibe der Menſchen ſchaden? 2. Welchen am
meiſten? 3. Wie iſt zu helfen? Kempten 1774 (vgl. auch noch: J. J. Gaßners
. . Antwort auf die Anmerkungen, welche in dem Münchneriſchen Intelligenz⸗
blatt vom 12. November 1774 . . . wie auch von der deutſchen Chronik und
anderen Zeitungsſchreibern gemacht worden. Mit Erlaubnis des Hochwürdigen
Augsburgiſchen Ordinariats (Augsburg, J. Wolff, 1775). Nach der kur⸗
bayriſchen griff nun aber auch die Wiener Regierung ein und im November
1775 erhielt der Fürſtbiſchof von Regensburg die Weiſung, daß Gaßner von Ell⸗
wangen zu entfernen ſei und daß er ſich aller exorziſtiſchen Handlungen im
römiſchen Reich zu enthalten habe. Dieſer kaiſerlichen Verfügung gab der Biſchof
jedoch erſt Folge, als Papſt Pius VI., wahrſcheinlich veranlaßt durch zwei von
den Erzbiſchöfen von Prag und Salzburg gegen das um ſich greifende exor⸗
ziſtiſche Unweſen erlaſſene Hirtenbriefe !“), die Akten aus Regensburg ein⸗
forderte und durch die Congregatio S. S. Rituum die Entſcheidung traf: „der
Gebrauch des Exorzismus ſei zwar löblich und in der katholiſchen Kirche aller-
dings beizubehalten, inſoweit er mit Klugheit angewendet werde und mit den
Vorſchriften des römiſchen Rituale übereinſtimme; doch könne der Papſt den viel-
fältigen Gebrauch, den der Pfarrer Gaßner davon mache, nicht gutheißen, be⸗
ſonders wenn dabei die Meinung verbreitet würde, daß der größere Teil der
Krankheiten und Gebrechen vom böſen Feind entweder allein herrühre, oder daß
wenigſtens dieſelben von ihm vermehrt werden“ 15). Jetzt gab der Biſchof nach
und ernannte Gaßner auf die Pfarre Pfondorf in Niederbayern, wo er am
4. April 1779 geſtorben iſt, ohne je wieder von ſich reden gemacht zu haben. Mit
dem Zurücktreten der Hauptperſon verſtummte auch der Flugſchriftenlärm, wenn
auch einzelne Außerungen noch bis ins Jahr 1783 hinein vorliegen.
So viel zum äußeren Verlauf des Gaßnerhandels. Um Schubarts Anteil daran
würdigen zu können, iſt es nötig, einen kurzen Blick auf Gegenſtand und Verlauf
des durch die Wunderkuren des Exorziſten entfeſſelten Streits zu werfen 16).
12) Die hochintereſſanten Akten bei Fieger a. a. O., S. 203 — 209.
13) Fieger a. a. O. S. 209 — 215.
14) Vom 6. 12. 1777 bzw. 5. 1. 1776; bei Fieger a. a. O., S. 215-217, iſt auch ein gegen
Gaßner gerichteter Hirtenbrief des Trierer Erzbiſchofs angeführt; die beiden anderen Hirtenbriefe
ſind in der ſogleich zu erwähnenden Sammlung von Gaßnerſchriften im 14. Band enthalten.
18) Fieger a. a. O., S. 218.
16) Die Quelle, auf die ſich die vorliegende Darſtellung in erſter Linie ſtützt, iſt die — von Fieger
nicht oder nur wenig benützte — Sammlung von Gaßnerſchriften auf der Münchner Hof⸗ und
568 Konrad Gaiſer
II.
Die Überzeugung, auf die Gaßner ſeine Kuren gründete, ergibt ſich aus der
Bejahung der auf dem Titelblatt feiner Schrift (ſ. o. S. 567) geſtellten grundſätz⸗
lichen Frage: kann der Teufel dem Leibe der Menſchen ſchaden? Daraus folgt
ohne weiteres, daß für Krankheiten, bei denen der Teufel die Hand im Spiel
hat, nicht der Arzt, ſondern der Prieſter zuſtändig iſt; das Heilmittel des
Prieſters aber iſt die Exorziſation. Dieſe Grundpoſition erfordert die Beant⸗
wortung weiterer theoretiſcher Fragen, nämlich, in welcher Weiſe die Einwir⸗
kung des Teufels vor ſich geht, unter welchen Bedingungen er dem Menſchen
beſonders gefährlich werden kann, welche Vorausſetzungen für eine Heilung
durch den Prieſter vorhanden ſein müſſen, und endlich, durch welche Mittel die
vom Teufel verurſachten Leiden — Gaßner nennt ſie, im Unterſchied von den
„natürlichen“, die auch der Arzt heilen kann, „unnatürlich“ — von gewöhnlichen
Krankheiten unterſchieden werden können.
über dieſe Punkte äußert Gaßner, im ganzen und im einzelnen unterſtützt
von ſeinen theologiſchen und nichttheologiſchen Freunden, folgende nicht un⸗
intereſſante Meinungen: Der Satan behelligt die Menfchen ſowohl physice
(durch unmittelbare Erzeugung körperlicher Leiden), als imaginative (durch
Schädigung des Gemütslebens und die von da aus hervorgerufenen körperlichen
Krankheitserſcheinungen), als per naturam (mittelbar, z. B. durch Verſtärkung
einer bereits vorhandenen „natürlichen“ Krankheit). Die Kranken ſelber können
entweder fein circumsessi, d. h. nur einzelnen hölliſchen Anfechtungen aus⸗
geſetzt, wobei die böſen Geiſter alſo „gleich einer Bräme herumſchwärmen und
nach einem hie und dort verſetzten Stich ſich wieder entfernen“; oder obsessi seu
maleficiati, d. h. Verzauberte und Behexte; denn „es gibt eine Menge der⸗
gleichen Künſtler (scil. Hexen) in der Welt“ und Teufelsbeſchwörungen,
Schwarzkünſte, „vom Teufel gemachte Hagel, Gefrörniſſe, unzeitiger Schnee,
Waſſergüſſe und andere vergleiche Übel“ find unanfechtbare Tatſachen; endlich
possessi, d. h. regelrecht Beſeſſene, „jene Menſchen, in deren Leiber der Teufel
wirklich gefahren iſt“. Angreifbar für den Böſen ſind an und für ſich alle Men⸗
ſchen, Fromme und Sünder; aber beſonders lohnende Objekte findet er in den
Kleinmütigen, Traurigen, Angſtlichen, Verzagten, Reizbaren, Jähzornigen,
Schreckhaften — die letzteren ſchreckt er z. B. „durch gemachten Tumult, Schnel⸗
len, Krachen .. . läßt ſich ſehen in Häuſern, Kammern, Kellern, Ställen ... bald
wie ein feuriger, bald wie ein ſchwarzer, bald wie ein weißer Mann ... bald
in einer förchterlichen Hunds⸗ oder anderen Tiersgeſtalt, bald in eines verſtorbe⸗
Staatsbibliothek, Bav. 4000, in der über 70 einzelne Stücke enthalten ſind. Die Abhandlungen,
teilweiſe ſehr umfangreich, find größtenteils anonym; einzelne Pſeudonyme find indeſſen leicht zu er ⸗
kennen, und außerdem find auf einer Reihe der Schriften die Verfaſſernamen handſchriftlich bei ⸗
gefügt; ſie waren, wie aus der Polemik ſelbſt hervorgeht, den Zeitgenoſſen offenbar von Anfang an
ziemlich genau bekannt. Die von Fieger a. a. O. herangezogenen Quellen ſind in der Sammlung
ſämtlich auch enthalten; doch ſchien es mir wertvoll, feine vorzügliche Darſtellung mit durchweg
neuem Belegmaterial zu ergänzen. Eine reich dokumentierte Abhandlung über Gaßner findet ſich
auch bei E. Sierke, Schwärmer und Schwindler zu Ende des 18. Jahrhunderts, 1874, S. 222
bis 287; doch machen ſein Rationalismus und ſeine Jeſuitenfeindſchaft die Darſtellung außer⸗
ordentlich einſeitig.
PR “ii 09 li 4 ä
Schubart im Exorziſtenſtreit 569
nen Menſchen Geſtalt ...“ Abhilfe gegen jo ſchlimme Bedrohung des Daſeins
iſt nur möglich unter Anrufung des allerheiligſten Namens, und ſie kann nur
wirkſam werden, wenn der Patient den feſteſten Glauben hat; der Kranke ſoll
ſich nach Kräften ſelbſt wehren, vor allem, indem er Schrecken, Furcht, Zorn,
Schwermut von ſich fern hält; wird er nicht ſelber mit dem Feind fertig, ſo ſoll
er ſich vom Prieſter helfen laſſen; auch dann aber kann die Heilung nur dadurch
eine dauernde werden, daß er im Glauben nicht wankend wird; ſonſt würde
nämlich ein Rückfall erfolgen — ohne daß darum an der Richtigkeit und Wirk⸗
ſamkeit des Verfahrens gezweifelt werden dürfte. Für die offenſichtlich ſchwie⸗
rigſte Frage, die diagnoſtiſche, war das praeceptum probativum zur Hand;
gelang es dem Exorziſten, durch Anwendung dieſes praeceptum einen akuten
Anfall des Leidens hervorzurufen, ſo daß alſo z. B. der Kranke, von Gaßner
angerufen, in ſeine Krämpfe verfiel, dann war die Anweſenheit des Satans mit
Sicherheit feſtgeſtellt. Die praecepta mußten übrigens lateiniſch gegeben wer⸗
den; denn wenn ein ganz ungebildeter Menſch einen lateiniſch gegebenen Befehl
ausführte, ſo war das ein weiteres untrügliches Zeichen hölliſcher Präſenz —
wer anders als der Satan ſollte denn der Kirchenſprache mächtig ſein?
Dies ſind die theoretiſchen Grundlagen des Gaßneriſchen Verfahrens, und
vorwiegend um ſie wird in den Streitſchriften gekämpft, und zwar von beiden
Seiten unter Anrufung der Autorität der Schrift, der Väter, der großen Theo⸗
logen, der päpſtlichen Entſcheidungen — mit jenem ſtupenden Aufwand an
zitierfreudiger theologiſcher Gelehrſamkeit und Dialektik, der die ältere Lite⸗
ratur dieſer Art kennzeichnet.
Sieht man von der eigentlichen Teufelstheologie Gaßners ab, ſo äußert er
ſich manchmal durchaus nüchtern und vernünftig: „kommt es auf den partiku⸗
laren Fall an, ſo bin ich ſo ungläubig als einer, denn auch ich bin überzeugt,
daß es viele Betrügereien, Phantaftereien, und weiß nicht was für Einbil-
dungen gebe. Und ſo lange ein erfahrener Medikus eine natürliche Urſache an⸗
zugeben weiß, ſo bin ich gar nicht entgegen: ich wünſche ſogar ihre Gegenwart“.
Aber es iſt gar keine Frage, daß Gaßner, von ſeinen Erfolgen getragen, und,
wie das ſo zu gehen pflegt, von den gläubigen Patienten faſt unausweichlich
gedrängt, in ſeiner Praxis die Grenzen weit überſchritt, die er ſich urſprünglich
ſelbſt geſteckt haben mochte und ſo ſchließlich dazu gelangte, ſchlechterdings alle
Krankheiten, die der Kunſt der Arzte zu trotzen ſchienen, auf teufliſche Beſitzung
zurückzuführen und alſo ihre Heilung nach ſeinem Syſtem zu verſuchen.
III.
Der Teufelstheologie entſprach die Teufelsbannerpraxis, und ſie war ſo
merkwürdig wie jene.
Vorweg iſt zu ſagen, daß Gaßner ausgeſprochenermaßen die Abſicht hatte,
„nützlichen Unterricht“ für den Streit mit dem Teufel zu erteilen, d. h. alſo,
er wollte jedermann dazu anleiten, ſich ſelbſt des Teufels zu entledigen, falls die
Notwendigkeit dazu vorhanden wäre. „Alſo vertreibt dieſer Befehl ...: ich
befehle dir, du Höllenhund, in dem allerheiligſten Namen Jeſus, daß du augen⸗
570 Konrad Gaiſer
blicklich von dieſem Haus (Stall, Vieh, oder was es immer iſt) abweicheſt und
auf keine Weiſe ihm einigen Schaden zufügeſt, im Namen Gottes des Vaters,
Sohnes und Heiligen Geiſtes ... von Kindern und Erwachſenen das Schrätlein
oder Trudt, löſet auf alle gemachte Gefrörniſſe, Aufbäumungen, Hinderniſſe im
Schmalzmachen, die durch Malefitz verurſachten Hinderniſſe der Eheleute, erhält
das Kind im Mutterleib, befördert die Geburt, allwo ſehr oft das Unnatürliche
Mutter und Kind um das Leben bringt, erhält die Muttermilch, befreiet das
Vieh von aller Hexerei, die Häuſer von Geſpenſtern, die Felder von ſchädlichem
Ungeziefer, Hagel, Ungewittern, die Menſchen ſelbſt von allerhand Krank⸗
heiten, Gefahr, Unglück zu Waſſer und zu Land; dienet auch, das Herz von aller
Traurigkeit zu erledigen, alle Verſuchungen zu vertreiben. Es ſtehet zwar kraft
der geiſtlichen Weihung die ſonderheitliche Gewalt der böfen Geiſter, ſamt aller
Malefitz von den Leibern, Häuſern ꝛc. zu vertreiben, allein den Prieſtern zu.
Jedoch hat ein jeder Chriſtgläubiger kraft der heiligen Taufe einen allgemeinen
Gewalt über die böſen Geiſter von Chriſto empfangen ..“ Dementſprechend
enthält Gaßners Schriftchen auch eine große und eine kleine „Anweiſung, mit
dem Teufel zu ſtreiten“, und in Ellwangen fand ein Großvertrieb von kleinen
Blättchen ſtatt, die teils allegoriſche Darſtellungen, teils Bilder Gaßnerſcher
Kuren zeigen, und denen meiſt die „kleine Anweiſung ..“ beigedruckt iſt: „ich
befehle dir, höllifcher Geiſt, und deinem Anhang, daß du alsbald mit dieſer
Anfechtung von meinem Leibe, und (wenn die Anfechtung an der Seele iſt) von
meiner Seele fortweicheſt, im Namen des T Vaters, und des f Sohnes, und des
7 Heiligen Geiſtes, Amen.“ 17)
Es iſt nun aber klar, daß, zumal da die Hauptfclige gegen den „Höllenhund“
doch nur vom geweihten Prieſter geführt werden konnten, dieſe Erziehung der
Laien zum Streit wider den Teufel durchaus zurücktreten mußte gegenüber den
von Gaßner felbft ausgeführten exorziſtiſchen Befreiungen von Circumsessio,
Obsessio und Possessio. Auch die Diskuſſion hat ſich ausſchließlich dieſer
letzteren Frage zugewendet.
Die exorziſtiſche Behandlung ſelbſt beſtand aus zwei Teilen, den praecepta
probativa, und der eigentlichen Heilung. Beim praeceptum probativum
— es war das auch der Punkt, der von den theologiſchen Gegnern am ſchärfſten
angegriffen wurde — ſcheint Gaßner ſehr häufig der Luſt erlegen zu ſein, ſeine
Macht über den Teufel durch ein merkwürdiges Herumkommandieren desſelben
zu erweiſen; minder reſpektvolle Leute nannten die Gaßnerſchen Kuren daher
auch „die Gaßnerſche Komödie“, und es iſt denn auch oft genug bezeugt, daß
die Anweſenden, den Pfarrer eingeſchloſſen, in ein luſtiges Gelächter ausbrachen,
wenn er den Satan ſo recht nach Herzensluſt drangſalierte.
Einige Verlaufsbeiſpiele mögen das Geſagte noch deutlicher zeigen.
„Der Kammerkanzeliſt Schwarz klagte .. dem Pfarrer Gaßner ein ſehr hef⸗
tiges Aſthma, welches ihm wegen allzuſtarker Engbrüſtigkeit und Bangigkeit
17) Die ſämtlichen Gaßnerzitate find den oben, S. 567 genannten beiden Schriften entnommen.
Abbildungen der erwähnten Merkblätter finden ſich in Bd. 10 der oben genannten Sammlung
Bav. 4000.
Schubart im Exorziſtenſtreit 571
faſt alle Reſpiration verſagte. Herr Gaßner befahle vor allen Anweſenden, daß
ſich das Aſthma in jener Stärke, als es ihme jemals zugeſetzt, zeigen ſollte.
Kaum war das Praeceptum gemacht, ſo überfiel den Patienten dieſes Übel
dergeſtalten, daß ihme nebſt einem erſtaunlichen Auftreiben des Leibes faſt der
Atem auszubleiben ſchien ... In einer Zeit von 5 Minuten liefen dem Schwarz
die Hände ſichtbar auf, die Adern zeigten ſich außerordentlich aufgeſchwollen ...
Der Patient mußte mit Anrufung des Namens Jeſus den Schmerzen und der
Anfechtung die Nachgiebigkeit gebieten, welche auch bis zur gänzlichen Befreiung
jedesmal erfolgte.“ 18)
„Franziska Brückenmüllerin hatte bei denen öffentlichen Operationen noch
einige Leidenſchaften anzuzeigen vergeffen ... H. Gaßner gebot ... Tristetur
mox vehementissime. Sie wurde zum Entſetzen traurig und fieng unter den
heißeſten Tränen ... zum Erbarmen an zu weinen. Luctus vertatur in risum.
Ohne Verzug fieng ſie mit der erhabenſten Freudenſtimme ſo zu lachen an, daß
fie unter den Tiſch fiele und alle andere zum Mitlachen bewegte. Immediate
vertatur risus in luctum. So ſtark das Lachen und vorige Weinen ware, deſto
ſtärker war es dermalen, welches ſie eine ganze Viertelſtunde unter dem weh⸗
kläglichſten Heulen fortſetzte .. Irascetur super hoc pavimentum. Sie riſſe
mit ergrimmter Wut die Haube von dem Kopf, warfe ſie von ſich, drohete und
ſchlug mit den Fäuſten auf den Boden, ſpeiete ihn an mit den fürchterlichſten
Gebärden und Worten ... Indormiat. Sie ſchliefe allſogleich ein. Ducas
maledicte Daemon hanc creaturam per hoc cubile. Sie ſtunde ſchnell auf,
gienge in dem Zimmer herum, ſtellte ſich in einen entfernten Winkel, und ſchliefe
noch immer. Mox ducas maledicte Daemon hanc creaturam ad pastorem
suum et illi osculetur manum. Sie gienge zu Titl. dem allhieſigen Herrn
Dechanten, bliebe ſtehen und erwachte. Non evigilare facias, dormiat ista
creatura et statim osculetur pastori sui manum. Sie ſchliefe ein und bliebe
unbeweglich ſtehen .. Osculeris manum, praecipio in nomine Jesu. Sie
hebte die Hand auf, ergriffe ihren Schurz und ſtopfte ſich damit das Maul zu.
Manum osculare, manum osculare pastori huic ... Sie bequemte ſich end⸗
lich, mit einem lauten Kuß die Hand Hochgedachten Titl. Herrn Dechanten zu
verehren. Evigilet. Sie erwachte und erſtaunte, als man ihr den Vorgang er⸗
zählte, 11. 11. 1775.“ Eigenhändig unterſchrieben von „Franziska, verwittibte
Pfalzgräfin von Zweibrücken.“ 19)
Andere praecepta waren etwa: agitetur bracchium sinis trum caput —
18) Aus: Der entlarfte Lügner durch Anmerkungen über die prüfenden Anmerkungen — eine
Gegenſchrift zu dem „Sendſchreiben des H. Hr. von ... an den H. Hr. .., Mitglied der chur⸗
bayriſchen Akademie in München“ — eine Schrift zur Verteidigung Gaßners — über einige von
dem Herrn Pfarrer Gaßner, Pfarrer in Klöſterle, während ſeines Aufenthalts in Ellwangen unter⸗
nommene Operationen. Dargeſtellt von einem Wahrheitsfreund und Augenzeugen. (Anonym) 1775.
(Verfaſſer der Hofrat Joſeph v. Sartori in Ellwangen.)
10) Aus: Verzeichnis der merkwürdigſten Operationen, welche im Jahr 1775 zu Sulzbach
geſchehen ſind. Nebſt einem Anhang einiger dergleichen wunderbaren Begebenheiten in Ellwangen
. Frankfurt, Hanau und Leipzig, 1779. Der Verfaſſer — Schleis? — hatte übrigens „anfäng⸗
lich Bedenken, die bei ſotanen Operationen zum Vorſchein gekommenen Leibesgebrechlichkeiten hoher
Standesperſonen durch den Druck bekannt zu machen“!
572 Konrad Gaiſer
surget e sella et fugam arripiat — mutetur modo pulsus in manu sinistra
et sit intermittens — in dextro bracchio pulsus sit celerrimus et in
sinistro tardus — agitetur modo in toto corpore et adsit paroxismus,
quem semper habuit — loquatur latine — sinistrum bracchium fiat rigi-
dum et manus fixa perdat auditum — visum in utroque oculo — signa
morientis et mortuae habeat .. Unterzeichnet von einem Statthalter, einem
Freiherrn, einem Hofrat und Hofmedicus von Mergenthal, einem Ziſterzienſer,
einem deutſchmeiſterlichen geiſtlichen Rat 20).] Beſonders das oft angeführte
signa morientis habeat ſcheint einen großen Eindruck gemacht zu haben. Es
war auch ſchlimm genug: „der Atem fieng an, auszubleiben, die Augen brachen,
die Naſe ſpitzte ſich zu, der Todesſchweiß ſtund ihr auf der Stirne ... Ein ſehr
erfahrener proteſtantiſcher Herr Medicus ... machte das Geſtändnis, daß kein
Medicus in der Welt ſei, der fähig wäre, eine Patientin, mit der es einmal ſo
weit gekommen ſei, wieder zurecht zu bringen. Der Herr Pfarrer, der ſchon
wußte, daß alles nur ein Spiel des Teufels ſei, ſprach anders nichts als surge
in nomine Jesu, und die Perſon ſtand zur Erſtaunung aller augenblicklich
friſch und geſund auf . . 21)
Wie ſchrankenlos das Vertrauen des Wundermannes auf ſeine Kraft einer⸗
ſeits und ſein Glaube an die Macht des Satans andererſeits war, mag endlich
noch aus der folgenden, den 223 Heilungsberichten der S. 571, Anm. 19, ge⸗
nannten Schrift entnommenen Liſte der von Gaßner behandelten Krankheiten
hervorgehen: Blindheit, blöde oder rinnende Augen, ganze und halbe Taubheit,
Sprachloſigkeit, Stammeln, Heiſerkeit, Podagra, Chiragra, Krämpfe, Rotlauf,
Lähmung an Händen und Füßen, goldene Ader, Schiatik, Fieber mit Ausſchlag
und Frieſel, Steinſchmerzen, Kolik, hyſteriſche Zuſtände, Kopf⸗, Zahn⸗, Kreuz⸗,
Magen⸗, Halsſchmerzen, Gliederweh, Schwindel, fallende Sucht, Gichter, Steck⸗
fluß, Geſchwülſte, Katarrhe, Huſten, Erbrechen, Grötzlen, Blutbrechen, Zehr⸗
fieber, Herzklopfen, Schlafloſigkeit, beunruhigende Träume, verlorener Appetit,
verdorbener Geſchmack und Geruch, geſchwächtes Gedächtnis, aufgetriebener
Leib, Blähungen, Ohnmachten, Reißen in den Gliedern, Mattigkeit, Empörung
der Leidenſchaften .. Man iſt nach alledem beinahe erſtaunt, zu vernehmen,
daß es gewiſſe Schäden gebe, die nicht durch Menſchen, ſondern nur durch Gott
ſelbſt geheilt werden könnten, wenn nämlich ein wirklicher „Mangel“ vorliege,
wie z. B. ein fehlendes Bein, oder ein ausgelaufenes Auge ...
IV
Der gelehrte und publiziſtiſche Streit, den Gaßners Auftreten entfachte, drehte
ſich weniger um die eigentlich mediziniſchen, als vielmehr um die mit der Sache
zuſammenhängenden theologiſchen Fragen — ob der Teufel die von ſeinen An⸗
20) Aus: Ein paar Worte an den Herrn F. M. Baader, der Philoſophie und Arzneiwiſſenſchaft
Doktor in München, wegen der gaßneriſchen Hanswurſtiade und Rechtſchaffenheit des Don Ster;
zinger, 1783. (Der Verfaſſer beſchwert ſich einleitend darüber, daß Bayern durch die Angriffe des
Dr. B. als ein Land der „Hotten⸗Dotten“ hingeſtellt werde!)
21) Aus der in Anm. 18 angeführten Schrift.
Schubart im Exorziſtenſtreit 573
hängern behaupteten Wirkungen ausüben könne oder nicht; ob Gaßner befugt
ſei, zu exorziſieren; ob ſein Verfahren mit dem Exorzismusritual in Einklang
ſei. Auch die ſchließlich gegen Gaßner ergangene kirchliche Entſcheidung geht
ausſchließlich von dieſen theologiſchen Fragen aus. Auf letztere näher einzu⸗
gehen, erübrigt ſich hier; dagegen iſt es notwendig, einen allgemeinen Über⸗
blick über die gegneriſchen Lager zu gewinnen.
überblickt man die Schar der Streiter, fo iſt es, wenn man auf Zahl der Ver⸗
faſſer und Umfang der Traktate ſieht, in der Tat ſo, wie Nicolais Allgemeine
deutſche Bibliothek in einem ihrer ausgezeichneten Referate über dieſe Streit⸗
ſchriftenliteratur ſchrieb: „Würde es bei einem Hauptangriff auf die Anzahl
der Streitenden angekommen ſein, ſo würde die Hexenarmee ohne Vergleich das
Übergewicht erhalten und den Pater Sterzinger ſamt ſeinem Anhang bis an die
Grenzen des Nordpols getrieben haben.“ ?2) Weit über die Hälfte der in der
Münchner Sammlung vereinigten Schriften ſtammt von überzeugten Anhängern
Gaßners, und zählt man nur die aus dem katholiſchen Süddeutſchland her⸗
rührenden, ſo iſt die Übermacht der Teufelsſtreiter vollends erdrückend. Einige
der Hauptkämpfer mögen hier genannt werden:
Unter den Verteidigern Gaßners iſt der voluminöſeſte der Abt Oßwald von
Oberzell, der für ſeinen Helden vier umfängliche „Sendſchreiben eines Gottes⸗
gelehrten am Tauberfluß ...“ (Nr. 2—5 unferer Sammlung; Nr. 1 gehört noch
in den unten zu erwähnenden Hexenſtreit) ausgehen ließ; der rabiateſte war
unſtreitig der Ellwanger Hofrat Sartori, der Gaßners Gegner in mindeſtens
vier Schriften beſchimpfte; der mediziniſche Kronzeuge der Partei war
Dr. Schleis in Sulzbach; ein theologiſcher Vorkämpfer neben Abt Oßwald der
Augsburger Domprediger Aloyſius Merz, Erjefuit ?”). Auch ein Therſites zeterte
auf dieſer Seite mit: der „poeta vagabundus“ 20) Hofer, deſſen Erzeugniſſe
Schubart draſtiſch und treffend als excrementa Apollinis bezeichnete 25) ; für
publiziſtiſche Aufgaben höheren Rangs ſtand den Gaßnerianern aber noch der
Exjeſuit Zeiler zur Verfügung.
In der kleineren Phalanx, der ſchließlich, wenn auch nur durch das Eintreten
größerer Mächte in den Kampf, der Sieg beſchieden war, ſtritt in vorderſter
Linie der theologiſche Hauptgegner Gaßners, der Münchner Theatiner P. Don
Ferdinand Sterzinger 25); neben ihm der Verfaſſer der „prüfenden Anmerkun⸗
gen . .. „ Schade; von weltlichen Schriftſtellern iſt wichtig der Polyhiſtor G. W.
1) A. db. B. 24, S. 616/617; die andern Berichte der Zeitſchrift über den Gaßnerhandel finden
fi 27, 596 ff., und 28, 278 ff.
29), Er iſt wichtig als Hauptgegner Schubarts; vgl. über ihn C. A. Baader, Lexikon verſtorbener
Baieriſcher Schriftſteller des 18. u. 19. Jahrh. I, 2 (1824), S. 26-31. Er war ein großer „Gla⸗
diator“, wie ſich Schubart in der höchſt temperamentvollen Außerung LG. I, S. 227, ausdrückt; von
den 79 bei Baader angeführten Schriften ſind faſt alle Kontroverspredigten gegen die Lutheriſchen.
20) Handſchriftlicher Vermerk auf dem Münchner Exemplar der noch zu beſprechenden „luſtigen
Melancholie“.
25) Deutſche Chronik 1775, 42. Stück.
26) Über ihn Fieger a. a. O., der nur den Teilſtreit um das Ellwanger Protokoll (f. u.) und die
dahin gehörige Schrift St. 's überſehen hat.
574 Konrad Gaiſer
Zapf, damals Notar in Augsburg 7). Einer der weſentlichſten Vorteile aber der
antigaßneriſchen Partei war, daß ſie den auf die Beeinfluſſung der Maſſen
abgeſtellten Leiſtungen der Hofer und Zeiler die geniale publiziſtiſche Kraft
Schubarts gegenüberzuftellen hatte.
Die Hauptkampfhandlungen ſpielten ſich naturgemäß auf ſchwäbiſch⸗baye⸗
riſchem Boden ab; doch zog der Streit, wie gelegentlich ſchon erwähnt, ſeine
Kreiſe weit über dieſes Gebiet hinaus — Schubart weiß ſogar von einer eng⸗
liſchen Stimme zu berichten 2°). Von den kleineren Aktionen auf Nebenkriegs⸗
ſchauplätzen iſt hier nur die Auseinanderſetzung zwiſchen Lavater und Semler
erwähnenswert, und zwar einmal deshalb, weil ſich hier zwei typiſche Ver⸗
treter gegenſätzlicher Denkrichtungen gegenübertraten, die es immer gegeben
hat und immer geben wird, und dann deshalb, weil Lavater ſich auch mit
Schubart über den Wunderpfarrer auseinanderzuſetzen verſucht hat.
Lavater hatte ſich in zwei Briefen, vom 26. März und 19. Mai 1775 29) an
Semler gewendet und von ihm eine Unterſuchung zunächſt und vor allem der
facta verlangt. Seine Einſtellung zu Gaßner ſcheint auf den erſten Blick durch⸗
aus neutral, allen theologiſchen Haarſpaltereien abgewandt und lediglich auf
das Faktiſche gerichtet zu ſein; doch iſt ein, zwar nicht Gaßners Perſon, wohl
aber ſein Wirken bejahender Unterton deutlich zu vernehmen. Dieſer Unterton,
ebenſo deutlich in dem noch zu erwähnenden Brief an Schubart vom 8. April,
und einer Auslaſſung an die Frankfurter gelehrten Anzeigen vom 12. Mai,
wird zur führenden Stimme in ſeinem (zweiten) Brief an Gaßner ſelbſt, vom
29. März 1775 30), aus dem man vernimmt, daß Lavater Kranke zu Gaßner
ſchickt und wo es heißt: „O! mein Bruder, werden Sie nicht müde, des Herrn
Werke zu verrichten!“ Die Freunde des Wundertäters jubelten denn auch über
dieſe Zeugniſſe von einer fo angeſehenen Perſönlichkeit 51), während in der
Allgemeinen deutſchen Bibliothek 28, 295 zu leſen war: „welcher Eigendünkel!
welche Selbſtgefälligkeit! welch unbeſtimmtes Geſchwätz, unter dem man doch
die heimliche Freude über den Triumph, deſſen man gewiß zu ſein glaubte,
durchſchimmern ſieht!“ Semler ſeinerſeits, Lavater mit Achtung behandelnd,
legte viel mehr Nachdruck auf die ihn natürlich aufs äußerſte empörenden theo⸗
27) Von ſeiner „Zauberbibliothek“ gilt freilich im Weſentlichen, was ihm in der Allg. d. Biblioth.
(28, 302) vorgeworfen wurde: „von Wort zu Wort aus unſerer Bibliothek abgeſchrieben“; indeſſen
enthält die Schrift nicht nur einige ſchätzenswerte Angaben über Schubart, ſondern ſie iſt auch dadurch
von Bedeutung, daß fie das, was in Nicolais Zeitſchrift für vorwiegend norddeutſche und prote⸗
ſtantiſche Leſer geſagt war, mit Mut und Geſchick an einem der Brennpunkte des Streits vortrug. —
Zapf allein gehört dagegen die verdienſtvolle Schrift: Die Ehre des Herrn P. Don F. Sterzinger
wider die Angriffe eines Ellwangiſchen Pasquillanten gerettet, 1776. (Zapf als Verfaſſer ſchon bei
Meuſel, Gel. Deutſchl. 8 (1800), S. 666; ſeine Verfaſſerſchaft auch auf dem Münchner Exemplar
vermerkt. Danach wäre Fieger a. a. O. S. 233 zu berichtigen.)
2) D. Ch. 1775, 50. Stück.
20) Bei Semler a. a. O.
0) Enthalten in: Doktor Bernhard Joſeph Schleis' ... Zweifelsfragen an Tit. Herrn Doktor
S. Semler zu Halle über die Sammlungen zu den Gaßneriſchen Geiſterbeſchwörungen, 1776. S. a.
Sierke a. a. O., S. 280/287, wo der Brief abgedruckt iſt.
31) Z. B. in: Des unparteiiſchen Arztes Betrachtungen über Herrn Lavaters Gründe zur Unter⸗
ſuchung deren Gaßneriſchen Kuren. Nebſt einem Anhang von Konvulſionen, Sulzbach 1775.
(Anonym; Verfaſſer: Schleis.)
Schubart im Exorziſtenſtreit 575
logiſchen Anſchauungen der Exorziſtenpartei, als auf das Faktiſche, hinſichtlich
deſſen er ſich an Sterzingers Schrift genügen ließ. Sieht man von Lavaters un⸗
ruhigem Drängen ab und betrachtet ſeine Einſtellung mehr nach der grundſätz⸗
lichen Seite hin, ſo iſt ihm die Annahme der Möglichkeit eines Hereinwirkens
überſinnlicher Kräfte in unſere Erſcheinungswelt etwas Selbſtverſtändliches, im
Gegenſatz zu den großen Rationaliſten, dem fie eine verwerfliche petitio prin-
cipii bedeutet; hinſichtlich der z. B. in der Schrift bezeugten übernatürlichen
Krankenheilungen u. dgl. iſt Semler der Anſicht, daß es ſich bei dieſen Berichten
lediglich um hiſtoriſch bedingte Denk weiſen handle, deren dogmatiſche Ver⸗
ewigung ihm ein Greuel iſt; Lavater ſieht in eben jenen Vorgängen hiſtoriſch
bezeugte Wirkung sweiſen übernatürlicher, durch Menſchen wirkender Kräfte,
deren gegenwärtige Neubetätigung ihm Bekräftigung und Stärkung feines.
Glaubens wäre. Er hat die größere Aufgeſchloſſenheit dem Irrationalen gegen⸗
über, aber eben auch alle Gefahren der im Aufſuchen übernatürlicher Erlebniſſe
allzuleicht irregehenden Gläubigkeitsbereitſchaft gegen ſich — iſt er ja wenig
ſpäter ſelbſt auf Caglioſtro hereingefallen 22). Gaßner gegenüber hat ihn erſt
ein perſönliches Zuſammentreffen im Jahr 1778 etwas abgekühlt, nachdem er
ihm noch am 3. Mai 1777 einen enthuſiaſtiſchen Brief geſchrieben hatte 33).
V.
Aus den Außerungen der Norddeutſchen zum Gaßnerhandel klingt ſehr häufig
der Ton einer ſtolzen Überlegenheit heraus des proteſtantiſchen, aufgeklärten
und fortgeſchrittenen Nordens gegenüber der ägyptiſchen Finſternis, die offen⸗
bar im katholiſchen Oberdeutſchland herrſche. „Unſere proteſtantiſchen Leſer
müſſen ſich“, fo ließ ſich die Allgemeine deutſche Bibliothek vernehmen ?)), „nicht
etwa wundern, daß man überhaupt für und wider die Wirklichkeit der ſeit
Thomaſius Zeiten bei uns verlachten Zauberei und Hexerei noch itzt ſtreiten
will. In den katholiſchen Provinzen Oberdeutſchlands iſt's ganz anders be⸗
ſchaffen ... Wir bitten unſere ſächſiſche, brandenburgiſche und hannöveriſche
Leſer, .. nicht zu lachen oder zu glauben, daß wir ihnen ein Märchen erzählen.
In Oberdeutſchland wird dieſe Sache noch ſehr ernſthaft betrieben ...“ 35) Unter
dieſem Geſichtspunkt betrachtet, tritt nun in der Tat die Teufelsbannerangelegen⸗
heit in einen größeren kulturgeſchichtlichen Zuſammenhang, der noch kurz zu
kennzeichnen iſt.
In der Vorrede zum zweiten Teil ſeiner Geſchichte der bairiſchen Akademie
der Wiſſenſchaften (München 1807) verwahrt ſich Lorenz v. Weſtenrieder aus⸗
drücklich gegen die Unterſtellung, als habe er in den Ausführungen des erſten
Teils (München 1784) die kulturellen Zuſtände in dem Bayern der Zeit vor
22) S. Sierke a. a. O., S. 446/447.
3) S. Sierke a. a. O., S. 283/284.
3) 24, 608/609.
3) Hinſichtlich des Hexenwahns war das nicht zu beſtreiten; was aber Erſcheinungen wie Gaßner
angeht, ſo hatte der aufgeklärte Norden eben damals ſeinen Geiſterbeſchwörer Schröpfer (über ihn
vgl. Semler und Sierke a. a. O.); und von Caglioſtro hat ſich wenig ſpäter der Norden und der
Süden ganz gleichmäßig blenden laſſen.
576 Konrad Gaiſer
1760 als — im Vergleich zum Norden — beſchämend rückſtändig bezeichnen
wollen. So ſchlimm ſei es nicht geweſen und der Vorſprung des Nordens vor
dem Süden habe ohnedies im beſten Fall 50 Jahre betragen. Das iſt richtig;
ebenſo aber auch, daß gerade die Gründer der bayeriſchen Akademie und ihre
Geſinnungsgenoſſen mit Recht das ſtolze Gefühl hatten, die erſten geweſen zu
ſein, die in der dumpf und ſtickig gewordenen bayeriſchen Stube die Fenſter
aufſtießen, um von dem friſchen Luftzug, der durch das Jahrhundert ging, ein
wenig hereinzulaſſen. „Im nördlichen Deutſchland“, ſagt Weſtenrieder, „hatten
die Schriften des Wolfs und ähnlicher Gelehrten einiges Licht angezündet;
aber in den ſüdlichen Gegenden ſchlummerte noch alles“ 36); in Bayern herrſchte
„eine unermeßliche Tiefe in Abſicht auf Kultur des Geiſtes“ 37).
Es war nicht erſt der Gaßnerſtreit geweſen, der dieſe Verhältniſſe blitzartig
beleuchtete. Schon die von Kurſürſt Maximilian Joſeph III. am 21. November
1759 feierlich vollzogene Eröffnung der Akademie hatte auf die Hüter des
Alten, und das waren vor allem die Jeſuiten, wie ein rotes Tuch gewirkt 38) ;
alle Leidenſchaften aber wurden entfeſſelt durch die Akademierede Sterzingers
vom 13. Oktober 1766 „von dem gemeinen Vorurteil der wirkenden und tätigen
Hexerei“, um ſo mehr, als der Streit um den Hexenwahn in Oberitalien und
Tirol ſchon feit 1750 im Gange war ??) und nun auch nach Bayern herein⸗
getragen wurde. In Bayern hatte ſich ja noch das Strafgeſetzbuch des berühm⸗
ten Juriſten Kreitmayr von 1751 hinſichtlich des Tatbeſtands der Hexerei und
Zauberei durchaus auf den Boden des Hexenwahns geſtellt 4%), und dieſe Poſi⸗
tion wurde nun noch einmal mit allen Mitteln theologiſcher Rabuliſtik, perſön⸗
licher Angriffe, Aufhetzung des Volks gegen Sterzinger und ſeine Freunde ver⸗
teidigt 21). Zwar wurde dem öffentlichen Streit durch das Eingreifen des Kur:
fürſten ein Ziel geſetzt “); allein die widerwillig beifeite gelegten Waffen wur⸗
den ſogleich wieder hervorgeholt, als 1774 der Gaßnerhandel einſetzte. Dadurch
erſt erklärt ſich, warum dieſes letzte Nachhutgefecht des Teufels⸗ und Hexen⸗
wahns ſo leidenſchaftlich und hartnäckig, und mit ſo ſchwerem und grobem
Geſchütz geführt wurde — um ſo mehr, als die ganze Lage inzwiſchen durch die
am 21. Juli 1773 erfolgte Aufhebung des Jeſuitenordens eine weſentliche Ver⸗
ſchärfung erfahren hatte. „Der Boden bebte noch“, ſagt Schubart, „vom Hin⸗
ſturz dieſes Koloſſenbilds“, und wer die Geſtürzten antaſtete, mußte erfahren,
daß der Orden „nichts weniger als tot, ſondern nur ein gefallener Rieſe war,
der alles, was ſich ihm zu dreiſt näherte, mit der Fauſt niederriß, und nicht ſelten
in freier Luft zermalmte“ 43),
36) Weſtenrieder, Beyträge zur vaterländiſchen Hiſtorie uſw., I, S. 349 (München 1788).
37) Ebd. baieriſche Beyträge zur ſchönen und nützlichen Literatur, 1. Stück, S. 20.
36) Fieger a. a. O., S. 61/63.
*) Im Zuſammenhang mit einem befonders entſetzlichen Hexenprozeß in Würzburg im Jahre
1749; f. Fieger a. a. O., S. 106 / 112; zur ganzen Frage vgl. S. Riezler, Seſchichte der Deren
prozeſſe in Bapern, Stuttgart 1896, S. 300 ff.
©) Riezler a. a. O., S. 273/274.
u) Der ganze Streit iſt eingehend dargeſtellt bei Fieger a. a. O., S. 91/150.
2) Doch geht er, wie der Gaßnerſtreit, in einzelnen Fehden weiter bis 1787; ſ. Riezler a. 4. O.,
. 316.
% LG. I. 192 bzw. 245.
Schubart im Exorziſtenſtreit 581
Als der Gaßnertanz aber nunmehr erſt ſo recht anhob, warf ſich der Chroniſt
nichtsdeſtoweniger mit ungebrochener und unverwüſtlicher Kraft und Luſt ins
dichteſte Gewühl.
VII.
„Aufgepaßt, Herr Gaßner! das Kräglein locker geſchnallt! Sie haben wieder
zwei derbe Brocken zu verſchlucken ...“ 5): das iſt der Ton, in dem Schubart
das luſtige Raufen anzuheben pflegt — und heute noch ſpringen uns die im
Feuer geformten Sätze mit der ſtrotzenden Kraft an, mit der ſie einſt die Feinde
vor ſich her trieben. Vom Ton der ernſt zürnenden Mahnung bis zum ſchlag⸗
fertigen Humor und bis zur ſaftigſten Derbheit ſtehen dem volkstümlichſten
der Zeitungsſchreiber alle Regiſter volksmäßig packender Rede zu freieſter
Verfügung.
„Der Pfarrer zu Klöſterle fährt fort, den dummen Schwabenpöbel zu blen⸗
den. Er heilt Höcker, Kröpfe, Epilepſie, — nicht durch Arzneyen; ſondern bloß
durchs Auflegen ſeiner hoheprieſterlichen Hand. Kürzlich hat er ein herrliches
Buch herausgegeben, wie man dem Teufel widerſtehen ſoll, wenn er in Men⸗
ſchen und Häuſern rumoret. Und da gibts noch tauſend Menſchen um mich her,
die dieſen Narrheiten glauben — Heiliger Sokrates, erbarme dich meiner!
Wann hören wir doch einmal auf, Schwabenſtreiche zu machen?“ 55): das iſt
der Auftakt der Auseinanderſetzung, deſſen grollend⸗beſorgter Ton ſchon ein
vielfaches mißtöniges Echo auf der andern Seite weckte; „... Noch was, ge⸗
neigter Leſer, Gaßner hat mir verſprochen, 5%) mich auf ein Weinfaß zu bannen.
Er mags tun; aber nur auf ein Faß ächten Hochheimer oder Nierſteiner. Da
wollt' ich ſtolzer draufſitzen, als Bacchus, da er im Triumphe nach Indien zog,
und die Löwen und wilden Parthel ſollten wie Kinder um mich her greinen,
ihnen Götterſaft aus voller Schale zu reichen. Ich aber, mit Epheu bekränzt,
würde die Schale hoch emporheben und aufjauchzen: es lebe die Vernunft! es
auch Schubart feine Satire „Anna Oberhuberin“ machen, ſ. LG. I, S. 270 — in der er feine
„Gegner in Froſchchören quaken laſſen“ und ſo die volle Rache ſeines Herzens an ihnen kühlen
wollte. Der Plan iſt nicht zur Ausführung gekommen. — Die Authentizität des Protokolls ſelbſt
wurde beftritten, vgl. z. B. die Schrift: Entdeckung des falſchen vorgegebenen Ellwangiſchen Proto-
kolls vom 8. 12. 1774, eine mit zehn Tauſend Millionen Teufeln beſeſſene junge Nonne Namens
Maria Anna Treflerin aus München betreffend ... 1776; das Münchner Exemplar dieſer Schrift
trägt aber den ausdrücklichen Vermerk: „das Protokoll iſt authentiſch, und iſt dem P. Sterzinger
von dem Grafen von Welden⸗Freyhingſchen Obriſtſtallmeiſter, der ein Augenzeuge war, gegeben
worden. Das Original liegt bei den Theatinern“. Sterzinger ſelbſt, beeinflußt wohl auch durch ein
höchſt eigentümliches Erlebnis in Ellwangen — eine von Gaßner behandelte Beſeſſene hatte Ster⸗
zinger unter der Wirkung des exorziſtiſchen Präceptums plötzlich angeſchrieen: du Fouto⸗Pfaff, magſt
du jetzt noch ſagen, daß der Teufel keine Gewalt habe, uns zu plagen?, ſ. Fieger a. a. O., S. 188 —
bielt das Protokoll für zuverläſſig und ſchrieb dagegen die Schrift: Ellwangiſches Protokoll vom
8. Dezember 1774; eine mit zehntauſend Millionen Teufeln beſeſſene junge Nonne Namens Maria
Anna Treflerin aus München betreffend. Mit Anmerkungen, 1776. Die von dem Wortführer der
Teufel an der päpſtlichen Aufhebung des Jeſuitenordens geübte Kritik erklärt er in den Anmer⸗
kungen für inquiſitionswürdig.
4, D. Ch. 1775, 37. Stück, S. 291 202.
86) D. Ch. 1774, 74. Stück, S. 589.
80) Ein kleiner Irrtum Schubarts; es war nicht der Pfarrer ſelbſt geweſen, ſondern einer feiner
Freunde, ſ. u.
582 Konrad Gaiſer
ſterbe der Fanatismus und der Aberglaube!“ 57): mit ſolchen Trinkſprüchen
fetzte der dionyſiſche Zecher auf einen Schelmen anderthalbe; „Nachricht an den
Pasquinus. Hab deine Hanswurſtiade 58) erhalten. Da 's aber ſehr ungezogen
iſt, ſich mit 'm ſchlechten Kerl vorm ganzen Publikum zu raufen; ſo kannſt
mich erwarten, gleich hinter der Heck, neben 'm Galgen des Malagrida. Will
meinen feiſteſten Satyr, mit den Bockshörnern und der krauſen Stirn zum
Sekundanten mitnehmen! Womit nebſt dienſtfreundlicher meiner Salutation
allſtets verharre ... der Chronikſchreiber.“ ?”): fo klatſchte die Pritſche auf dem
Rücken der Angreifer.
Das find ein paar Proben 0); fie zeigen den Journaliſten von der Seite, die
für die Zeitgenoſſen die einzig ſichtbare war, nämlich als Kämpfer im publi⸗
ziſtiſchen Kleinkrieg; und da mochte es vielleicht ſcheinen, als habe er den
Streit vom Zaun gebrochen oder doch weitergeführt um der Fechterluſt willen
und um den jeſuitiſchen Freunden Gaßners neuerdings eins am Zeuge zu
flicken und ihnen ſo die in Augsburg erlittene Unbill ein wenig heimzuzahlen.
Solche Motive ſprachen natürlich mit. Daß es ihm aber bei dem Gaßnerhandel
um eine ſehr ernſthafte, in ihrer Bedeutung nicht zu unterſchätzende Sache ging,
deren objektiver Grundlage er gewiſſenhaft nachgegangen war, das zeigen nicht
nur ſolche Stellen der Chronik, wo er ſich darüber empört, daß der Ruf ſeiner
geliebten Heimat durch Vorkommniſſe wie die Gaßnerkuren im „Ausland“ aufs
ſchwerſte geſchädigt werde, ſondern das zeigt vor allem ſein Briefwechſel mit
Lavater 61), aus dem einige weſentliche Stellen hier angeſührt werden müſſen.
Lavater, ſtets unruhig bemüht, Männer, die er ſonſt hochſchätzen müſſe, die aber
in Sachen Gaßner unbegreiflich irren, zu bekehren, ſchreibt am 8. April 1775
an Schubart: „Ich habe mir zwar feſt vorgenommen, ohne dringende Gründe
keinen neuen Briefwechſel anzufangen: — aber ich weiß nicht, was mich itzt
treibt, Ihnen, mein Herr, ein paar Zeilen zu ſchreiben; — von tauſend Dingen
nicht, worüber Ihnen zu ſchreiben wäre — auch keine Dankſagung für das unver⸗
diente, mich tief beſchämende Gute, das die Deutſche Chronik von mir ſagt. —
Und wovon dann? Von dem von Ihnen verſpotteten, redlichen Pfarrer Gaß⸗
ner! Und von dieſem nur dies: a) Haben Sie ihn nicht unerhörter Weiſe ge⸗
richtet? b) Wenn auch nur ein Zehntel deſſen, was von ihm erzählt wird, wahr
iſt .. . wie ſollte Ihnen vor Jeſu, vor Gaßner, vor der weiſern Welt, vor
Ihrem eigenen Herzen zu Mute werden? — Lachen Sie nicht, ich bitte Sie.
87) D. Ch. 1775, 14. Stück, S. 110-111.
88) Wahrſcheinlich „Hanswurſt und Schubart“, ſ. u.
96) D. Ch. 1775, 33. Stück, S. 264.
60) Ich ſtelle bei dieſer Gelegenheit die auf den Gaßnerſtreit bezüglichen Stellen der Chronik
zuſammen — die Angaben bei Schairer a. a. O., S. 50 ſind unvollſtändig —: D. Ch. 1774:
39. Stück, S. 312 (7; ſ. o. S. 12, Anm. 8); 64. Stück, S. 506; 74. Stück, S. 589; 79. Stück,
S. 625, 630; D. Ch. 1775: 5. Stück, S. 40; 14. Stück, S. 109 / I 1; 16. Stück, S. 124; 18. Stück,
S. 144; 19. Stück, S. 148, 152; 20. Stück, S. 158/160; 24. Stück, S. 191/192; 29. Stück,
S. 226, 231/232; 33. Stück, S. 264; 37. Stück, S. 291/294; 39. Stück, S. 311; 42. Stück,
S. 336; 44. Stück, S. 352; 50. Stück, S. 394/395; 60. Stück, S. 478/479 (2); 95. Stüc,
S. 760; 96. Stück, S. 768; 101. Stück, S. 801/803 (dazu S. 816).
61) Veröffentlicht durch P. Beck, Alemannia, neue Folge, Bd. 6, S. 63 — 69.
* 3
Schubart im Exorziſtenſtreit 583
c) Darf ichs Ihnen zutrauen, daß Sie fo redlich fein — die Sache hiſtoriſch zu
unterſuchen — und wenn Sie finden, daß Sie dem Mann unrecht getan, öffent⸗
lich zu ſagen: „Ich habe geläftert, was ich nicht verſtand?? ...“ Schubart ant⸗
wortet: . . . „Unverhörter Weiſe habe ich den neuen Exorziſten nicht gerichtet, da
ſich dieſe wunderbare Geſchichte gleichſam an den Toren meiner Vaterſtadt zu⸗
trug, ſo war's mir ſehr leicht, Erkundigungen einzuziehen, die bei mir ſo viel
als augenſcheinliche Überzeugung gaben. Ich ſah in Nördlingen und Aalen 62)
ganze Wägen voll Blinde, Lahme, Krüppel, Fallſüchtige, ſah ihren Glauben an
Jeſum und ihr Vertrauen auf den Wundermann Gaßner; ich ſprach mit ihnen
und wünſchte von Herzen, daß ihnen geholfen werden möchte. Aber hilflos,
und durch die Qualen des Exorzismus Gaßners noch mehr entkräftet, und mit
Verſchwendung großer Koſten kamen ſie zurück. Ich, mein Schwager, der Ar⸗
chidiakonus Bök in Nördlingen, ... und mein Freund, der HE. Superintendent
Lang . .. bezeugen's Ihnen vor Gott (vor den Augen eines großen und berühm⸗
ten Mannes ſprech ich gerne wie vor Gott), daß wir unter den zahlloſen Scharen
Preſthafter nicht einen einzigen Menſchen ſahen, dem geholfen wurde.
Wann nun nur der Zehntel deſſen, was von ihm erzählt wird, wahr iſt
wann er nur einen einzigen Menſchen, den er im Namen Jeſu geheilt haben
will, nicht geheilt hat; wenn nur eine einzige Spiegelfechterei erwieſen wird,
die er getrieben hat; .. wenn Gaßner den Namen Jeſu ſo freventlich zu feinen
Wunderkomödien, um tanzende, komplimentierende, lächerliche, weinende Gich⸗
ter zu provozieren, mißbraucht; — kann er da der redliche Gaßner heißen?
Nicht Spott, nicht ſchriftlichen Tadel, öffentliche Ahndungen verdient ein ſolcher
Frevler und Verführer des Volks ... Sie ſehen alſo, beſter, würdiger Mann,
daß ich in der Gaßnerſchen Sache aus Überlegung gehandelt habe. Indes dürfen
Sie mir gewiß vor vielen andern den Mut zutrauen, wann ſtärkere Über⸗
zeugungsgründe die meinigen beſiegen, öffentlich aufzutreten und zu ſagen, ich
habe geläftert, was ich nicht verſtand. So lang ich aber überzeugt bin, ... daß
Gaßner nicht einmal ein Schwärmer, denn dazu hat er das Genie nicht, ſondern
ein unwiſſender, grober, augenſcheinlicher Betrüger ſei, der den Schwabenpöbel
mit Taſchenſpiegelkünſten äfft; fo werd' ich fortfahren, dem kleinen Kreiſe des
Publikums, vor das ich ſchreibe, öffentlich und laut zu ſagen, was ich denke ..
Unendlich teuer und ſchätzbar wird mir in Zukunft der Briefwechſel mit einem
Manne ſein, der ſchon ſo oft in mein Herz hineinſchrieb, und dem ich ſchon ſo
manche helle Stunde der Begeiſterung zu danken habe. Ihre Briefe ſollen auch
mir wert fein, wann fie Verweiſen ähnlich ſehen, und wann ich mich nicht ent⸗
ſinnen kann, einen fo andächtig derben Ton verdient zu haben“ So
männlich feſt und überlegen klar, ſo deutlich ſeiner hohen Aufgabe bewußt, wie
er uns in dieſem Brief entgegentritt, ſtand der Mann, den die Gegner als
„Stages Hanswurſt“ behandelten, im Kampf gegen die Finſternis. Gewiß, er
iſt Gaßner perſönlich wohl zu nahe getreten, wenn er ihn einen Betrüger nennt
62) Durch die folgende Schilderung wird die oben Abſchn. III angeführte Darſtellung der Lebens⸗
geſchichte aufs wünſchenswerteſte beſtätigt.
584 Konrad Gaiſer
und als ſolchen behandelt; aber wer kämpft, kann nicht wägen; und es ift, aufs
Weſentliche geſehen, doch ſo, daß der nicht ganz „gerechte“ Schubart den rich⸗
tigeren Kampf kämpfte als der ſcheinbar übergerechte Lavater.
VIII.
Die einfachſte und gebräuchlichſte Form des publiziſtiſchen Kampfes iſt die per⸗
ſönliche Verunglimpfung des Gegners, und Schubarts Feinde haben ſie aus⸗
ſchließlich angewendet 63). Gewiß, Schubart hat fie auch nicht verſchmäht, und
iſt, einmal gereizt, den Gegnern nichts ſchuldig geblieben: aber der Ton vernich⸗
tungswütiger Gehäſſigkeit, der den Streit widerwärtig macht, der wurde von
der Merz⸗Zeilerſchen Seite hineingetragen. Dafür, daß ſie ohne Schubarts ari⸗
ſtophaniſche Ader geboren waren, konnten die andern allerdings nichts.
Schubarts Perſon zu verteidigen, war auch für die Freundſchaft nicht in allen
Stücken leicht — ſagt doch ſelbſt der mit Schubart befreundete Zapf anläßlich
der Angriffe in „Hannswurſt und Schubart“: „vieles iſt gegründet, das leugnet
niemand, der Schubarten kennt, und von ihm ſchon etwas gehört hat“ (9). Einen
ſolchen Mann anzugreifen konnte dem Haß nicht ſchwer fallen.
Er erſcheint im Zerrſpiegel der Feinde zunächſt als der Menſch mit der üblen
Vergangenheit und dem anſtößigen, verderblich wirkenden Lebenswandel. Er
iſt „der mehrmals vertriebene freidenkende Religionsſpötter“ (4); „ein ver⸗
03) Ich ſtelle hier, in Ergänzung von Wohlwills Angaben im Archiv Bd. 6, S. 368/370, die-
jenigen Streitſchriften zuſammen — und zwar je mit den jeweils darauf bezüglichen Stellen der
Chronik —, in denen von Schubart die Rede iſt (ohne die, die feiner nur beiläufig erwähnen); im
Text werden die Schriften dann nur noch mit den ihnen hier gegebenen Nummern angegeben werden.
1. J. J. Gaßners ... Antwort auf die Anmerkungen, welche in dem Münchner Intelligenzblatt
vom 12. II., ... wie auch von der deutſchen Chronik und anderen Zeitungsſchreibern gebracht
worden. Mit gnädiger Erlaubnis des Hochwürdigen Augsburgiſchen Ordinariats. Augsburg,
J. Wolff, 1774. (Verfaſſer Merz, ſ. o. S. 578 Anm. 51), vgl. D. Ch. 1774, 79. Stück, S. 630.
2. Sendſchreiben des Herrn H. R. von ... an den Herrn H. R. .. , Mitglied der churbaieriſchen
Akademie in München 1774; vgl. D. Ch. 1775, 14. Stück, S. 109 / 111. 3. Der entlarfte Lügner
uſw., ſ. S. 571 Anm. 18. 4. Die Sympathie, ein Univerſalmittel wider alle Teufeleyen, zum Be ⸗
5905 der neuen Philoſophie und der alten 5 Sterzingen im Tyrol. Verlegens niemand und
rage nicht, 1774. (Verfaſſer Zeiler: „alii Savonarollam Exjesuitam esse credunt“); vgl.
D. Ch. 1775, 18. Stück, S. 144; 19. Stück, S. 152; 20. Stück, S. 158/160. 5. Hanns wurſt
und Schubart. Ein Luſtſpiel, aufgeführt von dem Verfaſſer der Sympathie zum Vergnügen der
Schwaben (mit einem Kupfer: Schubart von Satyrn gezauſt; Unterſchrift: Wann hören wir doch
einmal auf, Schwabenſtreiche zu machen? Schubarts Chronik, 74. Stück vorigen Jahrs), 1775.
(Verfaſſer Zeiler), vgl. D. Ch. 1775, 33. Stück, S. 264 (Zuweiſung nicht ganz ſicher). 6. Das
„Bopfinger Schreiben“ (ſ. u. Abſchn. IX); hierzu (4), Anhang, und: Luſtiges Abenteur eines geiſt
lichen Don Quixote, Pater Gaßners, Teufelsbeſchwörer in Ellwangen. Nach der Wahrheit er
zählt von einem pr ... Offizier, an feinen Freund in Berlin, Berlin 1775. (Verfaſſer nach
Goedeke J. G. Gellius), vgl. D. Ch. 1775, 20. Stück, S. 158 / 160; 24. Stück, S. 191/102.
7. Der nach aller Möglichkeit entſchuldigte Herr P. Don Ferd. Sterzinger ... von einem Freund
ſowohl des Herrn geiſtlichen Rats Gaßner als des Herrn P. Sterzingers in den Druck gegeben,
1775. (Verfaſſer Merz), die auf Schubart gehende Stelle bezieht ſich auf D. Ch. 1775, 37. Stüd,
S. 291/294. 8. Antwort auf den... Auszug aus einem Brief eines Schwaben uſw. ſ. u.. „Kempten
1775. 9. Zauberbibliothek, 1776. (Verfaſſer: G. W. Zapf), vgl. D. Ch. 1775, 95. Stück, S. 760.
10. Die luſtige Melancholie, oder der mit ſich allein redende, über die vorgegebene Sympathiekrait
ſpekulierende und nichts umſchneidende Oltrager. Gott und ſeiner Kirche zu Liebe ausgearbeitet, mit
Beifall und Verlangen hoch — fromm — weiſer Herzen öffentlich an das Licht gegeben worden.
Amberg, gedruckt von C. HeKengLallber. (Verfaſſer Caſpar Hofer, „Poeta vagabundus“); sgl.
D. Ch. 1775; 42. Stück, S. 336; 44. Stück, S. 352. Schubart ſelbſt beſpricht noch einige hier
Schubart im Exorziſtenſtreit 577
Eben dieſes letztere ſollte Schubart, der ſeine ganze feurige Perſönlichkeit da⸗
für einſetzte, ſeiner oberdeutſchen Heimat das reichere und freiere geiſtige Leben
des Nordens zu erſchließen, und der ſich der tieferen Bedeutung des Exorziſten⸗
ſtreits klar bewußt war, bald genug am eigenen Leibe erfahren, als er ſich nun
an der Seite Sterzingers in den Kampf warf. Denn Augsburg, wo er ſeine
Chronik herausgab, war für einen Feind der Jeſuiten ein womöglich noch
heißerer Boden als München — wurde doch hier z. B. die Veröffentlichung der
Bulle Clemens' XIV. gegen die Jeſuiten bis zum 20. Mai 1776 verzögert.
Und wenn Sterzingers (und Schubarts) Augsburger Verleger wegen des Drucks
der „aufgedeckten Wunderkuren“ „ſchier ins Loch gekommen wäre“ ““): fo wird
das Schickſal verſtändlich, das Schubart auf ſein Haupt herabbeſchwor, als er
mit den Vertretern des „hingetrümmerten“ Ordens, mit Merz und ſeinem
Anhang, anband.
VI.
Seit März 1774 war Schubart, von München gekommen, in Augsburg —
zum 1. April des Jahres erſchien beim Buchhändler Stage die erſte Nummer
der „Deutſchen Chronik“. Nach den ſechs mageren, in Geislingen verſeufzten
Schulmeiſterjahren, nach dem vierjährigen Sauſen und Brauſen im Ludwigs⸗
burg Karl Eugens, nach den letzten, abenteuerlichſten zehn Monaten genialiſchen
Vagantenlebens hatte er die Tätigkeit gefunden, in der ſich die drängende
Lebensfülle ſeiner Perſönlichkeit ungehemmt ausleben konnte — wenn auch
nicht nach allen Richtungen gleichmäßig, wie er bald erfahren ſollte. Aber nach
der Lethargie der Münchner Zeit — „meine Sonnenferne war München“ — iſt er
jetzt wie neugeboren und hat ſich wieder ganz zu dem genialiſchen „Hellauf“
ſeiner Natur zurückgefunden.
