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Full text of "Festschrift zu ehren des Kunsthistorischen Instituts in Florenz"

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FESTSCHRIFT 


ZV  EHREN  DES 


KVNSTHISTORISCHEN  INSTITVTS 


FLORENZ 


DARGEBRACHT 


KVNSTHISTORISCHEN  INSTITVT 

DER  VNIVERSITÄl'  LEIPZIG 
MDCCCLXXXXVII 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  A.  G.  LIEBESKIND 

1897. 


FESTSCHRIFT 


ZV  EHREN  DES 


KVNSTHISTORISCHEN  INSTITVTS 


FLORENZ 


DARGEBRACHT 

VOM 

KVNSTHISTORISCHEN  INSTITVT 

DER  VNIVERSITÄT  LEIPZIG 
MDCCCLXXXXVII 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  A.  G.  LIEBESKIND 

1897. 


THE  J.  PAUL  GETTY  CEMTift 
UBRARY 


LOB  DER  FLORENTINER  KUNSTWELT 

GEDICHT  DES  UGOLINO  VERINI 


MITGETEILT   VON 


HEINRICH  BROCKHAUS 


(Bihlioteca  Lauren^iana,  pliit.  ßp,  cod.  40,  Epigramme  des  Ugolino  yerini  mit  Sdihißbemerkuitg  der  Handsdirift  vom  Jahre  1491, 
Bitdi  III,    Bl.  26  und  2-j). 


De  pictoi'ibm  et  sciiltoribiis  floremtinis,  qui  priscis  grecis  equiperari  possint 

Pivthogenem  Rhodii  tabula  mmviiur  in  tum 

l/ix  aunis  illam  pinxerat  iüe  decem! 
Nicomaciis  contra  velox  monimmta  poetae! 

Egregium  parvo  tempore  fecit  opus ! 
Parrhasitis  Ephesus  sie  viira  excelluit  arte 

Simitriae  primum  cui  tribuere  deciis! 
Hos  oliin  multis  produxit  Graecia  saeclis, 

Et  paria  mgmiis  dona  fuere  suis! 
At  nmtc  pictores  huius  si  temporis  omnes 

yidisset  quanta  hos  Graecia  laude  canat! 
Ouos  uno  ima  pareris  genuif  Flormtia  saeclo! 

Quos  hausim  grais  aequiperare  viris! 
Su/nt  gemini  insignes  PuUo  cognomime  fratres, 

Quorum  alter  pictor!  scultor  uterque  bonus! 
Spira/ntes  fumdit  vultus  Antonius  aere 

Signaque  de  moüi  vivida  fingit  humo! 
Nee  minor  est  Phydias  noster  Verrodmis!  mio 

Hoc  superat  graecum  ('■)  pingit  et  aera  liquat! 


__      IV      — 

Qitis  fnerit  sciiltor  iiostra  Donatus  in  urhe 

Testaniur  nomm  vivida  saxa  suuni! 
Nee  Desiderio  spirmiti  marmore  maior 

Tbebaniis  Scopas!   Pmssitelesqiie  fuit! 
Aeqiiariqiie  sibi  noii  iiniignctur  Apelles 

Saiidriiiii!  /am  iiotum  est  nomen  ubique  simiii! 
Eradeota  licet  Zeiisis  bene  pinxeris  uvis 

Hand  tame/i  est  Tbuscus  Vinciiis  arte  minor! 
Nee  te  pictoris  sobolem  memormide  Phylippe 

Praeteream!  prinium  dignm  habere  locutn! 
Sed  longum  numerare  omnes!  nee  temporis  huius! 

Quorum  cum  tabulis  fama  permnis  erit! 

(Buch  yil,  Bl.  j6:) 

camaoulo  Christi,  quam  talmlam  PhvUppns  flormtimis  pictor  insignis  pinxit 
Regi  Pannoiüae 

Olli  cupis  aeterni  convivia  noscere  Christi 

Ultima  discipulis  cum  data  caena  fuit 
Aspice  pictoris  spirantia  dona  Phylippi 

Pictaque  non  dicest  sed  magis  ora  loqui. 

Latis  eimdeni  pictoris 

Siquis  picta  Petri  Puliensis  viderit  ora 

Hie  Petrus  est!  et  non  dicet  imago  Petri  est! 
Artifici  cessit  natura!  ut  verior  ars  sit! 

Spirantem  superat  picta  tabella  virum. 


FLORENTINER  STVDIEN 


AVGVST  SCHMARSOW 


NICCOLO  VND  GIOVANNI  PISANO 


Kaum  irgendwo  erquickt  den  Erforscher  der  Vergangenheit  so  fühlbare  Genugtuung,  als 
wenn  nach  langem  Werben  um  ihr  Verständnis  ein  Denkmal  nach  dem  andern  sich  erschliesst, 
um  das  Denken  und  Empfinden  eines  längst  begrabenen  Geschlechtes  ihm  persönlich  zu  offenbaren. 
Einst  redeten  die  Werke  der  Kunst  eine  Allen  verständliche  Sprache;  denn  Auffassung  und  Sinnesart 
ihrer  Zeit  kam  ihnen  auf  halbem  Wege  entgegen,  und  was  sie  zu  sagen  hatten,  lag  gleichsam  in 
der  Luft,  die  Künstler  und  Mitwelt  gemeinsam  atmeten.  Heute  dringen  wir  nur  langsam  zu  dem 
Kern  ihres  Wesens  durch;  die  Erscheinungsformen  nehmen  unsern  Blick  zu  sehr  gefangen,  die 
UnvoUkommenheiten  stören,  die  Eigenheiten  befremden  uns;  oft  bringt  erst  umfassendes  Vergleichen 
die  charakteristische  Note  zur  Unterscheidung.  Haben  wir  aber  einmal  erfasst,  worauf  es  ankommt, 
so  fällt  es  wie  Schuppen  von  unsern  Augen.  Wir  sehen  ein,  dass  alle  Merkmale  des  Stiles,  die  wir 
so  sorgsam  beachten  und  schildern,  doch  nur  Nebensache  sind  oder  der  vielfach  bedingte  Ausfluss 
des  Wollens,  —  dass  der  Urquell  all  dieser  Äusserungsweisen  stets  im  innersten  Seelenleben  des 
Künstlers,  seines  Volkes  und  seiner  Zeit  zu  suchen  ist,  und  dass  all  unsere  historische  Charakteristik 
an  Ausserlichkeiten  hangen  bleibt,  so  lange  die  Empfindung  selber  uns  nicht  aufgegangen  ist. 

So  sind  uns  die  beiden  bedeutendsten  Bildhauer  Italiens,  welche  die  Skulptur  des  Mittelalters 
emporgeführt,  gar  lange  ein  Rätsel  geblieben,  wie  sehr  auch  das  eifrige  Studium  der  Antike  bei 
dem  Einen,  das  leidenschaftliche  Temperament  bei  dem  Andern  ins  Auge  fielen.  Nicolaus  und 
Johannes  von  Pisa  sind  Vater  und  Sohn.  Unsere  historische  Betrachtung  ist  gewohnt,  sie  deshalb 
nahe  miteinander  zu  verbinden.  Der  Eine  blüht  von  1260 — 1280,  der  Andere  von  1278 — 132O;  sie 
gehören  also  einer  zusammenhängenden  Periode  an,  die  wir  als  „gotisch"  zu  bezeichnen  pflegen. 
Der  Sohn  ist  gar  unter  den  Augen  des  Vaters  aufgewachsen,  arbeitet  seit  1265  schon,  aktenmässig 
genannt,  gemeinsam  mit  andern  Gehilfen  in  der  väterlichen  Werkstatt  und  ist  nach  der  Kanzel  des 
Domes  zu  Siena  jedenfalls  an  dem  Brunnen  auf  dem  Domplatz  von  Perugia  so  stark  mit  dem 
Hauptmeister  beteiligt,  dass  es  Manchem  unmöglich  scheint,  das  Eigentum  des  Einen  von  dem 
des  Andern  zu  scheiden. 

Und  doch,  —  betrachten  wir  die  eigensten  Werke  des  Nicolaus  und  die  des  Johannes  nach 
einander,  ohne  des  engen  Familienbandes  zu  achten,  das  ihre  Urheber  verknüpft,  so  könnte  nach 
gewöhnlichem  Bedünken  ein  Jahrhundert  zwischen    ihnen    verflossen   sein.     Nach   dem  Zeugnis  der 


Denkmäler  ist  Nicolaus  der  spätgeborene  Sohn  einer  alten  Zeit,  Johannes  der  erstgeborene  einer 
neuen.  Und  unseres  Erachtens  sollte  dieses  Zeugnis  der  Werke  in  der  historischen  Darstellung 
Recht  behalten,  auch  gegen  den  Ausweis  des  Kirchenbuchs! 

Die  Marmorkanzel  im  Baptisterium  zu  Pisa  von  Nicolaus  und  die  Marmorkanzel  in  St.  Andrea 
zu  Pistoja  von  Johannes  sind  die  beiden  wichtigsten  Belegstücke;  denn  sie  bieten  die  nämliche  Reihe 
von  Darstellungen  und  bestätigen  so  Schritt  für  Schritt  den  weiten  Abstand,  eine  Kluft  in  der 
kurzen  Spanne  Zeit  zwischen  1260  und  1301,  wo  sie  entstanden.  Bis  jetzt  aber  hat  die  Betrachtung 
des  ersteren  Werkes  sich  immer  durch  die  Nachahmung  der  Antike,  die  unläugbar  darin  auffallen 
muss,  vom  Erfassen  der  Hauptsache  und  so  vom  eigentlichen  Verständnis  des  Meisters  ablenken 
lassen.  Deshalb  stellen  wir  eine  andere  Arbeit  an  die  Spitze:  die  Kreuzabnahme  im  Bogenfelde 
des  Nebenportales  am  Dome  zu  Lucca.  Darin  ist  enthalten,  was  Nicolaus  von  Pisa  selber  war  nach 
dem  glühenden  Wunsche  seines  Herzens;  da  ist  die  Triebkraft,  die  ihn  angespornt  hatte,  die  herr- 
lichen Überreste  antiker  Skulptur  mit  emsigem  Bemühen  anzueignen,  in  ihrem  Wesen  erkennbar. 

Aus  rohen  Stämmen  ist  ein  niedriges  Kreuz  errichtet,  mit  aufgeschütteten  Steinblöcken,  aus 
denen  der  Schädel  Adams  hervorblickt,  zur  Sicherung  am  Fusse,  und  der  Querbalken  erscheint  in 
natürlicher  Krümmung  abwärts  gebogen,  der  Linie  der  umfassenden  Wölbung  gemäss.  Von  links 
her  kommend  tritt  Joseph  von  Arimathia  mit  dem  rechten  Fuss  noch  auf  den  Erdboden,  mit  dem 
linken  gegen  den  Steinhaufen,  und  umfasst  mit  kräftigen  Armen  den  entseelten  Leib,  dessen  Hände 
schon  vom  Holze  gelöst  sind.  In  lebendiger  Bewegung  sich  selber  Halt  schaffend,  stützt  er  zugleich 
mit  Brust  und  Schulter,  die  sich  aufwärts  drängen,  die  Last  des  Körpers,  welcher  am  Kreuzesstamm 
herabgleitet,  so  dass  das  Haupt,  der  eigenen  Schwere  folgend,  seitwärts  auf  die  Achsel  des  rechten 
Armes  sinkt.  Auf  der  andern  Seite  des  Kreuzes,  rechts  gegen  das  Geröll,  kniet  Nicodemus,  bemüht 
in  dieser  kauernden  Haltung  mit  einer  Zange  den  Nagel  auszuheben,  der  beide  Füsse  auf  dem 
Brettchen  festhält.  Das  rechte  Bein  des  Gekreuzigten  ist  über  das  linke  geschlagen,  und  so  die 
Beugung  der  Knie  nach  vorn  und  links,  zu  Joseph  herüber,  geschickt  motiviert,  während  sonst  in 
allen  Krucifixen  jener  Zeit  der  schlanke  Körper  eine  weit  ausladende  Bogenlinie  bildet.  Maria  und 
Johannes  haben  die  beiden  Arme  Christi  erfasst,  der  Jünger  rechts  hinter  Nicodemus,  die  Mutter 
gegenüber  dicht  neben  Joseph,  —  an  ihren  gewohnten  Plätzen  unter  dem  Kreuz,  —  und  jeder  netzt 
sein  Teil  mit  Tränen.  Maria  trägt  den  ganzen  Arm,  wie  einst  das  Kind,  auf  ihren  Händen  und 
neigt,  darauf  niederschauend,  ihr  gramerfülltes  Haupt,  während  der  Scheitel  des  Toten  sich  dem 
ihren  nähert.  Johannes  fasst  nur  die  Hand  mit  der  seinen  und  lehnt  die  Wange  an  den  Arm,  wie 
er  einst  an  des  Meisters  Brust  gelegen.  Das  sind  die  Hauptgestalten.  Dann  folgt  der  Hauptmann 
Longinus  in  römischer  Kriegertracht.  Auf  die  Lanze  gestützt,  das  Schwert  an  der  Seite  umspannend, 
blickt  er  gläubig  auf  zu  dem  Gottessohn.  Ganz  rechts  in  der  Ecke  kniet  ein  bärtiger  Mann,  der 
auf  verhüllten  Händen  einen  Korb  hält.  Die  blutige  Dornenkrone,  die  man  vom  Haupt  genommen, 
und  die  Nägel  aus  den  beiden  Händen  sind  darin;  der  Träger  wartet,  auch  den  letzten  Nagel  zu 
empfangen,  der  soeben  gelöst  wird.  Drüben  zur  Seite  Marias  steht  eine  andere  der  Frauen,  wol 
Magdalena,  in  wehmütiges  Schauen  verloren,  und  in  der  Ecke  kniet  eine  Dritte  mit  einem  Tuch  über 
dem  Arm  und  einem  SalbÖlfläschchen  in  der  Hand,  den  Toten  für  das  Grab  zu  bereiten. 


—    5     — 

So  bildet  das  Ganze  in  dem  engen  Rahmen,  der  das  Bogenfeld  umschliesst,  einen  woldurch- 
dachten  Organismus,  der  nach  eigenem  Bildungsgesetz  in  diesem  Raum  gewachsen  scheint.  Alle 
Bewegungen  sind  klar  erfasst  und  greifen  wirksam  in  einander.  Alles  ist  echt  plastisch  in  körperliche 
Aktion  aufgelöst,  und  diese  entwickelt  sich  nicht  hastig  und  bunt,  sondern  ruhig  und  fühlbar  vor 
unsern  Augen.  Wir  haben  das  Werk  eines  Meisters  vor  uns  auf  der  Höhe  seiner  Kraft.  Die  glück- 
lichste Wahl  eines  Bewegungsmotives,  das  den  Keimtrieb  des  ganzen  Bildwerkes  enthält,  hat  diese 
Leistung  über  die  vorgeschriebenen  Bildercyklen  an  den  Kanzeln  hinausgehoben  und  ihr  die  hohe 
Anerkennung  gesichert,  die  sie  verdient.  Einsichtige  Forscher  müssen  dieses  Marrriorrelief  in  Lucca 
als  die  Krone  der  künstlerischen  Tätigkeit  des  Meisters  Nicolaus  betrachten.  Der  wahrhaft  bild- 
nerische Gehalt  auch  im  christlichen  Stoffe,  der  hier  zu  Tage  gefördert  ist,  die  grandiose  Kraft,  mit 
der  sich  physische  und  psychische  Bewegung  verbinden,  Handeln  und  Empfinden  zugleich  in  sicht- 
barer Gestaltung  erscheinen,  —  dies  Gelingen  setzt  das  eine  Werk  in  Zusammenhang  mit  den  grössten 
Meistern  der  italienischen  Skulptur,  mit  Donatello  und  Michelangelo. 

Solch  eine  Schöpfung  gelingt  nur  als  Ausdruck  der  eigensten  Sinnesart,  wenn  die  Flamme 
der  Begeisterung  aus  der  Tiefe  des  Künstlerherzens  hervorbricht.  Haben  wir  an  der  Kanzel  zu  Pisa 
vom  Jahre  1260  die  Nachahmung  antiker  Vorbilder  in  den  biblischen  Geschichten,  am  Marmorschrein 
zu  Bologna  1267  in  der  Legende  des  heiligen  Dominicus  den  ersten  Versuch  zur  Gestaltung  zeit- 
genössischen Lebens,  so  offenbart  sich  hier  in  Lucca  in  glücklichstem  Einklang  der  Ausdruck  des 
eigenen  Empfindens. 

„Wo  ein  Aufschwung  im  Gebrauch  der  Technik  stattfindet",  —  schreibt  Herman  Grimm  bei 
Gelegenheit  der  Pisanofrage  —  „dürfen  immer  Ideen  vorausgesetzt  werden,  zu  deren  Darstellung  es 
den  Meister  drängte,  die  er  jedoch  mit  der  vorhandenen  Technik  nicht  wiederzugeben  vermochte, 
die  ihn  also  zu  suchen  zwangen.  Das  allein  hätte  Nicolaus  bewegen  können,  sich  die  Mittel  der 
antiken  Meister  anzueignen.  Welche  Ideen  aber  waren  es,  die  ihn  diese  höhere  Fertigkeit  zu 
gewinnen  drängten?  .  .  .  Die  Ideen  fehlten  offenbar.  Es  wäre  also  nur  der  unbestimmte  Reiz  der 
vortrefflicheren  Arbeit  gewesen,  die  Schönheit."  — 

Ja,  die  Schönheit,  und  sie  allein!  müssen  wir  antworten.  Freilich  nicht  die  äusserlichen  Vor- 
züge der  technischen  Vollendung,  der  Wert  überlegenen  Verfahrens,  die  dem  ausübenden  Künstler, 
der  die  Kräfte  seiner  Hände  täglich  erprobt,  allerdings  Veranlassung  genug  zu  andachtsvollem 
Wundern  und  sehnsüchtiger  Einkehr  gaben,  —  besonders  dazumal,  wo  von  gleichmässig  geübter 
Technik  sehr  wenig  als  gemeinsames  Besitztum  überiiefert  ward.  Nicht  der  unbestimmte  Reiz  vor- 
trefflicherer Arbeit,  den  auch  ein  Steinmetz  noch  am  Kunstwerk  wol  empfinden  kann;  sondern  die 
Schönheit,  die  aus  allen  Gestalten  der  antiken  Überreste  immer  klar  und  lebendig  hervorleuchtet, 
die  Schönheit  des  Menschenbildes  vor  allen  Dingen,  in  ihrer  mannichfaltigen  Offenbarung,  wie  sie 
den  geringsten  Abkömmlingen  hellenischer  Kunst  noch  gelang. 

Giebt  es  denn  damals,  auch  mitten  im  christlichen  Mittelalter,  nur  christliche  Ideen,  die  den 
Bildhauer  bestimmen  konnten?  Sollte  ihm,  dem  Künstler,  sei  es  in  natürlichem  Einverständnis  mit 
seiner   besten  Anlage  und   liebsten  Betätigung,   oder   im   bewussten  Gegensatz   zu    den   asketischen 


Dogmen  der  Staatsreligion,  nicht  der  Wert  des  menschlichen  Leibes  aufgegangen  sein,  in  dem  wir 
nun  einmal  leben  und  weben?  Sollte  er,  wo  christliche  Lebensformen  diesen  Wert  entrücken  und 
verdunkeln  mochten,  nicht  beim  Anblick  der  bacchischen  Vase  und  des  Hippolytos-Sarkophages  zu 
Pisa,  wie  so  manches  andern  antiken  Beutestückes,  das  seine  seefahrenden  Landsleute  heimgebracht 
und  als  Schmuck  bei  den  Heiligtümern  der  Stadt  im  Umkreis  des  Domes  selber  aufgestellt,  in 
dieses  edelste  Mysterium  hellenischen  Natursinns  eingeweiht  sein,  ohne  dass  er  sich  verstandesklar 
darüber  Rechenschaft  gab,  wie  er  darob  zum  Heiden  werden  könne? 

Es  geht  ein  stolzes  Bewusstsein  von  der  eigenen  Kraft  des  Lidividuum.s  durch  das  Jahrhundert, 
in  dem  er  lebte;  der  Hohenstaufenkaiser,  mit  dessen  Musenhof  man  auch  diesen  antikisirenden 
Bildner  so  eifrig  zusammenzubringen  versucht  hat,  war  nicht  der  Einzige,  der  solcher  Gesinnung 
huldigte.  Gewaltige  Männer  und  stattliche  Frauen,  ausgerüstet  mit  allen  Gaben,  die  das  Dasein 
bieten  und  erfordern  kann,  übermütige  Jünglinge  und  frische  Knaben,  energisch  hässliche  Weiber 
selbst  und  wolgenährte  Mönche,  ja  strotzende  Kinder  auf  dem  Mutterarm  sind  die  Freude  der 
besten  und  vornehmsten  Kreise  damals,  die  Lust  der  Künstler  vollends  im  Norden  wie  im  Süden. 
Nur  Italien  gelangt  spät,   in  letzter  Stunde  gleichsam,  zum  bildnerischen  Ausdruck   dieses  Fühlens. ' 

Und  Nicolaus  von  Pisa  ist  der  Träger  dieses  Wollens.  Es  ist  die  allerheiligste  Idee  des 
bildnerischen  Schaffens  überhaupt,  die  ihn  beseelt.  Solche  Menschen  zu  machen  begehrt  er  mit  der 
Glut  eines  echten  Künstlerherzens,  und  das  anfängliche  Unvermögen  seiner  armselig  geschulten 
Hände  musste  dies  Verlangen  nur  steigern,  wie  unbefriedigte  Leidenschaft.  Deshalb  giebt  er  sich 
in  die  Schule  der  antiken  Kunst,  wo  er  solche  Erscheinungen  findet,  und  ringt  in  dem  sichtbaren 
Zwiespalt  zwischen  Wollen  und  Können.  Ein  herrliches  Weib,  das  er  auf  etrurischer  Aschenkiste 
ruhen  sah,  begeistert  ihn,  den  Wert  solches  Daseins  noch  einmal  zu  gestalten,  und  sie  wird  ihm 
zum  Ausdruck  des  hohen  Ideales  der  Kirche:  zur  Gottesgebärerin.  Der  Anblick  eines  vollbärtigen 
Mannes,  der  in  weinseligem  Zustand  noch  die  grossartige  Fülle  seiner  Kraft  bewahrt,  bestimmt  ihn, 
den  indischen  Bacchus  zum  Hohepriester  Jehovas  selber  zu  weihen.  Vor  der  nackten  Schönheit 
hellenischer  Jünglinge  und  den  bemähnten  Häuptern  des  edelsten  Tieres,  das  dem  ritterlichen 
Geschlecht  der  Kreuzfahrer  der  liebste  Gefährte  war,  betet  er  den  Psalmenvers:  ,.Ich  habe  Wol- 
gefallen  an  des  Rosses  Stärke  wie  an  Jemandes  Beinen,"  mit  Unterschleif  eines  einzigen  Wortes,  der 
asketischen  Verneinung,  und  in  vollstem  Einverständnis  mit  dem  Schöpfer,  der  nach  Moses  sich  am 
siebenten  Tage  eingestand,  seine  Kreaturen  seien  wol  gelungen.  Selbst  die  Juden  noch,  die  er  — 
als  elende  Spötter  unter  dem  Kreuz  —  in  den  Augen  seiner  Gemeinde  brandmarken  soll,  so  arg  es 
geht,  werden  ihm  mit  ihren  langen  Barten  und  breiten  Kapuzen  lieber  als  er  denkt,  und  sie  spielen 
gar  unerlaubt  auf  seiner  Kreuzigung  eine  prächtige  Figur.  Und  nun  sein  Christus  vollends  am 
Kreuzesstamm'.  Ist  es  nicht  ein  Heldenleib,  den  man  schmählich  an  das  Holz  genagelt,  ein  Mann 
in  der  Vollkraft  seiner  Jahre  von  herkulischer  Bildung  in  allen  Gliedern  —  gerade  so  wie  bei  Dona- 
tello!     Der  Sohn  der  Jungfrau  ist  ihm  unversehens  zum  Sohne  des  Jupiter  geworden.     Und  er  liefert 

I  Zur  selben  Zeit  reifen  in  Deutscliland  die  letzten  Meisterwerke  der  romanischen  Skulptur  wie  die  Stifterstatuen 
im  Dom  von  Naumburg  an  der  Saale  (urkundlich  um  1260!).  Vgl.  die  INIeisterwerke  der  deutschen  Bildnerei  des  Mittelalters 
herausgegeben  von  A.  Schmarsow  und  E.  v.  Flottwell,  Magdeburg.     Heft  I. 


uns  gar  den  Nachweis  dieser  Herkunft  an  der  Kanzel  zu  Pisa  selbst;  denn  da  steht  die  christliche 
Tugend  „Fortitudo"  in  der  leibhaftigen  Gestalt  des  nackten  Herakles  mit  Löwenfell  und  Keule. 

Kann  es  noch  zweifelhaft  sein,  wo  die  Ideen  zu  suchen  sind,  die  in  diesem  Bildner  nach  Aus- 
druck ringen?  Und  doch  ist  es  unbillig,  ihn  als  Heiden  und  Ketzer  zu  steinigen,  oder  auch  nur  ihm 
vorzuwerfen,  das  religiöse  Gefühl  versage  bei  ihm  durchaus.  Das  Urteil  freilich  darf  allein  bei  einer 
Aufgabe  gefällt  werden,  wo  auch  das  bildnerische  Schaffen  sein  Genüge  findet,  wo  die  christliche 
Empfindung  nicht  rein  passiv  verharrt,  und  was  die  Herzen  innedich  bewegt,  nicht  in  untätigem 
Beharren  nur  sich  offenbaren  darf.  In  diesem  Sinne  wird  uns  die  Kreuzabnahme  in  Lucca  zum 
wertvollsten  Zeugnis  seines  eigensten  Wesens,  in  diesem  Sinne  zum  Höhepunkt  seiner  Künstler- 
laufbahn. Das  religiöse  Gefühl  dieses  Mannes  ist  freilich  nicht  sentimental,  etwa  wie  das  des  heiligen 
Franciscus,  nicht  nervös  und  aufgeregt;  aber  welche  Tiefe  des  Nachempfindens  setzt  eine  Erfindung 
voraus,  wie  diese  Abnahme  vom  Kreuze!  Es  ist  der  grosse  objective  Schöpfergeist  des  echten 
Künstlers,  den  wir  vor  uns  haben;  er  denkt  wie  die  Antike,  nur  im  Gedankenkreis  seines  eigenen 
Jahrhunderts.     Das  war  für  den  Plastiker  der  höchste  Triumph. 

Damit  aber  ist  Nicolaus  von  Pisa  als  der  frühe  Vorläufer  einer  neuen  Glanzzeit  erwiesen,  die 
länger  als  ein  Jahrhundert  auf  sich  warten  Hess,  bis  Donatello  kam,  und  kein  Jahrhundert  dauerte, 
bis  Michelangelo  die  Menschenform  mit  Geist  erfüllte,  dass  sie  sprang,  —  zugleich  aber  als  der 
Letztling  einer  Kunstperiode,  die  mit  ihm  dahin  sinkt.  Denn  sowie  Nicolaus  die  Augen  schliesst, 
ist  auch  das  Trecento  in  Italien  erwacht,  und  alle  stolzen  Ideale  des  Bildners  von  Menschenwert 
und  Leibesschönheit  zerstieben  wie  die  Marmorspreu  unter  dem  genialischen  Meissel  —  des  eigenen 
Sprösslings. 

Schärfer  scheiden  sich  wol  nirgends  die  beiden  Weltanschauungen,  die  aus  der  sogenannten 
spätromanischen  und  frühgotischen  Kunst  so  sprechend  sich  auch  uns  noch  offenbaren,  als  zwischen 
Nicolaus  von  Pisa  und  seinem  eigenen  Sohn  Johannes.  Nichts  ist  lehrreicher  als  ein  vergleichender 
Blick  auf  die  Darstellung  des  Kreuzestodes  an  der  Kanzel  von  St.  Andrea  zu  Pistoja,  Giovannis 
Meisterwerk  von  1301.  Bis  auf  wenige  Zutaten  giebt  er  die  selbe  Komposition  wie  sein  Vater  an 
der  Kanzel  zu  Pisa.     Aber  welch  ein  Unterschied  in  allen  Teilen! 

Der  Christus  seines  Vaters  war  ein  Göttersohn,  eine  Hünengestalt,  die  man  ans  Kreuz  genagelt, 
ohne  ihre  Schönheit  und  Manneswürde  zu  verletzen.  Und  ein  König  bleibt  es,  der  gestorben.  Der 
Christus  des  Sohnes  hat  für  das  Leben  schon  von  Mutter  Natur  nur  spärlich  die  Gaben  entliehen, 
—  nur  soviel,  scheint  es,  um  unter  den  Erdenkindern  zu  wandeln  und  ihnen  die  Nichtigkeit  alles 
Fleisches  zu  predigen.  Im  Tode  vollends  erscheint  der  nackte  Körper,  der  am  Holze  hängt,  nur 
wie  ein  armes  gebrechliches  Gefäss  aus  Haut  und  Knochen  —  ein  Jammerbild.  Die  Brust  ist  ein- 
gefallen, der  Leib  geknickt,  der  ganze  schwache  Bau  zusammengesunken.  Nur  das  Haupt,  das  zur 
Seite  geneigt  vornüber  fällt,  bewahrt  in  seinen  edlen  durchgeistigten  Formen  selbst  im  Elend  noch 
ein  Hoheitszeichen.  Die  grosse  Seele,  die  mit  ihrer  Liebe  die  Welt  umfasst,  entfloh  aus  diesem 
dürftigen  Gehäuse,  —  das  sagt  der  Anblick,  und  das  will  er  eben.  Doch  nicht  genug;  der  Kriegs- 
knecht mit  der  Lanze  ist  gerade  im  Begriff,  das  Eisen  in  die  Seite  des  Gekreuzigten  zu  stossen,  und 


8 


links  uncPrechts  hängen  auch  die  Sünder,  die  man  mit  ihm  ans  Kreuz  gebracht,  und  blicken,  hier  mit- 
leidig und  fromm,  dort  hadernd  und  verstockt,  auf  den  Dulder,  der  nun  ausgekämpft  hat,  in  ihrer  Mitte. 
Das  ist  die  Zutat,  die  Johannes  von  Pisa  zur  Steigerung  der  Schmach  und  Not  hier  einführt,  um 
seine  Gläubigen  noch  stärker  zu  erschüttern.  Und  Entsetzen  erfasst  die  versammelten  Juden,  wie 
unter  dem  Anblick  des  Mordes.     Wie  vom  Sturme  gejagt  stürzen  sie  hinaus;  nur  betroffen,  furchtsam 


oder  schaudernd  blicken  einige  sich  um,  zu  schauen,  ob  er  tot  sei,  den  sie  hassen.  Zum  Gehen 
gewandt,  streckt  auch  der  Hauptmann  Longinus  die  Hand  empor,  zu  bekennen:  dieser  war  Gottes 
Sohn.  Drüben  aber,  wo  die  Seinen  bei  einander  stehen,  erhebt  sich  der  Schmerz  in  seiner  ganzen 
Stärke.  Wie  ein  schneidig  Schwert  durchdringt  er  die  Mutter,  die  hier  wie  tötlich  getroffen 
zusammenbricht.  Bebenden  Kniees  sinkt  sie  in  die  Arme  der  Frauen,  die  sie  sorgend  umgeben, 
und  haltend  zugleich  zum  Kreuze  emporblicken.  Johannes  fasst  ihre  Hand,  bemüht,  an  Sohnesstelle 
tröstend  teilzunehmen;  aber  das  eigene  Weh  verzerrt  sein  Antlitz,  das  sich  zum  Herrn  herumwendet, 


mit    dem    auch    er    seinen  Halt    verloren.     Lauter   denn  alle  jammert  Magdalena,    mit  aufgehobenen 
Armen,  und  richtet  ihre  Klage  wie  völlig  selbstvergessen  an  den  Toten  hin. 

So  vertiefen  sich  alle  Züge,  beleben  sich  innerlich  alle  Beziehungen  und  steigert  sich  das 
Ganze  unter  dieses  Künstlers  Hand  zu  hochgradiger  Erregung.  Alle  Ruhe  der  Personen  ist  ver- 
gessen,   alle  Schönheit    der    Formen  wie    des   Angesichts    geopfert,    nur    der  Ausdruck    dessen,    was 


die  Seele  bewegt,  wird  hervorgetrieben  und  wirksam  so  auch  dem  Betrachter  zu  Gemüte  geführt. 
Durchgehends  sind  die  Gestalten  in  kleinerem  Mafsstab  gegeben,  schlanker  und  feiner 
gebildet.  Nirgends  überwiegt  mehr  die  Freude  an  der  Erscheinung  des  stattlichen  Leibes,  sondern 
überall  nur  Bewegung  und  Anteil,  bis  zu  pathetischer  Gestikulation,  als  dringe  der  Wehlaut  aus  ihrer 
Kehle  und  stelle  das  Wort  sich  vernehmlich  ein.  Der  Körper  ist  diesem  Bildhauer  nichts  mehr  als 
das  ausdrucksfähige  Gefäss  der  Seele,  die  gewaltsam  hervorbricht  und  ungeduldig  an  dem  Gefängnis 
rüttelt,    das    ihr    volles  Ausklingen   noch   einschränkt.     Deshalb    wird   von    dem    Knochengerüst   und 


Gliederbau  des  Leibes  unter  der  Gewandung  nur  soviel  angedeutet  oder  durchgeführt,  als  zum  Ver- 
ständnis seiner  eingreifenden  Bewegung  o'der  seiner  sprechenden  Gebärde  notwendig  gefordert  wird. 

Damit  freilich  eröffnet  sich  der  Künstler  die  Darstellungsfähigkeit  der  ganzen  Tragik  christ- 
licher Stoffe,  erschliesst  er  die  ganze  hinreissende  Poesie  seelischer  Schönheit,  und  beginnt  in  genia- 
lischem Gebahren  mit  seinen  Marmorgebilden  zu  dichten,  so  reich  und  so  innig  wie  kaum  ein  Zweiter 
in  Italien.  Nicht  breit  gelagert  entfalten  sich  patriarchalische  Propheten,  sondern  wie  in  sich  hinein- 
geschlungen kauern  sie,  nur  noch  mimetische  Symbole  des  Gedankens.  Nicht  hochragend  erheben 
sich  stolze  Sibyllen  als  persönliche  Verkünderinnen  der  Wahrheit,  sondern  erbebend  empfangen  sie 
die  Kunde;  zitternden  Leibes  horchen  sie  wie  angedonnert  der  inneren  Stimme,  oder  winden  sich 
wie  ein  schwankes  Rohr  unter  dem  Sturm  der  Begeisterung.  Aber  wie  energisch  redet  der  Engel 
im  Traum  zu  den  Königen;  wie  bezeichnend  hat  er  den  linken  Arm  auf  die  Brust  des  Schlafenden 
gestützt  und  erhebt  die  Rechte  hinausweisend  in  die  weite  Ferne!  Wie  gutmütig  rührt  er  den 
schlummernden  Joseph  an  der  Schulter  und  rät  ihm  freundlich  zu  dem  Rettungsweg!  Ganz  Demut 
und  Verehrung  ist  der  greise  König,  der  seine  alten  Glieder  vor  dem  Kinde  beugt  und  das  Füsschen 
des  Kleinen  zum  Kuss  an  seine  Lippen  führt.  Welch  innige  Holdseligkeit  erfüllt  die  Mutter  bei 
dieser  Huldigung,  durch  alle  Glieder  ihres  schlanken  Leibes  bis  hinein  in  den  Blick  der  Augen,  deren 
seelenvolle  Tiefe  wir  zu  sehen  glauben!  Das  ist  die  Kunst  dieses  wunderbaren  Mannes,  dem  wir 
statt  des  Meisseis  manchmal  den  Pinsel  oder  Zeichenstift  gegeben  wünschten,  oder  daneben  alle 
Mittel  der  Sprache  gönnten,  nur  voll  zu  sagen,  was  er  im  Menschengebilde  geschaut  und  empfunden.  ^ 

Wer  möchte  läugnen,  dass  wir  damit  weit  entfernt  sind  von  dem  natürlichen  Ausgang  und 
dem  eigentlichen  Wesen  der  plastischen  Kunst,  dass  diese  Seelenbildnerei  in  Marmor  nur  noch  an 
wenigen  Banden  mit  der  leibhaftigen  Körperlichkeit  zusammenhängt,  aus  deren  freudiger  Wert- 
schätzung und  gesunder  Entfaltung  die  Gestaltenbildnerei  einst  hervorgegangen,  aus  der  sie  in  glück- 
lichem Gelingen  zur  Zeit  hellenischer  Blüte  ihre  besten  Kräfte  empfangen,  und  zu  der  auch  jetzt 
wieder  Nicolaus  von  Pisa  wie  zum  echten  Quickborn  sich  zurückgewendet  hatte! 

Man  betrachte  nur  einmal  die  jämmerliche  Figur,  die  aus  dem  antiken  Herakles  geworden, 
wo  Giovanni  ihn  als  Vertreter  der  Stärke  an  der  Kanzel  des  Domes  zu  Pisa  (jetzt  als  Fragment  im 
Camposanto)  verwendet,  also  sein  Ideal  eines  nackten  Mannes  in  vollster  Kraft,  —  und  vergleiche 
sie  mit  dem  nächsten  Vorbild,  der  Fortitudo  an  der  Kanzel  seines  Vaters  im  Baptisterium.  Sonst 
ist  es  überall  die  christliche  Entfremdung  von  der  irdischen  Grundlage  der  menschlichen  Existenz, 
eine  weit  getriebene  Durchgeistigung  der  realen  Natur,  die  wir  vor  uns  haben.  Und  sollten  wir  das 
Wesen  dieser  Bildnerkunst  Giovannis  charakterisieren,  so  müssten  wir  im  Hinblick  auf  verwandte 
Erscheinung  in  der  Architektur  wol  sagen:  ganz  ähnlich  wie  dort  die  Auflösung  des  Massenbaues 
in  einen  Gliederbau  systematisch  vollzogen  wird,  ist  es  hier  die  Auflösung  der  Körpermasse  in  ihre 
Glieder,  ja  bis  in  ihr  Knochengerüst,  die  Darstellung  der  Konstruktiven  mit  möglichster  Verringerung 
aller  nur  füllenden  und  umhüllenden  Teile. 


I  Vgl.  unsere  Abbildung  des  Christuskopfes  nach  dem  in  Holz  geschnitzten  und  bemalten  Crucifixi 
1  Pistoja  (Phot.  V.  Brogi). 


—     II     — 

Die  mimische  Funktion  jeder  Figur  in  der  Oekonomie  des  Ganzen  lässt  sich  vielfach  — 
gerade  so  wie  in  den  ergreifendsten  Malereien  des  Giotto  —  auf  ein  paar  Linien  zurückführen,  etwa 
wie  in  flüchtiger  Andeutung  des  Skelettes,  oder  so,  wie  Villard  de  Honnecourt  seine  Gestalten  ent- 
wirft. Diese  Runen  aber,  richtig  herausgezeichnet,  diese  geraden  Linien,  die  sich  hoch  aufrecken 
oder  in  sich  zusammenknicken,  diese  einfachen  Kurven,  die  sich  beugen  und  winden,  mit  den  Hebel- 
armen in  mannichfaltiger  Stellung  zu  einander,  mit  den  Ovalen  auf  der  Spitze,  die  sich  zurück  oder 
vorwärts  oder  nach  einer  Seite  neigen,  —  diese  Symbole  menschlicher  Gebärdensprache  geben  als 


Gesamtbild  das  ganze  ausdrucksvolle  Wesen,  das  leidenschaftliche  Pathos  seiner  Schöpfungen  wieder. 
Doch  wäre  es  unrichtig,  den  Charakter  der  Kunst  Giovanni  Pisanos  allein  aus  seinen  Relief- 
skulpturen bestimmen  zu  wollen,  oder  nur  die  Statuetten  herbeizuziehen,  die  an  Ecken  und  Trägern 
seiner  Kanzeln  in  fühlbarer  Abhängigkeit  vom  grösseren  Ganzen  erscheinen.  Auch  die  Freifiguren 
müssen  zu  Worte  kommen.  Sie  sind  unstreitig  durch  entschiedene  statuarische  Haltung  ausgezeichnet. 
So  die  herrliche  Madonna  im  Bogenfelde  des  Hauptportals  am  Baptisterium  zu  Pisa  oder  am 
Scrovegni-Grabmal  der  Cappella  dell'  Arena  zu  Padua,  ja  selbst  die  kleine  Elfenbeinstatuette  der 
Cappella  della  Cintola  im  Dom  zu  Prato.     Und  doch   verdanken  auch  sie   ihre  Wirkung  nicht  dem 


eigentlich  plastischen  Princip,  der  befriedigten  Entfaltung  des  ganzen  Leibes  in  seiner  ausdrucksvollen 
Bedeutung,  als  vielmehr  einer  fremden  Potenz,  deren  Erkenntnis 
wiederum  bezeugt,  was  wir  herausstellen  möchten.  Johannes 
von  Pisa  ist  trotz  der  Gestaltenfülle,  die  er  in  überströmender 
Schaffenslust  hervordrängt,  durch  und  durch  Architekt,  —  eben 
als  gotischer  Baumeister  geschult'  Seine  Statuetten  an  den 
Kanzeln  haften  mit  dem  Rückgrat  in  dem  architektonischen 
Gliede,  das  sie  schmückend  vertreten,  und  beugen  sich  in  Aus- 
übung dieser  besonderen  Funktion  unter  das  Gesetz  des  Baues, 
dem  sie  dienen.  Das  verrät  ganz  deutlich  noch  die  kleine 
Madonnenfigur  im  Museum  zu  Beriin,  die  mit  ihren  auffallend 
kurzen  Proportionen  und  ihrer  abhängigen  Haltung  unzweifel- 
haft einst  dem  Zwischenpfeiler  einer  Brüstung  vortrat.  An 
gewisser  Stelle  geht "'  die  organische  Form  gleichsam  in  die 
tektonische  über,  und  der  beseelte  Madonnenleib  wird  wieder 
zum  Marmorblock.  Dagegen  befreit  sich  die  Auffassung  beinahe 
ganz  in  der  würdigen  Priestererscheinung  am  Eckpfeiler  der 
Kanzel  zu  Pistoja,  wo  der  Meister  sich  offenbar  fast  ebenso 
unbeirrt  der  Natur  selbst  gegenüber  befindet,  wie  in  der  Porträt- 
figur des  Scrovegni  zu  Padua,  die  unabhängiger  für  sich  be- 
stehend, noch  architektonischer  befangen  bleibt.  Statt  des 
biblischen  Aaron  oder  eines  jüdischen  Leviten  giebt  Johannes 
das  persönliche  Abbild  eines  Geistlichen  aus  eigener  Umgebung 
in  Pistoja. 

Auch  aus  den  freistehenden  Statuen  des  Giovanni  Pisano 
spricht  stets  die  architektonische  Grundform.  Sie  steigen  von 
viereckigem  Sockel  zu  einem  Höhepunkte  empor,  verjüngen  sich 
konisch  nach  oben,  gipfeln  im  Kopf  fast  wie  in  einer  Spitze 
mit  Kreuzblume  darauf;  —  sie  sind  organisch  aufgelöste  Fialen- 
risen.  Oder,  geht  unser  Auge  von  der  Betrachtung  des  aus- 
drucksvollen Hauptes  der  Madonna,  der  Arme  mit  dem  lebendig 
bewegten  Kinde  aus,  so  nimmt  die  Beseelung  fühlbar  ab,  je 
weiter  wir  abwärts  blicken,  und  der  Marmorblock  als  vierkantige 
Pyramide  macht  sich  schon  im  reichen  Gewände,  das  den 
Boden  berührt,  als  tektonische  Masse  kenntlich.  Enthält  nicht 
die  Halbfigur  im  Camposanto  zu  Pisa  alles,  was  das  Frauen- 
bild als  solches  zu  sagen  hat? 


I  Also    entweder    bei   Arnolfo   dem    Kompagnon    seines  Vaters,    besonders   in    Siena,    oder    sonst    in    französischer 
Bauhütte  vor  der  Vollendung  des  Baptisteriums  und  dem  Beginn  des  Camposanto  von  Pisa. 


-     13     — 

Genug,  wir  finden  in  diesen  Einzelgestalten  des  Meisters  Johannes  nur  bestätigt,  was  wir  den 
Reliefgeschichten  bereits  abgewannen:  der  Sohn  des  Nicolaus  von  Pisa  gehört  der  strengen  archi- 
tektonischen, auf  konstruktive  Berechnung  gerichteten  Künstlergeneration;  er  ist  ein  entschiedener 
und  eifriger  Vertreter  der  „Gotik."  Aber  spricht  denn  nicht  deutlicher,  als  dieser  Einfiuss  des 
Architekten  auf  den  Bildhauer  in  einer  und  derselben  Person,  seine  Auffassung  der  menschlichen 
Gestalt  in  mannichfaltiger  Beziehung,  sein  Drang  nach  Abstreifung  des  Fleisches  zu  Gunsten  des 
mimischen  Apparates  aus  Knochengerüst  und  Sehnenbändern,  —  spricht  nicht  deutlicher  als  alles 
Übrige  die  grundverschiedene  Empfindung,  die  wir  beim  Vergleich  mit  seinem  Vater  überall  hervor- 
brechen sehen?  In  seinem  eigensten  Innern  allein  giebt  es  eine  Antwort  auf  die  Frage,  weshalb 
sich  der  Sohn  vom  Vater  losgesagt  und  die  Formen  der  Antike,  in  denen  er  geschult  war,  die 
teuerste  Errungenschaft  seines  Lehrers,  wieder  aufgab?  Mit  der  ganzen  Leidenschaft  religiöser 
Begeisterung  wirft  er  die  Schönheit  des  kraftvollen  Menschenleibes  von  sich,  um  nach  dem  Ausdruck 
der  Seele,  der  Schönheit  des  Innern  Menschen  allein  zu  ringen. 

Ist  es  erlaubt,  zwei  so  verschiedene,  so  gründlich  entgegengesetzte  Erscheinungen  in  der 
Geschichte  der  Bildnerkunst  zusammenzujochen,  weil  sie  zeitlich,  örtlich,  persönlich  so  nahe  stehen? 
Nur  das  enge  Familienband  rechtfertigt  einigermafsen  die  gewohnte  Verbindung  beider  Künstler  in 
unserer  historischen  Betrachtung;  aber  auch  nur,  so  lange  sie  eben  biographisch  bleibt.  Sobald  uns 
die  Kunst  als  notwendige  Äusserung  des  Menschengeistes,  ihre  Geschichte  als  ein  unveräusserlicher 
Teil  der  Menschheitsgeschichte  erscheint,  werden  Nicolaus  und  Johannes  von  Pisa  zu  zwei  voll- 
ständig durchgebildeten  Typen  verschiedener  Entwicklungsphasen.  Der  Vater  gestaltet  aus  einer  in 
sich  befriedigten  Weltanschauung  heraus,  der  vollen  Bedeutung  des  eigenen  Leibes  wol  bewusst, 
und  bezeugt  so  das  selbe  Daseinsgefühl  in  Italien,  das  eine  Reihe  glücklicher  Meisterwerke  französi- 
scher und  deutscher  Skulptur  uns  für  den  Norden  ausser  Zweifel  stellt.  Der  Sohn,  im  Vollbesitz 
dieses  Könnens,  gerät  in  offenen  Zwiespalt  mit  diesem  Ideal  der  spätromanischen  Kunst,  und  wirft 
sich  mit  Eifer  der  kirchlichen  Auffassung  in  die  Arme,  welcher  dieser  irdische  Leib  nur  als  eine 
vergängliche,  wertlose,  ja  hassenswerte  Hülle  gilt,  die,  so  lange  wir  in  ihr  hausen,  nur  als  aus- 
drucksfähiges Gefäss  der  unsterblichen  Seele  Bedeutung  empfängt.  Wie  die  Kirche  den  Einzel- 
menschen nur  als  Glied  des  strenggeordneten  Gottesreiches  anerkennt,  so  gestaltet  dieser  Architekt 
seine  Menschengebilde  nur  in  Abhängigkeit  vom  strenggegliederten  Aufbau  eines  grösseren  Ganzen 
und  wird  so  zum  ausgeprägten  Vertreter  des  „gotischen"  Empfindungslebens. 

Der  Bruch  zwischen  Vater  und  Sohn  bedeutet  die  Scheidung  zweier  Menschenalter,  zweier 
langen  grossen  Kunstperioden,  in  die  das  ganze  Mittelalter  sich  auseinanderlegt' 


'  Der  Aufsatz  ist  zuerst  in  „Nord  und  Süd"  L.  152  erschienen;  Näheres  dann  ausgeführt  in  des  Verfassers 
a",  Breslau,  .Schottländer  1890. 


ANDREA  PISANO 


Es  giebt  Künstler,  deren  Schöpfungen  so  sehr  im  Mittelpunkt  ihrer  Kulturepoche  stehen, 
dass  wir  ferne  Geschlechter  sie  unwillkürlich  als  typische  Äusserungen  des  Zeitgeschmackes  betrachten. 
So  verschwindet  die  Persönlichkeit  des  Meisters  für  uns  hinter  seinem  Werke,  wir  vergessen  die 
schöpferische  Tat,  die  dazu  gehörte,  gerade  diesen  Inhalt  in  dieser  Form  vollendet  und  mustergiltig 
zum  Ausdruck  zu  bringen,  und  statt  des  einen  hochbegabten  Mannes  wird  uns  der  Zeitgeist  zum 
Urheber  solcher  Gebilde.  Das  Eigentumsrecht  verschiebt  sich,  ohne  dass  wir  uns  bewusst  werden, 
dem  Einzelnen  Unrecht  zu  tun,  und  wir  sind  um  so  mehr  aufgelegt,  seinen  eigensten  Anteil  zu 
unterschätzen,  je  glücklicher  und  harmonischer  die  Verkörperung  gelungen,  je  weniger  wir  von  der 
Mühe  und  Anstrengung  merken,  welche  die  Arbeit  gekostet.  Ja,  wir  vergehen  uns  wohl  schlimmer 
noch,  wenn  die  Formen,  rein  und  fliessend,  den  Inhalt  klar  und  unverkümmert  versinnlichen;  wir 
denken  geringer  von  der  geistigen  Bedeutung  des  Künstlers,  der  vollendet  schafft,  als  von  dem,  der 
sichtlich  zu  kämpfen  hat,  der  Rätsel  aufgiebt  und  Dunkelheiten  übrig  lässt.  Nur  der  Letztere  scheint 
uns  gedankenvoll,  während  der  Andere  nur  ausspricht,  was  in  der  Luft  lag,  oder  als  Werkzeug  einer 
höheren  Inspiration  hervorbringt,  was  diese  ihm  eingiebt. 

So  verfahren  wir  mit  Raphael  gegenüber  Michelangelo,  so  mit  Overbeck  gegenüber  Cornelius, 
so  mit  Thorwaldsen  und  vielen  anderen.  In  gewisser  Beziehung  kann  man  dasselbe  sagen  von  dem 
Hauptvertreter  florentinischer  Wandmalerei  vor  Raphael,  Domenico  GTiirlandajo.  In  vollem  Umfange 
möchten  wir  es  von  dem  Manne  behaupten,  dem  unsere  heutige  Betrachtung  gelten  soll,  von  dem 
edelsten  Meister  gotischen  Bildnerstiles  in  Toscana,  Andrea  Pisano. 

Er  steht  mit  seinen  Bronzetüren  am  Florentiner  Baptisterium  recht  eigentlich  im  Mittelpunkt 
plastischen  Schaffens  während  der  ganzen  Epoche,  die  wir  mit  dem  Namen  „Trecento"  oder 
„Gotik"  bezeichnen.  Giovanni  Pisano  ist  ihr  Begründer,  Orcagna  ihr  heimlicher  Zerstörer,  Andrea 
Pisano  ihr  reinster  Repräsentant,  gleichsam  Idealtypus  für  das  Wollen  und  Können  dieses  Stiles,  — 
und  hat  deshalb  das  Schicksal,  von  uns  als  Durchschnittsmafs  behandelt  zu  werden,  als  „Commonplace", 
wie  die  Engländer  sagen,  —  ebenso  unverdient,  wie  Domenico  Ghirlandajo  und  Raphael. 

Andrea  Pisanos  Reliefs  an  der  Pforte  des  Baptisteriums  sind  für  alle  Marmorbildner  und 
Goldschmiede  seiner  Tage  zu  Florenz  eine  Schule  des  Geschmacks  geworden.  Selbst  Lorenzo 
Ghiberti,    der   gefeierte   Meister  der  beiden  anderen  Bronzetüren,    verdankt  diesem  Vorgänger   ein 


—     15    — 

gut  Teil  seines  Könnens  und  seiner  Weisheit,  die  ihn  zu  den  herrlichsten  Verwirklichungen  der 
Schönheit  befähigten.  Nach  diesen  Früchten  der  Folgezeit,  die  unmittelbar  daneben  vor  aller  Augen 
stehen,  betrachten  wir  die  Leistungen  Andreas  fast  als  selbstverständliche  und  natürliche  Voraus- 
setzungen, und  vergessen,  dass  sie  neue  Taten  sind,  deren  Zustandekommen  selbst  noch  Er- 
klärung heischt. 

Statt  einer  hölzernen  Türe,  die  aus  kleineren,  mehr  oder  weniger  vielteilig  zusammengesetzten 
Platten  und  festem  Rahmenwerk  herum  bestand,  und  höchstens  zu  festerer  Haltbarkeit  mit  Eisen- 
blech beschlagen,  mit  Nägelköpfen  besetzt  und  mit  ausgeschnittenen  Zierstücken  innerhalb  der 
Kassetten  geschmückt  war,  jetzt  eine  ganz  eherne  Türe  in  Bronzeguss  herzustellen,  bedeutet  einen 
grossartigen  Entschluss  der  florentinischen  Gemeinde.  Es  galt  den  Wettstreit  mit  Pisa  aufzunehmen, 
das  bis  dahin  durch  seine  glänzenden  Bauten,  seine  Architekten  und  Bildner  weit  und  breit  berühmt 
war,  ja  den  Mittelpunkt  monumentalen  Schaffens  zu  bilden  schien.  Jetzt  war  auch  in  Florenz  von 
anderer  Seite  her  ein  Anfang  gemacht  worden.  Nicht  die  Plastik,  sondern  die  Malerei  war  durch 
Cimabue  und  Giotto  zu  gleicher  Höhe  getragen,  daneben  auch  hier  gebaut,  und  wie  der  Dom  zu 
Pisa  mit  ehernen  Türen  prangte,  sollte  nun  auch  am  Tempel  des  Schutzpatrons  von  Florenz 
S.  Giovanni,  dem  Dom  gegenüber,  ein  ähnliches  Werk  den  Stolz  der  Weifenstadt  verkünden. 

Aber  in  Florenz  sind  damals  ausser  seinen  Malern,  oder  gar  dem  einzigen  Giotto,  nur  Gold- 
schmiede auf  der  einen  und  Steinhauer  auf  der  andern  Seite  vorhanden.  Die  Bildnerei  hatte  bisher 
keine  Stätte  gefunden;  ja  es  ist  merkwürdig  zu  sehen,  wie  die  grossen  Meister  von  Pisa,  Niccolo, 
Fra  Guglielmo,  Giovanni  Pisano  und  ihre  Genossen  an  den  Toren  von  Florenz  vorbeigehen,  nach 
Lucca  und  Siena,  nach  Pistoja  und  Bologna,  nach  dem  entlegenen  Padua  nordwärts  und  nach 
Perugia,  nach  Neapel  südwärts  berufen  werden,  selbst  in  unmittelbarster  Nähe  zu  Prato  erscheinen, 
während  die  Hauptstadt  Toscanas  kein  Werk  ihrer  Kunst  aufweist.  Florentinische  Steinmetzen 
werden  ihre  Schüler,  aber  wandern  aus  und  finden  anderswo,  wie  in  Siena  z.  B.  ihre  Wirksamkeit. 
Auch  Andrea  di  Ugolino,  aus  Pontedera  gebürtig,  nennt  sich  wie  mit  einem  Ehrentitel  „Pisano". 

Ein  Goldschmied  wird  zum  Vertrauensmann  der  Arte  di  Callemala  gewählt,  als  diese 
Genossenschaft,  der  die  Sorge  für  das  Baptisterium  oblag,  den  Beschluss  fasste,  eine  Bronzetür 
machen  zu  lassen.  Piero  di  Jacopo  erhält  den  Auftrag,  nach  Pisa  zu  gehen,  die  ehernen  Pforten 
des  Domes  genau  zu  prüfen  und  eine  sorgfältige  Abbildung  davon  anzufertigen.  Dann  soll  er  nach 
Venedig  reisen,  um  einen  guten  Meister  in  Metallguss  zu  finden.  Also  was  heisst  das?  In  Florenz 
war  kein  Mann  vorhanden,  welcher  der  eigentlichen  Technik,  auf  die  es  ankam,  näher  gestanden  wäre. 
Auch  in  Pisa,  wo  um  1180  Bonannus  die  ehernen  Türen  des  Domes  gearbeitet,  von  denen 
wenigstens  eine  noch  erhalten  ist,  und  wo  er  andere  für  Süditalien,  nach  Monreale  geliefert,  erwartet 
man  im  Jahre  1329  nicht  mehr  einen  Bronzegiesser  aufzutreiben!  Die  Technik  scheint  wieder  ver- 
loren gegangen,  wenigstens  ausser  Übung  gekommen.  Und  in  der  Tat  muss  man  sich  aus  Ober- 
italien einen  Glockengiesser  requirieren,  Lionardo  del  fu  Avanzo  da  Venezia,  der  sich  dann  einem 
so  umfangreichen  Werk  sogar  nicht  gewachsen  zeigt.  Der  Guss  der  Türflügel  fällt  so  krumm  aus, 
dass  man  sie  nicht  aufstellen  kann.  Ein  florentincr  Goldschmied,  Piero  di  Donato,  soll  dem  ab- 
helfen; aber  er  getraut  sich  nicht,  aus  Furcht,    die   kunstreichen  Reliefs  Andrea  Pisanos  vollends  zu 


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verderben.  Endlich  muss  dieser  selbst  das  Heilverfahren  auf  eigene  Verantwortung  übernehmen, 
offenbar  indem  er  den  Venezianer  Lionardo  d'Avanzo,  der  alles  Vertrauen  eingebüsst,  wieder  heranzog. 
Denn  das  ist  wol  zu  beachten,  auch  Andrea  Pisano  steht  der  Technik  des  Bronzegiessens,  beim 
Beginne  der  Arbeit  wenigstens,  fern.  Goldschmiede  sind  seine  Berater,  seine  Mitarbeiter,  ja  vielleicht 
seine  Richter.  Die  Florentiner  Piero  di  Jacopo,  Lippo  di  Dino  und  Piero  di  Donato  werden  ihm 
beigegeben,  wo  es  sich  um  die  Ciselierung  des  Gusses  und  um  die  Vergoldung  der  Tafeln  handelt. 
Er  selbst  mag  unter  Giovanni  Pisano  als  Marmorbildner  und  Architekt  beschäftigt,  vielleicht  auch  in 
Elfenbeinschnitzerei  und  getriebener  Goldschmiedsarbeit  erfahren  gewesen  sein.  Auf  die  Grundlagen 
der  Comaskentradition  zwischen  Pisa  und  Pistoja  weisen  dagegen  die  Vorzüge  wie  die  Schranken 
seiner  Relief kunst.'  Manches  Symptom,  das  wir  während  des  Fortgangs  der  Arbeit  beobachten,  findet 
nur  so  seine  Erklärung.  Besonders  zu  Anfang  behalten  seine  Gebilde  vielfach  das  Aussehen  von  Gold- 
schmiedsarbeit, d.  h.  von  halb  erhabenen,  aus  feinem  Metallblech  getriebenen,  oder  gar  auf  die  Fläche 
aufgelöteten  Figuren ;  ebenso  die  Architekturteile,  die  Möbel  und  die  sonstigen  Requisiten,  die  Felsen 
und  Bäume  selbst,  die  er  hier  und  da  zur  Inscenierung  braucht.  Erst  allmählich  findet  er  sich  in 
die  Bedingungen  des  einheitHchen  Bronzegusses  hinein,  und  es  ist  durchaus  nicht  notwendig  oder  nur 
wahrscheinlich  anzunehmen,  dass  die  Wachsmodelle,  die  er  vom  22.  Januar  bis  2.  April  1330  herstellte, 
samt  und  sonders  ohne  Umgestaltung  oder  Besserung  so  gegossen  worden.  Im  Gegenteil,  wir  glauben, 
dass  er  in  den  zwei  Jahren  vertrauter  Zusammenarbeit  mit  dem  Giesser  Lionardo  1330 — 1332,  die 
künstlerische  Tat  vollzogen  hat,  die  wir  ungeteilt  bewundern:  die  Eroberung  eines  wohl  abgewogenen, 
harmonischen  Reliefstils.  Damit  geht  er  einen  völlig  andern  Weg  als  seine  pisanischen  Meister  und 
erreicht  für  die  italienische  Plastik  gotischer  Gesinnung  eine  Idealität  der  Formen  und  eine  Reinheit 
des  Geschmackes,  die  gerade  im  Gegensatz  zu  diesen  Vorgängern  eine  Segnung  ,der  florentinischen 
Kunst  geworden  sind.  Der  Grundzug  seiner  Komposition  bleibt  die  einfache  Reihung  der  Comasken. 
Die  Marmorreliefs  des  Giovanni  Pisano  sind  vielfach  mit  Figuren  überfüllt,  jedes  Plätzchen 
der  Marmorplatte  benutzt,  gleichgültig  ob  die  Gestalten  ganz  und  in  ihrer  Haltung  verständlich  sich 
entfalten  oder  nur  halb  sichtbar,  ohne  verfolgbaren  Unterkörper,  in  unnatürlicher  Verschrobenheit 
sich  hinter  den  Vorderen  hindurchwinden.  Keine  Rücksicht  auf  einheitliches  Grössenverhältnis 
dämmt  diesen  Überreichtum  ein,  der  über  die  Ränder  hervorquellend,  von  tiefen  Höhlungen  und 
kühner  Bohrarbeit  durchfurcht  wird.  Diese  Nachahmung  der  spätrömischen  Sarkophagreliefs  mit 
ihren  starken  Kontrasten  von  Licht  und  Schatten  wird  von  Andrea  Pisano  nirgends  auf  seine  Bronze- 
arbeit übertragen.  Er  beschränkt  sich  auf  wenige  Gestalten  und  eine,  höchstens  zwei  Reihen,  die 
hintereinander  gedacht  werden.  Selbst  in  der  malerischen  Entwickelung  der  Raumtiefe  ist  er  äusserst 
zurückhaltend,  gerade  weil  er  von  comaskischer  Bauskulptur  ausgehend  der  Leistungsfähigkeit  des 
Bronzegusses  nicht  allzuviel  zumutet,  und  steht  so  im  natürlichen  Gegensatz  auch  gegen  Maler 
wie  Giotto  und  noch  mehr  Orcagna,  wo  diese  für  Marmorrelief  gedacht  haben.  Das  Einzige,  was 
I  Die  Herkunft  aus  gleicher  Schule  nach  Guido  da  Como  und  den  Urhebern  der  Martinslegende,  des  Monatscyklus  und 
der  Porta  S.  Regolo  am  Dom  zu  Lucca  ergiebt  sich  auch  aus  dem  Vergleich  der  Einzelarbeit  bis  in  technische  Gewohn- 
heiten, die  bei  Niccolo  wie  bei  Giovanni  Pisano  nicht  vorkommen.  Auf  dieser  Grundlage  sodann  erfolgt  die  Ausbildung 
des  gotischen  Stiles,  der  durch  Arnolfo  oder  Giovanni  Pisano  vermittelt,  oder  aber  in  französischer  Bauhütte  selbst  an- 
geeignet sein  mag. 


an  gleichzeitigen  Vorbildern  sonst  herangezogen  werden  könnte,  wären  die  Relieftafeln  am  Marmor- 
brunnen zu  Perugia,  die  Niccolo  und  Giovanni  Pisano  zwischen  1277 — 1280  gearbeitet  hatten,  oder 
in  Florenz  näher  liegend,  obgleich  heute  allzusehr  entrückt  und  vergessen,  das  Grabmal  des  Patriarchen 
von  Aquileja,  Gastone  della  Torre  (7  1317)  im  Klosterhof  von  Sta.  Croce  und  das  des  Bischofs 
Orsi  (f  1321)  im  Dome,  das  Tino  di  Camaino  von  Siena  bis  1323,  wo  er  nach  Neapel  ging,  an 
der  Innenseite  der  Fassadenmauer  neben  dem  Hauptportal  vollendete.  Gerade  hier  ist  mancherlei 
Verwandtschaft  erkennbar,  wie  denn  diese  Beispiele  von  sienesischen  Händen  aus  „Pisaner"  Schule 
für  die  florentinische  Skulptur  die  aufmerksamste  Beachtung  verdienen. 

Für  Andrea  Pisanos  Reliefstil  war  es  vielleicht  bedeutsamer,  dass  seine  Erfindung,  wie  bei  allen 
Comasken  vor  ihm,  von  der  tektonischen  Bestimmung  des  ganzen  ihm  aufgetragenen  Werkes  geregelt 
ward.  Wenn  statt  einer  hölzernen  Türe  eine  bronzene  verlangt  wird,  so  behält  der  herkömmliche 
Charakter  eines  Türschmuckes  doch  sein  Recht.  Die  beiden  Flügel  werden  durch  schmale  Längs- 
und Querstreifen,  welche  dem  üblichen  Rahmenwerk  entsprechen,  in  achtundzwanzig  Felder  geteilt, 
die  je  vier  nebeneinander,  in  sieben  Reihen  untereinander  geordnet  sind.  Dieses  stärkere  Gerüst  ist 
überall  auf  den  Kreuzungen  der  Leisten  mit  Löwenköpfen  besetzt,  welche  die  Stelle  der  stärksten 
Nägel  bezeichnen,  und  dazwischen  läuft  eine  Reihe  kleinerer  Nagelköpfe  oder  Rosetten  hin.  Die 
inneren  Felder,  deren  Fläche  sonst  aus  dünnerem,  vielleicht  schräggefasertem  Holze  oder  aus 
kleineren,  zu  symmetrischen  Mustern  zusammengeleimten  Stücken  besteht,  werden  auch  wol  farbig 
gehalten,  mit  ausgeschnittenen  Figuren  aus  Eisenblech  beschlagen,  damit  entweder  das  dunkle  Eisen 
auf  hellem  Grunde  oder  umgekehrt  das  vergoldete  Metall  auf  dunkler  Platte  sich  abhob.  Diese  alte 
Weise  wirkt  auch  hier  in  gewissem  Sinne  nach,  wo  statt  des  flachen  Ornamentes  figürliche  Gebilde 
in  erhabener  Arbeit  das  Kassettenfeld  beleben.  Noch  immer  ist  es,  gleichwie  bei  Bauskulptur,  in 
erster  Linie  die  Flächendekoration,  von  der  des  Künstlers  Vorstellung  ausgeht. 

Die  Tür  eines  Gebäudes  hat  sich  ausserdem  als  ein  Teil  des  monumentalen  Gesamt- 
organismus an  ihrer  Stelle  einzuordnen  und  deshalb  bestimmten  Gesetzen  der  architektonischen 
Umgebung  Rechnung  zu  tragen,  ja  mehr  noch  als  ein  fortlaufender  Cyklus  von  Wandmalereien  im 
Innenraum,  den  Anforderungen  der  strengen  Schwesterkunst  zu  genügen.  Wie  jeder  Türflügel  in 
zweimal  sieben  rechteckige  Kassetten  geteilt  ist,  wiederholt  sich  innerhalb  dieser  Felder  ein  innerer 
Rahmen,  und  zwar  in  der  Form  eines  gotischen  Vierpasses,  der  von  einer  aufrechtstehenden  Raute 
und  vier  aus  den  Seiten  heraustretenden  Halbkreisen  gebildet  wird.  Da  diese  symmetrischen  Rahmen 
mit  ihren  Halbkreisen  die  inneren  Winkel  des  umschriebenen  Rechtecks  ausfüllen,  mit  ihren  Spitzen 
dagegen  die  Mittelpunkte  der  vier  Seiten  markieren,  so  wird  durch  diese  Form  gleichsam  die  vertikale 
und  die  horizontale  Mittelaxe  betont,  so  dass  die  Verteilung  der  Massen  innerhalb  der  „Compassi"  d.  h. 
die  Komposition  des  Bildners  von  selbst  auf  symmetrisches  Gleichgewicht  hingeleitet  wird,  ebenso  wie 
das  Auge  des  Beschauers  bewusst  oder  unbewusst  die  Macht  dieser  Linien  empfindet.  Betonen  diese 
Graden  das  Bestehende,  so  fallen  den  Kurven  (also  den  Diagonalen)  die  Erweiterungen  zu,  die  darüber 
hinausweisen.  Dort  Beharrung,  hier  Bewegung;  —  dort  gesetzmässiger  Zusammenhalt,  Geschlossenheit 
in  sich,  hier  vitaler  Zusammenhang,  Abhängigkeit  von  Incommensurablem  ausserhalb;  —  dort  Kon- 
stitutives, hier  Transitorisches. 


—     i8     — 

Die  fünf  oberen  Reihen  der  Kassetten  sind  der  Geschichte  Johannes  des  Täufers  gewidmet, 
die  uns  ausführlich  in  zwanzig  Bildern  erzählt  wird,  jedoch  so,  dass  die  ersten  zehn  am  linken  Tür- 
flügel der  anderen  Hälfte  am  rechten  vorausgehen.  Die  beiden  untersten  Felderreihen  sind  mit 
Einzelfiguren  von  Tugenden  besetzt  und  bilden  gleichsam  den  Sockel,  der  ungefähr  eine  Stelle  ein- 
nimmt wie  die  unten  herumlaufende  Holzvertäfelung  in  einem  Zimmer  zu  den  darüber  befindlichen 
Wandgemälden  oder  Gobelins. 

Die  vier  weltlichen  Tugenden:  Fortitudo,  Temperantia,  Justitia  und  Prudentia  machen  den 
Anfang;  dann  steigen  wir  zu  den  christlichen  auf,  deren  Dreizahl:  Spes,  Fides  und  Caritas  aber 
nicht  ausreichte  und  deshalb  durch  die  Humilitas,  eine  mönchische  Tugend  ergänzt  ward,  die  damals 
besonders  in  Verehrung,  wol  auf  Betrieb  der  Bettelorden  sogar  unter  die  Heiligen  geraten  ist. 
Beide  Reihen  sind  wieder  sj-mmetrisch,  wie  ein  äusseres  und  ein  inneres  Paar  korrespondierender  Glieder, 
behandelt:  die  beiden  inneren  Figuren  thronen  ganz  von  vorn  gesehen  in  ruhiger  Majestät,  die 
beiden  äusseren  sind  mehr  in  Profil  einander  zugewendet.  Und  das  ist  nicht  gleichgültig  für  die 
Charakteristik  ihres  Wesens.  Der  Glaube  und  die  Gerechtigkeit  forderten  an  sich  schon  eine  solche 
Darstellung  wie  ein  unverändertes  Prinzip;  Mässigung  und  Liebe  haben  sich  gefallen  lassen  ebenso 
behandelt  zu  werden.  So  erscheint  die  erstere  nicht  wie  sonst  gewöhnlich  mit  zwei  Gefässen,  in 
Begriff,  den  Inhalt  des  einen  behutsam  ins  andere  zu  giessen,  sondern  mit  dem  Schwert  in  der 
Hand,  das  sie  soeben  in  die  Scheide  gestossen,  mithin  als  Selbstüberwindung  beim  jähen  Ausbruch 
des  Zornes.  Die  Caritas  aber  wird  nicht  als  Mutter  geschildert,  die  das  Verlangen  zahlreicher  Kinder 
zugleich  befriedigt,  sondern  mit  den  ungewöhnlicheren  Attributen,  einem  Füllhorn  in  der  einen  und 
einem  Herzen  in  der  anderen  Hand,  Dagegen  ist  bei  den  übrigen  vier  die  lebendige  Bewegung 
gerade  dadurch  motiviert,  dass  sie  den  ruhig  thronenden  Mächten  gegenüber  mehr  in  Tätigkeit 
gezeigt  werden.  Sehnlich  verlangend  wendet  sich  die  Hoffnung  ihrem  Ziel,  der  Krone  des  ewigen 
Lebens,  entgegen  und  spricht  so  ihr  eigenstes  Wesen  aus.  Und  die  Demut,  ihr  gegenüber,  erhebt  in 
der  Rechten  die  Kerze,  während  sie  mit  der  Linken  das  Schleiertuch,  das  ihr  Haupt  verhüllt, 
zusammenhält,  wie  im  Begriff  sich  ehrfürchtig  zu  verneigen.  Die  Stärke,  mit  dem  Schild  am  Arm,  dem 
Löwenfell  um  den  Nacken  und  der  erhobenen  Keule  in  der  Rechten,  ist  bereit,  ihre  Kraft  im  Handeln 
zu  bewähren,  und  darauf  gerade  kommt  es  an.  Die  Klugheit,  ihr  gegenüber,  mit  dem  Doppelantlitz, 
beobachtet  die  Schlange  in  ihrer  Hand,  als  wollte  sie  Vorsicht  und  Verschlagenheit  von  ihr  lernen ;  das 
Attribut  in  ihrer  Linken,  das  jetzt  abgebrochen  ist,  war  wol  ein  Spiegel,  wie  die  Nachahmung  dieses 
Vorbildes  am  Glockenturm  beweist.  —  Selbst  die  Wahl  der  Plätze  für  die  seitlich  nach  der  Mittelaxe 
bewegten  Figuren  ist  absichtsvoll  so  getroffen,  dass  jede  dieser  Gestalten:  Spes  und  Fortitudo  links, 
Humilitas  und  Prudentia  rechts,   die  Türangel   hinter   sich  haben,   um  die  sich  der  Flügel  dreht.  — 

Wenn  in  dem  Sockel  des  Ganzen  so  sinnreich  die  Gesetze  monumentaler  Kunst  beobachtet 
sind,  so  dürfen  wir  voraussetzen,  dass  auch  in  der  Hauptarbeit,  den  Geschichten  Johannes  des  Täufers 
die  Erfindung  nicht  minder  sorgsam  und  umsichtig  verfahren  sei.  Versuchen  wir  es,  die  Kompositionen 
daraufhin  zu  betrachten. 

Bei  der  „Verkündigung  an  Zacharias"  sehen  wir  die  Symmetrie  der  Anordnung  vollständig 
gewahrt:  links  der  Engel,   rechts  der  Hohepriester,  einander  gegenüber;    in   der  Mitte  der  Altar  mit 


—     19    — 

der  ewigen  Lampe,  die,  von  einem  Baldachin  herabliängend,  gleichsam  das  Zi.inglein  an  der  Wage 
vorstellt.  Noch  schwingt  das  Rauchfass  des  Priesters;  es  ist  also  der  erste  Moment,  wo  der  Engel  — 
nah  und  doch  unnahbar  zugleich  —  erscheint.  Doch  kein  Zeichen  der  Bestürzung,  des  Erschreckens; 
sondern  ruhig  und  würdevoll,  wie  es  im  Allerheiligsten  des  Temj^els  nicht  anders  sein  darf,  geschieht 
auch  diese  Begegnung  zwischen  dem  überirdischen  Boten  und  dem  Diener  Gottes  auf  Erden.  Die 
unsichtbare  Mittelaxe  der  Komposition  trennt  die  Bewohner  zweier  Welten. 

Eine  andere  Bedeutung  gewinnt  dasselbe  Verhältnis  der  Massen,  sowie  die  Dominante  sichtbar 
verkörpert  wird.  Die  folgende  Scene  bietet  Schwierigkeit  genug  für  die  bildliche  Darstellung;  denn 
sie  soll  erzählen,  dass  Zacharias  plötzlich  seine  Sprache  verloren  hat,  aus  dem  Tempel  tretend  nicht 
zu  sagen  vermag,  was  ihm  geschehen.  Er  deutet  auf  seinen  Mund  und  begleitet  diese  Erklärung 
mit  einer  Gebärde  der  andern  Hand,  fast  wie  mit  Achselzucken,  während  die  Ältesten  des  Volkes 
ihn  erstaunt  anblicken.  Er  .steht  allein  auf  der  einen  Seite  als  die  Person,  auf  die  sich  alle  Auf- 
merksamkeit richtet;  aber  damit  ist  die  Hauptsache  noch  nicht  gesagt.  Dieser  Auftritt  selber  wäre 
stumm  und  unverständlich  für  den  Beschauer,  ohne  eine  Mittelperson,  die  den  Zusammenhang 
begriffen  hat  und  erklärt.  Deshalb  stellt  der  Künstler  mitten  hinein  die  Figur,  deren  Gebärdensprache 
Antwort  und  Auslegung  enthält,  deren  wir  bedürfen:  der  Chorführer,  mit  dem  Antlitz  zu  seinem 
Gefolge,  weist  mit  der  einen  Hand  auf  den  Hohenpriester,  mit  der  anderen  nach  oben,  zum  Zeichen, 
dass  es  die  Macht  des  Höchsten  war,  die  hier  eingegriffen.  Diese  Gestalt  mit  der  dreifachen 
Beziehung  nach  links,  rechts  und  oben  ist  die  A.xe,  um  die  sich  der  ganze  Vorgang  dreht. 

Die  volle  Schönheit  seiner  liebenswürdigen  Natur  entfaltet  Andrea  in  der  „Begegnung  Marias 
mit  Elisabeth".  Wie  ein  mittleres  Dreieck  hebt  sich  heraus,  wo  die  Frauen  einen  Augenblick  in 
Umarmung  innig  vereint  sind.  Ohne  Begleitung  und  doch  würdig  aus  der  Pforte  ihres  Hauses 
hervorgetreten,  empfängt  Elisabeth  als  gastliche  Wirtin  die  Ankommende,  und  während  ihre  Hand 
den  Leib  der  Gebenedeiten  berührt,  schaut  sie  ihr  voll  ins  Auge;  denn  in  ihr  jubelt  es  auf  bei  dieser 
Gelegenheit,  und  eine  Ahnung  der  Zukunft  durchzuckt  beide  Wesen.  Vornehm  und  bescheiden 
zugleich  ist  Maria,  die  freundlich  den  Blick  der  mütterlichen  Freundin  erwidert.  Da  sie  einen  weiten 
Weg  gemacht  hat,  folgt  ihr  wie  billig  eine  Begleiterin.  Aber  auch  diese  ist  so  edel  und  fürstlich 
in  ihrem  Auftreten,  so  anmutig  in  ihrer  zurückhaltenden  Bewegung,  wie  sie  stehen  bleibend  voll 
Anteil  das  Wiedersehen  der  heiligen  Frauen  betrachtet,  dass  wir  uns  in  auserwählte  Kreise 
aristokratischer  Gesellschaft  aus  den  Tagen  des  Künstlers  selbst  versetzt  glauben.  Gerade  die  leise 
Störung  des  Gleichgewichtes  in  dem  Umkreise  der  ruhig  sich  heraushebenden  Mittelgruppe,  das 
Vortreten  des  jungen  Fräuleins  und  das  Zurücktreten  der  Pforte  hinter  Elisabeth,  bewirkt  den  Eindruck 
des  Vorwärtsgehens,  wie  er  zum  Verständnis  des  Augenblickes  verlangt  wird. 

Weit  zurück  hinter  diesem  Meisterstück  bleibt  die  Komposition  der  „Geburt  Johannis"  die  uns 
gleichsam  ein  früheres  Stadium  der  Unsicherheit  des  Bildners  in  der  Handhabung  seiner  Mittel,  ja 
in  der  technischen  Behandlung  des  Reliefs  erkennen  lässt.  Mehr  als  anderswo  zeigt  sich  die 
Anheftung  der  einzelnen,  wie  für  sich  ausgeschnittenen  Bestandteile  auf  die  glatte  Fläche  des  Hinter- 
grundes. Vorn  auf  schmaler  Konsole  sitzen  die  Mägde,  die  das  Kindlein  baden:  die  eine  das  Leinen- 
tuch haltend,  die  andere  mit  dem  Knäblein  auf  dem  Schoss,  im  Begriff  die  Finger  einzutauchen,  ob 


das  Wasser  auch  zu  heiss  sei,  —  also  eigentlich  zwei  Momente,  vor  und  nach  dem  Bade  bedeutend. 
In  der  Mitte,  höher  hinauf,  ruht  auf  dem  Lager  hingestreckt  die  Wöchnerin,  und  hinter  ihrer  Bettstatt 
erscheinen  in  dritter  Reihe  die  Halbfiguren  zweier  Gevatterinnen,  die  ihr  Speise  zur  Erquickung 
bereitet  haben,  wie  es  bei  solchem  Ereignis  dem  Nächsten  geziemt.  Jede  Andeutung  der  Räumlichkeit 
fehlt,  und  so  ist  auch  der  Perspektive  keine  Rechnung  getragen. 

Aber  der  Pisaner  wollte  die  Genrescene  so  geben,  wie  er  es  aus  seiner  Schule  gewohnt  war; 
deshalb  übernimmt  er  sie  von  den  Vorgängern  in  dieser  Fassung  und  überträgt  sie  auf  seine  Nach- 
folger in  Florenz,  bei  denen  sie  Jahrhunderte  lang  so  fortlebt. 

Ganz  vorzüglich  dagegen  gelang  wieder  das  folgende  Relief,  mit  dem  die  dritte  Reihe  des 
linken  Flügels  beginnt.  Dieser  Stellung  gemäss  ist  in  der  „Namengebung"  der  alte  Zacharias  ganz 
auf  die  linke  Seite  gerückt.  Auf  seinem  erhöhten  Stuhl  sitzt  er,  eifrig  schreibend,  mit  übergeschlagenem 
Knie  ganz  im  Profil  nach  rechts;  denn  von  dort  her  bewegt  sich  der  Zug  der  Frauen  auf 
ihn  zu.  Freundlich  sich  neigend  hält  ihm  die  Erste  das  in  Windeln  eingeschnürte  Knäblein  entgegen; 
es  ist  Maria  selbst,  voll  Hoheit  und  Liebe,  die  Rolle  der  Patin  übernehmend.  Und  welch  ein  Paar 
innig  teilnehmender  Wesen,  die  beiden  Begleiterinnen,  deren  mädchenhafte  Köpfe  einander  zugewendet, 
den  Eindruck  des  Familienaktes  wiederspiegeln!  Bis  in  die  fliessenden  Falten  ihrer  schlichten 
Gewandung  hinein  ein  Bild  edelster  Sitte  und  harmonischen  Daseins. 

Nur  eine  einzige  Menschenfigur,  und  noch  dazu  ein  kleines  Bübchen  erst,  sehen  wir  auf  dem 
folgenden  Bilde,  das  uns  erzählen  soll,  wie  Johannes  schon  als  Knabe  in  die  Wüste  ging,  dem  dunkeln 
Drang  seines  künftigen  Prophetentums  gehorchend.  Wir  Nordländer  stellen  uns  die  Wüste  als 
unfruchtbare  Landfläche  oder  endloses  Haideland  vor;  historische  Bibelkunde  denkt  an  den  Orient 
und  die  kahlen  Hochplateaus  von  Palästina,  während  moderne  Maler  uns  eher  an  die  Sahara  und  die 
verdorrten  Fluren  Afrikas  gewöhnt  haben.  Ein  echter  Sohn  Toscanas,  wie  Andrea  im  Jahre  1330, 
versteht  das  nach  seiner  Art  viel  besser  so,  wie  alle  unbefangenen  Landsleute  sich  den  Schauplatz 
für  die  asketischen  Vorübungen  ihres  Lokalheiligen  vorstellen  mussten.  In  Toscana  sind  alle  Täler 
und  Ebenen  fruchtbarer  Boden,  überall  Gartenland,  und  die  Kultur  reicht  auf  die  angrenzenden  Hügel 
hinauf,  bis  an  die  Höhe,  wo  kein  Humus  mehr  die  starren  Felsen  bedeckt,  wo  nur  Moos  sich 
anklammert  oder  ein  paar  Waldbäume  ihre  Wurzeln  in  die  Spalten  und  Ritzen  des  Gesteins  einzwängen. 
Wo  die  Arbeit  des  Landmannes  aufhören  muss,  da  beginnt  die  Wüste;  wer  die  Einöde  aufsuchen, 
die  Menschen  fliehen  will,  muss  in  die  Berge  wandern.  Aber  auch  hier  ist  nicht  alles  kahl:  Eichen 
und  Buchen  stehen  noch  vereinzelt,  locken  mit  würziger  Mast  die  Herde  schwärzlicher,  aber  reinlicher 
Schweine  selbst  auf  die  Höhen  hinauf;  Vögel  wohnen  in  den  Zweigen,  die  Eidechse  sonnt  sich  auf 
dem  nackten  Boden  und  huscht  beim  leisesten  Geräusch  in  ihren  Schlupfwinkel.  Wen  nicht  sein 
bescheidenes  Hirtenamt,  sondern  seine  stolzen  Gedanken  von  dem  Mitmenschen  entfernen,  dem  geht 
es  wol  wie  Dante,  dass  er  hier  im  dichten  Walde  sich  verirrt.  Dahin  steigt  auch  der  florentinische 
Johannes  mit  seinem  Kreuzstab,  um  allein  zu  sein  mit  seinen  Träumen. 

Bärtig  und  verwettert  erscheint  Johannes  auf  dem  nächsten  Felde,  wo  er  als  Bussprediger 
auftritt.  Ihm  allein  ist  die  rechte  Hälfte  der  Bildfläche  eingeräumt,  während  links  vier  Hörer  stehen, 
die  zu  ihm  hinausgepilgert,  mit  eindringlichen  Mahnungen  empfangen  werden.    Ruhig  und  ernst  hält 


sich  der  Redner,  geduldig  lauschen  ihm  die  bärtigen  Pharisäer ;  aber  dem  Ältesten  scheint  doch  die 
Hand  unter  dem  Gewände  sich  unwillkürlich  zur  Faust  zu  ballen,  als  erhebe  er  Einspruch  dagegen, 
zum  Otterngezücht  gerechnet  zu  werden.  —  Deutet  hier  ein  Bäumchen  oben  am  Fels  die  Mittellinie 
an,  die  beide  Parteien  trennt,  so  erblicken  wir  Johannes  selbst  in  dieser  Hauptaxe,  wo  er  auf  dem 
folgenden  Bilde  seine  Jünger  auf  den  Messias  hinweist,  der  gerade  vorüberwandelt:  „Ecce  Agnus  Dei". 
So  ist  der  Handelnde,  der  Vorläufer  Christi  in  seiner  besonderen  Mission  dargestellt;  der  Heiland 
aber,  der  da  kommen  soll,  doch  die  Haupterscheinung,  auf  die  sich  Aller  Aufmerksamkeit  richtet. 
Deshalb  räumt  ihm  der  Künstler  nicht  nur  die  eine  Seite  ein,  wie  drüben  dem  Bussprediger,  sondern 
lässt  ihn,  vom  Gebirgspfad  heruntersteigend,  eine  höhere  Stelle  einnehmen  als  die  Übrigen.  Die  Hörer 
Johannes'  aber  schauen  verehrend  zu  ihm  auf,  so  dass  die  Richtung  ihrer  Köpfe  und  Gebärden  nach 
links  aufwärts  und  der  Fluss  der  Gewandfalten  in  derselben  Diagonale  zurück  läuft.  Schlicht  und 
milde  ist  das  Christusideal,  das  uns  Andrea  Pisano  vorstellt,  die  Gestalt  eines  Sanftmütigen,  der  als 
stiller  Denker  daherwandelt,  ohne  darnach  zu  fragen,  ob  man  ihn  beachte. 

Als  „Täufer"  nimmt  dann  Johannes  wieder  seinen  Platz  zur  Rechten  ein,  während  ein  Buss- 
fertiger sich  entkleidet  hat  und  demütig  knieend  die  Taufe  empfängt,  indess  seine  Gefährten  hinter 
ihm  andächtig  der  heiligen  Handlung  zuschauen.  Die  Schale  mit  dem  Taufwasser  ist  als  Symbol 
des  Sakraments  das  Centrum  des  Ganzen.  —  Zur  sichtbaren  Dominante  wird  die  Verbindung 
zwischen  dem  irdischen  Zeichen  und  der  Gottheit  droben,  wo  der  Gottessohn  selber  in  den  Jordan 
hinabsteigt,  sich  dem  Bussakt  seines  Heroldes  zu  unterziehen.  Christus,  nackt,  bis  an  die  Hüften 
vom  Wasser  umspült,  steht  in  der  Mitte,  und  die  Taube  des  heiligen  Geistes  schwebt  über  seinem 
Haupt,  während  Johannes  sich,  weit  ausholend,  von  rechts  herüberneigt,  links  ein  dienstfertiger 
Engel  mit  dem  Linnentuch  knieend  harrt.  Es  ist  die  altherkömmliche  Darstellungsweise,  die  den 
Künstler  bestimmt  und  beschränkt  hat;  sie  sicherte  die  klare  Symmetrie  der  Komposition,  veranlasste 
aber  auch  eine  konventionelle  Behandlung  des  flüssigen  Elements,  welche  dem  Stand  der  Natur- 
beobachtung des  Meisters  kaum  mehr  entspricht.  Die  Scheu  vor  dem  Nackten,  nicht  bei  ihm, 
sondern  bei  der  Kirche,  und  die  Gefahr,  durch  liebevolle  Durchführung  der  ganzen  Menschengestalt 
in  ihrer  unverhüllten  Schönheit  das  Interesse  des  Beschauers  allzusehr  auf  diese  zu  lenken,  bestimmt 
den  Bildner,  einen  wunderbaren  Stillstand  des  Wassers  zuzulassen,  für  den  die  felsigen  Ufer  nicht 
vorgesehen  sind. 

Nach  dem  höchsten  Höhepunkt,  der  „Taufe  des  Gottessohns",  beginnt  auf  dem  andern  Tür- 
flügel die  Leidensgeschichte  des  Täufers.  Im  Vollbewusstsein  seines  Predigtamts  wagt  es  Johannes 
sogar  dem  Tyrannen  Herodes  mit  seiner  Mahnung  zur  Busse  nahzutreten.  Wie  er  zum  Thron  des 
Fürsten  berufen  wird,  sich  wegen  seiner  Lehre  zu  rechtfertigen,  zieht  er  den  Gebieter  wegen  des 
Weibes,  das  er  dem  eigenen  Bruder  abspänstig  gemacht,  zur  Rechenschaft  und  verletzt  mit  seiner 
Rede  die  Königin  auf  ihrem  Hochsitz.  Der  Augenblick,  „wo  der  Angeklagte  zum  Ankläger  wird", 
wäre  dramatisch  ausserordentlich  wirksam,  aber  Andrea  Pisano  behandelt  ihn  mit  einer  Mässigung 
die  wol  nicht  nur  Weisheit,  sondern  auch  Temperamentssache  war.  Der  Eiferer  bleibt  vollkommen 
ruhig,  auch  Herodes  hört  eher  betroffen  als  erzürnt  seinen  Vorwürfen  zu,  und  nur  die  leise  Hand- 
bewegung   der  Gattin,   —  die    des   Fürsten  Arm  berührt,    ihn    aufstört   und    in    ungnädigster  Miene 


dreinschaut,  wie  Jemand,  dem  bittere  Arznei  gereicht  ward,  • —  lässt  uns  ahnen,  welche  Peripetie 
unmittelbar  folgen  muss.  Der  Keulenträger  von  der  Leibwache  steht  des  Winkes  gewärtig  hinter 
Johannes;  ein  Wort  noch,  und  er  wird  ihn  ergreifen. 

Im  selben  Geist  der  Milde  geht  auch  die  folgende  Scene  vor  sich,  wo  der  unbequeme  Tadler 
in  das  Burgverliess  gesperrt  wird.  Ganz  freundschaftlich  nimmt  der  Krieger  den  sonderbaren 
Schwärmer  unter  den  Arm  und  weist  ihm,  wie  ein  gutmütiger  Gefängniswärter,  die  Zelle  an,  wo  er 
verschwinden  soll.  Nur  ein  Hauptmann  der  Leibwache  mit  blossem  Schwert  und  ein  anderer 
Soldat  folgen  etwas  strammer  hinterdrein,  nach  linkshin,  wo  die  Gittertür  des  Käfigs  sich  öffnet. 

Wie  lebendig  und  wirksam  ist  dagegen,  der  Stimmung  des  Augenblicks  entsprechend,  auf 
dem  nächsten  Felde  die  Gruppe  der  Jünger  vor  dem  geschlossenen  Gatter!  Sorgend  sind  sie 
gekommen,  nach  dem  Verbleib  ihres  Meisters  zu  fragen,  und  werden  auf  das  finstere  Gelass  gewiesen, 
in  das  er  geworfen  ward.  Der  Eine  scheint  vorwurfsvoll  zu  klagen,  dass  man  dem  Heiligen  Gottes 
solche  Schmach  getan,  während  der  Andere  liebevoll  nur  verlangt,  den  Verehrten  drunten  in  der 
Tiefe  zu  erspähen.  Vorgebeugt  steht  er,  mit  beiden  Händen  das  Eisengitter  fassend,  und  blickt  in 
die  schwarze  Öffnung,  Johannes  anzurufen  und  mit  ihm  zu  reden. 

Dem  gefangenen  Propheten  aber  liegt  nur  Eines  noch  am  Herzen,  um  beruhigt,  dass  seine 
Sendung  erfüllt  sei,  zu  enden.  Er  schickt  seine  Jünger  zu  Christus  mit  der  Frage,  ob  er  der  ver- 
heissene  Messias  sei,  wie  sein  Vorläufer  erwartet,  oder  ob  sie  eines  Andern  harren  sollen.  Diese 
Begegnung  schildert  das  folgende  Relief  und  muss  zugleich  die  Antwort  Christi  bezeichnen.  Die 
Jünger  treffen  ihn  bei  Wundertaten  im  Lande,  und  er  erwidert  ihnen  mit  dem  Hinweis  auf  dies 
Geschehen:  „Gehet  hin  und  sagt  Johannes  was  ihr  gesehen  habt:  die  Blinden  sehen  und  die  Lahmen 
gehen,  die  Aussätzigen  werden  rein  und  die  Tauben  hören,  die  Toten  stehen  auf  und  den  Armen 
wird  eine  Freudenbotschaft  verkündet".  Links  die  fragenden  Jünger,  rechts  Christus,  wie  vornehm 
vorüberschreitend,  und  dazwischen  die  Krüppel  und  Geheilten,  die  Hülfesuchenden  und  die  Dank- 
erfüllten, die  sich  vor  dem  Erlöser  drängen  wie  zu  einer  sonnenhaften  Erscheinung. 

Festlich  und  heiter  ist  die  Scene,  in  der  sich  das  Schicksal  des  Täufers  entscheidet,  —  und 
doch,  wie  ruhig  und  wie  edel  gehalten!  Andrea  da  Pontedera  hat  nichts  von  der  dramatischen  Ader 
seines  Vorgängers  Giovanni  Pisano,  sonst  wäre  „der  Tanz  der  Herodiastochter",  um  den  blutigen 
Preis  wol  anders  ausgefallen.  Vor  einem  Teppich  an  der  Wand  sitzen  auf  einer  Bank  zu  Dritt, 
Herodes  und  seine  beiden  Räte  am  Tisch,  auf  dem  sie  eben  gespeist  haben.  Wie  die  Becher  allein 
noch  übrig  sind,  ist  von  links  ein  Spielmann  mit  der  Geige,  rechts  die  Jungfrau  Salome  eingetreten, 
um  den  Fürsten  zu  unterhalten.  Wir  heutigen  Beschauer  würden,  ohne  die  Geschichte  zu  kennen, 
kaum  erraten,  um  was  es  sich  handelt;  denn  das  junge  Mädchen  steht  gelassen  an  einem  Ende  des 
Tisches,  ohne  rhythmische  Bewegung  der  Beine,  nur  mit  den  Armen  gestikulierend.  Kaum  ein  Menuett 
kann  es  sein,  dass  sie  mit  sittigstem  Anstand  und  zurückhaltentkter  Mimik  zum  Besten  giebt.  Wie 
naiv  und  gewagt  erscheinen  dagegen  französische  Darstellungen  desselben  Momentes,  wie  unter  den 
Skulpturen  der  Kathedrale  von  Ronen  oder  im  Skizzenbuch  des  Villard  de  Honnecourt,  wo  Salome 
auf  den  Händen  tanzt,  den  Körper  in  die  Höhe  wirft,  dass  die  abwärtshängenden  Beine  frei  schweben, 
als   gälte  es  einen  Purzelbaum  zu   schlagen.     Die   nämliche  Art  eines  burlesken  Cancans  sehen  wir 


—     23     — 

in  den  Wandmalereien  des  Domes  zu  Braunschweig-  und  an  den  deutschen  Bronzetüren  von 
S.  Zeno  zu  Verona,  während  zu  Florenz  in  Sta.  Croce  Giotto,  gewiss  ein  lebhafteres  Temperament 
als  Andrea  Pisano,  sich  ebenso  mit  einer  leisen  Schwingung  des  Körpers  begnügt  und  jeden 
Gedanken  an  ausgelassene  Sprünge  dadurch  abwehrt,  dass  er  der  Tänzerin  selbst  eine  Leyer  in  die 
Hand  giebt.  —  Es  ist  also  der  weite  Abstand  einer  edleren,  vornehmeren  Kultur,  der  sich  ausspricht. 
Dem  Italiener  genügt  die  mimische  Zeichensprache  vollkommen,  um  den  Herrscher  zu  bezaubern 
und  dem  Beschauer  die  Erfüllung  eines  Mädchenwunsches  begreiflich  zu  machen,  der  statt  nach 
Goldschmuck  oder  Süssigkeiten  dem  Bussprediger  nach  dem  Leben  steht.  Das  schöne  Töchterlein 
schmeichelt  erst,  verspricht  das  berückende  Schauspiel,  und  erlangt  das  Jawort  der  Belohnung,  um 
dann,  mit  dem  Aufgebot  ihrer  Reize,  wie  die  Mutter  sie's  gelehrt,  den  Vater  so  lange  zu  betören, 
bis  inzwischen  sein  gewährender  Wink  Vollstreckung  fand.  —  Deshalb  wird  „die  Enthauptung 
Johannes'"  zwischen  Anfang  und  Ende  des  Tanzes  eingeschoben.  Die  Falltür  des  Kerkers  hat  sich 
geöffnet,  der  Gefangene  kniet  auf  der  Schwelle  und  bietet  mit  gefalteten  Händen  sein  Haupt  dem  Streiche 
des  Henkers  dar.  Dieser  senkt  soeben  das  Schwert,  das  er  mit  beiden  Fäusten  fasst,  über  seinen  eigenen 
Nacken  zurück,  um  es  im  nächsten  Moment  mit  wuchtigem  Schwünge  nach  vorn  zu  fällen,  und  bei 
diesem  Ausholen  heben  sich  seine  Füsse  unwillkürlich  auf  die  Zehen  empor.  Ein  Wächter  mit 
Schild  und  Lanze  stiert  erwartend  auf  das  Opfer,  unter  dem  magischen  Bann  des  Grausens,  während 
ein  Keulenträger  halb  mitleidig,  halb  erschrocken  einen  Schritt  zurückweicht.  So  fühlen  auch  wir  die 
Katastrophe,  ohne  dass  sie  uns  wirklich  gezeigt  wird. 

Sie  ist  geschehen,  bestätigt  das  folgende  Relief,  das  uns  wieder  in  den  Speisesaal  des  Fürsten 
zurückführt.  Salome  steht  am  andern  Ende  des  Tisches,  sie  schlägt  die  Arme  über  die  Brust  zu- 
sammen, wie  Mignon  nach  dem  Eiertanz,  und  erblickt  den  erbetenen  Lohn,  das  Haupt  Johannes'  in 
der  Schüssel,  die  ein  Diener  knieend  dem  Herodes  darbringt,  und  dieser  weist  ihn  weiter  an  das 
Mädchen.  —  Einfach  und  schlicht,  durch  sich  selber  bedeutsam,  ist  der  Abschluss  dieses  häuslichen 
Dramas,  wo  der  beleidigten  Königin  das  Pfand  der  Rache  gebracht  wird.  Im  Frauengemach  auf 
ihrem  Hochsitz  thront  Herodias,  die  Schale  mit  dem  blutigen  Preis  in  den  Händen,  den  ihr  gehor- 
sames Töchterlein  ertanzt  hat  und  knieend  überreicht.  Kein  Grausen  bei  der  Mutter,  kein  Mitleid 
bei  dem  Kinde,  aber  auch  kein  Hass  und  keine  Freude:  nur  der  stille  Triumph  der  siegreichen  Frau, 
die  ihren  Willen  erfüllt  sieht.  Der  Mund  des  Anklägers  ist  verstummt;  —  aber  schweigen  auch 
seine  Worte  in  ihrem  Innern?  Es  ist  die  dumpfe  Tatsache,  die  hier  auftritt,  ohne  Zeugen,  ohne 
Chorus,  im  eigenen  Kämmerlein.  Schräg  gipfelt  sich  die  Gruppe  gegen  den  Rand  zur  Rechten,  ja 
ein  Türmchen  auf  der  Halle  setzt  sich  verstärkend  auf  die  Schlussnote. 

Dann  nur  noch  das  Finale,  das  uns  menschlich  versöhnt.  Die  Jünger  Johannes'  sind  gekommen 
und  tragen  den  entseelten  Meister  zur  letzten  Ruhe.  Rechtshin  schreiten  sie,  zu  Dreien  einander 
gegenüber;  die  vordere  Reihe  wird  nur  vom  Rücken  gesehen,  und  doch,  wie  wundersam  prägt  die 
fortschreitende  Bewegung  sich  aus  in  den  langfliessenden  Gewändern,  und  die  Sorgfalt  ihres  Auftretens 
in  Rücksicht  auf  die  teure  Last!  Das  letzte  Paar  stützt  auch  das  Haupt  des  Toten  in  seiner  Lage 
und  blickt  auf  seine  Züge  mit  einer  Verehrung,  die  vollauf  für  alle  spricht.  —  Es  ist  meisterliche  Weisheit, 
dass  keine  Andeutung  der  Örtlichkeit,  kein  Baum,  kein  Fels,  keine  Grabstätte  im  Hintergrund  hinzugesetzt 


—     24     — 

worden,  den  Eindruck  dieser  feierlichen  Prozession  zu  stören.  So  gewinnt  er  eine  Allgemeinheit, 
die  ihn  über  Zeit  und  Ort  hinaushebt:   allein  in  der  weiten  Welt,   die  letzte  Sorge   der  Lieben  .... 

Aber  der  Körper  des  Gottesmannes  wird  ein  heiliges  Erbteil  folgender  Geschlechter;  es  ist  ein 
kirchliches  Heiligtum  mit  Kuppelbaldachin  und  Tabernakel,  wo  man  die  Leiche  des  Schutzpatrons  der 
Arnostadt  verwahrt.  Vier  Jünger  senken  den  Körper  in  den  Sarkophag  hinab,  während  ein  fünfter 
das  Leichentuch  um  die  Füsse  schlägt;  zu  Häupten  steht  ein  Kleriker  mit  der  brennenden  Kerze, 
zu  Füssen  der  älteste  der  Jünger  mit  gefalteten  Händen  und  gramvoller  Miene,  —  der  Träger  des 
Schmerzes,  der  dem  Abgeschiedenen  nachklingt. 

So  entrollt  sich  das  Lebensbild  des  Täufers  in  einer  einheitlichen  Erzählung,  deren  zahlreich 
ausgewählte  Scenen  in  der  Phantasie  des  Bildners  völlig  als  Bronzereliefs  empfunden  und  empfangen 
sind.  Nach  einer  solchen  Betrachtung  ihres  Wesens  scheint  es  fast  müssig,  an  den  Einfall  zu 
erinnern,  dass  Andrea  Pisano  nur  die  Erfindungen  des  Malers  Giotto  in  seinen  Erztafeln  verkörpert 
habe.  Ein  vergleichender  Blick  auf  die  Geschichten  Johannes  des  Täufers,  die  Giotto  in  Sta.  Croce 
al  fresco  gemalt,  genügt  ja,  um  von  der  Leichtfertigkeit  einer  solchen  Behauptung  zu  überzeugen. 
Die  wichtigsten  Hauptmomente  werden  uns  an  einer  Kapellenwand  geschildert:  die  Verkündigung  an 
Zacharias;  —  die  Geburt  und  Namengebung;  —  der  Tanz  der  Herodiastochter  und  die  Darbringung 
des  Hauptes  an  ihre  Mutter  —  füllen  drei  Abteilungen  unter  einander.  Die  Erscheinung  des  Engels 
geschieht  im  Freien,  in  Gegenwart  einer  grösseren  Versammlung;  der  Altar  trennt  den  Priester  von 
dem  Himmelsboten  und  legt  die  Handlung  lahm.  Bei  der  Geburt  sieht  man  nur  die  Wöchnerin  auf 
dem  Lager  mit  ihren  Frauen,  die  dienend  um  sie  besorgt  sind;  nichts  von  der  Genrescene,  wie  das 
Neugeborene  gebadet  wird.  Das  Kind  wird  soeben  ins  anstossende  Zimmer  zu  Zacharias  getragen, 
der  den  Namen  niederschreibt;  lebhaft  und  munter  strebt  es  auf  den  Vater  zu,  aber  diese  unwahr- 
scheinliche Beweglichkeit  ersetzt  nicht  die  mangelnde  Ausprägung  der  charakteristischen  Situation: 
statt  der  Anstrengung  des  Stummen  und  der  Teilnahme  der  Familie  wird  mehr  die  Feierlichkeit  des 
Auftritts  hervorgekehrt.  Lebhafteres  Interesse  gewährt  allein  der  unterste  Streifen,  wo  der  Tanz  und 
die  Darbringung  des  Hauptes  zusammengezogen  sind.  In  der  Anordnung  der  Speisenden  mit  dem 
Geiger  zur  Linken,  der  jugendfrisch  in  voller  Breite  dasteht,  ist  allerdings  unverkennbar,  dass  Andrea 
Pisano  dies  Fresko  Giottos  gekannt  und  verwertet  hat,  wie  sonstige  Leistungen  der  Vorgänger  damals 
überall  benutzt  wurden.'  Dagegen  ist  Salome  nicht  bloss  mit  der  Leyer  dargestellt  und  von  zwei 
Zuschauenden  begleitet,  sondern  in  der  Mitte  auch  sogleich  der  Kriegsknecht  eingeführt,  der  das 
Haupt  des  Täufers  auf  einer  Schüssel  über  den  Tisch  reicht,  vor  dem  er  soeben  niederkniet.  Mitten 
hinein,  zwischen  Tanz  und  Musik,  drängt  der  Dramatiker  Giotto  das  Schreckensbild,  mögen  die 
Mittel  seiner  Kunst  auch  noch  versagen,  diesen  Effekt  in  seiner  vollen  Wirksamkeit  herauszubringen. 
Lahm  und  äusserlich  vollends  bleibt  der  Moment  daneben,  wo  die  Tochter  die  Gabe  der  Herodias 
überbringt.  —  Andrea  Pisano  ist  nicht  so  heftig,  nicht  so  leidenschaftlich  und  drastisch,  wie  Giotto, 
der  Alles  auf  ein  paar  starke  eindringliche  Hauptaccente  setzt;  aber  er  ist  weit  überlegen  in  der 
psychologischen  Durchdringung    der   ganzen  Gestalt,    in    der   sprechenden  Darstellung   des    inneren 


'  Sehr  lehrreich   ist   der  Vergleich   mit   einem    ebenso   von  Giotto   lernenden  wie   von    ihm    abweichenden  Fresko, 
;  jüngst  in  S,  M.  dei  Servi  zu  Siena  aufgedeckt  worden,  und  so  die  Eigenart  der  Lorenzetti  erst  recht  offenbart. 


—      25      — 

Wesens  unter  der  Situation  des  Augenblicks;  denn  er  beherrscht  als  Bildner  die  Ausdrucksfähigkeit 
des  ganzen  Körpers  weit  sicherer  und  rechnet  mit  ihr  überall,  wo  es  dem  Maler  mehr  auf  Breite  der 
Gewandung  und  Fülle  des  farbigen  Reichtums  ankommt.  —  Ebenso  entscheidend  ist  die  Ökonomie 
der  Raumentfaltung.  Der  Maler  neigt,  wenn  auch  dem  Stand  der  Wandmalerei  entsprechend  nur 
noch  bescheiden,  zur  Ausbeutung  der  Tiefendimension:  seine  Bühne  will  sich  ausbreiten;  Seiten- 
koulissen  eröffnen  den  Ausblick  in  die  Umgebung;  selbst  seine  Stuben  und  Festhallen  öffnen  sich 
schräg  vor  dem  Auge  des  Beschauers.  Bei  dem  Reliefbildner  dagegen  die  weiseste  Zurückhaltung, 
möglichste  Einfachheit  auf  einem,  ohnehin  noch  schmalen  Plan,  und  voller  Verzicht  auf  alles  Über- 
einanderschieben.  Nach  dem  einen  Fehlgriff  in  der  Wochenstube,  wo  ihn  das  Vorbild  einer  langen 
Tradition  verleitet,  keine  malerischen  Anwandlungen  mehr.  Man  stelle  sich  doch  vor,  wie  anders 
der  Reliefstil  der  Bronzetür  sich  gestaltet  haben  müsste,  wenn  ein  genialer  Geist,  aber  eben  doch 
ein  Maler,  wie  Giotto,  die  Entwürfe  für  diese  Scenen  vorgezeichnet  hätte.  Wie  Giotto  für  Relief- 
kunst gedacht  hat,  können  wir  ja  sehen,  wenn  wir  einen  Blick  auf  die  Schöpfungsgeschichten,  auf 
Noah  in  der  Weinlaube  und  ähnliche  Stücke  werfen,  die  —  als  Bilder  in  starken  sechseckigen 
Rahmen  —  den  Sockel  des  Campanile  beleben.  Mehr  als  alle  diese  Unterschiede  der  plastischen 
und  der  malerischen  Vorstellungsweise,  des  lyrischen  und  des  dramatischen  Naturells,  spricht  aber  die 
eigentümliche  Beseelung  aller  Figuren  und  die  einheitliche  Gestaltung  aller  Scenen  im  Sinne  seines 
persönlichsten  Empfindens  bei  Andrea  Pisano.  Da  ist  die  Einmischung  eines  fremden  Elementes, 
die  Anpassung  an  Vorschriften  einer  andersgearteten  Phantasie  undenkbar.  Die  innerste  Überein- 
stimmung mit  sich  selbst  beglaubigt  dies  Urkundenbuch  in  bronzenen  Tafeln  und  macht  es  zur  einzig 
wahren  Offenbarung  des  Wesens  dieser  feinen,  liebenswürdigen  Künstlernatur. 


Die  engste  Verwandtschaft  mit  diesen  Gebilden  der  Erztür  an  S.  Giovanni  bürgt  auch  für 
die  Urheberschaft  Andreas  da  Pontedera,  bei  einem  Paar  von  Marmorstatuetten,  die  jetzt  als  Un- 
bekannte in  der  Opera  des  Domes  bewahrt  werden.  Die  eine  stellt  die  heilige  Reparata,  die  andere 
Christus  selber  dar.  Ich  vermag  sie  bis  jetzt  nicht  anders  zu  charakterisieren,  als  wie  ich  es  vor 
Jahren'  versucht  habe.  Sta.  Reparata  ist  eine  Erscheinung  von  zartester  Jungfräulichkeit,  von  einer 
schlichten  Anmut  und  reinen  Empfindung,  wie  sie  der  italienischen  Gotik  nur  in  ihren  glücklichsten 
Stunden  gelang.  In  einfachem  Kleide,  das  von  den  Schultern  bis  auf  die  Zehen  gürtellos  hernieder- 
wallt, und  ebenso  glatt  hinfliessendem  Mantel,  der,  auf  der  Brust  von  einer  Brosche  zusammenge- 
halten, von  der  linken  Hand  unter  dem  Busen  emporgerafft  wird,  steht  die  schlanke  Maid,  mit  der 
Märtyrerpalme  in  der  wenig  tiefer  vorgreifenden  Rechten,  sittig  und  bescheiden  da.  Und  doch,  es 
bedarf  kaum  der  achtseitigen,  aus  viereckigen  Goldplatten  zusammengesetzten  Krone,  um  dem  edeln 
Anstand  noch  fürstliche  Hoheit  zu  gesellen.  Auf  dem  vollen  Nacken  und  Hals  wiegt  sich  vornehm 
genug  der  runde  Kopf  mit  dem  vorquellenden,  aber  aufgebundenen  Haar.  Die  weichen  Formen  des 
Gesichtes  haben  bei  aller  Regelmässigkeit  und  Milde  einen  so  aristokratischen  Schnitt,  dass  wir  dem 
kleinen   lebhaft    gekräuselten  Mund   neben   dem   freundlichen  Lächeln,    das   er  uns   zeigt,    auch   wol 


>  Im  Jahrbuch  der  K.  preuss.  Kunstsammlungen   1887:  „Vier  Statuetten  der  Domopera  in  Florenz' 


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ein  schelmisches  Witzwort,  eine  überlegene  Zurechtweisung  zutrauen.  Christus  ist  als  der  herz- 
gewinnende Meister,  der  allzeit  milde  Lehrer  mit  einem  Buch  im  Arm  und  leise  erhobener  Rechten 
dargestellt.  Es  ist  der  Typus  eines  Sanftmütigen  mit  weichem  in  der  Mitte  gescheiteltem  Haupthaar, 
das  weit  in.  die  Stirn  reichend  sorgfältig  seitwärts  hinter  die  Ohren  gestrichen  worden,  mit  ebenso 
weichem,  nicht  gerade  vollem  und  kurz  gehaltenem  Bart,  der  die  freundliche  Mundpartie  freilässt. 
Die  schlichte,  bis  auf  die  nackten  Füsse  herabfliessende  Tunica  und  das  Manteltuch,  das  um  die 
Schultern  gelegt,  in  massvollen  Bogenlinien  niederhängt,  zeigt  ganz  die  harmonische  Behandlung  wie 
bei  den  schönsten  Gestalten  der  Bronzereliefs.  Dazu  ist  die  technische  Bearbeitung  des  Marmors 
von  einer  Sorgfalt  und  Weichheit,  dass  sie  bis  in  die  feinsten  Nuancen  der  Oberfläche  hinein  die 
intimste  Empfindung  seines  milden  Schönheitssinnes  offenbaren.  ^ 

Eine  Reihe  von  Apostelfiguren,  die  jetzt  im  Saal  der  Marmorskulpturen  und  auf  der  Treppe 
des  Museo  Nazionale  aufgestellt  sind,  darf  wol  dem  Atelier  des  Meisters  von  Pontedera  zugeschrieben 
werden.  Sonst  hat  Andrea  selbst  vor  allen  Dingen  an  den  sechseckigen  Reliefs  am  Untergeschoss 
des  Campanile  mitgewirkt,  deren  Ausführung  ihn  eine  Zeit  lang  aufs  engste  mit  Giotto  verband,  bis 
nach  dem  Tode  dieses  ersten  leitenden  Meisters  auch  der  Bau  selbst  (1337 — 42)  in  seine  Hände 
kam,  dessen  zweites  Doppelgeschoss  mit  je  vier  Nischen  und  einem  schmalen  Fenster  an  jeder 
Seite  von  ihm  herrührt,  durch  vortretende  Lisenen  dazwischen  sehr  deutlich  als  Zutat  eines  strengeren 
Gotikers  von  dem  Sockelbau  Giottos  unterschieden,  zu  dessen  nationalerem  Stil  der  Nachfolger 
Andreas,  Francesco  Talenti,  zurückkehrt.  Den  eigenen  Anteil  Andrea  Pisanos  an  dem  achteckigen 
Relief  erkennen  wir  besonders  in  den  Darstellungen  der  Medicin,  ^er  Jagd,  der  Weberei,  der  Schifif- 
fahrt,  im  Herkules  als  Feind  der  Wegelagerer,  im  Pflüger  und  im  Wagenlenker,  während  die  ersten 
Reliefs  der  Frontseite,  von  der  Erschafi'ung  des  Menschen  bis  zu  Noah  und  zum  Sterngucker,  ebenso 
wie  die  Darstellung  der  Architektur,  Skulptur  und  Malerei  am  ehesten  noch  die  Entwürfe  Giottos, 
die  Denkweise  eines  Malers  erkennen  lassen.  ^  Die  fünf  letzten  Reliefs  mit  dem  Trivium  und 
Quadrivium  darin  gehören  schon  Luca  della  Robbia,  und- kamen  erst  1437 — 1440  hinzu. 

