Skip to main content

Full text of "Führer durch den Concertsaal"

See other formats


Google 



This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project 

to make the world's books discoverable online. 

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 

to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 

are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that's often difficult to discover. 

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the 

publisher to a library and finally to you. 

Usage guidelines 

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing tliis resource, we liave taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 
We also ask that you: 

+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 

+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 

+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each file is essential for in forming people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can't offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe. 

About Google Book Search 

Google's mission is to organize the world's information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 

at |http: //books .google .com/I 



Google 



IJber dieses Buch 

Dies ist cm digitalcs Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den R^alen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 

Rahmen eines Projekts, mil dem die Biicher dieser Welt online verfugbar gemacht weiden sollen, sorgFaltig gescannt wurde. 

Das Buch hat das Uiheberrecht uberdauert und kann nun offentlich zuganglich gemacht werden. Bin offentlich zugangliches Buch ist ein Buch, 

das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch offentlich zuganglich ist, kann 

von Land zu Land unterschiedlich sein. Offentlich zugangliche Biicher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kultuielles 

und wissenschaftliches Vermogen dar, das haufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randl>emerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- 

nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Dmen hinter sich gebracht hat. 

Nu tzungsrichtlinien 

Google ist stolz, mil Bibliofheken in parfnerschafflicher Zusammenarbeif offenflich zugangliches Material zu digifalisieren und einer breifen Masse 
zuganglich zu machen. Offentlich zugangliche Biicher gehiiren der OfTentlichkeit, und wir sind nur ihre Hiiter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfiigung stellen zu konnen, haben wir Schritte untemommen, urn den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehiiren technische Einschrankungen fiir automatisierte Abfragen. 
Wir bitten Sic um Einhaltung folgender Richtlinien: 

+ Nuizung derDateien zu nickikommemellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tiir Endanwender konzipiert und mochten. dass Sie diese 
Dateien nur fur personliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 

+ Keine automatisienen Abfragen Senden Siekeine automatisierten Abfragen iigendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
iiber maschinelle Ubersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche duichfuhren, in denen der Zugang zu Text in groBen Mengen 
niitzlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fordem die Nutzung des offentlich zuganglichen Materials fiirdieseZwecke und konnen Ihnen 
unter Umstanden helfen. 

+ Beihehallung von Google-MarkenelemenlenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei fmden, ist wichtig zur Information iiber 
dieses Projekt und hilft den Anwendem weiteres Material iiber Google Buchsuche zu fmden. Bitte entfemen Sie das Wasserzeichen nicht. 

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalitdt Unabhangig von Direm Ver wend ungsz week mussen Sie sich Direr Verantwortung bewusst sein, 
sicherzu stellen, dass Dire Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafurhalten fur Nutzer in den USA 
offentlich zuganglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Landem offentlich zuganglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir kiinnen keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulassig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und iiberall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 

tJber Google Buchsuche 

Das Ziel von Google besteht darin. die weltweiten In form at ion en zu organisieren und allgemein nutzbar und zuganglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesem dabei, die Biicher dieser We lt zu entdecken, und unterstiitzt Au toren und Verleger dabci. neue Zielgruppcn zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext kiinnen Sie im Internet unter |http: //books . google .coiril durchsuchen. 



FCfHRER 

DURCH DEN C0NCEBT8AAL 



VON 



HERMANN KBETZ80HMAR. 



n. ABTHEILUNG, ERSTER THEIL: 
KIRGHLICHE WERKE: 

PA88I0NEN, HESSEN, HIHNEN, PSALMEN, MOTETTEN, GA5TATEN. 

ZWEITE AUFLAGE. 



VIESTES TAU8BHD. 



LEIPZIG 

VERLAG VON BREITKOPF & HARTEL 

(1895). 



Alle Beeblie y0Tl>ehaltQn, 



hi 




VORWORT. 




uch fdr die hiennit beginnende zweite Ab- 
theiLung des >Ffihrer durch den Concertsaal* 
gait es als n^chste Aufgabe zu den eigentlichen 
Repertoirwerken ausfflhrliche Erl&aterungen oder kurz 
orientirende Bemerknngen zu geben. Ich hoffe, dass 
keins ' der wichtigeren von denjenigen kirchlichen 
Chorwerken fehlt, welche im hentigen deutschen 
Concert st&ndig wiederkehren. Yon meinen statistischen 
Unterlagen fflhre ich in'erster Linie die Programme 
des Riedel-Vereins in Leipzig an. 

Der Leser tindet in dieser Abtheilang eine nicht 
geringe Zahl von Compositionen in Betracht gezogen, 
welche der Oeffentlichkeit unbekannt, welche unge- 
dmckt; zum Theil auch schwer zag&nglich sind. 
Wer weiss aber, ob sich dieses Verhaltniss nicht bald 
M.ndert. Unsere Chorvereine greifen immer tiefer in 
die Sch&tze der ^Iteren Kunst hinein and die Biblio- 
theken nnserer gnten Mnsikschalen streben von Tag 
zu Tag mehr naeh VoUstftndigkeit. Von diesem Ge- 
sichtspunkt aas hielt ich mich zn dem Versnche ver- 
pflicbtet, die Geschichte der einzelnen in diesem Bnche 



iv,2^?9733 



-« IV -^ 

behaodelten Gattnngen zu skizziren und die Frage 
nach den Hauptwerken und den Hauptvertretern der 
vergangenen Perioden zu beantworten. Mit diesem 
Versache war eine Vermehrung des Materials ver>- 
bunden, welche dazu gen5thigt hat, die Abtheilung 
>yocalmnsik« ih zwei Bftnden za geben. Der zweite 
wird die Oratorien und anderen weltlichen Chorwerke 
enthalten. 

Leipzig, 1888. H. Kretzschmar. 



VORWORT 

zur zweiten Auflage. 

JJiese Auflage unterscheidet sich von der ersten 
nur an den wenigen Stellen, wo die jtlngsten Ergebnisse 
geschichtlicher Forschung zu berucksiclitigen waren 
und wo das Repertoir dureh Aufnahme von neuen 
Werken dauernd bereichert worden ist. 

Ich benutze die Gelegenheit, ftir das Wohlwollen, 
das auch dieser Band des Ftilirers gefunden hat, 
zu danken. 

Leipzig, 1895. H. Kretzschmar. 



I. THEIL. 

KIRCHLICHE WERKE. 

PASSIONEN, MESSEN, HYMNEN, PSALMEN, 

CANTATEN. 



11,1. 



r 




Erstes Capitel. 
Passionen. 



BBWier Concertsaal hat in neuerer Zeit von einer Reihe 
Bj^U grosserer Gesangwerke Besitz ergtiiTen, welche ur- 
■ '™ spriinglich nicht flit ihn, sondern fiir den Gottes- 
dienst bestimmt waren. 

Nach der Bedeutung des Textes nehmen in dieser 
Claase die Passionen die erste Stelle ein. 

Die heutige Generation kannte bis vor Kurzem, wenn 
wir von den einschlagenden Werken Graun'a und F. Schnei- 
der's absehen, nur die Passionsmusiken von Seb. Bach; 
erst in neuerer Zeit trat zu diesem in einsamer Hohe 
thronenden Tertreter in Heiarich ScbUtz ein ebenbiirtiger 
Name. Die Verscbiedenheit, in welcher dieae beiden gleich 
grossen Kiinstler die Leidensgeachicbte Christi musikalisch 
dargestellt haben, drSngt allein schon dazu, nach der 
Geschichte der Gattung zu fragen. Wir darfen aber auf 
diesem Wege auch noch darauf rechnen, unsere Einsicht 
in die herrlichen, aber rein kunstleriscb nicht vGIIig ver- 
stSndlichen Passionen Seb. Bach's zu vertiefen, und 
zweitens darauf, dass wir einzelne Werke, vielleicht auch 
ganze Gruppen aus der Familie det Passionsmusiken 
kennen lernen, welche unbedingt verdienen, der Ver- 
gessenheit entrissen zu werden. 



-=0- 4 -&^ 

Unter der grossen Menge von Passionsmusiken, welche 
im Druck oder in Handschrift vorhanden sind, unter- 
scheiden wir drei Hauptgruppen : die Ghoralpassion, 
die Motettenpassion und die or a tor ische Passion. 

Die erstgenannte Gruppe hat den Altersvortritt. Nach 
dem gegenwartigen Standpunkt der Forschung gehen die 
direkten Nachrichten iiber Choralpassionen allerdings nur 
bis ins 4 5. Jahrhundert zurtick ; das von Mone ♦) beschrie- 
bene Exemplar ist das alteste in Noten vorhandene, von 
dem wir wissen. Aber Charakter und Form der Musik 
in den Choralpassionen des <5. , <6. , il. Jahrhunderts 
tragen die deutlichsten Spuren einer viel friiheren Ent- 
stehungszeit. Der Altargesang, wie er in den ersten 
Jahrhunderten unserer Kirche war, bildet ihre Seele. 

Es war im 4 3. Jahrhundert**), als man aus den 
allgemeinen Evangelienlectionen , welche als eins der 
wichtigsten Glieder in dem wunderbaren Kunstbau der 
altchristlichen Liturgik bis in die apostolischen Zeiten 
zuriickreichen***), die Passionslectionen losloste. Wahrend 
jene der Diacon allein sang, zeichnete man die letzteren 
dadurch aus, dass man sie von nun ab mit vertheilten 
RoUen vortrug. Der Diacon behielt nur den Evangelisten, 
ein zweiter Kleriker sang den Christus, ein dritter alle 
ubrigen Einzelpersonen. Diese drei Solisten (deren Zahl 
dann in protest an tischer Zeit vermehrt wurde) traten bei 
den Worten der Menge — turbae: Jiinger, Hohepriester, 
jiidisches Volk, Soldaten etc. — als Chor zusammen und 
wurden als solcher bald auch durch die Gesammtheit 
der anwesenden Kleriker verstarkt. 

Bekanntlich ging aus dieser Lesungsform der Pas- 
sionsgeschichte auch das geistliche Schauspiel des Mittel- 
alters hervor. Wahrend aber in diesem letzteren das 



*) Mone, F. L., Schauspiele des Mlttelalters, I, 60. 
**) Klenle, Choralschule, I, 79. 

***) Schoberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Ge- 
meindegesangs, I^ 192, 236. 



dramatische Element den kirchlichen Ursprung und Zu- 
sammenhang bald vergass und vernichtete, erhielten sich 
Geist und Form der alten Passionslection in der Choral- 
passion in der urspriinglichen Reinheit und Einfachheit 
noch lange fort. An diesen Choralpassionen hat die 
Kirche ihre conservirende Natur mit besonderer Macht 
erwiesen. Die im 4 8. Jahrhundert geschriebenen, sogar 
die auf evangelischem Boden verfassten Nachziigler dieser 
Gattung, sehen im Recitativtheile wenigstens noch genau 
so aus, wie die zwei Jahrhundert alteren, und die *dem 
16. Jahrhundert angehorigen bringen uns wie in einer 
Versteinerung die Gesangformen eines Zeitalters vor die 
Augen, welches noch nicht die Sequenzen Notker's, ja 
nicht einmal die Hymnen des Ambrosius gekannt hat. 

Mit dem evangelischen Kirchenliede hat die Choral- 
passion keine Blutsbeziehungen. Sie leitet ihren Namen 
von dem sogenannten Gregorianischen Choral, d. i. von 
jener Stylgattung liturgischen Gesanges ab, welche, in 
der friihesten Zeit der christlichen Kirche im absichts- 
vollen und weisen Gegensatz zu den sinnlichen Formen 
heidnischer Musik ausgebildet, angeblich durch Gregor 
den Grossen Gesetzesgeltung fiir die abendlandischen 
Gemeinden erhielt. Sie ist heute noch, oder vielmehr 
heute wieder, das Fundament kirchlicher Musik auf 
romisch-katholischer Erde. Die Gesange des Gregoria- 
nischen Chorals zerfallen in zwei Gruppen: concentus 
und accentus. Der concentus umfasst wirkliche Gesslnge, 
kleine und grosse Melodien im neueren Sinne dieses 
Wortes, in denen musikalischer Reichthum, Schonheit 
und Charakter die denkbar h5chsten Maasse erreichen. 
Einzelne dieser ausdrucksvoUen, kostlichen und eingang- 
lichen Melodien aus dem Schatze des Gregorianischen 
Gesangs haben Jahrhunderte lang den Meistern der Poly- 
phonie immer von Neuem wieder Anlass und Stoff zu 
herrUchen, mehrstimmigen Kunstsatzen geboten. Die 
Ssltze des accentus sind weniger Gesang als Declamation. 
Seine einfachen Tonreihen unterscheiden sich von ge- 
sprochener Declamation nur dadurch, dass die Stimme 



eine musikalisch controlirbare Hohe einhalt und dass die 
grammatische Eintheilung durch bescheidene Hiilfsmittel 
melodischer und rhythmischer Natur verscharft wird. Der 
accentus weist auf eine besonders friihe Entstehungszeit 
bin, auf eine Zeit, in welcber singen (canere) und laut 
sprecben (alte dicere) als gleichbedeutend gelten durften, 
wie es thatsachlich in den Biichern der Kirchenvater aucb 
fiir gleich genommen wird. Zu dieser zweiten Gruppe 
des Gregorianischen Recitativgesangs gehoren nun mit 
den "Lectionen im Allgemeinen aucb die dramatisirten 
Passionslectionen im Besonderen und aus letzteren gingen 
ja die Choralpassionen hervor. Der Beweis bierfiir liegt 
eben in der Tbatsache, dass die Solopartien dieser Cboral- 
passionen den vorgeschriebenen Styl der Lectionen streng- 
stens einhalten. 

Protestantische Leser, welchen der Lectionston der 
katholischen Liturgie fremd ist, konnen sicb von dem 
Recitativstyl in diesen Choralpassionen einen Begriff 
machen, wenn sie an den Gesang ihrer Versikeln und 
Collecten denken. Wie bier, so ist dort das musikalische 
Element durch wenige schlichte melodische Formeln ver- 
treten, welche an denselben grammatischen Stellen immer 
wiederkehren. Die wichtigste unter ihnen, das eigentliche 
Charaktermotiv dieser einfachen Passionsmusiken, bildet 
die aufsteigende kleine Terz. Mit ihr beginnt der Evange- 



list in der Tenorlage ^ J -p ■ fi fj fi = Christus bringt 

flllp spinp F.insfltzft! •)'—,' J ', ,' ^ rip inHprRjiss- 



alle seine Einsatze: •^ und <» be.gab »ich " sie, in der Bass- 

lage, wenigstens zum An- "^ (^ f f f f ^^ etc. 
fang der Nebensatze immer: " dL sie dasWas.slr hat 
und die iibrigen Soliloquenten machen von ihr ebenfalls 
einen sehr weitgehenden Gebrauch : Der Falsettist (Petrus, 
Pilatus) in der Form d f eine Octav hoher als Christus und 
der spatere Sopranist (Magd etc.) in der Form a c um eine 
Octav hoher als det Evangelist. Ausser durch die ver- 
schiedene Stimmlage unterscheiden sich aber der Evan- 
gelist und von ihm und unter einander die im Evangelium 
auftretenden Personen durch eigene melodische Wen- 



dungen beim Abschluss der Satztheile. Der Evangelist 
schliesst kleine Abschnitte ^ p i ■ i i a i i i i p J = . 
in der Kegel mit c a wie ^ d« j»us die.. Rede ToUexiet hat . u. ' 
sein musikalisches Stichwort fiir den Einsatz des Chri- 

stus ist: jl|i rl ['J iJ J r] f' j J ' J ,j = wie in: 

•^ Oder 



ffl '■J r r [' ^ O J fur den Choreinsatz: 



sprach er za sci-nen Jlin . gem 



.J f f I f f I' l. 



Sie -tpra - chen a-ber: 

Die wesentlichsten Schlusswendungen fiir die anderen 
Soliloquenten sing c d e f und f e d c, z. B.: Judas 

Was wollt Our mir ge . btn, to will ieh ihii eueh ver . ra _ then 

und Petrus: 

'^* f ' ' ' ^ r f I" ' ' r r I I I 



WeiiA sie aueh alle sicb an dir iir.gern, so will ich micb docfa Dimmermehr ar.gern 

Die erste der beiden letzterwahnten Formeln kommt auch 
in den Reden Christi vor und ist im Lectionston der vor- 
geschriebene musikalische Ausdruck der Fragesatze. Da 
die Reden der Nebenpersonen durchschnittlich nur kurz 
sind, so haben sie mehr Schlussnoten als eintonige 
Declamationsstellen und sehen musikalisch belebter aus. 
Aber nichtsdestoweniger stehen sie im Eindruck hinter 
den Partien Christi und des Evangelisten weit zuriick. 
vorausgesetzt , dass dieselben mit der ganzen Kunst 
musikalischer Declamation ausgefiihrt werden. 

An einer Stelle geben alle Choralpassionen das wiir- 
dige Einerlei des Accentensystems auf. Das ist beim »Eli, 
Eli lama asabthani«. Hier setzt auf einmal Concent, echter, 
warmer Gesang ein und im Gegensatz zu der Einfach- 
heit einer halbstiindigen Declamation wirken die letzten 
Worte Christi wie eine Stimme aus der anderen Welt. 
Wir haben drei verschiedene Melodien fiir das ))Eli« ge- 
funden; diejenige, welche am haufigsten gebraucht wird: 



-^ S '9>- 



e ft . ^ ^ n e o^^ ^ o*^ '^ ^^ '~ .< '^ n ^ o 



E li, E 



3E 



ist zugleich die 
° ergreifendsteund 
li, la . ma a . sab - th* . . . .ail feierlichste. Die 

anderen haben nicht die sch5ne, weit geschwungene Ton- 
linie, aber schon in der blossen Wiederholung des Namens 
Eli besitzen auch sie ein starkes musikalisches Macht- 
mittel. Die Uebersetzung der hebraischen Worte iiber- 
nimmt in der Kegel der Evangelist, zuweilen auch merk- 
wiirdiger Weise Christus selbst; ausnahins.weise fehlt die 
Verdeutschung. Einzelne der spSteren Motettenpassionen 
haben das hier angefiihrte schone Eli ebenfalls als Ober- 
stimme im vielstimmigen Satze, und der Hinblick auf die 
gewaltige Wirkung, welche der Choralpassion an dieser 
Stelle eigen ist, hat auch die Componisten in den ora- 
torischen Passionen immer gezwungen, fiir das Eli etwas 
ganz Ausserordentliches zu thun: die einen, indem sie den 
Kunststyl aufs hochste anspannen, die anderen — und 
sie bilden die Mehrzahl — indem sie, im umgekehrten 
Verfahren der Choralpassion, ihn hier mit Tonen von 
der grossten Einfachheit vertauschen. 

Der Solopartien wegen hatte man kaum Veranlassung 
gehabt, Choralpassionen aufzuschreiben und zu drucken. 
Solche Halbgesange, die sich in ganz glatten und fest- 
geranderten Geleisen bewegen, zu behalten, reicht die 
Ueberlieferung von Ohr zu Ohr ziemlich aus. AUerdings 
wichen die einzelnen Provinzen der Kirche trotz Gregor 
in den Kirchenaccenten schon friih wieder vielfach von 
einander ab, und fiir die Passionslectionen im Besonderen 
giebt es verschiedene Tone : einen Romischen, einen K61- 
nischen, Miinsterschen und noch manche andere. Unter 
ihnen gelangte der Passionston Luther's (nach welchem 
die obigen Citate gegeben sind) bald zu allgemeiner 
Geltung; auch katholische Componisten verwenden ihn 
als » gewohnliche Passionsmelodey «. Aber alle diese 



Abweichungen in den Accenten sind bis weit ins 17. Jahr- 
hundert hinein nicht so wesentlich. 

Es ist nicht zufallig^ dass uns notirte Choralpassionen 
erst vom 1 5. Jahrhundert ab vorliegen. Die Chorsatze 
und die Erfindung der Harmonie reizten die Tonsetzer 
nun immer h§,afiger, Choralpassionen aufzuschreiben. 
Fast jeder biographische Gang in die Cantorengeschichte 
des 4 6. und 4 7. Jahrhunderts bringt weitere Passionscom- 
ponisten ans Licht*). Besonders eifrig waren die Thiiringer 
Musiker**). In der vorherliegenden Zeit waren die Chore 
nichts als einstimmige Tonssltze, die nur in mehrfacher 
Besetzung vorgetragen wurden. Die Massigkeit des 
Stimmklangs unterschied sie von den Soloreden; in der 
melodischen Beschrankung gingen sie noch weiter als 
die letzteren. Solche einfach unisono dahin recitirte 
» Chorea linden sich noch in der Zeit, wo die Kunst des 
mehrstimmigen Satzes bereits hochentwickelt war. So 
in der Passion (nach Matthaus) des Luc. Lossius (4 570 , L. Lossiiia, 
so auch in den beiden ersten Matth&uspassionen, welche M.. Lndecns. 
das Vesperale des Matth. Ludecus (4 588) bringt. Der 
Branch hatte das Alter und die Bequemlichkeit fUr sich. 
Aber die Choralpassionen mit solchen Scheinchdren bil- 
den nur Ausnahmen. Die Kegel ist ein gleichmassiger 
vierstimmiger Satz: Note gegen Note. Freilich blieben 
diese mehrstimmigen Chorsatze bei vielen Componisten, 
— in einigen untergeordneten Punkten wie Festhalten 
an Einsatzaccord und Tonart: bei alien, — in den Ban- 
den des Choraltons. Die wenigen Tacte liber, welche 
diese Chore iiberhaupt dauern, haben wir es bei C. Ste- C. Stepkasi. 
phani (4 570), bei Selneccer (4587), in der bei Welak ge- TS, Belneooer. 
druckten Wittenberger Passion vom Jahre 4 590, auch Welak. 
noch bei Vopelius (4 684) fast ausschliesslich mit dem Vopelina. 
Fdur- Accord zu thun. Die Oberstimme weicht, um ihre 



*) Vgl. ans jungster Zeit: K. Held, Das Kreuzcantorat in 
Dresden. 

♦•) Fr. Zamke in »C. Reuter als Passionsdichtera giebt 
hieriibei ausfiihrlicke Mittheilungen. 



-fr 10 



-i^^ 



wenigen Accente zu geben, nur nach g und b ; es ist ein 
grosser Schluss, wenn sie (zuweilen iiber h) das obere 
c aufsucht ; in der Harmonie begegnen uns nur noch C- 
und Bdur. Fast ist, wie in der Jugendzeit der mehr- 
stimmigen Composition iiberhaupt, die rhythmische Aus- 
beute ergiebiger als die melodische und harmonische : in 
Syncopen und Fermaten sucht sich die durch die mecha- 
nische und unfreie Gesammtbewegung der zugleich sin- 
genden Stimmen gefesselte Macht der naturlichen Rede 
einen nothdiirftigen Ausdruck. 

Die Kunst schritt iiber die hier geschilderte Stufe der 
Choralpassion weiter; die Kirche hatte eine gewisse Be- 
rechtigung, bei ihr zu beharren. Noch heute werden in 
der Sixtina zu Rom die Passionsevangelien in jener alter- 
thiimlichen Schlichtheit vorgetragen: die Recitative im 
Lectionston, die Chore in einem von L. da Vittoria her- 
riihrenden Satze, welcher im Wesentlichen noch der 
Kinderzeit der Harmonie, dem alten System der Falso- 
bordone angehort. Aehnlich ist auch die Matthauspas- 
sion des Francesco Soriano (^64 9) gehalten. Als F. Men- 
delssohn im Jahre 4 832, voll Bach'scher Erwartungen, 
einer Passions -Auffiihrung in Rom beiwohnte, war er 
natiirlich enttauscht, wie das Jedermann ergehen muss, 
welcher eine solche Choralpassion aus dem liturgischen 
Zusammenhang herausgenommen betrachtet. Aus diesem 
Grunde erscheint auch der von Schoberlein (in dem be- 
reits genannten Werke) gebrachte Vorschlag, den Gottes- 
dienst der protestantischen Kirche am Charfreitage oder 
an einem andern Tage der stillen Woche durch Auf- 
Th, Manoinns. nahme der Choralpassion des Mancinus (4 620) oder eines 
anderen Werkes der gleichen Gattung zu bereichern, ge- 
wagt. Die Sixtina und principiell der ganze katholische 
Cultus hat das alte Lectionensystem noch in vollen Um- 
fang im lebendigen Gebrauch, und in diesem Falle erklart 
ein Lectionston den anderen. Vergleicht man nur das 
Hauptmotiv des Evangel isten in der Passion, das friiher 

schon anffefiihrte I I ' r ,1 = ™^^ ^^^ entsprechen- 
schon angeluhrte ^ A y ,J = deninderOsterhistorie 



t 



11 



I J J >l"^p J- = so nehmen die starren Formeln 
^-" der s»b ' bath ' L®^®" "^^ Charakter an: das 



eine wizd zur Klage, das andere zum Jubelausdruck der 
Freude. In die verarmte Liturgie der heutigen prote- 
stantischen Kirche hineingestellt, wtirde die alte Choral- 
passion zunachst befremden. Es ist aber das glanzendste 
Zeugniss fiir die Macht, welche sie in alter Zeit auf die 
Gemiither geubt haben muss, dass sie auch in der stock- 
fremden Umgebung des protestantischen Cultusjzur Zeit 
der Pietisten und der Rationalisten sich noch behaup- 
tete, wenii anch nicht gerade in den grossen Stadten. 
Die in den Recitativen dem Choralsystem voUstandig 
angehorende Passion des Cantor Kramer (1735) entstand Chr. Kramer, 
in Dosdorf bei Arnstadt, eine andere ♦], deren Autor 
unbekannt, aber nach dem Buxtehude'sche Spuren tra- 
genden Style der Chore zweifellos ebenfalls ein Musiker 
des 4 8. Jahrhunderts ist, weist in Reimen wie »Werk« — 
»stark« und anderen Spracheigenthiimlichkeiten die deut- 
sche Ostseekiiste als Heimath auf. Eine dritte gleichartige, 
liber welche J. Richter**) berichtet, fand sich in Glashiitte- 
In Leipzig hielten sich die Choralpassionen, wie Spitta mit- 
theilt (J. S. Bach, II, 308) bis zum Jahre 1766. Nach den 
Angaben des Balladencomponisten Carl Lowe scheint^clie 
Choralpassion, in der Provinz Sachsen wenigstens, ihre 
Tradition sogar noch bis ins 1 9. Jahrhundert hinein er- 
streckt zu haben und der hervorragend musikalisch bean- 
lagten Bevolkerung dieses Landes sehr gelaufig gewesen 
zu sein. »Jeder Sanger «, schreibt Lowe***], »musste am 
Charfreitage die im Anhange des Gesangbuches (ohne 
Noten) abgedruckte Leidensgeschichte aufschlagen und 
die ihm ubertragene Person selbst in Musik setzen.« 
Den ersten Anlass, von der geschilderten alten Grund- 



*) Bisher im Besitz des Herrn Geh.-R. Ph. Spitta in 
Berlin. Bibliotheksnummer 2099. 

♦♦) Monatshefte fur Musikgeschichte, Jahrg. 1879. S. 72. 
♦**) Dr. 0. Lowe's Selbstbiographie, (Berlin 1870) S. 6. 



^ 12 

art der Choralpassion abzuweichen, gaben schon die 
bereits beriihrten landschaftlichen Hnterschiede in den 
Kirchenaccenten selbst. Wenn aber die Tonsetzer mit 
der Zeit viel tiefer in das Wesen der Choralpassion ein- 
griffen, sich von ihr und der Kirche schliesslich trennten, 
so lag der Anstoss hierfiir in der Entwickelung der Musik. 
An der Leidensgeschichte des Herrn, als an dem hochsten 
Gegenstande christlichen Denkens, versuchten Dichter 
und Musiker mit besonderem Stolze, was an neuen pas- 
senden Formen zu Tage kam. So wird die Passionsge- 
schichte spater noch dem Liede und der Cantate ange- 
passt. Zun§,chst aber gait es^ das musikalische Wunderwerk 
des fiinfzehnten Jahxhunderts, die Kunst der Harmonie, 
mit der Passionsgeschichte in Verbindung zu bringen. Bei 
der bescheidenen Umwandelung der Partien der turbae 
aus Unisonorecitativen in einfache Chorsatze, welche den 
Lectionenton einhielten und das Wesen der Choralpassion 
in Geltung hessen, blieb man nicht lange stehen; das 
16. Jahrhundert schuf die Mo tett en passion. 

In der Motettenpassion ist der gesammte Text des 
Passionsevangeliums mehrstimmig componirt. Der Evan- 
gelist, Christus, die Nebenpersonen, die Schaaren der 
Jiinger, der Priester, des Volks etc. — alle Partien singt 
der Chor. Auch der innere Styl der Choralpassion ist 
hier einer viel reicheren Musikweise gewichen. Das ist 
die Sprache und der Geist einer neuen Zeit und eines 
neuen Geschlechts, welches das Evangelium nicht langer 
nur mit regungsloser Ehrfurcht entgegennehmen, nein, 
welches auch zeigen will, dass es mit Herz und mit 
Phantasie den Worten folgt. An Stelle der alten, ruhig 
vornehmen, liturgischen Declamation tritt nun durchweg 
ein bewegtes, oft von Gefiihl liberquellendes Singen. Die 
Seele ladet die Bilder, welche sie schaut und fiihlt, in 
Melodien aus, die mit Coloraturen und anderen Mitteln 
musikalischer Malerei bemerkenswerth ausgestattet sind. 
Bedeutungsvolle Worte, bedeutungsvoUe Tonfiguren werden 
wiederholt und zu gesteigertem Ausdruck gefiihrt. Was 
Harmonie und Rhythmus innerhalb der Grenzen der mehr- 



-♦ 13 -&^ 

stimmigen Gesangmusik zu leisten vermogen, das ist 
benutzt, um die Personen und die Scenen auch in ihrem 
Gharakter und in ihrem Colorit erscheinen zu lassen. 
Kurzum, die Motettenpassionen sind als Ganzes genom- 
men Hauptleistungen aus der Bluthezeit der mehrstim- 
migen, unbegleiteten Gesangmusik, und es w&re den 
gegenwartigen Chorinstituten, welche sich der Wiederer- 
schliessungjener wichtigen Kunstperiode gewidmet haben. 
nur zum empfehlen, dass sie sich dieser Motettenpassionen 
annehmen. Dieselben stehen auch ihrer ganzen Natur 
nach dem modernen Concertsaal nicht so fern and lassen 
einen leichten Zusammenhang mit Ghoralpassion und 
Gottesdienst nur an den Stellen erkennen, wo die Menge 
spricht. Hier sind die Bibelworte mit absichtlicher Ein- 
fachheit und mit einer geringeren Charakteristik com- 
ponirt. 

AUe Motettenpassionen sind in drei Theile gegliedert: 
der erste schliesst in der Kegel mit dem Verhor beim 
Hohenpriester , der zweite mit der Verspottung Christi, 
der dritte bringt Kreuzigung und Tod. In einer ahn- 
lichen Weise findet sich die Leidensgeschichte auch in 
der Form von Hymnen fiir den Gebfauch bei den Horen, 
bei Vigilien und Matutinen in 12 Scenen zerlegt, und 
diese Aehnlichkeit lasst darauf schliessen, dass die Mo- 
tettenpassionen ausschliesslich fiir Andachten und Neben- 
gottesdienste bestimmt waren. ^uch die spateren orato- 
rischen Passionen kamen zuweilen auf mehrere Tage 
zerstiickelt zur Auffiihrung. Bei der Motettenpassion er- 
hielt sich der lateinische Text (Vulgata) lange in die pro- 
testantische Zeit hinein. In Frankfurt a. d. 0. wurde 
noch im Jahre i 607 eine lateinische Motettenpassion nach 
dem Evangelisten Matthaus von der Composition des 
Barth. Gesius gedruckt. 

Die Zahl der augenblicklich bekannten Motettenpas- 
sionen ist jiingst durch 0. Kade*) auf 46 Stiick gebracht 



♦) 0. Kade, Die alteie Passionscomposition bis zum 
Jahre 1631. 



worden. Die Zeit ihrer Herrschaft beginnt nach diesem 
Gewahrsmann vor ^505 mit der lateinischen Compo- 

J. Obreoht. sition des Niederlanders Obrecht, die 4 638in G. Rhaw's 
»Harmoniae selectaea gedruckt und in der Zusammen- 
stellung des Textes aus alien 4 Evangelien vorbild- 
lich wurde. Nach ihm stellt das Ausland nur in dem 
Cypr. de Eore. Italiener Cyprian de Rore (1557) noch einen bekann- 
ten Namen fiir die Gattung; die Mehrzahl kommt von 
deutschen Tonsetzern. Darunter sind die bemerkens- 

J. V. Bnrgk. werthesten: zwei Passionen von Joachim v. Burgk 1568 

und 4 574 (deutsch), ferner die Johannespassion von Lud. 

L. Baser. Daser 4578 (lateinisch), ein Werk, welches wegen seines 

reichen und schwungvoUen Ausdrucks ganz besonders 

hervorgehoben zu werden verdient, die Johannespassion 

Jac. GalluB. (lateinisch) von Jac. Gallus 4 587, eine achtstimmige Com- 
position, welche als das ausserlich wirkungsvollste und 
in teressan teste Exemplar der Gattung angesehen werden 

J. Maohold. darf, eine (deutsche) MatthHuspassion von Machold 4 593, 

B. Geains. die (lateinische) Passion nach Matthaus von B. Gesius 
4 607, welche oben schon genannt wurde, und die sechs- 
Chr. Demantius. stimmige (deutsche) Johannespassion von Chr. Deman- 
tius 4 634. Der Umstand, dass alle diese genannten.Werke 
sich in sehr grosser Entfernung von ihren Heimathsorten 
vorgefunden haben, lasst auf eine weite Verbreitung der 
Motettenpassion als Gattung schliessen. Eine der Pas- 
sionen des Thiiringer Burgk waif ganz besonders bertihmt. 
Machold schickt seine Passion mit dem Wunsche hinaus, 
dass man sie abwechselnd mit der des Burgk auffuhren 
und Muicht stets auf einer Saite geigen« moge. Welche 
dies gewesen, ist nicht festzustellen. Von Burgk's Jo- 
hannespassion besitzt die Gymnalsialbibliothek zu Brieg 
ein unvoUstandiges Exemplar, welches nur drei Stimmen 
enthalt. Soweit sich daraus die Composition iibersehen 
lasst, beruht ihre musikalische Wirkung hauptsachlich 
auf dem Wechsel der Stimmgruppen und auf einer frap- 
panten Verwendung schneller Rhythmen. Wie die Com- 
ponisten der niederlandischen Schule liebt B. kleine 
Malereien. Der Ausdruck ist knapp, besonders gelungen 



r 



I! 



^ 



^ 



-^4^ 15 -»^ 



in dem Spottchor: »Sei gegrusset^ lieber Judenkonig*. 

Merkwiirdigerweise folgt der durchaus deutschen Passion 

i' nach der Conclusio — letztere hat den abweichenden 

r Wortlaut: »Wir glauben, lieber Herr, mehre unseren 

Glauben! Amen!« — noch ein Anhang aus der latei- 
^ nischen Vulgata. Es ist die Erzahlung von den Marien, 

die zum Grabe gehen, den Herm zu salben. Den sechs- 
stimmigen Tonsatz hat Joachim Knefel componirt. Auch 
die Geschichte der Motettenpassion giebt ein en neuen 
Beweis dafur, wie hoch das Deutschland des 17. Jahr- 
hunderts in der Kunst des Chorgesanges stand. Die Fund- 
orte von einem grossen Theile der genannten schwierigen 
Werke sind die Kirchenbibliotheken kleiner Stadte. 