Aber eben dieſes Temperament wurde ihm — nicht zum erſtenmal in ſeinem
Leben — verhängnisvoll. Zwar war ihm nicht verborgen, wie gefährlich es in
einer nur mühſam in ziemlich labilen paritätiſchen Gleichgewicht erhaltenen
Stadt wie Augsburg ſein mußte, einen der konfeſſionellen Streitpunkte aufzu⸗
greifen 25): aber ihm zu allerletzt war es gegeben, ſich auf dem ſchwierigen
Boden mit der diplomatiſchen Vorſicht zu bewegen, die er bei den Augsburger
Proteſtanten beobachtete und belächelte. „Ich habe es an mir ſelbſt erfahren, daß
für ein Temperament wie das meinige nichts gefährlicher als der Poſten eines
Zeitungsſchreibers iſt. Klug und abgekühlt, ſchlau, beugſam und raffiniert muß
ein deutſcher Novelliſt ſein, wenn er ſich erhalten will, und nicht ein feuriger,
offener, herausplatzender Tor, der die Feder ebenſowenig als die Zunge zu
regieren weiß.“ 6)
Es kam denn auch, wie es kommen mußte: Schon vom 10. Stück (2. Mai
1774) an mußte die Chronik bei Wagner in Ulm gedruckt werden, da eine für
das Empfinden der Augsburger Verantwortlichen zu freie politiſche Außerung
u Sieger a. a. O., S.
) Man . ſeine = 3 Charakteriſtik der Augsburger Verhältniſſe in LG. I,
S. 224/23
6) LG. i S. 275/276.
Suphorion XXVIIL 37
578 Konrad Gaiſer
das Mißfallen des Rats erregt hatte!“); im November ſtand er wegen einiger
böſer Ausfälle gegen den Jeſuitenorden vor den ſtädtiſchen Behörden, kam aber
mit einem blauen Auge davon; ein paar Wochen ſpäter, als er auch ſchon
Gaßners in der Chronik erwähnt hatte, wurden ihm von Jeſuitenſchülern die
Fenſter eingeworfen, ſo daß er ſich mit ſeinem neunjährigen Sohn, den er von
Geislingen hatte kommen laſſen, um ihn aufs Augsburger Gymnaſium zu
ſchicken, unter die Bettlade flüchten mußte “?); ein ſchlimme Nacht lang war
er in feinem Zimmer Arreſtant des Rats 9); mit Anfang 1775 verließ er
— nicht freiwillig 5b) — Augsburg, um nach Ulm überzuſiedeln. „Bald werd'
ich, trauter Leſer, das Vergnügen haben, in freierer Luft mit dir zu ſprechen“,
war ſein Abſchiedswort im letzten Stück der Chronik des Jahrs 1774.
Bei alledem handelte es ſich noch nicht ſo ſehr um die Gaßnerſche Angelegen⸗
heit, als vielmehr um die Jeſuitenfrage im allgemeinen 51); der Gaßnerſtreit
ſollte dem Haß der Augsburger Jeſuiten erſt im weiteren Verlauf die letzte
Schärfe geben. Daß Schubart die Jeſuiten aufs äußerſte gereizt hat, iſt gewiß.
47) LG. I. S. 223.
0) LG. I. S. 246.
0 LG. I, S. 248/250.
80) Der Notar Zapf hatte angefragt, ob er Schubart in feine Wohnung aufnehmen dürfe, worauf
der Amtsbürgermeiſter den Auftrag erhielt, „über des Profeſſors Schubart Bezeugen und Lebensart
Kundſchaft einzuziehen und den Befund zu berichten“; der daraufhin ergangene Beſcheid vom 11. Ok.
tober lautete, daß Schubart der Aufenthalt „zwar bis Ende des Jahres bewilliget werde, der⸗
geſtalten jedoch, daß er innerhalb dieſer Zeit ſeine Paſſiven gänzlich berichtigen und nach Verfluß
des Jahres anderwärts ſeinen Aufenthalt nehmen ſolle“. Gründe wurden weder Schubart genannt,
noch zu den Akten gegeben, vgl. A. Wohlwill in Schnorrs Archiv 6, S. 369/370.
51) Es liegt hier eine kleine, bisher nicht beachtete biographiſche Schwierigkeit. Schubart felbft
nämlich hat zwar ſein Auftreten gegen Gaßner in unmittelbaren urſächlichen Zuſammenhang mit der
Ausweiſung aus Augsburg gebracht und auch in den ſpäter gegen ihn veröffentlichten Pamphleten
kehrt dieſe Auffaſſung öfters wieder; auf die etwas lahme Bemerkung Zapfs — der es willen konnte
— in der „Zauberbibliothek“ kann man nicht viel geben: „hier in unſerem Franken weiß man weiter
nichts, als daß er ... ſich in eine andere Reichsſtadt begeben habe. Sollte wohl Gaßner eine fo
große Gewalt — um eine Ausweiſung herbeizuführen — haben? ... Wenn es aber wahr iſt,
ſo muß ich mich natürlich darüber verwundern“. Mit den Akten und Daten ſtimmt jene Auffaſſung
jedenfalls nicht überein. Denn der obenerwähnte Beſchluß des Rats fällt ſchon in den Oktober; die
von Schubart ſelbſt in der Lebensbeſchreibung als erſter Stein des Anſtoßes angeführte Bemerkung
gegen Gaßner aber iſt erſt vom 12. 12. 1774. Allerdings iſt dies nicht die allererſte Erwähnung
Gaßners in der Chronik; vielleicht iſt ſchon auf ihn angeſpielt anläßlich der Anzeige der Überfegung
eines engliſchen Werks über den Teufel vom 11. 10. („alle Exorziſten in Deutſchland werden ihr
Amt niederlegen müſſen“; die Überſetzung möchte Schubart zueignen „dem Pfarrer G. = Gaßner?
— in H. — 2, Druckfehler für C. oder K. — Klöſterle? — und dem Spezial Z. in L. = Zilling
in Ludwigsburg, Schubarts alter Feind — die immer Legionen Teufel in Pacht haben“); ausdrücklich
aber iſt Gaßner genannt in der Chronik vom 7. II., wo ein Zenſuredikt Joſephs II. ironiſch begrüßt
wird, da das Publikum die jetzt der Zenſur verfallenden „ſeelenverderblichen Bücher“ verſchlungen
babe, worüber „die herrlichen Schriften des Pfarrers im Klöſterle und die Kontroverspredigten des
M. (= Merz) zur Makulatur“ würden. Das find nun aber verhältnismäßig harmloſe Anzapfungen
und auch fie können die Entſcheidung des Rats der Zeit nach nicht beeinflußt haben. Andererſeits
freilich darf man bei Schubart nicht vergeſſen, daß die im Wirtshaus diktierte Chronik immer nur
einen geringen Teil deſſen aufnehmen konnte, was der Verfaſſer, befeuert vom Wein und vom leben ⸗
digen Echo der Zuhörer, zum Beſten gab, ſo daß wohl ſchon vor den erſten gedruckten Außerungen
Schubartſche Ausſprüche im Umlauf waren, von deren Saftigkeit und Schlagkraft man ſich ange
ſichts des ſpäterhin auch Gedruckten eine ungefähre Vorſtellung machen kann. So kann es alſo
immer fein, daß mündliche Angriffe von ihm gegen Gaßner auch ſchon auf feine Augsburger Erleb⸗
niffe von Einfluß waren. Auffallend iſt, daß der erſte Gegenſchlag gegen den Ausfall vom 12. 12. fe
Schubart im Exorziſtenſtreit 579
Im 61. Stück der Chronik — eben demjenigen, das ihn vor den Rat der Stadt
geführt hatte — zog er nicht nur die Verdienſte des Ordens um das Erziehungs⸗
weſen in Zweifel, ſondern behauptete außerdem — und dieſer politiſche Vor⸗
wurf traf vielleicht noch ſchärfer als der erſte — die mißleiteten Anhänger des
Ordens ſeien ſchuld an den „unſinnigen Nachrichten vom Tod der höchſten euro⸗
päiſchen Häupter, womit wir jetzt durch irgend einen unſauberen Geiſt heim⸗
geſucht werden“. — Schubart ſelbſt hatte eine von ihm gebrachte Nachricht vom
Tod des Königs von Portugal dementieren müſſen, und derlei Dinge pflegten,
wie er noch erfahren ſollte, dem „Novelliſten“ ſehr ſtark ins Wachs gedrückt zu
werden — denn „ein ekſtatiſcher Schwärmer“ habe prophezeit, „daß alle Ver⸗
folger der Jeſuiten noch dieſes Jahr ſterben würden“. Den Papſt Clemens XIV.,
der den Orden aufgehoben hatte, den „unſterblichen Ganganelli“, wird er zu
loben nicht müde; dreimal hintereinander, am 17. Oktober, 24. November,
28. November, verzeichnet er das Gerücht, der von ihm ſo hoch verehrte Papſt
ſei keines natürlichen Todes geſtorben, ſondern jeſuitiſchem Gift zum Opfer
gefallen — die zweite dieſer Auslaſſungen z. B. beſteht aus den Verſen:
Ein Biedermann
Fuhr jüngſtens wild den Pater Tüken an.
Dem beſten Papſt, ſo ſprach er in der Wut,
Hat deine Schlangenbrut
Mit Gift vergeben! —
Hm, ſprach der ſchlaue Tük
Mit einem Seitenblick:
Als wie wir unſern Schuldigern vergeben.
Das waren die Hauptſchläge; aber nebenher liefen, gewiſſermaßen als eine
ſtändige Rubrik der Chronik, die kleinen Nadelſtiche; und neben dem was ge⸗
druckt wurde, ſteht auch hier das womöglich noch Geſalzenere, das mündlich
„hingezürnt“ und „herausgeſtürmt“ wurde; man kann ſich davon ein Bild
machen, wenn man die Nachklänge in den Lebenserinnerungen lieſt, etwa die
Außerungen über Merz 52) oder die Schilderung der Umzüge der Jeſuiten⸗
ſchüler: „ich habe nicht ſelten an der Seite eines weiſen Katholiken die raſen⸗
den Aufzüge der Jeſuitenſchüler verlacht, die öffentlich in den lächerlichſten
Symbolen die ganze Grammatik, Rhetorik, Logik und Metaphyſik — und zur
Abwechſlung auch eine Garküche vorſtellten. Da tritt bald ein Jüngling als
Vokativus, als Enalloge, als Syllogismus, als Monas — und bald darauf als
Bratwurſt, oder Kalbsſchlegel auf... Vielleicht würde ein deutſcher Shakeſpeare
raſch erfolgte, daß Schubart ſchon am 29. 12. in der Chronik davon Mitteilung machen konnte;
auf eine von langer Hand her vorbereitete und bei erſter Gelegenheit gegen Schubart losgelaſſene
Aktion in Sachen Gaßners zu ſchließen berechtigt aber auch dieſe Tatſache nicht; denn bei dem Ausfall
gegen Schubart handelt es ſich lediglich um einen als ſolchen ausdrücklich bezeichneten Nachtrag,
welcher der bereits druckfertigen Schrift in letzter Stunde unter dem Eindruck von Schubarts
Notiz über Gaßner vom 12. 12. angehängt wurde (und zwar von Merz, denn dieſer, nicht Gaßner,
iſt nach Wohlwill, Archiv 6, S. 369, der Verfaſſer). Schubarts eingangs erwähnte Auffaſſung
iſt alſo nicht exakt zu beweiſen; aber wenn auch die Gaßnerei an feiner Überfiedlung nach Ulm den
geringſten Anteil hat: was er gegen die Jeſuiten im allgemeinen geſchrieben hat, iſt mehr als aus⸗
reichend, um das ſchärfſte Vorgehen gegen ihn verſtändlich erſcheinen zu laſſen.
82) LG. I, S. 227, 269
580 Konrad Gaiſer
. —ññ——ñññ—ñ—ñ—ñ—ñ.—ñ—ññ—ñ .. ... —
eine ſolche Szene benutzen können — wie ich denn überhaupt den deutſchen
dramatiſchen Dichtern und Romanſchreibern raten möchte, die katholiſchen Pro⸗
vinzen Deutſchlands fleißiger zu bereiſen, wenn ſie ja Originale und lebendige
Karikaturen finden wollen. Auch ihr komiſches Salzlager würden ſie dadurch
ungemein vermehren; denn hier iſt das Komiſche zu Haus. Der Lutheraner
lächelt, der Katholik aber ſchlägt hohe Herzenslache auf.“ 53)
Daß in dem ausbrechenden Konflikt der Rat der paritätiſchen Stadt nicht die
Partei des jüngſt erſt zugewanderten Schriftſtellers ergriff — deſſen Lebensart
es zudem den Gegnern leicht genug machte, ihn anzugreifen —, ſondern daß er
die mächtige, von dem erſten katholiſchen Geiſtlichen der Stadt geführte Gegen⸗
ſeite Recht behalten ließ, iſt begreiflich. Es war eine eigentümliche Wieder⸗
holung deſſen, was Schubart in Ludwigsburg erlebt hatte: ſo wie ihm dort
die von ihm herausgeforderte Feindſchaft des Spezials und Hofpredigers Zilling
den Hals gebrochen und ſeine Ausweiſung durch den Herzog mitveranlaßt
hatte, ſo vertrieb ihn jetzt die Partei des Augsburger Dompredigers aus dem
erſten Ort, an dem er ſeit Ludwigsburg wieder einigermaßen feſten Fuß ge⸗
faßt hatte.
Die Gefährlichkeit der Lage, in der er ſich befand, enthüllte ſich ihm für einen
Augenblick auf der Reiſe nach Ulm in dem etwas bänglichen Erlebnis in Günz⸗
burg, das der meiſterhaften Schilderung in den Lebenserinnerungen oft nach⸗
erzählt worden iſt — wo er in der Herberge, in der er abgeſtiegen war, „ein
ganzes Rudel dickwampiger Pfaffen“ „in ihrem Hottentottendialekt brüllen
hörte: jetzt hand mer den Galgenkerl, den Schubart! werden'm wohl d' Zung
rausſchneiden und da Käza lebendig verbrenna. Dann ſchreib, Hund!“
88) Zum Verhältnis Schubarts zu den Jeſuiten vgl. auch E. Schairer, Schubart als politiſcher
Journaliſt, Tübingen 1914, S. 48/50. — Auf die ganze Zeitſtimmung gegenüber dem Orden und
ſeinen Schickſalen, ebenſo wie auf die Verknüpfung von Gaßnerhandel und Jeſuitenfrage wird ein
höchſt intereſſantes Licht geworfen durch ein, zweifellos wenigſtens teilweiſe verfälſchtes, Heilungs⸗
protokoll, enthalten in der Schrift: Ausführliche Beſchreibung jener merkwürdigen Begebenheit, die
ſich mit einer gewiſſen Kloſterfrau Maria Anna Oberhuberinn — auf dem Titel des Münchner
Exemplars iſt dieſer Name ausgeſtrichen und durch „Trefflerin“ erſetzt — aus München, in Kraft
des heiligſten Namens Jeſu durch den Herrn J. J. Gaßner Pfarrer aus dem Klöfterle, den 8. De-
zember 1774 in Ellwangen zugetragen hat. Aus dem Protokoll und den Akten von Wort zu Wort
herausgezogen, 1775. Das Protokoll beginnt: „Heute ... wurde von einer Hofſchmiedstochter von
München, ihres Alters im 23. Jahr, nachdem fie 18 Wochen lang im Kloſter geweſen, zehntauſend
Millionen Teufel ausgetrieben (denn ſo viel hatte ſie in ſich gehabt, laut eigenmündiger Geſtändnit
des böfen Geiſts, der durch die Kraft des allerheiligſten Namens Jeſu dieſe unglaubliche Anzahl ein-
zugeſtehen gezwungen wurde .. Der Anführer dieſer nicht unbedeutenden Teufelsarmee bezeichnet
fi, nicht ohne ſich vorher gegenüber den praecepta feines prieſterlichen Widerſachers äußerft wider ⸗
borſtig benommen zu haben, indem er z. B. ſeine Lateinkenntnis einfach verleugnete, als diabolus
meridianus; auf die Frage, wie er die Jugend am leichteſten verführen könne, antwortet er:
„meiſtens durch das Leſen ſolcher Bücher, die nach dem Geſchmack der heutigen galanten Welt find“.
unter feinen Hauptfeinden verzeichnet er an beſonders ehrenvoller Stelle den „Vater Iguatins,
deſſen Söhne zwar auf der Welt bei den Sterblichen in großer Verachtung ſtehen, und deſſen neun
tägige Andachten mir auf der Welt ſchon viele Tauſende Seelen entzogen haben. Ihr Menſchen habt
insgemein durch die Vertilgung der Jeſuiten eine große Stütze der Kirche verloren; doch habe ich
meinen nicht geringen Vorteil dabei gefühlet ...“; für fein Auftreten in Schwaben und Bavern ſei
das volkspädagogiſche Intereſſe beſtimmend geweſen, „daß man in München auch glauben und erfen-
nen lerne, daß es Teufel gebe“; über Sterzinger und feine Tätigkeit iſt er alſo völlig im Bild. Das
ganze Protokoll lieſt ſich wie die herrlichſte ſatiriſche Komödie — und aus dieſem Stoff wollte denn
Schubart im Exorziſtenſtreit 589
In dem Gedicht am Ende des zweiten Teils, das als Motto Youngs „a
knave tis glorious to offend“ trägt, heißt es:
. . ich glaube ſonder Zweifel,
Daß du beſeſſen biſt, Apologiſt der Teufel!
Die Hölle iſt's in dir, die einem Manne ſchmäht,
Der doch bei Tauſenden in größter Achtung ſteht
IX.
In dem Streit zwiſchen Schubart und ſeinen Gegnern ſpielt auch eine Art
epistola obscurorum virorum eine Rolle — das ſchon mehrfach erwähnte
„wohlmeinende Erinnerungsſchreiben eines Proteſtanten ... aus Bopfingen
am Nipf“. Die kleine Kontroverſe wirft auf die ganze geiſtige Situation ein
äußerſt intereſſantes Schlaglicht und wird deshalb hier kurz dargeſtellt.
Der Zeilerſchen „Sympathie“ hatte der Verleger Wolf das genannte „Erinne⸗
rungsſchreiben beigegeben, in dem es u. a. hieß: „Sollte Herr Schubart dieſen
Brief leſen, ſo wird er beſonders Wohl tun, wenn er auch ſich ihn zu Nutze macht
(und Gaßner um Heilung von der zweifellos bei ihm vorhandenen Beſeſſenheit
angeht); denn bei ihm beſonders iſt mehr als eine Anzeige von dieſer Krankheit
vorhanden, worunter denn gewiß die außerordentliche Anpreiſung des Werthe⸗
riſchen Romans und die Hintanſetzung der Schwediſchen Gräfin von Gellert
nicht die geringſten find“ 7%; der Verfaſſer bezeichnet ſich als einen Proteſtanten
aus einem Lande, „wo man zwar alles duldet, aber nur den wahren Chriſten
und den wahrhaft ehrlichen Mann hochſchätzt“. Schubart hatte die Schrift im
20. Stück der Chronik mit ironiſchem Lob angezeigt, konnte aber ſchon 14 Tage
ſpäter ſeinen Leſern ein zweites, an ihn gerichtetes Schreiben aus Bopfingen
mitteilen, in dem geſagt war, jener erſte Brief ſei gar nicht ernſt, ſondern ironiſch
gemeint geweſen: „Was wird wohl Wolf und ſein Schmierer zu dieſer Nach⸗
richt ſagen?“ Der „Schmierer“, Zeiler, aber behauptete (4), (5), Schubart ſei
einer geſchickten Myſtifikation zum Opfer gefallen; im Anhang zu feinem „Luſt⸗
ſpiel“ tat er das mit der intereſſanten Begründung: „ich denke, man könne ein
Büchchen nur ironiſch loben — ſoll heißen: nur das Lob eines Buchs wie des
Werther könnte ironiſch gemeint ſein, nicht aber der in dem Erinnerungsſchreiben
ausgeſprochene Tadel —, das z. B. über die Taufe, das notwendigſte unſerer
dummer, vierſchrötiger Deutſcher, der du da wie Fingal an der Felſenwand lehnſt, dem Brauſen des
Waldſtroms horchſt, und auf Taten finnft, fahr auf vom Schlachtentraume, und ſieh, wie dich dort in
Paris die Enkel deiner Söhne, die witzigen Franken, beſchämen. Erſtaunend iſts, welch große un⸗
ſterbliche Erfindungen jetzt in Frankreich zum Vorſchein kommen! Der Witz flattert mit Schmetter⸗
lingsflügeln von Haube zu Haube, von Tapon zu Tapon, von Berlocken zu Berlocken .. Die Damen
türmen jetzt ihr Haar und ihre Hauben immer weiter den Wolken entgegen .. Man trägt jetzt hiero⸗
glyphiſche, ſymboliſche und phyſiognomiſche Hauben. Sie bilden bald ein Dorf, einen Wald, eine
Wieſe, eine Brücke, eine Windmühle. Vorzüglich ſollen die Windmühlenhauben den größten Beifall
haben, weil fie mit dem Charakter der Nation zu ſympathiſteren ſcheinen. Eine witzige Dame hat
kürzlich eine Haube erfunden, die man an einem Draht wie einen Zeiſigſchlag auf- und zuziehen kann.“
76) Vgl. D. Ch. 1775, 8. Stück, S. 64: „. . . Will doch ſehen, wie viel dieſer Roman — Werther —
noch Liebhaber unter uns bekömmt!“ Man hat Gellerts Schwediſche Gräfin .., dieſes Romänchen
ohne Geſchmack und Genie, und, was das ärgſte iſt, mit der häßlichſten Moral verbrämt, zu tauſenden
ins Publikum neingeſät. Wäre der Geſchmack unter uns allgemein; ſo müßten Werthers Leiden zu
hunderttauſenden aufgekauft werden.
590 Konrad Gaiſer
Heilsmittel, fo ſchimpflich ſpottet; das den Selbſtmord ſo nachdrücklich empfiehlt;
das die göttlichen ſowohl als die menſchlichen Gebote ſo kühn verachtet, und die
verwegenſten Grundſätze, die eine weiche und niedliche Schreibart verſteckt, der
blinden Jugend darbeut. Das Werkchen muß doch nicht das höchſte Lob verdienen,
da es jüngſthin durch ernſthafte Zeitungsblätter 7) und eine gründliche Rezen⸗
ſion, aus weiſer Vorſicht und mit obrigkeitlicher Gutheißung, als ein ſchädliches
Buch und giftiger Sodomsapfel ift gebrandmarkt und jungen Leuten mißraten
worden“. Der Verfaſſer des Erinnerungsſchreibens meldete ſich nun aber in
dem „geiſtlichen Don Quixote“ (ſ. o. S. 584) ſelbſt zum Wort und beſtätigte
Schubarts Angaben; ſein Erinnerungsſchreiben, in der von ihm beabſichtigten
Tendenz mißverſtanden, ſei von Wolf einer „Charteque, die er eben von einem
hungrigen Exjeſuiten unter der Preſſe hatte“, angehängt worden. Man muß
aber ſagen, daß — was auch in dem Bericht der Allgemeinen deutſchen Biblio⸗
graphie 28,287 feſtgeſtellt wird — die Satire künſtleriſch mißlungen iſt und daher
auch wirkungslos bleiben mußte; auch Schubart hatte ja die Tendenz nicht von
Anfang an erkannt. Die Aufdeckung der Sache in dem übrigens keineswegs
wertvollen „Don Quixote“ bedeutete gleichwohl eine empfindliche Schlappe für
die Gaßnerfreunde; ſie haben ſie eingeſteckt, ohne noch einmal dazu Stellung
zu nehmen. ö
X.
Während der allgemeine Streit um Gaßner auch noch nach 1775 weiter⸗
glimmt, wohl auch noch gelegentlich in heftigen Flammen aufſchlägt, ſchläft er,
was Schubarts Perſon angeht, in der zweiten Hälfte des Jahres ein. Und zwar
hat ihn Schubart ſelbſt abgebrochen. Am 22. Juni 1775 teilt er ſeinen Leſern
mit: „Von Gaßnern. Über dieſen Artikel bin ich feſt entſchloſſen, nichts mehr
zu ſchreiben — nicht weil ich den Mann und ſeine Teufel ſcheute, ſondern weil
ich gewiſſe Perſonen ſchonen muß, denen ich Ehrfurcht und ſelbſt — Dankbarkeit
ſchuldig bin...” Wer find die „gewiſſen Perſonen“? Man könnte an den Kurs
fürſten von Bayern, an den Magiſtrat von Ulm denken; nimmt man aber LG.
I. 270 hinzu, wo er fagt, daß ihn von der Ausführung der geplanten und bereits
ſkizzierten „Oberhuberin“ „der Gedanke wieder zurückriß, daß ich damit den
Fürſtbiſchof von Ellwangen, der erſt kürzlich meine Mutter und Schweſter ver⸗
77) Vgl. z. B. Augsburgiſche Ordinari⸗Poſtzeitung, in der ſich eine ganze Reihe Notizen über
Gaßner, „simplicissimi et rectissimi cordis, ac firmissimae fidei sacerdos“ finden, vom
23. 3. 1775, wo eine Gegenſchrift gegen den Werther angezeigt wird: „... Schriften, die in ge
ſchminkter Schreibart ſchädliche Sätze ausbreiten, verdienen, widerlegt zu werden. ... Hier — in
der Gegenſchrift — iſt kein ſchwaches Vernünfteln; kein ſchon geſagter Trugſchluß, der ſo leicht
und fo ſicher das unbewaffnete Herz überraſcht .. hier nimmt man Rückſicht auf die Religion
Möchten fie doch alle Jünglinge leſen, welche Werthern aus trunkener Enthuflafterei zu einem Mär-
tyrer, und dadurch fi ſelbſt zu unſeligen Schlachtopfern erſchrecklicher Grundſätze machen.“ Daß
eine von ſolchen Korreſpondenten bediente Zeitung für Gaßner Partei nahm, iſt nicht weiter ver ·
wunderlich; der Ton verſteckter Hetze gegen diejenigen, die in ihrer Wut auf Gaßner heiligſte Güter
des Volks beſchimpfen, iſt auch hier charakteriſtiſch und ein weiterer Beweis dafür, in welche Gefahr
ſich Schubart mit feinen kecken Angriffen begab. Ausdrücklich genannt iſt er in der Zeitung aller ·
dings nirgends.
Schubart im Exorziſtenſtreit 591
ſorgt hatte, vor den Kopf ſtoßen und dadurch meiner eigenen Familie ſchaden
könnte“, ſo wird man auch das allgemeinere Schweigeverſprechen in der Chronik
auf die Rückſicht auf Anton Ignaz zurückzuführen berechtigt ſein. Denn ihm
gegenüber hatte Schubart allerdings, auch abgeſehen von der Verſorgung von
Mutter und Schweſter, Verpflichtungen der Dankbarkeit. Er hatte ihn ſogar
immer als eine Art Gönner betrachten dürfen; ſchon der Kandidat der Theologie,
und Später der Schulmeiſter in Geislingen hatte dem „guten Fürſten“ in
ſchwungvollen Geſängen gehuldigt 7s) und dafür im erſten Fall wenigſtens
4 Karolin geerntet; und noch in jüngſter Zeit hatte ihn Anton Ignaz tätig ge⸗
ſchützt; „als ich ... meine Freunde in Aalen beſuchte und einen kleinen Strich
durchs Ellwangiſche reiſen mußte, ſo gab ich mir zwar einen fremden Namen,
wurde aber deſſen ungeachtet ausgekundſchaftet und man hätte mich übel be⸗
handelt, wenn nicht der Fürſt denjenigen mit ſeiner Ungade bedroht hätte, der
mir ein Leid zufügen würde. Man kennt auch an dieſem Zuge den frommen
Biſchof Anton Ignaz, der den Verfolgungsgeiſt an ſeinem Pöbel jederzeit ver⸗
abſcheute.““)) Die Annahme liegt nahe, daß der Biſchof, dem der Streit um
ſeinen Hofkaplan unbequem genug ſein mußte, Schubart einen Wink zukommen
ließ, den Feldzug gegen Gaßner nicht mehr weiter zu treiben; einem ſolchen
Erſuchen konnte ſich Schubart nicht wohl verſagen. Übrigens hat er es mit
ſeinem Verſprechen nicht ſo peinlich genau genommen; ſchon die Mitteilung
von feinem Vorſatz ſelbſt begleitete er mit zwei höchſt biſſigen Ausfällen: „in⸗
deſſen muß ich's doch meinen Leſern ſagen, daß der Ruf dieſes Mannes auf
den Flügeln der Fama ſchon den größten Teil von Europa durchdrungen, und,
was das bitterſte iſt, daß wir von den Ausländern auf das empfindlichſte ver⸗
ſpottet werden, weil Gaßner Anhänger zu Tauſenden zählt. Eine engliſche Zei⸗
tung erzählte jüngſt die Gaßnerſche Geſchichte, und ſchloß ſie mit dem belei⸗
digenden Ausdrucke: dies kann auch nirgends, als in Schwaben geſchehen, denn
man weiß, daß dieſe Provinz unter allen deutſchen Provinzen die unauf⸗
geklärteſte iſt. (Zuſatz Schubarts:) Nicht wahr iſt dies! Im Württembergiſchen,
Durlachiſchen, in Augsburg, Ulm, Nördlingen — ſelbſt in einigen Schwäbiſchen
Klöftern gibt's Leute von Einſicht und Geſchmack, fo gut, als in Leipzig und
Berlin, wo eben auch nicht alles aufgeklärt iſt ...“ und, als Zitat aus den No-
ticie del mondo: „. .. Der Einfall eines klugen Fürſten ſteht hier am rechten
Ort. Einen Exjeſuiten, der für einen Mann von Verſtand und vielen Kennt⸗
niſſen gehalten wurde, trieb auch die Neugierde, den Schwäbiſchen Apoſtel zu
ſehen. Er ſah ihn, und wurde ſchwärmeriſch von ihm, wie es viele brave Leute
von den Convulſionärs in Paris wurden. Des Gaßners Kunſt, ſagte der Prinz,
iſt gewiß außerordentlich; der Pater hatte Verſtand, und nun kömmt er als ein
Narr zurück.“ Außerdem hat er, abgeſehen von einer kaum kommentierten An⸗
zeige der Zapfſchen Zauberbibliothek im 95. Stück, im 96. Stück einen Schlag
75) Die erſte Ode, von Adolf Nutzhorn aufgefunden, iſt veröffentlicht: Süddtſch. Ztg. 1914, Lite-
ratur und Kunſt Nr. 12 SR un Echo 16, 975); die zweite iſt abgedruckt bei Nägele, Schubarts
Leben und Wirken, S. 291/29
7) LG. I. S. 273. Die = muß vor den Brief an Lavater, alfo vor den 14. 5. 1775 fallen.
592 Konrad Gaiſer
auf den Gegner geführt 80); und den die ganze Angelegenheit abſchließenden
Erlaß Joſephs II. teilte er feinen Leſern mit den folgenden, für feine Art höchſt
charakteriſtiſchen Bemerkungen mit 81): „Herzſtärkung. Heil unſerm Vater
Joſeph! Er hat eine Schmach von unſerem Haupte genommen, die ſchwer und
drückend auf uns lag. Man weiß, welch eine Rolle Gaßner unter uns ſpielte.
Ein Mann ohne Gelehrſamkeit, ohne Genie, ohne Herz verſammelte tauſend
Betrogene um ſich her, und wurde vom niedrigen und vornehmen, vom gelehrten
und ungelehrten Pöbel wie ein Apoſtel verehrt. Wer es wagte, ihm zu wider⸗
ſprechen, wurd' als ein Feind der Religion verfolgt. Der Ruf ſeiner täuſchen⸗
den Wunder drang bis nach Wien ... Unſer Kaiſer Joſeph nahm ſich ſogleich
der Getäuſchten an und entfernte den Irrwiſch, der fie in Sümpfe führte ...
Wieder ein Beweis, daß Deutſchland zwar ſchlummern, aber nie den Schlaf
der Dummheit ſchnarchen könne. Sobald Vernunft, Weisheit und Religion ge⸗
kränkt wird, erwacht es wie ein Löwe, der zwar die Mäuſe auf ſich tanzen läßt,
aber dem laurenden Tiger mitten im vermeinten Schlummer plötzlich ins Genick
ſtürzt. Nun iſt der Taumel vorüber. Wir wünſchten die ungeheuren Ballen Pa⸗
pier, die in dieſer Sache überdruckt worden, und manchen Wöl fi ſchen Buch⸗
händler reich machten, als Denkmale unſrer Leichtgläubigkeit vernichten zu kön⸗
nen. Sterzinger, der von Verläumdungen fo oft umwölkte Sterzinger, ſteht
wieder in der Glorie eines Wahrheitszeugen da; — aber er triumphiert nicht.
Ein gedemütigter Irrgeiſt verdient Mitleiden, und keinen Triumph. Und ich,
der wegen dieſer Sache ſo ſehr mißhandelte und verfolgte Chronikſchreiber, ſetze
mich ans Fortepiano, und ſinge mit einem Herzen, ganz leer von Groll und
Schadenfreude:
Dich flehen wir, der Weisheit Geiſt!
Du, der Du uns den Weg zum Leben weis'ſt
Lehre jeden Irrtum
Uns überwinden!
Uns den Weg zum Unendlichen finden,
Geiſt der Auserwählten!
Zuſatz:) Soeben erhalt ich die zuverläſſige Nachricht, daß der Verfaſſer der
Sympathie und der Hanswurſtias plötzlich an einem Schlagfluſſe geſtorben ſei.
So ſehr hat ihn Gaßners Schickſal erſchreckt! Sein letztes Wort war: Lucian —“.
So „ohne Groll“, daß ſie ſich mit einem ganz kleinen, allerletzten, „Wiſcher“
begnügt hätten wie Schubart, ſchieden die Gegner nicht aus dem Kampf. Sie
80) Für dieſe Stelle weiß ich keine Erklärung. Sie lautet: „Kürzlich hat Herr Gaßner den
ſtummen Advokaten exorziſiert — und trieb einen Teufel aus, der war ſtumm. Seitdem verteidigt —
der Advokat die Religon im Küraß der ſtrengen Methode auf eine Art, daß man nicht weiß, ob er zu
Jeruſalems oder Damms, zu Chubbs oder Edmunds Partei gehöre. Auch ſchimpft er, wie ein
Gaſſenbub, auf mich armen Chronikſchreiber, und wendet Stellen aus'm Buch Compte rendu
uſw., die eigentlich gegen die Jeſuiten ſind, ſehr toll auf mich an. Weh mir!“ Auf Gaßner muß
übrigens wohl auch die in D. Ch. 1775, 60 Stück erzählte Anekdote gedeutet werden, die als
„Schlüſſel zu den neueſten Wunderwerken“ bezeichnet iſt und von einem Mann berichtet, der ſich
um 100 fl. ſcheintot ſtellen und auf das Kommando des Wundertäters wieder aufwachen ſollte, aber
erſtickte und ſtarb.
81) D. Ch. 1775, 101. Stück, S. 801/802.
Schubart im Exorziſtenſtreit 585
wieſener Irrling, ein Auswurf berühmter Städte, den nur ſchlechte Sitten und
kühne Religionsangriffe unter dem Haufen der Toren kennbar machen“ (5) ; „wenn
doch dieſer Abfaum unſeres Schwabenlandes ſich entfchlöße, nach Ellwangen zu
gehen und etliche Tage mit einem ehrlichen Auge und Gemüte den Zuſchauer
machte? ... Er und der Patriarch der Freidenker zu Fernai, Voltaire, haben ja
um ein Merkliches näher nach Ellwangen als der Herr geiſtliche Rat Gaßner
nach Berlin 6% ... doch nein ... bei ſolchen macht auch dasjenige keinen Ein⸗
druck, was ſie mit Augen ſehen. Sie ſind imſtande, um ein paar Kannen Wein
wieder zu verneinen und abzuleugnen, was fie ſelbſt beobachtet haben .. Wie
ich höre, ſchreibt er ſeine feine Sächelchen gemeiniglich alsdann, wenn ihn das
Bier ſchon taumelnd gemacht hat“ (7); „es könnte gar wohl ſein, daß Herr
Gaßner den Chroniſten ſelbſt ſo verwirrt zu machen imſtande wäre, daß er in
ſeiner beſten Tageszeit glauben follte, auf einem Weinfaß, als der höchſten
Stufe feiner irdiſchen Glückſeligkeit, zu ſitzen ... 55). Der heilige Sokrates darf
ſich wohl feiner erbarmen 66), denn der Chronikſchreiber hat zurzeit noch nichts
von jenen drei Stücken, der Weisheit, Beſcheidenheit, und dem Stillſchweigen,
erlernt, welche Sokrates feinen Schülern anbefohlen ... Zu Zeiten Konſtantins
des Großen hätte kein Wochenſchreiber ſich ſo viel unterfangen, den guten Leu⸗
mund und die Ehre eines Prieſters auf eine ſolche Art zu verleumden, ohne dem
Staupbeſen entgegenzugehen“ (2).
Schlimmer, weil folgenſchwerer, als dieſe noch verhältnismäßig harmloſen
Antreibereien waren die Vorwürfe der Freigeiſterei, der Verachtung und Be⸗
ſchimpfung nicht nur der katholiſchen, ſondern überhaupt jeder Religion. Denn
ſie hatten den ausgeſprochenen Zweck, die ſtaatlichen Autoritäten gegen den
läſtigen Schriftſteller aufzuhetzen und ihm ſo das Genick zu brechen. Sie ent⸗
halten denn auch ſtets die zu allen Zeiten in ſolchen Fällen ſo beliebte Anfrage an
nicht genannte Schriften; die „Prüfenden Anmerkungen“ in Ch. 1775, 14. Stück, S. 109/111;
19. Stück, S. 148. Sterzingers Hauptſchrift in Ch. 1775, 37. Stück, S. 291/294, wo auch die
Schrift angezeigt iſt: Von des Wundertäters Gaßners, Pfarrers in Klöſterle, Unterricht, wider
den Teufel zu ſtreiten. Auszug aus einem Brief eines Schwaben an einen niederſächſiſchen Gelehrten.
Dem ſcharfſinnigen und verdienſtvollen Beſtreiter des Aberglaubens, Don Ferdinand Sterzinger
gewidmet, Frankfurt 1775. (Verfaſſer Schellhorn, Paſtor in Memmingen.)
Während die Beziehungen zwiſchen Chronik und Streitſchriftenliteratur im allgemeinen mit
Sicherheit hergeſtellt werden konnten, muß der Verfaſſer geſtehen, daß es ihm nicht möglich iſt, die
in LG. I, S. 269 erwähnte Schrift eines Exjeſuiten Gugler nachzuweiſen. Es beſteht hier aller-
dings auch die Möglichkeit, daß Schubart ſich in dem Namen geirrt hat.
A) Vgl. D. Ch. 1775, 37. Stück, S. 293/294: „Noch was, Herr Hofkaplan! Im 2. Stück des
24. Bandes der Allgemeinen deutſchen Bibliothek, wo Sie unter der fürchterlichen Rubrik: Zauberey,
eine große Rolle ſpielen, werden Sie auf das feierlichſte nach Berlin eingeladen, um Ihre eror-
ziſtiſchen Künſte daſelbſt zu zeigen. — Welch ein Schauplatz für einen Mann wie Sie! Die Reſidenz
Friedrichs des Großen, des Schöpfers ſeines Jahrhunderts! In der Stadt, wo die erſten, beſten
und vortrefflichſten Schriftſteller unſrer Nation in allen Gattungen der Wiſſenſchaften wohnen;
in der Stadt, wo die vollkommenſte Freiheit im Reden, Denken und Schreiben herrſcht; hier
im Namen Jeſu Wunder wirken — welch einen erſtaunenden Erfolg müßte nicht dies haben!
Friedrich und die Starken um ſeinen Thron; die größten Gelehrten und Genies unſres Vaterlandes
würden Sie umringen, und vielleicht ſelbſt der Patriarch zu Fernay würde ſeinen philoſophiſchen Sitz
verlaſſen, um Sie — den Wundermann in Berlin anzuſtaunen; ich aber wollte nein bettlen, und
wenn ich Sie erblickte, nicht mehr ausrufen: heiliger Sokrates, erbarme dich meiner!, ſondern:
heiliger Gaßner, erbarme dich meiner!“
66) und ) S. die Zitate S. 581.
586 Konrad Gaiſer
die Behörden, wie lange ſie ein ſo ſchändliches Treiben in ihrem Bereich noch
dulden wollten; fie laſſen durchblicken, wie erfreulich es wäre, wenn ſich jemand
finden würde, der dem Verhaßten das Handwerk legte, ohne lang auf das Ein⸗
greifen der allzulangmütigen ſtaatlichen Gewalten zu warten; ſie malen ſich mit
aufſchlußreicher Wohlluſt aus, wie ein ſolcher Ketzer zu behandeln wäre, wenn
man die Macht über ihn hätte wie in den guten alten Zeiten.
Schubarts Kritik, heißt es da, „iſt von blödſinnigen Chriſten angezettelt,
welche ihres Eigennutzes, dringender Vorteile, eitler Ehre und Ruhmgierde
halber ſogar Gott die Ehre ableugnen ..“ (3); „wir wiſſen, daß eben feine
Kritik dem Chronikſchreiber aus Augsburg hinausgeholfen hat — wie aus Mün⸗
chen und Stuttgart (= Ludwigsburg) — ... um die Religion vom Umſturz
und die Ihrigen vom Verderbnis der Sitten zu retten ..“ (4); „Stagens
Hanswurſt ... der allein das Recht zu haben glaubte, die Religion ſelbſt, die
anſehnlichſten Häupter, und wohl auch ganze Nationen, ſchimpflich zu miß⸗
handeln ... und wie lange noch?“ (4); „er denkt von der menſchlichen Seele
nicht rühmlicher, als die wilden Amerikaner, ehe ſie noch vollends Menſchen
wurden“ ... er wolle „die pythagoriſche Metempſychoſis zur Schande unferer
Zeiten wieder aufwärmen, und vernünftige Menſchenſeelen in unvernünftige
Tiere, z. B. in Katzen, wandern heißen ... (5); „Was Sie von unſerem
witzigen Kopf, dem Chronikſchreiber, beibringen; verdiente hier kein Wort:
Herr! wenn von Religionsſachen die Rede geht, läßt ſich nicht ſpaſſen. Herr
Schubart iſt nicht einmal unter die Chriſten zu zählen; denn nur ein Freigeiſt,
kein Chriſt, treibt ſeinen Spaß über Dinge, die klar im Evangelium gegründet
ſind, und dieſes tut der Zeitungsſchreiber auf jedem Blatt.“ (8); „ein ſpottender
Chronikſchreiber Schubart, welcher nicht nur mich — Gaßner; der Verfaſſer des
Ausfalls iſt aber Merz, ſ. S. 12, A. 8. — ſchon einigemal, ſondern ſogar eine
ganze verehrungswürdigſte Nation — die ſchwäbiſche — auf ſchlimmſte Weiſe
mißhandelt hat, verdient keine Antwort, ſondern Verachtung. Die Satire,
welcher dieſer ſchon bekannte Spötter über die prieſterliche Handauflegung —
ſ. S. 581 — in feinem Wochenſtücke gemacht hat, hätte einem Phariſäer und
Sadduzäer auch einfallen, er hätte ſie auf die Apoſtel gleichfalls wenden können.
Weil dann dieſer Mann über dergleichen Dinge, die in dem Evangelio ſo klar
gegründet ſind, ſeine Späſſe treibt, ſo muß er ſich's ſelbſt zuſchreiben, wenn man
ihn nicht den proteſtantiſchen Chriſten, ſondern den Freigeiſtern zuzählt. Arger⸗
liche Liebesgedichte, Liebesgeſchichten und Liebesſpiele weiß er auf nachdrück⸗
lichſte Weiſe anzuempfehlen 67) ... Ich laſſe mir ohnehin für gewiß ſagen, daß
67) Dies bezieht ſich, abgeſehen von Chronikgedichten wie das in „Hannswurſt und Schubart“
parodierte (ſ. u.) wohl auf Schubarts begeiſterte Ankündigung des Werther; über die Auffaſſung von
Werther im andern Lager findet man einige intereſſante Zeugniſſe in Abſchn. 10. — Ganz ähnliche
Töne ſchlägt ein mir nicht zugänglich gewordenes Pamphlet an, von dem A. Wohlwill in Schnorrs
Archiv 15, S. 32 eine Probe mitteilt; da heißt es z. B.:
Man hätt ihm doch vorlängſt, wie billig, einen Stein,
Aus nächſter beßter Mühl an ſeinen Hals gehenket,
Und ihn ins tiefe Meer, damit von ihm kein Bein
Zum neuen Ärgernis mehr übrig fei, verſenket
Die inhaltliche Übereinftimmung mit den Ausführungen von Merz ſowohl als auch die Form des
Gedichts laſſen auf Zeiler als Verfaſſer ſchließen.
Schubart im Exorziſtenſtreit 587
ihm ſchon in verſchiedenen Orten das consilium abeundi ſei gegeben worden.
Sei dieſem ſo oder nicht, ſo wird mich doch niemand verdenken können, wenn ich
eine Erbärmnis mit jener Gemeinde trage, welche einen Religionsſpötter in
ihrem Schoß hat. Verächter der evangeliſchen Gründe ſind Verächter der Re⸗
ligion, ſind eine Peſt in einem Lande. Solche Leute müſſen auch aufrichtige Pro⸗
teſtanten ſelbſt verabſcheuen. Die es nicht tun, müſſen ebenſowenig Religion
als Sie, mein Herr Schubart! beſitzen, und um das Geld eine jede Religion,
wie Sie, zu beſtreiten bereit ſein. Daß dieſer ihr Charakter ſei, weiß man auch
in der Ferne .. (1). Selbſt der Rat, Schubart ſolle „das Lob feiner lieben
Franzmänner fingen ... da er die Schwaben lange genug verbümmlingt ...
Ich ſehe die Mütter erbärmlich nachgreinen, da ſie ihre Zöglinge aus den Pratzen
dieſes Feenritters retten wollen“ (3) iſt den Gegnern nicht gemein — und an⸗
geſichts der ganzen Haltung der Chronik abgeſchmackt genug, wenn es gilt,
Schubart moraliſch zu vernichten 68).
Den Abſchluß dieſer Zeugniſſe des Haſſes und der Wut mögen zwei
Reimereien bilden, in denen uns noch einmal alle Züge der gegen Schubart ge⸗
führten Polemik gegenübertreten. Das eine Stück ſtammt aus der „luſtigen
Melancholie“, die ſich außer gegen Schubart auch gegen „Regnizrets“⸗Sterzinger
richtet, und für die Schubarts Bezeichnung „Excrementum Apollinis“ noch
recht ſchmeichelhaft iſt 5); das andere iſt aus dem „Luſtſpiel“ „Hannswurſt und
Schubart“, das wenigſtens einiges Niveau hat.
Der Poeta vagabundus reimt:
Schubart in b'ſchiſſner Pfaidt )
Verkündet ſeine Lehre:
Ich ſchnitte ihm (mein Aid)!
Was weg mit einer Schere
Er Kronicks Melack 7!) bellt
Den Paß ſo reiner Noten:
Ihn muß die chriſtlich Welt
Verjagen und verſpotten.
Er ſtarker Kronicksſchmied
Braucht Ambaß, Feur und Hammer,
Wovon ein manches Lied
Ausfunkt zur Venuskammer.
Schubart ſelb Hoſenknopf, 7?)
Apoſtel und Gerechter!
Wie nimmt dich bei dem Schopf
68) Es muß auffallen, daß in der gegneriſchen Polemik eines Umſtands in Schubarts Vergangen-
heit nie gedacht wird, der ein glänzend verwertbares Argument gegen ihn hätte abgeben können, näm-
lich der Frage ſeiner Konverſion. Er hatte in München katholiſch werden wollen (und hätte um dieſen
Preis ſchon dort die Leitung einer Zeitſchrift bekommen können, vgl. LG. I. S. 205), war aber
ſchließlich doch vor dem Schritt zurückgeſchreckt. Wenn ſeine jeſuitiſchen Feinde nichts von dieſen
Dingen gewußt zu haben ſcheinen, ſo wohl deshalb, weil Schubarts Münchner Gönner, wie Lori,
Braun u. a., Akademiſten, d. h. aber, Jeſuitengegner waren.
©) Die Allg. d. Bibl. (27, 607) nennt es „ein Meiſterſtück abgeſchmackter Poeſie“.
70) Hemd.
71) In dem Gedicht „der Wolf und der Hund“ im erſten Stück der Chronik heißt der Hund
„Melak“ (nach dem berüchtigten General Ludwigs XIV. Graf v. Melac, geſt. 1709, benannt).
”2) Vgl. D. Ch. 1775, S. 158.
588 Konrad Gaiſer
Der Lipperle 7?) dein Fechter
. . . Der Teufel wird die Zech
Einmal im Höllenrachen
Mit Schwefel und mit Pech
Dem Gottesleugner machen
Marſch, marſch, ſtaubaus, nur fort!
So Vögel muß man rupfen ...
Wurd ihnen Stadt und Platz
Gegönnet, wer's geſchehen,
Müßt Kirche, Staat und G''ſatz
Zu Grunde gänzlich gehen
Kein Wunder wär, wenn Gott
Ließ manche Stadt verſinken,
Allwo kein Höllenkrott
Noch übler könnte ſtinken
Zeilers Satire beſteht aus zwei Teilen (mit einem Anhang über das Bopfinger
Schreiben, ſ. u.), die beide, nach biſſigem Geſchimpfe, mit einem Gedicht ab⸗
abſchließen. Einleitend heißt es: „Vom Pontus Euxinus — Ulm — her, wo
der deutſche Ovid, von Auguſts Burg verwieſen, im Elende ſitzt, Lügen dichtet,
Verſe huſtet, Götter ſchimpfet, und Schwaben bildet, rollte Donner herunter,
und Blitze ſtrahlten umher. Endlich verlor ſich das ganze Ungewitter in einen
Regen, mit Hagel vermengt. Es regnete Schimpfwörter, und hagelte Ulmer⸗
ſchnitzer herein. Was er ſchrieb, war geraten, gelogen, geſchimpft, geläſtert.
Er riet, aber ſehr unglücklich“); log mehr als Novelliſten pflegen; ſchimpfte
gaffenmäßig, und läſterte wie Schubart ...“.
Das erſte Schlußgedicht iſt die Parodie eines Schubartiſchen (aus D. Ch.
1775, 20. Stück); ich ſetze die beiden nebeneinander her:
Schubart: Zeiler:
Du kleiner loſer Amor du, der Satyr ſpricht:
Mit deinen loſen Blicken, Du meiſterloſes Hänschen du,
Man muß dich jetzo nach Paris Mit deinen loſen Tücken!
Zu einer Zofen ſchicken, Man muß dich tapfer abgebläut
8 n ürb a
Die dich, wann fie an Drätchen ziehen, anz mürb nach Hauſe ſchicken
Wie einen Zeiſig fangen. Kommt, Schwaben, helfet auch dazu!
Ach — Perlenthränchen tröpflen dann Das Mäusen iſt gefangen.
Von deiner Mutter Wangen. Seht! Mitleidstränchen tröpfeln ſchon
. Von ſeines Gönners Wangen.
Wo iſt mein Sohn? So girrt ſie bang, Wo iſt er doch? So ruft er bang,
Wie eine Turteltaube,
Und ſucht, und findet dich — o pfui!
In einer Weiberhaube. 7°)
Der Hans, der arme Lappe!
Und ſucht, und findet ihn — o pfui!
In einer Narrenkappe.
Schwabenchor:
Du meiſterhaftes Hänschen du,
Mit deinen Chronikſtücken!
Man muß dich — neinz nicht nach Paris
Ins Haus der Tollen ſchicken.
2 „Stagens Hanswurſt“ und „Wolfens Lipperl“ waren die Namen, mit denen ſich die Gegner
zu bezeichnen pflegten; Lipperl bedeutet ungefähr das gleiche wie Hanswurſt. Stage und Wolf waren
die beiderſeitigen Verleger.
7) Bezieht ſich wohl auf das Bopfinger Schreiben, f. u.
75) Zum Verſtändnis, zugleich auch zur Kennzeichnung von Schubarts Gefinnung den „Französ⸗
lingen“ gegenüber diene einiges aus der in der Chronik vorangehenden Notiz „Franzoſenwitz“: „Du
Schubart im Exorziſtenſtreit 593
haben dem Gehaßten noch in den Aſperger Kerker ein Pamphlet „Ecce Schubart
von Ala“ 82) nachgeſchleudert, in dem es heißt:
. . . Der Schubart liegt zur Erd? Der Held, der Höll gewogen ?,
als er den Jeſuit hat durch die Hächel zogen
dort (feil. in Babylon, wohin zu fliehen ihm geraten wird) predigſt jenen Drachen
Und kannſt vielleichte gar zum Antichriſt dich machen.
Dort ſetze dich nur friſch auf jenen Dreifuß nieder,
Den du dem Gaßner haft geſchmiedet
XI.
Schubart ſaß gefangen. Daß Herzog Karl, als er „die menſchliche Geſellſchaft
von dieſem unwürdigen und anſteckenden Gliede“ reinigte, das tat, was Schu⸗
barts Feinde wollten und unabläſſig von der ſtaatlichen Gewalt gefordert
hatten, iſt gewiß. Aber ob er es tat, weil ſie es wollten, und weil ſie es
wollten: das iſt nicht zu erweiſen. Schubart ſelber glaubte, die Fäden ſeien, von
Ulm ausgehend, über Wien gelaufen, und in Stuttgart flüſterten ſich eben dies
die angeblich Eingeweihten ins Ohr; dem Herzog mochte das ja auch ganz an⸗
genehm ſein, denn ſubalterne Tyrannei nimmt gern achſelzuckend Deckung hinter
vorgeſetzten Behörden: aber die in Betracht kommenden Archive haben nicht den
geringſten Anhaltspunkt für jene Vermutung ergeben 88), und das Rätſel iſt
ſo undurchdringlich als zuvor. Wenn der Herzog „ſeit geraumer Zeit“ ent⸗
ſchloſſen war, Schubart, der „es bereits in der Unverſchämtheit ſo weit gebracht,
daß faſt kein gekröntes Haupt und kein Fürſt auf dem Erdboden iſt, ſo nicht von
ihm in ſeinen herausgegebenen Schriften auf das Freventlichſte angetaſtet
worden“ 8), zu faſſen, fo fragt ſich doch immer noch, auf welche Weiſe er zu
dieſer Überzeugung gekommen iſt; und wenn unter den Dingen, die noch von
Ludwigsburg her gegen Schubart auf des Herzogs Kerbholz ſtanden, auch „die
ſehr böſe und ſogar gottesläſterliche Schreibart“ genannt iſt, ſo iſt das inſofern
einigermaßen auffallend, als unter Schubarts Ludwigsburger Sünden das
„Schreiben“ längſt nicht die ſchlimmſte war; ſo daß man ſich der Vermutung
nicht erwehren kann, hier ſei die Vergangenheit mit den Zügen eines dem
Herzog erſt viel fpäter entworfenen Bilds ausgeſtattet worden, bzw. es hätte
ſich unter dem Eindruck ſpäterer Verleumdungen ein einſt mehr nebenſächlicher
Vorwurf als eine Hauptſache dargeſtellt. Aber es iſt das eben eine Vermutung;
und ſelbſt wenn fie richtig wäre, hätte man immer noch keinen Beweis für die
Behauptung in der Hand, daß geiſtliche, ſpeziell jeſuitiſche Einflüſſe unmittel⸗
bar und ausſchlaggebend Karl Eugens Arm gegen den Chroniſten bewaffnet
hätten.
2) In einem kleinen Auszug zuerſt mitgeteilt von K. Geiger in der beſ. Deilage des Staats ⸗
anzeigers f. Württemberg, 1885, S. 288; vollſtändig abgedruckt durch P. Beck in Alemannia 22,
S. 57 ff. Als Verfaſſer vermutet Geiger Zeiler; doch ſind die miſerablen Verſe viel eher dem
poeta vagabundus zuzutrauen; auch hat ſich Zeiler in keiner der ihm ſicher zuzuweiſenden Schriften
zu ſolcher Gehäſſigkeit erniedrigt, wie ſie hier aus jeder Zeile ſpricht.
83) S. Wohlwill in Schnorrs Archiv 25, S. 132/134.
A), Hauff, Schubart, S. 154.
Gupborion XXVIII. 38
594 Konrad Gaiſer, Schubart im Exorziſtenſtreit
Um ſo gewiſſer aber iſt das andere: daß die Hetze gegen Schubart unmittelbar
dazu beigetragen hat, diejenige atmoſphäriſche Stimmung zu erzeugen, die es
dem Herzog erlaubte, ſich und andern einzureden, der brutale Schlag gegen den
politiſch Läſtigen und perſönlich Gehaßten habe einen gleichzeitig moraliſch
Vogelfreien verdient getroffen. Beides, das Politiſche und das Moraliſche, hebt
er ja in dem Verhaftungserlaß ausdrücklich hervor. In die politiſchen
Spannungen der Atmoſphäre, in der Schubart lebte, haben wir durch die Mit⸗
teilungen Holzers aus den Ulmer Zenſurakten 85) überraſchende Einblicke ges
wonnen; wenn es nun aber in der Randgloſſe eines Ulmer Ratsherrn auf einem
der Aktenſtücke — von der Schairer ſagt 885), daß man fie faſt notwendig „mit
der wenige Wochen ſpäter erfolgten Verhaftung ihres Objekts kombinieren“
müſſe — heißt: „verdient es wohl der Geiz des Druckers und die Ausgelafinheit
des Verfaſſers, daß ſo viel Schubartiſches Gift gegen Religion und Sitten, ja
beinahe gegen alle hohe Häufer, allhier in der Preſſe ſo lange geduldet werde
. . : wenn da, und zwar außer allem Zuſammenhang mit dem rein politiſchen
Gegenſtand der betreffenden Zenſurgeſchichte, die Bezichtigung der Vergiftung
von Religion und Sitten als ein in gewiſſen Kreiſen offenbar üblicher Vorwurf
vorgebracht wird — ſo erweiſt das mit voller Deutlichkeit, wie gefährlich geladen
die Atmoſphäre nach der moraliſchen Seite hin war. Aus welchen Quellen
aber die übelwollende öffentliche Meinung in dieſem Punkte ſchöpfte, kann nach
den hier mitgeteilten Dokumenten des Gaßner⸗ und Jeſuitenſtreits nicht zweifel⸗
haft ſein.
Die moraliſche Verfemung, die den — gewiß nicht ſchuldloſen, aber in dieſem
Sinne gewiß auch nicht ſchuldigen — Chronikſchreiber zum Schreckbild eines
ſtaatsgefährlichen, ſittenverderblichen Religionsverächters geſtempelt hat: das
iſt Gaßners und ſeiner Freunde Werk. Und dieſe Verfemung trägt mit die Schuld
daran, daß der gegen Schubart geführte Schlag ſich ſo hemmungslos auswirken
konnte. Denn nicht die Tatſache der Haft an ſich iſt ja das Schreckliche an ſeinem
Schickſal, ſondern ihre Art und vor allem ihre zehnjährige Dauer. Aber als der
Unglückliche und die Seinen an alle Türen klopften, um einen Fürſprecher beim
Herzog zu gewinnen, da war unter den Einflußreichen keiner, der ſich für ihn
eingeſetzt hätte. Keine weltliche Macht, die ſich ſeiner annahm: er, der des
deutſchen Volkes Bürger ſein wollte, war politiſch ein Flüchtling und ein Unbe⸗
hauſter: „ich war nicht Bürger in Ulm, nicht in Aalen, nicht in Geislingen.
ich liebte mein Vaterland ſo herzlich, und fand doch ſo wenig Schatten unter den
Flügeln ſeines Adlers. Und noch immer iſt der Gedanke einer der bitterſten, der
in meinem Gefängniſſe über mich herſtürzt: daß ich, mit ſo viel Vaterlandsglut in
der Seele, doch von meinem Vaterlande nicht geſchützt werde ... Wie koſtbar,
wie ſelten iſt ein patriotiſcher Bürger, und wie verächtlich wirft man ihn
weg!“ 87) Aber wer nimmt ſich des verächtlich Gemachten an! Schubart wurde
nicht müde, auf eine Vermittlung feines über alles verehrten Klopſtock zu hoffen
5) Südd. Monatshefte 1908, S. 659 ff.
) a. a. O., S. 174.
87) LG. I. S. 273/274.
Schulge-Sahpde, Kritifhe Studien zu Immermanns „Merlin“ 595
— aber „der berühmte Gottesmann Klopfſtock“, wie ihn die Frau Helena
Schubartin nannte, tat, trotzdem er aufs inſtändigſte erſucht wurde, nichts
irgendwie Belangreiches, um dem getreueſten Verehrer, dem Kündiger ſeines
Ruhms in Süddeutſchland, aus der Not zu helfen. Wie ſollte er auch — er,
deſſen feierliche Sittenſtrenge ſchon das Treiben Goethes in Weimar nicht ver⸗
tragen konnte?
Niemand erhob die Stimme für Schubart und ſo konnte der Herzog bis zum
Ende glauben, mit feiner Zuchthauspädagogik ein gottwohlgefälliges Erziehungs⸗
werk zu vollbringen; bis endlich der Stern des „einzigen Friedrich“, der neben
dem Klopſtocks an Schubarts Himmel immer am hellſten geſtrahlt hatte, die
Stunde regierte, und das Eintreten des preußiſchen Hofs für den Mißhandelten
ihm Ehre und Freiheit zurückgab.
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“.
Von Karl Schultze⸗Jahde in Görlitz Schleſien).
1. Das Knaben⸗Jungfrauen⸗Rätſel.
Die beiden Rätſel Klingſohrs 1) und Merlins (2222 ff.; Verszählung nach
Maync, der ſich Deetjen angeſchloſſen hat, und die merkwürdigerweiſe die Zus
eignung einbezieht) find keine eigentlichen Rätſel, ſondern gewiſſermaßen
„orphiſche Sprüche“, in denen die beiden die Quinteſſenz ihrer Weisheit in
ſymboliſch⸗allegoriſchem Gewande ausſprechen. Sie haben allen Erklärern zu
ſchaffen gemacht, bis O. Fiſcher, zu Immermanns Merlin (Dortmund 1909)
den Knoten zerhauen und erklärt hat, daß dieſe Rätſel im Grunde gar keine
Bedeutung hätten, ſondern nur als eine Art Geheimnisaufputz dienten; er
begründet das damit, daß nach Mayncs Feſtſtellung im Texte zuerſt „fünf Kna⸗
ben“ geſtanden, Immermann die Zahl aber nachträglich in „drei“ geändert
habe. Die Anregung zur urſprünglichen Fünfzahl ſoll Immermann aus
Mosheims „Geſchichte der Schlangenbrüder uſw.“ bekommen haben aus einer
Stelle, die Fiſcher S. 9 ff. vollſtändig aushebt. Mir ſcheint dieſe Herleitung
nicht überzeugend, wie ich überhaupt glaube, daß zwar die Unterſuchung, wie
weit Immermann ſich mit der Gnoſis beſchäftigt habe, Erſprießliches zutage
gefördert, aber das Ziel verfehlt hat, denn es war nicht das Ziel Immermanns,
die Gnoſis der erſten Jahrhunderte als ſolche darzuſtellen, wie man nach
Fiſchers Unterſuchung annehmen könnte, ſo wenig er vorhatte, die alte Mer⸗
linſage um ihrer ſelbſt willen darzuſtellen. Gewiß hat er ſich in der Überzeu⸗
gung, daß Kirchengeſchichte wichtiger ſei als Dogma, aus der Kirchengeſchichte
Klarheit über die Entwicklung zu verſchaffen verſucht, aber das diente nur
dazu, ſeine Auffaſſung überhaupt zu klären, tatſächlich wollte er in Merlin den
5) Im folgenden iſt durchgängig Kling ſor zu leſen. Novalis ſchreibt Klingsohr, Wagner
r. |
596 Karl Schultz'e⸗Jahde
modernen Antichriſt und die moderne Gnoſis darſtellen, die er freilich
mit den alten Überlieferungen verknüpfte. Und endlich glaubt Fiſcher, daß das
Jungfrauenrätſel eher konzipiert worden und das Knabenrätſel erſt ſpäter
als Gegenſtück hinzugetreten ſei; er glaubt das daraus ſchließen zu können,
daß ein urſprünglicher Plan (Mapnc IV S. 4801) unter Nr. 4 „Jungfrau“
anführt, ohne daß dort von Knaben die Rede iſt, auch an fpäterer Stelle unter
Nr. 5 nicht, wo es ſich aber um ein anderes Rätſel handeln muß, das nicht
ausgeführt wurde. Dies letztere Nätfel ſollte gleichfalls die Überlegenheit
Merlins zeigen, indem Klingſohr ein Rätſel ſtellte, wie man Menſchen, ohne
ſie zu belügen, leite, welches von Merlin „praktiſch“ gelöſt wird. Die Stelle
unter 4 heißt: „. . . Merlin. Klingſohr. Jungfrau. Jüngling... Es
kann fraglich ſein, ob dieſe Stelle ſich überhaupt auf das Jungfrauenrätſel
bezieht und ſich nicht etwas ganz anderes darunter verbirgt, was ebenſo fort⸗
gefallen iſt wie das urſprüngliche Rätſel unter Nr. 5. Im Gegenteil könnte
man ebenſogut denken, daß es ſich dort nicht um ein Rätſel handelt, weil
Immermann ſchwerlich zwei Szenen zwiſchen Merlin und Klingſohr mit
einem Rätſel beſetzt hätte, wenn natürlich auch die Möglichkeit bleibt, daß ſich
eine Auslaſſung Merlins in Nr. 4 auf die Jungfrau beziehen ſollte, zumal es
ſich ja nicht um Rätſel im eigentlichen Sinne handelt. Aber alle dieſe Deu⸗
tungen hängen in der Luft. Keinesfalls folgt daraus, daß alſo „drei Knaben“
nichts bedeute, denn bedeutet die Zahl nichts, ſo auch Knaben und Jungfrau.