Die  Urkunden  der  Domverwaltung  von  Orvieto,  wo  Andrea  am  Ende  seines  Lebens  als  leitender 
Meister  gewaltet,  wissen  freilich  noch  von  einer  „Majestas"  zu  berichten,  die  er  im  Jahre  1348 
geschaffen.  Sie  durfte  bis  vor  kurzem  in  der  thronenden  Madonna  unter  dem  bronzenen  Baldachin 
über  dem  Hauptportal  der  berühmten  Domfassade  vermutet  werden,  die  wegen  eines  gleichfarbigen 
Anstrichs  ebenfalls  für  einen  Bronzeguss  galt.  3  Neuerdings  erst  ist  dieses,  bisher  an  seinem  Stand- 
orte nur  schwer  sichtbare,  Werk  photographiert  worden,  so  dass  es  möglich  wird,  auch  seinen 
Stilcharakter  zu  bestimmen.  1    Darnach  darf  es  nicht  mehr  für  Andrea  Pisano  oder  seinen  Sohn  Nino, 


1  Bode  nimmt  auch  einen  holzgeschnitzten  Crucifixus  im  Berliner  Museum  (No.  25)  für  Andrea  I'isano  in  Anspruch. 
Vgl.  Beschreibung  der  Bildwerke  .  .  .  Berlin   1888,  p.  Ii  (mit  Abbildung). 

2  Näheres  vgl.  in  dem  oben  angeführten  Aufsatz  im  Jahrbuch  der  K.  preuss.  Kunstsammlungen  1887.  Zu  ähn- 
lichen Ergebnissen  gelangt  neuerdings  auch  Julius  v.  Schlosser  im  Jahrbuch  der  Kunstsammlungen  des  allerhöchsten  Kaiser- 
hauses, Wien  1896  (XVII). 

3  Vgl.  Preussische  Jahrbücher  1889.  LXIII,  wo  dieser  Aufsatz  zuerst  erschien,  S.  I17  u.  Milanesi  Vasari,  Opere  I.  495>  3- 

4  Fotografia  Luigi  Armoni,  Orvieto. 


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der  ihm  im  Amt  des  Caputmagisters  am  Dom  von  Orvieto  gefolgt  ist, '  in  Anspruch  genommen 
werden,  sondern  die  thronende  Madonna  gehört,  ganz  ebenso  wie  die  Engel,  die  den  Baldachin  über 
ihrem  Haupt  zurückschlagen,  mit  den  Reliefskulpturen  der  Pfeiler  unten  zusammen,  d.  h.  zu  dem 
wunderbaren,  in  Italien  fast  einzig  dastehenden  Marmorschmuck  dieser  Art,  —  in  dem  ich  übrigens 
schon  lange  die  Hand  eines  auch  an  S.  Martino  in  Kinsica  zu  Pisa  nachweisbaren  Meisters  (Propheten, 
Deborah  u.  s.  w.)  erkannt  und  von  den  Schöpfungsgeschichten  unterschieden  habe,^  die  meiner 
Überzeugung  nach  völlig  französische  Schulung  aufweisen. 

Die  „Maestä",  die  Andrea  Pisano  für  den  Dom  von  Orvieto  gearbeitet  hatte,  muss  also 
als  verloren  gelten.  Von  seinem  Sohn  Nino  besitzt  aber  das  Museo  dell'  Opera  ein  bisher  fast 
unbekanntes  Meisterstück  (No.  82)  in  einer  Madonna  mit  dem  bekleideten  Knaben  auf  dem  Arm,  — 
eine  Marmorstatuette,  mit  Spuren  der  Vergoldung  an  Haar  und  Gewändern  und  bemalter  Innenseite 
des  Mantels,  durch  deren  Hervorhebung  als  Ninos  eigenhändige  Arbeit  wir  an  dieser  Stelle  den 
Unterschied  der  weicheren  und  volleren  Formen  des  Sohnes  von  der  strengen  Schönheit  seines 
Vaters  kennzeichnen  möchten. 

So  wesentlich  unsere  Kenntnis  des  Letzteren  auch  die  Marmorstatuetten  der  Domopera  in 
Florenz,  seinen  Christus  und  seine  heilige  Reparata  gewonnen  hat,  wie  durch  die  genauere  Bestimmung 
seines  Anteils  an  dem  Reliefschmuck  des  Campanile,  immer  stehen  noch  die  Bronzetüren  des 
Baptisteriums  mit  seinem  Namen  „Andreas.  Ugolini.  Nini.  De.  Pisis.  Me.  Fecit.  A.  D.  M.  CCCXXX" 
in  erster  Linie,  wenn  es  gilt,  die  Originalität  seines  Wesens  zu  erfassen  und  in  ihrem  vollen,  durch 
florentinischen  Lokalpatriotismus  und  sein  Märchen  von  Giotto  ungeschmälerten,  Eigentumsrecht 
anzuerkennen.  Hier  hat  er  die  wundervolle  Verbindung  italienischen  Schönheitssinnes  mit  den  Stil- 
principien  französischer  Gotik  verwirklicht,  wie  sie  nur  ihm  gelingen  konnte,  um  hernach  durch  Lorenzo 
Ghiberti  zur  Vorbereitung  der  Renaissance  zu  werden. 


Es  giebt  Seelen,  denen  jede  Abfindung  mit  der  Aussenwelt  Missstimmung  und  Schmerz  be- 
reitet. Jede  Erfahrung  des  Lebens  wird  ihnen  zum  Kampf  und  hinterlässt  in  ihrem  Innern  die 
Spuren  des  Tumults;  ja,  es  ist,  als  ob  ein  Verbrennungsprozess  vor  sich  gehe,  dessen  Asche  und 
Trümmer  der  Aufnahme  neuer  Eindrücke  im  Wege  sind  und  selbst  wieder  neue  Verwicklungen 
herbeiführen.  Es  giebt  andere,  die  jedem  Ereignis  rein  und  empfänglich  gegenüberstehen,  überall 
das  innere  Gleichgewicht  bewahren  oder  nach  kurzer  Frist  wieder  herstellen,  und  aus  den  ernstesten 
Prüfungen  harmonisch  geläutert  hervorgehen. 

Sind  aber  diese  Seelen  künstlerisch  veranlagt,  so  haben  die  Schöpfungen  der  Ersteren  stets 
das  Schicksal,  dass  die  Rechnung  nicht  völlig  aufgeht.  Sie  bewirken  trotz  aller  grossartigen  Erhaben- 
heit, die  gerade  an  ihnen  uns  häufig  zur  Bewunderung  hinreisst,  am  Schluss  doch  einen  unbefriedigenden 

1  Luzi,  Duomo  di  Orvieto   1886  p.  362. 

2  S.  Martin  v.  Lucca  und  die  Anfänge  der  toskanischen  Skulptur  im  Mittelalter,  Breslau  1890,  S.  165.  —  Marcel 
Reymond,  der  in  seiner  Sculpture  Florentine,  Florence  1897  diese  Scheidung  zweier  Schulen  wiederholt,  hat  merkwürdiger 
Weise  den  französischen  Stil  der  Schöpfungsgeschichten  nicht  erkannt. 


—      28      — 

Eindruck.  Sie  scheinen  immer  noch  einen  Rest,  eine  Schlacke,  ein  ungelöstes  Rätsel  zu  enthalten, 
das  vergebens  zu  bemeistern  versucht  ward.  Die  Andern  dagegen  scheinen  uns  wie  Offenbarungen 
der  Schönheit  selbst;  wir  sind  geneigt,  ihrem  Urheber  nicht  das  volle  Eigentumsrecht  beizumessen, 
ja  wir  schätzen  wol  gar  dies  glückliche  Gelingen  weniger  hoch,  weil  wir  von  den  Mühen  nichts 
merken  und  von  der  Arbeit,  die  solche  Vollendung  erfordert. 

Sie  gleichen  dem  tiefblauen  Alpensee,  der  auch  wol,  wenn  der  Föhn  ihn  peitscht,  majestätisch 
aufbraust,  mit  mächtigen  Wogen  seine  innersten  Tiefen  durchwühlt;  —  wenn  der  Sturm  vorüber  ist, 
liegt  er  bald  wieder  ruhig  da,  durchsichtig  und  klar  bis  zum  Grunde,  die  ganze  Umgebung  an  seinen 
Ufern  spiegelt  sich  in  der  glatten  Fläche,  und  der  Mond  und  die  Sterne  schauen  glitzernd  hinein.  — 
Solch  ein  Künstler  ist  Andrea  Pisano,  und  darin  gleicht  er  einem  Raphael.  Seine  Gestalten  gehen 
leicht  und  unverkümmert  aus  seinem  Innern  hervor,  wie  er  sie  gewollt  hat,  geläutert  und  rein  wie 
die  Seelen  aus  dem  Purgatorio.  Kaum  Anderes  als  edle  Empfindungen  prägt  sich  in  ihren  Zügen 
aus,  und  ihre  schlichten  weichen  Gewänder  umfliessen  die  Körper,  gleichwie  die  langatmigen  feier- 
lichen Töne  der  Orgel  die  Singstimme  des  Menschen  begleiten  und  alle  Hörer  mit  hinausheben  in 
höhere  Sphären. 


Spinello  Aretino,  Galerie  in 


SANTA  CATERINA  IN  ANTELLA 


Wer  an  einem  heiteren  Sonntag  die  Hügel  und  Täler  in  der  Nähe  von  Florenz  durchwandert 
wird  immer  aufs  Neue  beglückt  durch  die  herrlichsten  Ausblicke  auf  die  Stadt  am  Arno,  oder 
hüben  und  drüben  auf  die  Hohen  von  Fiesole  und  San  Miniato.  Dieser  reich  bebaute,  mit  Dörfern, 
Villen  und  Häuschen  übersäte  Boden,  der  in  mannichfaltigen  Wellen  von  den  Bergen  herabsteigt 
bis  ans  Ufer  des  grossen  Flusses  in  der  Mitte,  diese  wolgepflegten  Ölgärten  und  halb  vernach- 
lässigten Parkanlagen.  —  Alles  weit  und  breit  atmet  eine  unbeschreibliche  Anmut,  als  wehe  noch 
ein  Hauch  des  alten  Genius  toskanischer  Kunst  durch  diese  lächelnden  Gründe. 

Und  windet  sich  unser  Pfad  hinunter,  zwischen  den  Mauern  entlang,  zu  den  Flüsschen  und 
Bächen,  die  zum  Arno  streben,  dann  ist  im  grünen  Tal  auch  die  Einsamkeit  willkommen  und  sonn- 
tägliche Stille,  fernab  vom  geräuschvollen  Treiben  der  Stadt. 

Hier  draussen  ist  alles  in  heiterer  Ruhe.  Kein  Drängen,  kein  Hasten  um  die  Wette.  Und 
das  Wandern  durch  die  freie  Natur  versetzt  uns  in  den  frischen,  gesunden  Zustand  des  Gemüts 
zurück,  wo  wir  empfänglich  sind  und  rein  für  die  Eindrücke  des  Schönen.  Diese  Stimmung  ist  die 
rechte  bei  dem  Ziel,  dem  wir  zupilgern:  vor  uns,  zwischen  Ponte  a  Ema  und  Bagno  a  Ripoli,  liegt 
ein  kleines  Oratorium,  das  im  letzten  Viertel  des  14.  Jahrhunderts  von  oben  bis  unten  mit  Fresko- 
malereien geschmückt  worden,  nach  der  Heiligen,  der  es  geweiht  ist,  Santa  Caterina  delle  Ruote  genannt. 


—     30    — 

Schon  an  der  Vorderseite  des  Kirchleins  grüssen,  wenn  auch  nur  schattenhaft  noch,  vier 
Heiligengestalten  in  spitzbogiger  Umrahmung,  eine  Halbfigur  der  Madonna  mit  Engeln  in  der  Tür- 
lünette  und  Propheten  mit  Schriftbändern,  die  aus  Rundfenstern  herniederschauen.  Ein  Pultdach, 
das  darüber  aus  der  Wand  hervortritt,  hat  sie  schirmen  sollen;  aber  Regen  und  Sonne  der  fünf 
Jahrhunderte,  die  darüber  hingegangen,  haben  sie  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  verwaschen  und  verbleicht. 

Das  Innere  besteht  aus  einem  rechteckigen  Hauptraum,  der  durch  einen  Gurtbogen  auf  schwach 
vortretenden  Pfeilern  in  zwei  Quadrate  geteilt,  mit  Kreuzgewölben  überspannt  ist,  und  aus  dem 
niedrigeren  Altarhaus,  das  auf  quadratischem  Grundriss  kleinerer  Ausdehnung  erbaut,  sich  im 
rundlichen  Spitzbogen  gegen  das  Langschiff  öffnet.  Die  vordere  Hälfte  der  Kapelle  zeigt  gegen- 
wärtig nur  weisse  Wände  und  Deckenfelder  mit  einer  ornamentalen  Einfassung  der  einzelnen  Ab- 
teilungen, die  bei  der  neuesten  Herstellung  nach  dem  Muster  des  alten  Schmuckes  ausgeführt  worden. 
Es  ist  auch  unwahrscheinlich,  dass  sie  jemals  bemalt  waren;  denn  die  Legende  der  Titelheiligen 
beginnt  in  der  anderen  Hälfte,  an  der  rechten  Wand  links  vom  Beschauer,  also  von  innen  her,  und 
ausserdem  ward  die  Arbeit  des  Malers  durch  ein  unvorhergesehenes  Ereignis  auf  den  ersten  Cyklus 
von  Darstellungen  beschränkt.  Das  Kirchlein  gehörte  damals  zum  Landsitz  der  alten  Familie  Alberti, 
die  einst  in  der  Flur  von  Antella  begütert  war,  bis  Messer  Benedetto  mit  seinen  Söhnen  im  Jahre 
1387  aus  Florenz  verbannt  und  das  Eigentum  des  liberalen  Volksfreundes  konfisciert  ward.' 
So  konnte  er  vor  seiner  Pilgerreise  nach  Palästina,  die  er  zu  Schiff  von  Genua  antrat,  nur  in 
seinem  Testament  bestimmen,  dass  die  letzte  Scene  aus  der  Legende  der  heiligen  Katharina,  welche 
damals  noch  fehlte,  auf  dem  oberen  Wandfeld  über  dem  Chorbogen  hinzugefügt  werde.  Bei  der 
Rückkehr  aus  dem  heiligen  Lande  starb  er,  kurz  nach  seiner  Frau,  die  ihn  begleitet,  auf  der  Insel 
Rhodus.  Seine  Güter  wurden  verkauft,  und  das  von  Antella  gelangte  in  den  Besitz  der  Venturi. 
Ein  Abkömmling  dieser  Familie,  Angelo,  Bischof  von  S.  Severo,  Hess  1626  die  Gemälde  im  Altar- 
hause übertünchen,  ein  Fenster  darin  einbrechen,  und  bald  ward  die  ganze  Kapelle  entweiht,  zu 
profanem  Gebrauch  als  Heuschober  preisgegeben.  Erst  in  unseren  Tagen  erwarb  Professor  Giuseppe 
Poggi  die  Villa,  Hess  das  Oratorium  restaurieren,  die  Malereien  sorgfältig  reinigen,  ohne  einem 
modernen  Pinsel  die  Berührung  der  alten  Überreste  zu  gestatten,  und  erhielt  so  ein  Denkmal,  das 
in  diesem  Zustand  mit  jedem  Jahrzehnt  uns  kostbarer  wird. 

Denn  das  Werk,  das  uns  heute  hergelockt  wie  schon  manches  Mal,  ist  nicht  von  unberühmter 
Hand  geschaffen.  Kein  untergeordneter  Künstler,  wie  man  ihn  auf  Dörfern  erwarten  mag,  sondern 
ein  vielbegehrter  Meister  ward  von  Benedetto  degli  Alberti,  dem  reichen  florentinischen  Kaufherrn, 
zum  Schmuck  seines  Landsitzes  berufen.  Es  ist  Spinello  di  Luca  von  Arezzo,  gewöhnHch  Spinello 
Aretino  genannt,  den  derselbe  Auftraggeber  zugleich  in  der  Sakristei  von  San  Miniato  al  Monte  mit 
der  Legende  seines  Namensheiligen  Benedikt  beschäftigt.  Auch  diese  Malereien  werden  in  dem 
Codicill  zum  Testamente  vom  11.  JuH  1387  zugleich  mit  denen  zu  Antella  erwähnt.  Trotzdem  ist 
die  Kapelle  Santa  Caterina  mit  den  unbezweifelbaren  Leistungen  des  Aretiners  in  der  Kunstgeschichte 
so  gut  wie  garnicht  bekannt.     Selbst  Crowe  und  Cavalcaselle  wie  Burckhardts   Cicerone  haben  sie 


'  Vgl.  L.  Passerini,  Gli  Alberti  di  Firenze,  Genealogia,  storia  e  documenti.     parte  IJa  pag.   i86fr.     Firenze  1870. 


—    31     — 

vergessen.  Und  doch  hat  sich  gerade,  seitdem  in  der  Sakristei  von  S.  Miniato  eine  gründliche 
Restauration  stattgefunden,  der  authentische  Wert  dieser  gleichzeitigen  Gemälde  bedeutend  gesteigert. 
Ja,  auch  abgesehen  von  der  historischen  Wichtigkeit,  wird  dies  bescheidene  Oratorium  bei  Ponte  a 
Ema  gar  manchem  Freunde  alter  Kunst  den  wärmsten  Anteil  abgewinnen;  denn  in  dieser  ländlichen 
Umgebung  wirken  die  Bilder  auf  den  schlichten  Wänden  so  ergreifend  und  mächtig  gleich  der 
persönlichsten  Erinnerung  an  vergangene  Kinderträume. 

Sie  schimmern  uns  so  freundlich  aus  der  Tiefe  entgegen,  in  ihren  halbverblichenen  Farben 
und  ihren  halb  verschwebenden  Personen,  dass  uns  der  Märchenduft  gefangen  nimmt,  wie  solch  ein 
Inhalt  soll  und  will.  Treten  wir  durch  den  schlichten  Vorraum  in  das  farbige  Sanktuarium,  so 
schauen  von  der  Leibung  des  Gurtbogens  die  zwölf  Apostel  aus  rautenförmigen  Rahmen  nieder, 
und  unter  dieser  Reihe  von  Brustbildern  stehen  hier  S.  Franciscus,  dort  S.  Ludwig  von  Toulouse 
in  ganzer  Figur.  Im  Kreuzgewölbe  sehen  wir  aus  blauem  Himmelsgrund  die  vier  Evangelisten  mit 
ihren  Attributen  hervortreten.  Beide  Vollmauern  darunter  sind  durch  Ornamentstreifen  in  je  vier 
Felder  geteilt,  während  die  Schlusswand  über  dem  Bogen  des  Chores  eine  breite  Fläche,  unterhalb 
links  und  rechts  zwei  schmalere  Ausschnitte  bietet.  Darin  erscheint  links  S.  Antonius,  der  Abt, 
von  dem  nur  noch  die  obere  Hälfte  erhalten  ist,  seit  Angelo  Venturi,  der  Bischof,  die  Tür  zur 
Sakristei  ausbrechen  und  den   steinernen  Architrav  mit  seinem  Namen  und  Wappen  einsetzen  Hess. 

Rechts  steht  noch  heute  in  ganzer  Figur  die  Hauptheilige  S.  Katharina  von  Alexandrien  mit 
ihrem  Marterwerkzeug,  dem  Rade,  neben  sich,  etwas  flüchtig  und  leer  behandelt  und  abweichend 
von  dem  lieblichen  Frauenbild  der  Historien  selbst.  Neben  ihr  oben  im  spitzbogigen  Wandfelde 
beginnt  die  Erzählung  ihres  Lebens. 

„Wie  Santa  Caterina  und  ihre  Mutter  mit  einiger  Begleitung  zum  frommen  Einsiedler  heraus- 
kommen, um  seinen  Rat  zu  hören"'  lautet  die  erste  Unterschrift  in  damaligem  Italienisch.  Vor  der 
engen  Behausung  zur  Rechten,  unter  deren  Schirmdach  aus  breitem  Fenster  ein  langbärtiger  Greis 
wie  aus  einem  Beichtstuhl  hervorschaut,  haben  auf  steinernen  Bänken  die  jungfräuliche  Königin  und 
ihre  verwitwete  Mutter  Sabinella  Platz  genommen.  Blondlockig  und  jugendfrisch  hebt  die  Heilige 
ihr  Antlitz  zu  dem  Alten  auf,  der  sie  belehrt  —  ja,  ihre  Handbewegung  scheint  zu  verraten,  dass 
sie  nicht  nur  ruhig  empfangend  zuhört,  sondern  der  natürlichen  Anlage  folgend  auch  hier  schon  ihre 
weibliche  Dialektik  versucht.  Bewundernd  und  andächtig  lauschen  die  Begleiter,  die  in  stattlicher 
Schaar  zur  Linken  stehen,  wo  im  Hintergrund  die  Türme  der  Stadt  Alexandrien,  selbstverständlich 
in  toskanischer  Trecento-Architektur  zum  Vorschein  kommen.  Die  ganze  Familie  muss  dabei  sein, 
wie  noch  heute  die  rein  persönliche,  intimste  Angelegenheit  eines  Mitgliedes  von  sämtlichen  An- 
gehörigen, Freunden  und  Gevatterinnen  mitverhandelt  wird.  Eine  Matrone  in  nonnenhafter  Tracht 
mit  zwei  jungen  Mädchen  zur  Seite  bilden  ein  würdiges  Gefolge.  Im  Vordergrund  jedoch  erregt 
eine  Gruppe  von  Männern  für  sich  Interesse;  denn  sie  erscheinen  im  zeitgenössischen  Kostüm  des 
Malers  und  sind  gewiss  der  Wirklichkeit  entnommen.  Ein  bärtiger  Signore  im  besten  Mannesalter, 
gefolgt  von   seinem  Hunde,    neben   ihm    ein  Jüngling  in  derselben  vornehmen  Kleidung,   hinter  ihm 

I  Qui  diprima  di  dimostra  come  Santa  Katherina  e  la  madre  con  certa  compagnia  venero  per  consiglio  a 
questo  S.  Romito. 


aber  ein  anderer  Mann,  der  mit  der  Hand  die  Schulter  des  Herrn  berührend  den  Kopf  vorstreckt, 
um  ihm  ins  Ohr  zu  flüstern.  Haben  wir  in  ihnen  etwa  Messer  Benedetto  degli  Alberti,  den  Stifter 
der  Gemälde,  mit  seinem  jungen  Sohn  Lorenzo,  dem  Vater  des  Leon  Battista  Alberti,  und  einem 
vertrauten  Geschäftsführer  des  reichen  Handelshauses  oder  dem  Fattore  des  Gutes  zu  erkennen,  wie 
sie  beim  Beginn  der  Arbeit  in  glücklichen  Verhältnissen  und  reger  Tätigkeit  lebten?  Und  bliebe 
als  Letzter,  doch  nicht  Geringster  in  der  Mitte  dieser  Zuschauer  der  vollbärtige  Mann  im  hohen 
hellen  Hut  als  Meister  Spinello  Aretino  selbst  übrig? 

Den  jungen  Sohn  und  die  alte  Klosterfrau  finden  wir  auf  dem  folgenden  Bilde  wieder,  das 
uns  erzählt:  „wie  Santa  Katharina  voll  Glauben  und  Frömmigkeit  vom  Eremiten  die  heilige  Taufe 
empfängt."'  Sie  kniet  mit  gefalteten.Händen  vor  dem  Gehäus  des  Einsiedlers,  während  hinter  ihr 
zwei  dienende  Frauen  das  Wasserbecken  tragen,  die  Nonne  gleichsam  als  geistliche  Erzieherin  an- 
dächtig zuschaut,  und  der  Jüngling  derweil  die  Krone  hält.  Rechts,  der  Heiligen  zugewendet,  knien 
noch  zwei  andere  Frauen  und  runden  so  die  feierliche  Gruppe  trefflich  ab.  Den  Mittelpunkt  bildet 
in  jeder  Beziehung  die  anmutige  Erscheinung  der  jungen  Königin,  der  zu  Ehren  droben  in  den  Lüften 
ein  Engelreigen  herniederschwebt. 

Diese  beiden  Bilder  des  rechten  Bogenfeldes  sind  am  besten  erhalten  und  zeigen  uns  den 
Meister  von  seiner  liebenswürdigsten  Seite.  Während  in  den  Geschichten  des  heiligen  Benedikt 
droben  in  San  Miniato  immer  das  einförmige  Mönchsgewand  wiederkehrt  und  allerlei  künstliche 
Mittel  aufgeboten  werden  müssen,  um  etwas  Abwechselung  in  die  Klostergeschichten  zu  bringen,  so 
bewährt  der  Maler  hier  eine  Frische  der  Auffassung,  wie  sonst  nur  in  den  schlichteren  Scenen  des 
Marienlebens  in  Siena  oder  der  Verkündigung  in  Arezzo.  Dazu  entwickelt  er  bereits  die  räumliche 
Umgebung,  Landschaft  und  Stadtansicht  mit   einem  malerischen  Sinn,  der  an  Ghiberti  vorausmahnt. 

Leider  nicht  unversehrt  sind  dagegen  die  beiden  anderen  Bilder.  Die  Feuchtigkeit  hat  die 
unteren  Teile  sehr  angegriffen  und  fast  ein  Drittel  der  Malerei  vernichtet.  Aber  auch  so  noch  er- 
kennt man  den  selben  Geist  und  die  wachsende  Freiheit  der  Bewegung  im  Räume.  Der  Einsiedler 
hat  der  frommen  Jungfrau  den  Heiland  als  himmlischen  Bräutigam  empfohlen  und  ihr  ein  Madonnen- 
bild geschenkt,  jetzt  kniet  sie  verehrend  vor  diesem  Bilde  und  vertieft  sich  innig  in  den  Anblick  des 
Mariensohnes.  Neben  der  Kapelle  aber,  wo  sie  es  aufgehängt,  ist  ihr  Schlafgemach,  und  dort  werden 
ihr  die  Worte  des  Lehrers  und  die  Sehnsucht  des  eigenen  Herzens  zum  lieblichsten  Traume,  der  all 
die  Wünsche  ihres  unschuldigen  Gemütes  befriedigt.  Maria  selbst  ist  erschienen,  hat  sich  mit  dem 
Söhnlein  auf  dem  Schoss  neben  der  Bettstatt  niedergelassen,  und  schwebende  Engel  bilden  mit 
einem  Teppich  den  Thron  für  die  Königin  des  Himmels,  während  ein  schönheitstralendes  Gefolge 
von  Seraphim  sich  ihr  zur  Seite  schart.  Caterina  selbst  aber  darf  niederknien  vor  den  Himmlischen, 
wie  sie  vor  dem  Bilde  gekniet,  und  Maria  fasst  ihre  Hand,  um  sie  dem  Sohne  zu  verloben,  der  ihr 
den  Ring  an  den  Finger  steckt.  Diesen  Traum  sehen  wir  leibhaftig  vor  uns,  zur  Wirklichkeit  ge- 
steigert, wie  er  es  für  die  Heilige  ward,  die  erwachend  den  Ring  an  ihrem  Finger  als  Bestätigung  fand. 

Nun  handelt  sie  fortan  in  dieser  Überzeugung.     Selbst  zum  Kaiser  Maxentius  geht  sie,  wie  er 


I  In   questa    seconda   storia    si    dimostra   come    Santa    Kaüierina    con    molta   fede    e    devotione    riceue    il    santo 
dal  romito. 


—     33     — 

im  Tempel  den  Götterbildern  opfert,  und  stellt  ihm  in  Gegenwart  der  Priester  und  der  Räte,  der 
Leibwache  und  des  Heidenvolkes  die  Verwerflichkeit  des  Götzendienstes  vor,  indem  sie  mit  dem 
Aufwand  ihrer  philosophischen  Bildung,  wie  ihrer  weiblichen  Beredsamkeit  die  i.iberlegene  Allmacht 
des  ewigen  Schöpfers  dartut.  Auch  hier  ist  die  Scene  geschickt  angeordnet  und  bezeichnender 
Weise  räumlich  erweitert.  Nicht  in  das  Innere  des  Tempels,  wie  wir  erwarten,  versetzt  uns  der 
Maler,  sondern  auf  einen  freien  Platz,  wo  links  der  Thron  des  Herrschers,  rechts  eine  Loggia  mit 
dem  Götzenbild  einander  gegenüberstehen,  während  Katharina  zwischen  beiden  die  Mitte  hält;  der 
andächtige  Eifer  der  Heiden,  die  knieend  anbeten,  der  Tubabläser  und  Priester,  deren  vornehmster 
missmutig  zur  Heiligen  herumschaut,  das  staunende  Lauschen  ihrer  Hörer  und  die  befehlende  Gebärde 
des  Tyrannen,  der  sie  zwingen  will,  dem  Idol  zu  huldigen,  —  Alles  wirkt  dramatisch  zusammen  und 
entfaltet  sich  offen  vor  unseren  Augen.  Es  ist  eine  glückliche  Vereinigung  von  Idealität  und 
Beobachtung  des  Lebens,  die  verständlich  wird,  ohne  aus  dem  gehobenen  Ton  der  Legende  in  die 
Wirklichkeit  des  Alltags  zu  fallen. 

Katharina  hat  den  Kaiser  selbst  im  Innersten  erschüttert.  Das  ist  ihr  höchster  Triumph,  aber 
auch  ihr  Schicksal.  Es  war  ihre  Schönheit,  die  ihn  mit  ergriffen.  Er  lässt  die  Weisesten  aus  allen 
Teilen  seines  Reiches  kommen  und  versammelt  sie,  um  gegen  Katharina  zu  disputieren;  aber  sie 
bleibt  unbeweglich,  ja  es  gelingt  ihrer  glänzenden  Dialektik  auch,  die  Philosophen  zu  bekehren.' 
In  einer  länglichen  Loggia  mit  Kuppelraum  am  Ende,  wo  der  Kaiser  thront,  zeigt  uns  der  Maler  die 
Weisen  vor  Maxentius  versammelt;  sie  sitzen  zu  dreien  auf  den  Bänken  vorn  und  in  der  Tiefe, 
während  rechts  Katharina  dem  Eingang  nahe  steht,  wo  zwei  Krieger  sie  überwachen.  In  vornehm 
bescheidener,  aber  beredter  Haltung  antwortet  sie  den  Einwürfen  des  Einzigen,  der  noch  die  Hand 
demonstrierend  ausstreckt.  Alle  anderen  horchen  schon  ergeben,  ernst  nachsinnend,  staunend  über- 
wunden, und  der  Schlaueste  selbst  blickt  auf  den  Monarchen,  wie  flüsternd,  dass  der  Streit  verloren  sei. 

„Wie  der  Kaiser  Maxentius  die  Weisen  verbrennen  lässt  und  die  heilige  Katharina  sie  ermahnt, 
fest  zu  bleiben  im  Glauben  an  Gott",  lautet  die  folgende  Unterschrift.  ^  Lichterloh  schlagen  die 
Flammen  rings  um  die  Bekehrten  empor.  Wieder  sitzt  der  Kaiser  unter  seinem  Baldachin  vor  dem 
Palast,  wie  beim  ersten  Auftreten  Katharinas  gegen  den  Götzendienst;  die  Wache  umgiebt  ihn,  aber 
er  lässt  es  geschehen,  dass  die  Christusbraut,  die  vor  dem  Feuertod  erbeben  sollte,  glaubensmutig 
zu  den  Duldern  redet  und  sie  tröstet,  dass  sie  noch  nicht  getauft  worden. 

Nach  einem  solchen  Autodafe  wird  denn  doch  auch  Katharina  ins  Gefängnis  geworfen;^ 
aber  vom  Gitter  ihres  Käfigs  aus  predigt  sie  den  Wächtern,  und  der  Hauptmann  Porfirio  mit  seinen 
zweihundert  Rittern  bekehren  sich  zu  ihrem  Glauben.  Nachts  aber  besucht  sie  der  himmlische 
Bräutigam  mit  seinen  Engelscharen,  und  überirdischer  Lichtglanz  stralt  aus  dem  Kerker.  Beide 
Momente  schildert  das  nächste  Fresko  der  unteren  Reihe,  indem  uns  zugleich  dort  die  Aussenseite, 
hier  das  Innere  des  geräumigen  Verliesses,  oder  richtiger  offenen  Käfigs  auf  der  Strasse,  gezeigt  wird. 


1  Come    Masentio    Imperadore    fece    raunare    gli    suoi    savi  che    disputassero    contro    la    sapientia    et    fede 
Santa  Katherina  —  sagt  die  erste  Unterschrift  des  Bogenfeldes  gegenüber. 

2  Come  Masentio  Imperadore  fece  ardere  gli  savi  e  come  santa  Katherina  gli  conforta  che  stieno  fermi  ad  dio 

3  Come  Sca   Katherina  fu  messa  in  prigione  e  come  Porfirio  Capitano   de    doicento    caualieri   tucti   si    convertie 
a  Sca.  Katherina. 

5 


—     34     — 

Unter  den  gläubig  gewordenen  ist  auch  die  Gattin  des  Kaisers  selbst;  denn  die  folgende 
Inschrift  besagt:  „Wie  Kaiser  Maxentius  den  Urteilsspruch  fällt,  dass  die  Königin  und  der  Haupt- 
mann Porfirio  mit  den  zweihundert  Reitern  sämtlich  geköpft  werden  sollen.'"  Und  diese  Massen- 
hinrichtung soll  der  Künstler  den  Christenmenschen  zur  Erbauung  vor  Augen  stellen:  —  Andere 
Zeiten  haben  es  verlangt  zur  frommen  Erschütterung  der  Gläubigen,  um  der  Härtigkeit  ihrer  Herzen 
willen,  wie  z.  B.  die  grausamen  Zeiten  der  Gegenreformation  und  des  dreissigj ährigen  Krieges. 
Heute  würde  es  vielleicht  auf  einer  Ausstellung  Furore  machen,  um  der  Wahrheit  der  absichtlich 
ausgesuchten  Blutscene  willen,  wenn  man  auch  statt  der  Herzenshärtigkeit  unseres  Publikums  lieber 
die  Überreizung  unserer  Nerven  als  Motivierung  anführt.  Doch  das  nebenbei!  wozu  dieser  Seitenblick? 
Spinello  Aretino  gehört  noch  zu  den  glücklichen  Idealisten,  die  alles  verklären  und  veredeln,  was 
ihre  Hand  berührt.  Wol  ihm  und  seiner  Gemeinde!  Ihnen  genügt  noch  eine  Andeutung  des 
furchtbaren  Mordens  auf  Tyrannenbefehl.  Nur  ein  Henker  arbeitet;  zwei  Opfer  liegen  bereits 
gefällt  am  Boden,  ein  drittes  harrt  zur  Seite  knieend,  und  der  Hauptmann  empfängt  gerade  den 
Streich,  während  eine  andere  kleine  Zahl  gefesselt  —  von  der  Leibwache  behütet  —  im  Kreise 
steht,  und  droben  vom  Söller  Maxentius  und  die  Königin  zuschauen.  Neben  der  Weisheit  des 
Malers  in  der  Beschränkung,  liegt  zugleich  die  Schranke  seines  Kunstvermögens:  die  Bewegung  des 
Henkers,  wie  er  zum  Hieb  ausholt,  lässt  doch  zu  wünschen  übrig  und  scheint  der  tänzelnden  Bravour 
des  Fechtbodens  mehr  als  dem  grausamen  Ernst  der  Richtstätte  zu  entsprechen.  Da  werden  wir  eben 
erinnert,  dass  der  gewaltige  Fortschritt,  nach  dem  dieser  Künstler  fühlbar  genug  hinstrebt,  doch  erst 
der  folgenden  Generation  gelingen  konnte,  und  rufen  uns  wol  die  Geschichten  der  heiligen  Katharina 
in  San  demente  zu  Rom  ins  Gedächtnis,  wo  gerade  dieser  Schritt  mit  besserem  Erfolge  versucht  wird. 

Das  ist  überhaupt  das  Eigentümliche  in  der  Kunst  Spinello  Aretinos:  er  gehört  einer  Über- 
gangsperiode an,  der  die  altgewohnten  Formen,  die  ererbte  Ausdrucksweise  nicht  mehr  genügt,  aber 
ein  neues  noch  nicht  gelingen  will.  Überall  entdecken  wir  Spuren  des  eifrigen  Strebens,  über  das 
Hergebrachte  hinauszukommen;  doch  die  Mittel,  welche  die  Schulung  an  die  Hand  gegeben,  die  er- 
forderlichen Vorkenntnisse  und  Fertigkeiten,  die  man  in  der  Jugend  bereits  erlernen  und  einüben  muss, 
reichen  nicht  aus,  das  Wollen  in  freiem  Vollzug  zu  erfüllen.  Daher  das  Gespannte  in  den  Malereien 
Spinellos,  besonders,  wo  er,  wie  bei  historischen  Erzählungen,  gerade  sein  Neues  zu  sagen  hätte.  Daher 
erscheint  die  Ausführung  in  gewisser  Beziehung  zu  flüchtig,  wenigstens  soviel  minder  sorgsam  und  liebe- 
voll im  Einzelnen  als  die  seiner  Vorgänger;  aber  wir  sind  ungerecht,  wenn  wir  nur  dieses  tadeln,  ohne 
zu  bemerken,  wie  sehr  seine  volle  Anstrengung  auf  das  Festhalten  lebendiger  Motive,  auf  dramatische 
Steigerung  des  Geschehens,  auf  wirkliche  Handlung  gerichtet  ist  —  ein  Drang  nach  vorwärts,  dem  die 
fleissige  Glätte  des  Längstbekannten  und  Selbstverständlichen  notwendig  zur  Nebensache  wurde.  Und 
da  uns  Spinello  Aretino  gerade  als  Historienmaler  wichtig  und  bekannt  ist,  so  bestimmt  sich  unser 
Urteil  leicht  zu  einseitig  nach  dem,  was  er  wirklich  zu  leisten  vermocht.  Wer  aber  die  Geschichte 
in  ihrer  Entwickelung  verstehen  will,  dem  ist  gar  oft  das  Verständnis  desWollens  viel  mehr  zu  wünschen, 
als  die  Wertbemessung  des  Könnens;  denn  dieses  ist  abgetan,  jenes  bewirkt  das  Werden. 


I  Come  Masentio   Inperadore   diede  per  sententia  che  la  reina   e  Porfirio  Capitano  ed  i  doicento  c 
tucti  decapitati. 


—    35     — 

Spinellos  Erzählung  der  Katharinenlegende  setzte  sich  einst  im  Altarhaus  fort.  Auch  hier 
boten  unter  dem  Kreuzgewölbe  die  Lünetten  und  Wandfelder  Platz  für  je  eine  Scene,  wie  die  Ent- 
hauptung der  Königin,  Katharinens  Weigerung  dann  die  Gattin  des  Kaisers  zu  werden,  und  ihr 
eigenes  Leiden.  Aber  gegenwärtig  ist  alles  übertüncht  und  scheint  unrettbar  verloren.  Links 
schimmert  nur  noch  der  Kopf  der  Heiligen  mit  dem  Nimbus  durch.  An  der  Fensterseite  zwei 
einzelne  Heiligenfiguren;  rechts,  deutlicher  als  das  übrige,  die  wunderbare  Errettung  aus  der  Marter, 
die  ihr  zugedacht  war,  und  deren  lebhafte  Darstellung  offenbar  den  Beinamen  des  Kirchleins  „delle 
Ruote",  Sankt  Kathrin'  mit  den  Rädern,  veranlasst  hat.  Man  sieht  die  Heilige  dazwischen  stehen 
und  die  Henkersknechte  setzen  eben  die  scharfgezahnten  Maschinen  in  Bewegung,  um  den  Leib  der 
Jungfrau  zu  zerfleischen.  Da  fährt  wie  ein  Blitz  der  Engel  des  Herrn  herab  und  zersplittert  die 
Räder,  ehe  sie  noch  fassen,  in  tausend  Stücke,  dass  die  Peiniger  getroffen  oder  bestürzt  entweichen. 

Wolerhalten  ist  dagegen  der  Abschluss  des  Ganzen.  Über  dem  Eingang  zum  Chore  war 
noch  ein  Feld  der  Schmalwand  in  dem  Hauptraume  übrig  geblieben,  als  am  ii.  Juli  1387  der 
Stifter  dieser  Malereien  als  Verbannter  in  Genua  das  Codicill  zu  seinem  Testament  machte,  das  uns 
erhalten  ist,  und  so  die  Möglichkeit  gewährt  diese  Fresken,  wie  die  Sakristei  von  S.  Miniato  mit 
wünschenswerter  Genauigkeit  zu  datieren.  Damals  glaubte  Benedetto  degli  Alberti  zunächst  nur  auf 
zwei  Jahre  seine  Vaterstadt  meiden  zu  müssen  und  fürchtete  kaum,  dass  die  Gegner  so  mächtig 
würden,  ihn  und  die  Seinen  für  einen  Rebellen  zu  erklären  und  so  seiner  Güter  zu  berauben.  Deshalb 
beauftragte  er  seine  Angehörigen  und  Vertreter  daheim,  dass  die  Aussenseite  des  Chores  seiner 
Kapelle  zu  Antella  mit  der  Bestattung  S.  Katharinens  auf  dem  Berge  Sinai  ausgemalt  werde  und 
der  Platz  vor  dem  Kirchlein  ringsum  aufgemauerte  Sitze  erhalte.  Zu  den  Seiten  des  Bogens,  der 
das  Altarhaus  öffnet,  sehen  wir  die  beiden  vorangegangenen  Scenen,  links  Katharinens  Abführung 
aus  dem  Kerker  und  rechts  ihre  Enthauptung,  in  der  Mitte  darüber  „wie  die  Engel  ihren  Körper 
nach  dem  Berge  Sinai  tragen"  und  in  einem  Sarkophage  zur  Ruhe  betten.  Noch  einmal  hat  der 
Maler  für  seinen  Gönner  Benedetto,  wol  noch  ehe  die  Kunde  von  seinem  Tode,  am  13.  Januar  1388, 
aus  Rhodus  herüberkam,  die  ganze  Kraft  zusammengenommen  und  seinen  echten  Schönheitssinn 
bewährt.  Er  weiss  die  Schlussaccorde  energisch  zu  greifen  und  das  Drama,  das  so  lieblich  beginnt, 
so  tragisch  sich  steigert,  auch  versöhnend  und  harmonisch  zu  schliessen.  Ungemein  hübsch  ist  der 
schmale  Ausschnitt,  wo  ein  bärtiger  Krieger,  entschlossen  aber  ehrfürchtig,  Hand  anlegt,  die  königliche 
Jungfrau  zu  binden.  Auf  der  anderen  Seite  ist  der  Streich  geschehen:  enthauptet  liegt  der  Körper 
am  Boden,  während  der  Henker  das  Schwert  zurückstösst.  Droben  aber  auf  dem  Berge  wird  der 
entseelte  Körper  von  zwei  Engeln  ins  Grab  gesenkt;  ein  dritter  schwingt  das  Rauchfass  und  ein 
Chor  von  andern  singt  knieend  zu  Häupten  und  zu  Füssen  der  Heiligen  ein  Requiem.  Gerade  diese 
knieenden  Engel  gehören  zum  Besten,  was  Spinello  überhaupt  gelungen,  und  erinnern  abermals  wie 
der  Anfang  an  den  geistesverwandten  Bildner  Lorenzo  Ghiberti.' 

I  Der  Artikel  erschien  zuerst  in  der  National-Zeitung  (Berlin  25.  Dec.  18S8).  Die  Photograpliieen  von  Alinari  sind 
alt  und  lassen  zu  wünschen  übrig.  Eine  neue  Aufnahme  des  Ganzen,  die  Brogi  versprochen  hatte,  wäre  dringend  geboten. 
Das  Erdbeben  war  eine  Mahnung  und  hat  die  Kapelle  vielleicht  vollends  gefährdet. 


DIE  STATUEN  AN  ORSANMICHELE 


Es  ist  Markttag.  Die  Bauern  sind  vom  Lande  in  die  Stadt  gekommen  und  drängen  sich  auf 
der  Piazza  della  Signoria  und  hinein  in  die  Via  Calzajoli  in  hellen  Haufen  um  die  Zwischenhändler 
und  Mäkler.  Feilschend  und  schwatzend  vollführen  sie  ein  ununterbrochenes  Gesumme,  das  den 
Grossstädter  aus  dem  Norden,  der  sich  gerade  hier  hindurchwindet,  an  die  Hamburger  Börse  erinnern 
muss,  wo  er  nichts  weiter  vor  sich  hat  als  diesen  geschäftigen  Bienenschwarm,  nur  eingefangen  unter 
Dach  und  Fach,  und  so  allmählich  städtisch  abgefeimt.  Waren  es  doch  die  Urväter  der  heutigen 
Florentiner,  die  den  Brauch  ihres  Handels  und  Wandels  auf  Markt  und  Gassen  hinaustrugen  in  die 
weite  Welt,  wo  noch  jetzt  ihre  heimischen  Ausdrücke  bei  allen  Geschäften  im  Schwange  sind. 
Warum  drängt  sich  der  kleine  Mann  vom  Lande  und  der  Verwalter  des  grössern  Grundbesitzers  mit 
dem  Aufkäufer  und  Agenten  der  Stadt  von  dem  geräumigen  Platze  —  wie  aus  einem  Riesensaal  in 
enge  Nebengemächer  —  gerade  in  die  schmale  Gasse,  die  zum  Domplatz  führt?  Warum  schieben 
sich  die  Gruppen,  den  ab-  und  zufahrenden  Wagen  und  den  durcheilenden  Fussgängern  zum  Trotz, 
nur  ins  erste  Ende  dieser  Verkehrsader  hinein  und  verteilen  sich  in  die  Seitengässchen  und  Durch- 
gänge, bis  die  ganze  Kirche  S.  Carlo  umlagert  ist?  —  Es  spielt  ein  Stück  uralter  Gewohnheit  da- 
hinein. Denn  hier,  gegenüber  dem  jetzt  geschlossenen  Kirchlein  des  Borromäers,  das  früher 
S.  Michael  geweiht  war,  stand  einst  das  Getreidelager  der  Stadt  mit  seinem  uralten  Heiligtum  der 
Maria  und  ihrer  Mutter  Anna,  die  seit  1343,  da  an  ihrem  Festtage  die  Tyrannei  des  Herzogs  von 
Athen  ein  Ende  nahm,  neben  der  Mutter  Gottes  hier  verehrt  ward. '  Es  ist  das  nämliche  Gebäude, 
bei  dem  auch  wir  Halt  machen ;  ein  rechteckiger  Kasten  von  drei  Geschossen  übereinander,  ringsum 
frei,  nur  an  der  Rückseite  mit  dem  Häuserkomplex  dahinter  durch  einen  später  angelehnten  Schwib- 
bogen zusammenhängend,  der  bequemern  Zugang  nach  oben  gewährt.  Niemand  wird  eine  Kirche  darin 
vermuten.  —  Das  ganze  viereckige  Gebäude,  mit  zwei  schmaleren  Seiten  als  Front  und  Rücken  und 
zwei  längeren  in  der  Tiefenrichtung,  gleicht  mehr  einem  Palast  als  einem  Tempel.  Das  untere 
Geschoss  war  ursprünglich  offen;  man  sieht  noch  deutlich  die  festgefugten  Pfeiler  aus  Haustein  mit 
verbindenden  Bögen  darüber  und  ihrem  Zusammenhalt  bis  ans  erste  Gesims  sich  von  dem  Füllwerk 
dazwischen    unterscheiden.    Je  zwei  Arkaden   öffneten   sich  nach   vorn   und  hinten,  je   drei   an   den 


'  Die   urkundlichen  Notizen  wurden   zuerst  nach  Luigi  Passerini,  Curiositä  storico-artistiche  fioi 
1866  beigebracht;  bei  dieser  verbesserten  Redaktion  sind  die  Angaben  von  P.  Franceschini   1892  aufgei 


—     ?>7     — 

Langseiten,  und  gestatteten  ringsum  den  Einblick  in  die  zweischiffige  Halle,  die  mit  sechs  Kreuz- 
gewölben gedeckt  ist.  Diese  Bogenstellungen  sind  dann  später  geschlossen  worden.  Über  einer 
Brustwehr  erheben  sich  steinerne  Pfosten,  welche  die  breite  Arkade  zu  einem  dreiteiligen  Fenster 
umgestalten;  darüber  im  Bogenfelde  spätgotisches  Mafswerk  mit  halbkreisförmigen  und  spitzen 
Bogen  verschiedener  Weite,  mit  Radfenstern  und  kleineren  Rosen,  mit  üppigem  Laubwerk,  in  dessen 
Dreiblattfüllungen  menschliche  Köpfe  als  Mittelpunkt  hervorragen,  und  endlich  mit  einer  Reihe  von 
Statuetten,  die  innen  wie  aussen  die  Fensterpfosten  bekrönen.  Die  Apostel-  und  Prophetenfigürchen 
sind  vielfach  bis  zur  Unkenntlichkeit  verwittert,  vielfach  um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  erneuert. 
Das  riesige  Stabwerk  selbst  ist  oben  hier  und  da  noch  mit  alten  Glasfenstern  gefüllt,  natürlich  ver- 
staubt und  zurechtgeflickt,  die  unteren  Partien  dagegen  überall  mit  Backsteinwerk  vermauert;  nur  an 
der  Rückseite  sind  darin  die  beiden  Kirchentüren  angebracht. 

Ausgezeichnete  Meister,  wie  Lorenzo  Ghiberti  und  der  früh  verstorbene  Nanni  d'Antonio  di 
Banco,  der  einzige  Donatello  und  der  ernste  Verrocchio  haben  die  Tabernakel  der  Pfeiler  mit  ihren 
Meisterwerken  belebt,  und  so  den  Felsblock,  der  wie  ein  Riesenwürfel  hierher  gewälzt  scheint,  zu 
einem  der  bedeutendsten  Monumente  jener  Kunstperiode  erhoben.  „Diese  Statuen  sind  eine  sprechende 
Geschichte  der  florentinischen  Skulptur",  hat  man  mit  Recht  gesagt,  d.  h.  der  Übergang  aus  dem 
XIV.  Jahrhundert  bis  zur  Vollendung  des  Stiles,  den  wir  als  „Quattrocento"  bezeichnen,  wird  hier  in 
typischen  Erscheinungen  fast  Schritt  für  Schritt  verkörpert.  In  den  vierzehn  Pfeilernischen  ringsum 
aufgestellt,  fesseln  sie  unsere  Aufmerksamkeit  trotz  Strassenlärm  und  Marktgedränge,  dass  wir  uns 
gern  irgendwo  hindurchschieben  und  Posto  fassen,  wo  wir  ihres  Anblicks  teilhaftig  werden,  —  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  von  dem  Geschäftsvolk,  das  herumsteht,  für  wunderliche  Gaffer  gehalten 
zu  werden. 

Sollte  ein  Künstler  wie  Andrea  del  Verrocchio  nicht  die  Macht  haben,  uns  eine  Weile  völlig 
zu  beschäftigen,  und  uns  über  die  zufällige  Umgebung  des  Augenblicks  hinausheben  zu  stiller  Zwie- 
sprach  mit  seinen  Gebilden?  Winkt  nicht  aus  der  mittleren  Hauptnische  der  Vorderfront  schon  von 
Ferne  die  Bronzegruppe  „Christus  und  Thomas",  das  grossartigste  Bildwerk  von  ihm,  das  in  seiner 
Vaterstadt  Florenz  zu  sehen  ist?  Und  doch:  „was  steht  ihr  Männer  von  Norden  und  schaut  nach 
den  alten  Figuren"  —  fragen  uns  die  erstaunten  Augen  seiner  Landsleute.  —  „Wir  sind  soweit 
gekommen,  uns  als  Zeitgenossen  eurer  Urväter  fühlen  zu  können,  die  diese  Gestalten  da  hingestellt, 
mag  man  uns  darob  für  fortgeschrittener  oder  für  zurückgeblieben  erklären.  Uns  genügt,  dass  wir's 
vermögen!"  —  Es  ist  wahr,  diese  Bildwerke  da  oben  sind  schwarz  geworden  und  verstaubt;  denn  wie 
Wenige  achten  ihrer,  auch  wenn  sie  hinaufblicken  und  nachlesen  wer  gemeint  ist.  Aber  diese 
Gestalten  sagen  uns,  wie  ein  denkender  Künstler  aus  hochbegabter  Zeit  sich  den  Heiland  der  Mensch- 
heit vorgestellt  in  dem  Augenblick,  wo  ein  ungläubiger  Schüler  dem  Meister  mit  dem  Zweifel  an 
dem  zu  nahe  tritt,  was  er  für  ihn  und  alle  Seinen  gelitten  und  vollbracht.  Es  ist  kein  schöner  Mann,' 
dessen  Antlitz  schon  den  Adel  seiner  .Seele  und  die  Milde  seines  Wesens  verkündete,  sondern  er 
ist  ernst  und  herbe  im  Ausdruck;  die  Spuren  des  Leidens,  das  er  durchgemacht,  sind  auch  bei  dem 
Auferstandenen  nicht  verschwunden,  und  wie  die  Nägelmale  an  den  Händen,  trägt  er  die  Züge  des 
Kummers  um  Schläfen  und  Mund.     Aber  lange  Locken  wallen  von  dem  Scheitel  auf  die  Schultern, 


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ein  wolgebauter  Körper  trägt  das  Haupt  voll  überlegener  Hoheit,  und  ein  faltenreicher  Mantel 
umhüllt  die  Glieder  in  malerischer  Breite.  Menschlich  nahe  und  doch  so  vornehm  durch  die  Macht 
des  Geistes  und  die  Seelengrösse,  die  ihm  innewohnt,  steht  dieser  Christus  neben  dem  hartköpfigen 
Jünger,  der  nur  glauben  will,  was  er  greifen  kann.  Die  linke  Hand  zieht  das  Gewand  von  der  Brust 
zurück  und  entblösst  die  Seitenwunde,  wo  die  Lanze  ihm  ans  Herz  gestossen,  während  die  Rechte 
sich  emporhebt  über  Thomas,  als  taufe  er  ihn  mit  dem  Feuer  des  heiligen  Geistes  und  giesse  die 
Segnung  des  Glaubens  über  ihn  aus.  Und  diese  Hände,  die  uns  so  wichtig  mitspielend  gezeigt 
werden  —  wie  erzählen  sie  für  sich  selbst!  So  wunderbar  sind  alle  Fasern  und  Falten  mit  Empfindung 
und  Leben  durchdrungen.  Es  ist  die  Hand  eines  völlig  andern  Menschen,  die  sich  der  Wunde 
zubewegt,  mit  ausgestreckten  Fingern  die  klaffenden  Ränder  zu  betasten;  sie  ist  jung  und  unerfahren, 
derber  und  stumpfer  als  die  des  Dulders  daneben.  Sonst  ist  diesem  schwerbegreifenden  Schüler 
alle  Schönheit  und  Liebenswürdigkeit  zugeteilt,  damit  uns  nicht  die  beschränkte  Rücksichtslosigkeit 
eines  Berufenen  verletze,  der  ein  sinnfälliges  Zeichen  haben  will,  um  festzuhalten.  Das  glatte  Gesicht 
in  blühender  Jugendfrische,  eine  Flut  von  goldblondem  Haargelock  im  Nacken,  runde  Schultern  und 
lange  schlanke  Beine  unter  der  weichen  Bekleidung,  die  mit  üppigem  Aufwand  von  Faltenmotiven 
drapiert  ist,  ja  ein  paar  köstlich  verzierter  Sandalen  an  den  nackten  Füssen,  deren  Zehen  selbst  den 
nämlichen  Tastsinn  zu  besitzen  scheinen,  wie  die  Finger  dieses  Sohnes  der  Sinnenwelt,  —  Alles 
stralt  uns  an  und  schmeichelt  sich  ein  neben  der  ernsten,  gramdurchfurchten  Gestalt  des  Meisters. 
Christus  mit  dem  Heiligenschein  auf  dem  Haupt,  steht  in  der  halbrunden  Nische  auf  einer 
Stufe  erhöht,  während  Thomas  eifrig  verlangend  und  doch  bescheiden  zurückhaltend  auf  ihn  zutritt, 
als  böge  er  soeben  um  die  Ecke  links,  die  zu  überschreiten  ihm  eigentlich  nicht  ansteht.  So  hat 
Andrea  del  Verrocchio  selbst  die  Enge  des  Tabernakels,  die  er  vorfand,  zum  lebendigen  Motiv  für 
seine  zweifigurige  Gruppe  verwertet.  Ursprünglich  ward  dieser  Marmorrahmen  errichtet,  um  eine 
Einzelstatue  aufzunehmen,  und  zwar  den  heiligen  Ludwig  von  Toulouse.  Donatello  war  es,  der  — 
angeblich  schon  1420 — 23'  —  den  Auftrag  dazu  erhalten,  und  die  Bronzestatue  S.  Ludwig  in 
Sta.  Croce,  die  jetzt  hoch  oben  unter  dem  Rundfenster  der  Eingangswand  den  Augen  seiner 
Freunde  allzusehr  entrückt  steht,  war  ursprünglich  für  Orsanmichele  bestimmt.  Sonst  hat  der  grosse 
Bildhauer  der  Frührenaissance  (ums  Jahr  1440  erst,  wie  wir  nach  stilistischen  Eigenschaften  ver- 
muten) nur  den  plastischen  Schmuck  des  architektonischen  Rahmens  geliefert.  Dieser  selbst  zeigt 
uns  den  reinen  Stil,  den  Filippo  Brunelleschi  gefunden,  vielleicht  ein  wenig  zu  akademisch  klassicierend, 
um  von  ihm  selber  herrühren  zu  können,  wol  am  meisten  Michelozzos  Weise  verwandt.  Nur  das 
Symbol  des  dreieinigen  Gottes,  ein  dreifaches  Antlitz,  im  Kranz  mit  Flügeln,  welches  das  Giebelfeld 
ausfüllt,  und  höchstens  die  Köpfe  am  Sockel  sind  eigenhändige  Beiträge  Donatellos;  die  Cherubim 
mit  Guirlande  am  Gebälkfries  wie  die  Genien  am  Untersatz  verraten  eine  derbere  Schülerhand,  die 
Zwickelreliefs  mit  nackten  Flügelknaben  zwischen  Nischenbogen  und  Pilastern  dagegen  schon  ein 
feines  Gefühl  für  antike  Vorbilder,  gleich  denen  Rossellinos  am  Sockel  des  Grabmals  in  S.  Miniato. 


I  Vgl.  Pietro  Franceschini,  L'Oratorio  di  San  Michele  in  Orto  in  Firenze  1892  p.  88,  wo  das  ganze  Tabernakel 
für  Donatello  in  Anspruch  genommen  und  der  Bildhauer  zu  einem  der  grössten  Renaissance-Architekten  erhoben  wird  — 
freilich  ohne  Beweise! 


39 


Drinnen    die    Concha    jedoch    und     die    Verbreiterung    des    Sockels    sind    wol    schon    Verrocchios 
Zutat,   der  kurz   nach   1463,   als   dies  Tabernakel   in    den  Besitz  der  Universitä  dei  Mercatanti  über- 
gegangen war,  mit  der  Ausführung  des  bronzenen  Statuenpaares  beauftragt  ward.     Als  nach  langer 
Arbeit  1483  die  Gruppe  vollendet  war 
und     am    Thomastage     i486     enthüllt 
wurde,  da  priesen  die  Zeitgenossen  dies 
Werk   als    das    schönste,    das    hier    zu 
sehen  sei. 

Wir  heute  glauben  allerdings, 
bei  aller  Anerkennung  für  den  tiefen 
Gedankeninhalt  dieser  Gruppe,  dass 
Donatello  mit  den  Standbildern  des 
S.  Georg  und  S.  Marcus,  der  eine  141 5, 
der  andere  vielleicht  geraume  Zeit  später 
erst  aufgestellt,  in  seiner  Art  vollauf 
daneben  bestehen  kann. '  Seinen 
Schöpfungen  freilich  wohnt  ein  völlig 
anderes  Wollen  inne,  als  diesen  Vor- 
läufern der  Kunst  Lionardos.  San 
Giorgio  ist  zur  fünfhundertjährigen  Jubel- 
feier seines  Meisters  endlich  aus  dem 
allzu  tiefen  Madonnentempel  der  Süd- 
seite, wohin  er  lange  verbannt  gewesen, 
heraus  genommen,  aber  zur  besseren 
Erhaltung  in  das  Museo  Nazionale  ver- 
setzt, während  an  seiner  ursprünglichen 
Stelle  eine  Bronzewiederholung  Platz 
gefunden  hat,  die  an  dieser  Stelle  nicht 
wirken  kann  wie  das  marmorne  Original, 
dessen  Erhaltung  allerdings  gebot,  es 
an  dieser  Wetterseite  nicht  preiszu- 
geben. Aber  auch  seine  Gefangen- 
schaft im  Käfig  eines  Museums  ficht 
den  Kern  seines  Wesens  nicht  an:  das 
stralende  Bild  der  Jugendschönheit  und 
Frische  verfehlt  auch  heute  nicht  seine 


I  Über  ihn  ist  ausführliclier  in  der  Gelegenheitsschrift  des  Verfassers:  Donatello,  eine  Studie  über  den  Entwicklungs- 
gang des  Meisters  und  die  Reihenfolge  seiner  Werke,  Breslau  18S6,  gehandelt  worden.  Die  Abbildungen  seurer  Statuen 
sind  neuerdings  so  verbreitet,  dass  wir  sie  hier  ersparen   dürfen. 


—     40    — 

Wirkung.  Es  ist  die  bezaubernde  Verkörperung  des  glücklichsten  Alters  mit  allen  Anwartschaften, 
die  das  Leben  bieten  mag,  und  doch  durchgeistigt  von  dem  Adel  eines  hohen  Strebens,  in  dessen 
Dienst  der  junge  Ritter  alles,  auch  dieses  Leben  selber  einsetzt,  wenn  es  sein  muss.  Die  herrlichen, 
elastischen  Glieder  von  der  Rüstung  umschlossen,  Haupt  und  Hände  frei,  den  mächtigen  Schild  vor 
sich  auf  den  Boden  gestützt,  so  schaut  der  mutige  Streiter,  jedes  Angriffs  gewärtig,  heraus,  einig  mit 
sich  selbst  und  der  höchsten  Bestimmung  seines  Daseins.  Das  ist  harmonische  Schönheit,  die  uns 
in  den  glücklichsten  Gebilden  hellenischer  Künstler  entzückt,  auch  hier,  von  der  Hand  eines  „Realisten" 
wie  Donatello. 

Daneben  zeigt  er  uns  den  ausgereiften  Ernst  des  vielerfahrenen  Mannes  in  S.  Marcus  dem 
Evangelisten,  der  majestätisch  und  würdevoll  vor  uns  hintritt.  Seinem  kräftig  gebauten  Körper  mit 
stämmigen  Beinen  und  breiter  Brust,  mit  wuchtigen  Armen  und  Händen  und  dem  langen  wallenden 
Vollbart  entspricht  die  energische  Durchbildung  seines  imposanten  Charakterkopfes  so  vollkommen, 
dass  der  Eindruck  überzeugender  Sicherheit  und  wahrhaftiger  Treue  erweckt  wird.  Wenn  es  die 
Aufgabe  der  statuarischen  Kunst  ist,  uns  eine  vollausgerundete  Persönlichkeit,  auf  sich  selber  gegründet 
und  in  Übereinstimmung  mit  sich  wie  mit  der  Welt  umher,  gleichsam  als  Typus  einer  bestimmten 
Daseinssphäre  hinzustellen,  so  gehört  dies  Standbild  zu  den  allergrössten  Leistungen,  die  wir  über- 
haupt besitzen,  und  man  braucht  nur  Umschau  zu  halten  unter  ähnlichen  Versuchen  der  Zeitgenossen, 
des  Altertums  und  der  neueren  Zeit,  um  des  Wertes  inne  zu  werden,  der  diesem  Marcus  Donatellos 
zuerkannt  werden  muss. 

Schwächer  als  die  beiden  Meisterstücke,  S.  Marcus  und  S.  Georg,  und  doch  in  ihrer  Art 
sehr  beachtenswert  erscheint  die  dritte  Statue,  S.  Petrus,  die  als  frühester  Beitrag  Donatellos  zum 
Schmuck  von  Orsanmichele  wohl  hauptsächlich  deshalb  betrachtet  wird,  weil  der  Name  des  Apostel- 
fürsten noch  in  gotischen  Lettern  daran  geschrieben  steht. '  Sonst  hat  gerade  diese  Figur  einen  Zug 
malerischen  Wesens  mit  späteren  Werken  des  Bildners  gemein,  wie  mit  der  Bronzestatuette  Johannes 
des  Täufers  im  Berliner  Museum  und  dem  Relief  der  Verkündigung  in  Sta.  Croce.^  Ja,  dieser  Schwung 
der  weichen,  tiefgefurchten  Mantelfalten,  die  wie  aus  feuchtem  Stoff  sich  um  den  Körper  legen, 
bestimmt  im  wesentlichen  den  Eindruck.  Es  scheint  diesem  „Felsen  der  Kirche"  der  rechte  Halt  zu 
fehlen,  den  wir  vom  Standbilde  verlangen,  und  mehr  als  eine  Eigentümlichkeit  erinnert  an  die  frühen 
Einzelfiguren  des  Giacomo  della  Quercia,  dessen  Beziehung  zu  Florenz  man  mehr  als  billig  aus  der 
Geschichte  der  Skulptur  zu  tilgen  sich  bemüht.  Dagegen  hat  auch  diese  Gestalt  Donatellos  ihre 
bedeutenden  Vorzüge,  die  sich  jedem  eindringenden  Beschauer  offenbaren.    Mehr  als  irgendsonst  an 


1  Nach   den  urkundlichen  Ausweisen    hätte  Donatello   die  Statue   für   die    Zunft   der   Beccai    im  Jahre   1413   über- 
,  während  der  Marcus  zeitweilig  unvollendet  stehen  geblieben  war.  Vgl.  Franceschini  a.  a.  O.  p.  8i.    Damit  würden 

sich  die  Versuche  von  W.  Pastor  und  W.  Bode,  diese  Statue  dem  Nanni  d'Antonio  di  Banco  zuzuteilen,  nur  auf  stil- 
kritische Bemerkungen  reducieren,  aus  denen  ich  diese  letzte  Folgerung  nicht  ziehen  möchte,  je  mehr  wir  die  Verwandt- 
schaft mit  Nanni  in  diesen  Jahren  bereits  kennen,  über  die  Zeit  der  endgiltigen  Vollendung  und  Aufstellung  des  S.  Marcus 
aber  nicht  unterrichtet  sind. 

2  Ich  habe  dies  Tabernakel  aus  Kalkstein  mit  den  ursprünglich  drei  Paaren  von  Putten  aus  Terracotta  als  ein 
Werk  aus  verschieden  zu  datierenden  Bestandteilen  erwiesen  (vgl.  a.  a.  O.)  Das  hinzu  postulierte  dritte  Paar  der 
Guirlandenträger  ist  dann  wirklich  aufgefunden  und  von  Bode  als  zugehörig  beschrieben  worden. 


41 


einem  Marmorwerk  so  früher  Zeit  hat  der  Künstler  im  Kopfe  seines  Petrus  Wirkungen  erstrebt,   die 

sonst  als  besondere  Reize  dem  Tonmodell  oder  höchstens  der  Terracotta 

vorbehalten   bleiben.     Er  versucht    es,   die   ganze   Intimität  der  farbigen 

Nuancen,    die    Unregelmässigkeit    der  kleinen  Flächen    und  Vorsprünge, 

den    lockeren    Zusammenhang   der  Haarwellen    und    des   Bartgekräuseis 

auf  den    Marmor  zu    übertragen.      So    ist    die    Oberfläche    überall    rauh 

geblieben  und  infolge  dessen  — •  nicht  zur  Erleichterung  unseres  heutigen 

Urteils  —  stärker  geschwärzt  als  die  andern  ringsum  aus  gleichem  Material. 

Auch  hier  ist   die  Stellung  des  Körpers,   wie   die  Wendung   des  Kopfes 

schon  bestimmt  für  den  Standort  gedacht  und  berechnet:  es  ist  die  erste 

Nische    nächst   der  Front   gegen    die  Strasse  vom  Dome  zu,   und   dem 

Vorübergehenden   tritt  dieser  Apostel  energisch   genug  entgegen,    eben 

weil  er  das  kurzbärtige  Haupt  zu  ihm  herum  wendet.    Die  linke  Seite  des 

Leibes,  das  vortretende  Bein,   der  Arm  mit  dem  Buch,  die  Schulter  mit 

der  Manteldraperie,   legt   sich   in   diesem  Sinne  heraus,    und   die    ganze 

Erscheinung  gewinnt   eine    momentane   Wirksamkeit,    welche  wir   sonst  fiHr^SUPlr^  I 

an  den  glücklichsten  Leistungen  seines   mitstrebenden  Genossen  Nanni 

d'Antonio  die  Banco  bewundern,  der  uns  zunächst  beschäftigen  soll. 


Nanni  d'Antonio  ist  ein  hochbegabter,  für  die  neue  Sehnsucht 
seiner  Zeit  überaus  empfänglicher  Künstler,  dessen  Gemeinschaft  mit 
Donatello  gerade  in  den  schwierigsten  Jahren  des  Übergangs  von  mittel- 
alterlicher Idealität  zum  Realismus  des  Quattrocento  die  sichtlichste 
Bedeutung  gewinnt,  je  mehr  wir  sie  beachten  lernen.  Von  früher  Jugend 
an  im  Handwerk  erzogen,  und  unter  seinem  Vater,  der  sich  vom  ehr- 
samen Steinmetz  zum  tüchtigen  Bildhauer  und  zum  Dombaumeister 
aufschwang,  überall  als  Gehülfe  verwendet,  dem  bald  die  feinere  Arbeit 
zufiel,  ist  er  seinem  Genossen  Donatello  in  der  Übung,  ja  als  zünftiger 
Meister  voraus.  Zeitweilig  nähern  sie  einander  so,  dass  man  heute  noch 
Jugendwerke  Nannis  für  Leistungen  Donatos  anspricht,  und  diese  Ver- 
wechslung ist  für  den  nachmals  Berühmteren  keine  Unehre  zu  nennen. 
Man  betrachte  nur  einmal  das  schönste  Meisterstück,  das  Nanni  gelungen, 
die  Himmelfahrt  Marias  am  Giebel  des  nördlichen  Domportals,  über 
deren  Ausführung  er  1420  allzufrüh  dahinstarb,  mit  Donatellos  Ver- 
kündigung in  Sta.  Croce,  und  halte  sich  bewusst,  dass  die  letztere  nicht 
die  frühere  der  beiden  Reliefdarstellungen  sein  kann,  da  Nanni  bei  der 
seinen  schon  1414  in  voller  Tätigkeit  war.  Hier  aber  an  Orsanmichele 
gehen  die   beiden  jungen  Meister  wetteifernd  neben  einander  her,   und  wenn 


—     42     — 

Zeiten,  wo  Altes  versinkt  und  neue  Keime  sich  zum  Lichte  drängen,  oft  der  Einfluss  der  gleichaltrigen, 
suchenden  Genossen  wichtiger  wird,  als  der  der  Meister",  so  konnte  kein  Beispiel  mehr  anspornend 
auf  Donatello  wirken,  in  seinen  Statuen  des  Marcus  und  Georg  das  Höchste  zu  leisten,  als  dieser 
freundschaftliche  Rangstreit  mit  Nanni  di  Banco.  Und  diese  Verschlingung  ihrer  Wege  zu  beobachten 
wird  um  so  lehrreicher,  als  Nanni  der  Mittler  ist  zwischen  zwei  entgegengesetzten  Richtungen,  die 
damals  im  künstlerischen  Streben  zu  Florenz  bestehen,  und  die  wir  gewohnt  sind,  schroff  und  unver- 
mittelt in  Donatello  und  Ghiberti  verkörpert  zu  denken. 

Es  hat  nicht  jeder,  wie  Michelangelo,  das  Bedürfnis,  Andersfühlende  auf  der  Strasse  anzu- 
rempeln, und  mit  Beleidigungen  aus  ebenbürtiger  Gesellschaft  herauszuwerfen,  wenn  es  nur  anginge. 
Ghiberti  und  Donatello  mögen  sogar  gemeint  haben,  ganz  das  Selbe  zu  wollen,  oder  doch  in  der 
Hauptsache  durchaus  einig  zu  sein;  denn  es  dauert  fast  immer  geraume  Zeit,  bis  man  sich  des 
Gegensatzes  bewusst  wird,  der  unvermerkt  emporgewachsen,  während  wir  nachträglichen  Beobachter 
uns  einbilden,  sie  müssten  als  feindliche  Potenzen  schon  geboren  sein.  Selbst  bei  Donatello,  einer 
.so  entschiedenen  und  energischen  Natur,  wird  es  schwer,  die  Stelle  in  seiner  Entwickelung  zu 
bezeichnen,  wo  ihm  klar  geworden,  was  er  im  Grunde  seines  Wesens  eigentlich  wolle,  was  er  aufgeben 
und  vermeiden  müsse.  Er  nähert  sich  seinem  Ziel  von  verschiedenen  Seiten,  anfangs  gar  überraschend 
wandelbar,  wie  es  scheint,  und  hat  doch  stets  den  einen  Hauptgedanken,  die  Aufgabe  seines  Lebens 
unverrückt  im  Auge,  das  heisst  die  Schöpfung  einer  echten  statuarischen  Kunst.  Deshalb 
gerade  ist  es  wertvoll,  neben  seinem  Fortschritt  während  dieser  Zeit  des  Werdens  auch  den  gleich- 
zeitigen Weg  eines  Mitstrebenden  zu  beachten,  der  in  anderem  Sinne  so  reich  begabt  war,  wie 
Nanni  d'Antonio  di  Banco. 

Auch  Nanni  hat  drei  Nischen  an  Orsanmichele  mit  Statuen  besetzt.  Verfolgen  wir  auch  diese 
Reihe  rückwärts  wie  bei  Donatello,  und  zwar  mit  der  spätesten  beginnend,  so  kommen  eigentümliche 
Resultate  zum  Vorschein.  Noch  bestimmter  fast  als  bei  Jenem  bezeichnen  diese  Werke  stilistisch 
ebensoviel  verschiedene  Schritte  in  der  Entwicklung,  die  erst  nach  einander  möglich  waren.  S.  Philipp, 
der  Schutzpatron  der  Schuster,  ist  jedenfalls  der  Letzte.  Nirgends  prägt  sich  die  realistische 
Gesinnung,  in  der  sich  Nanni  und  Donato  damals  zusammenfanden,  so  unverfroren  aus  wie  hier.  Es 
ist  ein  Handwerkerapostel,  nicht  ohne  einen  Anflug  von  der  banausischen  Sphäre  und  dem  linkischen 
Benehmen  eines  Biedermannes  vom  Dorfe.  Er  trägt  sogar  zwischen  Hand  und  Hüfte  rechts  einen 
Gegenstand  unter  dem  Mantel,  als  schäme  er  sich  in  der  Stadt  offen  damit  aufzutreten;  und  es 
kann  doch  nur  das  Buch  seiri,  das  ihm  als  Prediger  des  Evangeliums  gebührt.  Aber  die  malerische 
Bereite  dieser  Draperie,  das  feste  Auftreten  und  die  entschlossene  Durchbildung  des  Bauernschädels 
mit  starken  Backenknochen  darunter  und  halbgeöffnetem  Munde,  reihen  diese  Figur  in  die  Mitte 
zwischen  Donatellos  Petrus  und  Marcus  ein.  Nichts  mehr  von  antikem  Rhetorenkostüm!  Ein  schlichter 
Kittel,  am  Halse  in  Falten  gelegt,  durch  einen  Gurt,  einen  Strick,  hier  gar  durch  einen  abgeschnittenen 
Randstreifen  des  Wollentuches  um  den  Leib  zusammengehalten,  reicht  nur  bis  auf  die  Schenkel  herab, 
so  dass  die  nackten  Füsse  mit  Holzsandalen  frei  heraussehen.  Statt  der  römischen  Toga  wird  ein 
einfaches  Stück  Wollentuch  um  die  Schultern  geworfen,  an  dem  ringsum  der  gekrollte  Rand  des 
Gewebes  stehen  geblieben  ist,  wie  es  Donatello  von  seinem  Vater,  dem  Tuchspanner,  frischweg  vom 


der  Fall   des    Stoffes   von   ungefähr  beobachtet 


Rahmen  ins  Atelier  genommen.  Nichts  mehr  von  ciceronianischem  Phrasentum  im  Wurf  dieses 
Umhangs,  sondern  möglichst  natürliches  Gehaben 
und  wiedergegeben,  wenn  auch  hier  und  da  die 
ordnende  Hand  des  malerisch  sehenden  Künstlers 
nachhilft  und  stellenweis  schon  Motive  heraus- 
bringt, die  noch  ein  Meister  der  Gewandung  wie 
Luca  della  Robbia  sich  dankbaren  Sinnes  zu  eigen 
macht. 

In  der  Nische  daneben  stehen  vier  Heilige 
beisammen:  es  sind  die  Märtyrer  Kastor  und 
Symphorian,  Nikostratus  und  Simplicius,  die  Schutz- 
patrone der  „Maestri  di  pietra  e  legname",  Maurer, 
Zimmerleute,  Steinmetzen  und  Bildhauer.  Nanni 
selbst  hat  die  Nische  angeordnet,  breiter  als  die 
übrigen  dieser  Seite  aus  dem  Pfeiler  herausgehauen, 
innen  mit  einem  Teppich  in  Marmor  ausgekleidet, 
dessen  Enden  vorn  an  den  Eckpilastern  befestigt 
sind,  mit  einem  Relief  am  Sockel,  wo  die  Arbeiten 
dieser  Zunftgenossen  in  schlichter  Wirklichkeits- 
treue gezeigt  werden.  Der  Maurer  beim  Aufbau 
einer  Eckwand,  der  Steinmetz  beim  Bohren  eines 
gewundenen  Säulchens,  der  Baumeister  oder 
Zimmermann  beim  Abzirkeln  eines  Kapitals  und 
endlich  der  Bildhauer  beim  Meissein  einer  nackten 
Knabenfigur  geben  einen  anziehenden  Einblick  in 
die  gemeinsame  Tätigkeit.  Aber  nicht  das  allein 
macht  sie  uns  wert.  Das  Relief  selbst  ist  als 
solches  ein  Meisterstück,  an  das  wiederum  Luca 
della  Robbia  anknüpft,  im  Gegensatz  zu  Lorenzo 
Ghiberti  wie  gegen  Donatello.  Hier  ist  die  körper- 
liche Rundung  der  Gestalten,  die  geschmackvolle 
Behandlung  der  Zeittracht,  die  zurückhaltende  Ein- 
beziehung des  Nebenvverks  wie  des  Raumes  schon 
völlig  in  der  Weise  vorgebildet,  die  wir  an  Lucas 
Reliefbildern  am  Campanile  mit  den  Vertretern 
der  freien  Künste   bewundern.     Und    dieser  Mann 

sollte  nicht  gewusst  haben,  seine  vier  Statuen  in  der  selbsterbauten  Nische  zusammen  zu  bringen 
und  seine  Zuflucht  nehmen  müssen  zu  den  gewagten  Verkürzungskünsten  Donatellos?  Die  Heiligen 
stehen    ungeschmälert    an    Armen    und    Schultern    neben    einander,     die    beiden    rechts     sogar    als 


—     44     — 

Gruppe  aus  einem  Stück, '  und  was  Vasari  von  ihrer  nachträglichen  Einpassung  zu  berichten 
weiss,  ist  nichts  als  eine  alberne  Künstleranekdote.  Wol  aber  haben  sie  selber  uns  ein  Stück 
Geschichte  ihres  Meisters  Nanni  zu  erzählen,  wenn  wir  nur  sehen  wollen,  was  sie  bedeuten.  Diese 
Männer  entstammen  zwei  verschiedenen  Generationen  seines  Stiles,  stellen  uns  seinen  Übergang  von 
der  früheren  Stufe  zum  einfach  wahren  Realismus  sichtbar  vor  Augen.  Die  beiden  Vorderen  gehören 
schon,  wie  wenig  ältere  Brüder,  zur  Art  des  heiligen  Philipp;  der  eine  trägt  sogar  denselben  Tuch- 
mantel mit  dem  angeblichen  Faltensaum  attischer  Statuen.  Aber  bei  beiden  ist  die  Haltung  der 
Hand  noch  dieser  malerischen  Breite  des  Gewandes  zu  Liebe  gewählt,  nicht  motiviert  von  Innen  her. 
Beide  sehen  aus  wie  Bildnisse,  und  ebenso  der  bartlose  Alte  weiter  rechts,  als  hätten  die  nächsten 
Freunde  des  Künstlers  für  ihre  Patrone  Modell  gestanden.  Aber  dieser  Hintermann  ist  noch  befangen, 
und  der  jugendlichste  neben  ihm,  der  seinen  Krauskopf  auf  breiten  Schultern  und  mächtigem  Körper 
so  kühnlich  trägt,  gleicht  vollends  einem  Römer  in  antiker  Tracht.  Ja  noch  mehr,  er  hat  die  grösste 
Ähnlichkeit  mit  der  Nachbildung  einer  antiken  Figur,  die  Nanni  an  dem  Portal  des  Domes  gegen 
Norden,  im  Laubwerk  zwischen  den  Engelköpfen  angebracht,  als  er  um  1408  den  Marmorschmuck 
der  Porta  della  Mandorla  vollenden  half  ^  Es  ist  der  nackte  Herkules  mit  Löwenfell  und  Keule, 
eine  der  frühesten  und  glücklichsten  Versuche,  nach  antikem  Vorbild  zu  arbeiten.  Hier  erscheint 
der  Heros  bekleidet  an  Orsanmichele  wieder,  und  die  zahlreichen  schmalen  Querfalten  der  Toga 
verraten  sogar  noch  die  Schulgewohnheit,  die  der  junge  Meister  aus  dem  Atelier  seines  Vaters 
Antonio  mitbringt. 

Und  diese  klassicierende  Regelmässigkeit  der  Draperie  hat  der  Herkules  in  der  Toga  wieder 
gemein  mit  einem  anderen  Werke  Nannis,  das  wir  in  der  dritten  Nische  an  der  Eingangsseite  des 
Gebäudes  finden.  Es  ist  der  Heilige  der  Hufschmiede  S.  Eligius.  Die  hohe  Gestalt  mit  der  Mitra 
auf  dem  Haupt,  mit  dem  feinen  Chormantel  um  die  Schultern,  den  eine  breite  Agraffe  auf  der  Brust 
zusammenhält,  mit  dem  Buch  in  der  linken  und  dem  Bischofsstab  in  der  rechten  Hand,  ist  gewiss, 
für  sich  allein  betrachtet,  eine  geschmackvolle,  würdige  Erscheinung.  Das  sichere  und  doch  so 
elastische  Auftreten  des  Kirchenfürsten,  die  momentane  Hebung  des  Körpers  bewirken  in  diesem 
Standbild  einen  eigentümlichen  Reiz,  den  es  mit  einem  andern  urkundlich  beglaubigten  Werke  dieses 
Künstlers,  der  sitzenden  Gestalt  des  Evangelisten  Lukas  im  Dome  gemein  hat.  Diesem  jugendlichen 
Typus  gleicht  auch  S.  Eligius  von  Angesicht,  bis  auf  den  kurzgehaltenen  Backenbart  sogar,  nur 
sind  die  Züge  älter  und  ernster  gegeben  als  dort.  Allein  die  sauberen,  einförmigen  Faltenzüge  des 
künstlich  um  die  Beine  geschlagenen  Chormantels  geben  dem  Bischof  an  Orsanmichele  eine  etwas 
zahme  Eleganz,  in  der  wir  wieder  die  Ähnlichkeit  mit  dem  halbgotischen  Antikenstudium  des  Antonio 
di  Banco  erkennen. 

Kein  Zweifel  jedoch,  dass  Nanni  selbst  der  Erfinder  dieses  Standbildes  gewesen.  Nur  von  seiner 
Hand  konnte  damals  ein  Relief  gearbeitet  werden  wie  dieses,  zu  dessen  Aufnahme  der  ganze  Sockel 
eine  ungewöhnliche  Form  erhalten  hat,  mit  einer  Erhöhung  in  der  Mitte.  Hier  zieht  er  die  lebendige 
Gruppe  seiner  Wundergeschichte  zusammen,  wie  S.  Eligius  als  Hufschmied  den  Fuss  eines  besessenen 


t  Vgl.  Franceschini,  a.  a.  O.  p.  83. 

'  Vgl.  darüber  meinen  Aufsatz  „Vier  Statuetten  der  Domopera"  im  Jahrbuch  der  K.  preuss.  Kunstsammlungen  I 


45 


Pferdes  beschlägt  im  Beisein  der  dämonischen  Reiterin  und  des  Knappen,  der  mit  Mi.ihe  dem  auf- 
sätzigen Rosse  das  Bein  hält.  Wenn  auch  noch  nicht  so  frei  in  der  Formgebung,  bekunden  doch  alle 
Gestalten,  das  Tier  nicht  minder  als  die  Menschen, 
die  seltene  Begabung  des  Künstlers.  Endlich  kommt 
noch  ein  Umstand  hinzu,  der  sämtliche  Statuen  Nannis 
an  Orsanmichele  vereinigt.  An  allen  drei  Nischen 
erscheint  oben  am  Giebelfeld  die  Halbfigur  des  Er- 
lösers, in  malerisch  drapierter  Gewandung,  und  in  so 
freundlicher  Milde  des  Ausdrucks  wie  nur  seine  Engel- 
gestalten sonst,  an  der  Porta  della  Mandorla  des 
Domes.  Reizvoll  und  sehnsüchtig  offenbart  sich  die 
Verwandtschaft  seiner  Seele  mit  Lorenzo  Ghiberti. 
Als  Jüngling  verlangt  auch  er  nach  Schönheit,  nach 
den  Idealen  der  entschwundenen  Generation,  die  sein 
Vater  ihm  gepredigt.  Heranreifend  zum  Manne,  wagt 
er  die  Wahrheit  dieses  Lebens,  schlicht  und  recht, 
sei  es  auch  etwas  linkisch  und  plump,  um  die  Wette 
mit  Donatello,  —  die  entschlossene  Wirklichkeitstreue, 
der  die  Zukunft  gehört.  Da  stehen  die  beiden  Ziele 
zu  äusserst  in  den  Nischen  von  Orsanmichele  ver- 
körpert: S.  Eligius,  aus  einem  Hufschmied  zum  Bischof 
erhoben,  ja  zum  Heiligen  verklärt,  und  S.  Philipp, 
der  Apostel,  in  Florenz  zu  seinen  Zunftgenossen 
herabgestiegen,  als  biederer  Handwerker  auftretend, 
um  den  Patron  seiner  Schutzbefohlenen  vom  Leisten 
gerade  so  zu  spielen,  wie  sich  diese  ihn  denken. 

Eine  andere  Statue  dagegen  hat  nichts  mit 
Nanni  zu  tun,  obgleich  man  sie  gewöhnlich  ihm 
zuschreibt.  Die  Frage,  wem  sie  dann  gehören  mag, 
ist  freilich  nicht  leicht  zu  lösen.  S.  Jacobus  mit  samt 
seiner  Nische  und  dem  Bildschmuck  daran  giebt  dem 
Auge  des  Forschers  mancherlei  Rätsel  auf.  Das 
Relief  am  Sockel  zeigt  die  Enthauptung  des  Apostels 
in  einem  breitgedrückten  Vierpass,  ähnlich  jenem  an  den 
Bronzetüren  des  Baptisteriums.  Die  Scene  darinnen 
aber  ist  völlig  im  Sinne  Ghibertis    gegeben,    so    dass 

man  daran  gedacht  hat,  auch  die  Statue  selbst  könne  das  früheste  Werk  von  ihm  an  Orsanmichele 
sein.  Aber  wir  haben  ein  Marmorwerk  vor  uns  und  kennen  von  seiner  Hand  sonst  keinen  Versuch 
der   Steinskulptur,    und    gerade   dieses   Martyrium   S.  Jakobs    setzt  bereits    mehrere   Reliefs   an    der 


Bronzetür  voraus,   besonders  die  Auferweckung  des  Lazarus,   wo  im  Gegensinne   die  Gestalt  Maria 
Magdalenas,   die  sich  Christus  zu  Füssen  wirft,   als  Vorbild  des  enthaupteten  Apostels   hier  erscheint 

in  der  Marmorübersetzung.  Auch  das  Innere  der  Nische 
verrät  in  der  Felderteilung  und  Profilierung  schon  sichere 
Fortschritte  in  der  Frührenaissance.  Und  das  Giebel- 
feld mit  der  Auffahrt  des  Apostels,  der  von  Cherubim 
getragen  wird,  ist  wieder  in  völlig  anderem  Reliefstil 
gehalten:  wie  jenes  unten  dem  Lorenzo  Ghiberti,  steht 
dieses  dem  Luca  della  Robbia  nahe,  und  zwar  seiner 
Auferstehung  und  Himmelfahrt  über  den  Sakristeitüren 
des  Domes.  Im  Standbild  selber  endlich  glaubt  man 
einen  Letztling  der  Gotik  zu  erkennen,  so  eifrig  stilisiert 
sind  die  Faltengehänge,  so  schulmässig  der  Strom 
weichfliessenden  Stoffes  unter  dem  Mantel  hervor  um 
die  Füsse  gewendet,  so  befangen  erscheinen  die  Arme 
an  den  Leib  gelegt,  so  länglich  und  schmal  das  Antlitz 
mit  den  scharfgeschnittenen  Formten  aber  leblosen 
Zügen.  Trotzdem  ist  auch  dieses  Werk  nicht  so  früh 
denkbar,  sondern  verrät  doch  bereits  das  Streben,  die 
alte  Gewohnheit  zu  überwinden,  den  Körper  aufzurichten, 
die  Gliedmassen  in  ihrer  Stellung  künstlerisch  zu  ver- 
werten, ja  es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  der  Ur- 
heber einen  ausgesprochenen  Sinn  für  die  Erfordernisse 
eines  einzeln  stehenden  Standbildes  besessen  hat. 
Sicher  hat  dieser  Mann  von  Lorenzo  Ghiberti  gelernt 
und  geht  über  dessen  früheste  statuarische  Leistungen 
bereits  glückUcher  hinaus.  Ein  Gehülfe  bei  den  Bronze- 
türen wie  Bernardo  Ciuffagni,  der  dann  unter 
Niccolo  d'Arezzo  zugleich  die  Marmorskulptur  betrieb, 
dürfte  am  ehesten  das  Mafs  der  Kraft  bezeichnen,  die 
wir  vor  uns  haben,'  während  die  Ausstattung  der 
Nische  vielleicht  erst  später  vollendet  ward,  als  man 
auch  die  Rundmedaillons  über  den  Tabernakeln  mit 
Robbia-Arbeit  ausschmückte. 

Waltet     doch     ein     völlig     anderer     Geist      in 
den    Bronzestatuen    des    Lorenzo    Ghiberti    selber! 

I  Auch  Pietro  Franceschini,    der   diese  stilistische  Unterscheidung  von  n 
für    den   kleinen    Mafsstab    der   Figur,    indem    er    annimmt,    sie   sei   wol   schon 
Signoria  1404  die  Errichtung   von  Tabernakehi  befahl:    „adattata  nel  tabern 
sono  i  caratteri  indiscutibili  della  scultura  del  rinascimento"  a.  a.  O.  S.  84. 


wiederholt,    sucht  nach  eint 
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icolo  nuovo    eretto  dopo  e  nei  cui 


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S.  Johannes  der  Täufer  ist  freilich  abschreckend  genug,  in  der  Haltung  wie  in  der  Gewandung 
durchaus  maniriert.  Er  beweist  die  ganze  Befangenheit  des  Goldschmieds,  der  im  engen  Atelier 
geschult  worden,  gegenüber  den  Marmorbildnern, 
welche  Statuen  für  die  Öffentlichkeit  denken;  denn 
in  den  Jahren  1414 — 1416,  wo  er  entstand,  schuf 
Donatello  seinen  heiligen  Georg!  Der  freilich  musste 
Allen  die  Augen  öffnen.  Welch  ein  Abstand  gegen 
diese  dürftige  Asketenfigur,  deren  schmale  Körper- 
masse nur  durch  ein  Bravourstück  von  Manteldraperie 
interessant  gemacht  wird ;  und  dieses  Schulexercitium 
an  dem  Mannequin,  dies  kunstvoll  verschlungene 
System  von  Kurven  mit  dem  langen  gotischen 
Zopf  als  Finale!  Nichts  als  Goldschmiedseleganz, 
die,  in  solchen  monumentalen  Mafsstab  übersetzt, 
zur  hohlen  Phrase  wird.  Vor  der  Brust  auf  dem 
Fellkleid  statt  der  Agraffe  sogar  ein  Knoten,  an  den 
Füssen  die  saubersten  Sandalen!  Nur  eins  verrät, 
dass  auch  Ghiberti  die  Luft  des  Quattrocento  atmet ; 
aber  dies  Symptom  ist  nicht  einmal  liebenswürdig 
und  woltuend.  Es  liegt  in  der  Physiognomie  des 
Propheten:  dieser  Mann  ist  nicht  asketisch  von  Natur, 
nicht  entsagend  aus  Idealismus;  er  ist  aus  einem 
Wüstling  zum  Wüstenmenschen  geworden,  und  ist 
in  der  Einsamkeit  nicht  einmal  geläutert,  sondern 
verirrt;  —  was  giebt  ihm  ein  Recht,  den  Bussprediger 
zu  spielen?  er  trägt  ja  die  Wahrzeichen  der  Leiden- 
schaft noch  selbst  an  der  Stirn. 

Das  Gewand  ist  auch  die  Hauptsache,  worin 
Ghiberti  sein  Heil  sucht,  an  der  Statue  des  Evan- 
gelisten Matthäus  für  die  Wechslerzunft.  Merk- 
würdig, —  hat  der  entschiedene  Übergang  zur 
Antike,  der  höchstens  am  Schuhzeug  des  Täufers 
angekündigt  war,  sich  nun  erst  zwischen  14 16  und 
1420  vollzogen?  Am  26.  August  14 19  ward  der 
Matthäus  ihm  aufgetragen,  nachdem  ein  Guss  miss- 
lungen  war,  mit  Hülfe  Michelozzos  nochmals  model- 
liert, gegossen  und  1422  aufgestellt,  in  einer  Nische,  die  auch  soviel  als  möglich  antikisiert.  Der 
Apostel  der  Zöllner  ist  ein  attischer  Rhetor  von  oben  bis  unten,  und  darin  liegt  wieder  ein  Missgriff 
in  der  Lösung  der  eigentlichen  Aufgabe,   wenn  man  nur  herumblickt  zum  Marcus  Donatellos.     Von 


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diesem  sagte  Michelangelo:  „wenn  so  ein  Biedermann  das  Evangelium  schreibt,  da  muss  man  schon 
glauben;"  von  Ghibertis  Matthäus  dagegen  wendet  man  sich  ab,  zweifelnd  ob  es  ihm  Ernst  sei;  denn 

die  schauspielerische  Eleganz  dieses  Griechen 
erinnert  an  die  Sophisten  bei  Piaton.  Nur  an 
einer  Stelle  hängt  auch  hier  noch  gotische  Schul- 
gewohnheit nach:  in  der  hohlen  Falte  über  den 
rechten  Arm  und  in  dem  scharfen  Bausch  über 
dem  Leib  zum  offenen  Buch  hinüber,  das  auf- 
recht in  der  Linken  steht.  Sonst  ist  alles  einfach 
und  edel,  sorgfältig,  sauber  und  harmonisch;  auch 
der  antike  Kopf  mit  seinem  wolgeordneten  Bart 
und  seinem  kraftvollen  Haarschmuck,  mit  dem 
Anflug  des  Olympischen.  Wolabgewogen  ist 
auch  die  flachere  Nische  mit  hellerem  Hinter- 
grund für  das  bronzene  Standbild,  das  in  vor- 
nehmer Pose  momentan  imponierend  genug 
hervortritt,  und  gewiss  die  Verehrer  klassischer 
Formen  höchlichst  befriedigt. 

Liebenswürdig  und  echt,  der  wahre  Ghiberti, 
wie  wir  ihn  gern  anerkennen  und  hoch  halten 
gegen  mancherlei  einseitige  Unterschätzung,  offen- 
bart sich  an  Orsanmichele  nur  an  einem  einzigen 
Werke:  —  S.  Stephan.  Er  steht  in  der  tiefen 
Mittelnische  zwischen  den  Türen,  welche  schon 
141 2  für  ein  Marmorbild  des  Heiligen  der  Wollen- 
weber bereit  war, '  an  dessen  Stelle  dann  Ghiberti 
sein  Bronze  werk  zwischen  1425  bis  1426  vollendet 
hat.  In  der  Linken  ein  Buch,  das  wie  zufällig 
die  rechte  Mantelseite  quer  über  den  Leib  nimmt 
und  so  die  beliebten  Bogenlinien  des  Faltenzuges 
veranlasst,  in  der  Rechten  ehedem  eine  Palme, 
geht  der  junge  Märtyrer  aus  der  Tiefe  des  Raumes 
hervor  und  blickt  in  freundlicher  Milde  zu  uns 
heraus,  obgleich  die  leise  emporgezogenen  Brauen 
und  die  Hautfalte  vor  der  Stirn  als  Spuren  des 
Leidens  geblieben  sind,  durch  das  er  zu  dieser  Verklärung  hindurchgegangen.  Hier  ist  Wollaut  der 
Linien   und   Formen,    Ebenmais   und   Harmonie   des  Vortrages    mit   aller   Lebensfrische   der   neuen 

I  Der  Beschluss,  der  Arte  della  Lana  ein  Bronzebild  an  die  Stelle  des  vorhandenen  Marmorvverkes  zu  setzen,  datiert 
vom  2.  April  1425.     Die  alte  Figur  wurde   1427  an  der  Fassade  des  Domes  aufgestellt. 


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Zeit  vereinigt,  —  das  beste,  was  der  Idealismus  des  Mittelalters  gewollt,  in  einem  Werke  der 
Renaissance  erreicht.  Aber,  wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  die  schöne  Erscheinung  beruht  wesent- 
lich darauf,  dass  die  Gestalt  in  und  mit  ihrer  räum- 
lichen Umgebung  gedacht  ist.  Sie  ist  in  fliessender 
Bewegung  aus  der  Tiefe,  wie  die  herrlichsten  Gebilde 
an  der  Area  di  San  Zanobi  im  Dome  und  an  der 
Porta  del  Paradiso ;  nehmen  wir  sie  heraus  aus  ihrer 
Nische,  so  würden  wir  nach  begleitenden  Wesen 
suchen,  die  dazu  gehören,  nach  einer  Corona  von 
Andächtigen,  aus  der  dieser  Auserwählte  hervortritt, 
nach  einem  feierlichen  Gefolge,  mit  dem  er  im  Zug 
der  Seligen  daher  wallt  wie  in  Wolkenbildern.  Es 
ist  keine  Freifigur,  sondern  die  Verkörperung  eines 
malerischen  Gedankens. 


Damit  sind  wir  am  Ende  des  Rundganges, 
scheint  es;  denn  wir  stehen  vor  der  leer  gewordenen 
Nische,  die  sonst  Donatellos  S.  Giorgio  beherbergt, 
oder  vor  den  späteren  Bronzestatuen  von  Baccio 
da  Montelupo  und  Gian  Bologna.  Aber  die  Reihe 
der  älteren  Werke,  die  wir  von  Verrocchio  bis 
Ghiberti  zurückverfolgt,  ist  noch  nicht  vollzählig, 
die  Geschichte  der  Skulptur,  die  Orsanmichele  dar- 
bieten kann,  noch  nicht  erschöpft.  Es  fehlt  sogar 
der  Anfang,  wie  jene  ältere  Figur  S.  Stephans  in 
Marmor  und  der  allzu  kurze  Jacobus  bezeugen. 
Wir  müssen  die  Zutaten  von  Baccio  da  Montelupo 
und  Giovanni  Bologna  bei  Seite  stellen;  denn  sie 
sind  an  Plätze  getreten,  die  schon  von  anderen 
Figuren  besetzt  waren.  Wir  müssen  auch  das 
geräumigste  Tabernakel,  das  nun  aufs  neue  verödet 
worden,  wieder  ausfüllen,  wenn  es  gilt,  den  richtigen 
Ausgangspunkt  des  Gestaltenzuges  zu  gewinnen. 

An  der  Vorderseite  des  Baues,  gegen  die 
Strasse   zu,   wo  jetzt   der  Lucas   des   Gian   Bologna 

die  Reihe  der  Bronzewerke  abschliesst,   stand  ursprünglich  ein  älteres  Marmorwerk,   und  die  Nische 
ist  unverändert  geblieben,    für  den   Sockel    der  neuen  Figur  nicht   einmal  tief  genug.     Droben   am 

Giebel   erscheint   noch    das    alte   Gottesbild   mit   der  Weltkugel    in    der   Linken,    segnend   aus   einem 

7 


—     50 


flockigen   Wolkenstreifen    hervor;    drunten    am    Untersatz    das    alte    Symbol    des   Evangelisten,    der 

geflügelte  Stier,  wie  ein  Schosshündchen  zu  seinem 
Herrn  emporschauend ,  und  symmetrisch  stilisiertes 
Rankenwerk,  das  nur  ein  früher  Zeitgenosse  Ghibertis 
oder  gar  ein  Vorgänger  im  sorgsamen  Studium  der 
Antike  gearbeitet  haben  kann.  Aber  wo  finden  wir  den 
alten  Lucas,  den  einst  die  Zunft  der  Richter  und 
Notare  an  so  vornehmer  Stelle  als  ihren  Patron  verehrte, 
aber  auch  so  früh  schon  verschmähte  und  1601  durch 
den  eleganteren  des  Gian  Bologna,  —  einen  römischen 
Juristen  in  antikem  Gewände,  der  mit  dem  Corpus 
Juris  in  der  Hand  plaidiert,  —  ersetzen  Hess?  Er  hatte 
eine  Zeit  lang  wenigstens  in  Donatellos  Nische  für 
S.  Giorgio  ein  Obdach  gefunden,  und  steht  jetzt,  aber- 
mals in  einer  fremden  Behausung,  in  einem  der  oberen 
Säle  des  Bargello.  Dieser  Marmorheilige  ist  allerdings 
von  derberem  Schlage  und  einfacheren  Sitten.  Eine 
breitschulterige,  beinahe  untersetzte  Gestalt  mit  hartem 
Schädel  und  kurzem  Backenbart,  wie  wir  S.  Petrus 
denken  als  Fels  der  Kirche.  Seine  Gewandung  ist  die 
biblische  Tracht  der  gotischen  Tradition;  die  Behand- 
lung jedoch  und  der  Körper,  der  darunter  steckt,  die 
Extremitäten,  die  hervorschauen,  und  der  Kopf  auf 
diesem  Stiernacken  sind  ebensoviel  Anzeichen,  dass 
wir  uns  nicht  mehr  im  Trecento  befinden,  sondern 
dass  der  Geist  des  Realismus,  aus  dem  ein  Nanni 
d' Antonio  und  Donatello  hervorgegangen,  bereits  im 
Schwange  war,  als  dieses  Werk  entstand,  und  stärker 
noch,  als  bei  Ghibertis  Johannes  drüben,  die  Haupt- 
sache bestimmt,  die  dieser  Bildhauer  will.  Es  ist  ein 
Gesinnungsgenosse  des  Niccolo  dArezzo,  der  hier  auf- 
tritt; fast  möchte  man  sagen,  er  ist  es  selber:  so  nah  ist 
die  Verwandtschaft  mit  seinem  sitzenden  Evangelisten 
Markus  im  Dome.  Nur  muss  es  auffallen,  dass  die 
Augen  ohne  Angabe  der  Pupille  gearbeitet  sind,  dass  die 
Hände,  ausführlicher  durchgebildet,  merkwürdig  flache 
Nägel  haben,  an  denen  die  Haut  ringsum  höher  steht,  und  dass  der  vorguckende  Fuss  eine  Reihe 
von  ganz  kolossalen  Zehen  mit  einem  runden  Riesen  an  der  Spitze  präsentiert.  Ausserdem  trägt  die 
Gewandung  mehr  klassische  Einfachheit  zur  Schau,   ist  an  keiner  Stelle  mehr  so  überladen,  wie  bei 


—     Si- 
elen früheren  Werken  des  Niccolo  d'Arezzo,  aber  noch  nicht  so  aufgeschürzt  wie  bei  den  späteren;  — 
genug,   sie  entspriclit  der  Weise   eines  eingeborenen  Florentiners,   der  neben   dem  Aretiner  hergeht, 
und  geradezu  an  der  Ausführung  geholfen  haben  müsste,  wenn  Niccolo  dies  Standbild  erfand. 

Weit  wichtiger  ist  eine  andere  Erkennungsscene,  die  wir  in  einer  finsteren  Stube  desselben 
Museums  erlebt  haben,  ohne  sie  Andern  freilich  so  vermitteln  zu  können,  —  besonders  wenn  man 
den  Wechsel  der  Tonart  nicht  mit  verstehen  will  —  mit  Johannes  dem  Evangelisten,  der  an  der 
anderen  Seite  von  Orsanmichele  den  Platz  des  Bronzebildes  von  Baccio  da  Montelupo  einnahm.  „Am 
20.  Oktober  15 15,  erzählt  Giovanni  Cambi,  Hess  die  Zunft  von  Porta  S.  Maria  an  Horto  S.  Michele  in 
ihrem  Pfeiler  den  Schutzheiligen  Messer  San  Giovanni  Vangelista  aus  Bronze  aufstellen,  und  sie  nahmen 
einen  aus  Marmor,  der  da  stand,  weg,  weil  es  keine  allzu  gute  Figur  schien."  —  „Im  Jahre  1888 
aber,  könnte  man  fortfahren,  kamen  Germanen  nach  Florenz,  die  sich  viel  in  alten  Kirchen  und  Palästen 
herumtrieben,  und  erkannten  in  der  Dunkelkammer  des  Bargello  einen  Landsmann  als  Johannes  den 
Evangelisten  von  der  Seidenzunft,  hiessen  ihn  willkommen,  wie  jemand,  den  man  lange  gesucht  und 
nicht  gefunden  hat,  und  nötigten  ihn  auf  einen  Ehrenplatz,  neben  seinem  Meister."  —  Auch  dieser 
Apostel  ist  ein  Handwerker  wie  Nannis  S.  Philipp  und  andere  Genossen  aus  jener  Zeit,  ja  er  ist 
philisterhafter  als  irgend  ein  Plorentiner.  Der  Künstler  scheint  ihn  sich  halb  als  polnischen  Juden, 
halb  als  blonden  Schreinermeister  aus  dem  Schwabenland  gedacht  zu  haben,  und  dies  Schwanken 
zwischen  Idealen  hat  den  ganzen  Kerl  um  seinen  inneren  Halt  gebracht.  Unsicher  in  den  Hüften 
steht  er  da,  wenn  auch  breit  genug  durch  die  Gewandung,  die  salopp  um  die  Glieder  hängt. 
Es  ist  ein  dürftiges,  schlecht  gewachsenes  Modell  unter  der  biblischen  Kleidung,  aber  nicht  bloss 
eine  Gliederpuppe  mehr.  Die  Brust  ist  nicht  eng,  aber  eingefallen,  die  Schulter  eckig,  und  kein 
kräftiger  Hals  sichert  die  Haltung  des  Kopfes,  dessen  längliches  Gesicht,  mit  vortretenden  Backen- 
knochen, tiefliegenden  kleinen  Augen  und  vierkantiger  Stirn,  die  unter  spärlichem  Haarwuchs  etwas 
zurückfliehend  erscheint,  gar  fremdartig  anmutet  unter  italienischen  Volkstypen  oder  gar  Abkömm- 
lingen der  römischen  Antike.  Lange  dünne  Locken  fallen  vereinzelt  auf  die  Schultern  und  geben, 
wie  der  reiche  Bart  und  die  Furchen  der  Stirn,  die  Hohlheit  der  Wangen,  dem  Antlitz  etwas 
Byzantinisches.  Aber  es  kann  kein  Zweifel  bleiben,  diese  Züge,  dieser  Körper,  ja  diese  knöchernen 
Hände  gehören  einem  deutschen  Schneider  oder  Zimmermann  vom  Ende  des  vierzehnten  Jahrhunderts! 
War  er  nicht  selber  hier  in  Florenz,  so  ist  sein  Urbild  aus  irgend  einem  Passionsspiel  doch  jenseits 
der  Alpen,  in  Süddeutschland  zu  suchen,  und  lebte  nur  bestimmend  in  der  Vorstellung  des  Bildhauers 
fort,  der  ihn  hier  gemeisselt!  Und  damit  ist  der  Meister  genannt,  den  ich  meine:  Peter,  der  Sohn  des 
Johannes,  aus  Deutschland,  oder  „Piero  di  Giovanni  Tedesco",  wie  er  um  1383 — 1402  in  Urkunden, 
besonders  der  Florentiner  Dombehörde,  beglaubigt  ist,  als  Urheber  einer  Fülle  von  Statuen  und 
Statuetten,  von  denen  keine  nachgewiesen  ward  bisher. 

Es  steht  der  Annahme,  dass  Peter  Hansen  der  Deutsche  die  alte  Statue  des  Evangelisten 
Johannes  für  Orsanmichele  gearbeitet,  auch  chronologisch  kein  Hindernis  im  Wege,  da  die  Arte  della 
Seta,  seit  1340  schon  im  Besitze  ihres  Tabernakels,  nach  Vollendung  der  oberen  Geschosse  des 
Baues  in  den  achtziger  Jahren  des  Trecento,  nicht  lange  gezögert  haben  wird,  ihren  Schutzheiligen 
aufzustellen,    da   sie   an  der  Verherrlichung  dieses  zünftischen  Heiligtums  in  erster  Reihe  interessiert 


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war.'  Das  beste  freilich,  was  sie  zum  Schmucke  beigetragen,  ist  nicht  der  abgesetzte  Apostel  im 
Bargello,  noch  sein  Ersatzmann  an  Ort  und  Stelle,  sondern  das  Rundmedaillon  mit  dem  Wappen 
der  Zunft,  der  Porta  Santa  Maria,  von  zwei  nackten  Bijbchen  gehalten,  ein  Meisterstück  des  Robbia, 
über  der  Nische  des  Eckpfeilers  droben. 

Doch  nun  zum  altertümlichsten  der  Tabernakel,  das  heute  verlassen  steht.  Es  trägt  am 
Sockel  die  Inschrift,  dass  die  Zunft  der  Ärzte,  Spezeristen  und  Krämer  am  13.  August  des  Jahres 
1399  dies  Werk  gewidmet.  Und  darinnen  thronte  das  Bild  der  Himmelskönigin  mit  dem  Kinde,  die 
Madonna  della  Rosa,  die  jetzt  im  Inneren  der  Kirche  bewahrt  wird.  Ruchlose  Hände  hatten  sie 
wiederholt  verunglimpft,  und  so  nahm  man  sie  1628  von  ihrem  altgewohnten  Standort.  Wir  müssen 
sie  zurückdenken  an  diese  Stelle,  und  sähen  sie  gern  in  Wirklichkeit  wieder  dahingebracht,  da  in 
unseren  Tagen  wol  keinem,  auch  noch  so  fanatischen  Juden  in  Florenz  der  Einfall  kommen  dürfte, 
eine  Marmorfigur  der  Maria  mit  ihrem  Kinde  zu  verletzen,  wie  es  1493  geschah,  noch  einem  Christen- 
menschen, der  Madonna  zuzutrauen,  dass  sie  an  offener  Strasse  die  Augen  verdreht,  wie  1628,  um 
statt  draussen  in  ihrer  Loggia  lieber  im  dunkeln  Innenraum  zu  sitzen,  wo  sie  nur  selten  gesehen 
wird  und  all  dem  lebendigen  Treiben  der  Strasse  entrückt  ist.  Wie  das  Tabernakel  wird  auch  das 
Madonnenbild  1399  vollendet  sein;  denn  zweifellos  wurde  die  Nische  eigens  dafür  gearbeitet,  und  die 
Inschrift  meldet  uns  das  Datum  der  feierlichen  Enthüllung.  Der  Charakter  des  Werkes  bestätigt 
diese  Erwägung;  denn  es  ist  der  doppelseitige  des  Übergangs:  Gewohnheiten  der  Trecentokunst,  noch 
stark  und  bestimmend  im  Aufbau  und  in  der  Gewandung;  aber  auch  schon  Regungen  des  neuen 
Sinnes  in  der  Vergrösserung  der  Formen,  in  der  Breite  der  Entfaltung,  in  der  Derbheit  besonders 
des  Jesuskindes.  Das  Ganze  giebt  uns  den  Typus  der  matronenhaft  verschleierten  aber  gekrönten 
Jungfrau  mit  dem  bekleideten  Kinde  ungefähr  so,  wie  Niccolö  d'Arezzo  in  seinen  frühesten  Werken 
am  Dom  seiner  Vaterstadt  und  zu  Florenz,  aber  frei  von  überladenem  Faltengeschlängel,  deutlich 
herausgewachsen  aus  der  Madonna  del  Fiore  am  Domportal  der  Canonici. 

Der  Künstlername,  der  uns  genannt  wird,  ist  Simone  da  Fiesole.  Das  wäre  ein  Schüler 
Donatellos,  und  unsere  Zeitbestimmung  wäre  ein  Irrtum,  da  Donatello  selbst  erst  1386  geboren  ward. 
Aber  auch  dieser  Simone,  der  Sohn  des  Nanni,  der  einer  bekannten  Künstlerfamilie,  den  Ferrucci 
von  Fiesole,  angehört,  welche  der  toskanischen  Bildnerei  eine  Reihe  tüchtiger  Kräfte  geliefert  hat, 
ist  erst  1402  geboren  und  noch  1467  in  voller  Tätigkeit  nachweisbar,  kann  also  nicht  der  Urheber 
dieses  immer  noch  gotischen  Madonnenbildes  sein.  Simone  di  Nanni  Ferrucci  ist  auch  sofort  in 
Donatellos  völlig  realistischer  Kunstweise  erwachsen  und  solchen  Überresten  mittelalterlicher  Schul- 
tradition völlig  fremd.  Sollten  wir  in  diesem  Marmorbildner  um  1399  nicht  vielmehr  Simone  di 
Francesco  Talenti,  den  Sohn  des  Dombaumeisters,  erkennen,  denselben  Künstler  also,  welcher  um 
1375  die  Fensterfüllungen  von  Orsanmichele  gearbeitet  hatte  und  die  zahlreichen  Statuetten  auf  den 
Pfosten  drinnen  wie  draussen!  —  der  seit  1379  das  Kirchlein  S.  Michele  (jetzt  S.  Carlo)  bis  an  die 
Bekrönung    hinauf   geführt    hat,    sodass    nach    seinem    Tode    nur    noch    der    letzte    Abschluss    des 


'  Aber  das  Datum  der  Ausschmückung  dieser  Tabernakel  verbietet  schon,  ganz  abgesehen  von  stihstischen  Gründen, 
Statue  weiter  zurück  ins  Trecento  zu  versetzen,  wie  dies  neuerdings  sehr  leichtfertig  von  Mr.  M.  Reymond,  La  sculpture 
geschehen  ist,  der  unter  seine  Abbildung  das  Datum  1340  setzt. 