Die Motettenpassion ist geschichtlich als ein Vor- 
laufer und Seitenstuck zu der der Oper vorhergehenden 
Madrigalencomodie zu betrachten, welche, wie bekannt, 
der Anfiparnasso des Orazio Vecchi in alien unseren 
Handbiichern der Musikgeschichte zu vertreten pflegt. 
Beide Gattungen waren kurzlebig. Das Geschick der 
Motettenpassion vermogen wir zur Zeit nicht iiber das 
Werk des Demantius und iiber das Jahr 4 631 hinaus 
zu verfolgen. Aber klar lasst sich erkennen , dass sie 
iiber ihre nachste Bestimmung hinaus einen grossen 
kiinstlerischen Einfluss libte : die Motettenpassion bereitete 
der oratorischen den Boden und sie zog die Choral- 
passion in den Kreis der lebendigen Kunst hinein. 

Es sieht wie der Versuch eines giitlichen Ausgleichs 
zwischen zwei Interessengruppeu aus, wenn wir von der 
Mitte des 1 6. Jahrhunderts ab einer Form der Passions- 
musik begegnen, in welcher Elemente der Choralpassion 
neben denen der Motettenpassion stehen. Aus der erste- 
ren sind die Reden des Evangelisten, zuweilen auch die 
des Heilands im Lectionston heriibergenommen, alle libri- 
gen Solopartien wie die Chorpartien sind im vielstimmigen 
Satze componirt. Noch heute kommt die Passion in ita- 
lienischen und andern katholischen Kirchen in diesem 
Mischstyl zum Vortrag. Auf protestantischer Seite be- 
gegnet uns als erste Frucht der Verschmelzung von 



16 

« 

Choral- und Motettenpassion die kiirzlich von Commer 

in der Musica sacra neu herausgegebene Johannespas- 

sion des bereits genannten B. Gesius (Wittenberg 1558). 

Von katholischen Componisten scheint diese vermittelnde 

Orlando Lasso. Form schon fruher angewendet zu sein. Zu Orlando 

Jac. Eeiner. Lasso und Jacob Reiner ist hier noch der Breslauer 

8. Besler. Cantor Samuel Besler zuzufiigen, welcher i. J. 1621 die 

A. Soandelli. choraliter gehaltene Johannespassion des Ant. Scandelli 

»mit der Chorstimme vermehrte«. Der Evangelist singt 

in einem mit freien und ausdruckvoUen Wendungen aller- 

dings bereicherten Lectionston, Christus vierstimmig, die 

Magd in einem Satze von drei hohen Stimmen, • Petrus 

von drei tiefen, der Diener zweistimmig, Pilatus bald in 

zwei bald in drei Stimmen. AUe mehrstimmigen Satze 

sind knapp aber charaktervoll. Einzelne Stellen wie 

»Siehe, das ist deine Mutter«, »Mich diirstet« und andere 

in der Christuspartie machen einen ausserordentlich mach- 

tigen und schonen Eindruck. 

Wichtiger als diese blosse Vermischung von Choral- 
und Motettenstyl, welche in der Passion nur selten ge- 
braucht, dagegen aber bei der Composition der Auf- 
erstehungsgeschichte die normale Form wurde, war die 
Wirkung, welche die Motettenpassion im eigenen Hause 
der Choralpassion selbst &usserte. Am stM,rksten macht 
sich dieselbe zunachst in den S3,tzen der turbae, den 
eigentlichen Chorsatzen, bemerkbar. Besonders wird die 
Melodik viel reicher. Der erste Componist, an dessen 
Choralpassionen man diese Beobachtung machen kann, 
ist der Freund und musikalische Mitarbeiter Luther's: 
Joh. Walter, der Torgauer Capellmeister Job. Walter. Seine dritte 
Passion, im Jahre 1 552 componirt, im Text der sogenannten 
seit Obrecht fiir die Passion gern benutzten Evangelien- 
harmonie folgend, bringt namentlich in den Satzen 
»Gott griiss dich, lieber Judenk6nig«, »Kreuzige« und 
»Andren hat er geholfen« Tonbilder, die in ihrer An- 
schaulichkeit jeden Vergleich mit dem Style in der alten 
Choralpassion verbieten. Auf einer ahnlichen Stufe, 
welche man immerhin schon dramatisch nennen konnte, 



"^ 



17 



-«^ 



stehen die meisten Chorsfitze in der Matthauspassion, 

welche Keuchenthal's Gesangbuch (1573) enthait. Kenohenthal. 

Nur in den Schlijssen folgen sie einer Certigen Scha- 

blone. Auch der vorhin schon genannte S. Besler*) 8. Bealer. 

hat in seinen vier Passionen, welche i. J. i6ii gedruckt 

sind, einzelne Chore im freieren Style. Bemerkenswerth 

sind in der Matthauspassion die Nunimern: »Herr, bin 

ich's?«, wWeissage uns«, »Wer ist's, der dich schlug«, in 

denen grosse Intervalle und Pausen in der Declamation 

viel wirken, und neben diesen die ganz kurzen Satze: 

»Barrabani« und ))Er rufet den Elias«. Wie schon aus der 

Oberstimme ^ .}, .] J J | |* ^ | . | ? | hat Besler 



zu ersehen: 



in den letz- 



Er ra.fbt den E - li . as. 

teren einen Zug des Bedauerns gelegt. In der Passion 
nach Marcus ist ebenfalls der Chor »Herr, bin ich's* be- 
achtenswerth, in der nach Lucas besonders die Nummer 
»Herr, sollen wir mit dem Schwert drein schlagen ?« wel- 
cher durch rhythmische Mittel (Pausen und Syncopen) 
ein trotziger Ausdruck gegeben ist. In der Passion nach 
Johannes wirkt das »Kreuzige« durch die spannenden 
Fermaten machtig. 

Das bedeutendste , was vor den entsprechenden 
Werken von Heinrich Schiitz innerhalb der Choralpas- 
sion an Naturwahrheit und Lebendigkeit des Ausdrucks 
im Chorsatz bis jetzt bekannt geworden ist, das haben 
zwei Thiiringer Cantoren geleistet, der Weimar'sche M. 
Vulpius in seiner Matthauspassion (I613j und Christoph 
Sc'hultz in Delitzsch in einer Lucaspassion vom Jahre chr. Schnltz. 
1653. Beide losen schwierige Declamationsaufgaben mit 
grosser Leichtigkeit. Einfach und natiirlich trifft Vulpius 



M. Vnlpins. 



*J Nach Kade (a. a. 0.) ist es wahrscheinlich, dass Besler 
diese Passionen nicht selbstSndig compoiiirt, sondern nur aus 
Slteren Werken, Drucken und (mittlerweile verloren gegaiigenen) 
Handschriften entnommen und bearbeitet hat. Neben Besler 
wild auch Stephani von Kade aus der Relhe der Componisten 
in die der uHerausgeber und Compllatoren « verwiesen. 

II, 1. 2 



-<Q^ 



18 



-&^ 



z. B. den Ton gleichgiiltiger Frivolitat iu dem Satzchen 
der Hohenpriester und Aeltesten: 



Sopraa. 
Alt. 



Tenor. 
Bass. 



r| ii/ f 1 1/ I'l' i *i^HiM^i 



Was gt.het tins das an? 

i i J J iJ J 



^J 



Da sie . he 



sie . ne 

A i 



du 



A 



tf.i.^ f r i> ^^ j- 1 1 r f - 1 " I _ I 



- rg^* r 



/ J I -T il 




VA* 



^ 



^ 



Bist da denn Oot^ ' '^ . 



Sohn? 



St' 



Schultz den der 

naivenVerwunde- 

rung in der Rede 

desversammelteii [fcji^ m 

Rathes : ^ 

Besonders auffallend ist aber die Sicherheit, mit welcher 

diese Tonsetzer in ihren kurzen Chorsatzen den Fanatismus 

der Menge gezeichnet haben. Das »Barrabani« bei Vulpius 

jagt in hoher Stimmlage in iiberstiirzenden Rhythmen hin, 

Noch bedeutender ist sein i>Lass ihn kreuzigentf, fiir das er 

Discant und Tenor verdoppelt, wie er nach der anderen 

Seite seinen von vornherein vierstimmigen Satz gegebenen 

Falls auch zusammenzieht, bei der Vernehmung der fal- 

schen Zeugen z. B. in einen zweistimmigen. Der sechs- 

stimmige Satz: »Lass ihn kreuzigena sieht aus wie folgt 



1. Disoani. 




2.Dl8Caiit. inilf P P Pp I 



Alt. 

Lfenor. 
a.Tcnor. 

Bass. 



Lass Qui fareozigen, 



lass ihn 1urenzigen,Iass ihn krenzi-genl 

I r |) I nip I p^ B 



Lassifanki«uigen,la6s ihnIurenzigen,lassihnkreii!iigeBjassihnKrexBi-gei 



genl 




|iT|ip<p |i|i I I' l 'fi'^pr pp'pi" ! 



Lass ihnkMuzigen,lassihnkieiuigan,lassihnIiieazi.gen! 



1 



19 



Mil einer noch wilderen Entschiedenheit herrschen die 
Juden bei Schultz dem Landpfleger zu: 



tDiscant. 

Z-Discant. 
Alt. 

l.T«nor. 
2.Tenor. 

Bass. 




Krcuige, kMuige.kivQsigeQuiSKreiislge.kreiisiga, kmisLfc iho! 



■Tpft^mppfii' TpfiMi i|i f | i|i | i i"i 




Krenxige 



, knntiige,krettxigeihn!Kreiaige,kreiuige, kreau.ge Qm! 




Etwas gemS,chlicher und kaltblutiger ist das dem letzten 
Satze vorausgehende 



f.Discant. 
S.Discaftt. 

Alt. 

I.Tenor. 

S.Tenor. 

Bass. 



^M 



jm i T j)p J>r r i p {I f 



HiQW«g»hijijreg, hin . mvg mit dtm, 



J?p J? i r r ^^ 



Hinweg.hia.irag, bU . irag mH dam, 



lf^"'|-" i^-' I I I I I I 



HiB.««g,hiii.weg, 



Hin . wegihimreg, 



Hin . irBg,hui.weg, 

VMM H i ' 



Hin . weg.Un.weg, 



hin.weg,hin.weg, hin 



^nr M f h J)p J>^^ 



p*r p P r ^ 



hin.weg,hin.weg, hin 



^^ 



P 



hin.wsg, hin . 

I f ,. p p r m 



hin . w«g,hiii.iin»g, 



2* 



-^> 



20 



-et^ 



|| |i I'll I || I I II I r i"i i 




hinweg mit die.sem und gieb uns 

m 

gieb 



Bar.rabam losl 



\> |) |)ii' |) M r If ;r 1 -^ 

mweff mit dia.semund kieb uns Bar.rabam losl 



hinweg 



weg imt dem,l)iiiweg,hiilweg mit die.sem and gleb uns 



>p p p p p p r p i f r ^p p p ^ 

wegmitdem,hinweg,hinwegmit die.sem nnd gleb uns Bat- 



Bar. rabam losl 



PC I" y 



rabam lost 



^ r r p p p p'f' p p '' ^ K' p iij ^i 



weg, bin . weg.hinweg nut die.sem tymd gieb uns Bar. ra. bam lost 

;^LT J)p J)fi pP p | r f * p p'pij. jif ^ 

hinweg, hinweg.hinweg mit cUe . sem und gieb ons Bar.rabam losl 



Es ist nicht alles reif und schon in diesen Satzchen. Die 
einzelnen Stimmen gehen zuweilen steif und gewungen, 
und uns, die wir der lateinischen Zeit fern stehen, 
storen undeutsche Sylbenbetonungen wie die am Schlusse 
des Vulpius'schen Satzes empfindlich. Aber es liegt doch 
entschiedener Situationscharakter in diesen Choren, und 
wir glauben nichts herein zu interpretiren, wenn wir in der 
etwas iibertriebenen Beweglichkeit auch das besondere 
jiidische Element angedeutet erblicken. Diese Gabe, sich 
realistisch auszudriicken, welche die Mehrzahl der deutr 
schen Musiker in Italien aufsuchten, erwarben sich jene 
Thiiringer in ihrer Heimath. In den thiiringischen Cur- 
rendengesangen jener Zeit bildet dieser welthche, reahs- 
tische Zug ein kennzeichnendes Merkmal. Auch Sebastian 
Bach ist durch diese Schule gegangen, und es wird wohl 
mehr als blosser Zufall sein, wenn seine Matthauspassion 
in den Chorstellen ))So steig herab vom Kreuzcf, »Anderen 
hat er geholfen«, Er rufet den Elias« in kleinen und grosseren 
Ziigen mit Vulpius Aehnhchkeit zeigt. 

Aussei" den durch den Bibeltext selbst gegebenen 
Chorsatzen, haben die Choralpassionen alle noch zwei 
Zusatze, welche in der Kegel ebenfalls mehrstimmig ge- 
geben wurden. Der erste ist der Introitus, auch Prafation 



-fr 2\ ^- 

genannt, eine kurze feierliche Einleitung mit demWortlaut 
»Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi, wie es St. Mat- 
thaus (Marcus, Lucas, Johannes — oder die vier Evan- 
gelistenj beschreibet«. Dieser kurze Ueberschriftenstyl 
wird zuweilen durch ein vorausgeschicktes »horet an« in 
einen Aufforderungssatz umgestaltet In der lakonischen 
Fassung sowohl, wie in der erweiterten kommt der Introi- 
tus bekanntlich auch vor anderen liturgischen Stiicken 
vor. Handel hat diesen feierlichen Brauch im »Israel in 
Egypten« bei dem Lobgesang der Kinder Israel ins Ora- 
torium hiniibergenommen. Der zweite Zusatz war die 
sogenannte Gratiarum actio, auch Conclusio genannt, ein 
die Stelle des Respons vertretender Schlussgesang liber 
die Worte »Dank sei unserem Herrn Jesu Christo, der uns 
erloset hat durch sein Leiden von der H611e« oder ahn- 
liche. Die Gratiarum actio fehlt haufig, in katholischen 
Ghoralpassionen sehr oft; der Introitus dagegen nie. Wohl 
aber ist er haufig dem Evangelisten allein im Choralton 
iibertragen, so auch in der Walter'schen Passion vom 
Jahre 4 552. Wenn aber in den Ghoralpassionen, welche 
in den biblischen Ghoren den alten Styl verlassen haben, 
die beiden Zusatze da und, mehrstimmig componirt sind, 
so zeigen sie ebenfalls die Einwirkung der Motettenpassion 
und zwar sie ganz besonders durch reichere Einmischung 
von Goloraturen und Melismen. 

Diejenigen Gomponisten, welche in" den Ghorsatzen 
der Ghoralpassion iiber den alten Styl hinausgingen^ 
haben auch in den Recitativen sich mannigfache sinn- 
reiche Abweichungen vom Lectionenton erlaubt. Auch 
hier ist Walter wieder der Erste. Manche neue Wen- 
dungen, die er dem Evangelisten und den Nebenpersonen 
giebt, konnen auf Rechnung des romischen Passionstons, 
gesetzt werden. Die ganze Haltung der Ghristuspartie 
geht aber iiber den Kinfluss eines sokhen Yorbildes 
hinatis; sie ist das Werk einer starken eigenen kiinst- 
lerischen Anschauung. Wir durfen Walter auch nach einer 
anderen Richtung einen reform atorischen Schritt in der 
Geschichte der Ghoralpassion zuschreiben. Er fiigte 



22 4- 

den herkommlichen drei Solisten einen vierten hinzu: 
einen Sopran, welcher dem ehemaligen Vertreter der 
sammtlichen Nebenpartien^ dem falsettirenden Succentor 
die Magde, die Thurhtiterin und seltsamer Weise auch 
den Hohenpriester abnahm. Es ist nicht das einzige 
Mai, dass in der Geschichte der Musik gegen die dra- 
matische Wahrscheinlichkeit verstossen worden ist. Da 
die Kunstmusik des <6. Jahrhunderts weit davon. ent- 
fernt war, Manner und Frauen nach dem Stimmklang 
zu scheiden, fand Walter's Passionssopran durchaus 
nicht schnelle Zustimmung; die Magd blieb bis tief ins 
siebzehnte Jahrhundert hinein noch Eigenthum des Fal- 
settisten. 

Vereinzelte liebe voile Ziige im Recitativ fehlen auch 
in solchen Choralpassionen nicht, die im Allgemeinen 
streng im vorgeschriebenen Tone gehalten sind. So hat 
z. B. Lossius eine unverkennbar freundliche Wendung am 
Anfang seines Werkes fiir das Wort discipuli (Schiiler). 
Auch bei Keuchenthal stellt sich an demselben Orte 
n sprach er zu seinen Jiingern« ein voUstandiger Abschnitt 



herzlichen deutschen ^^J^p | f ' p f J \ ^J J) E- 
Liedgesanges em: '^ „,ai .r i. Lr^n L.g«r. 

Und fast genau so<singt auch S. Besler in seiner Matth^us- 
passion diese Worte. Bei ihm ist das Bestreben, wichtige 
Einzelheiten in Handlung und Rede der Solopersonen 
aus dem Choraltone herauszuheben , schon ein grund- 
satzliches. Er verlasst bei bedeutenden Worten wie 
»t6dten« und wkreuzigena den gleichen Ton der Declama- 
tion, er lasst den Evangelisten die Betrubniss der Jiinger 
mit einem kurzen melodischen Striche malen, sein Pilatus 
(in der Johannespassion) ruft von Riihrung und Bewun- 
derung ergriffen: »Sehet, welch einMensch«; Besler sagt 
sich sogar von den Schlussfallen des Evangelisten los, 
welche Andere ' nie antasten. Namentlich die Christus- 
partie hat in alien Passionen Besler's AHschnitte, in denen 
der Choralton ganz vergessen ist. Das »Petre, ich sage 
dir« in der Lucaspassion, die Einsetzungsworte in dieser, 
wie auch in Besler^s MatthHuspassion, sind musterhafte 



-♦ 23 ^ 

Beispiele eines schdnen, gehaltvollen , einfach wCLrdigen 
Gesangstyls. 

Auch Vulpius und Schultz bauen den Choralton in 
den Recitativen melodisch aus, sie geben logische Ac- 
cente init Wechselnoten und gestalten in Schlussen und 
auch in Eins&tzen frei ohne Rucksicht auf das Her- 
kommen. Letzteres thut besonders Schultz, der bereits • 
im Begriffe steht, Aeusserlichkeiten der Geschichte malen 
zu woUen , z. B. i j j J | f^' ■ : Gerade f lir Petrus 
wenn er anfangt ^ ^ ."", .^^ 'j^ * zeigt sich in den 
Sunden gegen den Choralton ein besonderes gutherziges 
Interesse. Bei Schultz heisst ^ fl ff fl I J. j I J 
es: »Der Herr wandte sich *^ Ji i». hi ft . tr«m m 
In der Lucaspassion von Schiitz ist dieselbe Stelle (mit 
Ausnahme einer unbedeutenden Note im Auftact) genau 
so componirt; doch aber bleibt die Wirkung gering, weil 
das Motiv schon vother verbraucht ist. 

Mit Heinrich Schiitz sind wir bei demjenigen H. Schfit?. 
Kiinstler angekommen, welcher alle die bisherigen Ver- 
suche, im Schema der Ghoralpassion musikalisch reicheren 
Ausdruck zu gewinnen, bis ans Ende fuhrte. Die Pas- 
sionen von Schiitz hS,ngen mit den Choralpassionen 
ausserhch insofern noch zusammen, als sie sich auf die 
zwei hergebrachten musikalischen Formen beschranken: 
dea unbegleiteten Einzelgesang fiir den Evangelisten und • 

die Sololoquenten und den unbegleiteten Chorsatz fiir ^ 

die turbae. Innerlich aber hat Schiitz mit der Gattung 
nahezu gebrochen. Seine Einzelgesange stehen dem mo- 
dernen Recitative viel naher als dem vorgeschriebenen 
Leclionston, seine Chore sind schlechtweg dramatisch 
und nicht etwa bios, wie bei Vulpius, Schultz und anderen 
Vorgangern, bier und da, sondern grundsatzlich vom An- 
fang des Evangeliums bis zum Schluss. Sie sind im 
engsten Anschluss an Charakter von Personen und Situ- 
ation ersonnen, sie zeichnen aufs Feinste und Sch9,rfste 
AUes, was bei den augenblicklichen Aeusserungen der 
Parteien in Betracht kommt, sie geben Leidenschaften 



"^ 2i ^^ 

und Stimmungen mit fortwahrendem Hinblick auf den 
Zusammenhang des Ganzen wieder, sogar mit Bertick- 
sichtigung ausserlicher Dinge, wi6 die gesellscliaftliche 
Stellung, die zwischen den Sprechern liegt und dem, 
Welchem die Rede gilt. Sie lassen endlich den Grundton, 
durch welchen sich die Berichte der einzelnen Evange- 
listen unterscheiden , jedesmal in besonderen Farbungen 
der Musik durchklingen. Und das Alles in einem einfach 
belebten Style, wie er fiir den vierstimmigen Chorsatz 
kaum natiirlicher sein kann. 

In der jiingst vollendeten, von Ph. Spitta redigirten, 
Gesammtausgabe der Werke von Heinrich Schiitz*), von 
deren praktischer Benutzung wir viel Segen fur die 
weitere Entwickelung der Tonkunst erwarten diirfen, 
stehen die vier Passionen im ersten Bande gedruckt. 
Aber gerade die Passionen sind schon fast zwei Jahr- 
zehnte vor dieser Gesammtausgabe, allerdings nicht ori- 
ginalgetreu und voUstandig, wieder bekannt und in die 
Praxis eingefiigt worden und zwar in einer Bearbeitung 
von Carl Riedel**), welcher nach Art der Evangelien- 
harmonie Sologesange und Chore aus alien 4 Passionen 
zu einem rieuen Ganzen aneinandergereiht und mit Orgel- 
begleitung versehen hat. Trotz der Bedenken , welche 
gegen ihre Methode -^ am starksten von M. Hauptmann 
— erhoben worden sind, ist diese Bearbeitung fiir zahl- 
reiche Auffiihrungen benutzt worden; in ihr und durch 
sie ist Schiitz in grossen imd kleinen Stadten Deutsch- 
lands wieder als eine bedeutende Erscheinung der deut- 
schen Musikgeschichte bekannt geword^n, und Carl Riedel 
wird das Verdienst bleiben., dass er in einer Zeit, in 
welcher der historische Sinn noch schlummerte, fiir einen 
unserer begten alten Tonmeister einen zwar nicht ganz 
correcten, aber erfolgreichen Sieg gewonnen hat. Die 



*) Leipzig, Breitkopf und Hartel. 
**) Leipzig, E. W. Fritzsch. 



-«<> 



25 



Matth^uspassion allein ist neuerdings von Arnold Mendels- 
sohn in einer nach Riedel'scher Art modernisirenden 
Bearbeitung herausgegeben worden. Mendelssohn hat 
die Schutz'sche Choralrecitation in begleitetes Recitativ 
verwandelt und auch bei den Choren gehen Orgel oder 
Clavier mit. Diesen Versuchen*; gegeniiber ist die That- 
sache beachtenswerth, dass in den letzten Jahren in 
der Leipziger Luther -Kirche Schutz'sche Passionen ori- 
ginalgetreu im Gottesdienst aufgefiihrt worden sind und 
an dieser Stelle, fiir die sie bestimmt sind, erbaulich 
gewirkt haben. 

Aus dem Lebenslauf, welchen der Oberhofprediger 
Geier in Dresden der Leichenrede auf den Componisten 
hinzufugte, wissen wir, dass Schutz drei seiner Passionen 
im hohen Alter geschrieben hat Zwei von diesen drei 
sind in der Matthauspassion und der Johsinnespassion 
der Gesammtausgabe festgestellt. Fiir die erstere liegt 
handschriftlich 1666, fiir die andere 1665 als Entstehungs- 
jahr vor. Aus guten Griinden wird die Lucaspassion 
ein gutes Stiick vor diese beiden Werke gesetzt werden 
miissen. Die Matth&uspassion gilt unter diesen dreien 
fiir die bedeutendste wegen ihrer » Recitative a. Dem mo- 
dernen Horer, welcher fiir den unbegleiteten Sologesang 
mangelhaft oder gar nicht geschult ist, werden allerdings 
diese Recitative zunachst mehr fremdartig und eintonig 
als gehaltvoll vorkommen. Ja, es wiirde verfehlt sein, in 
Abrede zu stellen, dass diese Recitative auch kunst- 
geschichtlich stets die Bedeutung eines Experimentes be- 
haiten werden, eines Versuches, zwischen zwei ganz ent- 
gegengesetzten Stylarten, der neuen Monodie der Italiener 
und dem alten Choralton, einen Mittelweg zu fmden. Es 



H. Sohfitz, 

MattUus- 
passion. 



*) Auch Friedrich Spitta (der Bruder des Bachbiographen), 
der die Passionen von Sehiitz in einer besonderen Mono- 
graphie behandelt hat, halt die Beigabe einer Begleitung fur 
ein nothwendiges nZugestandnissa an die Gegenwart. 



26 ^ 

ist ein neuer Geist, aber in der alten Form! Dks ist 
wohl sicher: Jeder, der sich in diese Sologesange tiefer 
einlebt, sie im richtigen, nicht im verschleppten Tempo 
hort, der wird in ihnen den Griffel eines grossen Kflnstlers 
spiiren und mit Bewunderung sehen, wie viel Schiitz 
innerhalb eines ausserst gebundenen Styls und mit ganz 
beschrankten Mitteln angedeutet oder klar ausgedriickt 
hat. Am schnellsten fallen die malerischen Einzelheiten 
ins Auge, welche der bildliche Gehalt von Worten und 
Satzen dem Tonsetzer in die Feder gefiihrt hat. Tiefer 
liegen die bedeutenden Ziige bewegten Mitempfindens, an 
welchen nam^ntlich die Partie des Evangelisten ausser- 
ordentlich reich ist. Er weiss uns zu riihren und zu 
spannen. Einmal unterbricht er den Choralton mit we- 
nigen herzlichen Gesangnoten , ein andermal veriasst er 
ihn ganz, mn iix motivischen Steigerungen , die den spe- 
ciellen Einfluss Monteverdi's deutlich zeigen, die besondere 
Wichtigkeit eines dramatischen Vorgangs entsprechend 
wiederzugeben. Interessant ist es auch, wie der Evan- 
gelist in vielen Schliissen seiner Erzahlung d^n inneren 
Ton der folgenden Reden vorbereitet. Die iibrigen Einzel- 
personen der Leidensgeschichte sind mit kurzen genialen 
Strichen hingestellt. Christus in der Matthauspassion: 
ernst, in edler Wehmuth, trauernd; Petrus: weich, erreg- 
lich; Pilatus: freundlich gemessen; Caiphas: gespreizt; 
Judas keck, vordringlich frivol. 

Scharfer als Besler und andere Tonsetzer, welche die 
Passion mehrmals nach den versehiedenen Berichten der 
Evangelisten componirt haben, hat Schiitz jedes Evan- 
gelium durch eine besondere Tonart zu zeichnen gesucht. 
Seine Passion nach Matthaus hat die dorische. Der In- 
troitus bringt deren Wesen eindringlich zum Ausdruck; 
hervorstechend ist die Verwendung des C moll- Accords : 
sein schmerzlicher Klang wird durch die eingefugte Vor- 
haltsdissonanz noch herber. Schiitzens Einleitungsges^nge 
sind in den anderen Passionen langer als bei seinen Vor- 
gangern ; der nach Matthaus macht hierin eine Ausnahme, 
zeigt aber im Charakter die alien gemeinsame Mischung 



97 

von choralartig anklingender kirchlicher Musik und be- 
schreibender Beweglichkeit ebenfalls. 

Der Evangelist beginnt nur wenig von dem Style 
des Choral tons verschieden. Erst am Schlusse wird 
seine Erzahlung individuell belebt. Chtisti Rede klingt 
triib, an einzelnen Stellen klagend. Nach ihr nimmt 
das Recitativ des Evangelisten einen lebhafteren Cha- 
rakter an: er sieht die Damonen des Passionsdramas 
nahen: die Hohenpriester und Schriftgelehrten beginnen 
ihren ersten Chor »Ja nicht auf das Festd. Schiitz zeichnet 
sie als kluge, wohl berechnende Manner. Wie in den 
meisten der Passionschore stutzt sich Ausdruck und 
Charakter auf ein kurzes Hauptmotiv, welches die Stim- 
men sehr frei, lebendig und natiirlicb unter einander 
vertheilen: Es ist i fiti^^'g \ welches der Tenor zu- 
hier das kurze : Iff ' '^' '' j^ J^ ' erst anhebt. Anfang 
und Schlusstheil des nur i5 Takte betragenden Satzes 
sind iiber diese zwei Noten aufgebaut, in der Mitte steht 
eine Episode erregterer Natur, in welcher die Hohen- 
priester und Gelehrten ihrer Besorgniss wegen des Auf- 
standes einen halb launigen Ausdruck geben. Ihr Motiv 
kehrt in dem gleichen Chore der Marcuspassion bei dem 
Worte ))Aufruhr« wieder. In dem folgenden Recitative 
ist die Stelle von besonderer Schonheit, an welcher der 
Evangelist malt, wie das Weib das kostliche Wasser auf 
Jesus Haupt ausgiesst. Die jetzt anschliessenden zwei 
Chore der Jiinger: »Wozu dienet dieser Unrath«, »Wo 
willst du, dass wir dir bereiten«, haben einen harten, 
trockenen, nahezu unfreundlichen Zug, der gegen den 
innigen Ton, welchen Schiitz den Jiingern in den anderen 
Evangelien gegeben hat, ganz auffallig absticht. Der 
Grund fiir diese Auffassung des Componisten liegt in 
der Gethsemanescene. Denn gerade Matthaus schildert 
in dieser mit viel grosserem Nachdruck als die anderen 
Evangelisten das Verhalten der Junger als unriihmlich, 
gleichgultig und lieblos. Der dritte Chor. »Herr, bin ich'sa 
bringt eine Wendung ; aus seinem Schlusse klingt die Liebe. 
Er ist trotz seiner Ktirze (7 Takte) ein Meisterstiick der 



-<»> 28 <fc^ 

Seelenmalerei und schildert ergreifend den Uebergang von 
Verlegenheit zu herzlicher Warme. Aus den Recitativen, 
welche diesen Choren vorausgehen , tritt besonders die 
Partie des Judas hervor, wWas woUt ihr mir geben«. Der 
Verrather macht den Hohenprie stern sein Angebot in der 
freudigen, prahlerischen Aufregung eiiies eitlen Patrons, 
der einen besonders gliicklichen Gedanken zu haben glaubt. 
Die Wiederholung des »Ich« ist hierfur bezeichnend. Nur 
ganz am Schlusse lasst er merken, dass er in dem 
Handel doch etwas Dunkles fuhlt. Den herausfordemden 
Ton tragen auch die Worte, mit denen Judas die feier- 
lich trtibe Anklage gegen den »Menschen, durch welchen 
des Menschen Sohn verrathen wird« beantwortet: »Bin 
ich's, bin ich's, Rabbi ?« Die Wiederholungen von 
Worten und Satzen und die entschiedenen Melodiescbritte 
wie in der Partie des Judas, kommen so bei keinem 
der tibrigen Colloquenten vor. Den Schluss dieser 
Scene bilden die Einsetzungsworte , deren liturgischer 
feierlicher Ton in den Eriauterungssatzen Jesu »Ich sage 
Euch, ich werde von nun an von dem Gewachs des 
Weinstocks nicht mehr trinken« ein wehmiithiges Nach- 
spiel erhalt. In der kurzen Scene am Oelberg sind die 
innig herzlichen Worte des Petrus »Und wenn ich mit dir 
sterben miisste etc.« von besonderem Eindruck. Der 
nun folgende ISngere Abschnitt: Jesu auf Gethsemane 
behandelnd, ist eine der bedeutendsten Partien in dem 
Recitativtheile der Matthauspassion. Der Evangelist schil- 
dert hier einzelne Ziige (wie Ghristus zum Gebete hin- 
fallt, wie er enttauscht ist, die Jiinger schlafend zu 
finden) in* besonders anschaulichen Tonwendungen, 
und aus seinem ganzen Vortrage spricht die tiefste 
und lebendigste Theilnahme. Aus den Reden Christi 
klingt eine schmerzliche Resignation; von hervorragen- 
dem Eindruck ist der Schluss »Stehet auf^ lasst uns 
gehen«, in welchem die muthige Fassung mit der Ver- 
zweifelung ringt. 

Aus der Scene, wo Jesus verhaftet und zu Caiphas 
gefiihrt wird, ist die Stelle in der Erzahlung des Evan- 



-fr 29 ♦- 

gelisten hervorzuheben, welche von dem Angriff auf den 
Knecht des Hohenpriesters berichtet. 

Die Worte der beiden falschen Zeugen sind in einem 
Canon wiedergegeben , welcher in der ersten Hftlfte die 
obere Secunde, in der zweiten die untere einhalt. Ohne 
Zweifel hat Schiitz die Form des Canons als ein scharfes 
Mittel der Charakteristik gewablt. Die iibertrieben feier- 
lich einsetzende und dann zwischen Schwulst und Leicht- 
fertigkeit einherschwankende Aussage wird durch das 
mechanische Mit- und Nachplappern des zweiten Zeugen 
doppelt widerwartig und lacherlich. 

Die Antworten, welche Christus dem Hohenpriester 
Caiphas giebt, tragen einen Ton vornehmer Ruhe und 
Hoheit, welcher, verglichen mit der Stimmung, die in 
Jesu Reden auf Gethsemane zum Ausdruk kam, sofort 
verstHndlich sein muss. Der Chor der Schriftgelehrten 
und Aeltesten, »Er ist des Todes schuldiga zeigt nichts 
von der Erregung und der Bitterkeit, welche man in 
diesen Worten erwarten konnte. Dieses Urtheil wird 
vielmehr in dem leicbten Tone eingesetzt, mit dem man 
etwas ganz Selbstverstandliches zu sagen pflegt. Schiitzens 
Absicht geht hier, wie das auch schon in d^r Nummer 
der falschen Zeugen der Fall war, darauf hin, in dem 
Verhalten der Anklager das abgekartete Spiel durch- 
merken zu lassen. Das ganze Verhor iiber nehmen sie 
die Sache vorwiegend leicht, kurz und mit einem bru- 
talen Humor. Am stechendsten driickt diesen der nachste 
Chor aus: »Weissage uns, Christe, wer ist es, der dich 
schlug?« In roher Lustigkeit tanzelnd fangt er an, dann 
wird der Titel »Christe« hohnisch feierlich in breiten Rhyth- 
men gegeben. In quaierischen Steigerungen wiederholen 
sie die trocken styiisirte Frage »wer ist es, der dich 
schlugw, und um den Ganzen die Krone aufzusetzen, 
heucheln sie aufhorend auch noch Mitleid. Man ware 
kaum verwundert, diesen Chor noch durch einen Takt 
nackten Gelachters verlangert zu sehen. Das zwischen 
diesen beiden Chfiren liegende kurze Recitativ des Evan- 
gelisten hat den Ton tiefer Betriibniss. 



<fr 30 ^ 

Die Scene von Petri Verleugnung ist als besondere 
Episode auch in der Tonart keiintlich gemacht. Der 
F dur-Einsatz bei den Worten »Petrus aber sass draussen« 
nach dem A dur-Schluss des letzten Chors fiihrt anschau- 
lich aus dem Palast hinaus. Ueber der Partie des Evan- 
gelisten liegt in dieser ganzen Scene ein Ton der Ver- 
wunderung und des Bedauerns. Das letztere findet seinen 
gr5ssten Ausdruck am Schlusse, wo der Hahn gekraht 
hat und Petrus bitterlich weint. In den Reden Petri 
wird man die steigende Aufregung beobachten konnen; 
seine dritte Betheuerung: olch kenne des Menschen 
nicht« setzt er forcirt mit hohem Ton ein. Aus der Reihe 
der Belastungszeugen des Jiingers tritt natlirlich der Chor 
am meisten hervor. Derselbe setzt das »Wahrlich« mit 
breitem und entscheidendem Nacbdruk ein, die Worte 
»du bist auch einer von denen« sind leicht hin gegeben, 
wie des Beweises und der Erorterung nicht bediirftig. 