Geſchloſſen werden kann lediglich, daß die Zahländerung keine weſentliche
Bedeutung habe, und daß der Sinn durch ſie nicht verändert werde. Selbſt
wenn „fünf“ nichts bedeutet hätte, könnte „drei“ immer noch etwas bedeuten.
Fiſchers Annahme beruht im Grunde auf der Tatſache, daß die Rätſel anſchei⸗
nend von uns nicht gedeutet werden können, während der poſitiv ee Be
weis dafür, daß ſie von Immermann aus nichts bedeutet hätten, geliefert wer⸗
den müßte. (Vorhandene Deutungsverſuche ſ. im übrigen bei Fiſcher a. a. O.
und in den Ausgaben von Maync und Deetjen; Koch gibt nur eine Parallel⸗
ſtelle für das Bild mit den Eimern, ferner H. Harmann, N. Jahrb. 1925
S. 278 ff. Für meine Auffaſſung des „Merlin“ im ganzen darf ich verweiſen
auf meinen Aufſatz in Zeitſchrift für Deutſchkunde 39. Ihg. Heft 8 [1925]
S. 616— 640.)
Vorläuſig muß alſo daran feftgehalten werden, daß dieſe „orphiſchen
Sprüche“ eine Bedeutung haben. Klar iſt und zweifellos, daß Klingſohr und
Merlin einander als Gegner gegenübertreten, und zwar auf verwandtem
Boden, und daß Merlin eine abſchließende poſitive Weisheit hat, die Kling⸗
ſohr nicht hat. Ferner iſt klar, daß eine Auflöſung nicht in der Richtung der
Weltanſchauung Immermanns geſucht werden darf, weil er das Unzulängliche
und Tragiſche der (modernen) Gnoſis darſtellen will: die Jungfrau hat alſo
nichts mit der Gralslehre zu tun, Merlins und Klingſohrs Verhandlungs⸗
gegenſtände liegen von dieſer weit ab, und zwar prinzipiell.
Wer Merlin iſt als Sohn Satans, habe ich a. a. O. darzutun verſucht, aber
zu den modernen Motiven, die in dieſer Geſtalt verſchmolzen ſind, gehört noch
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 597
die moderne Gnoſis, vor allem ſoweit ſie Naturerkenntnis iſt. Dieſe will das
Geheimnis des Weltgrundes bloßlegen, indem ſie alles in einen kauſalen
Mechanismus auflöſt. Vgl. auch unten die Ausführungen über Satan. Mit
dieſer Naturerkenntnis aber hängt auch die Naturbeherrſchung durch Natur⸗
wiſſenſchaft und Technik zuſammen. Die Wunder, die Merlin tut, ſind freilich
bedingt durch die Herübernahme der Sagengeſtalt Merlin, der als Sohn
Satans natürlich Wunder tun kann, iſt doch auch das Ziel aller Teufelspakte auch
Naturbeherrſchung durch Magie, und Merlin iſt mit ſeinen aſtronomiſchen
Kunſtſtücken ja geradezu ein Wettermacher, Wettermachen aber iſt Teufelswerk
und Eingriff in Gottes Rechte. Merlin iſt der moderne Maſchinen⸗ und tech⸗
niſche Wundermenſch, aber Immermann hat ſicherlich auch an die Naturbeherr⸗
ſchung durch die neuere Magie, wie ſie damals verſucht wurde, gedacht, behaup⸗
tete doch Mesmer, daß er die Sonne magnetiſiert habe, und daß ſie ſeitdem,
beſonders in bezug auf das Waſſer, magnetiſch wirkſamer geworden ſei, und
Ennemoſer wollte durch eine umfaſſende Magnetiſierung von Menſch und
Natur geradezu das Paradies herbeiführen, alſo Chialiasmus in der vers
wegenſten Form auf rein mechaniſch kauſalem Wege mit Hilfe okkulter Kräfte
(W. Ermann, Der tieriſche Magnetismus in Preußen. 1925 S. 9. 85 Anm. 61).
Welche chiliaſtiſchen Erwartungen aber mit techniſchen Errungenſchaften von
jeher verbunden worden ſind, bedarf keines Beiſpiels. Merlin iſt die Symbol⸗
geſtalt für alle dieſe Motive, die mit den modernen Wundern in Naturwiſſen⸗
ſchaft und Technik auf dem Wege moderner Naturerkenntnis und Magie zu⸗
fammenhängen. Man erinnere ſich, daß Immermann dies Problem immer
beſchäftigt hat („Epigonen“, „Tulifäntchen“). Ein Stück Merlin im alltäg⸗
lichen Gewand iſt der Fabrikherr in den „Epigonen“. Das iſt die harte Klar⸗
heit und Praͤziſion des mechaniſierten Lebens, der alles ohne Finſterniſſe iſt,
weil ſie alles in eine Formel zu bannen weiß, und für die das nicht exiſtiert,
was nicht auf eine Formel zu bringen iſt. Merlin als moderner Schwindelgeiſt
heißt Münchhauſen. Nun hat aber Merlin das Gefühl dafür, daß ſeine Er⸗
kenntnis nicht ausreicht, wenn er dies Gefühl zunächſt auch abweiſt und gerade
auf „ſataniſchem“ Wege zu „Gott“ will. Aus dieſen Erwägungen wird aber
auch klar, daß ganz ähnlich, wie ſich in Merlin und Satan mancherlei Motive
treffen, dies auch für Gott der Fall ſein muß, und daß das, was Immermann
„Gott“ nennt, keinerlei dogmatiſchen Inhalt haben kann. Gerade hier könnte
man Immermann in Verbindung mit heutigen Auffaſſungen bringen, doch gehe
ich darauf nicht ein. Zu einer zureichenden begrifflich präziſen Formulierung
iſt Immermann aber gerade hier nicht gekommen, weil Formulieren „ſata⸗
niſch“ iſt. Deshalb iſt auch ſeine Gralslehre, die eigentlich gar nicht als Lehre
bezeichnet werden dürfte, keinerlei Weltanſchauung in lehrmäßiger Form, weder
als Myſtik oder Agnoſtizismus oder Irrationalismus noch ſonſtwie zu be⸗
zeichnen, ſondern Gral iſt ein unmittelbares Haben, Leben, Daſein in ſeinem
höchſten Moment, das er deshalb in der Gralsſzene und ſonſt nur nach ſeiner
Wirkung beſchreiben konnte und ſchließlich doch eben mit dem Worte Gott
nennt, wie er das Gegenteil Satan nennt. Was aber Immermann Gott
598 Karl Schultze⸗Jahde
nennt, iſt nicht das, was Merlin Gott nennt, das ſind unvergleichbare Dinge.
Immermann iſt weder Materialiſt noch Spiritualiſt, weder Rationaliſt noch irra⸗
tionaliſtiſcher Myſtiker im Sinne einer angebbaren Lehre. Zu betonen aber iſt,
daß Immermann nun nicht etwa die „Vernunft und Wiſſenſchaft verachtet“,
das zeigt das Schnotterbaumſche Teſtament im „Münchhauſen“ zur Genüge.
Es trifft die Ausſchließlichkeit des „Merlin“ nur einen allerdings weſent⸗
lichſten Zeil feiner Weltanſchauung. Reicht dieſe Vernunft auch nicht aus, das
Letzte zu erklären, ſo tritt er damit doch keineswegs auf den Boden eines ſog.
Glaubens und Wiſſens; das Glauben hat auf dem Boden ſeiner Weltanſchau⸗
ung überhaupt keine „religiöſe“ Bedeutung, und die Piſtis iſt keineswegs das
letzte Wort des „Merlin“. Er „glaubte“ nicht, ſondern er fühlte, daß er ein
Letztes unmittelbar „hatte“, an das er nicht zu glauben brauchte, weil es war;
es war Mittelpunkt, gar nicht mit einem Wort zu nennen, nicht mit Vernunft
zu erklären, und doch war unbeſchadet deſſen Vernunft eine hohe Gabe, die
der Menſch anwenden muß, ſoweit ſie immer trägt, ohne daß man ihr eine
Grenze ſetzen kann, wenn ſie auch unfähig iſt, dies Haben, Sein, Leben zu
geben oder zu umſchreiben und zu erfaſſen. Dies iſt auch nicht eigentlich etwas
über der Vernunft, nicht etwas Tranſzendentes, denn es war ihm ja in eigener
Erfahrung gegeben, es war nur etwas anderes, Logos als Gegenpol zu Satan,
beide gleich notwendig als die Formen Gottes, die den Widerſpruch der Welt
ausmachten. Allerdings neigte er dazu, dieſen Logos doch mit Gott gleichzu⸗
ſetzen, weil ihm darin die innere Einheit und Seligkeit verbürgt ſchien. Mer⸗
lin dagegen will dieſe Einheit, den inneren Weltgrund als ein Objektives
außer ſich, d. h. alſo zugleich: mit der Vernunft, erfaſſen, er hat nicht das
Leben, ſondern eine Wahrheit davon, und dieſe Wahrheit hat die ſpezielle
Form der Naturerkenntnis, die die Naturbeherrſchung ermöglicht. Dieſe Er⸗
kenntnis mit ihrer geſamten Welträtſellöſung durch Vernunft iſt die Jungfrau,
in welchem Symbol alſo die Vorſtellungen einer gnoſtiſchen Sophia mit einer
modernen Naturgnoſis und -beherrſchung, die auch Gott zwingen will, und
einer wahrheitsabſoluten Philoſophie zufammenlaufen.
Iſt ſo in Merlin ein Teilſtück der Immermannſchen Weltanſchauung, eben
das Vernunftſtück mit ſeiner Verabſolutierung, verkörpert, ſo ſteckt in Kling⸗
ſohr auch ein Teilſtück, nämlich die Skepſis bezüglich der formulierbaren Kon⸗
feſſionen; das iſt im kirchlichen Sinne das Ketzerſtück. Nur iſt Klingſohr über
die Skepſis nicht hinausgekommen und iſt alles, was er getrieben, um zu Poſi⸗
tivem zu kommen, nur Surrogatware. Er iſt der Vertreter eines an Nihilis⸗
mus ſtreifenden ſkeptiſchen Agnoſtizismus, von einer Gnoſis ausgehend und
inſofern mit Merlin auf gleichem Boden ſtehend, als er allerdings die Löſung
im Wiſſen ſucht, er findet ſie nur nicht. Aus dieſer Stimmung heraus ſchickt
er Artus nach dem „Unding“, dem Kinde ohne Vater. Denn auch Artus und
ſeine Ritter ſuchen trotz ihrer naiven Lebensfreude nach etwas, was ſie nicht
haben, und wie Klingſohr ſeine Theorie nicht mehr befriedigt, ſo befriedigt
die Artusmenſchen ihre naiv⸗frohe Lebenspraxis nicht mehr. Wenn Klingſohr,
bisher als „Orakel“ am Artushofe, nun nach dem Kinde ohne Vater als
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 599
Helfer ausſchickt, ſo liegt darin im Sinne alter Symbolik natürlich die Mei⸗
nung, das Chriſtentum ſei Unſinn, weil es das Kind ohne Vater nicht gibt,
überhaupt aber die Meinung, daß die Sehnſucht, die auch er gekannt hat, und
die Artus und ſeine Ritter im letzten Winkel ihres Gemüts hegen, und die ſie
unbefriedigt macht, nicht befriedigt werden kann, weil es, vielleicht, gar kein
poſitives Gut gibt. Der Ausdruck dafür iſt das Knabenrätſel, das alſo beſagt:
welche Lehre man auch aus dem unerſchöpflichen Meer der Natur, des Lebens
überhaupt ſchöpfen mag, ſie gibt keine Befriedigung. Merlin aber ſagt: doch,
die Lehre, die befriedigt und das höchſte Gut zu geben vermag, die habe ich:
ich habe die abſolute Wahrheit, die himmliſche Jungfrau iſt mir erſchienen.
Und den Inbegriff dieſer Wahrheit hat die Szene mit Satan bei Stonehenge
gegeben, und fie umfaßt alles, was moderne Naturerkenntnis und⸗beherrſchung
auf allen ihren Wegen erobert haben: der Urgrund der Welt iſt aufgedeckt.
Wer aber ſind die drei Knaben? Da Klingſohr das Rätſel ſtellt, ſo könnte
man daran denken, die drei Knaben zu den drei Erſcheinungen (Antinous,
Götter, Hamadryaden) und den durch ſie repräſentierten Wegen Klingſohrſcher
Welterfaſſung in Beziehung zu ſetzen, und ſie als Kunſt, antike Kultur und
Naturphiloſophie deuten. Aber einmal bleibt das deswegen ſchwierig, weil die
Geſtalt des Antinous doch wohl nicht ganz klar iſt, indem Immermann
urſpünglich ſtatt des Antinous Werthers blutigen Schatten auftreten ließ;
es iſt mir nicht klar, warum Immermann in dieſem Zuſammenhange
gerade auf Werther anſpielte, es kommt ein Schillern in dieſe Erſcheinung,
das die Deutlichkeit beeinträchtigt; weiterhin aber wäre eine Anſpielung auf
dieſe Gebiete Klingſohrſcher Welterfaſſung nicht allgemein verſtändlich, und es
iſt näherliegend, unter den drei Knaben etwas zu verſtehen, wofür dieſe drei
ſpezifiſch Klingſohrſchen Gebiete erſt eingetreten ſind, als Klingſohr an dem,
was die drei Knaben bieten konnten, irre wurde, wobei jedoch nicht an eine
parallele Entſprechung drei: drei zu denken iſt. Die drei Knaben laſſen ſich
aber an die Knaben der Zueignung anknüpfen. Ich habe dieſe a. a. O. als
die drei herkömmlichen bibliſchen Raſſen, das Mädchen (wie Koch) als die
Sage in der Jugendzeit der Völker, das ewige Weib als die Kirchengeſchichte
gedeutet. Dieſe Deutung könnte auch die „fünf“ erklären: die fünf Knaben
wären die fünf Raſſen, die zu Immermanns Zeit angenommen wurden. In
dieſem ſich ſo ergebenden Zuſammenhange erſcheint mir aber die Deutung der
Knaben auf Raſſen zu eng. Denn an der Rätſelſtelle handelt es ſich ſicher nicht
um Raſſen. Ich glaube deshalb, daß Jahn recht hat, wenn er die drei Knaben
des Rätſels auf die drei herkömmlichen Religionen Chriſten, Juden, Heiden
bezieht, wie es ſchon der mittelalterlichen Aufzählung entſpricht, ohne daß des⸗
halb die Beziehung zu den drei Raſſen (Japhet, Sem, Ham) aufgegeben wer⸗
den müßte. Es iſt das, der Art Immermanns im „Merlin“ überhaupt ent⸗
ſprechend, kontaminiert worden. Daß hier keine ſcharfen Grenzen gezogen wur⸗
den, beweiſt auch die ſonſt vorkommende Darſtellung der drei Weiſen in den
Farben Weiß, Schwarz und Braun. Die gleiche Möglichkeit beſteht aber auch
für die Fünfzahl, die ebenſo auf fünf Religionen gehen kann, ſei es in der Zu⸗
600 Karl Schultze⸗Jahde
ſammenſtellung Chriſten, Juden, Mohammedaner, Zoroaſteranhänger, Bud⸗
dhiſten, oder Chriſten, Juden, Heiden und zwei von den letztgenannten. Wie
ſolche Zuſammenſtellungen in der Luft lagen, belegt eine Wendung von A. Fr.
v. Schack: „In der Kirche dieſer Religion, welche hoffentlich bald ins Leben
tritt, wird fort und fort Chriſtus der Oberprieſter ſein; aber er wird neben
ſich auch Zoroaſter und Buddha als Propheten anerkennen“ (zit. bei Borinski,
Die Weltwiedergeburtsidee in den neueren Zeiten. Sitzungsber. d. bayr. Akad.
d. Wiſſ., philoſ.⸗philol. u. hiſt. Klaſſe 1919, 1. Abh.). Ob Immermann in der
Montſalwatſch⸗Szene 2680 bei der Wendung vom Prieſterreich etwa auch mit
dem Gedanken an den Buddhismus geſpielt haben könnte? (S. auch unten
unter 5.) Mit dieſer Deutung der Fünfzahl und der Dreizahl wird dann auch
die Deutung der Fabel, was ſich beſſer einfügt, ins Religiöſe verſchoben, ſie
wird die Vertreterin dogmatiſcher Fabuliererei, die als Vorſtufe ihre Berech⸗
tigung haben mag, aber weiterer Erkenntnis nicht genug tut: Immermann
ſchreitet gleichgültig über die Roſe (94). Und auch hier braucht die allgemeine
Vorſtellung der Sage nicht überhaupt ausgeſchaltet zu werden, ſie ſpielt ſicher
noch mit. Dieſe Fabel bekommt die Kirchengeſchichte zur Lehrerin, und auch der
Vorſtellung der Kirchengeſchichte mengt ſich die allgemeine Vorſtellung der Ge⸗
ſchichte überhaupt bei. Daß aber die religiöfe Beziehung die vorherrſchende iſt,
ergibt ſich aus dem Dom und Wolfram, Dante, Novalis. Der Hergang iſt
nach dieſer Annahme der, daß Immermann zunächſt an fünf Religionen und
demnach fünf Knaben dachte, dann aber drei einſetzte, weil die Fünfzahl zu
unklar blieb. Fünf und drei hätten danach denſelben Sinn und bedeuteten
beide etwas.
In dem Knabenrätſel wird alſo die Vielheit fabulierender Welterkenntnis
von Klingſohr beiſeitegeſchoben, wie das auch von Merlin (und Immermann)
geſchieht; gegen ſie richtet ſich Klingſohr mit ſeinem ſpöttiſchen Skeptizismus
hier allgemein, wie er ihn in der Aufgabe, das Kind ohne Vater, d. h. das
Kauſalloſe, zu ſuchen, gegen das Chriſtentum ſpeziell zu richten ſcheint. Und
zwar tut er das Merlin gegenüber um ſo mehr, als er in Merlin doch einen
Vertreter der Religion ſehen muß. So wenig freilich Merlin von der Fabel
hält, lehnt er ſie ja auch nicht eigentlich ab, ſondern ſein Ziel iſt gerade, ihre
fabulierende Welterkenntnis und ihr Träumen zur Erfüllung zu führen in
ſeiner Wahrheit (2234 ff.). Deshalb geht ihm ſymboliſch auch Niniane in der
Artus⸗Szene voran. Merlins Jungfrau iſt deshalb das Gegenſtück zum ewigen
Weibe, dies hätte zu ihr keine Beziehung, ſondern zur Gralslehre. Immer⸗
mann ſuchte trotz aller Ketzerei immer noch eher eine Ahnung des Weſentlichen
in den Fabeln als in den andern Gebieten. Zur konſequenten Gralslehre dürfte
in dieſer Stellung allerdings ein Widerſpruch liegen, dem ich hier jedoch nicht
weiter nachgehen kann.
2. „Drei ſind es, welche zeugen.“
Ich bin nicht in der Lage, die Fäden zum Saint⸗Simonismus hinüberzu⸗
ziehen, die zu Immermann führen. Bekanntlich hat Immermann ihn ab⸗
Kritiſche Studien zu Smmermanns „Merlin“ _601
Be aber auseinandergeſetzt hat er ſich damit, wie denn der Zukunftsſtaat
(das Idealreich, Chiliasmus) und das Rechtsproblem praktiſch⸗politiſch und
geſchichtlich⸗theoretiſch bewegende Probleme der Zeit find. Es iſt das aber auch
für das Verſtändnis des „Merlin“ nicht ſonderlich wichtig, geht doch aus ihm
ohnehin eindeutig hervor, weshalb Immermann eigentlich jeden Chiliasmus
als unzulänglich ablehnen mußte. Denn es iſt ohne weiteres klar, daß Gral
und Chiliasmus völlig unverträglich miteinander ſind. Der Chiliasmus iſt
eine formulierbare Lehre, er will Inſtitutionen, die die Glückſeligkeit ver⸗
bürgen, wie ſie unausrottbare Sehnſucht jedes Menſchenherzens iſt. Auch der
Gral iſt Glückſeligkeit, aber dieſe Glückſeligkeit hat gar nichts mit irgendeiner
Lehre oder Inſtitution zu tun. Immermanns eigene Stellung entſpricht dieſer
Erwägung nicht konſequent. Er hat ſich mit chiliaſtiſchen Träumen getragen
und chiliaſtiſche Ideen auch noch nach dem „Merlin“ geäußert, weil er trotz
allem doch auch den Staat wollte und infolgedeſſen auch nach Inſtitutionen
Ausſchau halten mußte, die beſſere Verhältniſſe ſchaffen konnten. Und ſo „real⸗
politiſch“ er auch dachte und wußte, daß Inſtitutionen immer nur zeitlich be⸗
grenzten Wert haben, ſo wurde ſein Denken doch immer wieder dahin getrieben,
auch hinſichtlich der Inſtitutionen wenigſtens abſolute Werte zu erſehnen.
Immerhin ſind die chiliaſtiſchen Gedanken, wie der ganze Merlin⸗Komplex, nicht
bis zur letzten Präziſion ausgetragen. Bemerkenswert iſt nun aber, daß der
Chiliasmus, der in der Gralsſzene keine Stelle haben kann, eben von Merlin
ausgeſprochen wird an der Stelle 2524 ff. („Drei find es...). Und
gegen Fiſcher (S. 42) iſt zu betonen, daß die Vorſtellung vom „dritten Wun⸗
der“, von der Immermann im „Reiſejournal“ ſpricht, mit den Vorſtellungen
chiliaſtiſcher Art (2524 ff.) zuſammenfällt. Ob man von einem dritten Reich,
einem dritten Wunder, einem dritten Evangelium oder einem Zukunftsſtaat
u. ä. ſpricht, immer handelt es ſich um die Konſtruktion eines Endreichs des
Glücks als dritter Etappe. Von allen dieſen Konſtruktionen, die damals er⸗
richtet wurden, hat allein der marxiſtiſche Zukunftsſtaat die Möglichkeit erhal⸗
ten, ſeine Wirkſamkeit zu erproben, weil ſeine Idee von einer Intereſſenpartei
getragen wurde, während andere Konſtruktionen, nicht getragen von einer
Intereſſenpartei, die materielle Löſung nicht ſo ſehr oder gar nicht in den
Vordergrund ſtellten und infolgedeſſen nicht die breite Auswirkung erhielten.
Merlin mit feiner Wahrheit iſt Chiliaſt im religiös⸗philoſophiſchen Sinne und
nennt ſich mit den Verſen 2524 ff. als den, der das neue Reich bringt, wie das
natürlich jeder Philoſoph von ſich ſagt und ſagen muß, der glaubt, die ab⸗
ſchließende Erkenntnis zu haben.
In der angeführten Stelle iſt der erſte Moſes, er erſchien im Leben, denn
ſein Wirken war eins durch ſein Leben; der zweite war Jeſus als der Chriſtus,
er erſchien im Tode und bezeugte ſich durch feinen Tod als Chriſtus; der dritte
ward verheißen (mit Bezug auf Joh. 14, 26), das iſt der Paraklet, Merlin
ſelbſt. Run hat Immermann den Merlin als den „Antichriſten“ in moderner
Form aufgefaßt, nicht als den mit Bewußtſein Widergöttlichen, wider Gott
Streitenden, ſondern als den mit untauglichen Mitteln für Gott Streitenden,
602 Karl Schultze⸗Jahde
und ſo iſt denn auch an die bekannte Stelle 2. Theſſ. 2, 1 ff. zu erinnern, wo
Paulus den Widerſacher prophezeit, der zur Prüfung kommen muß: Merlin
hält ſich für den Parakleten, der zur Erfüllung kommen ſoll, um das Reich
Gottes herbeizuführen, und gibt ſich dafür aus, in Wirklichkeit iſt er der ver⸗
heißene Antichriſt, der zur Prüfung der Menſchen kommt, ihm verfallen die
Artusmenſchen; ſie wollen zu Gott und kommen zu Satan in den Hades. So
ſieht Merlins Sendung aus.
„Merlin“ iſt für Immermann ein Anſatz, mit dem er theoretiſch über den
Chiliasmus prinzipiell hinwegkam. Praktiſch überwand er den Chiliasmus
nicht ganz, wenigſtens blieb er in einem Widerſpruch zwiſchen chiliaſtiſchen
Träumen und ſolidem, erdgebundenem politiſchen Denken. Ninianes Lockung
widerſtand er nicht vollig.
3. Das Zauberwort.
Fiſcher a. a. O. 47 ff. hat dieſe Stelle 2992 mit dem Waldmärchen im
„Münchhauſen“ in Beziehung geſetzt; mir ſcheint, dieſe Beziehung läßt ſich
noch vertiefen. In dem Märchen klingen allerhand Motive an: Prinzeſſinen⸗
raub, Dornröschen, Zauberlehrling, Jüngling zu Sais. Der Sinn iſt klar:
das Leben läßt ſich nicht von der Wiſſenſchaft einfangen. Gewiß mag ſie ein
Zauberwort — ein anderes Symbol für die Macht über die Natur iſt Fauſts
Schlüſſel — haben, das ihr ermöglicht, tiefe Blicke in Natur und Leben zu tun,
aber das Eigentliche wird mit dem Wort nicht erfaßt, daher wohl auch die
merkwürdig wie karikierend anmutenden Züge im Erleben Peters. Mit dem
Wort gewinnt der Menſch Gewalt über die Natur, aber er hat ſie nicht, iſt ſie
nicht; und mit der Gewalt über die Natur iſt auch der Fluch verbunden, daß
der Menſch ſich ſelber verliert, er altert und büßt ſeine Friſche, ſein eigenſtes
naives Leben aus unmittelbarem Gefühl heraus ein. Mit Recht hat Maync
für Klingſohrs Worte 1170 ff. ebenfalls auf das Waldmärchen hingewieſen.
Der Menſch, der ſich an das Objekt verliert, büßt ſein Subjekt ein. Gewiß aber
iſt es weniger die Wiſſenſchaft im Sinne der Vernunft des Schnotterbaumſchen
Teſtaments als die Gelehrſamkeit, die zwar wiſſend macht, aber alt. Sie ver⸗
fehlt jede Lebensnähe und alle einfachen Wege: gelehrte Theorie mag dem Kopf
genügen und neue Dinge finden, auch Gewalt über ſie bekommen, aber es fehlt
das Herzblut. Zwiſchen dieſen verſchiedenen Arten hat Immermann vielleicht
nicht präziſe begrifflich geſchieden, und es ſcheint zuweilen doch, als zitterte
trotz des Schnotterbaumſchen Preiſes der Vernunft hie und da ein Nachklang
der alten Vorſtellung, daß man mit der Wiſſenſchaft zum Zweck der Natur⸗
beherrſchung Gott in ſein Regiment fahre, wie Miniſter Hardenberg ſchließlich,
nachdem er jahrelang dem Magnetismus gehuldigt, am Ende ſeines Lebens
zu der Überzeugung kam, „daß die übertriebene Meinung von ihm ganz un⸗
vereinbar iſt mit reinen Begriffen von Gott“ (W. Erman a. a. O. S. 107),
eine Stimmung, wie ſie früher bei ängſtlichen Gläubigen oft zu finden war
und den mittelalterlichen Menſchen beherrſchte. Dem komplizierten Motiv⸗
komplex des „Merlin“ würde ſich dieſer Zug ohne Schwierigkeit einfügen (vgl.
auch im folgenden 4).
*
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 603
Der Schnarchende in der Höhle, in der Form der Symbolik an Ibſens
„großen Krummen“ erinnernd, iſt eine Allegorie der Forſchung in Geſtalt
eines Profeſſors, für den ihm auch eine lebendige Geſtalt Modell geſtanden
haben mag. Die Forſchung erbaut ſich eine Höhle, wo ſie wie ein Drache auf
ihren Schätzen liegt, und Peter hat immerfort zu tun, alle Ritzen zu verſtopfen,
damit nur ja kein Tageslicht hereindringt, bis ihn die Verzweiflung (Fauſt⸗
monolog) übermannt und er davonläuft, als es — zu ſpät iſt. Mit dem ganzen
wiſſenſchaftlichen Apparat vermag er Dornröschen nicht zu befreien, Konrad
aber, unbelaſtet von Theorie, lediglich von ſeinem unmittelbaren lebendigen
Drange getrieben, erweckt die vom Kanker umſponnene Prinzeſſin. Auch dieſer
Kanker iſt nur eine andere Verkörperung wiſſenſchaftlicher Theorie in anderer
Wendung, hier liegt, ſcheint mir, die Beziehung zur naturbeherrſchenden, aber
auch umſpinnenden Technik zutage. Denn der Kanker iſt in ſeinem bürgerlichen
Berufe ein Garnſpinner; Technik treibt die Natur aus, verdirbt ſie. Es iſt alſo
dasſelbe Problem wie z. T. in den „Epigonen“ oder auch im „Münchhauſen“,
wo dieſer Gegenſatz das Ganze in anderer Weiſe beherrſcht. Die vielfältig ſich
verfitzenden Motivreihen klar herauszuſchälen, iſt eine Aufgabe, von deren
befriedigender Löſung auch die Deutung des „Merlin“ abhängt.
Das Zauberwort ſelbſt ſcheint dem Meiſter nicht zu ſchaden, doch zeigt ſich
auch an ihm der allgemeine Zug des Alterns: Merlin iſt nie recht jung geweſen.
Der Schüler Peter aber kommt in Wirrnis, und Merlin wird verzerrt, als
Niniane das Wort ausſpricht. Andererſeits aber: iſt Niniane als Verkörperung
des Widerſpruchs vielleicht auch eine Verkörperung des Lebens (2948), das ſich
der Theorie nicht fügt („Und was ſie dir nicht offenbaren will, das zwingſt du
ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben“, Fauſt), das aber auch von Merlin
nicht in feiner friſchen Unmittelbarkeit geſehen wird (2946/7)? Unterſtützt
wird ſolche Deutung vielleicht durch die Erwägung, daß Konrad dem Lohen⸗
grin entſpricht, dem ſich das Leben aus ſeinem Gemüt heraus offenbart. Das
Zauberwort nun entſpricht dem „einen Mark der Dinge, welches hier im Metall
laſtet und wieget, dort in der ſchwankenden Pflanze, im leichtſinnigen Vogel
vom Urkern ſich abzulöſen ringt. Alles wandelt und verwandelt ſich; Gott
wirkt zwar in der Natur, aber die Natur wirkt auch für ſich [Satans Auffaſ⸗
fung], und wer der rechten Kräfte Meifter iſt, der kann ihr eigenes und ſelb⸗
ſtändiges Leben hervorrufen, daß ihre ſonſt in Gott gebundenen Glieder [Mer⸗
lins Auffaflung] ſich zu ganz neuen Regungen entfalten.“ Und wenn Peter
dann von dem „Großen, Unergründlichen, dem dialektiſchen Gedanken“ ſpricht,
ſo ſind wir ja auch wieder in der Sphäre Hegels, d. h. Merlins. Mit dieſem
Wort gelangt man an die Urkraft, den letzten einen Kern der Natur.
Das Waldmärchen iſt alſo wieder eine Spiegelung des Grundproblems
Immermannſcher Weltanſchauung und ein kleines Gegenſtück zum „Merlin“
und „Münchhauſen“ ſelbſt. —
Hinzugefügt ſei nur noch, daß die ſzeniſche Bemerkung, an der Fiſcher
(S. 48) in mir unverſtändlicher Weiſe Anſtoß nimmt, als ob Immermann ein
künſtleriſcher Vorwurf daraus zu machen wäre, daß er ſelber das Wort nicht
604 Karl Schultze⸗Jahde _
wußte, wie er in der Stonehenge⸗Szene die Herrlichkeit der Himmel felber
nicht hervorzaubern konnte, doch nicht anders zu bewerten iſt als wenn im
„Egmont“ das Datum undeutlich geleſen werden ſoll. Gewiß hätte Immer⸗
mann hier irgendein geheimnisvoll klingendes Wort nennen können, und es
iſt vielleicht nur eine realiſtiſche Marotte, ein beliebiges Wort, weil er das
eigentliche tatſächlich nicht kennen kann, nicht zu formen; immerhin wird der
Spielleiter in der Aufführung ſchon ein geheimnisvoll klingendes, vom Zu⸗
ſchauer nur halb zu verſtehendes Wort finden können, ſo daß der Zuſchauer
von Geheimnis umwittert wird; das abgedroſchene abracadabra oder hokus-
pokus darf es freilich nicht fein. Hätte Immermann aber felbft ein eigenes
Wort geprägt, ſo würde dies bei der Aufführung mindeſtens dem, der den
„Merlin“ kennt, abgedroſchen klingen und damit gerade feine Wirkung vers
fehlen. Hätte er alſo präzis ſein wollen, ſo hätte er für den Spielleiter eine
ausführlichere ſzeniſche Bemerkung einfügen müſſen, doch weiß ich nicht, was
damit etwa gewonnen wäre.
4. Zur Geſtalt Satans im Vorſpiel.
Das Vorſpiel kann bezüglich der Geſtalt Satans leicht irreführen, denn
während er mit ſeinen Teufeln das Reich der Natur im weiteſten Sinne —
der ganze Naturbegriff des 18. Jahrhunderts ſpielt mit herein — einſchließlich
des Menſchen bedeutet, iſt Luzifer nur im herkömmlichen Teufelsſinne als das
zerſtörende Element des Vergehens gekennzeichnet, nicht von der Seite des
Schaffens und Werdens her beleuchtet, um ſo ſtärker aber ſind die Stellen zu
betonen, in denen Satan ſchon im Vorſpiel auf dieſe Seite hinweiſt (beiſpiels⸗
weiſe 251, 279). Das ſieht wie ein Widerſpruch aus, der ſich durch das ganze
Stück zu ziehen ſcheint und auch der Niniane Züge von Frau Welt und Sünde
geliehen haben könnte. Ich habe darauf bereits a. a. O. hingewieſen. Dieſer
ſelbe Zug tritt auch am Schluß hervor, wenn Satan Merlin mit etwaiger Reue
an Gott weiſt.
Nun iſt aber kaum zu glauben, daß Immermann einen ſo auffallenden
Widerſpruch nicht ſelber geſpürt hätte, und man muß deshalb verſuchen, eine
Interpretation zu finden, die dieſen Widerſpruch auflöſt. Sicherlich kommt ein
Teil der Unklarheiten auf Rechnung des Beſtrebens, die vielfältigen Motive,
die ſich aus der Zuſammenſchmelzung der Sage mit alten und neuen Ideen
ergaben, zu verbinden, aber dieſe Zuſammenſchmelzung muß doch wiederum
auf einer Anſchauung Immermanns beruhen, in der ſie ſich verſchmelzen konn⸗
ten. Gelingt das auf keine Weiſe, ſo mag man dieſe Unſtimmigkeit philo⸗
ſophiſcher Unausgeglichenheit und künſtleriſcher Unzulänglichkeit zuſchreiben.
Hier ſei auf einige Punkte hingedeutet, von denen aus man der Sache mögs
lichenfalls beikommen könnte.
Satan iſt Demiurgos, Schöpfer der mechaniſchen und ethiſchen Kauſalität
im Naturſinne, Prinzip naiver Sinnenfreude, Prinzip der Naturbeherrſchung.
Hierzu gehört natürlich auch das Vergehen und das Zerſtören. Dieſe Vorgänge
ſind Auswirkungen der Keime, die von vornherein in jedes Ding gelegt ſind
(1490 ff., insbeſondere auch 1498/00, wo bezeichnenderweiſe das „Volk“ als
der unverwüſtliche Mutterboden bezeichnet wird). Dies zerſtörende Element
iſt in chriſtlicher Auffaſſung Folge der Sünde als des Abfalls von Gott. Und
es muß dieſe Zerſtörung oft auch das Geſicht des Widerſinnigen bekommen,
ſobald man aus der Kauſalitätsbetrachtung heraustritt; hier beginnt das
Hiobsproblem in ſeinen vielfältigen Abſchattierungen. Und in der Tat kann
dann dieſe Zerftörung auch den Anſchein gewinnen, als ſeien böfe Mächte am
Werk, die gerade den Frommen verfolgen; von Satans Welt aus ſtellt ſich die
Sache dann ſo dar, als ſei die ſinnloſe Zerſtörung ein Wüten gegen die gött⸗
liche Welt. Das iſt der Sinn Luzifers. Es iſt, als ob die Natur ſich an den
Menſchen, die ihr entwachſen, rächen und ſie ſtrafen wollte; daß die Menſchen
ſich von der Natur löſen, iſt nach Immermann eine Wirkung des Chriſtentums,
und nicht nur nach Immermanns Auffaſſung; die Wiedereroberung der Natur
iſt eins der großen Probleme von der Renaiſſance an und ein Motiv ſaint⸗
ſimoniſtiſcher Gedankengänge. Das ſagt auch Satan im Vorſpiel, und das iſt
ſein Kummer: die Welt iſt zwieſpältig geworden, der Widerſpruch Herr der
Welt („Tulifäntchen“). Nun aber vermag die ſtrafende Rache der Natur doch
nichts gegen die Welt des Logos, und deshalb, weil die Natur aus ihrem Ge⸗
leiſe iſt, muß ein anderer Plan zur Ausführung gelangen: Satan muß die
Welt des Logos in ſich überwinden; das iſt der Sinn der Zeugung aus der
„reinen Jungfrau“ Candida. Auch ihr gegenüber zeigt ſich Satan deshalb als
Herr der Natur. Er iſt nicht der bloße Verführer Candidas durch Sinnenluſt;
er lehnt dies Mittel, das Luzifer vorſchlägt, entſchieden ab. Sondern an Can⸗
dida zeigt ſich die Natur mit ihrer ganzen Gewalt aus ihr ſelbſt heraus; ſie
hat ihre Kräfte überſpannt, und der unvermittelte Umſchlag von asketiſcher
Frömmigkeit zu Sinnenluſt iſt eine Revolution von innen heraus, nicht eine
Verführung von außen her. Dieſer Umſchlag iſt nicht darin begründet, daß
„die Extreme ſich berühren“, die beiden Geſinnungen ſind genau ſo gegenſeitig
bedingt, wie in mittelalterlichen Beiſpielen der Marienverehrung die Andacht
der Askeſe oft verkappte Sexualität und Erotik war. Candida, weil ſie mit
ihrer Reinheit prunken kann, ſteht nicht auf feſtem Boden, ſie ſpürt zutiefſt das
Naturelement Satans, er lebt ſchon in ihr; demgegenüber muß ſie ſich und
andern zeigen, daß ſie rein iſt. Ja, dies ihr Prunken mit ihrer Reinheit iſt ſchon
ſinnliche Erregung, die ſie, allerdings in gewaltigem Aufbäumen, Satan in die
Arme wirft; ſie „muß“, es iſt nicht ihr freier Wille, im Gegenteil: ſie kann
gar nicht anders aus einer inneren Konſequenz heraus; Satan als die zwin⸗
gende Naturmacht, als der „Herr vom Muß“, wird ihrer Herr. Aber freilich
hat Satan ſie nicht ganz, ſie leidet am ſelben Widerſpruch wie nachher ihr
Sohn Merlin: „Hätt' ich mich noch ſelber, gäb' ich wieder doch mich ſo ver⸗
loren; aber freilich wünſcht' ich lieber, daß ich nimmer wär' geboren.“ Deshalb
iſt aber auch Satans Plan ausſichtslos, den Logos aus der Welt herauszu⸗
bringen. Iſt Satan der Herr vom Muß, ſo tritt ihm in der Logoswelt etwas
Gegenſätzliches entgegen, was für Immermann ein zentrales Moment ſeiner
Weltanſchauung iſt, das Arationale, das er in ſeiner ganzen Freiheit und
606 | Karl Schultze⸗Jahde
dings in der üblichen Bedeutung, nicht prägnant, in der Montſalvatſch⸗Szene
vor. Mit dem Zufall als dem Gegenpol der Kauſalität hängt auch die unkauſale
Gnade zuſammen und ebenſo die Prädeſtination, die keine Gründe kennt. Der
Zufall iſt bei Immermann geradezu an die Stelle der Vorſehung getreten (vgl.
auch das Schnotterbaumſche Teſtament); der Begriff der Vorſehung enthält
den Begriff der Berechnung, und dieſer gehört in die ſataniſche Welt.
Der Fehler von Merlins Auffaſſung, mit der er Satan und Gott in der
Formel „Natur in Gott“ zu vereinigen ſucht, liegt nach Immermanns Auf⸗
faſſung, wie mir ſcheint, darin, daß das Logoselement dabei überſehen wird,
es müßte heißen: Natur (Satan) und Logos in Gott als ſeine beiden Seiten.
Was aber der Logos ſei, läßt ſich im Grunde nicht definieren, weil er eben das
Unberechenbare, Unformulierbare, nur Erlebbare iſt, das, was ſich im Gral
verkörpert; Gott ſchließt beides in ſich als, in hegeliſcher Terminologie zu reden,
„aufgehobene Momente“ ſeiner Selbſtentwicklung. Im übrigen ſcheint mir, daß
die Konſtruktion Immermanns doch eben nicht völlig ausgetragen iſt; iſt näm⸗
lich der Logos der Gegenpol der Einheit und Freiheit gegenüber Satan mit
ſeiner Mannigfaltigkeit und Kauſalität und ſind beide die Stücke der ſich ent⸗
zweienden Gottheit, ſo iſt es merkwürdig, daß der Logos erſt mit dem Chriſtus
im Chriſtentum wirkſam wird. Dieſe Unausgeglichenheit hängt damit zuſam⸗
men, daß Immermann vom Chriſtentum ausging und bei aller ketzeriſchen
Vorurteilsloſigkeit auch daran gebunden blieb.
Hiermit hängt auch die Unklarheit in der Beurteilung der Erotik zuſammen.
Zwar iſt ein Hauptpunkt klar: vom Gral ſchließt ſie nicht aus, und zwar
deswegen, weil hier die Gegenſätze Satan und Logos keine Rolle ſpielen als
das Böſe und Gute; wir ſtehen, wenn auch eine Höherwertung des Logos das
Bild trübt, auf einer ganz anderen Ebene, für die ethiſche Begriffe überhaupt
keine Rolle ſpielen, ſie würden gerade in Satans Welt wieder hineinführen.
Für Placidus und Candida, die keine Gralsmenſchen ſind, iſt die Erotik das
Böſe; von der Gralslehre aus iſt fie weder gut noch böfe, und eben deshalb
hat die ſaint⸗ſimoniſtiſche Emanzipation des Fleiſches, die ſie als gut bezeich⸗
nete, für Immermann keinen Sinn von der Gralslehre aus. Womit nicht be⸗
ſtritten werden ſoll, daß dieſe prinzipiell klare Linie ſich in dem vielſpältigen
Motivgeflecht doch trübte. Die Liebe zu Niniane kann deshalb keinen Vorwurf
gegen Merlin begründen, tut es auch nicht; die Wirkung der Liebe auf Merlin
muß anderswo liegen. Er fühlt ſie als Gegenſatz zu ſeinem Weſen. 2341:
„Denn alles, was da lebt und regt und ſich in eigener Formation bewegt, ſteht
näher mir als ich mir bin uſw.“, er hat ſich an die Welt hingegeben, er lebt
im Objekt als einer, der über dem Objekt ſteht, die Liebe aber macht ihn zum
Subjekt und reißt ihn zugleich in die Welt der Objekte hinein neben ſie; in⸗
ſofern iſt fie ein Fall. So kann er aber nur empfinden, weil er den Gral nicht
erlebt hat. Mit der Konſtruktion 2483 ff., die mir nicht in allem einzelnen klar
iſt, täuſcht er ſich einen Ausgleich vor, findet ihn aber nicht, ſondern kommt im
Widerſpruch um.
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 607
Man kann noch weiter gehen. Immermann hat in den „Epigonen“ der Be⸗
kehrungsgeſchichte Dantes Verſe von der Liebe ſozuſagen als Abfchluß gegeben
und iſt damit auf die Spur getreten, die Origines mit der Gleichſetzung von
agape und eros wies. Er ſteht damit auch mit Goethe auf gleichem Boden,
der in dem Erſcheinungsjahre des „Merlin“ noch nicht erſchienenen zweiten
Teile des „Fauſt“ die Liebe als das allbewegende Agens ebenfalls auffaßt.
Nun hat zwar Immermann den „Merlin“ nicht auf dieſe Baſis geſtellt, immer⸗
hin ſpielt dieſe Idee hinein. Iſt nun Niniane der verkörperte Widerſpruch oder
vielleicht nach obigen Erwägungen beſſer noch als das ſich jeder Theorie ent⸗
ziehende Leben aufzufaſſen, das ihr widerſpricht, dann wäre Merlins Liebe
zu Niniane ein Erwachen Merlins aus ſeiner Verſtricktheit mit dem Objekt
zu einer Subjektivität des Erlebens, die das Leben nun unmittelbar erfaſſen
will und der die Ahnung kommt, daß hier das Leben im eigentlichen Sinne
liegt. Damit iſt dann Merlin mit ſeiner Weisheit wirklich in dem Augenblick
von innen heraus geſcheitert, wo er Niniane liebt, um ſo mehr als er dieſe
„Liebe“ nicht als das erkennt, was ſie iſt, ſondern darüber wieder reflektiert
und ſo ſich wieder objektiviert und dieſer Regung in Reflexion beizukommen
ſucht. Eine naive Hingabe an Niniane, an Welt und Leben iſt ihm unmöglich,
und ſo entzieht ſie ſich ihm, er hat ſie nicht, wie ihr auch die Artusmenſchen
nur Träume verdanken: ſie träumen nur von einem eigentlichen Leben, ſie
erſehnen es, aber es kommt nicht zu ihnen, winkt ihnen nur von fern. Ihnen
allen fehlt das geduldige Warten auf das Wunder, das ſich nicht erſehnen,
nicht ſuchen läßt, das ſich eines Tages von ſelber einſtellt und ſich in einer
„Meeresſtille des Gemüts“, wie ein griechiſcher Philoſoph eine ſolche Gemüts⸗
verfaſſung nannte, als Geſchenk von ſelber darbietet. Dann aber hat Niniane
auch ein anderes Geſicht und iſt nicht Niniane, ſondern Gral.
Gewiß bieten dieſe Erwägungen noch kein abſchließendes Ergebnis, ſondern
haben mehr den Charakter von Hilfskonſtruktionen, doch möchte ich glauben,
daß die Löſung in dieſer Richtung zu ſuchen iſt. Auch der Zweifel iſt ſicherlich
erlaubt, ob völlige Klarheit zu erhalten ſein wird. Vielleicht iſt „Merlin“ doch
am Ende nur ein mächtiger, nicht voll ausgeglichener Anlauf zur Bewältigung
einer großen Konſtruktion; da aber wenigſtens über das zentrale Gralserleb⸗
nis und die Hauptpunkte im großen ganzen Klarheit zu erzielen iſt, ſo lohnt
es ſich, den Einzelheiten und Dunkelheiten immer wieder um deswillen nachzu⸗
gehen, weil hier aus einem bedeutſamen menſchlichen Erlebnis eine eigenartige
künſtleriſche Form erwuchs, die keine näheren literariſchen Vorläufer hat, wor⸗
auf im folgenden unter 6 noch kurz eingegangen ſei. „Merlin“ ſtellt alſo nicht
bloß eine literaturgeſchichtliche, ſondern auch eine ſpezifiſch literatur⸗äſthetiſche
Aufgabe.
5. Zu Gottes und Satans Stammbaum, Nachſpiel 3305 ff.
Maync bemerkt in feiner Ausgabe S. 410 in Fußnote, Immermann überſehe,
daß Satan bereits in der Stonehenge⸗Szene den Stammbaum offengehängt
habe, als er ſich für einen Teil der Gottheit erklärte. Das ſtimmt nicht, denn
608 | Karl Schultze⸗Jahde
Satan hat ſich dort über dieſe Frage nicht ausgelaſſen, ſondern dieſer Stamm⸗
baum iſt Merlins Theorie von der Natur in Gott. Es iſt auch nicht wahr⸗
ſcheinlich, daß Immermann das überſehen haben ſollte, denn dieſe Theorie iſt
ja gerade ein Stück Kern des ganzen weltanſchaulichen Problems. Es wäre
doch auch unmöglich, wenn Satan dieſe Theorie Merlins, die dieſer in der
Stonehenge⸗Szene Satan darlegt, als eine neue Erfahrung bezeichnen wollte,
die Merlins Augen ſchwerlich geſehen hätten. Hier muß noch etwas anderes
ſtecken, das freilich nur erraten werden kann, wenn auch doch vielleicht mit ziem⸗
licher Sicherheit. (Anders H. Herrmann Arch. f. d. Stud. d. n. Spr. Bd. 125.)
Zunächſt iſt zu 3304/5 zu bemerken, daß die Stonehenge⸗Szene eine Viſion
bringt, bei der Merlin zwar die Himmel ſich öffnen läßt, aber nicht Gott
zwingt, ſich ſelber zu offenbaren. Dieſe Viſion iſt eine Parallele zu Dantes
Viſion des Paradiſo, zu dem ihn Beatrice leitet. Ganz trivial geſprochen,
iſt es doch nichts anderes, als wenn jemand einem anderen irgendein neues
Objekt zeigt und ihm dazu eine erklärende Theorie gibt. Dieſe Viſion bietet
das Objekt, demgegenüber verſchiedene Auffaſſungen möglich ſind, ſie werden
nicht mit dem Objekt eindeutig geboten. Es iſt deshalb einwandfrei, wenn
Satan ein neues Erfahren daraus gewinnt, von dem er freilich erſt hier un⸗
beſtimmte Andeutungen macht. Warum das erſt hier geſchieht, wird nicht ge⸗
ſagt, doch liegt der Grund dafür zweifellos in der Erſchütterung Satans durch die
Viſion und darin, daß er im Moment ſieht, daß Merlin für ihn verloren und
nicht zu gewinnen iſt. Die Erſchütterung Satans durch die Viſion wäre danach
aber auch nicht auf eine Erſchütterung durch die im Sinne Merlins gedeutete
Viſion zu rechnen, ſondern eben auf die blitzartige neue Erfahrung Satans.
Und es ſpielt ſich dort und hier zwiſchen Satan und Merlin eine erhabene
Tragikomödie ab, wenn beide den Partner durch eine falſche Theorie über⸗
winden zu können glauben. Aber wie lautet Satans neue Theorie?
Das Ergebnis der Betrachtung Lohengrins in der erſten Szene des Nach⸗
ſpiels iſt ein niederdrückender Peſſimismus. Und daß Lohengrin, trotzdem er
das Gralserlebnis hatte, dieſen Peſſimismus ausſprechen kann, wird damit
erklärt, daß ihm „ein irdiſch Regen noch im Buſen ſpielt“ (3119). Lohengrin
iſt hier unverkennbar eine Verkörperung der eigenen Stimmungen Immer⸗
manns, dem trotz Gral doch peſſimiſtiſche Stimmungen die hohe Heiterkeit
und unangefochtene Ruhe des Gralsmenſchen ſtören und trotz des Gefühls
der Geborgenheit hinſichtlich des eigenen Schickſals drückt doch das Leid der
Welt auf ihn und kann er die theodizeiſtiſchen Zweifel und Anfechtungen nicht
überwinden: warum muß das alles ſo ſein? (vgl. den zuſammenfaſſenden Schluß
„Der Mann und das Werk“ in Mayncs Biographie). Es iſt mir nicht bekannt,
ob Immermann mit Schopenhauers Syſtem irgendwie in Berührung gekom⸗
men iſt, für die Interpretation iſt es auch gleichgültig, aber in der Betrachtung
Lohengrins rauſcht der ſchwere Faltenſchlag der „ſchwarzen Fahne der Ver⸗
nichtung“ im Sturm des Elends, wie im Schopenhauerſchen Pandiabolismus,
der ja das gerade Gegenſtück zu einem Pantheismus iſt, der die Güte Gottes in
der rationaliſtiſch konſtruierten ethiſchen Kauſalität einer das Ganze durch⸗
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 609
waltenden und das Gute belohnenden Gerechtigkeit herrſchen ſah. Das iſt ja
eben auch Merlins Meinung, in der Kauſalitätsauffaſſung iſt er Satans Sohn.
Der Sieg des Guten wird von Immermann wie von Schopenhauer abgelehnt.
Und das Erlebnis Lohengrins iſt im Grunde auch kein anderes als das Satans,
nur daß Satan ſelbſtverſtändlich anders färbt und ſich bejaht. Für ihn iſt es
nicht Pandiabolismus in einem peſſimiſtiſchen Sinne, ſondern im Sinne ſeiner
Selbſtexplikation in der Stonehenge⸗Szene. Dort hatte er ſich über ſeinen und
Gottes „Stammbaum“ nicht ausgelaſſen, und ſeine neue Erfahrung muß die⸗
ſelbe ſein, die in den Worten des Mephiſtopheles im „Fauſt“ ſteckt: „Ich bin
ein Teil des Teils, der anfangs alles war, ein Teil der Finſternis, die ſich das
Licht gebar, das ſtolze Licht, das nun der Mutter Nacht den alten Rang, den
Raum ihr ſtreitig macht“. Das iſt in Immermanns Sinne die peſſimiſtiſche
Antwort auf die Theodizee⸗Frage, es iſt eine Diabolodizee. Die erſte und
zweite Szene des Nachſpiels ſtehen deshalb aber damit auch im engſten gedank⸗
lichen Zuſammenhange: die verzweifelnde Frage Lohengrins wird von Satan
mit einer metaphyſiſchen Andeutung beantwortet. Die angezogene Fauſtſtelle
enthält ja den Kern der Schopenhauerſchen Lehre.
Mit anderen Worten: „Merlin“ entſpringt wie „Fauſt“ dem Problem der
Theodizee, er wird aber mit der Gralslehre einer prinzipiell anderen Löſung
zugeführt, doch hat Immermann, wie Lohengrin, ſich dieſer neuen Löſung
nicht reſtlos hingeben können, er erwägt ſogar das gerade Gegenſtück einer
Theodizee, ohne daß davon die Gralslehre ſelber berührt wird. Daher denn
der peſſimiſtiſche Schluß der Mythe und der Gedanke, Merlin doch zu erlöfen,
ein Gedanke, der mit der e in ihrer Ausſchließlichkeit unverträglich
erſcheint.
Die Paralleliſierung mit Schopenhauer ergibt aber eine verſuchsweiſe anzu⸗
deutende Perſpektive zur Stelle 2680. Gewiß, die ſtoffliche Grundlage mag das
Prieſterreich des Johannes ſein, aber was hat dies Verlegen des Gral nach
Indien zu bedeuten? Liegt hier vielleicht nicht doch auch eine dunkle Andeu⸗
tung auf buddhiſtiſche Stimmungen vor? Sie würde für Immermann bei
ſeinem weiten Chriſtentum keine Inkonſequenz bedeuten, iſt ſie doch auch
gänzlich in dem Dämmer eines Vielleicht gehalten wie ebenfalls die ſpäteren
chiliaſtiſchen Stimmungen. Und der Kern der Gralslehre iſt der Nirwana⸗
Stimmung durchaus verwandt. So wie ſich ſolche Stimmungen im „Merlin“
ausgeſprochen finden, deuten ſie auch viel mehr auf eine große wogende Vor⸗
ſtellungs⸗ und Gefühlsmaſſe als auf klar begriffliche Linien und ſcharf ab⸗
gegrenzte Formen. So wichtig es iſt, die einzelnen Motivreihen für die Inter⸗
pretation präzife herauszupräparieren, fo unerläßlich iſt es auch, fie in ihre
unſcharfe Verflechtung zurückzuführen und das Dämmerſpiel wieder her:
zuſtellen, aus dem die Merlin⸗Szenen auftauchen. Zuvor aber müſſen die ein⸗
zelnen ſicheren oder auch möglichen Motive heraufgehoben werden, wie ſie ur⸗
ſprünglich auch Immermann nahetraten, um dann als einzelne mehr oder min⸗
der klare Wellen in ſeinem Erlebensſtrome mitzuwirken. |
"Supborion XXVII. 39
6. Zur Kompofition.
Soweit ich fehe, ift die Kompoſition von Immermanns „Merlin“ noch
nirgends näher betrachtet worden, obwohl mir ſcheint, daß fie gerade für
die Frage der künſtleriſchen Selbſtändigkeit Immermanns, die man nicht recht
gelten laſſen will, von weſentlicher Bedeutung wäre. Aus eigener Er⸗
fahrung geſtehe ich, daß ich mich, als ich zuerſt vor 16 Jahren an „Merlin“
herantrat, gar nicht darin zurechtfinden konnte und ihn nach einem Verſuch,
beiſeitelegte. Und ſolange ich mich nun auch damit eingehender beſchäftigt
habe, hat es mir immer geſchienen, als wäre das Drama ſehr unüberſichtlich.
überblickbarkeit auf Anhieb iſt nun aber gewiß kein abſolutes künſtleriſches
Kriterium, und es laſſen ſich Beiſpiele derart genug nennen, bei denen der
überblick über das Ganze nicht ohne weiteres ſo leicht iſt. Erſchwerend iſt
ganz ohne Zweifel auch die Gewöhnung an die übliche Fünfakteinteilung, die
Immermann im „Merlin“ ſo wenig hat wie Kleiſt im „Zerbrochenen Krug“
und in „Pentheſilea“. Aber ihre Art zu komponieren iſt durchaus verſchieden,
und es drängt ſich bei Immermanns „Merlin“ zunächſt der Eindruck auf, er ſei
mehr ſtimmungsmäßig von Szene zu Szene fortgegangen. Das würde natürlich
nur ein Verlegenheitsausdruck ſein und nur bedeuten, daß „Merlin“ im Grunde
überhaupt nicht eigentlich überlegt komponiert ſei, aber es müßte ſich doch dann
auch der Stimmungsfaden aufzeigen laſſen, der durch das Szenenlabyrinth
führte.
An dieſer Meinung aber macht mit Beſtimmtheit ein kleines Szenenſtück
irre, das den Eingang der zweiten Szene des Hauptſpiels „Der Gral“ bildet.
Warum, fragt man, ſchiebt Immermann hier die ganz kurze Begegnung Mer⸗
lins mit Satan ein, die doch nicht nur bedeutungslos und entbehrlich, ſondern
auch in bezug auf Satans Verhältnis zu Merlin etwas mißverſtändlich er⸗
ſcheint, weil ſie Satan drückt? Mir ſcheint: da die erſte Szene mit Placidus,
wo Merlin zum erſtenmal, und zwar als knabenhafter Jüngling auftritt,
um ſich erſt am Schluß im Monolog zum Manne zu wandeln, nur erſt die
Präliminarien gibt, gleich daran aber die Szene des burlesken Kay anſchließt,
die natürlich die Stimmung ſpaßig macht, ſo wird mit dieſer kurzen Begeg⸗
nung, die Merlin als Mann zeigt, die Einleitung zu einem neuen, dem ent⸗
ſcheidenden Lebensabſchnitt Merlins, der in der Auseinanderſetzung mit Satan
beſteht, gegeben und ein wirkungsvoller Drücker geſetzt, der ſofort das Stim⸗
mungsniveau hebt und das Folgende wie mit ſcharſer Betonung von dem
Vorausgehenden abhebt. Merlin erhält dadurch, daß er in knapper wirkungs⸗
voller Szene mit wenigen Worten und Gebärden ſeine völlige Selbſtändigkeit
dokumentiert, und daß Satan im Grunde hier ſchon bezeugen muß, daß ſein
Plan mißlungen iſt, weil Merlin nicht ſein Werkzeug ſein will, ein außer⸗
ordentlich ſtarkes Gewicht, daß er auch ſofort in der anſchließenden Szene mit
dem Täfelchen braucht. Man erkennt, daß dieſe Handlung Merlins wahrlich
nicht in den von Kay angeſchlagenen Ton paßt, ſondern etwas völlig Gegen⸗
ſätzliches iſt. Man denke ſich Satan weg, und die Szene wird matt. Weiter
ift die knappe ſiebenzeilige Szene mit Kay ſehr überlegt aufgebaut. Zunädft
„Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin 611
nach der kurzen mächtigen Begegnung mit Satan, die vom Spielleiter in bezug
auf die Geſtalten Merlins und Satans und in Anbetracht deſſen, daß ſie für
wuchtiges Sprechen keine beſondere Gelegenheit gibt und das meiſte der Ge⸗
bärde zuweiſt, gar nicht zu wuchtig angelegt werden kann, wendet ſich Merlin
nach dem ganz leicht ironiſch ſchillernden ernſthaften Dank an Satan überlegen⸗
gutmütig zu dem ſchlafenden Ritter, dann kommt, um dieſen Eindruck nicht zu ſtark
und mißverſtändlich werden zu laſſen und Merlin als den Wiſſenden zu zeigen,
die ſchickſalhaft charakteriſierende und prophezeiende Apoſtrophe an Klingſor,
worauf wiederum eine gutmütig⸗verächtliche Wendung zu dem ſchlafenden Kay
hin die Szene beſchließt. Der ganze Szenenteil bis dahin hat ein Dutzend Verſe,
und trotzdem wird Merlin in dreifacher Spiegelung als der Überlegene geboten.
Es iſt wie ein kurzes ſchickſalſchwangeres Wetterleuchten, mit dem Merlin hier
nach der Szene mit Placidus mit ihren teilweiſe heiteren Farben am Horizont
der Welt erſcheint, der er Vernichtung bringt. An die letzten Worte Kays im
Fortgang der Szene „Und Klingſor gibt zu allem noch die Klarheit“ ſchließt
ſich unmittelbar die erſte Klingſor⸗Szene, wo Klingſor fo gar nicht in der
Verfaſſung erſcheint, als wiſſe er Rätſel zu löſen. Das Wetterleuchten blitzt
zuerſt zu Klingſor hinein, und daran ſchließt ſich die große Szene Merlin⸗
Satan, fo daß Klingſor, zwiſchen dieſe beiden Begegnungen Merlin-Satan
eingeſchoben, einfach erdrückt wird.