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Kranzgesimses  übrig  war,  der  1404  hinzukam.  Er  ist  auch  sonst  als  Bildhauer  beglaubigt,  und  es 
liegt  nahe,  dass  das  Standbild  der  Madonna  dem  damaligen  Obermeister  übertragen  sei,  welcher  nach 
Andrea  Orcagnas  unerwartet  frühem  Tod  das  meiste  für  Orsanmichele  geleistet  hat.  Dies  Tabernakel, 
das  ganz  mit  dem  Stil  seiner  Fensterarkade  übereinstimmt,  mit  der  Statue  Marias  darinnen,  wäre  das 
letzte  Werk,  das  er  hier  geschaffen.  Und  dies  bestätigt  wiederum  der  Stil  des  kleinen,  weit  aus- 
ladenden Tempelbaues  am  Pfeiler,  der  mit  dem  Geschmack  Orcagnas,  wie  mit  dem  Anteil  Francesco 
Talentis  am  Glockenturm  die  nächste  Verwandtschaft  zeigt,  d.  h.  einen  dekorativen  Stil,  der  mit 
dem  Auftreten  des  Giovanni  di  Piero  Tedesco  und  des  Niccolo  d'Arezzo  verschwindet.  Der  Ver- 
gleich der  in  grossem  Mafsstab  gehaltenen  Madonna  mit  den  kleinen  Statuen  der  Propheten  und 
Apostel  an  den  Fenstern  ist  freilich  eine  schwierige  Sache,  und  die  Mehrzahl  dieser  Figuren  sind 
erneut  oder  so  verwittert,  dass  sie  von  seiner  Bildnerkunst  keinen  Begriff  mehr  gewähren.  Aber  die 
wenigen  Reste  ergeben  bei  genauer  Prüfung  doch  auch  wol  die  beste  Wahrscheinlichkeit  für  unsere 
Wiedertaufe:  Simone  di  Francesco  Talenti,  statt  der  leicht  erklärlichen  Verwechselung  mit 
Simone  di  Nanni  Ferrucci,  so  dass  sie  durchaus  nicht  als  philologische  Konjektur  verstanden  sein  will. 

Nach  dem  Ausscheiden  dieses  Mannes,  der  bis  dahin  der  Weiterentwickelung  der  Speicher- 
kirche vorgestanden,  trat  eine  Pause  ein,  die  ein  erneuter  Beschluss  von  1406  mit  der  Entscheidung 
beendete,  dass  alle  Zünfte  binnen  zehn  Jahren  ihre  Heiligen  aufstellen  sollten.  Niccolo  d'Arezzo 
ward  herbeigezogen,  die  Anordnung  der  Tabernakel  zu  überwachen  —  daher  wol  die  Änderung 
im  Stil  —  und  selber  den  Haupteingang  mit  Skulpturen  zu  schmücken.  Er  arbeitete  freilich  nicht 
die  vier  Prophetenfiguren  unter  dem  Fenster,  die  man  ihm  beigemessen  —  (denn  drei  davon  sind 
neu!)  — ,  wol  aber  den  gebrochenen  Kielbogen  mit  dem  Giglio  auf  der  Spitze,  und  an  den  Tür- 
wangen, scheint  es,  wie  an  der  Porta  della  Mandorla,  eine  Reihe  von  Engelsköpfen,  die  zum  Teil 
jetzt  im  Mauerwerk  eingelassen  sind,  und  bekrönte  sein  Werk  schliesslich,  etwa  zur  Zeit,  als  Donatello 
unter  seiner  Mitwirkung  die  Statue  des  Marcus  in  Auftrag  erhielt,  mit  den  Meisterstücken  Maria  und 
Gabriel,  die  jetzt  auf  der  Nische  von  Ghibertis  Matthäus,  dicht  neben  dieser  Türe,  stehen. 

Treten  wir  ins  Innere  der  Kirche,  so  umfängt  uns  tiefes  Dunkel,  aus  dem  allmählich  erst 
Orcagnas  Tabernakel  und  die  Malereien  der  Pfeiler  auftauchen.  Und  wir  können  nur  mit  dem 
Wunsche  schliessen,  dass  an  Stelle  der  kirchlichen  Finsternis  wieder  die  Helle  eines  nationalen 
Heiligtums  trete,  indem  man  statt  der  barbarischen  Vermauerung  der  alten  Bogenöfihungen  die 
Fensterarchitektur  des  Simone  Talenti  wiederherstelle,  dem  Tageslicht  wieder  den  Eintritt  öffne, 
wenn  auch  gemildert  durch  schützende  Glasscheiben  nach  dem  Vorbild  der  alten  ringsum.  Dann 
erst  wird  Andrea  Orcagnas  Madonnenbild,  das  ihm  1352  bezahlt  ward,'  und  die  Nische  mit  den 
Überresten  des  wundertätigen  Idols  am  sorglich  bewahrten  Pfeiler  darin  verschliesst,  wieder  zur  vollen 
Geltung  kommen,  und  die  seltsamen  Fabeleien  von  Ugolino  da  Siena  und  Bernardo  Daddi  oder 
gar  Don  Lorenzo  Monaco  durch  den  Glanz  seiner  eigenen  Schönheit  verschwinden.  Bis  dahin  sind 
alle  Schätze  des  Innern  gleichsam  lebendig  begraben. 

I  Diese  Tatsache  wurde  schon  von  Passerini  a.  a.  O.  und  in  der  ersten  Fassung  des  Aufsatzes  in  der  National- 
zeitung 1889  ausgesprochen.  Franceschini  bringt  diese  Ansicht  in  ausdrücklicher  Polemik  gegen  Milanesi  1892  (a.  a.  O. 
S.  53  ff.)  wieder. 


DIE  KAISERKRÖNUNG 

IM  MUSEO  NAZIONALE 


Den  nordischen  Wanderer,  der  längere  Zeit  in  Welschland  umherzieht,  überkommt  wol 
manchmal  die  Sehnsucht  nach  dem  frischen  Grün  der  Wälder  und  der  rauhen  Luft  seiner  Heimat, 
nach  dem  Sturm  in  ihren  Bergen  und  dem  Wogenschwall  an  ihrem  Seestrand.  Ein  ähnliches 
Gefühl  überschleicht  ihn  an  berühmten  Stätten  auf  fremdem  Boden,  wo  die  Erinnerung  an  deutsches 
Wesen  und  deutsche  Heldengestalten  so  lebendig  emporsteigt  wie  nirgends  im  gewohnten  Dasein 
daheim.  Wie  selten  aber  begegnet  er  noch  heute  leibhaftigen  Erscheinungen,  die  seine  geschicht- 
lichen Ideale  verkörpern,  oder  einem  alten  ehrwürdigen  Denkmal  der  Vergangenheit  selbst,  das  die 
Gebilde  seiner  Phantasie  plötzlich  in  greifbare  Form  verwandelt. 

So  wird  es  gewiss  manchem  deutschen  Forscher  ergangen  sein,  als  er  zum  ersten  Mal  die 
Räume  eines  grauen  Palastes  aus  ferner  Kaiserzeit  betrat,  * —  so  vielleicht  auch  hier  in  Florenz  im 
alten  Bargello,  wo  er  zwischen  all  den  italienischen  Werken  der  „Krönung  eines  deutschen  Kaisers" 
ansichtig  ward.  Selbst  für  den  Kunsthistoriker,  der  in  diesen  mittelalterlichen  Mauern  längst  nur  die 
Sammelstätte  für  allerlei  Bildwerk  vergangener  Jahrhunderte  zu  sehen  gewohnt  ist,  nimmt  sie,  auf 
die  Dauer  noch,  sich  fremdartig  aus.  Verwundert  empfinden  wir  wol,  dass  diese  Eine  Anschauung 
sich  enger  mit  der  zufälligen  Umgebung  im  Palazzo  del  Podestä  verbindet,  und  das  romantische 
Spiel  mit  Beziehungen  und  Gegensätzen  umspinnt  den  halb  verwitterten  Stein  so  vollständig,  dass 
wir  gedankenvoll  davon  gehen,  —  nur  beschäftigt,  den  mächtigen  Eindruck  und  unsre  mitgebrachten 
Vorstellungen  in  Einklang  zu  setzen. 

So  erklärt  sich  vielleicht  psychologisch  auch  das  Spiel  der  Meinungen  um  dieses  Bildwerk. 
Mancher  sonst  so  scharfsichtige  Forscher  scheint  das  Denkmal  träumend  verlassen  zu  haben,  ohne 
es  selbst  recht  kritisch  ins  Auge  zu  fassen.  Die  Ansichten,  die  darüber  ausgesprochen  werden, 
beharren  noch  immer  auf  einem  unentwickelten  Standpunkt,  während  unsre  Erkenntnis  der  mittel- 
alterlichen Skulptur  doch  sonst  erkleckliche  Fortschritte  verzeichnet.  Und  es  erscheint  am  Ende  als 
Hellseherei,  wenn  jemand  von  all  diesen  schwankenden  Erklärungen  nichts  wissen  will,  und  zu  einem 
Ergebnis  gelangt,  das  mit  dem  Mittelalter  kaum  noch  zu  rechnen  bedarf.  Es  muss  jedoch  auch 
hier   versucht  werden,  Romantik  und  Nationalgefühl  bei  Seite  zu  lassen,  und  das  alte  imponierende 


-     55    — 

Gestaltenpaar  für  sich  zu  betrachten  wie  andre  historische  Urkunden  auch,  vor  allen  Dingen  das 
Werk  in  seinem  heutigen  Zustande  selber  zu  Worte  kommen  zu  lassen,  damit  es  aussage,  wie  viel 
es  sicher  zu  bezeugen  vermag. ' 

Bis  dahin  hat  die  Phantasie  der  Betrachter  zu  schnell  begonnen,  sich  mit  geschichtlichen 
Kombinationen  am  Gesehenen  zu  beteiligen.  Das  Bruchstück,  das  vor  Porta  Romana  im  Boden 
gefunden  sein  soll,  zeigt  in  beinahe  frei  herausgearbeitetem  Hochrelief  eine  Gruppe  von  zwei  Figuren, 
die  Eine  sitzend  auf  einem  Thronstuhl  mit  hoher  Rücklehne,  die  Andre  daneben  stehend,  im  Begriff, 
mit  beiden  vorgestreckten  Armen  sich  über  das  Haupt  des  Sitzenden  vorzubeugen  und  dem  Gesalbten 
eine  Krone  aufzusetzen.  Aber  diese  Krone,  von  der  Form  wie  der  Krönungsornat  der  deutschen 
Kaiser  sie  einst  enthielt,  ist,  wie  die  Hand  des  Kirchenfürsten,  eine  Zutat,  die  bei  der  Aufstellung 
im  Museum  hinzumodelliert  worden.  Wir  wissen  also  nicht,  was  die  abgebrochenen  Hände  taten. 
Und  die  Form  der  Krone,  in  der  wir  Karl  den  Grossen  abzubilden  pflegen,  darf  ebenso  wenig  irre- 
führen. Der  Thronende  hält  jedoch  den  Reichsapfel  in  der  einen  Hand,  ein  Bruchstück  des  Scepters 
in  der  andern,  so  dass  wol  wirklich  der  Moment  der  Krönung  selber  angenommen  werden  muss, 
wie  andrerseits  nur  an  die  kirchliche  Weihe  eines  weltlichen  Fürsten  gedacht  werden  kann.  Er 
trägt  die  Dalmatica  mit  Stola  und  Cingulum,  lauter  Abzeichen,  die  keinen  Zweifel  übrig  lassen,  dass 
ein  römischer  Kaiser  deutscher  Nation  gemeint  .sei,  der  im  Diakonengewand  gekrönt  ward.  Der 
Pontifex  dagegen,  der  die  heilige  Handlung  vollzieht,  erscheint  nicht  mit  der  päpstlichen  Tiara, 
sondern  mit  der  bischöflichen  Mitra;  es  kann  also  kaum  an  die  Krönung  eines  deutschen  Kaisers 
gedacht  werden,  die  in  Rom  durch  einen  der  Päpste  selber  geschehen  ist,  sondern  —  aus  der  vollen 
mittelalterlichen  Vorstellungswelt  heraus  —  nur  an  eine  Ausnahme,  wo  ein  Kardinal  oder  ein  Bischof 
an  die  Stelle  des  Pontifex  Maximus  getreten. 

Seltsam  genug,  dass  man,  von  diesem  Punkt  der  historischen  Erwägungen  aus,  nun  nicht  weiter 
auf  die  Form  der  Bischofsmütze  und  die  übrigen  Bestandteile  des  Ornates  einging,  sondern  aus  der 
Kostümkunde  sogleich  auf  die  Biographie  der  deutschen  Kaiser  abschwenkte,  wo  solche  Ausnahmen 
zu  finden  .seien.  Es  war  der  Name  „Krönung  Karls  des  Grossen",  der  den  Widerspruch  der  deutschen 
Gelehrsamkeit  herausforderte  und  auch  deutsche  Kunstforscher  verleitete,  von  der  Chronologie  dieser 
Realien  der  Tracht  vorschnell  abzusehen.  So  riet  man  auf  Ludwig  den  Bayern.^  Aber  dieser  vom 
Papst  gebannte  König  ward  am  17.  Januar  1328  mit  seiner  Gemalin  Margarete  von  vier  Vertretern 
des  römischen  Volkes  gekrönt,  und  von  zwei  gebannten  Bischöfen,  von  Venedig  und  von  Aleria 
auf  Corsica,  in  St.  Peter  gesalbt.  —  Deshalb  rückte  die  Benennung  weiter  zu  dem  folgenden  Bei- 
spiel solcher  Ausnahmen,  zu  Karl  IV.  dem  Luxemburger,  der  am  Ostersonntag  1355  vom  päpstlichen 
Legaten  in  Rom,  dem  Kardinal  von  Ostia,  die  Krönung  empfing.  ^  Damit  ist  allerdings  die  Dar- 
stellung dieses  Bischofs  besser  erklärt.  Aber  in  beiden  Fällen  sollte  sich  die  weitere  Frage  geregt 
haben:    wie  kam  man  in  F"lorenz  dazu,   die  Kaiserkrönung  Ludwigs  des  Bayern  oder  Karls  IV.  von 


1  Vgl.  Preiissische  Jahrbücher  l!d.  LXI.  i88ff. 

2  Bode  in  Burckhardts  Cicerone,  4  Aufl.  1879.    Zusätze  p.  811.    „Charakter  der  Arbeit,  Art  der  Darstellung  und  die 
Gestalt  des  deutschen  Königs  machen   es  wahrscheinlich,    dass  hier  die  Krönung  Ludwigs  des  Bayern  wiedergegeben   ist". 

3  Daselbst  5.  .\ufl.  1887,  p.  330  m.  vgl.  Ortsregister  p.  XIX. 


-     56    - 

Böhmen  durch  ein  Marmorvverk  zu  verherrlichen?  Die  Darstellung  so  nahe  gelegener  historischer 
Ereignisse  fände  doch  wol  nur  in  ganz  besonderem  Anlass  eine  ausreichende  Erklärung.  So  finden 
wir  im  Dom  eine  Hindeutung  auf  den  Tod  Heinrichs  VII.,  der  die  Stadt  Florenz  belagert  hatte; 
aber  an  dem  Grabmal  ihres  Bischofs  und  hartnäckigen  Verteidigers  gegen  diesen  Angriff:  Antonio 
d'Orso  (t  1321)  von  der  Hand  des  Tino  da  Camaino.  Von  Ludwig  dem  Bayern,  gegen  den  sie  sich 
mit  neapolitanischer  Streitmacht  gerüstet,  war  die  weifische  Stadt  umgangen;  von  Karl  IV.  auf  seinem 
Zug  zur  Krönung  oder  zurück  ebenso  wenig  betroften. 

An  diese  Benennungen  mit  festem  Namen  für  den  Dargestellten  hat  sich  bisher  auch  die 
Datierung  des  Werkes  geknüpft.  In  Florenz  galt  die  Gruppe  damals  als  Skulptur  des  XIII.  Jahr- 
hunderts. Der  Cicerone  Burckhardts  erkennt  in  Bodes  Bearbeitung  1879  darin  „ein  hervorragendes 
Werk  aus  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts",  —  indem  er  an  Ludwig  den  Bayern  (1328)  denkt, 
und  setzt  also  gleichzeitige  Entstehung  dieses  Abbildes  voraus.  In  der  folgenden  Auflage  von  1884 
wird  es  unmittelbar  hinter  Alberto  di  Arnoldo,  dem  Lombarden  aufgeführt,  so  dass  der  Leser  sich 
verlockt  findet,  es  diesem  geistlosen  Handwerker  beizumessen,  der  in  den  sechziger  Jahren  des 
Trecento  die  Madonna  mit  zwei  Engeln  zur  Seite  für  den  Altar  des  Bigallo  gearbeitet.  Im  Orts- 
register wird  „Pisaner  Schule"  hinzugefügt,  so  dass  wir  in  Florenz  an  die  Nachfolger  des  Andrea  Pisano 
und  seines  Sohnes  Nino  denken  müssten,  die  sich  von  Orcagna  wesentlich  unterscheiden. 

Robert  Vischer  dagegen  vermutet,  in  seinen  „Studien  zur  Kunstgeschichte"  1886  p.  81  gar 
deutschen  Ursprung,  wie  an  den  Werken  der  Hohenstaufenzeit  in  Capua  und  einer  weiblichen 
Marmorbüste  aus  Amalfi  (Scala)  im  Berliner  Museum,  und  nennt  mit  diesen  Arbeiten  zusammen  „das 
Reliefbild  der  Krönung  Ludwigs  des  Bayern"  im  Museo  Nazionale  zu  Florenz  als  deutsches  Skulptur- 
werk aus  der  Periode  des  „Übergangs  vom  romanischen  zum  gotischen  Geschmack".  Diese  Zusammen- 
stellung enthält  wol  mindestens  Einen  Anachronismus,  und  zwar  um  ein  volles  Jahrhundert.  Gehört 
dies  Hochrelief  dem  Übergang  der  deutschen  Skulptur  aus  dem  Romanismus  in  die  Gotik  an,  so 
ist  unmöglich  die  Krönung  Ludwig  des  Bayern  von  1328  dargestellt,  oder  umgekehrt:  haben  wir 
diesen  Kaiser  zu  erkennen,  dann  gehört  das  Bildwerk  der  Gotik  an,  die  in  Deutschland  damals 
längst  ausgebildet,  in  Italien  seit  Giovanni  Pisano  (um  1300)  zum  entschiedenen  Durchbruch 
gekommen  war. 

Überall  ward  das  Schielen  nach  dem  historischen  Anlass  und  nach  der  Person  des  Dargestellten 
für  das  Urteil  über  die  Entstehungszeit  verhängnisvoll.  Aber  wissen  wir  denn,  dass  die  Entstehungszeit 
des  Marmorwerks  in  Florenz  auch  nur  annähernd  mit  der  Lebenszeit  des  Gekrönten  und  dem  Datum 
seiner  Krönung  zusammenfallen  muss?  Die  alte  Bezeichnung  als  „Karl  der  Grosse"  rückte  die  Arbeit 
doch  schon  ins  XIII.  Jahrhundert,  betrachtete  sie  also  nicht  als  gleichzeitige  Wiedergabe  eines 
Porträts,  sondern  als  Idealkomposition.  Kommt  aber  die  Frage  so  an  den  Kunsthistoriker  zurück, 
so  sollte  es  ihm  näher  liegen,  sich  nach  Darstellungen  solcher  Krönung  umzusehen,  die  einiger- 
massen  im  Widerstreit  dieser  Datierungen  in  Betracht  kommen  können.  Historische  Kostümkunde 
und  stilistische  Analyse  mochten  sich  zu  gegenseitiger  Hülfe  die  Hand  reichen. 

Die  Krönung  Ludwigs  des  Bayern  mit  der  Longobardenkrone,  die  Guido  Tarlati,  der  Bischof 
von  Arezzo,  am  26.  Juni  1327  in  S.  Ambrogio  zu  Mailand  vollzogen,  haben  wir  im  Dom  von  Arezzo 


an  dem  Grabmal  dieses  Bischofs  (721.  Oktober 
1327  in  Montenero),  das  die  Sienesen  Agostino 
di  Giovanni  und  Agnolo  di  Ventura  1330  mit 
Relief  tafeln  geschmückt,  also  in  zeitgenössischer 
Darstellung:  „Hoc  opus  fecit  magister  Augusti- 
nus et  magister  Angelus  de  Senis  MCCCXXX" 
sagt  die  Inschrift. ' 

In  der  Regierungszeit  seines  Nachfolgers, 
Karls  IV  (|  1378)  führt  uns  dagegen  ein  Relief 
mit  der  gleichen  Ceremonie  im  rechten  Kreuz- 
schifif  des  Domes  zu  Monza,  das  ursprünglich 
die  Rückseite  der  Kanzel  geschmückt  haben 
soll  und  dem  Erbauer  der  Kirchenfassade 
Matteo  da  Campione  zugeschrieben  wird.^  Hier 
sieht  man  auf  dem  länglichen  Marmorstreifen, 
der  die  Füllung  einer  Brustwehr  bildete,  die 
Krönung  eines  deutschen  Kaisers  mit  der 
longobardischen  Königskrone  in  aller  Ausführ- 
lichkeit, mit  zahlreichen  Beischriften  erläutert, 
und  zwar  ohne  Zweifel  in  viel  authentischerer 
Wiedergabe  des  herkömmlichen  Ritus  als  in 
dem  Relief  der  Sienesen  am  Kenotaph  Tarlatis 
in  Arezzo,  also  ein  entscheidendes  Beispiel. 

Links  steht  der  Altartisch  mit  einem 
Kruzifix  und  drei  Kelchen,  lauter  Prachtstücken 
des  Domschatzes  von  Monza,  und  darüber 
hängen  an  einer  Stange  vier  Kronen.  Neben 
dem  Altar  harrt  der  Diakon  mit  dem  Bischofs- 
stab, von  seinem  Subdiakon  begleitet,  während 
der  „Archipresbyter  hujus  ecclesie"  in  bischöf- 
lichem Ornat,  der  auf  besondere  Erlaubnis  des 
Papstes    statt    des    Mailänder    Erzbischofs    die 


I  Phot.  V.  Alinari,  Abbildu 

lg  in  Stackes  Deutscher 

Geschichte  I,  2.   p.  607   fälschHch 

auf   die  Kaiserkrönung 

in  Rom  bezogen. 

2  Es    ist    durchaus    in    d 

;r    alten    comaskischen 

Behandhing   des   Rahmenreliefs, 

iiit   Einer   Figurenreihe 

als    Regel,    gearbeitet,    wie    dies 

schon    die    romanische 

Skulptur    des    XIII.  Jahrhunderts 

aufweist.      Vgl.  darüber 

Schmarsow,    S.  Martin   von  Lucca, 

Breslau  1890,  p.  99. 

-     58    - 

Krönung  vollziehen  darf,'  soeben  im  Begriff  ist,  das  sogenannte  eiserne  Diadem  —  hier  eine 
Zackenkrone  von  friihgotischer  Form  —  auf  das  Haupt  des  Erwählten  zu  setzen.  Der  „Imperator", 
wie  ihn  die  Inschrift  an  der  Schräge  des  Randes  nennt,  sitzt  im  königlichen  Schmuck  auf  dem 
Thron,  das  Scepter,  mit  Lilienspitze,  in  der  linken  Hand,  während  die  Rechte  sich  auf  das  Knie 
stützt.  Neben  dem  Thron,  hinter  dem  ein  Teppich  hängt,  steht  zunächst  der  „Archiepiscopus 
Colon(iensis)",  neben  diesem  ersten  der  geistlichen  Kurfürsten  folgen  die  übrigen  mit  je  einem 
weltlichen  abwechselnd;  zunächst  der  „Dux  Sanxonie"  mit  dem  Schwert  des  Reiches,  aufgerichtet 
mit  umgeschlungenen  Bandelier,  in  der  Rechten,  die  Linke  am  Dolch;  dann  der  „Archiepiscopus 
Trever(ensis)",  der  seinen  Nachbar  auf  die  Scene  hinweist.  Dieser  trägt  die  Handschuhe  des  Kaisers 
und  ist  durch  die  Überschrift  „Landegrevi"  als  der  Landgraf  von  Thüringen  bezeichnet.  Ruhig 
nach  vorn  gewendet  steht  der  Kurfürst  von  Mainz  „Archiepiscopus  Magancie",  während  der  Letzte, 
der  „Marchio  Brandeburgensis"  sich  den  Bürgern  von  Monza  zuwendet,  deren  Häupter  erschienen 
sind,  dem  Kaiser  zu  huldigen  und  die  Bestätigung  ihrer  Privilegien  zu  empfangen:  „Homines  Modoetie 
A  Major'  Usque  Ad  Minorem  Semper  Fuere  et  Sunt  Imperatorie  Mayestatis  Fidelles"  sprechen  sie  zum 
Kanzler  des  Reichs,  der  ihnen  antwortet:  „Dns  Rex  Bene  Novit  Quod  Dixistis  Jdeo  Amplificabit 
Fortiter  Et  Confirmabit  Privilegia  Vestra"  und  zwei  Urkunden  mit  schweren  Siegeln,  die  „Privilegia 
Comunis  Modoetie"  darreicht.  Über  der  Krönung  steht  die  Formel  bei  der  feierlichen  Ceremonie : 
„Altissimi  Dei  et  Apostolice  Sedis  Gratia  Concedente  Prout  Constitutum  Est  Modoetie  Que  Caput 
Lombardie  Et  Sedes  Regni  Illius  Esse  Dignoscitur  In  Sancto  Oraculo  Sancti  Johanis  Baptiste  Ferreo 
Diademate  De  Jure  Regni  Corono  Te  Prius  Electum  Juste  Atque  Unctum  Regem  Provintie  Italice". 
Das  Relief  trägt  noch  deutliche  Spuren  polychromer  Bemalung  und  Vergoldung.  Es  verdient 
die  volle  Aufmerksamkeit  der  Kunsthistoriker^  als  charakteristisches  Beispiel  der  durch  Giovanni 
Balduccio  nach  Oberitalien  verpflanzten  Kunstweise  Toscanas,  das  jedoch  stilistisch  der  Area  di 
St.  Agostino  im  Dom  von  Pavia  (begonnen  1362)  näher  steht  als  der  Area  di  S.  Pietro  Martire  in 
St.  Eustorgio  von  Mailand,  also  noch  ausgesprochener  die  Kunstweise  der  Lombardei  selber  vertritt 
als  die  Werke  jenes  pisanisch  geschulten  Meisters.  In  diesem  Stil  aber  bezeugt  gerade  die  Gestalt 
des  Königs  einen  fremden  Einfluss,  dessen  unverkennbar  französische  Zierlichkeit  wol  nur  durch 
Vorbilder  auf  Siegeln  3  oder  Münzen,  und  zwar  des  luxemburgischen  Kaisers  Karl  IV.  am  ehesten, 
erklärt  werden  kann.  Je  weniger  das  Ceremonienbild  selbst,  das  auf  dem  Relief  im  Dom  zu  Monza 
gewiss  nur  das  Privilegium  dieser  Kirche  veranschaulichen  sollte,  auf  ein  historisches  Faktum  zurück- 
geht, —  je  entschiedener  die  Überzeugung  Recht  behalten  muss,  dass  die  Krönung  Karls  IV.  selbst, 
die  am  6.  Januar  1355  auch  in  Mailand  und  nicht  in  Monza  stattfand,  hier  nicht  gemeint  sein  kann, 


'  Vgl.  Muratori,  De  Corona  Ferrea,  Mediolani  17 19  u.  Frisi,  Ant.  Fr.  Memorie  della  Chiesa  Monzese  Milano  1774 — 80. 

2  Es  hat  neuerdings  eine  treffliche  Würdigung  bei  A.  G.  Meyer,  Lombardische  Denkmäler  des  XIV.  Jh.  (1893) 
p.  119  ff.  gefunden,  wo  auf  den  Codex  Balduini  Trevirensis  und  die  dort  geschilderte  Krönung  Heinrichs  VII.  hingewiesen 
wird.  Vgl.  sonst  C.  Aguilhon,  Scult:  di  Matteo  da  Campione  ...  in  Monza  1878  und  Intorno  ad  un  bassorilievo  della  basilica 
di  Monza.  Roma  1879,  sowie  Barbier  de  Montault  „Inventaires  de  la  basilique  de  Monza"  (Bulletin  monumental  V.  Serie, 
tome  9.     1881,  XII.     Le  basrelief  du  couronnement  S.  7ooff.  m.  Heliogravüre). 

3  Schon  das  Grabmal  des  Guillaume  de  Narbonne  von  1289  im  Klosterhof  der  SS.  Annunziata  zu  Florenz  zeigt 
in  der  Reiterfigur  die  Benutzung  des  französischen  Siegels. 


—     59    - 

desto  entschiedener  muss  auch  das  Hineinspielen  dieser  Vorlagen,  von  Siegeln  des  Luxemburgers, 
wie  z.  B.  im  Städtischen  Museum  zu  Frankfurt  am  Main,  betont  werden. 

Damit  haben  wir  jedenfalls  eine  annähernde  Vorstellung  gewonnen,  wie  eine  Krönung 
Karls  IV.  von  einem  Bildhauer  des  Trecento  ausfallen  konnte.  Nur  die  Durchführung  in  grösserem 
Mafsstab  und  Hochrelief  wäre  noch  hinzuzudenken,  und  statt  des  lombardischen  Künstlers  hätten 
wir  hier  im  Bargello  die  Arbeit  eines  Toskaners,  womöglich  eines  florentinischen  Meisters  zu 
gewärtigen. 

Die  Frage,  wie  eine  derartige  Krönung  mitten  im  vierzehnten  Jahrhundert  ausgesehen  haben 
würde,  wenn  wir  annehmen,  sie  sei  in  Florenz  von  einem  der  angesehensten  Bildner  ausgeführt 
worden,  zwingt  zu  einer  Umschau  auf  dem  Gebiet  der  Trecentoskulptur  und  das  eigentümliche 
Verhältnis  der  Stadt  Florenz  zu  den  Nachbarn.  Mit  Andrea  Pisano  beginnt  erst  die  Verpflanzung  dieser 
Kunst  in  die  Mauern  der  Guelfenstadt.  Sein  Beiname  noch  kennzeichnet  den  Meister  aus  Pontedera 
als  Fremden.  Seine  Reliefs  an  der  Tür  des  Baptisteriums  haben  etwas  von  französischer  Eleganz, 
seine  feinknochigen  Gestalten  bewegen  sich  schwungvoll,  wie  im  Innersten  durchdrungen  von  dem 
Rhythmus  der  reinen  französischen  Gotik.  Darin  sind  sie  dem  langlockigen  König  und  den  Edelsten 
des  Reiches  um  ihn  her,  wie  das  Krönungsrelief  des  Matteo  da  Campione  in  Monza  sie  schildert, 
verwandt  genug.  Aber  die  Tracht  dieser  deutschen  Fürsten  und  der  Bürger  von  Monza,  die 
Wendung  und  Formation  der  Köpfe,  soweit  sie  den  Zeittypus  wiedergeben,  der  Eindruck  der  Kostüm- 
bilder findet  sich  eher  bei  Andrea  Orcagna,  an  den  Zeugen  der  Himmelfahrt  Marias  auf  der  Rück- 
seite seines  Tabernakels  von  Orsanmichele,  mit  dem  Datum  1359. 

Welch  ein  Abstand  aber,  wenn  wir  nach  den  besten  Gruppen  der  Reliefs  an  diesem  Taber- 
nakel mit  ihrer  starken  Austiefung  und  ihrem  Ungeschick  der  Einordnung  in  die  selbstgewählten 
Rahmen  uns  wieder  dem  Hochrelief  des  Museo  Nazionale  zuwenden.  Am  ehesten  Hesse  sich  noch 
eine  Krönung  Marias  zum  Vergleich  herbeiziehen,  die  als  halbverkommenes  Bruchstück  im  Dom  von 
Prato  bewahrt  wird.  Herbeiziehen  freilich,  nur  um  ein  Beispiel  aus  dem  Trecento  zu  haben,  das 
wenigstens  die  technischen  Eigenschaften  und  den  äussern  Zuschnitt  dieser  Werkstätten  vor  Augen 
führt.  Das  Relief  gehört  zu  der  alten  Area,  die  einst  den  Gürtel  der  Madonna  umschloss,  und 
zwischen  1354  und  1360  von  Niccolö  di  Cecco  del  Mercia  und  Sano  (di  Matteo?)  aus  Siena,  nebst 
Giovanni  di  Francesco  Fetti  aus  Florenz  gemeisselt  war.  Die  Fragmente  sind  im  Nebenraum  der 
Capella  della  Cintola  in  die  Wand  eingemauert;  die  Krönung  Marias  ist  halb  zerschlagen  gewesen 
und  macht  den  Eindruck  eines  unvollendeten  Überrestes,  aber  der  Seitenschmuck  mit  Konsolen  und 
Fialen  belehrt  eines  Bessern.  Ihr  Gegenstück  bildete  die  Scene,  wie  S.  Thomas  die  Reliquie  einem 
frommen  Vertrauensmann  zur  Aufbewahrung  übergiebt.  Hier  haben  wir  in  der  stehenden  Figur  des 
Apostels  eine  Parallele  zu  dem  krönenden  Bischof  im  Bargello,  während  die  sitzenden  Figuren  dem 
thronenden  Kaiser  an  die  Seite  gesetzt  werden  mögen,  —  wenn  auch  nur,  um  die  Unvergleichbarkeit 
in  der  Hauptsache  darzutun. 

Durch  solche  Seitenblicke  auf  alles  Übrige,  was  damals  in  der  florentinischen  Skulptur  geleistet 
wurde,  muss  auch  für  das  stumpfeste  Gefühl  der  Kontrast  herausgetrieben  werden,  der  zwischen  den 
Denkmälern  des  Trecento  und  dem  Hochrelief  der  Kaiserkrönung  im  Museo  Nazionale  besteht.    Die 


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toskanische  Bildnerei  hat  im  ganzen  vierzehnten  Jahrhundert  dergleichen  nicht  aufzuweisen.  Diese 
mächtige,  fast  frei  herausgearbeitete  Gruppe  steht  mit  dem  Geist  der  italienischen  Gotik  ebenso  in 
Widerspruch  wie  mit  ihren  Formen.  Daher  mochte  auch  wol  der  Gedanke  an  deutsche  Bildwerke 
der  spätromanischen  Zeit,  wie  in  Braunschweig  oder  Naumburg  aufsteigen,  in  denen  ein  ähnliches 
Gefühl  für  den  selbständigen  Wert  des  Leibes,  der  wolgerundeten  Körperlichkeit  waltet  wie  hier. 
Und  insofern  hat  der  Urheber  dieses  Vergleiches,  Robert  Vischer,  mehr  Verständnis  für  den 
innersten  Zug  der  Gestaltung  bewiesen,  als  die  Geschichtsklitterer,  die  das  Werk  in  die  Tage  des 
Böhmenkönigs  Karl  versetzten.  Es  ist  ein  wuchtiger  Wurf  in  dem  Ganzen,  wie  ihn  weder  die  milde 
Schönheit  Andreas  von  Pontedera  kennt,  noch  die  bürgerliche  Befangenheit  des  Andrea  Orcagna. 
Damit  ist  die  unterscheidende  Eigentümlichkeit  des  Innern  Wesens  bezeichnet;  aber  die  stilistischen 
Merkmale  der  äussern  Behandlung  bleiben  noch  unerklärt,  wie  die  allgemeine  Bildung  der  Zeit,  in 
der  eine  solche  Grossartigkeit  der  Auffassung  gedeihen  konnte.  Die  technischen  Kennzeichen 
gestatten  es  ebenso  wenig,  die  Gruppe  mit  den  letzten  Ausläufern  des  Romanismus  in  Deutschland 
oder  gar  in  Italien  zusammen  zu  denken.  Nicht  jenes  „urwüchsige  Antikisieren",  jene  „rauhe  Gross- 
heit typischer  Natur"  haben  wir  vor  uns,  die  hier  und  da  für  kurze  Zeit  vor  dem  zähmenden  Einfluss 
streng  kirchUchen  Empfindungslebens  hervorbrachen,  das  den  gotischen  Stil  durchbebt.  Es  ist 
vielmehr  die  echt  realistische  Grundstimmung,  die  rücksichtslos  wahrheitsgetreue  Gesinnung,  aus 
denen  die  Plastik  der  Frührenaissance,  die  statuarische  Kunst  Donatellos  hervor  wächst,  es  ist  die 
Kunst  des  Quattrocento,  der  auch  dieses  Denkmal  angehört.  Das  wenigstens  ist  seit  lange  schon 
meine  persönliche  Überzeugung,  und  ich  habe  mündlich  bei  verschiedener  Gelegenheit,  wie  schriftlich 
an  entscheidender  Stelle  die  Ansicht  verfochten,  dass  dies  Hochrelief  im  Bargello  weder  in  das 
XIII.  noch  in  das  XIV.  Jahrhundert  gehören  kann,  sondern  erst  im  vollen  Zuge  des  XV.  Jahrhunderts 
möglich  war.' 

Gute  Kenner  haben  sich  von  diesem  Schluss  wol  nur  durch  den  Zustand  des  Marmors  abhalten 
lassen.  Seine  Oberfläche  ist  vielfach  angegriffen,  an  dem  Gesicht  des  Kaisers,  an  den  Löwenköpfen 
des  Thronsessels  ist  die  Korrosion  soweit  vorgeschritten,  dass  die  Formen  fast  unkenntlich  werden, 
und  vorstehende  Teile  sind  ganz  zerfressen.  Skulpturen  des  Quattrocento  so  zu  sehen  sind  wir 
noch  nicht  gewohnt,  wie  bei  denen  der  Antike  oder  des  Mittelalters.  Die  Verwitterung  täuscht 
auch  bei  jedem  Wiedersehen  des  Originals  zu  Anfang  aufs  neue  und  hat  vielleicht  manchen  Forscher 
daran  gehindert  mit  einer  stilkritischen  Bestimmung  nach  den  eigenen  Grundsätzen  der  kunst- 
geschichtlichen Methode,  oder  auch  nur  mit  den  Hilfsmitteln  der  Kostümkunde,  den  Realien  des 
geistlichen  Ornates  u.  dgl.  Ernst  zu  machen.  Sonst  hätte  man  doch  sachgemäss  in  kühlster 
Unbefangenheit  zunächst  feststellen  müssen,  dass  diese  Form  der  Bischofsmütze  mit  ihren  Besatz- 
stücken, dieser  Schnitt  des  Überwurfs,  den  man  eher  für  eine  Casula  als  für  ein  Pluviale  halten  könnte. 


I  Vgl.  Berichte  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur,  Sitzung  der  archäologischen  Sektion  am 
27.  Januar  1887,  wo  das  volle  Resultat  gedruckt  worden,  das  ich  natürlich  in  meinen  Vorlesungen  über  die  Ital.  Plastik  in 
Breslau  und  in  Florenz  (Winter  1888/89)  mitgeteilt  habe.  In  diesem  Sinne  ist  auch  die  Bezeichnung  am  Gipsabguss  der 
Gruppe  im  Berliner  Museum  auf  XV.  Jh.  abgeändert  worden.  (Vgl.  Verzeichnis  der  Gipsabgüsse,  Berlin  1879,  S.  109, 
No.  1565,  XIII.  Jh.?) 


—     6i     — 

diese  Diakonengewänder  beim  Kaiser,  wie  alle  kleinen  Abzeichen  der  Kleidung  und  des  Thrones 
sonst,  dem  XV.  Jahrhundert  angehören. 

Überblicken  wir  darnach  die  Beispiele  wieder,  die  aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  Quattro- 
cento für  diese  beiden  Gestalten  in  Betracht  kommen  könnten,  so  belohnt  sich  diese  Umschau 
sofort.  Monumentalfiguren  in  weiter  Gewandung,  so  breit  und  wuchtig  hingesetzt,  wie  dieser 
deutsche  Imperator,  —  wo  wären  da  zahlreiche  Seitenstücke  zur  Vergleichung,  wenn  nicht  eben  in 
Florenz?  — 

Die  vier  Evangelisten,  die  einst  an  der  Domfassade  neben  dem  Hauptportal  sassen,  jetzt  im 
Innern  der  Chorkapelle,  sind  die  nächsten  Beispiele:  Niccolö  d'Arezzo  hat  den  Marcus,  Bernardo 
Ciuffagni  den  Matthäus,  Nanni  d' Antonio  di  Banco  den  Lucas  und  Donatello  den  Johannes  geschafifen.' 
Mit  den  Jahren  ihrer  Entstehung  1408 — 141 5  ist  auch  der  Geist  des  Realismus  wie  das  Verständnis 
für  die  statuarische  Kunst  des  klassischen  Altertums  in  Florenz  emporgewachsen:  in  der  Figur  des 
Aretiners  noch  derb  und  starr,  in  der  Ciufiagnis  befangen  und  stumpf,  in  Nannis  Lucas  schon  von 
edlem  Schwung  bewegt,  der  die  Majestät  des  Thronenden  zu  stören  droht,  in  Donatellos  Johannes 
noch  gebunden,  wie  bei  jenen,  aber  mächtig  und  hoheitvoll  in  dem  langbärtigen  Haupte  des  greisen 
Sehers  von  Patmos.  Mit  keinem  dieser  Bildwerke  jedoch  stimmt  die  Behandlung  der  Diakonen- 
gewänder des  korpulenten  Kaisers  genauer  überein,  der  doch  so  breit  und  aufrecht  zugleich,  so 
sicher  und  imponierend  dasitzt,  als  werde  die  Salbung  durch  Priesterhand  ebenso  wenig  im  Augen- 
blick, wie  die  Last  der  Krone  fürderhin,  sein  Haupt  zu  beugen  imstande  sein.  Höchstens  ein  paar 
Querfalten  zwischen  den  Knieen  hin,  die  absichtlich  ausgetieft  sind,  und  die  schlichte  Grossflächig- 
keit  um  Brust  und  Schultern,  die  auch  Donatellos  Johannes  aufweist,  erinnern  an  diese  Erstlinge 
der  Statuenbildnerei  des  Quattrocento.  Doch  der  allgemeine  Eindruck,  die  Haltung  des  Gesamt- 
charakters sagt  desto  bestimmter,  dass  jene  Evangelisten  schon  vor  diesem  Kaiser  auf  ihren  Thronen 
gesessen  haben.  Vor  Donatellos  Meisterstücken  war  auch  die  Krönung  undenkbar;  das  beweist  ein 
Blick  auf  seinen  stehenden  S.  Marcus  an  Orsanmichele,  den  er  beim  Beginn  der  Arbeit  noch  auf 
ein  Kissen  treten  lässt  (141 1  — 1413),  bei  der  späteren  Ausgestaltung,  besonders  der  oberen  Hälfte, 
jedoch  zu  solcher  Wucht  und  Breite  zu  steigern  verstand.  Fassen  wir  dagegen  die  weichen,  hier 
und  da  wulstigen  und  tiefzügigen  Falten  des  krönenden  Bischofs  ins  Auge,  so  entdecken  wir  nirgends 
grössere  Verwandtschaft  als  mit  den  Heiligen  Eligius  und  Philippus  oder  den  vier  Togafiguren  in 
einer  Nische,  die  Nanni  d'Antonio  di  Banco  für  Orsanmichele  geliefert  hat.  Diese  Leistungen  des 
jung,  schon  1421,  verstorbenen  Genossen  Donatellos,  vor  allem  der  Philippus  und  die  vordem  Figuren 
des  Quartetts,  das  zum  Teil  aus  einem  Stück  gearbeitet  ist  wie  eine  Reliefgruppe,  müssen  den 
Bildner  der  Krönung  besonders  angezogen  haben,  so  dass  er  sich  daran  mit  Sorgfalt  schulte. 
Scheint  es  doch,  als  hinge  sein  technisches  Gebaren  unmittelbar  mit  diesem  Meister  zusammen. 

Für  den  Körper  selbst  bevorzugt  er  entschieden  den  gedrungenen,  breitschultrigen  und  rund- 
köpfigen  Römertypus  und  die  vollen  Formen,  die  nicht  eckig  hervorragen.  Die  Züge  des  Kardinal- 
bischofs haben  sogar  eine  auffallende  Verwandtschaft  mit  der  Grabfigur  Johannes  XXIII.,  die  Donatello 


'  Vgl.  Schmarsow,  Donatello,  Breslai 


für  das  Denkmal  des  einstigen  Papstes  im  Baptisterium  geschaffen.  Wer  dieses  Bronzebildnis  des 
weltlichen  Bartolommeo  Coscia  vergleicht,  wird  sofort  die  Verschiedenheit  in  der  Gewandbehandlung 
zwischen  dem  Erzguss  dort  und  der  Marmorarbeit  hier  bemerken.  Und  gleitet  sein  Auge  beiläufig 
nieder  auf  die  Löwenköpfe  der  Bahre,  so  müssen  die  Vorzüge  des  Thronschmuckes  hier  wol 
ebenso  auffallen.  Und  schreiten  wir  endlich  zu  Donatellos  Lieblingsschöpfung  dem  „Zuccone"  am 
Glockenturm  hinüber  und  halten  auch  hier  die  tiefgefurchten  bauschigen  Falten  mit  denen  des 
krönenden  Bischofs  zusammen,  indem  wir  zugleich  den  Unterschied  im  Körperbau  hervorheben,  so 
ist  auch  der  Kreis  der  Vorbilder,  der  in  Frage  kommen  mag,  so  ziemlich  umschrieben,  und  erst 
weiterer  Ausblick,  auf  das  dreifache  Antlitz  der  Trinität  im  Giebel  über  Verrocchios  Thomas  und 
Christus,  auf  die  Grabplatten  Donatellos  in  Siena  und  Rom  (mit  Einschluss  der  Martins  V.)  und  auf 
die  Züge  seines  Gattamelata  in  Padua,  würde  die  Behandlung  der  Innern  Gesichtsteile  wie  der  festen 
Struktur  seiner  Köpfe  noch  näher  ins  Licht  setzen. 

Diese  Runde  unter  den  charakteristischesten  Hauptwerken  florentinischer  Bildhauer  aus  der 
ersten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts  ergiebt  für  den  Kundigen  zugleich  das  weitere  Resultat,  dass 
keiner  von  diesen  Meistern  der  Urheber  der  Kaiserkrönung  sein  kann.  Denn  mit  keiner  dieser 
wolbekannten  Individualitäten  stimmt  das  Wesen  der  grossartigen,  völlig  freien  und  doch  wieder 
nicht  gewaltsam  leidenschaftlichen,  sondern  in  sich  ruhevollen,  ja  feierlich  getragenen  Darstellung 
überein.  Sie  ist  allen  verwandt  und  doch  von  allen  verschieden,  soviel  ihrer  hier  genannt  worden; 
sie  ist  sicher  die  Arbeit  eines  gleichstrebenden  Genossen  dieser  ersten  Generation  des  Quattrocento, 
zu  der  als  Maler  auch  Masaccio  gehört,  und  setzt  sich  als  solche  in  Gegensatz  zu  allen  Leistungen 
der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts,  wo  Andrea  del  Verrocchio  und  Antonio  del  PoUajuolo  oder 
Antonio  Rossellino  und  Benedetto  da  Majano  den  Ton  angeben. 

Verrocchio  steht  der  deutschen  Empfindung  so  nahe,  wie  kein  andrer  Meister  der  Renaissance 
in  Florenz.  Der  Lehrer  Lionardos  und  Peruginos  mit  seiner  ernsten  Gesinnung,  seiner  Gemütstiefe 
und  seiner  quälerischen  Sorgsamkeit  würde  sich  mit  dem  deutschen  Albrecht  Dürer  unmittelbar 
verstanden  haben.  Er  ist  der  Psycholog  des  Quattrocento.  Der  Bildner  dieser  Krönung  hängt 
nicht  so  emsig  der  Wiedergabe  des  Individuellen,  des  Einzelnen  und  auch  des  Kleinen  nach. 
Hier  herrscht  noch  der  grössere  Zuschnitt,  der  voll  und  harmonisch  auf  das  Ganze  geht,  und  am 
Leibhaftigen  ist  ihm  mehr  gelegen,  als  an  der  Seele,  an  der  physischen  Grundlage  und  ihrem  festen 
vollen  Aufbau  mehr,  als  an  Erregung  und  Bewegung  des  Innern.  Aber  auch  mit  der  freundlichen, 
leicht  etwas  süssen  Lieblichkeit  eines  Benedetto  da  Majano,  wie  mit  der  herben  Anmut  des  Desiderio 
da  Settignano  wird  ihn  Niemand  verwechseln,  ebensowenig  mit  der  trockenen  Schärfe,  der  Magerkeit 
und  Haltlosigkeit  eines  Mino.  Dem  Bernardo  Rossellino  scheint  er  eher  verwandt  als  dem  Antonio, 
der  zu  sehr  schon  der  Folgezeit  angehört  und  ohne  Verrocchios  Nähe  nicht  recht  mehr  gedacht 
werden  kann.  Wer  aber  kennt  unter  der  früheren  Bildnergeneration  schon  Michelozzo  neben 
Donatello  als  greifbare,  scharf  sich  sondernde  Persönlichkeit?  Und  dieser  sorgfältige  Klassiker  nach 
dem  Herzen  der  Humanisten  im  Dienste  der  Medici  hat  doch  auf  die  Bildner  nicht  nur,  sondern 
auch  auf  Maler  wie  Fra  Filippo  bis  zum  Weggang  nach  Prato,  als  Lehrer  des  Faltenwurfs  und  der 
Figurenzeichnung  wie   der  Architekturprospekte  den   ausgiebigsten  Einfluss  geübt!    Mit  Michelozzos 


I 


-     6s     - 

Reliefs  am  Grabmal  Aragazzi  in  Montepulciano  sind  wir  der  Formanschauung  auch  dieses  Hochreliefs 
im  Bargello  ganz  nahe,  während  uns  seine  schlanken  gestreckten  Statuen  und  Einzelfiguren  in  Nischen 
dieser  Monumente  in  Florenz  und  Neapel  gleich  viel  von  den  gedrungenen  Proportionen  der  Krönung 
entfernen. ' 

Damit  ist  gesagt,  was  ich  meine!  Nach  beiden  Seiten  sind  die  Innern  Grenzen  gezeichnet, 
und  ihr  Umriss  beschreibt  den  Platz  eines  Mannes,  der  allein  noch  übrig  bleibt,  diese  Mitte  zu 
füllen.  Mir  erscheint  die  Hochreliefgruppe  der  Kaiserkrönung  im  Museo  Nazionale  zu  Florenz  als 
ein  Werk  des  Luca  della  Robbia;  denn  mit  seinem  Wesen  allein  stimmt  der  Charakter  dieser 
grossgedachten,  so  einfachen  und  zugleich  so  wuchtigen  Gestalten  überein.  So  frischweg  im  monu- 
mentalen Sinne  der  antiken  Kunst,  wie  aus  natürlicher  Wahlverwandtschaft  mit  ihrer  vollendeten 
Auffassung  des  Reliefs,  schuf  nur  er. 

Allerdings  dürfen  wir,  schon  des  bedeutenden  Gegenstandes  wegen,  der  hier  behandelt  worden, 
zur  Vergleichung  nur  seine  bedeutendsten  Werke  betrachten.  An  Madonnen  und  Engelchen,  an 
Kinderreigen  und  Sängerchöre  sollen  wir  nicht  denken,  sondern  höchstens  an  die  grosse  glasierte 
Thongruppe  der  Begegnung  Marias  mit  Elisabeth  in  S.  Giovanni  fuorcivitas  zu  Pistoja.  Dann  aber 
mehr  noch  an  das  Grabmal  des  Bischofs  Federighi  (1456  voll),  das  draussen  vor  Florenz  im  Kirchlein 
S.  Francesco  di  Paola  seine  Zufluchtstätte  gefunden  und  so  vergessen  und  verwahrlost  steht,  als  ob 
für  diesen  Bischof  von  Fiesole  nicht  ebensogut  Platz  im  Dome  seiner  Stadt  gewesen  wäre  wie  für 
Salutati,  dessen  Kapelle  von  Minos  Hand  mit  Altar  und  Grabmal,  von  Cosimo  Rosselli  ^  mit  Fresken 
geschmückt  ward.  Ganz  besonders  empfehlen  sich  an  dem  Marmorwerk  des  Luca  della  Robbia  die 
drei  Halbfiguren,  Christus  im  Grabe,  Maria  und  Johannes,  an  der  Hinterwand  der  Nische,  die  in 
flacherem  Relief,  aber  zur  Wirkung  im  Dämmerlicht  der  Vertiefung  in  derberem  Verfahren  als  sonst, 
absichtlich  summarisch  ausgeführt  sind,  sodass  sie  mit  dem  verwitterten  Monumentalstück  im  Bargello 
viel  Vergleichungspunkte  gewähren.  Die  liegende  Grabfigur  ist  ihrer  Stelle  gemäss  feiner,  ja  ausser- 
ordentlich sorgsam  vollendet,  aber  in  der  Form  der  Mitra  und  der  Behandlung  der  Gesichtsformen 
schlagendes  Belegstück  für  die  Übereinstimmung  mit  der  Kaiserkrönung  und  ihrem  Urheber.  Ganz 
überraschend  zeugen  in  nächster  Nähe  dieses  Hochreliefs,  im  selben  Saal  des  Museo  Nazionale,  die 
beiden  kleinen  Reliefplatten  mit  der  Befreiung  des  Petrus  aus  dem  Kerker  und  seiner  Kreuzigung, 
gerade  weil  sie  unfertig  liegen  geblieben  und  in  verschiedenen  Stadien  der  Arbeit  erhalten  sind. 
In  den  schlichten  Kompositionen  verwertet  Luca  gewiss  unmittelbar  die  Entwürfe  Masaccios  für  die 
Brancaccikapelle,  die  dann  noch  Filippino  Lippi  bei  Vollendung  der  Wandgemälde  zur  Nachachtung 
vorgelegt  sein  müssen.  Durch  diese  Wahl  erfahren  wir  schon  die  Verwandtschaft  des  eigenen  Sinnes 
bei  Luca  selbst  und  empfangen  die  Erklärung  für  die  gleiche  Eigenschaft  der  Krönung.  Dann  im 
Einzelnen  der  Formgebung  die  nämlichen  konstitutiven  Merkmale:  man  vergleiche  nur  auf  der 
Kreuzigung  des  Petrus  den  eben  aus  dem  Rohen  herausgehauenen  Kopf  des  Apostelfürsten  und  die 
untersetzten  Proportionen  des  Körpers   mit  denen   des  Kaisers,  sowie    das  Profil   der  Schergen  und 

^  Vgl.  Schmarsow,  Nuovi  studj  intorno  a  Michelozzo,  Archivio  storico  dell  'Arte  1892. 

2  Die  Wandmalereien  der  Capp.  Salutati  im  Dom  zu  Fiesole  werden  fälschlich  Benozzo  Gozzoli  zugeschrieben.  Sie 
erweisen  sich  auch  in  ihrem  restaurierten  Zustand  noch  als  Cosimo  Roselli. 


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Krieger  mit  dem  des  Bischofs.  Auf  der  Befreiung  bietet  der  Apostelkopf  und  das  Antlitz  des  Engels, 
wie  des  eingenickten  Wächters  die  nämlichen  Analogieen  mit  dem  Kopf  und  der  Gesichtsbildung  des 
Krönenden,  bis  hinein  in  die  scharfgezeichneten  Nasenflügel,  die  vorgeschobenen  und  dadurch  plastisch 
wirksamen  Lippen,  die  energische  Rundung  des  Kinnes.  Durch  den  kopfüber  gesehenen  Unterteil  des 
Gesichtes  beim  gekreuzigten  Petrus  wird  unsere  Aufmerksamkeit  gerade  auf  diese  Praxis  des  Bildhauers 
hingelenkt,  und  der  ähnliche  Anblick  beim  schlafenden  Soldaten,  der  am  Boden  hingestreckt  links  in 
der  Ecke  vor  der  Wächterbank  sichtbar  wird,  xerrät  uns  wol,  weshalb  der  nämliche  Künstler  das 
Doppelkinn  des  bartlosen  Kaisers  so  absichtsvoll  ausbeutet,  wie  es  in  der  Krönung  geschehen.' 
Gerade  diese  Überreste  unvollendeter  Arbeiten  von  Luca  della  Robbia  für  einen  Marmoraltar  des  Domes 
haben  mich  am  ersten  überzeugt,  dass  auch  die  grosse  Krönung  sein  Werk  ist  und  keines  Anderen. 
In  ihrem  nächsten  Umkreis  finden  wir  auch  weitere  Bestätigung,  nämlich  in  den  fünf  Reliefs 
am  Campanile,  in  denen  Luca  (1437 — 40)  die  sieben  freien  Künste  dargestellt  hat,  und  zwar  so, 
dass  er  auf  zwei  Bildfeldern  der  Reihe  die  Vertreter  zweier  Disziplinen  vereinigt  und  als  Paar  in 
Beziehung  setzt,  —  nämlich  Logik  und  Rhetorik  auf  dem  Einen,^  Geometrie  und  Arithmetik  auf  dem 
Anderen,  während  Grammatik,  Musik  und  Astrologie  ihr  Feld  allein  behaupten.  Die  Gewandung  des 
Entdeckers  der  Sphärenharmonie,  der  hier  gemeint  ist,  mag  er  als  solcher  Pythagoras  oder  wegen 
seiner  Hammerschläge  auf  dem  Ambos  als  Tubalkain  angesprochen  werden,  wie  die  des  alten  Schul- 
monarchen, der  als  verkappter  Donatus  oder  Priscian  oder  als  Urahn  unseres  Zumpt,  jedenfalls  in 
der  Tracht  eines  Lehrmeisters  dieser  Renaissance-Generation  erscheint,  und  ihr  —  in  zwei  ebenso 
erfreulichen  Musterexemplaren  florentinischer  Schuljugend  —  das  Lesen  und  das  Schreiben  beibringt, 
dieser  ,weite  Tuchmantel  des  Scholarchen,  wie  die  Tunica  des  Patriarchen  gewähren  wieder  die 
mannichfaltigste  Gelegenheit,  die  Gewohnheiten  der  Drapierung  und  des  technischen  Verfahrens  zu 
vergleichen,  die  sich  ebenso  an  dem  Hochrelief  der  Krönung  zeigen,  wenn  wir  die  Anforderungen  des 
Kastenreliefs  in  den  sechseckigen  Rahmen  des  Campanile  und  die  etwas  abweichenden  Bedingungen, 
denen  die  Krönung  gerecht  zu  werden  hatte,  in  Abzug  bringen.  Der  Kopf  des  Professors  gleicht 
wieder  dem  des  Bischofs,  während  die  Kopfbildung  der  Jungen  in  allen  Teilen  die  genaueste 
Übereinstimmung  mit  der  Struktur  des  Imperatorenkopfes  aufweist,  so  weit  die  Korrosion  des  letzteren 
irgend  noch  festen  Anhalt  bietet.  Die  Hand  des  Kaisers,  die  das  (abgebrochene)  Scepter  haltend, 
ruhig  auf  dem  Schosse  liegt,  zeigt  die  gewohnte  Bildung  Lucas  wie  die  des  Schulmeisters  auf  seinem 
Pulte;  die  Linke,  die  den  Reichsapfel  hält,  hat  die  zugespitzten  Finger  wie  die  Knaben,  oder  Orpheus, 
der  über  die  Saiten  der  Guitarre  greift,  oder  Petrus  in  der  Befreiung.  Überall  die  nämlichen  Formen, 
die  gleichen  technischen  Gewohnheiten;  überall  die  selbe  ruhige  Sicherheit,  der  harmonische  Vortrag, 
die  Luca  della  Robbia  unter  seinen  Zeitgenossen  auszeichnen  und  von  Ghiberti  wie  von  Donatello 
charakteristisch  unterscheiden. 


»  Der  bärtige  Hellebardenträger  kommt  sogar  den  Löwenköpfen  des  Kaiserstuhles  nahe. 

2  Es  sind  also,  mögen  die  Vertreter  benannt  werden  wie  üblich,  sicher  nicht  bloss  „Sophistae"  wie  Julius  v.  Schlosser, 
Jahrbuch  der  Kunsthistorischen  Sammlungen  des  allerhöchsten  Kaiserhauses,  XVII.  Wien  1896,  sie  bezeichnet.  Creometer 
und  Arithmetiker  erscheinen  beide  in  arabischem  Kostüm  mit  Turban,  Orpheus  als  fahrender  Sänger  mit  Reisehut  inmitten 
des  Waldes,  dessen  Tiere  ihm  lauschen,  sehr  malerisch  in  der  Landschaft  gelagert. 


-    65     - 

Wo  dagegen  die  äussere  Behandlung  dieser  Hochrelieffiguren  von  den  übrigen  Marmorarbeiten ' 
Lucas  abweicht,  da  bemerken  wir  eine  sehr  bezeichnende  Übereinstimmung  mit  seinen  glasierten 
Terracotten.  So  manche  Partieen  des  glattpolierten  Überwurfs  und  in  dem  Faltenarrangement  des 
Untergewandes  beim  Bischof  verraten  das  Hineinspielen  dieser  Kunstgattung;  ganz  besonders  ist  dies 
auch  bei  der  Drapierung  des  weiten  Unterkleides  der  sitzenden  Kaiserfigur  der  Fall.  An  anderen 
Stellen  springt  der  Meister  mit  dem  Marmor  verwegen  um,  wie  es  bei  ausschliesslicher  Vertrautheit  mit 
diesem  einen  Material  oder  dauernder  Bevorzugung  der  Steinskulptur  nicht  erklärlich  wäre,  beim  gleich- 
zeitigen Modellieren  für  Bronze  und  Terracotta  aber  von  selber  sich  einstellt:  so  der  frei  vorstehende 
Rand  der  Dalmatica,  der  deshalb  auch  so  vielfach  abgestossen  ist,  und  die  äusserste  Einfachheit  der 
Falten  unter  dem  Gürtel.  Indessen  diese  absichtliche  Beschränkung  auf  wenige  wirksame  Mittel  legt 
es  nahe,  dass  das  Bildwerk  wol  für  verhältnismässig  hohen  Standort  berechnet  war  und  für  die 
Wirkung  im  offenen  Tageslicht.  Wahrscheinlich  sollte,  wenn  nicht  volle  Bemalung,  doch  Musterung 
und  Schattierung  der  Gewandstoffe  und  sicher  Vergoldung  einzelner  Stellen  hinzukommen.  Die  Unter- 
scheidung des  harten  Goldbrokats  der  Dalmatica,  der  weichen  wollenen  Unterkleider,  des  seidenen 
Doppelstoffes  scheinen  in  diesem  Sinne  vorbereitet.  Und  am  Saum  des  kaiserlichen  Krönungs- 
ornates sind  gar  runde  Vertiefungen  aufgereiht,  wie  sonst  Eindrücke  mit  dem  Finger  in  der  Thon- 
masse  die  Naht  oder  den  Besatz  bezeichnen. 

Schliesslich  ist  der  Schritt  zu  einem  so  starken,  die  Körper  fast  voll  ausrundenden  Hochrelief 
kunstgeschichtlich  sehr  bedeutsam  und  kaum  einem  Meister  des  Quattrocento  so  natürlich  zuzutrauen 
als  eben  Luca  della  Robbia  selber.  Sein  Streben  schlägt  deutlicher  als  irgend  eines  Anderen  die 
Bahn  der  griechischen  Reliefplastik  ein.  ^  Und  der  Mut,  sie  auch  in  Marmor  zu  versuchen,  konnte 
wol  nur  auf  Grund  einer  längeren  Beschäftigung  mit  allen  Graden  der  Erhebung  bis  zur  vollen 
Körperlichkeit  in  Terracotta,  d.  h.  unter  seinen  Mitstrebenden  eben  nur  ihm  erwachsen.  Ist  aber 
diese  Gruppe  in  Marmor  von  Luca  geschaffen,  wie  ich  fest  überzeugt  bin,  und  nur  von  ihm  herleitbar, 
der  in  Terracotta  sogar  Freifiguren  wie  die  leuchtertragenden  Engel  in  der  Domsakristei  gewagt  hat,  — 
so  gewinnen  wir  damit  zugleich  sehr  erwünschte  historische  Erklärung  für  eine  Arbeit,  wie  die 
Begegnung  der  Maria  mit  Elisabeth  in  Pistoja,  deren  beide  vollrunde  Figuren  aus  zwei  Hälften,  einer 
oberen  und  einer  unteren,  zusammengesetzt  sind,  und  deshalb  Zweifel  erregt  hatten,  ob  eine  Ent- 
stehung bei  Lebzeiten  Lucas,  der  übrigens  hochbetagt  erst  1482  gestorben  ist,  anzunehmen  erlaubt  sei. 

Allem  Anschein  nach  steht  das  Marmorwerk  im  Museo  Nazionale,  mit  seiner  grandiosen  Wucht 
der  Auffassung,  noch  der  Sinnesart  der  führenden  Hauptmeister,  dem  Siegeslauf  Donatellos  näher, 
gehört  also  in  die  erste  Hälfte  des  Quattrocento,  soweit  sein  inneres  Wesen  abgesehen  von  der  Aus- 
führung des  Einzelnen  darüber  entscheiden  darf.  Die  Grabfigur  Federighis,  die  Luca  1456  vollendet, 
ist  feiner  durchgefühlt,  aber  auch  für  näheres  Anschauen  eingehender  bis  ins  Kleinste  durchgearbeitet. 


1  Unter  ihnen  ist  besonders  auch  das  Sakramenthäuschen  in  Peretola  (von  1442)  zu  beachten,  das  mit  den  Reliefs 
!s  Petrusaltars  wie  des  Federighigrabes  grosse  Verwandtschaft  aufweist  und  die  Annäherung  an  Michelozzo  besonders 
Hitlich  offenbart.     Phot.  Brogi  5841^. 

2  Vgl.  hierzu  das  Kapitel  über  Reliefauffassung  bei  Hildebrand,  das  Problem  der  Form  in  der  bildenden  Kunst, 
IS  zur  Würdigung  Robbias  wesentlich  beitragen  muss. 


—     66     — 

Die  Bestimmung  des  Hochreliefs  im  Bargello  war  jedenfalls  eine  andere,  wenn  auch  gerade  Luca 
immer  mehr  ins  Einzelne  ging  und  seinem  Formgefühl  genugtun  musste,  während  Donatellos  Bravour 
im  Interesse  dekorativer  Wirkung  wie  an  den  Orgelbalustraden  auch  dies  Bedürfnis  des  Bildners 
hintansetzt.  Immerhin  gestattet  der  beschädigte  Zustand  des  Denkmals  keine  zuverlässige  Beurteilung 
mehr,  mit  deren  Hilfe  das  Werk  zeitlich  in  die  Reihe  der  übrigen  Marmorarbeiten  Lucas  ein- 
geordnet werden  dürfte. 

Um  so  mehr  drängt  sich  nun,  da  wir  die  Kaiserkrönung,  so  lange  wir  nicht  mit  Gründen 
eines  Besseren  belehrt  werden,'  als  eine  der  bedeutendsten  Leistungen  Lucas  betrachten,  der  Wunsch 
auf,  sie  mit  dem  einen  oder  dem  anderen  Teil  seiner  Werke  noch  ausser  den  Marmorskulpturen  in 
nähere  Verbindung  gesetzt  zu  sehen.  Da  bieten  zunächst  seine  Terracotten,  auf  deren  technische 
Behandlung,  deren  Formenwahl  und  Gewandbehandlung  wir  schon  wiederholt  Rücksicht  nehmen 
mussten,  die  eine  grosse  Schwierigkeit  zur  Vergleichung  im  Einzelnen,  dass  sie  eben  glasiert  sind 
und  nicht  selten  durch  die  Farbe  wie  durch  den  Glanz  zu  einer  andersartigen  Wirkung  kommen, 
bei  der  die  Genauigkeit  und  Schärfe  der  ursprünglichen  Modellierung  nicht  so  rein  hervortritt  wie 
im  weissen  Marmor,  oder  in  anderem  Steinmaterial  und  in  naturfarbener  unglasierter  Terracotta 
ebenfalls. 

Doch  verlohnt  es  sich  wenigstens  auf  eins  der  berühmtesten  Werke  dieser  Art  hinzuweisen, 
sei  es  auch  nur,  um  eine  nebensächliche  Zutat  der  Krönung  als  Lucas  Eigentum  darzutun.  Ich 
meine  die  vier  grossen  Rundreliefs  mit  sitzenden  Evangelisten  darin  in  den  Zwickeln  der  Cappella 
Pazzi.  Es  ist  eine  Zeit  lang  behauptet  worden,  unser  trefiflichster  Kenner  florentinischer  Kunst,  Karl 
Eduard  von  Liphart,  habe  s.  Z.  die  Erfindung  dieser  Gestalten  auf  den  Erbauer  der  Kapelle,  Filippo 
Brunelleschi  zurückführen  wollen.  Das  ist'  eine  Entstellung  seiner  Ansicht,  die  nur  dahin  zielte,  Luca 
della  Robbias  Kunst  mit  der  Bildnerei  Brunelleschis  selber  in  Zusammenhang  zu  denken,  und  aus 
der  Grossartigkeit  des  Abraham  im  Konkurrenzrelief  dieses  Goldschmiedes  die  Grossartigkeit  des 
Wurfes  und  der  Charakteristik  dieser  kongenialen  Schöpfungen  des  Thonbildners  herzuleiten.  Die 
eine  Gestalt  mehr  als  die  andere  schien  ihm  Brunelleschis  selber  würdig.  Es  war  also  ein  Werturteil, 
das  Liphart  aussprach,  nicht  eine  Verschiebung  des  Eigentumsrechtes.  Solch  ein  Werturteil  hatte 
indessen  besondere  Bedeutung  zu  einer  Zeit,  wo  die  liebenswürdigen,  milden  und  zarten  Eigenschaften 
der  Robbia  mehr  geschätzt  wurden,  als  die  rauhe  Grösse  und  wuchtige  Kraft  der  gewaltigen 
Begründer  der  Quattrocentokunst  selber.  Und  als  solches  Zeugnis  für  die  Grossartigkeit  des  Sinnes 
bei  Luca  della  Robbia,  der  diesen  Persönlichkeiten  wie  Donatello,  Masaccio  und  Brunelleschi  als 
treuer  Bundesgenosse  zugehört,  hat  die  Auffassung  Lipharts,  die  mitten  aus  seinem  täglichen  Verkehr 
mit  diesen  Meisterwerken  hervorging,  auch  heute  noch  eine  lehrreiche  Bedeutung.  Wir  wären  sonst 
vielleicht  allzu  geneigt,  je  mehr  wir  an  Donatello  Geschmack  gewonnen,  die  eigentümliche  Stärke 
Lucas,  der  neben  ihm  aufwuchs,  zu  übersehen,  und  ihm  Dinge  nicht  zuzutrauen,  die  doch  als  Haupt- 
bestandteile in  sein  Lebenswerk  gehören.  Erst  allmählich  wird  ja  der  Glaube  an  einige  seiner 
monumentalsten   Schöpfungen    zurückerobert,   wie  z.   B.    die   wenigen   vollausgerundeten  Figuren   in 


'  Die  neueste  Auflage   des  Cicerone    1893  hat  im  Register  S.  30  die  Nachtragsnotiz:   vom  Anfang  des  15.  Jhdrts. 


-     67     - 

Terracotta,  die  wir  besitzen,  und  auf  Lipharts  eigene  Anregung  sogar  eine  Zeit  lang  für  den  dunkeln 
Ehrenmann  Fra  Paolino  da  Pistoja  in  Anspruch  nehmen  sahen. 

Zwischen  den  Evangelisten  unter  der  Kuppel  der  Pazzikapelle  und  den  Werken  der  grossen 
Nachbarn,  wie  Brunelleschi  hier  und  Donatello  dort,  fehlte  nämlich  für  unser  Verständnis  der  ein- 
leuchtende Zusammenhang,  der  auch  Lucas  eigener  Persönlichkeit  ihr  Recht  bestehen  Hess.  Seither 
ist,  besonders  bei  Bode,  die  Neigung  hervorgetreten,  den  ersten  Robbia,  soweit  er  den  vollgültigen 
Quattrocentisten  angehört,  nur  als  Nachtreter  Donatellos  zu  denken,  vor  dieser  Bekehrung  zum 
Renaissancekünstler  vom  reinsten  Wasser  vielmehr  eine  Periode  nahen  Zusammengehens  mit  den 
halbgotischen  Thonbildnern  anzunehmen,  die  eher  mit  Ghiberti  als  mit  seinem  Gegner  Brunelleschi 
verwandt  sind,  und  ausserhalb  Florenz,  in  Venedig  und  Verona,  in  Modena  und  Castiglione  d'Olona 
sich  leicht  und  gern  der  Spätgotik  Oberitaliens  anbequemen.  Damit  würde  Luca  della  Robbia  in 
eine  Kategorie  mit  dem  sogenannten  Meister  der  Pellegrinikapelle,  d.  h.  einem  Dello  Delli  und 
ähnlichen  Plastikern  geschoben,  und  erst  das  Vorbild  Donatellos  würde  ihn  aus  dieser  Befangenheit 
befreien.  Die  Annäherung  an  jene  halb  noch  gotischen  Übergangskünstler  hat  sicher  ihr  Gutes; 
ich  bin  überzeugt,  die  Eigenart  Lucas  wird  gegen  diese  Gesellschaft  reagieren  und  sich  mit  der  Zeit 
in  einer  verfolgbaren  Reihe  von  Jugendwerken  zu  erkennen  geben.  Andererseits  jedoch  würde  der 
Hinweis  auf  Donatello  allein  die  Chronologie  der  beiden  Zeitgenossen  wol  nicht  ungestraft  ver- 
schieben und  uns  ausserdem  den  Weg  zur  persönlichsten  Kraft  des  wundersamen  Meisters  der 
Reliefkunst  versperren,  indem  wir  alles  Heil  nur  von  Donatello  erwarten,  als  habe  Luca  della 
Robbia  nicht  seinen  eigenen  Genius  gehabt,  der  ihn  zwischen  Ghiberti  und  Donatello  mitten  hin- 
durchführt. Damit  würde  ferner  wol  ein  richtiges  Gefühl  unseres  alten  Meisters  Liphart  wieder 
erdrückt,  vielleicht  ein  fruchtbarer  Gedanke  zur  genetischen  Erklärung  Lucas  achtlos  veruntreut. 
Ich  meine  die  Beziehung  jener  Evangelisten  der  Pazzikapelle  zu  Filippo  Brunelleschi,  die  Liphart 
ausgesprochen  und  irgend  ein  Notizenjäger  so  verdreht  hat.  Liphart  dachte  sich  nicht  erst  Donatello, 
sondern  vielmehr  Filippo  Brunelleschi  als  Lehrer  des  Luca  della  Robbia,  der  1399  geboren  ist,  also 
sicher  mit  Masaccio  gleichen  Schrittes  gehen  mochte. 

Uniäugbar  haben  sich  die  langbärtigen  Patriarchentypen,  die  Luca  in  jenen  Rundmedaillons 
als  Verfasser  der  heiligen  Schriften  hingelagert  zeigt,  aus  Brunelleschis  Abraham  auf  dem  Relief  der 
Opferung  Isaaks,  der  ja  wol  in  bildnerischen  Leistungen  des  künftigen  Architekten  nicht  allein 
gestanden  sein  wird,  entwickelt.  Aber  diese  Ableitung  der  Gebilde  Lucas  aus  jenem  Konkurrenzrelief 
Brunelleschis  ist  schon  aus  zeitlichen  Gründen  nicht  unmittelbar  zu  denken,  weil  dieses  Probestück 
der  Goldschmiedskunst  noch  am  Anfang  des  Jahrhunderts  steht,  und  mitten  aus  gotischer  Schul- 
gewohnheit die  ersten  Eroberungen  aus  der  Antike  und  die  ersten  Regungen  des  neuen  Geistes 
eigener  Schöpferkraft  hervordrängt.  Sodann  aber  tragen  die  Evangelisten  in  der  Pazzikapelle  durch- 
aus das  Gepräge  des  eigenen  selbstgefundenen  Stiles,  der  ihren  Urheber  deutlich  genug  und  zweifellos 
als  Robbia  erkennen  lässt.  Freilich  ist  dieser  Stil  noch  nicht  ganz  in  sich  abgeklärt  und  einheitlich 
ausgeglichen:  rauhe  Seiten  stehen  unvermittelt  neben  milden;  hartknochige  Gestalten,  mit  ungeschlachten 
Gliedern  und  unliebenswürdigen  Köpfen,  wie  Marcus  und  Johannes,  neben  gutmütigen  und  bieg- 
sameren Werkzeugen  der  Offenbarung,  wie  Lucas  und  Matthäus;  oder  die  grossartigen,   vortrefflich 


68     — 


beobachteten  Tiere,  wie  Ochs  und  Löwe,  neben  dem  schlanken  zarten  Engel,   der  wie  ein  bleiches 
Schulmädchen  dem  Matthäus  die  Tinte  hält. 

Zwischen  diesen  Arbeiten  Robbias  und  jenem  Konkurrenzwerk  Brunelleschis  liegt  für  beide 
Künstler  eine  beträchtliche  Spanne  Weges,  lang  genug  den  kurzen  Siegeslauf  eines  Masaccio  zu 
vollenden.  Von  Filippos  Seite  begegnet  uns  wieder  nur  ein 
vereinzeltes  Beispiel  der  mehr  und  mehr  verlassenen  Bildnerei, 
der  Crucifixus  in  S.  M.  Novella,  —  nach  der  Tradition  auch  ein 
Konkurrenzstück,  nämlich  zum  Bauer  Donatellos  in  Sta.  Croce. 
Was  aber  steht  in  dieser  Idealfigur  des  Heilandes  vor  uns 
da,  wenn  nicht  das  klare  Bekenntnis  eines  hochsinnigen 
Aristokraten?  Diesem  Idealismus  huldigt  Luca  della  Robbia 
Zeit  seines  Lebens  überall  und  bleibt  ihm  treu  im  Grunde 
seines  Herzens,  so  stark  auch  sein  Drang  nach  Wahrheit 
und  Wirklichkeit  des  Erdenleibes  trachten  mag  im  Sinne 
Donatellos  und  aller  Gesinnungsgenossen  des  Quattrocento. 
Und  was  könnte  von  seiner  Seite  etwa  in  Anspruch 
genommen  werden,  um  den  Zusammenhang  zwischen  jenen 
Evangelisten  und  der  Bildnerkunst  Brunelleschis  zu  vermitteln? 
Gerade  mit  dem  Versuch,  die  Übergangserscheinungen  der 
Terracottaware  zur  Erklärung  Lucas  allein  zu  verwerten, 
kommen  wir  dieser  Verbindung  nicht  näher.  Ich  glaube  der 
Hypothese  Lipharts  daneben  wenigstens  die  Beachtung  zurück- 
gewinnen zu  können,  die  sie  verdient,  indem  ich  einen  Fund 
in  die  Wagschale  Brunelleschis  lege,  der  mir  vor  Jahren,  auf 
völlig  anderen  Pfaden  meiner  eigenen  Forschung  begegnet 
ist.  —  Also  Hypothese  gegen  Hypothese:  zwei  Jugendwerke 
Robbias,  aber  für  die  Goldschmiedskunst,  nicht  in  Terracotta 
sondern  in  Bronzeguss. 

In    dem    nämlichen    Museum,     das    einen    gewaltigen 
Christuskopf  von  Melozzo   da  Forli  birgt,   den  nur  gewohnte 
Rechnung  mit  allbekannten  Grössen  noch  auf  Signorelli  be- 
ruhen lässt,  in  der  nämlichen  Pinakothek  von  Cittä  di  Castello 
stehen  zwei  Heiligenfiguren,   die   zu   einem  „Reliquiarium  von 
1420"  gehörten.'  Der  eine  von  diesen  Heiligen  ist  S.  Franciscus, 
der   den   Schlitz    seiner  Kutte   lüftet,   um   die  Seitenwunde    zu   zeigen;   der    andere    darf  nach   dem 
Buch   in    der   Linken    und   nach    dem   langlockigen    und   langbärtigen    Kopf,   nach    damaliger   Dar- 
stellungsweise,  als  Johannes  der  Evangelist  angesprochen  werden,   während  im  alten  Testament  nur 


t  Phot.  V.  Alinari  5176. 


Moses  und  Abraham  Seinesgleichen  wären,  oder  ein  besonders  würdiger  Prophet,  denen  allen  dreien 
damals  kaum  ein  gebundenes  Buch  als  Abzeichen  gegeben  wäre,  wie  dem  Apostel  hier.  Beide  Köpfe 
tragen  meiner  Überzeugung  nach  die  unzweifelhaften  Kennzeichen  der  Formgebung  des  Luca  della 
Robbia  an  der  Stirn.  Unter  den  klaren  Brauen  liegen  die  grossgeschnittenen  Augen  mit  dem  ruhig- 
sinnenden Blick,  zwischen  ihnen  steigt  die  kräftige  Nase  mit 
breitem  Rücken  gerade  hernieder;  wirksam  öffnet  sich  das 
Lippenpaar,  rundet  sich  das  Kinn  unter  dem  Bartwuchs 
plastisch  deutlich  und  fest.  In  langen  welligen  Strähnen  fliesst 
der  Vollbart  bei  Johannes  auf  die  Brust  und  die  Ringellocken 
vom  Ohr  auf  die  Schultern,  während  das  Haupthaar  wieder 
ausserordentlich  charakteristisch  für  Lucas  Weise  auseinander- 
gelegt und  massig  im  Sinne  des  Zusammenhaltes  behandelt 
wird.  Ebenso  der  Kranz  des  geschorenen  Haares  um  den 
nackten  Schädel  beim  Franciscus  von  Assisi. 

Die  Haltung  des  Körpers  zeigt  noch  die  gotische  Ge- 
wohnheit. Bei  dem  Mönche  geht  die  Bogenlinie  durch  die 
ganze  Figur,  wie  die  Hüfte  des  Standbeins  sich  herausdrängt, 
ein  Bausch  der  Kutte  über  den  Gürtel  fällt  und  gegen  das 
Buch  herabfliesst,  das  die  Linke  haltend  anlehnt.  Über  das 
Spielbein  flutet  das  weiche  Gewand  glatt,  die  Kniehöhe  kaum 
bezeichnend  bis  auf  die  Zehen  und  schleift  leise  auf  dem  Boden 
nach,  während  der  Arm  sich  hebt,  die  Hand  sich  nach  innen 
dreht,  um  die  Seitenwunde  frei  zu  legen.  Die  Einfachheit  der 
Faltenlagen,  die  Weichheit  und  Grossflächigkeit  zeugt  wieder 
für  Luca  della  Robbia  trotz  der  unleugbaren  Herkunft  aus  den 
'selben  Schulprinzipien,  die  wir  an  Donatellos  Jugendwerken 
auf  der  Porta  della  Mandorla  und  noch  drinnen  im  Dom  an 
jenem  Daniel  gewahren,  den  die  Beschreibung  nur  als  „uno 
che  si  piega"  bezeichnet.  —  In  der  Figur  des  Evangelisten 
ergeht  sich  die  gotische  Stilisierung  noch  mehr  in  der  Draperie, 
schon  weil  Tunica  und  Mantel  der  biblischen  Idealtracht  kon- 
ventioneller als  die  Ordenstracht  der  Minoriten  zur  Charakteristik 
des  Apostels  beitragen.  Aber  auch  hier  ist  die  Häufung  der 
parallelen  Faltengehänge   und  die  Scharfkantigkeit,   die  wir  in 

Brunelleschis  Abraham  ebenso  wie  an  Ghibertis  Johannes  dem  Täufer  an  Orsanmichele  finden,  also 
die  technische  Manier  der  eigentlichen  Goldschmiede,  die  natürliche  Gewohnheit  der  Metallarbeit 
nicht  anzutreffen,  sondern  plastische  Klarheit,  schlichte  Ruhe,  die  sich  mit  grossen  Zügen  begnügt, 
und  eine  durchgehende  Weichheit  bewahrt,  die  zwingend  genug  die  Vorstellung  der  glasierten  oder 
doch  bemalten  Terracotta  wachruft,  wie  wir  sie  nur  von  Luca  della  Robbia  kennen.     Leider  ist  die 


—     70     — 

rechte  Hand  des  Apostels,  die  nach  auswärts  greifend  das  herabhängende  Mantelstück  aufhebt,  in 
der  Mitte  der  Phalanx  verletzt,  ein  Stück  ausgefeilt  um  die  Figur  seitlich  zu  befestigen,  vielleicht  mit 
einem  vorspringenden  Teil  des  Gehäuses  zu  verbinden,  genug  gewaltsam  entstellt;  sonst  zeigt  sie 
gleich  den  übrigen  Händen  nicht  minder  als  die  Füsse  mit  ihren  langen  Zehen  und  der  besonderen 
Betonung   der  vordersten   die   schlagendste  Übereinstimmung  mit   den  authentischen  Werken  Lucas. 

Nichts  von  der  abflachenden,  die  Falten  glättenden  Manier  des  Bronzegiessers  Michelozzo, 
dagegen  mancherlei  Verwandtschaft  mit  Nanni  d' Antonio  di  Banco,  besonders  mit  seinem  Evangelisten 
Lucas  im  Dome  und  dem  Relief  der  Porta  della  Mandorla  oder  den  Engelköpfen,  in  denen  ich 
seinen  Anteil  an  der  Marmorumrahmung  dieser  Tür  erkannt  zu  haben  glaube.'  Dennoch  ist  eine 
Verwechselung  mit  diesem  142 1  gestorbenen  Jugendgefährten  Donatellos,  bei  dem  Luca  die  Anfangs- 
gründe der  Marmorskulptur  erlernt  haben  könnte,  bei  den  Bronzestatuetten  in  Cittä  di  Castello  nicht 
möglich:  dafür  sind  sie  dem  Abraham  Brunelleschis  und  den  Evangelisten  der  Pazzikapelle  zu 
nahe  verwandt. 

Somit  ist  zugleich  mehr  als  einmal  ausdrücklich  anerkannt,  dass  die  Zuweisung  dieser  Bronze- 
güsse von  einem  Reliquienschrein  an  den  jugendlichen  Robbia,  den  Bemühungen  Bodes,  ihn  auf  dem 
Gebiet  der  Thonbildnerei  zunächst  zu  suchen,  keineswegs  zuwiderläuft.  *  Nur  sind  es  doch  Freifiguren, 
und  damit  der  Weg  für  statuarische  Versuche,  wenn  auch  kleineren  Mafsstabes,  eröffnet,  gegen  deren 
Abläugnung  oder  Vergessenheit  bei  Luca  wir  bei  jeder  Gelegenheit  entschiedenen  Einspruch  erheben. 
So  sei  es  auch  hier  erlaubt,  bevor  wir  zu  den  Reliefmedaillons  der  Pazzikapelle  zurückkehren,  an  die 
Freigruppe  der  sitzenden  Maria  mit  dem  nackten  Knaben  auf  dem  Schoss  im  South  Kensington 
Museum  zu  erinnern,  die  wir  lange  schon  als  eigenhändige  Schöpfung  dieses  Meisters  bezeichnet 
haben,  während  der  Katalog  sie  Jacopo  della  Quercia  zuteilt  (Robinsons  Catalogue  No.  7574  mit 
Abbildung).  Von  diesem  unglasierten,  etwas  über  drei  englische  Fuss  hohen  Terracottabildwerk 
mögen  die  beiden  leuchtertragenden  Engel  in  der  Sakristei  des  Florentiner  Domes  als  ebenso  voll- 
runde aber  weiss  glasierte  Figuren  mittlerer  Grösse  zu  den  grossen  Reliefgestalten  der  vier  Evangelisten 
zurückleiten;  denn  der  geflügelte  Himmelsbote  des  Matthäus  weist  uns  hin  auf  seine  Brüder  zu  den 
Seiten  Gottvaters  in  einem  ganz  flachen  von  Luca  gezeichneten,  gemalten  und  glasierten  Tympanon 
in  der  Opera  des  Domes,3  der  Löwe  des  Marcus  aber  auf  die  Gruppe  der  Kaiserkrönung  im  Museo 
Nazionale. 

Dieser  Marcuslöwe  zeigt  in  dem  Kopf  eine  so  mächtige  Naturwahrheit  und  so  monumentale 
Breite  der  Modellierung,  dass  sämthche  Löwen  seiner  Zeitgenossen  davor  in  die  Ecke  kriechen,  und 
selbst  Donatellos  berühmter  Marzocco  gerade  in  diesen  Eigenschaften  zurückstehen  muss.  Nun  aber 
hat  der  Kaiserstuhl  bei  der  Krönung  im  Museo  Nazionale  als  Lehnenköpfe  vorn  zwei  solche  Exemplare 
von  Löwen,  die  trotz  der  untergeordneten  Rolle,  die  sie  spielen,  und  trotz  dem  verwitterten  Zustand, 


1  Vgl.  die  Abbildung  auf  Seite  41. 

2  Ein  bisher  unerkanntes  Relief  von  Luca  della  Robbia  scheint  mir  auch  ein  unglasiertes,  braun  angestrichenes  und 
gefirnisstes  Kniestück  der  Madonna  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schoss,  das  ein  Schriftband  haltend  von  ihr  und  drei  Engelchen 
angebetet  wird  im  Museo  di  S.  M.  Nuova.    (Phot.  Alinari  6184.     Scuola  di  Donatello.)    Vgl.  unsere  Abbildung  oben  z.  S.  64. 

3  Vgl.  Repertorium  für  Kunstwissenschaft.      1889.     XII.     208. 


—    71     — 

in  dem  sie  erhalten  sind,  sich  als  Kinder  dieses  apokalyptischen  Tieres  in  Cappella  Pazzi  ausweisen, 
selbst  wenn  sie,  statt  der  Flügelfreiheit  für  die  Luftregion,  hier  zur  regungslosen  Knechtschaft  unter 
dem  Herrschersitz  verurteilt  sind.  Meines  Erachtens  zeigt  in  solchem  Beiwerk  selbst  der  Meister  der 
Krönungsgruppe  seine  Löwenklaue,  die  er  sein  Leben  lang  sich  vorbehalten  hat,  so  reich  und  stralend 
ihm  auch  die  Jugendschönheit  und  Frauenanmut  gelang,  die  wir  ihm  danken,  nur  —  aus  Einseitigkeit  — 
zu  ausschliesslich  verdanken  wollen. 

Unum  sed  leonem!  —  klingt  es  auch  an  anderer  Stelle  des  Museo  Nazionale,  und  ich  glaube 
die  Stimme  als  die  des  Luca  della  Robbia  zu  kennen.  Es  giebt  daselbst  ein  anderes  Gebilde  seiner 
kräftigen  Hand,  das  nur  aus  Vorurteil  noch  nicht  als  sein  Eigentum  anerkannt  worden.  Ich  meine 
die  unglasierte  Terracottabüste  eines  jungen  Mannes,  der  —  wieder  voll  ausgerundet  —  barhaupt 
mit  üppigem  Haar,  in  ganz  schlichtem,  eng  anliegendem,  vorn  zugeknöpftem  Rock,  der  oben  am 
Halse  fest  zusammenschliesst,  bis  nahe  an  den  Gürtel  gezeigt  wird.  Die  Arme  sind  nach  unten 
etwas  abstehend  noch  vor  dem  Ellbogen  abgeschnitten. "  Dies  Bildnis  stand,  dunkel  gefirnisst,  lange 
als  Gegenstück  zu  dem  geharnischten  Krieger  von  Antonio  del  Pollajuolo  unter  dem  Namen  dieses 
Künstlers,  zu  dessen  Eigenart  es  garnicht  passen  will.  Durch  solchen  Widersinn  abgestossen 
schwankte  die  Wage  der  Kenner  zunächst  ins  andere  Extrem,  indem  Bode  den  Namen  Benedetto 
da  Majano  in  Vorschlag  brachte.  ^  Er  fühlte  jedenfalls  die  Milde  ja  Sanftmut  der  Künstlernatur 
heraus,  die  hier  gewaltet,  und  mit  der  leidenschaftlichen  Energie,  der  krampfhaften  Kontraktion,  die 
Pollajuolo  liebt,  durchaus  nicht  zusammengeht.  Wahrscheinlich,  wenigstens  mir  hat  sich  diese  Lösung 
lange  bewährt,  liegt  auch  hier  die  Wahrheit  einigermassen  in  der  Mitte.  „Die  Hand  des  ebenso 
tüchtigen,  aber  weit  schlichter  und  weicher  empfindenden  Künsders",  die  Bode  darin  erkennt,  dürfte 
vor  allen  Dingen  nicht  in  der  zweiten  Hälfte  des  Quattrocento  zu  suchen  sein,  der  die  vorgerücktere 
und  mehr  ins  Einzelne  gehende  Auffassung  und  Arbeitsweise  des  Antonio  Pollajuolo  wie  des 
Benedetto  da  Majano  beide  angehören,  sondern  in  der  ersten  Generation  der  Frührenaissance,  die 
noch  mit  konstitutiven  Dingen  der  Plastik  genug  zu  schaffen  hatte  und  gerade  die  einfachere  Sinnesart 
besass.  Die  „weichere  Empfindung"  aber  wird  gewiss  zum  grossen  Teil  auf  Rechnung  der  Formen- 
behandlung im  weicheren  Material,  der  Gewöhnung  ans  Modellieren  für  glatte,  bemalbare  oder 
glasierbare  Terracotta  geschoben  werden,  wenn  man  einmal,  von  dem  Gegenstück  Pollajuolos  ganz 
absehend,  die  Tüchtigkeit  der  Leistung  ohne  Vorurteil  zu  würdigen  versucht.  Es  ist  eins  von  jenen 
ruhevollen  Meisterwerken  Lucas,  die  dem  Wesen  griechischer  Plastik  näher  kommen,  als  alle  leiden- 
schaftlicheren Bemühungen  seiner  Zeitgenossen  und  Nachfolger.  Es  überwiegt  der  Sinn  für  das 
leibhaftige  Dasein  der  Kreatur,  für  das  vegetative  Leben,  der  zu  Gunsten  unseres  Wirklichkeitsgefühles 
ganz  andere  Faktoren  vor  Augen  stellt,  als  die  Erregung  des  Augenblickes  und  das  Hämmern  der 
Gedanken  hinter  der  Stirn.  Es  sind  die  selbstverständlichen  Grundlagen  der  körperlichen  Natur,  die 
er  als  echter  Bildner  zuerst  erfasst  und  als  Hauptsache  festhält.  So  bleibt  auch  das  Auge  ohne 
bestimmt  gerichteten  Blick,  junonisch  gross  und  voll,  in  sich  selber  ruhend,  und  das  Wesen  der 
Person  nicht  gespannt  und  gereizt  von  einem  Äusseren  abhängig,  sondern  sich  selber  genug,  in  sich 


'  Vgl.  unsere  Heliogravüre  nach  Phot.  Alimari  6288. 
54.     II  379  d.     (1893  weggelassen.) 


—    72    — 

ganz  und  abgeschlossen  ringsum.  So  spricht  diese  Büste  den  Beschauer  vielleicht  weniger  an,  als 
der  moderne  Museumsbesucher  fordert  und  nötig  hat;  aber  sie  hält  auch  dem  wiederkehrenden 
Betrachter,  der  sie  sucht,  länger  Stand  als  manches  andere,  anfangs  interessantere  Bildnis  und 
befriedigt  ihn  in  mancherlei  Stimmung,  indem  er  ihren  Kern  stets  sich  bewähren  fühlt.  Die  Formen- 
behandlung dieser  Züge,  der  struktive  Aufbau  des  Knochengerüstes,  die  Wiedergabe  des  ruhigen 
Schauens  der  Augen  und  des  Haares  in  kompakten  Lagen  stimmen  aber  so  weitgehend  einerseits 
mit  den  Köpfen  der  Krönungsgruppe,  andererseits  mit  den  jungen  Kerlen  der  Sängertribüne  überein, 
dass  man  sich  fragt,  wie  weit  in  solchem  Porträt  noch  das  Individuum  zu  seinem  Recht  gekommen 
sein  möge.  Tatsächlich  hinterlässt  es  den  Eindruck,  als  ob  die  Auffassung  des  Besonderen,  dem 
Einzelwesen  Eigentümlichen,  soweit  es  vom  Normalen  abweicht,  nicht  gerade  die  starke  Seite  in  der 
Begabung  des  Künstlers  gewesen  sei.  Und  gerade  der  genauen  Übereinstimmung  mit  den  durch- 
gehenden Typen  des  Luca  della  Robbia  danke  ich  allein  die  Sicherheit,  mit  der  ich  wage,  diese 
Porträtbüste  für  ihn  in  Anspruch  zu  nehmen  und  sie  als  wichtigen  Bestandteil  seines  Werkes  zu 
betrachten,  der  wesentlich  dazu  beiträgt,  den  Charakter  seiner  natürlichen  Anlage  zu  verstehen.  Die 
Verwandtschaft  dieser  zu  seiner  Zeit  ihm  allein  eigenen  Anlage  mit  den  Haupteigenschaften  der 
antiken  Plastik  erklärt  sich  wesentlich  auf  dieser  Grundlage;  die  Gefahr,  sich  aus  Wahrheitsliebe  bis 
in  die  Einseitigkeit  individueller  Bildung  zu  verlieren,  scheint  für  ihn  nicht  bestanden  zu  haben. 
In  der  Schöpfung  der  plastischen  Form  selbst,  im  Hinstellen  des  physischen  Daseins  und  in  der 
Durchdringung  dieser  Form  mit  vegetativem  Leben  ist  er  unerreicht. 

Und  deshalb  muss,  neben  den  zahlreichen  Zügen  jugendlichen  Eifers  und  übermütiger  Daseins- 
lust, zarter  Anmut  in  den  Mägdlein  und  derber  Kraft  bei  den  Buben,  auf  den  Reliefs  seiner  Sänger- 
tribüne, die  wir  alle  lieben,  in  dieser  Gruppe  der  Kaiserkrönung  ganz  besonders  die  Wucht  einer  fast 
antiken  Inscenierung  solcher  Ceremonie  anerkannt  werden.  Es  ist  ein  urwüchsig  gewaltiges  Gehaben 
und  Gebaren  in  diesen  beiden  Repräsentanten,  der  weltlichen  und  der  geistlichen  Macht,  dass  sie 
auch  dem  stumpferen  Beschauer  unwillkürlich  die  Ehrfurcht  auferlegen,  im  Anblick  dieses  Auftritts 
zu  verharren,  der  in  solcher  Einfachheit  so  weittragende  Bedeutung  erzwingt. 

Zu  Gunsten  der  Menschengestalt,  die  hier  ganz  und  gar,  in  ihrer  physischen  Kraft  und  ihrer 
charaktervollen  Würde  zugleich,  gegeben  wird,  so  ganz  im  Sinne  der  klassischen  Skulptur,  verlor 
vielleicht  auch  hier  für  den  Meister  die  individuelle  Bildung  der  Köpfe,  das  Bildnis  einer  bestimmten 
historischen  Person  selbst,  an  Wert,  —  zumal  wenn  der  Bestimmungsort  des  Hochreliefs  die  feinere 
Wirkung  der  Einzelzüge  von  vornherein  aus  seiner  Rechnung  ausschloss.  Auf  Grund  der  Terracotta- 
büste,  die  wir  demselben  Künstler  zugeschrieben,  dürften  wir  solches  Hinwegsetzen  über  die  Ähnlichkeit 
in  diesem  Falle  durchaus  erklärlich  finden.  In  der  Tat  erinnert  der  krönende  Bischof  zunächst  an 
die  Grabfigur  im  Baptisterium,  „Joannes  quondam  papa  XXIII",  die  Donatello  geschaffen,  wir 
wissen  nicht,  wie  genau  im  Anschluss  an  die  Züge  des  Bartolommeo  Coscia,  der  als  Kardinal- 
bischof von  Florenz  14 19  gestorben  war,  d.  h.  an  die  nächste  Gestaltung  solches  Würdenträgers  der 
Kirche,  die  zur  Zeit  des  Künstlers  sich  schon  als  Kostümfigur  vorbildlich  aufdrängen  musste.  Und 
der  Römertypus  des  Imperators?  —  fragen  wir  weiter;  wie  steht  es  mit  der  Bildnistreue  dieser 
Hauptperson? 


—    71     — 

Nun  erst  stehen  wir  wieder  vor  dem  Anliegen,  die  Person  des  Dargestellten  zu  bestimmen, 
und  sei  es  auch  nur  zu  dem  Zwecke,  aus  der  Persönlichkeit  des  Dargestellten  oder  dem  äusseren 
Anlass  der  Bestellung  einen  Anhalt  für  die  Entstehungszeit  und  eine  Bestätigung  für  die  Person 
des  Künstlers  zu  gewinnen,  die  für  uns  inmitten  des  XV.  Jahrhunderts  gewiss  im  Vordergrunde 
bleiben  darf. 

In  der  Tat  ist  nicht  zu  läugnen,  dass  ein  gewisser  Grad  von  Ähnlichkeit  mit  überlieferten 
Bildnissen  für  die  Meinung  spricht,  hier  sei  niemand  anders  als  Ludwig  der  Bayer  gemeint.  Sein 
Grabmal  in  München  und  sein  Porträt  im  Rathaus  zu  Nürnberg,  sein  Siegel  selbst  auf  Urkunden 
dürften  angeführt  werden,  diese  Annahme  zu  begründen.  Überall  erscheint  dieser  Kaiser  bartlos, 
so  auch  bei  seiner  Krönung  zum  König  von  Italien,  auf  dem  Relief  des  Tarlati- Monumentes  in 
Arezzo.  K.  E.  v.  Liphart  war  von  dieser  Überzeugung  fest  durchdrungen.  Aber  wie  sollte  man 
im  vollen  Zug  des  XV.  Jahrhunderts  dazu  gekommen  sein,  auf  italienischem  Boden  die  Kaiserkrönung 
Ludwigs  in  Rom  zu  verherrlichen?  —  Eine  Krönung  mit  der  eisernen  Krone  durch  Guido  Tarlati 
mochten  die  Aretiner  sich  zur  Verherrlichung  ihres  Bischofs  vielleicht  bestellen,  wenigstens  wäre 
solch  ein  Auftrag  an  Luca  della  Robbia  denkbar.  Aber  eben  diese  Ceremonie  in  Mailand  kann  es 
nicht  sein,  damit  stimmt  nicht  das  Diakonengewand,  der  kaiserliche  Ornat,  der  nur  dem  Ritus  der 
Krönung  des  Imperator  in  St.  Peter  entspricht.  Karl  IV.  erscheint  überall  bärtig  und  kommt  gewiss 
für  die  sonstige  Figur  durchaus  nicht  in  Betracht.  Dann  aber  gelangt  erst  Sigismund  wieder  zur 
Kaiserkrönung  in  Rom;  diese  Feierlichkeit  jedoch  ist  von  Eugen  IV.  im  Jahre  1433  vollzogen,  von 
einem  Papste,  dessen  Bildnis  in  Florenz  sicher  ebenso,  wenn  nicht  nach  seinem  langen  Aufenthalt 
in  der  Arnostadt  viel  genauer  bekannt  war,  als  das  des  Kaisers.  Dieser  Bischof  ist  nimmer  Eugen  IV., 
dieser  Kaiser  nicht  der  bärtige  Sigismund.  Und  wie  anders  erscheint  der  Hergang  der  Krönung 
auf  den  Türen  von  St.  Peter  dargestellt,  in  der  Reihe  der  Reliefs  von  Antonio  Averlino  Filarete. 
Da  sitzt  nicht  der  Kaiser,  sondern  der  Papst  auf  seinem  Thronstuhl  neben  dem  Altar,  mit  der 
dreifachen  Tiara  auf  dem  Haupt,  und  vor  ihm  kniet  in  demütiger  Verehrung  der  nordische  Herrscher, 
mit  seinem  langen  Barte  dem  alten  Barbarossa  vergleichbar!  — 

Sein  Nachfolger  Friedrich,  der  1452  nach  Rom  zog,  um  von  Nicolaus  V.  die  Krone  zu 
empfangen,  ist  seinerseits  wieder  bartlos  auf  einer  Medaille  aus  späteren  Jahren  (im  Germ.  Museum 
in  Nürnberg)  wie  auf  seinem  Grabmal  im  Stephansdom  zu  Wien.  Aber  wie  sollte  Nicolaus  V.,  den 
Fra  Angelico  im  Vatikan  schon  an  Stelle  Papst  Sixtus  II.  in  der  Legende  des  hl.  Laurentius  mit 
voller  Porträtähnlichkeit  gemalt,  den  die  Florentiner  schon  als  bescheidenen  Bücherwurm  in  der 
Freundschaft  der  Medici  kannten,  wie  sollte  er  in  solcher  Triumphscene  nicht  nach  seinen  Medaillen 
konterfeit  sein?  Dann  aber  hätte  gewiss  auch  er,  der  kluge  Tommaso  Parentucelli  aus  Sarzana,  der 
Vater  des  neuen  Rom,  auf  dem  Hochsitz  der  Kirche  gethront,  und  der  Kaiser  sich  bequemen  müssen, 
vor  dem  Pontifex  Papa  zu  knieen. 

Aus  dieser  Verschiebung  der  Rollen  schon  ergiebt  sich,  dass  hier  keine  Kaiserkrönung  aus 
dem  XV.  Jahrhundert  gemeint  sein  kann,  keine  Wiedergabe  eines  historischen  Faktums  aus  den 
Tagen  des  Quattrocento,  in  denen  das  Hochrelief  entstand,  —  sondern,  dass  wir  es  mit  einer  Ideal- 
komposition  zu    tun    haben,    in    der    die    Kaiserkrönung    nach    mittelalterlichem   Brauch    geschildert 


—     74     — 

werden  sollte,  und  diese  vielleicht  im  Hinblick  auf  ein  berühmtes  Herrscherhaupt.  Dürften  wir 
annehmen,  dass  der  Künstler  trotz  der  vorurteilsfreien  Wiedergabe  des  bischöflichen  Ornats  aus  seinen 
eigenen  Tagen,  im  vollentwickelten  Stil  des  Quattrocento,  doch  bei  dem  Kopf  des  Kaisers  wenigstens 
ein  Bildnis  zur  Nachachtung  vor  sich  gehabt,  —  so  kämen  wir  schliesslich  zu  der  alten  Lokaltradition 
zurück,  dass  die  „Krönung  Karls  des  Grossen"  gemeint  sei.  Damit  wäre  nicht  nur  der  römische 
Bischof,  das  Vermeiden  der  dreifachen  Papstkrone,  auch  ohne  ängstliche  chronologische  Gelehrsamkeit, 
natürlich  vereinbar,  sondern  ebenso  der  bartlose  Kaiserkopf,  wie  er  in  Rom  zu  sehen  war.  Nur 
Karl  der  Grosse  lebte  damals  in  der  dankbaren  Erinnerung  der  Florentiner.  Von  ihm  erzählten  sie 
sich  als  vom  Gründer  ihrer  Stadt,  dass  er  die  Mauern  nach  langer  Zerstörung  wieder  aufgebaut  und 
die  freie  Selbstverwaltung  bewilligt  habe. '  Ihm  mochte  man  deshalb  zu  jener  Zeit,  wo  die  Rolle 
der  Parte  Guelfa  vorüber  war,  auch  ein  Standbild  errichten,  das  die  Übertragung  der  römischen 
Kaisergewalt  an  den  Verleiher  der  Stadtprivilegien  vor  Augen  stellte. 

Solch  ein  Platz  für  die  Krönung  des  weltlichen  Herrschers  im  christlichen  Gottesreich  mochte 
sich  füglich  im  Fortgang  des  Schmuckes  der  Domfassade  selbst  ergeben,  an  deren  Hauptportal  unten 
die  Erstlingswerke  der  Renaissance-Skulptur,  die  vier  Evangelisten,  seit  141 5  schon,  aufgerichtet 
sassen.  Damit  wäre  denn  auch  vielleicht  der  Fundort  vor  Porta  Romana  erklärlich  geworden.  Denn 
beim  Abbrechen  der  alten  Domfassade  wurden  viele  der  sonst  nicht  verwertbaren  oder  gering 
geachteten  Skulpturen  nach  dem  Grundstück  der  Villa  Poggio  Imperiale  hinausgeschafft,  wo  sie 
natürlich  verwahrlost  blieben.  Mussten  sich  doch  Propheten  oder  Kirchenväter  gefallen  lassen,  in 
Idealfiguren  Homers,  Virgils,  Dantes  und  Petrarcas  verwandelt  zu  werden.  Indessen,  diese  Erklärungs- 
versuche sind  für  uns  von  keinem  Belang.  Sie  mögen  lieber  ganz  aus  dem  Spiel  bleiben,  wenn  nur 
die  Hauptsache  unserer  Erkenntnis,  die  richtige  Bestimmung  des  grossartigen  Hochreliefs  der  Kaiser- 
krönung selbst  desto  schneller  zum  Durchbruch  gelangt. 

Nicht  in  der  Mitte  des  XIII.  oder  des  XIV.  Jahrhunderts  ist  das  Werk  florentinischer  Bildhauer- 
kunst entstanden,  sondern  mitten  im  Quattrocento.  Als  Kunstwerk,  nicht  als  Gegenstand  romantischer 
Anwandlungen,  darf  es  auch  in  seinem  heutigen  verwitterten  Zustande  noch  einen  hohen  Rang 
beanspruchen,  und  als  eine  gediegene  Leistung  monumentalen  Stiles,  von  der  Hand  des  Luc  a  de  IIa 
Robbia  betrachtet,  wird  es  —  so  hoffen  wir  —  im  Verein  mit  einer  Reihe  verwandter  Bestrebungen, 
die  wir  für  denselben  Meister  in  Anspruch  nehmen,  auch  einen  wichtigen  Platz  in  der  Geschichte 
.  der  italienischen  Renaissance  erobern,  jedenfalls  die  Charakteristik,  die  wir  künftig  vom  ersten  Robbia 
entwerfen,  entscheidend  mitbestimmen. 


I  Vgl.  noch   Fr.  Albertini,  Opusculum    de  mirabilibus  novae   et   veteris  urbis  Romae.  —  Cap.   XVII.     De   laudibus 
s  (ed.  Schmarsow,  Heilbronn   1886.     S.  57). 


NEUORDNUNG  FLORENTINISCHER  MUSEEN 


Seit  einiger  Zeit  haben  die  Kunstsammlungen  von  Florenz  in  der  Anordnung  ihrer  Schätze 
wirklich  Fortschritte  gemacht.  Das  verdient  um  so  mehr  Anerkennung,  je  mehr  man  weiss,  dass 
die  Neigung  zu  Veränderungen  hier  zu  Lande  nicht  immer  von  glücklicher  Hand  oder  klaren  Grund- 
sätzen geleitet  wird.  Ruhelose  Umordnung  von  Museen  kann  den  Besucher  in  ärgere  Verzweiflung 
bringen  als'  dauerhafte  Unordnung,  an  die  man  sich  wenigstens  gewöhnt. 

Hier  in  Florenz  scheint  besonders  die  Sammlung  von  Zeichnungen,  nachdem  sie  einmal  aus 
dem  Gang  zwischen  Uffizien  und  Pittigalerie  entfernt  worden,  garnicht  mehr  zur  Ruhe  kommen  zu 
können,  während  das  fortwährende  Umkleben  und  Ausrahmen,  besonders  aber  die  schutzlose  Preis- 
gabe an  den  Fenstern  im  hellsten  Tageslicht  die  unersetzlichen  Blätter  der  sichern  Zerstörung 
entgegenführt.  Und  doch  wird  niemand  den  guten  Willen,  auch  hier  etwas  Rechtes  zu  erreichen, 
in  Abrede  stellen.  Wir  wenigstens  sind  immer  bereit,  das  redliche  Bemühen  anzuerkennen,  selbst 
wenn  hier  und  da  die  Kräfte  fehlen  oder  die  sonstigen  Voraussetzungen  neuen  Aufwands  nicht  vor- 
handen sind,  oder  wenn  das  Talent,  neue  Hebestellen  für  die  Brandschatzung  der  Fremden  zu 
erfinden,  grösser  ist  als  die  Vorbildung  für  sachliche  Reform.  Doch  nicht  die  Neuordnung  der 
Museen  als  solche  soll  erörtert  werden,  sondern  die  Aufstellung  der  Schätze  giebt  nur  die  willkommene 
Gelegenheit,  sie  in  besserm  Lichte  zu  geniessen. ' 

Neu  entstanden  sozusagen  ist  während  der  letzten  Jahre  das  Museum  der  „Opera  del  Duomo" 
mit  seinem  Oberlichtsaal  und  seiner  Ausstellung  der  Entwürfe  zu  der  Domfassade,  die  mittlerweile 
fertig  dasteht  und  sich  immer  mehr  mit  ihrer  Umgebung  aussöhnt.  Gar  bald  wird  all  die  ohnmächtige 
Konkurrenz  vergessen  sein  und  aus  dem  einen  Zimmer  des  Museums  wieder  ein  Archiv  werden,  das 
nur  Gelehrte  noch  besuchen.  Die  Mehrzahl  dieser  Entwürfe  bezeugt  ja  nur,  wie  lange  in  diesem 
Land  der  Künste  der  Sinn  für  grosse  Kunst  abhanden  gekommen  war,  sie  dürften  —  aus  Schonung 
für  das  Andenken  ihrer  Urheber  —  verschwinden.  Dagegen  enthält  der  Oberlichtsaal  eine  Auswahl 
wirklich  wertvoller  Kunstwerke,  die  gerade  in  so  geringer  Zahl  desto  besser  zu  ihrem  Recht  gelangen. 
Die  Gesamtwirkung  ist  durchaus  erfreulich,  und  die  vorzüglichsten  Einzelwerke  würden  nur  durch 
besondere  Fürsorge  für  ihre  Eigentümlichkeit  noch  gewinnen. 


erschien  zuerst   1893  in  der  Nationalzeituhg  Berlin  26.  Mai;  8.   11.  Juli  u.  I.  August. 


-     ^6     - 

Die  Hauptveranlassung  zu  dem  Umbau  sind  die  Orgeltribünen  von  Donatello  und  Luca  della 
Robbia  gewesen,  deren  Reliefs  früher  im  Museo  Nazionale  untergebracht  waren,  während  das  Eigen- 
tumsrecht des  Domes,  für  den  sie  gearbeitet  waren,  nicht  zweifelhaft  sein  konnte.  Der  Wunsch, 
das  Ganze  dieser  Sängerbühnen  in  der  ursprünglichen  Anlage  wieder  herzustellen,  war  verständlich 
und  lobenswert,  wenn  in  der  neuen  Räumlichkeit,  für  die  sie  nicht  gedacht  waren,  auch  nur  ein 
Kompromiss  möglich  blieb.  Leider  hat  das  antiquarische  Interesse  dies  Verfahren  zu  ausschliesslich 
bestimmt,  und  die  Rücksicht  auf  bequemes  Sehen  wie  auf  den  besonderen  Charakter  der  beiden 
Werke  sind  dabei  zu  kurz  gekommen. 