In der kurzen Episode, welche die Reue und den 
Selbstmord des Judas enthalt, sind zunSchst die Worte 
des Judas selbst sehr bemerkenswerth. Wie kleinlaut klingt 
das »Ich habe ubel gethan« gegen das friihere »Was wollt 
ihr mir geben« des ungliicklichen Thors. Der Ausdruck 
auf dem Worte »iibel« und der Schluss hat etwas Ver* 
sohnendes. Die Hohenpriester behandeln den Zwischenfall 
mit miihsam erheuchelter Gleichgiiltigkeit. Das schnelle 
vorzeitige Abschliessen auf »Was geht uns das an«, die 
Fortsetzung, die sich in iibereinandersttirzenden kurzen 
Imitation en des »Da siehe du zu« weiter hilft, sind be- 
zeichnend. In dem zweiten Chor »Es taugt nichtcc ist die 
Verlegenheit noch ersichtlicher; aus dem halb schauer- 
lichen Schlusse »denn es ist Blutgelda spricht das bose 
Gewissen. - 

Der langen Scene, wo Ghristus vor Pilatus steht 
und der Landpfleger mit den Juden iiber Freigebnng ver- 
handelt, hat Schiitz durch die Tonschliisse in den Partien 
des Evangelisten und des Pilatus einen spannenden 
Charakter zu geben versucht. Einen fiir Uneingeweihte 
fasslicheren Anhalt gewinnt sie mit dem Eintritt der 



-fr 31 ^ 

Chore, in denen zum ersten Male das Volk der Juden 
das Wort nimmt. Schiitz schreibt: »der ganze Haufe«« 
Der erste Chor »Barrabam« hat nichts von Fanatismus, 
aber etwas Uebermuth und er giebt das unruhige Bild 
einer Menge , in welcher der Eine vom Anderen gereizt 
und in einen ausserlichen Eifer hineingedrangt wird. In 
dem nach einem kurzen Recitative wiederholten »Lass 
ihn kreuzigen« tritt dieser Uebermuth noch starker her- 
vor; besonders frivol und hart klingt das kurz und 
schnell herausgestossene Wort »kreuzigen«. Nachdem Pi- 
latus sehr ausdrucksvoU und bewegt erklart »Ich bin un- 
schuldig an dem Blut dieses Gerechten«, nimmt der Haufe 
das eigene Wort des Pilatus »Sein Blut« mit einem, Nach- 
druck auf, der in seiner hohnischen Breite etwas Belei- 
digendes hat. Die parodirende Absicht wird durch den 
hastig hingeworfenen Vortrag des Nacbsatzes »komme 
iiber uns« noch deutlicher. Die Partie des Evangelisten, 
welche den Spottchor der Kriegsknechte einleitet, ist her- 
vorragend reich an malerischen Wendungen: Das Geis- 
seln, das Kreuzigen ist in kurzen Tonbiegungen ange- 
deutet, das Umlegen des Purpurmantels , das Flechten 
und Aufsetzen der Dornenkrone, das Kniebeugen in 
breiteren Melodiezugen ausgefiihrt. Der Spottchor selbst 
bewegt sich wieder in Contrasten: gesuchte Feierlichkeit 
wechselt im »Gegriisset« mit lacherlicher Beweglichkeit ; 
mit nicht misszuverstehender Realistik zischt das »du, du« 
schneidend hinein. Von hier an bis zum Ende Jesu nimmt 
der Bericht des Evangelisten einen aufgeregten Ton an; 
die Melodik hebt die Einzelheiten der Vorgange nach- 
drucklich heraus und wird zuweilen ganz modern. Voll- 
standig leidenschaftlich , wie vom wilden Schmerz ge- 
packt, singt der Evangelist namentlich die Worte: »Aber 
Jesus schrie abermals laut und verschied«. Ein guter 
Sanger, welcher die nothigen Pausen einschaltet, wird 
mit dieser Stelle erschiittern. Auch die Schilderung von 
dem Zerreissen des Vorhangs und dem Erdbeben ist 
hochst dramatisch. Den Hohepunkt in dem recitativi- 
schen Theil der Kreuzigungsscene , ja wohl der ganzen 



^ 32 <fc- 

Matthauspassion bildet aber, dem alten Brauch der Cho- 
ralpassion entsprechend, d'as »Eli« Christi. Es hat fol- 
gende Fassung*): 




» . K. E . tt, E .. lil U . ma % . - . sab.tha . . nil 

£s kann kein einfacheres und sprechenderes Bild der 
Seelennoth geben, als diese miihsame Melodie : der natur- 
wahre Ausdruck der letzten um Hulfe ringenden Kraft- 
anstrengung und des letzten stossweisen Ermattens und 
Erloschens. 

In den ChSren, welche die Hohenpriester, Schrift- 
gelehrten und die Juden wahrend der Kreuzigungsscene 
sin gen, ist der leichtfertige Ton einem ernsteren gewichen. 
Am freiesten treiben sie ihren Spott noch am Schlusse 
von »Anderen hat er geholfen« mit den parodirenden 
Wiederholungen des "Ich". Am scharfsten kommt die in der 
Stimmung und Gesinnung der Menge eingetretene Wen- 
dung zum Ausdruck in dem Chor des »Hauptmann sammt 
den Kriegsknechten« bei den Einsatzworten : »Wahrlich, 
dieser ist Gottes Sohn gewesen«. Der Schreck des Erd- 
bebens lasst sie ihr Glaubensbekenntniss in wirren Tonen 
sprechen. Auch die Haltung der Hohenpriester gegen 
den Pilatus ist eine andere geworden, als sie in der 
Verhorscene war. Ohne jeden herausfordernden Bei- 
klang, aber mit wohl studirter Betonung und kunstlicher 
Ruhe, tragen sie ihm das Verlangen, das Grab zu ver- 
wahren, vor. 

An Stelle der ublichen Conclusio, der Gratiarum actio 
mit ihren stehenden Textworten: »Dank sei unsrem 
Herrn etc.« hat Schiitz einen Gesangbuchvers genommen, 
die letzte Strophe des Liedes : »Ach, wir armen Sunder !« 
Die Melodie dieses Chorals hat er jedoch nicht benutzt, 
sondern zu dem »Ehre sei dir, Christe« etc. eine freie 



*) Wir folgen hiei der Notenubertraguiig von A. Mendels- 
sohn. 



-^ 33 -fr^ 

und sehr reiche Musik gesetzt, wie man sie in keinem 
Schlusssatze der fruheren Choralpassionen kennt und wie 
man sie an dieser Stelle auch in den anderen Passionen 
von Schiitz selbst nicht wiederfindet. Die erste Halfte 
des, mit dem bisherigen Branch verglichen, aussergewohn- 
lich langen Satzes ist declamatorisch mit kurzer Beto- 
nung einzelner Textbilder: wie Todesleiden, ewige Herr- 
schaft. Mit den Litaneiworten »hilf uns armen Siindern« 
schlagt aber der Chor einen innigen melodischen Weg 
ein, der iiber die Hohe freudiger Glaubensbegeisterung 
in das Gebiet frommer Zuversicht und Hoffnung aus- 
miindet. 

Schiitzens Lucaspassion ist wahrscheinlich be* H. Sohfltz, 
deutend alter als die Passionen nach Matth^us und Jo- Lucaspassion. 
hannes. Wenn die inneren Eigenschaften eines Musik- 
werks geniigten, um sein Alter zu bestimmen, so diirfte 
man geneigt sein , diese Passion in die Jugendzeit des 
Componisten zu setzen, wenigstens soweit es sich um 
die Partie des Evangelisten handelt; denn dessen Reci- 
tative halten mit denen in der Johannes- oder gar Mat* 
thSuspassion keinen Vergleich aus; ja sie verfehlen so- 
gar vielfach den Charakter der Erzahlung. Schiitzens 
unleugbar feines Geftihl fur Styl und Wesen der ein- 
zelnen Evangelisten und die Thatsache, dass Lucas grelle 
"Einzelheiten der Leidensgeschischte iibergeht, dass er 
freundliche Episoden berichtet, welche die anderen Evan- 
gelisten nur fliichtig beriihren oder gar nicht, dass im 
Ganzen iiber seinem Berichte ein Ton der Milde liegt, — 
diese Umstande alle reichen nicht aus, um das halb ver- 
gniigliche, verbindliche Gesicht zu erklaren, mit welchem 
der Evangelist in Schiitzens Lucaspassion seinen Bericht 
vortragt. Schiitz ist hier auf halbem Wege stehen ge- 
blieben. Er glaubte im Wesentlichen den Choralton bei- 
behalten zu diirfen und hielt es fiir geniigend, wenn er 
demselben noch einige typische Ziige hinzufiigte. Diese 
Zuthat von Typen hat aber mehr entstellend als berei- 
chernd gewirkt; namentlich ist es der dem alten choral- 
massigen a-c neu angetraut hohere Terzengang c d e c, 

II, 1. 3 



-^ 34 -^- 

der in seiner ubermassig haufigen Verwendung dem Vor- 
Irag des Evangelislen den unpassenden wohlbefriedigten 
Grundton giebt. Einzelne Stellen in dem Berichte des 
Evangelisten slehen uber dieser geringen Stufe. Es sind 
vorwiegend solche, die kleinere Malereien bei geeigneten 
Worten (fiirchten, kreuzigen etc.) enlhalten. Ein grosserer 
Abschnitt freien und bewegten Vortrags iindet sich bei 
der Gebetsscene am Oelberg: »Es erschien ihm aber ein 
En gel etc.«i 

Ganz anders als der Evangelist sind die anderen 
Soliloquenten ausgearbeitet. Ueber alle ragen die Heden 
Jesu hervor, obwohl auch sie an einzelnen Ghoralschlussen 
festhalten, Sie sind in einem weicben liebevollen Ton 
gehalten, welcher namentlicb in den GesprSchen mit den 
Jiingern ruhrend wirkt. So spricht der illtere Bruder, 
wenn er in der Stunde des Abschieds denen noch einmai 
die ganze Herzlichkeit erweisen will, die seiner Serge an- 
vertraut waren. Dieser weiche zusprechende Ton macht 
einem ernsteren Platz, wenn Christus dem Petrus den 
Abfall und den Verrath vorhersagt. Wehmuth und Trauer 
klingt aus Jesu Gebet zum Vater, Vorwurf aus der An- 
rede an Judas, Hoheit aus den Worten, mit denen er den 
Hohenpriestern entgegentritt. Aber von der diisteren und 
schwiilen Stimmung, weiche in der Matthauspassion die 
Reden des Heilands beherrscht, ist hier nirgends eine Spur ' 
Der bedeutendste und reichste Abschnitt der Ghristuspartie 
in der Lucaspassion ist die Rede an die nach Golgatha 
folgenden Weiber: »Ihr Tochter von Jerusalem etc.* 

Bei den Nebenpersonen ist der grosste Theil aus- 
drucksvoller Declamation auf Pilatus gef alien. Hervor- 
ragend ist die Stelle, wo er auf das erregte i»Kreuzige« 
der Juden ebenso erregt fragt: »Was hat denn dieser 
Uebels gethan?« Dass Schiitz auf diesen Abschnitt be- 
sonderen Werth gelegt, ersieht man daraus, dass er ihm 
ausnahmsweise eine Vortragsbezeichnung (bei den Wor- 
ten: »des Todesa steht: adagio) iiberschrieb. 

Als den werthvollsten Theil der Lucaspassion wird 
man jedoch die Chore zu betrachten haben. 



-^ 35 ^>- 

Diejenigen der Jiinger bilden mit den Reden Jesu 
zusammengefasst eine liebliche Idylle. Diese Jiinger sind 
Gestalten, welche in dem ganzen Zauber liebenswtirdiger, 
jugendlicher Naivetat vor uns hintreten : Es klingt etwas 
Kindliches aus der Zuneigung und Anhslnglichkeit, mit 
welcher sie Jesu fragen: «>Wo willt du, dass wir etc.tf 

i « I I I r I I J I J 1 J n J 'IP aus der ahnungs- 
^■^ Zr losen Einfachheit, 

Ho wiUt dn; dass wir dir m . . rn . . ten, 

mit welcher sie versichem, dass sie »Nie keinen Mangel 

^ niekgi-iigii.iiie kei-»eB gelitteu. Uud als ChristUS 

j ^ y " »i e l /J I g fl j. I ibnen die kommende Ge- 

nie keLnen, nie kei.sMi, fahr angedeutet hat, da 
aussern sie in: »Herr, siehe, hier sind zwei Schwert« 

I r 'fn\J f h p h \S\i I E nicht Sorge son- 
^^T^T^XS^S^^dS^^Mi^ dem ledighch emen 
frohlichen Muth; ja als die Schaar, die Jesum gefangen 
nehmen will, schon vor ihnen steht, fassen sie die Si- 
tuation in ihrem munter riistigen: »Herr, sollen wir mit 

dem Schwert= ^ p v n n n n n i^lr/rTr ^^^^tvon 
drein schlagen.^^^^^^^^^^^einer ge- 

fahrlichen Seite auf, sondern im Lichte eines erfreulichen 
ritterlichen Abenteuers. 

Die Juden, welche Jesum mit ihrem: »Weissage, wer 
ist's, der dich schlug« verh6hnen, machen den Eindruck 
irregeleiteter Tolpel. Ihr Spott kommt in schwerfalligem 
Rhythmns zu Tage. In der Matthauspassion fallen die- 
selben Worte auf einen spateren Zeitpunkt und finden 
eine bereits erregte Masse. 

Die Chore der Hohenpriester und Schriftgelehrten, 
welche, funf an der Zahl, nur durch kurze Recitative 
auseinandergehalten werden, sind als eine geschlossene 
Gruppe zu betrachten. Mit scheinheiliger Freundlichkeit, 
wie unverfanglich und wie mit wohlwollender Dringlich- 
keit fragen sie zuerst: »Bist du Ghristus, sage es uns<t. 
Ueber die Antwort Christi verwundert und leicht geargert, 
stellen sie dieselbe Frage nochmals, aber in einem um- 
standlicheren und wichtigeren Ton mit dem zweiten Chor: 

3* 



-0- 36 -9- 

»Bist du denn Gottes Sohn?« Als Christus bejaht hat, 
kommt nun der wahre Charakter dieser bisher liebens- 
wiirdigen Fragesteller zum Vorschein: Mit platter und 
gemeiner Heftigkeit setzt der dritte Chor ein: »Was diirfen 
wir weiter Zeugnissu und in gleichem Tone geht es nun 
weiter. Mit prahlerischer Entschiedenheit erklaren sie 
dem Landpfleger: wDiesen finden wir, dass er das Volk 
abwende«, und als Pilatus sich eine Einwendung erlaubt 
hat, vergessen sie ganz, dass sie den Statthalter des 
Kaisers vor sich haben. Der betreffende Schlusschor: 
)>Er hat das Volk erregt* setzt im Ton des sich iiber- 
sturzenden Eifers ein. Der Trugschluss im zweiten Tacte 
druckt das sehr anschaulich aus. Nun erst bemuhen sich 
die Aufgeregten um eine passendere Redeweise und iiber- 
bieten sich in ruhigen Versicherungen. Am Schlusse des 
vierten Chors dieser Gruppe fallt es auf, dass bei den 
Worten »und spricht: er sei Christus, der K6nig« ein 
feierlicher Styl eintritt. Friedrich Spitta*) hat mit Gliick 
den Grand dieser Wendung in der von Schtitz dem grie- 
chischen Text entnommenen Lesart »der Koniga aufge- 
funden. »Ein K6nig«, wie Luther iibersetzt hat, wiirde 
den spottenden Ton vertragen haben, aber »der K6nig« 
war den Juden etwas Heiliges: der erwartete und er- 
sehnte Messias. 

Von den beiden Choren der Menge ragt der zweite: 
»Kreuzige ihna durch Scharfe des Ausdrucks hervor. 
Namentlich der Einsatz, wo der Tenor eine ganze Octav 
hinaufsteigt, wahrend die anderen Stimmen kurze Motive 
wild dagegenstossen, hat etwas Damonisches. Man kann 
auf den Gedanken kommen, dass das »Kreuzige« in der 
Johannespassion von Bach nach diesem Vorbild entworfen 
sei, Der erste der betreffenden Chore gleicht in der Be- 
handlung des Wortes »Barrabam« ganz dem entsprechen- 
den in Schiitzens Matthauspassion. Auch fiir die beiden 
letzten unter den dramatisehen Choren der Lucaspassion, 



*) Friedricli Spitta a. a. 0. 



^ 37 *- 



den Chor der Obersten: »Andem hat er geholfen« und den 
grausam hohnenden der Kriegsknechte : »6ist da der Juden 
Konigc, finden sich in der Matthauspassion Seitenstucke. 

Sftmmtlichen Choren der Lucaspassion , auch dem 
Introitus und dem Schlusschor, liegt die lydische Tonart 
zu Grande. Der Introitus hat in alien Schiitz'schen Pas- 
sionen ziemlich denselben Zuschnitt: einen feierlichen 
Anfang und dann einen lebhaften Ton, wenn der Satz 
an das Wort »beschreibet«« und an den Namen des Evan- 
gelisten heranriickt. Der »Beschluss«, wie Schiitz die alte 
Gratiarum actio nennt, wird in der Lucaspassion mit dem 
9. Verse des Gesangbuchliedes: »)Da Jesu an dem Kreuze 
standu gemacht: Auch hier hat Schiitz nicht die Choral- 
melodic benutzt, sondern dieWorte: »Wer Gottes Marter 
in Ehren hat« mit einer eignen Musik versehen, die 
zwischen gehaltenem altkirchlichen Style und frohem 
Liedton merkwurdig abwechselt. 

Die Johannespassion steht in der phrygischen 
Tonart. Wenn es bei der Matthauspassion und bei der 
Lucaspassion ein geringeres Interesse hat zu wissen, 
welches System des Kirchentons zu Grunde liegt, so ist 
das bei der Johannespassion anders ; denn in ihr machen 
sich die Eigenthiimlichkeiten in Melodie- und Harmonie- 
bildung, die aus der phrygischen Scala hervorgehen, viel 
starker geltend, als in jenen beiden Werken, welche dem 
Gesetze ihrer besonderen Tonart vorwiegend nur in den 
Choren gehorchen. Die specifisch phrygischen Schliisse 
treten aber in der Johannespassion nicht bios in den 
Choren sehr merklich hervor. Auch in den s^mmtlichen 
Recitativpartien kehren bestimmte phrygische Melodie- 
wendungen immer wieder; am haufigsten der bekannte 
und bezeichnende Gang zum Grundton iiber die kleine 
Secund: g f e e. Das giebt sammtlichen Theilen des 
Werkes eine gleichmftssigere Farbung, als wir sie in den 
iibrigen Passion en Schiitzens gefunden haben. Das unter 
diesem gedampften Licht, das sich iiber das ganze Werk 
ohne Unterschied ergiesst, die Vorgange aber klar dar- 
gestellt sein und die Personen als gesonderte Gestalten 



H. Bok^U, 

Johannes- 
passion. 



^ 38 ^ 

erscheinen konnen, lehrt ein kurzer Blick auf die Haupt- 
figuren. Der Evangelist nahert sich in Bezug auf Mit- 
empfinden und Lebhaftigkeit des Vortrags wieder dem in 
der Matthauspassion ; der Christus der Johannespassion 
unterscheidet sich von dem in den anderen beiden Pas- 
sionen durch einen gebieterischen, abweisenden Zug. Fast 
nimmt der Pilatus das grosste Interesse in Anspruch; so 
abweichend ist seine Haltung hier im Vergleich zu der 
in den anderen Evangelien. Nicht bios, dass er jetzt im 
Tenor singt; seine Reden sind so reich mit melodischen 
Illustrationen geschmiickt, dass er den Kvangelisten an 
Theilnahme und Christo zugewandtem erregten Geffihle 
oft zu iibertreffen scheint. 

Ein Theil der dramatischen Chore bekommt durch 
den phrygischen Halbschluss (A : E) einen finsteren Zug. 
Eigen ist auch der Mehrzahl die Neigung zu einem ver- 
haltenen, fast mochte man sagen: phlegm atischen Aus- 
druck, der die Entschiedenheit durch Breite ersetzt. In diese 
Gruppe gehoren die Nummern: »Jesum von Nazareth«, 
wWare dieser nicht ein Uebelthatem, »Nicht diesen, sondern 
Barrabam,« »Wir haben ein Gesetz« und mit Ausnahme des 
erregten Eingangs und des stark auftragenden Motivs: 

Tfi \ ^ d \J-.y r r ir ^^ sest du diesen los^. Einen 
das ist wi .. der den Kai.sef leidenschaftlicheu Gegeu- 
satz zu dieser Gruppe bilden der in schneidenden Gontrasten 
gefiihrte Chor der Kriegsknechte : »Sei gegriisset«, das 
immer wilder anlaufende »Kreuzige« des ganzen Haufens, 
dessen Musik in dem pWeg, weg« variirt wiederkehrt, 
und die beiden Nummern der Hohenpriester : »Wir haben 
keinen Konig« und »Schreibe nicht der Judenkdnig«. Die 
beiden kleinen Chore: »Bist du nicht« und wir diirfen 
Niemand t6dten« haben sehr deutlich sprechende Wen- 
dungen in den Grundmotiven : jener in der einsetzenden, 
Erstaunen ma- kjt \ f <if der letztere in den naiv ab- 
lenden Octav: ^jj^ ^^ ^^' wehrenden Quartenfallen : 

jf 'I r f I r >■! '' I r 



Wir dttr.fen Niemand tSd • t^H. 



-«^ 39 ♦^ 

In dem Cliore »Ware dieser nicht ein Uebelthater« 
finden wir bei dem Worte »uberantworten« ein Lieb- 
hngsmotiv von Schiitz, den in gebrochenem Rhythmus 
hinabsteigenden, von Gegenstimmen bald aufgehaltenen, 
bald fortgezogenen Scalengang: 

■ 4 i y i J * I k K I J K \ der noch von der 

ff iU^i'^ I r JM^JJ i» ^^> Barrabasstelle in 

^ f f ^ ' Pf**'* Matthaus und Lu- 

V y cas erinnerlich sein 

wird. Der Chor: »Schreibe nicht der Judenkonig < hat den in 

den Psalmen und den Cantionibus sacris sehr haufig ange- 

wandten Effect einer gegen die lebhafte Bewegung sammt- 

licher anderen allein in langen Tonen anliegenden Stimme. 

Bekannt ist die wunderbare Wirkung dieses Schiitz'schen 

Choraufbaues wohl am meisten aus der grossartigen 

phantastischen Scene: »Saul, Saul, was verfolgst du 

mich ? « 

Der Introitus der JohannespassioH ist langer als in 
den friiher erlauterten Werken : mit einer wahrhaft schwar- 
merischen Innigkeit, die ganz am Schlusse nochmals im 
Tenor und Sopran in verziickten Zuruf ausbricht, wird 
hier der Name des geliebten Evangelisten angestimmt 
und immer wieder lang hinklingend hinausgesungen. Der 
»Beschluss- hat den Choralvers: «0 hilf, Christe, Gottes 
Sohn« zum Text und fiihrt ihn auf die Melodic des Kir- 
chenliedes, Strophe fiir Strophe in den kurzen motetten- 
artigen Style durch, in welchem man zu der Zeit 
Schutzens eben die Choralmelodien zu behandeln be- 
gann. Von hervortre tender Schonheit sind die Stellen, 
wo die Stimmen zu zwei, paarweise, sich die Motive 
abnehmen. 

Noch auffallender als in der Lucuspassion ist die 
Ungleichheit der Theile in der Marcuspassion von H. Sohutz, (?) 
Schiitz. Diese Ungleichheit ist so stark, dass man neuer- MarcaFpassion. 
dings dahin neigt, die Echtheit dieser Passion iiberhaupt 
in Frage zu stellen, obwohl das Werk von demselben 
Musiker, dem nachmaligen Cantor der Dresdner Kreuz- 



-^«- 40 -ft^ 

schule, J. Z. Grundig, dem wir auch die Handschrif t *) 
der andern drei Passionen verdanken, zu gleicher Zeit 
wie diese letzteren , namlich am Ende des i 7. Jahrhun- 
derts, aufgeschrieben und mit ihnen in demselben Bande 
zusammengestellt ist. 

Fiir den Evangelisten, fiir Christus und die einzelnen 
Nebenpersonen ist in dieser Marcuspassion voUsfandig 
auf den alten Choralton zuriickgegriffen worden. Nur 
bei den Verscheiden Christi sind Erzahlung und Rede in 
mehr recitativartigem Style gehalten und in Wendungen 
declamirt, die mit ahnlichen in der Lucaspassion iiber- 
einstimmen. 

Die Chore welche in der jonischen Tonart, dem 
modernen F dur, stehen, weichen von der sonstigen Weise 
Schtitzens bedeutend ab. Auf einzelne Aeusserlichkeiten, 
wie die, dass die Soprane, die Schiitz in_ seinen anderen 
Werken nur ausnahmsweise bis T oder g^ fiihrt, sich bier 
viel haufiger in den hohen Lagen bewegen, ist weniger 
Gewicht zu legenf denn die hohen Soprane kommen bei 
den deutschen Componisten am Anfang des 4 7. Jahr- 
hunderts vor, wie wir bei Vulpius sehen k5nnen. Ge- 
setzt den Fall, dass Schiitz seine Marcuspassion als sehr 
junger Mann geschrieben, konnte er sich diesem Brauche 
angeschlossen haben. Aber die Harmonik in den Choren 
weist nicht auf dem Anfang, sondern auf das Ende des 
4 7. Jahrhunderts; namentlich die Verwendung der Domi- 
nantseptime und die Bevorzugung der weichen Dominant- 
harmonie an den Satzschliissen ist hierfiir entscheidend. 
Ferner sind einzelne Satze in der Erfindung der Themen 
so nichtssagend und ersichtlich nur aufs Formelle gerich- 
tet, dass man das Conto von Schiitz damit nicht gem 
belasten mochte. In diese Gruppe gehoren vor alien der 



*) Diese Handschrift beflndet sich in der Leipziger Stadt- 
bibliothek. Von der Johannespassion exlstirt auf der Wolfen- 
biittlei Bibliothek eine zweite Handschrift, von Schiitz selhst 
heiiiihrend, die mancherlei Abweichungen zeigt 



-* 41 *^ 

Chor der Jiinger Jesu : »Wo willt du, dass wir hingehen« 
und der auf ausserliche Abrundung und guten Klang an- 
gelegte, aber im Hinblick auf Situation und Inhalt ganz 
unpassende Chor der falschen Zeugen: »Wir, wir haben 
geh6rt«. Trotzdem wird man sich nur schwer entschlies- 
sen konnen, die Marcuspassion ganz aus der Liste der 
Schiitz'schen Werke zu streichen; denn sie enthalt zu 
viel Material, das in Form und Geist das Geprage 
Schutzens tragt. Der grosste Theil des Introitus und des 
Beschlusses, ferner der Chore: »Ja nicht«, »Was soil 
doch dieser Unrath), wBin ich's«, »Wahrlich, wahrlich«, 
»Pfui dicha, DAndern hat er geholfen« konnte von ihm 
sein. Wir sagen, der grosste Theil dieser Nummern, 
weil sie in einem Reste die Zeichen einer eingreifenden 
fremden Hand tragen. Es ware moglich, dass ein Be- 
arbeiter vielleicht schon bald nach dem Tode von Schiitz, 
sich iiber dessen Marcuspassion gemacht und sie einem 
neueren, aufs Gefailige des Ausdrucks und auf brei- 
tere Formen gerichteten Geschmack angepasst hat. Der 
grosste Theil der Schiitz'schen Motive blieb, wurde aber 
in der Ausfiihrung in die Lange gezogen und sammt* 
liche Satze erhielten ganz neue Schlusse, Dass dieser 
Bearbeiter kein Stiimper war, zeigen die Ch6re »Weis- 
sage« und »Kreuzigea, an denen nichts Schiitz'sches ist, 
die man aber trotzdem als meisterlich geformte, wirkungs- 
voUe und auch im Ausdruck treffende Tonbilder wird 
miissen gelten lassen. 

Seine Hinneigung zu dem modernen italienischen 
Recitativ, welche den Solosatz der Passionen so bemer- 
kenswerth macht, hat Schiitz in zwei anderen Werken, 
welche mit der Leidensgeschichte des Herrn in nahem 
Zusammenhang stehen, offen und formell unzweideutig 
bekannt. Es sind dies die ebenfalls durch Riedel zuerst 
wieder veroffentlichten und in die Kirchenconcerte ein* 
gefuhrten »Sieben Worte« und die »Historia von der 
Auferstehung Jesu Christi. «*). 



*) Beide Weike in Bd. I dei Gesammtaasgabe. 



42 

H. Sohiitz, Die »Sieben Worte Jesu Christi am Kreuz« 

DiesiebenWorte. beginiien iiiit einem funfstimmigen Introitus (zwei Tenore) 
iiber. den Choral: »Da Jesus an dem Kreuze stund«. 
Schiitz hat fiir die durch ihre dorische FUrbung inter- 
essante, aus dem alten Volkslied: »Wer das Elend bauen 
will* herstammende Choralmelodie eine Vorliebe. Sie 
klingt in verschiedenen seiner Werke leicht an: unter 
anderen auch in dem Introitus seiner Johannespassion. 
In dem Introitus der »Sieben Worte « hat er sie ziemlich 
vollst3,ndig durchgefuhrt , in einfachen, aber aus vollem 
Herzen heraus declamirten Contrapunkten. £s ist oft, 
als ob eine Stimme die andere in Hingebung iiberbieten 
wollte. Besonders schdn ist am Eingang, wie der Sopran, 
wahrend die anderen in ihren Betrachtungen schon weiter- 
gehen, gar^nicht von dem Gedanken und dem Bilde los- 
lassen kann: »Da Jesus an dem Kreuze stund«; hochst 
eindringlich auch die scharfe Dissonanz an der Stelle, 
wo die Stimmen mit den Worten wbittere Schmerzen« 
nach langem Einzelgehen wieder zusammentreten. Von 
dem Passionenstyl weicht dieser Introitus ^ ausser durch 
seine Lange, auch noch dadurch ab, dass ihm eine In- 
strumentalbegleitung beigegeben ist. Sie ist fiir den so- 
genannten Continuo (in Generalbassnotirung) skizzirt 
und fiir ihre Ausfiihrung miissen wir uns nach dem 
Brauche des M. Jahrhunderts einen ganzen Chor von 
verschiedenartigen Tasteninstrumenten und lauten- oder 
harfenartigen Spielwerken denken. Diese Continuostimme 
wirkt in alien Theilen der »Sieben Worte« mit, ein sicheres 
Zeichen, dass dieses Werk in seiner Form auf italienischem 
Boden steht. 

Von dem Introitus geht Schiitz nicht direct ins Evan- 
gelium, sondern es folgt — ebenfalls nach italienischem 
Vorbild, — noch ein zweiter Prolog: eine instrumentale 
»Symphonia« fiir fiinf Stimmen, deren Besetzung dem 
freien Ermessen der Directoren iiberlassen ist. Dem 
Charakter nach ist diese Symphonie eine Trauermusik. 
Wahrend die Italiener fiir solche Instrumentalprologe an 
der dreisatzigen Form festhalten, hat hier Schiitz sich 



— * 43 *^ 

eine freie eins^tzige Phantasie ausgedacht, die sich im 
inneren Style der bei Gabrieli und anderen Venetianern 
fiir feierliche Gelegenheiten eingehalteiien Sprechweise 
an$chliesst. Die Schiitz^sche Symphonia beginnt in dem 
Tone eines schwermiithigen Liedes: 

jiui^,ipii^,;ii,,(j^i,i jrfTM i ^f^iii| i /ii|jj 

Aus dem zogernden Schritt geht sie bald in einen leb- 
hafteren Gang iiber, spricht einige wanne Worte der 
liebenden Begeisterung und sinkt in dem Moment, wo 
das Drama beginnen muss, wieder in Trauer zuriick. 

Der Evangelist, welcher zunachst als hoher Tenor 
(im Altschliissel notirtj auftritt, voUzieht im Laufe des 
Werkes einige musikalische Metamorphosen. Nach dem 
dritten Worte Jesu erscheint er als Sopran ; als aber die 
bedeutungsvolle Stelle .des »Eli« kommt, da verwandelt er 
sich in einen vierstimmigen Chor. Noch einmal, nach- 
dem Christus das letzte Wort gesprochen, fmdet sich in 
der Partie des Evangelisten dieses Uebergreifen in den 
Styl der Motettenpassion. Die Wirkung ist tief mystisch. 
Als Nebenpersonen haben die »Sieben Worte « nur die 
beiden Schacher. Der erste ist dem Altfalsettisten , der 
andere dem Bass gegeben. Die Partie des Christus ist 
ausserlich dadurch ausgezeichnet, dass bei ihr zur Be- 
gleitung des Continuo noch zwei (nicht naher bezeichnete) 
Instrumente, unter denen wir uns Violen denken konnen, 
hinzutreten. Die Anregung hierzu mag Schiitz der Oper 
entnommen haben, in welcher es seit Monteverdi brauch- 
lich wurde, wichtige Reden der Hauptpersonen ausser 
mit dem Continuo auch noch durch Streichinstrumente 
zu begleiten. In der zweiten Halfte des n. Jahrhunderts 
fmdet man in der altvenetianischen Oper als standige 
Erscheinung, dass die Recitative der in den haufigen 
Beschworungsscenen auftretenden Geister (ombrae; von 
hohen und ausgehaltenen Geigenaccorden gestiitzt werden. 
Auch Stefifani hat in seinem aTrionfo di fato« diese ge- 
heimnissvollen Violin tone, da wo sich die Schatten des 



-<^ 44 '^>~ 

Hector und des Anchises Ireffen. Als in die Passion 
Instrumentalmusik eingefuhrt war, entnahm sie der Oper 
diese wirksame Begleitungsformel als ein willkommnes 
Mittel des feierlichen Ausdrucks. So findet es sich zuerst 
bei Sebastiani, spater gleichzeitig mit Seb. Bach, der es 
in der Matthauspassion ganz besonders eindringlich ver- 
werthete, in Passionen von Reiser und Telemann, welche 
es jedoch nicht fiir alle Reden Christi verwenden. 

Man hat den treffenden Vergleich gemacht, dass Bach 
und die mit ihm genannten Passionscomponisten die be- 
sondere Klangfarbe der Violinen wie einen Heiligenschein 
um die Gestalt Christi legen. Schiitz verwendet seine 
begleitenden Instrumente anders, in einer lebhafteren 
Weise. Als der Herr zum Sterben kommt und in den 
iiberwaltigenden Satzen, welche Schiitz iiber die Worte: 
mEs ist vollbracht«f und »Vater, ich befehle meinen Geist 
in deine Hande« geschrieben hat, seine Stimme ins 
Stocken kommt, da tont aus den Melodien und aus den 
kurz hingetropften Rhythmen der Begleitung Klagen und 
Zittern. An anderen Stellen vervielfaltigen die Instru- 
mente die Worte Christi in bedeutungsvollem Echo und 
zuweilen hullen sie dieselbe wie in feierliche DSmme- 
rung. 