Iſt das richtig, ſo erhebt ſich an der Meinung einer gewiſſen lediglich ſtim⸗
mungsbedingten Kompoſition begründeter Zweifel. Um hier Klarheit zu be⸗
kommen, ſei zunächſt eine Überſicht der Szenenfolge gegeben, wobei ich in Vor⸗
ſpiel, Hauptſpiel und Nachſpiel, wie von Immermann angegeben, abteile und
als Szene jeden Teil mit ſelbſtändiger Szenerie, unabhängig von Perſonen⸗
wechſel, nehme, gegebenenfalls innerhalb ſolcher Szenen ſelbſtändigere, durch
Perſonenwechſel voneinander getrennte Stücke mit a und b unterteile. Die
Zueignung fällt weg. Die Szenen bezeichne ich mit V N und einer Zahl
nach der Reihenfolge.
Vorſpiel VI 190 - 429 Hohe Klippen und Landſchaft. In der Ferne Gehöfte.
Satan und Luzifer auf den Klippen.
V2 430-704 Wüſte. Höhleneingänge. Candida, Placidus, Satan.
Hauptſpiel (Der Gral) G 1 705 1030 Britannien. Felſenſchlucht. . Merlin.
GZ2a 1031 - 1094 Ein anderer Teil der Schlucht. Kay.
b 1095-1138 Merlin, Satan. — Kay.
G3 1139-1375 Caſtel Merveil. Saal. Die Bilder der Götter umher.
Inſtrumente, Bücher, Gewächſe. Eine Schlange
liegt im Kreiſe um den ganzen Raum. Klingſor,
Zwerg, dann Kay.
G4 1376-1620 Am Grabe der Mutter Steinblöcke. Mondſchein.
Merlin, Satan.
G5 1621-1751 Die Wieſe von Kardweil. Artus, Kay, Minſtrel.
G6 1752 1939 Tafelrunde. Artus, Seneſchall, Gawein, Gareis,
Erek, Minſtrel, Ritter.
G7 a 190-2110 N gane der Königin. Artus, Ginevra, Lanzelot,
b 2111-2166 ae Ginevra.
G8 2167-2376 Feld. Klingſor, Merlin, Satan.
612 es Karl Schultze⸗Jahde
G9 2377 - 2534 Nacht. Zeltlager der Tafelrunde. In den offenen
Zelten ſchlummernd: Artus, Sinevra, Gawein,
Gareis, Erek, Lanzelot. Niniana. — Merlin.
G 10 2535 2581 Caſtel Merveil. Vorplatz. Klingſor, Zwerg. |
G11 2582-2691 Montſalvatſch. Treppenſtufen unter den Vorhallen.
Parzifal, Lohengrin — Titurell.
G 12 2692-2733 Einöde. Die Tafelrunde auf dem Zuge. Artus.
Ginevra, Gawein, Gareis, Erek, Lanzelot, Ritter.
G 13 2734 - 2854 Im Walde von Briogne. Niniana, Merlin. |
G 14 2855-2932 Einöde, doch andere Gegend als G 12. Tafelrunde.
G 175 2833 3094 Im Walde von Briogne unter der Weißdornhecke,
ſonſt wie G 13, am Schluß Ruf der Tafelrunde.
Nachſpiel NI 3095-3135 Domkirchhof. Lohengrin, Minſtrel, Placidus.
(Merlin der Dulder N2 3136 - 3349 Im Walde von Briogne an der Weißdornhecke, ähn-
lich wie G 15. Merlin, Satan.
Keine Szenerie kommt zweimal vor; wo der gleiche Ort angegeben iſt, be⸗
zeichnen nähere Angaben verſchiedene Teile: G3 und 10 ſpielen beide in Caſtel
Merveil, aber einmal im Saal, das andere Mal auf dem Vorplatz; desgleichen
G 5, 6, 7, 9 an Artus? Hof, doch an verſchiedenen Plätzen; G12 —15 wechſeln
Einöde und Wald von Briogne in eindrucksſtarkem Parallelismus, aber mit
Variationen; nur G15 und N2, bei der gleichfalls die ſzeniſchen Angaben
eine geringe Verſchiedenheit rechtfertigen könnten, möchten mit ganz gleicher
Szenerie gedacht fein. Immerhin müßte, wenn man genau die gleiche Szenerie
läßt (weil dadurch vielleicht die Situation Merlins eindrucksvoller werden
könnte, indem ihm jetzt an der Stelle, wo er mit Niniana ſaß, Satan zuletzt
begegnet und er ſeinen Tod findet), die Stimmung der Szenerie ſelber eine
andere fein, weil fie pſychologiſch anders gefärbt ift.
Vorſpiel und Nachſpiel ſind klar abgetrennt. Das Vorſpiel umſaßt Plan
Satans und Zeugung Merlins, das Nachſpiel als Epilog, da Merlins Schick⸗
ſal mit G15 entſchieden iſt, Merlins Tod.
Das Hauptſpiel umfaßt drei Szenengruppen und eine iſolierte Szene G11,
die den gedanklichen Mittelpunkt bildet, an dem ſich alles orientiert; der Spiel⸗
leiter hat dieſe Szene deshalb als mit allem anderen unvergleichbar hervor⸗
zuheben und mit einer ausgeglichenen Harmonie und goldenen Leuchtkraft
pſychologiſch wie rundum in ſich abgeſchloſſen hinzuſtellen. Dieſe Szene bringt
in den Siegeslauf Merlins, der auch ohne dieſe Szene zu Ende ginge, den für
den Zuſchauer entſcheidenden Einſchnitt: mit einemmal wird klar, daß Mer⸗
lin auf falſcher Bahn iſt.
Die davorliegenden beiden Szenengruppen ſind getrennt durch die zweite
gewaltige, erhabene Szene am Grabe der Mutter, die die letzte der erſten
Gruppe iſt. In jeder diefer beiden Gruppen findet eine Begegnung Merlins
mit Satan und dem Artuskreiſe ſtatt, ſpielt Klingſor eine Rolle, tritt Kay
als die luſtige Perſon auf. Die erſte Szenengruppe wird von Merlin beherrſcht,
in der zweiten breitet ſich der Artushof aus. Die gedankliche Bewegung iſt in
beiden in ihrer Baſis dieſelbe, doch iſt die zweite bunter und reicher inſtrumen⸗
tiert. Man könnte vielleicht beſſer noch G1 —3 zuſammenfaſſen und G4 für
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 613
ſich, doch nicht iſoliert, ſtellen, dieſe ſteht dann G 11 parallel. Wie auf G 11 in
Darſtellung und Ausſtattung alles Licht überwältigend zu ſammeln iſt, iſt die
Szene am Grabe der Mutter G4 in ihrer erhabenen Wildheit ſo ſtark und
mächtig zu betonen, daß beide als große Hauptpunkte das Ganze gliedern
helfen. Die dritte Szenengruppe, in der die Fäden der erſten und zweiten
zuſammenlaufen, ſticht dann gegen G11 in ihrem Jammer und Elend nieder⸗
drückend ab. Der Parallelismus von G12 —15 in ihrem Wechſel zwiſchen
Tafelrunde und Merlin⸗Niniana vertieft dieſen Jammer qualvoll. Einen
Gegenpunkt zu G4 bildet nach der die Artusſzenen abſchließenden N1 die
Szene N2 und gleichzeitig das Gegenſtück zu VI.
Mit dem Vorſpiel wird ein eigentümlich drohender Hintergrund gegeben,
auf dem im Hauptſpiel zuerſt Merlins Geſtirn leuchtend aufgeht und ſich zeit⸗
weilig das Spiel der Artusgruppe wie ein heiterer Regenbogen ſpannen will,
um alsbald in Dämmer und Finſternis abzuſinken.
Zeigt ſich ſomit, daß das Stück ganz überlegt komponiert iſt, ſo iſt noch ein
ganz wichtiger Punkt hervorzuheben, der es aus der deutſchen Tragödie in
eigenartiger Weiſe heraushebt. Wie fie behandelt „Merlin“ ein Lebensproblem.
Aber während ſonſt dies Lebensproblem immer auch das Problem eines Men⸗
ſchen iſt, des Helden — eine Beſonderheit, die dem Individualismus des
18. Jahrhunderts und ihrer ſonſtigen Herkunft entſtammt —, ſo daß ſie Men⸗
ſchen mit einem Helden im Mittelpunkt in einer durch dies Menſchenſchickſal
zuſammengeſchloſſenen Handlung ſich entfalten läßt, um dieſem Helden zu
einer Entfaltung im Problem zu verhelfen, iſt im „Merlin“ weniger von einer
Entfaltung des Helden als von einer Entfaltung des Problems ſelber die
Rede, der denn auch die Szene G 11 ihre iſolierte und gedanklich beherrſchende
Stellung verdankt. Gewiß iſt der leitende Faden das Schickſal Merlins, aber
der Kernpunkt iſt doch die Auseinanderlegung, die logiſch-anſchauliche „Ent⸗
wicklung“ des Problems ſelber. Daher auch die Beiſeiteſetzung des aktgeteilten
biographiſchen Heldendramas, das immer dominierte, und dem gelegentlich
das Volksdrama mit dem Volke als Helden gegenübertrat. Es iſt, wie es
ſcheint, Immermann gar nicht voll zum Bewußtſein gekommen, daß er hier
etwas anderes, eine andere dramatiſche Form, ein reines Problemdrama, ſchuf,
das ſich nicht gut in Akte teilen ließ, und daß deshalb auch von der Kleiſtiſchen
Form des „Zerbrochenen Kruges“ und der „Pentheſilea“ trotz der Ahnlichkeit
weſensverſchieden iſt. Natürlich hängt damit auch die Lockerheit des Baus
zuſammen: drei Einzelperſonen in Satan, Merlin, Klingſor, der nirgends
mit der Artusgruppe zuſammen auftritt, drei bis vier Perſonenkreiſe: Placi⸗
dus⸗Candida, Artuskreis, Gralkreis und die Schlußgruppe in Ni. Was
Hebbel forderte, daß die Perſonen am Gedanken des Dramas ſprechen, iſt
hier bei Immermann eher erfüllt als bei ihm ſelber, der in der Form doch an
das biographiſche Heldendrama gebunden blieb. Vgl. auch Mayncs Biogr. 294 ff.
Immermann hat hier wirklich eine eigene Form gefunden, die ohne Nach⸗
folge geblieben iſt. Hier erwuchs ihm aus ganz eigenen Bedürfniſſen eine
beſondere Ausdrucksform, und nur die Ungewohntheit des Stoffes und die Be⸗
614 Karl Schultze⸗Jahde
ſonderheit der ſymboliſchen Darſtellung, der ich hier nicht nachgehe, hat es ver⸗
ſchuldet, daß vor den vielen dunklen Falten, die der Stoff warf, die Eigenart
der Form nicht erkannt wurde. Sie erſchien wie ein Kurioſum, vor dem man
einigermaßen verſtändnislos kapitulierte, indem man Immermann als den
Beſiegten anſah. In Wirklichkeit liegt hier eine originale Leiſtung vor, die
Immermann als dichteriſch ſchöpferiſch zeigt.
„Merlin“ iſt eine künſtleriſch hochbedeutſame Leiſtung, die allerdings in der
dramatiſchen Entwicklung nur ein Anfang blieb. Für die dramatiſche Ent⸗
wicklung liegt hier eine beſondere neue Form vor, die noch weſentliche Mög⸗
lichkeiten hat und dieſe Möglichkeiten in einer kongenialen, geiſtig beherrſchen⸗
den Aufführung erſt zeigen könnte. Bis heute ſind ſie noch in keiner Weiſe
ausgeſchöpft. |
Die Vermutung liegt nahe, daß die Form des mittelalterlihen Dramas
nicht ohne Einfluß geblieben iſt, die den Abſichten Immermanns in dieſem Fall
nicht nur entgegenkam, ſondern die ihm auch als für den mittelalterlichen Stoff
gegeben erſcheinen konnte. Und in der Tat beſteht ja auch eine gewiſſe Ver⸗
wandtſchaft, indem auch im Paſſionsſpiel nicht ſo ſehr die Perſon Jeſu, als
die Heilstatſache ſeines Lebens und Sterbens das Zentralproblem bildet, nur
wird ſie nicht als Problem gefaßt, ſondern in bunter Mannigfaltigkeit einfach
veranſchaulicht. Am nächſten ſteht etwa der Tegernſeer Ludus, gleichfalls ein
Antichriſtſpiel, das mittelalterliche Gegenſtück zu „Merlin“, auch in der Form;
Immermann hat ihn aber wohl nicht gekannt, ſonſt hätte er ſicher darauf
Bezug genommen.
Zu 1. Welche Kombination für Raſſen und Religionen möglich ſind, möge noch Aventin be⸗
legen, der in ſeiner Deutſchen Chronik außer Sem, Ham, Japhet aus patriotiſchen Gründen noch
einen vierten, nach der Sintflut geborenen Noahs nennt, nämlich den Tuisco als Stammvater der
uralten Teutſchen“, fo daß er damit alſo auf vier Raſſen käme. In der Bayriſchen Chronik I 1
nennt er auch vier Religionen: Chriſten, Juden, Heiden, Türken, indem er die Türken aus der
früheren großen Maſſe der Heiden ausſondert. Allen vier Religionen ſchreibt er Einhelligkeit in
bezug auf den Glauben an „ein einigs, höchſt ewige, An anfang, end, zil und zeit, guet, fo man
got' in teutſch nent“, zu. —
Zu der Meife des Grals nach Indien merke ich an aus dem anonymen Knittelgedicht „Der
Aſchermittwoch in Weimar“ auf das Mißlingen der Kotzebueſchen Schillerfeier, das Falk, Goethe
aus näherem perſönlichen Umgange dargeſtellt (Leipzig 1832), S. 196 mitteilt:
O Jammertag, o Mißgeſchick!
Dahin iſt Carlos' ſchönſtes Glück!
Dahin des Poſa ſtolzer Traum!
hm wird zu enge hier der Raum!
r flieht das undankbare Land
Und ſchifft zu Indiens fernem Strand.
Hamanns oben zitierter Aufſatz verſucht folgende Deutung: Die Jungfrau iſt die Wahrheit,
wie ich gleichfalls annehme. Die fünf Knaben ſind urſprünglich als die fünf Sinne gedacht. „Da
dem Dichter dieſe Begriffe zu eng erſchienen, um zu feinem Zweck zu gelangen, nämlich die dünkel⸗
afte Philoſophie ſeiner Zeit (Hegel) zu treffen, ſo ſetzte er dafür drei Knaben ein, worunter das
nken, Fühlen und Wollen, oder nach dem Hegelſchen Syſtem: die Philoſophie (Logik), die Kunſt
(Aſthetik) und die Staatswiſſenſchaft (Ethik) zu verſtehen find.” Als Beſtätigung dieſer Auf-
faſſung führt er an: Münchhauſen verkehrt mit den drei „Unbefriedigten, die ihn (d. h. den Zeit
geiſt) ſtudieren; der eine von ihnen wird Philoſoph, der zweite Dichter, der dritte Staatsmann“
(Münchh. VI Kap. 3). Und als Parallele zu dem Bilde von den Eimern glaubt er (VI 9) die
Stelle im Protokoll in Anſpruch nehmen zu können: „.. . wir lechzten wie trockene Eimer in der
Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ 615
Sonnenglut“ nach Münchhauſen. So beſtechend zunächſt die Parallele hinſichtlich der drei ift, fo
wenig ſcheint ſie mir ſicher zu treffen; einmal vermiſſe ich einen Beleg für die Behauptung, daß
Immermann urſprünglich an die fünf Sinne, dann an Denken, Fühlen, Wollen gedacht habe,
zumal Immermanns Auffaſſung nicht mit der Merlins oder gar Klingſors identifiziert werden
darf. Dann aber iſt doch Merlin ſelber Hegel, und man käme ſo mit der Deutung auf Logik,
Aſthetik, Ethik in Schwierigkeiten, da Merlin ibnen eine Wahrheit entgegenſetzte, die dieſe drei
zuſammengenommen doch gerade wären. Welche Bedeutung könnte denn neben ihnen die Wahr-
heit als ein ihnen entgegengeſtelltes Beſonderes haben? Nimmt man dagegen die Jungfrau als
die gnoſtiſch erkennbare Wahrheit und als ſpezifiſche Erkenntnis Merlins, wie ſie ſich in der Stone⸗
henge⸗Szene darſtellt, fo j ft fie ein Gegenſatz zu den von Klingſor ſkeptiſch abgelehnten Religionen
als nicht ausreichenden Erkenntniswegen und iſt alles in Ordnung. Ich glaube deshalb auch nicht,
daß die Münchhauſen⸗Stelle eine engere Beziehung zu den drei Knaben hat. Auch ſcheint es mir
doch bedenklich, anzunehmen, daß Immermann einfach von fünf zu drei übergegangen wäre, um da⸗
mit eine ganz andere Gedankenreihe einzuführen. Und was wäre gegenüber den fünf Sinnen
die Wahrheit? Über den Inhalt der Wahrheit aber läßt ſich Hamann weder für den einen noch
den anderen Fall aus. — Das Eimerbild wird durch die Parallele nicht geklärt; es braucht nichts
weiter zu beweiſen, als daß es Immermann überhaupt nahe lag.
Zu 5. Bei Ablehnung von Maynes Deutung verſucht Helene Herrmann in ihrer oben zitierten
Beſprechung von Maynes Ausgabe folgende Deutung: Satan habe in der Viſion erkannt, daß Gott
ihn als ſeinen Gegenpol brauche, und daß deshalb alſo ſeine Exiſtenz geſichert ſei. Auch dieſe
Deutung iſt auf den erſten Blick ſo beſtechend, daß ich ſie meiner ohne weiteres vorziehen würde,
wenn mir nicht ſchiene, als ob man dadurch Immermanns Meinung, wie fie mit feiner Logos⸗
Auffaſſung wechſelt, in Satan hineininterpretierte, der damit doch im Grunde erledigt wäre und
Merlin gegenüber kaum ſo auftreten könnte, wie er tut. Es iſt aber doch auch hier noch derſelbe
Satan, der jedem in der Geſtalt erſcheint, wie ſie der jeweiligen Gemütsverfaſſung entſpricht, und
der vom Standpunkt der Stonehenge⸗Szene nichts aufgegeben hat. Und wieſo ſoll das Ende aller
Dinge hereinbrechen, wenn Satan den Stammbaum offenhinge, wie ihn doch gerade Immermann
ſelber vertritt? Sollten dieſe Worte nicht doch vielleicht eine Fortführung der peſſimiſtiſchen An⸗
wandlungen Lohengrins ſein, der die Erde nur als einen leeren, trüben, baumloſen Anger, mit
Gebein beſät uſw. fleht, und der im Grunde nichts anderes ſagt, als was Satan unter pandia⸗
boliſtiſcher Vorausſetzung auch ſagen könnte, nur von ihm aus anders betont: wüßte man, daß
„dem böfen Geiſt die Erde gehört, nicht dem guten“, fo bräche alles zuſammen? Dieſe Stimmung
tritt alſo an Merlin heran, es ift feine „Sorge“, aber er lehnt fie mit Entſchiedenheit ab. Nicht
eine Erkenntnis Immermanns wird hier ernſthaft diskutiert, ſondern eine Anwandlung, eine
fatanifhe Auffaſſung; und es begegnet hier das im Vorſpiel in Luzifer verkörperte zerſtörende
Element wieder in konſequenter Durchführung, das nicht reſtlos aufgeht.
Forſchungsberichte.
Schröter, Ern ſt, Walahfrieds deutſche Gloſſierung zu den bibliſchen Büchern Geneſis
bis Regum II und der althochdeutſche Tatian: Hermaea. Band 16. Max Niemepers
Verlag, Halle (Saale) 1926.
Die Erforſchung der ahd. Gloſſen hat durch zwei Arbeiten Georg Baeſeckes !) neue An-
regungen empfangen, deren Wert in dem entſchiedenen Hinweis auf die notwendige Ver ⸗
meidung von zwei Hauptmängeln der älteren Arbeitsweiſe beruht: Die Gewohnheit, alle ahd.
Gloſſen ohne Rückſicht auf die Häufigkeit ihres Auftretens als gleichwertig zu behandeln und
fie zu bearbeiten, ohne die Uberlieferungsverhältniſſe des lateiniſchen Textes zu kennen, wird
als Quelle zahlreicher Irrtümer herausgeſtellt. Im Hinblick darauf ſetzt ſich die Arbeit
Ernſt Schröters zum Ziel, die Arbeitsweiſe Baeſeckes auf die im Titel genannten bibliſchen
Bücher zu übertragen. Die Wiederherſtellung des urſprünglichen Textes erfolgt nach dem
Grundſatz, daß Teile des deutſchen und lateiniſchen Textes, die nicht durch alle Handſchriften
überliefert werden, als „Faſſungen“ des urſprünglichen Kommentars anzuſehen find.
Der zu rekonſtruierende Kommentar Walahfrieds PSg 2) geht auf das lat.⸗lat. Bibel ⸗
gloſſar Rz?) zurück; doch nicht nur für die Geneſis, ſondern auch für die Bücher Leviticus, Numeri
und Deuteronomium gilt die Vermutung Baeſeckes“), daß * PSg keine originelle Arbeit iſt,
ſondern vorhandene Gloſſare ausſchreibt. Darauf deutet der paläographiſche Geſamtbeſtand
und die Feſtſtellung zahlreicher Entſprechungen in anderen Gloſſaren hin. Die Unterſuchung
der inhaltlichen Abhängigkeit, die für jedes Buch einzeln durchgeführt wird, ergibt, daß unter
den Quellen die Reichenauer Gloſſare im Vordergrund ſtehen. Der Kompilator überträgt
den obd. oder agſ. Lautſtand feiner Vorlagen in den oſtfränkiſchen Dialekt, der einige obd.
Elemente und einen leiſen alem. Einſchlag aufweiſt.
An dieſe Einzelunterſuchung ſchließt ſich eine vorläufige Geſamtbetrachtung aller drei
Bücher. Das Material der Einzelüberlieferung wird an dem Gloſſenbeſtande, der mehrfach
überliefert ift, alſo mit Sicherheit PSg angehört, gemeſſen. Selbſt bei peinlichſter Sorg⸗
falt in der Anwendung dieſer Methode läßt ſich ein Dialektunterſchied zwiſchen den drei
Büchern nicht nachweiſen. Ein Vergleich ihrer Mundart mit gleichzeitigen Litera turdenk
mälern 5) und den deutſchen Eigennamen zeitgenöſſiſcher Urkunden deutet auf die Kanzlei
Rudolfs von Fulda hin, deren Geſchäftsſprache einen leiſen obd.⸗alem. Einſchlag aufweiſt:
nach Franken weiſt auch die Feſtſtellung des Kompilators, daß er francice ſchreibe.
Der 2. Abſchnitt der Arbeit deckt die Beziehungen zwiſchen PSg und Sg 283, dem Kom⸗
mentar des Walahfried Strabo zu Leviticus, Numeri und Deuteronomium auf, der aus einem
bei Hraban gehörten Kolleg hervorging. Der ſprachliche Charakter des Kommentars mit
feiner Neigung zu obd. und alem. Elementen ſtimmt völlig mit dem von PSg überein. Der
lateiniſche Text lehrt, daß Sg 283 wie * PSg in gleicher Weiſe dem Einfluſſe von Rz unter-
liegt; aus äußeren Merkmalen und inhaltlichen Beziehungen geht hervor, daß Sg 283 eine
Vorſtufe von * PSg darſtellt. Dieſer widerſpruchloſe Zuſammenhang der Werke kann nur
in der Gleichheit der Verfaſſer feine Erklärung finden. PSg zeigt auch in feinen Einzel ⸗
zügen Parallelen zu den beglaubigten Werken Walahfried Strabos; daher wird in dieſem
1) Baeſecke G., Hrabans Iſidorgloſſierung, Walahfrid Strabus und das abd. Schrifttum.
356%. 58 (1921) S. 241 ff. Derſ., Die deutſchen Geneſisgloſſen der Familie Rz. Zfd I. 61
(1924) S. 222 ff.
2) Bezeichnung nach den älteften Handſchriften des Stemmas: P —= Cod. S. Pauli XXV d.
(10. Jypdt.), Sg 9 = Cod. S. Galli 9 (9. Ihdt.).
5) Steinmeyer⸗Sievers, Ahd. Gloſſen 5, S. 108 ff.
) Baeſecke G., Zfd A. 61 (1924), S. 224.
) Baeſecke G., Zfd A. 58 (1921), S. 252 ff.
Ehrismann, Geſchichte der mhd. Literatur 617
gelehrten Abte der Reichenau der Verfaſſer des großen deutſchen Bibelkommentars PSg
zu ſuchen ſein. Da Sg 283 auf ein Kolleg Hrabans zurückgeht, doch unverkennbare alem.
Einflüſſe zeigt, kann es nur während Walahfrieds Aufenthalt in Reichenau 838 — 849 ent-
ſtanden ſein; Sg 283 wurde zuerſt verfaßt und bald darauf in erweiterter Form als PSg
herausgegeben.
Der nächſte Abſchnitt der Arbeit, welcher die deutſchen Gloſſen zu den Büchern Exodus bis
Regum II behandelt, ſoll die Überlieferung kritiſch ſichten und die Ausdehnung von PSg
feſtſtellen. Auch dieſe Bücher haben die Reichenauer Gloſſare in weitem Umfange benützt; in
der Beſeitigung des fremden Lautſtandes ſtimmen fie mit PSg innerhalb der Bücher Leviti⸗
cus, Numeri und Deuteronomium überein. Die ſprachliche Unterſuchung weiſt den oſtfr.
Lautſtand mit dem für Pg kennzeichnenden alem. Einſchlag nach. Als Ergebnis des Ab⸗
ſchnittes iſt die Tatſache zu buchen, daß ſich der Kommentar Walahfrieds auch auf die Bücher
Exodus, Joſua, Judicum, Ruth, Regum I und II erſtreckte.
Die daran ſchließende ſyſtematiſche Unterſuchung der Sprache des geſamten Werkes be⸗
ſtätigt die Einheitlichkeit des Kommentars, dem auch das vereinzelt Überlieferte vom Urſprung
an zugehörte. In der ſchichtenweiſen Entſtehung ſtimmt * PSg mit anderen Gloſſaren über-
ein. Seine Grundlage Rz, das der Form nach auf die Antike, der Herkunft nach auf England
weiſt, wird in Sg 283 mit der theologiſchen Gelehrſamkeit Reichenaus bereichert und ſchließ⸗
lich von Walahfried zu dem großen Kommentar * PSg abgerundet. Der Verfaſſer hat es
wohl verſtanden, dieſe Stadien der Entſtehung in der Textausgabe des Kommentars deutlich
zu machen, die den Abſchluß des Buches bildet.
Das Ergebnis der Arbeit iſt ein doppeltes: In philologiſcher Hinſicht bringt ſie einen
Beleg für das Vorhandenſein ſprachlicher Ausgleichbeſtrebungen zwiſchen Fulda und Reichenau
und ſtützt damit den Verſuch Müllenhoffs, die erſten Anſätze zur Bildung einer deutſchen
Gemeinſprache in das karolingiſche Zeitalter zu verlegen. In literariſcher Hinſicht ſchält ſie
ein bisher unbekanntes Literaturdenkmal aus der Überlieferung heraus und ſchreibt es dem
Reichenauer Abt Walahfried Strabo zu. Im Zuſammenhange damit wird der Vermutung
Raum gegeben, daß Walahfried auch der Verfaſſer des von 7 geſchriebenen Teiles des Tatian
ſei. — Die Diſſertation Ernſt Schröters iſt methodiſch und inhaltlich von höchſtem Intereſſe;
es wäre zu begrüßen, wenn nach ihrem Vorbilde der geſamte ahd. Gloſſenbeſtand eine Durch⸗
ſicht erführe. Die Unterſuchung, welche mit viel Schwierigkeiten der Überlieferung zu kämp⸗
fen hatte, wurde mit Sorgfalt und Scharfſinn in lückenloſen Beweisketten durchgeführt. Für
den Aufbau der Arbeit war es zwar wenig förderlich, daß ſich der Verfaſſer ausſchließlich
den durch Vorlage und Überlieferung gebotenen Geſichtspunkten untergeordnet hat; er ſieht
ſich dadurch zu mehreren Wiederholungen und vorläufigen Vorwegnahmen der Ergebniſſe ge⸗
zwungen. Doch wenn man ſich jenſeits des Streites über das Alter der Einigungsbeſtrebungen
innerhalb der deutſchen Sprache ſtellt, ſo muß man den Ergebniſſen dieſer bedeutſamen
Arbeit das vollſte Vertrauen entgegenbringen.
Reichenberg (Böhmen). ' Bruno Schier.
Ehrismann, Guſtav, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum Ausgang des Mittel-
alters. Zweiter Teil: Die mittelhochdeutſche Literatur. II. Die Bütezeit. Erſte Hälfte.
C. H. Beckſche Verlags buchhandlung, München 1927. Handbuch des deutſchen Unter⸗
ö richts von Th. Matthias. |
Wir verdanken Ehrismann die ausführlichfte und gründlichſte altdeutſche Literaturgeſchichte,
ſchon aus dem Grunde, weil ſie durch keine engen, räumlichen Grenzen beſchränkt iſt. Der
vorliegende Band beſchäftigt ſich nur mit dem höfiſchen Erzählgedicht von 1170 an, den drei
großen Meiſtern iſt der größere Teil des Bandes (von S. 133 ab) gewidmet. Ehrismann
bewährt fi als ſicherer, zuverläſſiger Führer durch die mhd. Literatur, deren Denkmäler er
ſich völlig zu eigen gemacht hat, wie die ſorgfältigen, in Aufbau und Gliederung ſtreng ſach⸗
lichen und lehrreichen Inhaltsangaben der Gedichte beweiſen. Die neueſten Ergebniſſe ſind
kritiſch verwertet auf Grund überreicher, faſt erſchöpfender bibliographiſcher Angaben, die dem
Leſer die geſamte bisherige wiſſenſchaftliche Forſchung überſichtlich vorführen. In der Ein⸗
leitung hören wir von den allgemeinen Vorausſetzungen, von den geiſtigen und kulturellen
618 Forſchungsberichte
Grundlagen, wobei beſonders die Bemerkungen über den Ritterſtand, die höfiſche Bildung
und Geiſtesart zu beachten find. Die frühmhd. Epen von 1170 — 1780, Herzog Ernſt, Graf
Rudolf, Floyris, Eilharts Triſtrant ſtehen voran. Dann folgt die Blütezeit, Heinrich von
Veldeke und das höfiſche Epos in Mitteldeutſchland: Herborts Trojanerkrieg, Albrechts Ovid,
Athis und Prophilias, Ottes Eraclius, Morant und Galie, Moriz von Craon. Die Er-
gänzung ſolcher Gedichte, die nur in Bruchſtücken erhalten ſind, und der Vergleich mit der
Vorlage, aus der die ſelbſtändige Eigenart des deutſchen Dichters ſich ergibt, iſt ſorgſam,
ſachgemäß und überzeugend durchgeführt. Den Höhepunkt erreicht die Darſtellung mit Hart⸗
mann, Wolfram und Gotfrid. Mit der Quellenfrage rollt ſich in vollem Umfang die Stoff ·
geſchichte auf: Triſtan, Artus, Perceval und Gral. So blicken wir in die weiten Hinter ·
gründe der mhd. Erzählgedichte. Auch in dieſen ſchwierigen Abſchnitten iſt die meiſterhafte,
Hare Zuſammenfaſſung der weitſchichtigen Überlieferung, die Ehrismann mit felbfländigem
Urteil beherrſcht, hervorzuheben.
Bei aller Gründlichkeit bleibt aber doch noch manche Frage offen oder unentſchieden. Die
deutſchen und lateiniſchen Texte vom „Herzog Ernſt“ laſſen ſich zu einem das Abhängigkeits⸗
verhältnis anzeigenden Stammbaum vereinigen (S. 57). Was aber follen wir uns unter der
„im Volksmund verbreiteten Sage“, aus der das Bänkelſängerlied entſtammt, denken? Einer
literariſchen Urquelle kann auch das Lied ſchwerlich entraten. Beim „Grafen Rudolf“ billigt
Ehrismann dem deutſchen Dichter große Selbſtändigkeit zu (S. 50), wenn er zwar die Liebes ⸗
geſchichte aus dem altfranzöſiſchen Boeve de Hanstone ableitet, aber die Umbildung des
Abenteuerromans zum Kreuzzugserlebnis, zum Zeitgemälde, zum Gegenwartsroman als
deutſche Zutat betrachtet, obwohl das Schickſal des franzöſiſchen Grafen Hugo von Puiſet ſich
im mhd. Gedicht ſpiegelt (S. 59 Anm. 2). Ehrismann nimmt Zufall an. In dieſem Falle
iſt die Tat des heſſiſchen Dichters um 1170 ganz eigenartig, weil er auf dem Boden der
Wirklichkeit bleibt. Wenn wir aber an Hugo von Puiſet feſthalten, dann müſſen wir die
Miſchung von Wahrheit und Dichtung der Vorlage zuſchreiben, unbeſchadet der ſtil⸗ und ſach⸗
gemäßen Darſtellungskunſt des Deutſchen. Wenn Ehrismann S. 67 Anm. 2 an der zeit⸗
lichen Reihenfolge Veldekes Eneit — Eilharts Triſtan feſthält, dann iſt der Triſtan⸗ Roman
nicht um 1180, ſondern um 1190 zu ſetzen, was mit den urkundlichen Nachweiſen des
Eilardus de Oberge (1189 1207) übereinſtimmt. Eilharts Vorlage iſt die pifarbifche
„Estoire“ des Robert von Reims, genannt li Kievres, aus der Ehrismann mit G. Schoep⸗
perle ſämtliche erhaltenen franzöſiſchen Triſtan⸗Gedichte ableitet. Das kann nicht richtig ſein.
Der verlorene Ur⸗Triſtan iſt um 1150 zu ſetzen, die „Estoire“, die durch ihre verſchiedenen
Einſchaltungen (Senſenfalle, Triſtans Narrenfahrt) zweifellos eine bereits längere literariſche
Überlieferung vorausſetzt, in die achtziger Jahre des 12. Jahrhunderts. Der Triſtan des
Thomas ſtammt nicht aus der „Estoire“, wie Ehrismann S. 302 wiederholt, ſondern aus
dem Ur⸗Triſtan in England. Durch Kriſtian von Troyes und Robert li Kievres wurde der
Triſtan aus England nach Frankreich übertragen, der Anglonormanne Thomas hatte keine
Urſache, nach einer pikardiſchen Dichtung zu greifen. Auf Grund dieſer Auffaſſung läßt ſich
jetzt aus Estoire ⸗Eilhart und Thomas⸗Gotfrid der Inhalt des Ur⸗Triſtan genauer und rich⸗
tiger erſchließen, als es früher durch Bédier und mich in unſern Triſtan⸗Büchern geſchah. Eine
unbekannte Größe bleibt nur noch Kriſtians Gedicht „von König Mark und der blonden
Iſelt“, vielleicht eine kürzende und jedenfalls erſte franzöſiſche Triſtan⸗Dichtung gegenũber
dem anglonormänniſchen Urgedicht. Mit Recht betrachtet Ehrismann die Triſtan⸗Dichtung in
ihrer Geſamtheit als ein Erzeugnis franzöſiſchen Geiſtes. Eilharts Gedicht gliedert er in eine
Vorgeſchichte, Morold, Liebesgeſchichte, Triſtans Verbannung, Liebestod. Triſtans Verban ;
nung und feine Vermählung mit der weißhändigen Iſelt bezeichnet er zwar als eine Fort-
ſetzung der Liebesabenteuer, ohne aber mit Schoepperle, Kelemina, Ranke das urfprüngliche
Gedicht mit Triſtans Tod durch Mark nach der franzöſiſchen Proſa endigen zu laſſen. Sehr
richtig ſchreibt Ehrismann S. 73 vom Urdichter: „Er hat das Leben eines Minnehelden dar ·
geſtellt in ſeinem ganzen Verlauf von der Geburt bis zum Tode und hat die vorgefundenen
Stoffmaſſen durchtränkt mit dem Geiſt des franzöſiſchen Rittertums feiner Zeit.“ Zür die
Grundlagen der Triſtan⸗Sage hält Ehrismann zwei Urfabeln, das Märchen von der Feen ·
liebe und die Ehebruchsgeſchichte. „Die Feenliebe verläuft in dreifachem Aufbau: auf die
Ehrismann, Geſchichte der mhd. Literatur 619
Verlockung durch die zauberkundige Fee (Iſolde) folgt die Wiederkehr des Helden zu den
Menſchen und eine zweite Frauenliebe (Iſolde Weißhand). Die Zurückbannung ins dämoniſche
Reich iſt das Ende: die Fee holt den geliebten Helden auf ihrem Zauberſchiff ab. Aber der
Schluß iſt in der Triſtan⸗Dichtung dem Bereich des Feenmärchens entzogen und erſetzt durch
die klaſſiſche Sage vom Segel des Theſeus bzw. der Oenone.“ Das Feenmärchen iſt aber
doch mit der Fahrt nach Heilung zu Ende. Nichts ſpricht für die von Ehrismann behauptete
einſtige Fortſetzung; wohl aber iſt verſtändlich, daß die heilende Fee der Tantrisfahrt die heil-
kräftige Oenone am Schluſſe wie eine Ergänzung in den Gedankenkreis des Schöpfers der
Triſtan⸗Sage zog. Triſtans Leben wird ſinnbildlich eingerahmt: zuerſt fährt er aus, um bei
Iſolde Heilung zu finden, zuletzt bringt das Schiff die erſehnte Arztin aus Kornwall zum
Siechbett Triſtans nach der Bretagne. Der Triſtan⸗Roman wie überhaupt der Artus⸗Roman
iſt nicht wie das Heldengedicht durch Aufſchwellung vom Lied zum Epos, ſondern durch Zu⸗
ſammenſetzung von gangbaren Sagen und Sagenmotiven, Novellen und Schwänken mit voll⸗
bewußter Abſicht geſchaffen.
Klar und anſchaulich iſt der Abſchnitt über den Artus⸗Roman, der in Galfreds Historia
und in bretoniſchen Märchen und Sagen ſeine Quellen hat. Die Grundformeln der Feen⸗
ſagen, die Ehrismann aufſtellt, find allerdings nicht aufs Keltiſche beſchränkt, ſondern überall
nachweislich. Aber keltiſch iſt im Artus⸗Roman die Umwelt dieſer Geſchichten, woraus erhellt,
daß die franzöſiſchen Dichter die Stoffe teilweiſe bretoniſchen Spielleuten verdanken. Kriſtian
von Troyes wird als der eigentliche Begründer des Artus⸗Romanes vollauf gewürdigt: „Er
hat damit eine weitreichende Bedeutung für die Entwicklung der mittelalterlichen Literatur
gewonnen und wurde auch von ſeinen Zeitgenoſſen und Nachfolgern als unerreichter Meiſter
anerkannt.“ Dieſes Lob ſchränkt die Anmerkung auf S. 137 allerdings wieder ein: wenn die
kymriſche Erzählungen (Mabinogion) urſprünglicher ſind als Kriſtians Romane, dann iſt der
franzöſiſche Dichter ein ſtümperhafter Abſchreiber, dem man nur geſchickte Sprache und Reim⸗
kunſt nachrühmen kann, der aber an ſelbſtändiger Stoffbehandlung hinter den mhd. Bearbei⸗
tern franzöſiſcher Vorlagen weit zurückſteht. Der ganze Mabinogionſtreit, der für jeden vor⸗
urteilsloſen Leſer beim erſten Vergleich ſich erledigt, ſcheint mir fo rätſelhaft wie die Kiot-
frage, die immer noch umſtritten wird, obgleich ſie längſt entſchieden iſt. In dieſen beiden
wichtigen Fragen vermiſſe ich bei Ehrismann entſchloſſenes und entſcheidendes Urteil: was er
im Text ſagt, nimmt er in den Anmerkungen wieder zurück! So taucht S. 146 Anm. 2 eine
rheiniſche Artus⸗Dichtung vor Hartmann auf, die an die anglonormänniſchen Artus⸗Gedichte
erinnert, die nach G. Paris Kriſtian abgeſchrieben haben ſollte. Man muß einmal mit derlei
gelehrten Schrullen aufhören, die mit der ganzen literariſchen Entwicklung in Widerſpruch
ſtehen. Das Vorhandenſein einer von den uns bekannten Kriſtian⸗Texten in einzelnen Les⸗
arten abweichenden Faſſung (vgl. S. 162 Anm. 1), die auch für Perceval zutrifft, berechtigt
keinesfalls zur Annahme beſonderer Gedichte vor und nach Kriſtian: es handelt ſich hier genau
ſo wie bei Hartmanns Gregorius oder bei Wolframs Willehalm, für deren Vorlagen doch
niemand verſchollene franzöſiſche Gedichte zu behaupten wagt, nur um handſchriftliche Über-
lieferung mit unweſentlichen Anderungen oder kleinen Zuſätzen. Für Ivain gilt als Urquelle
das im bretoniſchen Volkstum eingewurzelte Märchen von der Feenliebe im dreifachen Ver⸗
lauf: Entrückung, Rückkehr in die Menſchenwelt, Heimkehr zur Fee. Aber Kriſtian ſah in
ſeiner Laudine jedenfalls keine Fee, ſondern die leicht getröſtete Witwe:
c'est cele qui prist
celui qui son seignor occist!
Foerſter hat nachdrücklich davor gewarnt, märchenhaften Aufputz der Artus⸗Romane für Mär-
chenſtoff zu nehmen. Die ins allgemeine verflüchtigten Formeln paſſen ſchließlich überall und
nirgends; aber was der Dichter will und ſagt, das iſt für die Deutung maßgebend.
Im Wolfram⸗Abſchnitt iſt die Kiotfrage von entſcheidender Bedeutung. Ehrismann be⸗
ginnt mit den Worten: „unentſchieden iſt die Quellenfrage“, gründet aber ſein richtiges
Urteil über Wolframs Eigenart und Selbſtändigkeit durchaus nur auf den eingehenden Ver⸗
gleich mit Kriſtian. „Niemand würde zweifeln, daß Wolfram in den mit Kriſtian zuſammen⸗
fallenden Teilen dieſen allein nachgeahmt hat.“ Daß Kiot der urkundlich bezeugte Schreiber
620 Forſchungsberichte
Guiot iſt, der Handſchriften von Kriſtians Werken vertrieb, erwähnt Ehrismann nirgends.
„Aus dem Geſamtſchaffen Wolframs, aus ſeiner Arbeitsweiſe in ſeinen verſchiedenen Werken
— hinſichtlich des Willehalm iſt große Selbſtändigkeit feſtgeſtellt, den Titurel hat er frei
entworfen — werden wir ein Bild von ſeiner Eigenart zu gewinnen ſuchen.“ Der Vergleich
mit Kriſtians Perceval läßt durchweg, mit Ausnahme der Jugend Parzivals, die Anderungen
und Zutaten ohne Zwang aus Wolframs Perſönlichkeit erklären. Bei Gahmuret Auſchewin
S. 244 vermiſſe ich den Hinweis auf die öſterreichiſchen Anſchower, mit denen jeder Zweifel
an Wolframs Erfindung, die mit dem Ahnherrn Gandin erwieſen iſt, behoben wird. Warum
alſo noch Kiot? In der ſoeben erſchienenen Neuausgabe von W. Hertz, Parzival, ſchreibt
Roſenhagen S. 557: „Vogts bedächtig abwägende Darſtellung in der neuen Bearbeitung
feiner mhd. Literaturgeſchichte läßt einem möglichen Kiot fo wenig, daß er als literatur ⸗
geſchichtliche Wirklichkeit ſich mehr oder weniger verflüchtigt.“ Das gilt auch von Ehrismanns
Darſtellung. Roſenhagen a. a. O. S. 561 meint von Singers Verſuch, Wolframs dunklen
Stil auf Kiot zurückzuführen: „Durch dieſe äußerſte Zuſpitzung, die dem Dichter Wolfram
nicht viel mehr als die Mühe des Reimens läßt, dürfte ſich die Annahme des Kiotwerkes
ſelber widerlegt haben.“ Ahnlich Ehrismann S. 265 Anm. 3. Dagegen hat Marta Marti
in der 4. Auflage von Bartſchens Parzival (1927) leider das unſelige Kiotgeſpenſt für
weitere Kreiſe wieder beſchworen, indem ſie, ganz auf Singers Anſichten fußend, ſich zu dem
Satze verſteigt: „Es kann kein Zweifel ſein, daß eine franzöſiſche Quelle außer Kriſtian
oder mit Ausſchluß von Kriſtian für den deutſchen Parzival vorauszuſetzen iſt und daß eine
ſolche erſchloſſen werden müßte, wenn auch Wolfram ſich nirgends auf eine Vorlage beriefe.“
Eine ſolche Verblendung gegenüber offenkundigen Tatſachen kann nur als „blinde Meinung“
beklagt werden. Vogt und Ehrismann, die in ihrer Darſtellung Kiot überwanden, mußten
dies auch klipp und klar ausſprechen. Gotfrids Urteil über Wolfram und das Verfahren der
Wolfram ⸗Schule in bezug auf angebliche Quellenbenutzung, d. h. freie Erfindung zeugen doch
auch gegen Kiot, der in der franzöſiſchen und provenzaliſchen Literatur gleichermaßen unmög-
lich iſt. Die Bemerkungen über die Gralſage enthalten einige Flüchtigkeiten und Unklarheiten.
Robert, der unmöglich vor Kriſtian geſchrieben haben kann, bietet nicht die Geſchichte der
Abendmahlſchüſſel, ſondern des Kelches. Die unleugbare Beziehung der Gralvorſtellung auf
kirchliche Geräte (Kriſtians Hoſtienbehälter, Roberts Kelch) macht jede Deutung auf märchen ⸗
hafte Gegenſtände (Tiſchleindeckdich u. dgl.) hinfällig. Ich glaube das in meinem Gralbuch
einwandfrei nachgewieſen zu haben. Dadurch iſt keineswegs ausgeſchloſſen, daß nachträglich
z. B. bei Heinrich von dem Türlin in der „Krone“ märchenhafte Züge anwuchſen. Die blu⸗
tende Lanze wird S. 253 immer noch mit der des Longinus und der byzantiniſchen Meſſe
zuſammengebracht. Ich meine, man muß beim Vergleich zwiſchen Wolfram und Kriſtian
genau auf das achten, was im franzöſiſchen Gedicht wirklich ſteht, was Wolfram las, unter
keinen Umſtänden willkürliche Deutungen unterlegen. Der ganze von Robert von Boron aus⸗
gehende Gedankenkreis, den Ehrismann S. 248 f. gar zu flüchtig andeutet, iſt für Kriſtian
Wolfram grundſätzlich fern zu halten. Irreführend iſt der Satz, daß vor Kriſtian und Robert
„eine gewiſſe Tradition der Gralſage“ vorhanden war, ein „legendariſcher Stoff“, den Robert
als Legende, Kriſtian als Ritterroman behandelte. Vom Gralbuch, das Kriſtian erwähnt,
hatte Robert ſo wenig Kenntnis als wir. Er hat völlig frei und ſelbſtändig die Legende vom
Gral erfunden. Daß „Schianatulander“ von Wolfram nach den Andeutungen des Parzival
erdichtet wurde, daß er nicht etwa „bei Kiot eine ausführlichere Sigunenepiſode vorfand“,
wird mit Recht betont. Gerade dieſes Werk gibt uns für Wolfram den Maßſtab der Erfin⸗
dungs⸗ und Geſtaltungskraft, die er auch im Parzival und Willehalm betätigte.
Wenn Ehrismann zu Gotfrids Triſtan S. 298 die Proſabearbeitung von Roſa von
Kremer (1926) nennt, ſo mußte er auch Will Veſpers Liebesroman (1911) erwähnen. Das
Verhältnis Gotfrids zu Eilhart tritt feit dem Buche von J. Gombert (1927) in neue Be
leuchtung: Gotfrid hat ſeinen deutſchen Vorgänger weder gekannt noch benützt, wohl aber
ſteht die Überlieferung des Eilhart⸗Gedichtes im 13. Jahrhundert unter Gotfrids Einfluß.
Im Gegenſatz Wolframs und Gotfrids (S. 322) find zwei verſchiedene Kunſtanſchaunngen
verkörpert: Wolframs Phantaſtik und ſein geſucht dunkler Stil galt dem Straßburger als
Formloſigkeit. Dazu kommt die tiefe Weſensverſchiedenheit des Mannes aus dem Bürger ⸗
Brinkmann, Entſtehungsgeſchichte des Minneſangs 621
ſtande und des Ritters, vielleicht ſchwingt auch ein ſittliches Gefühl mit: „Parzivals kos⸗
miſches Gefühl hat von Kindheit an ſein Zentrum im Gotteserlebnis, Triſtans Lebensgefühl
ruht im Minneerlebnis.“ Die Gralsritterſchaft als Templeiſenorden, als geiſtliche Brüder⸗
ſchaft iſt aber nicht aus der Vorlage entnommen, ſondern erſt von Wolfram erdichtet, wodurch
fein Gralſucher ein überſinnliches Ziel erhielt.
Roſtock. Wolfgang Golther.
Brinkmann, Hennig, Entſtehungsgeſchichte des Minneſangs: Deutſche Vierteljahrs⸗
ſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtesgeſchichte, Buchreihe, Bd. 8. Verlag Max
Niemeyer, Halle (Saale) 1926.
Über Weſen und Entſtehung des Minneſangs hat gerade die jüngſte Forſchung wertvolle
Aufſchlüſſe gegeben. Erwähnt ſeien nur die Unterſuchungen von Konrad Burdach, Carl von
Kraus, Friedrich Neumann, J. Schwietering, Günther Müllers „Studien zum Formproblem
des Minneſangs“ im 1. Bande der „Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtes⸗
geſchichte“ und fein wegweiſender Bericht „Ergebniſſe und Aufgaben der Minnefang-
forſchung“ ebd. 5. Ihg. (1927) Heft 1 S. 106 129. Vom muſikgeſchichtlichen Standpunkt
geht Friedrich Gennrichs Arbeit „Der deutſche Minneſang in feinem Verhältnis zur Trou⸗
badour⸗ und Trouvère⸗Kunſt“ aus, in der Zeitſchrift für deutſche Bildung, 2. Ihg. (1926)
Heft 11 und 12. Einer „Geſchichte der lateiniſchen Liebesdichtung im Mittelalter“ läßt
Hennig Brinkmann nun das vorliegende Buch folgen, nachdem er bereits in Aufſätzen das
Problem des Minneſangs beleuchtet hat. „Factus est per clericum miles Cythereus“,
die Worte ſtellt er als Motto ſeiner Unterſuchung voran. Er will keine Geſchichte des Minne⸗
ſangs ſchreiben, er verfolgt vielmehr nur den Einfluß einer einzigen literariſchen Kraft, der
mittellateiniſchen Liebespoeſie, aber die Einwirkung dieſer Dichtung iſt nach ihm „für Ent-
ſtehung und Wandel des Minneſangs von ausſchlaggebender Bedeutung“ (S. VII) geweſen.
Sein Ziel iſt es, vor allem den Anfängen der deutſchen Kunſtlyrik nachzugehen. Um
jedoch ſeine ſchwierige Aufgabe löſen zu können, muß er auf die Dichtung der Troubadours
zurückgreifen. In dem 1. Kapitel beſpricht er das Liebeskonzil von Remiremont und das
Streitgedicht zwiſchen Phyllis und Flora. Die beiden Werke, die den Liebeswettbewerb von
Ritter und Kleriker darſtellen, ſpiegeln „nicht willkürliches Phantaſiegebilde eines Dichters,
ſondern tatſächliche Wirklichkeit“ (S. 12) wider. Die Frage nach der Entſtehung des Minne⸗
ſangs hat vor allem Konrad Burdach wieder aufgerollt in der durch Tiefe und ſeltenen Weit ⸗
blick ausgezeichneten großen Abhandlung „Über den Urſprung des mittelalterlichen Minne⸗
ſangs, Liebesromans und Frauendienſtes“ (jetzt abgedruckt im Vorſpiel, Bd. 1, Teil 1,
S. 253 333). In den dichteriſchen Huldigungen, die ſeit dem 9. Jahrhundert die arabiſchen
Hofpoeten Andaluſiens fürſtlichen Frauen darbrachten, erblickt er das literariſche Vorbild des
werdenden Minneſangs und des romantiſchen Liebesbegriffes der höfiſchen Romane. Er will,
wie er ausdrücklich bemerkt, nur der künſtleriſchen Entſtehung des Minneſangs nach⸗
gehen; die inneren Urſachen aufzudecken, die geheimnisvoll in den Tiefen der mittelalter⸗
lichen Seelen ſich vollziehenden Wandlungen zu verfolgen, überſteigt nach ſeiner Meinung
„wohl die Kräfte geſchichtlicher Erkenntnis“. Gegen Burdachs Annahme äußert Brinkmann
Bedenken. Zu erwägen iſt freilich, daß die fremde Kunſt nur deshalb einen ſo lebendigen
Widerhall finden konnte, weil die Entwicklung in der Poeſie des anderen Volkes zu ähnlicher
Stilgeſtaltung hindrängte: Ahnliches wirkt auf Ahnliches. Minneſang und Minnedienſt
laſſen ſich aus heimiſchem Weſen und heimiſchen Kulturzuſtänden nicht erklären, Art des
Minneſangs und Geiſt des Rittertums widerſprechen ſich aufs ſchärfſte, darin ſtimmt Brink⸗
mann mit vollem Recht Burdach bei. Um die Frage zu löſen, geht er jedoch einen anderen
Weg. Die weſentlichen Grundlagen der Troubadourkunſt findet er in der lateiniſchen Literatur
und in der Dichtung der Schule von Angers vorgebildet. Von hier ſeien weitreichende Wir⸗
kungen ausgegangen, nach Norden und nach Süden, nach Maine, der Normandie und Eng⸗
land ſowie nach Poitou und Aquitanien. Brinkmann betrachtet ausführlich die Poeſie des
angeviniſchen Kreiſes, ſoweit ſie für die Erklärung des eigentlichen Weſens des Minneſangs
von Wichtigkeit iſt. Aber der Minneſang iſt nicht bloß eine Kulturerſcheinung, ſondern zu⸗
gleich ein literariſches Problem. Deshalb begnügt ſich Brinkmann nicht mit der Frage nach
622 Forſchungsberichte
der Herkunft, er will auch den ganzen dichteriſchen Reichtum, die inhaltliche Vielgeſtaltigkeit,
die verſchiedenen Anſchauungen, Strömungen und die einzelnen Gattungen zu deuten ſuchen.
Und da greift er wiederum auf die mittellateiniſche Liebespoeſie zurück, in deren Geſamtkreiſe
die Literatur von Angers nur einen kleinen Ausſchnitt bildet. Gleich dem holländiſchen Ge⸗
lehrten Frantzen bezeichnet er die Troubadourlyrik als „eine direkte Nachahmung und Weiter ⸗
bildung der weltlichen lateiniſchen Lyrik, wie ſie ſich in Klerikerkreiſen unter dem Einfluß
Ovids entwickelt hatte“ (S. 46 f.). Er weiſt Berührungen zwiſchen mittellateiniſcher Dich⸗
tung und Troubadourkunſt nach, und zwar Berührungen in Form und Inhalt; ſo ſpricht er
u. a. über den Natureingang und über die Revocatio. Die Liebesauffaſſung der Trou-
badours zeigt aber keinen einheitlichen Grundzug. Chriſtliche Gefühlswelt und diesſeitige
Lebensſtimmung ſtehen einander gegenüber; Minne in ihrer läuternden, veredelnden Kraft
und Liebe als heißes, ſinnliches Verlangen. Die beiden verſchiedenen Anſchauungen gehen
nach Brinkmann auf zwei Quellen zurück: dort hat die Überlieferung des Kreiſes von Angers,
hier die Dichtung der Vaganten eingewirkt; freilich in dem Sinne, daß Becinfluſſung ſtets
Empfänglichkeit vorausſetzt. Den einzelnen Gattungen (Liebeskanzone, Liebesbrief, Pa⸗
ſtourelle, Kreuzlied, Planch, Streitgedicht, Sirventes) iſt ein reiches Kapitel gewidmet; es
legt dar, wie weit mittellateiniſche Einwirkung beſtimmend geweſen iſt. Das Tagelied freilich
begegnet nicht im Mittellateiniſchen. Brinkmann bemerkt dazu S. 87 f.: „Schläger hat
Ableitung aus Ovid verſucht. Ich will die Frage nicht aufrollen. Nur möchte ich darauf hin ⸗
weiſen, daß die auch in Ritterepen vielbehandelte Liebespoeſie Mars⸗Venus mitgeſpielt haben
kann, und zwar durch die Faſſung in Ovids Metamorphoſen (IV, 171 189) oder in dem
ausgeſprochen tagliedhaften Gedicht der Anthologia Latina (ed. Rieſe Nr. 253). Aber
dürfen wir Kenntnis des Gedichts dem Mittelalter zutrauen?“ Die Provenzalen haben Reim,
Vers, Strophe nicht blindlings entlehnt, fie haben fie weitergebildet, fie haben auch die über ⸗
nommenen Gattungen und Motive ihrem Weſen angepaßt. Die Hriftlihe Minne, wie fie
der Kreis von Angers zeigt, und die irdiſche Liebe, die ſich in den Liedern der Vaganten wider⸗
ſpiegelt, fanden ſie bereits „literariſch kultiviert“ (S. 87) vor. In der Verſchmelzung der
beiden gegensätzlichen Anſchauungen beſteht nach Brinkmann ihre eigene, ſchöpferiſche Leiſtung.
Weit ſchwieriger liegen die Verhältniſſe beim deutſchen Minneſang. Wie ſchwierig, das
zeigt aufs neue gerade das vorliegende Buch. In ſeinem fördernden, weitſichtigen Aufſatz
„Einwürkung der Antike auf die Entſtehung des frühen deutſchen Minneſangs“ (Zeitſchrift
für deutſches Altertum Bd. 61, S. 61 ff.) ſagt Julius Schwietering u. a., die Form des
Wechſels dränge „in ihrer offenbaren Künſtlichkeit nach Erklärung durch ein bereits vor ·
handenes, feſtgefügtes, literariſch überliefertes Schema“. In Ovid erblickt er das Vorbild,
Brinkmann dagegen in der mittellateiniſchen Poeſie. Romaniſcher Einfluß iſt für die ältefte
deutſche Kunſtlyrik nicht anzunehmen. Dürfen wir aber mit der Einwirkung des Volksliedes
rechnen? Nach Friedrich Vogt, Geſchichte der mhd. Literatur 1,142 ſtellt der früheſte Minn ·
ſang eine „organiſche Weiterentwicklung bodenſtändiger Gelegenheitslyrik“ dar. Brinkmann
weiſt dieſe Anſicht entſchieden zurück. Er betont ſcharf den Gegenſatz zwiſchen primitivem
Gemeinſchaftslied und Volkslied, letzteres iſt ja nur entartetes Kunſtlied. Früher verwendete
man die Ausdrücke „Volkslied“ und „volksmäßiges“ oder „volkstümliches“ Lied; dieſe Be⸗
zeichnungen find noch heute vielfach gebräuchlich. Ein Volkslied (im Sinne Brinkmanns wie
Hans Naumanns) kommt als Vorſtufe des Minneſangs gewiß nicht in Betracht, wohl aber
m. E. — und damit weiche ich von Brinkmanns Anſchauung ab — das primitive Gemein-
ſchaftslied. Die Lieder des Kürenbergers ſind zweifellos bewußte Kunſt, beſtimmt für ein
literariſches Publikum. Aber in den Verſen ſpürt man doch, wie ich meine, einen Nachklang
des primitiven Gemeinſchaftsliedes, und dieſen Einfluß, dieſe Nachwirkung ſollte man nicht
leugnen. Freilich ſpielt hier die Empfindung mit: ſtreng⸗logiſch läßt es ſich nicht beweiſen;
doch in Fragen der Kunſt und vor allem der Lyrik darf gewiß auch das Gefühl ein Wort
reden. Bei feiner Polemik gegen Vogt klammert ſich Brinkmann zu ſehr an den Ausdrud
„Volkslied“. Gewiß findet ſich bei Vogt nicht die ſtrenge Sonderung „primitives Gemein-
ſchaftslied“ und „Volkslied“. Aber wenn er in feiner Geſchichte der mhd. Literatur 1, 149
ſagt: „Die kleinen Liedchen des Kürenbergs find von dem ganzen naiven Reiz des Volke⸗
liedes umgeben“, fo meint er wohl etwa das, was ich ſoeben als meine Auffaſſung hinſtellte. Nit
Brinkmann, Entſtehungsgeſchichte des Minneſangs | 623
„Volkslied“ will er nur das Urſprüngliche, das Schlichte, Einfache bezeichnen. Von Nach⸗
wirkung des primitiven Gemeinſchaftsliedes in der Anfangszeit des Minneſangs ſpricht
übrigens auch Hans Naumann, deſſen wegweiſende Unterſuchungen — neben denen John
Meiers und Alfred Götzes — Brinkmann mit Recht warm hervorhebt. In dem Bande
„Primitive Gemeinſchaftskultur“ (Jena 1921) heißt es S. 6: „Wir nehmen vor dem
Minneſang heute kein Volkslied mehr an, wohl aber ein primitives Gemeinſchaftslied, das
im Minneſang, namentlich dem frühen, ſeine deutlichen Spuren hinterlaſſen hat.“ Brink⸗
mann kommt dann auf die lateiniſchen Liebesbriefe zu ſprechen, die im Anhang von MF. ab⸗
gedruckt ſind. Er ſtellt ſie durch Heranziehung weiterer Zeugniſſe in das rechte Licht und zeigt,
wie fie Begriffe entwickeln, die z. T. im Minneſang begegnen. MF. 3, 1 — das Gedicht vom
Herzensſchlüſſelein — „ſcheidet aus der Geſchichte der deutſchen Lyrik“ nach Brinkmann aus:
hier handelte es ſich nicht bloß um Zuſammenfaſſung von Gedanken, die in dem Briefe vorher
wiedergegeben ſeien, ſondern wir hätten es vermutlich mit rhythmiſcher Reimproſa zu tun.