Und  doch  hätte  man  aus  Vasaris  wolbekannter  Erzählung,  wie  verschieden  beide  Künstler 
ihre  Aufgabe  erfasst  hatten,  und  wie  verschiedenartig  die  Wirkung  an  Ort  und  Stelle  war,  die  sie 
mit  dieser  entgegengesetzten  Behandlungsweise  erreichten,  wenigstens  die  Hauptsache  lernen  können, 
die  bei  der  Aufstellung  in  einem  Museum  vor  allen  Dingen  in  Betracht  kommen  musste.  Hier  war 
und  blieb  das  erste  und  unabweisliche  Gebot,  dass  die  wertvolle  Arbeit  der  Meister  in  ihrer  Eigenart 
genossen  und  vollständig  erkannt  werde.  Hinter  dieser  Forderung  musste  das  antiquarische  Inter- 
esse an  der  Herstellung  des  ursprünglichen  Standes  völlig  zurücktreten,  zumal  da  die  ursprüngliche 
Räumlichkeit  im  Dome  selbst  zur  Wiederaufstellung  versagt  ward.  Vasari,  der  sie  an  ihrem  Platz 
im  Dome  sah,  macht  nun  aber  ausdrücklich  darauf  aufmerksam :  Donatello  hatte  seine  Reliefs  genau 
für  die  hohe  Aufstellung  berechnet,  damit  die  Gestalten  tanzender  und  jubilierender  Genien,  die  er 
darstellt,  auch  im  Dämmerlicht  des  Kuppelraumes  für  den  unten  stehenden  Beschauer  zur  Wirkung 
kämen.  Deshalb  hatte  er  die  Hauptlinien  und  -Formen  stark  betont,  übertreibend  herausgearbeitet, 
alle  feineren  Einzelheiten  aber  vernachlässigt  oder  gänzlich  unterdrückt.  Ganz  anders  Luca  della 
Robbia.  Seine  Marmorreliefs  mit  singenden  und  musicierenden  Knaben  und  Mägdlein  machten  an 
Ort  und  Stelle  im  Dom  bei  weitem  nicht  den  Eindruck,  weil  seine  Arbeit  zu  sorgsam  und  eingehend, 
sein  Relief  zu  massvoll  in  der  Erhebung  und  im  Schattenschlag  vorspringender  Teile,  für  das  Auge 
bei  der  vorhandenen  Entfernung  zu  sehr  verschwamm.  Die  Betrachtung  aus  der  Nähe  dagegen, 
wie  sie  während  des  Aufenthalts  im  Museo  Nazionale  möglich  war,  hat  erst  den  Ruhm  dieser 
Skulpturen  begründet  und  Luca  della  Robbia  auch  als  Marmorbildner  in  seinem  vollen  Wert 
bekannt  gemacht.  Seine  treuliche  Wiedergabe  aller  Formen,  mit  zarten  Einzelheiten  und  mannich- 
faltigstem  Ausdruck  der  Gesichter  wie  der  Gebärde,  seine  weichen  Übergänge  in  der  Abstufung  des 
Reliefs  sind  verlorene  Liebesmüh,  sobald  das  Werk  sich  aus  bequemer  Sehweite  von  dem  Auge 
entfernt.  Während  diese  Eigenschaft  für  den  ursprünglichen  Bestimmungsort  im  Dom  ohne  Zweifel 
ein  Fehler  war,  den  Donatello  nicht  mehr  beging,  indem  er  seine  Arbeit  viel  derber  hielt,  konnte 
bei  der  Neuaufstellung  im  Museum  garnicht  davon  die  Rede  sein,  und  es  handelte  sich  sicher  nicht 
darum,  Vasaris  Bericht  wiederum  wahr  zu  machen,  sondern  vielmehr  die  Erfahrung  zu  verwerten, 
die  er  uns  überliefert  hatte :  der  Tatsache  Rechnung  zu  tragen,  dass  Donatellos  dekorative  Leistung 
nur  aus  angemessener  Entfernung  geniessbar  ist,  Lucas  feinsinnige  Marmorbilder  dagegen  nur  in 
angemessener  Nähe  ihren  ganzen  Reichtum  an  Leben  und  Schönheit  zu  entfalten  vermögen.  Die 
Behandlungsweise,  in  der  jedes  dieser  Werke  durchgeführt  worden,  musste  die  Entscheidung  geben, 
sobald  die   endgiltige  Aufstellung  in  einem   eigenen    Museum   beschlossen   war.     Das  eben  ist  hier 


—  n   — 

nicht  geschehen,  und  damit  ist  ein  schlimmer  Fehler  begangen,  der  geradeswegs  der  Bestimmung 
eines  solchen  Museums  zuwiderläuft.  Donatellos  Sängerbühne  musste  dem  Auge  so  fern  gerückt 
werden,  wie  der  Raum  und  die  Sehweite  des  Beschauers  irgend  erlaubten,  Luca  della  Robbias 
Reliefs  dagegen  mussten  in  möglichst  bequemer  Nähe  bleiben.  Und  die  symmetrische  Aufstellung 
der  beiden  Bühnen?  —  sagt  man  —  sie  wäre  ja  damit  unmöglich  geworden!  Wie  hätte  das  aus- 
gesehen? Die  eine  Balustrade  hoch  an  der  Wand,  die  andere  niedrig;  das  musste  doch  wol  im 
Interesse  monumentaler  Wirkung  vermieden  werden!  —  Allerdings,  die  Anbringung  der  beiden 
Gegenstücke  in  gleicher  Höhe  einander  gegenüber,  wie  sie  einst  über  den  Sakristeitüren  des  Domes 
gestanden,  erschien  aus  architektonischen  Gründen  auch  hier  im  Oberlichtsaale  des  Museums  sehr 
empfehlenswert;  aber  sie  wurde  durch  die  Hauptforderung,  die  wir  aus  dem  besondern  Charakter 
jedes  der  beiden  Werke  abgeleitet,  nicht  ausgeschlossen.  Auch  die  architektonischen  Teile,  Simse 
und  Rahmungen,  die  Luca  della  Robbia  für  seine  Reliefs  angeordnet  hatte,  sind  nicht  vollständig 
mehr  erhalten,  sondern  an  mehreren  Stellen  durch  Gipsabgüsse  ergänzt.  Auf  den  beiden  Schmal- 
seiten, die  bei  den  Mafsverhältnissen  des  Saales  nicht  überschaut  werden  können,  hat  man  auch 
die  Reliefs  durch  Gipsabgüsse  ersetzt  und  die  beiden  herrlichen  Originale  mit  eifrig  singenden 
Buben  drunten  unter  anderen  Kunstwerken  der  Sammlung  ausgestellt,  so  dass  sie  vortrefflich  in 
allen  Einzelheiten  gesehen  werden.  Nun,  da  ist  die  Lösung  auch  für  das  Übrige  gegeben!  Droben 
an  der  Bühne  entziehen  sich  die  Feinheiten  der  Arbeit  doch  dem  Auge,  und  auf  die  untere  Reihe 
vollends,  die  zwischen  den  tragenden  Konsolen  angebracht  worden,  wirft  das  vorspringende  Podium 
einen  so  kräftigen  Schatten,  dass  auch  bei  günstigster  Helligkeit  des  Tages  kein  klarer  Eindruck 
der  Formen  erreicht  wird.  Dies  ist  um  so  weniger  der  Fall,  als  die  natürliche  Farbe  des  Marmors 
sich  allmählich  gebräunt  hat.  Hier  würden  also  schon  aus  Gründen  der  Beleuchtung  die  weissen 
Gipsabgüsse  mehr  am  Platze  sein.  Und  welcher  Verlust,  die  Originale  solchen  Bedingungen  auf- 
zuopfern, —  welcher  Gewinn  für  das  Museum,  die  köstliche  Reihe  eigenhändiger  Skulpturen  von 
Luca  della  Robbia  neben  den  beiden  anderen  Stücken  aufgestellt  zu  sehen,  meinetwegen  in  der 
gleichen  Pilasterrahmung  wie  oben,  oder  in  bräunlicher  Holzfassung  nach  diesem  Vorbild  des  Meisters 
selbst.  Der  Reichtum  der  Sammlung  wäre  geradezu  verdoppelt.  Jetzt  bleiben  ihre  wunder- 
vollsten und  für  Jedermann  geniessbarsten  Schätze  in  unverantwortlicher  Weise  dem  Besucher  vor- 
enthalten. 

Was  das  heisst,  wissen  Alle,  die  jemals  Gelegenheit  gehabt  haben,  die  Originale,  wie  sie 
einst  im  Museo  Nazionale  erreichbar  dastanden,  zu  bewundern,  oder  auch  nur  Photographien  nach 
diesen  liebenswürdigen  Schöpfungen  zu  sehen.  Sie  gehören  zu  den  intimsten  Offenbarungen  der 
italienischen  Kunst  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  die  wir  das  Quattrocento  nennen,  und  werden  jedem 
empfänglichen  Auge,  das  für  plastische  Formen  Gefühl  hat,  die  reinste  Freude  gewähren.  Denn  sie 
zeigen  eine  wolgebildete  Jugend  mit  allen  Gaben  für  das  Leben  ausgestattet,  hier  im  ernsten  Eifer, 
dort  im  ausgelassenen  Spiel,  überall  in  ungehemmter  Frische.  Sie  zeigen  uns  eine  Unbefangenheit 
der  Beobachtung,  eine  Innigkeit  des  Formensinnes,  eine  Vertrautheit  mit  allen  leisen  Wandlungen 
vom  entwickelten  Kindesalter  bis  an  die  Grenze  der  Jugendreife,  je  nach  Jahren  und  Geschlecht;  — 
sie   atmen  eine  Naturnähe,   dass  man   sich  kaum  völlig  klar  macht,   wie  viel  doch  die  harmonische 


-     78     - 

Auffassung  des  Künstlers  mitgewirkt  hat  und  wie  viel  dem  glücklichen  Ebenmafs  seiner  Darstellung 
verdankt  wird,  wenn  der  Eindruck  dieser  italienischen  Jugend  uns  an  die  Heiterkeit  und  Lebensfülle 
der  schönsten  hellenischen  Bildwerke  erinnert. 

Dem  schärferen  Beobachter  verraten  sich  Ungleichheiten  in  der  Behandlungsweise  zwischen 
den  einzelnen  Tafeln,  die  gewiss  durch  ihren  besonderen  Platz  im  Rahmen  des  Ganzen  mitbestimmt 
waren.  Aber  es  sind  lauter  eigenhändige  Arbeiten  von  Meisterhand,  Versuche  zur  Wiederfindung  des 
vollkommensten  Reliefstils  und  als  solche  ausserordentlich  lehrreich  und  wertvoll.  Denn  kein  Marmor- 
bildner dieser  Zeit,  —  auch  Nanni  d'Antonio  di  Banco  und  Michelozzo  nicht,  die  sich  eifrig  darum 
bemühten,  —  ist  der  griechischen  Harmonie  so  nahe  gekommen,  wie  Luca  della  Robbia,  dem  hier  die 
Ausgleichung  mehr  aus  angeborenem  Geschmack  zu  gelingen  scheint,  als  aus  irgendwie  bewusster 
Nachahmung  der  Antike.  In  der  Geschichte  dieser  Kunst  fehlt  eine  Reihe  der  wichtigsten  Dokumente 
aus  den  Tagen  Ghibertis  und  Donatellos,  so  lange  die  Sängerbühne  Lucas  dem  nahen,  eingehenden 
Studium  entzogen  bleibt. 

Donatello  hat  in  richtiger  Erwägung  des  Abstandes  sogar  auf  eigenhändige  Durchführung 
zum  grossen  Teil  verzichtet.  Nur  die  herrlich  kühn  bewegten  Genien  zur  Rechten  zeugen  für  seine 
Hand,  während  die  grinsenden  Lockenköpfe  zur  Linken  einem  manierierten  Gehilfen  gehören,  dessen 
Mitwirkung  wir  auch  sonst  in  grösseren  Arbeiten  dieser  Jahre  wiederfinden.  Die  beiden  Stücke 
zwischen  den  Konsolen  darunter  sind  vollends  geringes  Schulgut;  aber  sie  erfüllen  in  ihrer  Starrheit 
gerade  die  Aufgabe,  die  ihnen  an  dieser  Stelle  zukommt.  Und  die  Wirkung  des  Ganzen  erscheint 
in  gehörigem  Abstand  und  nicht  allzu  klarer  Beleuchtung  durchaus  bewundernswert.  Die  luftige 
Reihe  gekoppelter  Säulchen,  die  anfangs  durch  ihre  Goldpunkte  befremden  mögen,  schafft  unter  dem 
stark  vorspringenden  Sims  den  festgegliederten  Raum  für  den  bacchantischen  Zug,  der  in  wilder 
Jagd  von  rechts  nach  links  dahin  wirbelt,  und  die  Säulchen  wirken  wie  Cäsuren,  als  hörte  man  im 
unaufhaltsamen  Strom  der  Töne  den  Taktstock  des  Dirigenten  aufschlagen,  wie  es  der  italienische 
Musikmeister  in  Wirklichkeit  nur  allzu  laut  vollführt. 

Das  dritte  Hauptstück  des  Museums,  der  silberne  Altar vorsatz  aus  dem  Baptisterium,  hat  in 
der  Mitte  der  Längswand  Platz  gefunden,  so  dass  es  dem  Eintretenden  sogleich  ins  Auge  fällt.  Um 
1366  begonnen,  gehört  die  ganze  Vorderseite  noch  Goldschmieden  der  gotischen  Kunstperiode  an, 
wenngleich  schon  der  späteren  Verfallszeit  dieses  Stiles,  in  der  kaum  nodi  originale  Schöpfungen 
erwartet  werden  dürfen.  Schwäche  der  Erfindung,  Auflösung  der  strengeren  Prinzipien  der  Kom- 
jaosition,  zunehmendes  Eindringen  neuer  Einzelbeobachtung,  die  zunächst  nur  zersetzend  wirken  kann, 
charakterisieren  diese  Geschichten  Johannes  des  Täufers.  Gewährt  schon  die  Bildnerei  der  zweiten 
Hälfte  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  besonders  nach  dem  Tode  Orcagnas,  keinen  erfreulichen  Anblick, 
so  ist  es  mit  der  Kleinarbeit  der  Goldschmiede  nicht  besser  bestellt,  zumal  wenn  ihr  Aufgaben  der 
Darstellung  zufallen,  die  über  ihr  Vermögen  hinausgehen,  wie  hier.  Auch  das  ist  ein  Zeichen  der 
Zeit:  Maler  werden  berufen,  die  Statuen  für  Glockenturm,  und  Dom  zu  zeichnen,  wie  Relieffiguren  für 
monumentalen  Schmuck  zu  entwerfen,  und  Goldschmiede  sollen  die  Geschichte  des  Stadtpatrons 
erzählen.  Sie  arbeiten  für  die  Nähe  des  Betrachters,  der  andächtig  auf  den  Altarstufen  kniet,  und 
immer  voran  mit  dem  technischen  Absehen,    das  kostbare  Material  möglichst  schimmernd  ins  Licht 


—    79    — 

zu  setzen.  So  verdienen  diese  Scenen  trotz  der  emsig  geduldigen  Arbeit,  die  ihre  Ausführung  in 
Silberblech  erheischt  hat,  keine  höhere  Wertschätzung  in  künstlerischem  Sinne,  als  irgend  eins  von 
vielen  Beispielen  im  allgemeinen  Niedergang  der  Trecentokunst,  und  weder  der  Preis  des  Materials 
noch  die  ehrwürdige  Bestimmung  darf  darüber  täuschend  mitreden.  Selbst  die  Zutat  des  Quattro- 
cento an  dieser  Vorderseite,  die  Statuette  des  Täufers  in  der  Mitte  von  Michelozzo,  kann  nur  für 
ein  steifes,  ziemlich  lebloses  Machwerk  angesehen  werden.  Die  besten  Arbeiten,  vier  Reliefs  von 
andern  Quattrocentisten,  unter  denen  Antonio  del  Pollajuolo  und  Andrea  del  Verrocchio,  ver- 
bergen sich  an  den  Schmalseiten,  deren  Besichtigung  leider  etwas  beengt  ist.  Es  sind  die  ersten 
und  die  letzten  Scenen  aus  der  Geschichte  des  Johannes,  die  hier  im  Gewände  florentinischen  Lebens 
gezeigt  werden:  die  Verkündigung  an  Zacharias  und  die  Begegnung  der  Maria  mit  Elisabeth  auf 
einem  Bilde,  darunter  die  Geburt  des  Johannes  und  auf  der  andern  Seite  das  Mahl  des  Herodes  mit 
dem  Tanz  der  Tochter  und  darunter  die  Enthauptung  des  Täufers.  Dies  letzte,  erst  1477  von  Andrea 
del  Verrocchio  gelieferte  Relief,  in  dem  man  die  Beihilfe  des  Lionardo  da  Vinci  vermutet,  hat  die 
vollendetsten  Gestalten  voll  Charakter  und  Ausdruck,  aber  die  centrale  Perspektive  des  Schauplatzes 
wirkt  in  ihrer  schulmässigen  Konstruktion  besonders  an  diesem  Standort  des  Bildes  ungünstig,  als 
müssten  die  Figuren,  die  wir  von  oben  sehen,  aus  der  Bühne  herauspurzeln,  auf  der  sie  schon  etwas 
gespreizt  umhersteigen  und  Bravourstücke  der  Kraft  vollführen. 

Dagegen  erscheint  Pollajuolo  bedeutender  als  hier  am  Silberaltar  in  dem  ausführlichen  Leben 
des  Täufers,  das  er  für  Stickereien  der  Messgewänder  um  1469 — 70  schon  gezeichnet,  deren  Über- 
reste ebenfalls  ausgestellt  sind. '  Diese  Scenen  mit  leidenschaftlich  gestikulierenden,  abenteuerlich  nach 
Modelaunen  seiner  Zeit  gekleideten  Personen  sind  ein  wichtiges  Dokument  für  die  entscheidende 
Mitwirkung  dieses  Meisters  an  der  künstlerischen  Arbeit  seiner  Tage.  Hier  ist  ein  Kapital  von 
Ausdrucksmitteln,  Handbewegungen,  Stellungen,  Haltungen,  Faltenspiel  gegeben,  das  den  Malern  der 
heranwachsenden  Generation  zu  statten  kam  und  besonders  von  den  umbrischen  Meistern  des  seelischen 
Ausdrucks  wie  Pietro  Perugino  und  Fiorenzo  di  Lorenzo  eifrigst  ausgebeutet  wurde.  ^ 

Zu  beiden  Seiten  des  Silberaltars  stehen,  etwas  allzu  nah,  die  Marmorfiguren  der  Verkündigung, 
die  den  Namen  des  Niccolo  d'Arezzo  führen,  —  nicht  mit  Unrecht,  selbst  wenn  seine  Mitarbeiter  am 
nördlichen  Domportal  Antonio  di  Banco  und  dessen  Sohn  Nanni  mehr  Anspruch  darauf  hätten. 3 
Die  Köpfe  schon  allein  verraten  die  Arbeit  zweier  Hände  und  verschiedenen  Geschmack;  die  Finger, 
die  bedeutsam  mitsprachen,  sind  leider  grösstenteils  erneut.  Der  Engel  ist  fast  noch  völlig  gotisch, 
aber  im  Antlitz  dem  strengen  Schönheitsideal  der  Antike  nachgebildet,  die  Jungfrau  derber,  nach  der 
Wirklichkeit  gegeben  mit  runden  Formen  und  kurzen  Haaren,  als  wäre  eigentlich  sie  zum  männlichen 
Träger  der  Botschaft  bestimmt  gewesen.  Jedenfalls  ist  die  Gruppe  ein  lehrreiches  Beispiel  für  die 
Bildnerei  des  Übergangs,  in  dem  die  Entwicklung  Ghibertis,  Donatellos  und  Luca  della  Robbias  liegt. 
Und  die  beiden  Richtungen,  die  auseinanderstrebend  sich  darin  ankündigen,  setzen  sich  fort  in  zwei 

1  Eine  lavierte  Zeichnung  dieser  Reihe,  die  sich  in  den  Uffizien  erhalten  hat,  ist  wol  die  fertige  Vorlage  für  die  Rica- 
matori,  in  Rücksicht  auf  ihr  Handwerk  gearbeitet,  und  zwar  ni.  E.  von  Piere  Pollajuolo  hergestellt. 

2  Vgl.  Schmarsow,  Pinturicchio  in  Rom,  1882,  S.  5. 

3  Näheres  darüber  im  Jahrb.  d.  k.  preuss.  Kunstsammlungen  1887. 


—     8o    — 

Madonnenreliefs,  die  im  selben  Saal  einander  gegenüberstehen:  das  eine,  der  Annunziata  verwandtere, 
ist  von  Pagno  di  Lapo  Portigiani,  einem  Gehilfen  des  Michelozzo,  das  andere  dem  Engel  Gabriel 
näher,  giebt  in  flacherer  aber  willkürlicher  Behandlung,  fast  wie  im  Bilde,  Maria  mit  dem  Kind,  umgeben 
von  Engeln,  mit  wehenden  Gewändern  und  fliessenden  Falten,  flatternden  Haaren  und  gespreizten 
Flügeln,  wie  im  Wellengewoge.  Es  ist  eine  virtuose  Leistung  des  Agostino  d'AntoniodiDuccio, 
dessen  künstliche  Manier  in  Perugia  und  Rimini  mehr  bekannt  wird  als  in  seiner  Vaterstadt  am  Arno. ' 

Zur  Seite  des  befangenen  Michelozzoschülers,  der  auch  am  Papstgrabe  des  Baptisteriums 
gearbeitet,  erscheinen  die  beiden  Statuetten  des  lehrenden  Christus  und  der  heiligen  Reparata,  die 
hier  ausserordentlich  bezeichnend  das  XIV.  Jahrhundert  vertreten,  wie  knospenhaft  in  sich  beschlossen 
und  doch  sicher  gefasst  in  ihrem  engern  Kreis.  Sie  sind  nach  unserer  Taufe  dem  reinsten  Trecento- 
bildner,  Andrea  Pisa no,  als  unbezweifelbares  Eigentum  zurückerstattet,  und  besonders  die  königliche 
Martyrin  mit  der  Palme  zeigt  neben  der  etwas  allzu  sanften  Milde  des  Messias  die  ganze  vornehme 
Liebenswürdigkeit  und  sinnige  Frische  des  Meisters.^  Drüben  dagegen  steht  dem  verwaschenen 
Frauenkopf  eines  späteren  Trecentisten  die  farbige  Büste  eines  Meisters  der  Hochrenaissance  gegen- 
über, die  mit  ihrer  freien  Grossartigkeit  und  junonischen  Fülle  doch  an  die  Grenze  der  Leerheit 
streift.    Als  Beispiel  der  Polychromie  aus  glänzender  Zeit  ist  auch  dies  Stück  von  besonderem  Werte. 

Eine  ähnliche  Reihe  von  Kunstwerken  in  chronologischer  Folge  zu  überblicken,  wie  auf  dem 
Gebiete  der  Skulptur,  gewähren  die  Malereien  dieses  Museums  freilich  keine  Gelegenheit.  Wir 
könnten  mit  dem  Madonnenbilde  des  Taddeo  Gaddi  von  1334  beginnen,  durch  einige  spätere 
Übergangsarbeiten  zum  heiligen  Ivo  mit  zwei  Bittstellern,  einem  ausgemachten  Werk  des  Quattro- 
cento gelangen,  das  vielleicht  den  Namen  des  Pesello  verdient,  um  mit  einer  Intarsiatafel  von 
Giuliano  da  Majano  und  einem  Mosaikkopf  des  heiligen  Zenobius  in  der  Art  der  Ghirlandajo 
abzuschliessen.     Aber  wir  wollten  nur  bei  den  Hauptsachen  verweilen. 

So  mag  es  genug  sein,  neben  den  Reliefplatten  des  Baccio  Bandinelli  vom  Domchor,  die 
das  Treppenhaus  schmücken,  noch  einiger  Prophetenköpfe  des  XIV.  Jahrhunderts  zu  gedenken,  deren 
begeisterter  Aufblick  in  diesem  Innenraum  überraschend  zur  Geltung  kommt,  und  endlich  in  der 
Eintrittshalle  unten  die  farbige  Terracotta  zu  erwähnen,  die  das  Bogenfeld  einer  Seitentür  füllt.  Es 
ist  die  Halbfigur  des  segnenden  Gottvater  zwischen  zwei  Engeln  in  einem  prächtigen  Fruchtkranz, 
nicht  in  Relief  wie  Robbias  glasierte  Arbeiten  sonst,  sondern  ganz  flach,  wie  eine  Ofenkachel.  Dieser 
Umstand  hat  wol  dazu  beigetragen,  dass  man  meint,  dies  Stück  sei  in  der  Werkstatt  der  Robbia 
nur  glasiert  worden,  die  Zeichnung  sei  jedoch  von  fremder  Hand.  Die  Behandlung  stimmt  indes  völlig 
mit  der  reizenden  Einfassung  des  Federighigrabes  in  S.  Francesco  di  Paola  überein,  und  ich  zweifle 
keinen  Augenblick,  dass  das  ganze  Werk  das  beste  Anrecht  auf  den  Namen  des  Luca  de  IIa 
Robbia  selber  hat,  dessen  Wiedergabe  der  Formen  und  dessen  eigentümlichen  Farben  das  Ganze 
viel  zu  bestimmt  entspricht,  als  dass  an  die  Vorlage  eines  Fremden  gedacht  werden  dürfte.  3 

1  Vgl.  Ernst  Burmeister,  der  bildnerische  Schmuck  des  Tempio  Malatestiano  zu  Rimini,  Breslau  1891. 

2  Vgl.  oben  den  Artikel  über  Andrea  Pisano  mit  Abbildung  zu  S.  26. 

3  Wie  etwa  Alesso  Baldovinetti  oder  Graffione.     Vgl.  oben  S.   70,  3. 


—    «I    — 

Langsameren  Ganges  als  in  den  Uffizien  und  im  Bargello  hat  sich  die  Umgestaltung  in  der 
Akademie  der  schönen  Künste  vollzogen;  aber  eine  letzte  Erweiterung  in  diesem  Winter  (1892 — 93) 
erst  hat  schnell  und  überraschend  eine  Galerie  geschaffen,  die  einen  völlig  neuen  Eindruck  macht. 
Wer  sich  des  alten  Zustandes  erinnert,  bekennt  sich  gewiss  noch  zu  der  Lehre,  dass  es  keine 
ungünstigere  Aufstellung  von  Gemälden  giebt  als  eben  in  einer  sogenannten  „Galerie".  Lange 
fortlaufende  Gänge  mit  ungegliederten  Wänden,  wo  auf  beiden  Seiten  ein  Bild  neben  dem  andern, 
vielleicht  gar  in  mehreren  Reihen  über  einander,  aufgehängt  worden,  —  drängen  sie  uns  nicht  un- 
willküriich  zum  Weitereilen  und  Vorbeigehen?  Das  setzt  ja  selbst  einen  wertvollen  Teil  der  Galerie 
des  Louvre  in  Nachteil  gegen  ärmere  Sammlungen  in  angemessener  Räumlichkeit. 

Dies  alte  Princip  der  doppelten  Bilderspaliere  ist  nur  noch  im  ersten  Eintrittssaal  der  Floren- 
tiner Akademie  erhalten  geblieben,  und  auch  hier  nur  ein  letztes  Übergangsstadium  vor  dem 
Abschluss  der  neuen  Ordnung.  Denn  die  Versammlung  der  ältesten  Überreste,  die  früher  ohne 
Rangunterschied  und  Gruppenbildung  hier  jeden  Wunsch  persönlicher  Annäherung  erlahmen  Hess, 
ist  zu  Gunsten  der  neuen  Säle  stark  gelichtet.  Es  ist  ein  Vorzimmer  für  Unbekannte  daraus 
geworden,  die  höchstens  in  chronologischer  Reihenfolge  oder  in  Schulklassen  antreten  können,  um 
der  einstigen  Erlösung  aus  dem  schattenhaften  Dasein  des  Incognito  zu  harren.  Streng  geordnet, 
der  frischen  Aufmerksamkeit  der  Kennerblicke  ausgesetzt,  hätten  sie  am  meisten  Aussicht,  durch 
eine  eigene  Visitenkarte  den  Zutritt  zu  den  innern  Räumen  zu  erlangen  und  ihren  Platz  im  geschicht- 
lichen Zusammenhang  einzunehmen,  der  einigen  von  ihnen  jedenfalls  noch  gebührt.  Augenblicklich 
hängen  gerade  sie  noch,  in  vernachlässigter  Toilette,  zu  schlecht  beleuchtet  oder  zu  hoch  entrückt, 
um  solche  Einführung  zu  gestatten. 

So  dient  dieser  Eintrittssaal  nur  als  Durchgang  für  den  Besucher,  der  Bilder  sehen  will  und 
rechts  in  das  Kabinet  des  Fra  Angelico  einbiegt,  oder  gar  als  Durchblick  allein  für  den  Fremden, 
den  Michelangelos  David  am  Ende  dieses  Hauptschiffes  unwiderstehlich  nach  dem  Kuppelraum  in 
der  Mitte  zieht. 

Wer  einmal  an  der  kleinen  Seitenpforte  zum  Meister  von  Fiesole  vorübergeht,  dürfte  den 
Weg  nicht  wiederfinden,  selbst  wenn  er  heimkehrend  auch  Michelangelo  den  Rücken  wendet  und 
gern  nachholte,  was  er  beim  Vordringen  vergessen.  Nicht  als  ob  die  Räumlichkeiten  so  zahlreich 
oder  so  verworren  wären,  um  sich  zu  verirren.  Aber  es  könnte  wie  im  Vatikan  mit  der  Kapelle 
Nicolaus  des  Fünften  gehen,  die  Fra  Angelico  mit  Wandgemälden  geschmückt  hat,  ehe  noch  die 
voll  gewonnene  Freiheit  der  Kunst  die  grossen  Meister,  die  ihm  folgten,  in  völlig  andere  Bahnen 
riss.  Wenn  auf  Michelangelo  in  der  sixtinischen  Kapelle  nicht  einmal  die  Natur  noch  schmeckt, 
wie  Goethe  meint,  weil  man  sie  doch  nicht  mit  so  grossen  Augen  wie  jener  zu  sehen  vermag.  — 
wie  viel  mehr  müssen  Gebilde  einer  Kunst  gegen  ihn  abfallen,  die  alle  Dinge  dieser  Erde,  ja  Himmel, 
Hölle  und  Weltgericht  nur  in  der  Enge  der  Klosterzelle  schaut.  Muss  einem  nicht  auch  hier  in  der 
Akademie  das  Nebenzimmer  des  Angelico  wie  ein  Kabinet  für  Kurzsichtige  vorkommen,  wenn  man 
zuvor  die  Augen  am  Grössten  ausgeweitet  hat!  Immer  fühlt  man  hier  den  Zusammenhang  seiner 
Anschauungen  mit  der  Kleinkunst  der  Buchmalerei,  den  Miniatur-Mafsstab  —  viel  mehr  als  im 
Kloster  San  Marco.    Dort  im  Kreuzgang  unter  freiem  Himmel  erhebt  sich  der  fromme  Dominikaner 


auch  zu  freier  Grösse,  im  Kapitelsaal  zu  idealer  Darstellung  der  Kreuzesandacht,  wo  Zeit  und  Ort 
verschwinden,  wie  in  ewiger  Gegenwart,  und  in  mancher  Zelle  scheint  die  Kleinheit  des  wirklichen 
Gemaches  sich  wunderbar  auszudehnen,  wie  bei  den  Visionen  der  gläubigen  Seele,  die  drinnen 
gehaust  und  aus  irdischer  Gefangenschaft  sich  in  die  unendliche  Heimat  hinausgesehnt.  Hier  im 
Angelicozimmer  der  Akademie  betrachten  wir  die  Passions-Geschichten  wie  ein  Bilderbuch,  nehmen 
uns  zusammen,  den  jüngsten  Tag  in  engem  Rahmen  mit  winzigen  Figürchen  zu  fassen,  als  blickten 
wir  verkehrt  in  ein  Fernrohr,  und  meinen  doch,  das  Bild  könne  seinen  rechten  Sinn  erst  gewinnen, 
wenn  wir  die  Augen  schlössen  und  die  aufgefangenen  Farbenpünktchen  aus  dem  Innern  wieder  in  alle 
Weiten  um  uns  her  ausstralen  Hessen.  Indessen,  wer  möchte  daran  zweifeln,  sie  würden  dabei  ver- 
schwimmen und  verschweben  ohne  Halt.  Sie  wollen  Stück  für  Stück  beachtet  sein:  nur  intimster 
Hingebung  erst  erschliessen  sie  sich  ganz.  Diese  Gebilde  des  feinsten  Pinsels  sind  wie  Blumen  des 
Gemütes,  die  nur  im  innigen  Verkehr  ihren  vollen  Duft  entwickeln. 

So  ist  es  gut,  wenn  seine  Werke  hier  beisammen  bleiben;  wir  wünschten  ihr  Gemach  nur 
traulicher  eingerichtet  und  von  allem  Fremdartigen  befreit.  Ein  gewisses  Mafs  der  Vergrösserung 
schon  dürfen  diese  gefühlvollen  Geschöpfe  des  Mönches  nicht  überschreiten.  Das  lehrt  ein  Blick 
auf  seine  Altartafeln,  besonders  wenn  er,  statt  der  tronenden  Madonna  mit  ruhig  stehenden  Heiligen 
herum,  einen  historischen  Vorgang  zur  Darstellung  bringen  will,  oder  gar  physische  Anstrengung 
wie  die  Abnahme  vom  Kreuz,  die  man  mit  Unrecht  im  grossen  Saal  am  Ende  vereinzelt  und  bei 
vollster  Beleuchtung  aufzustellen  beliebt  hat.  Wie  leer  und  flach  und  unzureichend  erscheint  sie  dort. 
Im  Allerheiligsten  Angelicos  dagegen  würden  ihre  höchsten  Eigenschaften,  der  Ausdruck  der  Rührung 
bei  so  trauriger  Pflicht  und  die  Einfalt  der  reinen  Sinnesart,  erst  recht  zur  Wirkung  kommen,  und 
ihre  Mängel,  die  in  hellerem  Raum  zumal  den  Farbensinn  verletzen,  gewiss  weniger  stören.  Und  wie 
ganz  anders  würde  daneben  die  herrliche  Beweinung  ihren  Wert  behaupten,  dies  einzige  hier  vor- 
handene Beispiel,  das  grossartig  wie  ein  Wandgemälde  in  monumentalem  Stil  gedacht  ist,  und  seinen 
Vollgehalt  eben  dadurch  bewährt,  dass  die  Erinnerung  es  stets  in  grösseren  Mafsstab  überträgt,  als  es 
wirklich  gemalt  ist.  Ich  wenigstens  habe,  beim  Anblick  einer  Photographie  etwa,  auch  nach  langer 
Bekanntschaft  mit  dem  Original,  immer  wieder  den  Eindruck,  als  breite  sich  ein  Fresko  vor  mir  aus. 

In  der  Nähe  dieses  Meisters  zarter  Seelenmalerei  begrüssen  wir  sonst  gern  einige  Schöpfungen 
seiner  späteren,  aber  einflussreichen  Nachfolger,  die  zum  Teil  den  glücklichsten  Sinn  für  harmonische 
Farbenstimmung  dazu  besassen,  der  Meister  Umbriens,  aus  denen  Raphael  herausgewachsen  ist. 
Die  wundervollen  Köpfe  der  beiden  Vallombrosaner,  die  man  lange  diesem  Grössten  zugetraut, 
hängen  hier  als  Zeugen  verwandten  Strebens,  ein  Paar  der  besten  Leistungen  des  Pietro  Perugino. 
Nicht  minder  lehrreich  wirkt  eine  kleine  Verkündigung  in  Einzelfiguren  von  Fra  Filippo,  dem  nächsten 
Zeitgenossen  des  frömmeren  Mönches:  mitten  unter  Angelicos  Bildern  sanfter  Herzensgüte  fühlt  man 
hier  im  nämlichen  Anschauungskreis  doch  ein  völlig  anderes  Empfinden,  einen  Hauch  von  Erden- 
frische und  Sinnenlust  heraus.  Und  wie  wäre  es  endlich,  wenn  ein  Bild  des  andern  grossen 
Dominikaner-Malers,  des  Nachfolgers  in  S.  Marco  selbst,  in  der  Nähe  stünde,  eins  von  den  gross- 
artigsten Werken  Fra  Bartolommeos,  der  soweit  hinausgewachsen  über  die  Enge  des  Klosters 
und  die  letzten  Anhängsel  des  Mafsstabs  mönchischer  Miniaturmaler. 


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Die  Hauptgemälde  dieser  Meister  müssen  wir  abseits  in  einer  anderen  Zimmerflucht  suchen 
die  an  den  linken  Kreuzarm  neben  dem  Kuppelraum  der  Mitte  angrenzt.  Es  sind  drei  neue  durch- 
einandergehende Säle  von  massigen  Dimensionen,  alle  von  einer  Seite  her  beleuchtet  und  nach  Art 
unserer  vorgeschrittenen  Museen  in  einfacher  stumpfer  Farbe  getüncht.  Keine  übermässige  Anzahl 
von  Bildern  ist  hier  in  möglichst  symmetrischer  Verteilung  aufgehängt,  so  dass  in  angemessenem 
Abstand  von  den  Nachbarn  jedes  einzelne  zu  ruhiger  Wirkung  kommt.  Dieser  Schritt  verdient  die 
vollste  Anerkennung. 

Das  mittlere  Zimmer,  durch  das  man  eintritt,  führt  den  Namen  „Sala  del  Perugino"  und  bringt 
den  Zusammenhang  der  umbrischen  Richtung  mit  Fra  Angelico  da  Fiesole  sofort  zum  Bewusstsein. 
Bei  allen  Vorzügen  seiner  fortgeschrittenen  Malerei  scheint  dieser  Lehrer  Raphaels  dem  Gedankenkreis 
heiligen  Wollens  und  frommer  Kindlichkeit  noch  garnicht  entwachsen.  Welche  Zumutung  gläubigen 
Hinnehmens  stellt  er  an  den  sehenden  Betrachter  noch  in  der  Himmelfahrt  Marias,  auf  der  wir  die 
Jahreszahl  1 500  lesen.  In  der  Nähe,  wie  es  jetzt  unmittelbar  neben  dem  Eingang  hängt,  glänzt  das 
Bild  dem  Auge  in  saftiger  Farbenpracht  entgegen.  Aber  die  Komposition  fällt  für  die  Anschauung 
unvermeidlich  in  ihre  Teile  auseinander:  die  unten  stehenden  Heiligen,  gerade  aufgereiht  in  plastischer 
Selbständigkeit,  —  die  sitzende  Maria,  in  ihrer  farbigen  Glorie  schon  äusserlich  besonders  eingerahmt,  — 
die  schwebenden  Engel  neben  ihr,  und  endlich  —  die  Halbfigur  des  segnenden  Gottvater  in  einem 
zweiten  Farbennimbus  oben.  Und  während  schon  Friedrich  Wilhelm  IV.  als  Kronprinz  eine  Anzahl 
verschiedener  Schülerhände  in  dem  Ganzen  unterscheiden  wollte,  bleibt  jetzt  nur  die  einheitliche 
Schulung  aller  Mitarbeiter,  der  gleichmässige  Ton  der  Farben  und  die  sorgfältig  ausgeglichene  Be- 
handlung als  bewundernswerter  Zusammenhalt  übrig.  Ein  Urteil  über  das  grosse  Altarbild  ist  an 
dieser  Stelle  eigentlich  ausgeschlossen,  wie  fast  immer  wenn  Kirchenbilder  in  eine  Galerie  kommen. 
Die  ursprüngliche  Wirkung  am  rechten  Standort  kann  nicht  hergestellt  werden,  es  sei  denn  mit 
räumlichen  Opfern,  vor  denen  man  auch  hier  zu  Lande  zurückschreckt,  obwol  die  mächtigen  Klostersäle 
so  manche  Mafsregel  gestatteten,  die  bei  uns  unmöglich  wären.  Diese  hohe,  oben  abgerundete 
Tafel  für  den  Hochaltar  zu  Vallombrosa  war  bestimmt,  allein  zu  stehen  und  ihre  Stelle  zu  behaupten, 
sie  verträgt  keine  Nachbarn  neben  sich,  sondern  nur  architektonische  Umgebung  und  verlangt  die 
zerstreute  dämmerige  Beleuchtung  eines  Kirchenraums.  Dort  freilich  würde  sich  auch  die  Einzel- 
arbeit der  Gehilfen,  unter  denen  man  ausser  Spagna  auch  Raphael  vermutet,  dem  Auge  des  Forschers 
wieder  entziehen.  Hier  steht  es  als  zusammengeleimtes  Stückwerk,  wie  es  im  Atelier  entstanden  war. 
Der  Geniessende  beschränkt  sich  gern  auf  die  unten  stehenden,  vier  herrlichen  Gestalten,  deren  aus- 
drucksvolle Köpfe  den  beiden  Bildnissen  der  Vallombrosaner  ebenbürtig  sind,  und  deren  feierliche 
Gewandung  oder  glänzende  Rüstung  uns  würdig  vorbereiten  auf  das  rauschende  Farbenkonzert  am 
Himmel  droben,  in  dem  nur  hier  und  da  ein  liebliches  Engelsangesicht  erfreut. 

So  wünschte  man  den  alten  Platz  auf  einem  Altartisch  und  die  minder  klare  Beleuchtung 
einer  Kapellennische  auch  gewiss  dem  benachbarten  Bilde  mit  der  „Beweinung  Christi".  Nach  den 
Voraussetzungen  des  einstigen  Standortes,  für  den  der  Maler  gearbeitet  hat,  sollen  wir  in  an- 
gemessener Entfernung  über  den  Altar  hin,  in  eine  Pfeilerhalle  blicken,  die  ringsum  often  wie  ein 
Baldachin  die  Figurengruppe  überspannt  und,  unter  dem  Tabernakel  eines  Grabmals  gleichsam,  den 


Körper  des  Toten  mit  den  Leidtragenden  herum  beherbergt.  Maria  hält  den  Leichnam  des  Sohnes 
auf  den  Knieen,  Magdalena  sitzt  zu  Füssen,  Johannes  kniet  zu  Häupten  und  ein  Paar  heiliger  Männer 
steht  zu  den  Seiten  dabei.  Gleich  einer  plastischen  Gruppe  aufgebaut,  sind  die  Gestalten  wie  aus 
Holz  geschnitzt  oder  in  Thon  modelliert  und  glänzend  bemalt.  Dieser  Behandlung  nach,  wie  dem 
hellen  Ton,  der  Wahl  und  Zusammenstellung  der  Farben  gemäss,  muss  die  Entstehung  des  Bildes 
in  die  zweite  Hälfte  der  achtziger  Jahre  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  fallen,  also  nicht  erst  in  die 
Hauptzeit  Savonarolas,  mit  dessen  Auftreten  man  diese  und  ähnliche  Darstellungen  der  Pietä  in 
Zusammenhang  zu  bringen  versucht  hat.  —  Der  Ausdruck  wehmütiger  Trauer  bis  zu  Tränen  ist 
hier  —  als  Vorbild  für  die  Rührung  des  Beschauers  —  bereits  mit  einer  Klarheit  aller  Bewegungen 
wolgebildeter  Körper  verbunden,  und  in  einer  Reinheit  gelungen,  die  den  Vorrang  dieses  Geschmackes 
vor  den  florentinischen  Zeitgenossen  ausser  Zweifel  stellt.  Das  Verlangen,  aus  all  ihrem  Individualismus 
heraus  zu  einer  idealen  Kunst  hindurchzudringen,  ist  unverkennbar  ausgesprochen.  Überall  in  Mienen, 
Gebärden,  Stellungen  eine  Ruhe,  wie  sie  dem  Schmerze  edler  Seelen  geziemt,  —  und  selbst 
Michelangelo  verdankt  die  Harmonie  des  Eindruckes  seiner  Marmorgruppe  von  1499  nicht  zum 
wenigsten  solchen  Schöpfungen  des  Meisters  von  Perugia,  den  er  später  verhöhnte. 

Da  wundern  wir  uns  nicht,  in  einem  andern,  etwas  späteren  Bilde  Peruginos,  das  im 
anstossenden  Saale  hängt,  den  Gekreuzigten  mit  der  Schmerzensmutter  und  dem  heiligen  Hieronymus 
an  Stelle  des  Lieblingsjüngers  in  eine  Landschaft  gestellt  und  in  bläulich  kühler  Abenddämmerung 
wie  bei  hereinbrechender  Finsternis  zu  sehen,  so  dass  die  umgebende  Natur  mit  der  Stimmung 
menschlicher  Wesen  darin  gar  wundersam  zusammenwirkt,  als  klänge  in  diesen  Farbentönen  die 
Klage  um  das  untergegangene  Leben  aus,  das  den  Seinen  wie  das  Licht  der  Sonne  geleuchtet  und 
nun  erloschen  sie  in  nächtlicher  Öde  zurücklässt.  Dieser  künstlerischen  Absicht  gemäss,  die  der 
Umgebung  mindestens  gleichen  Anteil  an  dem  malerischen  Ganzen  zugesteht  wie  den  Figuren  selber, 
sind  diese  letzteren  schon  in  kleinerem  Mafsstab,  in  schlankerem  Gliederbau  und  nicht  mehr  so 
vollauf  selbständiger,  statuarischer  Bildung  gegeben  —  ein  sicheres  Zeichen,  dass  dieses  Werk 
Peruginos  erst  in  den  neunziger  Jahren  entstanden  ist.  Der  Gegensatz  zu  der  wenig  erweiterten 
Darstellung  des  nämlichen  Gegenstandes  im  Kloster  von  S.  M.  Maddalena  de'  Pazzi,  dem  herrlichsten 
seiner  Wandgemälde,  das  urkundlich  1496  vollendet  ward,  bezeugt  ausserdem,  wie  bewusst  Perugino 
nach  der  Verschiedenheit  der  technischen  Bedingungen  im  Ölgemälde  ganz  anders  denkt  und 
anderes  will  als  im  Fresko. 

Wir  können  solchen  Gegensatz  unmittelbar  und  stärker  noch  in  diesen  Zimmern  der  Akademie 
selbst  uns  anschaulich  machen.  Ein  Blick  auf  Signorellis  ergreifenden,  grossartig  plastischen 
Crucifixus,  mit  der  verzweifelten  Magdalena  am  Kreuzesstamm,  genügt,  den  weiten  Abstand  der 
Intentionen  zu  fühlen.  Auf  dem  heissen  Felsgestein  des  Appennin  kniet  hier  ein  Weib  aus  dem 
Volke  vor  dem  heissgeliebten  Manne,  den  man  gekreuzigt  hat.  Ein  paar  Zutaten  der  kahlen 
Umgebung  dienen  nur,  den  Mafsstab  zu  gewinnen  und  dem  völlig  statuarischen  Gebilde  Raum  zu 
geben,  in  dem  es  einsam  aufragt,  wie  in  der  Wüste. 

Das  selbe  Wollen  dagegen  wie  Peruginos  Kreuzigung,  das  selbe  Vorwalten  seelischer  Empfindung 
im  malerischen  Einbezug  der  Landschaft  bestimmt  auch  den  Charakter  seines  „Gebets  am  Ölberg", 


das  als  Gegenstück  jener  plastischen  Gruppe  der  Beweinung  im  Mittelsaal,  dem  Gekreuzigten 
Signorellis  gegenüber  hängt.  Hier  sehen  wir  Christus,  abseits  von  den  Jüngern,  die  er  mitgenommen, 
an  einem  Hügel  knieen.  Angstvolle  Ahnung  durchschauert  ihn  in  der  Stille  der  Nacht,  deren  drohende 
Gefahr  ihm  nicht  verborgen  war.  —  Wäre  dieses  einsame  Ringen  des  Wachenden  neben  dem 
friedlichen  Schlaf  der  Gefährten  allein  geblieben  in  dem  durchsichtigen  Dunkel  des  Ölgartens  mit 
dem  tiefblauen  Himmel  darüber,  so  hätten  wir  ein  Stimmungsbild  in  voller  Reinheit  und  sähen  die 
verräterischen  Schatten  den  Verlassenen  umlauern,  auch  ohne  sie  leibhaftig  zu  gewahren.  Jetzt  ist 
der  Mittelgrund  mit  tänzelnden  Figuren  der  Häscher  und  des  Judas  erfüllt,  die  uns  nur  die  Mitwirkung 
eines  schwachen  Gesellen  oder  einer  schwachen  Stunde  des  Meisters  verraten. 

Nehmen  wir  nun  noch  das  letzte  Werk  hinzu,  das  die  Akademie  von  Perugino  besitzt,  so 
haben  wir  eine  ganze  Geschichte  im  Auszug  beisammen.  Es  ist  die  „Abnahme  vom.  Kreuz",  die, 
ursprünglich  dem  Filippino  Lippi  aufgetragen,  von  diesem  nur  angefangen  hinterlassen  war  und  1505 
an  Perugino  überging.  Oben,  in  dem  Körper  des  Gekreuzigten,  in  dem  würdigen  Greise,  der  ihn  in 
seine  Arme  nimmt,  d.  h.  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  mit  Filippinos  Hand,  strengt  auch  der 
Nachfolger  sein  Bestes  an.  Er  arbeitet  selbst  im  Bewusstsein  der  ernsten  ehrenvollen  Aufgabe,  die 
durch  den  Tod  des  Mitstrebenden  ihm  zugefallen  war.  Drunten  aber  ist  alles  vernachlässigt:  die 
Gruppe  der  ohnmächtigen  Mutter  mit  den  Frauen  von  Masaccio  entlehnt,  die  übrigen  locker  hin- 
gestellten Figuren  charakterlose  Dutzendarbeit,  —  Veranlassung  genug  für  den  unbarmherzigen  Tadel 
Michelangelos,  der  den  gewinnsüchtigen  Maler  von  Perugia  aus  Florenz  in  seine  Heimat  zurücktrieb. 

Dennoch  bleibt  die  Reinheit  idealen  Geschmackes  und  die  harmonische  Schönheit  stimmungs- 
voller Farben  als  Fortschritt  malerischen  Wollens  bestehen.  Das  ist  aus  den  Keimen  der  Seelen- 
malerei Angelicos  durch  den  unibrischen  Meister  geworden  und  steht  in  Florenz  zu  jener  Zeit  fast 
unverstanden,  —  für  einen  so  ausschliesslichen  Gestaltenbildner  wie  Michelangelo  gewiss  auch 
unverständlich  da.  In  der  Tat,  um  der  ganzen  Bedeutung  dieses  umbrischen  Beitrags  für  die 
Kunstentwickelung  innezuwerden,  muss  man  die  Leistungen  der  Florentiner  zwischen  Angelico  und 
Perugino  daneben  betrachten. 

Es  ist  ein  anderes  Geschlecht  als  jene  Stimmungsmaler,  diese  echten  Florentiner  des 
Quattrocento.  Wie  markig  erscheint  Fra  Filippo  bei  all  seinem  linkischen  Benehmen  schon  in 
früheren  Werken.  Wenn  Franciscus  und  Antonius  neben  Cosmas  und  Damian  auch  am  Thron  der 
Madonna  nur  ängstlich  sitzen,  als  hockten  sie,  verschämten  Bauernjungen  gleich,  am  unbequemsten  Rande 
der  Marmorbank,  um  nicht  ins  Rekeln  zu  verfallen,'  so  sind  die  Kinder  und  Mägdlein,  die  Frauen  und 
Greise  gegenüber  beim  rosenbekränzten  Krönungsfest  Mariens  von  warmem  Leben  erfüllt  und 
gesundester  Frische.  Selbst  aus  plattgedrückten,  breitmäuligen  Köpfen,  die  man  auf  einer  Kirmes  in 
Holland  suchen  würde,  atmet  ein  Hauch  ländlicher  Poesie,  als  wären  wir  Sonntags  in  die  dicht- 
gefüllte Dorfkirche  geraten,  wo  die  voUwangige  Jugend  von  den  Feldern  ringsum  zu  den  Kloster- 
brüdern hereindrängt,  die  ihnen  ein  Schaugepränge  aufgebaut  haben  und  Musik  dazu  machen.^ 


:  Altar  aus  der  Cappella  Medici  in  Sta.  Croce. 

■■  Altar  aus  S.  Ambrogio,  vollendet  1441,  Restzahlung   1447? 


—     86     — 

Im  anstossenden  Zimmer  vollends  hängt  eine  Predella  von  Filippos  Hand  aus  den  Tagen 
seiner  höchsten  Meisterschaft.  Darin  ahnt  man  bereits  den  mächtigen  Wurf,  das  heroische  Gebaren 
Michelangelos.  Da  greift  ein  frommer  Bischof  zur  Hacke,  um  den  Lauf  eines  Flusses  in  ein  anderes 
Bett  zu  leiten;  da  sitzt  ein  Mönch  in  seiner  Klause  am  Schreibpult,  von  Begeisterung  gepackt,  und 
dichtet  zu  Ehren  der  Dreifaltigkeit,  deren  Bild  in  seine  Brust  stralt  und  mit  ihrem  Geheimnis  wie  Pfeile  zum 
Herzen  dringt;  da  geleiten  Engel  einen  trauernden  Gottesmann  seines  Weges  und  richten  den  Tief- 
gebeugten mit  ihrem  Zuspruch  auf;  da  kniet  Gabriel  vor  Maria,  nicht  wie  einst  zur  Empfängnis  des 
himmlischen  Segens  in  Inbrunst  gebunden,  sondern  reicht  als  Bote  des  Todes  der  Matrone  die 
geweihte  Kerze  dar,  wie  frommer  Brauch  den  Sterbenden,  und  ihre  Flamme  erstralt  darob  wie  im  letzten 
Aufflackern  des  Lebens  gleich  dem  Stern  am  dunkeln  Firmament.'  In  Stellungen,  Gebärden  und 
Gesichtszügen  überall  eine  Wucht  und  Grösse,  als  gälte  es,  seelische  Kraft  in  physischem  Ausbruch 
zu  zeigen  und  im  Zusammenspiel  aller  Gliedmafsen  mit  einem  Donatello  zu  wetteifern.  Dieser  Bilder- 
streifen offenbart  die  ganze  Stärke  genialer  Begabung  Filippos  so  frei  von  Vernachlässigung,  wie 
kein  umfangreicheres  Werk,  bei  dessen  längerer  Arbeit  ihn  fast  immer  die  Unlust  und  Halt- 
losigkeit überkommt.  Hier  wirft  er  seine  Gestalten  in  bauschigen  Gewändern  schon  als  Vorbote  des 
Signorelli,  sodass  wir  die  Vorliebe  Michelangelos  begreifen,  von  der  Vasari  zu  erzählen  weiss.  Hier 
erfreut  er  sogar  durch  saftige,  volle,  harmonische  Farben  das  Auge,  im  Gegensatz  zu  seinem  Lands- 
mann und  Nachfolger  Botticelli,  dessen  bunte  Altartafel  darüber  hängt.  ^ 

Welch  ein  Aufgebot  überladenen  Pompes  in  der  Festdekoration,  in  der  hier  Sandro  eine 
Anzahl  von  Heiligen  am  Thron  der  Madonna  versammelt,  welche  luftlose  Räumlichkeit,  welch  ein- 
schneidende Umrisszeichnung  in  diesem  Bilde,  das  an  seinem  Standort  in  einer  Kirche  gewiss  viel 
günstiger  wirkte  als  hier  in  der  Galerie.  Aber  vor  allen  Dingen,  sind  die  kleinen  Figuren  Fra  Filippos 
in  der  Staffel  nicht  viel  grösser  als  die  grossen  statuarischen  Schutzpatrone  in  der  mächtigen  Tafel 
Botticellis?  Woran  liegt  das,  allem  Unterschied  der  Mafse  zum  Trotz?  —  Etwas  anders  steht  es  um 
die  gewaltige  Krönung  Marias  mit  den  heftigen  Propheten  und  Heiligen  drunten,  die  im  „ersten  Saal 
Botticellis"  das  Hauptstück  bildet.  Dort  stösst  sich  der  Blick  immer  am  Rahmen,  am  Glanz  der 
Firnissfläche  und  den  sonstigen  Kennzeichen  des  Tafelbildes,  als  könnte  diese  Komposition  nur  als 
Fresko  auf  einer  ganzen  Kapellenwand  ihre  eigentlichen  Vorzüge  behaupten.  Sie  fordert  durchaus 
die  zwingende  Gesetzmässigkeit  architektonischer  Linien,  den  strengen  Aufbau  eines  Raumes  um 
sich  her.     Der  einfassende  Rand  allein  kann  gegen  die  innere  Bewegung  nicht  aufkommen. 

Kaum  wiederzuerkennen  ist  derselbe  Meister  in  der  „Allegorie  des  Frühlings",  dem  einzigen 
grösseren  Stücke,  das  in  der  Akademie,  ausser  ein  paar  vortrefflichen  Staffelbildern,  einen  richtigen 
Begriff  von  dem  Botticelli  zu  geben  vermöchte,  der  auch  unter  modernsten  Künstlern  heute  seine 
Freunde   wirbt.     Und   gerade   dieser  „Frühling",   in   dem   wir  die  Dichtung   eines   der  eigenartigsten 

1  Es  ist  bekanntlich  die  Predella  zu  dem  Altarwerk  der  Barbadori,  dessen  Haupttafel  aus  Sto.  Spirito  in  den  Louvre 
gekommen,  mit  dem  Wunder  S.  Fredianos,  der  Vision  S.  Augustins  und  der  Zusammenführung  der  Apostel  zum  Tode  Marias. 

2  Ein  echtes,  ziemlich  frühes  Werk  Botticellis  ist  auch  die  heilige  Konversation  im  Innengemach  mit  S.  Katharina 
und  Magdalena,  wo  S.  Cosmas  und  Damian  vor  dem  Sitz  der  Madonna  knieen.  Aber  das  Kind  besonders  ist  in  der  Art 
Raffaellinos  übermalt. 


-     87     - 

Poeten  von  echt  florentinischem  Geblüt  erblicken,  muss  sich  neuerdings,  neben  der  richtigen  Deutung 
seines  mythologischen  Inhalts,  auch  eine  Deutung  des  künstlerischen  Strebens  darin  gefallen  lassen, 
die  den  liebenswürdigsten  Romantiker,  der  je  mit  Göttern  des  Olympes  spielte,  zum  äusserlichsten 
Nachahmer  antiker  Gewandzipfel  und  klassisch  verpfuschter  Sarkophagreliefs  erniedrigt.  Vermag 
selbst  dieses  florentinische  Maifest  keine  Ahnung  vom  eigensten  Wesen  der  Künstlernatur  zu  erwecken, 
vom  angeborenen  Temperament  des  Geistes,  der  hier  gedichtet,  vom  leidenschaftlichen  Schwung 
persönlichsten  Empfindens,  —  dann  allerdings  bleibt  für  die  Kunstgeschichte  nichts  übrig,  als  sich 
in  archäologische  Schnörkelkunde  und  philologischen  Aberwitz  zu  verzetteln,  d.  h.  sich  selber 
aufzugeben.' 

Wem  der  besondere  Charakter  einer  so  auffallenden  Erscheinung  wie  Botticelli  unter  den 
Augen  zerfliesst,  der  wird  diese  originelle  Eigentümlichkeit  auch  nicht  weiter  verfolgen  können  zu 
Filippino  Lippi,  der  in  seinen  frühen  Arbeiten  oftmals  wie  eine  jüngere  Ausgabe  seines  Meisters 
gelten  mag  und  spät  noch  zu  Botticellis  verwickelten  Gewandmotiven  und  heftigen  Gebärden  zurück- 
greift, als  könnten  nur  sie  der  phantastischen  Laune  der  eigenen  Erfindung  genügen.  Aus  Filippinos 
letzter  Zeit  sind  hier  drei  Einzelfiguren,  die  früher  Castagno  zugemutet  wurden,  ein  Johannes  der 
Täufer  und  eine  Büsserin  Magdalena,  die  man  mittlerweile  als  sein  Eigentum  erkannt  hat,  und  da- 
zwischen ein  Hieronymus,  der  sich  selbst  kasteit,  ebenso  unverkennbar,  nur  stumpfer  in  der  Farbe,  — 
alle  drei  in  seltsamem  Gegensatz  zu  den  friedlichen,  zahmen  Idyllen  des  Lorenzo  di  Credi  darunter. 

Kein  Wunder,  wenn  Botticellis  Einfluss  auf  Sienesen  wie  Francesco  di  Giorgio  und  Pacchiarotto 
sich  dem  Auge  der  Antikenjäger  entzieht,  die  natürlich  der  Triumphbogen  mit  goldenen  Pferdchen 
als  Palastpforte  Elisabeths  bei  der  Begegnung  mit  Maria  viel  mehr  interessiert  als  die  beiden  Frauen- 
gestalten selbst  in  dem  wichtigen  Bilde,  mit  dem  Pacchiarotto  hier  auftritt.  Da  wird  auch  die  Ver- 
wechslung Botticellis  mit  andern  Meistern,  die  ihm  nur  nachgeäfft,  wol  fortdauern  bis  zu  energischer 
Sichtung  und  scharfer  Charakteristik  seines  Eigensten.  Dass  man  ihn  hierzulande  noch  hartnäckig 
mit  Verrocchio  zusammenwirft,  hängt  allerdings  nur  von  der  anerzogenen  Gewohnheit  des  Autoritäts- 
glaubens ab,  dem  furchtlose  Kritik  für  ein  Verbrechen  oder  für  Skandalsucht  gilt;  denn  sonst  hat 
auch  dieser  Meister  eine  Fülle  individuellen  Wesens  aufzuweisen,  die  ihn  von  andern  kenntlich  genug 
unterscheidet.  Schwieriger  mag  es  sein,  mit  einem  Durchschnittsmaler  aufzuräumen,  der  noch  dazu 
den  ähnlichsten  Namen  führt,  wie  Francesco  Botticini.  Gewiss  hat  man  aus  alten  wolunterrichteten 
Verzeichnissen  schon  früh  den  berühmteren  Botticelli  herausgelesen,  und  die  andere  Endung  des 
Namens  für  ein  Versehen  des  Schreibers  gehalten,  wie  man  im  Vatikan  so  unglaublich  lange  eine 
Pietä  des  Bartolommeo  „Montagna"  unter  dem  bekannteren  Namen  „Mantegna"  gehen  Hess. 
So  wurde  unvermerkt  die  Brücke  abgebrochen,  die  Fra  Filippo,  Botticelli,  Verrocchio  und  PoUajuolo 
mit  einander  verband,  und  mit  dem  Namen  Botticini  der  lebendige  Träger  einer  Gemeinschaft,  der 
persönliche  Repräsentant  des  historischen  Zusammenhanges  aus  unserer  Geschichte  ausgestrichen. 
Selbst  ohne  rechte  Bedeutung  für  den  Fortschritt   der  Kunst,   ist  er  doch   wegen    seiner  zahlreichen 

I  Diese  allgemein  gewendete  Warnung  könnte  ebensogut  bei  Gelegenheit  von  Raphaelforscliungen  (wie  Goethe- 
philologie u.  dgl.)  ihre  Stelle  finden,  wo  die  Methodik  vermeintlich  exakter  Wissenschaft  oft  den  wertvollsten  Kern 
ausser  Acht  lässt. 


—     88     — 

Beziehungen  zu  den  Grösseren  wichtig  genug,  um  ihm  hier  eine  Erwähnung  zu  gönnen,  wie  wir  schon 
früher  einmal,  bei  Gelegenheit  der  Neuordnung  der  Londoner  National  Gallery  auf  ihn  hingewiesen.' 
In  England  gelten  ein  paar  Hauptstücke  fälschlich  für  Botticelli,  z.  B.  die  Krönung  Marias,  die  auch 
Vasari  als  dessen  Eigentum  beschreibt.  Auch  hier  in  der  Florentiner  Akademie  sind  unter  anderen 
Namen  verborgen  mindestens  zwei,  vielleicht  gar  mehr  Stücke  von  Botticinis  Hand.  Sicher  gehören 
ihm  zwei  schmale  Flügelbilder  mit  den  Einzelfiguren  des  Bischofs  Augustin  und  seiner  Mutter  Monica, 
unter  der  Bezeichnung  ,,Maniera  del  Pollajuolo".  Sie  haben  die  nächste  Verwandtschaft  mit  einem 
wichtigen  Altarwerk  in  Sto.  Spirito,  für  dessen  Kapellen,  wie  für  benachbarte  Heiligtümer  der  Maler 
überhaupt  viel  beschäftigt  war  und  auch  sein  Sohn  Rafifaellino  di  Francesco  (de'Carli  oder  de'Capponi 
zubenannt)  noch  manches  gearbeitet  hat.  Noch  am  ursprünglichen  Standort  auf  einem  Altar  der 
Familie  Capponi  befindet  sich  die  thronende  Monica,  umgeben  von  einer  Schar  Augustinernonnen, 
vor  der  zwei  junge  Novizen  knieen.  Die  Köpfe  dieses  arg  gedunkelten,  aber  unberührten  Tempera- 
bildes sind  von  einer  Lebendigkeit  und  Schärfe,  dass  man  sie  für  Bildnisse  halten  darf  und 
unwillkürlich  an  Verrocchio  denkt. 

Die  Übereinstimmung  mit  Andreas  Art  herrscht  auch  in  der  Anordnung  der  Komposition  mit 
den  Marmorschranken  im  Hintergrund,  über  welche  Palmen  und  andre  Bäume  von  metallischer  Starrheit 
hervorgucken.  Und  in  derselben  Kirche,  auf  einem  anderen  Altar  der  Capponi  befand  sich  das  Bild 
mit  den  drei  Erzengeln,  die  den  kleinen  Tobias  geleiten,  das  jetzt  in  der  Akademie  hängt  —  von 
der  wissenschaftlichen  Forschung  nach  Bayerdorfers  Vorgang  als  Werk  Verrocchios  anerkannt. 
An  langweiligen  Stellen  streift  die  Malerei,  der  Gewänder  besonders,  so  nah  an  die  Manier  Botticinis, 
zum  Beispiel  in  den  Kleidern  jener  Novizen,  dass  man  seine  Beihilfe  vermutet  und  daraus  eine  Reihe 
von  Wiederholungen  des  Drei-Engel-Bildes  oder  des  Mittelstückes  erklären  möchte,  wie  deren  eine 
im  letzten  Saal  der  Akademie  selber  vorhanden  ist.  Trauten  wir  doch  die  starre  Palme  in  Verrocchios 
berühmter  Taufe  Christi,  an  der  schon  Lionardo  mitgeholfen  hat,  lieber  dem  Gesellen  Botticini  als 
dem  Meister  zu,  da  sie  mehr  aus  Blech  geschnitten  als  aus  Bronze  gegossen  aussieht.  Die  schönen 
Engel,  die  er  in  Empoli  neben  der  Marmorstatue  S.  Sebastians  von  Rossellino  gemalt  hat,  machen 
der  Leistungsfähigkeit  des  Francesco  alle  Ehre.  Sonst  geschieht  es  ihm  leicht,  dass  der  grössere 
Mafsstab  seine  Gestalten  entleert.  Wie  anmutig  und  lebendig  wirken  die  kleinen  Figuren  seiner 
Geschichte  Virginias  auf  den  beiden  Cassonebildern  beim  Duca  di  Brindisi  (Antinori  zu  Florenz), 
während  grössere  Apostelgestalten,  die  langgestreckte  Verkündigung  in  Empoli,  den  rechten  Halt 
verlieren.  Und  der  Rossi-Altar  in  Berlin  von  1475  bezeugt,  durch  die  Ungleichmässigkeit  der  Heiligen 
unter  dem  Kreuzesstamm,  nur  das  Bedürfnis  nach  Anlehnung,  das  eifrige  Bemühen,  sich  an  Stärkeren 
aufzurichten,  sei  es  Verrocchio  oder  Botticelli  oder  wer  sonst. 

Es  ist  ein  Kennzeichen  schwacher  Köpfe  auch  unter  Malern,  dass  sie  nicht  zu  einheitlicher 
Verarbeitung  und  reifer  Ausgleichung  der  verschiedenen  Bestandteile  gelangen,  die  zur  Ausbildung 
von  jedem  aufgenommen  und  angeeignet  werden,  dass  sie  bei  glücklichster  Empfänglichkeit  nicht  zu 
einem  eigenen  Stil  hindurch  zu  dringen  vermögen.     Zu  solchen  Trabanten  nur  gehört  —  trotz  seinem 


zweiten  Teil  dieser  Sammlung  den  Aufsatz 


bekannteren  Namen  —  auch  Cosinio  Kosselli.  der  seiner  Barbara  hier  einen  hölzernen  Turm,  das 
alberne  Modell  eines  Kistenmaclu  rs.  in  den  Arm  gegeben,  um  es  treulichst  konterfeien  zu  können 
und  durch  dies  unbequeme  Attiil)ut  diu  ganze  Haltung  der  Heiligen  zu  verderben.  Von  ihm  ist 
auch  im  letzten  Saale  die  Hohlkel)le  mit  den  Halbfiguren  Gottvaters,  Gabriels  und  der  Annunziata 
in  runden  Rahmen,  die  man  licno/./.o  Go/.zoli  zugeschrieben  hat,  und  eine  Anzahl  Heiligenbilder  in 
ganzer  und  halber  Figur  als  ünbekamito  im  Eintrittszimmer  und  dem  Kabinet  des  Angelico.  Mit 
seinem  Genossen  Benozzo  Gozzoli  wird  er  auch  im  Dome  zu  Fiesole,  in  den  Wandmalereien  der 
Cappella  Salutati  verwechselt. 

Dagegen  begrüsst  man  mit  Freuden  wieder  ganze  Meister,  wie  Domenico  Ghirlandajo,  Fra 
Bartolommeo  und  Andrea  del  Sarto.  und  nimmt  nebenher  auch  ihre  Begleiter  wie  Francesco  Granacci, 
Mariotto  Albertinelli  u.  a.  gern  in  den  Kauf.  Ihre  Werke  hängen  freilich  auseinandergerissen,  teils 
noch  in  dieser  Zimmerflucht,  teils  in  der  letzten  Erweiterung,  jenem  langen  grossen  Saal  am  Ende, 
der  durch  Schahvände  in  drei,  immer  noch  grosse  Säle  abgeteilt  worden.  Diese  Trennung  des 
Zusammengehörigen  bleibt  ein  Cljclstand  für  den  Betrachter,  der  die  Arbeiten  der  selben  Hand  unter 
dem  Gesichtspunkt  fortschreitender  Entwickelung  oder  organischer  Stilwandlung  zu  vergleichen  pflegt. 

Die  Madonna  mit  Heiligen  von  Domenico  Ghirlandajo  ist  eine  seiner  glücklichsten  Leistungen 
geübter  Meisterhand.  Die  bescheidene  Bürgersfrau,  die  er  als  Himmelskönigin  auf  den  Marmorsitz 
erhoben,  benimmt  sich  in  ihrer  herzlichen  Fröhlichkeit  etwas  eckig,  indem  sie  mit  beiden  Armen  das 
nackte  Bübchen  hält,  des.sen  grosser  Kopf  und  wolgepolsterte  Formen  an  die  Kinder  Verrocchios 
erinnern.  Die  würdigen  Heiligen  aber,  Dominicus  und  Clemens,  die  vorihr  knieen,  Dionysius  Areopagita 
und  Thomas  von  Aquino,  die  zur  Seite  stehen,  haben  nicht  allein  die  malerische  Breite,  die  er  seinen 
Gewandfiguren  zu  geben  weiss,  sondern  auch  den  stillen  Ernst,  die  sinnende  Tiefe  des  Blickes,  die 
ihnen  eindringliche  Wirkung  siclierii.  auci\  wenn  sie  stärkerer  Eigenschaften  persönlichen  Charakters 
ermangeln,  durch  begeisterten  .Sciiwung  oder  leidenschaftliches  Gebaren  nicht  mitzureissen  vermögen. 
In  dieser  Hinsicht  steht  Ghidandajo  den  Malern  von  Perugia  näher  als  irgend  einer  seiner  Land.sleute 
von  Florenz.  Diese  Verwandtschaft  s[tiiclit  wie  hier  aus  den  Engeln  am  Thron,  besonders  aus  einer 
kleinen  Anbetung  der  Könige,  die  aus  der  Badia  di  Settimo  ins  Museum  von  .Sant'  Apollonia  ge- 
kommen, und  aus  einer  Begegnung  der  Maria  mit  Elisabeth,  die  unerkannt  im  letzten  Saal  der 
Akademie  hängt.  Hier  sind  die  Köpfe  sri  sinnig  und  fein,  die  Gewandung  so  knitterig  gebrochen, 
wie  gefütterter  Atlas,  und  die  Hände  mit  dem  gespreizten  kleinen  Finger  gleichen  den  Knollen  des 
Knabenkrautes  genau  so  wie  bei  Fiorenzo  di  Lorenzo.  Die  Anmut  der  Bewegungen  aber,  wie  die 
Innigkeit  der  Empfindung  erinnert  an  ein  Predellenstück  in  Berlin  mit  der  Begegnung  des  Jesus- 
knaben und  des  jugendlichen  Johainres,  das  man  in  die  nächste  Umgebung  Lionardos  versetzen  möchte. 

Kehren  wir  von  diesem  Ausflug  zu  Domenico  Ghirlandajos  thronender  Madonna  in  der 
Florentiner  Akademie  zurück,  so  wäre  nur  noch  hervorzuheben,  dass  in  der  zugehörigen  Staffel  mit 
Geschichten  der  Heiligen  und  einer  Pieta  nicht  mehr  der  Meister  selbst  zu  erkennen  ist,  sondern  ein 
geschickter,  andersartig  geschulter  Geiiülfc.  der  auch  im  Altarwerk  der  Domsakristei  zu  Lucca  die 
Hand  im  Spiel  gehabt,  und  wahrscheinlich  die  kleine  Scene  zwischen  weissgekleideten  Mönchen  im 
schmalen  Zimmer  der  Uffizien  neben  der  Tribuna  gemalt  hat. 


—    90    — 

Geraume  Zeit  früher  als  die  thronende  Madonna  mit  Heiligen  ist  Ghirlandajos  Geburt  Christi 
oder  Anbetung  der  Hirten,  die  im  letzten  Saal  als  Hauptstück  der  zweiten  Abteilung  auf  besonderer 
Staffelei  prangt.  Diese  Altartafel  aus  der  Sassetti-Kapelle  in  Sta.  Trinitä  vom  Jahre  1485  bezeugt, 
soweit  die  eigene  Hand  des  Meisters  reicht,  sein  ernstes  Ringen  mit  dem  Eindruck,  den  das 
stralende  Ölgemälde  des  Hugo  van  der  Goes  in  S.  M.  Nuova  auf  ihn  gemacht  hat.  Die  derben 
Bauern,  die  er  mit  Bildnistreue  wiedergiebt,  selbst  die  Schwertlilie  in  der  Ecke  und  der  tiefe  Ton 
der  Farben  im  Vordergrund  lassen  keinen  Zweifel  über  diesen  Zusammenhang  und  erwecken  Bedauern, 
dass  Ghirlandajo  sich  diese  männliche  Kraft  der  Farbe  und  diese  Lebenswahrheit  nicht  länger  erhalten. 
Der  Zug  der  Könige  im  Hintergrund  ist  ebenso  bunte  Gesellenarbeit  wie  in  der  grossen  Anbetung 
der  Innocenti  von  1488,  an  der  die  Brüder  schon  starken  Anteil  genommen,  wie  an  der  ganzen 
Krönung  Marias  für  Narni. 

Diese  festlichen  schmuckreichen  Kavalkaden  am  Ende  des  Jahrhunderts  sind  noch  immer 
Nachklänge  des  wunderbaren  Gentile  da  Fabriano,  dessen  schimmernde  Tafel  von  1423  den  ganzen 
Reiz  erwachender  Weltfreude,  liebevollen  und  doch  noch  schüchternen  Natursinnes,  unermüdlicher 
Aneignung  von  Einzelheiten  des  Lebens  und  Treibens  der  Menschenkinder  und  ihrer  Gefährten  aus 
dem  Tierreiche  bewahrt.  Aus  ihr  schon  geht  ja  der  ganze  Benozzo  Gozzoli  hervor,  mit  seinem 
Königszug  in  der  Medici-Kapelle  und  seinen  lachenden  Bildern  der  Gegenwart  im  Camposanto  zu 
Pisa,   wo   er  Geschichten  des  alten  Testaments  frisch  weg   im  Gewände  seiner  eigenen  Zeit  erzählt. 

Mit  Recht  steht  diese  Offenbarung  neuer  Ziele,  die  Gentile  da  Fabriano  den  Florentinern  vor 
Augen  gestellt,  mitten  im  ersten  Saal  der  letzten  Reihe,  wo  die  toskanischen  Meister  von  Cimabue 
und  Giotto  bis  zum  Ende  des  Quattrocento  vereinigt  sind.  Gern  sähen  wir  neben  einem  Don  Lorenzo 
Monaco  und  Rossello  di  Jacopo  Franchi,  dem  Genossen  des  Bicci  di  Lorenzo,  das  Bild  Masaccios 
aus  Sant  Ambrogio  eingeordnet,  in  deren  Reihe  es  zeitlich  hineingehört. 

Im  zweiten  Raum  enttäuscht  das  sechzehnte  Jahrhundert,  erfreut  nur  Mariotto  Albertinelli 
und  b)elehrt  die  Verwandlung  des  Fra  Bartolommeo  aus  einem  befangenen,  kleindenkenden  Nach- 
eiferer Peruginos  mit  florentinischem  Mangel  an  Farbensinn  zu  dem  schwungvollen,  grossartigen, 
koloristisch  überlegenen  Freunde  Raphaels.  Im  dritten  Saal  endlich  geraten  wir  unter  die  Manieristen 
des  siebzehnten  Jahrhunderts,  deren  Vorzügen  nur  schwer  gerecht  wird,  wer  sich  zuvor  in  Giotto  und 
Lorenzetti,  in  Fra  Angelico  oder  Botticelli  vertieft  hat. 


Zwischen  den  drei  verschiedenen  Abteilungen  der  akademischen  Gemäldesammlung  von  Florenz 
liegt  mitten  inne  der  Kuppelraum  mit  dem  David  Michelangelos;  in  den  anstossenden  Kreuzarmen 
ist  eine  Reihe  von  Gipsabgüssen  nach  Werken  dieses  Meisters  und  in  Rahmen  an  den  Wänden  die 
Braunsche  Aufnahme  der  Deckenbilder  der  Sixtinischen  Kapelle  und  der  Zeichnungen  in  Photographie- 
druck  vereinigt.  Während  im  Hofe  des  Akademiegebäudes  wenigstens  ein  einzelnes  unvollendetes 
Originalwerk,  die  halb  noch  im  Marmorblock  begrabene  Gestalt  eines  gewaltsam  bewegten  Mannes 
den  Anblick  der  Arbeitsweise  dieses  unnachahmlichen  Bildhauers  gewährt,  bietet  sich  hier  im  Innersten 
der    Galerie,    um    den    David    herum,    die    Gelegenheit,    in    den    Hauptzügen    die    Tätigkeit    dieses 


schöpferischen  Lebens  an  sich  vorübergehen  zu  hissen.  FreiHch  fehlen  noch  Originahvcrk'c,  die  Florenz 
zum  Teil  selber  besitzt,  und  zur  Vollständigkeit  wären  weitere  Gänge  erforderlich. 

Eins  aber  vermag  bisher  diese  Versammlung  um  den  Riesen  David  allein  zu  bieten:  eine  Vor- 
stellung von  dem  Grössenverhältnis  der  Werke  unter  einander.  Und  das  ist,  —  ganz  abgesehen  von 
dem  sachlichen  Tatbestand  und  der  Feststellung  wirklicher  Mafse,  die  auch  einzeln  aufgenommen 
werden  könnten,  —  eine  heilsame  Klärung  des  Bewusstseins  über  die  Tragweite  oder  die  Belanglosigkeit 
solcher  Unterschiede.  Sic  lehrt  uns,  dass  der  ästhetische  Mafsstab  sich  nicht  mit  Zahl  und 
Mafs  ermessen  lässt!  Der  künstlerische  Eindruck  einer  Gestalt  spottet  der  Elle,  mit  der  die 
Schulweisheit  ihm  so  gern  zu  Leibe  gehen  möchte.  —  Wer  würde  glauben,  dass  der  Moses  in  Rom, 
dieser  gewaltige  Heros  des  Volkes  Israel,  —  in  Wirklichkeit  so  klein  ist,  wie  er  hier  neben  David 
erscheint?  Man  hat  allerdings  den  unglückseligen  Einfall  gehabt,  ihn  auch  hier  in  die  Nische  zu 
setzen,  in  die  ihn  nur  ein  trauriges  Missgeschick  ehedem,  nach  langem  Widerstand,  hineinzuzwängen 
vermochte. 

Und  wie  gewinnt  die  Pietä  hier  aus  S.  Peter  ihre  ursprüngliche  Grösse  zurück,  deren  die 
Verhältnisse  der  Kirche,  ja  der  Kapelle  schon,  in  die  sie  hinein  geraten,  und  albernes  Beiwerk  in 
Rom,  sie  vollends  berauben.  —  Wer  kann  neben  diesem  toten  Christus  auf  dem  Schofs  der  Mutter, 
die  in  der  ganzen  Welt  allein  sind,  noch  den  lebenden  Christus  ertragen,  der  als  schöner  Mann  und 
weiter  nichts,  sein  Kreuz  nur  wie  ein  lästiges  Stück  einen  Augenblick  zu  halten  geruht.  „Le  beau 
Dieu  de  la  Minerve  ä  Romel"  ist  das  Michelangelo?  Leider  ja,  wie  manches  andere  auch.  Und  es 
scheint  wol  leichter,  mit  dem  Giovannino  in  Berlin  beginnend  den  Weg  zum  grösseren  bis  hinauf 
zum  David  zu  finden,  als  im  auferstandenen  Erlöser  noch  den  edlen  Dulder,  den  Sohn  Mariens  wieder 
zu  erkennen.  Das  bringt  dies  Spiel  der  Gegensätze  zwischen  wirklichem  und  ästhetischem  Mafsstab 
zum  Vorschein,  sobald  wir  den  Giganten  in  der  Mitte  haben. 

Wer  zuerst  den  Einfall  gehabt,  die  lagernden  Gestalten  der  Medici-Gräber  dem  David  auf 
Piazzale  Michelangelo  unter  die  Füsse  zu  geben,  der  ahnte  nicht,  wie  jämmerlich  der  Hirtenknabe 
auch  diese  Goliathleiber  zertreten  werde;  —  er  dachte  gewiss  die  Figuren  nach  ihrem  idealen  Eindruck 
zusammen,  den  sehnigen  Burschen  mit  dem  furchtbaren  Auge  wol  gar  als  kühnen,  nur  geistig  über- 
legenen Bezwinger  der  elementaren  Gewalten,  die  jene  in  so  ungebärdiger  Urkraft  verkörpern. 
Sowie  sie  in  seine  Nähe  kamen,  da  sah  man  sie  zum  Riesenspielzeug  werden.  Doch  nein!  —  man 
hat  es  selbst  dann  noch  nicht  gesehen  und  hat  dies  Göttergeschlecht  mit  aller  Seelenruhe  zu  Sklaven 
werden  lassen,  zu  Gefangenen  eines  florentinischen  Schleuderers  aus  niederem  Volk,  der  vor  den 
uralten  ewigen  Mächten  höchstens  die  Frechheit  des  Emporkömmlings  voraus  hat.  Aber  steht  es 
denn  besser  mit  dem  Originalwerk,  dem  David  aus  Marmor  hier  drinnen  in  der  akademischen  Tribuna? 
Gegen  wen  wird  er  den  ersten  Stein  schleudern,  den  er  schon  lauernd  in  den  Fingern  wägt?  Doch 
gewiss  gegen  den  Unverstand,  der  ihn  in  diesen  Kuppelkäfig  eingesperrt  hat,  im  klassischen  Innen- 
raum eines  Museums  —  quel  mascalzone  fiorentino? 

Das  Bedürfnis  nach  einer  Gesamtansicht  des  Schaffens  grosser  Meister,  das  wir  aus  dem 
Norden  mitbringen,  während  hier  vielleicht  der  Genuss  der  einzelnen  Schöpfung  mehr  zu  seinem 
Rechte  kommt,  —  der  Sinn  für  historische  Auffassung,  der  uns  Deutschen  anerzogen  ist,  erregt  auch 


—     92     — 

vielleicht  den  Wunsch,  diese  Bestandteile  der  Akademie  mit  den  \\'Liken  im  Bargello  vereinif,^  zu 
sehen,  am  liebsten  im  Museo  Nazionale,  wo  die  übrige  Geschichte  der  Skulptur  zusammensteht,  um 
dort  neben  dem  Donatello-Saal  auch  einen  ähnlichen  Überblick  über  die  Bildnerei  Michelangelos  zu 
erlangen.  Dann  aber  würden  wir  weiter  wünschen,  die  beiden  Höhepunkte,  des  Anfangs  und  des 
Endes  einer  langen  stattlichen  Entwickelungsreihe,  auch  hier  m(>glic]ist  klar  und  übersichtlich  aus- 
einander gehalten  zu  sehen.  Und  dazu  sind  wieder  die  Räumlichkeiten  des  alten  Bargello  nicht  eben 
geeignet.  Ausserdem  fehlen  auch  hier  wichtige  Bestandteile,  die  Hauptschätze  des  neuen  Museo 
deir  Opera,  die  in  eine  einheitliche  Florentinische  Skulpturengalerie  ebenso  notwendig  hineingehörten. 
Also  stellen  wir  keine  Forderungen,  die  v'orläufig  wenigstens  auf  unüberwindliche  Hindernisse  stossen, 
und  freuen  uns  des  Fortschrittes,  der  weiteren  Erfolg  verspricht. 


ITALIENISCHE  STVDIEN 

IN 

ANDERN 
SAMMLVNGEN 


RAPHAELS  SKIZZENBUCH  IN  VENEDIG 


Eine  Reihe  von  Federzeichnungen  in  der  Kunstakademie  von  Venedig,  welche  wir  unter  dem 
Titel  „Raphaels  Skizzenbuch"  zu  begreifen  pflegen,  hat  neuerdings  wieder  die  Aufmerksamkeit  der 
Forscher  und  Liebhaber  auf  sich  gezogen:  es  ist  versucht  worden  die  Zusammengehörigkeit  dieser 
Blätter  zu  bestreiten  und  die  Autorrechte  an  verschiedene  Meister  zu  verteilen.  Ein  Skizzenbuch 
Raphaels,  ^das  von  seinen  Anfängen  bis  in  seine  Florentiner  Zeit  hinein  reichen  soll,  mithin  für  die 
ersten  zwanzig  Jahre  des  Künstlers  ein  unschätzbares  Material  zu  intimsten  Beobachtungen  darböte, 
wäre  doch  ein  köstliches  Besitztum  der  Kunstgeschichte,  ja  der  Geschichte  menschlicher  Entwickelung 
überhaupt;  wir  könnten  nicht  dankbar  genug  sein,  dass  es  auf  uns  gekommen,  wo  so  viele  der 
wertvollsten  Denkmäler  verschwunden,  so  schmerzlich  entbehrte  Zeugnisse  auf  immer  verloren  sind. 

Mag  sich  sonst  das  persönliche  Gefühl  des  Einzelnen  in  seinem  Kämmerlein  mit  dem  Wider- 
spruch Andersgläubiger  abfinden,  in  diesem  Fall  ist  es  mit  subjektiven  Meinungen  nicht  getan. 
Wo  so  viel  auf  dem  Spiele  steht,  haben  die  wenigen,  die  berufen  sind,  jedenfalls  die  Pflicht,  unverweilt 
durch  gewissenhafte  Kritik  eine  Entscheidung  herbeizuführen.  Die  nachfolgenden  Zeilen  sollen  den 
Antrag  auf  Dringlichkeit  stellen  und  ihn  mit  einigen  vorbereitenden,  aus  unmittelbarer  Anschauung 
geschöpften  Bemerkungen  motivieren." 

Die  Federzeichnungen  in  Venedig,  um  die  es  sich  handelt,  sind  so  häufig  publiciert  worden, 
dass  es  jedermann  leicht  ist,  sich  mit  ihnen  bekannt  zu  machen.  Sie  sind  von  Scotto  und  Rosaspina 
gestochen,^  von  Alinari,  Perini  und  Braun  photographiert,  von  Ongania  in  Heliotypie  faksimiliert 
worden;  aber  gerade  diese  bequeme  Zugänglichkeit  ist  eine  Hauptursache,  weshalb  die  neueste 
Forschung  so  vielen  Zweifeln  Raum  gegeben  und  in  diesem  Augenblick  unsicher  hin  und  her  schwankt. 
Keine  dieser  Reproduktionen,  selbst  die  Photographieen  von  Braun  und  von  Perini  nicht,  geben  einen 
nur  annähernd  richtigen  Begriff  von  dem  überaus  zarten  Charakter  der  Originale.  Die  Blätter  sind 
bis  auf  wenige  Ausnahmen  mit  feinen  Federstrichen  auf  nicht  ganz  leimfestem  Papier  gezeichnet;  die 


1  Dieser  Aufsatz  erschien  im  XLVIII.  Bande  der  Preussisclien  Jalirbüclaer  1881. 

2  Celotti,  Disegni   originali  di  Raffaello   per  la  prima  volta   publicati,    esistenti   nella    imperial   regia  Accademia  di 
Belle  Arti  di  Venezia.     1829. 


Tinte  hat  einen  hellbräunlichen  fast  blonden  Ton,  der  in  der  Photographie  unfehlbar  schwarz  wird; 
Stellen,  wo  die  Flüssigkeit  ins  Papier  ausgelaufen  oder  die  ursprüngliche  Schärfe  des  Striches  zerrieben 
ist,  werden  durch  den  chemischen  Prozess  völlig  karikiert.  Gerade  der  gewissenhafteste  Forscher, 
der  täglich  mit  den  Photographieen  verkehrt,  ist  so  der  schlimmsten  Infektion  des  Erinnerungsbildes 
ausgesetzt,  das  er  aus  Venedig  von  der  Betrachtung  der  Originalzeichnungen  mitgebracht  und  als 
unveräusserliche  Habe  zu  besitzen  wähnt.    Je   genauer  er  daheim  die  Zweifel  prüft,   die   man  gegen 

diese  Blätter  äussert,  desto  zugänglicher 
dafür  muss  er  werden;  denn  die  viel- 
gepriesene Photographie  lässt  die  leichtesten 
Federzüge  derb  und  ungeschickt  erscheinen 
oder  leiht  flüchtig  hingeworfenen  Skizzen 
ein  ängstlich  pedantisches  Aussehen.  Tritt 
man  jedoch,  vollständig  skeptisch,  auf  jede 
Resignation  gefasst,  wieder  vor  die  Zeich- 
nungen hin,  so  erschrickt  man  wie  völlig 
falsch  die  Vorstellungen  sind,  die  man 
mitbringt,  und  muss  angesichts  einer  solchen 
unbewussten  Vergiftung  des  Gedächtnisses 
erklären,  dass  ein  Urteil  über  diese  Blätter 
überhaupt  nur  vor  den  Originalen  selbst 
gefällt  werden  kann. 

Hier,  bei  unmittelbarer  Anschauung 
erledigen  sich  leicht  einige  Vorfragen,  deren 
sichere  Beantwortung  den  Standpunkt  für 
die  unbefangene  Untersuchung  wesentlich 
mitbestimmt. 

Vom  Maler  Giuseppe  Bossi,  dem 
einstigen  Besitzer,  stammt  die  Annahme, 
diese  Zeichnungen  hätten  zusammengehört 
und  ein  Skizzenbuch  gebildet.  „Es  war 
ein  Bund  von  53  Blättern,  die  etwa  eine 
Spanne  in  der  Höhe  und  weniger  in  der 
Breite  mafsen". '  —  Wenn  das  richtig  wäre,  so  würden  manche  Hypothesen,  die  mit  losen  Blättern 
ein  leichtes  Spiel  treiben,   von  vornherein  eingeschränkt  oder  ausgeschlossen. 

Eine  Anzahl  gemeinschaftlich  ausgestellter  und  tapfer  mitpublicierter  Zeichnungen  der  Venezianer 
Akademie  scheidet  sich  ohne  Mühe  aus.  Die  wunderschöne  Darstellung  Apoll  und  Marsyas  hat 
mehr  als   doppelte  Dimensionen;   minder  gross   ist  der  Unterschied  bei  einem  Streit  um  die  Fahne, 


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[  Memorie  inedite  di  Giuseppe 


Archivio  storico  lombardo  Anno  V.     (l5 


—    97    — 

Reiter  und  Fussgänger,  doppelseitig;  die  Rötelzeichnungen  Moses  vor  dem  feurigen  Busch  nach  dem 
Deckenfresko  der  Stanza  dell'  Eliodoro  und  S.  Paulus  nach  dem  Cäcilienbilde  in  Bologna,  dieselbe 
Figur  von  der  Hand  eines  Kupferstechers,  Tritonen  nach  dem  Triumph  der  Galatea  und  eine  Kampf- 
scene  (Rahmen  XXXV  No.  12),  die  auf  die  Constantinsschlacht  zurückgehen  mag,  gehören  oftenbar 
nicht  hierher.  Ebensowenig  ein  Christuskopf  im  Rahmen  XXVII  No.  10.  Ein  schmales  Blatt  mit 
einer  stehenden  und  einer  knieenden  Frau  in  verehrender  Haltung  gehört  dem  Mariotto  Albertinelli, 
während  ein  Jüngling  mit  gefalteten  Händen,  vielleicht  ein  Hirt  aus  der  Anbetung  des  Kindes 
(XXXV,  8),  bis  auf  weiteres  in  die  Klasse  der  florentinischen  Raffaellinos  zu  verweisen  wäre. 

Einzelne  Blätter,  die  in  Frage  kommen,  sind  offenbar  beschnitten  worden;  sonst  aber  bestätigt 
der  Augenschein  Bossis  Annahme  vollkommen.  Das  Papier  hat  durchgehends  die  nämliche  Farbe 
und,  soweit  dies  bei  der  Einspannung  zwischen  zwei  Glasplatten  konstatirbar,  auch  dieselbe  Textur. 
Mehr  noch  als  die  gleichen  Dimensionen  spricht  die  gleichartige  Behandlung  für  die  Zusammen- 
gehörigkeit, und  der  Zustand  ihrer  Erhaltung  lässt  keinen  Zweifel  übrig,  dass  sie  einem  Buche 
angehörten  und  gemeinsamer  Abnutzung  und  Beschädigung  ausgesetzt  waren.  An  der  einen  Seite  sind 
die  beiden  Ecken  durch  Abstossen  gerundet,  während  die  andere  Seite,  unversehrt  und  gerade 
abgeschnitten,  damals  im  Buchrücken  geschützt  sass.  Ausserdem  trägt  noch  fast  jedes  Blatt,  so 
gerichtet  in  der  Ecke  rechts  oben,  die  fortlaufende  Nummer,  welche  den  Schriftzügen  nach  bis  ins 
siebzehnte  Jahrhundert  zurückreichen  mag.  Jedenfalls  fand  Bossi  diese  Ziffern  vor;  denn  er  erzählt 
ausdrücklich,  beim  Ankauf  der  Sammlung  habe  Fol.  48  gefehlt,  das  er  hernach  unter  anderen,  bereits 
zwei  Jahre  früher  in  Paris,  aus  dem  Nachlass  von  Le  Grand,  erworbenen  Zeichnungen  auffand. ' 
Ausserdem  waren  einzelne  Blätter  in  andern  Sammlungen,  die  wir  heute  als  zugehörig  erkennen, 
gewiss  schon  früher  herausgelöst  und  verzettelt  worden. 

Bei  so  vielen  Anhaltspunkten  muss  man  doch  sofort  darauf  verfallen,  ob  und  in  wie  weit  eine 
Rekonstruktion  der  ursprünglichen  Reihenfolge  möglich  sei?  ^  Natürlich  wird  man  sich  von  vorn- 
herein über  den  Wert  einer  solchen  E^inordnung  der  Blätter  nicht  täuschen.  Es  handelt  sich  ja  nicht 
um  den  Text  einer  Handschrift,  dessen  innerer  Zusammenhang  von  Seite  zu  Seite,  von  Blatt  zu  Blatt 
dadurch  wiederhergestellt  würde.  Im  Gegenteil,  fast  jede  Zeichnung  besteht  für  sich,  nur  selten  ist 
direkte  Aufeinanderfolge  mehrerer  gefordert.  Und  der  Maler  benutzt  die  weissen  Blätter  ganz  wie 
es  ihm  beliebt,  zeichnet  bald  hier  bald  dort  hinein,  hier  wird  eine  Reihe  von  Vorderseiten  benutzt, 
deren  andere  Hälfte  er  vielleicht  nach  geraumer  Zeit  gelegentlich  ausfüllt;  dort  greift  die  eifrige  Hand 
nach  der  ersten  besten  Stelle,  um  eine  vorübergehende  Erscheinung  in  flüchtiger  Skizze  zu  fesseln; 
ein  ander  mal  wird  wenigstens  nach  einem  Platz  gesucht,  wo  nicht  allzu  heterogene  Dinge  dazwischen 
kommen.     Genug,  die  Herstellung  der  örtlichen  involviert  nicht  ohne  weiteres  auch  die  zeitliche  Folge. 


I  „Per  combinazione  veramente  singolare  trovo  mancarvi  il  foglio  48  e  osservo  tra  i  fogli  vicini  alcune  figure 
panneggiate  nello  Stile  d'una  figurina  di  Raffaello,  che  feci  acquistare  a  Parigi  due  anni  sono  alla  morte  di  Le  Grand. 
La  cerco  nel  volume  della  Scuola  antica  e  romana,  e  riconosco  non  solo  essere  della  stessa  mano,  ma  essere  lo  stesso 
foglio  48  che  mancava  al  libro"  a.  a.  O.  S.  288.  Lermolieff  verschweigt  diesen  Umstand.  Allerdings  läuft  die  noch  vor- 
handene Paginierung  von  6  bis  55;  doch  scheint  Bossi  die  einzelnen  Blätter  des  losen  Bündels,  er  sagt  53  Stück,  gezählt 
zu  haben,  wozu  denn  noch  das  nachträglich  gefundene  Fol.  48  als  No.  54  zuzurechnen  wäre;  dann  hätten  wir  unsererseits 
von  Fol.  55  rückwärts  gezählt  bis  Fol.  2,  d.  h.  ohne  den  Titel.  54  Stück. 


Für  die  Bestimmung  der  letzteren  müssen  die  Gegenstände  der  Darstellung,  durchgehende  Vorbilder, 
Stil  und  Technik  u.  dgl.  zu  Hülfe  kommen.  Jedenfalls  aber  wird  Eins  gewonnen:  in  ursprünglicher 
Reihe  angeschaut  müssen  sich,  wenn  irgendwo,  die  natürlichen  selbstredenden  Kombinationen  ergeben; 
nur  so  kann  man  auf  legitimem  Wege  die  Vorstellung  erwecken,  als  folge  man  beim  Durchblättern 
dem  Meister  selbst  in  seinen  Studien  nach. 

Um  ganz  objektiv  zu  verfahren,  lassen  wir  für  die  Herkunft  der  einzelnen  Zeichnungen  alle 
Möglichkeiten  offen,  die  bei  einem  solchen  Taccuino  statthaben.  Vor  allen  Dingen  darf  nicht 
abgewiesen  werden,  dass  mehrere  Hände  das  Buch  benutzt,  sei  es  zur  Zeit  des  Eigentümers  selbst, 
also  etwa  von  Lehrern  oder  Genossen,  mit  denen  er  arbeitete,  sei  es  von  späteren  Besitzern. 

Nur  so  viel  darf  wol  ohne  Widerspruch  vorab  erklärt  werden:  die  Mehrzahl  der  Zeichnungen 
geht  mit  Bestimmtheit  auf  die  umbrische,  oder  wenn  man  will  umbroflorentinische  Schule  beim 
Übergang  aus  dem  XV.  ins  XVI.  Jahrhundert  zurück. 

Mit  Fol.  6,  wo  die  heute  noch  lesbare  Paginierung  beginnt,  setzt  sogleich  eine  Folge  von 
Studien  ein,  deren  Stil  unzweifelhaft  auf  Luca  Signorelli  hinweist.  Es  sind  grösstenteils  Aktfiguren, 
deren  Stellungen  ganz  ähnlich  oder  doch  mit  unmittelbar  einleuchtender  Modifikation  in  bekannten 
Werken  des  Meisters  vorkommen.  Ein  junger  Mann  mit  erhobener  Posaune  nach  links 
gewendet  (Fol.  6a);  ein  Jüngling,  der  auf  der  linken  Hand  eine  Schale,  in  der  Rechten  einen  Krug  zu 
halten  scheint,  mit  dem  Fuss  eines  Knieenden  daneben  (7  a);  zwei  nackte  Jünglinge  von  hinten 
gesehen,  mit  einem  Kind  im  Lauf  korb  zur  Seite  (8  a);  ein  stehender  Krieger  nur  mit  einem  Helm 
auf  dem  Kopf,  in  Rückansicht  (8b);  eine  Gruppe  von  vier  jungen  Leuten,  deren  Mittlerer  gekrönt 
wird,  während  ein  Kind  zu  seinen  Füssen  spielt  (iia);  ein  nackter  Mann,  der  eine  Keule  schwingt, 
um  ein  neben  ihm  liegendes  Rind  zu  treffen  (12  a),  gehören  jedenfalls  in  den  Kreis  der  Erfindungen 
Signorellis,  welche  in  den  Weltgerichtsscenen  zu  Orvieto  und  den  Clairobscur-Medaillons  darunter(i  50off.), 
in  den  Geschichten  des  Totilas  zu  Montoliveto  maggiore  (1497)  und  in  mythologischen  Darstellungen 
wie  die  Erziehung  des  Pan,  im  Palazzo  Petrucci  zu  Siena  (1498)  verwertet  wurden.  Auch  die  fliehende 
Frau,  die  ihren  Säugling  vor  dem  Schergen  des  Herodes  schützt  (7b),  verrät  die  charakteristischen 
Merkmale  Signorellis  in  den  Bewegungen,  besonders  in  der  Beinstellung,  wie  in  der  Gewandung  und  im 
Kopfputz.  Im  Dom  von  Orvieto,  links  über  der  Tür  zur  Capeila  S.  Brizio  begegnen  uns  ähnliche 
Motive.  Der  flötenblasende  Hirt  nach  links  hinten  gewendet,  mit  einer  Armstudie  daneben  (14  a), 
kehrt  fast  ebenso  auf  dem  Tafelbilde  der  Erziehung  des  Pan  im  Museum  zu  Berlin  wieder,  und 
Fol.  16  bringt  eine  verwandte  Figur,  mehr  in  Profil  nach  links  schreitend.  Selbst  in  den  tanzenden 
Putten  (8  b),  einem  Frauenkopf  (8  a)  und  der  eingerahmten  Halbfigur  der  Madonna  mit  dem  Kinde, 
das  an  einem  Kreuze  spielt  (13  a),  zeigen  sich  noch  hinreichende  Spuren  der  Auffassung  und  des 
Geschmacks,  die  wir  an  gleichzeitigen  Werken  Signorellis  wahrnehmen. ' 

Gerade  diese  Zeichnungen,  wie  besonders  die  beiden  Figuren  aus  dem  Kindermord,  beseitigen 
indess   andrerseits  jeden  Gedanken,    als  hätten  wir  Signorelli    selbst  zu    erkennen.     Mehrfach  treten 

I  Grotteskenornamente  auf  den  Rückseiten  einiger  Blätter  können  ebenso  wol  mit  der  Dekoration  des  .Signorelli 
z.B.  in  Orvieto,  als  mit  Arbeiten  perusisclier  Maler  um  1500  zusammenhängen.  Aus  Sta.  Maria  del  Popolo  zu  Rom  stammen 
sie  nicht.   Vgl.  m.  Vortrag:  Der  Eintritt  der  Grottesken  in  die  Dekoration  der  Renaissance  im  Jahrb.  d.  k.  pr,  Kunstsmlg.  i88l. 


* 


—     99    — 

Anzeichen  hervor,  dass  wir  es  mit  einer  Jüngern  Hand  zu  tun  haben,  die  nach  Vorlagen  des  Cortonesen 
sich  übt,  vielleicht  unter  persönlicher  Leitung  des  Meisters,  welcher  am  Ende  der  neunziger  Jahre, 
wohin  diese  Darstellungen  ohne  Zweifel  gehören,  auf  der  Höhe  seiner  künstlerischen  Kraft  und  seines 
Ruhmes  stand. 

Eine  andere  Folge  von  Skizzen  führt  uns  noch  weiter  zurück  und  zwar  nach  Urbino.  Hier 
befand  sich  im  herzoglichen  Schlosse  eine  Reihe  von  Idealbildnissen  berühmter  Dichter  und  Philosophen, 
weltlicher  und  geistlicher  Schriftsteller,  welche  der  Herzog  Federigo  von  Montefeltre  für  sein 
Studirzimmer  hatte  malen  lassen.  „Quod  non  fecerunt  barbari,  fecerunt  Barberini",  sagt  man  in  Urbino : 
auch  unsere  28  Porträts  sind  durch  diese  geistlichen  Herren  von  [ihrem  ursprünglichen  Standort 
entfernt  und  befinden  sich  heute  zur  Hälfte  noch  zu  Rom  im  Palast  Barberini,  zur  anderen  Hälfte  im 
Louvre  zu  Paris.  Zwölf  solcher  Bildnisse  sind  im  venezianischen  Skizzenbuch  nachgezeichnet,  das  erste 
Fol.  21  b  hat  die  späte  Beischrift  Quintus  Curtius  erhalten,  das  nächste  Fol.  25  a  ist  ohne  Namen, 
die  folgenden  haben  die  Unterschriften:  PLATONI.  —  ARISTOTELI.  STAGIRITAE  —  ANNAEO 
SENECAE  CORD  VE.  —  M.  TVLIO.  CICER.  —  HOMERO  SMYRNAEO.  —  CL.  PTOLOMAEO. 
ALEX.  —  FI.  BOETIO  (beide  auf  Fol.  29  b)  —  P.  VERG.  MARONI.  MANTVANO.  —  VITORINO. 
FELTRINO  und  endlich  ANAXAGORA,  den  wir  unter  den  Bildern  in  Rom  |und  Paris  ebenso  wenig 
wie  Quintus  Curtius  genannt  finden. 

Die  Gemälde  zeigen  ein  Gemisch  von  flämischer  Auffassung  und  eifiem  dem  Melozzo  und 
dem  Giovanni  Santi  gemeinsamen  Stil,  Elemente  die  auch  in  der  malerischen  Ausführung  an 
einzelnen  mehr  gesondert,  an  anderen  enger  verquickt  hervortreten  Sie  sind  um  das  Jahr  1474 
gemalt,  und  ihre  Nachzeichnungen  können  nur  in  Urbino  selbst  entstanden  sein.  Kleine  Abweichungen 
der  letzteren  von  den  ausgeführten  Malereien  und  sonstige  Eigentümlichkeiten  machen  es  wahr- 
scheinlich, dass  auch  diese  Studien  nach  den  Originalzeichnungen  der  Meister,  nicht  nach  den  Bildern 
selbst,  kopiert  wurden,  und  so  werden  wir  wol  direkt  in  das  Atelier  der  Urheber,  zu  Giovanni  Santi 
und  Melozzo  nebst  Justus  von  Ghent  oder  deren  Erben  gewiesen. 

Auf  diese  älteren  urbinatischen  Lokalmeister  gehen  noch  andere  Blätter  des  Skizzenbuches 
zurück:  so  die  runzlige  Hand  auf  Fol.  49a  und  eine  andere  mit  Cirkel  auf  Fol.  12b;  das  Abenteuer 
mit  dem  Löwen,  der  einen  starken  Mann  zu  Boden  geworfen  und  brüllend  über  dem  Schreienden 
steht,  während  eine  mächtige  Dogge  bellend  assistiert,  und  ein  Hirt  in  der  Ferne  ruhig  sitzend  kaum 
seine  Dudelsackpfeife  vom  Mund  absetzt.'  Die  Erfindung  dieser  Scene  ist  noch  ebenso  naiv  wie  die 
Darstellung  des  Kindermordes  auf  einem  der  allerersten  Blätter;  aber  die  Ausführung  zeigt  den 
grossen  Fortschritt  der  nämlichen  Hand,  die  jenen  kindlichen  Versuch  gewagt.  Als  vorbereitende 
Skizzen  mögen  die  Löwen  bezeichnet  werden,  welche  sich  auf  den  Rückseiten  von  Fol.  47  und  48 
finden.  Hierher  gehören  ferner:  ein  knieender  Geistlicher,  der  sich  anbetend  im  Profil  nach  rechts 
wendet  (Fol.  23  b)  und  ein  Alter,  der  in  gebückter  Haltung  sinnend  nach  rechts  gewendet  dasitzt, 
während  ein  Genius  hinter  ihm  Blumen  über  ihn  ausstreut.  Dies  Motiv  erinnert  an  Signorellis  Engel 
in  Orvieto,  die  Formgebung  dagegen  bereits  an  Perugia.     Endlich  pflanzt  sich  dieselbe  Technik  noch 


I  Der   liegende   Mann    lässt    sich    einem  Krieger   auf  Giovanni   Santis  Auferstehung  Christi   in  Cagli   vergleichen, 
:ugt  aber  wo!  schon  den  Einfluss  des  Antonio  Pollajuolo  auf  die  Vorlage,  die  hier  benutzt  wird. 


—      100      — 

in  andern  Blättern  fort,  wie  in  einer  Madonna  mit  dem  schlafenden  Kinde,  in  mehreren  Frauenköpfen, 
in  der  Kinderschar,  die  mit  einem  Schvveinchen  spielt,  und  in  dem  Porträtkopf  eines  jungen  Mannes 
mit  Malerkappe,  einmal  in  gerader  Haltung  nach  links,  und  nochmals  auf  die  Hand  gestützt  nach 
oben  blickend  (i8b),  mit  der  Aufschrift:  „d  vnz  B. —  L.  paro",  die  Signorelli  wieder  nahekommt. 

Dazwischen  treffen  wir  auf  kindlich  behandelte  Stadtansichten,  Berghänge,  Felsen  und  dergleichen 
landschaftliche  Stücke,  die  oft  ganz  flüchtig  skizziert,  aber  unverkennbar  auf  Wanderungen  in  der 
Nähe  von  Urbino  aufs  Papier  geworfen  wurden:  wenn  Urbino  selbst  sogar  auftritt,"  so  begrüssen  wir 
auch  Motive,   die   uns  Castel  Durante  und  Pian   de  Meleto,    Cagli  und  Fossombrone   ins  Gedächtnis 


zurückrufen  und  dürften  somit  die  bemannten  Galeeren  dazwischen  nur  auf  die  nächstgelegenen 
Hafenorte  wie  Fano  und  Pesaro  beziehen  können.  Wer  wollte  sich  darnach  dem  Gedanken 
verschliessen,  dass  die  jugendliche  Hand  und  Phantasie  eines  urbinatischen  Künstlers  viele  dieser  Blätter 
mit  Versuchen  gefüllt,  die  bald  mehr,  bald  minder  gelungen,  doch  einen  durchgehenden  Charakter 
zeigen,  und  mit  den  früher  besprochenen  Studien  nach  Luca  Signorelli  sehr  wol  verträglich  wären! 
Nun  aber  tritt  nach  der  Mitte  des  Buches  noch  eine  dritte  Reihe  von  stilistisch  zusammen- 
gehörigen Zeichnungen  auf,  nach  welcher  man  bisher  vorwiegend  das  Ganze  beurteilt  und  datiert  hat. 


'  Die  nebenstehende  Abbildung  giebt  das  Scliloss  i 
aneben  links. 


i  Substruktionen   und    die  Cliorpartie    des  ehemaligen 


I 


Sie  führt  uns  mit  Bestimmtheit  auf  Perugia  und  den  Stil  der  beiden  Hauptmeister  dieser  Schule  an 
der  Scheide  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  Bernardino  Pintoricchio  und  Pietro  Vannucci,  genannt 
Perugino.  Das  Wappen  der  Stadt,  der  Greif,  auf  einem  dieser  Blätter,  mag  als  Ortsangabe  zuerst 
erwähnt  werden.  Die  Richtung  selbst  setzt  entschieden  ein  mit  zwei  Propheten  auf  Fol.  13b  und  14b, 
welche  noch  einen  älteren  grossartigeren  Stil  Peruginos  repräsentieren  als  jene  matte  Nachblüte  im 
Cambio,  bei  der  die  letzte  Kraft  verbraucht  ward.  Auch  der  heilige  Andreas  ist  ohne  Frage  dem 
Fiorenzo  di  Lorenzo  verwandt  und  streift  nahe  an  seine  Apostelgestalten  auf  dem  Altarstück  der 
Galerie  von  Perugia,  das  neben  seinem  vollen  Namen   die  Jahreszahl   1487   enthält.'     Recht   hölzern 


W:' 


ff 


" 

^<'X\M 

erscheint  dagegen  der  heilige  Sebastian,  den  der  Zeichner  mit  auffallender  Geduld  stückweise  auf 
drei  Seiten  (45  a,  46a,  46b)  wiedergegeben  hat,  ein  Verfahren  mit  dem  kleinen  Buche,  das  seine 
Bestimmung  völlig  verkennt,  also  einen  fremden  Eingriff  verrät. 

Ganz  anders  gedacht,  ganz  im  Sinne  der  kleinlichen  Verhältnisse,  und  mit  der  Vorliebe  für 
hagere  Körper,  enge  puppenhafte  Gesichter  und  konventionelle  Gebärden,  welche  dem  Pintoricchio 
seit  seiner  Rückkehr  aus  Rom  (1498)  eigen  sind,  ist  die  Figur  eines  langbärtigen  Greises  mit  Turban 
behandelt,  der  in  schleppendem  Gewände  nach  rechts  schreitend  den  Kopf  auf  die  andere  Seite 
dreht  (l6b).     Individueller  belebt  als  man  bei  Pintoricchio  damals  erwartet  ist  wenigstens  eine  Gruppe 


I  Er  findet  sich  in  der  Tat  unter  Fiorenzos  Aposteln  am  Hochaltartabernakel  v.  S.  Giov.  i 


von  Köpfen,  die  augenscheinlich  Zuschauern  eines  Vorgangs  gehören.  Auf  eine  Arbeit  des  selben 
Meisters  müssen  die  zwei  Reiter  zurückgehen,  deren  einer  nach  rechts,  der  andere  nach  vorn 
gewendet  ist;  doch  geht  auch  hier  das  Verständniss,  besonders  in  den  Köpfen,  bereits  über  Bernardinos 
Leistungen  hinaus  (47  a). 

Von  Fol.  48  bis  ans  Ende  des  Buches  schliessen  sich  gleichartige  Übungsblätter  an,  deren 
Herkunft  letztlich  ins  Atelier  Peruginos  zurück  verfolgt  werden  muss.'  Eine  junge  Frau,  die  knieend 
nach  rechts  gewendet,  die  Hände  zu  irgend  einer  Manipulation  erhebt,  verrät  uns,  in  welchem  Umkreis 
wir  die  Vorbilder  zu  suchen  haben:  es  ist  die  Frau,  welche  die  Beschneidung  Mosis  vollzieht,  auf 
einem  Fresko  der  Cappella  Sistina  des  Vatikans;  Perugino  hat  es  unter  Beihülfe  des  Pinturicchio  ums 
Jahr  1482  gemalt.  Vergleicht  man  die  vorliegende  Zeichnung  mit  der  Figur  des  Wandgemäldes,  so 
wird  man  die  naheliegende  Vermutung,    als   hätten  wir  eine  vorbereitende  Studie  des  ausführenden 


Meisters  selbst  vor  uns,  doch  baldigst  aufgeben.  Die  Haltung  stimmt  in  Zufälligkeiten,  die  sich  nur 
erklären,  wenn  man  bereits  die  zugehörigen  Figuren  der  Gruppe  daneben  hat,  mit  dem  ausgeführten 
Fresko  überein;  die  Stellung  der  Finger  ist  zu  sicher,  ohne  jegliches  Pentimento,  gezeichnet;  andrer- 
seits trägt  die  immerhin  ziemlich  oberflächliche  Skizze  durchaus  nicht  den  Charakter  ursprünglicher 
Erfindung,  sondern  ist  viel  zu  regelmässig,  berechnet  und  befangen.  —  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich 
mit  dem  Frauenkopf  auf  Fol.  17b  links  unten;  man  hat  gemeint,  es  sei  die  Studie  zum  Kopf  der 
Ziporah,  die  ihren  Knaben  führt,  eben  auf  diesem  Fresko  der  Reise  Mosis.  Die  Übereinstimmung 
ist  auch  hier  in  Nebensächlichem  zu  genau,  in  den  feineren  Qualitäten  gar  nicht  vorhanden.  So  durfte 
man  auch  den  Kopf  daneben  als  den  der  sitzenden  Frau  zu  äusserst  rechts  im  Fresko  bezeichnen 
und  in  den  Oberen  Versuche  für  die  Krugträgerin  links  im  selben  Bilde  erkennen;  aber  nur  ganz 
äusserliche  Beobachtung  kann  sich  dabei  beruhigen. 


t  Vgl. 