Der tiefe Eindruck, welchen die eigenen Reden Christi 
in der Composition von Schutz machen, wird noch ver- 
starkt durch die sie umgebenden Recitative des Evan- 
gelisten. Dieser edel ruhige Ton erhabener Ergriffenheit, 
welcher die meisten Satze des Erzahlers kennzeichnet, 
ist nie wieder iibertroffen und nur selten erreicht worden. 
Wer nicht Musterstiicke aus der Jugendzeit des begleiteten 
Sologesanges kennt, wie den Schluss des Combattimento 
von Monteverdi, seinen Klagegesang der Arianna, die 
Eingangsscene seiner »Incoronazione«, wird an Stellen 
wie »Es stund aber bei dem Kreuze Jesu Mutter und 
seiner Mutter Schwester, Maria, Cleophas Weiba sich 
ganz modern beriihrt fiihlen. Das Pathos dieser Decla- 
mation ist von einem Gehalt, welcher alle Zeiten iiber- 
dauert. 



45 



Nachdem Jesus verschieden, deckt das Orchester mit 
derselben Symphonia, die wir am Anfange horten, das 
kurze, ergreifende Passionsbild wieder zu, und eine fiinf- 
stimmige Conclusio, welche im Anfang dem Introitus 
ahnelt, im Tone frommer Hoffnung mit nachdrucklichem 
Verweis auf das »Dort« des ewigen Lebens ausklingt, 
schliesst die andachtige Feierliehkeit. 

Das Enlstehungsjahr der »Sieben Worte« kennen wir H. Sohfitz, 
nicht. Fiir die »Historia von der AuferstehungDieHistom von 
Christia steht 4 623 als Datum des von Schiitz selbst ver- der Aufer- 
anstalteten Druckes fest. Wir durfen aber aus derMusik stehung. 
schliessen, dass die »Sieben Worte« das spatere Werk 
sind; denn wo sie sich mit der Auferstehungsgeschichte 
in den gleichen Formen begegnen, zeigen sie eine un- 
vergleichlich grdssere Reife. Die »Sieben Worte« konnen 
als dasjenige Werk bezeichnet werden, welches am besten 
geeignet ist, die Bekanntscbaft mit Schiitz zu vermitteln : 
es zeigt auf einmal viele Seiten seiner Kunst und es 
zeigt ihn in alien als Meister. Auf die Auferstehung hat 
Schiitz selbst, wenigstens in dem Augenblicke, wo er sie 
voilendet hatte, viel gehalten. An ihrem Schlusse stehen 
die beiden Verse: 



Herr Christ, hieniedeu hat mir's 
gelungen 

Das ich deln Urstand hab ge- 
sungen, 

Herr Christ, heiss' mich am 
jungsten Tag 

Auch aufersteh'n aus meiiiem 
Grab, 

So will ich dich mit ewiger 
Stimm* 

Im Himmel loben mit Sera- 
phim. 

Aber das Werk als Ganzes ist fiir die praktische Wieder- 
belebung verloren. Es ist ein unfertiges Gemisch von alten 
und neuen Formen. Der Evangelist singt Choralton in 



Christe, Resurrexlt, ceciuit 
mea Musica, 
Chrlstus, 
Christe, beatiflcum, die quoque. 

Surge, mihi. 
Sic nunc mortali cecini quod 
▼oce, resurgens 
Voce Immortali tunc tibi Christe 
can am. 



46 



der fiir die Osterlection hergebrachten foben im Haupt- 
motiv skizzirten) Formel. Das ist das Alte. Das Neue 
in der Partie des Evangelislen besteht darin, dass vier 
Gambenviolen diesen Choralton mit Accorden begleiten. 
Eine oder die andere soil (nach niederl^ndischer Orga- 
nistenweise) Passagen in die ruhende Harmonic hinein- 
spielen diirfen. Auch ohne diese Improvisationen sind 
schon Dissonanzen genug da. An bedeutenden Schluss- 
stellen der Erzfthlnng, oder auch wenn ein malerisches 
Bild lockt^ verlasst der Evangelist mit seinen Gamben den 
Choralton und begiebt sich ins Bereich der rhythmisirten 
Melodik. Christus , Maria Magdalena und der Jungling 
im Grabe sind in dem Styl der Motettenpassion gehalten 
und singen der eine, wie die andere zweistimmige Satze. 
Doch ist in der Vorrede das moderne Zugestandniss ge- 
macht, dass die zweite Stimme durch ein Instrument er- 
setzt werden oder wegbleiben kann. Der untergeschrie- 
bene Viadana'sche Generalbass eriaubt auch diese zweite 
Form. In den Gesangen der drei Marien haben wir rich- 
tige dramatische Terzette, in den Reden des Cleophas 
und seines Gesellen, in denen der zwei Engel, den zwei 
Mannern im Grab ebensolcbe Duette. Sie und auch die- 
jenigen Satze, in welchen sich Christus, die kiirzeren Ab- 
schnitte ebenso, in welchen sich der Evangelist auf den 
Boden des neuen Sologesanges stellt, sind aber nichts 
weniger als Muster der Gattung. Vielmehr stehen sie 
auf der untern Stufe der Entwickelung , die wir in der 
Florentinischen Oper ungefahr bei Gagliano antreffen, 
Der Melodienbau bewegt sich in Extremen: Trockenheit 
und Ueberschwang. Unvermittelt geht es aus regelrechten, 
aber sehr stiickweise zusammengesetzten Cantilenen in Co- 
loraturen und LSufe, fiir welche im Text gar keine Ver- 
anlassung vorliegt. Wenn die Oper»Daphne«, welche Schiitz 
vier Jahre nach dieser Auferstehungsgeschichte compo- 
nirte, nicht besser gewesen ist, so haben wir ihren Ver- 
lust nicht sehr zu bedauem. Es ist selbstverstandlich, 
dass bei einem Genie, wie das Schiitzens, auch in ein em 
im Ganzen verfehlten Werke doch noch sehr viel Packen- 



"^ 47 -cb- 

des und Bedeutendes iibrig bleibt. Wir finden dasselbe 
namentlicb in dem herzHchenTone, der in den Gespr&chen 
herrscht, welche Cleopbas und sein GeseUe mit Jesu 
halten. Anch in den Reden des Letzieren finden sich 
Stellen von macbtiger Hoheit. Erne solcbe ist z. B. das 
erste »Friede sei mit Eucha. Geniale Detailmalereien Zie- 
hen sich in reicber Zahl durch das Werk: Eine der be- 
deutensten ist in dem Gesang der Hohenpriester »Saget, 
seine JUnger kamen« bei dem Worte »schliefen« zu finden, 
eine andere noch bedeutendere in der Rede Jesu, auf 
dem Wege nach Emaus. Die Modulation, in der er die 
beiden Jiinger we- „b<| 4 , Vg nlfg^ -, zeigt wieder ganz 
gen ibrer Trau- " i , I |, I ^ direkt den Ein- 
rigkeit befragt vd slu tnn . rigr ilnss , den die 
Werke Monteverdi's auf Schutz geiibt haben. 

Wiri^licb gross sind in der »Historie der. Aufersteh- 
ung« die Stilcke, welche der alten Kunst angehdren : der 
Choreomposition. Das Werk hat nur einen dramati- 
schen Chor, die Rede der elf Junger: »Der Herr ist 
wahrhaflig auferstanden etc.* Schutz hat in ihm, &hn- 
lich wie in seinen Psalmen, versucht, die einfache Decla- 
mationsweise des Choraltons auf den Chorgesang zu 
iibertragen, und dieser halb wie Stammeln wirkende Vor- 
trag passt bier ganz treffend zu der Lage der mehr er- 
schrocknen als erfreuten Junger. Ausser diesem dra- 
matischen Chor hat die Auferstehung nur noch die bei- 
den iiblichen betrachtenden Ch5re, den Introitus und die 
Conclusio. Der introitus hat die aus den Passionsevan- 
gelien bekannte Anlage, nur am Schlusse ist die Freude 
iiber die »BeschreibungM bis zu einem naiven Uebermuth 
gesteigert, der in einer Eette leichter Dissonanzen dahin- 
springt. Die Conclusio des Auferstehungsevangeliums hat 
auch bei denjenigen Gomponisten , welche dasselbe, wie 
Seandelli und Besler im Motettenstyle behandeln, einen 
sehr realistischen Zug: Der Evangelist ruft von Anfang 
an in das fromme: »Dank sei Gott, der uns den Sieg ge- 
:. geben hat, durch unsren Herm Jesum Christum« immer 

j krfiftig » Victoria* hinein, bis der ganze Chor in diesen 



-=«- 48 ' *>- 

Freudenruf mit einstimmt. Diesen Zug, welcher wohl 
aus den alten verweltlichten Osterspielen in die Oster* 
lectionen hiniibergerettet ist, hat Schiitz mit ersichtlicher 
Lust durchgefiihrt. Die ganze zweite Halfte seiner Con- 
clusio ist ein allgemeines Victoriajubeln und fiihrt die 
Phantasie aus den feierlichen Hallen der Kirche hinaus 
in das ungezwungen, frohlich laute Treiben eines Volks- 
festes. r / 

In der von Schiitz in den Passionen vorgenommenen 
Annaherung des Choraltons der Soliloquenten an das 
Recitativ, in der vollen Einfiihrung des modernen Solo- 
gesangs in den "Sieben Worten«, in der durchgefiihrten 
Instrumentalbegleitung, welche diesem Werke mit der 
Auferstehungsgeschichte gemeinsam ist, haben wir Ele- 
mente zu erblicken, welche der italienischen Oper und 
dem italienischen Oratorium entstammen. Beide Kunst- 
arten entstanden am Ende des 16. Jahrhunderts zu glei* 
cher Zeit und unterschieden sich in ihrer langen Jugend- 
periode im Wesentlichen nur durch die verschiedenen 
Stoffgebiete. Das des Oratoriums war die biblische 
Geschichte und mehr noch die Heiligenlegende und das 
allegorische Drama. Als die Florentiner Hellenisten die 
durch die Ausbildung des begleiteten Sologesanges um- 
gestaltete Musik zur Mitwirkung im Drama herbeizogen, 
leitete sie die Illusion, dass die enge Verbindung des 
Dichterworts mit dem Genius der neuen Tonkunst das 
sichere Mittel sei, das italienische Drama von Rohheit und 
Unnatur zu reinigen und dasselbe der Form und dem 
Geiste des antiken Schauspiels zu nahern. 

Doch es kam anders. Herrschsiichtig und unreif 
zugleich, bahnte sich die Musik bald bequemere und 
dankbarere Wege neben dem Drama her und brachte 
es bald dahin, dass durch ihre ununterbrochene Mit- 
wirkung die Fiihrung der Handlung mehr geschadigt als 
gefSrdert wurde. Schon um die Mitte des 4 7. Jahrhunderts 
dringt die Gommedia dell'arte, die Stegreifposse, in das welt- 
liche und geistliche Musikdrama ein. Opern und Oratorien 
ftillen sich mit kleinenund grossenLiedern,mit arienartigen 



<* 49 ♦- 

und andereu Neubildongen des vornr&rtsstiinnenden tind 
▼on der Menge in seiner Selbstherrlichkeit begftnstigten 
Sologesangs. Ihr Textinhalt bildet zum grSssten Theil 
nur einen Missbrauch der dramatischen Grelegenheit. 
Das Vordrangen des betrachtenden und empfindsamen 
Elements, das Ueberwuchern einer in vielfache Gestalt 
gekleideten Lyrik bildet von da ab einen wesentlichen 
Grundzug auch der Passionen. Bibeltexte und biblische 
Handlung werden in Oratorienart lyrisch ausgeschmiickt 
Oder erdriickt. Es entsteht im 4 8. Jahrhundert die o r a - 
torische Passion und tritt nicht bios musikalisch, 
durch Instrumentalbegleitung und RecitatiY, sondern noch 
vielmebr textlich in Gegensatz zu ihren Vorgangern : der 
Choral- und Motettenpassion. Dieser Grundzug kenn- 
zeichnet die or a torische Passion. Nicht bios Re- 
citativ und Instrumentalbegleitung unterscheidet sie von 
den beiden andem Gruppen der Passionscompositionen, 
sondern vor AUem die lyrische Ausscbmiickung der bi- 
blischen Handlung. 

In Deutschland hatte sich der Passionstext sowohl 
in der Choralpassion wie auch in der Motettenpassion 
bisher streng auf das Bibelwort beschrankt. Introitus 
und Conclusio stehen wie Rahmenleisten ausserhalb des 
Evangelienbildes. An der letzteren ling man schon fru- 
her an zu &ndem: Zusatze zumachen, wie mit dem »Ecce 
quomodo* des Gallus, welches sich bei Vopelius findet, 
Oder, wie Burgk und Schiitz, ein liturgisches StUck von 
ganz anderem Inhalt an ihre Stelle zu bringen. Daser 
hat gar statt der Danksagung ein »Miserere«. In die Er- 
zS.hlung und Darstellung der Leidensgeschichte selbst aber 
drangt sich nirgends ein fremdes Wort. Es sei denn das 
»Pater nosterc, welches in katholischen Passionen regel- 
massig nach dem Verscheiden des Herrn vorgeschrieben 
ist. Aehnlich sind noch Hammers ch mi dt's Passionen 
gehalten. Auch Schiitz hat in seinen »Sieben Worten« und 
in der Auferstehungsgeschichte nur die musikalischen 
Elemente des Oratoriums zugelassen, der Text dieser 
Werke ist rein biblisch; immer den Einleitungs- und 

II, 1. 4 



-♦ 50 ♦>- 

Schlusschor abgerechnet. Die erste deutsche Passion, 
in welcher zu der biblischen Darstellung oratorienm&ssige 
Text-Zuthaten treten, ist, soweit bis jetzt bekannt, die des 
Joh. Sebastiani, Konigsberger Gapellmeisters Job. Sebastiani*), eines 
Hatih&ns- aus Weimar gebdrtigen Thtiringers. Sie ward in dem 
passion. Jahre gedruckt, in welchem Schiitz starb: 1672. In diesem 
Werke begegnet uns zum ersten Male fest nachweislich 
das Lutherische Kirchenlied; aber nicht in der Form 
des Gemeindegesangs ) sondern die Cbor&le nebmen bier 
die Stelle^ welcbe die Arie im italieniscben Oratorium 
hat, nicht bios in dem Sinne der Dichtung, sondern auch 
nach der musikalischen Form ein. £s sind Sologesftnge 
flir den Sopran, der vom Continuo**) und 4 Violen be- 
gleitet wird) und zwar folgende 42: »0 Welt, ich muss 
dich lassenu, »Gott sei gelobet und gebenedeieta, vVater 
unser im Himmelreich«, »0 Lamb Gottesa (dreimal an 
verschiedenen Stellen), »£rbarm dich mein«, i»Fuhr uns, 
Herr, in Versuchung nicht «, »Herr Jesu Christ, wahr'r 
Mensch und Gott«, »Herr, meinen Geist befehl ich dir«, 
»Mit Fried' und Freud' fahr ich diEdiin«, »0 Traurigkeit, 
o Herzeleida. Dem Sopran, welcher die Chorale singt, 
sind aus der dramatischen Besetzung das »Weib Pilati« 
und die »zwei Mslgdea iibertragen. Der Evangelist, vom 
Continuo begleitet, sttitzt sich in seiner Recitation aller- 
dings auf gewisse stereotype Schlussformeln, wie ja auch 
in Italien die Recitative in der ersten Periode die Madri- 
galenreste immer mit sich herum tragen. Aber er decla- 
mirt doch im Ganzen immer mit einfachem Ausdruck 
und hebt einzelne Details der Erzahlung sehr eindring- 
lich hervor. Besonders bemerkenswerth ist die Stelle 




und fin . gen an zu trau . en vnd la la . g«a 



*) Handsohiiftlich Beriin: Kgl. Bibllothek. 
**) Far seine BesetzuDg sind ausser Orgel, Positiv und 
Oembalo auch noch als vsubtilere Jnstrumente « Lauten und 
Tbeorben vom Gomponlsten gewtinscht. 



-♦ 51 ♦>- 

und die Episode bei der Gefangennahme Jesu, wo der eine 
Jiinger dem Knecht des Hohenpriesiers das Ohr abschlftgt 
Die Partie Christi ist in dem Mufig unbeholfenen Style 
geschrieben, der die Bassges^nge in der ganzeii Anfangs- 
zeit der Monodie bis auf Carissimi bin kennzeichnet : 
Der singende Solobass ist an den Harmoniebass gekettet. 
Auch Schiitz scbreibt in der Auferstehungshistorie und 
in den »Sieben Worteno nicht besser. Freier stylisirte 
Stellen, in denen zugleicb der Ausdruck leichter zu ver- 
stehen ist, finden sich bei »Ich werde den Hirten schlagen« 
und bei »£he denn der Hahn krahetc Das i>£li« l&sst in 
eignen Wendungen — die Octaven sind eigenthtimlich — 
einen Typus erkennen, der dem in der Schutz^schen 
Matth&uspassion verwandt ist: 

Langflun. 

^^ 

E . U, E . li, E - U, U . ma a . Mb . tha . nil 

Die Violinen begleiten ausser Cbristus keinen zweiten 
Solisten, aber sie spielen noch in den Ghoren mit. So- 
weit letztere zur Handlung gehoren, sind sie einfach und 
knapp, jedoch scharf gezeichnet und entschieden im Aus- 
druck. Wir geben eine Probe: 

S«inBhtt komiiM li.. beruu vaA fL.b«r 

^cf:[i I I n III 7; ill 1 1 ir f i 

Sein B]at kosuM tt.b4riiiM and ui.sn Kn der 

vn . M . re Kin derl 




c/ 



Der Conclusio »Dank sei dem Herrn« folgt noch 

4* 



52 



ein zweites Danksagungfilied^ » welches ganz zum Be- 
schloss nacb den CoUecten kajm gesungen wei^dena. 

Der Introitus wird durch folgende Sinfonie der 4 Vio- 
len mit dem Continuo eiageleitet: 





-711 -P 




rr r i 

"p-" 1* — 


T r 

'■r 1* f^^^ 




mW 1 1 fa 


,1 1 
J 1 


T ' ' 


r. r 

J' c p p 


r rT 
_« — _- 


■1 r 


■"* <) r r 


-^ — 4- 


f ' f 
1 ,1 » f 


h f 1 




i ' 

-T« 





Unmittelbar an den letzten Accord schliesst sich der 
Introitus an: 



m 




Discut. 

AU. 

i.Tenor. 

2.Tenor. 

Bass. 



I" iT] I I I II I I hill 




I " I ff f\ 



JOC 



<4.Tkd« md OoBtinao gleloklMMend nit Sinf^asB^ 



'f I I' 



^^ 



^1^ 



^ 



^m 



m 



j^ 



m 



^^ 



^ 



^ 



toi^Si 



^^ 



^ 



^ 



^ 



S 



1 



:S=r: 



^ 



E 



^ 



^ 



^ 



^ 



j^ 



^ 



1^^ 



^ 



^m 



^m 



^ 



=^= 



^rr r i >* if r f i rp r r i 'c r i ff i^ 



IF 



vtB Je.m Cluri 



■ti uob dem M. ILgea Mat- tfaK 



yrfvn-rrf I ff fill r r ni ' f i* r i 



■ rfififr.! I f rr if " i ' i r^^ 



^3 




-* 54 ^ 

Das Gabrieli'sche Muster ist in diesen beiden Stiicken 
ebenso deutlich zu erkennen wie in der Einleitung der 
vSieben Wortea von Schiitz. Sebastian! folgt der ita- 
lienischen Schule weiter als der Dresdner Meister, er 
folgt ihr bis in die Vorrede seiner Passion, welche nach 
dem Vorbilde in den venetianischen Opernlibrettos in 
zwei Tbeilen gegeben wird. Der zweite, an den Leser 
gerichtete, welcber nebenbei auch mittheilt, dass der 
Gomponist auf dieselbe Manier wie diese Passion einen 
ganzen Jahrgang Evangelien ausgesetzt und mit Kirchen- 
liedern versehen babe, ist besonders interessant durcb 
die Notiz, dass an zwei Stellen der Passion Pausen ein- 
treten und wahrend derselben auf die Leidensgescbichte 
bezUgliche Bibelabschnitte verlesen werden sollen. Daraus 
geht bervor, dass der Zusammenhang der Passionsmusik 
mit der alten Evangelienlection ganz aus dem Bewusst- 
sein gescbwunden war und dass das ernstlicbste Hinder- 
niss fiir die weitere oratorienmassige Ausgestaltung der 
ersteren, wenigstens in Konigsberg, als beseitigt gelten 
konnte. 

Von einigen steifen Stellen abgesehen, darf die Pas- 
sion Sebastiani's auch beute noch fiir musikalisch lebens- 
fahig erklart werden. Hoher ist ihr kunstgeschichtlicher 
Werth. Mit ihr ist der Uebergang zur oratorischen Pas- 
sion, zu welcher am Ende des 4 7. Jahrhunderts die Nei- 
gung in alien Musikl^ndern, auch in Frankreich, drangte, 
gegen welchen aber Schiitz noch seine Einwande und 
Bedenken haben mochte, fiir Deutschland grundsatzlich 
vollzogen. Schon das Jahr 4673 brachte eine Passion 
von Theile, in der ebenfalls Chorale unter dem Titel 
»Arien« eingelegt sind. Derartige Werke mehren sich; 
gegen das Ende des Jahrhunderts linden wir in den Ge- 
sangbiichern Passionstexte mit eingelegten Liedern, ein 
Zeichen, dass die Gemeinde diese Lieder sang. Daneben 
bleibt aber der Choral auch in der sebastianischen Art, 
fur eine Solostimme, als Ersatz der kunstvollen Arie, 
bestehen. Drittens machen die Chorale der wirklichen 
Kunstarie Platz. Sie wird in den grosseren Stadten die 



-* 56 ^ 

herrschende Form flir die Passionseinlagen; aber ganz 
mochte man auch auf dem Dorfe und in der Provinz 
nicbt auf sie verzichten. 

Die Motettenpassion hatte die einfachen musikalischen 
Formen der Choralpassion nur voriibergehend in Scbatten 
gestellt. Die oratorische Passion untergrub sie oder wan- 
delte sie v511ig um. Aber sie gefahrdete aucb das Bibelwort, 
verdr&ngte es uberhaupt oder setzte es an zweite Stelle. 
Lyrische und dramatische Umschreibungen von geringem 
Gescbmack treten an die Stelle des Evangelientextes. Es 
giebt aus den Jahren 4700—30 eine ziemliche Reihe von 
Passionsmusiken, die ganz aus gereimten Betracbtungen 
bestehen. Der Text der Evangelien wird nur in der 
Form von Ueberschriften verwendet, die die einzelnen 
Theile, h&ufig als » Actus « nummerirt, trennen, oder aber 
er wird zwischen diesen einzelnen Theilen verlesen. Die 
Betracbtungen sind den Personen der Leidensgescbichte 
in den Mund gelegt, aber nicbt ihnen allein. Man ge- 
sellt ihnen aus den Passions spiel en und aus anderen 
Quellen, dem italienischen Oratorium z. B., alttestament- 
liche, frei erdichtete und allegorische Figuren binzu. Be- 
sonders beliebt sind unter ihnen die Sulamitb des Hohen- 
liedes, die gl§.ubige Seele und die Tochter Zions. Die 
letzteren wirken bekanntlich auch noch bei S. Bach mehr 
verwirrend als bereichernd mit. In der Musik fiber diese 
Texte berrscht der Sologesang ; ganz wie in der italieni- 
schen Oper ist der Chor abgesetzt. Die Instrumental- 
musik tritt breiter vor, aber nicbt bios in der Form von 
guten Lamentos, sondern auch unpassend mit Virtuosen- 
satzen. Diese Art von Passionen waren urspriinglich 
fiir ausserliturgische Andachten bestimmt; sie dr&ngten 
sich aber auch in den Gottesdienst. Das Hauptstiick dieser 
Gattung ist Telemann's dreitheiliges Passionsoratorium : 
»Seliges Erwagen des Leidens und Sterbens unseres 
Herrn etc.«, welches sich besondere Beruhmtheit erworben 
hatte. Es ist durchweg Solomusik, welche Anspriiche an 
die Ausfiihrung stellt. Nach dem Plane Telemann's, dem 
Gerber 44 Passionsmusiken zuschreibt, der also auf diesem 



56 



S. Keiser, 

Passion Ton 

Hnnold. 



Gebiet schon durch seine Fruchtbarkeit eine Autoritat 
war, arbeitetea die Localcomponisten bier uiid da etwas 
Aehnliches fur die vorhandenen Krafte zurecbt. ♦) Theile 
der Leidensgescbiebte, welche sich den gegebenen musi- 
kaliscben Mittein nicbt anpassen wollten, liess man 
sprechen. So entstanden Passionsmusiken mit verbin- 
dendem Text. Einen Antbeil der Zuhorerschaft oder 
Gemeinde an diesen Miscbwerken kunstlerisch-liturgischer 
Passionsfeier geben bier und da ausgeschriebene oder 
nur angemerkte Chorale kund. 

Scbon in diese betrachtenden Umscbreibungen des 
Evangelientextes miscben sich hie und da dramatisch auf 
das italienische Oratorium weisende Liebhabereien. Es 
kommen Dialoge zwiscben Christus und »dem Passions- 
schuleru vor; die Hauptpersonen, Petrus besonders, halten 
lange Monologe (Soliloquien). Bald bem9.chtigte sich diese 
ibeatralische Richtung der ganzen Leidensgescbiebte und 
zwangte sie in Opemform. Das erste Werk dieser Gattung 
ist »Der blutige und sterbende Jesus «, von Hunold in 
Hamburg gedichtet, Ton R. Reiser in Musik gesetztund 
in der Charwoche 4 704 aufgefiihrt. Der Evangelist ist 
hier einfach gestrichen, alles Bibelwort umgedichtet und 
die ganze Handlung vollstandig buhnengerecht ausgefuhrt. 
In den alten Passionsspielen, die am Anfange des 18. Jahr- 
hunderts noch in lebhafterer Erinnerung des Volks waren, 
hatte man es ebenso gemacht und kein Bedenken ge- 
tragen, noch weiter zu gehen. War doch in ihnen sogar 
die lastige Person der Stegreifcomodie eingeschoben 



*) Jobannespasslon (Darlacb 1719): 

„Seliges Erwagen" Ton Ph. Hiiller, 1727 der Herzogin Elisa- 
beth Ton Wiirtemberg gewidmet. 

Seliges Erwagen, Schwerin (ohne Druckjabr). 

Seliges Erwagen, Passionsandacht in der Geifitliehen Seelen- 
musik voB St. Gallen (1727). 

Passion in sechs Theilen. Ludwigslust 1770. 



^ 57 ♦^ 

worden : man iibertrug sie dem Knecht Malchus, der sich 
da;s abgefaaaene Ohr besah, oder einem ganz frei zuge^ 
dichieten Quacksalber, der den weinenden Frauen seinen 
Kram anpries* Ausserdem war diese theatralische Zu- 
richtung der Passionsmusik nur der letzte, folgerichtige 
Schritt, der aus ihrer Verbindnng mil dem Oratorinm 
hervorging. Denn in seiner Heimath Italien war die- 
jenige Form des Oratoriums, welche der Oper in der 
Form genau folgte, die herrschende und Carissimi's Re- 
form zunslchst ohne praktische Folgen geblieben. Gleich- 
wohl drang aber die oratoriscbe Passion in der Form 
der Oper nicht dnrch. Es fanden sich in Benjamin Neu- 
kirch und Uhich Konig nor zwei Dichter, welche dem 
Hunold folgten. Des letzteren: »Thr&nen nnter dem Kreuze 
JesUff kamen, ebenfalls wieder mit Musik von R. Reiser, 
in der stillen Woche des Jahres 17H zu Hamburg zur 
Auffuhrung. Seebach und Bricau, zwei weitere Poeten, 
welche die Passion ebenfalls als Theaterstiick behan- 
delten, lassen insofem schon den Rtickzug merken, als 
sie das Bibelwort wenigstens in der Form scenischer Be- 
merkungen mit hereinziehen. In dieser Form begegnet 
uns, weit weg von Hamburg, eine Passionsoper: wDer 
leidende und sterbende Jesus a im Jahre 4749 zu Durlach 
in der Composition des dortigen badischen Hofcapell- 
meisters Joh. PhilippKafer. Dieses Werk ist auf mehrere J. F. Kftfer, 
Tage yertheilt, jeden Tag ein Abschnitt in zwei Halften Der leidende und 
aufzufuhren, die eine vor der Predigt, die andere nach «*«'^«»d® Jobm- 
der Predigt. Interessant ist, dass in sie Solochorale hinein- 
gezogen sind: Christus singt zu verschiedenen Malen 
passende Gesangbuchverse, Petrus einmal ein gauzes 
choralisches Busslied von acht Versen. 

Die Geistlichkeit in Hamburg erhob gegen die voU- 
stEndige Umwandelung der oratorischen Passion in die 
Oper entschiedenen Widerspruch und sie ward darin 
durch Dichter und Musiker praktisch unterstutzt. Zu 
gleicher Zeit mit dem Hunold - Keiser^schen »Blutigen 
und sterbenden Jesus « vom Jahre 4 764, moglicherweise 
noch vorher, wurde in Hamburg eine » Passion nach dem 



-«* 58 A'- 

Evangelisten Johannes « aufgefiihrt, welche der zu jener 
G, F. Handel, Zeit in der Stadt weilende junge G. F. H&ndel componirt 
Johannespassion hatte. In ihr ist das Bibelwort und der Evangelist in 
von PoBtei. seinem Rechte belassen; der Dichter, der Licentiat Postel, 
hat das oratorische Element auf frei gedichtete Verse 
betrachtenden Inhalts beschrankt. Diese Verse sind oft 
geschmacklos genug: Als die Kriegsknechte die Kleider 
Jesu vertheilen, empfangt der erste von ihnen den ihm 
zufallenden Theil mit den durch mehrfache Wieder- 
holung immer lacherlicher werdenden Worten: »Du musst 
den Rock verlierenv. Sie erhalten musikalisch die Form 
der Arie. Chorale kommen in dieser Passion nicht vor. 
Die Musik im Werke setzt ziemlich schwach ein. Die 
Arien, auch wenn sie der Tactzahl nach kurz erscheinen, 
sind durch nnnotiiige Zwischenspiele ins Breite gezogen, 
die Chore ermangeln des dramatischen Ausdrucks, sie 
haben in der Mehrzahl kaum einen erkennbaren Cha- 
rakter. Gegen die Mitte des Werkes zu erhebt sich aber 
der wahre Handel. Man merkt ihn zuerst an der Bass- 
arie: »Erschiittere mit Krachen«, einer seltsamen und 
grossartigen Nummer, vor der man erschrecken kann. 
Wo die Unterhandlungen zwischen Pilatus und dem Volke 
erregter werden, kommt auch in die Chore Leben und 
Feuer. Christus singt Bass und durchweg in einem edel 
gehaltenen Tone. Nur an der Stelle: »Es ist vollbracht« 
erscheint eine ausgefuhrte Coloratur, die in der Intention 
schon genannt werden muss, schlecht ausgefuhrt aber 
wohl leicht missverstanden werden und als Abfall vom 
Styl getadelt werden kann. Mit besonderer musikalischer 
Kunst ist der Pilatus behandelt. Von den tonmalerischen 
Ziigen, an denen spater Handel's Musik immer reich ist 
und ftir welche die Passionsmusik herkommliche Gelegen- 
heit bot, iindet sich in dieser Johannespassion wenig. 
Hervortretend ist in dieser Beziehung nur eine Stelle am 
Eingang, wo Handel das Geisseln zeichnet. Das tre- 
molirende Streichorchester, zum Ausdruck stark bewegter 
Affecte von dem spSteren Handel gem benutzt, findet sich 
in einer Nummer des Soprans: »Bebet, ihr Berge«. Der 



^ 59 4^ 

Schlusschor: >»Sclilafe wohl nach deinen Leiden « ist her- 
vorragend durch die sch5ne Behandlung der Singstimmen : 
Sopran und Alt 15sea sich abwechselnd vom Tutti der 
anderen mil tief ausdrucksvollen Melodien los. Lange 
Zeit war diese Passion nur durch eine sehr hamische 
Recension Mattheson's, welche in der »Critica musica« fast 
soviel Seiten einnimmt, als das Notenwerk selbst enth&lt, 
bekannt. Die Gesammtausgabe der Deatschen H^ndel- 
gesellschaft bringt es im neunten Bande, und Ghrysander 
hat sehr Recht, wenn er dort im Vorwort den musika- 
lischen Gehalt dieses kleinen Passionsoratoriums als er- 
heblich, bedeutend und von echt HandeFschem Gepr&ge 
bezeichnet. 

Wir begegnen H&ndel in der Geschichte der Passion 
noch zweimal. Zuerst mit einem kleinem Osteroratorium 
»La Resurrezione«, welches beim zweiten Aufenthalt des 
Componisten in Rom, im Fruhjahr 4708, entstand und 
voUstslndig im Styl der damaligen italienischen Oper 
gehalten ist. Nur zwei kurze Ch5re linden sich darin. 
Die nResurrezionea hat zwei Theile; der erste spielt in &. F. Hftndel, 
der Ostemacht: Johannes verkiindet der trauernden Mad- Be8urre»ione. 
dalena, dass Christus am kommenden Morgen sein Grab 
verlassen werde. Der zweite Theil fiihrt an das Grab: 
Der Herr ist auferstanden. Als dramatische Fiillperson 
ist der sehr schonen Dichtung noch die Figur des Lucifer 
eingefiigt worden. Handel stellt ihn in mehreren furiosen 
Bassarien dar, welche von bedeutender Wirkung aber 
auch sehr schwierig sind. Noch mehr als Polyphem in 
»Aci e Galateaa bewegt sich der Fiirst der HoUe in Riesen- 
intervallen, — auf dem Worte »abisso« d-Gis, gleichlautend 
mit einer Stelle in dem Recitative des Claudio in Han- 
del's »Agrippina« — wie sie die damaligen Italiener liebten, 
um musikalisch anzudeuten. Auf »lunghi« setzt Scarlatti 
einmal eine Undecime, und an ahnlichen Beispielen ist 
die Cantatencomposition der damaligen Zeit reich. Das 
musikalische Hauptstiick der nResurrezioneu ist die Arie 
der Maddalena: )>Ferma Talia. Ihr Hauptsatz ruht auf 
einem Orgelpunkte, freundliche Melodien Ziehen kanonisch 



-♦ 60 ♦^ 

dariiber hin; der Klang gedftmpfter Violinen, sanfter 
Floten und weich arpeggirender Gambenviolen voUendet 
das eigenthumliche , n&chtliche Colorit. Ueberhaupt ist 
die Instrumentirung dieses Oratoriums sehr bemerkens- 
werth. Man sieht ihr das Bestreben an, anssergewShn- 
lich za sein; das Orchester hat zuweilen fdrmlichen 
Goncertcharakter und glftnzt durch die Fillle (vierfache 
Violinen) und die Art der Besetzung. Das Werk kam in 
der Gapelle des Cardinal P. Ottoboni zur Aulftihrung. 