Übrigens hat ſchon Haupt Zweifel geäußert. Trotz allem halte ich MF. 3, 1 für eine Strophe;
dem Schreiber ſchwebte wohl das Bild von drei Reimpaaren vor. Auch MF. 3, 7 und 3, 12
möchte Brinkmann ſtreichen. In J, 7 ſtand (wie ſchon Singer in den Beiträgen 44, 427
betont) urſprünglich in der Handſchrift: daz der künec von engellant læge an minem
arme. Singers Deutung, nach der künec von engellant = Chriſtus iſt, dünkt Brink⸗
mann am wahrſcheinlichſten; von weltlicher Liebe ſei alſo in 3, 7 nicht die Rede. Und 3, 12
— dies „belehrende, gar nicht lyriſche Gedicht“ (S. 107) — gehöre wohl in eine viel ſpätere
Zeit. Bei der Würdigung des Kürenbergers ſucht Brinkmann die Entſtehung des Wechſels
aufzuhellen. Aufs neue ſetzt er ſich mit Schwietering auseinander. Ovid kommt nach ihm
als Anreger nicht in Betracht. Die Erklärung findet er wieder im Mittellateiniſchen. „Der
mittellateiniſche Brief⸗ und Epiſteltauſch“ hat den entſcheidenden Anſtoß gegeben. Aber auch
das Schöpferiſche in der ſtarken Perſönlichkeit des Dichters wird gewürdigt: der Kürenberger
hat das Ubernommene ſeiner künſtleriſchen Art angepaßt und „ſo recht eigentlich erſt zu ſelb⸗
ſtändiger Form“ (S. 116) erhoben. Auch die Dichtungen Meinlohs von Sevelingen ſucht
Brinkmann von der mittellateiniſchen Literatur aus zu erklären. Die unter dem Namen
Dietmars von Eiſt überlieferten Verſe zeigen keinen einheitlichen Stil. Brinkmann unter⸗
ſcheidet zwei Entwicklungsſtufen des Dichters und meint, die Bekanntſchaft mit der Vaganten⸗
poeſie habe Dietmar neue Formen und einen neuen Inhalt gebracht — ſo deutet er die auf⸗
fallende Verſchiedenheit in dem Schaffen des Sängers. Der Einwirkung der mittellateini⸗
ſchen Poeſie in der Kunſt „Von Hauſen bis Walther“ geht dann das letzte Kapitel nach. Wir
verfolgen den Weg nicht im einzelnen. Nur eins ſei hervorgehoben. Auf S. 152 findet ſich
— in geſperrtem Druck — die Behauptung: „Walther begann ſich von dem konventionellen
Minneſang loszulöſen, als er die Vagantenpoeſie kennenlernte.“ Und auf S. 161 heißt es,
„Bekanntſchaft mit mittellateiniſcher Poeſie“ ſei „das ſchlechthin ausſchlaggebende Moment
in Walthers Leben, das aus ſich heraus die Wandlung ſeines Dichtens auf der ganzen Linie
befriedigend erklärt.“ Damit geht Brinkmann weit über die Anſicht hinaus, die Carl von
Kraus in ſeiner tiefen, harmoniſch in ſich abgeſchloſſenen Rede „Walther von der Vogelweide
als Liebesdichter“ (München (1925) vertritt: er ſpricht dort S. 8 von den „ganz neuen An⸗
regungen“, die der Künſtler von der Poeſie der Vaganten empfangen habe. Kurz vor Brink⸗
mann hatte W. H. Moll eine Arbeit „Über den Einfluß der lateiniſchen Vagantendichtung
auf die Lyrik Walthers von der Vogelweide und die ſeiner Epigonen im 13. Jahrhundert“
(Amſterdam 1925) veröffentlicht, zu der man Guſtav Ehrismanns Beſprechung in der
Deutſchen Literaturzeitung N. F. 3. Ihg. (1926) Sp. 2573 2575 vergleiche. Molls und
Brinkmanns Unterſuchungen berühren ſich vielfach. Daß mittellateiniſche Literatur nicht bloß
auf Walther von der Vogelweide, ſondern überhaupt auf den Minneſang eingewirkt hat, iſt
wohl gewiß. Gerade das vorliegende Buch zeigt es aufs neue. Dieſem Einfluß vermag ich
jedoch keine „ausſchlaggebende Bedeutung zuzugeſtehen. Brinkmann geht in ſeinen Behaup⸗
tungen zu weit. Gewiß bringt er eine Menge von Einzelbelegen, um die Beziehungen zwiſchen
Minneſang und mittellateiniſcher Poeſie zu erhärten. Seine Beweisführung iſt aber auch
bisweilen konſtruiert; man denke etwa an die Darſtellung von der Entſtehung des Wechſels
beim Kürenberger! Nicht überzeugend im Sinne des Verfaſſers ſind für mich z. B. die Ver⸗
824 Forſchungsberichte
gleichsſtellen, die er S. 129 zu dem Kaiſer Heinrich zugeſchriebenen Liede MF. 4, 35 bei-
bringt. Müſſen die an ſich feſſelnden Parallelen, die Brinkmann aus der lateiniſchen Literatur
heranzieht, wirklich immer auf Entlehnungen beruhen? Der Dichter des Mittelalters iſt ſtark
an die Gemeinſchaft gebunden, er löſt ſich aus dem Kreiſe ſeiner Umgebung nicht ſo ſcharf
heraus wie etwa der Künſtler der Gegenwart. Und zudem gibt es doch Motive, die in der
Liebespoeſie der verſchiedenſten Völker begegnen, eben weil die dichteriſche Perſönlichkeit aus
dem Urquell der Seele ſchöpft, weil ſie aus der Empfindung heraus ſpricht und dieſe geſtaltet.
Aber Brinkmanns Buch iſt auch reich an Anregungen und feinen Einzelbeobachtungen. Her⸗
vorgehoben ſei die warme Charakteriſtik Heinrichs von Morungen, deſſen Lieder uns Carl
von Kraus jüngſt in einer prächtigen Neuausgabe beſchert hat (München 1925). Willkommen
heißen wir u. a. den Hinweis auf die lateiniſche Parallele zu Walther 94, 4: Dö der sumer
komen was auf S. 154 oder die Betrachtungen zu Walther 53, 25: St wundervol ge-
machet wip auf S. 155, und weiterhin etwa die Motivüberſicht S. 156 f. im Anſchluß
an Walther 60, 34: Ich wil nũ teilen, e ich var; bier wäre noch an Heine zu erinnern.
Das Buch greift fördernd in die Minneſangforſchung ein. Das wird auch der freudig zu-
geſtehen, der Brinkmanns Haupttheſe nicht in vollem Umfange beizupflichten vermag. Wei⸗
tere Unterſuchungen haben noch viel zu klären. Sie werden manche Behauptungen zum min⸗
deſten einſchränken und zudem die anderen Kräfte gebührend berückſichtigen müſſen, die den
Minneſang vorbereitet und im Laufe feiner Entwicklung beeinflußt haben; es gilt, die mannig-
fachen Einwirkungen gegeneinander abzuwägen und den notwendigen Ausgleich zwiſchen den
verſchiedenen Mächten und Möglichkeiten zu finden.
Liegnitz. Helmut Wocke.
Plenzat, Karl, Die Theophiluslegende in den Dichtungen des Mittelalters: Germa-
niſche Studien, Heft 43. E. Ebering, Berlin 1926.
Die Legende gehört ſtofflich zu den Erlöſungsdichtungen, wie der Menſch von Gott abfällt,
ſich dem Teufel verſchreibt, aber aus Irrtum und Schuld zu Gott zurückkehrt. Die Mittler-
rolle der Maria gibt der Erzählung ihr eignes Gepräge, den Glauben an die erlöſende Kraft
reiner Weiblichkeit. Vom 10. 17. Jahrhundert reichen die lateiniſchen, deutſchen, franzö ⸗
ſiſchen, niederländiſchen, engliſchen, italieniſchen und ſpaniſchen Dichtungen, die meiſt auf die
lateiniſche, aus einer griechiſchen Vorlage überſetzte Faſſung des Diakon Paulus um 880
zurückzuführen ſind. In den mittelniederdeutſchen Dramen erblickt Plenzat den Gipfel der
weitausgedehnten Theophilusdichtung überhaupt. Die Arbeit beginnt mit einem kurzen Be⸗
richt über Urſprung und Überlieferung der Legende, beſchäftigt ſich ſodann ausführlich mit
ſämtlichen erzählenden und dramatiſchen Bearbeitungen des Mittelalters, unter nachdrück⸗
licher Hervorhebung der auf deutſchem Boden entſtandenen Werke, und erörtert im Schluß ⸗
kapitel das Theophilusproblem nach ſeiner materialen und formalen Seite. Aufbau und
Gliederung der Gedichte wird mit verſtändnisvollem Einfühlungsvermögen dargeſtellt, alfe
der künſtleriſche Wert ſorgfältig erwogen und beurteilt. Auf niederſächſiſchem Boden er⸗
wuchſen die wertvollſten Dichtungen, die lateiniſchen Verſe der Hrotsvith von Gandersheim,
die deutſchen des Brun von Schonebeck, die Dramen, die in dreifacher Geſtalt in den drei
Handſchriften aus Helmſtädt, Stockholm und Trier überliefert ſind. Als Zuſätze des erſten
Dramenverfaſſers () zur Legende find zu erwähnen die Bußpredigt, die den Theophilus zur
Umkehr erſchüttert, und das Geſpräch zwiſchen Chriſtus und Maria in ſeiner ergreifenden
Steigerung. Das Drama kommt mit einer Mindeſtzahl von Perſonen aus, Chriſtus und
den Prediger hat der Verfaſſer hinzugefügt; aber alle Geſtalten haben perſönliche Eigenart
gewonnen. Der Stockholmer Theophilus iſt ein unbeholfener Verſuch zur Erweiterung: er
hat eine Wahlſzene dem Selbſtgeſpräch des Theophilus vorangeſtellt und die Perſonen ver ⸗
mehrt. „Die Bemühungen des Bearbeiters bedeuten eine Erweiterung, kaum aber eine Be ⸗
reicherung und durchaus keine Verbeſſerung des urſprünglichen Dramas.“ Um ſo mehr trifft
dies für die Trierer Handſchrift zu, die leider nur ein Drittel des zu beträchtlichem Umfang
gediehenen Spieles überliefert. „Inhalt, Aufbau, und Form lehren, daß hier kein unbe⸗
deutender Dichter und Dramatiker am Werke iſt. Mit ſicherem Gefühl für Bühnenwirk
ſamkeit geſchaffen, von lebendigem Dialoge getragen, durch muſikaliſche Einlagen und panto⸗
Bolte, Eine ungedruckte Poetik Kaſpar Stielers 625
mimiſche Zwiſchenſzenen bereichert, das Intereſſe immer wieder ſpannend und ſteigernd, wirk⸗
liche Menſchen, nicht Typen und Schemen vor die Zuſchauer ſtellend, gehört dieſes Dramen ⸗
bruchſtück zu den wertvollſten Erzeugniſſen mittelalterlicher deutſcher Bühnendichtung.“ Hoff⸗
mann von Fallersleben ſah hier den Anfang unſerer Kunſtdramen. Mit Sarauws kritiſcher
Ausgabe des niederdeutſchen Spiels von Theophilus (Kopenhagen 1923) konnte ſich Plenzat
nicht mehr auseinanderſetzen. Die Bearbeitung des Theophilus von Max Gümbel⸗Seiling
in den deutſchen Volksſpielen des Mittelalters (1918) erwähnt er nicht, obwohl. er den
Theophilusſtoff nicht nur als Gegenſtand gelehrter For ſchung, ſondern als lebendiges und
Leben zeugendes deutſches Geiſtes⸗ und Kulturgut ſchätzt, das auch unſerer Zeit etwas zu
bieten vermag. Wir begrüßen Unterſuchungen wie die vorliegende, die auf vergleichendem
Wege einen Stoff nach ſeinen verſchiedenen Bearbeitungen im Wandel der Zeiten und
Völker, im Hinblick auf die jeweiligen Vorlagen und ihre mehr oder weniger geſchickte und
künſtleriſche Verwertung verfolgt und das einzelne Werk in großem und weitem Zufammen-
hang zu verſtehen und zu würdigen lehrt.
Roſtock. Wolfgang Golther.
Bolte, Joh., Eine ungedruckte Poetik Kaſpar Stielers. Sitz.⸗Ber. d. Preuß. Akad.
d. Wiſſ., XV, 1926.
1893 machte Edward Schröder in ſeinem Artikel über Stieler in der ADB. auf die
„Dichtkunſt des Spaten“ aufmerkſam. Bolte hatte ihm mitgeteilt, daß er das Manu⸗
ſkript in der Kgl. Bibliothek in Kopenhagen gefunden hatte. Nun liegen Auszüge daraus
in dem SB. vor. Verfaſſer beſchränkt ſich auf eine knappe Überfiht des Inhalts,
eine Auswahl aus den 5704 Alexandrinern, gibt ein Bild von dem Ton und der Geſtal⸗
tung des Werks. Die Auswahl war nicht leicht. Auch in dieſem, zu Anfang in ſauberer
Schrift niedergeſchriebenen Buch, das bis zur letzten Seite trotz der vielen Korrekturen
und der feinen, ſehr kleinen Schrift der letzten Hälfte deutlich lesbar iſt, zittert die Haſt des
höfiſchen Schreibers, der nur nach der Laſt der reichen Tagesarbeit in „Nebenſtunden“ ſeinem
pädagogiſchen Drang ſich widmen kann: unabgewogen, unvollendet folgt eine Sammlung der
anderen. Die Trauer, Luft- und Miſchſpiele ſtehen neben einer Fülle von Gelegenheitsgedich⸗
ten; Briefmuſter aus dem Franzöſiſchen mit harten, ungefügen Überſetzungen, Auszüge aus
Cicero, Buchner u. a. in den „Ideae Rhetoricae“, ein Geſchreibſel wie der „Schattenriß“,
Geſang⸗ und Gebetbüchlein reihen ſich an die umfangreichen Werke zur „Sekretariatkunſt“.
Alles das ſteht in feiner bunten Fülle neben den wertvolleren Werken, wie in der „Geharnſch⸗
ten Venus“ die vielen leeren Machwerke neben den köſtlichen jugendfriſchen, unbeſchwerten
Gedichten.
Die „Dichtkunſt“ verdient weitere Beachtung, als ihr bisher zuteil geworden iſt, da ſie nun
in Auszügen allgemein zugänglich iſt. Das Verhältnis der Theorie der Dichtkunſt des
17. Jahrhunderts zur Dichtkunſt kann von hier aus neues Licht erhalten. Eingehende Be⸗
ſchäftigung mit den Werken der Barockzeit und Einzelſtudium der Werke Stielers läßt immer
wieder erkennen, daß die „Dichtkunſt“ die Arbeiten von Neumark, Kindermann, Schottel,
Morhof in weſentlichen Dingen, wie in ſtilkritiſchen Bemerkungen übertrifft.
Erſt von der „Dichtkunſt“ aus kann ein Forſcher K. Stielers Geſamtwerk gerecht werden.
Vorarbeiten zu einer gerechten Würdigung ſind da. Köſters Meiſterwerk gibt ſtetig gültige
Richtlinien zur Erkenntnis des Geiſtes im Jugendwerk Stielers, Höfers ſorgfältige Unter⸗
ſuchungen ergänzen es, wenn ſie auch nicht zum Kern der Sache führen wollen, ſo wertvoll ſie in
ihrem negativen Ergebnis bleiben. Es gilt die drei Gruppen im Geſamtſchaffen des Spaten,
die „Geharnſchte Venus“ und die Feſtſpiele, den „Teutſchen Sprachſchatz“ und das Buch
„Zeitungs Luft und Nutz“ mit den Anmerkungen zu Kindermanns „Wolredner“, ſoweit fie
ſtilgeſchichtlich wertvoll ſind, und die „Dichtkunſt“ auf einheitliche Tendenzen zu unterſuchen,
um von ihnen aus zu barockem Lebensgefühl und zu barockem Geſtalten aufzuſteigen, immer
in inniger Verhaftung im perſönlichen Erleben, ſoweit ihm nachzuſpüren iſt, und in dem
Zeitgeſchehen.
Sehr zu begrüßen wäre es, wenn weitere Stellen aus der „Dichtkunſt“ veröffentlicht würden,
die die Stellung Stielers zur Antike und zu ſeinen Vorbildern aufzeigen würden und Er⸗
Gupborion XX VIII. 40
626 Forſchungsberichte
gänzung fänden in feinen Außerungen zum „Wortkunſtwerk“ (etwa S. 98/99, 109/120
der Hf.). Denn das ſcheint doch der Kern feines unermüdlichen Strebens zu fein: in den Geiſt
der Sprache immer tiefer einzudringen, um ſie „feiner“ zu geſtalten, um ſie „nutzbar“ zu
machen. Die Unterſuchungen Jellineks, Neumanns und Hankamers würden dann Ausweitung
und Bereicherung finden. Und der hohen Einſchätzung der lyriſchen Sprachkraft des Dichters
der „Geharnſchten Venus“ ſeit Lemckes Darſtellung würde dann feſtere Unterbauung zuteil.
Seine Stellung innerhalb der Literatur des 17. Jahrhunderts wird ſich dann kaum ver⸗
ſchieben. Über den Leipziger Kreis nach Fleming, dem er gewöhnlich eingereiht wird, erhebt
er ſich mit einzelnen Gedichten weit hinaus. Gerade die „Dichtkunſt“ zeigt, daß ihm Dichten und
Dichtung nicht nur „Nebenwerk“ war, wie den Offizieren, Stadträten, Theologen und
Muſikern jenes Kreiſes. Nur weniges bei Brehme, Waſſerhun, Schoch, Greflinger, Finckelt⸗
haus reicht an die Kunſt Stielers in ſeinen beſten Sachen heran, aber Schirmer und Fleming
bleiben in vielem doch unerreicht. — Nun nach dem Grundſätzlichen nur einige kurze Bemer⸗
kungen zum SB.:
Das Madrigal auf den Tod feiner Frau: „Mein Kind, du weichſt nun .., das Höfer
zuerſt veröffentlicht hat und J. Bolte S. 103 „ſchlicht und innig“ nennt, verdient, wie die
meiſten ſeiner Gelegenheitsgedichte und manches aus ſeinen Spielen in Vergeſſenheit zu ge⸗
raten. Es erinnert ſtark an die flachen Worte König Heinrichs beim Tode ſeiner Mutter in
der „Ernelinde“ und an die Verſe in der „Dichtkunſt“ (S. 90):
Der Tod iſt anders nichts, als dieſes Geiſtes Wich
der von den Sternen ab in unfre Leiber ſtrich,
worinn er eine Zeit verſperrt lag und gequälet
bis er ſich reißet durch und neue Freyheit wehlet,
in der er erſtlich ſtund.
Da gibt es wertvolleres Gut zu veröffentlichen, wie etwa den Chor der Faunen und Hama⸗
dryaden in „Ernelinde“, der an Töne in der „Geharnſchten Venus“ erinnert:
Erquickerin der zarten Seelen,
Ergetzung der beklemmten Bruſt,
Der Erden Band, des Himmels Luſt,
Luſt, über alle Luſt zu wehlen,
Verlangte Liebe, du allein,
mußt dieſes Rundes Stütze ſein.
Wenn eine Liljen Hand, wie Sende,
der andern wird geſchlagen ein.
Ein Mund dem Munde nah darff ſeyn,
und ſich gewährt der Küſſe Freude:
Wenn Amor ſchwingt die Sieges ⸗Fahn
alsdann fängt man zu leben an.
Zur Datierung und zur Frage, wie das Manuffript nach Kopenhagen gekommen ift, müſſen
eingehendere Unterſuchungen zur Lebensgeſchichte und dann literarhiſtoriſche Studien ſeiner
Beziehungen zu Hamburger und Holſteiner Kreiſen feſte Anhaltspunkte geben. Bolte ſcheint
das Jahr, das die „Dichtkunſt“ auf der erſten Seite trägt, auch als Entſtehungsjahr anzunehmen.
Der Hinweis auf den Wieſenburger „Hof“ iſt nicht evident genug. Unterſuchungen über die
Stellung Stielers zu den Leipzigern, Hamburgern, zu Chr. Weiſe bis zu den Schlefiern ver⸗
mögen da erſt Klarheit zu bringen. Seltſam iſt es u. a., daß der in Holſtein tätige Chr.
Göring, deſſen Werk „Liebes⸗Meyen⸗Blümlein“ denſelben Buchdrucker wie die „Geharnſchte
Venus“ hat, S. 41 die „Schäffer am Geren⸗Geſtade“ anruft. Durch Kindermann zu Riſt,
durch Lund, Greflinger u. a. werden Beziehungen von Leipzig und Erfurt nach Hamburg und
Holſtein beſtanden haben und daher rühren wohl die Vermutungen nach Falckenſtein u. a.,
daß Stieler in Hamburg literariſche Privat⸗Vorleſungen gehalten habe.
Frankfurt a. M. R. Murtfeld.
Niederdeutſches Balladenbuch 627
Niederdeutſches Balladen buch. Hrsg. von Albrecht Jans ſen und Johannes
Sch rͤpel. Mit einer Einleitung von Börries Frhr. von Münch hauſe n. Mit
Holzſchnitten von Bernh. Winter. Verlag von Georg D. W. Callwey, München 1925.
Auswahlſammlungen deutſcher Balladen gibt es eine Menge. Eine Sammlung nieder⸗
deutſcher Balladen iſt etwas Neues, und ich kann aus meiner Kenntnis des plattdeutſchen
Schrifttums bezeugen, daß viel Suchen nötig iſt, um eine ſolche Sammlung zuſammen⸗
zubringen. Plattdeutſche Schriftſteller gibt es zwar in Fülle — von 1804 1914 zählte ich
527 — aber der Dichter, die einige Balladen oder gar wie Chriſtian Hinr. Wolke (1804)
und Auguſt Seemann (1902) ſolche in größerer Anzahl bieten, ſind nur wenige. Nur 37
plattdeutſche Dichter ſind in dem Balladenbuche vertreten, jeder meiſt mit ein bis drei Stücken,
wozu noch 17 ältere Volkslieder kommen. Von jenen Dichtern find die älteſten Groth (1852)
und Fooke Müller (1857). Frühere waren den Herausgebern nicht bekannt oder ihre Bal⸗
laden ihnen nicht gut genug. Immerhin iſt es von literaturgeſchichtlichem Belang, von ihnen,
den Vorgängern Groths, zu wiſſen. Die älteſte plattdeutſche Kunſtballade, die ich kenne, iſt
„Schön Roſamund“ (1794) von Broxtermann, der zu dem Kreiſe um Bürger gehörte. Die
Balladen Wolkes habe ich ſchon erwähnt. Zu nennen ſind noch „De witte Duwe“ bei Fir⸗
menich Bd. 1 S. 278, Gedichte Junkmanns (1844), „Moi Hanne“ von Enno Hector. Wenn
die Herausgeber hochdeutſche Balladen von 13 aus Niederdeutſchland gebürtigen Dichtern
und 2 holländiſche eingemiſcht haben, ſo iſt das ohne Zweifel geſchehen, um ihrem Buche einen
anſehnlichen Umfang zu geben. Viel Gutes zu finden iſt ihnen gelungen. „Grade unter den
plattdeutſchen Werken dieſer Sammlung finden ſich“, nach B. v. Münchhauſens gewichtigem
Urteil, „Perlen von einer unvergleichlichen Schönheit.“ Freilich ſcheint mir nicht jedes Stück
der Sammlung eine Perle, und gar manches iſt ſicher keine Ballade. Komiſch wirkt, wenn
S. 296 ein Gedicht beginnt: „Dat was de Wildſchütt Eidi, Schoot Iſern Hinnerk doot.
Nu was de Hinnerk heidi!“ (Heidi iſt auf der letzten, Eidi auf der erſten betont.) Hochdeutſch
könnte man analog reimen: „Es war der Wilddieb Utſch, Schoß Eiſern Heinrich tot, Nun
war der Heinrich futſch!“ Dieſer Anfang wie der Schluß des Gedichtes laſſen ſchließen, daß
die Komik vom Dichter beabſichtigt war, daß alſo keine Ballade, ſondern eine Parodie vor⸗
liegt. Daß das folgende Gedicht, das bekannte Lied vom Henneke Knecht, weder eine Ballade
noch etwas ähnliches iſt, bedarf keines Beweiſes. Eine ganz ungenügende ſchlechte Zugabe
iſt das Quellenverzeichnis auf S. 317. Bei einer Neuauflage des ſonſt hübſchen Buches
dürfte es ſich empfehlen „Moi Hanne“ von Enno Hector, „De Weſenberger Klok“ von Fritz
Reuter, von Aug. Seemann „Hinnerk Sluk“ und „Dor danzt Bornholm hen“ aufzunehmen,
ſowie die obengenannten älteſten Balladen, die Gedichte von Berling (1860), Eggers
(Tremſen S. 110 [1875]), Gildemeiſter (1881) durchzuſehen. Um für die abgedruckten
Volksballaden die beſte Faſſung zu finden, empfehle ich das treffliche Buch von Alpers, die
alten niederdeutſchen Volkslieder (1924) zu beraten. In dem Geleitwort, mit dem
B. v. Münchhauſen das Buch einführt, erklärt er, daß in Deutſchland die Ballade weſentlich
niederdeutſch ſei, „da iſt in Schwaben nur der etwas trockene Uhland zu nennen, denn Mörike
war faſt nur Lyriker und iſt zudem niederſächſiſchen Stammes, in Bayern der Graf Platen,
in Oſterreich Graf Auersperg“ uſw. Es iſt ſchwer dem nicht zu widerſprechen, wenn man
an Schiller, Schwab, Pfau, Zimmermann, dann Vogl, Seidl, Zedlitz, Strachwitz uſw. denkt.
Berlin⸗ Wilmersdorf. Wilh. Seelmann.
John Brinckmans plattdeutſche Werke, hrsg. von der Arbeitsgruppe der Platt⸗
deutſchen Gilde zu Roſtock. 1. Bd. Vagel Grip. Een Dönkenbok. Verlag von Paul
Chriſtianſen, Wolgaſt (Pommern) 1924.
John Brinckman, den man Groth und Reuter heute als dritten plattdeutſchen Klaſſiker
anreiht, ſteht feinem Landsmann Reuter im ganzen an Bedeutung nach, im ſprachlichen Aus⸗
druck iſt er aber, wenigſtens in ſeiner Proſa, ſelbſt dieſem Meiſter der plattdeutſchen Rede
überlegen. Reuter floſſen die Worte ungeſucht aus der Feder, ihm kam es vor allem auf In⸗
halt und Gedanken an. Brinckmans Stil läßt ſeine beſondere Vorliebe gerade für das
Sprachliche erkennen. In Notizbüchern vermerkte er ſich ihm im Verkehr entgegentretende
nicht alltägliche plattdeutſche Wörter und Redensarten, und mancher Einzelzug in ſeinen
ſchiedenheiten der Redeweiſe meifterhaft zur Charakteriſierung einzelner Perſonen zu ver-
wenden. Leſer, welche plattdeutſches Stilgefühl haben, empfinden Brinckmans beſondere Art
als eigenartigen Reiz, und es hat, zumal auch ſein Humor dem Reuters wenigſtentz mitunter
ebenbürtig iſt, ſtets eine kleine Gemeinde ihn hoch und vielleicht überſchätzender Verehrer ge ⸗
geben. Wenn er zu Lebzeiten nur einen kleinen Leſerkreis hatte, fo iſt daran ſchuld, daß feine
oft ungewöhnliche Worte verwendende Sprache und feine treu zur Mundart ſtimmende Recht ⸗
ſchreibung für Viele weniger leicht verſtändlich als die Reuters war. Nicht ohne Erfolg
ſuchten nach feinem Tode die Herausgeber feiner Schriften deren Abſatz durch Umſchreibung
in die Reuterſche Orthographie zu beſſern. In der verbreiteſten Ausgabe, die in Heſſes Verlag
erſchien, iſt ſogar feine Roſtocker Mundart in die des mecklenburgiſchen Binnenlandes um ⸗
geſetzt. Daß in den nach ſeinem Tode gedruckten Ausgaben viele und umfangreiche Stellen
fehlen, hat erſt 1906 Römer an den Tag gebracht. Es iſt zu begrüßen, daß eine Gruppe Mo-
ſtocker Gelehrter endlich eine kritiſche Ausgabe ſchaffen will.
Der vorliegende Band enthält die 1859 erſchienene Gedichtſammlung „Vagel Grip“, das
1855 in einem Einzeldruck verbreitete Gedicht „Faſtelabendspredigt“, welches die Landarbeiter
vor der Auswanderung nach Amerika warnt, und S. 188 — 206 Inedita des Nachlaſſes.
Der Titel „Vagel Grip“ bezieht ſich auf den Greif im Wappen Roſtocks, feiner Vaterſtabt.
Abgeſehen von den Zueignungsgedichten zu Anfang und Schluß betrifft jedoch kein einzig
Gedicht Roſtock, alle beziehen ſich fo ausſchließlich auf dörfliches Leben, Denken und Empfin⸗
den, daß man annehmen muß, der Dichter ſei damals von einer Doktrin beherrſcht geweſen.
Die Textkritik des Bandes hat der Roſtocker Profeſſor für niederdeutſche Philologie Herm.
Teuchert übernommen. Sein Text unterſcheidet ſich von dem des Originals durch Umſetzung
in eine der Reuterſchen ähnliche Rechtſchreibung, den Erſatz des von Brinckman feiner Aus-
gabe beigegebenen Gloſſars durch Fußnoten mit knappen, oft eigenen Worterklärungen und
durch die S. 210 — 233 hinzugefügten Anmerkungen, die über die hſl. Faſſungen, vereinzelt
aber auch über Quellen u. a. belehren. Teuchert verdankt man die Aufſpürung deſſen, was
von Konzepten Brinckmans noch vorhanden iſt, und deren ſorgfältige Vergleichung, ſowie
mit ihrer Hilfe die Beſſerung finnftörender u. a. Fehler. Nur ein Verſehen iſt mir auf-
geſtoßen, S. 167, 25 muß es „dar“ ſtatt „dat“ heißen, vgl. 173, 4.
Durch die neue Orthographie haben die originalen Wortbilder ein verändertes Ausſehen
und leichtere Verſtändlichkeit erhalten. „Vare“ iſt zu „Vader“ (Vater), „werre“ zu
„wedder“ (wieder), „doa“ zu „dor“ (dar) geworden, d. h. die alten inlautenden d, die mund ·
artlich zu 7 wurden, ſowie die im Auslaut geſchwundenen 7 find wieder eingeſetzt. Freilich
nicht immer. Dem Augenreim zuliebe find die 7 oft beibehalten, z. B. 174, 27 „Jur“
(Jude): „Bur“ (Bauer), 90, 25; „der“ (ſtatt ded, tat): her. Dieſelbe Inkonſequenz hat
ſich übrigens Brinckman ſelbſt erlaubt, wenn er 124, 18 „Bullern“ ſchreibt um einer Ver⸗
wechſlung mit „Bullen“ vorzubeugen. Das merkwürdige Z in „üns“, „ründ“ ufw., für das
andere Ausgaben u einſetzen, iſt mit Recht belaſſen. Es wird ſtellenweis heute noch zur Ver
tretung älteren palatalifierten u. dort geſprochen, wo die richtige Ausſprache des Palatallautes
ausgeſtorben iſt.
In den Fußnoten erklärt Teuchert einzelnes richtiger als in feinem vielleicht in Eile her ;
geſtellten Gloſſar Brinckman ſelbſt. Zu einigen Stellen vermiſſe ich die Erklärung, ſo zu
„Bürt“ 172, 11; 202, 22 (Küchenbord); „Span“ 171, 9; 74, 11 „Gretmoder“ (Mutter
Grete); „lurrer“ 199, 17 7 aus ſtimmloſem d). S. 58 „verſpakt“ heißt überall „verſtockt“;
91 „Ful Lüd' kam' uppen güllen Stohl“ „auf den glühenden Stuhl (in der Hölle)“ ? „güllen“
heißt „golden“, „gluen“ oder „gläuen“ glühenden. 106 gemeint iſt die Elſter, denn fie
„tſcharkt“, während der Häher kräht. 108 „Queſenkopp“, dämlicher Menſch, nicht Gries ·
gram; „quüchen“ iſt nicht huſten, ſondern keuchend atmen; 110 „matten“, eine Metze von
jedem Scheffel als „Mahllohn“ nehmen; 127 „Schuchtel“, Vogelſcheuche; 142 gemeint iſt der
Fliedertee, die Beeren find wirkungslos; 170 „Affid“, Scheunenfach neben der Tenne;
201 „Heukendräger“, der den Mantel nach dem Winde trägt; 205 iſt nicht an ein Spill am
Strande, ſondern an ein Schiffsſpill zu denken, wie es als Ankerwinde oder zum Bugſteren
gebraucht wird, falls Brinckman nicht etwa das Steuerrad als Spill auffaßt.
Brinckman, Plattdeutſche Werke 629
Zu den Anmerkungen. Quelle zu Stutenollſch S. 64 iſt die Anekdote bei Hoffmann von
Fallersleben, Parlament zu Schnappel (1850) S. 176. — Hanning S. 198, 17 ff. iſt eine
Umdichtung des weit verbreiteten „Hänsken feet in Schoſteen“. — Zu S. 143 war bei dem
Nachweis der Quelle auf Ruſt's Preisſchrift S. 95 zu verweiſen. — Zu S. 179, 9 iſt
„fluſchen“ „vorwärts gehen“ zu begründen, das Wort bedeutet ſonſt „tüchtig ſchaffen“ und
kann in dieſer Bedeutung vielleicht auch an dieſer Stelle gebraucht ſein. „Dat fluſcht bäter“
ſagten 1813 Landwehrleute, als fie mit dem Kolben Feinde niederſchlugen. — Zu 64, 4
„n Hamel mit Fif Been“ und 109, 9 „Sonn will Dirn“ uſw. vgl. Nd. Jahrb. 43, 11;
zu 90, 15 „wen de Koh“ uſw. vgl. ebd. 31 S. 23 und 51; zu 109, 19 „Wenn ſonn Unrack“
ebd. 31 S. 24 und 14. — Ferner ſollte auf die falſche Verniederdeutſchung einiger Wörter
hingewieſen ſein, ſo 135, 15. 155, 16 „Kart“ (Kerze); 196, 11 „weet“ (weis); vgl. zu
123, 33 „kemt“ (keimt). — Ferner zur Faſtelabendspredigt, daß ſie von dem Dichter in eine
andere als die ihm geläufige Roſtocker Mundart umgeſetzt iſt und daß ihm dabei einige Ver⸗
ſehen untergelaufen ſind.
Eingeleitet wird der Band S. 3 35 durch ein Leben Brinckmans von Wilh. Ruſt, das
mit genauer Kenntnis der geſamten Forſchung dargeſtellt iſt und dieſer ſelbſt einiges Neue
hinzufügt. So wird S. 22 feſtgeſtellt, daß die Novelle Gerold von Vollblut, welche Römer
als Werk Brinckmans neu herausgegeben hat, nicht von dieſem, ſondern von Wilh. Raabe
verfaßt iſt. Die Annahme, daß Brinckman unter dem Einfluſſe Auerbachs geſtanden habe,
halte ich für verfehlt. Zu S. 20 kann ich nachtragen, daß Brinckman, wie mir fein ältefter
Sohn erzählte, der Einladung eines Engländers, mit dem er ſich während der Seefahrt be⸗
freundet hatte, bei ſeinem Aufenthalt in England gefolgt war.
Die Werbekraft des Bandes für den Dichter wäre größer, wenn darin ſein Roman
„Kasper Ohm“ enthalten wäre. Erſt dieſes Werk hat das Intereſſe für ſeine übrigen Schrif⸗
ten erwirkt. Der „Vagel Grip“ bietet in ſeiner das ländliche Erleben und die ländliche Um⸗
welt erfaſſenden Kleinmalerei ein Bild von einer Wahrheit, das kaum getreuer gezeichnet
werden kann. In dieſen Schilderungen mag er Gedichte Groths ähnlichen Inhalts, wenn
man will, übertreffen. Ihn aber im allgemeinen als Lyriker dem vielſeitigen und groß⸗
zügigeren Verfaſſer des „Quickborns“ gleich ⸗ oder gar voranzuſtellen, wie die Herausgeber
es tun, iſt nicht gerechtfertigt. Brinckmans Umwelt ift gar zu beſchränkt, und er ſieht in ihr
Alles mehr als guter Beobachter als mit dem verklärenden Blick des Dichters. Keinem ſeiner
Gedichte iſt ein außerordentlicher Zug eigen, und keins erzeugt in dem Leſer eine gehobene
Stimmung. Um Groth voll zu würdigen, muß man ſeine plattdeutſchen Vorgänger kennen.
Bei allen, oft in bewußter Abſicht, die gern übertrieben tagtägliche Redeweiſe und die Platt⸗
heit des Kleinbürgers. Erſt Groth hat der plattdeutſchen Dichtung eine gehobene Sprache
und würdigen Inhalt gegeben. Ohne ſein Vorbild hätte Brinckman ſchwerlich ſeinen
„Vagel Grip“ gedichtet.
Berlin⸗ Wilmersdorf. Wilh. Seelmann.
Einlauf.
(Abgeſchloſſen am 1. Oktober 1927.)
1. Bücher.
(Beſprechung vorbehalten.)
Allwohn, Adolf, Der Mythos bei Schelling: Kant ⸗Studien. Ergänzungshefte im Auftrage
der Kant⸗Geſellſchaft, Heft 61. Pan⸗Verlag Rolf Heiſe, Charlottenburg 1927.
Antſcherl, Otto, J. B. de Almeida Garret und feine Beziehungen zur Romantik: Samm-
lung Romaniſcher Elementar- und Handbücher II. Reihe: Literaturgeſchichte. Carl Winters Uni-
verſitäts buchhandlung, Heidelberg 1927.
Arens, Eduard, Werner von Haxthauſen und fein Verwandtenkreis als Romantiker. Lothar
Schütte Verlag, Aichach 1927.
Berendſohn, Walter A., Selma Lagerlöf. Heimat und Leben, Künſtlerſchaft, Werke, Wir ⸗
kung und Wert. Albert Langen, München 1927.
Berger, Siegfried, Profeſſor D. Wilhelm Bithorn. Ernſt Schnelle Verlagsbuchhandlung,
Bad Pyrmont⸗Merſeburg (Saale) 1927.
Bergmann, Ernſt, Der Geift des XIX. Jahrhunderts. 2. verbeſſerte Aufl.: Jedermannt
Bücherei, Abteilung: Philoſophie. Hrsg. von E. Bergmann. Ferdinand Hirt in Breslau 1927.
Beth, Karl, Frömmigkeit der Myſtik und des Glaubens. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig,
Berlin 1927.
Beutler, Ernſt, Forſchungen und Texte zur frühhumaniſtiſchen Komödie. Mitteilungen aut
der Hamburger Staats- und Univerſitäts⸗Bibliothek. Neue Folge der Mitteilungen aus der Stadt ⸗
bibliothek in Hamburg. Bd. 2. Selbſtverlag der Staats- und Univerſitäts⸗Bibliothek, Ham⸗
burg 1927.
Bir 6, Paul, Die Sittlichkeitsmethaphyſik Otto Weiningers. Eine geiſtesgeſchichtliche Studie.
Wilhelm Braumüller Univerſitäts⸗Verlagsbuchhandlung, Wien und Leipzig 1927.
Böhm, Wilhelm, Schillers „Briefe über die Aſthetiſche Erziehung des Menſchen“: Deutſche
Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Geiſtesgeſchichte. Buchreihe 11. Bd. Max Nie⸗
meyer Verlag, Halle (Saale) 1927.
Breitinger, Max, Das Gemeinſchaftsproblem in der Philoſophie Kants: Pädagogiſche
Unterſuchungen hrsg. von Oswald Kroh, Tübingen. II. Reihe: Sozialpädagogiſche Unterſuchungen.
Heft 2: Friedrich Manns Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und
ihrer Hilfswiſſenſchaften. Heft 1147. Hermann Beyer & Söhne, Langenſalza 1927.
Briefwechſel zwiſchen Jacob Grimm und Karl Goedeke. Hrsg. von Je
hannes Bolte. Weidmannſche Buchhandlung, Berlin 1927.
Briefwechſel Adolf von Hildebrands mit Conrad Fiedler. Hrsg. von
Günther Jachmann. Mit ſechzehn Tafeln. Bei Wolfgang eh, Dresden [1927].
Briefe Gottfried Kellers, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Mar Nuß ⸗
berger, Bibliographiſches Inſtitut, Leipzig o. J.
Briefe an und von Johann George Scheffer. Hrsg. von Arthur Ward.
III. Bd., 1. Teil: Neumann: Veröffentlichung des Vereins für die Geſchichte von Oſt⸗ und Weſt⸗
preußen. Verlag von Duncker und Humblot, München und Leipzig 1927.
Cheſterton, G. K., Der Heilige Franziskus von Aſſiſi. Übertragen von J. L. Benveniſti.
Verlag Joſef Köſel und Friedrich Puſtet, München 1927.
C € : . r, Emmy, Eruſt Moritz Arndt als Geſchichtsſchreiber (sicl). Stiftungs verlag, Pots
dam .
Bücher 631
Czapski⸗Erdmann, Veronika, Die Auseinanderſetzung des gotiſchen Weltgefühls mit dem
antiken bei Rainer Maria Rilke. Frommannſche Buchhandlung (Walter Biedermann), Jena 1927.
Doer ne, Martin, Die Religion in Herders Geſchichtsphiloſophie. Verlag von Felix Meiner in
Leipzig 1927.
Dünnhaupt, Rudolf, Sittlichkeit, Staat und Recht bei Kant. Autonomie und Heteronomie
in der Kantiſchen Ethik. Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1927.
Dürck, Johanna, Die Pſychologie Hegels. Paul Haupt Akademiſche Buchhandlung, Bern 1927.
Ermatinger, Emil, Kriſen und Probleme der neueren deutſchen Dichtung. Aufſätze und
Reden. Amalthea⸗Verlag, Zürich⸗Leipzig⸗Wien 1928.
Fernkorn, C. M., Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. Preisſchrift: Beihefte der
„Grundwiſſenſchaft“. Nr. 5. Sonderveröffentlichungen der Johannes⸗Rehmke⸗Geſellſchaft. Verlag
Ratsbuchhandlung L. Bamberg, Greifswald 1927.
Fieſel, Eva, Die Sprachphiloſophie der deutſchen Romantik. Verlag von J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), Tübingen 1927.
Geismar Eduard, Sören Kierkegaard. Seine Lebensentwicklung und ſeine Wirkſamkeit als
Schriftſteller. Teil 1: Die Erziehung zum Beruf. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1927.
von Greyerz, Otto, Stilkritiſche Übungen. Namenloſe Textproben zur Übung des ſprachlichen
Stilgefühls. I. Stücke in ungebundener Rede. Julius Klinkhardt, Verlagsbuchhandlung in
Leipzig 1925.
von Greyerz, Otto, Das Volkslied der deutſchen Schweiz: Die Schweiz im deutſchen Geiſtes⸗
leben. Eine Sammlung von Darſtellungen und Texten, hrsg. von Harry Maync (Bern), 48. und
49. Bändchen. Verlag von Huber & Co., Frauenfeld und Leipzig [1927].
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Sämtliche Werke. Hrsg. von Georg Laſſon. Verlag
von Felix Meiner, Leipzig 1920 ff.
Bisher find erſchienen: J. Bd. (1923): Wiſſenſchaft der Logik I; 4. Bd. (1923): Wiſſenſchaft der
Logik II; 5. Bd., 3. Aufl. (1923): Enzyklopädie der philoſophiſchen Wiſſenſchaften im Grundriſſe;
6. Bd., 2. Aufl. (1921): Grundlinien der Philoſophie des Rechts mit den von Gans rebigierten
Zuſätzen aus Hegels Vorleſungen; 7. Bd., 2. Aufl. (1923): Schriften zur Politik und Rechts⸗
philoſophie; 8. Bd. (1920): Philoſophie der Weltgeſchichte I: Die Vernunft in der Geſchichte.
[Mit einer beſonderen Darſtellung des Herausgebers: Hegel als Geſchichtsphiloſoph]; 9. Bd.,
2. Aufl. (1923): Philoſophie der Weltgeſchichte II: 1. Die orientaliſche Welt. 2. Die griechiſche
und römiſche Welt. 3. Die germaniſche Welt; 12. Bd. (1925): Vorleſungen über die Philoſophie
der Religion I: Begriff der Religion; 13. Bd. (1927): Vorleſungen über die Philoſophie der
* Die beſtimmte Religion; 18 a. Bd. (1923): Jenenſer Logik, Metaphyfik und Natur⸗
vhiloſophie.
Es ſei hier nur vorläufig angemerkt, daß dieſe Hegel⸗Ausgabe nicht nur durch ihren kritiſch
bearbeiteten, philologiſch einwandfreien Text und durch ſorgfältige Regiſter, ſondern auch durch klar
und ſachlich erläuternde Einführungen zu den einzelnen Bändern ausgezeichnet if. G. St.
Hofmann, Paul, Das religisſe Erlebnis. Seine Struktur, feine Typen und fein Wahr-
heitsanſpruch: Philoſophiſche Vorträge, veröffentlicht von der Kant⸗Geſellſchaft. Nr. 28. Rolf
Heiſe, Pan⸗Verlag, Charlottenburg 1925.
John, Hans, Goethe und die Muſik: Muſikaliſches Magazin. Abhandlungen über Muſik und
ihre Geſchichte, über Muſiker und ihre Werke. Hrsg. von E. Rabich. Heft 73. Hermann Beyer
& Söhne, Langenſalza 1928.
Kaplan, Leo, Die Göttliche Allmacht. Ein religionspſychologiſcher und pſychoanalytiſcher Ver⸗
ſuch: Die Magiſche Bibliothek. III. Bd. Im Merlin⸗Verlag, Heidelberg o. J.
Kraus, Oskar, Der Machtgedanke und die Friedensidee in der Philoſophie der Engländer
Bacon und Bentham: Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie. In Verbindung mit Joſeph
Schumpeter, Hugo Spitzer, Ferdinand Tönnies hrsg. von Julius Bunzel. III. Reihe, 1. Heft.
C. L. Hirſchfeld⸗Verlag, Leipzig 1926.
Kröpp, Guſtav, Nietzſches Zarathuſtra und die chriſtliche Ethik: Philoſophiſche und pädagogiſche
Schriften hrsg. von A. Meſſer, Heft 9: Friedrich Manns Pädagogiſches Magazin. Abhandlungen
632 Einlauf
Langenſalza 1927.
Levy, Heinrich, Die Hegel⸗Renaiſſance in der deutſchen Philoſophie mit beſonderer Berückſich⸗
tigung des Neukantianismus: Philoſophiſche Vorträge veröffentlicht von der Kant⸗Seſellſchaft,
Heft 30. Pan⸗Verlag Rolf Heife, Charlottenburg 1927.
v. Liliencron, Detlev, Briefe in neuer Auswahl. Hrsg. und eingeleitet von Heinrich
Spiero. Deutſche Verlags⸗Anſtalt, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927.
Litt, Theodor, Die Philoſophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal. 2. ver ⸗
beſſerte Aufl. Verlag von G. B. Teubner, Leipzig, Berlin 1927.
Löwenſtein, Julius, Hegels Staatsidee, ihr Doppelgeſicht und ihr Einfluß im 19. Jahr⸗
8 Philoſophiſche Forſchungen hrsg. von Karl Jaſpers. 4. Heft. Verlag von Julius Springer,
rlin 1927.
Lucke, Hans, Annette von Droſte⸗Hülshoff und ihr Verhältnis zur Romantik. Ferdinand
Schöningh Verlagsbuchhandlung, Paderborn 1927.
Das maleriſche Oſtpreußen. Die oſtpreußiſche Landſchaft. I. Bd. Mit einer Ein ⸗
2 a Frieda Magnus⸗Unzer. 2. vermehrte Auflage. Gräfe und Unzer Verlag, Königsberg
i. Pr. [1927].
Mayne, Harry, Deutſche Dichter. Reden und Abhandlungen. Verlag von Huber & Co.
Frauenfeld, Leipzig o. J.
Meſſer, Auguſt, Einführung in die Pſychologie und die pſychologiſchen Richtungen der
Gegenwart: Wiſſen und Forſchen. Schriften zur Einführung in die Philoſophie. Bd. 20. Felir
Meiner Verlag in Leipzig 1927.
Mugler, Edmund, Gottesdienſt und Menſchenadel. Die ſittliche Idee im Kampf um ihre
Selbſtbehauptung innerhalb der iſraelitiſch⸗jüdiſchen und chriſtlichen Religionsgeſchichte. 1. Buch:
Die 1 Volksreligion und die Propheten. Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz), Stutt
gart 1927.
von Müller, Hans, [unter Mitwirkung von Eduard Berend], E. T. A. Hoffmann und Jean
Paul, Minna Dörffer und Caroline Richter, Helmina von Chézy und Adelheid von Baſſewitz: Ihre
Beziehungen zueinander und zu gemeinſamen Bekannten. 1. Heft [enthaltend den Kritiſchen Teil
und die Darſtellung der Vorgänge bis zu Hoffmanns Verheiratung 1802]. Verlegt bei Paul
Gehly in Köln 1927.
Nickel, Emil, Studien zum Liebesproblem bei Gottfried von Straßburg: Königsberger Deutſche
Forſchungen hrsg. von Joſef Nadler, Friedrich Ranke, Walter Zieſemer. Heft 1. Gräfe und Unzer
Verlag, Königsberg i. Pr. 1927.
Niſſen, Benedikt Momme, Der Rembrandtdeutſche Julius Langbehn. Durchgeſehene Ausgabe
mit einem Nachwort. Herder & Co. G. m. b. H. Verlagsbuchhandlung, Freiburg im Breisgau 1927.
Palmer Til le y. Morris, Elizabethan proverb lore in Lyly's Euphues and in
1 8 un Pallace. With parallels from Shakespeare. The Macmillan Company,
ew York 1926.
von Peterſen, Otto, Lenz, Vater und Sohn. Frommannſche Buchhandlung (Walter Bieder⸗
mann), Jena 1927.
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Sagengold. Die ſchönſten Sagen aus Württembergs Nordoſten. Ausgewählt von I.
Wiehl. Schwabenverlag, Ellwangen o. J.
Sbapira, Zekharia, Die Bibel als Ariadnefaden im Labyrinthe der Sprachen. Eine Probe ⸗
20 = Forſcher aller humaniſtiſchen Gebiete. Selbſtverlag des Verfaſſers, Tel ⸗Avtv, Pelö-
7 1 ®
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gramm. Slaviſch⸗Baltiſche Quellen und Forſchungen, hrsg. von Neinhold Trautmann, Heft l.
H. Haeſſel, Verlag, Leipzig 1927.
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Diederichs in Jena 1927.
Schrempf, Chriſtoph, Sokrates. Seine Perſönlichkeit und fein Glaube. Fr. Frommanns
Verlag (H. Kurtz), Stuttgart 1927.
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zur Geſchichte der Medizin. Hrsg. vom Inſtitut für Gefhichte der Medizin an der Univerfität
. H. E. Sigeriſt), Heft III. Verlegt bei Orell Füßli, Zürich, Leipzig, Ber⸗
lin I
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ſophie. Verlag Leuſchner & Lubensky, Univerſitäts⸗Buchhandlung, Graz 1927.
Stammler, Wolfgang, Von der Myſtik zum Barock 1400 — 1600: Epochen der deutſchen
Literatur. Geſchichtliche Darſtellungen unter Mitwirkung von W. Golther, W. Stammler, Ferd.
J. Schneider, F. Schultz, H. Bieber, H. Naumann hrsg. von Julius Zeitler. Bd. II, 1. Teil.
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Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin 1926.
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Wedekind, Eduard, Studentenleben in der Biedermeierzeit. Ein Tagebuch aus dem Jahre
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Weis mantel, Leo, Der Geiſt als Sprache. Von den 55 der Sprache: Schriften
zur deutſchen Literatur, für die Görresgeſellſchaft hrsg. von Günther Müller. Bd. 11. Verlegt bei
Benno Filſer, Augsburg⸗Köln 1927.
von Wie ſe, Benno, Friedrich Schlegel. Ein Beitrag zur Geſchichte der romantiſchen Kon⸗
verfionen: Philoſophiſche Forſchungen, hrsg. von Karl Jaſpers. 6. Heft. Verlag von Julius
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2. Jellſchriſten.
(Jahrbücher. — Jahresberichte. — Mitteilungen gelehrter Geſellſchaften.)
Archiv für Kulturgeſchichte. XVII. Bd. 1927, Heft 3: Birkner, F., Aufgaben und
Ziele der F — Steinberg, S., Die älteſten Bildniſſe der heiligen Bernward
und Sodehard. — Lütge, W., Heereniana. — Barnes, H. E., Die Verdienſte James Harvey
Mobinfons um die Geſchichtsforſchung und den akademiſchen Geſchichtsunterricht. [Uberſetzt von
634 Einlauf
Der deutſche Gedanke. Herausgeber Paul Rohrbach. Otto Stollberg, Verlag für
Politik und Wirtſchaft, Berlin. 4. Ihg., 1927, 1. Oktobernummer: Rohrbach, P., Hindenburg
zum Gruß und Dank. — Aus der Zeit: Frankreich und der Anſchluß; Paneuropäiſches Locarno;
Ohne Sicherheitsventile; Einfuhrverminderung; Wohnung und Siedlung. — Eibl, H., Oſterreich
und Deutſchland. — Roloff, G., Preußen und Deutſchland. — Gothein, G., Zum Entwurf des
Kriegsſchäden⸗Schlußgeſetzes. — Scholz, K., Genf und Stockholm. — Harich, W., Hans Grimm:
Volk ohne Raum. — Buchbeſprechungen.
Deutſche Vierteljahrsſchrift für Literaturwiſſenſchaft und Gei-
ſtesgeſchichte. Halle, Saale. 5. Ihg. (1927), Heft 3: Holborn, H., Karl Holl, geb. 15. Mai
1866, geſt. 23. Mai 1926. — Rehm, W., Zur Geſtaltung des Todesgedankens bei Petrarta und
Johann von Saaz. — v. Martin, A., Peripetien in der ſeeliſchen Entwicklung der Renaiſſance.
Petrarca und Macchiavelli. Ein Vortrag mit einem Nachwort. — Hintze, H., Staat und Geſell⸗
ſchaft der franzöſiſchen Renaiſſance unter Franz I. — Meyer, Th. A., Die Stilprinzipien der
ge Plaſtik und der italieniſchen Hochrenaiſſance. — Hecht, H., Walter Pater. Eine
ürdigung.
Heft 4: Viſcher, R., Ein Manuſkript von Friedrich Th. Viſcher über das Buch: Der alte und
der neue Glaube. — Frank, E., Das Problem des Lebens bei Hegel und Ariſtoteles. — Sartorius
von Waltershauſen, B., Melanchthon und das ſpekulative Denken. — Strauß, L., Hölderlins
Anteil an Schellings frühem Syſtemprogramm. — Böhm, W., Zum „Syſtemprogramm.“ Eine
Erwiderung. — Strauß, L., Zu Böhms Erwiderung. — Schwietering, J., Weſen und Aufgaben
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E d d a. Nordisk tidsskrift for Litteraturforskning. hg. 14, Bd. XXVI, Heft 2, 1927:
Seip, D. A., Henrik Wergeland og j@dene i Sverige. — v. Tieghem, P., Quelques
aspects de la sensibilit€ pr&romantique dans le roman européen au XVIIIe siècle.—
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Kipling and the British Empire. — Reder, H., Tycho Brahe og hans korrespondenter.
Europäiſche Revue. Hrsg. von Karl Anton Rohan. 3. Ihg., Heft 7 (Oktober 1927):
Jung, C. G., Die Frau in Europa. — Weismantel, L., Weg und Werden der Bildung. — Werfel,
Fr., Gedichte. — Baroja, P., Leben im Schatten. — Schreyvogel, Fr., Johann Orth. — Prin
Rohan, K. A., Bergſtraeßer, A., Valli, L., d'Ormeſſon, W., Genf und der Friede. — Finer, H.,
Englands Bruch mit Rußland in wirtſchaftlichem Licht. — Raemiſch, E., Internationale Ver ⸗
fländigung in der Seidenwirtſchaft.
Germaniſch⸗Romaniſche Monatsſchrift. XV. Jhg. (Juli, Auguſt 1927),
Heft 7 und 8: Ettmayer, K., Nachruf auf Hugo Schuchardt. — Cohen, S., Diesſeits und Jen⸗
ſeits vom Stile. — Naumann, H., Die Zeugniſſe der antiken und frühmittelalterlichen Autoren
zur germaniſchen Poeſie. — ande, R., Grabbe und Büchner. — Klemperer, V., „Victorieuse-
ment fui” zur Bewertung Mallarmés. — Kleine Beiträge: Körner, Friedrich Hebbel oder Auguſt
Wilhelm Schlegel? — Neuerſcheinungen.
September, Oktober 1927, Heft 9 und 10: von Jan, E., Franzöſiſche Literaturgeſchichte und
vergleichende Literaturbetrachtung. — Oehlke, W., Weſt-Oſtliche Literaturbrücken. — Ehrismann,
G., Die Kürenberg⸗Literatur und die Anfänge des deutſchen Minneſangs. — Mayr, O., Von der
dichteriſchen Technik in Polizians „Stanze per la giostra”. — Kleine Beiträge: Thalmann:
Thomas Mann, Tod in Venedig. — Ullrich: Zu Platens Familiengeſchichte. — Körner: Zu
H. v. Kleiſts „Zerbrochenem Krug“. — Holthauſen: Weſt⸗Oſtliches. — Moſer: Preßbengel.—
Mitteilung, Selbſtanzeigen, Neuerſcheinungen.
Die Horen. Zweimonatshefte für Kunſt und Dichtung. 3. Ihg. (1926/1927), Heft VI:
Binding, R. G., Verantwortlichkeit des Dichters und das neue Maß der Dinge. — von Scholz, W.,
Zu Max Liebermanns achtzigſtem Geburtstag, Prolog. — Mayer, A., Die kalte Hexe. — Ponten,
15 Römiſches Idyll. — Cronheim, Fr., Winkelmann, Der helleniſche Deutſche. — enter, I.,
an Paul und Muſſet. — Koppin, R. O., Gedichte. — Graumann, H., Max Oppenheimer. (Mit
14 Abbildungen und einer Beilage.) — Richter, H., Gedichte. — Wolfenſtein, A., Die verlorent
Stimme, Drama. — Maaß, W. H. J., Zwei Gedichte. — Edſchmid, K., Gobineau. — Maaß,
W. H. J., Die Nacht. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
Zeitſchriften 635
4. Ihg. (1927/1928) [mit dieſem Jahrgang erſcheinen die Horen als Monatshefte], Heft 1:
Eifer, H. M., Dichtung und Kunſt in Deutſchland. — von Scholz, W., Dom zu Mainz. —
Borchardt, R., Über den Dichter und das Dichteriſche. — Däubler, Th., L' Africana, Roman. —
Graumann, H., Willy Jaeckel (mit 15 Abbildungen). — Sapper, Th., Däubler und die Maſchinen⸗
zeit. — Petry, W., Die franzöſiſche Lyrik neuerer Zeit. — Apollinaire, G., Gedichte. — Elſter,
H. M., Theaterſchau. — Elſter, H. M., Bücherſchau.
ndividualität. Zweimonatsſchrift für Philoſophie und Kunſt. 1927, 2. Ihg., Heft 3:
I. Betrachtung: Keller, H. W., Neue Sachlichkeit. — Walden, H., Expreſſionismus. — Beſteher,
W., Die Welt der Farben. — Schlemmer, O., Menſch und Kunſtfigur. — Ranzenberger, H., Eine
bedeutſame Polarität im modernen baukünſtleriſchen Gedanken. — Schreyer, L., Herwarth Walden,
der Expreſſioniſt. — Politzer, A., Bilder von Théodore Fried. — Braun, R., Der Künſtler und
das Leben. — II. Geſtaltung: Hagenbuch, H., Notker der Stammler. — Reinhart, H., Epilog der
Daglar⸗ Dichtung. — D'Duckh, J., Vom Tier, von der ſingenden Schlange und vom Augenopfer. —
von Bernus, A., Marionetten. — Mofletti, D. G., Schweſter Helen. In Umdichtung von A. von
Bernus. — De Unamuns, M., Drei philoſophiſche Sonette. — Manuel, A., Die Waſſerpredigt. —
Reinacher, E., Zwei Stücke der Dichtung Sternenreiſe. — Braun, F., Zwei Gedichte. —
III. Theatrum mundi: Keller, H. W., Das Recht auf Experimente. — Moſer, H. A., Die
Komödie des Lebens. — Briefe von Lenin und Gandhi. — Wels, G., Winke für Erzieher. —
Buchbeſprechungen.
The Journal of English and Germanic Philology. Vol. XXVI
(April, 1927), No. 2. [Published quarterly by the University of Illinois, Urbana,
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Old Icelandic Medical MS. Royal Irish Academy 23 D 43. — Serjeantson, M. S., The
Development of Old English sag, &ah in Middle an — Brooks, N.C., A Rheinau
Easter Play of the Late Sixteenth Century. — Clemen, O., Valentin Ickelsamer. —
Reviews. — Notes. — Necrology.
KRant-Stupdien. Philoſophiſche Zeitſchrift. Bd. XXXII, 1927, Heft 2 und J: Stumpf, C.,
William James nach ſeinen Briefen. Leben, Charakter, Lehre. — Viſſer, H. L. A., Zum Problem
der nicht⸗ rationalen Logik. — Meſſer, A., Der Ausgangspunkt der Wirklichkeitserkenntnis. (Ding ⸗
ler und der kritiſche Realismus.) — Bavink, B., Raum, Zeit und Kauſalität im Syſtem des
kritiſchen Realismus. — Selz, O., Die Umgeſtaltung der Grundanſchauungen vom intellektuellen
Geſchehen. — Kreis, Fr., Zur Philoſophie der Sprache. — Bommersheim, P., Der vierfache Sinn
der inneren Zweckmäßigkeit in Kants Philoſophie des Organiſchen. — Lorenz, B., Ampere und
Kant. — Menzer, P., Peſtalozzi und die Kantiſche Philoſophie. — Wentſcher, E., Benno Erd⸗
manns Stellung zu Kants Ethik. — Ledig, G., Der Begriff als Inſtrument der Rechtspflege. —
Liebert, A., Die geſchichtliche Welt. Im Anſchluß an Wilhelm Diltheys Geſammelte Schriften. —
Beſprechungen, Selbſtanzeigen, Mitteilungen.
Die Literatur. Monatsſchrift für Literaturfreunde. 29. Ihg. des „Literariſchen Echo“,
Heft 10 (Juli 1927): Gürfter, E., Das Ringen mit dem Teufel. — Leitich, A., Bildungswerte
der Literatur. — Weltmann, L., Lion Feuchtwanger. — Feuchtwanger, L., Verſuch einer Selbſt⸗
biographie. — Liſſauer, E., Zu Morgenſterns Nachlaß. — Heilborn, E., Geſicht und Raum. —
Schönemann, F., Ein neuer Sinclair Lewis. — Sommerfeld, M., Eine neue Leſſing⸗Ausgabe. —
Touaillon, Ch., Weibliche Erzählungskunſt. — Morgenſtern, Chr., Sechs Gedichte. — von Scholz,
W., Fünf Gedichte. — Stucken, E., Eine Manuſkriptſeite. — Neumann, R., Parodie. — Bieder⸗
mann, P., Die Glocke von Hadamar.
Heft 11 (Auguſt 1927): Kayſer, R., Literariſche Preisausſchreiben. — Lipmann, H., Die Frage
des hiſtoriſchen Dramas. — Fritzſch⸗Steinkopf, L., Kunſt und Problem. — Eloeſſer, A., Guſtav
Roethe als Erzieher. — Sturm, H., Max Mohr. — Mohr, M., Proben und Stücke. — Leppin, P.,
Der neunzehnjährige Rilke. — Türk, W., Lariſſa Reißner. — Forſt de Battaglia, O., Cheſterton.
— Metzenthin⸗Raunick, Texaniſche Schriftſteller. — von Kapherr, E., Ausländiſche Tierbücher. —
Huch, R., Eine Manuſkriptſeite. — Petſch, R., Schiller⸗Schriften. — Hirſchberg, L., Ein un⸗
bekannter „Cotta“⸗Goethe. — Neumann, R., Wahn, H., Parodien.
Heft 12 (September 1927): Kritzler, E., Wertſtufung der Kritiker. — Liſſauer, E., Kritiſche
Wirkſamkeit. — Knöller, Fr., Theaterkritik. — Baldus, A., Rückkehr des Katholizismus ins Exil?
— Franke, H., Mombert und fein „Atair“. — Türk, W., Roſa Mayreder. — Mayreder, R.,
Autobiographiſche Sloſſe. — Petſch, R., Albrecht Schaeffers „Odyſſee“. — Zoff, O., Eine Biblio⸗
graphie für D' Annunzio. — Pfiſter, J., Noch einmal: Sprech⸗Chöre. — Kienzl, H., Jacob
636 Einlauf
2 ——ů— rr — 2 ⁰i——5r*b—5—r—r——5ð7 rr ———
Scherek. — Meumann, R., Hiſtoriſche Romane. — Faefi, R., Drei Gedichte. — von Molo, W.,
Eine Manuftriptfeite.
30. Ihg., Heft 1 (Oktober 1927): Müller⸗Freienfels, R., Der „Pſychologismus“ I. — New
mann, R., Zum Problem der Reportage. — Oehlke, W., Deutſche Literatur in Oſtaſſien. —
Curtius, E. R., Herr Teſte. — v. d. Schulenburg, W., Margherita Sarfatti. — Binz, A. Fr.,
Franz Herwig. — Herwig, Fr., Autobiographiſches? — Dürr, E., Die Objektivität des Erzählers.