1  Folgenden  Preuss.  Jahrb.  XLVII.  S.  49  ff-     (Jai 


—     103    — 

Bestimmter  noch  als  diese  beiden  Zeichnungen  von  der  „Reise  Mosis"  sind  andere  aus  der 
„Einsetzung  des  Schlüsselamtes"  herzuleiten,  die  Perugino  in  einem  anderen  Fresko  derselben  Kapelle 
dargestellt.  Der  Jünger  rechts  vom  knieenden  Petrus,  der  die  eine  Hand  auf  seine  Brust  legt  und 
mit  der  andern  eine  Schriftrolle  hält,  ist  im  Skizzenbuch  ohne  dieses  Papier  gegeben  und  mit 
Quadratnetz  überzogen;  desgleichen  sein  älterer  Nachbar  zur  Rechten.  Der  nämliche  Jüngling  kehrt, 
wenig  verändert  von  der  Gegenseite  genommen,  auf  dem  nächsten  Blatte  wieder.  Die  letzte  Skizze 
dann  stellt  den  Jünger  zu  äusserst  links  im  Fresko  dar  und  neben  ihm  eine  andere  gleichartige 
Gestalt,  die  im  Wandgemälde  durch  'eine  Porträtfigur  ersetzt  ward.  Alle  diese  Umstände  führen 
darauf  hin,  dass  wir  eine  frühere  Redaktion,  Teile  eines  hernach  veränderten  Entwurfes  für  die 
Schlüsselübergabe  vor  uns  haben.  So  würden  sich  auch  zwei  ganz  analoge  Figuren  auf  Fol.  54a  als 
solche  für  die  rechte  Seite  bestimmte,  bei  der  Ausführung  durch  Porträts  verdrängte  Zuschauer  erklären.' 
Es  bliebe  also  nur  die  Alternative:  diese  Blätter  des  Skizzenbuches  sind  entweder  die  Original- 
entwürfe  des  ausführenden  Meisters  von  1483,  oder  aber  spätere  Reproduktionen  des  ursprünglichen 
Entwurfes,  Studien  eines  Schülers  nach  dem  Carton  Peruginos.  Die  Mehrzahl  ist  mit  Quadratnetz 
überzogen,  man  könnte  meinen  zur  Übertragung  in  grösseren  Mafsstab;  doch  wäre  dies  bei  Blättern, 
die  im  Buche  festsitzen,  mindestens  unbequem  gewesen.  Da  nun  allen  diesen  Skizzen  durchaus  der 
originäre  Charakter  frischer  Erfindung  abgeht,  vielmehr  eine  gewisse  Nachlässigkeit  und  Äusserlichkeit 
anhaftet,  so  erklären  wir  uns  für  die  letztere  der  beiden  Möglichkeiten,  um  so  mehr  als  die  nämlichen 
Figuren  in  zahlreichen  Variationen  auf  späteren  Arbeiten  Peruginos,  Pintoricchios,  Raphaels  und  der 
ganzen  perusischen  Schule  vorkommen.  —  Pietros  Cartons  zur  „Übergabe  der  Schlüssel",  zur 
„Reise  Mosis"  und  zur  „Taufe  Christi"  waren  jedenfalls  neben  anderen  Vorbildern  aus  seiner  frucht- 
barsten Periode  zum  Studium  seiner  Schüler  und  zur  Benutzung  seiner  Gehülfen  im  Atelier  aufgestellt. 
Solche  Übungsblätter  eines  Lehrlings  sind  auch  diese  Zeichnungen  im  venezianischen  Skizzenbuch, 
und  zwar  aus  einer  Zeit,  wo  mit  diesem  Schulgut  bereits  recht  mechanisch  umgegangen  wurde. 
Gleichartige  Gewandfiguren  dazwischen  mögen  aus  andern  Cartons  des  Meisters  herrühren;  z.  B.  die 
knieende  Jungfrau,  die  ofienbar  das  Kind  verehrt,  auf  51b,  dankt  ihren  Ursprung  vielleicht  jener 
Darstellung  der  „Geburt  Christi",  die  Perugino  an  der  Altarwand  der  Sixtinischen  Kapelle  gemalt  hatte, 
wo  hernach  ein  Befehl  Pauls  III.  dem  Weltgericht  Michelangelos  Platz  schuf,  dieselbe  Figur  kommt 
auch  in  Peruginos  Anbetung  in  Villa  Albani  von  1489  vor,  —  und  wir  hätten  in  dieser  Skizze  eine 
Wiederholung  desselben  Originals,  das  Pintoricchio  in  den  neunziger  Jahren  in  der  ersten  Kapelle  von 
Sta.  Maria  del  Popolo  benutzt  hat.  Andere  Jünger-  und  Frauengestalten  dürften  sich  in  gleicher 
Weise  auf  die  „Findung  Mosis"  zurückführen,  wären  diese  Gemälde  der  Altarwand  nicht  ebenso  dem 
grossen  Fresko  Michelangelos  zum  Opfer  gefallen.  Peruginos  Schöpfungen  für  die  Sixtinische  Kapelle 
sind  jedenfalls  als  die  Musterleistungen  zu  betrachten,  an  denen  Pintoricchio  so  gut  wie  die  ganze 
Schule  von  Perugia  seitdem  gezehrt  hat. 


[  Verwandt  ist  auch  das  Blatt  in  Lille,  Bra 


II. 

Auf  die  letztbesprochene  Reihe  von  peruginesken  Figuren  und  ihre  oberflächliche  Indentifizierung 
mit  den  Freskomalereien  in  der  Cappella  Sistina  gründet  Ivan  Lermolieff  seinen  sogenannten  Beweis, 
dass  die  bei  weitem  grösste  Zahl  dieser  schönen  Federzeichnungen  in  Venedig,  welche  der  verstorbene 
Professor  Bossi  zuerst  wieder  für  Raphaels  Eigentum  erklärt  hat,  „keinem  andern  gehören  als  dem 
armen  verkannten  Bernardino  Pinturicchio",  und  dass  sich  in  dem  Band,  den  wir  das  venezianische 
Skizzenbuch  nennen,  ausserdem  nur  „noch  zwei  Zeichnungen  von  Raphael,  ein  paar  von  Antonio 
del  Pollajuolo  nebst  einigen  anderen  unbedeutenden  aus  der  Peruginischen  Schule"  befänden. 

Nun  sind  aber  diese  von  Lermoliefif  anerkannten  „paar  Zeichnungen  von  Antonio  del  Pollajuolo" 
durchaus  keine  Originale  dieses  Meisters,  sondern  Wiederholungen  derselben  Schülerhand  nach 
Vorlagen   von   dem   hochberühmten  Zeichner,    nach   denen    so  viel    andere  Zeitgenossen   sich   auch 

gebildet  haben.  Und  wie  wenig  die  letztgenannten 
Gewandstudien  den  Charakter  von  Originalentwürfen, 
oder  auch  nur  von  sorgfältigen  Ausarbeitungen 
Pinturicchios  nach  flüchtigen  Skizzen  des  Perugino 
an  sich  tragen,  ist  oben  dargetan.  Ebenso  wenig 
aber  wie  um  1482  diese  Ankleidepuppen,  kann  der 
Altersgenosse  Peruginos  „in  viel  späterer  Zeit"  die 
Nachbildungen  nach  Luca  Signorelli  gemacht  haben. 
Die  Erfindungen  des  Meisters  von  Cortona  gehören, 
wie  wir  nachgewiesen,  in  die  zweite  Hälfte  der 
neunziger  Jahre,  vielleicht  gar  an  den  Eingang  des 
Cinquecento,  in  eine  Periode  also,  wo  Bernardino 
Pinturicchio  ebenfalls  in  seiner  besten  Kraft  und 
als  Hofmaler  Papst  Alexanders  VI.  auf  einer  Höhe 
des  Ruhmes  stand,  wo  er  wenig  aufgelegt  war, 
die  Skizzen  des  Cortonesen  nachzustudieren.  Diese 
Blätter  des  venezianischen  Albums  zeigen  ausserdem  die  unverkennbaren  Merkmale  einer  ungeübten 
Hand,  welche  unmöglich  einem  fünfzigjährigen,  vielerfahrenen  und  damals  anerkanntermafsen 
routinierten  Maler  zugemutet  werden  dürfen.  Von  einer  Beziehung  Pinturicchios  zu  den  urbinatischen 
Lokalmeistern,  oder  gar  von  einem  Aufenthalt  in  Urbino  und  Umgegend,  welche  bei  der  zweiten 
Reihe  von  Skizzen  notwendig  vorausgesetzt  werden  mussten,  wissen  wir  garnichts. 

Indessen,  es  ist  nicht  meine  Absicht,  dieser  Kontroverse  jetzt  schon  näher  zu  treten,  ehe  wir 
eine  gründlichere  Charakteristik  des  Bernardino  Pinturicchio  besitzen.  ^  Auch  die  Lösung  der  Skizzen- 
buchfrage  kann  nur  mit  gewissenhafter  Berücksichtigung  des  gesamten  hierher  gehörigen,  in  andern 
Sammlungen  vorhandenen  Zeichnungsmaterials  vollbracht  werden.  Eine  solche  genaue  Verwertung 
der  verwandten  Denkmäler  würde,  davon  bin   ich  fest   überzeugt,    durch  streng  methodische  Arbeit 


'  Seither   ist   ein   weiter' 
Meyers  Künstlerlexikon  unter  dei 


'  Beitrag   dazu   in   meiner  Schrift  „Pinturicchio    in  Rom",   Stuttgart    1882  gegeben  i 
Namen  „Betti"  eine  Zusammenfassung  versucht  worden. 


-     I05    — 

auch  über  die  Autorfrage  eine  befriedigende  Entscheidung  herbeiführen,  die  gegen  leichtfertige  Angriffe 
und  das  willkürliche  Spiel  subjektiver  Kennerurteile  gesichert  wäre.  Resultate,  die  auf  legitimem 
Wege  und  mit  anerkanntem  Verfahren  erbracht  sind,  können  ja  durch  ein  einfaches  Dekret  nicht 
kassiert  werden;  sondern  jedermann  muss  sich  redlich  mit  ihnen  abfinden. 

Solange  jedoch  diese  Arbeit  nicht  getan  ist,  mag  wenigstens  ein  Urteil  berechtigt  erscheinen, 
das  aus  eingehender  Beschäftigung  erwachsen  ist.  Ich  vermag  nur  meine  bereits  früher  ausgesprochene 
Überzeugung  zu  wiederholen,  dass  dies  venezianische  Skizzenbuch  keinem  andern  als  dem  jungen 
Raphael  von  Urbino  gehört  haben  kann. 

Den  Ausschlag  giebt  hierbei  zunächst  natürlich  der  unmittelbare  Eindruck  der  Zeichnungen 
selbst.  Während  alle  bisherigen  Reproduktionen  ein  vielfach  entstelltes  Ansehen  darbieten,  indem 
sie  die  Abstufungen  des  Farbenauftrages  nicht  getreu  wiedergeben,  die  Unterschiede  zwischen  den 
leichten  und  kräftigen  Zügen  verwischen,  die  Klarheit  und  Schärfe  des  Striches  abstumpfen,  übt  der 
Anblick  der  Originale,  obschon  'der  Zustand  ihrer  Erhaltung  zu  wünschen  übrig  lässt,  doch  einen 
Reiz,  der  alle  Zweifel  überwindet,  mag  man  auch  —  wie  es  mir  erging  —  mit  noch  so  skeptischen 
Gesinnungen  gekommen  sein.^  Gleicht  ihr  Aussehn  doch  aufs  Haar  der  Doppelzeichnung  im  Berliner 
Kupferstich-Kabinet,  mit  dem  Entwurf  zur  Madonna  Connestabile  auf  der  einen  und  dem  Entwurf 
zur  Madonna  del  Duca  di  Terranuova  auf  der  andern  Seite.  ^ 

Ausserdem  haben  wir  für  einige  dieser  Blätter  bereits  früher  einen  so  engen  Zusammenhang' 
mit  unbezweifelten  Gemälden  und  zahlreichen  in  anderen  Sammlungen  befindlichen  Zeichnungen 
Raphaels  nachgewiesen,^  dass  dadurch  auch  die  nächstverwandten  Blätter  des  Skizzenbuches  demselben 
Meister  zufallen.  Nur  auf  ein  Hauptstück  mag  hier  mit  allem  Nachdruck  hingewiesen  werden:  das 
Selbstporträt  des  höchstens  fünfzehnjährigen  Raphael  in  der  Zeichnungssammlung  zu  Oxford,  in  dem 
wir  doch  sicher  einen  Mafsstab  dafür  besitzen,  was  wir  diesem  Künstlerknaben  zutrauen  dürfen  und 
müssen.  ■»  —  Gewiss  niemand  wird  die  herrliche  Studie  nach  einem  antiken  Relief  anzweifeln,  die  auf 
der  einen  Blattseite  den  Kampf  zweier  Fussgänger  gegen  einen  Reiter,  auf  der  andern  einen  Fahnen- 
träger nach  linkshin  schreitend,  in  nackter  Schönheit  darstellt,  —  oder  die  ganz  verwandten  Speer- 
träger, die  nach  rechts  einen  Angriff  machen,  und  zu  der  im  Louvre  befindlichen  Darstellung  eines 
Sturmes  auf  Perusia  Augusta  gehören,  die  dagegen  als  Kopie  von  Schülerhand  zu  gelten  hat.  s 

Endlich  haben  wir  in  der  Gesamtheit  dieser  Skizzen  einen  so  reichhaltigen  Entwickelungsgang 
vor  uns,  dass  die  Auswahl  unter  den  umbrischen  Malern  beim  Übergang  des  Quattrocento  ins 
Cinquecento  wahrhaftig  nicht  gross  bleibt  und  die  Entscheidung  nicht  schwer. 


1  Gänzlich  irreführend  sowol  der  Auswahl  wie  der  Wiedergabe  nach  sind  die  Holzschnitte  des  Seemannsche 
Verlages  zu  dieser  Frage. 

2  Vergl.  über  diese  Zeichnung  Lippmanns  Aufsatz  im  Jahrbuch  der  Königl.  Preuss.  Kunstsammlungen  II,  i,  wo  di 
denselben  Gegenstand  darstellende  Federzeichnung  in  Lille  mit  Unrecht  als  späte  Kopie  verworfen  wird:  sie  ist  allerding 
nur  zum  Teil  alt  und  echt. 

3  Vgl.  Raphael  und  Pinturichio  in  Siena,  Stuttgart   1880. 

4  Ich  darf  mich  hierfür  auf  das  Urteil  des  Nestors  deutscher  Kunstforschung  in  Florenz,  Karl  Eduard  von  Liphai 
berufen.     Man  vergleiche  doch  den  weibl.  Kopf  der  Sammlung  Malcolm  (Br.  Ii6)  und  den  heil.  Thomas  in  Lille. 

5  Venedig,  Rahmen  XXXV,  9  mit  der  Nadel  durchstochen  und  auf  der  Rückseite  nachgezogen.  Vgl.  ausser  der 
Louvreblatt  auch  Wien,  Albertina,  Braun   154. 

14 


—     io6    — 

Überblicken  wir  also  diese  Reihen  von  Studien  einmal  unter  der  Voraussetzung,  dass  sie  dem 
jungen  Raphael  gehören.'  Vielleicht  wird  man  merken,  dass  sich  dann  alles  wie  von  selbst  in  die 
bekannten  Tatsachen  seines  Bildungsganges  einordnet,  ja,  dass  hier  erst,  an  der  Hand  dieses  Skizzen- 
buches eine  befriedigende  Einsicht  in  sein  Werden  und  Wachsen,  eine  Vorstellung  über  die  Haupt- 
faktoren gewonnen  wird,  die  zusammenwirken  und  ineinandergreifen  mussten,  um  eine  solche 
Erscheinung  hervorzubringen. 

Man  hat  so  oft  das  Kind  Raphael  in  seiner  Umgebung  zu  fassen  gesucht  und  mit  haus- 
väterlicher Phantasie  geschildert,  wie  ihn  Papa  und  Mama  geliebt,  Ohm  und  Base  miterzogen  u.  s.  w. 
Unmittelbarer  als  irgendwo  begegnen  wir  dem  heranwachsenden  Gesellen  hier,  wo  er  auf  Spazier- 
gängen um  Urbino,  auf  weiteren  Ausflügen  in  die  Gebirgstäler  ringsum  das  neue  Taccuino  an  der 
Seite  führt.  Im  frischen  Eifer  sind  die  weissen  Blätter  verschwenderisch  mit  landschaftlichen  Skizzen 
zweifelhaften  Wertes  gefüllt,  deren  Motive  in  manchen  seiner  selbständigen  Gemälde  wiederkehren. 
Daneben  könnte  man  sich  kein  Zeugnis  wünschen,  das  charakteristischer  für  die  Betätigung  jugendlich 
unerfahrener  Einbildungskraft  spräche,  als  eine  Scene  des  Kindermords,  die  wir  unter  diesen  frühesten 
Versuchen  antreffen.  Unschuldig  wie  die  Kindlein  ist  die  Seele  des  Erfinders;  er  hat  noch  keine 
mörderische  Tat  gesehen,  keine  Krieger,  die  mit  dem  blutigen  Handwerk  Ernst  machen,  keine  Mütter, 
die  verzweifelt  ihr  Liebstes  verteidigen.  Hier  wird  ein  Dolchstoss  geführt,  ein  Degen  gezückt;  aber 
es  fliesst  kein  Blut.  Fantini  des  Herzogs  von  Urbino  ^  spielen  zur  Übung  eine  Pantomime.  Die  eine 
der  Mütter  sieht  dem  drohenden  Verderben  des  Säuglings  in  ihrem  Schofse  wehrlos  zu,  indem  sie 
nur  die  Hände  erhebt,  wie  jede  junge  Anfängerin  auf  der  Bühne,  die  andere  will  wenigstens  davon 
eilen,  wird  aber  am  Haarschopf  festgehalten;  ihr  Bübchen  verzieht  eben  das  Gesicht  zum  Weinen, 
während  eine  Alte  den  unhöflichen  Knappen  mit  ihrem  Pantoffel  ohrfeigt.  Man  würde  die  Scene 
nur  humoristisch  nehmen,  wenn  sich  nicht  trotzdem  verriete,  wie  ernstlich  die  Erfindung  gemeint  ist, 
wie  intensiv  die  knabenhafte  Phantasie  gearbeitet.  Die  naive  Sinnesart  der  ostumbrischen  Künstler- 
generation mutet  uns  an,  Avie  in  Raphaels  Heimat  aus  jenen  Fresken  des  Lorenzo  und  Jacopo  da 
San  Severino  im  Kirchlein  S.  Giovanni  Battista.  Es  ist  Empfindung  ohne  Afifektation,  angeborene 
Grazie  und  eine  köstliche  Reinheit  des  Geschmacks  in  dieser  instinktiven  Äusserung  einer  Natur, 
welcher  künstlerische  Produktion  zum  Lebensbedürfnis  gehört. 

Dieser  eigenen  Leistung  des  Knaben  darf  wol  zunächst  eine  Reihe  von  Studien  angeschlossen 
werden,  deren  Vorbilder  in  den  Arbeiten  seines  Vaters  Giovanni  Santi  selbst  oder  im  Kreise  der 
lokalen  Kunstunternehmungen  zu  Urbino  gesucht  werden  müssen,  die  enge  Zusammengehörigkeit  mit 
dem  Flamänder  Jost  van  Ghent,  wie  mit  Melozzo  da  Forli  bestimmt  den  Stilcharakter  der  Schule, 
in  welcher  Raphael  unbewusst  seine  ersten  Schritte  tat.  Wenn  wir  bei  dem  frühen  Tode  des 
Vaters  (1494)  ein  gut  Teil   dieses  Einflusses   auf  die   blosse  Vererbung  schieben   müssen,    so  zeigen 


:  Zu  Gunsten  dieser  Annahme  darf  für  die  Tradition  des  Skizzenbuclies  dann  die  Stelle  (bei  Passavant)  in  Anspruch 
1  werden,  wo  Bellori  als  im  Besitz  des  Carlo  Maratta  citiert:  Un  Libro  di  alcuni  avanzi  de'  Studj  giovanili  di 
Raffaelle,  che  approvano  le  sue  prime  fatiche  con  un  esattissima  imitazione  a  maggior  finimento  terminato. 

2  Wir  begegnen  ihnen  in  der  nämlichen  Tracht  in  der  Auferstehung  Christi  des  Giov.  Santi  zu  Cagli,  auf  den 
Galeeren  im  Skizzenbuch  und  mehrfach  bei  Raphael  sonst. 


—     107    — 

uns  diese  Skizzen  andrerseits,  wie  auch  die  Eindrücke  der  urbinatischen  Kunstschätze,  die  Bilder, 
welche  den  erwachenden  Genius  umgaben,  sich  laut  und  entschieden  zur  Geltung  bringen.  Die 
Malereien,  mit  denen  Herzog  Federigo  seine  Residenz  geschmückt,  sind  ohne  Frage  als  Lehrmeister 
des  Knaben  mitzurechnen;  es  kommt  nur  darauf  an,  nicht  blos  Namen  aufzuzählen,  sondern  eine 
Charakteristik  dieser  Erscheinungen  als  lebendigen  Faktor  in  die  Jugendzeit  Raphaels  einzuführen. 
Das  Skizzenbuch  lehrt  uns,  dass  entweder  im  Atelier  Santis,  welches  auf  seinen  Schüler  Vangelista 
da  Pian  de  Meleto  übergegangen  scheint,  oder  sonst  an  zugänglicher  Stelle  in  Urbino  mancherlei 
Zeichnungen  zu  Malereien  vorhanden  waren,  welche  von  Melozzo,  Giovanni  Santi  und  Jost  van  Gent 
gemeinschaftlich  ausgeführt  sein  müssen. 

Reproduktionen  solcher  Vorlagen  sind  jene  Phantasieporträts  berühmter  Männer,  die  wir  oben 
besprochen.  Einzelne  sind  höchst  sorgfältig,  nicht  nur  mit  der  Feder  sondern  auch  mit  Tusche 
ausgeführt,  andere  minder  genau  oder  nur  teilweise,  einzelne  gar  flüchtig  bis  zur  Karikatur,'  wie 
z.  B.  Vittorino  da  Feltre.  Der  Zeichner  ist  offenbar  ein  Knabe,  dem  die  Aufgabe  des  Kopierens 
mit  der  Zeit  langweilig  geworden;  aber  seine  Hand  ist  bereits  geschult,  und,  wo  nur  die  Geduld 
ausreicht,  schon  ganz  sicher  in  der  Wiedergabe  des  eigentümlichen  halb  flämischen,  halb  umbro- 
florentinischen  Stiles.  Sie  sind  mit  derselben  Fertigkeit  und  zur  selben  Zeit  gemacht,  wie  die 
Propheten  nach  einem  Meister  von  Perugia  und  andere  Köpfe,  die  von  Luca  Signorelli  herkommen. 

Die  voraufgehenden  Studien  müssen  uns  den  Weg  weisen,  wie  und  wo  sich  diese  Fertigkeit 
ausgebildet.  Luca  Signorelli  ist  es,  den  wir  diesen  zahlreichen  Blättern  zufolge,  als  einen  der  ersten 
und  einflussreichsten  Lehrer  des  jungen  Raphael  aufzustellen  haben,  und  zwar  gerade  in  einem  Lustrum, 
wo  die  Spezialforschung  bis  heute  ziemlich  ratlos  gestanden  ist. 

Man  hat  ausgerechnet,  dass  Raphael  nicht  vor  1499  in  das  Atelier  des  Pietro  Vannucci  nach 
Perugia  gekommen  sein  könne,  und  glaubt  als  einzigen  bedeutenden  Meister  in  Urbino  den  Timoteo 
della  Vite  zu  haben,  auf  den  aller  Inhalt  dieser  wichtigen  Jahre  zurückgeführt  werden  müsse.  Das 
Skizzenbuch  belehrt  uns  eines  Bessern.  Das  Blatt  mit  dem  fliehenden  Weibe,  das  ihr  Kind  geo-en 
den  Schergen  des  Herodes  verteidigt,  kann  nur  von  einer  knabenhaft  ungeübten  Hand  gezeichnet 
sein;  die  Vorlage  dagegen  gehört  dem  Luca  Signorelli. 

Signorelli  aber  kam,  wenn  nicht  schon  öfter  bei  früherer  Gelegenheit,  im  selben  Jahre  nach 
Urbino,  in  dem  Raphaels  Vater  gestorben  ist.  Im  Juni  1494  wird  mit  ihm  abgemacht,  er  solle  für 
die  Brüderschaft  von  Sto.  Spirito  in  Urbino  ein  Proze.ssionsbild  malen,  mit  der  Kreuzigung  auf  der 
einen  und  der  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes  auf  der  andern  Seite.  Zur  Ausführung  werden  drei 
Monate  bedungen.  Diese  Darstellungen  von  Signorellis  Hand  sind  noch  heute  in  der  kleinen  Kirche 
Sto.  Spirito,  wenig  Schritte  vom  Geburtshaus  Raphaels,  zu  sehen,  und  wir  dürfen  annehmen,  dass 
der  Meister  sie  zu  Urbino  selbst  gemalt;  denn  von  Cittä  di  Castello,  wo  wir  Luca  damals  vornehmlich 
beschäftigt   finden,   würde  der  Transport   über   die  hohen  Gebirgspässe   schwierig   und   kostspielig^ 


1  Von  späteren  Schmierereien  darin  natürlich  abgesehen. 

2  Die  Brüderschaft  von  Sto.  Spirito  stipulierte  ausdrücklich,  der  Meister  solle  sie  aufstellen  „omnibus  suis  sumptibus 
;xpensis,  excepta  tela  seu  panno  lini",  die  sie  ihm  liefern  mochten.     (Pungileoni,  Elogio  Stör,  di  Giov.  Santi  S.  77.) 

14* 


gewesen  sein,  —  eine  Voraussetzung,  die  um  so  wahrscheinlicher  wird,  als  wir  sichere  Belege  besitzen, 
dass  Signorelli  die  Kunstschätze  Urbinos  gekannt  hat.  Bei  seinen  Dekorationen  in  der  Cappella  di 
S.  Brizio  des  Doms  zu  Orvieto  haben  ihm  bei  den  Bildnissen  berühmter  Männer  unverkennbar  die 
Darstellungen  in  dem  „Studio  dei  ritratti"  von  Urbino  vorgeschwebt,  eben  jene  Idealporträts,  die 
auch  Raphael  um  diese  Zeit  gezeichnet  hat. 

Andrerseits  jedoch  stünden  einem  zeitweiligen  Aufenthalt  Raphaels  beim  Luca  in  Cittä  di 
Castello  die  Präsenzzeugnisse  in  Urbino  durchaus  nicht  im  Wege.  Wie  dem  auch  sein  mag,  ein 
direkter  Verkehr  mit  dem  Meister  von  Cortona,  und  zwar  das  Verhältnis  eines  Lernenden  zu  dem 
anerkannten  Vorbilde,  ist  uns  in  dem  Skizzenbuch  dokumentiert.  ^  Ausserdem  besitzen  wir  ja  in  der 
Sammlung  Wicar  zu  Lille  eine  Zeichnung  Raphaels  nach  zwei  Bogenschützen  auf  dem  Martyrium 
des  heiligen  Sebastian,  welches  Luca  Signorelli  1496  für  die  Kirche  von  S.  Domenico,  in  Cittä  di 
Castello  gemalt  hat,  eine  Skizze,  die  durchaus  die  Hand  eines  Anfängers  verrät,  und  in  das  Skizzenbuch 
gehörte.  Von  den  frühzeitigen  Aufträgen,  die  dem  jungen  Maler  in  dieser  Stadt  zu  Teil  wurden 
und  persönliche  Beziehungen  vermuten  lassen,  ganz  zu  schweigen. 

Genaue  Betrachtung  der  einzelnen  Studien  nach  Signorelli  ermöglicht  bald  eine  Sonderung 
zweier,  nach  ihrer  Qualität,  besonders  ihrer  technischen  Vollendung  auseinander  gehender  Reihen: 
wir  haben  eine  ältere  vor  uns,  in  welcher  wir  die  Härten  der  urbinatischen  Lokalschule,  die  Ungeübtheit 
des  jungen  Schülers  zugleich  mit  sorgfältiger  Nachahmung  des  Cortonesen  erkennen,  und  eine  spätere 
Gruppe  von  weit  vorgeschrittener  Feinheit,  wo  die  Nachbildung  bereits  in  überlegte  Aneignung  mit 
selbständiger  Auswahl  kongenialer  Elemente  übergeht.  Zwischen  beiden  Gruppen  scheint  bereits 
eine  Berührung  mit  dem  zarten  Geschmack  der  Meister  von  Perugia  stattgefunden  zu  haben,  oder 
eine  ausgesprochene  Richtung  des  eigenen  Naturells  hervorgetreten.  Die  trefflichen  Studien  nach 
Luca  führen  uns  in  einen  Gedankenkreis,  welcher  festdatierte  Arbeiten  dieses  Meisters  in  der  zweiten 
Hälfte  der  neunziger  Jahre  umschreibt;  aber  keines  der  Blätter  fordert  die  persönliche  Gegenwart 
Raphaels  bei  diesen  Malereien  in  Montoliveto,  Siena  und  Orvieto ;  desto  entschiedener  dagegen  setzt 
die  Bekanntschaft  mit  den  vorbereitenden  Versuchen  des  Meisters  vertraulichen  Umgang  voraus: 
der  liebenswürdige  Urbinate  nimmt  an  dem  innersten  Schaffen  Signorellis  teil,  gerade  in  einer  Periode, 
welche  die  Vorstufe  für  jene  höchsten  Leistungen  bedeutet.^ 

Zahlreiche  Anregungen  der  Antike,  stoffliche  wie  formelle,  werden  hier  von  einem  echten 
Quattrocentisten  verarbeitet.  Eine  Beschäftigung  mit  heidnischer  und  christlicher  Poesie,  besonders 
mythologischen  Inhalts,  eifrige  Studien  nach  römischen  Skulpturen  liegen  zu  Grunde.  Vor  allem  aber 
ist  es  immer  die  menschliche  Gestalt,  nackt,  in  Ruhe  und  mancherlei  Bewegung,  die  hier  verstanden, 
bewältigt,  vollständig  angeeignet  werden  soll.  Wie  weit  diese  Gemeinschaft  gegangen  sein  niuss, 
erhellt  auch  daraus,  dass  einige  Rundbildchen  in  Orvieto,  z.  B.  jene  Herkulesarbeiten,  als 
Variationen  anderer  Skizzen  Signorellis  zu  denselben  Gegenständen  angesehen  werden  müssen,  welche 


'  Ich  weise  mit  Vergnügen  auf  die  scliätzenswerten  Bemerl<ungen  Rob.  Vischers  über  den  bedeutenden  Einfluss 
dieses  Meisters  auf  Raphael,  in  seiner  Monographie  über  Luca  Signorelli  (Leipzig  1879)  S.  332  ff. 

2  Man  vergleiche  übrigens  auch  die  neuerdings  erst  bekannter  gewordenen  Wandmalereien  Signorellis  in  S.  Crescenziano 
zu  Morra  zwischen  Citta  di  Castello  und  Cortona.     (phot.  Alinari.) 


I09 


den  Studien  Raphaels,  hier  im  Buclic,  zum  Vorbild  dienten,  so  z.  B.  Herkules  Kämpfe  mit  dem  Stier, ' 
mit  dem  nemeischen  Löwen,  mit  dem  zu  Boden  geworfenen  Riesen. 

Das  Jahr  1497,  in  dem  Signorelli  dann  von  Cittä  di  Castello  nach  Montoliveto  bei  Chiusuri 
übersiedelte,  um  die  Fresken  aus  dem  Leben  des  heiligen  Benedikt  auszuführen,  ist  der  früheste 
Termin  für  eine  direkte  Berührung  Raphaels  mit  Perugino.  Pietros  Bilder  in  Sta.  Maria  nuova  oder 
delle  grazie  zu  Fano  tragen  das  Datum  1497  und  1498. 

Fano  aber  ist  wenige  Stunden  von  Urbino  entfernt  und  bequem  erreichbar;  ja  der  Meister 
von  Perugia  wird  sicher  den  kürzeren  Weg  über  Cittä  di  Castello  und  Castel  Durante  gewählt  haben, 
der  unmittelbar  an  Urbino  entlang  führt,  statt  des  weit  beschwerlicheren  über  Gubbio  und  Cagli,  der 
durch  den  Furlöpass  kurz  vor  Fossombrone  auf  die  andere  Strasse  mündet. 

Mehr  jedoch  als  diese  äusserlichen  Verhältnisse  erzählen  uns  die  Gemälde  Peruginos  in  Fano 


II».-«*- '^ 


\ 


selbst.  Es  fehlen  ihnen  die  dunkelvioletten  und  bräunlichen  Töne,  welche  Perugia  eigentümlich  sind; 
das  Ganze  ist  heller,  kühler  gehalten.  Und  die  Predellenstückchen  unter  der  thronenden  Madonna, 
welche  die  Geburt  Maria,  die  Darstellung  im  Tempel,  das  Sposalizio,  die  Verkündigung  vor  einer 
langen  perspektivisch  verkürzten  Säulenhalle  und  die  Himmelfahrt  der  Jungfrau  enthalten,  haben  mich 
bei  jedem  Besuche  direkt  an  Raphael  gemahnt.  Die  Ähnlichkeit  einzelner  Gestalten  und  Motive  mit 
denen  in  Raphaels  frühen  Gemälden,  besonders  mit  den  Stafifelbildchen  zu  seiner  Krönung  Maria  (im 
Vatikan)  ist  so  gross,  dass  eine  genaue  Bekanntschaft  mit  ihnen  vorausgesetzt  werden  muss. 

Ich  kann  angesichts  dieses  sorgfältig,  aber  nicht  fehlerfrei  ausgeführten  Gradino  die  Vermutung 
nicht  unterdrücken,  dass  wir  von  1497  in  Fano  die  Verbindung  Raphaels  mit  Perugino  datiern  sollten.^ 


1  Vgl.  dazu  Oxford,  Raph.  Zeichg.  i8  (Braun). 

2  Nach  den  Anmerkungen  zum  Vasari  (Opere  III  S.  605)  bew 
tritt,  seine  Anwesenheit  in  Fano  am  21.  April  1498  (so  ist  offenbar 
Florenz,  und  wiederum  im  Juni   1498. 


L  Kontrakt,    in  dem  Perugino    als  Zeuge    ai 
8    zu   lesen).     Im  Januar   1497    ist  er  noch 


Jedenfalls  müssen  wir  in  jener  Reihe  feiner  und  feiner  wiedergegebener  Zeichnungen  nach  Signorelli 
ein  neues  Moment  in  der  Entwicklung  Raphaels  konstatieren.  Ein  schwebender  Engel  mit  einem 
Reif  oder  Tamburin  in  den  Händen  (Fol.  lOb),  ein  nach  links  schreitender  Hirt,  der  die  Dudelsack- 
pfeife  bläst,  eine  wunderschöne  Darstellung  des  Herkules,  der  dem  nemeischen  Löwen  den  Rachen 
aufreisst  wie  Simson,'  sind  sprechende  Beispiele  des  Übergangs  zum  perusischen  Geschmack.  Aber 
die  Zeichnung  der  nackten  Teile,  wie  die  Behandlung  der  Gewandfalten  erinnern  noch  vollständig 
an  Signorelli  z.  B.  an  die  blumenstreuenden  und  krönenden  Engel  in  Orvieto.  Jener  Greif,  der  uns 
als  Wappen  der  Stadt,  Raphaels  Anwesenheit   in  Perugia  bestätigt,   ist  in  der  nämlichen,    durchaus 

nicht  peruginesken  Handweise 
gezeichnet,  aber  schon  zarter, 
echt  umbrischer  als  manche 
Studien  nach  dem  Cortonesen. 
Hat  Raphael  bei  Perugino 
die  Behandlung  des  Bisterpinsels 
gelernt,  und  die  weiche  Model- 
lierung im  Sinne  der  verrocchio- 
schen  Schule?  Sie  zeigt  sich 
zuerst  auf  den  ebengenannten 
Blättern,  an  einem  liegenden 
Knäblein,  das  sonst  nichts  Peru- 
gineskes  hat  (Fol.  2ia),  an  einem 
liegenden  Kinderkopf  (22  a), 
einem  segnenden  Jesus  (24a)  und 
an  den  Galeeren,  die  uns  wieder 
an  den  Hafen  von  Fano  erinnern. 
Darnach  erscheint  die 
Reihe  manierierter  Kopieen  nach 
peruginesken  Schulfiguren  wie 
ein  Rückfall  in  banausische  Pedanterie.  Ist  es  Perugino  selbst,  der  den  jungen,  vielversprechenden 
Urbinaten  auf  diese  Weise  zum  brauchbaren  Ateliergehülfen  umzustempeln  sucht,  ^  oder  sollen  wir 
bereits  in  Manier  und  Geist  dieser  Assimilationsübungen  die  Oberleitung  des  Pinturicchio  erkennen? 
Jedenfalls  nach  einer  Vorlage  des  letzteren  sind  jene  beiden  Reiter  gezeichnet,  deren  einer  nach  rechts 
umbiegt,  während  der  andere  gradeaus  vom  Hintergrunde  herzukommt.  Noch  verraten  uns  die  Halb- 
monde   im  Geschirr,    dass  sie  aus  Bernardinos  Geschichten   vom   Prinzen  Djem    in   der  Engelsburg 


1  Dabei  muss  daran  erinnert  werden,  dass  schon  Perugino  selbst,  so  eifrig  wie  Fiorenzo  vielleicht,  nach  Antonio 
del  Pollajuolo  gezeichnet  hatte  und  dem  Lionardo  nahe  gestanden  war. 

2  Hier  wäre  stilistisch  der  einzige  Anknüpfungspunkt  für  den,  der  die  Frage  nach  Raphaels  Teilnahme  an  den  Decken- 
malereien des  Cambio  exakt  untersuchen  wollte.  Ich  habe  anderweitig  wiederholt  auf  die  Unhaltbarkeit  des  Versuches  von 
Crowe  und  Cavalcaselle  hingewiesen,  wie  auf  die  Eigenart  des  andern  Gehülfen,  der  an  der  Decke  des  Cambio  mitgewirkt. 


herrühren,  oder  für  die  Piccolominifresken  in  Siena  bestimmt  waren.  Aber  die  flüchtige  Skizze  hält  sich 
offenbar  nicht  genau  an  das  Vorbild:  wo  er  an  den  Kopf  der  Pferde  kommt,  fängt  des  jungen 
Künstlers  selbständige  Beobachtung  an  wie  unwillkürlich  hineinzuspielen;  besonders  der  höchst  lebendige 
und  anatomisch  genaue  Kopf  des  vorderen  Gaules  sitzt  ganz  fremd  an  dem  hölzernen  Rumpfe.  Hier 
haben  wir  nicht  die  Lehre  Signorellis  zu  erkennen:  seine  Pferdeköpfe  sind  miserabel  gegen  diesen; 
auch  nicht  Peruginos  bessere  Einsicht:  es  fehlen  uns  Beispiele  bei  ihm.  Vielmehr  Raphaels  persönliche 
Eigenart  ist  es,  der  Sinn  für  dies 
edelste  Tier,  den  er  aus  Urbino  von 
dem  berühmten  herzoglichen  Marstall 
mitgebracht,  und  der  ihn  unter  allen 
Umbrern  auszeichnet,  d.  h.  den  grössten 
Maler  feuriger  Rosse,  den  diese  Zeit 
neben  Lionardo  hervorgebracht,  schon 
in  seinen  Anfängen  verkündet.  In  einer 
Skizze  zum  Cartoncino  des  ersten  Fresko 
der  Libreria  zu  Siena,  welche  sich  neben 
dieser  Tuschzeichnung  selbst  in  den 
Uffizien  befindet,'  giebt  den  Beleg  für  die 
spezifische  Beobachtung  der  nämhchen 
Race.  Vollends  diesen  Entwurf  mit 
Raphaels  Handschrift  darauf  schreibt 
nur  der  nicht  dem  Schöpfer  der  beiden 
heiligen  George  in  Petersburg  und  im 
Louvre  zu,  dem  die  Grenzen  des  Kunst- 
vermögens der  Lokalmeister  von  Perugia 
überhaupt  verschwimmen. 

Ganz  florentinische  Freiheit  atmet 
schon  die  Ausführung  der  Gruppen 
nackter  Männer  im  Streit,  die  von  antiken 
Reliefs  entlehnt  sein  könnten,  auf  den 
beiden  Seiten  eines  späteren  Blattes  von 
Raphaels  Hand,  das  zu  bequemem  Vergleich  ebenso  in  der  Akademie  in  Venedig  erhalten  ist.  Die 
Schwierigkeiten,  welche  die  sienesische  Marmorgruppe  der  Grazien  dem  umbrischen  Meister  noch 
bereitete  (Fol.  28a),  sind  hier  vollständig  überwunden:  die  ganze  Schönheit  antiker  Formgebung  wird 
angeeignet,  in  den  nackten  Leibern  der  Jünglinge  wie  in  dem  herrlich  bewegten  Rosse.  Nur  ein 
Schritt  liegt  zwischen  der  Reiterstudie  zum  Cartoncino  des  ersten  Fresko  in  der  Dombibliothek  von 
Siena  und  diesem  Kampf  des  Reiters  gegen  zwei  Fussgänger,   und  doch,   welch   ein   Schritt!     Hat 


i  No.  505  (vgl.  unsere  Abbildung),  die  fertige  Kc 


.  Br.   5K 


—       112      — 

sich    an    demselben    antiken  Vorbild   zu  Florenz    etwa   Lionardo    zu    seinem  Kampf  um    die    Fahne 
begeistert? ' 

Die  Blätter  am  Schluss  des  Skizzenbuches  dagegen  sind  die  unerquicklichsten  des  Ganzen, 
und  ihnen  gegenüber  wird  man  kaum  mehr  den  Eintritt  Raphaels  in  die  perusische  Künstlersippe 
als  besonders  glückliches  Schicksal  preisen  können.     Hier  tritt,  im  Vergleich  zu  dem  unter  Signorelli 


Erstrebten,  allzu  deutlich  hervor,  dass  wenig  frisches  Leben  in  den  Malern  des  Cambio  keimte,  dass 
vielmehr  die  ganze  triebkräftige  Organisation  Raphaels,  der  sicherste  Instinkt  dazu  gehörte,  um  die 


I  Vgl.  übrigens  die  ganz  im  Charakter  des  Skizzenbuclies  gehaltene  Nachzeichnung  nach  einem  Kampf  des  Herakles 
mit  drei  Kentauren,  in  dem  noch  die  Art  des  Antonio  PoUajuolo  deutlich  erkennbar  ist,  Uffizien  494,  No.  1476,  die  wir 
abbilden,  und  dazu  die  perugineske  Bearbeitung  der  nackten  Halbfigur  eines  Sebastian  von  PoUajuolo  als  büssender  Hieronymus, 
daselbst  56/248  und  diesen  Büsser  unter  dem  Crucifixus  auf  Raphaels  frühem  Bild  aus  Dudleyhouse. 


—     113     — 

fruchtbaren  Elemente  vergangener  Tradition  vmter  dem  Wust  leerer  Formen  und  Manieren  für  sich 
auszusuchen  und  zu  verwerten. 

Zwischen  den  drei  Hauptreihen  im  Skizzenbuch  verstreut  deuten  nur  ganz  vereinzelte  Spuren 
auf  Florenz.  Es  sind  etwa  vier  bis  fünf  freigebliebene  Seiten,  die  hernach  gelegentlich  benutzt  worden. 
Drei  Köpfe  nach  Lionardo  da  Vinci  (Fol.  33a)  überraschen  am  meisten:  oben  ein  kahlköpfiger 
Imperatorenschädel,  unten  zwei  karikierte  Alte  im  Profil  einander  gegenüber.  Den  oberen  dieser 
Typen  hat  Raphael  auf  einer  Zeichnung  in  Oxford  (Br.  15)  freier  umgestaltet,  um  ihn  endlich  in 
seinem  Fresko  zu  San  Severo  in  Perugia  (1505)  als  Camaldulenserheiligen  auszuführen.  Indessen 
muss  gesagt  werden,  dass  wir  verwandten  Köpfen  auch  bei  Signorelli  z.  B.  in  Orvieto  auf  der  Predigt 
des  Antichrist  unter  den  Zuhörern  rechts,  neben  dem  reichgekleideten  Jüngling  begegnen.  Mehr  wie 
Vermittelungen  zwischen  Lionardo  und  PoUajuolo  (durch  Signorelli)  sehen  die  Athleten  aus,  die 
nackt  und  kahlköpfig  fast  nur  in  Umrissen  mit  starker  Betonung  der  Muskulatur  gezeichnet  sind. 
(Fol.  39a  39b  40a  43b  vgl.  Lionardos  Zeichnungen  zur  Figurenproportion.) 

Direkt  aus  Florenz  stammt  natürlich  die  Studie  nach  dem  roten  Marsyas, '  der  aus  altem 
Besitz  der  Medici  in  die  Uffizien  gekommen  sein  muss.  Wir  finden  sie  auf  der  Rückseite  eines  der 
ersten  Blätter;  der  Charakter  der  Zeichnung  erlaubt  indess  nicht  bestimmt  genug  eine  Entscheidung, 
ob  sie  unmittelbar  vor  dem  Originale  selbst  entstanden  ist,  oder  etwa  nach  einer  solchen  Aufnahme 
Signorellis  kopiert  wurde, 

III. 

Die  Einblicke  in  Raphaels  Jugendzeit,  welche  das  Skizzenbuch  zu  Venedig  eröffnet,  sind  so 
entscheidend  und  der  herrschenden  Meinung  gewiss  unerwartet,  dass  es  wol  ratsam  erscheint,  zuletzt 
noch  einige  seiner  in  dieser  Zeit  ausgeführten  Gemälde  vergleichender  Prüfung  zu  unterziehen,  um 
dem  Zweifel  gerecht  zu  werden,  ob  denn  der  soeben  konstatierte  Entwickelungsgang  des  Zeichners 
auch  der  anerkannten  Laufbahn  des  Malers  entspreche?  Vielleicht  ergänzt  die  letztere  noch  einige 
Lücken,  die  sich  im  ersteren  fühlbar  machen:  werden  doch  z.  B.  definitive  Entwürfe  für  Malereien 
kaum  in  einem  Skizzenbüchlein  von  diesen  Dimensionen  Platz  gefunden  haben '.^ 

Vor  allem  fragt  man  uns  mit  Recht,  wo  bleibt  bei  dieser  neuen  Zusammensetzung  der  Einfluss 
des  Timoteo  della  Vite?  Passavant  hat  auf  ihn  als  ersten  Lehrer  Raphaels  hingedeutet;  neuerdings 
hat  es  Lermoliefif  energischer  wiederholt  und  mit  einer  erklecklichen  Reihe  von  Belegen  zu  unter- 
stützen versucht.  Seinem  Hinweis  konnten  wir  mit  Vergnügen  zustimmen;  sein  Beweismaterial  wäre 
zu  prüfen.     (Mir  scheint  neuerdings,   es  wird  aus  chronologischer  Erwägung   recht  hinfällig  werden.) 

Die  Einführung  Signorellis  als  Hauptfaktor  neben  Pietro  Perugino,  welche  nach  den  obigen 
Ergebnissen  unerlässlich  wurde,  restringiert  schon  von  selbst  die  Mitwirkung  des  Timoteo  Viti.  Da 
wir  indessen   das   alte  Schachtelsystem    nicht   acceptieren,   das   nur  den  Aufenthalt  im  heimatlichen 

1  Ich  verdanke  diese  Identifizierung  Herrn  Konservator  Dr.  Ad.  Bayersdorfer  in  München. 

2  Ich  halte  deshalb  die  Erwartung,  dass  in  diesem  Taschenbüchlein  Studien  zu  authentischen  Gemälden  Raphaels 
enthalten  sein  sollten,  für  eine  Verkennung  des  ganz  anders  gearteten  Zweckes  eines  solchen  gebundenen  Buches  von  so 
kleinem  Mafsstab.     Man  fordert  zuviel,  wenn  man  den  Beweis  der  Ächtheit  davon  abhängig  macht  wie  A.  Springer. 

15 


—     114     — 

Nest  bis  1499  und  das  definitive  Ausfliegen  nach  Perugia  in  Betracht  zieht,  so  bleibt  uns  immerhin 
mancherlei  Gelegenheit  übrig  zur  Berücksichtigung  des  seit  1495  in  Urbino  ansässigen  Meisters,  der 
seine  bestimmende  Richtung  zu  Bologna  in  der  Schule  des  Lorenzo  Costa  und  Francesco  Francia 
empfangen  hat.  Wir  suchen  Raphael  um  diese  Zeit  auf  der  ganzen  Linie  zwischen  Urbino  und 
Perugia;  denn  er  hat  nachweislich,  solange  er  im  Atelier  Peruginos  oder  selbständig  in  Perugia.  Citta 
di  Castello  und  Umgegend  tätig  war,  mit  Urbino  in  persönlichem  Verkehr  gestanden  und  sich 
mehrfach  in  der  Vaterstadt  aufgehalten,  wie  wir  auch  andererseits  für  spätere  Wanderungen  nach 
Siena,  vielleicht  gar  nach  Montoliveto  bei  Chiusuri,  Belege  genug  besitzen. ' 

Die  Lehrerschaft  Timoteos  bei  dem  jungen  Sohn  des  Gio\anni  Santi  konnte  erst  1495  ein- 
treten,^ und  hat  jedenfalls  nicht  lange  gedauert.  Neben  einem  so  energischen  Meister  wie  Luca 
Signorelli  vermochte  eine  intensiv  wie  extensiv  so  wenig  ausgiebige  Kraft,  wie  dieser  Schüler  des 
Francia,  nicht  aufzukommen  bei  Raphael. 

Lermolieffs  Urteil  über  seine  Bedeutung  als  Künstler  ist  weitaus  übertrieben,  kein  Wunder 
allerdings,  da  er  ihn  mit  manchen  fremden  Federn  zu  schmücken  weiss.  Die  Majolikateller  im  Museo 
Correr  in  Venedig,  deren  Zeichnungen  er  ihm  zuschreiben  möchte,  sind  nicht  in  Urbino  entstanden 
sondern  in  Faenza  und  gehören  ihrer  technischen  Behandlung,  besonders  den  Farben  nach,  frühestens 
in  die  Zeit  um  1515 — 25.  Selbst  wenn  die  verdächtige  Jahreszahl  auf  einem  dieser  Teller  die  Zeichnung 
dazu  in  die  neunziger  Jahre  des  Quattrocento  zurückdatiert,^  so  erkennen  wir  in  den  zugehörigen 
Darstellungen  doch  bereits  eine  Richtung  der  bolognesischen  Schule,  welche  erst  im  vollen  Zuge 
des  Cinquecento  möglich  war  und  bestimmte  Anregungen  von  der  Kunstweise  der  venezianischen 
Terra  ferma  in  sich  aufgenommen  hat,  ja  Kompositionen  im  Geschmack  des  Giorgione,  des  Giulio 
Campagnola  und  ähnlicher  Oberitaliener  arrangiert.  Jedenfalls  liegt  dieser  Ausläufer  der  I'rancia- 
schule,  welchen  die  Tellerzeichnungen  repräsentieren,  vollständig  jenseits  der  Richtung,  die  Timoteo 
bis  1495  in  Bologna  annehmen  konnte;  ein  flüchtiger  Vergleich  seiner  Formgebung  und  Gewand- 
behandlung auf  den  beglaubigten  Bildern  mit  denen  dieser  siebzehn  Majoliken  sollte  genügen,  den 
Anachronismus  klarzulegen.  '^ 

In  demselben  Bemühen  zu  Gunsten  seines  Lieblings  hat  sich  Lermolieff  auch  einen  wirklich 
tiefgreifenden  Beweis  für  die  Beziehungen  Timoteos  und  Raphaels  entgehen  lassen,  indem  er  nämlich 

1  Den  Widersachern  der  „Beeinflussungstheorie"  mag  bei  dieser  Gelegenheit  ein  treffendes  Urteil  Rumohrs  in 
Erinnerung  gebracht  werden,  das  der  einseitigen  Provinzialsperre  gilt,  mit  der  man  die  Kmistgeschichte  unlängst  wieder 
beglücken  wollte:  „Was  sie  Schule  nennen,  ist  eigentlich  nur  Geburtsland;  denn  ob  ein  Künstler  dieser  oder  jener  andern 
Schule  angehöre,  wird  bei  ihnen  nicht  durch  Lehre,  oder  Untei-weisungen  in  technischen  Dingen  entschieden,  sondern  ganz 
allein  durch  den  nackten  und  blofsen  Taufschein.  Wer  diese  grobe  Handhabe  einführt,  wo  man  den  Meistern  selbst  gegen- 
über tritt,  der  ist  notwendig  ein  .  .  .  ungelenker  .  .  .  Kopf.  Den  Gemälden  gegenüber  will  und  soll  man  sehen  in  welchen 
Stücken,  in  welchen  Zeiten  und  Persönlichkeiten  die  verschiedenen  örtlichen  Schulen  einander  entgegenkommen,  mit  ein- 
ander austauschen,  sich  gegenseitig  berühren  oder  ganz  verschmelzen."     (Drey  Reisen  nach  Italien,  Leipzig  1832.    12°.    S.  285.) 

2  Unterm  4.  April   1495  verzeichnete  Francia  die  Abreise  seines  Timoteo  aus  Bologna. 

3  Auf  Salomos  Götzendienst  stehen  unter  dem  Namen  SALOMON  links  auf  dem  Sockel  zwei  Buchstaben  wie  G 
und  I  (oder  L)  in  O  ?  dazu  die  ebenso  schwer  lesbare  14  nebst  zwei  völlig  blass  gekommenen  Ziffern;  Kostüm  und  Architektur 
gehören  aber  durchweg  dem   16.  Jahrhundert  an! 

4  Sie  sind  neuerdings  von  Anderson  photographiert  und  werden  überall  als  Ware  von  Faenza  anerkannt. 


—     115     — 

das  Gemälde  Apoll  und  !Marsyas  bei  Mr.  Morris  Moore  in  Rom  (jetzt  im  Louvre)  seinem  Timoteo 
vindiciert.  Betrachten  wir  die  Zeichnung  zu  diesem  Bilde  in  der  venezianischen  Akademie,  ein  Blatt, 
dessen  unbeschreibliche  Schönheit  in  jeder  Reproduktion  völlig  entstellt  wird,'  so  treten  uns  Elemente, 
die  unzweifelhaft  auf  Timoteo  zurückgehen,  neben  andern  entgegen,  die  man  gerade  bei  ihm  durchaus 
nicht  erwarten  darf. 

Rechts  steht  der  junge  Gott  in  aufrechter  Haltung;  mit  der  erhobenen  Linken  fasst  er  einen 
langen  Stecken,  stützt  den  andern  Arm  in  die  Seite  und  blickt  mit  vornehmer  Überlegenheit  auf 
den  eitlen  Flötenbläser  gegenüber,  der  auf  einem  Stein  sitzend  ganz  in  sein  Spiel  vertieft  ist.  Neben 
Apoll  zu  seiner  Rechten,  ragt  ein  schlanker  blätterloser  Baumstamm  empor,  während  sich  zwischen 
beiden  Figuren  eine  Flussniederung  öffnet,  mit  einem  Hügelkranz  und  einem  Städtchen  im  Hintergrunde. 
Die  Komposition  zeigt  den  bolognesisch-ferrarischen  Geschmack  der  Schule  des  Costa  und  Francia, 
den  wir  z.  B.  auf  den  frühen  Stichen  des  Marc  Anton  ebenso  antreffen;  die  Landschaft  erinnert  wol 
an  Timoteo  Viti;  die  Köpfe  jedenfalls  zeigen  in  ihrer  kugeligen  Schädelform  eine  Verwandtschaft 
mit  diesem  Meister,  die  Beachtung  fordert:  man  vergleiche  nur  die  heilige  Magdalena  in  Bologna. ' 
Aber  die  Zeichnung  der  beiden  nackten  Körper  geht  völlig  aus  Timoteos  Geleisen  heraus,  und  weist 
uns  von  der  glatten,  eleganten  Formgebung  des  Francia  vielmehr  auf  florentinische  Kenntnis  der 
Anatomie.  Wenn  man  das  Skizzenbuch  geprüft  hat,  muss  man  auf  das  Richtige  verfallen:  es  ist 
der  Schüler  des  Luca  Signorelli,  den  wir  vor  uns  haben.  Die  Behandlung  der  Gelenke,  der 
Muskulatur,  die  meisterhafte  Beobachtung  der  Bewegungen,  frei  von  jeglichem  Arrangement  und 
theatralischer  Pose,  in  lebendiger  Elasticität  erfasst,  sprechen  deutlich  genug  für  sich  selber.  Sogar 
die  eigentümliche  Form  der  Gliedmafsen,  der  Hände  mit  dem  Spiel  der  Finger,  der  Füsse  mit  dem 
starken  Ballen  der  grossen  Zehe,  verrät  ihre  Herkunft  von  dem  Cortonesen,  mit  dem  sie  auch  Pietro 
Perugino  in  einer  Periode  gegenseitiger  Annäherung  gemein  hat,  wie  z.  B.  auf  dem  grossen  Fresko 
in  Sta.  Maria  Maddalena  dei  Pazzi  zu  Florenz  (1493 — 9Ö)-  Nicht  minder  charakteristisch  ist  die 
Behandlung  der  inneren  Teile  des  Gesichtes  und  der  Haare  beim  Apoll,  wenn  auch  eine  Vermischung 
der  Schönheitsideale  des  Luca  mit  dem  des  Timoteo  bei  Raphael  ganz  natürlich  erscheint. 

Eine  Vergleichung  einerseits  mit  Adam  und  Eva  und  den  blumenstreuenden  Engeln  aus  dem 
Fresko  zu  Orvieto,  nebst  dem  nackten  Jüngling  in  der  Darstellung  der  „letzten  Tage  Mosis"  in  der 
Cappella  Sistina  des  Vatikan,  sowie  andrerseits  mit  der  genannten  Magdalena  in  Bologna  und  dem 
heiligen  Sebastian  auf  dem  Brerabilde  Timoteos  muss  die  Abrechnung  zwischen  den  beiden  Lehrern 
und  das  Facit  bei  ihrem  Schüler  klarstellen. 

Entscheidend  ist  endlich  Wahl  und  Auffassung  des  Gegenstandes:  die  Erfindung  dieser  Scene 
schliesst  sich  unmittelbar  an  den  mythologischen  Gedankenkreis  an,  den  wir  in  zahlreichen  Blättern 
des  Skizzenbuches  vertreten  sahen,  und  ist  ganz  im  Sinne  jener  Darstellungen  des  Luca  Signorelli, 
wie  die  Erziehung  des  Pan  und  ihresgleichen.  Selbst  der  lange  Stecken  mahnt  als  unvermeidliches 
Requisit  an  seine  Modelle.  3 


1  Braun,  Venedig  Xo   146. 

2  Photogr.  Alinari. 

3  Man  vergleiche  nur  das  genannte  Bild  im  Berliner  Museum  (Phot.  Hanfstängl). 


—     ii6     — 

Den  letzten  Zweifel  an  dem  Eigentumsrecht  Raphaels,  welcher  bei  Beurteilung  des  Entwurfes 
in  Venedig  noch  übrig  bleiben  könnte,  beseitigt  die  Konfrontation  mit  dem  Gemälde  selbst.  Bei 
der  Ausführung  in  Farben  hat  eine  Metamorphose  stattgefunden,  welche  für  unsere  Einsicht  in 
Raphaels  Stilentwickelung  höchst  bedeutsame  Resultate  ergiebt.  Trägt  die  Zeichnung  den  Stempel 
von  Lucas  Kenntnissen  und  von  Timoteos  Geschmack,  so  gewahrt  man  im  Bilde  eine  Annäherung 
an  die  Ausdrucksweise  der  perusischen  Meister.  Am  auffallendsten  ist  diese  Veränderung  im  Kopf 
des  jungen  Gottes,  der  den  edelsten  und  reinsten  Typen  Peruginos  angeglichen  ist,  zartere  Formen, 
sorgfältiger  arrangiertes  Lockenhaar  mit  einem  Knoten  über  der  Stirn  bekommen,  aber  den  Kranz 
abgelegt  hat.  Der  schlanke  Baumstamm  ist  abgehauen  und  nur  ein  Stumpf  mit  der  Leyer  Apolls 
erinnert  noch  an  gleiche  Staffagen  auf  dem  Magdalenenbild  Timoteos  in  Bologna.  Zierliche  Bäumchen 
mit  dünnem  Laubwerk  stehen  nach  umbrischer  Weise  im  Mittelplan,  während  Vorder-  und  Hinter- 
grund mit  liebevollem  Detail  geschmückt  sind;  Pinturicchios  Vögel,  die  vom  Falken  verfolgt  durch 
die  Luft  schiessen,  nicht  zu  vergessen.  Nur  noch  die  Landschaft  bleibt  in  der  farbigen  Ausführung 
der  Art  Timoteos  näher;  die  beiden  nackten  Leiber  stralen  in  bräunlichem  Goldton,  warm  und 
lebendig,  wie  es  nur  die  vollendete  Technik  Peruginos  ermöglichte.  Wie  man  angesichts  dieser 
echt  peruginesken  Malerei  noch  an  Timoteo  della  Vite  denken  mag,  wird  wol  allen  unbegreiflich 
bleiben,  denen  der  Unterschied  zwischen  Perugia  und  Bologna  als  Centralstätten  zweier  Kunst- 
richtungen aufgegangen  ist.'  Ich  wenigstens  kenne  kein  Werk,  das  ich  neben  dem  bezeichneten 
Sposalizio  so  ohne  Zögern  Raphael  zuweisen  müsste  als  dieses  trefflich  erhaltene  Bildchen,  das 
von  Mr.  Morris  Moore  in  den  Salon  carre  des  Louvre  gewandert  ist.  Dass  überhaupt  Zweifel  daran 
aufgekommen,  erklärt  sich  nur  aus  der  Vergessenheit,  in  welche  die  Werke  in  Cittä  di  Castello  gefallen 
sind.^  Man  vergleiche  doch  nur  den  vortrefflich  hingelagerten  Adam  in  der  Schöpfung  des  Weibes 
auf  jener  Kirchenfahne  daselbst,  die  jetzt  endlich  in  die  städtische  Galerie  gerettet  worden.  Ausser 
der  Farbe  ist  doch  an  dem  herrlichen  Akt  nichts  Perugineskes;  ebensowenig  an  dem  vornübergebeugten 
Schöpfer,  dessen  Kopf  an  Giovanni  Santi  gemahnt,  während  die  Stellung  völlig  der  Art  Signorellis 
entspricht.  Nur  die  schwebenden  Engel  zeugen  auch  in  der  Zeichnung  für  einen  Durchgang  durch 
die  Schule  von  Perugia.3 

Einen  ähnlichen  Kompromiss  zwischen  (bolognesisch)-urbinatischen  und  peruginesken  Elementen 
haben  wir  in  dem  verwandten  Gemälde  Raphaels  „Der  Traum  des  Ritters"  in  der  Nationalgalerie  zu 
London,  wo  sich  auch  die  Zeichnung  dazu  befindet.  In  der  Mitte,  unter  einem  Lorbeerbäumchen, 
schlummert  in  beinahe  sitzender  Lage,  den  rechten  Arm  auf  seinen  Schild  lehnend,  aber  ohne  rechte 
Stütze  für  das  behelmte  Haupt,  ein  junger  Ritter,  dem  im  Traum  zwei  allegorische  Frauen  erscheinen. 
Die  Gestalt  zu  Häupten  trägt  Schwert  und  Buch,  die  zu  Füssen  ein  Blumensträusschen;  den  Hinter- 
grund bildet  eine  umbrische  Gebirgslandschaft,  die  man  am  trasimenischen  See  suchen,  oder  schon 
nach  den  Aufnahmen  des  Skizzenbuches  erwarten  würde. 

1  Es  ist  seitdem  sogar  für  ein  Bild  des  Pietro  Perugino  selbst  gehalten  worden! 

2  Vgl.  unsere  Abbildung  nach  Phot.  Alinari  der  sehr  beschädigten  Originale,  dazu  den  Umrissstich  bei  Förster, 
Denkm.  der  ital.  Malerei  III,  48. 

3  Die  Skizze  zum  Gottvater  habe  ich  seitdem  auf  der  Rückseite  einer  unbezweifelbaren  Zeichnung  in  0.\ford  entdeckt. 
(Vgl.  unten  den  Bericht  über  die  Nat.  Gall.  in  London.) 


—     117     — 

Die  Zeichnung,  jünglingsmässig  wie  sie  ist,  hat  noch  mehr  vom  Gepräge  Timoteos  als  die 
Ausführung.'  Die  allegorische  Figur  zur  Linken  erscheint  timoteisch,  wie  Lermolieft"  richtig  bemerkt:  die 
rundliche  Kopfform,  die  Faltengebung,  das  kurze  bis  an  die  Knöchel  reichende  Gewand,  entsprechen 
Gestalten  wie  jene  Magdalena  und  eine  hl.  Margaretha  im  Besitz  des  Herrn  Senatore  Morelli  zu 
Mailand.  Auch  der  Kopf  ihrer  Rivalin  zur  Rechten  führt  auf  die  nämliche  Kunstweise;  die  Haare 
sind  ähnlich  wie  die  der  Jungfrau  auf  dem  Verkündigungsbild  in  der  Brera  arrangiert.  Aber  schon 
das  Gewand  zeigt  fremde  Motive,  die  von  Perugia  herkommen.  Im  Gemälde  ist  diese  Gestalt  vollends 
peruginesk  geworden  und  auch  der  Typus  der  ersteren  in  dem  nämlichen  Sinne  verändert.  Ihr 
Gewand  und  der  Lorbeerbaum  erinnern  noch  an  Timoteo  Viti;  der  Kopf  des  jungen  Ritters  ist 
bereits  von  N.  Heibig  zu  dem  schlafenden  Wächter  in  Peruginos  Auferstehung  Christi  in  Beziehung 
gebracht  werden.  ^  Zeichnung  und  Gemälde  dokumentieren  uns  demnach  einen  Übergangsprozess 
in  Raphaels  jugendlicher  Kunstentwickelung,  wie  wir  ihn  nicht  klarer  und  verständlicher  erwarten 
können.  Die  frühe  Skizze  zum  Traum  des  Ritters  gehört  neben  dem  vollendeten  Entwurf  zum 
Marsyasbilde  zu  den  wichtigsten  Zeugnissen,  die  wir  ausser  dem  Skizzenbuch,  gleichsam  als  nötigste 
Ergänzungen  für  das  Verständnis  dieser  Periode  besitzen. 

Die  liebliche  Frauengestalt  zur  Rechten  im  Gemälde  kündigt  bereits  im  voraus  ihre  Schwestern 
im  Sposalizio  an  und  mag  uns  zu  einem  andern  verwandten  Bildchen  hinüberleiten.  Sie  trägt  einen 
auffallenden  Schmuck:  Perlenschnüre  von  roten  Korallen  sind  hier  um  Brust  und  Taille  geschlungen; 
„die  drei  Grazien"  bei  Lord  Ward  in  Dudleyhouse  j  sind  mit  ähnlichen  Ketten  um  Hals  und  Haar 
herausgeputzt,  die  uns  an  den  nackten  Göttinnen  um  so  merkwürdiger  vorkommen. 

Zu  diesem  Gemälde  liefert  uns  das  venezianische  Skizzenbuch  nicht  sowol  den  ausgeführten 
Entwurf  des  Ganzen,  den  wir  als  verloren  betrachten  müssen,  als  vielmehr  eine  vorbereitende  Skizze, 
welche  direkt  vor  dem  Urbilde,  der  antiken  Marmorgruppe  in  Siena  entstand. 

Die  nackten  Gestalten  sind  absichtlich  in  eine  flache  Landschaft  gestellt,  um  den  harmonischen 
Fluss  der  Linien  nicht  durch  fremde  Formationen,  schroffe  Felsen  oder  aufragende  Kirchtürme,  zu 
stören.  Die  Gesichter  haben  bei  der  Ausführung  in  Farben  vollständig  den  Typus  der  gleichzeitigen 
Frauenköpfe  von  Raphaels  Hand  bekommen  und  verraten  nichts  mehr  von  der  antiken  Herkunft. 
Wenn  die  Figuren  sogar  noch  etwas  gedrungener  scheinen  als  wir  sonst  bei  ihm  erwarten,  so  mag 
darin  ein  letzter  Nachklang  der  Schönheitsideale  Signorellis  erkannt  werden;  ein  Blick  in  das 
Skizzenbuch  erklärt  das. 

Überhaupt  müssen  noch  manche  Elemente,  die  auch  Raphaelkennern  in  den  Arbeiten  dieser 
Zeit  zu  schaffen  machen,  auf  ihren  Ursprung  von  Luca  Signorelli  und  Timoteo  della  Vite  zurückgeführt 
werden.  Man  denkt  bisher  eben  nur  ausschliesslich  Perugino,  wenns  hoch  kommt  ein  Bischen  Giovanni 
Santi  zu  Anfang  und  vielleicht  Pinturicchio  am  Ende  (1503)  zu  finden;  mag  es  erlaubt  sein,  wenigstens 
einige  Ingredienzien  aufzuweisen,  die  der  Schüler  Francias  und  der  Meister  von  Cortona  hinzugetan. 


1  Oder  ist  umgekehrt,   von  Timoteo  später  völlig   assimiliert;    denn  das  Bild  in  der  Brera   mit  den  beiden   jungen 
Heiligen  Crescentius  und  Vitalis  neben  der  Madonna  ist  viel  späteren  Datums.    Vitalis  trägt  die  breiten  Schuhe  sog.  Kuhmäuler. 

2  Zeitschrift  für  bildende  Kunst.     VIII,  S.  302  ff. 

3  Jetzt  in  Chantilly,  Sammlung  Duc  d'Aumale. 


—     ii8     — 


Am  wenigsten  beachtet,  aber  für  den  allgemeinen  Eindruck  der  Werke  oft  sehr  bedeutsam 
sind  zahlreiche  Gewandmotive,  Kostüme  u.  dgl.,  die  Raphael  teils  von  Timoteo,  teils  von  Signorelli 
angenommen  und  bis  in  seine  florentinische  Zeit,  ja  weiter  hinaus  beibehalten  hat.  So  steht  jene 
allegorische  Figur  zur  Linken  im  Traum  des  Ritters  nicht  allein,  sondern  Mancherlei  in  der  Zeichnung 
zum  fünften  Fresko  der  Libreria  von  Siena,^  im  Cartoncino  zum  ersten  Fresko  daselbst,  erklärt  sich 
nur,  aber  auch  unmittelbar,  wenn  wir  Gestalten  von  Timoteo  wie  die  heil.  Margareta^  und  S.  Vitalis 
in  Mailand,  sowie  das  Altarbild  in  der  Sakristei  des  Domes  von  Urbino  herbeiziehen,  oder  andrer- 
seits Gewänder  von  Signorelli  mit  ihren  bauschigen  Falten  und  schweren  Stoffen  als  Vorbilder  in 
Rechnung  bringen.     Aber  es  fragt  sich  stets,  wie  weit  die  Chronologie  dazu  berechtigt. 

Darnach  sind  es  die  Köpfe  mit  dem  runden,  fast  völlig  halbkugeligen  Schädel  und  dem  reinen 
Oval  des  Gesichts,  das  in  ein  spitzes  vorn  etwas  abgeplattetes  Kinn  ausläuft,  —  eine  Lieblingsform 

Raphaels,  die  er  auf  Anregung  des  Timoteo,  oder 
vielmehr  nach  dem  durchgehenden  Lokaltypus  seiner 
Heimat,  um  diese  Zeit  ausbildet,  und  selbst  in  der  ganz 
peruginesken  Periode  nur  eine  kurze  Weile  mit  der 
Atelierschablone  Vannucci's  vertauscht.  Überall  wo 
keine  absichtliche  Nachahmung  der  Manier  Peruginos 
vorliegt,  —  welche  wir  in  manchen  beim  Meister  selbst 
bestellten  und  von  Gehülfen  ausgeführten  Arbeiten 
entschieden  annehmen  müssen,  —  bleibt  er  diesem 
Typus  getreu.  Wir  können  ihn  beinahe  in  seiner 
Entstehung  verfolgen,  wenn  wir  auf  die  frühesten 
Zeichnungen  zurückgehen;  wenigstens  giebt  es  kein 
besseres  Mittel  den  Sinn  für  das  acht  Raphaelische 
in  dieser  Jugendepoche  zu  schärfen  als  solche  Ver- 
gleichung  charakteristischer  Beispiele,  welche  auch 
an  sich  höchst  lehrreich  ist.  Man  lege  sich  nur  den 
Kopf  des  vorderen  Fantino  in  jenem  kindlichen  Kindermord  neben  den  schematisch  behandelten 
ersten  Reiter  auf  der  florentiner  Skizze  zum  Cartoncino  der  Reise  des  Enea  Silvio;  den  zweiten  dort 
neben  den  zweiten  hier ;  dazu  den  Engel  im  Berliner  Entwurf  zur  Madonna  Terranuova,  den  Marsyas 
in  Venedig,  den  Enea  Silvio  auf  dem  Cartoncino  der  Uffizien  und  den  träumenden  Ritter  in  dem 
Bilde  der  Londoner  Nationalgalerie.  Dann  betrachte  man  das  Portrait  mit  der  Malerkappe  im  Skizzen- 
buch Fol.  i8b,  das  durchaus  in  der  Art  Signorellis  gehalten  ist,  und  die  beiden  oberen,  fein  modellierten 
Jünglingsköpfe  auf  Fol.  13  a,  den  Pagen  dicht  hinter  Enea  Silvio  im  Cartoncino  zu  Florenz,  endlich 
Apoll  auf  der  venezianischen  Zeichnung  zum  Marsyasbilde,  den  Kaiser  und  Heinrich  Leubing  auf 
der  Zeichnung  in  Casa  Baldeschi  zum  fünften  Fresko  der  Libreria,  —  ferner  den  schwebenden  Engel 
mit  Tamburin  (Fol.  lob)  und  die  nackten  Jünglinge  (Fol.  1 1  b)  dicht  dahinter,  und  ziehe  dann  Beispiele 


'  Publ.  in  m.  Kaph.  &  Pinturicchio.     Taf.  VI.  (nach  < 
2  Publ.  b.  Lermolieff  a.  a.  O.  S.  345  und  347. 


ner  Durchzeichnung  i 


i  Peter  Cornelius). 


von  den  Lehrern,  wie  Signorelli's  strammen  Söldling  hinter  dem  falschen  Totilas  zu  Montoliveto 
nebst  dem  heiligen  Sebastian  Timoteos  aus  der  Verkündigung  in  Mailand  heran. '  Zu  einer  ähnlichen 
Vergleichung  fordern  die  Frauenköpfe  des  Skizzenbuches  (Fol.  17  b),  eine  Madonna  mit  dem  schlafenden 
Kinde,  die  Köpfe  der  Grazien  auf  dem  Gemälde  und  auf  der  Skizze,  die  allegorischen  Erscheinungen 
im  Traum  des  Ritters,  die  Hofdamen  der  Eleonore  von  Portugal  in  der  Zeichnung  der  Casa  Baldeschi, 
sowie  die  Madonna  Connestabile  und  andere  Marienbilder  dieser  Zeit  heraus. 

Ausser  dem  Kopf  sind  es  dann  die  Hände,  die  in  ihrer  allgemeinen  Form  und  momentanen 
Bewegung  beachtet  sein  wollen.  Lermolieff  macht  mit  Recht  auf  das  breite  viereckige  Metacarpium 
mit  verhältnismässig  kurzen  Fingern  aufmerksam,  das  Raphael  mit  Timoteo  Viti  gemein  hat.  Er 
giebt  die  Hand  des  träumenden  Ritters  als  Beispiel;  man  lege  sich  daneben  jene  spezielle  Hand- 
studie neben  den  Modellfiguren  zu  musizierenden  Engeln  auf  einem  köstlichen  Blatte  zu  Oxford, 
welche  fi.ir  die  Krönung  Mariae  im  Vatikan  bestimmt  waren,  ferner  die  Hand  des  Heinrich  Leubing 
auf  dem  Entwurf  in  Casa  Baldeschi  zu  Perugia  und  die  des  Engels  mit  Tamburin  im  Skizzenbuch. 
Die  Hand  mit  dem  weitabstehenden,  ganz  gestreckten  oder  leise  gekrümmten  kleinen  Finger  lässt  sich 
ebenso  von  Timoteos  hl.  Vitalis  und  Margaretha  zu  den  Oxforder  Engeln,  zur  Krönung  des  hl.  Nicolaus 
V.  Tolentino  in  Lille,  sowie  zu  Heinrich  Leubing  und  zu  Adam  in  der  Erschaffung  Evas  auf  der 
Kirchenfahne  in  Cittä  di  Castello  verfolgen.  Eine  andere  Reihe  bilden:  die  Hand  der  allegorischen 
Figur  mit  dem  Schwert  im  Traum  des  Ritters,  die  des  Pagen  hinter  Enea  Silvio  im  florentiner 
Cartoncino  und  andere  im  Skizzenbuch  wie  auf  Gemälden  Raphaels  vorkommende  Stellungen.  Auf 
dem  Entwurf  zur  Madonna  Terranuova  in  Berlin  haben  wir  die  kleine  breite  fleischige  Hand,  die  von 
Timoteo  stammt,  beim  Johannisknaben,  neben  der  grossen,  langfingrigen  steifgestellten,  die  auf  Luca 
Signorelli  zurückweist,  unmittelbar  neben  einander.  Auch  die  Finger  der  Madonna  Connestabile,  auf  der 
Rückseite  desselben  Blattes  werden  durch  die  übermässigen  Vorderglieder  und  breiten  Nägel  entstellt. 
Die  Fingerstudie  auf  dem  Oxforder  Blatte  betont  in  auffallender  Weise  die  Muskelbänder  zwischen 
den  Gelenken;  sie  sind  gleichsam  unter  der  Haut  angedeutet.  Dasselbe  findet  sich  in  zahlreichen 
Blättern  des  Skizzenbuches  besonders  in  den  Reproduktionen  der  berühmten  Männer  aus  dem  Studio 
de  ritratti  in  Urbino,  sowie  in  den  Kopieen  nach  Signorelli,  —  ein  Fingerzeig,  woher  Raphaels  Sinn 
für  anatomische  Richtigkeit  erwachsen  war. 

Ist  es  doch  dieses  Streben  nach  Naturwahrheit,  das  man  als  sicheres  Merkmal  Raphaelischer 
Arbeit  während  der  peruginesken  Periode  bezeichnen  muss.  Selbst  bei  geflissentlicher  Nachahmung 
der  Gefühlsmasken,  welche  das  Atelier  Peruginos  damals  lieferte,  erkennen  wir  überall  den  gewissen- 
haft erzogenen  Sohn  des  Giovanni  Santi,  dem  unter  Signorellis  Anweisung  das  Verständnis  der 
menschlichen  Körperformen  aufgegangen  war,  so  dass  er  seitdem  keine  Figur  hinstellte  ohne  sich 
über  jede  Bewegung  angesichts  der  Natur  Rechenschaft  zu  geben.  Sowol  im  Skizzenbuch  als  in 
anderen  Zeichnungen  tritt  uns  ein  fortgesetztes  Studium  am  nackten  oder  leicht  bekleideten  Modell, 
meistens    von    Knaben    und   Jünglingen    entgegen.     Kein    Wunder,    dass    sich    solche    Nachwirkung 

1  die  Adepten  der  neuesten  Chiromantie  und  Oto- 
i,  wie  die  der  Madonna  mit  dem  geigenspielenden 
:<echnung  Lermolieffs  gerade  um!) 


I  Diese  Aufforderung    zur  Koi 

Sequenz    richtet 

sich   besonde 

gnostik.    (Die   spätere  Entstehungszeit  a 

ich  dieses  Bilde 

von  Timote 

Engel  nebst  S.  Crescentius  und  S.  Vita 

is   dreht  aber  die 

chronologisc 

Signorellis  auch  in  ausgeführteren  Arbeiten  dieser  Zeit  verrät.  Im  Anschluss  an  die  Modellstudien 
zu  Engeln  in  Oxford  und  zu  Christus  mit  der  Jungfrau  in  Lille  für  die  Krönung  Mariae,  sowie  an 
jene  Figuren  einer  Auferstehung,  ebenfalls  in  Oxford,  dürfen  wir  die  Knappen  auf  dem  Stafifel- 
bildchen  der  „tre  Re  Magi"  und  die  vorzüglich  bewegte  Gestalt  des  stabbrechenden  Freiers,  rechts  im 
Sposalizio  hervorheben.  Zu  diesen  aber  gehören  notwendig  die  prächtigen  Reiter  auf  dem  Entwurf 
zur  Reise  des  Enea  Silvio,  im  Gang  der  Uffizien  zu  Florenz,  und  der  ihnen  voranschreitende  Piken- 
träger, dessen  Beine  uns  auf  mehrere  Blätter  des  Skizzenbuches  zurückweisen.  Den  Letzteren  haben 
zweifellos  Vorbilder  von  Luca  Signorelli  selbst  zu  Grunde  gelegen,  und  eben  jene  Arbeiten  Raphaels 
für  Pinturicchios  Fresken  in  Siena,  deren  nahe  Verwandtschaft  mit  dem  Sposalizio  in  die  Augen 
fällt,  führen  uns  abermals  direkt  auf  einzelne  Figuren  Signorellis.  Ich  meine  jene  Landsknechte  auf 
einer  Skizze  Raphaels  in  Oxford,'  welche  für  das  Fresko  der  Dichterkrönung  bestimmt  waren,  und  ihre 

Genossen  auf  der  Zeichnung  in  Casa  Baldeschi  zu 
Perugia,  welche  die  Begegnung  Kaiser  Friedrichs  III. 
mit  Eleonora  von  Portugal  darstellt.  Die  zeugungs- 
kräftigen Urbilder  dieser  Figuren  sind  Signorellis 
Prachtexemplare  auf  den  Totilas-Fresken  zu  Monto- 
liveto  Maggiore.  Wir  finden  sie  fast  alle  ganz  ähnlich 
oder  in  geläufigen  Variationen,  im  selben  Sinne  oder 
von  der  Gegenseite  wieder.  Dieselben  Landsknechte 
haben  auch  in  dem  letzten  grossen  Fresko  in  Siena, 
über  dem  Eingang  der  Libreria  im  Dom,  ausgiebige 
Verwertung  gefunden.  Die  Masse  der  Zuschauer 
bei  der  Krönung  Pius  III.  wird  von  der  Schweizer- 
wache in  Ordnung  gehalten:  eine  Scene,  deren 
Ausführung,  im  Gegensatz  zu  dem  oberen,  von 
Pinturicchio  selbst  gemalten  Teil,  die  Beihülfe  des 
Eusebio  di  San  Giorgio  erkennen  lässt.''  Wie  weit 
die  Beliebtheit  und  Verbreitung  dieser  Gestalten  von  Signorelli  reichte,  bezeugt  uns  auch  die  grosse 
Passion  Albrecht  Dürers,  wo  Herm.  Grimm  auf  dem  Eccehomoblatte  ganz  rechts  am  Rande  einen 
Söldling  gewahrt  hat,  der  augenfällig  genug  auf  Seinesgleichen  in  den  Totilasfresken  zu  Montoliveto 
zurückweist; 3  dies  ist  wenigstens  der  nächstliegende  Schluss,  da  Signorellis  Fresko  1497  entstand 
und  wir  von  der  Holzschnittfolge  Dürers  nur  das  Datum  der  Publikation  15 10  wissen. 

Genug,  der  durchgreifende  Einfluss  Signorellis,  den  wir  im  Skizzenbuch  vorfanden,  verrät  sich 
auch    in    anderweitigen    Arbeiten    Raphaels    aus    dieser   Zeit   mit    hinreichender   Bestimmtheit.     Die 


1  Bei  Ottley,  Itali 

2  Es    ist   wol    die; 
Goldgulden  zu  zahlen. 

3  Nur  die  Beinstellu 
Wandgemälde  in  der  Cap.  Si 
Christi  in  Morra. 


School  of  Design,  u.  Fisher,  Facsimih 
Leistung,   für   welche   Pinturicchio    siel 


>  11,  s. 


1506   veqjflichtet   dem  Eusebio  hundert 


ist    dem    Platze    gemäss    verändert.     Bei  Signorelli    haben    wir    übrigens   bereits   auf  dem 
na  zu  Rom,  also   1483,  ganz  ähnliche  Gestalten  zu  konstatieren.     Sonst  vgl.  die  Geisselung 


Verwandtschaft  der  Typen,  wie  einzelne  Handgriffe  und  Gewohnheiten,  leiteten  zugleich  auf  frühe 
Unterweisung  durch  Timoteo  Viti,  jedenfalls  auf  wiederholte  Berührung  mit  ihm  in  Urbino.  Nehmen 
wir  dazu  die  Tradition,  welche  Raphael  im  Atelier  Peruginos  und  in  persönlichem  Verkehr  mit 
diesem  einstigen  Schüler  des  Verrocchio  sich  aneignete,  endlich  noch  jene  kontraktliche  oder  freund- 
schaftliche Abhängigkeit  von  Bernardino  Pinturicchio,  welche  an  anderer  Stelle  erörtert  worden  sind, 
so  haben  wir  eine  Reihe  beisammen,  welche  die  wichtigsten  Elemente  für  Raphaels  Jugendbildung 
enthält.  Daraufhin  eine  sorgfältige  Analyse  vorzunehmen  und  eine  offenbar,  je  nach  den  Oscillationen 
der  eigenen  Produktivität,  variable  Synthesis  zu  konstatieren,  scheint  die  einzige  adäquate  Auffassung, 
welche  dem  vorliegenden  Material  —  das  wir  glücklicher  Weise  für  Raphaels  Werden  besitzen  — 
gerecht  zu  werden  vermöchte.  Es  würde  doch  jedenfalls  mehr  befriedigen,  wenn  ein  organisches 
Gebilde  aus  den  hier  bezeichneten  Elementen  an  die  Stelle  jenes  unbeschreiblichen  liebenswürdigen 
Etwas  träte,  das  man  als  einziges  untrügliches  aber  völlig  subjektives  Erkennungszeichen  der  Jugend- 
werke Raphaels  immer  noch  hinstellt. 

Sind  wir  mit  den  obigen  Andeutungen,  die  ja  keineswegs  den  Anspruch  abgeschlossener 
Forschungsresultate  erheben,  nicht  gänzlich  auf  Abwege  geraten,  so  wird  aus  alledem  wenigstens 
soviel  erhellen,  wie  tief  die  Frage  nach  der  Echtheit  des  Skizzenbuches  in  Venedig  in  die  wichtigsten 
Angelegenheiten  der  ganzen  Jugendgeschichte  Raphaels  eingreift,  wie  zahlreiche  Beziehungen 
zwischen  diesen  Blättern  und  seinen  anerkannten  Arbeiten,  Gemälden  wie  Zeichnungen,  hinüber  und 
herüber  spielen.  Möchte  mit  dem  Nachweis  dieser  Zusammengehörigkeit  nur  das  eine  erreicht  werden, 
das  wir  beantragen  wollten,  nämlich  eine  gründlichere  Prüfung  und  methodische  Umarbeitung  dieses 
bedeutsamen  Abschnitts  in  Raphaels  Leben. ' 


I  Mit   diesem  Aufsatz  vgl.  Crowe    und  Cavalcaselles  Raphael,   bis   life   and  works.     London  1882.     (Die   deutsche 
Übersetzung  1883),  und  meine  Recension  in  den  Göttinger  gelehrten  Anzeigen,  8.  August  1883,  p.  1003 — 1012. 


ITALIENISCHE  MALERSCHULEN 

IN  DER 

LONDONER  NATIONALGALERIE 


Die  Nationalgalerie  zu  London  hat  soeben  eine  durchgreifende  Umgestaltung  erfahren,  die 
uns  wol  veranlassen  darf,  ihre  Räume  wieder  einmal  zu  durchwandern.  Statt  der  engen  dunklen 
Seitengänge,  die  bis  vor  kurzem  links  zu  den  englischen,  rechts  zu  den  ausländischen  Gemälden 
führten,  öffnet  sich  jetzt  in  der  Mitte  ein  prächtiges  Vestibül  mit  breiter  Treppe,  hell  und  festlich 
den  Zugang  zu  allen  Teilen  gewährend.  Eine  Reihe  von  neuen  Sälen  ist  hinzugekommen,  darunter 
mehrere  mit  Oberlicht,  so  dass  die  Aufstellung  des  gesamten  Bestandes  erweitert  werden  konnte.' 
Vor  allen  Dingen  aber  hat  man  sich  auch  hier  entschlossen,  die  Sammlung  so  genau  wie  möglich 
nach  Lokalschulen  zu  ordnen,  wie  es  in  unseren  Hauptgalerien  in  Deutschland,  besonders  in  München, 
in  Berlin,  in  Dresden  mit  glücklichstem  Erfolg  geschehen  ist.  Diese  kunsthistorische  Organisation 
vollendet  eigentlich  erst  den  monumentalen  Charakter  des  Ganzen;  denn  sie  giebt  dem  Beschauer 
überall  das  Gefühl  eines  innerlichen,  dem  Wesen  der  Sache  entsprechenden  Zusammenhangs. 

Während  sonst  der  Fachmann,  der  bestimmte  Studien  verfolgte,  sich  genötigt  fand,  hier  und 
da  herumzusuchen,  und  der  Emsigste  zuweilen,  um  Verwandtes  vergleichen  zu  können,  unstät  hin 
und  her  lief,  —  mochte  dem  Laien,  der  aus  dem  Gewühl  der  Londoner  Strassen  nicht  mit  voller 
Gemütsruhe  eintrat,  wol  zu  Mute  werden  wie  in  den  show-rooms  irgend  eines  grossen  Geschäftes, 
wo  die  Waren  aus  aller  Herren  Ländern  ausgebreitet  liegen.  Jetzt  mag  man  sich  getrost  dem  Ver- 
lauf der  Räume  überlassen,  ohne  vorgefassten  Zweck  nur  aufzunehmen,  was  sich  darbietet:  man  wird 
überall  den  Anblick  wolgeordneter  Gruppen  empfangen  und  muss  Verständnis  gewinnen  für  das 
Gemeinsame,  das  sie  verbindet,  wie  für  die  Unterschiede,  die  sie  trennen.  Das  Bewusstsein  einer 
sichern  Einheit,  die  auch  Gegensätze  umspannt,  wird  mehr  oder  minder  deutlich  in  allen  Beschauern 
hervorgebracht  und  verleiht  dem  Institute  nach  aussen  die  Geschlossenheit  und  Selbständigkeit,  die 
wir  anerkennen. 

Die  englische  Nation  besitzt  nun  wirklich  eine  Gemäldegalerie,  die  sich  den  ersten  der  Welt  an 
die  Seite  stellen  darf.    Gehört  sie  auch  nicht  zu  den  glänzendsten,  wie  Florenz  im  Palazzo  Pitti,  Paris 


'  Dieser  Aufsatz  erschien  in  der  Nationalzeitung,  Berlin   19. — 26.  August  1 


im  Louvre  und  unser  Dresden  sie  aufzuweisen  haben,  so  steht  sie  an  Vielseitigkeit  des  Vorhandenen, 
an  Gediegenheit  jedes  einzelnen  Stückes  und  an  geschickter  Auswahl  des  Erworbenen  wol  einzig  da. 
Sie  zählt  deshalb  zu  den  lehrreichsten  Sammlungen,  wie  die  Uffizien  zu  Florenz  oder  unsere  Berliner 
Galerie,  mit  der  sie  das  Schicksal  teilt,  erst  eine  moderne,  verhältnismässig  sehr  junge  Anstalt  zu 
sein,  die  mit  allen  Schwierigkeiten  des  heutigen  Kunsthandels  zu  kämpfen  hat.  Manche  Lücken 
können,  wenn  überhaupt,  nur  ganz  allmählich,  oft  nur  bei  zufälliger  Gelegenheit  ausgefüllt  werden. 
Kein  Wunder,  wenn  auch  die  neue  Anordnung  dem  Kundigen  zu  wünschen  übrig  lässt.  Man 
vermag  eben  die  Räume  nicht  jedesmal  nach  dem  zeitweiligen  Bestand  dieser  oder  jener  Schule  zu 
schaffen,  nicht  jeder  Gruppe  von  Meistern  ihr  eigenes  kleines  Reich  im  Ganzen  anzuweisen,  oder  es 
gerade  dorthin  zu  verlegen,  wo  man  es  der  geschichtlichen  Entwickelung  gemäss  am  liebsten  eingefügt 
sähe.  Eins  aber  ist  geradezu  beneidenswert  in  dem  gegenwärtigen  Zustand  der  Londoner  Galerie: 
die  Säle  sind,  wenn  auch  nicht  gerade  besonders  hoch,  doch  so  gross,  dass  die  Wände  nicht  von 
oben  bis  unten  mit  Bildern  behängt  zu  werden  brauchen;  es  bleibt  fast  überall  genügender  Raum 
ringsum,  und  das  Auge  vermag  auszuruhen,  sich  zu  neutralisieren,  ehe  es  zum  nächsten  übergeht. 
Das  ist  ein  ungemeiner  Vorzug.  Es  sichert  nicht  allein  dem  Ganzen  den  Eindruck  vornehmer  Ruhe, 
umfassender  Klarheit,  sondern  auch  dem  Einzelnen  die  Wirkung,  die  es  für  sich  auszuüben  vermag. 
Es  fehlt  in  den  neuen  Räumen  nicht  an  Schätzen,  die  wir  das  erste  Mal  begrüssen,  aber  auch 
manches  lange  vorhandene  Stück  ist  erst  jetzt  zur  vollen  Geltung  gelangt. 

I. 

Die  toskanischen  Meister  sind  es  mit  Recht,  die  den  Eintretenden  empfangen:  den  Florentinern 
und  ihren  nächsten  Angehörigen  hat  man  die  ersten  Säle  eingeräumt,  und  Lionardo  da  Vinci, 
Michelangelo  Buonarroti  und  Andrea  del  Sarto  sind  die  Höhepunkte,  denen  wir  zustreben.  Hier 
sehen  wir  die  Vorgänger  dieser  Grossen  beisammen,  aus  denen  die  Vollender  hervorgewachsen,  und 
ein  Paar  Nachfolger  daneben,  die  das  Erworbene  weiter  ausgebeutet.  So  begegnen  uns  Fra  Filippo 
und  Pesellino,  Botticelli  mit  Filippino  Lippi,  Piero  di  Cosimo,  Pollajuolo  und  Verrocchio,  Lorenzo 
di  Credi  neben  Lionardo  da  Vinci,  aber  auch  Pontormo  und  Bronzino,  ja  Marcello  Venusti  neben 
Michelangelo.  Ridolfo  Ghirlandajo  ist  durch  die  grosse  Kreuztragung  aus  dem  Palast  Antinori 
vertreten,  aber  wir  entbehren  seinen  so  viel  bedeutenderen  Vater  Domenico.  Auch  Franciabigio 
fehlt  nicht  als  Genosse  des  Andrea  del  Sarto;  doch  zur  Vorbereitung  auf  diesen  bietet  sich  nur  ein 
kleiner  Albertinelli  an,  während  die  Erwerbung  eines  würdigen  Fra  Bartolommeo  noch  zu  hoffen 
bleibt.  Das  zweite  Zimmer,  an  der  einen  Seite  dieses  Oberlichtsaales,  enthält  die  Werke  des  Fra 
Angelico  und  Benozzo  Gozzoli  und  einige  frühe  Sienesen,  wie  Duccio,  Lorenzetti  bis  zu  Matteo  di 
Giovanni  und  Benvenuto  di  Siena,  von  denen  die  trefflichsten  Stücke  aus  dem  Munistero  di  Siena 
gekauft  worden,  und  als  letzter  Girolamo  del  Pacchia,  der  in  jener  Gegend  die  Kunst  [des  Fra 
Bartolommeo,  ja  der  Florentinischen  Madonnen  Raphaels  verwertet.  Auf  der  anderen  Seite  bringt 
das  dritte  Zimmer  noch  mehrere  Bilder  von  Fra  Filippo,  Botticelli,  Filippino  und  das  Reitertreffen 
von  Paolo  Ucello,  während  das  anstossende  vierte  Gemach  die  Anfänge  der  Florentinischen  Malerei 
im  Trecento,  ja  bis  auf  Margaritone  d'Arezzo  zurückverfolgen  lässt. 


Wer  aber  den  Hauptsaal  der  florentinischen  Meister  durchschreitet,  gelangt  im  nächsten 
Oberiichtraum  zu  der  umbrischen  Abzweigung,  wo  wir  aus  Piero  della  Francesca  und  Melozzo  da 
Forli  und  Signorelli  auf  der  einen  Seite,  aus  Pinturicchio  und  Perugino  auf  der  andern  die  Kunst 
Raphaels  erblühen  sehen. 

Zuvor  jedoch  mag  es  vergönnt  sein,  bei  einzelnen,  besonders  interessanten  Gemälden  noch 
einen  Augenblick  zu  verweilen.  Da  ist  sogleich  zu  Anfang  ein  abgenommenes  Fresco  von  Domenico 
Veneziano,  das  sich  früher  an  einer  Strassenecke  in  Florenz  befand,  eins  der  wenigen  erhaltenen 
Werke  dieses  Meisters.  Zwei  Köpfe  von  Heiligen,  die  zu  demselben  Tabernakel  gehörten,  waren 
schon  früher  in  der  Galerie  ausgestellt,  das  Mittelstück  mit  der  thronenden  Madonna  in  ganzer  Figur 
und  dem  segnenden  Gottvater  in  starker  Verkürzung  zu  ihren  Häupten,  ist  dann  von  dem  Karl  of 
Crawford  and  Balcarres  geschenkt  worden.  Es  ist  eine  majestätische  Frauengestalt,  mit  langem 
Oberkörper,  ganz  von  vorn  gesehen,  die  mit  den  langen  spitzen  Fingern  ihrer  weichen  Hände  das 
Christkind,  nackt  und  gerade  stehend,  auf  dem  Knie  hält.  Vor  diesem  Fresco,  das  allerdings  beim 
Übertragen  auf  Leinwand  etwas  gelitten  hat,  begreift  man  erst,  das  Domenico  Veneziano  der  Lehrer 
des  grossen  Piero  della  Francesca  gewesen,  nnd  macht  sich  beim  Anblick  dieser  Modellierung  des 
Fleisches,  ja  dieser  spiegelnden  Scheiben  als  Heiligenscheine  klar,  wie  viel  von  seinem  Realismus 
der  Meister  der  Perspektive  und  der  Schattengebung  bereits  als  Erbteil  von  diesem  Lehrer 
empfangen  mochte. 

Zu  den  Lieblingsmeistern  unter  den  Florentinern  des  Quattrocento  gehört  Sandro  Botticelli, 
den  man  in  mancher  Beziehung  hier  vortrefflich  kennen  lernen  kann.  Die  lagernde  Venus  mit  den 
spielenden  Amorinen,  die  sie  mit  Rosen  überschütten,  ist  noch  befangen  und  unfrei;  voll  eigenartiger 
Poesie,  aber  doch  wol  schwerlich  sein  Eigentum.  Dann  die  wunderbare  Darstellung  der  heiligen 
Nacht,  wo  in  einsamer  Hütte  der  verheissene  Erlöser  geboren  wird,  und  in  dem  Dunkel  ringsum 
die  Engel  sich  umarmen,  sich  vor  Freude  küssen  und  den  jubelnden  Reigen  durch  die  Lüfte  schlingen 
(v.  Jahre  1500).  Das  ist  die  Schwärmerseele,  die  sich  in  Dantes  Dichtung  vertieft.  In  seiner  eigenen 
Kunst  am  grössten  erscheint  er  jedoch  in  der  Anbetung  der  Könige,  die  sicher  ihm  und  nicht 
Filippino  Lippi  gehört,  von  dem  hier  wol  nur  ein  Gemälde  desselben  Gegenstandes  vorhanden  ist. 
Dies  Rundbild  ist  eine  der  reichsten  Kompositionen,  wo  sich  die  Verehrung  der  Weisen  aus  dem 
Morgenland  durch  die  Fülle  ihres  Gefolges  zu  einer  glänzenden  Huldigung  gestaltet,  —  jener 
rührenden  Cantate  des  „Gloria  in  excelsis"  gegenüber  eine  rauschende  Festouverture  mit  dem  ganzen 
Pomp  des  feierlichen  Hochamts.'  Ein  Werk,  das  die  Eindrücke  seiner  römischen  Zeit  verrät  und 
den  Fresken  der  Cappella  Sistina,  besonders  der  Tempelscene  mit  der  Versuchung  Christi,  in  deren 
prächtiger  Entfaltung  uns  ebenfalls  so  viele  Züge  an  Filippino^  gemahnen,  auch  zeitlich  nahe  steht, 
ist  dann  erst  das  grosse  Breitbild  mit  der  Anbetung  der  Könige,  das  sich  in  St.  Petersburg  befindet. 
Die   beiden  Darstellungen   desselben  Gegenstandes  von  Sandro  Botticelli  in  London  bilden  mit  dem 


1  Es  ist  seither  von  Ulmann  mit  Recht  als  das  Exemplar  der  Familie  Pucci  bestimmt  worden. 

2  Nach  diesem  Wortlaut  des  sonst  mehrfach  benutzten  Aufsatzes  kann  ich  bei  Ulmann,  Botticelli  S.  97  i 
Lapsus  memoriae  annehmen.  Ihm  war  auch  aus  Vorlesungen  meine  Überzeugung  von  Filippinos  Anteil  in  dt 
nicht  unbekannt. 


—      125      — 

Kleinod   der  Uffizien   und   dem  von  Vasari   ausdrücklich   erwähnten   römischen   (in   Petersburg)    eine 
ausserordentlich  wichtige  Reihe  für  die  Geschichte  der  Komposition. 

Vor  wenigen  Jahren  erst  ist  das  umfangreichste  Stück  aus  der  Sammlung  Hamilton  erworben 
worden,  von  dem  uns  Vasari  ausführlich  zu  erzählen  weiss.  Es  ist  eine  Krönung  Marias  in  Gegen- 
wart aller  Heiligen  des  Himmels,  die  in  koncentrischen  Bogenreihen  geordnet,  von  Engeln  belehrt, 
den  Vorgang  bewundern,  während  drunten  am  leeren  Sarkophag,  aus  dem  Lilien  sprossen,  die 
Apostel  versammelt  stehen,  und  das  Stifterpaar,  Matteo  Palmieri  und  seine  Frau,  in  weiter  Land- 
schaft knieen,  in  deren  Hintergrund  eine  Ansicht  von  Florenz  mit  der  vollendeten  Domkuppel 
Brunelleschis  sichtbar  wird.  Vasari  berichtet,  es  sei  für  S.  Piero  M-aggiore  gemalt  worden,  aber 
bald  aus  der  Kirche  entfernt,  da  die  Geistlichkeit  Einsprache  gegen  die  Insassen  des  himmlischen 
Amphitheaters  erhob.  Seitdem  gilt  es  als  wolbeglaubigtes  Werk  des  Botticelli,  und  noch  Crowe 
und  Cavacaselle  rühmen  es  als  eins  der  „lebensvollsten  und  hervorragendsten  seiner  Gemälde".  Ganz 
neuerdings  erst  hat  Direktor  Bode  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  es  mit  einem  Altarwerk  in 
Berlin  und  einem  Cosimo  Rosselli  zugeschriebenen,  der  National-Gallery  selbst,  zusammengehört  und 
nebst  anderen  Stücken  einem  Meister  zuzuweisen  sei,  dessen  Name  er  noch  nicht  herausgefunden.' 
Ich  muss  dieser  Ansicht  beistimmen  und  glaube  auch  den  Maler  nennen  zu  können.  Besonders  das 
Altarwerk  der  National-Gallery,  das  unter  Cosimo  Rossellis  Namen  leider  nicht  im  selben,  sondern 
im  gegenüberliegenden  Seitenraum  hängt,  hat  mich  schon  früher  an  ein  nah  verwandtes  Bild  in 
Empoli  erinnert.  Dort  sehen  wir  in  ganz  ähnlichem  altem  Rahmen  zu  den  Seiten  einer  Mittel- 
nische, die  für  eine  Statue  des  Erlösers  bestimmt  war,  die  langen  schlanken  Figuren  Johannes 
des  Täufers  und  des  Apostels  Andreas,  und  unten  eine  figurenreiche  Predella  mit  dem  Abendmal 
und  den  Martyrien  der  beiden  obigen  Heiligen.  Die  Typen,  die  Gewandung,  wie  die  ganze  Tempera- 
malerei haben  die  grösste  Übereinstimmung  mit  dem  Altarwerke  der  National-Gallery,  das  aus 
Fiesole  stammt.  Es  zeigt  in  der  Mitte  in  besonderer  Umrahmung  statt  der  Nische  den  büssenden 
Hieronymus,  zu  den  Seiten  je  zwei  Heilige  und  in  kleinen  Figuren  den  knieenden  Stifter  Girolamo 
Rucellai  mit  seinem  Sohn.  Mit  Hülfe  dieser  beiden  Bilder  und  anderer  Stücke,  z.  B.  zwei  Engeln 
und  einer  Verkündigung,  die  sich  ebenfalls  in  der  Collegiata  zu  Empoli  befinden,  ist  die  Zusammen- 
gehörigkeit mit  dem  sogenannten  Rossi-Altar  in  Berlin  und  der  grossen  Krönung  Marias  in  der 
National-Gallery  schlagend  nachzuweisen.  Nun  aber  ist  der  Johannes-Altar  in  Empoli  ein  beglaubigtes 
Werk  des  Francesco  Botticini,  von  dem  wir  noch  andere  Bilder  z.  B.  in  einer  Bruderschaftskapelle 
in  Via  Romana  zu  Florenz  besitzen.  Zu  den  Werken  Francesco  Botticinis,  die  nur  durch  unmittel- 
baren Verkehr  mit  Andrea  del  Verrocchio  erklärt  werden  können,  rechne  ich  besonders  das  Altarwerk 
der  Capp.  Capponi  im  Kreuzarm  von  S.  Spirito  mit  S.  Monica  und  12  Nonnen,  wie  das  unter 
Verrocchios  Namen  im  Saal  der  Toskaner  ausgestellte  Altarwerk  in  den  Uffizien.  Volle  Verant- 
wortlichkeit des  Verrocchio  selber  erscheint  dagegen  notwendig  bei  dem  Drei-Engel-Bilde  der 
Akademie,  das  Bayersdorfer  auf  Verrocchio  getauft  hat,  und  bei  der  Geburt  Christi  in  der  Gall.  zu 
Modena.     Dies   also  ist  der  Name   des  Meisters,   den  wir  suchen,   und   die  Ähnlichkeit   der  Namen 


■  Jahrbuch  der  k.  preuss.  Kunstsammlungen  18: 


—      126      — 

Botticini  und  Botticelli  erklärt  zugleich  die  Verwechselung  beider  bei  Vasari.  Gehört  aber  unserm 
Francesco  Botticini  diese  ausgedehnte  Krönung  Marias,  deren  Wert  durch  den  geringeren  Namen 
nicht  herabgesetzt  werden  kann,  so  hat  dieser  Künstler  doch  seine  Geschichte  gehabt  und  eine 
Entwicklung  durchgemacht,  die  wol  etwas  genaueres  Studium  verdient.  Ich  will  nur  auf  eins 
hinweisen:  es  besteht  eine  sehr  enge  und  aufiallende  Gemeinschaft  zwischen  den  Typen  seiner 
Heiligen  und  Engel,  die  hier  der  Krönung  Marias  beiwohnen,  und  zwischen  den  Propheten  und 
Sibyllen  andererseits,  die  als  eine  der  frühesten  Folgen  in  der  Geschichte  des  Kupferstiches  zu 
Florenz  eine  so  wichtige  Rolle  spielen.  Spricht  man  die  Krönung  Marias,  wie  gewiss  mit  Recht  noch 
andere  Werke,  dem  Botticelli  ab,  um  sie  dem  älteren  Meister  Botticini  zurückzugeben,  so  darf 
auch   nicht  vergessen  werden,   welcher  Einfluss  dann  diesem  Älteren  auf  Botticelli  beizumessen  ist. 

Sandros  eigene  Art,  wenn  auch  kaum  seine  eigene  Hand,  glauben  wir  hier  eher  in  einem 
reizenden  kleinen  Bildchen  zu  erkennen,  das  nur  als  unbekannter  Florentiner  des  15.  Jahrhunderts 
gilt.  Es  stellt  den  Kampf  zwischen  Amor  und  Castitas  dar:  der  junge  Liebesgott,  ein  schlanker 
Florentinischer  Jüngling,  verfolgt  mit  Bogen  und  Pfeilen  die  spröde  Jungfrau,  die  sich  mit  einem 
Schilde  schützt,  [an  dem  die  Geschosse  zersplittern.  Das  fliehende  Mädchen  gehört  noch  nicht  zu 
den  allbekannten  Lieblingstypen  Botticellis,  aber  desto  bestimmter  offenbart  die  Zeichnung  des 
jungen  Gottes,  der  eher  einem  Apoll  gleicht,  und  die  Landschaft  mit  den  kleinen  Bäumchen  bis  in 
die  einzelnen  Blätter  hinein,  ja  die  Goldschmiedsarbeit  des  Schildes  den  Geschmack  und  die  Eigenart 
Sandros  selbst.  Es  ist  ein  hübsches  Beispiel  mehr,  wie  die  Stoffe  antiker  Mythologie  und  daran 
anschliessender  Gelehrsamkeit  sich  in  der  Phantasie  dieses  romantischen  Renaissancekünstlers  gestalten. 

In  dieselbe  Kategorie  reiht  sich  eine  andere  Darstellung,  Apoll  und  Daphne,  die  lange  verkannt, 
mittlerweile  als  ein  sehr  bezeichnendes  Werkchen  Pollajuolos  gegeben  wird.  Daneben  darf  es 
Verwunderung  erregen,  dass  unter  den  Bildern,  die  sonst  als  Pollajuolo  aufgeführt  sind,  noch  immer 
keine  Scheidung  eingetreten  ist,  während  die  allgemeine  Überzeugung  der  besten  Kenner  einen 
Teil  für  Andrea  del  Verrocchio  in  Anspruch  nimmt.  Man  hat  es  hier  doch  nicht  mehr  mit 
den  wechseinen  Meinungen  der  Kritiker,  sondern  mit  Resultaten  der  Wissenschaft  zu  tun,  mit  denen 
gerechnet  werden  muss.  Von  Pollajuolo  und  zwar  meines  Erachtens  nicht  von  Antonio,  sondern 
von  Piero  gemalt,  besitzt  die  National-Gallery  nur  noch  das  grosse  Martyrium  des  heiligen  Sebastian 
(voll.  1475).^    Dagegen  ist  der  Engel  Raphael  mit  dem  kleinen  Tobias  ein  eigenhändiges  Werk  des 

1  Dass  Piero  dies  Bild  gemalt,  bezeugt  auch  Francesco  Albertini  (1510).  Die  Komposition  dagegen,  besonders  die 
Zeichnung  der  kühn  verkürzten  Figuren  des  Heiligen  oben  und  der  Schützen  vorn,  wird  wol  dem  Antonio  beizumessen 
sein,  der  nach  seinem  eigenen  Zeugnis  (im  Briefe  an  Gent.  Virginio  Orsini)  viel  mit  seinem  Jüngern  Bruder  zusammen 
gearbeitet  hat.  Für  die  Auseinandersetzung  zwischen  beiden  Meistern  darf  also  jedenfalls  diese  Kategorie  brüderlicher 
Gemeinschaft  nicht  aufgegeben  werden.  Da  Antonio  1429,  Piero  erst  1443  geboren  ist,  wird  während  der  sechziger  Jahre 
besonders  der  Anteil  des  Altern  überwiegen,  wie  z.  B.  am  Bilde  in  S.  Miniato.  Unter  den  Tugenden  der  Mercanzia  (in 
den  Uffizien)  zeigen  die  Prudentia  und  die  Justitia  den  Charakter  Antonios,  Temperantia  und  Fides  den  Pieros,  während 
Spes  und  Caritas  in  der  Mitte  bleiben,  d.  h.  wol  von  Antonio  entworfen,  von  Piero  ausgeführt  sind.  Dann  folgt  das 
Londoner  Bild  von  1475  ""^  die  Verkündigung  in  Berlin,  die  nicht  weit  vor  1480  datiert  werden  darf,  wie  das  Relief  am 
Silberaltar  von  S.  Giovanni.  Von  1483  ist  das  bezeichnete  Bild  Pieros  in  S.  Gimignano  mit  der  Krönung  Marias.  Zur 
Unterscheidung  wichtig  ist  auch  die  Herkunft  von  zwei  verschiedenen  Lehrern.  Vasari  nennt  Andrea  del  Castagno  als 
den  Meister  Pieros,    aber   die  Chronologie  widerspricht   ihm:    Castagno    ist  1457  gestorben,  da  Piero  erst  14  Jahre  zählte. 


—      127      — 

Verrocchio  und  unter  den  Augen  dieses  Meisters  entstand  gewiss  auch  das  liebliche,  für  die 
Empfindung  Peruginos  und  das  Verständnis  Lionardos  so  ungemein  wichtige  Madonnenbild  mit  den 
beiden  Engeln.  Cavalcaselles  Vorschlag,  Lorenzi  di  Credi,  den  Lieblingsschüler  Verrocchios,  als  den 
Autor  der  Malerei  anzunehmen,  darf  immerhin  bestehen  bleiben;  aber  es  muss  doch  als  geistiges 
Eigentum  des  Meisters  selber  betrachtet  werden  und  als  eine  Äusserung  seines  intimsten  Wesens 
zur  Zeit  der  innigsten  Vertrautheit  mit  Lionardo. 

Brauchen  wir  doch  diese  Kenntnis  Verrocchios  unmittelbar,  wo  wir  uns  Lionardos  „Madonna 
della  grotta"  gegenüber  befinden.  Zwischen  zackigem  Felsgeklüft,  wo  auf  feuchtem  Moose  die 
wunderreichen  Alpenkräuter  spriessen  und  durch  ein  zackiges  Bogentor  im  Gestein  ein  kühler  Luftzug 
von  den  blauen  Bergen  hereinströmt,  hat  Maria  mit  dem  Kleinen  eine  Zufluchtstatt  gefunden,  und 
ein  Engel  macht  den  schützenden  Gefährten  und  den  erheiternden  Gespielen,  wo  die  Mutter  allein 
verzagen  mag.  Die  Malerei  ist  ungleich,  die  zarteste  Vollendung  der  Figuren  und  der  Vegetation 
erzählt,  dass  die  Felspartie  und  die  Ferne  nur  derb  und  obenhin  dazu  gemalt  worden,  wenn  auch  in 
dem  beabsichtigten  Ton.'  Man  mag  den  Seeleninhalt  der  Gruppe  geniessen,  ohne  sich  um  das 
Beiwerk  allzuviel  zu  kümmern. 

Ohne  die  Kenntnis  Verrocchios  ist  eben  so  wenig  auszukommen,  wenn  wir  Michelangelos 
Jugendwerk  in  diesem  Saal  betrachten.  Das  Christuskind  auf  dem  Schofse  der  Maria,  der  kleine 
Johannes,  der  sich  verehrend  anschmiegt,  verraten  in  der  Körperbildung  wie  in  der  Gewandung 
die  Herkunft  von  der  Kunstweise  dieses  Meisters,  der  im  letzten  Drittel  des  Quattrocento  als  Lehrer 
der  ganzen  Florentinischen  Künstlergeneration  dasteht.  Das  zweite  Gemälde  Michelangelos,  eben 
so  unvollendet  wie  das  erste,  leitet  dagegen  zu  seinen  Nachfolgern  über.  Es  ist  die  Bestattung 
Christi,  wo  der  Leichnam  an  allerlei  Bandagen  möglichst  frei  in  der  Schwebe  gehalten  wird  zwischen 
aufrechtem  Sitzen  und  Stehen.  Hinten  rechts  sieht  man  die  Grabkammer  im  Gebirg,  wohin  man  ihn 
tragen  will.  Gewöhnlich  wird  dies  Werk  unrichtig  datiert.  Lünettenbilder  in  der  Sistina  haben  die 
nächste  Verwandtschaft. 

Verrocchios  Gemälde,  und  gerade  die  Madonna  mit  dem  Granatapfel  und  den  beiden  Engeln, 
gewähren  auch  die  beste  Vorbereitung  für  das  Verständnis  der  umbri sehen  Schule.  Im  nächsten 
Zimmer  begegnen  wir  nun  freilich  erst  den  Ferraresen,  von  Cosimo  Tura  bis  Garofalo  und  Dosso; 
aber  wir  lassen  dies  Einschiebsel  vorerst  bei  Seite,   um  den  Zusammenhang  zwischen  Florenz  und 

Umbrien  festzuhalten. 

*  * 

II. 