Die dritte Passionsmusik Handel's entstand im Jahre 
4746 zu Hannover, wo ihm »Der fiir die Stede der Welt 
gemarterte und sterbende Jesus « des Hamburger Raths- 
Qt» F. Hftndel, herrn Brockes in die HSjide kam. Der Unnatur in der 
Passion von Dichtung, wie in der Oper so auch hier kiihl gegenuber- 
Brockes. stehend, hat H&ndel in diesem Werke einen grossen Theil 
gewdhnlicher Musik geschrieben. Aber mit der Situation 
wird auch die Musik gross. Sehr bedeiitend ist die ganze 
Scene von dem Gebet in Gethsemane an bis zur Ver- 
leugnung des Petrus. Besonders treten daraus hervor: 
Christi Arie: »Mein Vater, schau, wie ich mich quale «, 
eine Arie der Tochter Zion: »Brich, mein Herz, zerfliess 
in Thranen« und ganz besonders die (sp&ter fiir » Esther « 
verwerthete) Nummer: »Erwachet doeh« — ein ganz merk- 
wiirdiger Vorl&ufer einer erst sp&ter zur Ausbildung gekom- 
menen Musikform : des dramatischen Ensembles. Sebastian 
Bach hat sich die erste HUlfte dieser Passion, welche HRndel's 
letzte deutsche Vocal composition ist, eigenhfindig abge- 
schrieben; die Abendmahlsscene in d^ Matthftuspassion 
ist aber das Einzige, was auf dieses genaue Studium 
hinweist. 

Die genannte Dichtung von Brockes hat in der Ge- 
schichte der Passionsmusiken eine grosse Bedeutung. 
Sie schlug alle weiteren Versuche zu einer rein opem- 
mftssigen Behandlung der Leidensgeschichte einstweilen 
in Norddeutschland aus dem Felde und s5hnte die Ver- 
treter der Kirche mit der oratorischen Passion wieder aus. 
Uns kommt die Dichtung von Brockes, der auch in C. 
Renter, dem Verfasser des »Schelmuffsky<r, einen Vorg&nger 



-♦ 61 ^ 

hat"^), allerdings noch opernhaft genug vor. Ganz nach dem 
Must^ des iialienischen Dramas erdriickt eine Unmasse 
empfindender Betrachtungen die Handlung. Die Sprache 
jagt nach Bildem und verliert sich in ihrer Sucht nach 
Deotliehkeit bis ins Ekelhafte. Die Leidensgeschichte ist 
bier dargestelU im Lichte einer krankhaiten Phantasies 
die zwischen Rohheit und Ueberfeinerung hin- und her- 
schwankt. Der Gesammteindruck ist der einer prunkenden 
und iibertreibenden Geschmacklosigkeit. Nichtsdesto- 
weniger gait die Dichtung Ton Brockes lange Zeit fiir ein 
Muster. Dem kireblichen Sinne kam sie dadurch ent- 
gegen, dass sie den Evangelisten beibehiett, der den Bibel- 
text in freier Umdichtung vortr&gt) und dass sie unter 
die madrigalischen fur den Ariengesang bestimmten Ein- 
lagen auoh bekannte choraliscbe Kirchenlieder einflocht. 
Den Musikem aber hot sie in der Eintheilung der Handlung 
in abgeschlossene Scenen dankbare Aufgaben modemer 
Natur. Die Pasaionsdichtung von Brockes wurde wahrhaft 
popular: man las sie und erbaute sich an ihr auchohne 
Musik. Sie war mehr verbreitet^ als spater Klopstock's 
»Messias(i,^ im Suden wie im Norden kannte man und citirte 
den beriilimten Brockes, und wie sehr »Der gemarterte 
und sterbende Jesus « alien thalben gel&ufig war, kann man 
daraus ersehen, dass er an sehr vielen Orten ohne 
Nennung eines Dichters aufgefdhrt und neugedruckt 
wurde. Er ward.zum Gemeingut, und wenn irgendwo 
filr eine in der Hauptanlage biblisehe Passionsmusik ein 
paar Arieneinlagen gebraucht wurden, nahm man die 
Verse am ein£achsten aus Brockes. Auch Bach hat das 
bekanntlich in seiner Johannespassion gethan. 

Der erste Componist, welcher die Passion von Brockes 
in Musik setzte, war R. Keiser im Jahre 4742. Man kann B. Keiaeri 
dieses Werk nieht schlechtweg unbedeutend nennen. I^e Passion tqh 
ganze Eingangsscene bis zur Binsetzung des Abendmahles Brockes. 
i&t wtirdig und charaktervoll: der Einteitttngschor: »Mieh 



*) F. Zanikft, a. ». 0. 



-♦ 62 4^ 

vom Stricke meiner Stinden« klingt ernst und schwer; 
die Reden Jesu sind weihevoU nnd stellen sich Uber den 
weichlichen und susslichen Ton, der aus der breiten 
Sprache des Dichters hervordringt; hinreissend und riih- 
rend, an die fthnlichen Nummem der Schiitz'schen Lucas- 
passion erinnernd, wirken die kindlich liebevollen Ch6re 
der Junger. Gut ist auch die Arie der Tochter Zion: 
»Brich, meinHerzw, ein Stuck von schwerer Empfindung 
beherrscht. Schwacher sind die Arien oder Arietten der 
gl&ubigen Seele (Sopran), weil zu leicht im Ton, und die 
Recitative des Evangelisten, .weil zu sehr nach dem Reim 
declamirt und deshalb zerstiickelt. Erst von dem Punkte 
an, wo die Leidensgeschichte einen erregteren Charakter 
annimmt, von der Gefangennahme ab, wird die Com- 
position hahnebuchen und rob. Das Quartett Ghristi und 
der drei Jiinger: »Erwachet doch«, der Chor der Schergen: 
»Greift zu, scblagt todta, auch die Arie des Petrus: »Gift und 
Bluttf sind Nummem, die in einer komischen Oper wegen 
ihrer Realistik Lob verdienen wiirden; in die Umgebung 
von Ghoralen und gl§,ubigen Bekenntnissen passen sie 
nicht. Die Hauptschuld an dieser Styllosigkeit des Werkes 
trslgt freilich Brockes, und er hat dafiir gesorgt, dass der 
Componist bis ans Ende nicht wieder aus ihr heraus kann. 
Auch die Tochter Zion verfallt mit in die Sprache des 
Hamburger Janhagel: »WasBarentatzen — L6wenklauen«. 
Nach der Verleugnung Petri wird der. Ton in Dichtung 
und Musik fiir eine Weile wieder feiner. Mit der Arie 
der Judas: »Lasst diese That nicht ungerochen, zerreisst 
mein Fleisch, zerquetscht die Knocben etc.« tritt ein 
heftiger Ruckfall ein. 

In demselben Jahre 4 716, wo H§,ndel diese Passion 

J. KBtiheBon n. von Brockes componirte, wurde sie noch von Mattheson 

0. P. Telemann ^^^ Telemann in Musik gesetzt. / Proben aus diesen und 

PaBBion Ton auderen oratorischen Passionen derselben Periode findet 

Brookes. der Leser zahlreich in Win terf eld's »EvangeIischem 

Kirchengesang« und in Bitterns »Beitragen zur Geschichte 

des Oratoriumsa. Am beriihmtesten und verbreitetsten 

war Telemann's Composition der Passion von Brockes. 



-» 63 H^ 

Wir finden sie 4 719 in Durlach, auf Friih- und Abend- 
gottesdienst in vier Abschnitten vertheilt, mit der Be- 
merkttng aufgeflihrt, dass Se. Hochfurstliche Durchlaucht 
an diesem Werke nach dem Vorgang von Hamburg und 
Frankfurt (a. M.) ein besonderes Seelenvergntigen gefunden. 
An letztgenanntem Orte war das Werk entstanden. 

Dem Brockes'schen Werke wurden viele Passionen 
nachgedichtet; zuweilen mit noch geringerem Geschmacke, 
als ihn das Original zeigt. In einer der vielen Passionen 
des Gothaischen Capellmeisters Stolzel — ihre Zabl wird G. H. 8t5lsel, 
auf 4 4 geschatzt — wird die ganze Leidensgeschichte in Passion vom 
Form einer Unterhaltung abgehandelt, welche Christus und J*^" ^'^^• 
die anderen activen Personen des £vangeliums mit einer 
Reihe von Schafen (dem glaubigen, dem demiitbigen, dem 
reuigen etc.) fiibren. Ein ungeheuerlicher allegorischer 
Apparat dringt aucb in diejenigen Passionen ein^ welche 
im Wesentlicben an dem Texte der Evangelien festbalten. 
So finden wir in der zweiten Marcuspassion von Tele- Telemann, 
mann (vom Jahre 4759) die Andacht, den Eifer, die Treue, Marcuspassionen 
die Klugheit, die Nacbabmung, den Muth, die Liebe, die ▼• ^729 u. 1759. 
Gerecbtigkeit , die Stimme Gottes; daneben nocb den 
Gbrist und den Sunder. In seiner ersten Marcuspassion 
vom Jabre 4 729 begniigt sich Telemann nocb mit der 
gl&ubigen Seele allein. Sie singt da zartliche, zuweilen 
scbmacbtende Bassarien. Aucb Christus ist in diesem 
Werke mebr anmutbig, als wiirdig behandelt. Seine 
Worte zum Schutze des Weibes, welches das Wasser 
auf sein Haupt gegossen: »Lasst sie mit Frieden«, 
tanzeln im ^/g-Tact. Die Einsetzungsworte fangen mit 

PaSy'^'T^ ' CJ I ^f^P^' P ^. Die 

irauius ail. Neh.xaet. es.set das ist mein LeibI 

Stelle: »Ich werde den Hirten schlagen« ist der von 
S. Bach in der Matthsluspassion gew^hlten Fassung ahn- 
lich. Eine plotzliche Beweglichkeit bei diesen Worten 
darf iuT die oratorische Passion als traditionell ange- 
nommen werden. Von hervorragender Schonheit ist das 




-^o- 64 ♦^ 

Zu der aus diesem Motive gebil- 
deten, wie in Bedr&ngniss und aus 
umdammertem Sinn, aus iiberirdi- 
scher Sehnsucht heraus fragenden und suchenden Melodie 
giebt das Orchestef) in Achteln zitternd, spannende, ver- 
minderte Accorde. Die Chore nahern sich der Realistik 
Reiser's. Die der Juden sind alle im Presto zu singen: 
Hervorragend ist das »Kreuzige<( durch ein mfichtiges 
Unisono allervier Stimmen, welches dann in kurze har- 
monisirte Motive Ubergeht, welche die Massen als vor 
Wuth bebend hinmalen. Hasse in Dresden schrieb sich 
diese Marcuspassion Telemann's eigenhandig ab. In der 
dreissig Jahre spater vorgenommenen zweiten Bearbei- 
tung desselben Evangeliums hat Telemann den Haupt- 
nachdruck auf eine dramatische Wirkung seiner Arien 
gelegt. Alle die personificirten Tugenden, welche die 
Besetzung dieses Werkes bilden, singen in einem auf- 
geregten Style, der durch die wiederholt vorkommenden 
Vortragsbezeichnungen : »pl5tzlich«, »hurtig«, »aufgebrachto 
auch &usserlich kenntlich gemacht wird. Sie treten da- 
durch in einen schon wirkenden Gegensatz zu den Reden 
Christi, welche durchweg in einem ruhigen und edlen 
Recitativton gehalten sind, der die friihere Marcuspassion 
weit hinter sich lasst. Sehr fein, an die alte Weise 
Hammerschmidt's ankniipfend, ist am Ende des Werkes 
der Choral: »Lobt Gott, ihr Christen, allzug}eich« als In- 
strumentalmelodie in die Arie: der i»Stimme Gottes« und 
in die der »Religion« eingewebt, bei der ersten durch die 
Flote, bei der letzten durch's Fagott. 

Als Sebastian Bach in die Passionscomposition ein- 
trat, war die ganze Gattung, wie wir aus dem Vorher- 
gehenden ersehen, in einem Zustande des Schwankens 
begriffen und in einen Kampf verwickelt, in welchem die 
geistigen Ansehauungen verschiedener Zeitalter und ganz 
entgegengesetzte Richtungen der musikalischen Kunst auf 
einander stiessen. Die Choralpassion bestand noch in 
doppelter Gestalt: in der alten ursprunglichen und in 
einer modernisirten. Neben ihr drang die oratorische 



-«). 65 H>- 

Passion vor, noch unklar dariiber, ob als das Haupt- 
ziel die Kirche oder das Theater ins Auge zu fassen sei. 
Auch Bach's Passionen tragen die Zeichen schwankenden 
Wesens an sich; aber was sie ausser der musikalischen 
Genialitat aus der Menge der gleichzeitigen Werke her- 
aushebt — das ist die Klarheit und Entschiedenheit, mit 
welcher Bach fiir die kirchlichen Elemente der Passion 
eingetreten ist. 

S. Bach hat funf Passionen geschrieben : vier nach 
den Evangelisten und eine nach einem Text von Pican- 
der, in welcher dieser bekannte dichterische Mitarbeiter 
des Leipziger Thomascantors die Leidensgeschichte in 
ahnlicher Weise wie Brockes behandelt hatte. Diese Pi- 
cander'sche Passion ist ganz verloren gegangen; von 
der Passion nach dem Evangelisten Marcus sind nur 
fiinf lyrische Stiicke in Bach's Trauerode auf den Tod 
der K5nigin Ghristiane Eberhardine erhalten. 

Von den drei andem ist die Lucaspassion erst in B. Baoh (?), 
jiingster Zeit in einem von Alfred Dorffel gearbeiteten Lucaspassion. 
Clavierauszug gedruckt worden. Die Echtheit dieser 
Passion wurde und wird von namhaften Musikern be- 
zweifelt. Sie ist handschriftlich nur unvoUstandig be- 
glaubigt: Die Signatur J. J., welche Bach ausschliesslich 
bei eigenen Werken gebraucht, ist da; aber der Autor- 
name fehlt. In der Musik selbst ist Manches, was Ver- 
wunderung erregt. Dass sich Bach im Ton mancher 
Nummern, wie im Einleitungschor »Furcht und Zitterna 
mit geringeren Musikern begegnet, ist weniger hoch an- 
zuschlagen; denn ausnahmsweise ist ihm das auch noch 
in Werken passirt, die wir, wie das Weihnachtsoratorium, 
zu seinen reichsten z§,hlen. Auch die Einfachheit der 
Harmonie und Stimmfuhrung, in den Choralen nament- 
lich, findet sich ahnlich in Bach'schen Jugendarbeiten 
vor der Weimar'schen Zeit. Aber befremdend ist die 
Thatsache, dass diese Lucaspassion in holprigen Bass- 
gangen und unreifen Modulationen manche Elemente 
birgt, welche man sich mit Bach schwer zusammen- 
denken kann. Jedenfalls nicht mit dem 25jahrigen 

II, 1. 6 



■^ 66 ^ 

Bach Spitta's, der die Entstehung des Werkes gegen das 
Jahr 4 710 setzt; h5chstens mit dem 40 Jahre jiingereii 
Anf&nger. Davon abgesehen aber enthftlt das Werk 
maDches, was Bach's ganz wiirdig ist und was sich mit 
der Annahme vertragt, dass wir es hier mit einer Ar- 
beit aus der Schulzeit zu thun haben, auf die der Autor 
in den Jahren, aus welchen die Handschrift stammt 
(4732 — 84), zuriickgriff. Die Anspriiche des Kirchen- 
dienstes waren nicht immer mit lauter neuen und lauter 
Meisterwerken zu decken. So gut Bach Passionen von 
Keiser und Stolzel copirte und auffiihrte, konnte er in 
einer Zeit der Verlegenheit sich auch seiner alten Lucas- 
passion erinnern. 

Bin von der Johannes- oder Matthauspassion Bach's 
abgenommener Maassstab passt auf diese Lucaspassion 
gar nicht. Sie vertritt die Kindheit der oratorischen 
Passion und gehort in den Sebastiani'schen Kreis. Ist 
sie unecht, was man mit sogenannten inneren Grunden 
allein in diesem Fall nicht fur bewiesen halten darf, so 
ist sie doch wahrscheinlich Thuringisch. Dafiir spricht 
die Verwendung des evangelischen Kirchenlieds und des 
protestantischen Altargesangs als Ersatz der Kunstarie, 
die die bescheidenen Mittel der Gantoreyen nur aus- 
nahmsweise oder sparlich zuliessen. Eine solche orato- 
Chriat. Wolff, rische Landpassion von Christian Wolff, der von 
Marcnspaesion. 4 730 — 63 in dem s^chsischen Stadtchen Dahlen wirkte, 
ein sehr anstandiges und fiir den Zustand der Musik- 
piiege Sachsens im 4 8. Jahrhundert riibmlich zeugendes 
Werk, hat 3 kurze Arien und alle fiir Sopran. Die 
Lucaspassion hat 6 Arien gegeniiber 34 Choralen. Unter 
den Arien sind einige nicht unbedeutend; von den 3 
Tenorarien kann die letzte »Lasst mich ihn nur noch ein- 
mal kiissenit entschieden als hervorragend , gehaltvoU 
und originell bezeichnet werden. Die Altarie »Du giebst 
mir Blut« erinnert leise an das »Esurientes« in Bach's 
» Magnificat <r. Aber auch die schwacheren haben in der 
Instrumentation Bach'sche Ziige. Zu den Arien tritt, — 
eine fur die Zeit hochst seltene Erscheinung — noch ein 



-•^ 67 ^ 

Terzett fUr 2 Soprane and Alt, welches auch fiir Chor 
gedacht sein kann : »Weh und Schmerz in dem Geb&reD/>. 
£s ist eine Nummer von sehr einfachem Aasdruck, aber 
von ^osger Wirkung, zu welcher namentlich das Golorit 
der des Basstons entbehrenden Begleitung beitr&gt. In 
diesem seinem fahlen haltlosen Klang gleicht es ganz 
unverkennbar der wunderbaren Sopranarie »Es zittem 
und schwankena der Bach'schen Cantate: »Herr, gehe 
nicht ins Gericht«. 

In der Ghorpartie der Lucaspassion ist das orato- 
risehe Element nur in dem Einleitungschor »Furcht und 
Zittemcc bemerklich, welcher an die Stelle des alten halb- 
biblischen Introitus getreten ist, und in den eingelegten 
Ghoralen. Die biblisch dramatischen Ch5re haben das 
knappe Maass, wie es in der modernisirten Choralpassion 
Ublich ist. In den Choren der Jiinger stimmt das Werk 
besonders in den beiden letzten »Herr, bier sind zwei 
Schwert* und »Herr, sollen wir mit dem Scbwert drein- 
scblagen> mit Schiitz in der Auffassung iiberein. Sie 
bringen nicht den Grimm, sondem den jugendlichen 
Muth zum Ausdruck. In den Choren der Schriftgelehrten 
und Juden tritt die Erregung in den Vordergrund; sty lis- 
tisch haben sie ein starkes Bach'sches GeprHge. 

Was die Lucaspassion aber ganz besonders aus- 
zcichnet — das ist die poetische Verwendung der Chor&le 
und der kleinen Einlagen, welche aus der Litaney, dem 
Tedeum und dem Vaterunser entnommen sind. Nament- 
lich mit den kurzen liturgischen Citaten, in denen sie 
einem Brauche folgt, der in Thiiringer Passionen wieder- 
holt vorkommt, werden sehr grosse Wirkungen erzielt. 
Wenn an der Stelle, wo auf Gethsemane Christi Seelen- 
angst beginnt, der Chor an Stelle der schlafenden Junger 
zu beten anfangt und aus der Litaney die wenigen Tacte 
eins^zt: »Wir armen Sunder bitten «, wenn derselbe 
wieder da, wo Petrus seinen Herrn verleugnen will, aus 
dem Vaterunser singt »Fiihre uns nicht in Versuchung«, 
so ist das, was die Situation zu empfinden giebt, so fein 
and eindringlich angedeutet, als es mit den gl&nzendsten 

6* 



68 



Mitteln der oratorischen Kunst nur immer geschehen 
kann und ohne dass die Darstellung der Handlung lange 
aufgehalten wird. Von den Choralen, die in der Lucas- 
passion verwendet sind, haben drei eine Hauptbedeutung. 
Es sind solche, die heute nicht mehr gebraucht werden 
und die auch zu ihrer Zeit nur eine beschr&nkte Ver- 
breitung genossen: Der erste ist: »Ich hab' mein Sach^ 
Got! beinigestellt«. £r erklingt zum ersten Mai in der Form 
einer an Schlitz und Sebastiani erinnernden Trauersinfonie 
nach dem Verscheiden Christi. Gleich darauf nimmt ihn 
der Chor auf zu den Worten: »Derselbe mein Herr Jesu 
Christ, vor alP mein Sund gestorben ist«. Zum letzten 
Male tritt er in die Tenorarie »Lasst mich ihno hinein. 
Der zweite ist: uStille, stille ist die Losunga 




Stil.le, stil . le bt die Lo.timg det Gott.lo . sen in der Welt 

Der dritte ist das Flittner'sche Lied »Jesu, meines Herzens 
Freud'«, welches wegen seiner freieren Rhythmik niemals 
eigentliche kirchliche Geltung erlangt hat. Zum ersten 
Male setzt es ein, wo Christus den Auftrag giebt das 

Osterlamm if V' n f' n f T if fl T I T T f** I ° I 

zu eSSen : tr Wei.de mieh and maeh mlefa satt,. Himmels.tpel . le! 

und zwar in einer Solostimme, die deutlich auf Sebastiani 
hinweist. Dieser Flittner'sche Halbchoral durchzieht die 
Lucaspassion besonders erkenntlich und giebt ihr, wenn 
man so sagen darf, einen gewissen traulichen Gharakter. 
Es ist nichts Grossartiges in diesem Werke, aber unge- 
mein viel Sinniges. Kein »Barrabam« erschiittert uns, 
kein »Sind Blitze sind Donner« macht uns beben; aber 
wenn der letzte Accord dieser Lucaspassion voriiber ist, 

dann singt es in uns 4 a, <■ _ j r i .-■.,. i ^* ^^® 
noch lange nach : ^ ^ T p f I 1 f P f > * Lucas- 
passion auch von den ausfiihrenden Kraften wenig ver- 
langt, so wird sie sich wahrscheinlich bald einen festen 
Platz glwinnen. 

Die Lucaspassion, ob von Bach oder nicht, ist jeden- 
falls ein liebenswUrdiges Denkmal aus der Jugendzeit 



69 ♦- 

der oratorischen Passion. Bach's Johannespassion und 
MatthS,uspassion stehen in der Entfaltung eigentlich ora- 
torischer Auffassung und Kunst weit h5her. Aber in einem 
Zuge gleichen sie ihr. So hoch Bach in ihnen als Musiker 
aufwHrts schreitet, immer halt er die Richtung aufs 
Kirchlich-Volksthiimhche ein; seine in der Heimath ein- 
gesogene Liebe zum Choral und zum Bibelwort unter- 
scheidet ihn von den Passionscomponisten der Hamburger 
Schule. In dieser Beziehung stehen sich die zweifelhafte 
Lucaspassion und die Bach^sche Matthauspassion ganz 
nahe; aus beiden blickt dasselbe Auge, dort das des 
Kindes, hier das des Mannes. Die Johannespassion ist 
musikaJisch wohl ebenso bedeutend wie die nach MatthHus. 
Ja Schumann und Andere haben sie der letzteren voran- 
stellen wollen. Aber wenn sie in einem Punkte einen 
Schritt hinter der Matthauspassion zuriickbleibt, so ist 
das eben in ihrem Verhaltniss zu den kirchlich volks- 
thumlichen Elementen. 

Bach hat dem Vermuthen nach die Johannespas- S. Baoh, 
si on in Aussicht auf den Antritt des Thomascantorats Johannoe- 
schon im letzten Jahre seines Cothner Aufenthalts com- PMsion 
ponirt. In Leipzig kam das Werk erst am Charfreitag 
1724 zur Auffiihrung und erlebte wMhrend der Amtszeit 
des Componisten mehrere (3?) Wiederholungen. Noch 
einige Jahrzehnte nach Baches Tode kannten, wie wir aus 
einem Berichte von Rochlitz schliessen, der selbst Alum- 
nus war, die Thomasschiiler die Johannespassion. Dann 
verschwand sie mil der Mehrzahl der Bach'schen Vokal- 
compositionen auch aus dem Gesichtskreise der Leipziger 
und kam erst im Gefolge der wiederentdeckten Matthaus- 
passion aufs Neue zum Vorschein; zuerst in einer Aus- 
gabe bei Trautwein, nach welcher die erste Auffiihrung des 
Werkes durch die Berliner Singakademie (21. Febr. 4 833) 
erfolgte. Die Gesammtausgabe der Bach-Gesellschaft 
veroffentlichte das Werk im Jahre 4 863 (Bd. XII) in der 
Redaktion von W. Rust. 

Von der Form, in welcher die Johannespassion an 
dieser letztgenannten Stelle vorliegt, war die urspriing- 



-^ 70 ^ 

liche Fassung einigermassen verschieden. Der Einleitungs- 
chor, der Schlusschor and die H&lfte der Arien waren 
andere als jetzt Die lyrische Pariie hat dem Compo- 
nisten in dieser Passion ersichtlich viele Schwierigkeiten 
gemacht. Lag ihm doch fUr diesen Theil, welchen er zum 
ersten Male in grosseren Formen zu behandeln hatte, 
kein fertiges Gedicht vor, wie sp&ter bei der Matth&us- 
passion. Bach half sich mil Bibelcitaten und Gesangbuch- 
versen; wo es ihm passend schien, griff auch er zu 
Brockes: Aber die wiederholten Umarbeitungen scheinen 
darauf hinzudeuten, dass Bach selbst mit der lyrischen 
Ausstattung der Passion nicht recht zufrieden war, und 
sicher ist es, dass in diesem Punkte die M£lngel des ersten 
Entwurfs noch bis heute sich empiindbar machen. Ein 
Theil der Arien, so vortrefflich sie an sich sein mogen, 
steht nicht an der richtigen Steile. 

Der Einleitungschor der Johannispassion »Herr unser 
Herrscher .... zeig' uns durch deine Passion , dass du 
der wahre Gottessohn etc.ff, welcher erst mit der zweiten 
Bearbeitung, gegen das Jahr 4 737, in das Werk kam, ist 
unter alien Charfreitagsbildem , welche in der Tonkunst 
geschaffen worden sind, eins der eigenthiimlichsten und 
gewaltigsten. Eine merkwurdig dunkle F&rbung zeichnet 
ihn aus, und durch das Gebet der Menge, die bier unterm 
Kreuze zusammentritt , geht ein zagender und klagender 
Grundton. Der Preis des Herrschers, »dessen Ruhm in 
alien Landen herrlich ista, klingt wie aus gepresster Brust : 
er setzt mit schweren stockenden Accorden ein und 
untermischt die Figuren des Jubels mit schmerzlichen 
und wehmtithigen Wendungen, bricht sie ah im Tone der 
Resignation. Ueber alien den Partien, in welchen der 
Chor in immer wieder wechselnden Motiven nach dem 
Ausdruck freudiger Bewunderung sucht, herrschen die 
Holzinstrumente (Floten und Oboen) mit der Durchfiihrung 

des klagen- tf a. ^°?^**;/^r _ i ■ i Unsere heutigen 
den Motivs: jjj^ ^" " * T I I T Titr) 1^- ' starken Ch5re 
iiberdecken diese geblasene Melodie alierdings; Bach 
aber schrieb fiir einen nur diinn besetzten Chor. Die Har- 




^ 1\ ^ 

monie liegt in langen Orgelpunkten fest; in dem Geigen- 
chor dr&ngt unaufhdrlich eine wogende Sechzehntel- 
figur von nnten - r m n 

nachoben. Erst ^ l^* ' H ft I p ' w P' 

mit dem Thema : zeiguudndiM^ w ttL , I ~. . mI . ob 
setzt sich die schwankende Stimmung fest. Schon im 
ersten Theil des Chors (als Oberdomin&nt : D dur) kurz be- 
riihrt, wird dieses Thema beim zweiten Auftreten (Esdur) 
zu einem langeren Satze, den man als Mitteltheil der Num- 
mer, jedenfalls als ihren geistigen Mittelpunkt betrachten 
kann. Er ist ganz in Passionsbetrachtung getaucht: die 
Stimmen Uberbieten einander in der Inbrunst, mit welcher 
sie zum Kreuze blicken and klagen. Dass das Motiv, 
tH \ nf f^ifl welches diese wannen, ausdrucksvoUen 
" y r "J I ^^ ' Melodien tragt, symbolische Bedeutung 
hat, lehrt der Vergleich. Immer wenn Bach das Bild des 
Kreuzigens vor die Phantasie stellt, in dem Motiv a 
(siehe unten) des betreffenden Chors der Johannespassion, 
in dem Hauptthema von »Lasst ihn kreuzigen« in der 
Matth&uspassion , an zahlreichen Recitativstellen beider 
Werke, thut er dies in der eigenthumlichen Verbindung 
von Syncope und Quart (oder einem h5heren Intervall). 
Als Knnstwerk betrachtet ist der Prolog der Johannes- 
passion eine der grossartigsten Leistungen ; keine der Ham- 
burger Passionen hat eine Einleitung,die mit dieser nur 
verglichen werden k5nnte. Und Bach selbst hat diesen 
Chor kaum Uberbieten konnen. In alien Gruppen, die 
sich an seiner Durchfiihrung betheiligen — Chor, Streich- 
orchester, Blaser — ist ein derartiger Reich thum und 
eine solche Selbst&ndigkeit der Ideen und des Ausdrucks, 
dass, wie man aus den vorhandenen Clavierausziigen 
sieht, selbst geiibte Musiker sich zwischen Haiipt- und 
Nebenstimmen geirrt haben. Und bei der grossten Ein- 
heit in Form und dem Festhalten an der Grundstimmuug 
hat Bach doch noch so viele Einzelheiten riihrend betont. 
Man sehe nur die Wiedergabe des Begriffs »Niedrigkeita. 
Der erste Theil der Johannespassion hat ausser dieser 
Einleitung nur dramatische Chore und Chor&le. Unter den 



72 

ersteren ist der an den leugnenden Petrus gerichtete: 
»Bist du nicht« von langerer Ausdehnung, eine den Ton 
der Verwunderung sehr lebendig wiedergebende Durchfiih- 

rung des gi f ii n p Up P P^ T p i ^^ Die beiden an- 
Themas: " gl^ Ju Bi«ht seLMi Jiin.glr «!.««? derensindkurze 
dramatische Satzchen, Antworten der neugierigen Menge 
auf die Frage des Heilandes »Wen suchet ihr«. In verschie- 
denen Tonarten liegt beiden dasselbe Motiv zu Grunde: 



Jcsm, Je-smn, Je.«Hn Tbn Na.aareth. t'^esiers, weicncb 



die Singstim- jj. , r if tft^ kehrt auch in Choren 

men umspielt : gt "^ '? 1 {yLbLJii^^ des zweiten Tbeils 



wieder, in »Wir dtirfen Niemand todten«, »Nicht diesen, 
sondern Barrabam« und »Wir haben keinen Konig denn 
den Kaiser«. Die Chorale, deren dieser erste Theil vier hat, 
zeichnen sich vor denen aller anderen Componisten durch 
ausdrucksvoUe , kunstreiche Harmonien und durch eine 
Melodik aus, welche auch die Nebenstimmen in hervor- 
tretenden kurzen Wendungen manches Eigene und Schone 
sagen lasst. Ob in Leipzig zu Bach's Zeiten die Ge- 
meinde die Oberstimme dieser einfachen Chorale mitsang, 
wissen wir nicht. In anderen Gegenden ist dieser Branch, 
fiir welchen mehrfache sachliche Grtinde sprechen, auch 
bei der oratorischen Passion nachgewiesen*). 

Der Hauptchoral der Johannespassion , das Stock- 
mann'sche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod«, er- 
scheint zum ersten Mai ganz am Schlusse des ersten 
Theils zu den Worten » Petrus, der nicht denkt zuruck«. 
Eine kunstvollere Bearbeitung desselben Chorals in der 
Form eines Duettes zwischen Sopran und Bass »Himmel 
reisse. Welt erbebe«, die in der ersten Fassung der Jo- 
hannespassion unmittelbar auf den Choral uWer hat dich 
so geschlagena folgte, hat Bach spater gestrichen. 



*) Bachmann, J.: Geschichte des evangelischen Kirchen- 
gesanges in Mecklenbnrg 93, 122. 



^ 73 ^^ 

Mit der Wahl des Stockmann^schen Passionsliedes hat 
es seine besondere Bewandtniss. Wie noch bis in die 
ueueste Zeit die Evangelien Dichtern und Dichterlingen 
immer wieder Stoff zu schdnen oder bios gutgemeinten 
Paraphrasen geboten haben, so war es auch im Mittel- 
alter. Insbesondere wurde die Leidensgeschichte , in der 
lateinischen wie in der deutschen Zeit, alien Formen der 
freien Dichtung angepasst; zuweilen allerdings mit mehr 
Gelehrsamkeit als Geschmack. So begann noch Enoch 
Klitzing im Jahre 4 708 seine lange »Charfreitagsbetrach- 
tung einer gl^ubigen Seele« mit der Blasphemie »Der 
grosse Pan ist todta. SelbstverstHndlich iibertrug man 
die Darstellung der Passion auch bald in die Form des 
evangelischen Kirchenliedes. AUe Gesangbucher vom An- 
fang des 4 6. Jahrhunderts ab enthalten solche Lieder, 
mit Oder ohne beigedruckte Musik. Zum Unterschiede 
von den blossen »Passionsandachten«, — Liedern be- 
trachtenden Inhalts, unter denen die von Rist, compo- 
nirt von Martin Colerus (KShler), »dem einzig wahren 
Ph5bus unsers ganzen Deutschland« (Hamburg 4 664), be- 
sondere Beachtung verdienen — tragen sie den Titel 
»Historie des Leidens .... nach den Evangelisten«, also 
genau denselben wie die Passionslectionen und Choral- 
passionen, als deren Ersatz sie gemeint waren. Die Zahl 
der Verse in diesen in Liedform gegebenen Passions- 
historien schwankt zwischen 20 und 40; sie ist bei alien 
sehr gross. Die grSssere Anzahl dieser dem protestan- 
tischen Choral angepassten Passionsgeschichten fand keine 
Verbreitung, aber einige wurden zum Gemeingut des 
evangelischen Deutschlands. Unter ihnen sind die wich- 
tigsten »Da Jesus an dem Kreuze stundn, »0 Mensch be- 
wein dein Sunden gross «, »0 Gottes Lamm unschuldig« 
und unser »Jesu Leiden, Pein und Todcr. Es war dem- 
nach ein ungemein sinniges und poetisches Verfahren, 
wenn S. Bach diese drei letztgenannten Chorale, den 
einen in der Johannespassion , die anderen in der Mat- 
thauspassion so ausserordentlich bevorzugte: ein Schritt 
der Liebe zu Heimath und Volk, der auf Bach den 



-<♦ 74 ^^ 

Kfinstier 'und den Menschen ein helles und herrliches 
Licht wirft. 

Arien hat der trste Theil der Johannespassion nur 
drei. Die erste setzt an der Stelle ein, wo Jesus ge- 
bunden zu Hannas gefiihrt wird. An dieses Binden 
kntipft der Text an »Von den Stricken meiner Siinden 
mich za entbinden, wird mein Heil gebunden«. Er ist 
von Brockes und bildet den Eingang seiner Passionsdich- 
tung. Die meisten Componisten derselben haben ihn als 
Chor behandelt und sich dabei mit Syncopen und schlei- 
fenden Dissonanzen eine anschauliche Wiedergabe der 
Mechanik des Bindens angelegen sein lassen. Bach hat 
nichts auszudrticken gesucht als das Mitleid und die 
dankbare RUhrung, welche der Anblick der ersten Marter 
des Herrn in dem Christen erwecken muss. Zum Haupt- 
trager dieses Gefuhls Andante^ ^^ ^tM . 

nimmt er das Thema |^» 2 "^ p I f ' F T M ' M f Tj" I T 
in dessen Durcharbeitung sich die Singstimme und zwei 
Oboen ziemlich gleichmassig theilen. Erstere hat vor den 
Instrumenten nur einige kurze Stellen voraus, in welchen 
sie die Stimmung in schneidenderen Interjectionen aussert. 
Der klare Vortrag ist ebensowenig leicht wie das Ver- 
standniss des vielleicht etwas zu langen Stuckes. Doch 
aber thut man sehr unrecht, wenn man dasselbe ledig- 
hch fur contrapunktisch werthvoU halt. 