— Bourfeind, P., Maurice Maeterlind. — Nabl, Fr., Max Mells neues Bühnenſpiel. — Frank,
R., Das Theater E. T. A. Hoffmanns. — Binder, H., Klaſſiker des deutſchen Hauſes. — Herwig,
Fr., Eine Manuſkriptſeite. — Herwig, Fr., Aus: „Die Eingeengten.“
Literariſcher Handweiſer. 63. Ihg., Auguſt 1927, Heft 11: Sawicki, Fr., Neue
Wege der Ethik. — Laſlowiski, E., Neuere Literatur zur Theorie der Geſchichte. — Kleinſchmidt,
B., Neuere Literatur zur Kunſt⸗ und Kulturgeſchichte Oſtaſiens. — Beſprechungen.
September 1927, Heft 12: Keckeis, G., Beſinnung. — Mager, A., Das Katholiſche im Geiſtes
leben der Gegenwart. — Laros, M., Vom literariſchen Erbe Karl Neundörfers. — Knupfer, E.,
Neue Literatur zur politiſchen Geſchichte des Weltkrieges. — Beſprechungen.
Oktober 1927, Heft 1: Brecht, Fr. J., Die humaniſtiſche Bewegung der Gegenwart. — Bach;
mann, H., Neue Lyrik 2. — Knies, R., Ruth Schaumann, eine Würdigung. — Beſprechungen.
Nation und Staat. Deutſche Zeitſchrift für das Europäiſche Minoritätenproblem, hrsg.
von Jacob Bleyer, Rudolf Brandſch, Paul Schiemann, Johannes Schmidt⸗Wodder. Univerſitäts⸗
verlagsbuchhandlung Wilh. Braumüller, Wien. 1. Ihg., September 1927, Heft 1: Haſſelblatt, W.,
Die Kulturautonomie der Slovenen in Kärnten. — v. Jakabffy, E., Muſſolini, Mello Franco und
die „Times“. — Schmidt⸗Wodder, J., Wir Deutſchen als Volk. — Schiemann, P., Volksgemein
ſchaft und Staatsgemeinſchaft. — Die Lage: Lettland; Das Deutſchtum in Ungarn; Jugoſlawien;
Die Lage der ungariſchen Minderheit in Rumänien; Die Litauer in Polen; Die polniſchen Prote
ſtanten in Tſchechiſch⸗Schleſien; Memelgebiet. — Der III. Kongreß der Organiſierten Nationalen
Gruppen Europas. — Literaturberichte. — Aus Zeitſchriften und Zeitungen.
Neophilolog us. Groningen, Den Haag. XII, 1927, 4: Logemann, H., Etymo-
logie en Classicisme. — Cardozo, J. L., Ma Mere l'Oie: Aue (= Auca) ou Ave
(= Avi)? — Zijderveld, A., De humanist Montaigne. — Alter, E., Pſycho⸗Analyſe und
Litteraturwiſſenſchaft II. — Stijfhoorn, G., Hamlet III. — Krijn, S. A., Snorri Godi. —
Boekbespreking.
XIII, 1: Kalepky, Th., Verkleidete Rede. — Kramer, C., Alfred de Vigny et une idylle
inédite d André Chenier. — Roſenfeld, H. Fr., Zu Boppe V. 1 ff. — Polak, L., Die Homun ·
culus⸗Figur in Goethes Fauſt. — van Dam, B. A. P., The text of the Merchant of Venice.
— de Vries, J., Die Kräkumäl. I. — Jolles, A., Een oude vergissing. I. — Boek-
bespreking.
Neue Jahrbücher für Wiſſenſchaft und Jugendbildung. Hrig. von
Johannes Ilberg. 3. Ihg., 1927, Heft 4: Koepp, F., Das Problem der dritten Dimenſton in
der griechiſchen Flächenkunſt. (Mit 4 Tafeln.) — Schürr, F., Literaturwiſſenſchaft als Seiſtet⸗
geſchichte. — Heine, G., Von Rhythmen und Reimen. — Kaubiſch, M., Myſtik und Künſtlertum.
— Gaiſer, K., Friedrich der Große und die ſchwäbiſche Publiciſtik. — Reuther, H., Das Problem
der Willensfreiheit im Lichte neueſter Forſchung. — Wagner, P., Hiſtorismus? — Weidel, K.,
Eine neue Geſchichte der Ethik. — Wagner, R., Franz von Aſſiſi und Walther von der Vogel ⸗
weide. — Berichte: Lucke, W., Deutſchkunde: Vom XVIII. Jahrhundert bis zur Gegenwert;
Schön, E., Auslandskunde: Franzöſiſch; Weidel, K., Religion: Myſtik. — Nachrichten.
Heft 5: Berve, H., Jonien und die griechiſche Geſchichte. — Geyer, F., Die Tragik im Schickſal
des makedoniſchen Volkes. — Schubart, W., Renaiſſance und Reformation. — Wocke, H., Der
Dichter des Ackermann aus Böhmen, fein Werk und feine Zeit. — Hämel, A., Grundlagen und
Bedeutung der romaniſchen Kulturen. — Groethuyſen, B., Der Weg zur Philoſophie. — Peters,
U., Schule und Wiſſenſchaft. — Lohriſch, H., Walter Fler. — Berichte: berg, J., Altertum
kunde; Knapp, F., Kunſt: Alte deutſche Kunſt; Flitner, W., Bildungsweſen: Die pädagsgiſche
Grundhaltung. — Nachrichten.
Die Neue Rundſchau. XXXVIII. Ihg. der Freien Bühne. 8. Heft (Auguſt 1927):
Wilbrandt, R., Neue Wege des Sozialismus. — Heufer, K., Elfenbein für Felicitas. — Curtint,
E. R., Fragmente über die franzöſiſche Literatur. — Suarès, A., Pascal und Renan. — i
J., Erinnerungen an Leo Tolſtoi. — Weſſe, C., Gedichte. — Matthias, L., Bericht über dat
andere Spanien. — Wiegler, P., Neue Bücher der Erzählung. — Preetorius, E., Der Seiſt der
Maſchine. — Saenger, S., Politiſche Chronik. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Zeitſchriften 637
9. Heft (September 1927): Lederer, E., Japans Geſellſchaft und Wirtſchaft im Übergang. —
Werfel, Fr., Das Trauerhaus (Novelle). — Döblin, A., Vom Ich und vom Ur⸗Sinn. —
Rilke, R. M., Briefe an eine Freundin. — Loerke, O., Von Künſtlern der Überſetzung. —
Saenger, S., In memoriam W. R. — Kayſer, R., Europäiſche Rundſchau.
Revue germani que. Paris. XVIII. No. 3 (Juillet-Novembre 1927): Pineau, L.,
Scoeren Kierkegaard (1813-1855) et la Norvège. — Piquet, F., Où en est l’&tude du
„Nibelungenlied“? — Denis, J., Le Theätre allemand. — Comptes Rendus Critiques.
— Bulletin. — Bibliographie. — Revue des Revues. — Chronique.
Die ſchöne Literatur. 28. Ihg., Auguſt 1927, Nr. 8: Seidel, J., Irene Forbes ⸗Moſſe
als Erzählerin. — Martens, K., Ernft Penzoldt. — Kaergel, H. Ch., Kriſtin Lavranstochter. —
Buchbeſprechungen, Neue Bücher, Zeitſchriftenſchau, Bühnen (Uraufführungen), Mitteilungen,
SR 85 Jahresernte (Hans Franck, Jacob Kneip); Dichterbildniſſe (Max Dauthendey,
akob Kneip).
September 1927, Nr. 9: Sexau, R., Herbert Eulenberg. — Herbert Eulenberg: Bibliographie.
Zuſammengeſtellt von Ernſt Metelmann. — Janecke, R., Schauspieler und Drama. — Romane
und Erzählungen. — Lyrik. — Literatur ⸗ und Geiſtesgeſchichte. — Weltanſchauung und Philo⸗
fopbie. — Neue Bücher im Auguſt. — Zeitſchriftenſchau Auguſt. — Mitteilungen.
Oktober 1927, Nr. 10: Hallmann, G., Franz Spunda. — Federmann, H., Ruth Schaumann.
— Miegel, A., Hans E. Kind. — Geſammelte Werke, Romane und Erzählungen, fremde
Literatur, Neudrucke, Literatur ⸗ und Geiſtesgeſchichte, Weltanſchauung und Philoſophie, Länder
und Völker, Geſchichte und Kulturgeſchichte, Verſchiedenes, Neue Bücher, Zeitſchriftenſchau, Urauf⸗
führungsberichte, Mitteilungen, Beilagen: Jahresernte (Hermann Claudius, Wilhelm von Scholz);
Dichterbildniſſe (Karl Söhle, Friedrich Lienhard).
Slavia. Casopis pro slovanskou filologii. Prag. VI. Ihg., Heft 1: Ostir, K., Slav.
slonz „Elefant“. — ArasimoviC, L., A propos des Feuilles de Kiev. — Smal’ Stockyi,
St., Sur les dialectes mixtes de Polösie et sur les diphtongues de ces dialectes. —
Jvsie, Stj., Encore des traductions de vieux-tcheque en croate, jusqu' ici inconnues. —
Sedel'nikov, A., Etudes de littérature et de folklore.- Anitkova, El., Les sources de
la fable de Puskin sur Car Saltan. — Critiques et comptes-rendus. — Notes et infor-
mations. — Necrologie. — Extraits des revues.
Stimmenber Zeit. Monatsſchrift für das Geiſtesleben der Gegenwart. 57. Ihg. (Juli
1927), Heft 10: Pribilla, M., Eltern und Kinder. — Dahlmann, J., Weſt⸗Oſtliche Myſtik. —
Wiercinski, F., Bauſteine für Rußlands katholiſche Zukunft. — Gemmel, J., Politik aus dem
Glauben. Zu dem gleichnamigen Buche von Ernſt Michel. — Kreitmaier, J., Die Tragik des
chriſtlichen Künſtlers. — Stockmann, A., Annette von Droſte⸗Hülshoff und die Schweiz. —
Stang, S., „Werdegang eines Europäers“. — Beſprechungen von Büchern über deutſche Literatur⸗
geſchichte; Kunſtgeſchichte.
Auguſt, Heft 11: Muckermann, Fr., Um die Einigkeit unter den deutſchen Katholiken. — Noppel,
C., Die Vertiefung der katholiſchen Aktion. — Schuſter, J. B., Gewiſſensfreiheit oder Gewiſſens⸗
bildung? — Kramp, J., Meßgebräuche der Gläubigen in den außerdeutſchen Ländern. — Janſen, B.,
Descartes der Vater der heutigen Philoſophie. Eine unzeitgemäße Betrachtung. — Griſar, J.,
Das preußiſche Unionsprojekt und die Katholiken Preußens (1849 — 1850). — Koch, L., Para-
guay. — Beſprechungen von Reiſebüchern und von Büchern über Naturwiſſenſchaft.
September, Heft 12: Leiber, R., Zur Konkordatsfrage. — Woodlock, Fr., Die Bedeutung ber
Reviſion des anglikaniſchen Prayer Book. — Faller, O., Eine neue Methodik der Religions-
vergleichung. — Köppel, R., Das Rätſel der Alpen. — Dahlmann, J., Chinas Kultur im Bilde
ſeiner Architekturen. — Stang, S., Reimmichel, der Dichter⸗Pfarrer von Tirol. — Overmans, J.,
Das neue Japan in ſeiner bildenden Kunſt. — Beſprechungen von Büchern über Ordensgeſchichte;
Bildende Kunſt; Muſik.
Oktober, Heft 1: Pummerer, A., Das Memorial der Angela von Foligno. — Janſen, B., Der
ideelle Ort Gottes im Syſtem des Kritizismus. — Rompel, J., Das Jeſuiten⸗Penſionat zu Frei⸗
burg in der Schweiz 1827 1847. — von Nell⸗Breuning, O., Volkswirtſchaftlicher Wert und
Unwert der Börſenſpekulation. — Koch, L., Geſchichtliches über die deutſchen Farben. — Pri-
billa, M., Moderne Seelſorge. — Schröteler, J., Kann die holländiſche Schullöſung für uns in
Deutſchland vorbildlich fein? — Duhr, B., Wer iſt der Urheber des großen Münchner Himmels ⸗
globus vom Jahre 1575? — Beſprechungen von Büchern über Religion; Bildende Kunſt; Roman ⸗
tiker ⸗Bibliograyhien.
638 Einlauf
Una Sancta. Ein Ruf an die Chriſtenheit. J. Ihg., 1927, Heft 3: Ehrenberg, H., Der
Lauſanner Konferenz zur Begrüßung. — Piper, O., Das Programm von Lauſanne. — Slinz,
G. A., Von der ewigen Geltung der ökumeniſchen Symbole und von dem relativen Recht der
Einzelkirchen. — Zankow, St., Die orthodoxe Kirche und die Bewegung für die Vereinigung der
Kirchen. — Tatlow, T., The Church of England and Lausanne. — v. Martin, A., Die
Gefahren von Lauſanne. — Buchheim, K., Über wahre und falſche Vergeiſtigung des Chriſten⸗
tums. — + Schlund, R., Gibt es eine zwangsloſe, eine königliche Orthodoxie? — Bücherſchau u. a.:
Moraſch, C., Die kirchlichen Einigungsfragen. — Preſſeſchau u. a.: Wallau, R. H., Stimmen
zur Lauſanner Weltkonferenz. — Okumeniſche Chronik u. a.: Laun, J. F., Kirche und Völkerfriede.
Zeitſchrift für Aſthetik und Allgemeine Kunſtwiſſenſchaft. XXI. Bb.,
Juni 1927, Heft 2: Dritter Kongreß für Aſthetik und Allgemeine Kunſt⸗Wiſſenſchaft, Halle
7.— 9. Juni 1927. Bericht im Auftrage des Ortsausſchuſſes, hrsg. von Wolfgang Liepe. —
I. Allgemeine Vorträge: Deſſoir, M., Kunſtgeſchichte und Kunſtſyſtematik. — Menzer, P., Kunſt
und Erziehung. — Frankl, P., Die Rolle der Aſthetik in der Methode der Geiſteswiſſenſchaften. —
Rodenwaldt, G., Wandel und Wert kunſtgeſchichtlicher Perioden. — Weber, W., Kunſt und
Geſchichte. — Utitz, E., Der neue Realismus.
Heft 3: [Fortſetzung des Kongreßberichtes]! II. Vorträge und Verhandlungen zum Problemkreiſe
Rhythmus: Ziehen, Th., Rhythmus in allgemein philoſophiſcher Betrachtung. — Katz, D., Vibra⸗
tionsfinn und Rhythmus. — van Scheltema, A., Rhythmus in ethnologiſcher Beleuchtung: Reihung
um eine Mitte. — Baeſecke, G., Die Wandlung der Schönheit am deutſchen Verſe. — Wittſack, R.,
Rhythmus und Vortragskunſt. — von Waltershauſen, W., Rhythmus in der Mufll. — Prinz⸗
horn, H., Rhythmus im Tanz. |
Heft 4: [Fortſetzung des Kongregberihtes] III. Vorträge und Verhandlungen zum Problem⸗
kreiſe Symbol: Eaffirer, E., Das Symbolproblem und feine Stellung im Syſtem der Philoſophie.
— Thurnwald, R., Symbol im Lichte der Völkerkunde. — Strich, Fr., Symbol in der Wort⸗
kunſt. — Droſt, W., Form als Symbol. — Schering, A., Symbol in der Muflt.
Zeitſchriftfür deutſche Bildung. Frankfurt a. M. 3. Ihg. (1927), Heft 7 und 8:
Müller⸗Freienfels, R., Zur Sprachpſychologie und Sprechpädagogik. — Hans, W., Strindbergs
Meligiofität. — Meridies, W., Eulenfpiegels Weg zum Mythos. — Krey, H., Albin Egger⸗Lienz.
— Weicker, G., Kann die Deutſchkunde mit der Neuordnung des höheren Schulweſens in Sachſen
zufrieden fein? — Vontin, W., Moderne Lyrik in unterrichtsgemäßer Behandlung. — Peters, U.,
Die Pädagogiſche Akademie im Aufbau unſeres nationalen Bildungsweſens. — Eitzen, K. H., Das
Schulbuch im Dienſte der Völkerverſtändigung: ein abſchreckendes Beiſpiel. — Streuber, A., Hei⸗
matbücher. — Peters, U., Brandts Grundriß der Deutſchkunde. — Peters, U., Aus dem Gebiet der
Erziehungswiſſenſchaft und ihrer Hilfswiſſenſchaften. — Preitz, M., 23. Hauptverſammlung bes
deutſchen Sprachvereins in Wien. — Muris, O., Deutſcher Geographentag in Karlsruhe. —
Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Heft 9: Buchheit, G., Rainer Maria Rilke. — Weſterburg, H., Gerhart Hauptmanns „Doro⸗
thea Angermann“ und Wolfgang Goetz „Neidhardt von Gneiſenau“. — Stranik, E.,
blem der Gegenwartsdarſtellung in der modernen Dichtung. — Weſterburg, H., Eilhard Erich
Pauls, ein Gruß zu feinem 50. Geburtstage (26. 8. 27). — Pauls, E. E., Goethes Führung. —
Kiehl, B., Etwas Antilaokoon im Unterricht. — Hünnerkopf, R., Sage, Märchen und Mythos.
— Peters, U., Andrees Geographie des Welthandels. — Meridies, W., „Kulturgeſchichte der
Neuzeit“. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Heft 10: Braun, F., Danzig. — Strunk, H., Vom Schulweſen der Freien Stadt Danzig. —
Latrille, M., Das höhere Schulweſen Oſtpreußens ſeit dem Kriege. — Braun, F., Von der Bil⸗
dung des Oſtmärkers. — Von einem Auslandsdeutſchen, Deutſche Bildung in Polen. — Plenzat,
K., Vom Volksmärchen in Oſt⸗ und Weſtpreußen. — Schmidt ⸗Voigt, H. H., Deutſche Sprachlehre
und Sprachwiſſenſchaft. (Eine laufende Bücherſchau.) — Freudenthal, H., Kurt Heckſchers Volks⸗
kunde des germaniſchen Kulturkreiſes, Buchanzeige. — Becker, H. Th., Zeitſchriftenſchau.
Zeitſchrift für Deutſchkunde. hg. 41 der Zeitſchrift für den deutſchen Unterricht.
Heft 7 und 8: Neckel, G., Die altgermaniſche Religion. — Koſelleck, A., Leſſings „Philotas“ und
Friedrich der Große: eine Übung der Selbſttätigkeit. — Thalmann, M., Goethe „An den Mond“,
eine Lesartenſtudie. — Hinze, K., Das Streitgeſpräch. — Lüttge, E., Die Kernfrage der Aufſatz⸗
lehre. — Gamb, P., Eine Springſtunde. — Körner, J., Erziehung zum Schriftſteller. — Wie
gand, J., Der Entgegnungsaufſatz. Die Gliederungsübung. — Leitſätze für einzelne Fragen des
Deutſchunterrichts: 1. Sprachunterricht; 2. Aufſatz; J. Kunſtbetrachtung; 4. Schulbühne; 5. Deutſche
Altertumskunde. — Knudſen, H., Ein Forſchungsbericht zur Theaterwiſſenſchaft der letzten Jahre.
bericht: Sammelſchriften (1925 — 1927). — Budde, R., Bücherſchau über Muſik. — Tagungen. —
Zeitſchriftenſchau.
Heft 10: Korff, H., A., Goethe und die bildende Kunſt. — Amoretti, G. V., Deutſchland und
die Deutſchen im Spiegel italieniſchen Geiſtes. — Müller ⸗Freienfels, R., Aſthetiſche Aufgaben
des Sprachunterrichts. — Wenz, G., Deutſchkönnen und Deutſchkunde. Ein Beitrag zu den Fragen
des neuen Deutſchunterrichts: 1. Die Behandlung des 19. 20. Jahrhunderts; 2. Heimatkunde in
den Oberklaſſen; J. Durchbildung der Deutſchlehrer in Volkskunde. — Leitſätze für einzelne Fragen
des Deutſchunterrichts. — Viétor, K., Literaturbericht: Deutſche Literatur der Nachromantik und
des Realismus (1925 1927). — Budde, R., Bücherſchau über Muſik. — Tagung für Deutſch⸗
kunde in Reichenberg i. B.
8 *
8
Adalbert Stifter. Ein Gedenkbuch, hrsg. von der Adalbert⸗Stifter⸗Geſellſchaft.
Verlag von Joſef Grünfeld, Wien 1928. — Inhalt: v. Hofmannsthal, H., Geleitwort. — Bindtner, J.,
Adalbert Stifter im Wandel der Zeiten. — Braun, F., Adalbert Stifters Welt. — Cloeter, H.,
Nachſommerklänge. — Fleiſcher, M., Bergkriſtall. [Ein Gedicht.] — Ginzkey, Fr. K. [Würdigung.]
— v. Grolman, A., Proſpero, Shakeſpeares „Sturm“ als Sinnbild für Stifters Leben und Werk.
— Grünſtein, L., Fichten im Böhmerwald. [Ein Gedicht.] — Hein, A. R., Mein erſter Beſuch im
Geburtshauſe Adalbert Stifters. — Hohlbaum, R., Der Künſtler und die Menſchen. [Ein Ge⸗
dicht.] — Kokolsky, B., An Adalbert Stifter. — v. Kralik, R., An Adalbert Stifter. [Ein
Gedicht.] — Mell, M., Gedanken bei der Lektüre Adalbert Stifters. — Pannwitz, R., Stifters
„Nachſommer“. — Pſenner, V. A., Sprache und Reminiszenzen im „Witiko“. — Roeßler, A.,
Adalbert Stifter als Landſchaftsmaler. — Sauer, H., An Adalbert Stifter. [Ein Gedicht.] —
von Schaukal, R., Gedanken über den „Nachſommer“. — Schloſſar, A., Der Zauberer vom
Böhmerwald. [Ein Gedicht.] — Schoeppl, H., Wie die Adalbert⸗Stifter⸗Geſellſchaft entſtand. —
Stefl, M., Zwei unbekannte Briefe Adalbert Stifters. — Stiftegger, H., Nächtliches Ereignis. —
Stoeßl, O., Betrachtungen. — Strobl, K. H., Vor dem Gartengitter. [Ein Gedicht.] — Watzlik,
H., Dem Künſtler. [Ein Gedicht.] — Wilhelm, G., Roſeggers Bekenntnis zu Adalbert Stifter in
Briefen an Karl Adolf Bachofen von Echt.
Literaturwiſſenſchaftliches Jahrbuch der Görres⸗Geſellſchaft. In
Verbindung mit Joſef Nadler und Leo Wie ſe, hrsg. von Günther Müller. Herder
& Co., Freiburg im Breisgau 1927, Bd. II. — Inhalt: Braig, Fr., Metaphyſik und Literatur-
wiſſenſchaft. — Heckel, H., Die Geſtalt des Künſtlers in der Romantik. — Reinhard, E., Eichen⸗
dorff⸗ Probleme. — Adams, P., Das Weltbild in Grabbes „Herzog Theodor von Gothland“. — Bei⸗
träge zur Bibliographie der oberdeutſchen Renaiſſance⸗ und Barockliteratur II.
3. Sonberabzũge.
v. Grolman, Adolf, Novelle: Reallexikon der deutſchen Literaturgeſchichte.
Leppla, R., Naturalismus: Reallexikon der deutſchen Literaturgeſchichte.
a I Er Leon (Haag), Die Homunculus-Figur in Goethes Fauſt: Meophilologus, XIII. Ihg.,
Schaukal, Richard, Heinrich von Kleiſt. Zur 150. Wiederkehr ſeines Geburtstages: „Wiener
Zeitung“, Ihg. 224, Nr. 239, S. 3 ff. und Nr. 240, S. 3 ff. (18. und 19. Oktober 1927).
Speter, Max, Neues über Herkunft und Werk Grimmelshauſens: Wiſſenſchaftliche Beilage
des Dresdner Anzeigers, 4. Ihg., Nr. 39 (27. September 1927).
Spieß (Wiesbaden), Anmerkungen zu dem von Barbara Schultheß angefertigten Verzeichnis
Goethiſcher Gedichte: Zeitſchrift für deutſche Philologie, Bd. 52, S. 138 — 149.
640 Nachrichten — Berichtigungen
Nachrichten.
Mitteilung der Schriftleitung. Vom erſten Heft des nächſten Jahrgangs an
erſcheint der Euphorion unter Mitwirkung von Geheimrat Univ.-Prof. D. Dr, Konrad Burbach
(Berlin) und Univ.-Prof. Dr. Julius Peterſen (Berlin), die an Stelle des im Jahre 1926 ver-
ſtorbenen Univ.-Prof. Dr. Auguſt Sauer (Prag) künftig neben die bisherigen Heraus⸗
geber der Zeitſchrift treten.
J. J. David. Mit einer größeren Arbeit über J. J. David beſchäftigt bitte ich diejenigen, die
Briefe von oder an ihn oder ſonſt wichtige Schriftſtücke von J. J. David beſitzen, mir Mitteilung
davon zu machen und womöglich mir das Material für kurze Zeit zur Einſicht zu überlaſſen.
Stud.⸗Rat Dr. H. Graeneweg, Amſterdam, Vinkeleskade 5.
Berichtigungen.
Sach ⸗ Berichtigungen.
Zum Bericht von W. Jokiſch über Schnyder, Hebbel und Rötſcher (oben
S. 302 f.). Die Anmerkung 19 will lediglich den inneren ſachlichen Zuſammenhang zwiſchen Kut ⸗
ſchers und Schnyders Schrift hervorheben, aber nicht etwa behaupten, daß Schnyder die Schrift von
Kutſcher benutzt habe, ohne ſie zu erwähnen.
Willy Jokiſch (Zittau i. S.).
Zu Olshauſen, Neues aus dem Caroline ⸗ Kreis. Die oben S. 355 ff. abge
druckten Gedichte ſind nicht unbekannt. Das Gedicht „Zueignung an Schelling“ ſtammt von
Platen (Dez. 1825) und begleitet die Komödie „Der gläſerne Pantoffel“ (Sämtl. Werke, hreg.
von Max Koch und Erich Petzet II 114, IX 165). In Schellings Haus las Platen das Stück zuerſt
vor, darauf bezieht ſich die zweite Strophe (vgl. Rudolf Schloeſſer, Platen, I (1910), 423, 448). —
Auch die beiden dann abgedruckten Gedichte ſind bekannt. Das erſte Sonett („Es kommt mir ins
Gemüth...) ſteht in A. W. Schlegels „Blumenſträußen italieniſcher, ſpaniſcher und portugieſiſcher
Poeſie“, Berlin 1804, 74 und iſt die Überſetzung eines Sonetts des Petrarca („Tornami a
mente . .) von Schelling (vgl. Erich Schmidt, Schellings Gedichte und poetiſche Uberſetzungen, Ber ⸗
lin 1913, 44 und 58; Caroline II 665). Die von Olshauſen benutzte Handſchrift bringt eine etwas
veränderte Faſſung: durch die geänderte Zeitangabe am Schluß wird das Gedicht auf den Tod Auguſte
Böhmers bezogen. (Auch Fichte hat übrigens dies Sonett überſetzt: Max v. Schenkendorf, Studien,
1. Heft, 1808, 74). — Das zweite Sonett („Wenn der Planete ...) ſteht ebenfalls in den
„Blumenſträußen“ S. 14 und iſt Überfegung von Petrarcas Sonett „Quando Il planeta.. .”.
Der Uberſetzer iſt höchſtwahrſcheinlich wieder Schelling, trotzdem das Gedicht in A. W. Schlegels
Sämtl. Werke, 1846, IV 6 übergegangen iſt. Herr v. Olshauſen hat mir freundlicherweiſe die
Handſchrift zur Verfügung geſtellt. Gegenüber der Faſſung der „Blumenſträuße“ zeigt fie folgende
Varianten (Interpunktionsvarianten find nicht verzeichnet): V. 6 Hügel find V. 7 inwendigs V. 9
Verſchiedne Frucht. In V. 12 leſe ich, bis auf die falſche Interpunktion übereinſtimmend mit dem
Druck, „That, der Liebe“. Ich vermute, daß die Veränderungen der Druckfaſſung auf den Heraus -
geber A. W. Schlegel zurückgehn. In den „Blumenſträußen“ if das Gedicht, wie die andern Bei ·
träge von Caroline und Schelling, durch eine Chiffre gekennzeichnet. Für Schellings Autorſchaft ſind
E. Frank und Erich Schmidt eingetreten (vgl. Caroline II 665; Schellings Gedichte, 42 und 57).
Das Auftauchen einer Abſchrift dieſer beiden Gedichte in den von Olshauſen benutzten Handſchriften
ſcheint mir ein neues Argument für Schellings Autorſchaft zu ſein, zumal das erſte Sonett ſicher
von ihm ſtammt und beide auf einem Blatt ſtehen.
Karl Viétor (Gießen).
m — —— ——
Berichtigungen 641
Druckfehler ⸗ Berichtigungen.
Seite 75, Anmerkung 52 lies: Ciceronis.
16
"
131, Zeile 6 (von unten) ftatt: dem; lies: das.
299, „ Ic ſtatt: Weg der Judith zur Iphigenie; lies: Weg von der Judith zur Iphigenie.
304, „ 6 (von unten) ſtatt: Behlin; lies: Behlen.
340, Anmerkung 11 e Nicolai ſchreibt irrtümlich „Königslexikon“ ſtatt „Kriegs⸗
exikon“.
361, Zeile 17 (von unten) ſtatt: Campers; lies: Campes.
366, „ 13 (von unten) ſtatt: 1905; lies: 1805.
415, Anmerkung 16 ſtatt: Pfſychologie; lies: Pſychologe.
451, "7 196 flatt: 376; lies: 367.
460, 11 266 „Die ‚unvergorne Bauerbengelei ...“ und das Folgende iſt zu ſtreichen,
da die dazu gehörige Stelle im Texte während der Korrektur getilgt
worden iſt.
472, Zeile 21 (von unten) ſtatt: merkte; lies: merkt.
478, „ 8 ſtatt: gehört; lies: gehöre.
481, „ 17 ſtatt: anzuſtimmen; lies: anzuſtaunen.
— mm nn ne
In der Handſchrift abgeſchloſſen am 30. November, im Satz am 15. Dezember 1927.
Supborion XXVIII. 11
Namen⸗ und Sachverzeichnis.
Der Einlauf am Schluſſe jedes Heftes wurde nur in beſonderen Fällen berückſichtigt.
Bei den Aufſätzen iſt nicht überall Vollſtandigkeit angeſtrebt.
A. W. (= Winckelmann?) 353 (Sonett an
S. M.).
Abbt Thom. 338. 342. 343 f.
Abenteuer, Luſtiges, eines geiſtlichen Don
Quixote (1775. Nicht von Gellius) 784
Anm. 590. |
Ackermannſche Truppe 541. 542.
Addiſon Sof. 522. 527%.
Adler 388. 394.
Aſthetik 98 f. 131 f. 173. 176 f. 179. 185 ff.
192 ff. 418.
„Agrariſch“ 309 |.
Agricola Joh. Frdr. (Komponiſt) 347.
Agrikola Phil. (Maler) 390 f.
Albanermädchen, Das, ſ. Caldoni V.
Albertinus Aeg. 199 26.
Alexandermythus 195 *.
Alexis Will. 318.
Allegri Gregorio (Komponiſt) 395.
Alopeus, Frau v. 381.
Althochdeutſche Gloſſen 616 f.
Amerika, dargeſtellt durch ſich ſelbſt. Zeitſchr.
(18 18/20) 319 f.
Amerika in der deutſchen Dichtung 317/20.
Amerikaniſche Literatur 317/21.
— Proſa (1863/1922) 320f.
Anakreon 346. 530 1“.
Andree Karl 454.
Angelus Sileſius 170.
Angers, Schule von 621f.
Anna Amalia, Hzgin. v. Weimar 542.
547 ff.
d' Annunzio G. 473.
Anſelm von Canterbury 162.
Anſichten, Amerikaniſche (Ztſchr.) 319 f.
Antike, ſ. Pindar.
Anton Ignaz, Fürſtbiſchof von Ell⸗
wangen 590f.
Aretius Ben. 199 21.
Argo. Jahrb. (1854) 406 /8.
Ariſtoteles 163. 165. 167. 171. 178.
Arndt Ernſt Mor. 370. 371 (u. Baudiſſin).
372. f
Arnim Achim v. 33. 246. 313 ff. (A.-
Bibliographie). 315 f. (Ausg. der Werke).
362 65 (Frau v. Krüdener u. A.; Briefe).
— Bettina v. 85. 291. 294 2°. 313. 314.
316.
Artusroman 619. —
„Merlin“.
„Aſchermittwoch, Der, in Weimar 614.
Auerbach Berth. 318. 449. 452 (unglückl.
Eheverhältniſſe u. a. Vgl. 453). 453.
455. 456. 459. 460. 462. 464. 468.
467. 629. |
— Nina, geb. Landesmann 452.
Auerſperg, Graf v. (Domherr) 565°.
Aufklärung 9 f. 16 ff. 20. 21 ff. 24. 75. 130.
131. 132. 282 ff. (Grillparzer). 284.
285. — Sieh auch Schubart.
Aufſeher, Der, oder Vormund 523%.
Augsburgiſche Ordinari⸗Poſtzeitung 790 Anm.
Auguſtinus 260f.
Aurbacher Ldw. 369.
Avenarius R. 475.
Aventin J. 614.
Ayrenhoff C. v. 557. (561 ‚Poftzug‘).
Vgl. Immermann,
Baader F. M. 57220.
Babillard, Le 522. 523.
Bach J. S. (Komponiſt) 288. 289. 294.
295.
— K. Ph. E. (Komponiſt) 346. 347.
Bachmayr Joh. Nep. 423. 425. 428. 464.
Bachofen Joh. Jak. 99 f. (u. Burckhardt).
1052.
Baco v. Verulam 163. 164.
Bäſe Joh. (Maler) 379. 387.
Baini Giuſ. (Komponiſt) 396.
Bajza Joſ. Ign. 111.
Balde Jak. 59.
Ballade 185 f. 187.
Namens und Sachverzeichnis
643
Balladen buch, Niederdeutſches 627.
Balzac H. de 263.
Bamberg Fr. 303.
en an (D. dtſch. Pindariſche B.-
de).
Bartholdy J. S. (preuß. Generalkonſul
in Rom) 379. 380. 382. 392.
Baſe dow J. B. 545.
Batteux Ch. 540 f.
Ben Graf Hermann 371.
Gräfin Julie, geb. B.⸗Knoop 370/403
passim.
- Otto Graf v. 370/79 pass. 381. 387/99
pass. 402.
— Suſ. v., ſ. Bülow.
— Wolf Graf 370/72. 372403 (aus B.s
Tagebuch über 5 italieniſche Reiſe:
Siena u. Rom 1821).
Baumgarten Alex. Gtli. 343 f.
Baumgartner Wilh. (Komponiſt) 42988.
Bayer-Bürd Marie 457.
Bayeriſche Bibliotheken 147 f.
Beaumont, Mdme. 545.
Becher Erich 497. 500. 501.
Becker Alb. 289.
Bedenken über die Gaßnerſchen Kuren (von
Gfn. v. Auerſperg) 565 6.
Beethoven Ludw. v. 273/86 (B. u. Grill.
parzer). 286,95 (Bis geſchichtl. Stellg.).
Behlen (nicht: in) Stefan 304.
Bekker Balth. 60 f. “.
Belidor B. F. v. 340 (, Kriegslexikon').
Bender, Frh. v. 560.
Benedix Roderich 45222.
Bentheim 381. 380.
Berlin 541. 554.
Berling G. J. 627.
Berlioz H. 289. 293.
Bernardon, ſ. Kurz J. v.
Bernolak Ant. 111 ff. 114f.
Bernſtorff Ch. G. Graf v. 371.
Bertolotti Lina (Sängerin) 339.
Beſchäftigungen, Kleine, für Kinder (von G.
B. Funck) 340.
Beſchreibung, Ausführliche, jener merkwürdi⸗
gen Begebenheit, die ſich mit einer gewiſſen
Kloſterfrau Maria Anna Oberhuberinn
[Trefflerin] ... zugetragen hat (1775)
580f.
Beſt 359.
Beuſt F. F. Graf v. 409.
Bewußtſein 480 ff.
Bibel 616 f.
Bibliographie 305 f. (volkskundliche). 313/7
(zur Methode der B.; Arnim- u. Bren⸗
tano⸗B.).
Bibliothek, Allgem. deutſche 337 ff. (Nicolai
verſucht, Gerſtenberg als Mitarbeiter zu
gewinnen). 573. 574 27. 575. 585. |
Bibliotheken 147 f. (bayeriſche). 148 (geiſtl.
B. in Böhmen u. Mähren). 548 f. (Zu⸗
gänglichkeit). 552 f.
Biedermann W. 454224.
Binde Frdr., Volksmann u. Dichter (f 1921)
470 f. — Briefe von Dehmel an B. 471
bis 484. — Aus Briefen von B. an Deh⸗
mel 471. 473. 476. 482. 483. — Novel⸗
len: ‚Lacrymae Christi’ u. a. 47 1. 473.
— ‚Sonnenpfalm’ 478.
Biörnſon B. 263.
Biographie, Problem der 179 ff.
Birch⸗ Pfeiffer Chlotte 420. Vgl. 434.
Birken S. v. 21285
Blome Titi Gräfin 391.
Blumenſträuße .. von A. W. Schlegel (1804)
640.
Boccaccio G. 146. 531.
Bock, Herr (1765) 341.
Bocksbeutel, Der, ſ. Borkenſtein H.
Bodenſtedt Frdr. v. 443.
Bodmer J. J. 340 (Moadide‘). 520.
721 f. (Wieland an B.). 523. 524. 525 f.
529. 530. 532.
Boeckh A. 100.
Böhmer Auguſte (Tochter Karolines) 350f.
351 f. (Brief an ihre Tante Luiſe). 356
(dazu 640).
Boehner Ldw. 294.
Böttiger K. A. 367.
„Boeve de Hanſtone 618.
Boie H. Chn. 547. 551. 552. 559.
Bopfinger Schreiben 584 Anm. 588. 589 f.
Borkenſtein Heinr. (549 „Bocksbeutel').
Bormann Karl 407.
B 2: ler Heinr. Phil. (Muſikſchriftſt.) 348.
49.
Boſtröm Ch. J. 265.
Brandes G. 271.
Braunfels Ldw. 410.
Braunſchweig 541 f.
Brenner Alb. 89.
Brenner-Kron Emma 89.
(Briefw. mit Burckhardt; Gedichte).
Brentano Bett., ſ. Arnim.
— Clem. 32 f. 313 ff. (316 Br.⸗Bibliogra⸗
phie). 352 (,Godwi').
143 f.
644
Brentano Fr. 163. 164. 165. 166. 167.
497/502. 503. 506. 508. 511.
Briefe 143 (Briefw. Burckhardt⸗Brenner⸗
Kron, hrsg. v. Hoffmann). 337/48 (Nico⸗
lai an Gerſtenberg). 348/50 (Wieland an
Einſiedel). 351 f. (A. Böhmer an L.
Wiedemann). 358/61 (Tatter an L. Wiede⸗
mann). 363 f. (Arnim an J. v. Krüde⸗
ner). 364 f. (Krüdener an Arnim). 365 f.
(A. Müller an J. v. Müller). 369 f. (Th.
Huber an Docen). 409 f. (Gutzkow an
Haaſe). 412/16 (G. Keller an A. Hett⸗
ner). 416/70 (H. Hettner an G. Keller).
470/84 (Dehmel an Binde). 521 (Wie⸗
land an Bodmer).
Brinckman John
Werke).
Brockes B. H. 528. 529. 530 21.
Bröndſtedt, Dr. 390.
Broxtermann Th. W. 627.
Bruckner Ant. 289.
Brun von Schonebeck 624.
Buchner A. 625.
Buckle H. Th. 267.
Büchner Ldw. 470.
Bühler Carl 498. 499.
Bülow 384. 391.
— Suſanne u. Adolf v. 399.
Bünau Heinr. Graf v. 22.
Bürger G. A. 60. 559. 627.
Bürgerliche Geſellſchaftsſchicht 550/64.
Bunſen 384. 388. 402.
Burckhardt Jak. 85/107 (B. u. das
Dichteriſche). 143/45 (Briefw. mit Bren⸗
ner⸗Kron; Gedichte). 463.
Burte Herm. 189.
Buſchman n Ehrenfr. Engelb. 538.
Byron, Lord 90. 292.
Byſtröm Joh. Niklas (Bildhauer) 390.
627/29 (Plattd.
Cabinet des F&es 524 f. 7
Caglioſtro 575.
Calderini (Sängerin) 350.
Calderon 92.
Caldond Vittoria („das Albanermädchen“
387.
Calvin 73f.
Cambridge Adolf Hzg. v. 361.
Cammuccini V. (Maler) 383. 388.
Campe Eliſe 361.
Canova A. (Bildhauer 37413. 383. 384.
Canz Wilhelmine 457 (, Eritis sicut Deus).
Caroline, ſ. Schelling.
Carteſius, ſ. Descartes.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Caſanova G. Jak. 496.
Catel Tr. Ldw. (Maler) 386. 393.
Cellarius Chphor. 22.
Celtis Conr. 200.
Chamiſſo A. v. 318.
Charakterologie 178.
Cherubin i L. 202.
Chiliasmus 597. 601 f.
Chriſtentum, Rückkehr Strindbergs zum
253/73.
Chriſtian Prinz v. Dänemark 375
(378). 382. 384. 388. 390. 391. 392.
Cicero 59. 625. — Vorlage für Goetbe
64 f. 66 ff. 69 ff. 71 f. 75.
Claude Lorrain (Maler) 88.
Claudius Matth. 59. 553.
Clemens XIV. (Ganganelli), Papſt 579.
Codrus', ſ. Cronegk.
Collin Heinr. v. 291. 292.
Contrat social 10 ff. 17 f. lo f.
Cor dus Euricius 200 38,
Corneille P. 92.
Cornelius P. (Maler) 382. 402 8.
Cotta J. F. 369.
Cramer Cruſius 342.
Cranz (Offizier) 357.
Cronegk Joh. Frdr. v. (555 „Codrus').
Elis Ch. A. E. 565.
Dahl Chn. (Maler) 385. 401.
Dahlmann Ehrenfr. Jak. u.
Ehrenfr. 553 f.
— Fr. Ch. 554.
Dalberg Karl Thdr. v. 542.
Damian J. A. 304.
Dante 600. 607. 608.
Danzel Th. W. 438.
Da Ponte L. 277.
Darwin Ch. 268. 271.
David, König 196 f. 10.
— Jak. Jul. 640.
Dawiſon Bogumil 456.
Defoe Dan. 436 f. 563.
Dehmel J., geb. Coblenz (R. D.s zweite
Gattin) 484.
— Otto 475.
— Rich. 263. 470 f. 471/84 (Briefe an
Binde, ſ. d.). 472 (478 an W. Schäfer).
— Lebensblätter 470. 472. 482. — Der
Mitmenſch 474. (475). — Weib und
Welt 482.
Descartes (Carteſius) 162. 164.
166. 168. 169.
Deſſoir 407.
Joh.
damen⸗ und Sachverzeichnis
Deſſoir M. 192f.
Deutſche Chronik hrsg. von Schubart 577 ff.
581 ff. 584 ff. 587 ff. 500 ff.
Deutſche Literatur 21/34 (Möſer). 85/107
Burckhardt). 195/218 (Fortleben Pindars
. . . bis Gryphius). 540 / 64 (Das literar.
Publikum d. 60er Jahre d. 18. Ihdts.).
616/29 (ahd.; mhd.; Theophilus; Stieler;
nd.; Brinckman).
Deutſchland 85 ff. (Burckhardt).
Dichteriſche, Das (Jak. Burckhardt) 85/107.
Dickens Ch. 140/42 (Raabe u. D.).
Diderot Den. 462.
Dieterich Lotte, geb. Michaelis 359.
Dietmar von Eiſt 623.
Dietrichſtein Moritz Graf 273.
Dilettant 478.
Dilthey Wilh. 178. 497/502. 503. 504.
Dingelſtedt F. 409. 410.
Dionyſios v. Halikarnaß 103f.
Dobrovsky Sof. 113.
Docen Bernh. Joſ. 369 f. (Brief von Th.
Huber).
Döbbelin Th. 549. 560.
Dolfus Charles 464.
„Don Quixode', ſ. Abenteuer.
Dorat Cl. Joſ. 538.
Dornford 360.
Doſtojewski F. 263.
Draeſeke Fel. 288.
Drama 137 f. (O. Ludwig). 186. 218/53
(H. v. Kleiſt). 273/86 (Grillparzer).
296 / 303 (Hebbel). 307. 310.417 (Locher).
417/20. 422 f. 425. 456 f. 474 (Deh⸗
mel). 595/15 (Immermanns „Merlin').
624 f. (,Theophilus ').
„Dramatiſche Geſellſchaft (in Elberfeld) 483.
Dramaturgiſches in Hettners Briefen an Kel⸗
ler 417/20. 422 f. 424. 426. 427.
Droſte⸗Hülshoff Annette v.
(Judenbuche ).
Drummond, Lady 391.
Düntzer H. 176.
Dürer Albr. 374. 380. 590 10.
Du Mont Joſ. 458.
Duncker Alex. (Verleger) 404.
Du ſch Joh. Jak. 337. 347.
139 f.
Ebbinghaus Herm. 499.
Ecce Schubart von Ala (von Hofer?) 593.
Eckardt Ldw. 443.
Edda 188.
Eggers Frdr. H. 405. 406. 407. 408. 627.
— Karl F. P. 627.
645
Eggers Karl Joh. (Maler) 381. 382. 388.
389. 390. 391. 392. 394. 397. 401.
Egidy Moritz v. 470.
‚Ehemann, Der blinde (von Krüger) 538.
Eichendorff Joſ. v. 145. 246. 318.
Eilhart v. Oberge 618. 620.
Einflüſſe 296. 298.
Einſiedel Frdr. Hildebr. v.
(Briefe an E., von Wieland).
Elberfeld 479.
Element- und Moſaik⸗Pſychologie 175 f.
‚Ellora’ (Freundeskreis bei F. Eggers) 406.
Elſter E. 192.
Empfindſamkeit 525 f.
Engliſche Literatur 140/42 (Dickens).
Ennemoſer J. 597.
Epos, Epentheorie 186 ff. 300 (Hebbel). S.
auch Roman.
Erfurt 542.
Erhard Andr. 370 (‚Heimeran’).
Erigena Joh. Scotus 167.
‚Eritis sicut Deus’ (von W. Canz) 457.
Erklären, Verſtehen und 513/16.
‚Ernft, Herzog! 618.
Ernft Charlotte 351.
Erzählgedicht, Höfiſches 617/21.
Erzählung, ſ. Roman.
Erziehung 10f.
Eſchen Frdr. Aug. 539.
‚Essentia’, Die, des Spinozismus 164/8.
Vgl. 162.
Est, Est, Est 374.
Euripides 198.
Exorziſtenſtreit (Gaßner), Schubart im
564/95.
348/50
Faber Joh. (Maler) 388. 392.
Falk J. D. 614.
Fallmerayer Jak. Phil. 435 11.
Fandly Georg 113.
Fechner G. Th. 176.
Feder J. G. H. 359.
Feuchtersleben E. v. 318.
Feuerbach Ldw. 415. 457. 460.
Fichte J. G. 49. 163. 221. 224. 562. 640.
Fiſcher Kuno 168.
Fleiſcher 34422.
Fleming Paul 626.
Flugſchriften zum Gaßnerſtreit 565 f. 567f.
571 ff. 574. 580 f. 583 ff. (Schubart).
Fontane Thdr. 403/08 (Anfänge des
Briefw. mit Heyſe). 403 f. (Gedichte).
405 (Londoner Briefe). 406/08 (, Argo).
646
Frage, Politiſche, ... über die Gaßnerſchen
Kuren (von Reiſach) 565 f. 7.
Franzöſiſche Renaiſſance 146 f. (Früh⸗R.⸗
Novelle). 200/03 (Horaz u. d. Ode der
frz. R.).
Freiligrath F. 318.
Freyer Hans 517. 518.
Freytag Guſt. 141. 420. 452 (453. 454
„Soll u. Haben ). 454226. 457. 463. 561.
Friederichs C. 453.
Friedrich II., der Große 22. 28. 75.
541. 785.
— VI., Kg. v. Dänemark 370f.
Fries Bernh. (Maler) 421. 460.
Frührenaiſſancenovelle, ſ. Roman.
Fugger, Joh. v. 374.
Für ſtenhöfe, Die, beſtimmend für d. geiſtige
Leben 540 ff.
Fugger ⸗Gloett Ant. Ign. Graf, Fürſt⸗
biſchof v. Ellwangen 565.
Funck G. B., ſ. Beſchäftigungen.
Gabler Matthias 56611.
Gans Edu. 422.
Garve Chn. 129.
Gaßner Joh. Joſ. 564/95 (Schubart im
Exorziſtenſtreit).
Gau Fr. Chn. (Maler u. Architekt) 402.
Gebhart 167.
Gebler Tob. Phil. Frh. v. 545. 546. 549.
Gefühlsphiloſophie 16 f. 19.
Geibel Em. 90. 143. 144. 443.
Geiſtesgeſchichte des 18. und 19. Ihdts., ſ.
Quellen.
Geiſteswiſſenſchaft und Pſychologie 172/95.
497/519 (die Methode der Geiſteswiſſen⸗
ſchaften 516 ff.).
Geiſtliche als Mittelpunkt literar. Lebens 553.
Gelegenheitsdichtung 207 ff.
Gelehrte als Mittelpunkt des Geiſteslebens
551 ff. 557f.
Gelehrten⸗Republik 338.
Gellert Chn. F. 58. 525. 526. 527. 528.
529. 530. 533. 537. 545. 561. 562. 563.
589 (Schwed. Gräfin‘).
Gellius Joh. Gtfr. 584 Anm. Nr. 6 (dort
wird ihm, auf Grund einer mißverſtandenen
Notiz bei Goedekes IV 588, irrtüm-
lich das Luſtige Abenteuer zugeſchrieben).
Gemmingen Eb. Frdr. Frh. v. 531f.
Gentz Frdr. v. 366. 367. 368.
Georg III., Kg. v. England 358. 359.
George Stef. 482.
Gerber G. 176. 188. 189.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Gerhardt Paul 56 f. 57.
‚Gerold von Vollblut. Novelle (von Raabe,
nicht von Brinckman) 629.
Gerſtäcker F. 318.
Gerſtenberg Heinr. Wilh. v. 337 48
(Briefe von Nicolai an G.). 339 (340 f.
„Ariadne auf Naxos“). 340 (342 Gedichte
eines Skalden). 344 (347 Briefe ü. d.
Merkwürdigkeiten d. Liter.). 344 (347 f.
Ugolino).
— Sofie v., geb. Trochmann 3411.
Gervinus G. G. 93. 98 f. 106. 421
(Hettner über deſſen ‚Shafelpeare‘).
Geſchichte 20. 365/69 (J. v. Müller u. A.
Müller).
Geſchichtsauffaſſung (J. Möſer's) 21/34.
Geſchichtsphiloſophie 365/69 (A. Müller; J.
v. Müller).
Geſellſchaftsvertrag, ſ. Contrat social.
Geßner S. 536. 563.
Geſtalt, G.⸗Pſychologie, Theorie, Forſchung
173 ff. 177 f. 179 ff. 182. 186. 187 ff.
Vgl. 50418.
Geſtaltqualität 182.
Gildemeiſter Karl 627.
Giovanni da Firenze 146.
Gleim J. W. Ldw. 532. 535. 537. 543.
547. 563.
Stoffen, ahd. 616f.
Gluck Ch. W. 294.
Gnoſis 505 ff.
Göckingk G. v. 551%,
Göring Chr. 626.
Görres Joſ. v. 33.
Go ſchen G. J. 538 f. 540°.
Goethe J. W. v. 23. 30. 34. 35. 36. 52.
53. 54. 85. 88. 92. 93. 96. 100. 106.
107. 135. 136. 143. 180. 189. 190. 224.
232. 291. 304. 3107 (G. u. d. Volks⸗
lied). 316. 318. 336. 3875. 551. 562.
563. 595. 614.
Hebbel u. G. 296 301.
Fauſt 231. 514. 602. 603. 609; Zum
Geſang der Erzengel 54/75. -
Götz v. Berlichingen 422. — Hermann
u. Dorothea 300. — Jahrmarktsfeſt v.
Plundersweilern 4028. — Taſſo 299 f.
Wahlverwandtſchaften 302. — Werther
5867, 589 f. 599. — Wilhelm Meiſter
94f.
Göttingen 552.
Göttling K. 43310,
Goeze J. M. 342. 558.
Golda mmer Leo 407. 408.
Namen» und Sachverzeichnis
Goltz Bogumil 436.
Gotfrid v. Straßburg 618. 620f.
Gott 247 f. (Kleiſt). 253/73 (Strindbergs
Ringen mit G.).
Gotte r Luiſe 351.
Gottesbeweis 162 f.
Gotthelf Jerem. 432104.
Gottſchall Rud. 400.
Gottſched Joh. Ch. 27. 212. 438. Vgl.
342. 529. 531.
— L. A. V. 522.
Gral, Gralslehre 596. 597. 600. 60 1. 606.
608. 609. 614. 620.
Granet rc. (Maler) 391. 401.
Graun K. H. (Komponiſt) 339.
Greflinger J. G. 620.
Gries J. D. 352.
Grillparzer Frz. 89. 92. 318. — u.:
Beethoven 273,86; Burckhardt 93 ff. 97.
98. 99. 107. — Einſtellung zur Muſik
273 ff. — Geſpräche 7. — Werke hrsg.
v. Sauer (Wien) Sf. — Drahomira
277 f. — Meluſine 277 ff. 280 ff.
Grimm F. Melchior v. 462 f.
Grimmelshauſen Ch. v. 94.
Groeger F. C. (Maler) 383.
Groth Klaus 627. 629.
Grün Anaſt. 318.
Grünwald Jorg 310.
Gruppenbildung 181.
Gryphius Andr. 195. 208. 2153/8 (die
geiſtl. Ode des G.).
„Guardian, Der Engliſche 522 f. 539 f.
Günderode K. v. 313.
®ueullette’s ‚Mille et un Quart
d’heure’ 524 f.
Guiot, f. Kiot.
Gundolf F. 176. 180. 194. 202.
Gutermann Sophie, ſ. La Roche.
Gutzkow Karl 91. 408/11 (Schillerſtiftg.;
Brief an Haaſe). 413 f. (Kuhs Hebbel⸗
biogr.; „D. Longinus ). 449. 451 f. 453.
455. 456 (‚Ella Roſe'). 462.
Guyon J. M. Bouvier de la Motte 363.
Haaſe Frdr. (Univ.-Prof. in Breslau).
409 11 (Gutzkows Brief an H. in Sachen
der Schillerſtiftg.).
Häffelin, Kardinal 389.
Händel G. F. 292. 294.
Härtel Eliſ., ſ. Overbeck.
Häſer Chlotte, ſ. Vera.
Häuſſer Ldw. 421.
647
Hagedorn Frdr. v. 525. 529. 530. 53122.
533 f. 537. 563.
Hagen Frdr. Heinr. v. der 373.
Haller A. v. 528. 529. 562. 563.
Hamann J. G. 22. 28. 29. 30.
Hamuljak Mart. 114f.
Hannswurſt und Schubart (von Zeiler) 582.
584. 58657. 587. 588 f. (Probe daraus).
Vgl. 592.
Hardenberg Karl v. 362.
— Frdr. v., ſ. Novalis.
— K. A. Fürſt v. 389.
Hardt (Pianift) 479.
Harnier W. de 397.
Harsdörffer G. Ph. 191. 21288.
Hartmann Edu. v. 267 f. (Strindberg).
Hartmann v. Aue 619.
Haſſe J. A. 294.
Hauff W. 318.
Haug Balth. 37. 551.
Haupt Fr. E. 559.
Hauptmann G. 1452.
Haydn of. 284. 286 ff. 293. 294.
Haza Sophie v. 367.
Hebbel Frdor. 90. 187. 296/303 (H.⸗Lite⸗
ratur, von: Sommerfeld, Pfannmüller,
Schnyder. Vgl. 640). 423. 613. — H.s
Religion 301 f. — H. u.: Goethe 296 301;
Gutzkow 413 f.; Rötſcher 302 f.; Uhland
296 f. — Herodes und Mariamne 420
(Hettner darüber). — Julia 423. —
Mutter und Kind 300. — Trauerſpiel in
Sizilien 120,
Hebel J. P. 14 am E.
Heetor Enno 627.
Hegel G. W. F. 19. 31. 34. 97. 98. 106.
163. 186. 225. 302 f. (Hebbels u. Nöt-
ſchers Beziehungen zu H.). 41880. 603.
606. 614. 615. 631.
Heine Heinr. 143. 190. 624.
Heinrich von Morungen 624.
— v. dem Türlin 620.
Heinſe Wilh. 28. 100.
Heinzel Rich. 3. 173.
Hellingrath N. v. 194.
Henle Jak. (Anatom und Phyſiologe) 421.
Henneke Knecht, Lied vom 627.
Henſel Luiſe 316.
Herbart J. F. 179.
Herder Joh. Gtfr. 29 f. 35/54 (Schiller u.
H.). 58. 59. 60. 102. 106. 129/33
(Kritiſche Wälder‘). 133. 135. 139 (H.
in Riga). 213. 225. 313. 343. 367.
535 f. (u. Wieland).
648
Herder Carol. 348 (Brief von Wieland).
Heroldt Ihns. 199 22.
Hertz Wilh. (Verleger) 405. 406.
Hettner Anna, geb. Grahl, zweite Gattin
Herm. H.s 412/16 (Briefe Kellers an fie).
464.
Eliſabeth (Herm. H.s Tochter) 42 1. 462.
Felix (Sohn v. Hermann) 428. 442.
457. 462.
Georg (Sohn v. Hermann) 457. 462.
Herm. 98. 411 f. 412/14. 415 f. (Notiz:
G. Kellers perſönliche Erinnerungen an
H.). 416 / 70 (Briefe H.s an G. Keller).
41726 (H. an F. Lewald). 438 188 (H.
und Danzel). 439 136 (H. u. Köchly).
„Modernes Drama“ 414. 418
(erſtes Auftauchen der Idee dazu). 422.
424. 426 f. 427 f. 429. 430. 431.
Griech. Reiſekizzen 433. 435. 441. —
Literaturg. des 18. Ihdts. 435. 437. 449.
450. 451. 454. 456. 458. 460. 461.
462 f. 464. 467 f. 469. — Robinſon u. d.
Robinſonaden 436 f. 438. 442. Italien.
Studien 469.
Marie, geb. Stockmar, erſte Gattin Herm.
H. s 417. 426. 435. 436. 458 f. (Krank⸗
heit u. Tod). 460.
Heusler A. 187.
Hexen, Hexenwahn 568 ff. 573. 575. 576.
Heyne Ch. G. 360.
Heyſe Paul 89. 90. 91. 143. 144. 403/08
(Anfänge des Briefw. zw. Fontane u. H.).
407 f. („La Rabbiata ). 443. 46428.
Hilgen feld, Schweſter von Adolf 455. 456.
Hiller Joh. Adam (Komponiſt) 347.
Hiob, Buch 54 ff.
Hippel Thor. G. v. 561 f.
Hobbes Th. 18. 164.
Hod Za 125.
Höfe, ſ. Fürſtenhöfe.
Hölderlin Frdr. 88.
246 f. 336.
Hofer Caſpar (‚poeta vagabundus’) 573.
574. 584 Anm. 587 f. 593.
Hoffmann E. T. A. 76/84 (H.s Stil).
145. 246 (, Bergwerke zu Falun‘). 280.
294. 300. 318.
— von Fallersleben H. 318. 629.
Hofmannsthal Hugo v. 186. 482.
Holbach P. H. Frh. v. 460 (‚Systeme de
la Nature‘).
Holfeldiſche Dreſchmaſchine (343). 346 f.
Homburg E. Ch. 21387,
Homer 341.530.
100. 194. 225.
— — —— ————— — — — —
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Homophonie, Beethoven als ihr Meiſter 288 f.
290.
Horaz 199. 200/03 (H. u. d. Ode der franz.
Renaiſſance). 204. 206.
Horny Frz. (Maler) u. Konr. (Zeichner)
386. 398. 399.
Hrabanus Maurus 616. 617.
Hrotsvith von Gandersheim 624.
Huber J. L. 53223.
— Thereſe 369 f. (Brief an Docen).
Huch Ricarda 145.
Hübner Joh. 212.
Hufeland (Gattin des Juriſten G. H.)
351. 352.
— Chph. Wilh. (Arzt) 351. Vgl. 352.
— Gottlieb (Juriſt) 352.
Hugo Vikt. 90. 143.
Hugo von Puiſet, Graf 618.
Humaniſten 196 ff.
Humboldt Karol. v. 37622.
— Wilh. v. 31. 106.
Hume Dav. 499.
Hurban J. M. 116 f. 119. 124f.
Huſſerl Edm. 498. 508.
Huysmans J. K. 258. 263.
Hyacinthe St. 525°.
Jacobi Fr. H. 135.
— J. Gg. 547.
Jahrbuch für hiſtor. Volkskunde 304. 311 ff.
Jahrbücher, Kritiſche, der Wiſſenſchaft und
Kunſt (1862 gepl., nicht zuſtande gekom ·
men) 465 ff.
Ibſen H. 263. 265 f. (Brand. Einfluß
auf Strindberg). 503. 603.
Iffland A. W. 402%.
Identitätsphiloſophie Spinozas 168 f.
Jean Paul (J. P. F. Richter) 133/7 (J.
P.⸗Literatur).
Jeſuiten (Schubarts Konflikt mit ihnen)
564/95.
Ilias u. Odyſſee 187.
Imhoff Amalie v. 539 f.
Immermann Karl 94. 595/615 (Studien
zu J.s ‚Merlin‘: 1. Das Knaben⸗Jung ·
frauen⸗Rätſel 595; 2. ‚Drei find es, welche
zeugen 600; 3. Das Zauberwort 602;
4. Zur Geſtalt Satans im Vorſpiel 604:
5. Zu Gottes und Satans Stammbaum,
Nachſpiel 607; 6. Zur Kompoſition 6 10).
Jörgenſen Joh. 258.
Johann, Erzhzg. v. Oſterreich 305.
Jordan Wilh. 451f.
Joſeph Ill., Kaiſer 592.
Namens und Sachverzeichnis
Italieniſche Frührenaiſſance⸗Novelle 146 f.
Jungbauer G. 310.
Jung ⸗Stilling J. H. 363. 364. 553.
Junkmann W. 627.
Kaas Fr. Jul., dan. Miniſter 370 f. 375.
Kant Im. 15. 16. 19. 20. 31. 35. 39. 40.
42. 44. 45. 50. 51. 164. 168. 220. 221.
224. 225. 226. 240. 283. 291. 475. 480
(Dehmel über K. Vgl. 482). 500.
Kapp Aug. 421. 423.
— Chn. (Philoſoph) 415. 421. 423. 426.
460.
— Ihna. 421. 423. 426. 460.
— Max 460.
Karl, Hzg. v. Württemberg 593 ff. (u.
Schubart).
Karoline, ſ. Schelling.
Karſchin Anna L. 560.
Katholizismus, ſ. Luthertum.
Katz, Gebr., in Deſſau (Verleger) 406. 407.
408.
Kaufmannsſtand, Der, als Mäzen 550 f.
Keller Gtfr. 85. 91. 95 ff. (u. Burckhardt).
186. 189. 411 f. 412/14 (Briefe K.s an
A. Hettner). 415 f. (Notiz': K.s perſönl.
Erinnerungen an H. Hettner). 416/70
(Briefe H. Hettners an K.). 438 f. (H.
ü. die K. angebotene Profeſſur). 465 ff.
(Krit. Jahrb. d. Wiſſ. u. Kunſt; gepl.
Mitarb. K.s). — Anzeige v. Hettners
„Modernem Drama 431. 432. — Apo⸗
theker v. Chaumounix 432. 434. — Auf⸗
ſatz ü. Bachmayr 428. — Der grüne Hein⸗
rich 419. 420 f. 422 f. 426. 429. 432.