In  Florenz  empfing  seine  künstlerische  Bildung  der  erste  Maler,  der  in  dem  neuen  Oberlichtsaal 
der  Umbroflorentiner  genannt  werden  muss.  Piero  della  Francesca  ist  ein  Schüler  des  Domenico 
Veneziano,  dessen  grossartiges  Madonnenfresko  wir  vorhin  betrachtet.    Pietro,  eigentlich  dei  Franceschi, 

Wol  aber  passt  die  Beziehung  zu  Castagno,  besonders  zum  Fresko  des  Gekreuzigten  mit  vier  Heiligen  (in  S.  Matteo),   für 
Antonio  dal  Pollajuolo,  während  Piero  ebenso  aus  den  frühen  Werken  des  Baldovineti  (Verkündigungsengel  in  dem  Uffizien- 
bilde)  herausgewachsen  scheint.     Dies  auch  als  Anmerkung  zu  Ugolino  Verinis  Versen. 
I  Das  Bild  im  Louvre  ist  jedenfalls  eine  frühere  Redaktion. 


—       128      — 

aus  Borgo  San  Sepolcro  im  oberen  Tibertal  gebürtig,  hat  in  der  zweiten  Hälfte  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  von  seiner  Heimat  bis  nach  Rom  und  auf  der  anderen  Seite  von  Ancona  bis  Ferrara 
hinauf  einen  bedeutsamen  und  segensreichen  Einfluss  ausgeübt.  Ausser  Arezzo,  wo  seine  grossen 
Wandmalefeien  erhalten  sind,  wüsste  ich  keinen  Ort,  wo  man  sich  eine  bessere  Vorstellung  von  ihm  bilden 
kann,  als  in  der  National  Gallery.  Keine  andere  Sammlung  besitzt  so  wichtige  Stücke  seiner  Hand. 
Das  bedeutendste  ist  die  Taufe  Christi  mit  den  schönen  drei  Engeln,  die  in  schlichtem  Gewand  mit 
Kränzen  auf  dem  Haupt  wie  die  Grazien  gesellt  unter  einem  Baume  stehen.  Eine  Anbetung  der 
Hirten  ist  befangen,  unfertig  und  stellenweise  zerstört,  aber  wichtig  als  Komposition  wegen  seiner 
Verwandtschaft  mit  Alesso  Baldovinetti.  Ein  drittes  Bild,  das  best  erhaltene,  wird  mit  Unrecht 
seinem  Schüler  Fra  Carnovale  zugeschrieben:  es  ist  ein  heiliger  Michael  mit  dem  abgeschnittenen 
Kopf  eines  so  friedlichen  Riesenais  in  der  Hand,  dass  wir  kaum  dabei  an  die  Verkörperung  des 
Bösen  als  Untier  denken.  Die  Tafel  gehörte  wahrscheinlich  mit  einem  heiligen  Mönch  in  Casa  Poldi 
Pezzoli  in  Mailand  zu  einem  und  demselben  Altarvverk. 

Sein  Schüler  wiederum  ist  Melozzo  da  Forli.  Von  ihm  sind  die  beiden  Gemälde  aus  dem 
Schloss  von  Urbino,  die  mit  unseren  Berliner  Bildern  zu  einer  Folge  gehören.  Diese  Darstellungen 
der  Musik  und  der  Rhetorik,  d.  h.  einer  Prinzessin  auf  dem  Thron  und  eines  knieenden  Verehrers 
zu  ihren  Füssen,  dem  sie  hier  ein  Buch,  dort  eine  Handorgel  übergiebt,  erscheinen  in  der  Bewegung 
der  Figuren,  in  der  Durchmodellierung  der  Porträtköpfe,  in  der  malerischen  Behandlung  der  Stoffe 
und  in  der  Lichtführung  so  vollendet,  dass  man  ernstlich  daran  denken  könnte,  sie  einer  späteren 
Zeit,  dem  sechzehnten  Jahrhundert  erst  zuzuweisen,  wenn  nicht  festgestellt  wäre,  dass  sie  um  1475 
gemalt  sind. ' 

Mit  Piero  della  Francesca,  wie  mit  Melozzo  hängt  Luca  Signorelli  von  Cortona  zusammen. 
Von  ihm  hat  die  National  Gallery  neuerdings  zwei  wichtige  Werke  aus  Casa  Mancini  in  Cittä  di 
Castello  erworben.  Besonders  die  Darbringung  im  Tempel  ist  ein  charaktervolles,  durch  und  durch 
würdiges  Bild  seiner  besten  Zeit,  während  die  Geburt  Christi  schon  einer  weicheren  Stilperiode 
angehört,  wo  er,  der  Empfindung  Peruginos  und  dem  malerischen  Vortrag  Ghirlandajös  nachstrebend, 
die  rauhe  Grösse  seiner  Typen  einbüsst.  Daneben  verdient  das  abgenommene  Fresco  aus  Palazzo 
del  Magnifico  zu  Siena,  der  Triumph  der  Keuschheit,  kaum  eines  Wortes.  Die  Penelope  am  Webstul 
hingegen,  die  Pinturicchio  für  dasselbe  Zimmer  gearbeitet,  gehört  immer  zu  den  anmutigeren  und 
umfänglicheren  Schöpfungen,  die  man  in  ausseritalienischen  Galerien  von  ihm  sehen  kann.  Wer 
Piero  della  Francesca  würdigen  will,  muss  nach  Arezzo  und  Borgo  S.  Sepolcro  gehen;  wer  Pinturicchio 
nicht  in  Rom  und  Siena  aufgesucht,  vermag  nicht  mitzusprechen.  Eine  Reihe  von  Truhenbildern, 
die  uns  in  London  unter  seinem  Namen  vorgestellt  werden,  haben  nichts  mit  ihm  zu  tun,  und 
verraten  auch  mehr  von  der  Schule  Signorellis  als  von  der  seinen.  Eine  heilige  Katharina  mit  dem 
knieenden  Stifter  gehört  nur  einem  Gehülfen,  der  mit  ihm  im  Appartamento  Borgia  des  Vatikans  die 
achteckigen  Bilder  mit  den  Geschichten  von  Isis  und  Osiris  gemalt  hat.  Nur  die  Halbfigur  der 
Madonna  mit  dem  Kinde,  das  vor  ihr  auf  der  Brüstung  steht,  ist  ein  echtes  Werk  Pinturicchios. 


'  Vgl.  Schmarsow,  Meloi 


—      129      — 

Bemardino  Pinturicchio  ist  der  umbrisclie  Maler,  der  am  wenigsten  von  den  Segnungen  der 
florentinischen  Kunst  empfangen  hat,  obgleich  auch  er  mittelbar  durch  seinen  Lehrer  Fiorcnzo  di 
Lorenzo  mit  der  Schule  des  Verrocchio  zusammenhängt.  Die  Lust  zu  fabulieren  überwuchert  bei  ihm, 
gerade  wie  bei  Benozzo  Gozzoli,  dem  unermüdlichen  Erzähler  unter  den  Florentinern,  und  erstickt 
das  Interesse  an  der  Durchbildung  des  Einzelnen,  an  Vertiefung  des  Gehaltes  und  Koncentration 
im  Aufbau. 

Leider  ist  von  Fiorcnzo  di  Lorenzo  nur  ein  sehr  ungünstiges  Beispiel  seiner  Fähigkeit 
vorhanden.  Wir  sähen  gern  an  dieser  Stelle  ein  Bild  wie  die  schöne  Verkündigung,  die  erst  vor 
kurzem  an  die  Kirche  S.  M.  degli  Angeli  bei  Assisi  geschenkt  worden,  oder  wie  die  Madonna  mit 
dem  Stieglitz  in  der  Sammlung  Castellani,  die  wir  vor  Jahren  schon  mit  seinem  Namen  belegt.'  So 
wird  man  ihn  kaum  für  einen  Zeitgenossen  Peruginos  halten,  besonders  da  dieser  selbst  in  vollem 
Glanz  erscheint. 

Auch  Pietro  Perugino  ist  ein  Schüler  Verrocchios  gewesen,  hat  in  Gemeinschaft  mit  Lionardo 
den  ernsten  Bestrebungen  des  Meisters  obgelegen  und  dieser  Verbindung  dankt  er  sicher  sein  bestes 
Können.  Sein  glücklicher,  wenn  auch  etwas  leerer  Schönheitssinn  befähigt  ihn,  manches  zum 
geniessbaren  Ausdruck  zu  bringen,  was  dem  meist  überlegenen  Lionardo  selbst,  der  tiefer  greift,  nie 
voll  und  rein  gelingen  will.  Das  kleine  Madonnenbild  mit  dem  stehenden  Christkind  und  der  Halb- 
figur des  Johannes  gehört  zu  den  anmutigsten  Überresten  seiner  ersten  Meisterschaft.  Die  helle 
Temperafarbe,  die  er  später  mit  einer  vollendeten  Oltechnik  in  warmem  bräunlichen  Grundton 
vertauscht,  lässt  wol  keine  Wahl  übrig:  es  muss  ungefähr  um  die  Zeit  seines  ersten  erhaltenen 
Frescobildes  in  der  Cappella  Sistina  entstanden  sein,  mit  dessen  Frauentypen  und  Kindern  auch  diese 
hier  übereinstimmen.  ^  Kein  anderes  Werk  in  öffentlichen  Galerien  kann  sich  dagegen  an  saftiger 
Fülle  der  Farben  wie  an  liebenswürdiger  Zartheit  des  Ausdruckes  der  dreiteiligen  Altartafel  vergleichen, 
die  aus  der  Certosa  von  Pavia  in  die  Londoner  Sammlung  gekommen  ist.  In  der  Mitte  Maria,  die 
verehrend  vor  dem  Kinde  kniet,  daneben  der  Erzengel  Raphael  mit  seinem  Schützling  Tobias,  sind 
Verkörperungen  eines  kindlichen  Glaubens,  die  wir  heute  noch  nachzuempfinden  vermögen.  Aber  der 
Erzengel  Michael  zeigt  in  all  seinem  zierlichen  Putz,  woran  es  fehlt:  es  ist  ein  süsslicher  Knabe,  ohne 
Charakter;  nichts  von  dem  Schwung  eines  überirdischen  Streiters,  nicht  einmal  die  Kraft  des  Mannes, 
ohne  die  wir  uns  den  Sieger  nicht  vorstellen  können.  Das  ist  bezeichnend.  Das  Gemälde  entstand 
zu  einer  Zeit,  wo  alle  anderen  Künstler  Italiens  wie  er  an  einer  zaghaften  Verkleinerung  des  Stiles 
kranken,  während  in  demselben  Jahre  die  Heroen  des  Cinquecento,  Michelangelo  seine  Pietä  und 
Lionardo  sein  Abendmal  vollenden. 

In  Peruginos  letzte  Periode,  schon  in  den  vollen  Zug  des  sechzehnten  Jahrhunderts  fällt  das 
dritte  Bild  von  seiner  Hand,  das  uns  hier  gezeigt  wird:   eine  stehende  Madonna,   über  deren  Haupt 

1  Jahrbuch  d.  k.  preuss.  Kunstsammlungen  1884.  S.  221.  Diese  Taufe  wiederholt  auch  Bode  in  seinen  Bildhauern 
der  ital.  Renaissance  1887  pag.  123.  Über  das  Verhältnis  des  Fiorenzo  di  Lorenzo  zu  Verrochio  vgl.  bereits  Schmarsow, 
Pinturicchio  in  Rom   1882  p.  4  ff. 

2  Vgl.  m.  Aufsatz,  das  Abendmal  von  S.  Onofrio,  Jahrb.  d.  k.  preuss.  Kunstsammlungen  1S84.  p.  227  und  das 
Kapitel  über  die  Capp.  Sistina  im  Melozzo  da  Forli.     p.  2 14 ff. 


—     I30    — 

zwei  Engel  eine  Krone  halten,  mit  den  Heiligen  Hieronymus  und  Franciscus.  Die  Gestalten  sind 
wieder  grösser  gewollt,  aber  konventionell  in  der  Haltung  und  leer  im  Ausdruck,  ja  trotz  der 
prächtigen  Farbe  fast  widerwärtig  durch  die  Manier.  Es  ist  hart,  dem  Lebenden  ins  Gesicht  zu 
sagen,  dass  er  sich  überlebt  hat;  aber  Michelangelo  tat  es,  und  die  Geschichte  hat  sein  Urteil  über 
Perugino  bestätigt.  Sie  begegnet  auf  Schritt  und  Tritt  solchen  Erscheinungen;  aber  es  gehört  ein 
klarer  Kopf  dazu,  das  selber  einzusehen,  und  mehr  als  ein  klarer  Kopf,  darnach  zu  handeln. 

Raphaels  ganze  reiche  Tätigkeit  in  Rom  stand  vor  den  Augen  der  Welt,  und  sein  alter  Lehrer 
malte  noch  immer  dieselben  Bilder  in  Perugia  fort.  In  Florenz  waren  sie  doch  unmöglich  geworden; 
aber  Umbrien  hat  eine  zahlreiche  Generation  von  Nachfolgern  hervorgebracht,  die  lange  nicht 
darüber  hinauskamen.  Nur  ein  paar  Bemerkungen  über  diese  Schulgenossen  Raphaels,  ehe  wir  zu 
ihm  selber  kommen. 

Die  National  Gallery  hat  neuerdings  ein  sehr  wichtiges  kleines  Bild  erworben,  das  eine  alte 
Streitfrage  wieder  anfacht.  Es  ist  eine  Madonna  mit  Kind  von  Ligegno,  bezeichnet  mit  A.  A.  P. 
d.  h.  Andreas  Aloysii  pinxit.  Es  ist  unzweifelhaft  der  urkundlich  in  Assisi  nachgewiesene  Gehülfe 
Peruginos,  den  Crowe  und  Cavalcaselle  dadurch  zu  beseitigen  dachten,  dass  sie  ihn  für  identisch  mit 
Fiorenzo  di  Lorenzo  erklärten.  Während  ein  anderes  Bildchen,  das  hier  früher  schon  dem  Ingegno 
beigelegt  ward  (No.  702),  nichts  ist  als  das  jämmerliche  Machwerk  eines  hölzernen  Pinturicchioschülers, 
der  eine  Komposition  Fiorenzos  in  kleinlicher  Formensprache  wiederholt,  mit  roten  Nasen,  Wangen 
und  Knien,  wie  sie  den  Geschmack  irgend  eines  umbrischen  Dorfes  erfreuen  mochten,  haben  wir  in 
dieser  neu  erworbenen  Madonna  (No.  1220)  in  der  Tat  einen  Ateliergenossen  Peruginos  selbst  vor 
uns,  der  dem  Meister  nahe  zu  kommen  verspricht  und  in  anderen  Stücken  ihm  vielleicht  so  nahe 
gekommen  ist,  dass  die  Scheidung  schwer  fiel.  Hier  ist  er  noch  nicht  so  weit:  er  ist  härter  und 
fester  in  den  Formen,  manierierter  in  der  Faltengebung,  bräunlich  im  Ton,  aber  ohne  die  Wärme 
Peruginos,  und  ohne  Sinn  für  Luft  und  Licht  in  der  landschaftlichen  Ferne.  Dies  Stück  muss  den 
Ausgangspunkt  für  weitere  Verfolgung  bilden:  ich  glaube  darnach  z.  B.,  dass  ihm  eine  Reihe  von 
anfangs  bestechenden,  aber  eigentlich  leblosen  Zeichnungen  gehört,  die  auf  graugrundiertem  Papier 
sorgfältig  getuscht  und  weiss  gehöht,  eine  sehr  saubere  Technik  verraten.  Sie  gehen  in  den 
Sammlungen  unter  Peruginos  oder  Pinturicchios  Namen. 

Ein  anderer  Gehülfe  Giannicola  Manni  ist  durch  eine  Verkündigung  vertreten,  während  die 
Windsorsammlung  mehrere  Zeichnungen  zu  einem  Gebet  auf  dem  Olberge  von  seiner  Hand  besitzt. 
Diese  Scene  ist  dann  wieder  der  Gegenstand  eines  Gemäldes  der  National  Gallery  von  Giovanni 
Lo  Spagna,  den  man  so  lange  mit  Raphael  selbst  verwechselt  hat.  Ein  anderes  Bild,  das  mit  einem 
Fragezeichen  unter  seinem  Namen  ausgestellt  ist,  hat  garnichts  mit  ihm  gemein.  Diese  Glorie  der 
Jungfrau  mit  musicierenden  Englein  ist  von  Bertucci  daFaenza  gemalt,  wie  ein  Vergleich  mit  dem 
bezeichneten  Madonnenbild  seiner  Vaterstadt  ausser  Zweifel  stellt.  Dagegen  stammt  eine  breite 
Tafel  mit  Christus  und  Thomas  in  Gegenwart  des  Antonius  von  Padua  und  eines  knieenden  Stifters, 
welche  als  umbrische  Schule  des  sechzehnten  Jahrhunderts  gegeben  wird,  wol  aus  Cittä  di  Castello 
und  rührt  von  Francesco  Thifernate  her,  einem  Peruginoschüler,  der  in  seinen  dürftigen  Gestalten 
doch  die  Bewegung  des  Luca  Signorelli  und  in  der  Stifterfigur  die  Kenntnis  des  Giovanni  Santi  verrät. 


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Nach  alledem  ist  es  lehrreich,  neben  Raphael  auch  eine  jNIadonna  dieses  seines  Vaters  zu 
sehen  und  erinnert  zu  werden,  dass  die  Lehre  eines  Piero  della  Francesca  und  eines  Melozzo  da  Forli 
droben  in  Urbino  eine  Stätte  gefunden  und  von  dem  Vater  des  Malers  gepflegt  wurde,  der  alle  diese 
Bestrebungen  des  unibrischen  Gebietes  aufs  glücklichste  vereinigen  sollte,  nachdem  er  abermals  aus 
dem  frischen  Born  florentinischer  Kunst  geschöpft. 

„Der  Traum  des  Ritters"  ist  eine  kleine  Perle  aus  Raphaels  Jugendzeit.  S.  Michael  und 
S.  Georg  in  Paris,  die  drei  Grazien,  die  neuerdings  aus  Dudleyhouse  verkauft  worden,  und  das  lang- 
umstrittene  Kleinod  „Apoll  und  Marsyas"  im  Louvre,  bis  zum  Heiligen  Georg  in  St.  Petersburg 
gehören  in  diese  Reihe.  Sie  haben  alle  etwas  Kindliches,  Märchenhaftes;  sie  atmen  in  der  Reinheit 
der  Empfindung  und  der  emailartigen  Farbenfrische  die  klare  Gebirgsluft  seiner  Heimat  und  einen 
Hauch  romantischer  Poesie,  der  die  Dichtung  seines  Vaters  erfüllt.  Die  ganze  Auffassung,  das 
Verhältnis  der  Figuren  zum  Schauplatz,  die  Lockerheit  der  Komposition  u.  s.  w.  müssen  für  alle 
diejenigen  befremdend  bleiben,  die  das  Bild  in  Cittä  di  Castello  nicht  kennen.  Die  kleine  Kirchen- 
fahne mit  der  Dreieinigkeit  nebst  S.  Sebastian  und  S.  Rochus  auf  der  einen  Seite,  und  der  Erschaffung 
Evas  in  Gegenwart  zweier  Engel  auf  der  andern,  ist  das  erklärende  Mittelglied,  das  die  verschiedenen 
Einflüsse,  die  hier  zusammenwirken  mussten,  am  deutlichsten  aufweist.  Ganz  leichtfertiger  Weise  hat 
man  dies  Werk  anzweifeln  wollen.  Ich  bin  in  der  glücklichen  Lage,  die  Echtheit  beweisen  zu  können. 
Eine  Federzeichnung  in  Oxford  mit  Madonnen  und  Kindern,  die  keinem  Kritiker  einfallen  wird  zu 
beanstanden,  enthält  auf  der  Rückseite  in  schwarzer  Kreide  die  Gewandfigur  eines  sich  niederbeugenden 
Mannes.  Sie  ist  ganz  in  der  Technik  ausgeführt  wie  die  Studien  zum  Altar  des  heiligen  Nicolaus 
von  Tolentino,  und  diese  Figur  ist,  was  Robinson  entgangen,  der  Gottvater  in  der  Erschafi"ung  Evas. 
Doch  das  nebenbei!  Auch  hier  in  London  haben  wir  die  Federzeichnung  zur  ganzen  Komposition 
neben  dem  Bilde  vor  uns.  Man  könnte  sich  denken,  Raphael  habe  eine  Scene  aus  dem  Gedicht 
seines  Vaters  illustriert,  so  fühlbar  begegnet  sich  diese  Vorstellung  mit  den  allegorischen  Erfindungen 
des  Giovanni  Santi.  Ein  junger  Ritter  in  neuer  Rüstung  ist  am  Scheidewege  unter  einem  Lorbeer- 
baum vom  Schlaf  befallen;  da  erscheinen  ihm  zwei  edle  Frauen,  dass  er  zwischen  ihnen  wähle. 
Die  eine  ist  bescheiden  gekleidet,  wie  eine  Magd;  aber  sie  hält  ein  Buch  und  ein  Schwert  in  der 
Hand.  Die  andere  ist  lockend  mit  allem  Zierrat,  schillernden  Stoffen  und  Perlengeschmeide  angetan 
und  bietet  ihm  eine  Blume  als  Zeichen  ihrer  Gunst.  Der  Knabe  sieht  so  fromm  aus,  dass  wir 
nicht  zweifeln,  wem  er  folgen  wird. 

Von  dem  grossen  Altarbilde  der  Madonna  Ansidei  ist  vielfach  die  Rede  gewesen,  als  es  vor 

kurzem    für    unerhörtes    Geld    aus    Blenheim    in    die    National   Gallery    wanderte.     Es    ist    immer  ein 

glänzendes    Beispiel     umbrischer     Kirchengemälde     und     steht     hier     inmitten     der     vorbereitenden 

Erscheinungen  vollkommen  an  seinem  Platze.     Aber   einen  rechten  Begriff  von  der  Kunst  Raphaels 

kann  es  nicht  geben,    weil  es  einer  Übergangsperiode  angehört,    wo   er  noch   mit    sich    selbst  nicht 

einig  war.     Es  ist  jedoch  als  Kunstwerk  viel  besser,  als  sein  Ruf  sich  neuerdings  bei  uns  gewendet  hat. 

Wer  diese  Arbeit  aus  Raphaels  Eigentum  streicht,  treibt  Bilderkritik   nach  Kupferstichen.     Es  ist  in 

der  Farbe  viel   harmonischer,    als    die  Grablegung   im  Palazzo   Borghese    und    stellt    die  sogenannte 

Regia  di  Napoli,   die  jetzt   im  Saal   der  Teppichkartons  im  South  Kensington  Museum   zu  sehen  ist, 

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diesen  „Raphael  d'une  million"  vollständig-  in  Schatten.  Als  Jahreszahl  vermag  ich  höchsens  MDVI 
zu  lesen,  worin  die  I  durch  die  Falte  des  Gewandsaumes  gebrochen  wird.  Jedenfalls  ist  zwischen 
Beginn  und  Vollendung  des  Gemäldes  ein  merklicher  Zeitraum  hingegangen,  in  dem  die  Kunst  des 
jungen  Meisters  selbst  energische  Fortschritte  machte.  Der  alte  würdige  Bischof  Nicolaus  erzählt 
von  der  Gemeinschaft  mit  Alfani  und  Ridolfo  Ghirlandajo,  während  Johannes  der  Täufer  in  der 
Wendung  des  Kopfes  und  der  Wahl  einer  schwierigen  Verkürzung  ganz  offen  an  die  Heilige 
Katharina  erinnert,  d.  h.  an  ein  Bild,  das  anerkanntermafsen  in  der  letzten  florentinischen  Zeit  entstand. 
Die  Halbfigur  der  begeisterten  Jungfrau  hängt  dicht  daneben  zur  Vergleichung. 

Das  letzte  Bild  von  Raphaels  Hand  in  dieser  Galerie  wäre  dann  (von  Repliken  oder  Kopien 
wollen  wir  absehen)  die  Heilige  Familie  aus  dem  Hause  Aldobrandini.  Leider  hat  diese  wunderliebliche 
Schöpfung  aus  der  römischen  Zeit  so  stark  durch  Abreibung  gelitten,  dass  der  Genuss,  wenn  auch 
einseitig,  doch  ungestört  und  reiner  aus  Brauns  vortrefflicher  Photographie  gewonnen  wird.  Da  sie 
bei  uns  verhältnismässig  wenig  verbreitet  ist,  mag  sie  den  Lesern  besonders  empfohlen  sein. 


III. 

Der  Oberlichtsaal  der  umbro-florentinischen  Schule  stösst  unmittelbar  an  den  früher  schon 
vorhandenen,  in  dem  jetzt,  statt  des  bunten  Gemisches  aus  allen  Teilen  Italiens,  die  Schule  Venedigs 
allein  prangt.  Aber  welch  ein  Sprung,  wird  mancher  denken,  von  Umbrien  nach  Venedig.  Und 
doch  ist  dieser  Übergang  höchst  lehrreich.  —  Ja,  giebt  es  denn  wirklich  einen  Übergang  zwischen 
Raphael  und  Tizian?  Oder  zwischen  den  Älteren  gar,  zwischen  Perugino  und  Giambellin,  auch  nur 
irgend  welche  nähere  Beziehung:  Mehr  als  eine,  lautet  die  Antwort.  Wol  möglich,  dass  auch  dem 
kundigen  Beschauer  die  Übereinstimmung  zuerst  wenig  einleuchtet,  da  die  Unterschiede  so  glänzend 
in  die  Augen  fallen.  Doch  drängt  sich  uns  eine  Fülle  von  Gesichtspunkten  zur  Vergleichung  auf, 
wenn  wir  ruhig  den  Weg  verfolgen,  den  wir  eingeschlagen.  —  Und  wie  bisher  vom  Früheren  zum 
Späteren,  von  den  Keimen  zur  Blüte  fortschreitend,  haben  wir  im  Sinn,  die  Verbindung  sogar  enger 
zu  schlingen,  als  sonst  geschehen. 

Kunsthistorische  Finessen  vorzubringen,  ist  nicht  unsere  Absicht.  So  wollen  wir  auch  bei 
dem  kleinen  Bildchen  des  Vittore  Pisano,  das  uns  die  Anfänge  realistischer  Naturbeobachtung  mitten 
aus  gotischen  Stilgewohnheiten  heraus  so  liebenswürdig  darstellt,  garnicht  daran  erinnern,  dass  dieser 
Pisanello  ein  dankbarer  Schüler  des  umbrischen  Meisters  Gentile  da  Fabria no  gewesen,  mit  dem 
auch  Jacopo  Bellini  nach  Florenz  ging.  Aber  gegenüber  diesem  Bildchen,  das  aus  Ferrara  stammt 
und  dort  seine  Früchte  getragen  hat,  hängt  Antonello  da  Messina,  der  Maler,  den  wir  als  Einführer 
der  flandrischen  Öltechnik  aus  dem  Atelier  van  Eycks,  als  Begründer  der  venezianischen  Farbenkunst 
zu  betrachten  pflegen.  Eine  längliche  Tafel  zeigt  auf  schmaler  Grundlinie  den  Gekreuzigten  und  die 
Seinen.  Unten  am  Boden  kauern  im  Schmerz  Maria  und  Johannes  einander  gegenüber,  und  hoch 
oben  hängt  der  Erlöser  am  Holze,  während  zwischen  ihm  und  seinen  Lieben  ein  weiter  Ausblick  auf 
Stadt  und  Land  und  doch  eine  Ode  klafft.  Es  ist  dieselbe  Stimmung  erreicht,  die  der  alte  Ghiberti 
in    seiner    Kreuzigung    am    Baptisterium    zu    Florenz    so    meisterhaft    hervorbringt.     Es    liegt    in    der 


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räumlichen  Anordnung-  weit  mehr  als  im  Ausdruck  der  Gesichtszüge,  in  dem  starken  Auseinanderweichen 
der  innerlich  so  eng  verbundenen  Wesen,  und  gerade  dadurch  mutet  mich  dieses  Bild  Antonellos 
so  germanisch  an,  als  hätte  die  Empfindungsweise  eines  Niederländers  mächtig  auf  diesen  Süditaliener 
eingewirkt,  wie  etwa  die  Martin  Schongauers  auf  Pietro  Perugino.  Die  Überschau  über  die  örtliche 
Umgebung,  so  von  oben  her,  kommt  hinzu.  Und  obgleich  man  sagen  muss,  dass  gerade  dieses 
Werk  wieder  eine  Schule  für  Italiener  geworden,  und  zwar  besonders  in  Ferrara,  überwiegt  doch  der 
Nachklang  niederländischer  Eindrücke  ganz  eigentümlich.  —  Wie  aber  steht  es  mit  dem  Christuskopf, 
den  wir  daneben  erblicken?  Nur  das  Haupt  bis  an  die  Schultern  wird  uns  gezeigt  und  die  lehrend 
erhobene  Rechte;  wie  durch  eine  Fensteröffnung  hereinschauend  sehen  wir  das  Antlitz  ganz  von  vorn; 
die  schlichten  Haare,  in  der  Mitte  gescheitelt,  fallen  zu  beiden  Seiten  herab;  die  Augen  stehen  mehr 
träumerisch  als  eindringlich  völlig  gerade.  Auch  da  gewiss  eine  erkleckliche  Summe  nordischer 
Auffassung;  dazu  die  Zeichnung  der  Hände,  der  bräunliche  Gesamtton  der  Ölfarbe.  Dennoch  hat 
der  Mann,  der  diesen  Christustypus  darstellt,  auch  den  Einfluss  eines  Landsmannes  erfahren,  den  man 
bisher  allzuwenig  mit  ihm  in  Beziehung  gedacht  hat.  Ich  meine  Piero  della  Francesca,  das  Haupt 
der  Umbroflorentiner,  die  wir  soeben  verlassen.  Ein  Bild  seines  Schülers  Melozzo,  auch  ein  Christuskopf 
in  Cittä  di  Castello,  wäre  vielleicht  am  besten  geeignet,  diese  Verbindung  darzutun,  wenn  nicht  die 
spätere  Eigenart  der  Porträts  von  Antonello  eine  Berührung  mit  dem  römischen  Hofmaler  Sixtus  IV. 
schon  ausser  Zweifel  stellte.  Die  geradestehenden  Augenachsen  bei  Melozzo  da  Forli  und  Giovanni 
Santi  haben  ja  früher  schon  Beachtung  gefunden. 

Bei  dem  dritten  Bilde,  das  hier  den  Namen  des  venezianisch  gewordenen  Messinesen  trägt, 
geraten  wir  gar  auf  römische  Erinnerungen  selbst.  Es  ist  das  Porträt  eines  Mannes  in  mittleren 
Jahren,  das  vor  kurzem  erst  in  Rom  erworben  ward.  Aus  der  Umgegend  Roms  kam  es  auch  zum 
Vorschein:  ich  sah  es,  ehe  die  gekrümmte  Holztafel  geplättet  und  neu  gefirnisst  ward.  Die  Taufe 
auf  den  Namen  Antonellos  rührt  von  sehr  kompetenter  Seite  her,  ward  von  der  Galeriedirektion 
zweifellos  gebilligt  und  gewiss  von  den  meisten  Fachgenossen.  Dennoch  mahnt  mich  das  Wiedersehen 
in  England  mit  diesem  Antonello  an  umbro-florentinische  Meisterstücke  auf  den  Fresken  der 
Sixtinischen  Kapelle.  Die  Anordnung  dieser  Büste,  die  sprechendere  oder,  sagen  wir,  mehr  durch- 
empfundene Wendung  zur  Dreiviertelsicht,  der  sinnigere  Blick  des  Auges  haben  einen  dem  Antonello 
fremden  Charakter,  der  gerade  den  Umbrern  eigen  ist.  Und  nun  vergleiche  man  die  packenden 
Porträts,  die  Perugino  auf  seinem  letzten  Fresko  in  der  Sixtinischen  Kapelle  nach  lebenden  Kunst- 
genossen in  die  Darstellung  des  Schlüsselamtes  hineingestellt  hat.  Da  sind  die  Gegenstücke,  die 
zugleich  die  Entstehungszeit  dieser  Arbeit  in  London  bestimmen.  —  Bin  ich  mit  einer  ketzerischen 
Anwandlung  zur  Wiedertäuferei,  die  mich  angesichts  dieses  Kopfes  fortgerissen  hat,  im  Irrtum,  so 
giebt  es  wol  keinen  stärkeren  Beweis  für  den  Zusammenhang  zwischen  Antonello  und  diesen  Umbrern 
in  Rom,  dessen  Erkenntnis  manches  Rätsel  löst,  das  unserem  Verständnis  des  wandernden  Sizilianers 
im  Wege  stand.  Das  ist  Anlass  genug,  die  neue  Anordnung  willkommen  zu  heissen,  dass  hier 
Umbrien  und  Venedig  nur  durch  eine  Tür  getrennt  sind,  während  sich  sonst  Berge  zwischen  ihnen 
aufrichten.  Wir  vergessen  in  unserer  Geschichte  der  Malerei  so  leicht  das  Adriameer,  das  eine 
grosse  Verkehrsstrasse,  die  Lunge  zum  Ein-  und  Ausatmen  für  die  Lagunenstadt  war,  und  längs  der 


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Küst6  von  Ravenna  bis  Ancona  und  weiter  den  Austausch  mit  den  Marken,  wohin  sich  die  Wege 
Umbriens  öffnen,  ganz  natürlich  machte. 

Auch  sonst  sind  die  Beziehungen  venezianischer  Künstler  zu  denen  der  umbro-florentinischen 
Schule  zahlreich  genug.  Die  Verwandtschaft  zwischen  dem  Schönheitsideal  Giovanni  Bellinis  und  dem 
des  Melozzo  da  Forli  ist  aufgewiesen  worden.  ^  Die  Farbenpracht  Peruginos  in  seiner  Glanzperiode 
hat  nur  in  der  Stadt  des  heiligen  Marcus  ihresgleichen.  Ein  lebendiger  Zwischenträger  war  Piero 
della  Francesca  und  sein  Freund  der  Mathematiker  und  Lehrer  der  Perspektive  Luca  Pacioli. 

Einen  Fachgenossen  dieses  Mannes,  den  er  selbst  wegen  seines  perspektivischen  Zeichnens 
rühmt,  zeigt  uns  ein  vortreffliches  Bild  des  Gentile  Bellini,  das  ebenfalls  zu  den  neuesten  Erwerbungen 
gehört.  Es  ist  das  Brustbild  eines  greisen  Denkers  mit  dem  Zirkel  in  der  Hand:  der  Mathematiker 
Girolamo  Malatini,  in  schwarzem  Kleid  und  schwarzer  Kappe  über  dem  silbernen  Haar  und  den 
bleichen  Zügen,  aus  denen  die  scharfblickenden  Augen  ernst  und  energisch  hervorleuchten.  Die  dünne, 
fast  trockene  Farbengebung  stimmt  vortrefflich  zu  dem  verstandesmässigen,  beinah  asketischen 
Charakter.  Das  Bild  hing  besser  unten  in  dem  Durchgangsraum  zur  Rotunde;  so  hoch  in  dem 
Oberlichtsaal  kommt  es  nicht  voll  zur  Geltung. 

Es  ist  unzweifelhaft  ein  Hauptstück  zur  Kenntnis  des  älteren  Gentile,  der  in  unseren  Galerien 
so  selten  vorkommt.  Der  jüngere  Giovanni  Bellini  ist  dagegen  —  wenn  auch  manches,  was  unter 
seinem  Namen  geht,  nur  von  Laien  noch  als  solches  hingenommen  wird  —  durch  mehrere  sehr 
bezeichnende  Stücke  vertreten.  Auf  seine  grossen  leuchtenden  Altarwerke  müssen  wir  schon  zu 
Gunsten  seiner  Vaterstadt  verzichten.  Nur  eine  kleinere  Madonna  mit  dem  Kind  giebt  auch  hier 
eine  Ahnung  der  stralenden  Herrlichkeit.  Das  Bildnis  des  alten  Dogen  Leonardo  Loredano  ist  so 
wundervoll  in  der  Farbe  und  so  charakteristisch  in  der  Auffassung,  dass  der  Heilige  daneben, 
S.  Petrus  Martyr,  trotz  aller  Feinheiten  nicht  recht  aufkommen  kann,  während  ein  ähnlicher  Kopf, 
S.  Dominicus,  im  South  Kensington  Museum,  obgleich  als  Malerei  viel  einfacher,  auch  an  ungünstiger 
Stelle  ergreifend  wirkt.  Ganz  eigentümlich  ist  das  Breitbild,  Christi  Gebet  im  Garten  Gethsemane, 
das  uns  in  weiter,  nackter  Hügellandschaft  den  Heiland  einsam  knieend  zeigt,  während  seine  drei 
Jünger  schlafen,  und  in  der  Ferne  schon  der  Verräter  mit  den  Kriegsknechten  sichtbar  wird.  Die 
kahlen  Felsen  und  der  rote  Abendschein  am  Himmel  geben  dem  angstvollen  Ringen  im  Gebet  einen 
Ausdruck,  wie  er  nur  dem  echten  Maler  beifallen  konnte.  Die  Komposition  selbst  findet  eigentlich 
nur  Verständnis,  im  historischen  Sinne,  wenn  wir  das  Skizzenbuch,  das  Gentile  und  Giovannis  Vater, 
Jacopo  Bellini  gehört  hat,  im  British  Museum  betrachten.  Dort  sind  mehrere  solcher  Scenen  mit 
derselben  Weiträumigkeit  behandelt.  Der  Hinweis  auf  Mantegna,  den  man  gewöhnlich  bringt,  genügt 
eben  nicht.  Ja  dieser  Hinweis  sollte  umgekehrt  erfolgen,  d.  h.  Bellini  als  Quelle  malerischer  Anregung 
auf  Mantegna  genannt  werden,  zu  seiner  Zeit. 

Sonst  allerdings  wird  man  sich  gerade  bei  diesem  Bilde  Giovanni  Bellinis  veranlasst  fühlen, 
einen  Blick  in  das  anstossende  Gemach  zu  werfen,  gegen  die  Tribuna  zu,  wo  die  paduanische  Schule 
und  die  älteren  Venezianer  aufgestellt  sind.     Die  Engländer  lieben  diese  Richtung  besonders  und  so 


Melozzo  da  Forli  p.    12S.    173.   318. 


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ist  ein  grosser  Reichtum  an  solchen  Gemälden  hier  zusammengekommen.  Da  glänzt  vor  allen 
Mantegna  nicht  nur  mit  einem  trefflichen  Kirchenbild  von  hellster  und  doch  für  ihn  äusserst 
geschmackvoller  Färbung,  sondern  auch  mit  einer  Reihe  mehr  oder  minder  einfarbiger  Werke,  die 
man  fast  als  kolorierte  Zeichnungen  ansprechen  möchte.  Da  ist  auch  sein  Schulgenosse,  der  zurück- 
gebliebene Gregorio  Schiavone  mit  zwei  Bildern,  einer  kleinen  Madonna  und  einer  vielteiligen  Altar- 
tafel, nach  welchen  wol  festzustellen  wäre,  welchen  Anteil  er  unter  den  Leuten  des  Francesco 
Squarcione  an  der  Ausmalung  der  berühmten  Kapelle  der  Eremitani  genommen,  wo  wir  den  schnellen 
Aufstieg  Mantegnas  zur  Meisterschaft  bewundern.  Ausser  diesen  beiden  Schülern  des  alten  Ricamatore 
wirkte  dort  auch  Niccolo  Pizzolo,  den  wir  so  schwer  zu  fassen  vermögen.  Deshalb  sei  hier  die 
Zwischenbemerkung  gestattet,  dass  ich  glaube,  in  England  eine  Zeichnung  und  ein  Gemälde  nach- 
weisen zu  können,  die  begreiflicherweise  bisher  als  Mantegna  gelten.  Ich  meine  die  Anbetung  der 
Hirten  bei  J.  Boughton  Knight,  Esq. ,  die  1882  in  Burlington  House  ausgestellt,  dann  in  einem 
Holzschnitt  im  „Magazine  of  Art"  abgebildet  wurde,  und  eine  Zeichnung  zu  den  Hirten  in  diesem 
Gemälde,  die  sich  in  der  Sammlung  der  Königin  zu  Windsor  befindet.  Beide  zeigen  uns  einen  derber 
angelegten  Künstler,  der  bei  einfacheren  Mitteln  doch  entschieden  naturalistischer  gesonnen  ist,  als 
Mantegna  selbst.  Das  nämliche  Bild  bestätigt,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  auch  die  Zuweisung 
einer  Zeichnung  in  den  Uffizien:  die  knieende  Madonna  vor  dem  Kinde  darstellend. 

Da  sind  ferner  die  alten  Vivarini  von  Venedig,  Antonio  mit  zwei  einzelnen  Heiligenfiguren, 
Bartolommeo  mit  einem  vorzüglichen  Madonnenbild,  und  ein  Stilverwandter  des  dritten  Vivarini, 
Aluise,  nämlich  Marco  Marziale  mit  zwei  sehr  verschiedenen  Leistungen.  Sie  alle  werden  jedoch 
überragt  von  dem  bevorzugten  Liebling  der  Engländer,  der  sogar  unter  den  heutigen  Künstlern 
seltsam  genug  Schule  macht:  Carlo  Crivelli,  ein  Schüler  des  Antonio  und  Genosse  des  Bartolommeo 
Vivarini.  Nicht  weniger  als  acht  Werke  seiner  Hand  sind  hier  vereinigt,  von  dem  grössten,  figur- 
reichen  Tabernakel  in  altertümlichem  gotischen  Aufbau  bis  zum  kleinen  Predellenstück,  und  jedes 
zeigt  ihn,  trotz  mancher  Verzerrung,  charaktervoll  in  seiner  leidenschaftlichen  Energie.  Diese  Vivarini 
und  vornehmlich  Crivelli  haben  den  ersten  Import  venezianischer  Malereien  in  das  Küstengebiet  der 
Adria  geliefert.  Überall  in  den  Marken  begegnen  sich  ihre  Erzeugnisse  mit  denen  Umbriens,  und  es  ist 
kein  Wunder,  wenn  Leute  wie  Niccolo  (Alunno)  ausFuligno  und  Lorenzo  IL  da  San  Severino, 
von  dem  eine  Verlobung  S.  Catharinas  im  vorigen  Saal  hängt,  den  Einfluss  dieser  Kunstweise 
deutlich  offenbaren.  Am  stärksten  ist  dies  im  Gebiet  von  Ferrara  bis  Bologna  der  Fall,  wo  die 
Tätigkeit  des  Piero  della  Francesca  fast  überwuchert  wird  durch  diese  paduanisch  geschulten  Venezianer. 
Bartolommeo  Vivarini  und  Carlo  Crivelli  finden  ihre  unmittelbaren  Nachfolger  oder  ihre  nächsten 
Gesinnungsgenossen  in  Marco  Zoppo,  Cosimo  Tura  und  anderen  Altferraresen,  so  dass  wir  nicht 
umhin  können,  von  ihrem  Standort  in  der  National  Gallery  zu  dem  Zimmer  der  ferrarisch-bolognesischen 
Meister,  das  wir  vorhin  zwischen  Florenz  und  Umbrien  ausgelassen,  nun  absichtsvoll  zurückzukehren. 
Denn  auch  dort  begegnen  sich  umbroflorentinische  Elemente,  wie  der  Name  Piero  della  Francesca 
sagt,  mit  paduanisch- venezianischen.  Die  strenge  Zeichnung  und  leidenschaftliche  Energie  der 
Squarcioneschüler  wird  gründlich  durchgemacht,  ja  ins  Extrem  getrieben,  bis  dann  aufs  neue  Bellinis 
Formenschönheit  und  Farbenpracht  ein  glücklicheres  Bündnis  eingeht  mit  Peruginos  Empfindung  und 


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religiöser  Weihe,  in  den  Werken  eines  Costa,  eines  Francia  und  Ercole  di  Giulio  Grandi.  Beide 
Perioden,  wo  man  zuerst  Ferrara,  dann  Bologna  als  Centrum  nennen  könnte,  sind  hier  befriedigend, 
ja  hervorragend  vertreten.  Nur  für  die  Glanzperiode  des  Cinquecento  wünscht  man  neben  dem 
schmeichelhaften  Meisterwerk  des  Garofalo  ein  ebenbürtiges  Prachtstück  des  Dosso  Dossi  zu  sehen. 
Doch  damit  greifen  wir  vor,  während  es  hier  nur  unsere  Absicht  ist,  über  die  allbewunderten 
Kirchenbilder  eines  Francesco  Francia  und  Lorenzo  Costa  und  die  wichtigen  Altartafeln  des  jüngeren 
Grandi  und  des  Ortolano  hinweg,  ein  paar  alte  Ferraresen  hervorzuheben,  die  erst  neuerdings  die 
Aufmerksamkeit  gefunden  haben,  deren  sie  wert  sind.  Unter  dem  Namen  des  Bolognesen  Marco 
Zoppo  geht  hier  die  Einzelgestalt  eines  heiligen  Dominicus  als  Einführer  des  Rosenkranzes,  während 
das  Ganze,  wie  schon  früher  erkannt  ward,  ausgesprochen  ferraresischen  Charakter  trägt.  Die 
Behandlung  der  Örtlichkeit  und  der  visionären  Erscheinung  am  Himmel  hat  fast  noch  mehr  als  die 
Hauptfigur  die  nächste  Verwandtschaft  zu  einigen  Predellenbildern  in  der  Pinakothek  des  Vatikans, 
die  jetzt  bei  wissenschaftlichen  Forschern  allgemein  als  ferraresisch  gelten. '  Unter  dem  Namen 
CosimoTura  erscheinen  hier  vier  Gemälde,  die  sicher  nicht  alle  von  einer  Hand  sind.  Das  kleinste 
unter  ihnen,  ein  toter  Christus  im  Grabe  von  Johannes  dem  Evangelisten  und  Joseph  von  Arimathia 
betrauert,  in  Halbfiguren,  ist  schon  von  kompetenter  Seite  dem  Marco  Zoppo  zugewiesen,  dem  soeben 
ein  grösseres  Stück  abgesprochen  wurde.  Es  zeigt  in  der  Formengebung  noch  viel  Befangenheit  in 
der  Manier  des  Gregorio  Schiavone,  in  der  Farbe  dagegen  leuchtende  Kraft.  Das  beste  und 
bezeichnendste  für  Cosimo  Turas  Eigenart  ist  der  heilige  Hieronymus,  der,  sich  selbst  kasteiend,  vor 
seiner  Felsenhöhle  kniet:  ein  Charakterbild  von  rauher  Grösse  und  herben,  auf  allen  Reiz  des  farbigen 
Lebens  verzichtenden  Asketentums.  Dagegen  befriedigt  die  nächststehende  kleine  Madonna  bei  dem 
ausgesprochenen  Mangel  an  harmonischem  Farbensinn  nur  wenig.  Und  die  Altartafel  mit  der 
thronenden  Madonna  wird  durch  die  kindische  Geschmacklosigkeit,  mit  der  die  manierierte  Zeichnung 
koloriert  worden,  so  abstossend,  dass  man  trotz  mancher  Übereinstimmung  den  grossen  Meister 
Cosme  davon  freisprechen  möchte.  Ein  ganz  einziges  Stück  ist  das  Porträt  des  jungen  Fürsten 
Lionello  d'Este  von  Giovanni  Oriolo,  dessen  volle  Namensbezeichnung  uns  einen  ferraresischen  Maler 
kennen  lehrt,  der  am  reinsten  vielleicht  den  Stil  Mantegnas  mit  der  heimischen  Malweise  vereinigt. 
Dieser  Kopf  steht  auf  der  Höhe  der  besten  Wandgemälde  im  Palazzo  Schifanoja  zu  Ferrara  und 
verdient  dort  nicht  vergessen  zu  werden.  Als  neue  Erwerbung  kam  aus  Dudley  House  die  Mannalese 
der  Juden  in  der  Wüste  von  Ercole  di  Roberto  Grandi  hierher,  freilich  das  Original  zu  der 
nämlichen  Darstellung  in  alter  Kopie  zu  Dresden,  aber  selbst  durchaus  nicht  unverdorben.  Wie 
ganz  anders  noch  wirkt  dagegen  das  kleine  wundervoll  erhaltene  Bild  eines  „Norditalieners  aus  dem 
XV.  Jahrhundert",  ein  Abendmal,  dessen  Typen  denen  Ercole  Grandis  so  nahe  kommen,  dass  ich 
glauben  möchte,  wir  haben  nichts  anderes,  als  ein  unverletztes  Werk  von  ihm  selber  vor  uns.  In 
beiden  Gemälden  tritt  das  Studium  Antonellos  da  Messina  deutlich  zu  Tage,  und  die  Kreuzigung 
dieses  Meisters,  die  wir  vorhin  besprochen,  dürfte  das  beste  Belegstück  dafür  sein.^ 


1  Daraufhin  ist  neuerdings  von  Frizzoni  das  ganze  Altarwerk  rekonstruiert  und  auf  Francesco  Cossa  getauft  worden. 

2  Zu  einem  andern  Ergebnis  könnte  jedoch  der  Vergleich  mit  Bramantinos  An1)etung  der  Könige  in  der  SammUmg 
Layard  zu  Venedig  führen. 


—     137    — 

Kehren  wir  nach  diesem  Ausflug  in  den  Hauptsaal  der  Venezianer  zurücl<,  so  müssen  wir 
zunächst  einen  Augenblick  bei  den  andern  Vertretern  der  Terra  ferma  verweilen,  die  von  dem  Geist 
und  Geschmack  der  Lagunenstadt  schon  abhängiger  scheinen,  als  das  lang  widerstrebende  gelehrte 
Padua.  In  Vicenza  ist  Bärtolommeo  Montagna  zu  hause,  ein  Meister,  der  ausser  Italien  fast  nur 
durch  Werke  zweiten  Ranges  oder  gar  Atelierstücke  bekannt,  noch  vielfach  unterschätzt  wird.  Er  ist 
nicht  nur  ein  tüchtiger  Schüler  des  Giovanni  Bellini,  und  zwar  dessen  älterer  Richtung,  sondern  hat 
auch  den  monumentalen  Zuschnitt  des  Melozzo  da  Forli  so  erfolgreich  studiert,  dass  er  mit  besserem 
Recht  als  Falconetto  von  Verona  zu  dessen  Jüngern  gezählt  werden  darf.  Die  Brera  zu  Mailand, 
die  Sakristei  von  San  Nazaro  e  Celso  zu  Verona  und  die  Kirche  auf  Monte  Berico  bei  Vicenza 
besitzen  Leistungen,  nach  denen  man  seine  Kunst  beurteilen  muss.  Wer  diese  kennt,  wird  sich  mit 
uns  verwundern,  dass  die  herrliche  Pietä  der  Pinakothek  des  Vatikans  so  viel  umstritten  und  allen 
Ernstes  Giovanni  Bellini  zugeteilt  werden  konnte,  während  der  traditionelle  Name  „Mantegna",  unter 
dem  sie  im  Vatikan  hängt,  nur  einen  Lesefehler  enthält:  es  muss  „Montagna"  heissen!'  Auch  die 
National  Gallery  besitzt  von  ihm  ein  recht  gutes,  wenn  auch  noch  unfreies  Bild:  die  Halbfigur  der 
Madonna  wird  hinter  einem  Fenster  sichtbar,  gegen  dessen  Steinrahmen  lehnend  das  Christkind 
eingeschlafen  ist.  Es  zeigt  den  strengen  Stil  seiner  Formengebung,  etwas  herben  Ausdruck  und 
tiefbraunen  Farbenton.  Ein  zweites  Madonnenbild,  von  hellerer  Färbung,  wo  das  Kind  auf  einem 
Buch  sitzt  und  eine  Erdbeere  hält,  ist  nicht  von  Montagna,  wie  der  Katalog  angiebt,  sondern  von 
einem  andern  Bellinischüler,  nämlich  Christoforo  Caselli  von  Parma,  den  man  noch  besser  als  in  der 
Sakristei  von  S.  Maria  della  Salute  zu  Venedig  in  seiner  Vaterstadt  kennen  lernen  kann. 

Aus  Verona  sind  eine  Reihe  interessanter  Beispiele  versammelt.  Das  ganz  vorzügliche  Porträt 
eines  alten  Mannes  von  Francesco  Bonsignori  sollte  für  die  Kunstweise  dieses  Meisters  gewissen- 
hafter beachtet  werden,  als  es  bei  neuesten  Zuweisungen  auf  seinen  Namen  geschehen  ist.  Eine 
Madonna  von  Liberale  da  Verona  zeigt  den  etwas  ungeschlachten  Maler  viel  liebenswürdiger  und 
beweglicher  als  sonst.  Eine  freundliche  Muttergottes  von  Francesco  Moroni  leitet  uns  schon 
unmittelbar  zu  dem  heiteren,  farbenfrischen  Girolamo  dai  Libri  hinüber,  der  das  veronesische 
Schönheitsideal  verwirklicht,  dem  wir  auch  den  prächtigen  Cinquecentisten  Paolo  Morando  genannt 
Cavazzola,  noch  nachstreben  sehen.  Von  ihm  ist  ausser  der  heiligen  Familie,  die  ich  hier  im  Auge 
habe,  ein  stehender  Pilger,  S.  Rochus,  in  ganzer  Figur,  dessen  koloristische  Pracht  bereits  den  Zeit- 
genossen des  Garofalo  und  Dosso  Dossi,  d.  h.  mehr  ferraresischen  als  venezianischen  Geschmack 
offenbart. 

Damit  sind  wir  jedoch  wieder  vorausgeeilt  und  haben  die  näheren  Schüler  Bellinis  nachzuholen, 
die  noch  vielfach  mit  ihm  selber  verwechselt  werden.  Da  ist  von  Vicenzo  Catena  ein  heiliger 
Hieronymus  in  seinem  Studierzimmer,  unter  dem  Namen  des  Lehrers,  und  eine  grossartigere  Verehrung 
der  Madonna  durch  einen  Rittersmann,  dessen  Pferd  mit  dem  Knappen  zur  Seite  wartet.  Da  ist 
der  stralende  Bissolo  mit  einem  wunderlieblichen  Madonnenbild  in  sonnenklarer  Landschaft  und 
Basaiti  mit  einem  Kabinetstück,   das   den  lesenden  Hieronymus  in  einer  Felsgrotte  darstellt.     Hier 

I  Diese  hier  vollgültig  ausgesprochene,  bei  mir  schon  lange  vorher  gehegte  Überzeugung  ist  hernach  auch  von 
Ad.  Venturi  verfochten  worden,  wird  also  wol  zu  Recht  bestehen. 


wetteifert  mit  ihm  Cima  da  Conegliano,  indem  er  denselben  Heiligen  als  Büsser  knieend  zeigt, 
in  Feinheit  der  Durchführung  und  Reichtum  der  Scenerie.  Daneben  zwei  Madonnenbilder  von  seiner 
Hand,  das  eine  ausgezeichnet  frisch,  dass  andere  blass  und  unbedeutend;  schliesslich  aber  noch  eine 
grosse  Altartafel:  Christus  und  Thomas  im  Kreise  der  Jünger,  eine  feierliche  Komposition,  die 
sich  in  Farbenharnionie  und  Charakterzeichnung  fast  den  Meisterwerken  seines  Lehrers  vergleichen  darf. 

Und  doch,  welch  ein  Schritt  noch  von  diesem  Schüler  Bellinis  zu  Giorgione,  Palma  Vecchio 
und  Tizian!  Keiner  von  diesen  macht  uns  die  Tatsache,  dass  wirklich  zusammenhängende 
Entwickelung  stattfand,  so  glaubhaft,  ja  so  sichtbar  wie  Lorenzo  Lotto.  Nur  sind  in  der  National 
Gallery  nicht  gerade  Bilder  seiner  Frühzeit  vorhanden,  wo  er  noch  ganz  eng  mit  Bellini  zusammen- 
hängt; sondern  wir  lernen  ihn  sogleich  in  seinen  meisterhaften  Porträts  kennen,  in  denen  eine  eigene 
feinsinnige  Beobachtung  individuellen  Lebens  zum  Ausdruck  kommt. 

In  die  Mitte  zwischen  Bellinis  Glanzperiode  und  dem  Aufgang  des  neuen  siegreichen  Gestirnes 
Tizian  gehört  hier  ein  einsames  kleines  Bildchen  ohne  Namen  aus  dem  ersten  Jahrzehnt  des  Cinque- 
cento. Sogar  der  Gegenstand  der  Darstellung  ist  nicht  recht  klar  und  der  Katalog  bezeichnet  ihn 
als  unbekannt.  In  einem  Garten  mit  dichtem  Gebüsch  sitzt  rechts  auf  einem  erhöhten  Thron  mit 
darüberhängendem  Baldachin  ein  kurzbärtiger  Mann  in  dunkelgrüner  Tunika  und  maisgelbem  Pallium 
mit  einem  Kranz  im  Haar.  Hinter  ihm  kniet  ein  Diener  mit  einem  Teller  voll  Früchten,  während 
ein  Jüngling  im  enganschhessenden  Kostüm  der  Zeit,  auf  den  Stufen  des  Thrones  sitzend,  die 
Mandoline  spielt.  Vor  dem  so  Verehrten  aber,  in  dem  wir  jedenfalls  einen  antiken  Dichter  oder 
Philosophen,  vielleicht  Pythagoras  oder  Piaton,  zu  erkennen  haben,  steht  ein  Knabe  in  grauem  Rock 
nach  damaligem  Modeschnitt  und  hält  demütiglich  seine  Kappe  in  der  Hand.  Weiterhin  zur  Linken 
schleicht  ein  junger  Panther  herum,  während  ein  Pfau  auf  dem  dürren  Ast  eines  Baumes  sitzt. 
Jenseits  der  Gebüsche  und  eines  phantastischen  Felsgebildes  blicken  wir  in  eine  Hügellandschaft 
mit  Bauernhütten  und  anderen  Gebäuden  im  Charakter  des  venezianischen  Festlandes  gegen  die 
Alpen  zu.  Lassen  wir  heute  dahingestellt,  was  diese  Scene  bedeuten  mag,  die  offenbar  eine 
Allegorie  auf  die  persönlichen  Ideale  eines  angehenden  Humanisten  enthält,  —  wir  kommen  bei 
anderer  Gelegenheit  einmal  darauf  zurück.  Wohin  aber  gehört  die  Malerei  als  solche?  Schon  das 
Zusammenwirken  der  halb  genrehaften,  halb  persönlich  bestimmten  Figuren  mit  einer  landschaft- 
lichen Umgebung  voll  poetischer  Reize  führt  auf  eine  Geschmacksrichtung,  die  durch  Bellini  und 
seine  Leute  vorbereitet,  zu  Anfang  des  i6.  Jahrhunderts  in  der  venezianischen  Malerei  sehr  beliebt 
war.  Wir  bezeichnen  sie  gewöhnlich  mit  dem  Namen  Giorgione.  Bei  dem  vorliegenden  Beispiel 
an  ihn  selber  zu  denken,  sind  jedoch  besonders  die  Gestalten  zu  schwach  und  verraten  hier  und  da 
Eigentümlichkeiten,  die  mehr  an  Palma  Vecchio  erinnern.  Doch  gehört  diese  kleine  Tafel  in  der 
Anordnung  der  Figuren  innerhalb  ihrer  Umgebung,  in  der  Behandlung  des  Landschaftlichen, 
namentlich  der  Bäume  und  der  Staffage  aufs  Engste  mit  zwei  Bildern  ganz  ähnlichen  Formates  in 
der  Galerie  der  Uffizien  zusammen,  deren  Besseres  —  sie  sind  bei  aller  Übereinstimmung  der  Mache 
doch  so  ungleichwertig,  dass  man  verschiedene  Hände  vermutet  —  eine  Wundergeschichte  aus  dem 
Leben  des  Moses  vorstellt.  Sie  heissen  dort  Giorgione;  mindestens  eins  aber  trägt  wie  dieses  hier 
die  Merkmale  eines  dilettantischen  Künstlers,  der  mit  überraschender  Virtuosität  und  doch  nicht  sicher 


—     139    — 

als  sein  Eigentum  bald  von  diesem  bald  von  jenem  Meister  gefällige  Züge  für  sich  erhascht,  und 
so  möchte  ich  hier  den  Namen  des  Giulio  Campagnola  vorschlagen,  der  gewöhnlich  nur  als 
Kupferstecher  genannt,  doch  literarisch  auch  als  Maler  und  als  Musiker  beglaubigt  ist.  Unter  ihm 
lernte  Domenico  Campagnola,  der  Gehülfe  Tizians,  und  vielleicht  auch  Agostino  Veneziano,  bevor 
er  zu  Marcantonio  Raimondi  überging.  Die  nähere  Begründung  würde  hier  zu  weit  führen,  mag 
uns  also  aufbehalten  bleiben.  Nur  sei  noch  hervorgehoben,  dass  alle  drei  Tafeln,  die  beiden  in 
Florenz,  wie  diese  in  London,  im  Farbenton  und  mancher  Einzelheit  nicht  rein  venezianisch  sind, 
sondern  auch  das  Vorbild  der  Franciaschule  in  Bologna  bezeugen.  Davon  wird  man  sich  um  so 
mehr  überzeugen,  wenn  man  in  der  kleinen  Anbetung  der  Könige,  die  ebenso  namenlos,  doch  mit 
mehr  Anspruch  auf  die  Bezeichnung  Palma,  unmittelbar  daneben  hängt,  den  Goldschimmer  der 
echten  Schule  Venedigs  wahrnimmt. 

Dann  beginnt  der  gewaltige  Aufschwung,  dessen  Zeugen  uns  hier  von  allen  Wänden  des 
Saales  entgegenstralen.  Wir  finden  keine  Ruhe  mehr,  vor  dem  Mittelgut  wie  Carianis  heiliger 
Conversazione  noch  auszuharren,  sondern  geben  uns  gern  den  Meisterwerken  ersten  Ranges  hin. 
Dies  ist  in  der  Tat  ein  Triumphzug  der  venezianischen  Schule,  wie  man  ihn  ausserhalb  Italiens  gar 
nicht  erwartet,  und  man  sollte  meinen,  dass  diese  Halle  von  Farbenglut  und  Schönheit  mitten  in  den 
grauen  Strassen  Londons  schon  allein  zum  Heiligtum  werden  müsste,  das  mächtig  jedes  empfäng- 
liche Wesen  anziehen  und  im  stillen  Schauen  erquicken  mag. 

Ein  Hauch  von  Giorgiones  Poesie  weht  noch  durch  Tizians  frühe  „Erscheinung  Christi  vor 
Magdalena  im  Garten".  Äusserlich  nur  von  massigem  Umfang,  birgt  es  eine  Fülle  inneren  Lebens, 
und  —  nicht  allzu  nah  betrachtet  —  wirkt  die  wunderbare  Gegenwart  des  Auferstandenen  über- 
wältigend, wie  auf  das  schöne  Weib  zu  seinen  Füssen,  auch  auf  uns,  und  der  Zauber  der  Landschaft 
begleitet  das  Ereignis  wie  mit  einem  sonnigen  Wiederschein  des  Paradieses.  —  Welch  ein  Ausbruch 
bacchantischer  Liebesglut  dagegen  in  der  Begegnung  des  Dionysos  mit  Ariadne  auf  Naxos.  Alles 
jubelt  und  sprüht  in  Wonne,  wie  der  Gott  dem  verlassenen  Mägdlein  entgegentaumelt,  und  es  ist 
als  ob  die  Farben  eine  rauschende  Harmonie  vollführten,  die  alle  Sehnsucht  übertönend,  sie  schnell 
für  sich  gefangen  nimmt. 

Dazwischen  das  Dichterporträt,  das  stille,  weiche,  vornehme  Bildnis  Ariosts  in  einer  Lorbeer- 
laube, wo  er  sann.  Ist  diese  Erscheinung  eines  geistig  Adligen  in  ebenso  edlem  Körper  nicht  selber 
ein  Gedicht?  Es  eröffnet  die  Reihe  stattlicher  Porträts  aus  der  bevorzugten  Gesellschaft  italienischer 
Patrizier,  Kaufherren  und  Gelehrter,  die  hier  wie  im  Wetteifer  von  Meisterhänden  geschaffen,  vor  uns 
stehen,  als  lebten  sie  mit  uns.  Die  Kunst  eines  Alessandro  Bonvicino,  genannt  Moretto  von  Brescia, 
oder  eines  Giambatista  Moroni,  des  Bergamasken,  bedarf  keiner  Empfehlung:  diese  geschmackvolle, 
grossartige  und  doch  nicht  gemachte  Wiedergabe  menschlicher  Charaktere  aus  einer  glücklichen 
Zeit  spricht  unmittelbar  und  wirksam  für  sich  selber.  Zwischen  Bildnis  und  Genrebild  in  der  Mitte 
steht  eine  Dame  in  silbergrauem  Schleier  von  Sa voldo,  in  der  wir  Maria  Magdalena  erkennen  sollen, 
weil  sie  ein  Salbgefäss  auf  den  Grabesrand  gesetzt  hat  und  sich  wie  im  Gehen  nur  flüchtig  zu  dem 
Beschauer  herumwendet.  Von  Tintoretto  ist  wol  ein  Damenporträt,  das  man  noch  ohne  Namen 
gelassen   hat.     Auch   die  Leistungen  eines  Leandro  Bassano   verdienen   besondere  Anerkennung. 


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„Die  Barmherzigkeit  des  Samariters"  gehört  zu  den  besten  Darstellungen  biblischer  Stoffe  von  seiner 
Hand  und  vermag  sieh  sogar  neben  Tizian  zu  behaupten.  Da  schwinden  die  etwas  äusserlichen  Reize 
des  Paris  Bordone,  wie  die  des  neuerworbenen  Bonifazio  auf  ihren  wahren  Wert  zusammen,  und 
wir  bewahren  einen  gewissen  Vorbehalt  selbst  gegenüber  den  Prachtgemälden  des  Paolo  Veronese, 
der  hier  in  verschiedenen  Phasen  seiner  Entwickelung,  zum  Teil  in  höchster  Gediegenheit,  sich  darstellt. 

Befremdend  allein  unter  all  diesen  echten  Vertretern  venezianischer  Farbenschönheit  nimmt 
sich  Sebastiano  del  Piombo  aus,  der  freilich  ein  Venezianer  von  Geburt,  doch  seinen  Werken  nach, 
die  hier  vorhanden  sind,  kaum  mehr  zu  seinen  Landsleuten  gehören  will.  Zwei  Porträts  hängen 
neben  seinem  Meisterstück,  der  Auferweckung  des  Lazarus,  die  in  allen  Teilen  so  sehr  die  Abhängig- 
keit von  Michelangelo  und  das  erfolgreiche  Studium  der  Teppiche  Raphaels  bezeugt,  dass  nur  Rom 
die  Bedeutung  des  Bildes  erklären  kann. 

Nun,  es  war  von  Anfang  eine  Hauptzierde  der  englischen  Sammlung  und  darf  einen  Ehrenplatz 
einnehmen,  wo  der  Besucher,  durch  die  anstossenden  Säle  und  die  Rotunde  daherkommend,  schon 
aus  der  Ferne  davon  angezogen  wird,  und  in  der  Tür,  dem  Gemälde  gerade  gegenüber,  den 
richtigen  Standpunkt  gewinnt,  noch  ehe  der  volle  Glanz  Venedigs  ihm  entgegenstralt.  Übrigens 
war  das  Bild  Sebastianos  vor  der  starken  Nachdunkelung  offenbar  auch  in  der  Farbe  sehr  tüchtig 
und  bewahrt  besonders  in  der  landschaftHchen  Umgebung  die  Vorzüge  seines  venezianischen  Erbes. 
So  mag  es  als  die  Frucht  einer  langen  Entwicklung,  zu  der  Florenz,  Umbrien  und  Venedig  gemeinsam 
beigetragen,  gleichsam  im  Mittelpunkt  des  Ganzen  stehen. 

Denn,  dass  wir  die  Höhe  hinter  uns  lassen,  merken  wir  nur  zu  bald,  wenn  wir  auf  der  andern 
Seite  aus  dem  Saal  der  Venezianer  in  das  Zimmer  der  Lombarden  übertreten.  Und  doch  sind 
diese  Maler  jetzt  so  sehr  begünstigt,  dass  mailändische  Lokalforscher  ihre  Freude  haben  werden.  In 
einem  Raum,  der  früher  [mit  italienischen  Quattrocentisten  überfüllt  war,  dürfen  sie  sich  jetzt  aus- 
breiten, dass  man  eine  gewisse  Leere  empfindet,  weil  —  ja  ohne  Zweifel  nur,  weil  der  Gehalt  dieser 
Bilder  nicht  so  bedeutend  ist,  wie  die  Werke  aus  andern  Schulen.  Die  Lombarden  sind  bereits  in 
ansehnlicher  Auswahl  vereinigt  und  erscheinen  hier  eigentlich  zum  ersten  Mal  im  Ausland  in  ihrem 
eigenen  Licht  für  sich  allein.  Ich  fürchte,  die  Gefälligkeit,  die  man  ihnen  erwiesen  hat,  richtet  sie;  — 
aber  das  wird  ein  Gewinn  sein  für  unsere  historische  Erkenntnis! 

Das  wichtigste  Hauptstück  der  Älteren  ist  jedenfalls  die  grosse  Anbetung  der  Könige  von 
Vincenzo  Foppa,  die  früher  fälschlich  Bramantino  zugeschrieben,  mit  Recht  ihrem  wirklichen  Urheber 
zurückgegeben  worden,  und  den  Meister  ausserhalb  Italiens  sehr  ehrenvoll  bekannt  macht.  Da  weder 
Farbe  noch  Typen  gerade  anziehend  sind,  erregt  die  Komposition  als  solche  von  selbst  das  Interesse, 
das  sie  verdient.  Man  darf  dazu  auffordern,  sie  einerseits  mit  der  Darstellung  dieses  Gegenstandes 
im  Appartamento  Borgia  des  Vatikans,  andererseits  mit  Luinis  Fresco  in  Saronno  zu  vergleichen. 

Daneben  ist  Ambrogio  Borgognone  fast  reichlich  stark  vertreten;  doch  muss  die  Gelegenheit 
willkommen  sein,  ausser  der  trefflichen,  noch  voll  charakterfesten  Arbeit,  wie  sie  die  Altartafel  mit 
der  thronenden  Madonna  zeigt,  auch  den  weicheren  Ausdruck,  die  etwas  verschwimmende  Haltung  in 
dem  Triptychon  zu  beobachten.  Das  ist  lehrreich  für  das  weitere  SchicksaL  der  Schule,  selbst  wenn 
man,    wie   hier  so  ausgezeichneten  Bildnissen  von  Andrea  Solario  begegnet   und  von  Luini   nur 


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Christus  unter  den  Schriftgelehrten  im  engsten  Anschluss  an  Lionardo  zu  sehen  bekommt.  Lionardo 
ist  ja  auch  die  Seele  Boltraffios,  von  dem  hier  eine  der  schönsten  Madonnen  uns  wol  für  ihn 
einnehmen  kann.  Die  neuerworbenen  Halbfiguren  von  Heiligen  des  Macrino  d'Alba  sind  unerfreulich; 
aber  der  Meister  erhebt  sich  überhaupt  selten  zu  so  gediegenem  Schaffen  wie  in  der  Certosa  von  Pavia. 

Hat  nun  schon  Solario  in  seiner  Porträtkunst  viel  von  Bellini  gelernt,  so  gehört  Francesco 
Taccone  mit  seiner  Madonna  vollends  in  die  Werkstatt  dieses  Venezianers  und  nicht  zur  lombar- 
dischen Kunst,  trotz  seiner  Herkunft  aus  Cremona.  Auch  sein  Landsmann  Boccaccino  „mit  den 
Eulenaugen"  verdankt  viele  seiner  besten  Eigenschaften  dem  Studium  BeUinis,  Carpaccios  und  Cimas 
da  Conegliano.  Die  National  Gallery  besitzt  ein  Hauptwerk  von  seiner  Hand:  eine  figurenreiche 
Kreuztragung  Christi,  deren  Bewegungsmotive  und  saftige  Lackfarbe  auch  an  Ercole  Grandi  den 
Älteren  erinnert.  Wirklich  Cremonesisches  kommt  eigentlich  erst  in  dem  Cinquecentisten  zum 
Durchbruch,  der  hier  ebenfalls  mit  einem  Meisterstück  auftritt:  Altobello  de  Meloni.  Die  Begegnung 
Christi  mit  den  Jüngern  auf  dem  Wege  nach  Emmaus  ist  mit  vollem  Namen  und  der  Jahreszahl  15 17 
bezeichnet  und  erhält  dadurch  noch  ein  besonderes  kunsthistorisches  Interesse.  Es  ermöglicht  uns, 
wie  ich  glaube,  den  Spuren  des  Künstlers,  der  uns  sonst  vorwiegend  als  Frescomaler  in  seiner 
Heimat  bekannt  ist,  auch  als  Tafelmaler  nachzugehen,  ja  —  wenn  ich  nicht  irre,  auch  ihn  bis  ins 
Atelier  Bellinis  zu  verfolgen.  Es  gibt  nämlich  eine  kleine  Anzahl  von  Bildern,  die  mit  mehr  oder 
minder  Zweifel  seinem  Mitbürger  Boccaccino  beigemessen  werden,  nach  diesem  authentischen 
Beispiel  von  Altobello  jedoch  dem  letzteren  gehören  dürften. 

Es  sind  dies  unter  anderm  eine  Fusswaschung  Christi  in  der  Akademie  zu  Venedig  (dort  gar 
als  Perugino!),  daselbst  eine  kleine  Tafel  mit  Christus  zwischen  Pharisäer  und  Schriftgelehrten  (nur 
Brustbilder)  und  ein  sehr  feines  Werkchen  vom  selben  Zuschnitt  in  der  Pinakothek  zu  Modena.  Alle 
diese  Proben  stimmen  mit  dem  hiesigen  Gemälde  sehr  wol  überein,  wenn  man  dies  eben  als  späteres 
Erzeugnis  seines  vollentwickelten  Stiles  ansieht,  wie  es  dem  Datum  nach  geschehen  muss  und  die 
andern  als  frühere  Arbeiten,  etwa  im  ersten  Jahrzehnt  des  XVI.  Jahrhunderts  (die  Fusswaschung  hat 
sogar  die  Jahreszahl  1500)  aus  den  selben  Einflüssen  erklärt,  wie  die  Werke  eines  Lorenzo  Lotto 
und  anderer  Bellinischüler.  Denn  in  die  Schule  des  Bellini  weist  uns  der  schwarze  Hintergrund 
ebenso,  wie  die  Anordnung  der  Figuren  und  die  kräftige  harmonische  Färbung.  Alle  zeichnen  sich 
aus  durch  feingeschnittene,  zartmodellirte  Köpfe  und  eine  ganz  eigene  Vorliebe  für  Atlas  oder  andere 
Seidenstoffe,  die  zuerst  knitterig  gebrochen,  allmälich  in  grösseren  Falten  und  breiteren  Flächen 
behandelt  werden.  Die  Farbe  ist  in  dem  frühesten  Beispiel  am  leuchtendsten,  in  diesem  späteren 
bleicher  geworden,  wie  sich  aus  der  Gewohnheit  des  Frescomalens  ergeben  mochte,  wenn  es  nicht 
allgemeine  Geschmackssache  war,  die  wir  bei  Moretto  da  Brescia  und  Paolo  Veronese  ebenso  finden. 

Ausser  diesen  venezianisch  geschulten  Lombarden  und  den  Mailändern  unter  Lionardos 
Leitung  hängen  nun  in  diesem  Raum  noch  Correggio,  von  dem  wir  nur  die  reizende  kleine  Madonna 
mit  dem  übermütigen  Kinde  und  die  (späte)  Erziehung  des  jungen  Amor  durch  Venus  und  Merkur 
hervorheben  wollen,  —  und  endlich  die  riesenhafte  Madonnenvision  seines  Schülers  Parmigianino, 
dessen  Bravour  uns  schon  zu  den  Nachzüglern  und  Manieristen  versetzt,  die  sich  in  einem  anderen 
Raum  zusammenfinden. 


—      142      — 

Nicht  zu  ihnen,  sondern  mitten  hinein  in  die  Blütezeit  der  flandrischen  und  holländischen 
Schule,  zu  Rubens,  van  Dyck  und  Rembrandt  führt  uns  der  nächste  Saal  und  das  anstossende 
Gemach  nach  der  Rotunde  zu,  während  das  Eckzimmer,  das  früher  dem  Vermächtnis  Wynn  Ellis 
allein  gewidmet  war,  nun  auch  die  altflandrischen  und  deutschen  Gemälde  aufgenommen  hat,  die 
sonst  in  dem  kleinen  Entree  oder  an  Schirmwänden  verteilt  aufgestellt  waren.  Die  späteren  Italiener 
bereiten  uns  einerseits,  wie  die  Spanier  an  der  anderen  Seite,  auf  die  französische  Schule  vor,  denen 
sich  die  Engländer  des  achtzehnten  Jahrhunderts  anreihen  als  Abschluss  des  Ganzen.  Trotz  dieser 
Umordnung,  durch  welche  die  Übersichtlichkeit  der  Sammlung  entschieden  gewonnen  hat,  gewährt 
doch  dieser  zweite  Teil  der  National  Gallery  noch  nicht  die  Befriedigung,  die  wir  in  der  italienischen 
Abteilung  fast  ungestört  empfinden.  Hier  hängen  immer  noch  zu  viele  Stücke  an  einer  Wand,  die 
sich  gegenseitig  beeinträchtigen  und  den  ruhigen  Anblick  jedes  Meisters  in  seiner  Individualität  nur 
dem  gestatten,  der  mit  ernstlicher  Anstrengung  jeden  ablenkenden  Einfluss  abwehrt.  Am  unglück- 
lichsten wirkt  wol  das  Eckzimmer,  wo  an  einer  Seite  all'  die  kleinen  Tafeln  der  flandrischen  und 
deutschen  Altmeister  hängen,  —  die  köstlichen  Perlen  von  Jan  van  Eyck  darunter  —  und  auf  der 
andern  grosse,  oft  sogar  nur  dekorativ  gedachte  Niederländer  der  späteren  Zeit,  wie  z.  B.  die 
ärmlichen  Selbstwiederholungen  eines  Teniers.  Die  vlämischen  Kabinetsstückchen  sind  eben  nicht 
für  Salwände,  und  will  man  die  monumentale  Wirkung  grossartiger  Räumlichkeiten  in  einem  öffent- 
lichen Museum  nicht  entbehren,  so  muss  man  auch  etwas  Monumentales  hineinzuhängen  haben.  Die 
wundervollsten  Gemälde,  die  für  Wohnstuben  und  trauliche  Häuslichkeit  berechnet  sind,  werden  zu 
winzigen  Lappen  und  Puppenstubenmafsstab  degradiert,  wenn  man  sie  in  einer  hohen  Halle  Gross 
und  Klein  neben  einander,  oder  gar  in  mehreren  Reihen  übereinander  aufhängt.  Das  ist  ein  woltuender 
Vorzug  der  Münchener  Galerie  z.  B.,  dass  uns   diese  Kalamität  des  Magazinierens  erspart  bleibt. 

Nun,  hoffentlich  wird  auch  die  zweite  Abteilung  der  Londoner  National  Gallery  in  nicht 
allzulanger  Frist  die  Erweiterung  erfahren,  die  jetzt  vorwiegend  den  Italienern  zu  Gute  gekommen  ist, 
und  wird  dann  sicher  denselben  würdigen  und  durchaus  vornehmen  Anblick  darbieten,  der  in  den 
ersten  Sälen  so  erhebend  und  feierlich  wirkt 

Bis  dahin  müsste  bei  einer  Besprechung  des  übrigen  Bestandes  ein  völlig  anderes  Verfahren 
eingeschlagen  werden,  und  wir  dürfen  deshalb  für  dies  Mal  unsere  Wanderung  beschliessen. 


MEISTER  DES  XIV.  UND  XV.  JAHRHUNDERTS 

IM 

LINDENAU- MUSEUM  ZU  ALTENBURG 


Das  kunsthistorische  Institut  der  Universität  Leipzig,  das  sonst,  für  italienische  Studien  an 
Originalen,  auf  Reisen  zu  den  benachbarten  Museen  von  Dresden  und  Berlin  angewiesen  ist,  hat  noch 
in  nächster  Nähe,  im  Herzoglichen  Museum  zu  Altenburg,  ein  Arbeitsfeld  gefunden,  das  für  die 
Zwecke  des  Lehrens  und  Lernens  nicht  minder  willkommene  Aufgaben  bietet.  Das  Vermächtnis  des 
Ministers  Bernhard  August  v.  Lindenau  (1799 — 1854)  umfasst  einen  Schatz  von  alten  italienischen 
Originalgemälden  meist  kleinen  Mafsstabes,  die  der  einsichtsvolle  Kunstfreund,  einst  den  Spuren 
C.  F.  v.  Rumohrs  folgend,  für  sich  gesammelt  hat.  „Der  Grund  zu  dieser  Sammlung,  heisst  es  im 
eigenen  Vorbericht  zu  der  Beschreibung  seiner  sämtlichen  Kunstgegenstände,  wurde  durch  einen 
vom  verstorbenen  Professor  Hartmann  in  Dresden  gemachten  Ankauf  gelegt,  und  seitdem  zunächst 
durch  die  freundliche  Vermittlung  des  Dr.  Braun  in  Rom  und  durch  eigene  in  Italien  gemachte 
Erwerbungen  auf  den  jetzigen  Bestand  gebracht".  Darunter  befinden  sich  166  alt-italienische  Gemälde, 
die  zunächst  das  14.  und  15.  Jahrhundert  umfassen,  von  Duccio  und  Cimabue  bis  zu  Rafaels  Meister 
Pietro  Perugino  reichen,  und  eine  Übersicht  der  drei  Hauptmalerschulen  jener  Zeit  der  Sieneser, 
Florentiner  und  Umbrischen  gewähren". 

Obwol  die  Dresdener  Kunstkenner  v.  Quandt  und  H.  W.  Schulz,  das  Verzeichnis  der  (1844 
abgeschlossenen,  seit  1848  zugänglichen)  Sammlung  gemeinschaftlich  bearbeitet,  dann  Crowe  und 
Cavalcaselle  sie  noch  an  ihrem  alten  Standort  im  sogenannten  Polhof,  dem  Besitztum  der  Familie 
V.  Lindenau  gesehen  haben,  und  neuerdings  Herrn.  Hettner,  wie  vereinzelt  auch  andre  Forscher  nach 
Altenburg  gekommen  sind,  so  ist  doch  bisher  weder  die  Bedeutung  des  Besten  hinreichend  erkannt, 
noch  die  Bestimmung  der  beachtenswerten  Beispiele  nach  Schulen  und  Meistern  ernstlich  genug 
durchgeführt  worden,  so  dass  eine  zuverlässige  Verwertung  des  hier  erhaltenen  Bestandes  im  Sinne 
der  modernen  Forschung  erfolgen  könnte.  Die  Überlieferung  beim  Ankauf  der  Bilder  ist  begreiflicher 
Weise,  den  Verhältnissen  der  vierziger  Jahre  entsprechend,  äusserst  willkürlich  und  unzuverlässig 
gewesen,  ihre  schriftliche  Aufbewahrung  scheint  vernachlässigt  und  ein  1848  gedruckter  Katalog 
erweist  sich  fast  überall  unzulänglich.     Kein  Wunder:    eine  ganze  Reihe  falsch   datierter  und  falsch 


—     144     — 

getaufter  Bilder  kann  überhaupt  erst  mit  den  heutigen  Mitteln  umfassender  Studien  und  photographischen 
Vergleichsmateriales  genauer  bestimmt  und  nach  ihrem  eigentlichen  Wert  für  die  Kunstgeschichte 
gewürdigt  werden.  Die  gegenwärtigen  Mitglieder  des  kunsthistorischen  Seminars  in  Leipzig  haben  daran 
ihre  Kräfte  versucht,  die  älteren  von  ihnen  unter  Leitung  ihres  Direktors  einzelne  Untersuchungen  vor- 
genommen; ein  wissenschaftlicher  Katalog  ist  nahezu  vollendet,  so  dass  ein  Gang  durch  die  Altenburger 
Sammlung  auch  an  dieser  Stelle  wenigstens  über  die  Hauptergebnisse  Rechenschaft  zu  geben  vermag. 

Unsere  Kenntnis  des  Trecento  wie  des  Quattrocento  hat  dabei  gewonnen,  soviel  darf  im 
Voraus  versichert  werden.  Folgen  wir,  soweit  es  erreichbar,  dem  historischen  Gange  der  Kunst  und 
der  üblichen  Sonderung  der  Schulen,  so  wird  sich  der  Ertrag  im  Einzelnen  wol  bequem  und  über- 
sichtlich dem  bekannten  Besitz  an  Anschauungen  und  Überzeugungen  einordnen  oder  angliedern, 
sei  es  auch,  dass  hier  und  da  ein  mitgebrachtes  Vorurteil  zerpflückt,  dort  ein  fest  geglaubter 
Zusammenhang  gelockert,  hier  Getrenntes  wieder  vereinigt  werde.  Im  Grunde  gewähren  diese 
Stichproben  unserem  fortgeschrittenen  Verständnis  des  Quattrocento  nur  erwünschte  Bestätigung; 
wie  viel  aber  unsere  Einsicht  in  die  Entwicklung  des  Trecento  noch  zu  wünschen  übrig  lässt,  weiss 
jeder  denkende  Forscher  zu  wol,  um  nicht  einigen  Zuwachs  an  verwertbaren  Beispielen  schon  mit 
Freuden  zu  begrüssen.  Ist  für  diesen  Zeitraum  die  Orientierung  von  Florenz  aus,  als  dem  Mittelpunkt 
oder  dem  Ausgangspunkt  der  ganzen  Kunst,  die  wir  an  der  Hand  Vasaris  kennen  lernen,  nicht  schon 
ein  Irrtum,  —  oder  wenigstens  das  Vertrauen  auf  diesen  Führer  eine  unkritische  Einseitigkeit,  die 
sich  mit  falschen  Vorstellungen  bestraft? 

Vielleicht  erhalten  die  „Florentiner  Studien"  gerade  durch  diesen  Ausflug  in  die  Altenburger 
Galerie  nach  der  schwachen  Seite  der  bisherigen  Erkenntnis  hin  eine  wirksame  Ergänzung.  Die 
Sammlung  von  Lindenau  ist  im  Vergleich  zu  den  bedeutendsten  Museen  ausserhalb  Italiens  ganz 
besonders  reich  an  Beispielen  des  Trecento  und  besitzt  darunter  einige  Perlen  von  hervorragender 
Bedeutung,  sei  es  für  die  Augen  des  historischen  Forschers,  sei  es  für  die  des  geniessenden  Lieb- 
habers, die  sich  zuweilen  wol  auf  dieselben  Täfelchen  vereinen  werden. 


^^^ 


^-Ä,- 


SIENESISCHE  TRECENTISTEN 


Charakteristisch  ist  schon  die  Tatsache,  dass  die  Meister  des  vierzehnten  Jahrhunderts  hier 
nicht  mit  Giotto  beginnen,  und  sei  es  auch  nur  mit  seinem  Namen.  Wer  einigermafsen  den  chrono- 
logischen Gang  zu  verfolgen  trachtet,  muss  nach  den  sogenannten  „Byzantinern",  unter  denen  der 
neue  Katalog  schon  ein  Palimpsest  von  sienesischen  Händen  zweier  Jahrhunderte  kennzeichnen  wird, 
sogleich  bei  dieser  Nachbarschule  droben  im  Gebirg  einsetzen  und  in  seiner  Erinnerung  an  die 
berühmten  Werke  eines  Duccio  di  Buoninsegna  den  Anhalt  suchen,  der  hier  vermitteln  kann.  Was 
beim  Stifter  der  Sammlung  von  Lindenau  vielleicht  nichts  Anderes  war,  als  der  Einfluss  des 
Vorurteiles,   das    seltsam   genug    überall   bei  C.  F.  v.  Rumohr  gegen  Giotto  zu  spüren  ist,'   das  wird 


I  In   der  Einleitung   des    alten  Verzeichi 
mehrfacher  Hinsicht  lücken-  und  mangelhaft  - 


schreibt  Lindenau   selbst:    ,,r; 
:h  in  kunstgeschichtlicher  Hin 


wenn    auch 
Vert  haben, 


—     I40     — 

hier  zu  heilsamerem  Gegengift  gegen  Vasaris  einseitig  florentinische  Geschichte.  Wie  in  Rumohrs 
„Itahenischen  Forschungen"  tritt  hier  für  die  Anschauung  vielmehr  Siena  in  den  Vordergrund,  und 
ebenso  Simone  Martini  als  Hauptmeister  an  die  erste  Stelle  der  Trecentisten.  Wie  Giotto  zu  Cimabue 
steht  Simone  zu  Duccio  im  Verhältnis  eines  unmittelbaren  Nachfolgers  oder  eines  fortschreitenden 
Zeitgenossen,  aber  auch  eines  durchaus  selbständigen  Neuerers.  So  vollzieht  sich  zwischen  den 
Sienesen  hier,  den  Florentinern  dort  in  der  Malerei,  was  auf  dem  Gebiete  der  Skulptur  nur  von 
Pisa  aus  geschehen  konnte,  zwischen  Vater  und  Sohn,  Niccolö  und  Giovanni  Pisano,  —  die  Scheidung 
zwischen  romanischem  und  gotischem  Stil,  nur  auf  italienischem  Boden  überall  in  viel  persönlicherem 
Sinne  und  weit  individuellerem  Gebaren,  als  es  anderswo  erscheinen  will,  da  dort  kein  Name  die 
Reihe  von  Meisterwerken  verbindet. 

Betrachten  wir  aber  Simone  Martini  von  Siena  als  Gotiker  in  der  Malerei,  wie  Giotto  di 
Bondone  von  Florenz,  dann  drängt  sich  ein  andrer  Vergleich  auf,  der  sich  mit  dem  vorigen  verkettet. 
Der  Maler  Giotto  ist  schon  mit  dem  Bildner  Giovanni  Pisano  in  Beziehung  gesetzt  worden,  nament- 
lich nachdem  ihre  verschiedenen  Wege,  an  den  Toren  von  Florenz  vorbei,  sie  zu  Padua  in  der  Cappella 
deir  Arena  zusammengeführt.  Sonst  liegt  der  Schwerpunkt  der  früheren  Tätigkeit,  die  Periode  des 
Wachstums,  für  Giotto  in  Assisi  und  in  Rom,  wo  ihm  Cosmaten  und  Arnolfo,  der  Meister  gotischer 
Kanzeln  und  Tabernakel,  begegnen,  für  Giovanni  Pisano  dagegen  in  der  Vaterstadt  und  in  Siena 
bis  nach  Pistoja,  d.  h.  auf  ghibellinischem  Gebiet,  das  vom  aufstrebenden  Florenz,  vom  werdenden 
Charakter  der  Guelfenstadt  sich  scheidet.  In  Siena  eben  erwächst,  wie  gotische  Spitzgiebel  und 
Statuenschmuck  auf  dem  romanischen  Unterbau  des  Baptisteriums  zu  Pisa  oder  des  Sieneser  Domes 
selbst  unter  der  Bauleitung  Giovannis,  nun  Simone  Martini,  der  gotische  Meister,  aus  dem  letzten 
romanischen  Vertreter  der  alten  byzantinischen  Lokaltradition  hervor.  Als  Maler  aber  erscheint  er 
vielmehr  einem  andern  Bildner  vergleichbar,  mit  dem  ihn  ausserordentliche  Verwandtschaft  der 
Seelen  für  unser  Gefühl  in  eine  Reihe  stellt:  ich  meine  Andrea  da  Pontedera,  der  schon  in  ganz 
anderm  Verstand  als  Niccolö  und  Giovanni  den  Beinamen  „Pisano"  führen  darf,  —  den  reinsten 
Gotiker,  mit  einem  harmonischen  Schönheitssinn  und  einem  milden  Gemüt,  wie  man  sie  sonst  nur 
bei  Sienesen  erwartet. 

Ohne  jede  Bezeichnung  findet  sich  im  alten  Katalog  (Nr.  23)  hinter  einem  vermeintlichen 
Duccio,  und  mit  einer  Madonna  von  Taddeo  Bartoli  zusammengefasst,  die  Einzelfigur  Johannes  des 
Täufers,  die  keinem  andern  gehört  als  Simone  Martini  selber.  Auf  Goldgrund  hebt  sich  die  dunkle 
Gestalt  im  purpurnen  Mantel  ab  und  hat  schon  im  Ton  der  Farben  nichts  von  dem  Spätling  Taddeo 
Bartoli.  Der  letzte  Prophet  des  alten  Bundes  steht  auch  nicht  aufrecht  in  ganzer  Figur,  wie  wir  ihn 
sonst  zu  sehen  gewohnt  sind,  sondern  thront  auf  goldenem  Sessel  mit  Löwenköpfen,  die  seitlich 
hervorschauen.  Unter  seinem  Fuss  steht  ein  sechseckiger  Schemel  auf  dem  dunkeln  Boden,  der 
unbestimmt  gegen  die  goldige  Fläche  den  Ort  andeutet,  wo  wir  ihn  zu  denken  haben.  Mit  über- 
geschlagenem Beine,   ein  Kreuz    in   der  Linken,   die  Rechte  zur  Begleitung  seines  Wortes  erhebend, 


weil  diesen  Gemälden  ein  Ausdruck  von  Innigkeit  und  Frömmigkeit,  wie  er  in  keinem  andern  Zeitabschnitt  vorkoi 
innewohnt.  Nach  meinem  Gefühl  bietet  nur  die  neuere  Kunst  in  den  weiblichen  Köpfen  von  Hess  und  Overbeck  etwas 
demjenigen  Gemütsreichtum  dar  .  .  ." 


sitzt  der  Vorläufer  Christi,  obgleich  die  Augen  herausblicken,  doch  so  entschieden  seitlich  gewendet, 
dass  wir  7.11  dieser  spitzbogigen  Tafel  eine  zweite  mit  dem  Anziehungspunkt  seiner  Bewegung,  und 
vielleicht  eine  dritte  als  Gegenstück  des  hier  vorhandenen  linken  Flügels  hinzu  fordern  möchten. 
Jedenfalls  kann  nur  ein  Thronen  im  Himmelreich,  zur  Seite  des  Höchsten  selber  gemeint  sein,  und 
wir  mögen  statt  einer  Madonna  mit  dem  Kinde  wol  eher  den  Erlöser  oder  den  Weltenrichter  am 
jüngsten  Tage,  wenn  nicht  die  Gruppe  der  Dreifaltigkeit  in  der  Mitte,  und  eine  entsprechende 
Figur,  wie  Johannes,  den  Verfasser  der  Apokalypse  zur  Linken  der  Gottheit  (also  schwerlich  Maria), 
ergänzen,  um  die  Form  eines  Triptychons  nach  damaligem  Brauch  zu  gewinnen.  Überraschend 
freilich  bliebe  das  Dasitzen  in  ganzer  Figur,  und  es  wäre  nicht  unmöglich,  dass  dieser  Täufer  selbst, 
auch  in  der  seitlichen  Drehung  des  Körpers,  das  Hauptstück  in  der  Mitte  gebildet,  während  zu  den 
Seiten  etwa  in  zwei  oder  mehreren  Bildern  übereinander  die  Geschichte  seines  Lebens  erzählt  ward. 
So  hätten  wir  einen  Johannes-Altar  gleich  dem  des  Beato  Agostino  Novello,  jetzt  im  Chor  von 
S.  Agostino  zu  Siena,  d.  h.  einem  anerkannten  Werke  des  Simone  Martini. 

Wie  dem  auch  sei,  die  geschwungene  Haltung  des  Körpers  mit  seinen  hageren  Gliedmafsen, 
wie  die  Faltenzüge  der  Gewandung,  die  dies  Gehaben  begleiten,  —  sie  sind  durchaus  charakteristische 
Beispiele  für  die  Gewohnheit  'des  Künstlers,  dem  wir  das  Werk  zurückgeben.  Ganz  ähnlich  sitzt 
der  Kaiser  in  der  Legende  S.  Martins,  die  Simone  in  einer  Kapelle  der  Unterkirche  von  S.  Francesco 
in  Assisi  gemalt  hat,  wenn  auch  der  ärmellose  Rock  aus  zottigem  Fell,  mit  härenem  Gurt  um  den 
Leib,  und  der  weite  Purpurmantel,  der  die  Arme  und  Beine  mit  ihrer  braunen  Hautfarbe  absichtlich 
frei  lässt,  eine  selbstverständliche  Modifikation  ergeben.  Das  Haupt  des  Wüstenpredigers  ist  von 
schlangenartig  abstehenden  Haarbüscheln  umkränzt,  der  Bart  teilt  sich  ebenso  regelmässig  in 
gelockte  Zotteln.  Das  Antlitz  zeigt  eine  tiefgefurchte  Stirn  mit  wulstigen  Falten  zwischen  den 
Brauen,  breite  vorstehende  Backenknochen  und  eingefallene  Wangen;  zwischen  den  dunkeln  schwarz 
umränderten  Augen  steigt  die  leicht  gebogene  Nase  scharf  geschnitten  herunter  und  legt  auch  das 
linke  Auge  in  Schatten.  Der  Typus  stimmt  in  allen  Einzelheiten  mit  den  Darstellungen  des  Täufers 
überein,  wie  Simone  sie  auf  andern  Gemälden  gegeben  hat,  ganz  besonders  aber  mit  der  Halbfigur 
des  fünfteiligen  Altarwerkes  im  Museo  dell'  Opera  am  Dom  von  Orvieto.  Hier  kehrt  auch  die 
Gebärde  des  rechten  Armes  ebenso  wieder,  der  vom  Elbogen  auf  eine  gerade  Linie  bildet,  Knochen 
und  Elbogenspitze  deutlich  hervortreten  lässt.  Und  sowie  wir  uns  weiter  im  Umkreis  Simones 
umschauen,  etwa  den  Johannes  von  Lippo  Memmi  auf  dem  Fresko  zu  S.  Gimignano  vergleichen, 
so  überzeugen  die  Unterschiede  von  dem  ganz  engen,  nur  persönlich  erklärbaren  Zusammenhang 
zwischen  dem  Altarwerk  in  Orvieto  und  dem  vereinzelten  Hauptstück  in  Altenburg. 

Zu  dieser  Übereinstimmung  des  Typus  und  der  Haltung  kommen  dann  noch  einzelne  Merk- 
male, die  ebenso  charakteristisch  die  Eigenart  des  Simone  selber  verraten.  So  die  Eleganz  der 
Bewegung,  bis  hinein  in  die  Stellung  der  Finger,  die  dieser  Maler  der  vornehmen  Sitte  und  des 
höfischen  Anstands  sogar  dem  verwahrlosten  Asketen  verleiht,  so  wie  er  am  Thron  der  Gottheit  droben 
seinen  Stul  eingenommen.  Welch  eine  beredte  Gestikulation  für  sich  vollführen  die  Finger  der  Rechten, 
die  lehrend  erhoben  ist :  der  Daumen  und  der  vierte  Finger  legen  sich  aneinander,  die  beiden  andern 

dazwischen   strecken    sich    aus,   während   der   fünfte  zierlich  gekrümmt  wird.     Ebenso  graziös  fassen 

19* 


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die  ersten  Finger  der  linken  Hand  das  leichte  Kreuz,  während  die  andern  diese  Tätigkeit  spielend 
begleiten.  Es  kommt  dem  Meister  der  Anmut  auch  bei  dem  rauhen  Bufsprediger  mehr  auf  feine 
Zier  als  auf  die  freie  Natur  an.  Und  wo  er  die  nackten  Gliedmafsen  geben  muss  wie  hier,  bemerken 
wir  auch  den  Mangel  seiner  anatomischen  Kenntnisse,  die  Unfähigkeit  zur  Wiedergabe  einer 
verkürzten  Form,  wie  bei  dem  vornstehenden  Fusse.  Dagegen  wendet  er  seine  ganze  Sorgfalt  auf 
die  ornamentalen  Einzelheiten  und  fröhnt  dem  sienesischen  Goldschmiedsgeschmack  schon  in  der 
Anordnung  und  Symmetrie  der  Bartlocken,  wie  in  der  Musterung  des  Heiligenscheines  mit  einem 
Kranz  epheuartiger  Blätter  darin,  bis  hinein  in  die  Löwenköpfe  des  Klappstuls,  die  ebenso  in  den 
Goldgrund  hineingearbeitet  sind,  wie  in  dünnes  Metallblech.  Die  nämliche  Sinnesart  bestimmt  auch 
die  Ökonomie  seiner  Arbeit  mit  den  sonstigen,  unterscheidenden  Mitteln  des  Malers,  der  Farbe 
sowol  wie  des  Lichtes.  Die  Farbstoffe  des  Bildes  sind  offenbar  von  ausserordentlicher  Qualität 
gewesen  und  sorgfältig  aufgetragen.  Besonders  durch  das  Vorherrschen  der  breiten  Flächen  von 
Rot  und  Gold  wird  eine  Leuchtkraft  und  Tiefe  gewonnen,  zwischen  denen  das  düstere  Grau  des 
Fellkittels  trefflich  vermittelt.  Auch  das  Antlitz  erhält  durch  die  feine  Vertreibung  der  braunen  und 
roten  Tinten  mit  grünlicher  Untermalung  ein  warmes  Leben.  Die  besondere  Beleuchtung  ist  sparsam 
neben  der  allgemeinen  Rechnung  zwischen  Kontrasten  der  Polychromie,  wie  Gold,  Rot,  Braun  und 
wenig  Grau.  Belichtet  sind  nur,  aber  ganz  zart,  der  Nasenrücken  und  die  Lippen.  Die  Arme  und  vor 
allen  Dingen  die  Beine  sind  weniger  sorgfältig  schattiert,  bis  auf  grosse  Schlaglichter  fast  gleichmässig 
mit  der  dunkeln  Hautfarbe  in  den  Grenzen  des  Umrisses  ausgetuscht;  erst  bei  den  Händen  beginnt 
wieder  das  Licht  intimer  mitzuspielen.  Nur  der  Sitz  des  Ausdruckes  und  der  beweglichen,  aber  vom 
Anstand  höfischer  Sitte  geregelten  Mimik  hat  für  diesen  Meister  volle  Bedeutung  und  Wichtigkeit. 
Im  Vergleich  zu  dieser  ganzen  Figur  des  tronenden  Vorläufers  Christi,  die  wir  als  eigen- 
händiges Werk  des  Simone  Martini  zu  kennzeichnen  versucht,'  erweist  sich  die  Halbfigur  des  heiligen 
Franciscus,  die  der  alte  Katalog  schon  der  Zeit  dieses  Meisters  zuteilt  (Nr.  19),  als  ein  ziemlich  ödes 
und  abgeleitetes  Produkt,  das  wol  eher  unter  den  letzten  geistlos  und  leer  gewordenen  Vergrösserungs- 
versuchen  des  Lippo  Memmi  (wie  z.  B.  sein  Altar  in  der  Cappella  del  Corporale  zu  Orvieto),  wenn 
nicht  bei  Leistungen  eines  Sassetta,  seinen  Platz  erhalten  dürfte.  Schon  die  Einrahmung  mit  dem 
rundbogig  ausgezackten  Linern  des  Spitzbogens  und  die  Horizontalstreifen  im  Giebelaufsatz  (dessen 
Spitze  hier  fehlt)  sprechen  für  spätere  Entstehungszeit;  den  Typus  des  Heiligen  von  Assisi,  dessen 
Seitenwunde  durch  einen  Schlitz  in  der  Kutte  gezeigt  wird,  hat  ausserdem  eine  Abwandlung  erfahren, 
die  sowol  Simone  selbst  wie  seinen  Zeitgenossen  fremd  ist:  er  nähert  sich  dem  Bildnis  des  heiligen 
Bernardin  so  stark  und  gleicht  auch  im  Ausdruck  der  Züge,  dem  sinnenden  traurigen  Blick  so 
auffallend  den  vielfach  verbreiteten  Darstellungen  des  letzteren,  dass  wir  auch  als  Autor  dieser 
Tafel  fast  einen  Zeitgenossen  des  Predigers  vermuten  könnten.  Das  Ganze  der  Malerei  selbst  mit 
seinem  Graubraun  auf  Goldgrund,  seinen  regelmässigen  Umrissen  und  seinen  leeren  nur  von  abge- 
zirkelten Falten  umgebenen  Flächen,  so  in  Fleischpartieen  wie  im  Gewände,  gehört  trotz  aller  Sorgfalt 
und  Glätte  nur  einem  Handwerker,  keinem  Künstler  von  fühlbarer  Individualität. 

I    Das    Bild    wird    im    Jahrgang    1897    der    „Kunsthistorischen    Gesellschaft    für    photographische    Publikationen" 
veröffentlicht.     H.  I  lo  X  B.  53  cm.     Nur  geringfügig  ausgebessert  und  im  Ganzen   etwas  getrübt. 


Dagegen  gewährt  eine  mit  vollem  Namen  bezeichnete  Madonna  ein  höchst  erfreuliches 
Beispiel  vom  besten  Können  des  nächsten  Arbeitsgenossen  Lippo  Memmi,  mit  dem  Simone  Martini 
lange  genug  auch  in  der  Kunstgeschichte  zusammengeschweisst  war.'  LIPPUS  .  MEMMI  .  DE  . 
SENIS  .  ME  —  PINXIT  steht  am  untern  Randstreifen  des  Täfelchens,  über  den  der  Zipfel  vom 
Mantel  Marias,  vor  dem  letzten  Wert  unterbrechend,  herniederhängt.  Die  Inschrift,  ursprünglich  in 
roten  Buchstaben,  ist  schwarz  und  teilweise  mit  unrichtigen  Formen  aufgefrischt,  aber  in  allem 
Wesentlichen  zuverlässig  und  unbezweifelbar,  so  dass  wir  ein  eigenhändiges,  mit  liebevollster 
Sorgfalt  vollendetes  Werk  darin  begrüssen,  das  ganz  besonders  geeignet  ist,  eine  Vorstellung  von 
dem  Können  des  Meisters  zu  gewinnen,  den  wir  sonst  in  Gemeinschaft  mit  dem  Schwager  nur 
schwer  zu  fassen  vermögen. 

Über  die  fein  verzierte  Randleiste  des  Goldgrundes,  die  sonst  ringsum  läuft,  fällt  unten  in 
ganzer  Breite  ein  prachtvoller  Teppich  aus  Goldbrokat,  der  über  die  hohe  Rücklehne  des  Thronsitzes 
geschlagen,  auf  beiden  Seiten  die  Armlehnen  wie  die  Bank  und  ihr  Kissen  verhüllt,  und  [mit  schweren 
vom  Restaurator  hinzugefügten  Hermelinschwänzen]  am  Rande,  bald  die  reichgemusterte  Vorderseite, 
bald  die  schlichte  Rückseite  zeigend,  links  und  rechts  in  gleichwertigen  Massen  von  der  Spitze 
herabhängt,  und  im  anmutigen  Geschlängel  des  Saumes  bald  nach  aussen,  bald  nach  innen  sich 
auslegt.  So  rahmt  die  gotische  Draperie  in  rein  dekorativem  Sinne  die  Figuren  in  der  Mitte  ein, 
und  zwischen  den  Höhepunkten  des  Gestüls,  das  unserm  Blick  entzogen  wird,  breitet  sich  der  grosse, 
mit  doppeltem  Blattkranz  gesäumte  Heiligenschein  bis  über  die  Randleiste  droben,  wie  eine  Gold- 
scheibe von  byzantinischem  Umfang,  auch  den  kleineren  daneben  überspannend,  und  umkränzt  so 
die  Sphäre  für  die  beiden  nah  aneinander  gerückten  Köpfe  von  Mutter  und  Kind:  Maria  neigt  ihr 
Antlitz  in  Dreiviertelsicht  nach  rechts  gegen  das  rötlich  blonde  Gelock  des  Knaben,  der  auf  ihrem 
Schofse  aufgestanden  ist,  und  gegen  ihre  Schulter  lehnend,  die  Rechte  segnend  erhebt,  während 
die  Linke  ein  Schriftband  mit  den  Worten:  EGO  SVM  LVX  MVNDI  hinausstreckt,  indem  der  Mund 
sich  leise  zum  Sprechen  öffnet.  Die  vollen  Wangen,  das  runde  Kinn  mit  dem  kurzen  Hals  und 
die  hohe  Stirn  sind  doch  durchaus  kindlich  und  frisch;  nur  der  seitwärts  gerichtete  Blick,  der  etwas 
ängstlich  auf  einen  fremden  Verehrer  zu  fallen  scheint,  und  das  Zusammennehmen  auf  der  Mutter 
Geheiss  zu  dem  ernsten  Tun,  beeinträchtigen  etwas  das  reine  Glück  der  beiden  Wesen.  Denn 
beitragen  muss  auch  die  Mutter  zu  dem  feierlichen  Auftreten:  die  linke  Hand  greift  unter  dem 
Ärmchen  vor  und  hält  so  den  Mantel  des  Kleinen  über  der  Tunica  zusammen,  die  rechte  legt  sich 
sorglich  vor,  den  Leib  zu  stützen,  wenn  er  gleiten  will,  während  der  Blick  ihrer  Augen  bescheiden 
zur  Seite  geht,  die  Aufmerksamkeit  des  Betrachters  nicht  für  sich  zu  beanspruchen. 

Auch  in  ihrem  ovalen  Antlitz,  das,  in  Augenhöhe  breit,  gegen  das  Kinn  sehr  schmal  zusammen- 
flieht, ist  im  Verein  mit  dem  Manteltuch  über  dem  zarten  Schleier,  die  das  Haar  verhüllen,  noch  ein 
Nachklang  des  alten  sienesischen  Ideales  zu  spüren,  das  Duccio  in  leiser  Abwandlung  des  byzan- 
tinischen erneuert.  Aber  die  unmittelbare  Herkunft  aus  Simone  Martinis  Maestä  ist  kaum  zu  bezweifeln, 
und  es  ist  das  Vorbild  dieses  Malers,  das  auch  Lippo  Memmi  fähig  macht,  in  einer  Reihe  mit  ihm 

I  Als  Teile  eines  gemeinsamen  Altarwerkes  könnten  die  kleinen  Hnlbfiguren  von  Heiligen  Xr.  12  und  36  angenommen 
werden,  die  der  alte  Katalog  als  „Eremiten"  dem  Pietro  Lorenzetti   zuschreiljt. 


—     I50    — 

und  den  beiden  grössten  Vertretern  der  gotischen  Stilperiode,  den  Brüdern  Lorenzetti,  die  reizende 
Ausbildung  der  sienesischen  Madonnenmotive  zu  vollziehen.  Der  blaue  Mantel  mit  goldgesticktem 
Saum  fliesst  über  die  schmalen  Schultern  herab,  dem  schlanken  Hals  entspricht  ein  langer  Ober- 
körper, dessen  Formen  unter  dem  glatten  rosa  Kleide  kaum  angedeutet  sind;  die  erhobenen  Hände 
mit  ihrem  breiten,  aber  gestreckten  Gelenk,  ihren  gleichmässig  angesetzten,  von  einander  getrennten, 
aber  in  sich  gliederlosen  Fingern,  sind  noch  unvollkommen  gezeichnet  und  zu  unbelebt  für  die  Rolle, 
die  sie  im  Ganzen  spielen.  Da  merkt  man  die  Schwierigkeit  für  den  Miniaturmaler,  mit  Simone  zu 
wetteifern.  Und  dies  innerlich  beseelte  Ganze  schliesst  eigentlich  mit  den  Füssen  des  Kindes  und 
dem  Schofs  der  Mutter  ab,  ist  also  in  Sitzhöhe  zu  Ende.  Hier  steckt  der  Kern  der  Erfindung,  hier 
erschöpft  sich  alle  Beziehung  nach  Innen  wie  nach  Aussen.  Die  untere  Hälfte  der  Frauengestalt, 
das  undeutliche  Sitzen,  die  schräge  Haltung  der  Knie,  der  breitgelagerte  Mantel,  der  nirgends  mehr 
das  rosa  Kleid  oder  gar  die  Form  der  Glieder  durchblicken  lässt,  ist  nur  äusserliche  Erweiterung, 
und,  wesentlich  durch  sie  gefordert,  bewirkt  allein  die  Draperie  des  Teppichs  über  dem  Thron 
wenigstens  den  Schein  lebendigen  Gebarens  daneben.' 

Verfolgen  wir  aber  das  mangelhafte  Gefühl  für  organischen  Zusammenhang  durch  die  Gestalt 
Mariens  hin,  so  überrascht  daneben  destomehr  die  ausserordentlich  lebendige  Erfindung  des  Kindes, 
die  durch  das  Widerspiel  unsicherer  Ängstlichkeit  und  entschiedener  Anspannung  so  reizvoll  wird, 
dass  wir  uns  unwillkürlich  an  die  besten  Gedanken  des  Simone  Martini  selbst  erinnert  fühlen.  Der 
rosarote,  goldig  gesäumte  und  himmelblau  gefütterte  Mantel  ist  durch  die  Bewegung  des  Kindes  im 
Begriff  von  den  Schultern  zu  gleiten,  der  Oberkörper  wird  frei,  und  durch  das  Weiss  des  schlichten 
Kleidchens  schimmert  das  rosige  Inkarnat;  selbst  durch  die  dichteren  Falten  des  Mantels  verrät  sich  die 
Stellung  der  Glieder,  deutlich  hebt  sich  das  Knie  des  Spielbeines,  das  etwas  allzu  seitlich  gesehen  wird, 
und  wirksam  genug  betont  sich  die  verschiedene  Rolle  der  Füsschen  auf  dem  dunkeln  Mantel  Marias. 

Jedenfalls  gehört  das  ganze  kostbar  ausgeführte  Bildchen  zu  den  anmutigsten  und  erfreulichsten 
Leistungen,  die  mit  dem  Namen  des  Lippo  Memmi  auf  uns  gekommen  sind,  und  gerade  die  bescheidene 
Grösse  hat  der  Feinmalerei  des  Miniaturisten,  wie  der  mangelnden  Naturkenntnis  günstigere  Bedingungen 
gewährt,  als  die  grossen  Altarwerke  oder  gar  Wandgemälde,  in  denen  er  sich  oft  genug  nur  als  leeren 
Nachahmer  zu  zeigen  vermochte.  Alles  was  geduldige  Hingebung  und  emsiger  Fleiss  an  Reinheit  der 
Temperafarben  und  zarter  Bearbeitung  des  Goldes  beizutragen  im  Stande  war,  das  Auge  zu  erfreuen 
und  den  Wert  der  Gnadenspende,  den  das  Bild  veranschaulichen  will,  für  den  Sinn  der  Erdenkinder  wie 
in  einem  Kleinod  einzuschliessen,  das  ist  hier  aufgewendet,  und  die  wunderbare  Erhaltung  aller  wesent- 
lichen Bestandteile,  die  dieser  Sorgfalt  zu  danken  ist,  sichert  dem  vollbezeichneten  Werke  des  siene- 
sischen Meisters  das  Recht,  zu  den  Perlen  der  Sammlung  gezählt  zu  werden,  in  die  sie  gewiss  das 
eigenste  Entzücken  des  Stifters  nach  Deutschland  geführt  hat,  so  fern  ab  von  ihrer  lieblichen  Heimat.^ 

1  Dieser  blaue  Mantel  ist  allerdings  an  mehreren  Stellen  übermalt  und  hat  dadurch  wol  etwas  von  der  dekorativ 
wenigstens  schwungvolleren  Behandlung  des  gotischen  Miniators  eingebüsst.  Restauriert  ist  ferner  die  Musterung  des  Teppichs, 
die  ursprünglich  helleres  Rot  hatte.     Zutat  der  schwarze  Rand  des  Ganzen. 

2  Eine  Aufnahme  auch  dieses  Bildchens  ist  für  die  Kunsthistorische  Gesellschaft  für  photographische  Publikationen 
gemacht  worden.     H.  49  X  B.   34. 