Ohne gentigenden Anlass schickt S. Bach dieser Alt- 
arie sofort, nach nur 3 Takten Recitativ eine zweite 
Arie nach, deren Zusammenhang mit der Erzahlung auf 
die Worte des Evangelisten gestiitzt ist: » Simon Petrus 
aber folgte Jesu nach«c. Der Sopran setzt darauf mit 
den Worten ein »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen 
Schrittena. Er folgt naiv und tS.ndelnd wie ein Kind in 
Sechzehntelfiguren, welche die F16te vorspielt und zu sehr 
interessanten Gebinden erweitert. Auch hat die Arie 
Stellen, an welchen sie aus dem leichten Ton in die Tiefe 
der Empfindung iibergeht, und einige Malereien, nament- 
lich auf die Worte »ziehen und schieben«, die merk- 



-^ 75 ^ 

wnrdig genug sind. Sie ist fiir sich betrachtet and na- 
mentlich im Gegensatz zu der schweren Stimmang der 
voraosgefaenden Altarie ein ganz annehmbares Stiick. 
Aber in der Oekonomie des Ganzen bleibt sie ein Fehler, 
und Bchwer ist es zu verstehen, dass sie Bach bei den 
spllteren Bearbeitungen der Johannespassion an ihrer 
Stelle belassen hat. In den Concertauffuhrungen der 
Johannespassion wird man sie wegen des Widerspruchs 
der Sopranistin ebenfalls nur schwer beseitigen konnen. 
In England soil sie eine besondere Popolarit&t erlangt 
haben. Ganz anders steht die Tenorarie »Ach, mein 
Sinn!« an ihrem Platze, welche das letzte Stttck vom 
ersten Theil der Johannespassion bildet Mit ihr hat 
Bach der Scene der Verleugnung Petri, welche er aos 
dem Matth&us- in das Johannesevangelium dichterisch er- 
ganzend heriibergenommen , einen rt^hrenden und ver- 
sobnenden Abschluss gegeben. Der weiche, suchende, 
fragende und klagende Ton, in welchen diese unabUssigen 
und eifrigen Vorwurfe gekleidet sind, bildet die schdnste 
Vertheidigung des reuigen und irrenden Jiingers. Diese 
Arie ist eins der schdnsten Solosttlcke nicht bios der 
Johannespassion, eine Probe feinster Seelenmalerei. Sie 
schliesst viel trefflicher an den vorausgehenden Schluss 
des Recitativs, an die Worte »er weinte bitterlich* an, als 
die Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hiigela, 
welche in der ersten Fassung der Johannespassion an 
dieser Stelle stand. Letztere malt einen zornigen, die 
jetzige Arie aber den weinenden Petrus. Es ist ttbrigens 
ein weiterer Beweis fiir die grosse Pietat, mit welcher 
Bach dem Bibelwort gegeniibersteht, dass diese Arie, die 
doch ganz aus der Seele des Petrus heraus gedacht ist, 
in einen neutralen Mund gelegt wird. Ein Tenor singt 
sie; Petrus aber, wo er im Recitativ selbst auftritt, hat 
Bass. Die Stelle, wo der Evangelist von dem Weinen 
Petri berichtet, ist eine der gl^nzendsten in dem an 
Malereien und empfindungsvollem Ausdruck reichen Reci- 
tativ der Johannespassion. In seinen Passionsrecitativen 
ist Bach ganz frei schdpferisch vorgegangen. In ihrer 



76 ^ 

Tendenz beriihrt er sich einigermassen mil Schtitz, und 
fiir gewisse Einzelheiten der Form, den schnellen und 
haufigen Wechsel zwischen Declamation und Gesang, 
m5gen ihn seine Studien Albinoni's und anderer friih- 
venetianischen Meister einige Anregungen geboten haben. 
Aber das Meiste beruht auf eigener Auffassung und Er- 
findung. Die Recitativpartie ist voll von kleinen und 
sinnigen Randzeichnungen, zu deren klarer Wiedergabe 
vom Sanger und vom ZuhSrer liebevolles Eingehen, 
namentlich aber von dem den Continuo ausfuhrenden 
Begleiter Elasticitat im Auffassen und Ausfiihren voraus- 
gesetzt wird. Viele der schonsten Zuge, wie der beim 
Kr^hen des Hahnes, sind der Phantasie des Letzteren fast 
ganz allein anvertraut. Auch fur die Charakteristik der 
Personen miissen die Vortragenden das Entscheidende 
thun. Das gilt insbesondere, und auch fiir den zweiten 
Theil der Passion von den Reden Jesu, den der Evan- 
gelist selbst sehr wortkarg vorgestellt hat. Bach hat nur 
an wenigen Stellen, mit Wiederholung bei den Worten 
»soll ich den Kelch nicht trinken«, mit decenten Colora- 
turen bei den Worten »ware mein Reich von dieser Welt, 
meine Diener wiirden darob kampfen« nachgeholfen. 

Im zweiten Theile der Johannespassion treten die 
dramatischen Chore bedeutend in den Vordergrund, so- 
wohl durch ihre Menge, wie auch durch die breite An- 
lage, welche einzelnen von ihnen gegeben ist. Bis zum 
ersten Abschnitt dieses Theils, welcher durch die Geis- 
selung markirt ist, haben wir ihrer drei: Der dritte: 
» Nicht diesen, sondern Barrabam« ist ein kurzes dra- 
matisches Stiick, welches die heftige Entschiedenheit der 
fordernden Menge in knappen, scharfen Strichen wieder- 
giebt. Die ersten beiden: »Ware dieser nicht ein Uebel- 
thater« und »Wir diirfen Niemand todten« hat Bach wie 
selbst&ndige Scenen breit ausgefuhrt. Die Juden sind sich, 
nach Bach's Auffassung, der Schwache ihrer Griinde be- 
wusst und helfen durch eine aufdringliche Deuthchkeit und 
UmstSndlichkeit des Vortrags nach. Die Musik beider Num- 
mern ist ziemlich dieselbe. Sie ruht auf zwei Hauptmotiven 



77 



1 ^ ► J? J? 1 P P p P V 'T I r^f r und nwir hfttten dir llin 



Wi:. re di«jer nidu ein tj . bel . tha - ter, 

I / jfjjjna'^' *^^ 'f^^ ^""^^ ^^^^^' I ' 

nieht il_ber.aBtwor .........tet 

Im zweiten Chor ist auf das chromatische Motiv und die 
Coloratur, wo sie vorkommt, das entscheidende Wort 
»todten« eingesetzt. Durch die Harmonien und die Decla- 
mation dieser beiden Nummem geht ein unheimlich 
damonischer Zug. £s liegt der in Heuchelei verhaltene 
Fanatismus darin; im ersten bricht er h&ufig in den 
zischend herausgeschleuderten Achteln auf das Wort 
»nicht« offen hervor. 

Den ersten kleinen Ruhepunkt in dem Abschnitt 
bildet der Choral: »Herzliebster Jesu, was hast du ver- 
brochen«, dem hier die Worte : »Ach grosser K5nig, gross 
zu alien Zeiten« untergesetzt sind. Sie kniipfen an die 
Erklarung Christi an: »Mein Reich ist nicht von dieser 
Welt«. Das Ende des Abschnitts ist breiter markirt durch 
das Arioso des Basses: »Betrachte meine Seer«, eine 
herrliche tiefgehende Nummer aus jener mild erhabenen 
Gattung von Bassges3.ngen , die bei Bach und HUndel 
vielfach vertreten, in neuerer Zeit hSchst selten geworden 
ist. Den Text hat Bach aus Brockes mit Aenderungen 
genommen, die keine Verbesserungen sind. Dem Arioso 
folgt in der Partitur noch eine grosse Tenorarie: »Er- 
wage, wie sein blutgefarbter Rucken«, die mit Recht bei 
heutigen Auffiihrungen gewohnlich iibergangen wird. Sie 
arbeitet im Wesentlichen nur das Motiv der Geisselung, 
mit welchem der Evangelist seine Erzahlung naiv malend 
abgescfalossen hat, zu einem grossen, selbstandigen In- 
strumentalbild aus. 

Die zweite Scene der zweiten Abtheilung ist fast rein 
chorisch. Die langen Satze der turbae sind nur durch 
kurze Recitative des Evangelisten und des Pilatus, zu 
denen an einer einzigen Stelle auch Christus tritt, unter- 
brochen. 



78 



Die erste Nummer des Chors ist der Spottchor der 
Kriegsknechte (die Bach in alter Weise auch mil Sopran 
und Alt auftreten l&sst): »Sei gegriisset, lieber Juden- 
kdniga. Um das hdhnische Element des Textes zum 
Ausdruck zu bringen, muss hier der Vortrag der Chor- 
stimmen das Beste thun: es empfiehlt sich ein leiserer 
Anfang, crescendo beim Einsatz jeder weiteren Periode, 
staccato auf die knrzen Noten und ein nicht zu vie! uber- 

treibender ^_^_^ » , ;^ ^ ^ - ^"^ ^^^ schar- 

Accent ai 
die Ian gen: 




Her- 



-Sei ft . grtt.tset UeJber J« . des . KB.oigi YOrhebeU 

des gegen den Schluss cintreten- ^ ^ P' B I t ^ '■ 
den munteren ausgelassenen Motivs ^ ,,i Je.gra.sicii 
Das Orchester unterstutzt die Absichten des Textes nur in den 
Blasinstrumenten : F15ten, Oboen reden in scharf absetzen- 
den, lachenden Figuren eine deutliche Geberdensprache: 

J I ! ■ Jl^ *-rT>^~ fTT ^L I fT^ i Ss ist interessant den 
tf ^ fjT? <TT ] to I W ■ zweiten Chor: .Kreu- 

zige, kreuzige ihn« mit dem liber die fthnlichen Worte*. 
vLass ihn kreuzigen« in derMatthsluspassion zu vergleichen. 
Der letztere ist in seiner Kalte teuflischer, der der Jo- 
hannespassion bringt die Wuth der sinnlos emporten Menge 
mit elementarer Gewalt zum ^ .l t ^ /TJ 
Ausdruck: graulich in Disso- a) 
nanzenheulend die eine Partei: ~ Kreu . si.^i 

die andere wie im Fieber wetternd und schnatternd: 

M <£*^ P P B i P JsJ^ P P P P ^fr3f^ U^^ diese Motive immer 
^ Km^ knmd^k^e«^kNmstfrt ' mit eiuauder und durch 
einander ! Zmn Scfalusse hat Bach durch Verlangerungen 
des zweiten Motivs noch eine erschreckende Steigerung 
angebraeht, die in dem durch den verwirrenden L&rm 
der tibrigen durchdrohnenden , von MissklsUigen ge- 
kreuzten, langen und hohen Machtschrei der Basse (auf 
d) ihre Spitze findet. 

Nach diesem wilden Ausbruch pobelhafter Rohheit 
giebt der nachste Chor in seinem gesetzten, gemesseaen 
Gang einen eigenen Gegensatz : Mit kiinstlicher Rube uad 




-^ 79 ♦- 

gesucht deutlicher Betonung stellen die Juden dem ilber 
den Fanatismas verwunderten and flir Ghristus eintreten- 
den Pilatus streng abweisend ihr: 

Wir kabendiiOaLMti,nQdBwbdemGeLMCsMU«r star . . • . bm 

enigegen. Das Thema wird in Fugenform regelrecht 
durchgefiihrt. Der demonstrativ bedauemde Ausdruck 
auf Nsterbentt tritt darin besonders hervor und wird ganz 
am Schlusse auch auf das zweite, leichtgebaltene Motiv 
auf die Worte »denn er hat sich selbst zu (xottes Sohn 
geinacht« iibertragen. 

Der Choral: »Durch dein Gefangniss, Jesu Christ «, 
der den Worten folgt: •Von da an trachtete Pilatus, wie 
er ihn losliessea, stdrt die Einheit der Scene. Wird die 
Passion beim Gottesdienste benutzt, so ist er an seinem 
Platze. In Concertauffiihrungen, wo nur eine zuhorende 
Gemeinde vorhanden ist, wird besser in der ErzUhlung 
und zu den beiden Choren: »L^sest du diesen los« nnd 
»Weg, weg mit dem« fortgegangen werden. Ersterer ist 
identisch mit: »Wir haben ein Gesetz«, letzterer bringt 
mit einer verscharfenden Einleitung die Musik des 
»Kreuzige« wieder. Mogen auch prosaische GrUnde Bach 
zu diesen Repetitionen mit veranlasst haben; sicher ist, 
dass sie passen. Die Scene schliesst mit einem kurzen 
Chor: »Wir haben keinen Konig denn den Kaiser «, in 
dem die Betonung des »Wir« sehr wirksam ist. 

Zwischen ihr und dem nun auf Golgatha spielenden 
Abschnitt hat Bach eine madrigalische Nummer einge- 
schoben: »Eilt, ihr angefochtnen Seelena, einen Dialog 
zwischen dem Solobass und dreistimmigen Chor (Sopran, 
Alt, Tenor). Dem Text (aus Brookes' Passion entnommen) 
hegt ein ahnliches dramatisches Bild zu Grunde, wie dem 
grossen Eingangschor der Matth&uspassion : Die Tochter 
Zion fordert die glaubigen Seelen auf, sie auf dem Gang, 
dort nach dem Calvarienberg, hier in der Johannespas- 
sion nach Golgatha, zu begleiten. Es ist ein Wechsel- 
gesang, im letzten Falle einfachster Art. Der Bass fuhrt 



-^ 80 

lange, eifrige erregte Reden; der Chor, in die Hast mit 
hineingerissen , wirft in hochster Spannung nur immer 
wieder die kurze Frage: »Wohin«? dazwischen. Keiser 
hat das Bild dieses in phantastischer Begeisterung hin- 
sttinnenden Zuges S.hnlich wie Bach in rollenden Figuren 
wiedergegeben , nur sind die Maasse kiirzer. Was aber 
die Composition Bach's so gross macht, das ist die geniale 
Declamation der Worte »Nach Golgatha«, mit denen die 
Tochter Zion (Bass) den giaubigen Seelen (Frauenchor) 
geheimnissvoU, wuchtig und gebieterisch antwortend die 
Richtung bestimmt. 

Die dritte, Kreuzigung und Tod des Herrn umfassende, 
Scene hat nur zwei dramatische Ch5re, den der Hohen- 
priester: »Schreibe nicht der Juden K6nig«, welcher in 
wenig passender Weise einfach die Musik des Spott- 
chors: »Sei gegrusset« aus der vorigen Scene wiederholt, 
und den Chor der Kriegsknechte: »Lasset uns den nicht 
zertheilena. Aus letzterejn hat Bach eine Fuge gemacht 
liber folgendes, das platte Behagen der Landsknechte 
sehr gut zeichnende Thema: 



^M M f y M I I ^ ^ f l ^ l ^1 I p II |l I 

Las.Mt HAS den niekt lar . thei . . . Im, soiudern da. nun 




Zum Schlusswird 



f, _ f t .f - . . ^^^ ocnmsswira 
^ P I t ' ' I ' r t I ■ der Ton immer 



lo . . . sen. weis er tein loUl Icbhafter Uudver- 

gnughcher; Naturlaute schlagen daraus hervor. Es ist 
dieser Chor, bei welchem wieder Sopran und Alt be- 
theihgt sind, ein realistisches Genrebild, zu welchem die 
Vorwiirfe aus dem iS. Jahrhundert, aus dem gemiithlich 
philistrosen Kreise der fiirstlichen Thorwachen und stad- 
tischen Soldner genommen scheinen. Den schonen Ab- 
schnitt der Erzfthlung, wo Jesus seine Mutter dem Jo- 
hannes ubergiebt, zeichnet Bach durch den Eintritt des 
Chorals: »Jesu Leiden, Pein und Tod« aus (zu denWorten: 
»>Er nahm AUes wohl in Acht«). Bald darauf, wo es 
heisst: »Und neigte das Haupt und verschied«, kommt 
dieser selbe Choral wieder. Diesmal in einer kunstvollen 



-^ 81 *^ 

Bearbeitung. Er ist, im Munde des Chors, einer Arie 
eingeflochten, welche der Bass auf die der Brockes'schen 
Passion nachgedichteten Worte: »MeiQ theurer Heiland, 
lass dich fragen« singt. £s sind ungemein liebe voile und 
hingebende Weisen. Zwischen dem einfachen Gboral und 
der Choralfantasie steht noch eine weitere Arie, welche 
an Jesu letztes Wort ankniipft. £s ist die sch5nste der 
ganzen Johannespassion, die Altarie: »Es ist voUbrachtcf. 
Sie besteht fans zwei Theilen, einem schwermuthigen 
Adagio, in welcbem die Altstimme sich mit der Viola da 
gamba (gewohnlich durch Violoncello ersetzt) in klagenden 
and trauemden Melodien vereint und ablost. Der Allegro- 
satz erh§,lt durch den Zutritt des vollen Streichorchesters 
einen bedeutenden Glanz. In visionHrem und entzucktem 
Ton feiert er den Sieg des Helden aus Juda. Statt des 
liblichen da capo — der Wiederholung des ersten Theils 
— klingt in dieser Arie nach dem Schlusse des Mittel- 
theils der Hauptsatz nur wieder an. Der Uebergang in 
diese Reprise zeigt ganz besonders den freien und leben- 
digen Geist, mit welchem Bach innerhalb der Johannes- 
passion sich in den hergebrachten Formen bewegt. 

Nach dem Verscheiden Christi und der Fantasie fiber 
den Stockmann'schen Choral fuhr die Johannespassion 
in der ersten Bearbeitung mit einer Instrumentalsinfonie 
fort. Diese ist spater durch die (aus dem MatthS.us ent- 
lehnte) Erzahlung von dem Erdbeben durch ein im Style 
des begleiteten Recitativs gehaltenes, im Inhalt stark be- 
wegtes, sehr eigenthiimlieh abschliessendes Arioso (Tenor : 
»Mein Herz! In dem die ganze Welt«) und durch eine 
Sopranarie: »Zerfliesse, mein Herze, in Fluthen der Zah- 
ren« ersetzt worden. Zu den letzten beiden Stucken lieh 
wieder Brockes den Text. Diese Sopranarie ist eins der 
eigenthlimlichsten Stiicke der Passion: Roccoco in den 
zierlichen feinen Formen und die bewegteste Romantik 
in dem Ausdruck der Trauer. Kindliche und tragische 
Tone spielen bier in einander. Namentlich der ganze 
Schluss des Mitteltheils mit der Stelle »dein Jesus ist 
todta ist hierdurch tief ergreifend. 

n, 1. 6 



82 -»- 

An Stelle der alten Gratiarum actio war schon in 
der modemisirten Ghoralpassion eine sogenannte Chor- 
arie getreten, deren Text in den meisten Werken der 
gleiche ist: Die S&nger nehmen vor dem Grabe des Ent- 
schlafenen Abschied und bitten fur ibr eignes einstiges 
Ende um eine sanfte Rube. Aucb die Musik dieser Cbor- 
arien stimmt im allgemeinen Charakter iiberein. Sie 
wollen einen milden, versohnenden Abscbluss geben. 
Die beiden in den Bach'scben Passionen zu Johannes 
und Mattbaus steben mit dieser Absicbt ebenfalls in der 
allgemeinen Reibe, aber sie sind wie die Eingangscbdre 
dieser Werke durcb ihre grossen Dimensionen obne 
Gleicben. Unter einander tbeilen sie aucb Tactart und 
Tonart und gleicben sicb iiberdies in den Tbemen des 
Mittelsatzes ziemlicb genau. Der Scblusscbor der Jo- 
bannespassion ist aber etwas leidenscbaftlicber. Der Zug 
einer im tiefsten Grande nocb sebr erregten Empfindung 
tritt namentlicb an den Stellen offen bervor, wo es beisst: 
»Und bringt aucb micb zur Ruba. Dieser Umstand und 
nicbt der kircblicbe Braucb allein mag Bacb veranlasst 
haben, seine Jobannespassion nicbt mit dieser Cborarie zu 
scbliessen, sondern ibr nocb den Cboral: i>Herzlicb lieb 
bab icb dicb, o Herr« auf die Worte: »0 Herr, lass dein 
lieb' Engelein« zuzugeben. 
S. Baoh, Die Mattbauspassion' stimmt im Wesentlicben 

HatthftuB- der Anlage und Ricbtung mit Bacb's Passion nach Jo- 
passion, bannes iiberein. Aucb sie ist in diesen Punkten als ein 
Werk der Reform zu betracbten, als einVersucb Bacb's, 
die oratoriscbe Passion auf altkircbbcbem und volks- 
tbiimlicbem Boden aufzubauen. Im musikaliscben Wertb 
der einzelnen Satze stebt die Jobannespassion der spa- 
teren wobl nicbt nacb. Aber es ist nicbt zu verkennen, 
dass Bacb in der Mattbauspassion das oratoriscbe Ele- 
ment sowobl als das kircblicb volkstbiimlicbe breiter 
entfaltet und beide in innigere Verbindung gebracbt 
bat als in der Jobannespassion. Aucb im Text der 
Mattbauspassion stort uns der starke allegoriscbe und 
lyriscbe Ballast, den die Entstebungszeit verlangte. 



-♦ 83 ♦- 

Aber, soweit es die Musik betrifft, kann diese Passion 
als die ideale Losung der Aufgabe gelten, die Leidens* 
geschicbte zugleich mil hochster Kunst und in grosster 
Einfachheit und Verst&ndlichkeit darzustellen. Manches 
Andere hat die MatthHuspassion auch noch durch den 
Bericht des Evangelisten selbst voraus, der den Jo- 
hannes an Lebendigkeit and durch die Menge spannen- 
der Episoden ubertrifft. Und schliesslich giebt ihr reicher 
musikalischer Apparat: die Theilung in zwei Gh5re, die 
grossere Mannigfaltigkeit, die in den Formen der Arie, 
des Chorals und auch des Recitativs herrscht, einen 
weiteren slusseren Vorsprung. 

So wie wir die MatthHuspassion heute auffiihren, ist 
sie das Product einer Umarbeitung, welche nicht vor 
1740 erfolgt sein kann. Als Bach das Werk zum ersten 
Male im Nachmittagsgottesdienste des CSharfreitags 1729 
— es war der 15. April — horen liess, war die Choral- 
fantasie iiber: »0 Mensch, bewein« noch nicht drin. An 
Stelle dieses urspriinglich als Eingang zur Johannespassion 
componirten uberschwanglichen Satzes schloss ein sehr 
einfacher Choral: »Jesum lass ich nicht von mir« den 
ersten Theil der Matthauspassion. 

Der Dichter der Matthauspassion, oder besser ihres 
oratorischen Theils, war der schon erwahnte Picander, 
ein Leipziger Postbeamter , welcher mit seinem biirger- 
lichen Namen Henrici hiess. Picander, dem Bach manche 
eigene Winke gab — der Text zu »Am Abend, da es 
kiihle ward« scheint*) auf diesem Wege einem Lied des 
von Bach besonders geliebten Frank nachgebildet zu 
sein — war einfacher und naturlicher in seiner Sprache 
als Brockes, hat sich aber diesem in der Motivirung seiner 
oratorischen Zuthaten angeschlossen. Auch er vermehrt 
die Personen der Leidensgeschichte um die wesenlose 
Figur der Tochter Zion und des zu ihr gehorigen Chors 
der i>gl§,ubigen Seelen«. Bach unterscheidet sich in der 



*) Ph. Spitta, J. S. Bach, II, 386. 

6* 



84 



Matthauspassion noch mehr als in der zu Johannes in 
der Behandlung dieser Tochter Zion von den Hamburger 
Componisten. Er lost ihren personlichen Charakter voll- 
standig auf, indem er ihr musikalisch eine eigene Stimme 
verweigert. Die Tochter Zion singt ihre Soh als Alt, 
Sopran, Tenor und Bass; sie singt sie in Form von 
Duetten und als Chor. In letzterer Gestalt eroffnet sie 
die Passion mit dem grossen Dialog: »Kommt, ihr Tochter, 
helft mir klagen«. Mit ganz ahnlichen Worten luden die 
sogenannten Leichenbitter noch bis in die Mitte unseres 
Jahrhunderts auf dem Lande zu grossen Begrabnissfeier- 
lichkeiten ein. Bach fiihrt nun das Bild in der Weise 
durch, dass die Tochter Zion (i. Chor) als nachste Leid- 
tragende die Klage um das Leiden und den Tod des 
Herrn in beweglichen Melodien anstimmt und durchfiihrt. 
Die Hauptthemen, welche er der Klage unterlegt, sind: 




rnJ.j^J i mu,^ ^ 



und das vom Eintritt der Singstimmen als standiger 
Genosse mit ihm bald zur Rechten, bald zur Linken 
gehende (im System des doppelten Contrapunktes ent- 
worfene) Gegenthema: 




Es wird auf diesen einfachen Unterlagen eine grosse Scala 
des Schmerzes durchgespielt; von dem stillen wehmiithigen 
Betrachten geht sie tiber in langen Thranenguss und in 
Ausbriiche des lauten leidenschaftlichen Jammers, eines 
Jammers, der in den Dissonanzen, in welchen das Motiv 
■ f y - 0^ m vorzudringen sucht, die Hande zu ringen 
•^ ^^ ^ * ' scheint. Immer bricht die Tochter Zion 
dann mit einer kurzen Wendung der Niedergeschlagenheit 
ab, um in ruhigerer, hellerer Fassung denen, welche sie 
geladen hat, klagen zu helfen und das Geleit zu geben, 
zu sagen, fiir wen sie zur Trauer entboten sind: »Seht 
ihn, den Brautigam«. Die glaubigen Seelen (2. Chor) stehen 
den Mittheilungen der Tochter Zion zunachst wie fassungs- 



-♦ 85 -ft- 

los gegentiber and antworten mil kurzen heftigen Fragen: 
»Wen, Wie«, die als vereinzelte Accorde hervorgestossen 
werden — Bach hat extra ein forte vorgeschrieben — und 
aus denen Ueberraschung und Entsetzen deathch spricht. 
Erst nach lUngerer Zeit werden sie wortreicher, um am 
Schlusse endlich mit der Tochter Zion in die lang hin- 
stromenden Melodien der Klage einzustimmen. Bach hat 
diese riihrende und reiche dramatische Scene allein noch 
nicht gentigt. Wie Rafael in der Sixtinischen Madonna 
lasst er aus dem Himmel, der sich fiber dem Bilde dieses 
heiligen Begr^bnisses wolbt, noch eine Schaar Engels- 
kopfe herausblicken. Als die Tochter Zion den glaubigen 
Seelen zuruft: »Seht ihn als wie ein Lamm«, stimmt ein 
Chor Yon Knabenstimmen im unisono den alten Passions- 
choral: »0 Gottes Lamm unschuldig« an. Er geht in 
seinen sieben Zeilen durch und steht in seiner feierlichen 
Einfachheit liber den kunstvoUen Gebilden der fugirenden 
Stimmen wie eine lichte Erscheinung aus der anderen 
Welt. Wir haben es also auch bei diesem Satz, wie bei 
der Mehrzahl der madrigalischen Chornummem der Mat- 
thauspassion, formell mit einer Choralbearbeitung zu thun. 

Den hierauf einsetzenden ersten Theil der Matthaus- 
passion kann man in drei Hauptbilder theilen: a) Jesus 
mit seinen Jungern und die Einsetzung des Abendmahls, 
b) Jesus auf Gethsemane, c; Die Gefangennehmung. t 

Die erste Scene ist zum grossten Theil mit den Reden 
von Jesus und den Reden der Jiinger ausgefuUt. Der 
erste Chor, der uns begegnet, ist der der Hohenpriester 
und Schriftgelehrten : ein getheilter achtstimmiger Satz, 
dessen kluge, ruhige Berechnung zeigender Ausdruck 
haupts£lchlich auf dem Quartenintervall ruht, mit welchem 
das »Ja nicht« betont ist. Mit der Malerei auf das Wort 
»Aufruhr« hat sich Bach alteren Mustern angeschlossen, 
wie sich eine ^hnliche Riicksicht auf die eingebiirgerten 
Ziige der S.lteren Choralpassion durch die ganze Mat- 
thauspassion hindurch verfolgen lasst. Das Motiv, in dem 
die Jtinger in ihrem tf > t hj rj " ^^* ®^^ solches 
letzten Chore fragen Sr J v t X. ^ Citat, welches 

° Herr, bio Ichfs? ' 



-<e^ 86 ♦- 

wir fast wortlich in einer grossen Zahl der S,ltereii Choral- 
passionen treffen. Aber nirgends ist es innerhalb weniger 
Tacte mil einer so reichen Modulation des Ausdrucks 
durchgefuhrt. Wie wunderbar schon der Uebergang aus 
der steigenden Unruhe and Erregung in die demiithig 
klagende Ergebung des Schlusses! Der Ghor: »Wo willst 
du, dass wir dir bereiten das Osterlamm?u klingt mild 
und fromm. Das erste Auftreten der Jtinger in »Wozu 
dienet dieser Unrath?« hat einen un- ^ _ ^ _ ^ 
freundlichen Charakter in der Heftig- ^ ^ r & f ^ , 
keit der einsetzenden Sechzehntel Wo-w <iieai«t 

einen altklugen in der trocken gespreizten Declamation 
des Mittelsatzes (»Dieses Wasser hatte mdgen theuer ver- 
kauft«) und seiner iibertriebenen Weichherzigkeit bei den 
Worten »den Armenc 

An den zankischen Ton dieses Chors kniipft die 
Tochter Zion ihre erste Einmischung in die Handlung an. 
Sie will das »th6richte Streiten der Junger« durch den 
Ausdruck ihrer eignen Liebe wett machen und bringt 
ihm ein Herz voll Buss' und Reue dar. Denn — das ist 
der Zwischengedanke, der zum Verstandniss dieser Arie 
ins Auge gefasst werden muss — durch die Sunde der 
Tochter Zion, das ist: der Menschheit im Allgemeinen, 
muss der Heiland leiden. Die Mehrzahl der Sologesange 
in der Matthauspassion besteht ausser der Arie noch aus 
einem Vorgesang, den Bach einfach mit Recitativ be- 
zeichnet hat. Es ist das sogenannte Recitativo accom- 
pagnato: die von den Italienem in Oper und Oratorium 
fiir die Wiedergabe hochpathetischer Empfindungen be- 
stimmte Sonderform des Sologesangs, von der Arie durch 
das Hervortreten des declamatorischen Elementes unter- 
schieden. In der Johannespassion erscheint diese Reci- 
tativform unter dem Titel Arioso und zwar nur an zwei 
Stellen. In der Matth&uspassion sind diese zahlreichen 
kurzen Ariosos ein Hauptschmuck , durchweg so voll 
Musik und Ausdruck, dass man viele der an sich auch 
schonen und bedeutenden Arien, welche durch jene nur 
eingeleitet werden sollen, in Anbetracht der Lange des 



k 



-«■ 87 *^ 

Werkes in der Kegel wegl^sst und auch weglassen kann. 
Die zweite Arie unserer Scene, mit welcher die Tochter 
Zion die Nachricht von den verratherischen Absichten 
des Judas begleitet (Sopran »61ute nur«), ist eine der 
wenigen, welchen kein solches Arioso vorhergeht. Eine 
dritte Arie (ebenfalls des Soprans] schliesst die erste 
Scene ab: »Wie wohl mein Herz in Thranen schwimmt«. 
Auch sie hat den wehmiithig liebevoUen Grundton, in 
welchem in diesem Abschnitte der Passion alle Arien 
gehalten sind. Bach instrumentirt sie alle mit F15ten 
und sanften Instrumenten und l^sst die Worte mit 
Figuren umspielen, welche den zartlichen Gebarden 
gleichen, wie sie Kinder und Mutter unter einander aus- 
tauschen. Die eigentliche Arie dieser hier in Rede 
stehenden Soprannummer: »Ich will dir mein Herze 
schenken« kommt selten zum Vortrag. Sie ist eine der 
wenigen madrigalischen Nummern des Werks, in welchen 
der Passionston ganz zuriicktritt: es ist die freudige Er- 
klS,rung der glaubigen Seele an den Brautigam, an 
Christus als Seelenbrslutigam. Das Arioso »Wie wohl« 
nimmt seinen Bezug auf die in der Handlung eben vor- 
gefiihrte Einsetzung des Abendmahls, welches sie als das 
» Testament Christi« in einer eigenthiimlichen Mischung 
von Entziicken und Abschiedstrauer feiert. 

Die eben erwahnte Einsetzung des Abendmahls ist 
auch musikalisch der hervorragendste Abschnitt in den 
Reden Christi, weniger wegen des Reichsthums in den 
Einzelheiten des Ausdrucks als wegen der Form, welche 
an dieser Stelle ausnahmsweise einen bewegten Cha- 
rakter annimmt und einhalt. Wahrend Christus sonst 
declamirt, singt er hier, und die begleitenden Instrumente 
— vorher, wenn Christus spricht, auf langen Tonen fest- 
^ebannt — singen mit. Das gesangliche Element, welches 
die Einsetzungsworte ganz durchdringt, kommt in den 
vorhergehenden Reden des Herrn nur an vereinzelten 
Punkten zum Ausdruck bei Worten, welche geeignet sind, 
die Fantasie lebh after auf zuriitteln : »gekreuzigt«, »be- 
graben«, »verrathen<r. Ganz in derselben Methode, nur 



-^o- 88 -ft^ 

ohne den verklarenden Schimmer des Geigenklangs sind 
auch die Reden der Nebenpersonen und die ErzUhlung 
des Evangelisten behandelt. Es ist eine lebhafte, den 
Einzelheiten des Textbildes nachgehende Declamation, * 
die an wichtigen Punkten in musikalische Figuren uber- 
geht, um zu malen. 

Mit einem ^hnlicben geschlossenen, aber auf wenige 
Tacte bescbr&nkten selbstandigen musikalischen Bilde, 
wie es die Einsetzungsworte enthalten, begin nt auch die 
zweite Scene: » Jesus am Oelberg und auf Gethsemane«. 
Es ist die kurze Stelle: »Ich werde den Hirten schlagen«. 
Sie besonders herauszuheben und durch Mittel der Ton- 
malerei anschaulich zu macben , ist eine alte Tradition, 
die sich in der oratorischen Passion Deutschlands bis 
vor Sebastiani zuruckverfolgen lasst. Auch in Choral- 
passionen aus dem Anfang des 47. Jahrhunderts ist sie 
schon, und mit ihr die Einsetzung des Abendmahls, 
durch reichere Bewegung ausgezeichnet. Speciell mit 
der Schtitz'schen Matthauspassion stimmt Bach nament- 
hch in der feieriichen Behandlung derWorte: »Wenn ich 
aber auferstehe« ganz auffallend liberein. 