433107, 434. 435. 436. 437 f. 439/41.
442 f. 443 f. (Hettners Rez.). 445. 446.
447. 453; Hettner darüber 424 f. 439/41.
450 f. — (Neuere) Gedichte 419. 432
(Hettner darüber). 433. 439. 456. 465
(Prolog z. Schillerfeier). — Jedem das
Seine. Lſtſp. (gepl.) 429. 432. 434. —
Sieben Legenden 467. 469. — Die Leute
v. Seldwyla 43415 (Mißbr. Liebesbriefe).
446. 450. 453. 454. 456. 458 f. 461.
469. 503 (Romeo u. Julia). — Die
Roten. Lſtſp. (gepl.) 427. — Das Sinn-
gedicht 459. 461. — Thereſe 419 f. 432.
— Zürcher Novellen 467 (Die Fähnlein
der 7 Aufrechten).
— Helen 132.
Kellermann Bernh. 186.
Kern Joh. Konr. 446.
Kerner Juſt. 565°.
649
Keſtner Aug. 379. 387%. 390. 394. 395,
398. 399. 40258.
Kielmannsegg 391.
Kierkegaard S. 262. 265 ff. (Einwirkung
auf Strindberg).
Kind Frdr. 277.
Kindermann B. 625. 626.
Kinkel Gtfr. 144. 447.
Kiot (= Guiot) 6lof.
Klaſſizismus im 19. Ihdt. 296/301.
Klein Joh. Adam (Maler) 382. 388. 300.
391. 396.
Kleiſt Ewald v. 57. 59 f. 526. 528 (534.
563 ‚Der Frühling). 533. 535. 546.
— Heinr. v. 33. 186. 194 f. 218/53 (Aufſatz
ü. d. „Marionettentheater). 610. 613. —
K.s Tod 244 f.
Amphitryon 228 f. 246. — Die heil.
Cäcilie 241. — Erdbeben in Chili 235 f.
241. — Familie Schroffenſtein 226 /9.
251 f. — Der Findling 238. — Robert
Guiskard 252. — Hermannsſchlacht 238 f.
243. — Käthchen v. Heilbronn 228. 231.
233 ff. 236. 242. 243. — M. Kohlhaas
241. — Marquiſe von O. 241. — Penthe-
ſilea 228. 232. 233. 234 f. 236. 241 f.
253. — Prinz von Homburg 239 f. 242.
— Verlobung in St. Domingo 238. —
Der Zweikampf 243.
— Ulrike v. 245.
Klingemann Aug. 352.
„Klingſor 595/600.
Klopſtock F. G. 58. 59. 60. 197 10. 212.
213. 215. 291. 337. 338 (Gelehrtenrepu⸗
blik). 341. 342. 344. 522. 524. 529. 530.
554. 562. 594 f.
Klotz Chn. Adf. 129. 130. 537 f. 545. 551.
558 f. 559.
Knaffl J. F. 305.
Knebel Karl Ldw. v. 546.
Koch (Architekt) 379. 380.
— H. G. 557f.
— Joſ. Ant. (Maler) 378. 382 f. 386. 388.
390. 391. 394 am E.
Koeber Raphael 145 (Kleine Schriften).
Köchly Herm. 439. 448. 456. 4582856.
Kölniſche Zeitung 458.
König Eva 549. 561.
Kolatſchek Ad. 425.
Komödie 302. 425. 428.
Kopernikaniſche Weltauffaſſung 57 f. 65.
Kotzebue A. v. 3691. 383. 614.
Kranz Joh. Frdr. (Konzertmeiſter in Wei⸗
mar) 348. 349.
650
Kratzenſtein Frdr. Wilh. 340 (Belidors
„Kriegslexikon').
Krauſe Chn. Gtfr. 340. 346.
Kreitmayr W. X. A. v. 576.
Kriſtian von Troyes 618. 610f.
Krommer Frz. 293.
Krüdener Barb. Juliane v. 362/65 (Frau
v. K. u. A. v. Arnim). 362 ff. (, Valerie“;
Arnims Urteil). 364 (, Othilde', ungedr.).
Krüger Joh. Chn. 538.
Kürenberger, Der 622f.
Kugler Frz. 144. 405. 406. 407. 408.
Kuh Emil 413 f. (Hebbelbiogr.).
Kulturnaturalismus 11.
Kunſt 98 ff. 100 ff. 103 f. — S. auch Maler.
Kunſtformen, Literariſche 185 ff.
Kunſtwiſſenſchaft 176 f.
Kurz Joſ. v. (Bern ardon) 542. 549. 501.
Lachmann K. 187.
Lafontaine J. de 524. 531. 545.
Landauer Guſt. 470.
Lang Georg 553.
— Karl Heinr. v. 545. 553.
Lange S. G. 529. 554.
Laplace P. S. 517f.
La Roche Sophie v., geb. Gutermann 521.
52712, 528.
Latein 616 f. — S. auch Mittellat.
Laube Heinr. 318. 417.
La vater Joh. Kaſp. 367. 553. — u. der
Gaßnerhandel 565. 574 f. 582/84 (Briefw.
mit Schubart. Vgl. 591 79).
Layard Auſten Henry 431. 432.
Lebensformen 175 f.
Lecuwenhoek 530.
Legenden 306. 624 f. (Theophilus-L.).
Leibniz G. W. 18 f. 22. 46. 162. 516.
Leipzig 751.
Lenau Nik. 90. 143. 318.
Lepel Bh. v. 405. 406. 407.
Leſſing G. E. 17. 27. 92. 129. 130. 131f.
275. 341 (418 Laokoon“; „Dramatiſche
Gedichte). 344. 438. 526. 527. 533.
536. 541. 547. 549. 551. 554. (556.
562 Miß. Sara S.“). 559. 560. 561.
562.
— Karl 549. 560.
Leuthold Heinr. 144.
Leveling Heinr. Palmaz v. 566 11.
Lewald Fanny 417 2° (Hettner an L.). 421.
423. 435. 436 (Hettner u. L.s „Wand⸗
lungen). 459. 462.
Lie Jonas 261.
Namens und Sachverzeichnis
Liebespoeſie 621 ff.
Liliencron Detlev v. 479.
Linckh (Maler) 375. 376.
Lindworsky Ihns. 515.
Li ſzt Frz. 289.
Literariſche Publikum, Das, der 60er Jahre d.
18. Ihtds. in Deutſchland 574064.
Literatur, Mittelhochd. 617/21 (Ehrismann).
621/24 (Entſtehungsgeſch. des Minne⸗
ſangs).
Literaturwiſſenſchaft und neue Pſpychologie
17295. Vgl. 336 am E.
—, Volkskunde und 312 f.
Lobwaſſer A. 214.
Locher Edu. (dramat. Dichter) 417 (Hettner
über L.s Trag., Johanna Gray’; uſw.).
Löwen J. Fr. 543 f.
Lonicer Ihns. 198.
Louis Ferdinand, Prinz v. Preußen
367.
Ludwig, Kronpr. v. Bayern 375 f. 377.
380. 382. 383. 385. 387. 388. 389.
391. 392. 395.
— Otto 95. 137 f. 140 f. 186.
Lübke Wilh. 416 23. 469 328,
Luiſe, Kgin v. Preußen 363.
Lund Z. 626.
Luther M. 213. 2141. 313. 396.
Luthertum u. Katholizismus 365/69 (A. Mül⸗
ler; J. v. Müller).
Lyrik 54/75 (Geſang der Erzengel in Goethes
Fauſt). 87 ff. (102 f. 143 ff. Burckhardt).
185 f. 195/218 (Fortleben Pindars uſw.).
300. 306. 310. 313. 403 f. (Fontane).
477 f. 479. 621/24 (Entſtehungsgeſch. d.
Minneſangs). 625 f. 627 f. (nd. Balla⸗
denbuch). 627/29 (Brinckman). — Der
Aſchermittwoch in Weimar 614. — Na⸗
turdichtung, religidie 56 ff. — Ode, ſ. d.
— Sonette 352f. (von Winckelmann).
350 f. (nach Petrarca, von Schelling. Vgl.
640). — Volkslied 306. 310 f. 622.
627. — Zueignung an Schelling (von
A. v. Platen) 355 f. Vgl. 640.
Anfänge:
Der Frühling blüht, die goldnen Sterne
fingen (Winckelmann) 352. — Du klei-
ner loſer Amor du (Schubart) 588. —
Du meiſterloſes Hänschen du (Zeiler)
588. — Erquiderin der zarten Seelen
(Stieler) 626. — Es kommt mir ins Ge⸗
müth (nach Petrarca, von Schelling) 356.
Vgl. 640. — Es muß ein Volk beſtandig
höher ſteigen (Aug. v. Platen) 355. Vgl.
Namens und Sachverzeichnis
640. — O du Natur! wie ringt dein
innres Streben (7 Winckelmann) 353. —
Schubart in b'ſchiſſener Pfaidt (Hofer)
587. — Wenn der Planete der die Stun⸗
den ſcheidet (nach Petrarca, von Schel⸗
ling?) 356. Vgl. 640.
Mabinogion 619.
Machiavelli N. 164.
Maeterlinck M. 263.
Mahler G. 280.
Mailliard 465.
Mainz 542.
Maler und Gemälde (in Siena, Rom uſw.)
372 403 (Baudiſſins Tagebuch 1821).
Manilius 67.
Mann Thom. 503.
Man ſo J. K. F. 540.
Mareta Hugo, P. 2.
Marggraff Herm. 410. 454224. 45720.
Marionetten, M.⸗Theater, |. Kleiſt H. v.
Marmontel J. F. 52713.
Marot Cl. 214.
Marſchner Heinr. (Komponiſt) 456 2*5,
Marty Ant. 490 8. 504 13. 506.
Mascov Joh. Jak. 22.
Mattheſon Joh. 347.
Mauthner Fritz 5041s.
Maximilian III. Joſeph, Kurf. v.
Bayern 566 f. 576.
Meier G. F. 522.
— John 310.
Meinloh von Sevelingen 623.
Meiſter J. Heinr. 462 f.
Mèélac 587.
Melancholie, Die luſtige (1775. Von C.
Hofer) 584 Anm. 587 f. (Probe daraus).
Melanchthon Ph. 196 w. 197. 198.
„Memnon (Zihr.) 352 f.
Mendelsſohn Moſes 130. 132. 319 (u.
Amerika). 336. 342 (345 f. ‚Phäden‘).
347.
— Bartholdy Fel. 289.
Menzel Wolfg. 318.
Merckel W. v. 407. 408.
Mer eau S. 313. Vgl. „S. M.!
‚Merlin‘, ſ. Immermann.
Merz Aloyſius, Exjeſuit 573. 577. 578 f.
584. 586.
Mesmer F. A. 597.
Methode der Bibliographie, Zur 313/17.
Methodologiſch⸗kritiſche Betrachtungen (über
Geiſteswiſſenſch. u. Pſychologie) 497/519.
Metrik 216 f. 344 f. (Nicolai).
651
Meyer F. L. W. 357. 358. 361.
— Konr. Ferd. 95.
— Rich. M. 192.
Michaelis Gtfr. Philipp 350 (Schelling
an M.) 359. 360. 361.
— Joh. Dav. 354. 360.
— Karol., ſ. Schelling.
— Lotte, ſ. Dieterich.
— Luiſe, ſ. Wiedemann.
Miller Joh. Peter 343.
Milton John 59. 60 10. 530.
Minneſang „ 621/24.
Minor Jak. 2.
Mittelalters, os des 624 f. (Theophi⸗
luslegende).
Mittelhochdeutſche Literatur 617/21 (Ehris⸗-
mann). 621/24 (Entſtehungsgeſch. des
Minneſangs).
Mittellateiniſche Dichtung 621 f. 623 f. 624f.
Möller Nitkol. 362.
Mörike Edu. 85. 89. 91 f. 143. 144. 186.
Moerner O. Graf v. 387. 390.
Möſer Juſtus 21/34 (M.s Geſchichtsauf⸗
faſſung).
Moleſchott Jak. 415. 421. 426. 457.
458. 459. 460. 46 1. 463. 464. 466.
Moliere 228.
Monatsſchrift, Deutſche, hrsg. v. Kolatſchek
425.
Morel Karl 468.
Morgenblatt f. gebild. Stände 369 f. 404.
Morhof D. G. 212. 625.
Moſel Ign. Frz. v. 273.
Moſenthal Sal. H. 419 (‚Deborah‘).
432 104. 456 f. (‚Goldſchmied v. Ulm’).
Moſer Frdr. Karl v. 555.
Moſes, ſ. Mendelsſohn M.
Mosheim J. L. v. 595.
Mozart W. A. 273 f. 275. 284. 286 ff.
292. 293. 294. 349.
Müllenhoff Karl 4.
Müller Adam H. 33. 251“. 365/69.
365 f. (Brief an Joh. v. Müller).
— Fooke 627.
— Ihns. v. 365 f. (Brief v. Adam Müller
an ihn). 365/69 (A. Müller u. J. v. M.).
365 (369 Schweizergeſchichte).
— Max 482.
— Otto 425 (Hettner über ihn).
— Wilh. Chn. 389.
— Freienfels R. 182f.
— v. Königswinter Wolfg. 461. 462.
Müllner Adf. 276. 3691. 370.
München 557.
652
Münchhauſen Börries Frh. v. 627.
Münchner Dichterbuch 466.
— Dichterkreis 461 f.
Münſter Ernſt Frdr. Herb. Graf v. 358 ff.
361f.
Munck er Frz. 335 f. (Nachruf).
Mundartliche Dichtung 143 f. 627 (Nd. Bal⸗
ladenbuch). 627/29 (Brinckmans plattd.
Werke).
Murray Auguſte, Lady 358.
Muſeum, Deutſches, hrsg. v. Prutz 423. 425.
443.
Muſik 76 ff. 89. 190. 273/95 (Grillparzers
Einftellg. zur M.; Mozart; Beethoven).
322 f. (Zur M.⸗Geſchichte). 339 (340 f.
(über J. A. Scheibe; Krauſe). 344 f.
346. 347. 349 (blinde Virtuoſin auf der
[Glas-] Harmonika). 350.
Myſtiker 161/54 (Iſt Spinoza ein M. ?).
Nachrufe 1/8 (Sauer). 335 f. (Muncker).
Näke Guſt. Heinr. (Maler) 380.
„National⸗Literatur“ 312f.
Natur, Rückkehr zur 10 ff. 15. 16.
Naturerkenntnis u. N.⸗Beherrſchung 597.
Naturwiſſenſchaften 172 f.
Nauelerus Ihns. 199 22.
Neander Joach. 57.
— Mich. 197f. (‚Aristologia Pindarica').
Nemeſis 39 ff. 50.
Neumark G. 625.
Nibelungen, N.⸗Lied 187. 188. 300.
Nicolai Frdr. 22. 27. 130. 337/48
(Briefe an Gerſtenberg). 344 (,Rhapſodie
vom Trauerſpiele). 537. 549. 5514.
552. 554. 573. 574 27.
Nicolini 541.
Niebuhr B. G. 29. 376 21.
394.
Niederdeutſches Balladenbuch 627.
Niemeyer A. H. 553.
Nietzſche Frdr. 47. 79 f. 86. 100. 145.
260. 262. 263. 271 f. (Strindberg). 476.
— „Nietzſchelei“ 476.
Nouvelles Nouvelles, Cent 146. 147.
Novalis (Hardenberg) 28. 32. 33.
81. 225. 245 f. 297. 353. 356. 362.
600.
Novelle, ſ. Roman.
No verre ſche Balette 560.
Numerus 193 f.
377. 383.
Oberhuberinn Maria Anna 580 f. 590.
Oberlin J. F. 363.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Ode 195/200 (Pindarbild der Reformation).
200 / (Horaz u. d. Ode der frz. Nenaif-
ſance). 203 /7 (Die dtſch. Renaiſſance⸗Ode
bei Weckherlin). 207 / 13 (Die Gelegenheits ·
Ode bei Opitz u. feiner Schule). 213/18
(Die geiſtl. Ode des Gryphius).
Orſtedt H. C. 354.
Oeſer A. F. 563.
Oſterreichiſche Schriftſteller 318.
Olivier Frdr. (Maler) 397.
Olshauſen Juſtus, und deſſen Gattinnen
Zoè u. Marie 350. 357.
Omeis M. D. 21288.
Opitz Martin: Die Gelegenheits⸗Ode bei O.
u. ſeiner Schule 207/13. Vgl. 214.
215. 216 f.
Oßwald, Abt von Oberzell 573.
Overbeck Eliſ., geb. Härtel (Gattin d.
folg.) 402 f.
— Frdr. (Maler) 376. 377. 380. 381. 382.
390 78. 391. 392. 402 f.
Ovid 63. 74. 199. 203. 622. Vgl. 588.
Palko vi & 588.
Palleske Emil 430 553. al 464.
Parker Th. 265.
Peladan 258. 263.
Penez Gg. (Maler) 374.
Penelope 556 8°,
Periodenbildung 181.
Perſönlichkeit, Die 511/16.
Perſonaliſtik 178.
Petrarca Franc. 199. 203. 356 f. (2 So
nette, nach P., von Schelling. Vgl. 640).
Pfaff Chph. Heinr. 376 ?°.
Pfuel Ernſt v. 246.
Pfeffel G. K. J10 f. (Die Nelke).
Philologie 176.
Philoſophie 37 ff. 480 ff. S. auch Pſycholo⸗
gie; Rouſſeau; Spinoza.
Pietismus (fein Einfluß) 561 f.
—, Strindbergs 261. 263 ff. 268. 269.
Pindar 195/218 (Das Fortleben P.s in der
dtſch. Liter. ... bis Gryphius). 345.
„Pindariser“, „Pindariſieren“ 202 ff. 200.
211. 213 7, 216 f.
Platen Aug. v. 90. 91. 92. 143. 144.
318. 355 f. (Vgl. 640: Zueignung an
Schelling).
Platner Ernſt 136.
Platon 18. 162. 163. 165. 171. 346.
Plattdeutſche Werke v. J. Brinckman 627/20.
Plotin 165.
Poe E. A. 145. 263. 272.
Namens und Sachverzeichnis
653
Poeſie, ſ. Dichteriſche, Das.
‚Poeta vagabundus', ſ. Hofer Caſp.
Poetik 625 f. (Kaſp. Stieler).
Ponc eau Peter S. du 319 f. (Rede, 1834
in Philadelphia geh.).
Pontanus Jak. 212.
Pope Alex. 524.
Portus Franc. 199.
Poſeidonios 71f.
Potsdam 546.
Predigt 478.
Problemgeſchichtliche Stellung, J. J. Rouſ⸗
ſeaus 9/21.
Profft 343.
Proſa, Amerikaniſche 320 f.
Prugger Joh. Joſ. 566 11.
Prutz Rob.: Deutſches Muſeum 423. 425.
4511. 454 226. 457 219,
Przybyszewsky Stan. (1868, f 1927)
473.
Pſychologie, Literaturwiſſenſchaft und neue
172/95. Vgl. 336 am E. 504 18.
—, Geiſteswiſſenſchaft und 457/519 (Beſchrei⸗
bende u. erklärende Pſychologie 497 ff.;
Sprangers geiſteswiſſenſch. Pſychologie
502 ff.; Das Wertproblem 507 ff.; Die
Perſönlichkeit. Verſtehen u. Erklären
511 ff.; Die Methode der Geiſteswiſſen⸗
ſchaften 516 ff.).
Publikum, Das literariſche, der 0er Jahre
des 18. Ihdts. in Deutſchland 540/64.
Pufendorf Sam. 22.
Pygmalion 525 f.
Pyra J. J. 529.
Quellen, Neue, zur Geiſtesgeſchichte des 18.
u. 19. Ihdts. 337/484.
Querhammer Caſp. 21491.
Raabe Wilh. (I) 629 (von ihm, nicht von
5 die Novelle ‚Gerold von Voll⸗
blut). ’
— Wilh. (II) 140/42 (R. und Dickens).
142 f. (R.s Erwachen zum Dichter).
Rachel Eliſa (Tragödin) 423.
Raff Joachim (Komponiſt) 431 (‚Simfon'.
Oper).
Ramboux (Maler) 392.
Ram dohr, Baron u. Baronin v. 389.
Ramler K. W. 340 (, Ino). 342. 347.
532. 546 f.
Ranke Leop. v. 33.
Rebell Joſ. (Maler) 390.
Rechtsgeſchichte u. Volkskunde 312.
Reden, Baron v., u. Familie 375. 379 58.
380. 384. 387. 389. 390. 391. 394.
397. 400. 401.
— Eliſe v. 393. 394.
Reformation 195/200 (D. Pindarbild d. R.).
Regnard 557.
Rehbeniz Thdr. 376. 379. 380. 390.
397.
Rehberg, Frau 361.
Reich (Verleger) 537.
Reichenauer Gloſſare 616 f.
Reinhard F. V. 367.
Reinhart Joh. Chn.
386 68. 388. 390.
Reinhold (niederländ. Geſandter) 381.
388
(Maler) 378.
— Heinr. (Maler) 388.
Reiſach, P., C. R. 565 f.
Reitzenſtein W. E. Frh. v. 340.
Religiöſe Kämpfe u. Wandlung Strindbergs
253/73.
Religion 342.
— Hebbels 301 f.
Rembrandt 92. 95.
Renaiſſance 200/03 (Horaz u. d. Ode d. frz.
R.). 203/07 (Die deutſche R.⸗Ode bei
Weckherlin).
Renan E. 265.
Reſewitz F. G. 343.
Rethel Alfr. (Maler) 464 208.
Reuß 381.
Reuter Fritz 627. 628.
Reventlow Fritz 370.
Rheden, ſ. Reden
Rhythmus 193. 344 f.
Ribbeck Otto 400.
Richter Joh. Paul F., ſ. Jean Paul.
Rickert Heinr. 508.
Riedel F. J. 130. 131. 132.
Riehl W. H. J04.
Riepenhauſen Frdr. Frz. und Chn. Joh.
(Maler) 382. 390. 391. 401.
Ring Mar 443.
Ringseis Joh. Nep. v. 381. 386 05.
Riſt Joh. 37. 626.
Ritter Joh. Wilh. 352 ff. (u. Windel-
mann; ‚Diarium'). 362.
Robert Leop. (Maler) 391.
Robert von Boron 620.
— von Reims, li Kievers 618.
„Robinſon Cruſoe 436 f. 563.
Rochau Aug. Ldw. v. 428.
Röder G. W. 304.
Röſel Sam. (Maler) 382.
654
Namen» und Sachverzeichnis
Rötſcher Heinr. Theod. 302 f. (Hebbel u.
R. Vgl. 640). 419 1. 422 ff. (Ibb. f.
dram. Kunſt u. L.).
Rohden Joh. Mart. (Maler) 377 f. 388.
402
Rolle Joh. Heinr. (Komponiſt) 346.
Rom 375,403 (Wolf Graf Baudiſſins Auf⸗
enthalt; 1821).
Roman, Erzählung, Novelle u. d. 76 / 84 (E.
T. A. Hoffmann). 92/95 (Ablehnung durch
Burckhardt u. a.). 133 ff. (Jean Paul).
139 f. (Droſte⸗H., „Judenbuche ). 146 f.
(Zur Technik der Frührenaiſſancenovelle in
Italien u. Frankreich). 241 ff. (Kleiſt).
300 (Hebbel). 318 f. 320 f. (amerikan.).
473 f. (Binde). 629. — S. auch Epos;
Erzählgedicht; Legenden; Verserzählung;
Keller G.
Romantik 19 f. 21. 28. 30. 31 ff. 34. 224 ff.
245 ff. (251 H. v. Kleiſt). 29 1 f. (Muſik).
296 f. (Hebbel).
Romanus Adr. 199 22.
Ronſard Pierre 201/3 (pindariſche Oden.
Vgl. 203 ff. 209 ff. 214 92).
Roquette Otto 406 (Fontane über R.).
407 (408 ‚Das Reich der Träume‘.
Lſtſp.).
Roſcher Wilh. 33.
Ro ß L. 435 118.
Roſſini G. 273. 275. 287. 205.
Rouſſeau Jean Jacques 9/21 (R.s pro⸗
blemgeſchichtl. Stellg.). 25. 43. 221.
224. 226. 249 f. 263. 269. 271. 462.
Rowe Elif. 522. 523 f. (Die Freundſchaft
nach dem Tode). 525. 527. 530.
„Rudolf, Graf 618.
Rudolf von Fulda 616.
Rückert Frdr. 144. 318.
„Rütli“ (Schriftſtellervereinigung) 406 f.
Rumohr Karl Frdr. v. 372. 374. 376.
377. 381. 383. 384. 390. 392.
Rydberg V. 265.
S. M. [Sophie Mereau?] 353 (Sonett an
S. M., von A. W.).
Sabellicus Cocecius 199 22.
Sabinus Gg. 199 28.
Sachetti Fr. 146.
Sack, Baron v. 402 58.
Saint⸗Simonismus 600 f. 606.
Salzburg 561.
Sand George 420.
Sartori Joſ. v. 5718. 573.
Sauer Aug. 1/8 (Nachruf, mit Bildnis).
Savigny F. v. 316.
Sealiger Jul. Cäſ, 199.
Schack A. F. v. 600.
Scha de 573.
Schadow Rud. (Bildhauer) 380. 384 68.
387.
— Wilh. (Maler) 376 22. 379. 382.
Schäfer Wilh. 470. 471. 4722 (478 25
Dehmel an Sch.). 472 *. 475. 476. 479.
— ,f. Scheffer.
Schede Paul Meliſſus 214. 215.
Scheffel J. Vikt. v. 145 2.
Scheffer (Schäfer) Joh. (Maler) 300.
391. 397.
Scheffner Joh. Gg. 340 (‚Poefien e. Sol-
daten‘).
Scheibe Joh. Adf. (Komponiſt) 339. 340f.
Schelhorn Joh. Gg. (} 1802) 7858.
Schelling F. W. Joſ. v. 30. 301. 350
(aus e. Briefe an G. Ph. Michaelis).
354 (u. A. Winckelmann). 355 f. (, Zu-
eignung an Sch.“, von Aug. v. Platen.
Vgl. 640). 356 f. (zwei Sonette, nach
Detrarca. Vgl. 640). 369.
— Karoline 350/62 (Neues aus dem Earo-
line⸗Kreis. Siehe: Schelling F. W. J.;
Böhmer A.; Winckelmann; Ritter; Schle⸗
gel A. W.; Tatter). 351 (Krankbeit.
1800). 356 f. (dazu 640). 357/61 pas-
sim (u. Tatter). 640.
Scherenberg Chn. Frdr. 427.
Scherer Wilh. 3 f. 33 f. 173.
Scheube Hugo (Buchhändler). 445 (448.
450 Hettner über ihn). 446. 448. 453.
Scheuchzer Joh. Jak. 57°.
Schiller Frdr. v. 30 f. 35/54 (Sch. u.
Herder). 58. 74. 90. 92. 93. 100. 107.
215. 224. 240. 249. 291. 297 (Hebbel).
336. 419 (Demetrius). 512 (,Wallen⸗
ftein‘). 614.
Schiller⸗Stiftung 408/11.
Schinz Hans Heinr. (u. Wieland) 520.
521. 522. 523. 530. 531.
Schirmer D. 620.
Schiſel, Doktor (ps.) = B. J. Schleis
5668.
Schlaf Ihns. 473.
Schlegel Aug. Wilh. 101. 106. 225.
351. 356 f. (dazu 640: „Blumenſträuße
[1804 ])). 357 f. 361.
— Frdr. 31 f. 33. 225. 245. 291. 351.
357 f. 360.
— Joh. Abf. 524. 531. 537.
Namens und Sachverzeichnis
Schlegel Joh. Elias 3393 (, Prokris u.
Cephalus ). 557.
— Joh. Heinr. 340.
— Karol. ſ. Schelling.
Schleiermacher Frdr. 29. 225. 245.
301.
Schleis Bernh. Sof. (ps. Schiſel)
566 8. 9. 10. 571 19. 573. 574 30. 81.
Schleſier Guſt. 336.
Schleswig ⸗Holſtein 370 ff.
Schmid Erasmus 210. 214.
— Siegfr. 336.
Schmidt Julian 454. 463.
— Osk. (Prof. d. Zoologie) 447.
— Eug. Heinr. 474.
Schmieder Edu. (Prediger) 379.
Schnorr v. Carolsfeld Julius (Maler)
371. 372. 380. 38 1. 383. 385. 386683. 388.
389 76. 390. 391. 392. 397. 399.
Schönaich Ch. O. v. 531.
Schönherr Karl 189.
Schopenhauer Artur 89 f. 93. 94. 90.
275. 475. 408 f. 608 f.
Schoppe Jul. (Maler) 387. 399. 401.
402
Schottel J. G. 625.
Schramm (Vorleſer) 408.
Schreiben eines deutſchen Juden an den
amerik. Präſid. O“ (1787) 319.
Schröpfer (Geiſterbeſchwörer) 575 36.
Schubart Chr. Fr. D. 543. 551. 555.
564/95 (Sch. im Exorziſtenſtreit; Gaß⸗
ner).
Schubert Fr. 291.
— G. H. v. 81. 362.
Schumann Rob. 292.
Schupp Joh. Balth. 106 10.
Schwab Guſt. 369. 404.
Schwediſche Literatur 253/73 (Strindberg).
Schweitzer Alb. 172.
Scott W. 95.
Sealsfield Ch. 318.
Seemann Aug. 627.
Seidel Chr. Heinr. 566 1.
Seinsheim Karl Graf 384.
Semler J. S. 565. 574f.
Semper Gtfr. (Architekt) 447.
Seneca: Vorlage für Goethe 62 ff. 65 ff.
69 ff. 7. f. 74 f.
Senff Adf. (Maler) 384. 388. 399.
Sercambi 146.
Serre J. F. A., Major 409% 1 (Schiller⸗
Lotterie).
Se ume J. G. 318.
655
Shakeſpeare 189. 232. 263. 277. 302.
303. 419 (, Othello“). 538. 554.
Siena 372/74 (Wolf Graf Baudiſſins Auf⸗
enthalt).
Simmel G. 176.
Simon Heinr. 429 (Züricher Bürgerrecht).
Sinfonie 288 ff.
Singſpiel 558 ff.
Slaviſch, ſ. Slowakiſch.
Slowakiſche Spaltung, Die 107/28.
Soect (Organiſt) 346.
Solger K. W. F. 30.
— Rho. 425.
Sonnenfels J. v. 546. 560.
Sophokles 419 (Philoktet; Antigone).
Spalding J. J. 532.
Spectator, The 522.
Spee Frdr. v. 57.
Spengler Osw. 145. 272.
Sphären, S.⸗Harmonie, S.⸗Muſik, S.⸗Lauf
55. 58/61.
Spinoza Ben. 38. 44. 46. 161/72 (Über
die Philoſophie Sp.s: Iſt Sp. ein Myſti⸗
ker? 161; Die „essentia“ des Spino⸗
zismus 164; Sp. s Identitätsphilo ſophie
168; Hauptmängel 169; Vorzüge 171).
Spiritismus 312.
Sprachäſthetik 188 ff. 191 ff.
Sprache, Deutſche u. romaniſche 79 f.; Dtſch.
Gemeinſprache 617.
— SGlaviſche, ſ. Slowakiſche Spaltung.
Sprachliches 50413. 627 ff. (niederd.).
Spranger Edu. 175 f. 177. 408. 502/7
(Sp. s geiſteswiſſenſchaftliche Pſychologie).
507 / 11 (Das Wertproblem).
Staat 11 ff.
Stackelberg Otto M. Baron v. 376 2.
379. 384 f. 390 78. 393. 401. 402.
Stagens Hanswurſt = Schubart 584.
586. 588.
Stahr Adf. 435. 452 f. (Hettner über ihn
u. fein ‚Torſo“). 458. 459. 462.
Stamitz Joh. 294.
Starckſche Geſellſchaft 558.
Stargard, Frau 351.
Starke K. Chr. 547.
Stattler Bened. 560 9. 11.
Steele Rich. 522 f. („Guardian u. a.).
Steffens Henrich 362.
Steigenberger Kaſp. (Gerhoh.) 566 11.
Stein H. F. K. Frh. v. u. zum 379. 381.
383. 384. 388. 390. 392. 393. 397.
398. 402. 545.
— Henriette v. 381.
656
Stein Thereſe v. 391.
Stern Adf.: Hettner⸗Biogr. 412. 413.
414. 415.
— William 178. 183.
Sterzinger, P. Don Ferd. 565. 5722.
573. 77427. 575. 576. 577. 580 am E.
581 Anm. 584 Anm. 585 Anm. 592.
—, Der nach Möglichkeit entſchuldigte Herr
P. (1775. Von Merz) 584 Anm.
Stiefel Jul. 470.
Stieler Kaſpar 625f.
Poetik St. s).
Stifter Adalbert 85. 86. 88. 89. 90. 99.
101. 105. 145 2. 318.
Stiliſtik 188 ff. 191 ff. 193 ff.
Stockmar Chr. Fr. Frh. v. 426.
Stolberg Chn. und Frdr. L. v. 385.
Storm Thdr. 403. 407. 408.
Strabo, ſ. Walahfried.
Strack Ldw. Phil. (Maler) 592.
Strich F. 184.
Strindberg Aug. 253/73 (St.s Weg
nach Damaskus). — Meiſter Olof 266 ff.
— Das rote Zimmer 268 f.
Struck A. K. 563.
Strukturpſychologie 175 f. 502f.
Studenten als Theaterpublikum 555 f.
Stumpf Carl 166. 4981. 501. 502.
Stür L. 116ff. 118 ff. 121ff. 124 ff. 126 f.
Sturm und Drang 130. 131. 282. 283 f.
317 f. 337.
Stuttgart 542 f.
Sulzer J. G. 532.
Suffer Auguſt Hzg. v. 358 ff.
Sutter Joſ. (Maler) 376. 391.
Swedenborg 203.
Sympathie, Die, ein Univerſalmittel wider
alle Teufeleien (1774. Von Zeiler) 584
Anm. 589. Vgl. 592.
Synäſtheſien bei E. T. A. Hoffmann 77 ff.
(Eine ungedr.
Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin über
ſeine italien. Reiſe (1821) 370/403.
Taſſo T. 53019.
Tatian, Der ahd. 616 f.
Tatler, The 522. 523. 524.
Tatter Georg, Legationsrat 357 f. (u. Ka⸗
roline). 358/61 (Briefe an Luiſe Mi⸗
chaelis, nachmals vereh. Wiedemann). 36 1f.
Technik, ſ. Roman.
Teerlink Abr. (Maler) 386.
Teleologie 505 f.
Teller W. A. 342.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Tendering Betty 413°.
Terenz 559.
Teufelaustreibungen, ſ. Gaßner.
Theater 543 ff. 549. 550 f. 554 ff. 557f.
(Goezes Streitſchrift u. a.). 561 f. —
Braunſchweig 541. — Frankfurt a. M.
551. — Hamburg 550 f. — Leipzig 557 f.
Mainz 542. — Mannheim 428.
München 544. 557. — Stuttgart 543.
544. — Weimar 547 f. — Wien 54.
551. 556 f.
Theodizeeproblem Herders 46 ff.
Theophiluslegende, Die, in den Dichtungen
des Mittelalters 624 f.
Thomas (‚Triftan’) 618.
Thomſon James 521. 520 ff. (Einfluß
auf Wieland). 530. 537.
Thorwaldſen B. (Bildhauer) 37413.
375. 376. 380. 381 f. 384. 386. 387.
389. 390. 392. 393. 394. 399. 400.
Thümmel A. W. v. (563 Wilhelmine).
Tieck Ldw. 32. 316. 352 f. (Winckelmann,
An T. [ Sonett]). 354. 356 (400 Zer⸗
bino‘).
Timanthes (Maler) 5301,
Tiſchbein Joh. Frdr. Aug. (Maler) 351.
352. 39288.
Tocqueville Ch. de 463.
Tolſtoi Leo 145. 259. 263.
To maſchek Karl 3.
Totalität (Begriff, bei Möſer) 24.
Tragiſche, Das 302 f.
Tref(f)lerin Anna 580 f.
Triſtanſtoff u. Dichtungen 618 f. 620 f.
Trochmann Sofie, |. Gerſtenberg.
Troubadours 621 f.
Tſcharner P. C. v. 304.
Tſchechiſch, ſ. Slowakiſche Spaltung.
Tſcherning A. 214%.
über Gaßners Aufenthalt u. Weſen in Sulz⸗
bach (von Ch. H. Seidel) 56610.
Übermenfch (bei Strindberg u. Nietzſche) 271.
Uberſetzungen 196 ff. u. 5. (Pindar). 640.
Uhden (Komponiſt) 346.
Uhland L. 296 f. 300. 369 f. (, Ludwig der
Bayer).
„Unerſetzlichkeit“ der großen Künſtler uſw.
(Burckhardt) 103 ff.
Univerſitäten 550 ff.
Unterhaltungen am häuslichen Heerd 455.
Uthmann 483.
U; J. P. 530. 532. 543. 563.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Varnhagen K. A. 421. 442.
Vehe Mich. 214°.
Veit Phil. (Maler) 379 f. 382. 384. 386.
402.
Veldeke Heinr. v. 618.
Vera Charlotte, geb. Häſer 389. 396.
Verlaine P. 482.
Vernunft 16 ff.
Verserzählung, Die, des 18. Ihdts. 519/40.
Verſöhnung, Problem der, im Drama, bei
Hebbel 302 f.
Verſtappen Martin (Maler) 392.
Verſtehen und Erklären 513/16.
Verzeichnis der merkwürdigſten Operationen,
welche im J. 1775 zu Sulzbach ... ge
ſchehen find (1779. Von Schleis?) 571°.
Vico Giov. Batt. 30.
Viperanus Joh. Ant. 212.
Vieweg Ed. (Verleger) 445. 446. 447 f.
450. 451. 453. 454. 456. 458. 459.
464. 466 f. (Krit. Jahrbb. d. Wiſſ. u.
Kunſt, gepl.).
Villars, Abbe de 530 10.
Virgil 199. 530°,
Viſcher Frdr. Thdr. 91 f. 94. 95. 97. 99.
145 2. 416. 418 3°. 456. 457. 458. 459.
461. 463. 465. 466. 467. 468.
Vogel Henriette 244.
Vogt Karl 460.
„Volkskunde“ (zur Geſch. des Wortes) 304 f.
Volkskunde 304/13 (Schriften zur dtſch. V.,
von: Reuſchel; Naumann; Fraenger).
‚Volonte generale’ u. ‚volonte de tous
13 ff. 17 f. 19.
Voltaire 75. 541. 547. 585.
Volz Joh. Chn. 521. 522. 531. 532%,
5340.
Vooghd (Maler) 386.
Voß J. H. 563.
Voſſius Iſak ( 1689) 345.
Wacken roder Wilh. Heinr. 77.
Wackernagel Wilh. 176. 186. 188. 192.
Wagner Joh. Mart. (Maler u. Bildhauer)
385
— Rich. 144. 288. 295. 432.
Walahfried Strabo 616 f. (Gloſſie⸗
rung).
Walch Ch. 565.
Walther v. d. Vogelweide 313. 623f.
Walzel Oskar 179. 182. 184. 193.
Suphorion XXVII.
Was ſoll man an den Kuren des
657
Gaßner
.. noch unterſuchen ...? (von B. Statt⸗
ler) 7665.
Weber Karl Maria v. 275 f. (Grillparzer).
277. 281. 289. 291.
Weckherlin Gg. Rud. 203/ (D. dtſch.
Renaiſſance⸗Ode bei W. Vgl. 208 f. 211.
214%).
Weihnachtsſpiele 307.
Weimar 542. 546. 547 ff.
Weiſe Ch. 626.
Weiße Chn. Fr. 541. 544 f. 559 f. 561 f.
Weltgeſchichte 31.
Werner F. Zach. 364. 367.
— Rich. Maria 3. 1731.
Wertproblem, Das 507/11.
Weſtenrieder Lor. v. 575 f.
Weſtmoreland, Lady 393.
Wicar J. Bapt. (Maler) 400.
Widmann Chn. Adolf F. 428 (Hettner
über ihn). 433. 434 f.
Wiedemann, Prof. Dr., dän. Juſtizrat
350.
— Luiſe, geb. Michaelis (Schweſter Karo⸗
lines) 350. 351 f. (Brief an fie, v. Auguſte
Böhmer). 357. 358/61 (Briefe von Tat-
ter). 362.
Wieland Chph. Mart. 348/50 (Briefe an
Einſiedel). 431. 519%è 40 (Verserzahlun⸗
gen). 521 f. (an Bodmer). 542. 548.
554. 562.
— Karl F. (Sohn des Dichters) 348 f.
Wien 544. 561.
Wilbrandt Adf. 406.
Willkomm Ernſt 318.
Winckelmann Aug. 351. 352/54. — An
Tieck. (Sonett) 3525. — Slopbiel
Mfereau?]. Son., unterz.: A. W., von
ihm? 353.
— J. J. 21 ff. 27. 92. 100. 399.
Windelband W. 480.
Witzleben Auguſte v. nachm. vereh. Gräfin
Baudiſſin 371 f. 373/402 pass.
Wölfflin H. 183f.
Wolf (Verleger) 588 (, W.ens Lipperl)).
589. 590. 592.
— Chn. v. 576.
— Frdr. Aug. 50. 186 f.
— Salom. 57.
Wolfram v. Eſchenbach 313. 61 ff.
Wolfſohn Wilh. 464.
Wolke Chn. Hinr. 627. 5
658 Namens und Sachverzeichnis
— !ñ—
Woltmann Ldw. 470. 474. 475. 476. Zeitung, Deutſche Allg. 431 * (Beitr. Kel-
479. 482. 483. lers?). 432.
Worte, Ein paar, an den Herrn F. M. Baader | — Kölniſche 458.
(1783) 572 2°, Zeiler Gg. 573. 574. 584. 75868. 588 f.
Wunder 597. 589. (592). 59382. — S. Hannswurſt
Wuttke Heinr. 410. u. Schubart.
Zeſen Ph. v. 214.
Yordv. Wartenburg Paul Graf 499. | Zilling, Spezial in Ludwigsburg 778 9.
Ziska Frz. 304.
Zachariae Frdr. Wilh. 337. 344. Zſchokke Andr. 563.
Zapf Gg. Wilh. 573 f. 578 w. 1. 584. | — Heinr. 318. 562f.
591f. Zwingli Ulr. 196 f. (empfiehlt Pindar).
‚ FUPHORION
GZeitſchrift fuͤr Literaturgeſchichte
Begründet von Auguſt Sauer
Herausgegeben
von
Joſef Nadler, Auguſt Sauer f, Georg Stefansky
Achtundzwanzigſter Band
Viertes Heft
Stuttgart 1927
J. B. Metzlerſche Verlags buchhandlung
652 Namen⸗ und Sachverzeichnis
Münch hauſen Börries Frh. v. 627.
Münchner Dichterbuch 466.
— Dichterkreis 461 f.
Münſter Ernſt Frdr. Herb. Graf v. 358 ff.
361 f.
Munck er Fr. 335 f. (Nachruf).
Mundartliche Dichtung 143 f. 627 (Nd. Bal⸗
ladenbuch). 627/29 (Brinckmans plattd.
Werke).
Murray Auguſte, Lady 358.
Muſeum, Deutſches, hrsg. v. Prutz 423. 425.
443.
Muſik 76 ff. 89. 190. 273/95 (Grillparzers
Einftellg. zur M.; Mozart; Beethoven).
322 f. (Zur M. ⸗Geſchichte). 339 (340 f.
(über J. A. Scheibe; Krauſe). 344 f.
346. 347. 349 (blinde Virtuoſin auf der
[Glas-] Harmonika). 350.
Myſtiker 161/64 (Iſt Spinoza ein M.?).
Nachrufe 1/8 (Sauer). 335 f. (Muncker).
Näke Guſt. Heinr. (Maler) 380.
„National⸗Literatur“ 312f.
Natur, Rückkehr zur 10 ff. 15. 16.
Naturerkenntnis u. N.⸗Beherrſchung 597.
Naturwiſſenſchaften 172 f.
Nauclerus Ihns. 199 22
Neander Joach. 57.
— Mich. 197f. (‚Aristologia Pindarica“).
Nemeſis 39 ff. 50.
Neumark G. 625.
Nibelungen, N.⸗Lied 187. 188. 300.
Nicolai Frdr. 22. 27. 130. 337/48
(Briefe an Gerſtenberg). 344 (, Rhapſodie
vom Trauerſpiele). 537. 549. 5514.
552. 554. 573. 574 27.
Nicolini 541.
Niebuhr B. G. 29. 376 21. 377. 383.
304.
Niederdeutſches Balladenbuch 627.
Niemeyer A. H. 553.
Nietzſche Frdr. 47. 79 f. 86. 100. 145.
260. 262. 263. 271 f. (Strindberg). 476.
— „Nietzſchelei“ 476.
Nouvelles Nouvelles, Cent 146. 147.
Novalis (Hardenberg) 28. 32. 33.
81. 225. 245 f. 297. 353. 356. 362.
600.
Novelle, ſ. Roman.
Noverre ſche Balette 760.
Numerus 193 f.
Oberhuberinn Maria Anna 580 f. 590.
Oberlin J. F. 363.
Ode 195/200 (Pindarbild der Reformation).
200 / (Horaz u. d. Ode der frz. Reuaiſ⸗
ſance). 203 / (Die dtſch. Renaiſſance⸗Ode
bei Weckherlin). 207 / 13 (Die Gelegenheits⸗
Ode bei Opitz u. feiner Schule). 213/18
(Die geiſtl. Ode des Gryphius).
Orſtedt H. C. 354.
Oeſer A. F. 563.
Oſterreichiſche Schriftſteller 318.
Olivier Frdr. (Maler) 397.
Olshauſen Juſtus, und deſſen Gattinnen
Zoè u. Marie 350. 357.
Omeis M. D. 212858.
Opitz Martin: Die Gelegenheits⸗Ode bei O.
u. ſeiner Schule 207/13. Vgl. 214 50.
215. 216 f.
Oßwald, Abt von Oberzell 573.
Overbeck Eliſ., geb. Härtel (Gattin d.
folg.) 402 f.
— Frdr. (Maler) 376. 377. 380. 381. 382.
390 78. 391. 392. 402 f.
Ovid 63. 74. 199. 203. 622. Vgl. 588.
palko vis 888.
Palleske Emil 430°. 431. 464.
Parker Th. 265.
Peladan 258. 263.
Pencz Gg. (Maler) 374.
Penelope 556 80.
Periodenbildung 181.
Perſönlichkeit, Die 511/16.
Perſonaliſtik 178.
Petrarca Franc. 199. 203. 356 f. (2 So⸗
nette, nach P., von Schelling. Vgl. 640).
Pfaff Chph. Heinr. 376 28.
Pfuel Ernſt v. 246.
Pfeffel G. K. J10 f. (Die Nelke).
Philologie 176.
Philoſophie 37 ff. 480 ff. S. auch Pſycholo⸗
gie; Rouſſeau; Spinoza.
Pietismus (fein Einfluß) 561 f.
—, Strindbergs 261. 263 ff. 268. 269.
Pin dar 195/218 (Das Fortleben P.s in der
diſch. Liter. ... bis Gryphius). 345.
„Pindariser“, „Pindariſieren“ 202 ff. 206.
211. 2137. 216 f.
Platen Aug. v. 90. 91. 92. 143. 144.
318. 355 f. (Vgl. 640: Zueignung an
Schelling).
Platner Ernſt 136.
Platon 18. 162. 163. 165. 171. 346.
Plattdeutſche Werke v. J. Brinckman 627/29.
Plotin 165.
Poe E. A. 145 2. 263. 272.
Namen: und Sachverzeichnis
653
poeſie, ſ. Dichteriſche, Das.
Poeta vagabundus', ſ. Hofer Caſp.
Deetil 625 f. (Kaſp. Stieler).
donce au Peter S. du 319 f. (Rede, 1834
in Philadelphia geh.).
pontanus Jak. 212.
Pope Alex. 524.
portus Franc. 199.
poſeidonios 71f.
potsdam 546.
predigt 478.
Probleigeſchichtliche Stellung, J. J. Rouſ⸗
ſeaus 9/21.
prof ft 343.
Proſa, Amerikaniſche 320 f.
prugger Joh. Joſ. 566 11.
prutz Rob.: Deutſches Muſeum 423. 425.
451199, 454 226, 457 20.
priezybyszewsky Stan. (* 1868, f 1927)
473.
Pſychologie, Literaturwiſſenſchaft und neue
172/95. Vgl. 336 am E. 504°,
—,Geiſteswiſſenſchaft und 457/519 (Beſchrei⸗
bende u. erklärende Pſychologie 497 ff.;
Sprangers geiſteswiſſenſch. Pſpychologie
502 ff.; Das Wertproblem 507 ff.; Die
Perſönlichkeit. Verſtehen u. Erklären
511ff.; Die Methode der Geiſteswiſſen⸗
ſchaften 516 ff.).
Publikum, Das literariſche, der 60er Jahre
des 18. Ihdts. in Deutſchland 540/64.
pufendorf Sam. 22.
Pygmalion 525 f.
pyra J. J. 529.
Quellen, Neue, zur Geiſtesgeſchichte des 18.
u. 19. Ihdts. 337/484.
Querhammer Caſp. 214 51.
Raabe Wilh. (I) 629 (von ihm, nicht von
5 die Novelle „Gerold von Voll⸗
blut). a
— Wilh. (II) 140/42 (R. und Dickens).
142 f. (R.s Erwachen zum Dichter).
Rachel Eliſa (Tragödin) 423.
Raff Joachim (Komponiſt) 431 (‚Simfon‘.
Oper).
Ramboux (Maler) 392.
Ram dohr, Baron u. Baronin v. 389.
Ramler K. W. 340 (, Ino“). 342. 347.
532. 546 f.
Ranke Leop. v. 33.
Rebell Joſ. (Maler) 390.
Rechtsgeſchichte u. Volkskunde 312.
Reden, Baron v., u. Familie 375. 379 85,
380. 384. 387. 389. 390. 391. 394.
397. 400. 401.
— Eliſe v. 393. 394.
Reformation 195/200 (D. Pindarbild d. R.).
Regnard 557.
Rehbeniz Thdr. 376. 379. 380. 390.
397.
Rehberg, Frau 361.
Reich (Verleger) 537.
Reichenauer Gloſſare 616 f.
Reinhard F. V. 367.
Reinhart Joh. Chn.
386 65, 388. 390.
Reinhold (niederländ. Geſandter) 381.
388.
— Heinr. (Maler) 388.
Reiſach, P., C. R. 565 f.
Reitzenſtein W. E. Frh. v. 340.
Religiöſe Kämpfe u. Wandlung Strindbergs
253/73.
Religion 342.
— Hebbels 301 f.
Nembrandt 9. 95.
Renaiſſance 200/03 (Horaz u. d. Ode d. frz.
R.). 203/07 (Die deutſche R.⸗Ode bei
Weckherlin).
Renan E. 265.
Reſewitz F. G. 343.
Rethel Alfr. (Maler) 4642.
Reuß 381.
Reuter Fritz 627. 628.
Reventlow Fritz 370.
Rheden, ſ. Reden
Rhythmus 193. 344 f.
Ribbeck Otto 406.
Richter Joh. Paul F., ſ. Jean Paul.
Rickert Heinr. 508.
Riedel F. J. 130. 131. 132.
Riehl W. H. 304.
Riepenhauſen Frdr. Frz. und Chn. Joh.
(Maler) 382. 390. 391. 401.
Ring Mar 443.
Ringseis Joh. Nep. v. 381. 386°.
Riſt Joh. 37. 626.
Ritter Joh. Wilh. 352 ff. (u. Winckel⸗
mann; ‚Diarium'). 302.
Robert Leop. (Maler) 591.
Robert von Boron 620.
— von Reims, li Kievers 618.
„Robinſon Cruſoe 436 f. 563.
Rochau Aug. Ldw. v. 428.
Röder G. W. 304.
Röſel Sam. (Maler) 382.
(Maler) 378.
654
Rötſcher Heinr. Theod. 302 f. (Hebbel u.
R. Vgl. 640). 419 1. 422 ff. (Ibb. f.
dram. Kunſt u. L.).
a Joh. Mart. (Maler) 377 f. 388.
a Joh. Heinr. (Komponiſt) 346.
Rom 375,403 (Wolf Graf Baudiſſins Auf⸗
enthalt; 1821).
Roman, Erzählung, Novelle u. ä. 76 / 84 (E.
T. A. Hoffmann). 92/95 (Ablehnung durch
Burckhardt u. a.). 133 ff. (Jean Paul).
139 f. (Droſte⸗H., „Judenbuche). 146 f.
(Zur Technik der Frührenaiſſancenovelle in
Italien u. Frankreich). 241 ff. (Kleiſt).
300 (Hebbel). 318 f. 320 f. (amerikan.).
473 f. (Binde). 629. — S. auch Epos;
Erzählgedicht; Legenden; Verserzählung;
Keller G.
Romantik 19 f. 21. 28. 30. 31 ff. 34. 224 ff.
245 ff. (271 H. v. Kleiſt). 291 f. (Muſik).
296 f. (Hebbel).
Romanus Adr. 199 22.
Ronſard Pierre 201/3 (pindariſche Oden.
Vgl. 203 ff. 209 ff. 214 v2).
Roquette Otto 406 (Fontane über R.).
407 (408 ‚Das Reich der Träume‘.
Lſtſp. ).
Roſcher Wilh. 33.
Ro ß L. 435 118.
Roſſini G. 273. 275. 287. 295.
Rouſſeau Jean Jacques 9/21 (R.s pro-
blemgeſchichtl. Stellg.). 25. 43. 221.
224. 226. 249 f. 263. 269. 271. 462.
Rowe Eliſ. 522. 523 f. (Die Freundſchaft
nach dem Tode). 525. 527. 530.
„Rudolf, Graf’ 618.
Rudolf von Fulda 61s.
Rückert Frdr. 144. 318.
„Rütli“ (Schriftſtellervereinigung) 406 f.
Rumohr Karl Frdr. v. 372. 374. 376.
377. 381. 383. 384. 390. 392.
Rydberg V. 265.
S. M. [Sophie Mereau?] 353 (Sonett an
S. M., von A. W
Sabellicus Coccius 199 22.
Sabinus Gg. 19928.
Sacchetti Fr. 146.
Sack, Baron v. 402 58.
Saint⸗Simonismus 600 f. 606.
Salzburg 561.
Sand George 420.
Sartori Joſ. v. 5716. 573.
Sauer Aug. 1/8 (Nachruf, mit Bildnis).
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Savigny F. v. 316.
Scaliger Jul. Cäſ, 199.
Schack A. F. v. 600.
Scha de 573.
Schadow Rud. (Bildhauer) 380. 384 58.
387.
— Wilh. (Maler) 376 22. 379. 382.
Schäfer Wilh. 470. 471. 4722 (478 25
Dehmel an Sch.). 472 *. 475. 476. 479.
—,ſ. Scheffer.
Schede Paul Meliſſus 214. 215.
Scheffel J. Vikt. v. 145 2.
Scheffer (Schäfer) Joh. (Maler) 390.
391. 397.
Scheffner Joh. Gg. 340 (, Poeſien e. Sol⸗
daten ).
Scheibe Joh. Adf. (Komponiſt) 339. 340f.
Schelhorn Joh. Gg. (F 1802) 585 58.
Schelling F. W. Joſ. v. 30. 301. 350
(aus e. Briefe an G. Ph. Michaelis).
354 (u. A. Winckelmann). 355 f. (,Zu⸗
eignung an Sch.“, von Aug. v. Platen.
Vgl. 640). 356 f. (zwei Sonette, nach
Petrarca. Vgl. 640). 369.
— Karoline 350/62 (Neues aus dem Caro⸗
line⸗Kreis. Siehe: Schelling F. W. J.;
Böhmer A.; Winckelmann; Ritter; Schle⸗
gel A. W.; Tatter). 351 (Krankheit.
1800). 356 f. (dazu 640). 357/61 pas-
sim (u. Tatter). 640.
Scherenberg Chn. Frdr. 427.
Scherer Wilh. 3f. 33 f. 173.
Scheube Hugo (Buchhändler). 445 (448.
450 Hettner über ihn). 446. 448. 453.
Scheuchzer Joh. Jak. 57°.
Schiller Frdr. v. 30 f. 35/54 (Sch. u.
Herder). 58. 74. 90. 92. 93. 100. 107.
215. 224. 240. 249. 291. 297 (Hebbel).
336. 419 (, Demetrius). 512 (, Wallen⸗
ftein’). 614.
Shiller-Stiftung 408/11.
Schinz Hans Heinr. (u. Wieland) 520.
521. 522. 523. 530. 531.
Schirmer D. 626.
Schiſel, Doktor (ps.) = B. J. Schleis
566 8.
Schlaf Ihns. 473.
Schlegel Aug. Wilh. 101. 106. 225.
351. 356 f. (dazu 640: ‚Blumenfträuße'
1804 )). 357 f. 361.
— Frdr. 31 f. 33. 225. 245. 291. 354.
357 f. 360.
— Joh. Adf. 524. 531. 537.
Namens und Sachverzeichnis
Schlegel Joh. Elias 339° (, Prokris u.
Cephalus'). 557.
— Joh. Heinr. 340.
— Karol. ſ. Schelling.
Schleiermacher Frdr. 29. 225. 245.
301.
Schleis Bernh. Joſ. (ps. Schiſel)
566 8. 9. 10. 571 19. 573. 574 30. 31,
Schleſier Guſt. 336.
Schleswig⸗Holſtein 370 ff.
Schmid Erasmus 210. 214.
— Siegfr. 336.
Schmidt Julian 454. 463.
— Osk. (Prof. d. Zoologie) 447.
— Eug. Heinr. 474.
Schmieder Edu. (Prediger) 379.
Schnorr v. Carolsfeld Julius (Maler)
371. 372. 380. 38 1. 383. 385. 3868. 388.
389 76. 390. 391. 392. 397. 399.
Schönaich Ch. O. v. 531.
Schönherr Karl 180.
Schopenhauer Artur 80 f. 93. 94. 96.
275. 475. 408 f. 608 f.
Schoppe Jul. (Maler) 387. 399. 401.
402
Schottel J. G. 625.
Schramm (Vorleſer) 408.
Schreiben eines deutſchen Juden an den
amerik. Präſid. O“ (1787) 319.
Schröpfer (Geiſterbeſchwörer) 575 3°,
Schubart Chr. Fr. D. 543. 551. 555.
564/95 (Sch. im Exorziſtenſtreit; Gafı-
ner).
Schubert Frz. 291.
— G. H. v. 81. 362.
Schumann Rob. 292.
Schupp Joh. Balth. 106 10.
Schwab Guſt. 369. 404.
Schwediſche Literatur 253/73 (Strindberg).
Schweitzer Alb. 172.
Scott W. 9.
Sealsfield Ch. 318.
Seemann Aug. 627.
Seidel Chr. Heinr. 766 10.
Seinsheim Karl Graf 384.
Semler J. S. 565. 574f.
Semper Gtfr. (Architekt) 447.
Seneca: Vorlage für Goethe 62 ff. 65 ff.
69 ff. 71 f. 74.
Senff Adf. (Maler) 384. 388. 399.
Sercambi 146.
Serre J. F. A., Major 400/11 (Schiller⸗
Lotterie).
Seume J. G. 318.
655
Shakeſpeare 189. 232. 263. 277. 302.
303. 419 (‚Othello‘). 538. 554.
Siena 372/74 (Wolf Graf Baubiffins Auf⸗
enthalt).
Simmel G. 176.
Simon Heinr. 429 (Züricher Bürgerrecht).
Sinfonie 288 ff.
Singfpiel 558 ff.
Slaviſch, ſ. Slowakiſch.
Slowakiſche Spaltung, Die 107/28.
So et (Organiſt) 346.
Solger K. W. F. 302.
— Rho. 425.
Sonnenfels J. v. 546. 560.
Sophokles 419 (Philoktet; Antigone).
Spalding J. J. 532.
Spectator, The 522.
Spee Frdr. v. 57.
Spengler Osw. 145. 272.
Sphären, S.⸗Harmonie, S.⸗Muſik, S.⸗Lauf
55. 58/61.
Spinoza Ben. 38. 44. 46. 161/72 (Über
die Philoſophie Sp.s: Iſt Sp. ein Myſti⸗
ker? 161; Die „essentia“ des Spino-
zismus 164; Sp. s Identitäãtsphiloſophie
168; Hauptmängel 169; Vorzüge 171).
Spiritismus 312.
Sprachäſthetik 188 ff. 191 ff.
Sprache, Deutſche u. romaniſche 79 f.; Dtſch.
Gemeinſprache 617.
— Sllaviſche, ſ. Slowakiſche Spaltung.
Sprachliches 5041. 627 ff. (niederd.).
Spranger Edu. 175 f. 177. 498. 502/7
(Sp. s geiſteswiſſenſchaftliche Pſychologie).
507/11 (Das Wertproblem).
Staat 11 ff.
Stackelberg Otto M. Baron v. 376 2.
379. 384 f. 390 78. 393, 401. 402.
Stagens Hanswurſt = Schubart 584.
586. 788.
Stahr Adf. 435. 452 f. (Hettner über ibn
u. fein „Torſo'). 458. 459. 462.
Stamitz Job. 294.
Starckſche Geſellſchaft 558.
Stargard, Frau 351.
Starke K. Chr. 547.
Stattler Bened. 566 9. 11.
Steele Rich. 522 f. (,„Guardian' u. a.).
Steffens Henrich J02.
Steigenberger Kaſp. (Gerhoh.) 566 11.
Stein H. F. K. Frh. v. u. zum 379. 381.
383. 384. 388. 390. 392. 393. 397.
398. 402. 545.
— Henriette v. 381.
656
Stein Thereſe v. 391.
Stern Adf.: Hettner⸗Biogr. 412. 413.
414. 415.
— William 178. 183.
Sterzinger, P. Don Ferd. 565. 572 20.
573. 574 27. 575. 576. 577. 580 am E.
581 Anm. 584 Anm. 585 Anm. 592.
—, Der nach Möglichkeit entſchuldigte Herr
P. . (1775. Von Merz) 584 Anm.
Stiefel Jul. 470.
Stieler Kaſpar 625 f. (Eine ungedr.
Poetik St. s).
Stifter Adalbert 85. 86. 88. 89. 90. 99.
101. 105. 145 2. 318.
Stiliſtik 188 ff. 191 ff. 193 ff.
Stockmar Chr. Fr. Frh. v. 426.
Stolberg Chn. und Frdr. L. v. 385.
Storm Thdr. 403. 407. 408.
Stra bo, ſ. Walahfried.
Strack Ldw. Phil. (Maler) 392.
Strich F. 184.
Strindberg Aug. 253/73 (St.s Weg
nach Damaskus). — Meiſter Olof 266 ff.
— Das rote Zimmer 268 f.
Struck A. K. 563.
Strukturpſychologie 175 f. 502f.
Studenten als Theaterpublikum 555 f.
Stumpf Carl 166. 408 1. 501. 502.
Stür L. 110 ff. 118 ff. 121 ff. 124 ff. 126 f.
Sturm und Drang 130. 131. 282. 283 f.
317 f. 337.
Stuttgart 542 f.
Sulzer J. G. 532.
Suſſex Auguſt Hzg. v. 358 ff.
Sutter Joſ. (Maler) 376. 391.
Swedenborg 263.
Sympathie, Die, ein Univerſalmittel wider
alle Teufeleien (1774. Von Zeiler) 584
Anm. 589. Vgl. 592.
Spynäſtheſien bei E. T. A. Hoffmann 77 ff.
Tagebuch des Grafen Wolf Baudiſſin über
feine italien. Reiſe (1821) 370/403.
Taſſo T. 53010.
Tatian, Der ahd. 616 f.
Tatler, The 522. 523. 524.
Tatter Georg, Legationsrat 357 f. (u. Ka⸗
roline). 358/61 (Briefe an Luiſe Mi⸗
chaelis, nachmals vereh. Wiedemann). 36 f.
Technik, ſ. Roman.
Teerlink Abr. (Maler) 386.