—     151     — 

Do:h  „der  Ausdruck  von  Innigkeit  und  Frömmigkeit,  der  Gemi.itsreichtum",  den  der  Begründer 
der  Altenburger  Sammlung  in  diesem  Werke  bewunderte,  hat  der  ernsten  Madonna  Lippo  Memmis 
noch  eine  Verwandte  gesellt,  die  milder  noch  und  menschlicher  zugleich  die  Mutter  mit  dem  Kinde 
zeigt,  das  als  teuerster  Schatz  nur  ihr  allein  gehören  mag.  (Sieneser  Schule  um  1340  sagt  das  alte 
Verzeichnis.)  Die  kleine  vergoldete  Tafel  mit  reich  gemustertem  Rand  enthält  nur  die  Halbfigur  der 
stehenden  Maria  mit  dem  Knaben  noch  als  Wickelkind  in  den  Armen;  aber  sie  drückt  es  mit 
beiden  Händen  zärtlich  an  das  Herz  und  der  Kleine,  dessen  Arme  und  Brust  bis  unter  die  Achseln 
nackt  sind,  liebkost  mit  seiner  rechten  Hand  das  Kinn  der  Mutter;  die  Wangen  Beider  sind  einander 
ganz  nahe,  die  Augen  kennen  kein  anderes  Ziel  als  das  Liebste,  ausser  dem  die  übrige  Welt  kaum 
vorhanden  scheint.  Und  doch  wirkt  die  fremde  Weite  da  draussen  als  Ahnung  einer  feindlichen 
ringsum  drohenden  Macht,  die  das  Mutterherz  beklemmt,  mit  hinein  in  die  reinen  Züge  und  erklärt 
uns,  so  unmittelbar  verständlich,  auch  die  Hast  dieser  Umarmung  und  das  Festhalten  des  unschuldigen, 
noch  hilflosen  Kindleins.  Das  geneigte  Antlitz  dieser  Madonna  in  Dreiviertelsicht'  hat  eine  über- 
raschende Ähnlichkeit  mit  der  neuerdings  viel  verbreiteten  Abbildung  in  Holzschnitt  nach  dem 
Kopf  einer  allegorischen  Frau  aus  den  Fresken  des  Stadthauses  von  Siena,  dass  sich  der  Name 
„Lorenzetti"  auf  die  Lippen  des  kunsthistorischen  Betrachters  drängt.  Aber  dieser  moderne  Holz- 
schnitt (auch  in  Seemanns  kunsthist.  Bilderbogen)  stimmt  nicht  sehr  getreu  mit  seinem  Urbild,  dem 
Wandgemälde  des  Ambrogio  Lorenzetti  überein;  die  Vertupfung  an  einigen  Stellen  der  Gesichter  im 
Altenburger  Bildchen  muss  andrerseits  ebenso,  als  irreführende  Milderung  einer  ursprünglich  strengeren 
Wiedergabe  der  Formen,  ausser  Rechnung  bleiben.  Aber  die  ganze  Behandlung  der  wol  erhaltenen 
Teile  sonst  zeugt  von  der  Hand  eines  Meisters,  der  auf  grösseren  Flächen  mit  kühnem  Pinsel  zu 
malen  gewohnt  ist,  nicht  Mühe  hat,  wie  der  Miniator,  die  Enge  seiner  Anschauung  und  die  Kleinheit 
seiner  Bewegungen  zu  erweitern,  sondern  eher  umgekehrt,  die  Breite  seines  Vortrags  einzuschränken, 
das  summarische  Verfahren  der  Freskotechnik  mit  der  Feinheit  und  Nähe  des  Tafelbildchens  zu 
vertauschen.  In  grossen  Flächen  und  einfachen  Falten  fällt  der  blaue  Mantel  über  das  Schleiertuch, 
das  Haar  und  Ohr  Marias  verhüllt,  über  Schultern  und  Arme  herab,  schlicht  und  glatt  auch  das 
rote  Gewand  darunter.  Die  goldgemusterten  Besatzstreifen  sind  ohnehin  mehr  angedeutet  als  durch- 
geführt, nur  das  zarte  Linnen  um  den  Leib  des  Kindes  und  das  Windelband  aus  seidenweichem 
Gewebe  mit  goldiger  Umschnürung  in  fühlbarem  Kontrast  gegeben.  Fast  ähnliche  Wertunterschiede 
wirken  mit,  wenn  er  die  eine  Hand  der  Mutter,  die  den  Mantel  raffend,  zur  Faust  zusammengeschlossen, 
nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt,  viel  kleiner  zeichnet,  als  die  andere,  die  —  in  voller  Breite  aller- 
dings —  sich  schützend  über  den  Leib  des  Kindes  legt  und  so  zum  mitsprechenden  Träger  des 
Ausdrucks  wird.  Nehmen  wir  dazu  die  grossen  Heiligenscheine,  mit  dem  eingelegten  Kreuz  in  dem 
des  Christusknaben,  und  das  Verhältnis  der  beiden  Figuren  zu  dem  Goldgrund,  der  als  Teppich 
hinter  ihnen  ausgespannt  erscheint,  so  dass  auch  an  der  ruhigen  Seite  links  der  Mantel  Maria's  von 
der  Schulter   mit   dem  Stern  herab  sich  deutlich  als  Körper  vor  dem  Grunde  hervorhebt,   so  haben 


I  Leider  ist  mitten  durch  die  Tafel  ein  Sprung,  der  die  Lippe  der  Maria  und  die  vier  Finger  der  Hand  auf  deni 
I>eib  des  Kindes  verletzt  hat,  neu  hinzugekommen,  während  an  den  Augen  beider  wie  in  den  benachbarten  Teilen  dei 
Gesichter  Retouchen  altern  Datums  erkennbar  sind. 


—      152      - 

wir  lauter  Merkmale  beisammen,  die  zu  dem  Namen  des  Brüderpaares  hindrängen,  die  als  bedeutendste 
Vertreter  der  monumentalen  Freskomalerei  von  Siena  dastehen:  Pietro  und  Ambrogio  Lorenzetti. 

Dieser  stilkritischen  Erkenntnis  von  einer  Seite  kam  dann  eine  descriptive  Feststellung  für  die 
Katalogarbeit  von  anderer  Seite  zu  Hülfe.  Die  Rückseite  des  Bildchens  ist  ursprünglich  sorgsam 
behandelt,  ringsum  mit  gemustertem  Rande  umzogen  und  die  Fläche  marmoriert,  so  dass  sie  als 
Aussenseite  betrachtet  werden  konnte,  d.  h.  es  war  bestimmt,  entweder  nur  die  eine  Hälfte  eines 
Diptychons  zu  bilden,  oder  doch  einen  Deckel  zum  Schutz  des  eigentlichen  Gemäldes  zu  erhalten. 
Nun  aber  besitzt  die  selbe  Sammlung  ein  anderes  Täfelchen  (Nr.  48)  von  der  gleichen  Grösse 
(H.  29  X  B.  20  cm),  und  die  nämliche  Bemalung  und  Einfassung  der  Rückseite  beweist  vollends  die 
Zugehörigkeit  der  beiden  Stücke,  deren  Rahmen  sogar  —  unter  erneuerter  Vergoldung  —  so  genau 
i.ibereinstimmen,  dass  auch  die  Vorderseiten  das  Innere  eines  und  desselben  Diptychons  gebildet 
haben  müssen.  Diese  andere  Hälfte,  die  als  Deckel  zum  Madonnenbilde  gehört,  trägt  unten  die 
volle  Bezeichnung 

PETRVS  LAVRETII  DE  SENF  ME  PIXIT 
an  der  nur  das  letzte  Wort  erneuert  worden  und  so  über  die  Grenze  hinausgeht.  Hier  ist  nämlich 
in  dem  Goldgrunde  ein  Fensterrahmen  aus  buntem  Marmor  gemalt,  auf  dessen  unterer  Leiste  vorn 
die  Inschrift  in  goldenen  Buchstaben  und  zwar  in  den  Formen  der  Übergangsperiode  steht,  deren 
sich  Pietro  auch  sonst  bedient.'  In  dem  oben  dreieckig  zugespitzten  Fenster,  dessen  Rahmen 
perspektivisch  gezeichnet  ist,  wird  auf  dem  dunklen  Grunde  die  Halbfigur  des  toten  Christus  sichtbar, 
wie  aus  dem  Grabe  hervorschauend,  so  dass  ein  Teil  nur  des  breiten  Heiligenscheins  um  das  Haupt, 
das  sich  leise  auf  die  rechte  Seite  vornüber  neigt,  den  schräg  ansteigenden  Rahmen  bedeckt.  Die 
Arme  sind  über  dem  Leibe  gekreuzt,  so  dass  die  beiden  Hände  mit  den  Wundmalen  darin  sich 
gegen  die  Hüften  breiten  und  mit  den  Fingerspitzen  den  dünnen  Schurz  berühren,  dessen  obere 
Falten  nur  noch  sichtbar  werden.  Die  Malerei  des  nackten  Körpers  ist  „bis  auf  wenige  Retouchen 
wolerhalten",  aber  schon  ursprünglich  als  Deckelbild  flüchtiger  gehalten  als  die  farbenprächtige 
Madonna,  hat  aber  eben  dadurch  die  grösste  Verwandtschaft  mit  den  Wandgemälden  des  Pietro 
Lorenzetti,  den  Vasari  gewiss  in  missverständlicher  Lesung  einer  gleichen  Inschrift  Laurati  statt 
Laurentii  bezeichnet,  während  wir  korrekter  Piero  di  Lorenzo  sagen  sollten.  Der  Christustypus  mit 
den  gescheitelten,  leicht  gelockt  auf  die  Schultern  herabfallenden,  hellblonden  Haaren,  mit  dem 
spärHchen  Bart  um  Lippen  und  Kinn,  dem  halb  geöffneten  kleinen  Munde  und  den  gebrochenen, 
nicht  zugedrückten  Augen  ist  genau  der  selbe,  wie  in  den  Fresken  der  Unterkirche  von  Assisi,  in  der 
grossen  Kreuzigung  und  den  Passionsgeschichten  daneben.  Dies  Bildchen  in  Altenburg  wird  also 
zu  einer  durchaus  zwingenden  Urkunde,  die  durch  volle  Namensbezeichnung  den  nämlichen  Meister 
auch  als  Autor  jener  vielumstrittenen  Wand-  und  Deckenbilder  bestätigt.  Die  eigentümlich  summa- 
rische Behandlung,  des  Haares  in  langen  gewellten  Strähnen,  des  Antlitzes  mit  niedriger  breiter 
Stirn,  geradlinigen  Brauen,  breit  geschlitzten  Augen,  langer  gerader  Nase  und  grossen  Wangenflächen 
mit   vorstehendem  Backenknochen,    der  gleichmässigen  Fülle  der  Oberarme  mit  merkwürdig  starker 


I  Besonders    die    halbrunde    Form    des  6,    die    Zusammenzieliung   des   H    und  V,    die    oben    runde  Form    des  /T\ 
bemerkenswert. 


—     153    — 

Verjüngung  vom  Einbogen  bis  ans  breite  Handgelenk,  der  weiten  Zwischenräume  zwischen  den 
dünnen  spitzen  Fingern,  der  leeren  oberflächlichen  Ausführung  des  Brustkastens  und  des  Rumpfes, 
die  sich  auf  Andeutung  des  Notwendigsten  beschränkt,  das  alles  sind  Eigentümlichkeiten,  die  hier 
wie  auf  einem  Altarwerk  in  der  Galerie  zu  Siena  ebenso,  wie  auf  jenen  hochbedeutenden  Passions- 
bildern in  S.  Francesco  wiederkehren.  Das  Doppelbild  in  Altenburg  wird  also  sehr  wesentlich  zur 
genaueren  Erkenntnis  des  Pietro  Lorenzetti  und  zur  Unterscheidung  von  seinem  Bruder  Ambrogio 
beitragen. ' 

Auf  einen  andern  Weg  des  künstlerischen  Schafifens,  auf  dem  sich  beide  betätigt  haben  sollen, 
wo  also  die  Frage  nach  der  besondern  Weise  des  Einen  wie  des  Andern  sich  gleichermafsen 
einstellt,  auf  das  Gebiet  allegorischer  Darstellungen,  führt  uns  ein  anderes  Werk  der  Altenburger 
Galerie,  das  mit  der  doppelten  Bezeichnung  „Schule  von  Siena  um  1400,  angeblich  Gherardo  Starnina" 
(alter  Katalog  Nr.    10)  den  Kunsthistoriker  zunächst  vor  eine  noch  schlimmere  Alternati\'e  stellt. 

Das  Hochbild  hat  zwei  Darstellungen  über  einander.  Das  Spitzbogenfeld  oben  enthält  Christus 
am  Kreuz  mit  Maria  und  Johannes  darunter.  Unter  der  wagerechten  Grundlinie  dieses  Bildes  ist 
das  Hauptstück  im  Halbkreisbogen  geschlossen  und  die  Zwickel,  die  daneben  übrig  bleiben,  mit 
Rankenwerk  in  Relief  verziert,  dessen  Früchte  aus  eingelassenen  buntfarbigen  Edelsteinen  oder  Glas- 
pasten gebildet  waren,  deren  Fassungen  jetzt  leer  sind.  (Das  Ganze  mifst  H.  98  x;  B.  52  cm 
Pappelholz). 

In  der  Mitte  des  Hauptbildes  sitzt  auf  reich  verziertem  gotischem  Throne,  —  mit  hoher  Rück- 
wand und  in  perspektivischer  Zeichnung  schräg  dagegen  laufenden  Seitenlehnen  die  von  zweigeteilten 
Spitzbogenfenstern  durchbrochen  sind,  —  die  Gestalt  der  Maria  ganz  von  vorn  gesehen,  doppelt  so 
gross  als  alle  andern  Figuren,  seien  sie  dem  Hochsitz  zunächst  oder  ganz  vorn  dem  Beschauer  zunächst 
aufgestellt,  d.  h.  ohne  Rücksicht  auf  den  Abstand,  im  Widerspruch  mit  der  Perspektive.  Nur  die 
Bedeutung  für  die  Gedanken  bestimmt  hier  den  Mafsstab  dieser  Figur,  und  demgemäss  ist  sie,  genau 
in  der '  Mittelaxe  des  Ganzen,  in  senkrechter,  unbeweglicher  Haltung,  in  ruhiger,  geschlossener 
Gewandung,  wie  ein  Götterbild  in  statuarischer  Feierlichkeit  hingesetzt.  Es  ist  nicht  die  liebevolle 
Mutter,  die  wir  kennen  gelernt,  sondern  die  erhabene  Himmelskönigin,  mit  der  Krone  auf  dem  Haupt. 
Ihr  Antlitz  ist  nicht  das  jungfräulich  zarte,  noch  das  matronenhaft  gealterte,  sondern  das  der 
unberührten  Gottesgebärerin,  in  der  Mitte  der  Zeit,  aber  in  die  Ewigkeit  aufgenommen,  und  so  in 
Leidenschaftslosigkeit  erstarrt  wie  ein  Marmorbild.  Der  ovale  Umriss  wie  die  innern  Gesichtsteile  sind 
von  strengem  Ebenmafs.  Die  breite,  massig  hohe  Stirn,  die  gross  geschwungenen  Brauen,  die  tief- 
liegenden, weit  auseinander  gerückten  Augen  mit  mandelförmigem  Schnitt  und  geradeaus  gerichteten 
Pupillen,  die  lange  kräftige  Nase  mit  anliegenden  Flügeln,  der  geschlossene  Mund  mit  schmalen 
Lippen,  das  feste  breitgerundete  Kinn  verleihen  dem  Ganzen  mehr  Hoheit  und  Stärke  als  Anmut 
und  Huld.  „In  diesen  Zügen  wohnt  kein  Herz"  —  und  die  rotblonden  Haarwellen,  die  vom  Scheitel 
herabfliessend  auch  die  Ohren  bedecken,  das  Manteltuch,  das  am  Hinterhaupt  emporgezogen  ist  und 


I  Das  Diptychon  wird  deshalb  im  Jahrgang  1897  der  „Kunsthistorischen  Gesellschaft  für  photographische  Publika- 
tionen" veröffentlicht. 


—     154    — 

das  Antlitz  wie  den  starken  Hals  umrahmt,  auf  der  Brust  von  einem  prachtvollen  Kleinod  zusammen- 
gehalten, die  dunkle  Masse  des  blauen  Mantels  selbst,  der  von  den  Schultern  in  einfachen  Falten- 
zügen bis  auf  den  Boden  den  ganzen  Körper  umschliesst,  all  das  trägt  nur  dazu  bei,  die  ernste 
Majestät  dieses  Weibes  zu  erhöhen,  das  als  keusches  Gefäss  des  göttlichen  Willens  gedient  hat  und 
als  Trägerin  des  Heiles  selber  geheiligt  ward. 

Nur  da,  wo  die  Hände  unter  dem  wenig  gelüfteten  Mantel  hervorkommen,  sieht  man  das 
kostbar  gewebte  rotgoldene  Gewand,  das  ihren  Leib  umfängt,  und  diese  Hände  sind  schlank  und 
schmal,  ausserordentlich  vornehm.  Die  langen  schöngestellten  Finger  halten  den  Gottessohn,  der 
von  der  Brust  abwärts  in  eine  reichgeblümte  Tunika  aus  grünem  Goldgewebe  verborgen  ist.  Trotz 
dieser  schimmernden  Hülle,  die  ihn  wie  der  Panzer  eines  Goldkäfers  einschliesst,  bewahrt  das  Knäblein 
die  ganze  Lebhaftigkeit  eines  gesunden  Kindes,  ja  die  grausame  Lust  an  verwandtem  Leben.  Sein 
Körper  ist  wolgenährt,  die  Brust  sogar  fleischig,  die  Arme  rund  mit  zahlreichen  Einschnürungen  der 
Haut  über  dem  weichen  Polster;  der  runde  voUwangige  Kopf  sitzt  auf  kurzem  Halse  und  wird  von 
reichen  blonden  Löckchen  umrahmt.  Unter  der  hohen  Stirn  funkeln  ein  Paar  grosse  dunkle  Augen. 
Denn  in  der  Rechten  hält  es  mit  hartem  Griff  ein  flatterndes  Vöglein  am  Schwänze  fest,  um  mit 
der  Linken  nach  dem  Palmzweige  zu  langen,  der  ihm  von  frommer  Himmelsbraut  geboten  wird. 
Sein  Köpfchen  wendet  es  ganz  herum,  und  treibt  so,  im  Gegensatz  zur  ernsten  Mutter,  auf  eigene 
Hand  sein  fröhliches  Spiel. 

Durchaus  sienesisch  ist  dies  Zusammenstossen  der  starren,  gedankenhaften  Allegorie  mit  der 
naiven  Kindlichkeit  und  den  intimen  Beziehungen  menschlicher  Wesen.  Und  keine  Frage,  diese  Ver- 
einigung der  Kinderscene,  die  sienesische  Madonnen  sonst  so  glücklich  macht,  mit  der  thronenden 
Majestät,  die  wir  aus  Stadtpalästen  kennen,  ist  nur  denkbar  auf  dem  Boden  der  sienesischen  Kunst. 
Die  Leistungen  eines  Simone  Martini  wenigstens,  wenn  nicht  schon  die  eines  Duccio  sind  ihre 
Voraussetzung.  Und  sehen  wir  diese  Verbindung  gerade  da  sich  einstellen,  wo  abstrakter  Ideen- 
gehalt in  die  Region  zeitloser  Bedeutsamkeit  über  die  natürlich  menschlichen  Dinge  hinausstrebt,  da 
darf  auch  der  dritte  Name  nicht  fehlen,  Lorenzetti.  Ohne  die  allegorischen  Darstellungen,  die 
sie  —  vielleicht  angeregt  durch  Giottos  Verherrlichung  der  Tugenden  des  heiligen  Franciscus  oder 
durch  die  lehrhafte  Bilderschrift,  die  vom  Dominikanerorden  verlangt  und  gepflegt  ward,  —  im  geist- 
lichen wie  im  weltlichen  Sinne  versucht  haben,  ohne  ihr  Streben,  die  Gedankenspiele  der  Zeit  in 
Gemälden  anschaulich  zu  machen  und  so  die  Bedeutung,  den  Rang  ihrer  Kunst  durch  die  Heirat 
mit  dem  scholastischen  Geist  der  höchsten  Gesellschaft  zu  erhöhen,  ohne  diese  Verquickung,  die 
gerade  Pietro  und  Ambrogio  Lorenzetti  vollzogen  haben,  ist  schon  die  triumphierende  Gottesgebärerin 
dieses  Bildes  nicht  erklärbar. 

Wie  vielmehr  nun  die  übrigen  Bestandteile,  die  noch  hinzukommen!  An  das  Podium  des 
Thronsitzes,  dessen  Stufe  mit  goldenem  Teppich  belegt  ist,  stossen  links  und  rechts  vorspringende 
Flügel  der  Estrade,  —  hier  im  Hochbilde  nach  vorn  gerichtet,  während  sie  sich  auf  jenen  Wand- 
gemälden der  „Maestä"  nach  beiden  Seiten  hin  ausdehnen.  Es  ist  derselbe  Mosaikfussboden  aus 
buntem  Marmor,  dessen  wolbekanntes  Rautenmuster  zwischen  den  einander  durchkreuzenden  Streifen 
in   perspektivischer  Verkürzung   gezeichnet   ist.     Auf   dieser   geheiligten  Schwelle    stehen  Bewohner 


—     155    — 

des  Himmels  als  Zeugen  aufgereiht,  hier  wie  dort,  nur  in  Rücksicht  auf  das  Hochformat  des  Bildes 
hier  paarweis  gesellt.  Ganz  vorn  einander  gegenüber  die  Apostelfürsten  Petrus  und  Paulus,  dann 
die  Lokalpatrone  Johannes  der  Täufer  und  Nicolaus  von  Bari,  in  bischöflichem  Ornat  mit  den  drei 
goldenen  Bällen  auf  der  Hand.  Es  folgen  weiter  nach  innen,  links  neben  dem  Täufer  ein  bardoser 
Mönch  in  schwarzer  Kutte  mit  einem  Krückstock  in  der  Rechten  und  einem  Rosenkranz  in  der 
Linken,  also  ein  jüngerer  Ordensheiliger  in  der  Art  des  S.  Giovanni  Gualberto  oder  Agostino  Novelle, 
und  gegenüber  S.  Agatha,  die  ihre  abgeschnittenen  Brüste  darbringt;  endlich,  dem  Thron  zunächst, 
die  königliche  Jungfrau  Katharina  von  Alexandrien  auf  der  rechten  und  eine  ebenso  jugendliche 
Martyrin  in  weltlicher  Tracht,  ohne  anderes  Attribut  als  den  Palmzweig,  auf  der  linken  Seite  vom 
Beschauer.  Jenseits  dieser  beiden  Heiligenpaare  hüben  und  drüben,  die  gewiss  dazu  dienen  können 
den  ursprünglichen  Bestimmungsort  des  Bildes  ausfindig  zu  machen,  werden  oben  fliegend  noch  je 
drei  Engel  sichtbar,  die  zu  pyramidalem  Gipfel  der  beiden  Reihen  geordnet  in  verschiedenen  Stellungen, 
durch  die  Fenster  der  Thronwangen  hindurch  schauend,  die  Königin  des  Himmels  verehren. 

Nun  aber  kommt  zu  diesen  herkömmlichen  Bestandteilen  der  Maestä  noch  ein  Neues  hinzu: 
zwischen  der  Thronstufe  und  den  Seitenflügeln  der  Estrade  bleibt  in  der  Mitte  ein  trapezförmiger 
Ausschnitt  frei,  wo  statt  des  glänzenden  Mosaikfussbodens  der  grüne  Boden  der  Mutter  Erde  offen 
daliegt.  Hier  streckt  sich  in  schräger  Lage,  auf  einen  Einbogen  gestützt  den  Oberkörper  empor- 
richtend ein  Weib  von  mächtigen  Formen.  Ein  schwärzliches  zottiges  Fell  umschliesst  die  Beine,  so 
dass  unten  nur  die  nackten  Füsse  mit  ihren  langen  fingerartigen  Zehen  hervorschauen,  bis  an  die  Taille, 
wo  die  rote  glatte  Innenseite  herausschlägt.  Von  hier  ab  hebt  sich  die  volle  Büste  mit  den  Armen, 
nur  von  einem  durchsichtigen  feinfaltigen  Hemd  mit  Ärmeln,  das  alle  Formen  erkennen  lässt,  bedeckt, 
—  wie  aus  einem  Purpurkelch  — ,  und  verstärkt  die  Wirkung  des  schönen  jugendlichen  Kopfes  mit 
reichem  aufgelöstem  Lockenhaar,  dessen  gross  gezeichnete  regelmässige  Züge  nur  von  schmerzlichem 
Ausdruck  durchzogen  werden.  UnwillkürHch  denken  wir  zuerst  an  die  Büsserin  Magdalena;  aber  der 
polygone  Nimbus  um  das  blonde  Haupt  belehrt  uns,  dass  keine  vollgültige  Heilige  gemeint  sei,  und 
ein  Schriftband  in  der  Rechten  enthält  nicht  die  Worte  „Dilexit  multum  .  . ."  sondern  in  gotischer 
Minuskel  ^ßupen^  becepit  nie  tt  caniEtii . . .  und  diese  Antwort  auf  die  Gewissensfrage  Jehovas  (Genesis 
III,  13)  geben  die  Trägerin  als  die  Stammmutter  des  Menschengeschlechts  zu  erkennen,  durch  die 
Sünde  und  Tod  in  die  Welt  gekommen,  und  bezieht  sich,  wie  die  abweisende  oder  klagende  Gebärde 
der  Linken,  auf  die  Schlange,  die  sich  auf  der  andern  Seite  daher  ringelt  und  den  ebenso  blond- 
lockigen Frauenkopf  zu  ihr  herüberstreckt.  Die  verführerische  Rede  dieses  dämonischen  Wesens  steht, 
soweit  sich  aus  den  abgeriebenen  Goldbuchstaben  in  gotischer  Minuskel  erkennen  lässt,  am  Innern 
Rande  des  Podiums  geschrieben,  das  die  Arena  einschliesst.    Wenigstens  sind  die  Worte:  ^  . . .  gucm 

...  tß  ...  Et  jfructUJ»  illiU^  ülllti^ zwischen  Ornamentstreifen  erkennbar  geblieben,  die  sich  vielleicht 

aus  dem  Kommentar  Thomas'  v.  Aquino  ergänzen  lassen.  Damit  ist  Eva,  die  von  der  verbotenen 
Frucht  des  Baumes  der  Erkenntnis  gegessen  hat,  und  ihren  schönen  Leib,  das  herrlichste  Gebilde 
des  Schöpfers,  verhüllt,  in  Angst  und  Zittern  vor  dem  zürnenden  Vater,  der  Stimme  des  Gewissens 
die  schuldbewusste  Antwort  stammelnd  dargestellt,  und  so  am  Boden  sich  windend  in  deutlichem 
Gegensatz  zur  keuschen  Jungfrau  Maria  gezeigt,  die  droben  in  ewiger  Reinheit  als  Siegerin  über  die 


-     156    - 

Sünde  thront.  Die  unberührte  Gottesnnagd  wird  der  Schlange  den  Kopf  zertreten,  hatten  die  Propheten 
des  alten  Bundes  geweissagt;  hier  stehen  die  Zeugen  des  Evangeliums  und  bestätigen  die  Erfüllung. 
Wir  haben  also  eine  von  jenen  allegorisch-symbolischen  Kompositionen  vor  uns,  wo  Maria, 
das  stralende  Weib  der  Apokalypse,  über  das  Böse  triumphiert,  wie  die  reine  Lehre  und  ihr  gefeierter 
Verfechter  Thomas  von  Aquino  über  die  Irrlehren  der  Ketzer,  die  zu  seinen  Füssen  sich  krümmen, 
in  jenem  Bilde  des  Francesco  Traini  zu  Pisa.^  Eine  solche  allegorische  Dichtung  über  das  Erlösungs- 
werk, in  der  Christus,  der  gekreuzigte,  als  Sieger  über  den  Tod  die  Hauptrolle  spielt,  besitzen  wir 
in  einem  kleinen,  leider  fast  zur  Unkenntlichkeit  verwischten  Breitbilde  der  Galerie  von  Siena,  das 
dort  dem  Pietro  Lorenzetti  beigemessen  wird.  Dort  aber  vollzieht  sich,  wie  auf  den  berühmten 
Fresken  des  Camposanto  und  wie  die  Schilderung  des  Eremitenlebens  auf  einer  Tafel  der  Uffizien, 
die  man  ebenso  mit  dem  Namen  Lorenzetti  in  Verbindung  bringen  möchte,  die  Handlung  oder  der 
Gedankenfortschritt  in  verschiedenen  Momenten  durch  die  Bildfläche  hin.  Hier  in  Altenburg  ist 
dagegen  der  Tod  des  Erlösers  und  der  Schmerz  der  Mutter  mit  dem  Lieblingsjünger,  der  den  Sohn 
ersetzen  und  für  die  Jungfrau  zeugen  soll,  in  das  Bogenfeld  gewiesen,  das  ursprünglich  schon  flüchtiger 
gemalt,  doch  am  besten  erhalten  ist.^  Der  genaueste  Zusammenhang  der  zwei  Figuren  mit  den 
drei  Spitzen  des  Throngiebels  unten  stellt  die  dekorative  Absicht  ausser  Zweifel.  —  So  aber  wird  es 
möglich ,  die  Hauptscene  zu  einem  feierlichen  Triumph,  zeitlos  in  seiner  bleibenden  Bedeutung,  sub 
specie  aeterni  zu  erheben.  Dadurch  unterscheidet  es  sich  von  jener  religiösen  Allegorie  auf  Christus 
Triumphator  in  der  Galerie  von  Siena  und  bekommt  mehr  Verwandtschaft  mit  der  Darstellung  des 
guten  und  des  bösen  Regiments  im  Stadtpalast,  d.  h.  den  weltlichen  AUegorieen  des  Ambrogio 
Lorenzetti,  in  denen  sich  der  fortschreitende  Gang  aneinander  gereihter  Einzelmomente  noch  mit 
der  feierlichen  Ruhe  der  thronenden  Gottheiten,  dem  Urbilde  der  Maestä,  den  Rang  streitig  macht, 
ohne  durch  einen  engen  Anschluss  an  die  Raumgesetze  der  Architektur  zu  einem  befriedigenden 
Ergebnis  echt  monumentaler  Malerei  zu  gelangen. 

Schon  in  diesem  Sinne  gehört  das  Altenburger  Hochbild  mit  seiner  Verteilung  des  Stoffes 
auf  eine  Haupttafel  und  ein  sekundäres  Bogenfeld,  wo  gerade  die  Kreuzigung  so  häufig  schon  über 
der  Madonna  mit  Heiligen  ihre  Stelle  fand,  mitten  hinein  in  die  Entwicklungsreihe.  Es  ist  also  eine 
Urkunde  für  die  allmähliche  Auseinandersetzung  zwischen  Altarwerk  und  Wandmalerei  auf  der  einen 
Seite,  zwischen  Historien-  und  Repräsentationsbild  oder  successiver  und  simultaner  Auffassungsweise 
auf  der  andern.  So  kann  auch  seine  Entstehungszeit  nur  da  gesucht  werden,  wo  diese  Unterschiede 
noch  unsicher  und  fliessend  waren,  wo  denkende  Maler,  wie  die  Urheber  der  genannten  Beispiele, 
je  nach  der  Gelegenheit,  die  sich  darbot,  zu  Versuchen  veranlasst  wurden,  deren  glückliches  Gelingen 
erst  der  klaren  Einsicht  in  das  Wesen  auch  der  Nachbarkünste,  Architektur  und  Plastik,  verdankt 
werden  kann,   d.  h.  über  das  Verständnis  der  Trecentisten  hinausliegt.     Die  besondere  Lösung,   die 

1  Vgl.  Herrn.  Hettner,   Italienische  Studien  S.   107  ff. 

2  Auf  summarisch  dargestelltem  Felsboden  steht  das  einfache  Kreuz,  daran  eine  fast  karrikierte  schmale  lang- 
beinige Gestalt  des  Gekreuzigten,  links  die  Madonna  in  Vorderansicht  in  blauen  Mantel  eingehüllt,  mit  finstern,  alten 
Zügen,  rechts  Johannes  in  Profil  mit  braunrotem  Mantel,  beide  ohne  viel  Ausdruck.  Auch  darin  die  sekundäre  Wirkung 
absichtlich  der  Ökonomie  des  Ganzen  untergeordnet. 


—     157    - 

hier  auf  Grund  der  gewohnten  Ökonomie  eines  Tafelbildes,  gleichsam  mit  Einbeziehung  eines  Predellen- 
stückes in  die  Hauptkomposition,  versucht  wird,  und  der  Zusammenhang  mit  jener  religiösen  Allegorie 
zu  Siena,  wo  der  Sündenfall  den  ersten  Moment  der  Reihe  bildet,  wie  hier  die  Unterlage  der  Maestä, 
weisen  beide  zwingend  auf  ein  ganz  bestimmtes  Stadium  in  der  Entwicklung  der  sienesischen  Malerei, 
mag  auch  das  Tafelbild  in  Altenburg  für  einen  auswärtigen  Bestimmungsort  geschaffen  sein,  wie 
etwa  Pisa,  wohin  die  alte  Benennung  als  Gherardo  Starnina,  wie  die  Bevorzugung  des  Nicolaus  v.  Bari 
zugleich  hinzudeuten  vermöchten.  Der  Urheber  gehört  der  sienesischen  Schule  an,  und  hängt,  darüber 
kann  wol  kein  Zweifel  walten,  mit  Ambrogio  Lorenzetti  aufs  Engste  zusammen. 

In  erster  Linie  muss  hier  der  Typus  der  Himmelskönigin  entscheiden,  die  durchaus  Hn  die 
Versammlung  von  Idealköpfen  hineinpasst,  die  Ambrogio  in  der  Verherrlichung  des  guten  Regiments 
im  Stadthaus  seiner  Vaterstadt  gegeben  hat,  und  zwar  entspricht  die  kalte  Regelmässigkeit  ihrer 
Züge,  der  starre  Ernst  ihres  Ausdrucks  mehr  den  Vertreterinnen  eines  unbeugsamen  Principes,  wie 
etwa  des  Rechtes,  als  den  anmutigen  oder  gar  liebreizenden  Wesen,  die  er  als  Verheissungen  des 
Friedens  oder  der  Barmherzigkeit  so  lockend  zu  beleben  weiss.  Hier  in  der  Mitte  wird  auch  die 
Vorderansicht  wie  felsenfeste  Unbeweglichkeit  des  Götterbildes  beibehalten.  Wie  absichtlich  das 
geschieht,  darüber  belehrt  das  perspektivische  Streben  in  unmittelbarer  Umgebung  wie  der  Drang 
nach  Bewegung  schon  im  Kinde.  Eben  hier  aber  darf  nicht  verkannt  werden,  dass  die  räumliche 
Auseinandersetzung  der  tektonischen  wie  der  plastischen  Körper  auf  dem  gewollten  Schauplatz,  die 
Wiedergabe  eines  palco  scenico  nach  damaligem  Festapparat  im  Kirchenchor  oder  auf  der  Piazza 
del  Campo  selbst,  doch  neben  überraschender  Erfahrung  auf  der  einen  Seite,  nämlich  der  Architektur, 
auch  unläugbare  Fehlgriffe  nach  der  andern,  nämlich  der  Plastik,  vor  Augen  stellt. 

Das  Verhältnis  der  Figuren  zu  ihrem  Standort  und  zu  einander  ist  freilich  durch  die  Ver- 
grösserung  der  Hauptfigur  zu  Gunsten  ihres  idealen  Wertes  gestört  worden,  indem  diese,  wie  gesagt, 
an  der  zurückliegenden  Stelle  des  Schauplatzes,  wo  eine  Verkleinerung  geboten  wäre,  vielmehr 
doppelt  so  gross  als  die  Heiligen  vor  dem  Thron  gebildet  ist.  Dabei  ward  auch  die  Untensicht, 
wie  sie  auf  erhöhtem  Podium  sich  einstellen  musste,  im  Kopf  der  Maria  ausser  Acht  gelassen.  Aber 
auch  die  paarweis  geordneten  Heiligen  sind  in  der  zweiten  Reihe  etwas  grösser  als  die  der  vordersten; 
die  Engel,  die  in  dritter  Reihe  schweben,  dagegen  auffallend  kleiner,  auch  wenn  nur  halbwüchsige 
Mägdlein  gemeint  sein  mögen.  Perspektivische  Unsicherheit  auf  dem  plastischen  Gebiet  der  Gestalten- 
bildung und  Zeichnung  verkürzter  Form  macht  sich  überall  und  besonders  auch  darin  bemerkbar, 
dass  bei  der  häufigen  Anwendung  der  Dreiviertelsicht  die  abgekehrte  Seite  des  Kopfes  zu  stark 
zusammenschwindet.  Selbst  bei  Paulus,  dessen  Gesicht  fast  ganz  nach  vorn  gedreht  ist,  verführt 
den  Maler  diese  Gewohnheit,  die  eine  Gesichtshälfte  scharf  abzuschrägen.  Seine  Figuren  sind  eher 
gedrungen  als  schlank,  bei  kaum  mehr  als  sieben  Kopflängen  wolproportioniert  in  den  Gliedmafsen,  nur 
die  Schultern  überall  schmal,  selbst  bei  Maria,  unter  dem  grossen  Kopf  besonders  auffällig.  In  ihrer 
Bewegung  macht  sich  ein  Rest  von  Befangenheit  in  der  Scheu  vor  weiterem  Ausgreifen  bemerkbar, 
während  die  Wendung  und  Drehung  sonst  schon  sehr  mannichfaltig,  in  der  Lebhaftigkeit  des  Kindes 
sogar  zu  kühnem  Kontrast  der  Körperlage  nach  links  und  der  Abkehr  des  Kopfes,  der  Arme  und 
des  Brustkastens  nach  rechts  hin,  sehr  vorgeschritten  erscheinen. 


Diesem  Grade  seines  Verständnisses  für  die  Gestaltung  entspricht  auch  die  Art  der  Gewandung. 
Sie  legt  sich  überall  weich  und  ziemlich  eng  an  die  Leiber  an  und  lässt,  mit  wenigen  Ausnahmen, 
wo  die  Tracht  es  mit  sich  bringt,  nirgends  gehäufte  und  durchlaufende  Faltenzüge  hervortreten  oder 
gar  selbständig  als  ornamentale  Draperie  das  Gestell  überwuchern.  Er  ist  also  fern  von  dem  spät- 
gotischen Gehänge  und  Geschlängel,  das  in  Siena  gerade  am  Übergang  ins  XV.  Jahrhundert,  in  den 
Tagen  eines  Taddeo  Bartoli  und  Don  Lorenzo  Monaco  so  häufig  Überhand  nahm.  Im  Gegenteil 
bezeugen  die  Ausnahmen,  wie  die  Mäntel  des  Petrus,  Johannes  und  Paulus  mit  dem  Motiv  der  schräg 
ansteigenden,  glatt  gelegten  und  in  einem  Punkte  zusammenlaufenden  Falten,  dass  er  seine  Studien 
nach  antiken  Togafiguren  gemacht  hat,  während  er  die  steifen  Flächen  und  Bruchfalten  des  Gold- 
brokats im  Pluviale  des  Bischofs  Nicolaus  und  dem  Fürstenmantel  Katharinas  von  der  schmiegsamen 
Weichheit  und  dem  sanften  Fluss  der  sonstigen  Stoffe  weiblicher  Kleider  unterscheidet.  Die  schweren 
Goldgewebe  mit  ihren  reichen  Mustern  und  sonstigem  Zierrat  giebt  er  noch  in  der  ganzen  emsigen 
Genauigkeit  sienesischer  Goldschmiedsarbeit  aus  bester  Zeit,  ebenso  wie  den  eingelegten  Fussboden 
und  den  Teppich,  der  vom  Throngiebel  über  den  Sitz  und  die  Stufen  herabhängt.  Und  wie  in  den 
Farben,  hier  noch  zurückhaltend,  steigert  er  in  den  Gewändern  der  Heiligen  die  Pracht:  Petrus 
erscheint  in  hellblauer  Tunica  mit  gelbem  Mantel,  der  bei  Paulus  violett,  bei  Johannes  über  dem 
Fell  tiefrot  gehalten  ist.  Neben  der  schwarzen  Kutte  des  Mönches  stralt  die  Nachbarin  in  zinnober- 
rotem Überwurf  über  blauem  Kleide,  während  gegenüber  S.  Agatha  nonnenhaft  die  blaugraue  Hülle 
über  den  Kopf  gezogen  hat,  und  Katharinas  Purpurgewand  unter  dem  hellrosa  Goldbrokat  des 
Mantels  hervorleuchtet.  Ihr  begegnet  das  Grüngold  des  Jesusknaben  und  über  dem  rotgoldigen 
Kleid  Marias  breitet  sich  beruhigend,  zwischen  dem  schimmernden  Glanz  der  Engel  und  des  Thrones, 
der  weite  dunkelblaue  Mantel  der  Königin. 

Es  ist  unläugbar,  hier  sind  die  wolabgewogenen  Kontraste  wie  Vermittelungen  eines  Malers, 
der  auf  dem  Grunde  der  mittelalterlichen  Polychromie  und  ausgesprochener  Farbenfreude  die  Vorzüge 
eines  Koloristen  zu  entwickeln  im  Begriff"  war,  soweit  die  Aufgaben  und  die  Sinnesart  seiner  Zeit 
die  eignen  Ansprüche  eines  solchen  Geschmackes  aufkommen  Hessen.'  Damit  vereinigt  sich  die 
Mannichfaltigkeit  und  die  Abwechslung  der  Typen,  die  ihm  zu  Gebote  steht,  zur  Bereicherung 
verschiedenartigen  Lebens,  das  der  einförmigen  Zeugenschaft  bei  solchem  Stillstand  des  eigentlichen 
Geschehens  zu  Hülfe  kommt. 

Petrus  zeigt  auf  kurzem,  kräftigem  Halse  mit  stark  betonter  Muskulatur  des  Nackens  einen 
etwas  verdrückten  Kopf  mit  scharf  beschnittenem  grauem  Haupthaar  und  kurzlockigem  Vollbart. 
Sein  Antlitz  hat  eherne,  fleischlose  Züge,  zugekniffene  Augen  mit  unheimlich  blitzendem  Weiss  und 
eine  vorgebaute  Mundpartie,  die  den  Ausdruck  des  Ingrimms  verstärkt.  Ihm  zugekehrt  weist 
Johannes  auf  den  Sohn  Mariens  hin,  während  in  der  Linken  ein  langes  Schriftband  mit  dem  voll- 
ständigen Spruch:  „Ecce  agnus  dei  qui  tollit  peccata  mundi"  in  schwarzer  gotischer  Minuskel,  flattert. 
Sein  Gesicht  ist  schmaler  und  jugendlicher,  von  starkem  braunem,  aber  nicht  in  die  Höhe  strebendem 

I  Die  Farben  haben  durch  Alter  und  besonders  durch  einen  brüchig  gewordenen  Firnis  gelitten,  die  Fleischfarben 
jetüt  bei  allen  Gestalten  einen  Stich  ins  Grünliche  oder  Bräunliche,  mit  fein  vertriebenen  Lichtern,  Aber  der  ursprüngliche 
Schmelz  und  die  Vollsaftigkeit  der  Tinten  behauptet  sich  auch  in  diesem  Zustand. 


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Haar  und  dunklem  in  langen,  vereinzelten,  aber  nicht  scharf  gedrehten  Locken  herabhängendem  Bart 
umwallt.  In  lauter  kleine  Fältchen  zieht  sich  das  bartlose  Antlitz  des  Mönches  zusammen,  während 
die  Märtyrin  neben  ihm  in  heiterer  Jugendfrische  blüht.  Vielleicht  die  Schönste  im  ganzen  Bilde  ist 
die  bräutliche  Katharina:  ihr  anmutiges  Haupt  wiegt  sich  auf  schwankem  vorgestrecktem  Halse, 
üppiges  rotblondes  Haar  fliesst  von  dem  Scheitel  unter  dem  zierlichen  Diadem,  das  ihre  Stirne 
schmückt,  auf  die  Schultern  nieder.  Ihr  edles  Profil  ist  das  einzige  weibliche,  das  eine  freie  hohe 
Stirn,  eine  nicht  zu  lange  Nase  und  eine  wolproportionierte  untere  Gesichtshälfte  aufweist.  Nur  als 
Folie  dient  ihm  das  schmale  Antlitz  Agathens  mit  traurigem  Ausdruck.  Als  weissbärtiger  Greis 
erscheint  neben  ihr  Nicolaus  in  weisser  goldgezierter  Mitra  mit  bronzefarbenen  aber  regelmässigen 
Zügen;  nur  der  Blick  der  schmalen  Augen  hat  etwas  Stechendes,  das  wol  die  Aufmerksamkeit  auf 
Petrus  den  Apostelfürsten  gegenüber  bezeichnen  soll.  Denn  sein  Nachbar  Paulus  wendet  sich  dem 
Betrachter  zu  nach  aussen.  Mit  dem  blanken  Schwert  in  der  Rechten,  das  auf  den  linken  Arm 
herüber  neigt,  hält  er  vier  Briefe  zwischen  den  Fingern,  die  in  perspektivischer  Zeichnung  so  getrennt 
hintereinander  stehen,  dass  auf  jedem  der  Anfang  seiner  Adresse  sichtbar  wird.  Das  ältliche  Antlitz 
des  kahlwerdenden  Kopfes  ist  von  mächtigem  braunem  Vollbart  eingerahmt,  tiefe  Falten  über  der 
Stirn  und  lange  Furchen  von  der  Nase  über  die  Wangen  erinnern  an  das  byzantinische  Urbild  dieses 
Typus.  Und  nehmen  wir  dazu  die  Engel  hinten,  mit  ihrem  reichen  rotblonden,  in  vollen  Wellen  an 
den  Schläfen  zurückgestrichenen  Lockenhaar,  mit  den  hochsitzenden  mandelförmigen  Augen,  mit  dem 
langgezogenen  Oval  auf  schlanker  Säule  des  Halses,  und  dem  ernsten  Ausdruck  in  diesen  Zügen, 
so  rühren  wir  abermals  an  das  köstliche  Besitztum  einer  uralten  Kunsttradition,  das  seit  Duccios 
Tagen  noch  bei  den  nächsten  Nachbarn  fühlbar  genug  den  Grundstock  all  ihrer  Vorstellungen  bildet, 
sobald  sie  zu  den  idealen  Regionen,  des  Himmlischen  und  zur  ewigen  Majestät  der  Gottheit  emporstreben. 

Auf  der  andern  Seite  wird  das  Bestreben  nach  Tiefenentfaltung  im  Schauplatz  der  bedeutungs- 
vollen Scene  nicht  unterschätzt  werden  dürfen.  Schon  die  vorderen  Paare  der  Heiligen  links  und 
rechts  vermitteln  zwischen  Flanken-  und  Frontstellung,  d.  h.  zwischen  dem  Beschauer  und  dem 
Hochsitz  der  Himmelskönigin.  Die  perspektivische  Zeichnung  des  marmornen  Parquets,  auf  dem  sie 
stehen,  lässt  keinen  Zweifel  über  die  Richtung,  wenn  sie  auch  mit  der  Höhenaxe  zusammen  geht. 
Der  dreigieblige  Thron  steht  auf  breitem  Sockel,  Stufen  führen  zu  ihm  hinan,  der  schräge  Verlauf 
der  Seitenlehnen  gegen  die  Rückwand  betont  mit  ihren  Spitzbogenfenstern  in  voller  konstruktiver 
Entschiedenheit  die  Tiefe  des  Gestühls.  Ganz  besonders  aber  wird  schon  der  erste  Anblick  durch 
den  trapezförmigen  Ausschnitt  aus  dem  Podium  bestimmt.  Das  Zusammenfliehen  des  Stufenrandes 
über  dem  natürlichen  Erdboden,  der  als  Arena  für  den  Auftritt  zwischen  Eva  und  der  Schlange 
dient,  wie  für  den  Zweikampf  bei  einem  Gottesurteil,  —  diese  Eröffnung  einer  Vorbühne  zu  Füssen 
des  eigentlichen  Festapparates  ist  ein  sehr  charakteristisches  Mittel  in  der  Raumökonomie,  das  die 
Frage,  wo  sonst  dergleichen  im  Trecento  zu  finden  sei,  dringlicher  und  persönlicher  als  die  doppelte 
Rechnung  zwischen  Wollen  und  Können  sonst,  erneuert. 

Unter  den  erhaltenen  Denkmälern  können  hier  ausschliesslich  die  Gemälde  des  Ambrogio 
Lorenzetti  in  Betracht  kommen.  Ganz  besonders  verwandt  ist  die  Anordnung  einer  Madonna  mit 
Engeln  und  Heiligen  in  der  Galerie  zu  Siena,  ein  anerkanntes  kleines  Hochbild,  wo  Maria  auf  teppich- 


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belegten  Stufen  thront,  die  Verehrer  links  und  rechts  aufgereiht  zu  ihr  emporschauen,  und  der 
trapezförmige  leere  Raum  in  der  Mitte  nur  vorn  mit  einer  Blumenvase  geschmückt  ist.  Hier  sind 
auch  sonst  alle  charakteristischen  Merkmale  beisammen,  die  an  der  Altenburger  Tafel  herv^orgehoben 
werden  mussten:  die  mannichfaltigen,  zwischen  fleischlosem  Asketentum  und  üppiger  Jugendfrische 
auf-  und  absteigenden  Typen,  mit  der  entsprechenden  hier  zarten  und  rosigen  Karnation,  dort 
runzligen  olivenbraunen  Haut  über  den  Knochen,  der  wunderbar  emailartige  Auftrag  der  Farbe 
ohne  jede  Spur  der  Pinselzüge,  und  ihre  noch  in  mangelhafter  Erhaltung  überall  erkennbare 
Reinheit  und  Leuchtkraft,  die  geschmackvolle  Zusammenstellung  wirksamer  Kontraste  der  Poly- 
chromie  wie  der  Übergang  zu  harmonischer,  ja  entschieden  koloristischer  Verwertung  der  Natur- 
farben. Selbst  die  Gewandbehandlung  stimmt  überein,  soweit  der  Aufbau  aus  Figuren  allein  ohne 
die  tektonischen  Bestandteile  dazwischen  nicht  andere  Rechnung  vorschrieb.  Und  dann  zwei 
auffallende  Eigentümlichkeiten:  die  perspektivische  Durchführung  der  Muster  auf  Fussboden  und 
Teppich  mit  ihrer  überraschenden  Virtuosität,  und  die  seltsame  Verquetschung  der  Köpfe  mit 
ihrer  besonders  unterhalb  der  Schädelbasis  schnell  zusammenschwindenden  Gesichtshälfte,  die  dem 
Beschauer  abgekehrt  verkürzt  erscheinen  soll,  aber  verkümmert  oder  verzerrt,  oft  gar  mit  schief 
gezogenem  Munde,  nicht  selten  die  schönsten  Gesichter  entstellt.  —  Da  haben  wir  die  fehlerhaften 
Angewohnheiten  mit  den  überlegenen  Vorzügen  eines  Meisters  beisammen,  die  sich  in  dieser  Ver- 
quickung kaum  anderswo  wiederfinden.  Berücksichtigt  man  daneben  die  besondern  Bedingungen 
der  Allegorie,  wo  der  Ausdruck  abstrakter  Gedanken  und  symbolischer  Beziehungen  die  freie 
schöpferische  Tätigkeit  des  Künstlers  unterband  und  die  malerischen  Vorzüge  seines  sonst  geläufigen 
Verfahrens  gefährdete,  so  werden  auch  Abweichungen  und  Flüchtigkeiten  im  einzelnen  nicht  ver- 
wundern. Dem  dogmatischen  Begriff,  ja  dem  beigeschriebenen  Wort  musste  notwendig  ein  Teil 
der  künstlerischen  Durchführung  zum  Opfer  fallen.  Geht  nun  aber  gerade  in  diesen  Wahrzeichen 
mühvollen  Ringens  zwischen  geistigem  Inhalt  und  sichtbarer  Form  die  allegorische  Darstellung  in 
Altenburg,  wie  wir  dargetan,  als  zugehöriges  Glied  in  eine  Reihe  von  anderen  Versuchen  desselben 
Meisters  ein,  und  geht  sie  andrerseits  deutlich  über  die  Bestrebungen  des  altern  Bruders  Pietro  hinaus, 
so  kann  diese  wichtige  Urkunde  für  den  geistigen  und  künstlerischen  Fortschritt  der  sienesischen 
Schule,  die  wir  in  Altenburg  vor  uns  haben,  vorerst  nur  mit  dem  Namen  des  jüngeren.  Ambro gio 
Lorenzetti  verbunden  werden.  Bei  der  eigenartigen  Erfindung  und  den  verwickelten  Schwierigkeiten 
der  Aufgabe,  die  hier  zu  lösen  versucht  ist,  verbietet  es  sich  von  selbst,  mit  leichtfertiger  Abschiebung 
an  einen  unbekannten  Schüler  zu  denken.  Es  ist  die  selbstgewollte  durchdachte  Leistung  eines 
Meisters,  der  noch  im  vollen  Zuge  der  echten  Kunst  steht,  also  im  dritten  Viertel  des  Jahrhunderts  seine 
reifsten  Früchte  zeitigen  mochte.  Weder  von  der  ornamentalen  Stilisierung  der  Spätgotik  mit  der 
ein  Jacopo  della  Quercia  zu  ringen  hatte,  ohne  sich  daraus  erlösen  zu  können,  noch  von  der  Auf- 
lösung der  sienesischen  Kunsttradition,  die  sich  im  letzten  Drittel  des  Trecento  fühlbar  macht,  ist  in 
der  Altenburger  Tafel  irgend  etwas  zu  spüren,  sondern  nur  das  hochstrebende  Wollen  eines  überlegenen 
Kopfes,  dem  das  erlernte  und  erreichbare  Können  seiner  Zeit  zu  eng  wird  für  seine  Gedanken.' 


I  Das  Gemälde  wird  von  der  Kunsthistorisclien  Gesellschaft   für  photographische  Publikationen  im  Jahrijang  1897 
■ö  ff  entlicht. 


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Was  es  heisst,  dieses  Bild  erst  gegen  1400  (und  damit  in  die  Tage  des  Florentiners  Gherardo 
Starnina)  zu  datieren,  wie  es  im  alten  Verzeichnis  geschieht,  —  das  lehrt  eine  Vergleichung  mit 
andern  Beispielen  der  sienesischen  Schule  bis  zu  den  ausgesprochenen  Meistern  des  Übergangs,  an 
denen  die  Sammlung  Lindenau  besonders  reich  ist,  zur  Genüge.  Am  lehrreichsten  ist  auf  der  einen 
Seite  vielleicht  die  Gegenüberstellung  eines  kleinen  Breitbildes  mit  dem  Tode  Marias,  das  als  eine 
Abwandlung  Duccios  in  einen  milderen  Geschmack  erscheint,  wie  er  in  den  Werken  eines  Bartolo 
di  Maestro  Fredi  oder  den  bekannten  Wiederholungen  Duccioscher  Vorbilder  im  Museo  dell'  Opera 
zu  Siena  sich  äussert.  Die  Grundzüge  der  Komposition,  die  würdigen  Gestalten  der  Apostel  links 
und  rechts,  wie  der  Engel,  die  Christus  begleiten,  besonders  der  Erzengel  Michael,  mit  Schwert  und 
Kugel,  zu  Häupten  und  Gabriel,  noch  die  Leiche  segnend,  zu  Füssen,  neben  dem  Gottessohn,  der 
die  Seele  in  Gestalt  eines  Kindleins  auf  seinen  Arm  nimmt,  gehören  der  geheiligten  Tradition  und 
bewahren  ihren  machtvollen  Adel;  aber  die  Idealfigur  in  der  Mitte,  wie  das  Vorherrschen  weicher, 
zarter  Farben,  besonders  Hellrosa,  die  Durchführung  der  Stralenglorie  bekunden  dazwischen  das 
Erlahmen  der  künstlerischen  Kraft,  die  Neigung  zu  einer  sanfteren  aber  auch  minder  charaktervollen 
Schönheit.^  Auf  der  andern  Seite  würden  die  Werke  eines  Taddeo  di  Bartolo,  eines  Giovanni  di 
Paolo  und  Sano  di  Pietro  wenigstens  der  Entstehungszeit  nach  schon  ins  folgende  Jahrhundert  führen, 
in  dessen  erstem  Jahrzehnt  noch  Spinello  Aretino  mit  seinem  Sohne  Parri  den  Stadtpalast  von  Siena 
mit  historischen  Wandgemälden  schmückt.  In  welchem  Umkreis  wir  uns  dann,  am  Ausgang  des  spät- 
gotischen Stiles  bewegen,  mag  an  dieser  Stelle  die  Abbildung  eines  Predellenstückes  vor  Augen 
stellen,  das  die  Flucht  nach  Ägypten  darstellt  und  dem  Florentinisch  gewordenen  Sienesen  Don 
Lorenzo  Monaco  gehört.^ 


1  Vgl.  die  Abbildung  oben  S.  145;   es  wird  im   alten  Verzeichnis,  Nr.  34  als  „sienesisch  um  1340  wahrs 
Ambrogio  Lorenzetti"  aufgeführt. 

2  Im  alten  Katalog  Nr.  31.     Schule  von  Siena,  aus  der  Mitte  des   14.  Jahrhunderts. 


FLORENTINER  TRECENTISTEN 


Längst  vor  Lorenzo  Monaco,  den  erst  neuerdings  ein  Aktenstück  als  gebürtig  aus  Siena 
erwiesen  hat,  weiss  die  alte  Tradition  in  Florenz  von  Künstlern  zu  erzählen,  die  aus  derselben  Heimat 
zu  kürzerem  oder  längerem  Aufenthalt  an  den  Arno  herniedergestiegen,  hier  ihren  Wirkungskreis 
gefunden.  Durch  Vasaris  sonst  so  lokalpatriotische  Geschichte  zieht  sich,  oft  genug  in  naivem 
Widerspruch  zu  seiner  eifrig  florentinischen  Tendenz,  eine  Reihe  sienesischer  Namen,  die  eine  dank- 
barere Generation  zu  Florenz  in  lebendiger  Erinnerung  aufbewahrt  hatte,  wenn  auch  oft  in  irriger 
Verknüpfung  mit  erhaltenen  Werken.  Aus  den  wolüberlegten  Kapiteln,  wo  das  Recht  der  Priorität 
zur  Sprache  kommt,  absichtsvoll  genug  hinausdrängt,  spielen  diese  Namen  an  anderer  Stelle  zuweilen 
eine  seltsame  Rolle  und  stellen  zum  Entgelt  gelegentlich  alles  auf  den  Kopf.  Aber  auch  so  noch  giebt 
dieser  Rest  einer  unparteiischen  Überlieferung  dem  kritischen  Historiker  zu  denken,  und  zwar  nicht 
allein  bei  jenen  Anfängen,  sondern  auch  während  des  ganzen  Trecento,  wo  die  sorgfältige  Scheidung 
der  Schulen  schon  wie  etwas  Selbstverständliches  hingenommen  und  immer  wiederholt  wird. 

Gerade  damals  übertönt  in  Vasaris  Darstellung  der  gute  Klang  des  Namens  Simone  von  Siena, 
gleichviel  ob  Memmi  oder  Martini  dabei  steht,  die  Einheimischen  von  Florenz  und  räumt  diesem 
Fremden  neben  Taddeo  Gaddi  selbst  da  eine  Stelle  ein,  wo  er  gar  nicht  hingehört,  wie  in  Cappella 
Spagnuoli  bei  S.  M.  Novella.  Sein  Landsmann  „Laurati"  wird  gar  durch  ganz  Toscana,  wie  Vasari 
versichert,   mit  Aufträgen  förmlich  verzogen.     Noch  immer  spukt  Ugolino  da  Siena  im  Tabernakel 


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des  Andrea  Orcagna,  und  weder  Bernardo  Daddi  noch  Lorenzo  Monaco  will  es  gelingen,  ihn  zu 
verdrängen. 

Zuverlässiger  als  Gerede  der  Leute,  und  sei  es  noch  so  alt,  oder  als  Geschichtschreiber  der 
Renaissancezeit,  und  seien  sie  noch  so  klassisch,  geben  noch  immer  die  künstlerischen  Urkunden 
selber  Auskunft,  die  auf  uns  gekommen,  gar  manche  Frage  zu  beantworten,  die  keiner  von  Jenen 
gestellt.  Eine  Reihe  von  Gemälden  der  kleinen  Sammlung  in  Altenburg  führt  uns,  dem  Ort  ihres 
Ursprungs  und  der  Eifersucht  ihrer  Mitbürger  entrückt,  mitten  hinein  in  den  Widerstreit  zwischen 
florentinischer  Geschichtschreibung  und  italienischer  Kunstgeschichte. 

Es  sind  zunächst  drei  Krönungen  Marias,  die  hier  in  Betracht  kommen,  —  zwei  davon  in 
trefflichster  Erhaltung,  eine  dritte  leider  arg  verputzt  und  an  entscheidender  Stelle  töricht  verschmiert, 
aber  trotzdem  kaum  weniger  wichtig  als  die  beiden  andern.  Der  Gegenstand  der  Darstellung  schon 
verknüpft  sie  mit  Giottos  berühmtem  Altarwerk  für  die  Cappella  Baroncelli  in  S'?  Croce.  Dies  war 
der  Kanon  für  alle  florentinischen  Maler,  die  dasselbe  Thema  in  Angriff  nahmen;  sei  es  auf  bestimmtes 
Verlangen,  sei  es  auf  eigenen  Antrieb,  der  Ausgangspunkt  liegt  dort.  So  wird  der  Verfolg  der 
Abwandlungen,  die  diese  Komposition  Giottos  bis  zum  Anfang  des  Quattrocento  erlebt,  willkommene 
Gelegenheit,  die  Oscillationen  des  Geschmacks  und  die  Einflüsse  auf  den  innern  Kern  des  künstlerischen 
Schaffens  zu  beobachten,  die  gar  manche  bisher  geglaubte  Erzählung  berichtigen  wird.  Hier  nur 
in  grossen  Zügen  ein  paar  Bemerkungen,  die  bereits  verwertbar  scheinen. 

Alle  drei  Krönungen  der  Altenburger  Galerie  bestehen  aus  einem  einzelnen  Hochbilde,  während 
Giottos  Altarvverk,  ein  dreiteiliges  Breitbild  von  niedrigeren  Verhältnissen,  unter  dem  mittleren  Bogen 
nur  die  beiden  Hauptfiguren  Christus  und  Maria  auf  dem  Thron  und  vier  knieende  Engel  davor 
enthält,  die  Chöre  der  Seligen  aber  als  dichtgedrängte  Reihen  in  die  Seitenflügel  hinaus  verlegt. 
Hier  dagegen  sind  alle  Zeugen  in  unmittelbarer  Nähe  des  göttlichen  Paares  selber  versammelt. 

In  dem  ersten  dieser  Beispiele'  bleibt  jedoch  der  Anschluss  an  Giotto  durchaus  fühlbar,  so 
mannichfaltig  auch  die  Abweichungen  sich  einstellen.  In  halber  Höhe  der  gedrehten  Säulen,  die  den 
weiten  ein  gleichseitiges  Dreieck  einschliessenden,  mit  Rundbogenfries  und  Zahnschnitt  ausgelegten 
Spitzbogen  tragen,  liegt  die  Stufe  des  Thrones,  dessen  fester  Aufbau  mit  hoher  Rückwand  und  je 
zweien,  im  Kleeblattbogen  sich  öffnenden  Giebelfenstern  über  den  schräg  gestellten  Seitenlehnen,  die 
beiden  oberen  Drittel  der  ganzen  Bildfläche  füllt.  Auf  der  abgeschnittenen  Spitze  des  Rückgiebels 
steht  auf  breitem  Fuss  eine  Monstranz  in  Tabernakelform,  während  die  ansteigenden  Simse,  statt 
mit  knollenartigem  Blattwerk,  hier  mit  hohen  Rankenwindungen  besetzt  sind,  die  dem  Kopfstück 
gotischer  Krummstäbe  gleichen.  Schlanke  Fialen  krönen  die  Stäbe  zwischen  den  Fenstern,  Wimperge 
mit  Kreuzblumen  diese  Öffnungen  des  Gestüls,  das  so  wie  ein  fünfteiliger  Flügelaltar  auseinander 
zu  klappen  scheint.  Die  weisse  Marmorwand  hinten  ist  mit  reichgemustertem  Goldbrokat  bedeckt, 
dessen  Spitze  an  sieben  Nägeln  aufgehängt  in  s}'mmetrischen  Bogenlinien  sich  glatt  ausspannt.  Vor 
ihm  sitzen  die  beiden  Thronenden  in  gleicher  Höhe  einander  zugewendet  und  Christus  setzt,  wie  bei 
Giotto  mit  beiden  erhobenen  Armen  der  jungfräulichen  Mutter  die  Krone  aufs  Haupt.     Er  selbst  ist 


'  Altes  Verzeichnis  Nr.   137.     H.  69  X  B.  38  cm  im  Rähmclien.     Die  Erh.iltung 


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barhaupt  und  jugendlich,  wie  auf  dem  Vorbild  in  S'?  Croce,  aber  in  scharfem  Profil  gesehen  und 
mit  grossem  Kreuznimbus  als  der  Erlöser  bezeichnet,  während  Maria  nicht  so  matronenhaft  verschleiert, 
sondern  mit  zartem  durchsichtigem  Gebände,  wol  den  Blick  aber  nicht  die  Stirn  so  demütig  senkt 
wie  bei  Giotto.  Ihre  Hände  liegen  gekreuzt  über  dem  Leib  hier  wie  dort,  und  bis  auf  den  Schnitt 
der  Ärmel,  die  beim  Christus  Giottos  den  glockenförmigen  Überfall  bis  an  den  Einbogen  haben, 
deren  eckig  abstehender  Rand  hier  vermieden  ist,  bewahren  auch  die  geraden  Linien  der  Mäntel  von 
den  Schultern  nieder  und  die  breiten  Massen,  die  den  untern  Teil  der  Körper  bedecken,  viel  Ähn- 
lichkeit. Aber  sie  sind  hier  wuchtiger  als  dunkle  Flächen  mit  schwerem  Goldmuster  und  Besatz- 
streifen ausgelegt,  um  im  Gegensatz  zu  der  feineren  Gliederung  der  Architektur  majestätisch  zu 
wirken.  In  der  oberen  Region  aber,  wo  sich  die  Gewandmasse  öffnet,  die  Arme  sich  vorstrecken, 
die  Gesichter  gegen  einander  blicken,  da  kommt  durch  Engelköpfe,  die  links  und  rechts  durch  die 
Fensterpaare  schauen,  noch  ein  Zuwachs  an  Leben  und  verständlicher  Teilnahme  hinzu.  Zu  den 
Seiten  darunter  reihen  sich  dann  die  auserwählten  Zeugen  auf,  je  sieben  links  und  rechts.  In  der 
Höhe  der  Sitzbank  zunächst  die  Büsten  Johannes  des  Täufers  neben  Maria  und  des  Apostels  Petrus 
neben  Christus,  als  Vorläufer  und  Nachfolger  des  Gottessohns;  dann  paarweis  nur  bis  an  die  Schulter 
sichtbar  die  andern  zwölf,  unter  denen  links  vielleicht  Paulus  neben  einem  andern  Apostel  (Thomas?) 
oder  Evangelisten  (Lucas?)  mit  Buch  und  rechts  Franciscus  mit  dem  Wundmal  an  der  Hand,  neben 
einem  Bischof  in  Mitra,  die  Diakonen  Stephanus  und  Laurentius  in  der  Mitte,  Katharina  mit  könig- 
lichem Diadem  vorn  neben  S.  Bernhard  und  gegenüber  eine  Nonne  neben  einem  bärtigen  Eremiten 
besonders  kenntlich  werden.  Vor  der  Stufe  des  Marmorthrones,  die  mit  zierlichem  Vierblatt  in  den 
quadratischen  Kassettenfeldern  der  Vorderseite  geschmückt  ist,  wird  der  Goldgrund  der  Bildfläche  als 
Boden  für  die  stehenden  Paare  frei.  Hier  kommt  von  rechts  ein  Engelreigen  in  langen  weissen 
Gewändern,  mit  dem  Dudelsackpfeifer  an  der  Spitze,  dem  Posaunenbläser  am  Ende,  hereingeschwebt 
und  beginnt  soeben  den  Tanz  zu  Ehren  der  Himmelskönigin.  Gegenüber  zur  Linken  steht  vor  dem 
zweiten  Flötenbläser  ein  anders  gekleideter  Engel  in  rotem  Chormantel  mit  bunten  Flügeln  und 
blauem  goldgeziertem  Käppchen  auf  dem  Scheitel,  beflissen,  zwei  jungen  Ankömmlingen  den  Zutritt 
zu  diesem  Allerheiligsten  zu  gewähren,  dessen  Anblick  ihnen  unter  seinem  Schutz  zuteil  wird.  Darin 
haben  wir  ohne  Zweifel  eine  Zutat  auf  besondere  Veranlassung  des  Bestellers  zu  erkennen,  der  seine 
Kinder  oder  früh  gestorbenen  Geschwister  wol  empfangen  von  einem,  dem  geistlichen  Stande 
angehörigen  Bruder  bei  dieser  höchsten  Feier  der  Seligen  gegenwärtig  sehen  wollte.  Durch  diese 
kleine  Episode  ist  eine  Stelle  für  den  intimsten  Anteil  des  Beschauers  gewonnen,  und  durch  die  leise 
Störung  der  Symmetrie  im  Halbkreis  des  Engelreigens,  der  den  Vordergrund  schliessen  will,  der 
Eintritt  für  das  lebendige  Gefühl  eröffnet,  das  den  ganzen  Vorgang  so  viel  menschlich  näher  bringt, 
als  die  hehre  Ceremonie  mit  Weihrauchopfer  bei  Giotto,  —  der  die  Mitte  vorn  frei  lässt  vor  den  Stufen 
des  Thrones,  dessen  Schwelle  die  Stirn  des  gläubigen  Verehrers  eben  noch  berühren  mag,  wenn 
ehrfurchtsvolle  Andacht  vor  dem  Bilde  seine  Seele  dahin  entrückt. 

Hier,  im  Bilde  des  späteren  Meisters  atmet  Alles  freier  auf  und  eriebt  den  Vorgang  an  sich 
selber.  Das  kommt  schon  durch  die  Bewegung  der  Engel,  die  den  Boden  berühren  und  mit  wirk- 
lichen Leibern    gleich    uns    ausgestattet   sind.     Ihre  Formen  werden   unter  den  fliessenden,    über  die 


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Hüften  gegürteten  Gewändern  überall  sichtbar,  wenn  auch  der  Rumpf  die  etwas  weiche  unbestimmte 
Fülle  behält,  die  allen  Figuren  der  Zeit  bis  hinauf  zu  Christus  und  Maria  eigen  ist.  Bekundet  sich 
gerade  darin  schon  ein  Unterschied  von  Giottos  Gestaltung,  die  sich  flächenhafter  noch  häufig  mit 
linearen  Grenzen  begnügt,  so  wird  hier  durch  die  Modellierung  der  Gliedmafsen,  vor  allen  Dingen 
aber  durch  die  vollere  Rundung  der  Gesichter  ein  ausgeprägter  plastischer  Sinn  zur  Geltung  gebracht, 
der  den  Wunsch  perspektivischer  Vertiefung  des  Throngestüls  auch  in  der  Anordnung  der  Körper, 
besonders  im  Vordergrund  verfolgt  und  nur  in  den  seitlichen  Stollen  der  Zeugenschar  noch  nicht 
zu  seinem  Rechte  kommt. 

Ziehen  wir  aber  diese  Eigenschaften  in  ihrer  vollen  Wichtigkeit  in  Betracht,  und  befragen 
zugleich  die  Besonderheit  dieser  Gestaltenbildung  und  dieser  Gesichtstypen,  so  muss  das  Ganze,  das 
durchaus  den  Eindruck  einer  selbständigen  Schöpfung  macht,  wol  den  Namen  eines  bestimmten 
Meisters  ergeben.  Die  Klarheit  der  Horizontallagen,  wie  die  Sonderung  der  unteren  von  gedrehten 
Säulchen  eingeschlossenen  Bildfläche  und  des  oberen  Bogenfeldes  mit  seinen  zahlreichen  Durch- 
brechungen, Gipfelungen  und  Zierstücken,  die  sichere  Ökonomie  dieses  Aufbaues,  von  einer  Körperlich- 
keit, die  im  Verhältnis  zum  Rahmen  wuchtig  und  gedrungen  erscheint,  sie  verrät  in  Allem  einen  plastisch 
und  architektonisch  denkenden  Kopf,  der  sich  von  ausschliesslichen  Malern  der  Nachfolge  Giottos 
greifbar  genug  unterscheidet.  Eben  die  Vorliebe  für  Breitenwirkung,  die  Betonung  der  Horizontalen 
innerhalb  der  Gotik,  das  vorgeschrittene  Stadium  in  der  italienischen  Entwicklung  dieses  Stiles,  die 
hier  unläugbar  vor  Augen  stehen,  sind  Merkmale  genug,  die  zur  Mitte  des  Jahrhunderts,  wenn 
nicht  schon  in  die  zweite  Hälfte  weisen.  Die  rundliche  Bildung  der  Köpfe,  die  gradlinig  aus  der 
Stirn  herniedersteigende  Nase,  die  feste  Spitze  des  Kinnes,  die  energische  Verwertung  der  Augen- 
höhle wie  der  Lippenschwellung  für  die  Formation,  d.  h.  die  plastische  Grundlage  der  Gesichter, 
dann  die  mandelförmigen  Augen  selbst  mit  schräggestellten  Brauen,  die  breite  Fläche  der  Wangen 
und  Schläfen  bis  ans  Ohr,  die  deutliche  Rechenschaft  über  den  leiblichen  Bestand  der  Figuren  sonst, 
den  die  kirchlichen  Maler  damals  so  gern  vergessen,  —  und  neben  w^elchem  nur  eine  seltsame 
Vernachlässigung  der  Vorderarme,  ja  Verkümmerung  der  Hände  befremden  muss,  —  alle  diese 
Eigenschaften  sprechen  für  keinen  Andern,  als  Andrea  Orcagna  selber. 

Für  ihn  müssen  wir  das  Werk  aus  voller  Überzeugung  in  Anspruch  nehmen,  und  diese 
Überzeugung  bestätigt  auch  die  Notiz  des  alten  Verzeichnisses  „vielleicht  von  Andrea  di  Cione, 
genannt  l'Arcagnuolo  (Orcagna)",  die  dort  nicht  weiter  begründet,  uns  später  erst  bekannt  ward. 

Unsere  Bestimmung  darf  sich  in  erster  Linie  auf  die  Wandmalereien  der  Cappella  Strozzi  in 
S.  M.  Novella  berufen,  die  sowol  in  den  Typen,  wie  in  der  Anordnung  mancherlei  Übereinstimmendes 
bieten.  Noch  deutlicher  spricht  allerdings  die  Verwandtschaft  mit  den  Marmorarbeiten  desselben 
Meisters  am  Tabernakel  von  Orsanmichele.  Und  dies  ist  wichtig;  denn  die  beiden  beglaubigten 
Tafelbilder,  die  bei  der  Bestimmung  des  Altenburgischen  zu  Hülfe  kommen  könnten,  sind:  einmal 
das  bezeichnete  1354  bestellte  und  1357  datierte  Altarwerk  in  der  Strozzikapelle  und  zweitens  das 
Gnadenbild,  das  in  dem  berühmten  Tabernakel  von  Orsanmichele  selber  verehrt  wird,  von   1352. 

Dies  vielumstrittene  Gemälde  war  allzu  lange  für  das  Werk  des  Ugolino  da  Siena  gehalten 
worden,  das  an  dem  alten  Pfeiler  gemalt  war,  der  noch  heute  im  Innern  des  Tabernakels  eingeschlossen 


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steht,  und  der  vorgeschrittene  Charakter  der  jetzt  sichtbaren  Tafel  hatte  veranlasst,  an  eine  Erneuerung 
durch  Bernardo  Daddi  oder  an  eine  Übermalung  von  der  Hand  des  Lorenzo  Monaco  zu  denken. 
All  diesen  Vermutungen  von  Milanesi  oder  Cavalcaselle  und  Andern  gegenüber  steht  die  urkundliche 
Nachricht,  dass  die  Laudesi  von  S.  Michele,  die  das  Tafelbild  ebenso  wie  das  ganze  Tabernakel  bei 
Andrea  Orcagna  bestellt,  diesem  Meister  am  17.  April  1352  das  fertige  Gemälde  bezahlt  haben,' 
während  Bernardo  Daddi  vom  i.  Mai  1346  bis  16.  Juni  1347  an  einem  Madonnenbild  für  die  Capitani 
von  Orsanmichele  beschäftigt  gewesen  war,  das  mit  der  Stiftung  der  Laudesi,  die  der  schwarze  Tod 
von   1348  erst  veranlasste,  gar  nichts  zu  schaffen  hat. 

Die  Komposition  des  Tafelbildes  von  Orcagna  giebt  selbstverständlich  die  des  alten  Gnaden- 
bildes wieder,  das  am  Pfeiler  dahintersteckt.  Sie  ist  in  dem  Madonnenmotiv,  dem  lebendigen  Knaben 
in  langem  Kittel,  ein  Vögelchen  in  der  einen  Hand  und  die  andere  liebkosend  an  die  Wange  der 
Mutter  gestreckt,  durchaus  sienesisch;  im  Typus  der  Maria  jedoch,  wie  in  den  Reihen  von  je  vier 
Engeln  am  Thron,  deren  vorderstes  Paar  knieend  das  Weihrauchfass  schwingt,  ebenso  der  byzan- 
tinischen Tradition  ergeben  wie  Duccio  und  Cimabue.  Die  Ausführung  aber  zeigt  durchaus,  bis  in 
die  Faltenzüge  hinein,  die  Kunst  Orcagnas,  und  in  den  Typen  der  Engel  mischt  sich  eigentümlich 
das  sienesische  Schönheitsideal  mit  dem  persönlichen,  des  soviel  plastischer  und  deshalb  leibhaftiger 
fühlenden  Meisters.  Gerade  hier  aber  leuchtet  auch  die  Verwandtschaft  mit  den  Engeln  am  Thron 
in  Altenburg  noch  ein,  wie  andrerseits  die  Gewandbehandlung  mit  diesem  Werke  und  dem  Altar  in 
S.  M.  Novella  von  1357,  mit  dem  begreiflicher  Weise  die  Typen  der  Hauptpersonen  in  Altenburg, 
wie  Maria  und  Petrus  z.  B.  genauer  übereinstimmen,  als  in  der  Nachbildung  der  wundertätigen  Madonna 
von  Ugolino  da  Siena.' 

Der  Vergleich  der  datierten  Bilder  von  1352  und  1357  ergiebt  aber,  dass  diese  wie  zeitlich, 
so  auch  stilistisch  näher  zu  einander  gehören,  als  zu  der  Krönung  Marias  in  Altenburg,  die  einerseits 
den  Wandgemälden  der  Cappella  Strozzi,  andrerseits  dem  Reliefschmuck  des  Tabernakels  verwandt, 
noch  so  deutlich  aus  dem  grossen  Vorbilde  Giotto  hervorwächst,  dem  kein  Meister  des  Trecento 
sonst  so  glücklich  nacheifert  wie  Orcagna.  Bei  den  späteren  Werken  erklärt  sich  ausserdem  gewiss 
Manches,  das  für  den  Bildner  leer  und  starr  erscheinen  will,  aus  der  Mitarbeit  seines  Bruders  Jacopo, 
der  auch  das  letzte  Bild,  die  dreiteilige  Tafel,  die  1367  zur  Verherrlichung  des  hl.  Matthäus  vom 
Arte  del  Cambio  für  ihren  Pfeiler  in  Orsanmichele  bestellt  war,  nach  dem  Tode  Andreas  1368  vollenden 
musste.     Dies  Verhältnis   zu  Jacopo,    wie  zu   dem   andern  Bruder  Nardo  (Lionardo),    den  Vasari  in 


1  Dies  steht  schon  bei  Luigi  Passerini,  Curiositä  storico-artistiche  fiorentine,  La  Loggia  di  Orsanmichele,  Firenze 
i866  p.  II.  Vgl.  Schmarsow,  Florentiner  Studien,  Die  Statuen  an  Orsanmichele,  Nationalzeitung  Berlin  1889  und  neuer- 
dings wieder  gegen  Milanesis  Annahme  Pietro  Franceschini,  L'Oratorio  di  S.  Michele  in  Orto  in  Firenze  1892  S.  55. 
Darnach  hat  es  auch  der  Cicerone  1893.  —  Orcagna  hat  dann  noch  im  Jahre  1366  ein  Bild  für  den  Audienzsaal  der 
Compagnia  di  S.  Michele  vollendet. 

2  Das  Tabernakel  dagegen,  das  nach  dem  Codex  des  Lenzi  biadaiolo  in  der  Laurenziana  auf  dem  Titel  der 
Schrift  Franceschinis  abgebildet  ist,  und  sich  ähnlich  auch  in  einem  Codex  des  R.  Archivio  di  Stato  Nr.  470  wiederfinden 
soll  (a.  a.  O.  p.  53,  l)  ist  durchaus  florentinisch,  eine  „Madonna  del  Fiore"  wie  die  Marmorgruppe  von  1399  im  Innern  von 
Orsanmichele.  Darnach  sind  die  Bemerkungen  Franceschinis  zu  verbessern,  von  denen  jedoch  stehen  bleibt:  „la  miniatura 
del  codice  laurenziano  non  puö  ripetere  che  le  forme  della  tavola  dipinta  nel  1347  dal  Daddi,  perche  appunto  il  codice  e 
di  circa  il   1350". 


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Cappella  Strozzi  namhaft  macht,  giebt  auch  dem  grossen  Altarvverk  aus  S.  Piero  Maggiore  gegenüber, 
das  in  die  National  Gallery  nach  London  gekommen  ist,  zu  kritischer  Analyse  Veranlassung  genug' 
und  erhöht  den  Wert  des  Altenburger  Stückes,  auch  wenn  es  die  schriftliche  Beglaubigung  nicht 
für  sich  hat,  eben  durch  die  Verwandtschaft  mit  den  Wandgemälden  und  den  Skulpturen  Andreas 
ganz  ausserordentlich. 

Über  die  frühere  Entstehungszeit  dieser  Krönung  Marias  giebt  aber  noch  ein  anderes  Dokument 
erwünschtes  Zeugnis,  das  denselben  Gegenstand  in  ganz  abweichender  Auffassung  behandelt,  und 
doch  ebenso  unzweifelhaft  mit  dem  Schaffen  Orcagnas  zusammenhängt.  Es  ist  das  zweite  Stück 
der  Altenburger  Reihe,  die  leider  gerade  oben  sehr  verwaschene  und  schwerfällig  wieder  übergangene 
Krönung  Marias,  die  offenbar  eine  spätere  Redaktion  darbietet,  die  erst  nach  der  Strozzikapelle 
möglich  war  und  das  Mittelstück  eines  Triptychons  gebildet  hat.  ^ 

Es  entspricht  durchaus  nicht  mehr  der  Komposition  Giottos  im  Noviziat  von  S'.^  Croce,  sondern 
zeigt  die  beiden  Hauptfiguren  in  der  mandelförmigen  mit  Cherubköpfen  besetzten  Glorie,  droben  in 
der  Luftregion  schwebend,  über  den  Köpfen  der  Zeugen,  die  in  zwei  Zügen,  die  Männer  unter  Führung 
Johannes  des  Täufers  von  links,  die  Frauen  unter  Führung  Katharinas  und  Magdalenas  von  rechts, 
in  der  Mitte  einander  begegnen  und  einen  schmalen  Raum  zwischen  beiden  Chören  frei  lassen. 
Der  Vorgang  selbst  ist  als  Vision  der  Heiligen  hoch  oben  in  himmlischen  Sphären  gefasst,  und  der 
Schauplatz  im  Äther  droben,  fernab  von  aller  Erdenschwere,  viel  absichtsvoller  ausgeprägt,  als  in 
Orcagnas  Wandgemälde  der  Strozzikapelle,  das  die  Seligkeit  im  Anschauen  der  Gottheit,  der  Mutter 
und  des  Sohnes  auf  gemeinsamem  Herrscherthron  so  ausführlich  und  umfassend  darstellt,  wie  keins 
zuvor.  Während  dort  noch  immer  der  schwere  tektonische  Aufbau  des  Gestüls  in  der  Luft  steht, 
wir  fragen  wol  wie,  —  öffnet  sich  darunter  doch  schon  der  leere  Raum,  wie  eine  Strasse,  durch  die 
der  Festzug  der  Seligen  aus  und  ein  wallen  mag  zur  Verehrung  und  Freude.  Dieselbe  Ökonomie, 
des  Intervalls  zwischen  den  Reihen  der  Prozession  unter  dem  thronenden  Paar,  erkennen  wir  auch 
hier  im  Altenburger  Bilde.  Aber  die  Beseitigung  des  massiven  Hochsitzes  und  die  Einführung  der 
Mandorla  mit  Cherubköpfen,  deren  ausgebreitete  Flügel  den  Rand  zu  fassen  scheinen,  d.  h.  die 
entscheidende  Form  für  die  neue  Darstellung  der  himmlischen  Vision,  findet  ihre  Erklärung  erst  aus 
dem  Altarbilde  derselben  Kapelle  von  1357,  wo  Christus  in  dieser  Glorie  hereinschwebt,  um  Petrus 
die  Schlüssel  und  Thomas  von  Aquino  das  Buch  zu  reichen.  Diese  Redaktion  der  Krönung  Marias 
ist  also  eine  Ausgestaltung  der  künstlerischen  Gedanken,  die  getrennt  und  unvermittelt  bei  Orcagna 
in  der  Strozzikapelle  vorkommen,  und  zwar  eine  reifere  Ausbildung  in  eigentlich  malerischem  Sinne, 
deren  Idealität  gerade  durch  Abstreifung  alles  Plastischen  und  Tektonischen  auch  über  das  Relief  an 
der  Rückseite  des  Tabernakels,  mit  der  Auffahrt  und  Gürtelspende  an  Thomas  über  dem  Tode 
Marias,  hinausgeht,  an  dem  sich  „Andreas  Cionis  pictor"  mit  der  Jahreszahl  1359  bezeichnet  hat. 

Gehört    diese    rein    malerische    Lösung    des    verwandten    Problems    in    Altenburg,    die   jenes 


»  Man  vergleiche  mit  dem  Londoner  Bild  (Phot.  v.  Hanfstängl)  auch  die  Krönung  der  Florentiner  Akademie  ^ 
Niccolö  di  Piero  Gerini  und  maestro  Simone,  vollendet  von  Jacopo  di  Cino   1373  (Phot.  Aünari  635). 

2  Altes  Verzeichnis  Nr.  139  (H.  127  X  B.  74  mit  Rahmen)  „Aus  Giottos  Schule,  vielleicht  von  Tommaso 
Stefano,  gen.  Giottino". 


—     i68     — 

malerische  Relief,  mit  seiiien  fast  hellenistischen  Kunstgriffen  zur  Raumscheidung  durch  Felshöhle 
und  Baum,  so  entschieden  hinter  sich  lässt,  noch  dem  letzten  Jahrzehnt  des  Meisters  Andrea  di  Cione 
selber  an,  oder  erblühte -sie  erst  einem  Nachfolger  aus  dem  Erbteil  seines  Schaffens? 

Die  schlanken,  feinknochigen  Gestalten  des  Altenburger  Bildes  haben  nichts  mehr  von  der 
gedrungenen  Kraft  und  Fülle,  die  wir  vorher  beobachtet  und  charakteristisch  hervorgehoben.  Aber 
solche  gestreckte  und  schmächtige  Bildung  begegnet  uns  sowol  im  untern  Teil  jenes  Reliefs  am 
Totenbett  Marias,  als  auch  im  untern  Teil  jenes  Wandgemäldes,  wo  die  Scharen  der  Seligen  zur 
Herrlichkeit  zusammenströmen.  Auch  in  anerkannten  Werken  Orcagnas  findet  sich  also  dieser 
Übergang  vom  untersetzten  zum  überhöhten  Mafsstab  der  Figuren,  oder  eine  gleichzeitige  Vermischung 
beider,  sei  es  durch  die  Anforderungen  der  Örtlichkeit  oder  die  Mitwirkung  anders  geschulter  Hilfs- 
kräfte bedingt.  Einzelne  Typen  bestimmter  Heiligen,  wie  Johannes  der  Täufer  und  die  Apostel,  oder 
die  Jungfrauen  und  Engel  zeigen  überraschende  Ähnlichkeit  sowol  mit  dem  Fresko  wie  mit  der 
Altenburger  Krönung  (Nr.  1 37),  die  zeitlich  vorangehen  musste.  Ganz  besonders  beachtenswert  ist  aber 
die  Innigkeit  des  Ausdrucks,  die  nicht  allein  alle  Gesichter  verklärt,  sondern  in  der  Haltung  der 
beiden  Hauptpersonen  zu  einander  bestimmend  weitervvirkt.  Christus  neigt  das  Antlitz,  das  ebenso 
in  scharfem  Profil  und  mit  dem  nämlichen  Kreuznimbus  gegeben  ist  wie  auf  dem  früheren  Bilde,  hier 
liebevoll  zur  Mutter,  und  diese  erhebt  beide  Arme,  faltet  die  Hände  zum  Gebet  und  blickt  mit 
entgegenkommender  Beugung  des  Nackens  doch  voll  Seligkeit  zum  Sohne  auf. 

Es  ist  ein  anderes,  zarteres  Geschlecht,  sollten  wir  meinen.  Und  die  Farbe  entspricht,  soweit 
sie  noch  erhalten  ist,  nirgends  dem  Verfahren  des  Andrea  Orcagna  selber,  noch  dem  seines  Bruders 
Jacopo,  das  wir  aus  dem  Matthäusbilde  in  der  Sammlung  des  Spitals  von  S.  M.  Nuova  kennen  lernen. 
Es  wäre  demnach  wol  nur  an  einen  andern  Gehülfen,  der  ihm  in  Cappella  Strozzi  zur  Seite  gestanden, 
oder  an  einen  Abkömmling  zu  denken,  der  diese  Werke  Orcagnas  mit  seltner  Seelentiefe  in  sich 
aufgenommen  und  geläutert  hat. 

Eine  Entscheidung  über  diese  Frage  wird  jedenfalls  erst  nach  einem  weiteren  Umweg  möglich 
sein,  den  uns  die  dritte  Krönung  in  Altenburg  eröffnet. '  Ihr  Urheber  ist  von  der  neueren  Forschung 
schon  bestimmt  worden,  und  zwar  an  der  Hand  eines  Triptychons  im  Berliner  Museum,  dessen 
Mittelstück  dem  Altenburger  so  nahe  kommt,  dass  die  Verfasser  des  Berliner  Kataloges  unser 
Exemplar  für  eine  eigenhändige  Wiederholung  ansehen.  ^  Bei  genauerem ,  völlig  vorurteilsfreiem 
Vergleich  ergiebt  sich  freilich  das  umgekehrte  chronologische  Verhältnis.  Das  Beriiner  Triptychon 
enthält  eine  spätere  Redaktion,  die  im  Aufbau  des  perspektivisch  vertieften,  auf  polygonem  Untersatz 
und  unter  eben  solchem  Kuppelbaldachin  weit  geräumiger  angelegten  Thronsitzes  einen  entschiedenen 
Fortschritt  des  Malers  bedeutet,  und  zwar  auf  der  Bahn,  die  zu  wirklichkeitsgetreuer  Konstruktion 
des  ganzen  Schauplatzes  und  aller  räumlichen  Verhältnisse  führen  musste,  wie  erst  Brunelleschi  sie 
gefordert  und  die  Maler  des  Quattrocento  sie  allmählich  erzielen.  Rings  um  dieses  Mittelstück  ist 
aber  die  Anordnung  aller  übrigen  Figuren  fast  ebenso  wie  in  Altenburg  gegeben,  nur  die  musicierenden 
Engel  im  Vordergrunde  noch  vermehrt,  und  gerade  diese  senkrechte  Aufreihung  solcher  Stollen  will 


t  Altes  Verzeiclinis  No.   133  (H.   53  X  B.  32)  „aus  der  Schule  des  Giotto,  vielleicht  von  Angiolo  Gaddi" 
2  Katalog  No.  1064  (Phot.  v.  Hanfstängl  No.  374). 


—     i6g    — 

mit  dem  Kern  des  neuen  fortgeschritteneren  Aufbaues  nicht  stimmen,  —  kann  also  nur  äusserliche 
Wiederholung  eines  früher  schon  erworbenen  Besitzes  sein.  Im  Figürlichen  waltet  auch  eine  ober- 
flächlichere Routine,  die  über  die  spätere  Entstehung  des  Berliner  Triptychons  ebenso  wenig  Zweifel 
aufkommen  lässt,  wie  über  das  Vorrecht  des  Altenburger  Stückes  in  allen  Qualitäten  ursprünglicheren 
Schaffens.  Gegen  die  Identität  der  Person  des  ausführenden  Künstlers,  die  vom  Berliner  Katalog 
angenommen  wird,  kann  dies  Verhältnis  beider  Werke  keinen  Widerspruch  hervorrufen.  Es  ist  auch 
unserer  Überzeugung  nach  hier  wie  dort  Bernardo  da  Firenze,  derselbe,  dem  Milanesi  unter  der  Bezeichnung 
Bernardo  Daddi  noch  zwei  verwandte  Triptycha  der  Galerie  von  Siena  zugeteilt,  und  den  er  für  den 
Autor  des  Gnadenbildes  in  Orsanmichele  gehalten  hatte. '  Zu  seiner  Feststellung  besitzen  wir  zunächst 
in  der  Akademie  zu  Florenz  ein  Triptychon  (No.  53)  mit  der  Madonna  zwischen  Heiligen  auf  dem 
Mittelbilde  und  der  Inschrift:  nomine  BERNARDVS  DE  FLORETIA  pinxit  h.  op.  anno  Dni 
MCCCXXXII.  —  Dann  im  Kloster  Ognissanti  noch  eine  Madonna  zwischen  Heiligen  in  halber 
Lebensgrösse,  bezeichnet:  A.  D.  MCCC  .  .  XXIIII.  Frater  Nicolaus  de  Mazzinghis  de  Carpi  me 
fieri  fecit,  pro  remedio  animae  matris,  fratrum.  BERNARDVS  DE  FLORENTIA  pinxit.  Ausserdem 
war  in  der  ehemaligen  Sammlung  Bromley  in  London  eine  Kreuzigung  mit  acht  Heiligen  und  der 
Signatur:  anno  Dni  MCCCXLVII  BERNARDVS  pinxit  me  quem  Florentia  finxit.* 

Von  Bernardo  Daddi,  den  Milanesi,  mit  diesem  Bernardo  da  Firenze  identificiert,  wissen  wir, 
dass  er  1346  auf  1347  ein  Madonnenbild  für  die  Capitani  di  Orsanmichele  gemalt  hat,  und  1349 
mit  Jacopo  da  Casentino  sich  um  die  Organisation  der  Lukasgilde  bemüht,  während  ihm  nach  Vasari 
die  Fresken  der  Cappella  S.  Stefano  e  Lorenzo  in  Sta.  Croce  gehören,  die  unter  den  Händen  des 
Restaurators  viel  von  ihrem  ursprünglichen  Charakter  eingebüsst  haben. 

Lassen  wir  diese  Personenfrage  zunächst  aus  dem  Spiel,  um  in  erster  Linie  den  reichen 
Zuwachs  zu  sichern,  den  die  Kenntnis  des  Meisters  Bernardo  da  Firenze,  noch  mehr  als  aus  dem 
Triptychon  in  Berlin,  hier  in  Altenburg  gewinnen  kann.  Die  Krönung  Marias  befindet  sich  in  ihrem 
alten  Rahmen,  einem  schlicht,  ohne  jede  Gliederung  zwischen  tragenden  und  getragenen  Teilen 
verlaufenden  Spitzbogen,  in  den  schlanke  Ecksäulen  mit  glattem  Stamm  eingestellt  sind,  die  einen 
inneren  Spitzbogen  mit  geknickter  Einlage  tragen.  Die  einspringenden  Nasen  bestimmen  die  Höhe 
der  Thronpfosten,  zwischen  denen  sich  ein  ähnlicher  Kleeblattbogen  wiederholt,  dessen  Giebelkrönung 
in  das  mittlere  Bogenfeld  hinaufragt.  Die  Tiefe  des  Tabernakels,  dessen  offene  Seitenarkatur 
perspektivisch  gezeichnet  ist,  wird  durch  den  eingespannten  Teppich,  der  Rückwand  und  Seiten 
zugleich  überzieht,  etwas  verschleift,  gleich  wie  drunten  die  Stufen,  deren  unterste  zwei  nur  deutlich 
hervortreten.  Das  Ganze  ist  leichte  Schreinerarbeit  eines  Falegname  mit  Intarsien,  die  wir  am  Schrank- 
werk der  Sakristei  oder  dem  Chorgestühl  jener  Zeit  bewundern.  Hier  sitzt  Maria,  die  Hände  auf  der 
Brust  kreuzend,  dem  Sohne  gegenüber,  der  ihr  mit  beiden  Händen  die  Krone  auf  das  Haupt  setzt. 
Das  Vorbild  Giottos  für  die  Baroncelli-Kapelle  hat  in  der  Gestrecktheit  der  Figuren  und  ihrer  graderen 
Haltung,  in  der  Schlichtheit  der  Ärmel,  im  Griff  der  Hände  unter  den  inneren  Rand  der  Krone  und 
deren  spitzere  gotische  Form,   wie  in  der  Hebung  der  Arme  Marias  vom  Schofs  gegen  den  Busen, 


'  Vgl.  Milanesi  zu  Vasari,  Opere  II.   l8i. 

'  Vgl.  Crowe  und  Cavalcaselte  II.  29.  u.  Rumohr,  Ital.  Forschungen  II.  223. 


-     I/o     — 

nur  eine  leise  Abwandlung  erfahren,  die  durch  strenge  Schulregel  gebunden  scheint.  Die  nämliche i 
Starrheit  der  Schablone  spricht  aus  der  senkrechten  Aufreihung  der  Figuren,  die  in  zwei  Doppel- 
kolonnen die  beiden  Streifen  neben  dem  Thronbau  füllen,  so  dass  nur  die  vordersten  Paare  in  ganzer 
Gestalt,  alle  andern  fast  nur  bis  auf  die  Schulter  gesehen  werden.  Der  Gottheit  zunächst  flattern 
oben  die  Cherubim  und  Seraphim,  rote  und  blaue  Flügelköpfe,  dann  folgen  je  zwei  Vertreter  der 
übrigen  sieben  Ordnungen,  von  den  Throni  mit  der  Mandorla  und  den  Erzengeln  mit  Kreuzfähnlein 
in  voller  Rüstung,  den  Dominationes  mit  Scepter  und  den  bewaffneten  Streitern,  mit  Schwertern  hier 
und  Lanzen  dort,  zu  den  Waltern  der  Gerechtigkeit  mit  Wagschalen  und  den  Sendboten  mit 
wehenden  Schriftbändern,  die  schon  vor  dem  Throne  gegen  die  Mitte  leiten.  Dort  knieen  zwei  Geiger 
und  beugen  zwei  Orgelspieler  ein  Knie,  so  dass  in  leiser  Verschiebung  der  Symmetrie  der  Fusspunkt 
des  Höhenlotes  frei  bleibt.  —  Zuäusserst  erkennen  wir  S.  Franciscus  rechts  und  S.  Dominicus  links, 
S.  Katharina  und  S.  Clara,  S.  Ludwig  von  Toulouse  und  einen  Bischof  (S.  Augustin),  S.  Ludwig  von 
Frankreich  und  S.  Antonius  von  Padua,  S.  Stephanus  und  S.  Laurentius,  S.  Petrus  und  S.  Paulus, 
S.  Johannes  den  Täufer  und  König  David,  mit  einem  Seraph  und  einem  Cherub  darüber,  ebenso 
schematisch  aufgereiht. 

Mit  der  strengen  Disziplin  in  der  Anordnung  geht  aber  eine  ausserordentliche  Präcision  der 
Zeichnung  und  Sauberkeit  des  Farbenauftrages  Hand  in  Hand:  überall  sichere  Technik,  reinHche 
Sorgfalt  und  vorschriftsmässige  Verteilung  des  Goldschmuckes  neben  durchgehender  Schlichtheit  der 
Stoffe,  überall  das  zureichende  Mafs  des  Ausdrucks  und  Anteils;  aber  nirgends  das  Hervorleuchten 
persönlicher  Begeisterung,  oder  gar  ein  Hauch  genialer  Schöpferkraft.  Es  ist  das  Ergebnis  emsigen 
Fleisses  und  zünftiger  Schulung,  das  wir  vor  uns  haben,  als  solches  ein  Meisterstück  im  mittelalterlichen 
Sinne,  noch  nicht  ein  Beispiel  gewohnheitsmässiger  Routine,  wie  in  Berlin,  deren  untrügliche  Finger- 
fertigkeit sich  auch  in  dem  speckigen  Glanz  der  hellen  Farben  widerspiegelt,  —  und  behauptet  sich 
vielmehr  auch  durch  die  Tiefe  und  den  Ernst  der  farbigen  Gesamthaltung  als  ein  gediegenes  Muster- 
werk, mit  dem  sich  der  Maler  die  Anerkennung  seiner  Zunftgenossen  und  das  Vertrauen  seiner 
Mitbürger  zu  sichern  getrachtet. 

Eine  solche  Leistung  giebt  eben  deshalb  besonders  zuverlässigen  Bescheid  auf  die  Frage  nach 
dem  Schulzusammenhang.  „Quem  Florentia  finxit',  bekennt  er  noch  1347;  darüber  kann  auch  hier 
kein  Zweifel  walten.  Und  die  bestimmte  Modifikation,  in  der  das  Vorbild  Giottos  aus  der  Baroncelli- 
kapelle, die  schon  der  Schüler  Taddeo  Gaddi  mit  Fresken  aus  dem  Marienleben  geschmückt,  in  dieser 
Krönung  zu  Altenburg  auftritt,  bezeugt  ebenso  bestimmt  die  Lehre,  die  dieser  Maler  Bernardo  bei 
Taddeo  Gaddi  durchgemacht  hat.  Das  ist  nicht  minder  klar,  als  die  nämliche  Herkunft  von  Taddeo 
bei  AUegretto  Nuzi  von  Fabriano,  der  einmal  in  Florenz  zünftig  geworden,  auch  durchaus  florentinische 
Schulung  in  Umbrien  weiter  übt.  Bernardo  wie  AUegretto  nehmen  von  Taddeo  die  Gestrecktheit 
seiner  Figuren,  das  längliche  Oval  der  Köpfe,  die  langen  graden  Nasen  und  die  grossgeschnittenen 
Augen  darin  an,  treiben  aber  die  Zuspitzung  des  Kinnes  häufig  bis  zur  Verkümmerung  der  unteren 
Gesichtshälfte.  Der  Vergleich  beider  Schüler  mit  ihrem  Meister  ist  besonders  bequem  in  Berlin,  wo 
neben  dem  Triptychon  Bernardos  ein  bezeichnetes  Werk  AUegrettos  und  ein  Triptychon  von 
Taddeo  Gaddi  mit  voller  Bezeichnung  vom  September  des  Jahres  1334  beisammen  sind. 


—     171     — 

Eben  dieses  Altärchen  Taddeos  zeigt  um  die  thronende  Madonna  in  eigenem  gebrochenem 
Bogen  ähnlich  zu  beiden  Seiten  aufgereihte  Heilige  und  Propheten,  und  in  den  Flügeln  links  die 
Geburt  Christi,  rechts  die  Kreuzigung  unter  zwei  Wundergeschichten  des  heiligen  Nicolaus,  die  die 
Hälften  des  Bogenfeldes  füllen.  Da  haben  wir  in  den  Hauptbildern  der  Flügel  wenigstens  dieselben 
Gegenstände  wie  auf  dem  Triptychon  Bernardos  neben  der  Krönung  Marias  daselbst.  Mit  Hülfe 
beider  Stücke,  sowie  der  vereinzelten,  soeben  besprochenen  Krönung  in  Altenburg,  lässt  sich  auch 
in  dieser  Sammlung  noch  ein  zweites  Werk  Bernardos  nachweisen,  und  zwar  ein  Triptychon,'  das 
in  der  Entwickelung  des  Meisters  dem  Berliner  Bravourstück  schon  näher  kommt,  während  es 
andererseits  mit  den  beiden  Altärchen  gleicher  Art  in  Siena  aufs  engste  verbunden  erscheint.  Es 
enthält  in  der  Mitte  die  Madonna  mit  dem  Kinde  unter  einem  Tabernakel  thronend,  neben  dem  je 
zwei  Engel  hervorschauen,  während  vor  ihnen  links  ein  Bischof  und  ein  Diakon,  rechts  zwei  königliche 
Frauen  stehen,  deren  eine  (wol  Katharina)  dem  Christkind  eine  Blume  reicht.  Vor  dem  Podium  stehen 
links  der  Täufer  und  rechts  S.  Jacobus  Major  mit  dem  Pilgerstab.  Auf  dem  linken  Flügel  ist  die 
Geburt  mit  der  Verkündigung  an  einen  Hirten  über  dem  Dach  der  Hütte,  auf  dem  rechten  Maria 
und  Johannes  unter  dem  Kreuz,  und  in  den  Giebelfeldern  die  Verkündigung,  links  der  knieende  Engel 
Gabriel,  rechts  die  sitzende  Jungfrau  in  ihrer  Zelle  dargestellt.  Auf  einem  der  Triptychen  in  Siena, 
die  zunächst  zur  Bestimmung  des  nämlichen  Meisters  in  Altenburg  geführt  haben,  ist  in  der  Mitte 
die  Zahl  der  Engel  am  Thron  zu  vier  Reihen  gehäuft  und  ausser  den  Apostelfürsten  daneben  stehen 
vorn  der  Täufer  und  S.  Nicolaus,  während  über  der  Geburt  und  der  Kreuzigung,  wo  Magdalena 
hinzugekommen,  nun  zwei  Wundergeschichten  erzählt  werden,  wie  auf  Taddeo  Gaddis  Altärchen 
in  Berlin. 

Das  Altenburger  Beispiel  gehört  zu  den  besten  Bildern  des  Trecento,  die  diese  Sammlung 
beherbergt,  und  gerade  die  köstliche  Farbenfrische  seiner  wie  Email  vertriebenen  Tempera,  die 
schimmernde  Wirkung  des  Goldgrundes  und  der  aufgelegten  oder  eingegrabenen  Muster,  der 
wundervolle  Schmelz  des  hellen  Blau  und  Rosa,  die  im  Ganzen  vorherrschen,  die  lichte  Fleischfarbe 
und  ein  paar  entschiedene  Kontraste  zwischen  Braunrot  und  Weiss,  haben  gewiss  dazu  beigetragen, 
die  alte  Bezeichnung  als  „sienesische  Schule"  zu  veranlassen.  Der  Kern  dieser  Beobachtung  bleibt 
richtig.  Denn  lässt  schon  das  Vorkommen  zweier  ganz  ähnlicher  Stücke  in  Siena  selbst  den  Aufenthalt 
des  Bernardo  da  Firenze  in  dieser  Stadt  vermuten,  so  lehrt  die  genauere  Analyse  der  Komposition, 
wie  stark  die  Besonderheiten  der  sienesischen  Kunst  ihren  Einfluss  auf  den  Florentiner  ausgeübt 
haben.  Die  Breite  des  Madonnenkopfes  mit  seinem  grossen  Heiligenschein,  die  Bewegung  des 
Kindes,  das  nur  durch  ein  Tuch  über  den  Knieen  verhüllt,  sonst  völlig  nackt  auf  ihrem  Schofse 
sitzt  und  mit  einem  gefangenen  Vögelchen  spielt,  das  doppelte  Motiv  des  Aufblickens  zur  Mutter,  die 
warnend  den  Finger  erhebt,  und  des  Hinstrebens  zur  dargebotenen  Blume,  sind  auf  dem  Boden  siene- 
sischer  Kinderfreude  und  intimerer  Innigkeit  zwischen  Mutter  und  'Söhnchen  erwachsen.  Demgemäss 
haben  auch  die  Typen,  besonders  der  weiblichen  Heiligen  und  der  Engel  Verwandtschaft  mit  denen, 
die  wir  bei  Simone  Martini  und  Lippo  Memmi,  bei  den  Lorenzetti  und  ihren  Genossen  kennen  gelernt 

I  No.  39.  H.  S7XB.  53  (insgesamt.  Mittelstück  26,  Flügel  je  13  cmj  „Sienesische  Schule,  Mitte  des  XIV.  Jahr- 
hunderts" genannt. 


~   172  — 

haben.  Die  gekrönte  Heilige  mit  dem  Kreuz  in  der  Hand  (Helena?)  entspricht  genau  der  Madonna 
selbst   auf  dem  Bilde  in   Siena,   wo   das  Kind   noch   ruhig   segnend,    mit  verhüllten  Beinen   dasitzt. 

Wie  aber  die  Häufung  der  Motive  doch  nicht  zu  fliessender  Bewegung  gedeihen  will,  das  lehrt 
ausser  dem  Kinde  des  Altenburger  Triptychons,  auch  noch  ein  drittes  Beispiel  in  derselben  Sammlung: 
eine  Kreuzigung  in  reicherer  Komposition,  die  offenbar  das  Mittelstück  eines  solchen  Altärchens 
gebildet  hat. '  Hier  gehen  zwischen  den  Figuren,  unter  denen  der  Hauptmann  Longinus  eine  hervor- 
ragende Rolle  spielt,  lange  farbige  Schriftbänder  als  gerade  oder  eckig  umgeschlagene  Streifen  nach 
oben  und  nach  unten,  sodass  ein  äusserlicher  Schematismus  das  Streben  nach  reicherer  Fülle  und 
mannichfaltigerem  Leben  wieder  zu  Schanden  macht.  Dies  Bild  leitet  durch  unläugbar  verwandte 
Züge  zu  der  Kreuzigung  auf  dem  rechten  Flügel  des  Berliner  Triptychons  über,  das  als  spätestes 
Werk  dieser  Reihe  erscheint.  Alle  drei  Gemälde  in  Altenburg,  die  Krönung  Marias,  die  Kreuzigung 
und  das  Madonnenaltärchen  sind  durch  ihre  Erhaltung  besonders  auch  den  sienesischen  Beispielen 
weit  überlegen  und  gehören  so  zu  den  besten  Belegen  für  die  Eigenart  und  die  Fortschritte  des 
Malers  Bernardus,  der  sich  auf  Arbeiten  nach  auswärts  wol  vorwiegend  als  „de  Florentia"  bezeichnet. 

Die  Kreuzigung  in  Altenburg  wie  die  in  Berlin  erinnern  beide,  besonders  in  den  ritterlichen 
Gestalten  an  Spinello  Aretino,  und  machen  es  wahrscheinlich,  dass  wir  in  Bernardo  den  Lehrer  dieses 
so  manche  sienesischen  Elemente  in  sich  vereinigenden  Malers  vor  uns  haben.  Das  aber  wäre  nach 
Vasari  nicht  Jacopo  da  Casentino,  sondern  Bernardo  Daddi,  dessen  Fresken  mit  Geschichten  des 
Laurentius  und  Stephanus  in  Sta.  Croce  besonders  in  ihrem  heutigen,  vielfach  erneuerten  Zustand 
nur  schwer  eine  Vergleichung  mit  den  kleinen  Tafelbildchen  gestatten,  im  Grunde  jedoch  ausser  der 
Verwandtschaft  der  Typen  und  der  Haltung  auch  die  Ungeübtheit  im  Bewältigen  des  grossen  Formates 
erkennen  lassen,  und  zwar  in  der  Leerheit  der  Köpfe  und  Formen  wie  in  der  Lockerheit  der 
schematisch  geregelten  Komposition.  Bei  der  mannichfaltigen  Beziehung  zu  sienesischer  Kunst  lässt 
sich  selbst  Milanesis  irrige  Meinung,  das  Gnadenbild  in  Orsanmichele  sei  von  Bernardo  Daddi  gemalt, 
erklären,  und  die  flüchtige  Wiedergabe  der  „Madonna  del  Fiore"  oder  „della  Rosa",  die  sich  im 
Codex  Laurentianus  des  Lenzi  biadaiolo  findet,  würde  gestatten,  in  dem  Bernardo  Daddi,  der  das 
Urbild  1346/47  gemalt,  auch  unsern  Bernardo  da  Firenze  zu  erkennen.  Dann  hätten  wir  wenigstens 
einen  greifbaren  und  einheitlichen  Zeitgenossen  neben  Jacopo  del  Casentino,  der  die  Gewölbe  von 
Orsanmichele  (seit  1350)  und  gewiss  auch  manchen  Heiligen  an  den  Pfeilern  des  Innenraumes 
gemalt,  ^  und  mit  dem  Bernardo  Daddi  im  Rat  der  Lukasgilde  seit  1 349  tätig  war. 

Wird  es  bei  so  unzureichendem  Material,  das  sicher  mit  Daddis  Namen  verbunden  ist,  auch 
vorerst  geraten  sein,  die  zuverlässige  Gruppe  von  Werken  des  Bernardo  di  Firenze  von  solcher 
Verschleifung  frei  zu  halten,  so  geht  jedenfalls  aus  der  Tätigkeit  dieses  Meisters  eine  wichtige 
Tatsache  hervor,  die  für  die  Geschichte  der  florentinischen  Kunst  volle  Beachtung  verdient:  das  ist 
der    Einfluss    sienesischen   Geschmackes    schon    auf  die   Zeitgenossen    des    Taddeo   Gaddi    und   die 


1  No.   17.     H.  45  XB.  24  „Sienesisclie  Schule  der  zweiten  Hälfte  des  XIV.  Jahrhunderts. 

2  Crowe  und  Cavalcaselles  Zuschreibung  der  Predella  mit  der  Petruslegende  und  Einzelfiguren  der  Apostel  in 
den  Uffizien  an  diesen  Jacopo  del  Casentino  ist  jedenfalls  ein  Irrtum;  sie  gehört  einem  Übergangsmeister  zur  Zeit  des 
Masolino,  wie  die  Steinigung  des  Stephanus  in  der  Capp.  dell'  Assunta  des  Domes  zu  Prato. 


—     173    — 

unmittelbaren  Abkömmlinge  der  Giottoschule  in  ihrem  engsten  Umkreis.  Bei  der  strengen  Disziplin, 
die  wir  in  allen  Grundlagen  seines  Könnens  hervortreten  sahen,  und  bei  der  keineswegs  leicht 
beweglichen  Art  seiner  Anlage,  die  nirgends  über  ein  bescheidenes  Mafs  eigenen  Geisteslebens  hinaus- 
drängt, fällt  diese  Abwandlung  ins  Sienesische  doppelt  ins  Gewicht  und  bedeutet  mehr  als  die 
Beschäftigung  sienesischer  Künstler  in  Florenz.  ' 

Ein  ähnliches  Problem  für  die  unparteiische  Kunstgeschichte  wird  aber  kurz  darauf  in  der 
Person  des  Giovanni  da  Milan o  gestellt,  den  die  bisherige  Betrachtung,  nur  von  Florenz  und 
Giottos  Schule  ausgehend,  einfach  als  Schulgenossen  der  Florentiner  annimmt.  Dem  schärferen  Auge 
kann  es  jedoch  nicht  entgehen,  dass  er  ein  gut  Teil  oberitalienischer  Elemente  mitgebracht  und  in  seiner 
Tätigkeit  am  Arno  beibehalten  hat,  Eigenheiten  einer  fremden  Kunst,  die  erst  völlig  greifbar  werden, 
wenn  die  lombardische  Plastik  oder  Relief  kunst  wenigstens,  in  Ermangelung  ausgedehnter  Malereien, 
soweit  durchforscht  worden,  wie  zu  einer  durchgehenden  Charakteristik  der  Darstellungen  auf  der 
Fläche  gehört. 

Dagegen  lebt  sich  ein  anderer  Fremdling  aus  Oberitalien,  Antonio  Veneziano,  viel  unbefangener 
und  vollständiger  zunächst  in  die  florentinische  Schulung  ein,  als  ob  er  vorher  noch  keine  technischen 
Gewohnheiten  anderer  Art  angenommen  hätte.  Wenn  dieser  „Antonius  Francisci  de  Venetiis"  irgend 
etwas  aufweist,  das  seiner  Herkunft  aus  der  Lagunenstadt  entspräche,  so  wäre  es  nach  allem,  was 
wir  aus  Resten  seiner  Werke  noch  erraten  können,  am  ehesten  das  Auge,  der  Sinn  für  die  farbige 
Erscheinung  der  Dinge,  für  Luft  und  Licht,  und  daneben  die  Freude  an  der  wirklichen  Natur  oder 
Menschenwelt,  die  ihn  umgiebt.  Oder  wüssten  auch  seine  Architekturprospekte,  mit  dem  Einblick 
in  luftige  Hallen  und  malerische  Winkel  noch  weiteres  zu  erzählen,  das  ihm  auf  der  Wanderschaft 
begegnet  war?  Wir  besitzen  ja  nichts  mehr,  als  die  Fresken  im  Camposanto  zu  Pisa,  die  er  zwischen 
1384  und  1386  ausgeführt,  mit  Geschichten  aus  dem  Leben  des  heiligen  Rayner,  die  Andrea  da 
Firenze  begonnen.  Und  er  tritt  doch  schon  1374,  also  zehn  Jahre  früher  in  die  Zunft  der  Barbiere 
und  Chirurgen  in  Florenz. 