Wenn irgendwo die oratorischen Hulfsmittel am 
Platze sind, so ist es in der Scene auf Gethsemane: 
Der Herr in hochster Seelennoth, von Verzweiflung ge- 
fasst, bittet seine Jiinger wieder und wieder ihn nicht zu 
verlassen, mit ihm zu wachen — und sie schlafen. Nie- 
mand wird an dieser Stelle ruhig weiter lesen, ruhig 
weiter horen kSnnen. Hier ist es zu viel der schonungs- 
vollen Objectivitat des Evangelienberichtes. Das Herz will 
dazwischen reden. Diesem Gefiihle hat Bach in der schon- 
sten Weise Rechnung getragen. Den grossten Theil der 
Gethsemanescene fiillt er mit einem betrachtenden Stiicke, 
welches zu den empfindungsvoUsten und eindringlichsten 
der ganzen Matthauspassion gehort. Es zahlt in seiner 
Form wieder zu jenen fiir die Matthauspassion bezeichnen- 
den Doppelarien, von welchen bereits gesprochen worden 
ist. Der Vorgesang: »0 Schmerz, hier zittert das gequalte 
Herz« besteht aus einer Choralbearbeitung von jener ein- 



-«- 89 -9>- 

facheren Art, wie wir ihr bereits in der Tenorarie der 
Lucaspassion : »Lasst mich ihn nur noch einmal kussen « be- 
gegnet sind und wie sie Bach in der friiheren Zeit haufiger 
pflegte. Dort spielte das Orchester den Choral, hier singt 
ihn ein Singechor. Die Melodie ist die in der Matthaus- 
passion mehrmals (im einfachen Satze) wiederkehrende 
von nHerzliebster Jesua, die Worte dazu: »Was ist die Ur- 
sach aller solcher Plagen<r. Der Abschnitt beginnt mit 
einem Vorspiel, dessen schwer klagendes Hauptmotiv 

p j ^^ f\^ f - auch die Form und die Stimmung 

^ p l n 7 I T r I Z ^gy langeren Zwischenspiele tragi, in 
welchen Solist und Orchester die einzelnen Strophen des 
Chorals trennen, und ebenso das heissen Ausdrucks voile 
Nachspiel. Auch in der eigentlichen Hauptarie: »Ich will 
bei meinem Jesu wachen« ist dieZweitheilung des einleiten- 
den Ariosos weiter gefiihrt. Der Solist gelobt dem Heiland 
Treue und der Chor malt wie aus der Feme den Erfolg 
dieses GelSbnisses. Der Tenor, der vorhin so machtig 
klagte, sihgt jetzt eine Melodie ernster Freudigkeit, — 
noch beredter als er spricht die Solooboe ihm die Weise 
vor und mit eigenthumlichen schweren und triiben Ac- 
centen gemischt — ; aus dem Chor t6nt uber die Worte: 
»So schlafen unsere Slinden ein« eine sanfte und zarte 
Schlummermusik. Zwei Bilder in der Form streng ge- 
soi^dert und im Inhalt das eine der Reflex des anderen; 
in beiden eine Einfachheit der Motive, eine scharfe und 
leichtfassliche Gruppirung wie im Volkslied! Den ersten 
Moment der Enttauschung, wo Christus die Jiinger schlafend 
findet, hat Bach durch eine kiirzere Einlage markirt: eine 
Bassarie mit vorausgehendem Recitativo accompagnato : 
»Der Heiland fallt vor seinem Vater nieder«, die gewohn- 
lich wegbleibt, da sie, nur im ernsteren und gedrangteren 
Ton, dasselbe sagt, wie der vorausgehende grosse Satz 
von Tenor und Chor. Den Schluss des grossen Kampfes, 
die Stelle, wo Christus sich in den Willen des Vaters 
ergiebt, verdeutUcht der Choral: »Was mein Gott will, 
das g^scheh allzeita. 

Den Act der Gefangennehmung, die Schlussscene des 



90 ^ 

ersten Theils, fiihrt Bach in einem Tonsatze aus, in wel- 
chem wir eins der gewaltigsten dramatischen Bilder zu 
erblicken haben, welche die Musik kennt. Dieser Satz 
ist ein Meistersttick eines genialen Realisten, in grossen 
und kuhnen Frescoziigen hingeworfen und doch reich an 
fein beobachteten und naturgetreu wiedergegebenen Ein- 
zelheiten. Man tauscht sich kaum, wenn man in diesem 
von elementarem Schwung erfiillten Bilde auch Aeusser- 
lichkeiten veranschaulicht glaubt, welche der biblische 
Bericht nur im Vorbeigehen streift. Sie betrefifen das 
Orchestercolorit des Satzes. In dem gedampften Klang 
der unisono spielenden Geigeninstrumente, in ihren 
jetzt stockenden, jetzt unheimlich fluthenden Rhythmen 
hegt wohl ein Hinweis auf das unheimliche Leben am 
nachtlichen Himmel. Der Mond verbarg sich, als sie 
Christum banden und fortfuhrten. So will auch das 
Licht des Klanges in diesem Satze mehrmals erloschen, 
bis in dem Schlusstheil (3/3-Tact: »Sind Blitze und Bon- 
ner «) in den drohnenden und rollenden Bassfiguren und 
den zischenden und bebenden Violinen alle Wetter los- 
brechen. Im Gesangsatze vereinigen sich die Tochter 
Zion und der Chor der gl§,ubigen Seelen. Jene spricht (in 
Form eines Zwiegesanges von Sopran und Alt) in heftig 

klagenden a % m^ . i I K 1 r^l — ^® ^^ ^^'^ 

Melodien: j^ " P p' p H« /"*« p I J'^ T ' leere, dro- 
hende Dunkel des Instrumentensatzes schneidend hin- 
einklingen, und in weinenden Gfingen. Der Chor steht 
der Scene in entgegengesetzter Haltung gegenuber: er 
donnert den Schergen kurze Zurufe zu, deren emporter 
und entrtisteter Inhalt sich in dem schon bezeichneten 
Schlusstheile des Satzes zu einer zusammenh§,ngenden 
und erschreckenden Tonfluth verdichtet. Hier wird der 
Chorsatz achtstimmig, die beiden Gruppen treiben sich 
zur hSchsten Spitze der Wuth, wo eine Generalpause 
das »Nicht weiter« bezeichnen muss. Von da an lenkt 
der Satz in seinem Charakter etwas um und ganz am 
Schlusse in den Ton der Klage ein. Dieser Satz ist der- 
jenige, wo Bach sich der Opernnatur des italienischen 



-^ 91 

Oratoriums um einen bemerkbaren Schritt genahert hat. 
Man wurde durch Text und Musik berechtigt sein, den 
Chorsatz dieser Nummer in den Mund der Jiinger zu legen. 
Den kirchlichen Charakter der Passion am Schlusse ihres 
ersten Theils nochmals nachdriicklich f estzustellen , hat 
deshalb Bach an diese Stelle eine seiner umfangreichsten 
Choralfantasien hingesetzt: die grosse Composition iiber 
den altklassischen Passionschoral: »0 Mensch, bewein 
dein Siinde gross«. Die Melodie singt der Sopran, die 
iibrigen Stimmen umschreiben mit selbstandigen Themen 
und geben ab und zu auch einen ausdrucksvollen Anhang. 
Das Orchester vervoUstandigt das grossartige Stimmungs- 
bild mit einem sehr beweglichen Gewinde iiber die Figur : 
A u t. fli Q gft ft'ft.^'fi J deren einf aches Grund- 

W y>^ W^ ^S*W^^^^^^ Klage von dem zarten 
wehmlithigen Sinnen bis zum pathetischen Ausbruch des 
bitteren Schmerzes durchwandert. 

Die rasch und reich bewegte Handlung im zweiten 
Theile der Matthftuspassion ist in vier Abschnitte geglie- 
dert. Der erste, die Vernehmung Christi vor dem Hohen- 
priester umfassend, wird durch eine madrigalische Ein- 
lage (Altsolo und Chor) eingeleitet, welche an den Punkt 
der Handlung ankniipft, bei welchem sie am Ende des 
ersten Theils verlassen wurde. Die Tochter Zion sucht 
den Herrn und klagt in tiefbekiimmerten Melodien »nun 
ist mein Jesus hin«. Es ist eine der riihrendsten Scenen 
der Passion, ein Bild, iiber dessen tiefe Traurigkeit eine 
wunderbare Anmuth gebreitet ist. Wie die Tochter Zion 
so dasteht und, wahrend die Instrumente spielen, in einem 
langen Ton Umschau halt, wie die glaubigen Seelen als 
liebevolle Gefahrten in den kurzen fugirten Chorsatzen 
ihr freundlich zusprechen und sich regen eifrig mitzu- 
suchen — eine herzlichere Idylle im Kreise leidtragender 
Menschen lasst sich nicht denken. Es ist nicht unwich- 
tig, dass Bach die Solostimme dem ersten Chor entnom- 
men haben will, den Chorsatz selbst dem zweiten Chor 
zuweist. Mit dieser Vorschrift, die ahnlich noch bei 



-«- 92 -ft- 

anderen Nummern begegnet, ist augenscheinlich eine 
gewisse scenische Wirkung beabsicbtigt. Der erste ge- 
schlossene dramatische Tonsatz in dem Abschnitte ist 
das Duett der beiden falscben Zeugen: »Er hat gesagt^, 
ein kleiner Canon in der Octav, durch welchen ithnlich wie 
bei Schutz das mechanische gedankenlose Hinplappern 
angedeutet werden soil. Mit beabsichtigter Uebertrei- 
bung ist das Bild des »Aufbauens« colorirt. Die Wichtig- 
keit der Aussage hat zur Einlage einer Arie fiir Tenor 
»Mein Jesus schweigt zu falscben Liigen stille« Veran- 
lassung gegeben, die in der Regel iibergangen wird. In 
ihrem Recitativ ist das Orchester in leisem Staccato ge- 
fiihrt, jeder Accord durch eine Pause gefolgt, die Span- 
nung anzudeuten, welche das Schweigen Christi erregt. 
Die Arie selbst wirkt mit der Declamation des Wortes 
»Geduld« und greift durch ihren helleren Ton iiber den 
Kreis der Passionsstimmung hinaus. Als Christus end- 
lich spricht, beginnen die Violinen zu den Worten von 
«dem Sitze zur Rechten der Kraft « ein mystisches Figuren- 
spiel. Auch hierfiir liegt altere Tradition vor. Der Doppel- 
chor »Er ist des Todes schuldig«, mit welchem die an- 
gebliche Gotteslasterung von den Hohenpriestem beant- 
wortet wird, zeigt eine gewisse freudige Aufregung: 
Endlich ist ein Anhalt gefunden. Nur die Schlusstakte 
haben einen drohenden Charakter. Der ebenfalls sehr 
kurze Chor «Weissage, wer ist es, der dich schlug« offenbart 
den frechen Uebermuth der Pfaffenpartei. In seinen Sechs- 
zehntelfiguren ist das hohnische Gel§,chter, in den kurzen 
Rhythmen, mit denen sich die Chore ablosen, das grau- 
same Necken und Spielen gezeichnet. Mit ihm schliesst 
dieser erste Abschnitt des zweiten Theils, und der ein- 
fache Choral »Wer hat dich so geschlagena markirt diesen 
Schluss. 

Als Anhang sind ihm zweiEpisoden beigegeben: die 
Verleugnung des Petrus und der Tod des Judas. Die 
Episode der Verleugnung des Petrus war ein Abschnitt 
der Leidensgeschichte , welchem die Zuhorer besonderes 
Interesse entgegenbrachten. Hier wirkte die Erinnerung 



-^ 93 -ft- 

an die handgreifliche Nattirlichkeit der alten Passions- 
spiele noch lebendig welter. Wenn die Currenden in den 
mitteldeutschen Stadten ihren Passionsumzug hielten — 
und dieser blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein noch ge- 
brauchlich — da warteten die Leute unter den Thtiren 
nnd auf der Gasse mit Spannung auf das Anftreten der 
beiden Magde und auf das Erahen des Hahnes*). Auch 
Bach hat auf diese naiven Kunstanspriiche der grossen 
Masse freundlichRucksicht genommen. In seiner Johannes- 
passion, wie in der zu Matth&us ist das Kr^hen des 
Hahnes leicht angedeutet; ernster ausgefiihrt ist das 
Weinen Petri — eine von den Darstellern des Evange- 
Usten gefurchtete Stelle, fur welche die Kunst des Fal- 
settirens in einem Grade vorausgesetzt wird, wie er im 
18. Jahrhundert noch allgemein verbreitet war. Ein Zug 
ironischer Art ^ussert sich am Anfange dieses nach dem 
kurzen Chor: »Wahrlich, du bist auch Einer etc.« ein- 
setzenden Recitativs. Bach setzt die Worte des Evan- 
gelisten: »Und alsbald krahete derHahn« auf genau die- 
selbe Tonreihe, in der Petrus unmittelbar vorher be- 
theuert; »Ich kenne des Menschen nicht«. Wenn Bach 
hier und auch in der Johannespassion den Evangelisten 
das Weinen des Petrus so geflissentlich verbildlichen 
lS,sst, so war ihm dabei um mehr ais eine wirkungsvolle 
Tonmalerei zu thun. In anderen oratorischen Passionen 
verurtheilt die Tochter Zion den Abfall des Petrus mit 
einem zomigen Erguss; in den beiden genannten Bach- 
schen Passionen aber spricht sie ihn frei um seines Wei- 
nens willen. In der herrlichen Arie »Erbarme dichcf, 
welche den Schluss der Petrusepisode bildet, weint sie 
mit. Es ist wohl kein Zufall, dass dieses kunstvolle 
Duett der Altstimme und der Solovioline, trotz seiner 
langgemessenen schwierigen Melodieperioden, einer der 
popularsten Sologesange geworden ist. Der Naturton 
darin ist unwiderstehUch. 



*) Th. KrieMtzsch: Das Oratorium (Musikal. WochenWatt, 
1870). 



-♦ 94 -»>- 

Die Episode von der Reue und dem Tode'des Judas 
bringt in dem Satze: »Was gehet uns das an« wieder 
einen kurzen Doppelchor, dessen anfS,nglich gleichgul- 
tiger Ton am Schlusse den Aerger und die Gereiztheit 
zu Tage treten lasst, und ein Duett zweier B§,sse, welche 
Bach als »Pontifex primusa und »P. secundus« bezeichnet 
hat, iiber die Worte: »Es taugt nicht, dass wir sie in den 
Gotteskasten legena. Bei dem Worte »Blutgeld« ftussert 
diese vorher absichtlich etwas bombastisch gehaltene 
Musik deutlich den Schauder. Den Abschluss dieser Judas- 
episode macht die Tochter Zion mit einer Bassarie — 
ohne Recitativ — »Gebt mir meinen Jesum wieder «, 
welche sehr breit ausgefiihrt ist und auffallig behagliche 
Bestandtheile enthalt. 

Der zweite Abschnitt, Christi VerhSrung durch Pila- 
tus umfassend, hat den musikalischen Schwerpunkt in 
den dramatischen (^Shoren, den eriregten Aeusserungen 
der Volksmassen. Da ist das in seiner plotzhchen, blitz- 
artigen Wucht niederschmettemde: »Barrabam«. Seine 
Kurze dankt es wahrscheinhch der Erinnerung Bach's an 
die alten Choralpassionen. Die in ihrer Bedeutung einen 
ganzen langen Satz iiberbietende Dissonanz, in welche 
der Ruf gekleidet wird, ist Bach's eigenste Idee. Da ist 
ferner das d3,monisch kalte »Kreuzige« mit dem unge- 
duldig und ungeberdig wie eine Drohung gegen den Land- 
pfleger abbrechenden Schlusse: und da ist das leicht- 
fertig verwegene »Sein Blut komme iiber uns und unsere 
Kinder«. Bach hat in diesem letzten Stuck die thorichte 
Verblendung der Menge hervorgehoben, nicht ihren Fana- 
tismus: die tanzelnden Rhythmen, die auf Tonleiter- 
gangen hintandelnde Melodik, wlirden auf einen Text ganz 
frohlichen Inhalts schliessen lassen, wenn nicht in der 
Harmonie der Mollcharakter vorherrschte. In Bezug auf 
malerische Kraft in der Motiverfindung und in scharfer 
Durchfiihrung der bildlichen Vorstellung ist der Spott- 
chor der Kriegsknechte "Gegriisset seist du« eins der her- 
vorragendsten Stiicke unter den dramatischen Choren 
der Passion. In diesen vier Takten steht alles, was zu 



dem Bilde gehort, die grotesken Verbeugungen , das 
Kichern und Lachen und das hart herausfahrende ver- 
achtliche Schimpfen. Diesen H5hepunkt der Schmach 
hat Bach in fiir ihn hezeichnender Weise nicht mit einer 
Arie oder einer anderen Art des oratorischen Kunstge- 
sanges ausgestattet, sondern mit dem Choral »0 Haupt 
voll Blut und Wunden« und zwar in der einfachsten 
Satzform. — Es sind in diesem Ahschnitte nur noch zwei 
Stellen, an welchen der bihUsche Text durch oratorische 
Einlagen unterhrochen wird. Das erste Mai singt der 
Sopran auf die Frage des Landpflegers: wWas hat er 
denn Uebles gethan« eine Arie mit vorausgehendem 
Arioso: »Er hat uns Allen wohlgethan«. Das Wort des 
Pilatus zwang nicht zum Verweilen, aber dem Componisten 
war es wiinschenswerth, zwischen dem Ghor »Lass ihn 
kreuzigen« und seiner Wiederholung etwas Zeit vergehen 
zu lassen. Zudem ist die Arie in ihrem fahlen, wie vom 
Flor bedeckten Colorit und in ihrem auf Fermaten ab- 
setzenden Bau eine der eigenthiimlichsten Nummern der 
Passion. Die andere Stelle, an welcher die Tochter Zion 
mit einer Arie einsetzt, ist die, wo das VerhSr durch den 
Beschluss beendigt wird, dass Jesus gekreuzigt werde. 
Die Arie (Alt: »Erbarm es Gott«) besteht wieder aus 
Arioso und Arie. Beiden Satzen ist die unruhige Sprache 
der erschutterten, aus der Fassung gebrachten Seele ge- 
geben. Im Arioso folgt Bach dem tonmalerischen Zuge 
seiner Zeit und fiihrt im Orchester das Bild des Geisselns 
durch. 

Der dritte Abschnitt des zweiten Theils, welcher die 
Kreuzigung auf Golgatha enthalt, wird mit einer Arie 
eingeleitet »Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut 
zum Kreuz gezwungen sein«, in welcher ein Solobass mit 
der Viola da Gamba concertirt. Der Text kniipft an die 
Stelle der Erzahlung an, wo Simon von Kyrene dem 
Herrn das Kreuz abnimmt. Die Tochter Zion erklart, 
dass sie dem Heiland, der das Kreuz der Menschheit ge- 
tragen, einen gleichen Liebesdienst mit susser Lust er- 
weisen will. Die Musik hat jene Mischung von Ernst 



96 ^ 

und inniger Schwarmerei, die Bach eigen ist; das Solo- 
i^stmment driickt Kraft und Freudigkeit in freundlichen 
und lieblichen Figuren aus. In den beiden Choren »Der 
du den Tempel Gottes zerbrichst« und »Andern hat er 
geholfenn wechselt der leicht scherzende und spottelnde 
mit einem hart verweisenden und barschen Ton. Eine 
Stelle, deren hohnischer Ausdruck leicht verkannt wird, ist 
in dem letztgenannten bei denWorten: »Er hat Gott ver- 
trauet«. Beide Chore sind vol! absichtlich gespreizter 
Malereien; besonders wird das »Herabsteigen vom Kreuzen 
ausgefuhrt. An der Stelle, wo der Evangelist erzfthlt, dass 
auch die M5rder, die mit gekreuzigt wurden, den Heiland 
schmaheten, klagt die Tochter Zion in einem ausdrucks- 
vollen Arioso: »Ach Golgathaa. Namentlich das Ende 
dieses Satzes bring t eine Schwere der Empfindung zum 
Ausdruck, welche die Grenzen der musikalischen Form fast 
uberschreitet. Die Singstimme schreit ihr: »Ach Golgatha« 
noch einmal laut auf und sinkt dann wie gebrochen hinab, 
um auf einer Dissonanz zu verklingen, welche die Instru- 
mente allein aufzulosen haben. Die darauffolgende Arie : 
»Sehet, Jesu hat die Hand uns zu fassen ausgespannt«, 
wird in der Kegel ausgelassen. Sie wirkt auf den natu- 
rahstischen Ausbruch des herben Schmerzes, mit dem das 
Arioso zu Ende ging, wie ein weicher Balsam. Der Zu- 
tritt des Chors der glaubigen Seelen, welche hier genau 
so wie in der schonen Bass arie der Johannespassion 
»Eilt etc. « der Tochter Zion mit ihren kurzen Fragen 
»Wie, Wo« entgegentreten, stort den Charakter des Satzes 
mehr als dass er ihn hebt. Die ergreifenden Worte 
Christi: sEli etc.« sind ohne das obligate Streichquartett 
begleitet, welches bis dahin den Reden Christi beigegeben 
war. Auf den Zusammenhang, in welchem diese ein- 
fachere Behandlung mit der alten Choralpassion steht, 
ist schon friiher hingewiesen worden. Die beiden Chore, 
in welchen die Menge diesen Scheideruf Christi auslegt, 
sind sehr kurz gehalten, der erste im Tone der einfachen 
Verwunderung, der zweite mit einem Beisatz gehassiger 
Kritik. Der dramatische Hauptpunkt auch dieses Ab- 



-«- 97 -^ 

schnittes, die Stelle wo es heisst: »Jesus schrie abermals 
laut und verschied« ist wieder mit einem einfachen Choral 
bezeichnet: »0 Haupt vol! Blut und Wunden« jetzt mit 
dem Text »Wenn ich einmal soil scheiden« und diesmal 
— das erste und einzige Mai, so oft der Choral in der 
Passion vorkommt — nicht in der Durtonart, sondem 
in der alten phrygischen Weise, die unsrem Moll etwas 
verwandt ist. 

Die Scene der Kreuzigung hat in der Erzahlung von 
dem Erdbeben und in dem kurzen frommen Satze des 
Hauptmanns nnd seiner Gefahrten »Wahrlich, dieser ist 
Gottes Sohn gewesenn ein aufregendes und feierliches 
Nachspiel. In der Darstellung des Erdbebens ist, der 
Skizze des Continuo nach zu schliessen, auf eine reichere 
Entfaltung der Orgelkunste gerechnet. Manche alte Orgeln 
hatten fur das »terraemoto« ein besonderes Register. 

Der vierte Abschnitt des zweiten Theils, der letzte 
der Passion liberhaupt, enthait nur drei ausgefiihrtere 
Stucke: Das mittlere allein ist dramatischen Charakters: 
der Chor der Hohenpriester: »Herr, wir haben gedacht«, 
einer derjenigen Satze unter den dramatischen ChSren, 
welche in Bezug auf Charakteristik in zweiter Linie 
stehen. Die beiden anderen Satze sind madrigalische 
Erganzungen des Bibeltextes und in der Stimmung ein- 
ander verwandt. Der erste ist ein Sologesang des Basses : 
Arioso und Arie: »Am Abend, da es kiihle ward«. Unter 
den vielen Ariosos der Matth^uspassion ist dieses das- 
jenige, welches am meisten singt und von dem Charakter 
eines pathetisch declamirenden Vorbereitungssatzes sich 
am weitesten entfernt. Ein bedeutendes Stuck roman- 
tischen Sinnes liegt in ihm in den warmen lyrischen 
Accenten, mit welchen die Singstimme der »schdnen Zeitn 
der Abendstunde gedenkt, und in den zart und sanft in 
die Tiefe hingleitenden Figuren, mit welchen die Geigen 
die Schatten der nahenden Nacht vor der Fantasie auf- 
steigen lassen. Gleich schon und von eigener Schwar- 
merei erfiillt ist die zu diesem Arioso gehdrige Arie. 
Wie schade, dass dieser Satz, von dessen edel popularer 

11,1. 7 



-^y 98 -9- 

Melodik das Citat des Anfangs einen Begriff geben mag: 
.y »^ ff f p p p U P I = so gut wie unbekannt ist. 

Ma.«CM dieh mein Hn. M, retnl 

Oft liest und hdrt man das Urtheil : es sei mipassend, 
dass der Sanger, welcher die Partie des Christus durch- 
gefiihrt hat, nachdem der Heiland verschieden ist, wieder 
auftritt und das »Am Abend, da es kilhle ward« vortragt. 
Diese Bemerkung macht der feinen dramatischen Em- 
pfindung unserer Zeit Ehre, aber sie geht uber die eignen 
Anspriiche des Componisten hinaus, der nicht bios bei 
dieser Arie, sondern auch bei zwei anderen, die noch 
in die Abschnitte vor der Kreuzigung fallen, denselben 
Sanger aus dem Coro I, der den Christus singt, zu ver- 
wenden erlaubt. In den alten Choralpassionen war man 
so wenig bedenklich in dergleichen Fallen, dass Christus 
auch ruhig den Bass in den Judenchoren mitsang. Eine 
strenge Trennung in der Besetzung der dramatischen 
Partien der Passion und der madrigalisch-oratorischen 
wiirde wenigstens fiir die Chore einen zuriickschrecken- 
den Aufwand von Personal und von Aufstellungsplatz 
erfordern. Vielleicht gelangt man aber noch einmal da- 
hin. Wenn die Tochter Zion und der Chor der glaubigen 
Seelen auf einen Raum fiir sich unten im Orchester, 
oben Christus, die Soliloquenten und die dramatischen 
Ch6re, der Evangelist mit dem Dirigenten in neutraler 
Mitte untergebracht werden konnten und die einfachen 
Chorale von der Gemeinde oder Zuhorerschaft mitge- 
sungen wurden, so ware das Ideal von Deutlichkeit er- 
reicht und manchem Missverstandniss vorgebeugt, dem 
ein unvorbereiteter Besucher einer Passionsaufflihrung 
5fters unterliegen kann. 

Die alte Gratiarum actio der Choralpassion ist in der 
Matthauspassion ebenso wie in der zu Johannes durch 
eine lange, wehmiithig mild gestimmte Chorarie ersetzt. 
In der Matthauspassion geht ihr wie der Mehrzahl der 
Soloarien des Werkes ein recitativisches Arioso voraus: 
»Nun ist der Herr zur Ruh' gebracht«, in dessen Vortrag 
sich die Solisten der vier Stimmen theilen. 



-e^ 99 *- 

Man weiss allgemein, dass die Matth&nspassion erst 
dem i 9. Jahrhundert zu Gute gekommen ist. Sie. gehdrt 
heute in alien deutschen Stildten, wo die musikalischen 
Zustande geordnet sind, zu den regelm9,ssigen Erschei- 
nungen der Charwoche: Jahr fur Jahr oder Jahr um Jahr. 
Wir verdanken dies dem jungen Mendelssohn, der das 
Werk aus dem Archive hervorzog und kiihn und frisch 
mit der Berliner Singakademie ( 1 2. M3,rz 4 829) auffUhrte. 
Der Erfolg war in Berlin schnell entschieden. In anderen 
Stadten fand man die Stellung zu dem Werke nicht so- 
fort. Aus KSnigsberg, dem vierten Ort, wo man sich (im 
Jahre 4 832 unter Musikdirektor Saemann) an das Werk 
wagte, wurde berichtet : »Ein Theil der Zuhorer lief schon 
in der ersten Halfte zur Kirche heraus, andere nannnten 
das Werk veralteten Tr6del«. Der Referent schliesst sich 
der dritten Gruppe an, welche Bach's Passion einer colos- 
salen egyptischen Pyramide vergleicht, der sie den »Tod 
Jesu« von Graun als den anmuthigen griechischen 
Tempel vorzieht. Nach der ersten Dresdner Auffuhrung 
(4 833 Palmsonntag) heisst es ziemlich schiichtern: »Bach's 
Passionsmusik kann neben jeder neueren Tondichtung 
bestehen<'. Nach und nach erkannte man ihr dann wohl 
auch die Ueberlegenheit zu. Das Wiedererscheinen der 
Matthauspassion bezeichnet einen der wichtigsten Wende- 
punkte in der neueren Musikgeschichte und eroffnete 
eine Periode der musikalischen Renaissance, in der wir 
noch mitten drinne stehen. Die Matthauspassion hat uns 
den ganzen Bach, sie hat uns die Werke von Schiitz, 
Palestrina und eine ganze Reihe eigenthiimlicher und be- 
deutender Meister wiedergebracht, die bis dahin fast nur 
in den Worterbtichern f ortlebten ; dem Studium und dem 
Genuss ist eine grosse Kunstwelt neu erschlossen worden, 
das geistige Band zwischen Gegenwart und vergangnen 
Zeiten wieder fest gekniipft. 

Ganzlich unbekannt blieb ubrigens die Matth§,us- 
passion den Zeitgenossen Bach's nicht. Abgesehen von 
Leipzig, wo nach Rochlitz am Ende des is. Jahrhunderts 
die Auffuhrung Bach'scher Passionen allemal ein »kiinst- 

7* 



-* 100 *" 

lerisch christliches Fest' fiir die ganze Stadt gewesen aein 
soli, muss das Werk auch nach aussea gedrungen sein, 
wenigstens in die Kreise der CoUegen. StSlzel hat in 
einer seiner Fassionen ein Seitenstiick zu dem Arioso 
lAm Abend, da es klihle ward> in Bacfa's MatthStuspassion, 
das zu diesem in einer Verwandtschaft steht, die nicht 
auf blosser zuf^lliger Gedankeabegegnung beruhea kann, 
sondem auf daa Studium des Sach'schen Originals zuriick- 
getiihrt werden muss. Aehnlich wird es sich mit ein- 
zelnen, scbon frUher beriibrten ZQgen der zweiten Marcus- 
passion Telemann's (vom Jahre 17S9) verbalten. Cine 
Anapielung in Mitzler's Musjkalischer Bibliothek (Bd. IV, 
S. 409) auf eine uunvergleichliche Pasaionsmusik , welche 
wegen der allzuheftigen in ifar ausgedrnckten Affecte in 
der Kammer eine gute, in der Kirche aber eine widrige 
Wirkung gehabt habe«, kOnnte auf die Hatthftuspassion 
bezogea werden, auch eine Bemerkung Marpurg'a (in 
•Legende einiger Musikheiligen^j fiber >ein gewisses sehr 
kiinstlicfaes Passion soratorium eines gewissen grossen 
Doppelcontrapunktisten ■■ geht wabrscheinlich auf sie*). 
Hiigen aber diese Sticheleien gelten, went sie wotlen — 
eine weite und allgemeine Verbreitung der Matthauspas- 
aion ware im <8. Jahrhundert auch dann nicht mOglich 
gewesen, wenn Bach's musikahscher Stil iiberall geliebt 
worden wilre. Die grossen technischen Schwierigkeiten 
des Werkes werden heute nicht mehr so stark empfon- 
den; aber welche HUhe und Beunruhigung sie den 
muthigen und erleachteten Musikdirectoren noch verur- 
sachten, welche dem Beispiele Mendelssohn's zunfichst 
Mglen, kann man aua dem Bericht von Mosevius er- 
sehen. der J.is Work liald nach jener Berhner AuftQhrung 
JnBreslau eiiislmliiii- Der Lange des vierstttadigenWerkes 
steht auch die j.'i.;.'L'Liwiirtige Generation immer noch ver- 
le^en gegeDiiber. Zu alien dieaen Hindemissen kam aber 
a1s das hauptsachlichste , dass die Zeitgenossen Bach's 



fUr das, was sein Ideal war, die Verbindung alter und 
neuer Kunst, die Mischung von Elementen, die noch mil 
der Ghoralpassion in Zusammenhang standen, und solchen 
des Oratoriums, wenig Sinn batten. Der allgemeine Ge- 
schmack war bereits zu bestimmt in die Bahnen des 
italienischen Oratoriums eingelenkt. Bacb'sWerkeblieben, 
kaum als Merkwiirdigkeit erkannt und beachtet, bei Seite 
stehen, und von den Passionen seiner Schtiler, die nacb 
den Grundsatzen des Leipziger Meisters gebaut haben 
sollen, wie Krebs, ging noch weniger Wirkung aus. 

Die Bacb'scben Passionen bilden Enclaven in der 
Geschichte der Passion, Inseln im grossen Entwickelungs- 
strome der Gattung. Von der Mitte des 1 8. Jahrhunderts 
ab kommt das nacb den ersten Hamburger Yersuchen 
zeitweilig zuriickgedrangte italienische Element in den 
Passionsmusiken deutscher Componisten wieder und als- 
bald ausschliesslich zur Geltung. Von dieser Zeit ab 
wird die Leidensgeschichte vorwiegend in zwei Formen 
datgestellt, welche beide den Zusammenhang mit der 
alten Passionslection fallen lassen und, die eine im Geist, 
die andere auch in der ausseren Anlage, der Oper voll- 
standig folgen. Die Passion wird als Cantate behandelt, 
Oder als freies, opernmassiges Oratorium. 

Die Passionscantate giebt den Inhalt der Leidens- 
geschichte in Form einer lebhaften Betrachtung wieder, 
die in den Mund eines frommen Zuschauers gelegt ist. 
Dieser aussert in Recitativ, Arie und Chor, was er sieht 
und was er fuhlt. Der Hauptnachdruck liegt aber im 
Ausdruck des Gefiihls. Mit dem Evangelisten und dem 
Bibelwort sind auch die redenden und handelnden Per- 
sonen des Evangeliums beseitigt. Die Erzahlung der 
VorgSnge, die Wiedergabe der Reden sind aufs Aeusserste 
zusammengedrangt, das Recitativ, welches sie enthalt, 
ist im Text mit zahlreichen »Ach's« uud »Oh's« unter- 
mischt, und mit diesem Text wetteifert die Musik in 
empfindsamer Haltung. Wie die Oper des achtzehnten 
Jahrhunderts ist auch die Passionscantate ein eigenstes 
und treuestes Kind der Zeit der »schonen Seelen« und 



-♦ 402 ♦- 

ganz und gar dem Drang entsprungen in unaufhorlichen 
lyrischen Ergiissen den Reichthum der weichen Herzen 
an den Tag zu bringen. Die Ereignisse der Leidens- 
geschichte selbst werden dem Zuhprer nur in halber 
Deutlichkeit vorgefiihrt, der Dichter eilt durch die Reci- 
tative hindurch, um sob aid als moglich in breiten Formen, 
ffir Arien und Chore bestimmt, die Gefiihle zu entladen, 
in welche er sich aus dem betreffenden Anlass eifrig, 
oft sehr miihsam und geklinstelt, versenkt hat. Ein Zug 
von Eitelkeit und Heuchelei liegt in der ganzen Methode, 
und wenn er irgendwo unangenehm beruhrt, so ist es bei 
ein em Gegenstande wie die Passion. Die Passionscantate 
entsprach aber nicht bios dem allgemeinen Geschmack 
der Periode, sondern auch dem musikalischen , und sie 
war selbst kirchlich durch den Pietismus vorbereitet. Dem 
Wesen der alten auf den schlichten, aller Reflexion 
baaren Vortrag der Leidensgeschichte gerichteten Choral- 
passion diametral entgegengesetzt, naherte sie sich dieser 
doch von einer Seite: in der Brauchbarkeit fiir den 
Gottesdienst. Sie war verhaltnissmassig kurz und sie 
hatte ausserdem noch, mit den an Brockes ankniipfenden 
Reformversuchen verglichen, den Vorzug gr5sserer Ein- 
heitlichkeit. 

Die Anfange der Passionscantate treffen wir schon 
in den ersten Jahrzehnten des 4 8. Jahrhunderts. Einer 
der frlihesten Tonsetzer, welche sie pflegten, war C. H. 
Graun, der Capellmeister Friedrichs des Grossen. Als 
Schiller hat Graun noch eine Lucaspassion im Style der 
Hamburger geschrieben. Von 4 730 ab wendete er sich 
der Passionscantate zu. FiinfWerke, die zu ihr gehoren, 
0. H. Graan, sind von ihm bekannt. Das letzte, »Der Tod Jesuv, 
Der Tod Jesn. wurde zum Hauptdenkmal der ganzen Gattung und er- 
langte eine unvergleichliche Beriihmtheit. In Berlin, wo 
dieses Werk, mit Spannung erwartet, den 26. Marz 4 755 
zur ersten Auffiihrung kam, ist es bis in die neueste 
Zeit ein Lieblingswerk geblieben und friiher in der Char- 
woche zuweilen mehrfach aufgefiihrt worden. Es kam 
schnell in Druck, erlebte in Partitur und Clavierauszug 



-♦ 103 -»>- 

Auflage am Auflage und fand die allgenieinste Verbrei- 
tung. Der »Tod Jesu« trat an die Stelle von Telmann's 
nSeligem Erwagen« und wurde auf Jahrzehnte in Nord 
und Slid die beliebteste Passionsmusik; in vielen Orten 
die stS,ndige, zu der man Jahr fiir Jahr wiederkehrte. 
Das Werk ist aus dieser Stellung erst in der neuesten 
Zeit und nur langsam durch die Matthauspassion von 
S. Bach verdrangt worden. Wenn heute voUstandige 
Auffiihrungen der Graun'schen Gantate seltener sind, so 
giebt es doch auch jetzt nur wenige Musikfreunde, welche 
Nichts von dem »Tod Jesu« geh5rt haben und nicht we- 
nigstens das eine oder das andere Bruchstuck daraus 
kennen. 