Teleologie 505 f.
Teller W. A. 342.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Tendering Betty 4136.
Terenz 559.
Teufelaustreibungen, ſ. Gaßner.
Theater 543 ff. 549. 550 f. 554 ff. 557 f.
(Goezes Streitſchrift u. a.). 561 f. —
Braunſchweig 541. — Frankfurt a. M.
551. — Hamburg 550 f. — Leipzig 557 f.
Mainz 542. — Mannheim 425. —
München 544. 557. — Stuttgart 543.
544. — Weimar 547 f. — Wien 544.
551. 756 f.
Theodizeeproblem Herders 46 ff.
Theophiluslegende, Die, in den Dichtungen
des Mittelalters 624 f.
Thomas (,Triſtan) 618.
Thomſon James 521. 5726 ff. (Einfluß
auf Wieland). 530. 537.
Thorwaldſen B. (Bildhauer) 37413.
375. 376. 380. 381 f. 384. 386. 387.
389. 390. 392. 393. 394. 399. 400.
Thümmel A. W. v. (563 „Wilhelmine ).
Tieck Ldw. 32. 316. 352 f. (Winckelmann,
An T. [Sonett)). 354. 356 (400 Zer-
bino‘).
Timanthes (Maler) 53010.
Tiſchbein Joh. Frdr. Aug. (Maler) 351.
352. 39285,
Tocqueville Ch. de 463.
Tolſtoi Leo 145. 259. 263.
To maſchek Karl 3.
Totalität (Begriff, bei Möſer) 24.
Tragiſche, Das 302 f.
Tref(f)lerin Anna 580f.
Triſtanſtoff u. Dichtungen 618 f. 620 f.
Trochmann Sofie, ſ. Gerſtenberg.
Troubadours 621 f.
Tſcharner P. C. v. 304.
Tſchechiſch, ſ. Slowakiſche Spaltung.
Tſcherning A. 2142.
Über Gaßners Aufenthalt u. Weſen in Sulz⸗
bach (von Ch. H. Seidel) 56610.
Ubermenſch (bei Strindberg u. Nietzſche) 271.
Uberſetzungen 196 ff. u. 5. (Pindar). 640.
Uhden (Komponiſt) 346.
Uhland L. 296 f. 300. 369 f. (‚Ludwig der
Bayer).
„Unerſetzlichkeit“ der großen Künſtler uſw.
(Burckhardt) 103 ff.
Univerſitäten 550 ff.
Unterhaltungen am häuslichen Heerd 455.
Uthmann 483.
Uz J. P. 530. 532. 543. 563.
Namen⸗ und Sachverzeichnis
Barnhagen K. A. 421. 442.
Vehe Mich. 214°.
Veit Phil. (Maler) 379 f. 382. 384. 386.
402
Veldeke Heinr. v. 618.
Vera Charlotte, geb. Häſer 389. 396.
Verlaine P. 482.
Vernunft 16 ff.
Verserzählung, Die, des 18. Ihdts. 519/40.
Verſöhnung, Problem der, im Drama, bei
Hebbel 302 f.
Verſtappen Martin (Maler) 392.
Verſtehen und Erklären 513/16.
Verzeichnis der merkwürdigſten Operationen,
welche im J. 1775 zu Sulzbach ... ge
ſchehen find (1779. Von Schleis?) 57711.
Vico Biov. Batt. 30.
Viperanus Joh. Ant. 212.
Vieweg Ed. (Verleger) 445. 446. 447 f.
450. 451. 453. 454. 456. 458. 459.
464. 466 f. (Krit. Jahrbb. d. Wiſſ. u.
Kunſt, gepl.).
Villars, Abbe de 530 19.
Virgil 199. 53010.
Viſcher Frdr. Thdr. 91 f. 94. 95. 97. 99.
145 2. 416. 418 . 456. 457. 458. 459.
461. 463. 465. 466. 467. 468.
Vogel Henriette 244.
Vogt Karl 460.
„Volkskunde“ (zur Geſch. des Wortes) 304 f.
Volkskunde 304/13 (Schriften zur dtſch. V.,
von: Reuſchel; Naumann; Fraenger).
‚Volonte generale’ u., volonté de tous
13 ff. 17 f. 1f.
Voltaire 75. 541. 747. 585.
Volz Joh. Chn. 521. 522. 531. 532°.
5343,
Vooghd (Maler) 386.
Vo ß J. H. 563.
Voſſius Iſak (F 1689) 345.
Wacken roder Wilh. Heinr. 77.
Wackernagel Wilh. 176. 186. 188. 192.
Wagner Joh. Mart. (Maler u. Bildhauer)
385.
— Rich. 144. 288. 295. 432.
Walahfried Strabo 616 f. (Gloſſie⸗
rung).
Walch Ch. 565.
Walther v. d. Vogelweide 313. 623.
Walzel Oskar 179. 182. 184. 193.
@upborion XXV ill
a es . ᷑ ᷑— —.—.———— —ẽ nn ee — — — — —— Te ee ͥͤ — —
657
— — —
Was ſoll man an den Kuren bes ... Saßner
. . noch unterſuchen ... (von B. Statt ;
ler) 566 °.
Weber Karl Maria v. 275 f. (Grillparzer).
277. 281. 289. 291.
Weckherlin Sg. Rud. 203/ (D. dtſch.
Renaiſſance⸗Ode bei W. Vgl. 208 f. 211.
214 99),
Weihnachtsſpiele 307.
Weimar 542. 546. 547 ff.
Weiſe Ch. 626.
Weiße Chn. Fr. 541. 544 f. 550 f. 561 f.
Weltgeſchichte 31.
Werner F. Zach. 364. 367.
— Rich. Maria 3. 1731.
Wertproblem, Das 507/11.
Weſtenrieder Lor. v. 575f.
Weſtmoreland, Lady 393.
Wiecar J. Bapt. (Maler) 400.
Widmann Chn. Adolf F. 428 (Hettner
über ihn). 433. 434 f.
Wiedemann, Prof. Dr., dän. Juſtizrat
350.
— Luiſe, geb. Michaelis (Schweſter Karo⸗
lines) 350. 351 f. (Brief an fie, v. Auguſte
Böhmer). 357. 358/61 (Briefe von Tat⸗
ter). 362.
Wieland Chph. Mart. 348/50 (Briefe an
Einfiedel). 431. 519/40 (Verserzãhlun⸗
gen). S21f. (an Bodmer). 542. 548.
554. 562.
— Karl F. (Sohn des Dichters) 348 f.
Wien 544. 561.
Wilbrandt Adf. 406.
Willkomm Emft 318.
Winckelmann Aug. 351. 352/54. — An
Tieck. (Sonett) 3527. Sſophie]
Mlereau? ]. Son., unterz.: A. W., von
ibm? 353.
— J. J. 21 ff. 27. 92. 100. 399.
Windelband W. 480.
Witzleben Auguſte v. nachm. vereh. Gräfin
Baudiſſin 371 f. 373/402 pass.
Wölfflin 5. 183f.
Wolf (Verleger) 588 (, W. ens Lipperl“).
589. 590. 592.
— Chn. v. 576.
— Frdr. Aug. 50. 186 f.
— Salom. 57.
Wolfram v. Eſchenbach 313. 61 ff.
Wolfſohn Wilh. 464.
Wolke Chn. Hinr. 627.
42
658 Namen: und Sachverzeichnis
Woltmann Ldw. 470. 474. 475. 476. Zeitung, u Alg. 43197 (Beitr. Kel⸗
32.
479. 482. 483. lers?). 4
Worte, Ein paar, an den Herrn F. M. Baader — Koölniſche 458.
(1783) 572 20. Zeiler Gg. 573. 574. 584. 586 8. 588 f.
Wunder 597. 589. (592). 59382. — S. Hannswurſt
Wuttke Heinr. 410. u. Schubart.
Zeſen Ph. v. 214.
orck v. Wartenburg Paul Graf 499. | Zilling, Spezial in Ludwigsburg 578 51.
Ziska Ir. 304.
Zachariae Frdr. Wilh. 337. 344. Zſchokke Andr. 563.
Zapf Gg. Wilh. 573 f. 578 80. 81. 584. | — Heinr. 318. 562 f.
591f. Zwingli Ulr. 196 f. (empfiehlt Pindar).
Zeitſchrift für Literaturgeſchichte
Begründet von Auguſt Sauer
Herausgegeben
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Joſef Nadler, Auguſt Sauer f, Georg Stefansky
Achtundzwanzigſter Band
Viertes Heft
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2 mM; * 7 1 -
Inhalt.
Abhandlungen und neue Mitteilungen.
Kraus, Oskar (Prag), Seiſteswiſſenſchaft und Pſychologie. en Be
aha: a ae ⁵ a ne 497
Freſenius, Auguſt + (Wiesbaden), di Verserzählung des 18. . . „. 519
Rumpf, Walther (Frank furt a. M.), Das literariſche Publikum der ſechüiger Jahre
des 18. Jahrhunderts in Deutſchlanddedededete? 0 ent n. . 540
Gaiſer, Konrad (Cennſtath, Schubart im Exorziſtenſtreit 0 0 0. 564
Schultze⸗Jahde, Karl (Börtig), Kritiſche Studien zu Immermanns „Merlin“ „ 595
Forſchungsberichte.
Schröter, Ernſt, Walahfrieds deutſche Gloſſierung zu den bibliſchen Büchern Geneſts bis
Regum II und der althochdeutſche Tatian (Bruno Schier in Reichenberg, Böhmen) 616
Ehrismann, Guſtav, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters.
Zweiter Teil: Die mittelhochdeutſche Literatur IL, 1 (Wolfgang Solther in Noſtoch 617
Brinkmann, Hennig, Entſtehungsgeſchichte des Minneſangs (Helmut Wocke in Liegnit) 621
Plenzat, Karl, Die Theophiluslegende in den Dichtungen des Mittelalters Se
Golth er in RA. ee en ; 624
Bolte, Johannes, Eine ungebrudte Poetik Kaſpar Stielers (R. Murtfeld in dart
/// a ee 625
Niederdeutſches Balladenbuch. Hrsg. von A. Jansſen und J. Schräpel Bi,
Seelmann in Berlin)) 627
Brinckman, John, Plattdeutſche Werke I. Band (Wilh. Seelmann in Berlin) 627
e . . ee . * 630
Nachrichten: Mitteilung der Schriftleitunn gs 640
Wiſſenſchaſtliche Umfrage 640
Deristisungen s 2%. 2... 2 & ER eur Ei EEE 640
Namen und Sachverzeichnis 642
Förderer des Euphorion. Die „Akademie zur wiſſenſchaftlichen Erforſchung und
zur Pflege des Deutſchtums“ (Deutſche Akademie) in München hat unſerer Zeitſchrift
freundlichſt eine größere Subvention bewilligt.
Erwiderungen auf die im „Euphorion“ erschienenen Besprechungen
werden nicht aufgenommen.
Manuskripte (womöglich in Schreibmaschinenschrift und nur nach
vorheriger Anfrage), Briefe und Büchersendungen sind zu richten an
Univ.-Dozent Dr. Georg Stefansky, Prag XVI (Smichow), 841.
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um die Enzyklopädie von 1817 vermehrte, vollständige Neuaus-
gabe von Hegels Sämtlichen Werken. Diese Ausgabe wird in etwa
zwei Jahren abgeschlossen vorliegen und es wird auf diese Weise
vermieden werden, daß man im Jahre 1931 den hundertsten Todes-
tag des neben Kant größten deutschen Philosophen zu feiern ge-
zwungen ist, ohne seine Werke zu besitzen. Im Hinblick auf diesen
Tag, der seinerzeit Freunde und Schüler zur Veranstaltung
der Gesamtausgabe zusammenrief, wird die Neuausgabe als
Jubiläumsausgabe bezeichnet.
Sie möchte einem allseitigen Hegelstudium dienen. Sie möchte
es ermöglichen, daß Hegel nicht nur als Schlagwort gebraucht,
sondern auch wirklich gelesen wird. Dies ist ihr einziger Zweck.
Niedriger Preis und bequeme Anschaffungsmöglichkeit sollen dazu
helfen, daß dieser Zweck erreicht wird.
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Stelle Band und Seitenzahl des Originaldruckes kenntlich machen.
So ist jedes nach der alten Ausgabe gegebene Zitat trotz der Um-
gruppierung ohne weiteres aufzufinden. Außerdem wird dem letz-
ten Band ein ausführliches Gesamt-Inhaltsverzeichnis
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Die einzelnen Bände erscheinen in Abständen von 6— 12 Wochen. Der
Gesamt-Umfang beträgt 690 Bogen zu je 16 Seiten. Der Vorzugspreis
bis 1. Oktober 1927 beträgt 20 Pfg. für den Bogen. Demnach kostet der
Durchschnittsband von 35 Bogen (560 Seiten) geheftet RM 7.—, in Leinen
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tober 1927 erhöht sich der Preis für das geheftete Exemplar
um 25 %. Die Einbandpreise von RM 2.— bzw. RM 3.50 bleiben gleich.
Der Bezug des ersten Bandes zum Subskriptionspreis verpflichtet zur Abnahme
des ganzen Werkes. Einzelbände werden nur zum erhöhten Preis abgegeben.
Die Bände 1, 3 und 6 sind bereits erschienen.
Für die Leser des Euphorion wird des verspäteten Erscheinen dieses
Heftes wegen der Subskriptionstermin bis 31. Dezember 1927 verlängert.
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Seitſchrift für Deutſche Bildung
herausgegeben von Dr. Ulrich Peters
Aus dem Inhalt des Juli / Auguſt⸗Heftes
Zur Sprachpſychologie und Sprechpädagogik
von Dr. Richard Müller-Freienfels
Die Unterſuchung geht von der Tatſache aus, daß unſere Schulen nicht genug Sprachkultur
treiben, inſofern der ſogenannte Sprachunterricht meiſt nur ein Schriftunterricht iſt, in dem zur
Ausbildung eigener ſelbſtändiger Sprachbeherrſchung wenig Raum bleibt. Auf Grund feiner
Einſichten in die Pinchologie des Sprachvorganges vermittelt der Verfaſſer zunächſt einige Hrund⸗
erkenntnifie der Sprachpſychologie und zieht dann feine pädagogiſchen Solgerungen, die darauf
hinauslaufen, daß es wichtiger ift, die eigene Sprache wirklich beherrſchen zu lernen. als in der
Schule mehrere fremde Sprachen unvollkommen zu erlernen.
Strindbergs Religioſität
von Stud.⸗Rat Dr. W. Hans
Der weit geſpannte Aufia gibt eine überaus eindringliche Schilderung der weſentlich vom
Chriſtentum beſtimmten Religioſität, zu der Strindberg ſich langſam durchgerungen hat, die
aber von der Strindbergforſchung meiſt überſehen oder falſch geſehen wird. Strindbergs Reli:
gioſität wird als eine Verbindung von Myſtik und Ethik gekennzeichnet, die jedoch weſentlich
verſchieden iſt von der Myſtik Rainer Maria Rilkes. Sür Strindberg iſt das weſentliche die
ſittliche wirkung der Religion. „Weichheit, Innigkeit, Gefühlsſeligkeit iſt in Strindbergs Reli⸗
giofität nicht zu finden. Sie hat etwas Rühles, Starres, Sartes, Nordiiches, Proteſtantiſches
Eulenſpiegels Weg zum Mythos
von Dr. Wilhelm Meridies
Der 1C0. Geburtstag des in München geborenen großen flämiſchen Dichters iſt der Anlaß zu
dieſer Betrachtung über die 400 jährige Entwicklung der Culenſpiegelgeſtalt vom Dolksbud bis zu
erhart Sauptmann. Es wird insbeſondere die Bedeutung des Coſterſchen Werkes für eine neue
Auffaſſung der Geſtalt nachgewieſen.
Albin Egger⸗Lienz
von Dr. Hans Krey
Das Leben und das Lebenswerk des vor kurzem verſtorbenen großen Tiroler Malers wird
hier ſeiner Bedeutung entſprechend gewürdigt. Er war kein Maler der Freude. Seine Kunſt
galt dem Ernſt und der Schwere menſchlichen Schickſals. Er hat ergreifend Trauer, Schmerz
und Tod geftaltet, aber er läßt uns nicht verkommen in unſerem Wiſſen um die ewige Ver
gänglichkeit. Sein Böchſtes was er uns gibt iſt der Glaube.
Aus dem übrigen Inhalt:
Kann die Deutichkunde mit der Neuordnung des höheren Schulweſens in Sachſen zufrieden
fein? von Stud: Rat Dr. Weiler. Moderne Tyrik in unterrichtsgemäßer Behandlung von
Dr. w. vontin. Die pädagogiſche Akademie im Aufbau unſeres nationalen Bildungsweien:
vom ßerausgeber. Das Schulbuch im Dienſte der Dölkerverftändigung von Stud.⸗Rat K. K. Eitzen.
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jsiermit beſtelle ih zum Probebezug die „Geitſchrift für Deutſche Bildung“ für das
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nicht ieweils bis zum vierteljahrsbeginn (1. Juli, 1. Oktober) Abbeſtellung erfolgt, wird die den.
ſchrift dann zum Preiſe von Am 3.75 bzw. AM. 2.88 das Vierteljahr weitergeliefert.
Pohnort, Strafe: Name:
Zeitſchrift für Deutſche Bildung
herausgegeben von Dr. Ulrich Peters
Aus dem Inhalt des September-Heftes
Rainer Maria Rilke
von Prof. Dr. Gert Buchheit f
Dem frühzeitig verſchiedenen großen Dichter wird hier aus tiefer (infühlung in fein Werk ein
Nachruf geſchrieben, der uns zugleich ein ergreifendes Lebensbild vermittelt und die Stellung
Rilkes in der Dichtung und Runſt feiner Seit ſcharf umreißt.
Gerhart Hauptmanns „Dorothea Angermann“ und
Wolfgang Goetz „Neithard von Gneiſenau“
von Dr. Hans Weſterburg
Aus der Geg.nüberftellung der beiden ſtofflich und künſtleriſch grundverſchiedenen erfolgreichen
neuen Dramen werden zwei Richtungen dramatiſchen Schaffens deutlich, die gleichſam den End⸗
und Anfangspunkt einer jährigen Entwicklung des deutſchen Dramas darſtellen: Gerhart
Rauptmanns Drama ein naturaliſtiſcher Spätling, „UNeithard von Gneiſenau“ auf der Grund⸗—
lage der jüngſten ſynthetiſchen Anſchauung ſich aufbauend. Die Betrachtung beider Dramen
führt zur Erklärung dieſes Nebeneinander.
Das Problem der Gegenwartsdarſtellung
in der modernen Dichtung
von Dr. Erwin Stranik
Der Aufſatz will die Urſachen aufdecken, die es den Schriftſtellern unſerer Gegenwart noch immer
nicht möglich machen, eine im letzten Sinne große Schau über die deutſche Seitepoche zu geſtalten,
deren Mitlebende ſie ſind. Sugleich werden die Möglichkeiten aufgezeigt, die zu einer neuen
chegenwartskunſt führen können.
Eilhard Erich Pauls
von Dr. Hans Weſterburg
Anläßlich des 80. Geburtstags des Cübecker Dichters werden deſſen bis jetzt erſchienenen Werſie
einer liebevollen Würdigung unterzogen. E. W. pauls ſtellt ſich als ein Nachfolger Wilhelm
Aaabes dar, deſſen Bücher der inneren Erſtarkung des deutſchen Volkes dienen wollen.
Goethes Führung
von Prof. Eilhard Erich Pauls
In Sortſetzung feiner Veitragsreihe führt Prof. Pauls die lebendige Art ſeines Deutſchunterrichts
in der prima im Seichen Goethes vor. Es ergeben ſich die mannigfaltigen Anknüpfungspunkte
zum geiſtigen Leben, bis hinauf zur Gegenwart. Bier erhalten die Schuler ein ſich von Stunde
zu Stunde mehr abrundendes Bild deutſcher Rultur.
Aus dem übrigen Inhalt:
Etwas Antilaokoon im Unterricht vom Stud Rat Dr. Bruno Riehl — Sage, Märchen und
mythos. Eine Bücherſchau von Prof. Dr. HBünnerkopf. — Andrees Geographie des Welthandels,
eine Buchanzeige vom Herausgeber. — KRulturgeſchichte der ieuzeit, Buchanzeige von Dr.
w. Meridies. — Seitſchriftenſchau von Dr. B. Ch. Becher.
22
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Die kritiſche Monatsſchrift
Die ſehöne Literatur
Berausgeber Will vesper
Vierteljährlich M. 2.50. (Der Jahrgang beginnt mit Januar.) Monatlich 4s Seiten Cext,
10 Seiten Beilage „Die Jahresernte“, beides auf holzfreiem Papier,
Runftörudbeilage „Dichterbildniſſe“.
gibt kurz, umfaſſend und zuverläſſig in s Teilen Überblick über alles Bedeutende:
Fer Leitartikel behandelt in der Regel eine Per 5. Eigene Uraufführungs berichte.
ſönlichkeit des modernen Schrifttums und bietet
anſchließend erſchöpfende biographiſche und biblin: 6. Nachrichtenteil.
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graphiſche Angaben. 7. Die 16 feitige Beilage „„ Die Jahresernte
2. 9 ae Neuerſcheinungen ig en Dh e 195 auserlefen:
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Z. Bibliographie der wertvollſten Neuerſcheinun⸗ er e zu den Guellen juͤngſter
gen des letzten Monats. N
zibliographie der ice Zeitichriftenauf: 8. Dichterbildniſſe (Aunftdruckbeilage) mit Aute
ſätze zur zeitgenöffifchen deutſchen Dichtung. gramm und Biographie.
Die Seitſchrift führt ſomit durch Proben aus den werken, Darſtellung, Bibliograpbie, Krill,
Bildnis und Pandſchriftprobe zum Werk und der perfönlichkeit der heute Schaffenden.
Der Jahrgang 1926 der „ſchönen Literatur“ umfaßt 612 Seiten, enthält Darftellung, Biographie
und vollſtändige Bibliographie über: Emil Strauß / wilhelm Schmidtbonn / Paul Ernſt / paul Alverde?
Stefan George FB. Sr. Blunck / Perm. Burte / Rob. sohlbaum / FBeinrich Sederer ! Max Bruns ! Kan:
Grimm / Iſolde Rurz, ferner 954 Beurteilungen neuer Bücher, 118 Uraufführungsberichte neben literariſchen
Nachrichten (Gedenltage), verzeichnis von 785 wichtigſten Seitſchriftenartikeln über deutſche Dichter der Gegen
wart im Jahre 1926, Nachweis von etwa 3000 Namen im Regifter. — Dieſer Jahresband ift in Halbleinen
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Der Jahresband 1926 der „Jahresernte““ umfaßt 196 Seiten und brachte ap aus folgenden
Büchern: Peinrich Cerſch, Menſch im Eiſen / Paus Leip, Godekes Knecht Hans Brandenburg, Sommer
Sonette Jakob Karinger, Dichtungen / Joſef winckler, pumpernickel ! Wilhelm Schmidtbonn, Geſchichten
von den unberührten Frauen Pans Sriedrich Blunck, Von klugen Srauen und Süchfen ! Fans (eifhelm
Pahnenſchrei ; Wilhelm Matthießen, Totenbuch Max Bruns, Cotenmeſſe für ein Rind / Selix Braun. De:
innere Leben / Stanz Heſſel, Teigwaren leicht gefärbt / Hans Rofelieb, Rot⸗Gelb⸗Rot / Walther Eidlit, Di
Gewaltigen ! Carl Zuckmayer, Der blühende Baum ; Carl J. Burckhardt, Aleinafiatifche Reife | Suede
Schnack, Sebaſtian im wald. — Dieſer Jahresband ift in Ganzleinen gebunden zum Preije von M. 8.50 erhältii:"
Der Buchberater 1925 und 1926, broſch. je M. —. 80. Halbleinen je M. 2.—. Dieſer von Will besper heraus
gegebene IDeihnachtshatalog bietet im Jahrgang 1925 eine Auswahl des wertvollſten aus der geſamten
deutſchen Literatur beſonders der letzten Jahre; Jahrgang 1926 betont wahre Dichtung und ehrliche Leiſtun;
der neueſten Literatur.
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Urteile über „Die ſchöne Literatur“
Der Dichter:
Dr. Thomas Mann: Die Hefte
der „Schönen Literatur“ zeigen
mir eine klug geführte, geiſtig hoch—
ſtehende, umſichtige, kritiſch aus—
gezeichnet bediente Seitſchrift, die
dem literariſch intereſſierten publi—
kum warm zu empfehlen iſt.
Der Wissenschaftler:
Prof. Dr. Georg Witlowätli:
Mir iſt Ihre Monatsſchrift „Die
ſchöne Literatur“ ein unentbehr⸗
licher Gehilfe, um das für den ein⸗
zelnen unüberſehbare literariſche
Schaffen der Gegenwart zu ver⸗
folgen. Die Urteile ſind ſachlich
und den Anſprüchen an eine
fördernde Kritik gemäß.
Der Journalist:
Neue Zürcher Zeitung: Nie”
2 über 16d: teueren;
Auskunft, ſehr prompt, ſehr bill
vor allem ſehr klug, in kleine!
kritiſchen Beiträgen, kurz, bi.
luſtig, witzig, öfters geiſtreich, &
temperamentvoller Ratgeber IX
Druck, das Papier, die Neberſicht
Tabellen, Regiſter — prächtig. kla.
und anſchaulich.
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in früheren Heften der Monatsſchrift „Die ſchöne Literatur“, herausgegeben
von Will Besper vierteljährlich Mark 2.50, find immer von Intereſſen⸗
ten begehrt worden, fo daß die Veröffentlichung eines Verzeichniſſes der
noch lieferbaren Einzelhefte dringend wurde.
Es erſchienen in der kritiſchen Monatsſchrift
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1924, 2: 6 1926, a 1: Emil Strauß
2; k 5: an a 8 2: Wilhelm Schmidtbonn
„ 6: Ricarda Huch „ „ 3: Paul Ernſt
„ 7: Wilhelm v. Scholz „ „ 4: Paul Alverdes
„ 9: Ottomar Enking „ „ 5: Stefan George
„ 10: Richard Dehmel ” „ 6: Hans Friedr. Blund
12: b S 5 „ 7: Hermann Burte
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2 2 2 2 2 2
ö 10: Heinrich Federer
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1925, Heft 1: Ernſt Barlach 12:
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R R : Arnold Alitz 8 „ 2: Paul Gurk
1 R Frank Thief 3: Fritz Reck⸗Malleczewen
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in denen der Verfasser zu uns als Erster Lord der Admiralität
sprach, war das Interesse der Öffentlichkeit durch seine fesselnde
Darstellung, durch · seine große Offenheit höchst erstaunt und
angenehm berührt. Um so mehr ist man gespannt, was er als
Munitionsminister über den Höhepunkt des Weltkrieges
1916-1918 und über dessen unseliges Ende zu sagen hat.
Angesichts der Mannigfaltigkeit des riesigen Stoffes sind die
Erwartungen weit übertroffen.
Die vorliegenden zwei Bände charakterisieren zunächst in glän-
zender Weise die hervorragenden Qualitäten der beteiligten
Heerführer, sowie deren Unzulänglichkeiten. Die Maßnahmen
der Entente- Generale werden der schärfsten Kritik unterzogen,
aber auch den deutschen Führern wird klargelegt, wie sie den
Krieg hätten gewinnen können. Der zweite Band behandelt
den verhängnisvollen U-Bootkrieg und seine Bekämpfung, den
deutschen Ansturm im Westen 1918, der zu überraschenden
Anfangserfolgen führte. Hier erleben wir die furchtbaren Tage
der Spannung im feindlihen Lager, auf des Messers Schneide
stehen Sieg und Niederlage. Das Schicksal von Paris scheint be-
siegelt: man denkt in voller Hast nur noch an die Sicherung der
Kanalhäfen — plötzlich der katastrophale Umschwung, dem das
jähe Ende folgt. Wohltuend wirken die ritterlihen Worte
eines ehemaligen Gegners, die er den Leistungen Deutschlands
widmet.
AMALTHEA-VERLAG-WIENIV
Digitized by Google M
Japeta (1643)
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES FRANZÖSISCHEN
KLASSIZISMUS IN DEUTSCHLAND
von Dr. Ferdinand Josef Schneider
ordentlicher Professor an der Universität Halle-Wittenberg
52 Seiten in Groß-Oktav. Brosch. RM 2.50
Diese Arbeit des bekannten Philologen, die einen wertvollen Beitrag
zur Geschichte des deutschen Literaturbarocks darstellt, bringt völlig
neue Aufschlüsse über die künstlerische Entwicklung und die Per-
sönlichkeit Georg Philipp Harsdörffers. Der als Mitbegründer
des Pegnitz-Schäferordens und als Verfasser des „Nürnberger Trich-
ters“ wohlbekannte Patrizier erscheint hier auch als Verfasser der
ersten gedruckten deutschen Übersetzung eines französischen Dramas
in Alexandrinerversen und somit als frühester Bahnbrecher des
französischen Klassizismus in Deutschland.
J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG - STUTTGART
Das August-Septemberheft der
Literarischen Zeitschrift
ORPLID»ERAUSGEBER: DR.MARTINROCKENBACH
Bayriſche Bauerndichtung der Gegenwart
Bezugspreis der Hefte im Abonnement RM 2.00, einzeln RM 2.40
Seit Ludwig Thomas Tod galt die bayrische Bauerndichtung der Gegenwart
im Urteil der Gegenwart für verwaist, wenn nicht gar für verstorben. Nun-
mehr erringt jedoch Oskar Maria Graf, mit seinem Bekenntnisbuch „Wir
sind Gefangene”, wegen der Schilderung der Münchener Revolutionswirren in
ganz Europa Aufsehen erregend, als Bayrischer Bauerndichter aufs neuc re-
präsentative i Das neue Orplidheft bringt eine dichterisch bedeutende
neue Novelle von Graf. Es weist auf drei weitere Dichter von Raug aus dem
Bezirk bayrischer Baueindichtung hin: Karl Bauer, kürzlich als Oberst;
leutnant a. D. verstorben, ist als Lyriker ein derbgesunder Dialektdichter.
Gottfr. Koelwel, ist ein kraftvoller Erzähler von kurzen, aufregend inhalts-
reichen Geschichten und Anekdoten; eine Novellensammlung hat ihm bereits
eine Reihe Freunde erworben. K. Zoller aber, bisher im deutschen Buch-
handel so gut wie unbekannt, ist ein Meisterschüler Stifters von hohem sprach-
lichem Können und tiefer weiser Besinnlichkeit. Die historischen und kultu-
rellen Vorbedingungen und Besonderheiten bayrischer Stammesdichtung erläutert
mit weisem Horizont ein Essay „Kunst und Dichtung in Altbayern“ von dem
Münchener Herman Preindl.
Ders een Die letzten Sonderhefte: Humor in der jungen deut-
Buchhandlungen schen Dichtung/Rainer Maria Rilke Junges Rußland
Orplis-Derlag GmbH. Augsburg / Röͤln a. Rh. / Wien
577
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RENAISSANCE
STUDENT LIFE
The Paedologia of Petrus Mosel-
lanus. Dedicatory epistle. and
thirty-five dialogs translated from
the Latin into English by Robert
Francis Seybolt, Professor of
Education in the University of
Illinois, $ 1.25
BIBLIOGRAPHY
OF EPICTETUS
Contributions toward a Biblio-
graphy of Epictetus, together
with a facsimile reproduction of
Jacob Schenk’s translation of the
Encheiridion (Basel 1534), reprodu-
ced from the copy in the British
Museum, by William Abbott
Oldfather, Professor of Classics in
9 3,50
the University of Illinois.
DE VITA
SOLITARIA
A translätion into English of
Petrarch’s De Vita Solitaria, with
introduction and notes by Jacob
Zeillin, Professor of English in
the University of Illinois. F 4—
UNIVERSITY
OF ILLINOIS PRESS
4 URBANA
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’% 5 7 zZ
. = . 41
Die offizielle Ausgabe
der Familie Tolstoi!
UNBEKANNTE
TOLSTOI
herausgegeben von
René Fülöp-Miller
416 Seiten und 47 Bildtafeln
Geheftet M. 7.—
Leinen M. 9.—
Fülöp-Miller, der bekannte Tol-
stoj-Forscher, dessen Publika-
tionen über die letzte Lebenszeit
des großen russischen Dichters
in allen Ländern Aufsehen er-
regt haben, ie hart zum
bevorstehenden 100. Geburtstag
Leo Tolstojs dieses monumen-
tale Nachlaßwerk. Der Heraus-
90 0 der lange Zeit in Jasnaja
oljana bei der Familie Tolstoj
weilte, hat sowohl dort, als
auch in Moskau, gemeinsam
mit den von Tolstoj eingesetzten
Hütern des Nachlasses, mit der
Gräfin Alexandra Lwowna sowie
mit der Moskauer Tolstoj-Gesell-
schaft und dem Tolstoj-Mu-
seum die bekannten literari-
schen Werke, Romanfragmente,
Novellen, Kindererzählungen,
Briefe und Entwürfe des Dich-
ters gesichtet und für die
deutsche Jubiläumsausgabe be-
arbeitet.
In allen Buchhandlungen
AMALTHEA-VERLÄG
ZURICH - LEIPZIG - WIEN
Digitized.by Google AM
Einen klaren fesselnden Einblick in das Wesen verlegerischer Tätigkeit bietet
Autoren und Bücherfreunden zum ersten Mal das Buch des Londoner Verlegers
STANLEY UNWIN
£ DAS WAHRE GESICHT DES
VERLAGSBUCHHANDELS
Übertragung des englischen Werkes „The truth about publishing“
Deutsch von Fritz Schnabel
Steif geheftet M 10.50 7 in Künstlerleinenband M 12.—
DR. HANNS MARTIN ELSTER: „Ich kann Ihnen sowie dem gesamten deuischen
Buchhandel nur Gläck wünschen, daß Sie dieses Buch in deutscher sp: iche heraus-
gebracht haben. Lewis Melwille hat vollkommen recht, wenn sie meint, jeder Autor
müsse gezwungen werden, dieses Buch zu lesen, denn die Autoren haben im allge-
meinen auch nach meiner Erfahrung, gerade weil ich selbst Schriftsteller bin und
besonders unter Schriftstellern lebe weiß ich das, meist völlig falsche Ansichten vom
Verlagsbuchhandel. Wenn der Autor aber die Sorge des Verlegers kennen würde,
so würde er auch aus tieferem Verständnis in der Öffentlichkeit ganz anders für die
Führung der Literatur, des Buchabsatzes, der Buchwirkung tätig sein können.“
DR. FRANK THIESS: „Ich wünschte, daß es nicht nur in Fachkreisen Leser fände,
sondern vor allem unter angehenden Schriftstellern, damit endlich die unerfreuliche
und bald sprichwörtliche Gegnerschaft von Autor und Verleger ein Ende findet.“
EDUARD REINACHER: „Ich habe das Buch mit großem Anteil gelesen und darin,
auch abgesehen von der Darstellung englischer Verhältnisse, vieles gefunden, was
mir neu war und was zu wissen mir wichtig ist. Ich finde, daß in dem Buch nichts
zu viel steht. Wer Bücher schreibt, wer Bücher kauft, wer überhaupt mit Büchern
zu tun hat, sollte wissen, was der Verfasser darlegt. Eine Freude war mir das Lesen,
weil man sich Zeile für Zeile in guter Gesellschaft fühlt; es tut wohl, eine Dar-
stellung so sauber, klar und ohne Ereiferung zu finden. Diese Eigenschaften treten
am angenehmsten hervor an solchen Stellen, wo man als Autor eine kleine Rand-
Bemerkung zu machen hätte. Unwins Buch wird den Krebsschoden der Bücherwelt,
nämlich die Befassung der Zuvielen mit Schreiben, Verlegen, Buchhiandeln, nicht aus-
rotten. Aber es wird den oft hart bedrängten, anständigen Autoren und anständigen
Verlegern Anregungen bieten, sich das sachliche und freundliche Verhältnis zu wahren,
an dem beiden gelegen sein muß. Unwins Seiten sind an die Aristokratie der Buch-
welt gerichtet, und in ihr werden sie Widerhall finden.“
C.E.POESCHEL VERLAG / STUTTGART
Te
J. B. Metalersche Buchdrucksrei, Stuttgart.
Bollitändige
Dichter-Biblivgraphien
in früheren Heften der Monatsſchrift „Die ſchöne Literatur“, herausgegeben
von Will Vesper vierteljährlich Mark 2.50, find immer von Intereſſen⸗
ten begehrt worden, jo daß die Veröffentlichung eines Verzeichniſſes der
noch lieferbaren Einzelhefte dringend wurde.
Es erſchienen in der kritiſchen Monatsſchrift
Die ſchöne Literatur
zum Einzelheftpreis von je M. —.60
1924, Heft
2 2 33 32
1925, Heft
s 2 2 2
z 2 22 22 22
S3 2 2 2 3
Hermann Stehr
Joſef Ponten
6: Ricarda Huch
7: Wilhelm v. Scholz
. Ottomar Enking
10:
12: Jakob Schaffner
Richard Dehmel
Ernſt Barlach
Rudolf G. Binding
: Carl Spitteler /
Benno Rüttenauer
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Frank Thieß
: Paul Zech
Hugo Salus
Scharrelmann /
Vierordt
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Rainer Maria Rilke
zum Einzelheftpreis von je M. —.75
1926, Heft 1: 5
2: Wilhelm Schmidibonn
Paul Ernſt
Paul Alverdes
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Sans Friedr. Blunck
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zum E
1927, Heft 1:
”
*
”
3 2 W 3 * 3%
DD Im N c9
10
11
12
Emil Strau
Heinrich Federer
Mar Bruns
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inzelheftpreis von je M. —.90
*
S2 t
Alfons Petzold
Paul Gurk
Fritz Reck⸗Malleczewen
4: Timm Kröger
5: Emil Strauß
6: Friedrich Huch
2:
8
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Hermann Heſſe
Irene Forbes-Moffe /
Ernſt Penzoldt
Herbert Eulenberg
Jede Buchhandlung beſorgt dieſe Einzelhefte. Bei direkter Beſtellung
beim unterzeichneten Verlag empfiehlt ſich (zur Vermeidung weiterer
Ankoſten) Einſendung des entſprechenden Betrages (zuzüglich 15 Pf.
Porto für jedes Heft) auf Poſtſcheckkonto Leipzig Nr. 67292 unter
Angabe des Gewünſchten auf dem Zahlkarten⸗Abſchnitt
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Eine wichtige
Neuerscheinung!
Heinrich Hellmund
DAS WESEN
DER WELT
1332 Seiten Großoktav
Geheftet M. 26.—
Leinen M. 32.—
Jeder denkende Mensch findet
in diesem Standardwerk An-
regung, Bereicherung und er-
schöpfende Aufklärung über die
persönliche und überpersön-
lichen Fragen der sinnlichen
und übersinnlichen Probleme
der Welt und des Weltalls. Die-
ses Werk ist die erste gesamt-
umfassende Weltanschauung
seit Schopenhauer und die meta-
physische Durchdringung und
Verbindung aller Einzel gebiete.
Es vereinigt das menschliche
Bewußtsein von der Welt zu
einem einzigen Organismus.
Es stellt die längst geforüerten
exaklen Brücken und Zu-
sammenhänge her zwischen
anorganischer Natur und Lebe-
welt, Materie und Bewußtsein,
Realität und Idee.
In allen Buchhandlungen
ZÜRICH - LEIPZIG - WIEN
MELOS
III
ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK
6 JAHR 1927
«Heute die einzige deut. che
Zeitschriſt, die neuer Musik mit
Sinn und Ernst zugewandt ist.»
Alfr. Einstein
im. Neuen Musiklexikon
Schriftleitung: Hans Mersmann
Aus dem Inhalt der letzten Heſte:
Krasnopolski: Nürnberger Meisterge-
sang in Mähren / M. Butting: Musik
und die Menschen / Mersmann: Neue
Musik / Ludw. Weber: Schaffen und
Erkennen / Ad. Weißmann: Der nach-
schaffende Musiker unserer Zeit / Kurt
Sachs: Über die Darstellung alter Mu-
sik / Erwin Felber: Geltung von Natur-
gesetzen in der Musik / E. Doflein:
Gegenwärtigkeit / P. Panöff: Die russi-
sche Oper in ihrer Stellung zur west-
europäischen Musik / David: Max
Reger / K. Westphal: Das reproduzie=
rende Umformen von Kunstwerken /
H. H. Stuckenschmidt: Perspektiven und
Profile / E. Büdten: Gegenwartsfragen
der Musikaesthetik / Heinrich Strobel:
Giuseppe Verdi.
*
Abonnieren Sie:
J jährl. 3 Hefte RM 2.— zuzügl. Porto
Probehefte kostenlos
Geschäftsstelle:
Berlin W 62, Wittenbergplatz 3a
Soeben erschien das Oktober-Novemberheſt der
Literarischen Zeitschrift
OR P LI D
Herausgeber Dr. Martin Rockenbach, Köln
Weihnacht der Jugend
Preis des Einzelheftes RM 2.40. Bezugspreis der
Zeitschrift jährlich sechs Doppelheſte RM 12.—,
halbjährlich RM 6.—. Die Hefte sind auch in
der Sammlung „Wege nach Orplid“ schön ge—
bunden zum Preise von RM 3.50 zu beziehen.
Das neue Heft ist ein Sonderheft „Weihnacht
der Jugend“. Rechtzeitig auf dem Weihnachts-
markt, sammelt dieses Ileſt also junge Dichtung,
die sich zur Heilstatsache der Weihnacht gläu-
big bekennt. Es ist somit ein bedeutsames
Zeugnis für die Wirklichkeit christlicher Dich-
tung in unserer Zeit. Die wichtigsten Mitarbeiter
des Heftes sind die Lyriker Konrad Weiß
und Heinrich Suso Waldeck, beide reli-
giöse Dichter im Vollsinn dieses Wortes, der
Dramatiker Max Mell und die Erzähler Kon-
rad Zoller und Margarete Windhorst.
Vito Brües hat eine größere epische Dichtung
beigesteuert. Die kritische Rundschau des Het-
tes ist, im Hinblick auf den Weihnachtsbücher-
kauf besonders reich an wertvollen Hinweisen.
Die letzten Hefte: Bayrische Bauern—
dichtung der Gegenwart / Humor in der
jungen deutschen Dichtung / Rainer Maria
Rilke / Junges Rußland/ Junges Spanienll
ORPIID-VERLXG G. XI. B. H., AUGSBCRG
KOLN/ WIEN
WILH. DILTHEYS GESAMMELTE SCHRIFTEN
Bd. I: Einleitung in die Geisteswissen-
schaften. 2. Aufl. Geh. RM 12 —, geb.
RM 15.—, in Halbleder RM 22.—.
Bd. IV: Die Jugendgeschichte Hegels u.
andere Abhandl. z Entwick] des
deutschen Idealismus. Geb RM 17.—.
BA. Vu NI: Die geistige Welt. Einlei-
tung i. d. Philosophie des Lebens.
Bd. W I. Halfte /: Abhandl. zur Grundlegung
der Geistes wissenschaften. Geh. RM 12.—,
eb. RM 15.--, in Halbleder RM 2.-.
J. VI 2. Halfte /: Abhandlunsen zur Poetik.
Ethik und Padasogik. Geh. RM 8.-, geb.
RM 11. „in Halbieder RM 17.—.
Bd. Vll: Der Aufbau d. geschichtl. Welt
ist aich als Sonderausgabe in Ganzleinen in den Geisteswissenschaften. Geh.
zum Preise von RM 10 — erhältlich. RM 10.-, geb. RM 13.—, in Halbleder RM 20.-
In Vorb.: Bd. VIII: Philosophie der Philosophie. Abhandlungen zur Weitanschauungslehre.
Bi. II: Weltanschauung und Analyse
des Menschen seit Renaissance und
Reformation. Abhandl. zur Geschichte
der Ptilosophie und Reiigien. 3. Aufl. Geh.
KM 13. —, geb. RM 16. , in Halbid RM 23. —
Bd. III: Studien zur Geschichte des
deotschen Geistes. Geh. RM 7.50, zeb.
RM 19.-, in Halbld. RM 16.—. Dieser Bd.
«Es ist keine Übertreibung, wenn die Behauptung ausgesprochen wird, daß Diltheys nicht nur einer
der ganz großen Kulturhistoriker war, durchaus ebenbürtig der Bedeutung, die z.B. Ranke für die
Erkenntnis der politischen Geshichre und der europäischen Staatengeschichte besitzt, sondern daß er
die Gesichtspunkte und Forschungsweisen des Historismus und Relativismus in einer letzten Reife
und Vollendung vertrat. Wer diese Gesichtspunkte und Methoden in ihrer innerlich entwickeltesten
und durchseeltesten Anwendung kennenlernen, wer den Geist des Historismus in einer seiner
durchzeistigsten Gestaltungen in sich aufnehmen, wer damit zugleich eine Epoche des Geisteslebens
dies 19. Jahrhunderts in einer gleichsam akademischen Zuspitzung erfassen will, kann an Dilthey
(Kantstudien.)
LEIPZIG / B.G. TEUBNER / BERLIN
und seinem Werk nicht vorübergehen.»
Erinnerung an Georg Trakl
INHALT:
Karl Kraus, Rainer Maria Rilke, Theodor Däubler über Trakl / Lebensdaten
Josef Leitgeb: Am Grabe Georg Trakls / Erwin Mahrholdt: Der Mensch und
Dichter Georg Trakl / Karl Borromäus Heinrich: Die Erscheinung Georg
Trakls / Hans Limbach: Begegnung mit Georg Trakl / Georg Trakl:
Melancholie / Briefe Georg Trakls an Freunde / Brief des Bergarbeiters
Matthias Roth aus Hallstatt zum Tode Georg Trakls / Karl Röck: Über
die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen / Ludwig
Ficker: Nachruf am Grabe
Mit 2 Bildnissen, 2 Handschriftproben und einem Bild der Grabstätte des
Dichters auf dem Friedhof von Mühlau bei Innsbruck.
Broschiert M. 3.50, in Leinen gebunden M. 5.—
An Georg Trakl, dem größten Lyriker der Deutschen seit Hölderlin, er-
füllte sich ein Schicksal, dessen Ahnung sein Leben und Dichten beständig
gleichnishaft überschattete. Als höchste Ehre des Totenkranzes, der hier dar-
geboten ist, mag es gelten, daß er schon nicht mehr als eine Spende der
Lebenden für den Toten empfunden wird, sondern eher als ein Gruß des
Jenseitigen an uns, die wir hinterblieben sind. Freie Stimmen.
BRENNER-VERLAG INNSBRUCK
-= — —
— —— — ———— Fö—— ͤ ßyu—— — — 2 — — — —
|
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|
|
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|
Das bedeutendste Werk des großen
englischen Staatsmannes
Winston Churchill
Die Weltkrisis 1916/18
2 Bände, reich illustriert, mit Karten und Plänen. Leinen ca. 30.— M.
Schon in den ersten beiden Bänden der,, Weltkrisis 1911 — 1914“,
in denen der Verfasser zu uns als Erster Lord der Admiralität
sprach, war das Interesse der Öffentlichkeit durch seine fesselnde
Darstellung, durch ˖ seine große Offenheit höchst erstaunt und
angenehm berührt. Um so mehr ist man gespannt, was er als
Munitionsminister über den Höhepunkt des Weltkrieges
1916-1918 und über dessen unseliges Ende zu sagen hat.
Angesichts der Mannigfaltigkeit des riesigen Stoffes sind die
Erwartungen weit übertroffen.
Die vorliegenden zwei Bände charakterisieren zunächst in glän-
zender Weise die hervorragenden Qualitäten der beteiligten
Heerführer, sowie deren Unzulänglichkeiten. Die Maßnahmen
der Entente- Generale werden der schärfsten Kritik unterzogen,
aber auch den deutschen Führern wird klargelegt, wie sie den
Krieg hätten gewinnen können. Der zweite Band behandelt
den verhängnisvollen U-Bootkrieg und seine Bekämpfung, den
deutschen Ansturm im Westen 1918, der zu überraschenden
Anfangserfolgen führte. Hier erleben wir die furchtbaren Tage
der Spannung im feindlihen Lager, auf des Messers Schneide
stehen Sieg und Niederlage. Das Schicksal von Paris scheint be-
siegelt: man denkt in voller Hast nur nod an die Sicherung der
Kanalhäfen — plötzlich der katastrophale Umschwung, dem das
jähe Ende folgt. Wohltuend wirken die ritterlichen Worte
eines ehemaligen Gegners, die er den Leistungen Deutschlands
widmet.
AMALTHEA-VERLAG:WIENIV
Japeta (1643)
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES FRANZÖSISCHEN
KLASSIZISMUS IN DEUTSCHLAND
von Dr. Ferdinand Josef Schneider
ordentlicher Professor an der Universität Halle-Wittenberg
52 Seiten in Groß-Oktav. Brosch. RM 2.50
Diese Arbeit des bekannten Philologen, die einen wertvollen Beitrag
zur Geschichte des deutschen Literaturbarocks darstellt, bringt völlig
neue Aufschlüsse über die künstlerische Entwicklung und die Per-
sönlichkeit Georg Philipp Harsdörffers. Der als Mitbegründer
des Pegnitz-Schäferordens und als Verfasser des „Nürnberger Trich-
ters“ wohlbekannte Patrizier erscheint hier auch als Verfasser der
ersten gedruckten deutschen Übersetzung eines französischen Dramas
in Alexandrinerversen und somit als frühester Bahnbrecher des
französischen Klassizismus in Deutschland.
J. B.METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANBLUNG - STUTTGART
Das August-Septemberheft der |
Literarischen Zeitschrift
ORPLIDseRrAUSGEBER: DR.MARTIN ROCKENBACH
Bayriſche Bauerndichtung der Gegenwart
Bezugspreis der Hefte im Abonnement RM 2,00, einzeln RM 2.40
Seit Ludwig Thomas Tod galt die bayrische Bauerndichtung der Gegenwart
im Urteil der Gegenwart für verwaist, wenn nicht gar für verstorben, Nun-
mehr erringt jedoch Oskar Maria Graf, mit seinem Bekenntnisbuch „Wir
sind Gefangene”, wegen der Schilderung der Münchener Revolutionswirren in
ganz Europa Aufsehen erregend, als Bayrischer Bauerndichter aufs neue re-
präsentative ee / Das neue Orplidheft bringt eine dichterisch bedeutende
neue Novelle von Graf. Es weist auf drei weitere Dichter von Raug aus dem
Bezirk bayrischer Bauerndichtung hin: Karl Bauer, kürzlich als Oberst-
leutnant a. D. verstorben, ist als Lyriker ein derbgesunder Dialektdichter,
Gottfr. Koelwel,ist ein kraftvoller Erzähler von kurzen, aufregend inhalts-
reichen Geschichten und Anekdoten; eine Novellensammlung hat ihm bereits
eine Reihe Freunde erworben. K. Zoller aber, bisher im deutschen Buch-
handel so gut wie unbekannt, ist ein Meisterschüler Stifters von hohem sprach-
lichem Können und tiefer weiser Besinnlichkeit. / Die historischen und kultu-
rellen Vorbedingungen und Besonderheiten bayrischer Stammesdichtung erläutert
mit weisem Horizont ein Essay „Kunst und Dichtung in Altbayern“ von dem
ünchener Herman Preindl.
Die letzten Sonderhefte: Humor in der jungen deut-
Buchhandlungen schen Dichtung/Rainer Maria Rilke/Junges Rußland
Durch alle guten
Grpliòd-⸗ verlag Gmbh. Auasbura/KsIna,Rh./ Wien
57/7
RENAISSANCE
STUDENT LIFE
The Paedologia of Petrus Mosel-
lanus. Dedicatory epistle. and
thirty-five dialogs translated from
the Latin into English by Robert
Francis Seybolt, Professor of
Education in the University of
Illinois, F 1.25 |
BIBLIOGRAPHY
OF EPICTETUS
Contributions toward a Biblio-
graphy of Epictetus, together
with a facsimile reproduction of
Jacob Schenk's translation of the
Encheiridion (Basel 1534), reprodu-
ced from the copy in the British
Museum, by William Abbott
Oldfather, Professor of Classics in
the University of Illinois. g 3,50
DE VITA
SOLITARIA
A translation into English of
Petrarch's De Vita Solitaria, with
introduction and notes by Jacob
Zeitlin, Professor of English in
the University of Illinois, K 4.—
UNIVERSITY
OF ILLINOIS PRESS
URBANA
Die offizielle Ausgabe
der Familie Tolstoi!
UNBEKANNTE
TOLSTOI
herausgegeben von
René Fülöp-Miller
416 Seiten und 47 Bildtafeln
Geheftet M. 7.—
Leinen M. 9.—
Fülöp-Miller, der bekannte Tol-
stoj-Forscher, dessen Publika-
tionen über die letzte Lebenszeit
des großen russischen Dichters
in allen Ländern Aufsehen er-
regt haben, veröffentlicht zum
bevorstehenden I. Geburtstag
Leo Tolstojs dieses monumen-
tale Nachlaßwerk. Der Heraus-
geben, der lange Zeit in Jasnaja
oljana bei der Familie Tolstoj
weilte, hat sowohl dort, als
auch in Moskau, gemeinsam
mit den von Tolstoj eingesetzten
Hütern des Nachlasses, mit der
Gräfin Alexandra Lwowna sowie
mitder Moskauer Tolstoj-Gesell-
schafl und dem Tolstloj-Mu-
seum die bekannten literari-
schen Werke, Romanfragmenle,
Novellen, Kindererzählungen,
Briefe und Entwürfe des Dich-
ters gesichtet und für die
deutsche Jubiläumsausgabe be-
arbeitet,
In allen Buchhandlungen
ZURICH - LEIPZIG - WIEN
Einen klaren fesselnden Einblick in das Wesen verlegerischer Tätigkeit bietet
Autoren und Bücherfreunden zum ersten Mal das Buch des Londoner Verlegers
STANLEY UNWIN
£ DAS WAHRE GESICHT DES
VERLAGSBUCHHANDELS
Übertragung des englischen Werkes „The truth about publishing“
Deutsch von Fritz Schnabel
Stelf geheftet M 10.50 7 in Künstlerleinenband M 12.—
DR. HANNS MARTIN ELSTER: „Ich kann Ihnen sowie dem gesamtrn deutschen
Buchhandel nur Gläck wünschen, daß Sie dieses Buch in deutscher sp: icke heraus-
gebracht haben. Lewis Melwille hat vollkommen recht, wenn sie meint, jeder Autor
müsse gezwungen werden, dieses Buch zu lesen, denn die Autoren haben im allge-
meinen auch nach meiner Erfahrung, gerade weil ich selbst Schriftsteller bin und
besonders unter Schriftstellern lebe weiß ich das, meist völlig falsche Ansichten vom
Verlagsbuchhandel. Wenn der Autor aber die Sorge des Verlegers kennen würde,
so würde er auch aus tieferem Verständnis in der Öffentlichkeit ganz anders für die
Führung der Literatur, des Buchabsatzes, der Buchwirkung tätig sein können.“
DR. FRANK THIESS: „Ich wünschte, daß es nicht nur in Fachkreisen Leser fände,
sondern vor allem unter angehenden Schriftstellern, damit endlich die unerfreuliche
und bald sprichwörtliche Gegnerschaft von Autor und Verleger ein Ende findet.“
EDUARD REINACHER: „Ich habe das Buch mit großem Anteil gelesen und darin,
auch abgesehen von der Darstellung englischer Verhältnisse, vieles gefunden, was
mir neu war und was zu wissen mir wichtig ist. Ich finde, daß in dem Buch nichts
zu viel steht. Wer Bücher schreibt, wer Bücher kauft, wer überhaupt mit Büchern
zu fun hat, sollte wissen, was der Verfasser darlegt. Eine Freude war mir das Lesen,
weil man sich Zeile für Zeile in guter Gesellschaft fühlt; es tut wohl, eine Dar-
stellung so sauber, klar und ohne Ereiferung zu finden. Diese Eigenschaften treten
am angenehmsten hervor an solchen Stellen, wo man als Autor eine kleine Rand-
bemerkung zu machen hätte. Unwins Buch wird den Krebsschaden der Bücherwelt,
nömlich die Befassung der Zuvielen mit Schreiben, Verlegen, Buchhandela, nicht aus-
rotten. Aber es wird den oft hart bedrängten, anständigen Autoren und anständigen
Verlegern Anregungen bieten, sich das sachliche und freundliche Verhältnis zu wahren,
on dem beiden gelegen sein muß. Unwins Seiten sind an die Aristokratie der Buch-
welt gerichtet, und in ihr werden sie Widerhall finden.“
C.E.POESCHEL VERLAG / STUTTGART
nn
J. B. Metslersehe Bushäruckerei, Stuttgart.
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ordentlicher Professor an der Universität Halle-Wittenberg
52 Seiten in Groß-Oktav. Brosch. RM 2.50
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zur Geschichte des deutschen Literaturbarocks darstellt, bringt völlig
neue Aufschlüsse über. die künstlerische Entwicklung und die Per-
sönlichkeit Georg Philipp Harsdörffers. Der als Mitbegründer
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ersten gedruckten deutschen Übersetzung eines französischen Dramas
in Alexandrinerversen und somit als frühester Bahnbrecher des
französischen Klassizismus in Deutschland.
J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG - STUTTGART
Das August-Septemberheft der
Literarischen Zeitschrift
ORPLIDuerAUScEBER: DR.MARTINROCKENBACH
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im Urteil der Gegenwart für verwaist, wenn nicht gar für verstorben. Nun-
mehr erringt jedoch Oskar Maria Graf, mit seinem Bekenntnisbuch „Wir
sind Gefangene”, wegen der Schilderung der Münchener Revolutionswirren in
ganz Europa Aufsehen erregend, als Bayrischer Bauerndichter aufs neue re-
präsentative ey. / Das neue Orplidheft bringt eine dichterisch bedeutende
neue Novelle von Graf. Es weist auf drei weitere Dichter von Rang aus dem
Bezirk bayrischer Bauerndichtung hin: Karl Bauer, kürzlich als Oberst-
leutnant a. D. verstorben, ist als Lyriker ein derbgesunder Dialektdichter,
Gottfr. Koelwel,ist ein kraftvoller Erzähler von kurzen, aufregend inhalts-
reichen Geschichten und Anekdoten; eine Novellensammlung hat ihm bereits
eine Reihe Freunde erworben. K. Zoller aber, bisher im deutschen Buch-
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mit weisem Horizont ein Essay „Kunst und Dichtung in Altbayern“ von dem
Münchener Herman Preindl.
Nh e Die letzten Sonderhefte: Humor in der jungen deut-
Buchhandlungen schen Dichtung/Rainer Maria Rilke/Junges Rußland
Orplid-Derlaa GmbH. Nuasbura/KsIna.Rh./ Wien
57/7 .
1 STUDENT LIFE
| ThePaedologia of Petrus Mosel-
- lanus. Dedicatory epistle and
1 thirty-five dialogs translated from
we Latin into English by Robert
Francis Seybolt, Professor of
Education in the University of
#4 Illinois, $ 1.25
BIBLIOGRAPHY
OF EPICTETUS
Contributions toward a Biblio-
graphy of Epictetus, together
wich a facsimile reproduction of
Jacob Schenk's translation of the
Encheiridion (Basel 1534), reprodu-
dced from the copy in the British
Museum, by William Abbott
- Oldfather, Professor of Classics in
the University of Illinois. $ 3.50
DE VITA
SOLITARIA
A translation into English of
1 Petrarch's De Vita Solitaria, with
introduction and notes by Jacob
Teillin, Professor of English in
the University of Illinois. K 4.—
1 UNIVERSITY
or ILLINOIS PRESS
| URBANA
98
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Die offizielle Ausgabe
der Familie Tolstoi!
DER
UNBEKANNTE
TOLSTOI
herausgegeben von
René Fülöp-Miller
416 Seiten und 47 Bildtafeln
Geheftet M. 7.—
Leinen M. 9.—
Fülöp-Miller, der bekannte Tol-
stoj-Forscher, dessen Publika-
tionen über die letzte Lebenszeit
des großen russischen Dichters
in allen Ländern Aufsehen er-
regt haben, veröffentlicht zum
bevorstehenden 100. Geburtstag
Leo Tolstojs dieses monumen-
tale Nachlaßwerk. Der Heraus-
90 77 der lange Zeit in Jasnaja
oljana bei der Familie Tolstoj
weilte, hat sowohl dort, als
auch in Moskau, gemeinsam
mit den von Tolstoj eingesetzten
Hätern des Nachlasses, mit der
Gräfin Alexandra Lwowna sowie
mit der Moskauer Tolstoj-Gesell-
schaft und dem Tolstloj-Mu-
seum die bekannten literari-
schen Werke, Romanfragmente,
Novellen, Kindererzühlungen,
Briefe und Entwürfe des Dich-
ters gesichlet und für die
deutsche Jubiläumsausgabe be-
arbeitet,
In allen Buchhandlungen
AMALTHEA-VERLAG
ZURICH - LEIPZIG - WIEN
Einen klaren fesselnden Einblick in das Wesen verlegerischer Tätigkeit bietet
Autoren und Bücherfreunden zum ersten Mal das Buch des Londoner Verlegers
STANLEY UNWIN
l DAS WAHRE GESICHT DES
VERLAGSBUCHHANDELS
Übertragung des englischen Werkes „The truth about publishing“
Deutsch ven Fritz Schnabel
Stelf geheftet M 10.50 / in Künstlerleinenband M 12.—
DR. HANNS MARTIN ELSTER: „Ich kann Ihnen sowie dem gesamten deutschen
Buchhandel nur Gläck wünschen, daß Sie dieses Buch in deutscher spı iche heraus-
gebracht haben. Lewis Melwille hat vollkommen recht, wenn sie meint, jeder Autor
müsse gezwungen werden, dieses Buch zu lesen, denn die Autoren haben im allge-
meinen auch nach meiner Erfahrung, gerade weil ich selbst Schriftsteller bin und
besonders unter Schriftstellern lebe weiß ich das, meist völlig falsche Ansichten vom
Verlagsbuchhandel. Wenn der Autor aber die Sorge des Verlegers kennen wärde,
so würde er auch aus tieferem Verständnis in der Öffentlichkeit ganz anders für die
Führung der Literatur, des Buchabsatzes, der Buchwirkung tätig sein können.“
DR. FRANK THIESS: „Ich wünschte, daß es nicht nur in Fachkreisen Leser fände,
sondern vor allem unter angehenden Schriftstellern, damit endlich die unerfreuliche
und bald sprichwörtliche Gegnerschaft von Autor und Verleger ein Ende findet.“
EDUARD REINACHER: „Ich habe das Buch mit großem Anteil gelesen und darin,
auch abgesehen von der Darstellung englischer Verhältnisse, vieles gefunden, was
mir neu war und was zu wissen mir wichtig ist. Ich finde, daß in dem Buch nichts
zu viel steht. Wer Bücher schreibt, wer Bücher kauft, wer überhaupt mit Büchern
zu fun hat, sollte wissen, was der Verfasser darlegt. Eine Freude war mir das Lesen,
weil man sich Zeile jür Zeile in guter Gesellschajt fühlt; es tut wohl, eine Dar-
stellung so sauber, klar und ohne Ereiferung zu finden. Diese Eigenschaften treten
am angenehmsten hervor an solchen Stellen, wo man als Autor eine kleine Rand-
bemerkung zu machen hätte. Unwins Buch wird den Krebsschaden der Bücherwelt,
admlich die Befassung der Zuvielen mit Schreiben, Verlegen, Buchhandeln, nicht aus-
rotten. Aber es wird den oft hart bedrängten, anständigen Autoren und anständigen
Verlegern Anregungen bieten, sich das sachliche und freundliche Verhältnis zu wahren,
an dem beiden gelegen sein muß. Unwins Seiten sind an die Aristokratie der Buch-
welt gerichtet, und in ihr werden sie Widerhall finden.“
C.E.POESCHEL VERLAG / STUTTGART
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J. B. Metalersehe Bushäruckerei, Stuttgart,
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