Trotz  der  Spärlichkeit  dieser  Reste  glauben  wir  ihm  in  Altenburg  ein  Tafelbild  zuweisen  zu 
dürfen.  Es  ist  nur  ein  Flügel  eines  dreiteiligen  Altars,  der  wahrscheinlich  eine  Himmelfahrt  Christi 
darstellte,  denn  es  sind  sechs  knieende  Apostel  darauf,  die  sich  mit  dem  Ausdruck  des  Staunens, 
der  Aufregung  nach  links  wenden.  Und  denken  wir  nur  an  die  gleiche  Scene,  wie  noch  Luca  della 
Robbia  sie  auf  seiner  Türlünette  über  der  Sakristei  im  Dom  von  Florenz  dargestellt,  so  fordern  wir 
links  entsprechend  die  übrigen  Zeugen  der  Auffahrt  hinzu,  so  dass  das  Mittelbild  des  Triptychons 
für  Christus  selber  auf  der  Höhe  des  Hügels  frei  blieb. '  Auf  dem  erhaltenen  Flügel  kniet  vorn 
Petrus  fast  in  vollem  Profil  mit  erhobenen  Armen,  nur  das  Gesicht  dreiviertel  nach  vorn  gewendet, 
hinter  ihm  ein  bartloser  Jünger,  vom  Rücken  gesehen  in  hellem  Gewände,  das  lockige  Haupt  jedoch 

•  Wie  wäre  es  sonst  möglich,  dass  die  Malereien  eines  Andrea  da  Firenze  und  seiner  Gehilfen  an  Wänden 
und  Decke  der  Cappella  Spagnuoli  von  Vasari  für  sienesisch  angesehen  und  in  beträchüichem  Umfang  als  Arbeit  des 
Simone  „Memmi"  anerkannt  worden  sind?     Auch  dieser  Andrea  ist  ein  Mischling  wie  Bernardo. 

2  An  eine  Verklärung  auf  Tabor,  wie  das  alte  Verzeichnis  meint,  kann  nicht  gedacht  werden,  schon  wegen  der 
Zahl  der  anwesenden  Jünger.     No.  61.     „Manier  des  Agnolo  Gaddi."     H.   142  X  B.  62. 


—     174    — 

nach  Innen  gekehrt,  sodass  sein  Profil  gegen  die  runde  Scheibe  des  Heiligenscheines  steht.  Ähnlich 
dreht  sich  sein  Nachbar  mit  kahlwerdendem  Scheitel,  während  ein  Langbärtiger  hinter  Petrus  die 
gefalteten  Hände  gegen  das  Kinn  hebt  und  den  bekümmerten  Blick  seitwärts  in  die  Höhe  richtet. 
Hinter  ihm  wird  noch  der  Kopf  eines  Greises  wie  Andreas,  bis  an  die  Lippen  sichtbar,  und  in  der 
Mitte  der  letzten  Reihe,  gegen  eine  Felspartie  mit  einsamem  Bäumchen  darauf  der  dunkle  Kopf 
eines  jüngeren,  im  vollen  Mannesalter  stehenden  Apostels,  der  beide  Hände  über  der  Halsgrube 
zusammenlegt  und  auch  im  Blick  seiner  schwarzen  Augen  die  hingebende  Unterwerfung  ausdrückt. 
Er  könnte  wol  für  Jacobus  oder  Bartholomäus  gelten,  doch  fragen  wir  kaum  nach  dem  Namen  des 
Apostels,  denn  uns  tritt  der  eines  anderen  Heiligen  auf  die  Lippen,  der  hier  bei  der  Himmelfahrt 
keine  Stelle  hat,  für  uns  aber  der  wichtigste  wird,  da  er  den  Namen  des  Malers  ausspricht.  Es  ist 
S.  Ranieri,  wie  Antonio  Veneziano  ihn  auf  seinen  Fresken  im  Camposanto  gemalt  hat,  und  niemand 
anders  auch  hier! 

Nun  aber  stimmen  die  sonstigen  Eigenschaften  der  Tafel  mit  dem  Charakter  dieses  Malers 
so  genau  überein,  wie  nur  irgend  zwischen  Fresko  und  Tempera  auf  Goldgrund  möglich  ist.  Mit 
vollem  Recht  sagt  das  alte  Verzeichnis:  in  der  Manier  des  Agnolo  Gaddi.  Die  Grundzüge  der 
Zeichnung,  Gestaltenbildung  und  Typen,  ja  der  Farbengebung  verrät  die  Schulung  gleicher  Art. 
Crowe  und  Cavalcaselle  heben  an  den  Wandbildern  hervor:  die  Gewänder  sind  einfach,  die  Falten 
häufiger,  ihre  Einzelheiten  genauer  studiert  und  ohne  dass  dabei  der  Ausdruck  der  darunter  befindlichen 
Formen  litte  .  .  .  Seine  Draperien  schliessen  im  Gegenteil  eng  an  den  Körper;  Hände  und  Füsse  sind 
sorgfältig  und  eingehend  gezeichnet.  Das  darf  genau  so  von  diesem  Tafelbilde  gelten,  ja  die  Hände 
und  Füsse  nicht  allein  sind  wuchtig  und  genauer  als  sonst  gegeben,  sondern  die  Modellierung  der 
kraftvollen  Gestalten  malt  sich  überall  unter  der  Hülle  und  ist,  wie  man  an  Petrus  sieht,  klar 
angegeben,  bevor  die  Falten,  des  Mantels  etwa,  darüber  gelegt  wurden.  Die  Rückseite  des 
Jugendlichen  ist  von  überraschender  Schönheit  und  erinnert  abermals  an  das  herrliche  Relief  von 
Luca  della  Robbia,  so  dass  wir  uns  Masaccio  nahe  fühlen  und  die  Wirkung  eines  solchen  Bildes 
begreifen.  Ganz  im  selben  Sinne  sind  auch  die  Köpfe  der  Apostel  sonst  anerkennenswerte  Leistungen, 
in  der  Sicherheit  der  festen  Form  und  der  Breite  der  Auffassung,  so  dass  selbst  das  Haar  als  Masse, 
hier  und  da  wulstig  oder  mit  Schattenlinien  abgehoben,  dort  zurechtgeschnitten,  hier  in  Locken  frei 
fallend,  diesen  plastischen  Absichten  auf  volle  Rundung  dient.  Der  Kopf  des  Jüngsten  mit  seiner 
abstehenden  Stirnlocke  hat  Ähnlichkeit  mit  Nanni  di  Bancos  schönem  Engel,  der  an  der  Porta  della 
Mandorla  am  Florentiner  Dom,  die  Madonna  gen  Himmel  tragen  hilft.  Das  Überraschendste  jedoch 
ist  wol  die  seitliche  Beleuchtung,  über  den  Haarschopf  des  Nachbars  z.  B.  zwischen  dem  Jugendlichen 
vorn  und  S.  Ranieri,  wie  wir  den  Jacobus  noch  einmal  nennen  wollen.  Das  sind  Eigenschaften,  die 
unter  der  bleichenden  Sonne  und  der  zersetzenden  Witterung  an  seinen  Fresken  im  Camposanto 
vielfach  verloren  gegangen,  aber  an  einzelnen  Resten  deutlich  vorhanden  gewesen  sind,  wie  z.  B. 
unter  dem  grossen  Segel  des  Schiffes  bei  den  Insassen,  die  im  Halbschatten  darunter  hervorsehen. 
Da  stecken  wie  hier  schon  Effekte  der  Beleuchtung,  durchsichtige  Schatten,  die  nur  dieser  Venezianer, 
nirgends  Agnolo  Gaddi  noch  irgend  ein  Florentiner  gekannt  hat,  bis  auf  die  Nachfolger  eben  dieses 
Fremden  wie  Gherardo  Starnina,  Masolino,  Fra  Angelico,  und  Masaccio  selber. 


Und  doch  kann,  schon  bei 
der  genauen  Übereinstimmung 
des  dunkeln  Apostels  mit  der 
Hauptperson  der  beglaubigten 
Fresken  in  Pisa,  nur  Antonio 
Veneziano  der  Urheber  dieser 
Tafeln  sein,  und  nicht  etwa  sein 
Abkömmling  Gherardo  Starnina 
in  Vorschlag  kommen.  Viel  eher 
darf  hier  die  Frage  aufgeworfen 
werden,  ob  die  Geschichten  des 
Nicolaus  von  Bari  in  Sta.  Croce,  die 
Vasari  Starnina  zuweist,  während 
Crowe  und  Cavalcaselle  sie  Agnolo 
Gaddi  beilegen  möchten,  nicht 
vielmehr  Antonio  Veneziano,  dem 
Maler  dieser  Tafel  „in  der  Manier 
des  Agnolo  Gaddi"  gehören?  Die 
Übereinstimmung  der  Köpfe, 
Hände  und  ihrer  Gebärdensprache 
ist  zum  Teil  ganz  ausserordentlich. 
Aber  es  sind  abgekratzte  Fresken. 
Dies  Temperabild  auf  Holz  steht 
bis  jetzt  für  sich  allein  da,  wenn 
es  auch  durchweg  die  Übung  in 
Fresko  verrät.'  Petrus  hat  blass 
fleischrote  Ärmel  unter  gelbrotem 
Mantel,  sein  jugendlicher  Nachbar 
blassblauen  Überwurf  S.  Ranieri 
ist  braun  gekleidet,  also  auch 
durch  die  Farbe  auffallend  seinem 


1  Die  Erhaltung  der  Farben- 
schicht auf  der  dicken,  ganz  wurm- 
zerfressenen Pappelholztafel  lässt  zu 
w  ünschen  übrig.  Ein  Riss  geht  von  oben 
bis  an  die  Kniekehle  der  vordersten  Figur, 
daher  die  Gesichter  der  beiden  Apostel 
auf  der  rechten  Seite  stark  ergänzt.  Wol- 
erhalten  die  4  links  bis  an  die  Schläfe,  den 
Nacken   und    die   Fingerspitzen  Ranieris. 


-     176    - 

Urbild  ähnlich,  zwischen  den  andern  in  graublauem  Rock  und  rötlichen  Mänteln.  Die  Ökonomie 
des  Lichts  bestimmt  die  Farbennuance,  nicht  die  Einheit  des  Stoffes. 

Ein  Künstler  wie  Spinello  Aretino  fasst  dann  schon  im  letzten  Viertel  des  Jahrhunderts  die 
Errungenschaften  verschiedener  Schulen  zusammen  und  verwertet  sie  alle  in  seinen  Freskencyklen, 
wie  Domenico  Ghirlandajo  am  Ende  des  Quattrocento.  Er  ist  in  Florenz,  in  Pisa  und  Siena,  wie 
in  seiner  Heimat  Arezzo  zu  Hause,  und  muss  als  Nachfolger  der  Lorenzetti  ebenso  wie  der  Giottisten 
gelten,  ohne  dass  die  Erbschaft  der  Einen  und  der  Andern  die  Summe  seines  Eigentums  deckte. 

Von  ihm  besitzt  die  Altenburger  Sammlung  einen  Crucifixus  mit  dem  knieenden  Franciscus 
(Stigmatisation)  und  zwei  sitzenden  Karthäusern  auf  Goldgrund,  von  vortrefflicher  Erhaltung  und 
frischen  Farben,  das  schon  im  alten  Verzeichnis  richtig  als  sein  Eigentum  bezeichnet  wird.'  Die 
volle  Herrschaft  über  seine  Mittel  und  ein  energisches,  auf  das  Notwendige  beschränktes  Verfahren, 
das  besonders  durch  Linienschärfe  und  Lichtkontraste  wirkt,  stellt  diese  Tafel  in  eine  Reihe  mit 
den  besterhaltenen  Teilen  der  Wandgemälde  in  der  Sakristei  von  S.  Miniato  al  Monte. 

Der  Entartung  der  Trecentokunst  beim  Anbruch  einer  neuen  Zeit  gehört  auch  eine  Darstellung 
des  Abendmales  an,  wo  Christus  mit  den  Jüngern  an  hufeisenförmiger  Tafel  sitzt,  an  ihrem  Kopfende 
die  Hauptperson,  drinnen  zwischen  den  Flügeln  der  Verräter.  Die  Derbheit  der  Darstellung  und  die 
Oberflächlichkeit  der  Malerei  weisen  wie  der  Typus  einiger  Apostel,  besonders  der  Kopf  des  Judas, 
auf  einen  Spätling  der  florentinischen  Schule,  der  von  Pietro  Gerini  herkommend,  doch  von  den 
berühmten  Wandbildern  des  Camposanto  wie  dem  Trionfo  della  Morte  starken  Einfluss  erfahren  hat.  ^ 

Erst  am  Ende  des  Trecento  oder  gar  am  Anfang  des  folgenden  Jahrhunderts  darf  auch  ein 
Bild  zur  Sprache  kommen,  das  bei  Vasari  beschrieben  und  bei  Rosini,  Storia  della  Pittura  II,  126 
abgebildet,  stets  in  der  Geschichte  der  Malerei  und  der  Ikonographie  der  Madonnendarstellung  an 
viel  zu  früher  Stelle,  nämlich  um  1345  verwertet  worden  ist.  Die  jetzt  in  Altenburg  befindliche 
Tafeln  war,  als  Rosini  sie  abbildete  (1840)  im  Besitz  eines  Herrn  Ranieri  Grassi,  und  zwar  schon  in 
traurigem  Zustand.  Sein  Stich  aber  enthält  noch  viele  Einzelheiten,  die  heute  nicht  mehr  vorhanden 
sind.  Er  giebt  das  Tafelbild  als  eine  Kopie  des  Tabernakels  am  Pal.  Gianfigliazzi  zu  Pisa,  das 
Vasari  im  Leben  des  Stefano  Fiorentino  beschreibt  und  unmittelbar  vor  seiner  Tätigkeit  in  Pistoja 
(1346)  ansetzt;  Rosini  meint,  das  beschriebene  Tabernakel  sei  ein  Fresko  gewesen  und  beim  Abbruch 
des  Pal.  Gianfigliazzi  am  Lungarno,  als  dort  Pal.  Corsini  gebaut  ward,  heruntergeschlagen.  Vasaris 
Beschreibung  sagt  aber  nichts  von  einem  Mauergemälde,  sondern  widerspricht  einem  solchen  eigentlich 
durch  die  Betonung  des  kleinen  Mafsstabes:  „un  tabernacolo  piccolo  in  un  canto  che  vi  e,  dove 
figurö  con  tal  diligenza  una  nostra  Donna,  alla  quäle,  mentre  ella  cuce,  un  fanciullo  vestito,  e  che 
siede,  porge  un  uccello,  che  per  piccolo  che  sia  il  lavoro  non  manco  merita  esser  lodato,  che  si 
faciano  l'opere  maggiori  e  da  lui  piü  maestrevolmente  lavorate".     Darnach  kann  die  Tafel  aus  dem 


1  No.   121.     H.  58  XB.  43. 

2  Schon  im  alten  Verzeichnis   140.     „Schule  des  Giotto,  zu  Ende  des   14.  Jhrhdrts." 

3  No.  58.  Holz,  Goldgrund,  aber  verschabt,  Tempera  H.  91  X  B.  52.  Vgl.  Rosini  II.  127.  Anm.  5.  Zwei  Über- 
malungen, eine  ältere  und  eine  neue,  die  sich  namentlich  in  den  Fleischpartieen  mit  rosa  Tönen  und  in  Gewändern  bemerkbar 
macht,  haben  die  ursprüngliche  Malerei  verändert,  aber  die  Umrisse  nicht  entstellt,  bis  auf  Wolkenstreifen  unter  den  Engeln. 


—    177    — 

Besitz  des  Ranieri  Grassi  ganz  einfach  das  Original  sein,  das  beim  Neubau  abgenommen  worden,  und 
der  Zustand  des  Bildes,  das  wie  vom  Regen  abgewaschen  aussieht,  spricht  fast  zwingend  für  längeren 
Aufenthalt  im  Freien,  wo  es  zuletzt  verwahrlost  jeder  Witterung  ausgesetzt  gewesen.  Sehr  bezeichnend 
ist  aber  Vasaris  gewundene  Beschreibung  des  Gegenstandes.  Das  Kind,  das  in  Hemd  und  Leibbinde 
auf  einem  Schemel  mit  Kissen  neben  der  Mutter  sitzt  und  ihr  das  Vögelchen  zeigt,  das  es  nach 
Kirschen  picken  lässt,  während  sie  beim  Nähen  eines  Röckchens  beschäftigt  ist,  —  wird  bei  ihm  zu  „un 
fanciuUo",  also  qualunque,  während  es  der  Christusknabe  sein  soll:  darüber  lässt  das  Paar  anbetender 
Engel,  die  mit  gekreuzten  Armen  über  ihm  daherschweben,  wie  die  Taube  des  heiligen  Geistes  unter 
dem  Scheitel  des  Spitzbogens  keinen  Zweifel.  Dazu  die  Unterschrift  in  goldgehöhten  Buchstaben 
SALUE  SANTA  PARENS.  Schon  dies  Genremotiv  hätte  wegen  der  Datierung  des  Bildes  um  die 
Mitte  des  XIV.  Jahrhunderts  dem  Ikonographen  die  stärksten  Bedenken  erwecken  sollen.  Die  Analyse 
des  Kunsthistorikers  kann  sie  nur  bestätigen  und  muss  Vasari  wie  Rosini  eines  starken  Irrtums  zeihen. 
Die  Komposition  gehört  bereits  dem  Anfang  des  Quattrocento ;  die  Wiedergabe  der  Räumlichkeit  wie 
die  Zeichnung  der  Figuren  darin,  selbst  die  Reste  der  ursprünglichen  Temperafarbe  zeugen  für  einen  Zeit- 
genossen des  Lorenzo  Ghiberti,  des  Masolino  und  Paolo  Uccello.  Bleibt  der  überlieferte  Name  „Stefano 
Fiorentino"  bestehen,  den  Vasari  fälschlich  mit  dem  angeblichen  Vater  des  Giottino  identificierte,  so 
gehört  dieser  Maler  in  eine  Reihe  mit  Paolo  de'  Stefani  (Fresco  in  S.  Miniato  al  Monte  1426)  und 
Rosselli  Jacopi  Franchi  (Altarwerk  mit  Krönung  Marias  1420  in  der  Akademie,  ein  anderes  ähnliches 
in  Chantilly,  wie  bei  Ch.  Fairfax  Murray  1439)   und  steht  dem  Niccolo   di  Pietro  Gerini  nicht  fern. 

Das  spätgotische  Gestühl  mit  vorspringender  Kehlung  unter  dem  Kranzgesims  zur  Rechten, 
mit  dem  drehbaren  Lesepult  zur  Seite,  der  hölzerne  Schemel  des  Knaben  und  die  Wandverkleidung 
dahinter,  wie  der  perspektivisch  quadrierte  Fussboden  beweisen  schon  fortgeschrittene  Bestrebungen, 
die  Körper  räumlich  auseinanderzusetzen,  und  stehen  mit  dem  Goldgrund  in  Widerspruch.  Die 
schwebenden  Engel  schiessen,  obwol  sie  bewundernd  zur  Maria  schauen,  so  eiligen  Fluges  schräg 
empor,  dass  wir  an  Lorenzo  Ghibertis  Kranzträger  an  der  Area  di  S.  Zanobi  erinnert  werden  und 
fast  eine  äusserliche  Nachbildung  des  feurigen  Engels  in  der  Vertreibung  aus  dem  Paradiese  auf 
Masaccios  Fresco  der  Cappella  Brancacci  vermuten.  Durchaus  Ghibertis  Gewandfiguren  steht  auch 
die  sitzende  Madonna  nahe,  deren  Bewegung  schon  „S.  Anna  selbdritt"  aus  S.  Ambrogio  in  der 
Akademie  zu  Florenz  überbietet.  Und  das  Kind  ist  wie  seine  Mutter  schon  den  Typen  des  Luca 
della  Robbia  verwandt,  wenn  auch  oberflächlich  gemalt  und  deshalb,  bei  den  Ansprüchen  an 
Wirklichkeitstreue,  die  das  Motiv  aus  der  Kinderstube  weckt,  doppelt  unbefriedigend. ' 

Zeitlich  Hesse  sich  demnach  dieser  Stefano  Fiorentino,  der  in  Pisa  gemalt  hat,  bis  auf  Weiteres 
am  ehesten  mit  dem  Schwiegersohn  des  Giuliano  Arrighi  genannt  Pesello,  also  dem  Vater  des 
Francesco  Pesellino  zusammenbringen;  aber  der  Name  kommt  ja  häufig  vor.  In  die  nämliche  Kategorie 
gehören  auch  in  Altenburg  einige  kleinere  Bilder  mit  der  thronenden  Madonna  und  Heiligen  herum, 
sowie  eine  Krönung  der  Jungfrau,  die  ebenso  oberflächlich  gemalt  sind,  aber  in  der  Akademie  zu 
Florenz  wie  in  kleinern  Sammlungen  sonst  ihre  Verwandten  finden. 


I  Maria  halb  lebensgross  trägt  ein  weisses  mit  goldnen  Sternen  und  Borten  besetztes  Kleid,  ein  weisses  Kopftuch  und 
blauen  Mantel;  der  Kittel,  an  dem  sie  näht,  ist  rosa.    Das  Kind  in  weissem  Hemd  mit  roter  Leibbinde.    Alle  Hände  zu  klein. 


QUATTROCENTISTEN 
Florentiner 

Ein  ungünstiges  Geschick,  das  uns  die  Werke  des  Gherardo  Starnina  und  des  Masolino  in 
Florenz  nicht  gegönnt  hat  und  die  Jugend  eines  Fra  Angelico  verdunkelt,  trägt  doch  nicht  allein 
die  Schuld,  dass  die  Anfänge  der  Quattrocento-Malerei  noch  immer  unvermittelt  und  rätselhaft  genug 
erscheinen.  Es  ist  auch  die  Abkehr  von  leeren  Wiederholungen  der  altgewordenen  Trecentokunst, 
die  Verdammung  der  Nachzügler  und  Letztlinge  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  die  noch  weit  in  das 


—     179 


folgende  hinein  reichen,  und  die  unwiderstehliche  Anziehungskraft  des  Neuen  zugleich  das  doppelte 
Hindernis,  den  allmählichen  Übergängen  nachzuspüren  und  geduldig  zu  beobachten,  wie  aus  vielen 
kleinen  Bächlein,  ja  spärlichen  Rinnsalen,  doch  erst  nach  einem  guten  Stück  Weges  der  Strom 
zusammen  wächst,  dem  wir  in  seinem  vollen  Lauf  mit  Freude  folgen. 

Wie  lange  noch  wird  man  Angelicos  Verkündigung  und  Marienleben  in  Cortona  für  Jugend- 
werke der  frühesten  Zeit  annehmen,  ohne  sich  zu  sagen,  dass 
die  perspektivische  Wiedergabe  von  Renaissancearchitektur 
vor  der  Rückkehr  in  den  Umkreis  Brunelleschis  ganz  undenk- 
bar wäre?  —  Es  ist  gewiss  ein  Irrtum,  ihn  vor  seinem  Eintritt 
ins  Kloster  schon  zum  ausgelernten  Künstler  zu  stempeln; 
aber  es  ist  schwer,  seine  Erstlinge  so  völlig  trecentistisch 
vorzustellen,  wie  sie  nach  streng  chronologischer  Rechnung 
ausgesehen  haben  müssen.  Die  Vorstellung  der  vollendeten 
Meisterwerke  spottet  noch  immer  der  ernstlich  historischen 
Bemühung  um  die  Vorstufen  und  hadert  wol  ob  vermeint- 
licher Blasphemie.  Hört  man  doch  von  Künstlern  wie 
Botticelli  und  Ghirlandajo  gelegentlich  immer  wieder  das 
Märchen,  sie  seien  eigentlich  fertige  Künstler  von  vornherein, 
die  am  Ende  ihrer  Laufbahn  die  selben  gewesen  wie  am 
Beginne! 

Für  eine  kleine  Sammlung,  wie  die  in  Altenburg,  ist 
es  allerdings  ein  Glück,  vollgültige  Proben  solcher  Maler  zu 
besitzen,  bei  Fra  Angelico  zumal,  dessen  Fortschritte  nur 
durch  ausgiebiges  Vergleichsmaterial  aus  allen  Jahrzehnten 
seiner  Wirksamkeit  ersichtlich  werden.  In  die  Zeit  seiner 
reinsten  Übereinstimmung  mit  sich  selbst  und  dem  religiösen 
Bedürfnis  seiner  Gemeinde,  gehören  die  vier  Stücke  seiner 
Hand,  die  Bernhard  v.  Lindenau  erworben.  „Die  Feuer- 
probe der  Franciskaner  vor  dem  Sultan"  war  offenbar  ein 
Bestandteil  der  nämlichen  Predella,  aus  der  in  Berlin  „die 
Verklärung  des  Franciscus"  und  „die  Heiligen  Franciscus  und 
Dominicus"  stammen,^  während  die  Komposition  andererseits 
dem  Münchener  Bildchen  mit  Cosmas  und  Damian  vor  Lysias 
verwandt  ist.  Wenn  der  Wert  dieser  „Feuerprobe"  gegen- 
wärtig durch  einen  Sprung  und  starken  Firniss  beeinträchtigt  wird,  so  erfreuen  dagegen  drei  einzelne 
Heiligengestalten ^  auf  Goldgrund,  die  wol  im  Rahmenwerk  eines  Altars  gesessen  haben,  durch 
unberührte  Schönheit  und  stille  Tiefe  der  Empfindung.    Nur  sie  waren  dem  ursprünglichen  Eigentümer 

I  No.   l66.     H.  27XB.  31   (die  Berliner  messen  26x31)  im  alten  Verzeichnis  als  Pesello. 
*  No.   120,  in  einem  Rahmen,  jedes  H.  39XB.  14  cm. 


der  Sammlung  als  Werke  des  frommen  Dominikaners  bekannt,  während  das  Predellenstück  infolge 
einer  irreführenden  Notiz  mit  Pesello  oder  Pesellino  in  Zusammenhang  gebracht  wird,  obgleich 
heutzutage  über  Fra  Giovanni  da  Fiesole  als  seinen  Urh-  uer  kein  Zweifel  auftauchen  kann. 

Der  Name  des  Francesco  Pesellino,  der  eine  Zeit  lang  unter  Fra  Filippo  gearbeitet  hat, 
führt  uns  weifer  zu  einem  andern  wichtigen  Besitz  in  Altenburg.  Giovanni  Morelli  berichtet  von 
einem  Bildchen  in  seiner  Sammlung,  das  als  früher  Pesellino  gelten  dürfe,  und  einen  hl.  Hieronymus 
als  Büsser  in  der  Einsamkeit  darstellt,  während  vorn  ein  Klosterbruder  mit  dem  Löwen  spielt,  im 
Hintergrund  oben  ein  Kirchlein  sichtbar  wird.'  Diese  Beschreibung  passt  ganz  genau  auf  eine 
Tafel,  die  das  alte  Verzeichnis  als  Paolo  Uccello  aufführt:  in  Wahrheit  aber  ein  Original  von  Fra 
Filippo  selber  ist.^  Auf  terrassenförmig  abgestuftem  Felsboden  kniet  halb  entblösst  der  kahlköpfige 
Greis,  das  bartlose  Antlitz  auf  den  Gekreuzigten  in  seiner  Hand  gerichtet,  während  die  Rechte  im 
Begriff  ist,  mit  einem  Stein  die  nackte  Brust  zu  schlagen.  Auf  der  Felsstufe  vor  ihm  liegt  ein 
Totenkopf,  aus  der  Hütte  hinter  dem  Büsser  guckt  sein  roter  Kardinalshut  hervor.  Im  Vordergrunde 
kauert  der  Löwe  und  erhebt  brüllend  die  Tatze  gegen  einen  Klosterbruder,  der  furchtlos  und 
selbstbewusst  genug  zur  Linken  sitzt  und  den  Löwen  mit  einem  Leckerbissen,  den  er  in  der  aufgestützten 
Faust  verbirgt,  eher  zu  necken  als  frommer  Übung  obzuliegen  oder  dem  Tiere  zu  helfen  bereit 
scheint.  In  der  Wahl  des  Schauplatzes  und  der  Einordnung  der  Figuren  in  die  steinichte  Umgebung, 
in  Typen  und  Zeichnung  steht  es  besonders  dem  Tod  S.  Bernhards  im  Dome  von  Prato  nahe.  Die 
Schilderung  der  Waldestiefe  mit  der  Geburt  des  Heilandes  darin,  wie  auf  dem  Altarstück  der  Cappella 
Medici  in  Berlin  oder  den  beiden  Wiederholungen  in  der  Florentiner  Akademie,  liegt  hinter  ihm. 
Aber  das  Problem  der  durchleuchteten  Schatten  ist  geblieben;  das  Bildchen  gehört  schon  zu  den 
eintönigen  Helldunkelversuchen,  die  ihm  auch  seine  Freskomalereien  getrübt  haben.  Ja  die  Figuren 
und  die  Landschaft  sind  in  ein  grünliches  Licht  getaucht,  wie  es  unter  breiten  Baumkronen  waltet, 
—  also  eigentlich  im  Widerspruch  zu  dieser  kahlen  Höhe,  der  Einöde,  wo  die  Vegetation  aufhört, 
unter  freiem  Himmel.  Aber  es  giebt  dem  Ganzen  seine  farbige  Einheit  und  löst  wie  ein  Duft  die 
scharf  gezeichneten  Formen  durch  weiche  Übergänge.  Neben  dem  Grau  der  Felsen  und  der 
Mönchskutte  kommt  fast  nur  das  Komplement  des  Tieftones  zur  Verwendung,  das  Rot,  im  abseits 
liegenden  Kardinalshut,  im  umgeschürzten  Mantel  und  endlich  im  Kirchlein  droben,  das  nur  dieser 
letzten  Abtönung  zuliebe  so  angestrichen  worden.  Sonst  nur  das  braungelbe  Fell  des  Löwen,  das 
Strohdach  auf  rohen  Stämmen  und  ein  paar  dunkelgrüne  Baumwipfel  zur  Seite. 

So  ist  das  Ganze  von  eigentümlich  romantischer  Stimmung  durchdrungen  und  zieht  auch  den 
Betrachter,  bei  aller  Naivetät  der  Darstellung,  in  diesen  Abendzauber.  Der  echt  malerische  Gedanke, 
der  das  Gegenständliche  bereits  unterwirft,  gewährt  uns  wertvollen  Aufschluss  über  Jahre  des  Strebens, 
die  über  jene  Periode  erster  Meisterschaft  hinausliegen.  Während  dort  im  Dienst  der  Medici  besonders 
eine  enge  Gemeinschaft  mit  Michelozzo,  dem  Architekten  des  Palastes,  überall  hervortritt,  wie  in  den 
Figuren  und  ihrer  Gewandung,  so  in  reicher  Perspektive,  bemerken  wir  nun  in  der  Gestaltung,  besonders 


"  Galerie  Doria  Panfili  p.  335.     Nur  das  Citat  aus  Vasari  IV,  183  ist  ungenau  und  irreführend,  da 
einen  Crucifixus  mit  S.  Girolamo  und  S.  Francesco  handelt. 
2  No.  76  H,  54  X  B.  37  cm. 


in  der  breiten,  ins  Schräge  gehenden  Formgebung,  der  Köpfe  zumal,  das  Vorbild  der  Reliefkunst 
Donatellos  während  der  fünfziger  Jahre. 

Wenn  äussere  Beziehungen,  die  sich  um  ein  Bild  ranken,  den  Wert  in  den  Augen  der  Liebhaber 
noch  erhöhen  können,  so  mag  auch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  dies  Kleinod  vor  dem  feinsinnigen 
Sammler,  der  es  hierher  gebracht,  schon  in  Florenz  einen  erlauchten  Besitzer  und  einen  Kenner  des 
Quattrocento  erfreut  hat.  Vasari  hebt  in  seinem  Leben  des  Fra  Filippo  wol  eben  dies  Original  des 
Meisters  hervor:  Ma  molto  meglio  (als  der  kurz  zuvor  erwähnte  hl.  Augustin,  „un  quadretto  piccolo" 
im  Besitz  des  Bernardo  Vecchietti)  e  un  Sant'  Jeronimo  in  penitenza,  della  medesima  grandezza  in 
guardaroba  del  Duca  Cosimo." 

Darnach  wäre  vielleicht  der  Pesellino  der  Sammlung  Morelli  mit  diesem  besonders  geschätzten 
Bildchen  Fra  Filippos  in  Beziehung  zu  setzen.  Francesco  Pesellino  ist  schon  1457,  F*"^  Filippo  1469 
gestorben.  Sein  Mitarbeiter  in  der  letzten  Zeit  zu  Prato  und  Spoleto,  wie  sein  nächster  Fortsetzer 
wird  Fra  Diamante,  dessen  eigene  ohne  Zweifel  ausgedehnte  Wirksamkeit  erst  allmählich,  mit  Hilfe 
der  abschliessenden  Bestandteile  des  Freskenschmuckes  in  Spoleto  und  der  Tafel  mit  der  Geburt 
Christi  im  Louvre,'  im  Umkreis  seiner  Nachbarn  deutlicher  heraustritt.  Eine  Auseinandersetzung 
zwischen  ihm  und  Sandro  Botticelli  auf  der  einen  und  Andrea  del  Verrocchio  und  dessen  Gehilfen 
Francesco  Botticini  auf  der  andern  Seite  wird  in  Kurzem  unvermeidlich  sein. 

Den  Namen  Sandro  Botticelli  müssen  wir  aus  vollster  Überzeugung  vor  einem  Porträt  in 
Altenburg  *  aussprechen,  das  den  Spezialforschern  entgangen  ist  und  im  alten  Verzeichnis  als  Domenico 
Ghirlandajo  gilt,  während  Crowe  und  Cavalcaselle  (III.  225)  zwischen  einem  „Nachfolger  des  Piero  della 
Francesca,  der  PoUajuoli  oder  des  Castagno"  schwanken,  weil  sie  es  jedenfalls  an  seinem  damaligen 
Standort  im  Polhof  nicht  genügend  sehen  konnten.  In  einem  schlichten  grauen  Fensterrahmen 
erscheint  die  Halbfigur  einer  Dame  bis  an  den  Einbogen  des  Armes  in  scharfem  Profil  nach  links 
gewandt,  wo  ein  zweites  Fenster  anstösst,  durch  das  sie  hinausblickt,  während  ihre  kräftige  Rechte 
sich  auf  ein  blaugrünes  Buch,  in  dem  sie  gelesen,  gegen  diese  Fensterbank  stützt.  Durch  ein  drittes 
Fenster  im  Hintergrund  wird  ein  Fluss  mit  einer  Brücke,  Pappelbäumen  auf  Wiesengrün  und  in  der 
Ferne  Mauern  und  Türme  einer  Stadt  sichtbar,  —  so  dass  Hals  und  Hinterkopf  mit  dem  hellen 
aschblonden  Haar  gegen  den  blauen  Himmel  stehen,  das  Antlitz  dagegen  sich  vom  dunkeln  Grunde 
der  Architekturteile  abhebt.  Eine  grosse  Linie  geht  von  der  vorgewölbten  Stirn  über  die  leicht- 
gebogene kräftig  heraustretende  Nase  zur  ebenso  entschieden  entwickelten  Mundpartie  und  dem  fest 
gebauten  Kinn,  und  das  gross  geschnittene  blaue  Auge  spricht  in  seinem  Blick  schon  für  einen 
durchdringenden  Geist.  Mit  Sorgfalt  sind  nur  die  blonden  Haare  —  offenbar  ein  Stolz  der  Herrin  — 
in  lockigen  Puffen  an  der  Schläfe  geordnet,  und  die  üppigen  Flechten  aufgesteckt,  sonst  Alles  schlicht. 
Das  lichtgrüne  Gewand  fällt  von  dem  frei  aufragenden  Halse  und  ziemlich  schmalen,  aber  starken 
Schultern  einfach,  in  wenigen  Falten  nieder,  nur  von  einem  rotvioletten  Kragen  eingefasst.    Aber  die 


'  Eine  Begründung  dieser  von  Schmarsow  herrührenden  Taufe  giebt  H.  Ulmann  in  seiner  Breslauer  Doktordissertation 
„Fra  Filippo  Lippi  und  Fra  Diamante  als  Lehrer  des  Sandro  Botticelli"   1890  p.  64. 

2  No.  79.  H.  81XB.  53.  Grossenteils  sorgfältig  und  geschickt  übergangen,  besonders  mit  rosa  Anflug  über  der 
gelbgrünlich  gewordenen  Karnation,  grünen  und  braunen  Architekturteilen. 


ganze  Haltung,  die  Linie  des  steilen  Nackens,  wie  der  Arme,  und  die  wuchtigen  Hände,  die  noch 
im  Spiel  der  Finger  die  Energie  jeder  Bewegung  verraten,  verkündet  das  stolze  Auftreten  einer 
Gebieterin,  die  noch  jung  und  lebhaft,  aber  fern  von  zarter  Weiblichkeit  und  milderem  Liebreiz,  mit 
verstandesklarem  Sinn  vielleicht  schon  überlegen  in  die  Welt  schaut.  Ein  Heiligenschein  von  durch- 
sichtigem Goldschimmer  will  uns  glauben  machen,  es  sei  hier  eine  Himmlische  gemeint,  aber  die 
mächtige  Individualität  straft  selbst  das  Attribut  der  Martyrpalme  Lügen  und  das  gezahnte  Rad,  auf 
dem  die  Linke  ruht.  Nur  der  Name  „Katharina"  bleibt  für  diese  bei  Lebzeiten  schon  vergötterte 
Persönlichkeit  übrig,  die  den  Maler  veranlasst  hat,  sie  selbst  als  ihre  Schutzpatronin  darzustellen. 

Und  fragen  wir  gespannt  weiter,  welcher  hohen  Frau  dies  grossartige  Profil  gehören  mag,  so 
gelangen  wir  mit  Hilfe  einer  bekannten  Medaille  zu  dem  vollen  Namen:  Catharina  Sforza-Riario.  Diese 
Medaille  ist  schon  in  späten  Tagen  gemacht,  da  sie  als  Witwe  des  Girolamo  Riario  und  Vormünderin 

ihres  Sohnes  Ottaviano  die  Regentschaft  von  Forli 
und  Imola  führte.  Aber  unter  dem  Schleier  selbst 
und  in  der  Fülle  der  kinderreichen  Mutter,  deren 
Büste  breit  geworden  und  im  Rund  der  Denkmünze 
sich  erst  recht  mit  dem  Kopf  zusammen  drängt, 
ist  das  charaktervolle  Profil  noch  das  nämliche 
geblieben,  und  diese  sichere  Urkunde  genügt, 
das  Frauenbild  in  Altenburg  als  ihr  Porträt  zu 
bestimmen.  ^ 

Darnach  aber  wäre  dies  Bildnis  in  der  Zeit 
ihres  ersten  Glanzes  als  junge  Gattin  des  päpstlichen 
Nepoten,  Girolamo  Riario,  gemacht  und  versetzte 
uns  nach  Rom  an  die  Kurie  Sixtus  IV.  Als 
illegitime  Tochter  des  Herzogs  Galeazzo  Maria  von 
Mailand  (nach  einigen  1457,  nach  Pasolini  um  1463)  geboren  und  später  von  ihm  anerkannt,  an 
seinem  Hofe  erzogen,  reichte  sie  1477  dem  Lieblingsneffen  des  Rovere  die  Hand,  und  müsste 
von  Sandro  Botticelli  gemalt  sein,  als  dieser  an  der  Sixtinischen  Kapelle  beschäftigt  war,  wol  noch 
vor  ihrem  Wegzug  in  die  neuerworbene  Herrschaft  Forli  1481. 

Dem  entspricht  auch  die  Besonderheit  des  Werkes  durchaus.  Durch  die  Grossheit  der  Formen- 
auffassung, besonders  durch  die  wuchtigen  fast  männlichen  Hände,  erweist  es  sich  als  Nachbar  des 
heiligen  Augustin  in  Ognisanti  von  1480,  und  einer  Reihe  monumentaler  Schöpfungen,  seien  dies 
Altartafeln  für  Kirchen  oder  Wandgemälde  wie  in  der  Sixtina.  Die  Umrisse  sind  mit  einschneidender 
Schärfe   gezeichnet,    die  Modellierung  bewegt  sich   dazwischen   in  grossen  Flächen,  und  die  gleiche 


I  Es  darf  neben  der  Medaille,  die  nach  Dennistoun  Memoirs  of  the  Dukes  of  Urbino  London  1851,  II  p.  243  hier 
mitgeteilt  wird,  und  einer  andern  bei  P.  D.  Pasolini,  Caterina  Sforza,  Roma  1893,  II  p.  28  hinzugefügten  als  das  einzige 
authentische  Bildnis,  direkt  nach  dem  Leben  angesehen  werden.  Das  Jugendbildnis  aus  Forli  bei  Pasolini  ist  durchaus 
apokryph;  die  späteren  dagegen  abgeleitete  Produkte  mit  Benutzung  der  Medaille  hergestellt.  Über  das  Fresko  in  S.  Girolamo 
zu  Forli,  vgl.  Schmarsow,  Melozzo. 


Einfachheit  der  Farben  verschmäht  den  intimeren  Reiz  der  Ausführung  ebenso.  Das  Ganze,  das 
allerdings  durch  Ausbleichen  entkräftet  und  verstimmt  ist,  bleibt  in  einer  gewissen  grauen  Blässe, 
besonders  die  Karnation  erscheint  blutleer  und  will  sich,  im  Widerspruch  zur  gesunden  Festigkeit 
der  Konstitution,  nicht  erwärmen.  Aber  eben  dieser  Zustand  wird  an  fast  allen  Arbeiten  Botticellis 
wahrgenommen  und  selbst  der  Eindruck  der  Leere,  den  seine  Wiedergabe  des  Lebens  in  solchem 
Mafsstab,  auch  hier,  dem  ausgeprägten  hidividuum  gegenüber,  hervorbringt,  stimmt  völlig  mit  den 
bekannten  Leistungen  jener  Jahre  überein.  •  Überzeugend  für  den  Namen  dieses  Meisters  sollte 
jedoch,  mit  Ausschluss  aller  Übrigen,  die  sonst  angesichts  des  Bildes  genannt  worden,  das 
künstlerische  Problem  wirken,  das  hier  vorliegt  und,  wie  in  einer  Reihe  anerkannter  Arbeiten 
Botticellis,  auch  in  dieser  Porträtfigur  verfolgt  ist.  Das  Beispiel  in  Altenburg  ist  nur  ein  Glied  aus 
einer  Kette. 

Es  genügt  ein  Blick  auf  die  Bildnisse,  besonders  der  weiblichen,  die  in  Ulmanns  Monographie 
vorgeführt  werden,  wie  z.  B.  das  bei  Mrs.  Jonides  in  Brighton  oder  das  der  fälschlich  so  genannten 
Simonetta  in  der  Pittigalerie,  wo  die  Halbfigur  ebenso  in  einen  Kasten  aus  Fensterwänden  oder 
TürötTnungen  hineingestellt  ist,  um  eine  wirksame  Beleuchtung  der  plastischen  Form  zu  erreichen, 
aber  auch  im  Eifer  der  perspektivischen  Konstruktion  dieser  Rahmenprofile  gar  mancher  Zusammenstoss 
tektonischer  und  organischer  Linien  mit  in  den  Kauf  genommen  wird.  Den  Verfolg  dieses  Problemes 
vom  einfachen  Anblick  einer  —  vielleicht  gar  in  Terracotta  modellierten  —  Büste  (wie  bei  einem 
Männerporträt  daselbst)  in  schlichter  Fensterhöhle  bis  zu  komplicierten  Einblicken  in  den  Winkel 
eines  Gemaches,  wo  Decke  und  Wände  zusammenstossen  oder  Durchblicken  durch  anstossende 
Räume  dazu,  stellen  aber  ausser  den  Bildnissen  auch  Madonnenkompositionen  vor  Augen,  die  bis 
zu  Fra  Filippos  Rundbild  in  Pal.  Pitti  mit  der  Geschichte  von  Joachim  und  Anna  hinter  Maria  mit 
dem  Kinde  und  auf  die  Gruppe  mit  Engeln  vor  dem  Fenster  in  den  Uffizien,  d.  h.  zum  künstlerischen 
Kapital  für  Sandros  frühestes  Schaffen  zurückreichen.  Die  Hereinnahme  der  ganzen  Figuren,  mit 
der  Bewegung  und  Ausdrucksfähigkeit  auch  der  untern  Hälfte,  bezeichnet  dann  ein  folgendes  Problem, 
zu  dem  das  Beispiel  der  Plastiker  wie  Pollajuolo  und  Verrocchio  hindrängen  musste.  Durch  die  spätem 
Lösungen,  sogar  im  Rundbild,  wird  Sandro  dann  der  Vorläufer  Signorellis  und  Michelangelos;  sie 
gehören  der  folgenden  Periode  nach  der  Rückkehr  aus  Rom,  und  hängen  nicht  selten  mit  den 
Anforderungen  zusammen,  die  Dantes  Visionen  an  den  Zeichner  gestellt  haben.  ^ 

Die  Gegenprobe,  dass  dieses  Frauenporträt  ein  eigenhändiges  Werk  Sandro  Botticellis  und 
nicht  Domenico  Ghirlandajo's  ist,  erleichtert  sich  durch  einen  Seitenblick  auf  das  geringe  Erzeugnis, 
das  von  einem  mittelmässigen  Nachfolger  des  Ghirlandajo  oder  richtiger  seines  Schwagers  Bastiano 
Mainardi  herrührt,  eine  hausbackene  Bürgerin  in  stumpfer  grauer  Tempera  ohne  Reiz. 


1  Es  wäre  also  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  gewohnte  Stilisierung,  die  seine  Formensprache  bei  selbsterfundenen 
Gestalten  aufweist,  auch  der  Wiedergabe  des  Individuellen  sich  aufgedrängt  habe,  und  z.  B.  in  der  Länge  des  Halses 
unbewusst  vom  Original  abgewichen  sei. 

2  Ulmann,  Sandro  Botticelli,  München  (Bruckmann  1893)  bringt  die  Principien  der  Komposition  nur  bei  der  Anbetung 
der  Könige  in  den  Uffizien  zur  Sprache  und  verliert  sie  nach  der  römischen  Zeit  aus  dem  Auge,  so  dass  für  die  spätere 
Tätigkeit  des  Meisters  die  treibenden  Kräfte  zu  fehlen  scheinen. 


S  i  e  n  e  s  e  n 

Versuchen  wir  darnach  an  der  Hand  der  Altenburger  Bilder  dem  Gange  des  Quattrocento 
auch  in  Siena  zu  folgen,  so  zeigt  sich  in  den  ersten  Jahrzehnten  die  durchgehende  Verwandtschaft. 
Wie  der  Sienese  Lorenzo  Monaco  in  Florenz  eine  ausgedehnte  Wirksamkeit  findet,  bis  Fra  Angelico 
da  Fiesole  ihn  ablöst,  so  arbeiten  am  Taufbrunnen  in  Siena  die  Florentiner  Lorenzo  Ghiberti  und 
Donatello  friedlich  neben  den  Sienesen  Turino  di  Sano  mit  den  Seinen  und  Jacopo  della  Quercia, 
ja  der  Letztere  erscheint  wol  gar  als  leidenschaftlichster  Vertreter  des  Fortschritts.  Und  in  der 
Malerei  wirkt  dort  wie  hier  ein  Fremder,  der  aus  Oberitalien  kommt  und  seinen  Weg  über  Florenz 
und  Siena  nach  Rom  nimmt:  der  Umbrer  Gentile  da  Fabriano. 

Bis  zu  seinem  Erscheinen  in  Siena  (1424 — 26)  hatte  der  Erbe  der  einheimischen  Überlieferung 
Taddeo  Bartoli  das  Feld  behauptet,  und  war  während  seines  Lebens  (f  1422)  der  eigentliche 
Träger  der  Malerkunst  in  der  Vaterstadt  und  Tonangeber  für  die  umbrischen  Nachbarn  gewesen. 
Von  ihm  besitzt  die  Sammlung  v.  Lindenau  die  Halbfigur  eines  segnenden  Christus  ganz  von  vorn 
gesehen,  der  ein  aufgeschlagenes  Buch  auf  den  vorderen  Rand  stützt,  um  die  Worte  „CdP©  fum 
uiam  (sie!)  uttita^  tt  uita  gui  tttiiit  inme  nan  amfiulat  in  tenefiti^  mi^efas  (sie)"  zu  zeigen.  Über 
die  blaue  Tunica  ist  ein  roter  Mantel  mit  gelber  Innenseite  geschlagen,  durch  Goldränder  eingefasst. 
Der  Typus  des  Gesichtes  mit  dem  glatten  in  der  Mitte  gescheitelten,  über  die  Ohren  und  auf  die 
Schulter  lockig  herabhängenden,  rötlichen  Haare  und  dem  kurzen  zweizipfeligen  Bart,  der  wie  ein 
spärlicher  Flaum  nur  die  untere  Hälfte  umgiebt,  erinnert  an  den  Christus  des  Andrea  Pisano  und 
seiner  Verwandten,  fällt  aber  durch  die  Breite  der  Backenknochen  auf,  neben  der  sowol  die  Augen 
mit  den  schmalen  sanft  geschwungenen  Brauen  wie  der  Mund  mit  seinen  zusammengezogenen  Lippen 
allzu  klein  erscheinen.  Mit  dem  grossen  Heiligenschein  in  der  Fläche  des  Goldgrundes  dahinter 
wirkt  das  Ganze,  trotz  der  Schrägansicht  des  Buches  und  der  segnenden  Rechten,  mehr  breitgedrückt 
als  körperhaft.  Das  oben  spitzbogig  geschlossene  Stück  war  jedenfalls  colmetto  eines  grösseren 
Altarwerkes,'  wie  am  Triptychon  mit  der  Verkündigung  in  der  Galerie  von  Siena. 

Wenn  schon  in  diesem  Christustypus,  leuchtet  noch  mehr  in  einer  Madonna  desselben  Meisters^ 
die  nahe  Beziehung  ein,  in  der  Gentile  da  Fabriano  selbst  zu  ihm  gestanden;  denn  an  sie  Hesse  sich 
unmittelbar  anknüpfen,  was  dieser  Umbrer  mit  reicheren  Mitteln  freilich,  die  er  inzwischen  anderweit 
erworben,  zwischen  Florenz  und  Rom,  sei  es  in  Pisa,  in  Siena  selbst,  oder  in  Orvieto  gemalt.  Maria 
sitzt  in  kauernder  Haltung  wie  auf  einem  Kissen  am  Boden;  ihr  weiter  dunkelblauer  Mantel  breitet 
sich  nach  beiden  Seiten  aus  und  verbirgt  uns  den  Sitz  wie  die  Haltung  des  Körpers;  nur  vorn  wird 
das  gelblich  grüne  golddurchwebte  Kleid  sichtbar  und  das  Kind  auf  ihrem  Schoss,  das  mit  ihrem 
Antlitz  die  Hauptsache  des  Ganzen  bildet.  Maria  trägt  auf  dem  Haupte  einen  weissen  Schleier,  der 
über  ihre  weichen  Wangen  herabfällt  und  eine  goldne  mit  Edelsteinen  verzierte  Krone,  ganz  ähnlich 
wie  auf  dem  bezeichneten  Altarwerk  der  Galerie  zu  Perugia  vom  Jahre  1403.  Das  Kind  ist  halb 
nackt,  unten   in  Windeln    und    ein    rotes  Tuch   eingewickelt,  aber  Brust  und  Arme  bleiben  frei.    Es 

I  No.  28  schon  im  alten  Verzeichnis  „wahrscheinlich  Taddeo  Bartoli." 
ä  No.  24  schon  im  alten  Verzeichnis  als  Taddeo  Bartoli. 


4 


-     185     - 

hält  in  der  Rechten  einen  Vogel,  legt  die  Linke  vor  den  Leib  und  schaut  in  rosiger  Gesundheit 
mit  dunkeln  kleinen  Augen  vergnüglich,  ohne  jeden  Anspruch  an  Bedeutung  in  die  Welt.  Nur  die 
roten  Cherubim,  die  ganz  nah  über  den  Schultern  der  Mutter  flattern  zeugen  neben  der  Krone  auf 
ihrem  Haupt  für  den  höheren  Zusammenhang,  und  nur  der  Goldgrund  hinten  wie  die  unbestimmte 
Allgemeinheit  des  rotbraunen  Fussbodens  vorn  beschränken  noch  die  wirklichkeitstreue  Entwicklung 
des  Genremotivs  von  Mutter  und  Kind  als  Mittelpunkt  ihrer  Welt  für  sich.  Mit  dieser  Hervorkehrung 
des  lebensvollen  Kerns,  dem  Mantel  und  Diadem,  Cherubflügel  und  Goldgrund  nur  als  Folie  oder 
Einfassung  dienen,  ist  aber  auch  der  Fortschritt  gegenüber  dem  Kirchenbild  zu  Perugia  im  Sinne 
der  neuen  Zeit  bezeichnet,  und  eben  dadurch  wird  es  zur  nächsten  Vorstufe  für  Gentile  da 
Fabriano,  dessen  leider  verlorene,  nur  in  Beschreibung  gerühmte  Madonna  von  Siena,  wir  am 
besten  im  Anschluss  an  diese  Leistung  Taddeo  Bartolis  vorstellen.  Durch  diesen  Vergleich  erst 
wird  der  Unterschied  des  Wandgemäldes  in  Orvieto  von  dem  Mittelstück  des  florentiner  Altar- 
werkes von  1425  und  der  kleinen,  ebenso  am  Boden  sitzenden  Madonna  des  Spitals  von  Pisa  recht 
verständlich. ' 

Die  folgenden  Quattrocentisten  Sienas  in  der  Altenburger  Sammlung  sind  von  Crowe  und 
Cavalcaselle  schon  ausführlicher  berücksichtigt  worden,  so  dass  es  mehr  darauf  ankommt  einige 
Irrtümer  zu  berichtigen,  die  sich  auch  in  Nachträgen  zum  IV.  Bande  der  Geschichte  der  italienischen 
Malerei  (deutsche  Ausgabe)  eingeschlichen  haben.  So  ist  die  Versicherung  eine  „Madonna  mit  Kind, 
Johannes  und  zwei  Engeln"  wie  sie  im  alten  Verzeichnis  (No.  73)  schon  mit  falscher  Einfügung  des 
Johannes  aufgeführt  steht,  „mit  Recht  dem  Giovanni  di  Paolo  zugeschrieben"  werde  (IV,  90. 
Anm.  104)  wol  zu  verbessern,  wie  hernach  gezeigt  werden  soll.  Dagegen  gehören  diesem  langlebigen, 
bis  1457  oder  gar  1482  beglaubigten  und  ziemlich  wandelbaren  Meister  zwei  Kreuzigungen  in  Quer- 
format, eine  grössere  (No.  30)  und  eine  etwas  reducierte  Komposition  (No.  33),  deren  Mittelgruppe 
als  selbständiges  Hochbild  in  Berlin  vorkommt.^  —  Eine  charakteristische  Eigenschaft  ist  der  kleinliche 
Zug,  der  in  subtiler  Behandlung  sowol  zeichnerischer  wie  farbiger  Elemente  der  Darstellung  besonders 
aber  des  Ausdrucks  selbst  über  die  Gränzen  des  Natürlichen  hinaus  Befriedigung  sucht.  Von  Miniatur 
und  Illustration  ausgehend,  sieht  er  seine  Figuren  nicht  in  Farben  und  Formen  der  Wirklichkeit 
sondern  in  konventioneller  Befangenheit  der  ererbten  Kunsttradition,  die  ihre  Verwandtschaft  mit 
den  Schriftzügen  nirgends  verläugnet,  und  bleibt  in  dem  Verfahren  von  Schwarz  oder  Rot  auf  Weiss 
oder  Gold  im  mehr  oder  minder  willkürlichen  Spiel  der  Polychromie.  Seine  Figuren  begnügen  sich 
gleich  Buchstaben  hier  mit  stiller  Zurückhaltung  in  engen  Gränzen  und  gradlinigem  Stande  oder 
greifen  dort  um  sich  gleich  den  Schnörkeln,  schlagen  über  die  Stränge,  wo  leerer  Raum  zu  füllen 
bleibt,  und  werden  aus  ornamentaler  Rücksicht  zum  Zerrbild  menschlicher  Wesen.  Aber  sie  behalten 
trotzdem  ihre  mimische  Bedeutung  und  geben,  auch  wo  sie  übertrieben  gesteigert  sind,  ein  Beispiel 

1  Bei  dieser  Gelegenheit  darf  auch  auf  eine  Madonna  der  Sammlung  Bartolini  .Salimbeni  in  Florenz  hingewiesen 
werden,  die  von  der  Gentileforschung  unbeachtet  geblieben. 

2  Im  erzbischöfl.  Museum  zu  Utrecht  findet  sich  (im  I  Zimmer  an  der  Wand  rechts  neben  dem  Kamin)  unter  der 
Bezeichnung  „Paolo  di  Neri  1342"  eine  Kreuzigung  ähnlicher  Art,  kl.  Breitbild,  das  nach  E.  Haenels  Mitteilung  sicher  dem 
Giovanni  di  Paolo  gehört. 


eigner  Art,  wie  mitten  in  den  Bestrebungen  des  Realismus  ein  uraltes  Kapital  des  Mittelalters  nach 
Mafsgabe  der  neuen  Ansprüche  ausgebeutet  wird,  —  und  offenbar  einen  grossen  Teil  des  Publikums 
befriedigt.  Die  Zahl  der  Arbeiten  jeden  Mafsstabes  in  Siena  beweist  wenigstens  für  die  Zahl  der 
Aufträge  dieses  seltsamen  Mannes,  der  fast  alle  Sünden  byzantinischer  Askese  und  verknöcherter 
Schematisierung  auf  sich  nimmt,  die  man  oströmischer  Kunst  nachsagt. 

Den  beiden,  im  Einzelnen  höchst  interessanten  Kreuzigungen  steht  noch  eine  kleine  Tafel 
nahe,  die  in  mancher  Beziehung  merkwürdig  ist.  Darauf  ist  unter  einer  längern  Inschrift^  ein  „Noli 
me  tangere"  dargestellt.  Links  steht  Christus,  den  weissen  goldgemusterten  Mantel  über  die  linke 
Schulter  geschlagen,  so  dass  der  Zipfel  hinten  nachflattert,  die  Kreuzfahne  in  der  Linken,  die  Rechte 
abwehrend  vorgestreckt;  denn  die  knieende  Magdalena,  in  rotem  Kleid  und  lose  herabfallenden 
blonden  Locken,  strebt  mit  beiden  Händen  zu  ihm  hin.  Die  beiden  Köpfe  sind  lang  gezogen,  die 
Gesichter  zart,  die  Brauen  hoch  geschwungen,  die  Gewänder  in  flache  gradlinige  Falten  mit  Zickzack- 
Enden  gelegt,  soweit  sie  nicht  unmittelbar  an  die  Körperform  anschliessen.  Ausserordentlich  naiv 
und  doch  überraschend  ausfühdich  ist  die  Landschaft:  den  Boden  bedeckt  dunkelgrünes  Gras,  in 
dem  in  gleichmässiger  Verteilung  hellgrüne  Büschel  eingesetzt  sind;  rechts  steht  ein  Orangen-,  links 
ein  Lorbeerbaum;  dahinter  dehnt  sich,  von  blauen  Bergen  umsäumt  eine  weite  Flur  mit  mathematisch 
abgezirkelten  Parcellen,  kleinen  Hügeln,  einzelnen  Bäumchen  und  Häusern  dazwischen.  Die  Freude 
an  der  perspektivischen  Wiedergabe  der  Gegenstände  ist  unverkennbar,  aber  in  dem  umfassenden 
Überblick  fällt  alles  zu  winzig  aus  und  erscheint  wie  Spielzeug,  aus  einer  Nürnberger  Schachtel 
aufgebaut,  ohne  Verhältnis  zu  den  Figuren  darin,  vor  allen  Dingen  ohne  Vermittlung. 

Nach  Anlage,  Komposition  und  Detailbehandlung  gehört  dies  Bild  demselben  Meister,  von 
dem  aus  englischem  Privatbesitz  vier  Predellenstücke  mit  Geschichten  Johannes  des  Täufers  in 
New  Gallery  Exhibition  London  1893/94  ausgestellt  waren.  Ist  schon  die  Gestaltenbildung  und  die 
Durchführung  des  Gesichtstypus  dieselbe,  so  beweist  daneben  besonders  die  Eigenart  der  Landschaft 
für  das  besondre  Streben  einer  bestimmten  Person.  Wenn  wir  diese  Darstellungen  dem  Giovanni 
di  Paolo  zusprechen  dürfen,  —  und  die  Ähnlichkeit  mit  den  sichern  Werken,  der  Darbringung  im 
Tempel  in  Siena  (No.  236)  z.  B.  ist  eine  ganz  hervorragende  —  so  hätten  wir  mit  dem  Altenburger 
Stück  eine  wertvolle  kleine  Tafel  gewonnen,  die  ebenso  die  nahe  Beziehung  zu  den  Reliefs  am 
Taufbrunnen,  namentlich  der  Taufe  Christi  von  Lorenzo  Ghiberti,  bezeugt  wie  die  Johanneslegende 
in  England.  Und  diese  ganze  Gruppe  wird  wichtig  besonders  wegen  der  perspektivischen  Bemühung 
um  die  Wiedergabe  des  Lmenraumes  wie  der  Landschaft,  durch  die  er  sich  vorteilhaft  vor  andern 
Zeitgenossen  unterscheidet.^ 

Zu  diesen  Künstlern  muss  auch  Sano  di  Pietro  (c.  1400 — 1481)  gerechnet  werden,  einer 
der  bessern  Schüler  Sassettas,  der  seinem  Stil  nach  zwischen  diesem  und  Vecchietta  vermittelt. 
Sonst  hat  er  am  meisten  Verwandtschaft  mit  umbrischen  Künstlern,  die  von  Benozzo  Gozzoli  gelernt, 
wie  Pier  Antonio  Mezzastris   und  Konsorten,  d.  h.    er  ist  in   schnellfertiger  Flächendekoration  geübt 

1  No.  49.  Wir  überlassen  die  Inschrift  in  got.  Majuskel,  in  der  die  Jahreszahl  MCCCC  vorkommt,  dem  Katalog 
ebenso,  wie  die  Erörterung  der  Frage,  wie  weit  hier  ein  Kalenderbild  vorliegt. 

2  Vgl.  hierzu  auch  die  Sano  di  Pietro  zugeschriebene  Vision  des  hl.  Franz  in  ChantiUy. 


und  verfolgt  keine  Gedanken,  sei  es  an  Wahrheit  und  Wirklichkeitstreue,  sei  es  an  Ausdruck  und 
Beziehungsreichtum,  die  diesem  bequemen  Verfahren  in  Fresko  oder  Tempera  beschwerlich  fallen 
könnten.  Die  Köpfe  seiner  Figuren  sind  leicht  kenntlich  an  dem  weichen  lockigen  blonden  Haar 
und  den  grossen  scharf  umrissenen  braunen  Augen,  die  eigentümlich  aus  dem  rosig  angehauchten 
zarten  Gesicht  herausschauen.  Diesen  Typus  der  BocüJtig  weisen  zwei  kleinere  Madonnenbilder  in 
Altenburg  auf  (No.  38  und  50).  Auf  beiden  findet  sich  Maria  in  etwa  dreiviertel  Lebensgrösse  als 
Halbfigur  das  Kind  auf  dem  Schofs,  in  zärtlicher  Umschlingung,  umgeben  von  jugendlichen  Engel- 
paaren und  Heiligen.  Die  Übereinstimmung  mit  Werken  wie  die  Krönung  der  Maria  in  der  Galerie 
in  Siena  ist  schlagend.  In  erhöhtem  Mafse  kehren  die  Eigenschaften  wieder  in  dem  kleinen  Brustbild 
der  Madonna  (No.  51),  während  grade  das  von  Crowe  und  Cavalcaselle  hervorgehobene  Stück 
verwandter  Art,  (No.  73)  dagegen  abfällt,  aber  nicht  als  Giovanni  di  Paolo,  sondern  als  AteHerwerk 
des  Sano  di  Pietro  bezeichnet  werden  darf. 

Auf  der  Höhe  seiner  Kunst  zeigen  diesen  Meister  selbst  wieder  zwei  kleine  Tafeln  in  Querformat, 
die  ihren  völlig  gleichen  Mafsen  nach  (31x47)  wol  als  Gegenstücke  gedacht  sind,  d.  h.  zu  einer 
Predella  gehört  haben:  die  Eine  stellt  den  Besuch  Marias  bei  Elisabeth,  die  Andre  ihre  Himmelfahrt 
dar.  Auf  dem  ersten  Bilde  werden  wir  mitten  in  die  Strasse  einer  phantastischen  Stadt  geführt, 
rechts  und  links  ragen  prächtige  Gebäude  empor  mit  Loggien,  Pilastern  und  Säulen,  mit  dem  bunten 
Material  des  Steins  mischt  sich  das  Grün  von  Orangen  und  Cypressen;  eine  stolze  Kuppel  weist 
auf  die  Nähe  des  Tempels,  während  ein  Pfau  auf  der  Brüstung  einer  festlich  heitern  Halle  nur  als 
Prunkstück  aus  der  Villa  hergekommen  scheint.  Das  Alles  ist  mit  voller  Verwertung  der  Renaissance- 
formen und  geschickter  Perspektive  vorgeführt,  wie  in  den  Wandgemälden  des  Spedale  della  Scala 
von  Domenico  Bartoli  und  seinen  Genossen.  Und  anmutig  genug  entfaltet  sich  in  dieser  Umgebung 
der  Auftritt,  der  geschildert  werden  soll.  Von  links  ist  Maria,  begleitet  von  drei  Paaren  junger 
Mädchen  herangeschritten.  Nun  kommen  ihr  aus  dem  Hause  Elisabeth  und  Zacharias  mit  einem 
Gefolge  von  sechs  Frauen,  deren  Eine  einen  Knaben  führt,  entgegen,  und  die  Begrüssung  vollzieht 
sich  mit  sprechenden  Gebärden  vor  dem  Grunde  einer  zinnenbekrönten  Mauer.  —  Die  nämlichen 
schlanken  und  biegsamen  Gestalten  mit  etwas  schweren  Köpfen  begegnen  in  der  Himmelfahrt,  die 
das  alte  Schema  der  Komposition  etwas  gewaltsam  auch  in  niedrigem  Breitbild  wiederholt,  — 
besonders  in  den  zweimal  neun  Engeln,  die  Maria  begleiten.  Statt  des  blauen  Himmels  ist  hier 
auch   der  Goldgrund  beibehalten. 

Da  sind  wir  ganz  nahe  bei  einem  Nachfolger  Benvenuto  di  Giovanni,  der  endlich  zur 
voll  ausgeprägten  Generation  des  Quattrocento  gehört  wie  Matteo  di  Giovanni  und  Guidoccio 
Cozzarelli,  die  allesamt  hier  ebenso  zu  finden  sind,  wie  die  nächsten  Verwandten  des  Cecco 
di  Giorgio  mit  seinen  langen  Gestalten,  die  zwischen  Pollajuolo  und  Botticelli  in  der  Mitte,  doch 
ihr  echt  sienesisches  Wesen  behaupten  und  so  vorbildlich  geworden  sind  für  die  heimischen  Maler 
bis  in  Peruzzis  Zeit. 

Auch  diese  Gruppe  lässt  deutlich  das  Auftreten  Gentiles  da  Fabriano  als  Zeitpunkt  für  den 
Beginn  der  Umwandlung  erkennen.  Da  ist  eine  kleine  Anbetung  der  Könige,  die  vom  alten  Verzeichnis 
dem  Peruginer  Benedetto  Buonfigli  zugeschrieben  wird,  aber  dem  erstgenannten  Sienesen,  Benvenuto 


di  Giovanni  gehört.'  In  der  Anordnung  des  Bildes  offenbart  sich  trotz  der  Zusammendrängung  ins 
Hochformat  von  geringen  Dimensionen  das  Vorbild,  Gentiles  Anbetung  für  Palla  Strozzi  von  1423,  ebenso 
wie  in  dem  kleinen  Quaderbau  zur  Linken,  der  Höhle  für  Ochs  und  Esel,  dem  liegenden  Jagdhund 
vor  den  Pferden  rechts,  dem  Auftreten  der  Affen  im  Sattel,  und  der  Landschaft  über  den  Orangen- 
bäumen. Selbst  der  goldne  Stern  ist  in  Relief  gegeben.  Die  Typen  der  schlanken  Figürchen  mit 
grossen  Köpfen,  schwerer,  meist  aschblonder  Perrücke  bezeugen  aber  den  genannten  Sienesen,  dessen 
Madonna  mit  ihrem  langen  Oberkörper  und  ihren  schmalen  Schultern  ebenso  wie  die  hellblonden 
Begleiterinnen  dahinter  von  Cecco  di  Giorgio  herstammen,  während  seine  stumpfe,  überall  ins  Gräuliche 
fallende  Tempera  sich  wenig  zum  Farbenglanz  Gentiles  eignen  will.  Die  Unsicherheit  im  Mafsstab 
der  Figuren,  die  lange  Maria  und  die  kurzen  Pferdchen  sprechen  wie  die  Nachahmung  selbst  noch 
für  ein  frühes  Stadium  im  Gange  dieses  Malers.  Mit  seinem  Namen  muss  auch  ein  Triptychon 
verbunden  werden,  das  in  der  Mitte  die  Halbfigur  der  Madonna,  auf  den  Flügeln  die  S.  Vittores 
und  S.  Girolamos  darstellt,^  —  und  in  manchen  Dingen  Anklänge  an  ferraresische  Ouattrocentisten 
aufweist,  wie  auch  andre  Werke  seiner  Hand. 

Sein  Nachbar  Matteo  di  Giovanni  (1435 — 1495)  ist  durch  drei  Stücke  eines  Altarwerkes 
aus  bester  Meisterschaft  vertreten,  deren  grösstes  im  alten  Verzeichnis  seltsamer  Weise  als  Schule 
des  Fra  Giov.  Angelico  geführt  wird. 3  Es  ist  die  Einzelgestalt  des  hl.  Nicolaus  von  Bari,  in  reichem 
farbenprächtigem  Ornat,  und  die  kleineren  Figuren  eines  andern  graubärtigen  Bischofs  (S.  Savino?) 
und  des  Vincenzo  Ferren,  beide  in  rundbogiger  mit  Marmorinkrustation  geschmückter  Nische,  — 
Beispiele  von  männlich  ernstem  Charakter,  fast  ferraresischer  Energie  und  trefflicher  Erhaltung, 
besonders  des  verkannten  Hauptstückes. 

Dem  Guidoccio  Cozzarelli  dagegen,  der  zuweilen  mit  ihm  verwechselt  wird  (wie  z.  B.  auch 
in  einer  Madonna  der  New  Gallery  Exhibition,  London  1893/4),  möchten  wir  ein  Breitbild  mit  der 
Beweinung  Christi-*  beimessen,  das  bisher  als  florentinische  Schule  des  15.  Jh.  angesehen  wird, 
während  dem  Cecco  di  Giorgio  Martini  eine  thronende  Madonna  mit  der  heiligen  Katharina  und 
einem  durch  Unterschrift  ausdrücklich  als  „Gerardo"  benannten  Franciskaner,  ganz  nahe  steht,  deren 
augenblicklicher  Zustand  nur  einen  Hinweis  auf  die  kleinen  Geschichten  S.  Bernhardins  in  der  Opera 
del  Duomo  zu  Siena  gestattet. s  Durchaus  architektonisch  gedacht,  auf  schlichtem  Thronbau  mit  ein 
Paar  abenteuerlichen  Auswüchsen  an  den  Anten  der  Nische,  die  langgestreckten  und  doch  wuchtigen 
Gestalten,    die    so    bestimmt    schon    als   Vorläufer    der    Frauen    des    Baldassare    Peruzzi  erscheinen. 

Beschränken  wir  uns  damit  auf  das  Wichtigste,  sei  es  durch  den  künstlerischen  Wert,  sei  es 
durch  das  kunsthistorische  Interesse  Hervorragende,  so  mag  hier  das  Rundbild  eines  Sienesischen 
Meisters  aus  dem  16.  Jahrhundert  den  Beschluss  bilden:  eine  heilige  Familie,  die  im  alten  Verzeichnis 


1  No.   165.  H.  56  X  B.  40. 
^  No.   155-  H.  37  X  B.  43- 

3  No.  130.  (H.  42XB.  23)  „Schule  des  Fra  Angelico"  und  13.  14.  (H.  36XB.  17.)  „Schule  des  Matteo  di  Giovanni." 
Vgl.  No.  21. 

4  No.  81. 

5  No.  90.  „wahrscheinlich  von  Gentile  da  Fabriano."    H.  86xB.  43  mit  Giebelrahmen,  Hauptbild  47X33-    Durch 
Restauration  verschleiert,  S.  Katharina  übermalt. 


dem  Francesco  Mazzuoli,  genannt  il  Parmigianino  beigelegt/  aber  schon  von  Hofrat  H.  W.  Schulz 
als  ein  Werk  des  Domenico  Be  ccafumi  erkannt  worden  ist,  dem  es  zweifellos  gehört,  und  dessen 
Vollreife  Blütezeit  es  charakteristisch  mit  ihren  Vorzügen  wie  ihren  Mängeln  kennzeichnet. 

U  m  b  r  e  r 

Nach  der  florentinischen  und  sienesischen  Schule  will  die  Sammlung  v.  Lindenau,  wie  ihr 
Stifter  erklärt,  womöglich  auch  die  umbrische  Schule  im  Überblick  über  ihre  Entwicklung  vorführen. 
Nachdem  wir  aber  in  einem  Trecentisten  wie  Allegretto  Nuzi  nur  den  Schüler  Taddeo  Gaddis 
erkennen,  und  keinen  Gentile  da  Fabriano  als  Vertreter  der  eigenen  Bestrebungen  Umbriens  am 
Übergang  ins  Quattrocento  gefunden  haben,  mussten  wir  einen  vermeintlichen  Benedetto  Buonfigli 
vielmehr  für  Siena  in  Anspruch  nehmen.  Dagegen  besitzt  die  Galerie  eine  Madonna  von  Matteo 
da  Gualdo  ^  und  zwei  kl.  Heilige  von  Pierantonio  Mezzaftris.^  Zu  den  ausgemachten  Quattrocentisten 
gehört  zuerst  der  zwischen  Florenz  und  Perugia  soviel  ernstlicher  vermittelnde  Meister  Fiorenzo  di 
Lorenzo,  der  in  der  Werkstatt  des  Andrea  del  Verrochio  sein  Bestes  gelernt  hat.  Von  ihm  besitzt 
die  Altenburger  Galerie  zwei  grosse  wolerhaltene  Tafeln,  die  einst  als  Flügel  zu  einem  Altarvverk  von 
sicherster  Ausführung  aus  der  reifsten  Zeit  gehört  haben.  Es  sind  die  beiden  Einzelfiguren  Johannes 
des  Täufers  und  der  Magdalena,  die  der  alte  Katalog  irrtümlich  allerdings,  aber  nicht  ohne  guten 
Sinn  dem  Verrocchio  beigemessen  hat."*  Die  Gestalten  stehen  auf  marmoriertem  Boden  gegen 
Goldgrund  (eine  davor  gemalte  Spitzbogenarkade  deckt  nur  die  weggebrochene  Einfassung  des 
alten  Rahmens  in  diskreter  Weise  mit  grauer  Steinfarbe  zu).  —  Johannes  in  härenem  Gewand,  über 
das  er  den  karminroten,  grüngefütterten  Mantel  geschlagen,  weist  mit  der  Rechten  nach  der  andern 
Seite  hinüber,  —  so  dass  wir  „das  Lamm  Gottes"  an  seiner  Linken  zu  denken  haben.  In  dem  linken 
Arm  lehnt  ein  langer  krystallener  Kreuzstab,  während  die  Hand  das  emporwehende  Schriftband  mit  den 
Worten  ECCE  •  AGNVS  •  DEI  •  hält.  Magdalena  ist  reich  gekleidet;  sie  trägt  ein  grünes  Untergewand 
mit  Ärmeln  aus  lila  Goldbrokat  über  das  ein  ziegelroter,  innen  blaugrüner  Mantel  geschlagen  ist, 
während  über  beide  Schultern  das  blonde  Lockenhaar  in  langen  Wellen  herabfällt.  Sie  ist  im  Begriff 
die  Salbbüchse,  die  sie  in  der  Linken  hält,  mit  den  Fingern  der  Rechten  zu  öffnen,  die  so  die  eigen- 
tümliche Haltung  von  gespreizter  Zierlichkeit  annehmen,  die  dem  Meister  besonders  lieb  war,  und 
schon  bei  seiner  hl.  Mustiola  mit  dem  Ringe  Marias  auf  einem  früheren  Altarwerk  in  Perugia  vorkommt. 

Die  scharf  umrissene  Zeichnung  der  Formen  mit  stärker  Betonung  des  Knochengerüstes  wie 
der  Muskellagen  und  Aderzüge  zeigt  den  Maler  ebenso  in  unmittelbarer  Gemeinschaft  mit  dem 
Bildner  Verrocchio,  wie  die  wulstige  tiefgefurchte  Faltengebung  der  Doppelstoffe.  Beides  bewahrt 
wie  das  zottige  Haar  und  Fellkleid  des  abgezehrten  Täufers  einen  merkbaren  Überrest  vom  metallischen 
Charakter  der  Arbeit,    als  ob  sie  ursprünglich  für  die  Ausführung  in  Bronzeguss  gedacht  wäre.    Bei 

I  No.  125.  Durchmesser  92  cm.  in  altem  reichgeschnitzten  Rahmen.  Der  Kopf  des  Kindes  übermalt  mit  rosiger 
Farbe,  die  zu  den  gelblich  gewordenen  Gesichtern  ringsum  nicht  stiinmt.      Ein  geringes  Atelierstück  ist    dagegen  No.   124. 


4  No.  116  u.   117.     H.   121 XB.  42,    unten    etwas    beschnitten.     Beide    erscheinen   im   Jahrg: 
historischen  Gesellschaft  für  photogr.  Publikationen.      . 


—      IQO      — 

dem  wettergebräunten  Täufer  fallt  die  Verwandtschaft  mit  Verrocchios  Christus  an  Orsanmichele 
natürlich  erst  recht  auf,  während  andrerseits  der  üppige  Frauenkopf  Magdalenens  durch  die  herbe 
Betonung  fester  Form  in  Nase,  Kinn  und  Lippen  gar,  den  strengeren  Charakter  der  geläuterten 
Hingebung  erhält.  In  der  farbigen  Durchführung  dagegen  macht  sich  der  umbrische  Geschmack  des 
Meisters  ebenso  woltuend  fühlbar,  wie  in  der  wunderbaren  kleinen  Madonna  der  Sammlung  Castellani 
und  dem  weicheren  Bilde  im  Städelschen  Institut  in  Frankfurt  a/Main,  das  wol  im  Atelier  des 
Florentiners  selbst  entstanden  sein  mag.  Besonders  glücklich  ist  bei  Magdalena  der  Farbenaccord 
violett,  grün,  rot,  mit  dem  Goldgrunde  zu  einheitlicher  Tonart  gestimmt. 

Am  nächsten  kommt  den  Altenburger  Stücken  unter  allen  bekannten  Werken  des  Fiorenzo 
di  Lorenzo  wol  die  Madonna  mit  dem  Kinde  in  der  Berliner  Galerie  vom  Jahre  1481.  Formengebung, 
Zeichnung  und  vor  Allem  auch  die  Färbung  zeigen  die  engsten  Beziehungen;  nur  ist  der  Zustand 
einer  fast  tadellosen  Erhaltung  hier  bei  dem  Vergleich  mit  der  vielfach  gereinigten  Tafel  in  Berlin 
gebührend  zu  berücksichtigen.  Nimmt  man  nun  aber  die  Übereinstimmung  auch  in  Nebendingen, 
wie  der  Inschrift,  wahr,  die  Anordnung  auf  marmoriertem  Grunde,  und  namentlich  die  Einheit  des 
Mafsstabes,  —  so  kommt  man  wol  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  zu  der  Annahme,  dass  die 
Berliner  Madonna  aus  der  Sammlung  Solly  nichts  Anderes  sei,  als  das  Mittelstück  zu  dem  nämlichen 
Altarwerke,  dessen  Seitenflügel,  ein  wenig  niedriger  und  schmäler  als  das  Hauptbild  wie  es  damals 
üblich  war,  sich  hier  in  Altenburg  befinden.' 

Ausser  diesen  bedeutenden  Flügelbildern  grossen  Formates  besitzt  die  Galerie  noch  ein  kleines 
Bild  von  Fiorenzo,  auf  dem  in  abgerundeter  Komposition  Gottvater  mit  der  Weltkugel  umgeben  von 
einem  Engelkranz  dargestellt  ist.  Die  Taube,  die  darunter  schwebt,  besagt,  dass  das  Stück  oben 
im  Rahmenwerk  eines  Altars  gesessen,  dessen  Hauptbild  entweder  die  Taufe  Christi  oder  eine 
thronende  Madonna  enthielt.^  Die  Zeichnung  hat  durchaus  den  Charakter  des  Meisters,  die  routinierte 
Durchführung  besonders  in  bunter  flacher  Farbe  weist  dies  Beispiel  jedoch  in  die  späte  Zeit  seines 
Lebens,  wo  Perugino  und  besonders  Pinturicchio  schon  ihren  nachbarlichen  Einfluss  ausüben. 

Dagegen  reiht  sich  unmittelbar  an  seine  sorgsamen  Werke,  die  wir  in  den  achtziger  Jahren 
zur  Vollendung  gedeihen  sehen,  die  Arbeit  eines  römischen  Kunstgenossen,  der  mit  Fiorenzo  di 
Lorenzo  einerseits  und  mit  Domenico  Ghirlandajo  andrerseits  in  einem  Zusammenhang  steht,  der 
sich  nur  durch  persönliche  Gemeinschaft  erklären  lässt:  es  ist  die  Halbfigur  einer  Madonna  mit  dem 
nackten  Kind  auf  dem  Arm,  in  warmer  dunkler  Färbung  gegen  den  zierlich  geschmückten  Goldgrund 
gesetzt, 3  das  im  alten  Verzeichnis  schon  dem  Fiorenzo  di  Lorenzo  beigemessen,  dem  Antoniasso 
Romano  zurückgegeben  werden  muss,  und  zwar  auf  Grund  des  ebenso  sorgfältig  und  warm  auf 
Goldgrund  ausgeführten  Bildes,  das  die  Compagnia  dell'  Annunziata  auf  ihrem  Altar  in  S.  M.  sopra 
Minerva  hat  machen  lassen.     Hier  malte  Domenico  Ghirlandajo  die  Kapelle  der  Tornabuoni  nebenan, 


1  Berlin.  K.  Museen  No.  129  misst  144x66  cm.  Es  hat  durch  Reinigung  den  warmen  Goldton  verloren,  der  die 
Altenburger  Tafeln  auszeichnet. 

2  Vgl.  hierzu  den  Gottvater  im  Cherubkranz  auf  dem  Altar  von  1487  in  der  Galerie  zu  Perugia.  Sonst  gehören 
der  Art  nach  mit  Fiorenzo  di  Lorenzo  noch  vier  geringe  Hochbilder  mit  Joh.  d.  Täufer,  Petrus,  Maria  und  Gabriel 
(No.  142—145)  zusammen. 

3  No.  147.     H.  49XBr.  36. 


—     191     — 

während  Fiorenzo  wenigstens  am  Tabernakel  des  Hochaltars  von  S.  Giovanni  in  Laterano  nach- 
weisbar ist.' 

Kommen  wir  damit  schon  in  die  Nachbarschaft  des  Bernardino  Pinturicchio  in  Rom,  so  führt 
uns  ein  Bild  von  Giovanni  Santi,  dem  Vater  Raphaels  nach  Urbino,  ins  ostumbrische  Kunst- 
gebiet hinauf.  Er  zeigt  uns^  in  einer  Hi.igellandschaft  die  Jungfrau  mit  dem  Kinde  auf  dem  Arm 
stehend,  während  von  links  die  kleine  Agnes  in  ärmlichem  Kleide,  den  Stab  im  Arm,  als  Hirten- 
mädchen naht,  das  auf  der  Wiese  ihre  Lämmerherde  gehütet,  und  rechts  der  hl.  Sebastian  nackt 
an  den  Baum  gebunden,  wie  er  auf  vielen  Bildern  des  Meisters  mehr  oder  minder  tüchtig  gegeben 
wird.  Der  dunkelfarbige  Zustand  des  Bildes  lässt  auf  Verwendung  von  Ol  schliessen;  er  kommt 
mit  der  nämlichen  Trübung  auch  auf  dem  Bilde  der  Visitation  in  S.  M.  delle  Grazie  zu  Fano 
vor,  dem  dies  allerdings  recht  unbedeutende,  aber  deshalb  doch  unzweifelhafte  Stück  auch  sonst 
nahe  steht. 

Nicht  erfreulicher  als  Raphaels  Vater  ist  auch  Raphaels  Lehrer  Pietro  Perugino  in  Altenburg 
vertreten,  obschon  die  Beispiele  bekannt  und  literarisch  beglaubigt  sind.  Zwei  Einzelgestalten  von 
Heiligen  stellen  die  Kaiserin  Helena  und  Antonius  von  Padua  vor,  sind  in  Tempera  gemalt,  aber 
das  erstere  stark  mit  Ol  übergangen.  Die  beiden  Flügel  wurden  in  Florenz  vom  Kunsthändler 
Metzger  erworben,  dessen  Sohn  die  beiden  noch  zugehörigen  S.  Lucia  und  Joh.  d.  Täufer  an  den 
Herzog  von  Meiningen  verkaufte. ^  Sie  stammen  aus  der  Kirche  der  SS.  Annunziata  und  schmückten 
die  Kapelle  de  Rabatta,  wo  sie  Vasari  neben  der  Himmelfahrt  Marias  beschreibt.  An  eben  diese 
Letztlinge  des  einst  gepriesenen  Peruginers  in  Florenz  knüpft  sich  die  Erzählung  vom  beissenden 
Spott  der  Florentiner,  der  ihn  in  seine  heimatliche  Provinz  zurücktrieb. 

Zahlreiche  kleine  Madonnen  geben  uns  daneben  mannichfaltige  Spielarten  der  umbrischen 
Schule  zwischen  Perugino  und  Pinturicchio t  oder  gar  Signorelli,  der  mit  einer  Reihe  trauriger 
Fragmente  eines  Altarwerkes  hier  vorkommt,  die  ihn  keinen  Augenblick  charakterisieren  können, 
obwol  sie  fast  zu  den  einzigen  Bildern  gehören,  die  bisher  als  Originale  in  Altenburg  von  unsern 
Reisebüchern  hervorgehoben  wurden. 


Zeigt  sich  schon  in  der  Landschaft  Giovanni  Santis  auf  dem  kleinen  Beispiel  hier,  wie  selbst 
auf  seinem  Fresko  in  Cagli,  der  Einfluss  niederländischer  Gemälde,  so  ist  das  Eindringen  dieser 
nordischen  Weise  in  noch  stärkerem  Mafs  immer  aufgefallen  bei  einigen  Neapolitanern,  die  man  so 


1  Vgl.  über  Antonatius  und  seine  Beziehungen  zu  andern  in  Rom  beschäftigten  Meistern,  sowie  über  Buonfiglis 
und  Fiorenzos  Arbeiten  daselbst  Schmarsow,  Melozzo  da  Forli,  Stuttgart   1886. 

2  No.  154.  H.  74 XB.  (2.  Im  alten  Verzeichnis  die  Xotiz:  „angeblich  von  Raphaels  Vater,  für  den  das  Bild  /u 
unbedeutend  ist,  —  wol  aus  der  Mark  Ancona."     Dagegen  fälschlich  ihm  zugeschrieben  No.  77. 

3  No.  u8  u.  119.  H.  162XB.  67.  Vgl.  Crowe  u.  Cavalcaselle  Nachträge  zu  Bd.  IV  p.  592  u.  p.  242  Anm.  Die 
Bestellung  nach  dem  Tode  des  Filippino  Lippi  1504  zur  Vollendung  einer  Kreuzabnahme  (in  der  Akademie  zu  Florenz) 
das  Hauptbild  der  Kapelle. 

4  Wir  heben  nur  eine  Madonna  von  Tiberio  d'Assisi,  und  eine  der  manieriertesten  Pinturicchioschule  hervor,  die 
im   alten  Verzeichnis  mit  niederländischer  Art  verwechselt  worden  ist. 


—      192      — 


gern    für   van    Eyck    oder   Rogier    van    der   Weyden    ausgiebt.      Selbst    in    Sicilien    sind    neuerdings 
altlioUändische  Spuren  erkannt  worden.' 

Hierher  gehören  auch  drei  grössere  Bestandteile  eines  Retablo  mit  der  Krönung  Marias  vor 
Gottvater,  und  die  Heiligen  Petrus  und  Paulus,  die  offenbar  H.  W.  Schulz,  der  Herausgeber  der 
Denkmale  Süditaliens  ganz  richtig  als  „Neapolitanische  Schule"  bestimmt  hat.  Bei  genauerer 
Untersuchung  hat  sich  auch  Jahreszahl  und  Monogramm  gefunden:  auf  dem  Gebetbuch  des  Paulus 
steht  neben  dem  Bibeltext  auf  einer  Seite  1488  /  DIE  14  /  OCTV  /  BER  /  dann  ein  aus  TFLR 
zusammengesetztes  Zeichen,  und  zwar  alle  übrigen  dem  Stamm  des  T  angefügt,  das  R  nur  in 
kleinerem  Mafsstab,  den  Mittelstrich  des  F  so  durchschneidend,  dass  auch  ein  A  noch  angenommen 

werden  könnte.  ^ 

Sonst  pflegen  wir  das  Eindringen  nor- 
discher Einflüsse  oder  die  nachbarliche  Ver- 
wandtschaft mit  germanischem  Wesen  eher,  in 
Oberitalien  zu  suchen.  Als  verhältnismässig 
frühes  Beispiel  dieser  Art,  das  man  zunächst  den 
Umkreis  Veronas  zuweisen  könnte,  wäre  ein 
kleines  Madonnenbild  zu  nennen,  das  auf  der 
Rückseite  in  gelben,  etwa  zollgrossen  Kapital- 
buchstaben auf  dunkelgrünem  Grunde  die  un- 
verdächtige Künstlerinschrift  trägt:  OPVS  / 
lOHANNIS,  in  der  die  Breite  des  merklich 
kleineren  O,  die  Verkürzung  des  zweiten  Vertikal- 
strichs am  H  und  die  Brechung  des  Horizontal- 
balkens im  A  beachtenswert  sind. 3  Auf  dem 
alten  Rahmen  sind  zwischen  dem  innern  Rund- 
stäbchen und  dem  äussern  Profil  vier  lange 
Blumenstengel  gemalt,  zwei  Kornblumen  und 
zwei  Pechnelken,  wie  locker  hingelegt  auf  dem 
Goldstreifen,  —  so  dass  wir  an  die  beliebten 
Randleisten  der  Miniaturmalerei,  besonders  während  der  Übergangszeit  im  Norden  erinnert  werden. 
]\Iit  diesem  Merkmal  verbindet  sich  der  Charakter  der  Madonna,  die  in  purpurrotem  hochgegürteten 
Kleid  und  grünem  goldgefütterten,  und  über  den  Kopfschleier  gezogenen  Mantel  den  nackten  Knaben 
sitzend  auf  der  Hand  hält,  während  sie  mit  dem  Zeigefinger  der  Rechten  seine  Brust  berührt.  Das 
kräftig  entwickelte  Bürschlein  von  etwas  eckigen  Gliedmafsen  streichelt  ihre  Wange  und  blickt  fröhlich 


1  Cicerone   1893  p.  646.  649. 

2  Nr.  97—99.  Dazu  die  Anmerkung:  „ein  andres  Bild  desselben  Meisters,  welches  früher  in  Sta  Restituta  war, 
befindet  sich  jetzt  im  Museo  Borbonico  zu  Neapel.  De'  Dominici,  der  lügenhafte  Erzähler  der  neapolitanischen  Kunst- 
geschichte, schreibt  dies  Bild  (I.  31)  einem  Filii^po  Thesauro  zu,  dessen  Existenz  zweifelhaft  ist". 

3  Nr.  5.  H.  25  XB.   18  cm.  Pappelhol/.     Im  alten  Verzeichnis  gänzlich  verkannt. 


—     193     — 

aus  den  hellen  Augen.  Sein  dicker  vollwangiger  Kopf  mit  struppigem  Haar  sitzt  etwas  unbeholfen  auf 
kurzem  Halse  und  bekommt  so  etwas  Bäurisches,  wie  die  Hände  mit  grossen  eckig  gebogenen  Fingern 
der  Mutter.  Die  Malerei  ist  dünn,  flüssig,  aber  der  Pinselstrich  hier  schräg  verlaufend,  dort  bogenförmig 
der  Form  folgend  überall  erkennbar,  die  Farben  saftig  und  ziemlich  tief,  die  Karnation  ins  Rötliche 
fallend.  Nehmen  wir  diese  Eigenschaften  zusammen,  so  leitet  besonders  der  Typus  der  Madonna, 
wie  die  breite  Form  des  Kindskopfes  zu  den  Übergangsmeistern  der  Frührenaissance  in  Verona,  in 
die  Nachbarschaft  des  Vittore  Pisano  und  des  Stefano  da  Zevio,  und  zeigt  Verwandtschaft  mit  den 
Wandgemälden  im  Chor  von  S.  Anastasia  neben  dem  Reiterdenkmal  Serego,  oder  mit  einer  lavierten 
Zeichnung  in  Paris,  der  Büste  eines  jungen  Mädchens  in  Profil,  die  sonst  Pisanello  genannt,  neuer- 
dings wol  irrtümlich  für  Altichiero  in  Anspruch  genommen  ist.  Beachten  wir  aber  nochmals  die 
kralligen  Finger  mit  gebrochenen  Gelenken,  die  Faltenzüge  und  die  Malweise  der  Gewänder,  so 
kommen  wir  darauf,  dass  dieser  Johannes  doch  wol  niemand  anders  sein  kann  als  Giovanni  di 
Paolo  von  Siena,    den  Vasari  schon   als  Schüler  des  Gentile   da   Fabriano   bezeichnet. 


Oberitaliener 

Von  der  andern  Seite  nähern  wir  uns  dem  Hauptsitz  des  ernsten  Quattrocento,  dem  gelehrten 
Padua  und  den  Bestrebungen  eines  Francesco  Squarcione  und  Jacopo  Bellini  mit  Andrea  Mantegna, 
dessen  Wirkungskreis  dann  über  Mantua  bis  gegen  Mailand  vorrückt, '  wenn  wir,  den  eigentlichen 
Charakter  der  ferraresisch-bolognesischen  Schule  zu  erfassen,  den  starken  Eindruck  vergegenwärtigen, 
den  die  Arbeit  eines  Rogier  van  der  Weyden  auf  die  einheimischen  Künstler  ausgeübt  haben  muss. 
Andre  Züge  freilich,  das  Gemeinsame  zwischen  diesen  und  Crivelli  von  Venedig,  oder  gar  florenti- 
nische  Vorbilder  müssen  wir  ins  Gedächtnis  rufen,  um  schliesslich  doch  den  ferraresischen  Ursprung 
eines  Bildes  zu  erkennen,  das  die  Altenburger  Sammlung  besitzt:  ein  breites  niedriges  Predellenstück 
mit  der  Geburt  Christi.  ^ 

In  der  Mitte  sieht  man  unter  dem  Dach  einer  zerfallenen  Hütte  die  Jungfrau  anbetend  vor 
dem  Kinde  knieen,  das  nackt  auf  dem  Boden  liegt,  während  Joseph  am  Pfosten  gegenüber  zusammen- 
gekauert hockt  und  Ochs  und  Esel  neugierig  aus  dem  Dunkel  hervorlugen.  Auf  beiden  Seiten 
erstreckt  sich  eine  öde  Landschaft,  wo  in  nächtlichem  Dunkel  links  ein  Engel  in  der  Luft  zwei 
Hirten  auf  die  Hütte  weist,  indess  rechts  ein  dritter  mit  seinem  Korb  herankommt. 

Auf  den  ersten  Blick  zeigt  sich  im  Charakter  ein  Unterschied  zwischen  Mitte  und  Seiten,  der 
vor  allem  farbig  sich  aufdrängt.  Rote,  blaue  und  gelbe  Töne  sind  drinnen  angeschlagen  und  heben 
sich  noch  auf  der  neutralen  Folie  des  grauen  Mauerwerks  der  Hütte.  Dem  gegenüber  sind  die 
Seiten  fast  monochrom  durchgeführt.  Nur  graue,  braune,  olivenfarbige  und  verwandte  Mitteltöne 
sind    zur  Verwendung    gekommen    und   in   ihnen   gleichermafsen  Landschaft  wie  Personen  gegeben. 


1  Als   eine   vielleicht   zeitgenössische  Wiederholung  von  Andrea  Mantegnas  Komposition  die  weder  die 
noch  seinem  Sohn  Francesco  zugeschrieben  werden  darf,  erscheint  Nr.   138. 

2  Vgl.  unsere  Abbildung  S.  195.     Auch  eine  Verkündigung  von  Galasso  Galassi  ist  hier  vorhanden. 

25 


—     194    — 

Ebenso  unterscheiden  sich  die  beiden  Teile  in  der  Art  der  Arbeit:  während  die  Mitte  verhältnis- 
mässig sauber  und  sorgfältig  ausgeführt  ist,  sind  die  Seiten  kaum  mehr  als  flüchtig  skizziert  und 
summarisch  hingepinselt.  Bei  dieser  Wertbemessung  waltet  aber  einheitliche  Absicht  und  erzeugt 
so  aus  beiden  Bestandteilen  ein  Neues. 

Fühlt  man  sich  bei  der  Mittelgruppe  an  Pesellino  erinnert,  beim  verkürzten  Engel  an  Masaccios 
kühne  Leistung  in  der  Brancaccikapelle,  so  dürfen  wir  als  unmittelbares  Vorbild  wol  am  ehesten  ein 
frühes  Werk  von  Fra  Filippo  vermuten.  Die  landschaftlichen  Teile  dagegen  haben  ausgesprochene 
Verwandtschaft  mit  der  Auffassung  eines  Jacopo  Bellini  und  der  Ausführung  des  Crivelli,  so  dass  wir 
sie  durchaus  als  oberitalienisch  bezeichnen  müssen.  Bei  all  dieser  Abhängigkeit  macht  sich  doch 
ein  eigner  Charakter  geltend,  der  in  solcher  Zusammenfassung  eines  farbig  leuchtenden  Kerns  mit 
seiner  nächtlich  unbestimmten  Umgebung  schon  sich  ausspricht.  Der  blaue  Mantel  Marias  weist  in 
seinem  Faltenzug,  seiner  Beleuchtung  und  seinem  Ton  ganz  bestimmt  auf  Ferrara,  in  die  Nähe  eines 
Cosimo  Tura,  und  die  summarische  Behandlung  der  Contadini,  die  ans  Burleske  streifen,  verrät  die 
Vorliebe  für  dörfliche  Derbheit  und  einen  gewissen  rustikanen  Humor,  der  die  rauhe  Aussenseite 
gerade  da  hervorkehrt,  wo  das  Gemüt  sich  mächtig  regt. '  So  vereinzelt,  als  Predellenstück,  lassen 
wir  dies  Mittelglied  zwischen  den  bezeichneten  Schulen  um  so  lieber  ohne  Namen,  als  es  jedenfalls 
den  eignen  Charakter  seines  Urhebers  noch  nicht  in  ausschliesslicher  Fassung  ausprägt,  und  geben 
die  Abbildung  bei. 

Eine  sehr  wichtige  Namensbestimmung  erlaubt  jedoch  eine  kleine  Tafel,  die  schon  im  alten 
Verzeichnis  der  Schule  nach  als  paduanisch  richtig  erkannt  worden.^  Es  stellt  die  Verlobung  der 
hl.  Katharina  mit  dem  Christusknaben  in  Gegenwart  des  alten  Joseph  inmitten  eines  kleinen  Gartens, 
dar,  der  schon  durch  ein  aufgemauertes  Blumenbeet  vorn  und  eine  Marmorbank,  auf  der  Maria  sitzt, 
zur  Seite,  sowie  durch  ein  breites  Portal  mit  geradem  Gebälk  aus  rotem  Veroneser  Stein  architek- 
tonisch bestimmt,  durch  eine  marmorne  Tempelfassade  nach  dem  Muster  antiker  Gräberbauten 
—  hier  als  Casa  Santa  di  Loreto  gedacht  —  vollends  strengen  Abschluss  erhält,  und  sowol  den 
ernsten  Charakter  der  gelehrten  Renaissance  in  Padua  als  den  engsten  Zusammenhang  mit  dem 
perspektivischen  Bestreben  der  rigorosen  Quattrocentisten  bekundet,  die  wir  mit  den  Namen  Francesco 
Squarcione  und  Andrea  Mantegna  in  Verbindung  denken.  Genauere  Vergleichung  mit  den  erhaltenen 
Beispielen  dieser  Künstlergenossenschaft  führt  aber  mit  aller  Bestimmtheit  auf  Ansuino  da  Forli,  der 
die  Predigt  des  heil.  Christophorus  vor  den  Kriegsknechten  in  der  Eremitani-Kapelle  mit  seinem 
Namen  bezeichnet  hat.  Es  ist  im  schulmässig  aufgebauten  Gerüst  der  Komposition  nur  ein  Spiegel- 
bild der  hier  vorliegenden  heiligen  Familie  im  Garten  des  Hauses.  Die  Übereinstimmung  der  Typen, 
der  Kopfstellungen,  der  Wiedergabe  der  Augen  und  sonstigen  Gesichtsteile,  wie  der  Gewandung 
leitet  aber  ebenso  zwingend  über  das  einzige  Wandbild  hinaus,  das  bisher,  an  der  Seite  des  Bono 
da  Ferrara,  für  Ansuino  vorhanden  schien,  und  beweist  die  Zugehörigkeit  der  beiden  oberen  Dar- 
stellungen im  Bogenfeld,  welche  die  Vorgeschichte  des  Christophorus  enthalten,  und  durch  dieselbe 


'  Vgl.  z.  B.  die  Anbetung  der  Hirten  von  Carlo  Crivelli  in  der  Galerie  von  Strassburg  und  die  Pietä  in  der  Pina- 
kothek von  Ferrara,  die  dort  Galasso  Galassi  heisst;  sonst  etwa  die  hL  Apollonia  in  der  Pinakothek  von  Bologna. 
2  Nr.  68.    H.  53  X  B.  32.    Tannenholz. 


Einfassung  wie  das  bezeichnete  Opus  Ansuini 
von  dem  Anteil  des  Bono  unterschieden,  schon 
einmal  aus  stilistischen  Gründen  als  Arbeit 
des  nämlichen  Forlivesen  angesprochen 
worden  sind/  während  sowol  Crowe  und 
Cavalcaselle  wie  noch  die  letzte  Auflage  des 
Cicerone  sie  für  Marco  Zoppo  erklären.^ 

So  gewinnen  wir  zu  den  drei  Fresken 
der  Cappella  Ovetari-Leoni  in  S.  Agostino 
degli  Eremitani  zu  Padua  noch  ein  Tafelbild 
von  Ansuino  in  Altenburg,  das  heisst  statt 
einer  vereinzelten  Arbeit  deren  vier,  die 
uns  gestatten,  seinen  Weg  wenigstens  vom 
Eintritt  als  Gehilfe  bei  Francesco  Squarcione 
bis  zum  Abbruch  dieser  Gemeinschaft  zu 
verfolgen,  und  ihn  einerseits  von  dem 
Gefährten  Bono  da  Ferrara,  der  vielmehr 
durch  Piero  de'  Franceschi  als  durch  padua- 
nische  Weise  bestimmt  scheint,  andererseits 
von  den  übrigen  Squarcionesken,  wie  Gregorio 
Schiavone,  Niccolo  Pizzolo  und  Andrea 
Mantegna  selbst  zu  unterscheiden.  Geben 
uns  die  beiden  obersten  Fresken  Aufschluss 
über  seine  Herkunft  aus  anderer  Schule,  so 
lassen  das  bezeichnete  Wandbild  wie  die 
Tafel  in  Altenburg,  die  ihrer  perspektivischen 
Konstruktion  nach  enger  zusammengehören 
und  nur  an  der  Hand  eines  und  desselben 
Problems  einen  Fortschritt  von  befangener 
Lösung  (auf  der  Tafel  hier)  zu  klarer  Kon- 
kurrenz mit  Mantegna  (im  Fresko)  bezeugen, 
den  strengsten  Anschluss  an  die  gemein- 
same Aufgabe  an  Ort  und  Stelle  und  zwar 
im  Sinne  realistischer  Raumkunst  erkennen. 
Ansuinos  Architekturkoulisse  auf  der  rechten 


'  Vgl.  Schmarsows  im  Herbst  1885  erschienene 
Monographie  über  Melozzo  da  Forli  p.  305. 

2  Vgl.  Gazette  des  Beaux-Arts,  Sept.  1897,  wo 
ein  genauer  Beweis  mit  Abbildungen  gegeben  ist. 


—     196    —  " 

Seite  des  eintretenden  Beschauers  und  Mantcgnas  bei  der  Taufe  durch  Jacobus  auf  der  linken  Wand 
stehen  einander  als  Hälften  eines  einheitlich  bearbeiteten  Ganzen  gegenüber.  Nach  dieser  vollendeten 
Einordnung  in  die  Disciplin  der  Squarcione -Werkstatt  verschwindet  der  Forlivese  und  Mantagna 
allein  behauptet  das  Feld,  um  in  jedem  folgenden  Bild  ein  neues  Problem  oder  eine  bessere  Lösung 
zu  versuchen. 

Mit  diesem  Hinweis  der  kunsthistorischen  Studien  auf  die  Geschichte  der  künstlerischen 
Probleme  in  der  Hand  eines  Meisters,  einer  Schule,  einer  Stilperiode  sei  der  Rundgang  in  der 
Sammlung  v.  Lindenau  zu  Altenburg  beschlossen,  und  mancher  interessante  Nachtrag  wie  einzelne 
Stücke  aus  der  venezianischen  und  lombardischen  Schule  (Vivarini,  Hieron.  de  Tarvixio,  Macrino 
d'Albar),  die  wir  noch  namhaft  machen  könnten,  der  Einzelarbeit  des  neuen  Katalogs  überlassen. 


AUGUST  SCHMARSOW 
FELIX  BECKER  FELIX  WITTING 

ERICH  HAENEL 
A.  GOSCHE  P.  SCHUBRING 


INHALT 


Florentiner  Studien  Seite 

1.  Niccolö  und  Giovanni  Pisano I  — 13 

2.  Andrea  Pisano 14 — 28 

3.  S'a  Caterina  in  Antella 29—35 

4.  Die  Statuen  an  Orsanmichele 36—53 

5.  Die  Kaiserkrönung  im  Museo  Nazionale 54 — 74 

6.  Neuordnung  florentinischer  Museen 75—92 

Italienische  Studien  in  anderen  Sammlungen 

7.  Raphaels  Skizzenbuch  in  Venedig 95—121 

S.  Italienische  Malerschulen  in  der  Londoner  Nationalgalerie        122  — 142 

9.  Meister  des  XIV.  und  XV.  Jahrhunderts  im  Museum  v.  Lindenau  zu  Altenburg 143—196 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 


Heliogravüren:  21 

1.  Niccolö  Pisano,    Tympanon  am  Dom  von  Lucca 

2.  Andrea  Pisano,  S.  Reparata  und  Christus    .    .    . 

■       Florenz,  Museo  dell'  Opera 

3.  Spinello  Aretino,  S.  Caterina  in  Antella  .... 

zwei  Doppeltafeln  nach  den  beiden  Haupt- 
wänden     

4.  Luca  della  Robbia,  Kaiserkrönung 

Florenz,  Museo  Nazionale 

5.  Luca  della  Robbia,  Porträtbüste  in  Terracotta    . 

Florenz,  Museo  Nazionale 

6.  Raphael,  Frauenköpfe  aus  dem  Sposalizio    .    .    . 

Mailand,  Brera 

7.  Raphael,  Joseph  und  Freier  aus  dem  Sposalizio 

Mailand,  Brera 
[8.  Raphael,  Erschaffung  Evas 

Kirchenfahne  in  Cittä  di  Castello 
9.  Raphael,    Dreifaltigkeit  mit  S.  Sebastian  und  S. 
Rochus  

Kirchenfahne  in  Cittä  di  Castello 
10.  Andrea  Orcagna,  Krönung  der  Maria 

Altenburg,  Museum  v.  Lindenau 
n.  Fra  Filippo  Lippi,  S.  Hieronymus 

Altenburg,  Museum  v.  Lindenau 
12.  Sandro  Botticelli,  Caterina  Sforza-Riario  .... 

Altenburg,  Museum  v.  Lindenau 

Autotypie-Tafeln : 

1.  Andrea  Pisano:  Spes  und  Humilitas 

von    der    Bronzetür    des    Baptisteriums    in 
Florenz 

2.  Andrea  Pisano:  Begegnung  Marias  mit  Elisabeth 

Besuch  der  Jünger  Johannis  am  Kerker    . 
von    der    Bronzetür    des    Baptisteriums    in 
Florenz 

3.  Nanni  d'Antonio  di  Banco,  Himmelfahrt  Marias  . 

Giebelrelief  an  der  Porta  della  Mandorla  des 
Domes  v.  Florenz 

4.  Nanni  d'Antonio  di  Banco,  Vier  Heilige  in  Nische 

Statuen  an  Orsanmichele  zu  Florenz 

5.  Simone  di  Francesco  Talenti,  Madonna  della  Rosa 

V.  1399 

Florenz,  Orsanmichele 


6.  Luca  della  Robbia,  Madonna  mit  Engeln,  Terra- 

cottarelief 64 

Florenz,  Museo  S.  M.  Nuova 

7.  Pietro  Perugino,  Beschneidung  am  Sohne  Mosis, 

Gruppe  aus  d.  Fresko 102 

Rom,  Capeila  Sistina 
3.  Raphael,  Reiterskizze  zum  Cartoncino  des  ersten 

Fresko  der  Libreria  zu  Siena Hl 

Florenz,  Uffizien 

J.  Bernardo  da  Firenze,  Krönung  Marias 168 

Altenburg,  Museum  v.  Lindenau 
).  Benvenuto  di  Giovanni,  Anbetung  der  Könige    .      188 
Altenburg,  Museum  v.  Lindenau 

Textillustrationen : 

:.  Niccolö  Pisano,  Christus  von  der  Kanzel  im  Bap- 

tisterium  zu  Pisa      8 

'..  Giovanni  Pisano,   Christus  von  der  Kanzel   in  S. 

Andrea  zu  Pistoja 9 

;.  Giovanni  Pisano,   Christuskopf  vom  Holzkrucifix 

in  S.  Andrea  zu  Pistoja H 

..  Giovanni    Pisano,   Priesterfigur  (Aaron)    von    der 

Kanzel   daselbst 12 

.  Spinello    Aretino,     Bestattung    Marias,     Gal.    in 

Siena       29 

.  Andrea  del  Verrocchio,    Christus    und    Thomas, 

Orsanmichele,  Florenz .       39 

.  Nanni  d'Antonio  di  Banco,  Türfassung  mit  Engeln, 

Dom  zu  Florenz       41 

.  Nanni  d'Antonio  di  Banco,  S.  Philippus,  Orsan- 
michele, Florenz       43 

.  Nanni  d'Antonio  di  Banco,  S.  Eligius,  Orsan- 
michele Florenz 45 

.  Bernardo    Ciuffagni?    S.   Jacobus,    Orsanmichele, 

Florenz 46 

.  Lorenzo  Ghiberti,  S.  Johannes  Baptista,  Orsan- 
michele, Florenz       47 

.  Lorenzo   Ghiberti,     S.  Matthäus,    Orsanmichele, 

Florenz       48 

.  Lorenzo  Ghiberti,    S.  Stephanus,    Orsanmichele, 

Florenz 49 

.  Antonio  di  Banco?  S.  Lucas,  Museo  Nazionale  .        50 


15.  Matteo  da  Campione,   Krönung  mit  ( 

Krone,  Relief  im  Dom  v.  Monza 

16.  Luca  della  Robbia,  S.  Franciscus,  Bronzestatuette 

in  Cittä  di  Castello 

17.  Luca    della   Robbia,    S.   Johannes    Ev.,    Bronze- 

stuette  in  Cittä  di  Castello 

18.  Raphael,    Flötenbläser,     Zeichnung    nach    einer 

antiken  Bronzestatuette,  Venedig 

19.  Raphäel,  Überfall  durch  einen  Löwen,  Zeichnung, 

Venedig 

20.  Raphael,    das    Schloss    von    Urbino,    Zeichnung, 

Venedig      

21.  Raphael,  zwei  Frauenköpfe  nach  Perugino,  Zeich- 

nung, Venedig      

22.  Raphael,   ein  Frauenkopf  nach   Perugino,    Zeich- 

nung, Venedig      

23.  Raphael,   Reitknecht   und    Hirt   im   Skizzenbuch 

zu  Venedig,   Studien  zur  Anbetung  des  Christ- 
kindes im  Vatikan 

(vgl.  Zeichnung  in  Stockholm    zur   ganzen 
Komposition  d.  Predella) 


!       24.  Raphael,  Simson  oder  Herkules  mit  dem  Löwen, 

57       ■  Zeichnung  in  Venedig iio 

\      25.  Raphael,  Dudelsackbläser,  Zeichnung  in  Venedig      m 

68  I       26.  Raphael?    Kentaurenkampf,    Zeichnung    in    den 

Uffizien  in  Florenz       112 

69  j       27.  Raphael,   Kopf  eines   jungen  Mannes   im  Reise- 

hut, Zeichnung  in  Venedig 118 

96  28.  Kopf  z.  hl.  Sebastian,  Zeichnung  in  Venedig  .    .      120 

29.  Sienesische    Schule    des   XIV.  Jh.,    Tod   Marias, 
I  Lindenaumuseum  in  Altenburg   vgl.  Text  S.  161       145 

30.  Don    Lorenzo    Monaco,    Flucht    nach    Ägypten, 
Lindenaumuseum  in  Altenburg 161 

31.  Antonio  Veneziano,  sechs  knieende  Apostel,  Altar- 
flügel, Lindenaumuseum  in  Altenburg     ....      175 

32.  Fra  Angelico    da  Fiesole,    Drei    Heiligenfiguren, 
Lindenaumuseum  in  Altenburg 179 

33.  Medaille  der  Catharina  Sf.  de  Riario 182 

I       34.  Johannes  (Giovanni  di  Paolo  da  Siena?)  Madonna, 

,  Lindenaumuseum  in  Altenburg 192"' 

35.  Ferraresische  Schule  des  XV.  Jh.,  Geburt  Christi 
1  (Predella),  Lindenaumuseum  in  Altenburg  ...      194 


n  W.  Drugulin  in  Leipzig. 


DRUCK  VON  W.  DRUGULIN'S  BUCHDRUCKEREI,  LEIPZIG 
f  DRUCK  DER  HELIOGRAVÜREN  VON  MEISENBACH  RIFFARTH  &  Co.,  BERLIN 
SLIOGRAVUREN  UND  AUTOTYPIEN  VON  MEISENBACH  RIFFARTH  &  Co.,  BERLIN 
PAPIER  VON  SIELER  &  VOGEL.  LEIPZIG 


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