Der Text zu demWerk, welcher von dem bekannten 
und angesehenen Aesthetiker Ramler herruhrt, ist stark 
getadelt worden. Herder hat ihn zum Gegenstand eines 
Angri£fs gemacht. Ramler's Dichtung leidet an dem 
Familienfehler aller oratorischen Passionsgedichte : dem 
Mangel an Anschaulichkeit und Plastik, an klarer Aus- 
pragung von Ort, Zeit und Personen der Geschichte. Man 
weiss nie, wer spricht: der Vortrag eines Augenzeugen 
der Leidensscenen und die Betrachtungen, die ein glau- 
biger Ghrist achtzehn Jahrhunderte spater iiber das £r- 
eigniss anstellt, laufen ungesondert durcheinander. Aber 
Ramler's Gantate hat den doppelten Vorzug einer em- 
fachen Gruppirung und eines ausgezeichneten musika- 
lischen Gusses. Sie ist mit einem feinen Sinn fiir Alles 
das entworfen, was die Generation, fiir welche diese Pas- 
sion bestimmt war, in der Musik suchte und fiir das, was 
Graun besonders konnte. Ramler entwickelt die Leidens- 
geschichte in sieben Bildern, und obwohl fiir die Anlage 
und Ausfiihrung dieser einzelnen Bilder immer ziemlich 
dasselbe Verfahren eingeschlagen ist, so erscheinen doch 
die Formen mannigfaltig und wechselnd. 

So ist der Eingang der Dichtung sehr geschickt ge- 
dacht. Der Erzahler tritt mit der Frage auf: »Wo ist 
das Thai, die Hohle, die, Jesu, dich verbirgt? Verfolger 
seiner Seele, habt Ihr ihn schon erwurgt?« Das ist 



-<•- 104 

dramatisch, — aufregend. Um des rein kirchlichen Effects 
willen hat aber Graun diesen Eingang als Choral, auf 
die Melodie: »0 Haupt vol! Blut und Wunden« ftir vier- 
stimmigen Chor (und Gemeinde) componirt. Der Chor 
fahrt in der Nummer 2 (Largo : »Sein Odem ist schwach«) 
in der Rolle des pathetischen Erz&hlers fort unci schil- 
dert, dass er Jesus gefunden und wie elend er ihn ge- 
funden hat. Am Anfang und Schluss von schlichtem 
ergreifenden Ausdruck, fugirt dieser Satz zwischen den 
genannten Endpunkten Uber zwei Themen, von denen 
inan das erstere sowohl in Bezug auf seinen Charakter 
wie seine Durchfiihrung vorziehen wird. Nach dieser 
Nummer geht die Partie des Erzahlers an den Solisten 
tiber und wird Recitativ: «Gethsemane ! Gethsemane ! Wen 
h5ren deine Mauern etc.« Von hier ab bleibt die vom 
Dichter vorwiegend in die Form hochbewegter Fragen 
und Ausrufungssatze gekleidete Erzahlung musikalisch in 
den Handen der Solisten. Graun wahlte fiir ihre Wieder- 
gabe die Form des Recitativo accompagnato, welches er 
meisterlich beherrschte. Die Recitative seines »Todes Jesu« 
gehfiren zu den gehaltvoUsten Partien der Musik; sie 
sind in der Begleitung reich an fantasievollen imd von 
tiefer Empfindung getr§,nkten Ztigen; in der Singstimme 
herrscht ein bewegter, aber immer edler und maass- 
voUer Ausdruck. Das Publikum wurde nicht zum Ge- 
ringsten durch diese Recitative an den »Tod Jesu« ge- 
fesselt, und die Sanger beneideten einander um die 
schonen Stellen, die in diesem Theile ihrer Partien jedem 
Einzelnen zufielen: In einer Mannheimer Partitur, die 
zur Zeit, wo die beruhmte Wendling und der Bassist 
Gern der dortigen Hofoper angehorten, dem Dirigenten 
als Handexemplar gedient hat, ist das kurze eben hier 
in Rede stehende Recitativ » Gethsemane « auf drei So- 
Usten vertheilt worden. An wichtigen Stellen, wo Reden 
Jesu eintreten, geht Graun aus dem Recitativton in einen 
gesangmfissigen iiber. So bei den Worten Jesu: »Meine 
Seele ist betrfibt bis in den Tod«. Der Dichter schreitet 
von solchen Hohepunkten der Situation regelmassig zu 



-^ 105 -^^ 

einer breiten Betrachtung fort, deren Inhalt entweder 
darauf zielt, den Zuhorern zu sagen: Nehmt Each ein 
Beispiel an dem, was der Heiland hier fiir uns gethan, 
Oder: Sehet, das ist geschehen, well wir gesUndigt haben. 
Nur ausnahmsweise schwingt sich Ramler's Fantasie 
aus diesen beiden Gleisen hinaus. Noch klarer ist der 
mosikalische Zweck dieser Einschaltungen ersichtlich. 
Sie soUen dem Componisten Gelegenheit zu einer aus- 
gefuhrten Arie geben. So erhalten wir an der hier in 
Betracht kommenden Stelle eine Arie »Du Held, auf den 
die Kocher des Todes ausgeleert etc.«, deren Inhalt die 
Bitte an Christus bildet : unser Schutzgeist in der Stunde 
des Todes zu sein. Der erste und Haupttheil der Musik 
in dieser Arie stiitzt sich auf den Begriff des Helden, 
der dem Componisten Veranlassung und Vorwand zur 
Ausftihrung bravourathmender Motive wird ; der Schluss- 
theil, welcher ziemlich spUt kommt, bringt die Bitte allein. 
Ein Choral »Wen hab ich sonst, als dich allein*, von Chor 
und Gemeinde auf die Melodie »Nun ruhen alle Waider« 
gesungen, bildet noch eine Erganzung des Gebetstheils 
und schliesst dieses erste Bild des Graun'schen »Tod 
Jesu«. 

Das ganze Werk zerfallt noch in weitere sechs Bil- 
der, denen in Dichtung und Musik so ziemlich genau 
dasselbe Modell unterliegt, wie dem hier geschilderten 
ersten. Das zweite flihrt die Erzahlung im Recitativ bis 
zu dem Punkte, wo Christus seine Jiinger bittet, mit ihm 
zu beten-, und kntipft hieran eine mit milder Musik um- 
gebene Arie, die den Segen des Gebets behandelt. Das 
dritte Bild schildert weiter bis zur Verleugnung Petri. 
Auch Graun hat eine kleine Malerei fiir das Weinen 
dieses Jiingers, und Ramler hat das Weinen des Petrus 
zu einer Betrachtung iiber den Unterschied benutzt, 
welcher zwischen den Vergehen »weichgeschaffner Seelen« 
und den Verbrechen der »hartgesottnen Siinder« besteht. 
Dieser Gegensatz, dem Componisten von Haus aus will- 
kommen, hat in dem weichen Haupttheile Graun Ver- 
anlassung geboten, sein Bestes zu geben. Dasselbe lag 



-♦ 4 06 -»^ 

nicht in dem Gebiet der starken Affecte, sondern da, wo 
Mitleid iind zarte Regungen auszudrucken waren. Doch 
war er sehr wohl befahigt, jene gliicklich zu skizziren. 
Einen Beweis davon bildet der machtig am Herzen rUt- 
telnde Aufschrei: »0 wehe« in dem Chore: »Unsere Seele 
ist gebeuget, dass wir so gesundigtn, welcher den Schluss 
des Petribildes und eine der schonsten, in der Verbin- 
dung von Tiefe nnd Einfachheit eigensten Nummem der 
Graun'schen Passion bildet. 

Das vierte Bild tragi in der ersten Halfte der Solo- 
bass. Die ErzS,hlung geht bis an die Stelle, wo Ghristus 
den Frauen, die ihn nach Golgatha begleiten, zuruft: 
»Ihr Tochter Zions, weinet nicht*. Ramler erscheint diese 
Anrede als Act des Heroismus, und er schreibt eine Arie 
liber den Held aus Kanaan, der wie ein Fels im Unge- 
witter steht. Graun's Composition dieser Verse ist eine 
Huldigung an den Bravourgesang , ein sehr schwieriges 
und fiir einen guten Virtuosen auch wirkungsvoUes, d. h. 
ausserlich wirkungsvoUes Stiick. Wenn Friedrich der 
Grosse wirklich den »Tod Jesu« fiir Graun's »beste Oper« 
erklart hat, so liegt die Berechtigung zu dieser zwei- 
deutigen Kritik, die schon in der ganzen Anlage des 
Werkes ihre Stiitze findet, in solchen Nummern, wie 
dieser Bassarie, noch besonders vor. Erganzt wird der 
Textinhalt der Arie noch durch den Chor: »Christus hat 
uns ein Vorbild gelassen«, eine fliissige, an Ausdruck 
nicht eben reiche Doppelfuge, die wegen ihrer gut vo- 
calen Natur und trotz der Banalitslt ihrer Themen einen 
ganz ungemeinen Privaterfolg davongetragen hat. Das 
Stiick ist heute noch auf dem Repertoir vieler Kirchen- 
und Schulchore, es ist in Fantasien und anderen freien 
Bearbeitungen fiir Orgel etc. verherrlicht worden und ist 
selbst in Lehrbiichern^ des Contrapunkts als Muster der 
Fugengattung behandelt worden! Der Choral: »Herz- 
liebster Jesu« auf die Worte: »Ich werde dir zu Ehren 
Alles wagen« schliesst den Abschnitt. 

Dasselbe Schema, welches bisher die Grundlage fiir 
die Dichtung und die Musik des »Tod Jesu« bildet, konnen 



-^ 107 ^ 

wir bis zum Schlasse des Werkes welter verfolgen. Es 

ist das Schema der Scene in der italienischen Oper des 

48. Jahrhunderts, nur ist der ewige eint5nige Wechsel 

zwischen Recitativ und Arie dadurch gemildert, dass den 

Zwecken der Betrachtung ausser den Arien auch noch 

Chore gewidmet sind, und dadurch, dass die Recitative 

an und fiir sich hoheren Werth besitzen, als er dem 

trockenen Redegesang der wirklichen Oper durchschnitt- 

lich zukommt. In den Arien der Passion bewegt sich 

Graun in einem ziemlich kleinen Kreise seelischen Lebens, 

und dieser Kreis erscheint noch kleiner, als er wirkhch 

ist, weil der Componist im Ausdruck unfrei auf von 

vornherein gegebene Formen und auf eine bestimmte 

Stilart hinarbeitet. Es waren daher auch die Arien, 

denen gegenliber die unbedingte Verehrung fiir den »Tod 

Jesu« zuerst erschiittert wurde. Bereits im Jahre i 820 be- 

fahl der Grossherzog von Hessen-Darmstadt, der ebenfalls 

diese Graun'sche Passion in jeder Charwoche auffuhren 

hess, seinem Capellmeister Wagner, die Arien sammtlich 

zu ktirzen. Und diesen Darmstadter Strichen, die in der 

Allgemeinen Musikalischen Zeitung veroffentlicht wurden, 

folgten von da ab die meisten Auffuhrungen. Eine jener 

Arien, die den rein virtuosen Zwecken zu Liebe den 

Geist des Textes voUstandig vernichten, ist das Duett: 

»Feinde, die ihr mich betrubet«. In der Richtung ver- 

wandt, aber Dichtung und Musik doch einigermaassen in 

Uebereinstimmung haltend, ist die grosse Sopranarie: 

»Singt dem gottlichen Propheten«, welche zu ihrer Zeit 

zu den beriihmtesten Nummern der Passion zahlte und 

noch bis an die Gegenwart heran unter den unentbehr- 

lichen Paradestiicken aller Coloratursangerinnen ihren 

Platz behauptet hat. Auch sie steht mit der Erzahlung 

in einem nur schwachen Zusammenhang. Besser schliesst 

sich an das Stichwort: wHeute noch wirst du mit mir im 

Paradiese sein« der Chor: »Freuet euch AUe, ihr From- 

menv, der die Worte: »Und was er zusagt, das halt er 

gewiss« in einer jener platten und handwerksmfissigen 

Fugen durchfiihrt, welche lange Zeit und auch bis in 



-* 108 

unsere Zeit herein fiir das nothwendige Kennzeichen des 
oratorischen Stils gehalten worden sind. Eine der wenigen 
Nummern der letzten Halfte des wTod Jesu«, welche von 
wirklicher Poesie getragen erscheinen, und zugleich ein 
kirchlich gerichtetes Stiick, ist das Quartett: »Ihr Augen, 
weint«. Die drei oberen Stimmen fiihren in ihm, von 
den Streichinstrumenten mit tropfenden Tonen umspielt, 
die Choralmelodie : »)0 Traurigkeit, o Herzeleida durch. 
Der Bass singt zwischen den einzelnen Strophen freund- 
lich trostende Weisen. Der Schlusschor: »Hier liegen wir 
geriihrte Sunder* hat in der Dichtung noch einen leichten 
Zusammenhang mit der alten Gratiarum actio. Die Musik 
bringt noch einmal sehr entschieden und wiirdig den 
Charakter eines pathetischen und ergreifenden Trauer- 
acts zum Ausdruck. 

Auch andere Tonsetzer haben das Gedicht Ramler's 
componirt, darunter Telemann und Ph. E. Bach. Neue 
Dichter fanden sich gleichfalls. So schrieb die bekannte 
Ph. E. Bach. Karschin eine Passionscantate, welche ebenfalls der Ham- 
burger Bach in Musik setzte. Unter den 21 Passions- 
musiken, welche dieser Componist geschrieben, gilt sie 
fiir eine der besten. Namentlich die Trauermusik, mit 
welcher in ihr das Orchester nach dem Verscheiden des 
Heilands einsetzt, machte einen grossen Eindruck. Die 
nachste Passionscantate, welche nach dem »Tode Jesu« 
im Druck erschien — und zwar auf Veranlassung J. A. 
G. A. HomilinB. Killer's — war die von G. A. Homilius, deren Text von 
dem Dresdner Magister Buschmann herriihrt. Dichter 
und Componist sind in der Ausbreitung der gefiihlvollen 
Elemente etwas iibereifrig; die Chore des Werkes haben 
in ihrer milden Schonheit bleibenden Werth. Wie iiber- 
all in diesen Passionen, sind die Reditative voll Malereien 
und gleichfalls wie immer ragt unter diesen das Weinen 
Petri hervor. Von Homilius, einem der begabtesten 
Schiller S. Bach's, existiren handschriftlich noch U Pas- 
sionscompositionen *) , unter denen eine Marcuspassion 



*) K. Held a. a. 0. 



-fr 409 

nnd das frei gedichtete Passionsoratorium >»So gehst du 
nun, mein Jesu, hin« mit vorziiglichen dramatischen 
Chdren besonders hervorragen. Die Hauptmasse der in 
der zweiten Hlllfte des achtzehnten Jahrhunderts ver- 
fassten Passionscantaten ist ungedruckt geblieben nnd 
liber den Kreis des Entstehungsorts nicht weit hinaus- 
gedrungen. Erst ziemlich spat haben wir erfahren, dass 
auch Mozart in seiner Jugend ein Werk in dieser Gat- 
tung geschrieben hat. Rochlitz*) nennt als Passions- 
cantaten von grosser, von gleicher dder h5herer Bedeu- 
tung als der Graun'sche »Tod Jesua die Werke von 
Seifert in Augsburg, von den beiden Operncomponisten 
Schweitzer in Gotha, Wolf in Weimar und von dem 
Magdeburger Rolle. Aus der Passion des letzteren Ton- J. H. EoUe. 
setzers sind die beiden ausdrucksvoUen Recitative: »Noch 
ringt im Todesschweiss « und »Wen seh* ich dort am 
Kreuze ausgespannt« noch heute zuweilen zu horen. 
Eine Altistin, welche die Kunst der Declamation be- 
herrscht, wird mit ihnen einen tieferen Eindruck erzielen. 
Doch ist diese Passion nicht unter die Cantatengattung 
zu rechnen, der Dichter Patzke nennt sie sogar ein Musik- 
drama. Ausser den biblischen Personen treten darin auch 
noch frei hinzugefugte Figuren auf. Das GesprUch eines 
Fremdlings, der verwundert nach dem Grund der Auf- 
regung in der Stadt Jerusalem fragt, mit einem Blind- 
geborenen, den der Heiland geheilt hat, leitet dieses 
Passionsdrama ein. Bibelworte und Chorfile finden sich 
nicht in ihm. 

In Norddeutschland taucht das frei dramatische Pas- 
sionsoratorium erst gegen das Ende des Jahrhunderts 
wieder auf. Zwischen Hunold-Keiser und Patzke -Rolle 
liegt eine grosse Liicke. In Italien und an denjenigen 
deutschen H6fen, wo Componisten der italienischen Schule 
wirkten, wurde seine Geschichte niemals unterbrochen. 
Besonders beriihmt waren die Passionen von A. Scar- 



♦) Allg. Mui. Ztg. 1831, S. 297. 



-fr MO ^ 

latti,Jomelli,Paisiel]o. Die Dresdener Capellmeister 
zum Theil, die Wiener, von Fux bis auf Weigl sUmmt- 
lich, sind mit einer Reihe solcher italienischer Passions- 
oratorien vertreten, welche sich von den Opern der 
Periode nur durch eine reichere Einflechtung von Chor 
und Ensemblenummern unterscheiden. Ueber die oft 
erwahnten Hamburger Versuche ragen sie sammtlich durch 
die Wiirde der dichterischen Sprache hervor : Metastasio, 
der Gottsched der italienischen Oper, gab auch hier den 
Ton an. 

Das einzige Werk dieser Gattung, welches fiir unsere 
Zeit noch nahere praktische Bedeutung hat, ist Beet- 
Li v. Beethoven, hove n's aChristus am Oelberg«. Dieses kleine 
Christus am Oratorium , von F. X. Huber , wahrscheinlich dem itahe- 
Oeiberg. nischen »Gesu al Calvario« (u. A. von Zelenka componirt) 
nachgedichtet, behandelt nur einen Abschnitt aus !der 
Leidensgeschichte : Christi Gebet und Seelennoth am Oel- 
berge und seine Gefangennahme. In dem Augenblicke, 
wo die Schergen den Heiland vor Gericht schleppen, 
fftllt der Engelchor ein und zieht mit der Apotheose: 
wWelten singen Dank und Ehre dem erhabnen Gottes- 
sohn« den Schlussvorhang uber den grausamsten Theil 
des Dramas. Die Composition ist 4 803 entstanden und 
in demselben Jahre in Wien wiederholt aufgefiihrt worden. 
Erst 1810 gelangte sie in den Druck und fand von da ab 
ihre Verbreitung durch ganz Deutschland. Sie ist neben 
dem »Tod Jesu« lange genug eine der bevorzugtesten 
Passionsmusiken gewesen. Auch ihre Glanzzeit erlosch 
nach dem Wiedererscheinen von Baches Matthauspassion ; 
aber trotzdem wird sie noch bis in die jungste Gegen- 
wart hinein haufig aufgefiihrt und selbst hier und da im 
Charfreitagsgottesdienst verwendet. Beethoven selbst 
soli in seinen spMeren Jahren auf den >Christus« nicht 
gerade stolz gewesen sein, und gewiss wird man dieses 
Oratorium nicht zu seinen Hauptwerken zahlen wollen. 
Aber es tragt in vielen Stellen die Ziige dieses grossen 
Meisters, und die Vorwiirfe, die man friiher halblaut, 
heute mit grossem Nachdruck gegen Beethoven's Be- 



handlung der Passion erhoben hat, beruhen wohl alle 
auf der Natur der Dichtung; denn bei Huber hat Jesus 
den grossten Theil der Wurde und Erhabenheit einge- 
bfisst, in welcher er bei den Evangelisten erscheint, und 
auch die Junger des Herrn sind sehr klagliche Gestalten. 
Eine der bedeutendsten Partien des »Christus« bildet 
das Instrumentalvorspiel, mit welchem das Werk er- 
offnet und die erste Scene eingeleitet wird. Es ist ein 
Seelengemfilde, in welchem die schmerzliche Klage mit der 

Ergebung ringt. Adagio ^ 

Eine traurig fra- 1 ^SK' H J JU D\ j J)^ I JJ ^ J J I I 
gende Melodie^ ^-—L^ ' ^ ^^ 

in den Streichinstrumenten durchgefiihrt , ist der Haupt- 
trager dieser ergreifenden Musik, in deren Fugen uberall 
die Verzweifelung ruttelt. Die Horner rufen heftigWehe; 
in zitternden Accorden baumt sich das ganze Orchester 
auf und bricht in Pausen ab, welche die Pauken schauer- 
hch mit dumpfen Tonen fullen. Es sind einige kleine 
Episoden von zwei Tacten Lange darin, in denen die 
Hoffnung unter Klangen, die an Florestan erinnern, 
das Haupt erheben will. Aber ^ .ll i r # _ .^ 
sie endigen in einem resig- m p 1*%*' L ,^^4-^ = . 
nirten Motiv der Holzblaser ^ ^' b 

Der erste Monolog des Christus ist von dem Dichter in 
dem Wortreichthum gehalten, den wir als im Widerspruch 
mit dem in der Bibel eingehaltenen.gSttlichen Wesen des 
Heilands an diesem Oratorium zu allererst storend em- 
pfinden. Beethoven steht hier zum grossten Theil be- 
deutend uber dem Dichter. Sein Recitativ ist in einem 
grossen Style gehalten und hat einzelne Stellen, die in 
ihrer Einfachheit geradezu erschiittern. Die eine der- 
selben ist der rhythmisch und harmonisch feierlich mar- 
kirte Satz der Blasinstrumente bei den Worten: »Des 
Seraphs Donnerstimme « , der wie eine uberirdische Er- 
scheinung hereintritt. Die andere liegt an dem Schlusse 
des Recitativs, wo Christus nach dem erregten Tremolo 
der Streichinstrumente sein Klaggebet zum Vater: »Ach 
sieh, wie Bangigkeit etc.« in die Nacht hinaussendet. 



Die darauf folgende Arie: »Meine Seele ist erschiittert« 
giebt ein Bild g^hrender Erregung, das vom musikalischen 
Standpunkt aus wegen der Genialitat, mit der die Farben 
gewahlt und gemischt sind, Bewunderung verdient. Aber 
dieser furchtbare Ausdruck der Seelenangst ist fur den 
Heiland zu menschlich leidenschaftlich ; der gottliche 
Christus, wie wir ihn aus der Bibel kennen, erscheint 
erst in der zweiten Halfte der Arie: von da ab, wo die 
Holzblaser das herrliche, mild erhabene und fromme 
Thema zu den Worten : ))Vater, tief gebeugt und kiaglich« 
intoniren. — Wie die Dichter dieser Art Passionsoratorien 
in der Kegel mit dem dramatischen Apparat des Evan- 
gelienberichtes allein nicht ausreichen^ so verstarkt ihn 
auch Huber um einen Seraph und den zu diesem ge- 
horigen Chor der Engel. Ihnen gehort die zweite Scene. 
Ein Paukenwirbel kiindet den Seraph an, unter rau- 
schenden Geigenfiguren schwebt er zur Erde. Sein Gesang 
ist streng getheilt: der erste Theil an die Erlosten ge- 
richtet: »0 Heil euch, ihr Erlosten«, der andere Theil ruft 
denen Fluch und Wehe zu, welche das Blut entehren, 
das fiir sie floss. Diese zweite drohende Halfte kommt 
zu ihrer gewaltigen Bedeutung erst gegen den Schluss 
der Scene, wo sich der Chor der Engel mit dem Seraph 
vereint: Fluch und Weh sind hier von der Orchester- 
masse mit einer erschreckenden, finsteren Entschieden- 
heit declamirt. Und wunderbar schon ist es, wie von 
dieser unheimlichen Stelle ganz sanft urid schnell die 
Musik in den freundlich milden Haupttheil: »Doch Heil 
euch« zuriickgeleitet wird. Sehr reich ist die ganze 
Scene an schon ge?timmten Klangwirkungen : die hohen 
Tone der Engelstimmen, die Verbindung des Solosoprans 
mit dem Chor, fiber welchen er sich hoch hinauf erhebt 
und in einsamer Hohe dahin schwebt, genugen allein 
schon, die Fantasie des Horers zu fesseln und Bilder 
sehen zu lassen. — Nun erscheint Jesus wieder und der 
Engel kundet ihm in einem hochfeierlichen, ganz mystisch 
wirkenden Satze, den die Blasinstrumente wieder aus- 
zufuhren haben: den Willen des himmlischen Vaters. 



-^ 113 -ft:- 

Christus erwidert hierauf in einem Adagio: »So ruhe 
denn mit ganzer Schwere auf mir, mein Vater, dein Ge- 
richt!«, welches in einfachen herrlichen Gesangtdnen 
ausspricht, dass der Heiland bereit ist, zu leiden und zu 
sterben. Wenn in einem der Satze seines »Christus«; so 
hat Beethoven in diesem Adagio etwas von der himm- 
lischen Grosse, in der wir uns die Seele des £rl5sers 
denken, niedergelegt. Dass der Engel geriihrt und hin- 
gerissen in die Weisen Jesu mit einstimmt, ist an und 
fiir sich motivirt, auch mit besonderen musikatisch ma- 
erischen Erfolgen ausgefiihrt. Doch aber ware die Wir- 
kung dieses Adagios reiner, wenn es nicht in ein Duett 
ausliefe. Mit ihm schliesst der erste Theil des Oratoriums 
imd der Act der Gefangennahme beginnt. Seine Musik 
hat die genaue Form eines Opernfinales und auch den 
Geist eines gewohnlichen, tumultreichen und spannenden 
Buhnenstiickes. Ein pikanter Marsch, der leise wie aus 
der Feme einsetzt, meldet den Anmarsch der Krieger, 
welche Jesum fangen soUen. Man hort und sieht sie 
ebenso geschaftig als vorsichtig suchen. Bald kommen 
sie naher, bald schlagen sie wieder die entgegengesetzte 
Richtung ein. Gewiss ist es ein grosser Effect, als sie 
endlich, den eben betenden Heiland vor sich erblickend, 
in das triumphirende : »Hier ist er« ausbrechen. Aber es 
ist der Fehler dieser Art von Oratorien, dass sie Aeusser- 
lichkeiten, die an und fiir sich nicht weiter wichtig sind, 
mit soviel Behagen und Aufwand von Zeit und Kunst 
ausmalen. Zu dem wilden Jubel der Krieger bildet das 
unmannliche Jammern der Jiinger einen Gegensatz, der 
sich fast an die Lachmuskeln wendet. Dann tritt Petrus 
stark bramarbasirend auf. Jesus und der Seraph ver- 
einen sich mit ihm zu einem langeren, ganz opern- 
massigen und im Ausdruck verfehlten Terzett, dem erst 
der endlich wieder einsetzende Chor der Krieger: »Auf, 
ergreifet den Verratheru ein Ende macht. Als ein Situa- 
tionsbild ist diese ganze musikalische - Scene gar nicht 
libel, manche Abschnitte sind packend in der Wirkung. 
Aber es ist nichts darin, was uns zwingt, dieses Bild in 

n, 1. 8 



114 -»^ 

die Passion hineinzudenken , nnd es ist eine fiir dieses 
Verhaitniss bezeichnende Thatsache, dass die Reden Jesu, 
welche in diesem Finale vorkommen, nirgends, auch nur 
annahernd an den weihevollen Ton anklingen, welchen 
sie in dem ersten Theile des Oratoriums, wenn auch 
nicht immer, so doch vorwiegend haben. Mit einer ziem- 
lich gewaltsamen Wendung reisst sich Beethoven endlich 
aus dem Kreise der Alltliglichkeit heraus und lenkt in den 
fugirenden Chor der Engel ein, dessen dithyrambische 
Stimmung in dem auf wogenden Violinfiguren ruhenden 
Mitteltheile : »Welten sin gen Dank und Ehre« einen sehr 
sch5nen, der Sammlung und dem neuen Aufschwung ge- 
widmeten Mittelpunkt hat. 

Andere Werke aus der Gattung des frei dramatischen 
Passionsoratoriums , welche zur Zeit und in der Periode 
ihrer Entstehung hochgewiirdigt waren, sind heute ganz- 
lich verschwunden. Wir nennen aus dieser Classe vor 
J. &. Sohloht, allem: »Das Ende des Gerechten* vou J. G. Schicht, 
Dm Ende des einem der bedeutendsten Musiker, welche nach J. S. Bach 
Gerechten. (jas Cantorat der Leipziger Thomasschule bekleidet haben. 
Besonders ausgeftihrt, von machtiger Susserlicher Wir- 
kung in den knappen Chorsatzen, ist in diesem Ora- 
torium die Scene der falschen Zeugen. Sie bekraftigen 
ihre Aussagen mit feierlichen Schwiiren; immer neue 
Anklager, gefiihrt von dem alten fanatischen Philo (einer 
eigenen Erfindung des Textverfassers) , treten hinzu; die 
Menge wiederholt die Versicherung der einzelnen Klager 
und allemal schliesst die Vernehmung mit dem Satze: 
»Ich bekraftige mit heiligem Eid, dass ich's vernommen 
aus seinem Munde«. Der Partei der Feinde ist eine 
Partei von Freunden und Freundinnen Jesu gegeniiber- 
gestellt. Eine Hauptfigur des Oratoriums ist Johannes 
der Jiinger. Er berichtet die Vorgange, welche sich nicht 
im Oratorium selbst abspielen, und er interpretirt sie 
ahnungsvoU. Aus seinem Munde erfahren wir gleich am 
Eingang desWerkes, dass dem Judas nicht getrautwird. 
Judas selbst ist originell, aber in Uebereinstimmung mit 
der rationalistischen Schule, als leichtsinniger Speculant 



445 

aufgefasst. Als er sieht , dass sich der Herr wider Be- 

rechnung den Handen der Feinde iibergiebt, ist seine 

Verzweiflung gross. Ausser den sehr wirksamen drama- 

tischen Choren hat »Das Ende des Gerechten« auch viele 

sinnige Stellen. Der Dichter schreibt nach den Worten: 

»Es ist Yollbrachtcr einen Instrumentalsatz vor, »der die 

letzten Augenblicke des schwindenden Lebensa bezeichnen 

soil. Schicht hat in seine fugirenden Motive den Choral : 

»0 Traurigkeita eingewoben. {Siehe: Graun.) Noch bis 

in die jiingste Zeit konnte man den Schlusschor des Ora- 

toriums: »Wir driicken dir die Augen zu« hier und da 

als Begrabnisschor horen. Als Ganzes scheint das . »Ende 

des Gerechten« nur wenige Jahrzehnte lang festen Fuss 

gefasst zu haben. Im Jahre ^806 zum ersten Male auf- 

gefiihrt, erst nach dem Tode des Componisten in den 

Druck gelangt, wurde das Oratorium schon im Jahre 

i835 wieder verdrangt und zwar durch Spohr's Passions- 

oratorium: »Des Heilands letzte Stunden*, welchem L. Spohr, 

ganz dieselbe Dichtung von Rochlitz zu Grunde liegt, Des Heiiands 

wie dem Werke von Schicht. Spohr's Oratorium enthalt letzte Btunden. 

in den Choren der Freunde und Freundinnen Jesu, in 

den Ariosos der Maria viel schSne weiche Musik, in der 

Partie des Johannes vortreff lich declamirte Recitative. 

Von grosserer eindringlicher Bedeutung ist der letzte 

Abschnitt des Werkes, von dem Augenblick ab, wo der 

sterbende Heiland die Worte ruft: »Mein Gott, warum 

hast du mich verlasseuf. Der in feierlicher Stille hin- 

gebetete yierstimmige Canon: »In seiner Todesnoth dich 

zu ihm wende, gieb ihm ein sanftes Ende«, das Octett: 

))Wir sinken in den Staub und feiern deinen Tod«, die 

geistreich auf die Gerichtsscene zurtickgreifende Schil- 

derung des >Erdbebens« sind Stiicke einer grandiosen 

Stimmung und eines wirkHch grossen Styls; ihr Eindruck 

ist tief und bleibend. 

Zu diesen beiden Passionsoratorien von Schicht und 
Spohr tritt als ein Werk von gleicher Anlage und ahnlich Fr. Schneider, 
starker Verbreitung das Charfreitagsoratorium : aGeth-GetiisemRne nnd 
semane und Golgatha« von Fr. Schneider. Das Goigatha. 

8* 



-<* 116 *^ 

Werk hat sich von seinem Erscheinen (4 838] an mehrere 
Jahrzehnte hindurch behauptet und ist namentlich hstufig 
im Gottesdienst verwendet worden. Die reichliche Ein- 
lage von Choraien, bei denen die Gemeinde mit ein- 
stimmen soil, macht es dazn geeignet. Sie ist ihm eigen 
und bedeutet einen Abfall von dem rein dramatischen 
Princip, zu welchem wahrscheinlich ebenfalls die mittler- 
weile erfolgte Verbreitung von Bach's Matthauspassion 
Veranlassung gegeben hat. Der Dichter, Prediger Schu- 
bert in Zerbst, hat zu den dramatischen Personen des 
Evangeliums noch einen Chor der Bekenner und Stimmen 
von oben hinzugedichtet. Dadurch ist dem Componisten 
Gelegenheit zu Doppelchoren und zur Entfaltung starker 
Gegensatze gegeben. Sehr wirkungsvoU ist sie in dem 
Nacheinander des Judenchors: »Sein Blut komme iiber 
uns« und des Bekennerchors: »Wehe, die ihr Zion bauet 
mit Blut« benutzt worden. Im letzteren ist eine aus Mit- 
leid und Grausen gemischte Stimmung sehr anschaulich 
wiedergegeben. Unter den Doppelchoren zeichnet sich 
der Chor der Jesum suchenden WSchter aus; zu ihnen 
treten die Stimmen von oben in einfachen edlen Weisen. 
— Gemeinsam ist diesen drei letzgenannten Passions- 
oratorien die Annaherung ans Bibelwort. In dem Schnei- 
der'schen Werke erfolgt sie auch in einzelnen Choren; 
die anderen geben wenigstens die Reden Jesu getreu 
nach den Evangelien wieder und beschranken sie auf 
die dort beglaubigten Worte. Im musikalischen Ausdruck 
der Reden Jesu erstreben die Componisten eine feierliche 
Einfachheit und heben sie durch die Begleitung bestimmter 
Blasinstrumente in einen besonderen Klangkreis. AUe 
haben dadurch die Aehnlichkeit mit der Oper wenigstens 
in der Christuspartie glucklich vermieden. Das wiirdigste 
Bild von Jesus giebt unter den dreien Schicht. Das zu der- 
selben Classe, wie die Werke von Schicht, Spohr, Schneider, 
gehorige Passionsoratorium »Das Stihnopfer des neuen 
Bundes<' von Carl Lowe hat wenig Beachtimg gefunden. 
Wie Beethoven's wChristus am Oelberg« sich auf 
einen Abschnitt der Leidensgeschichte beschrS.nkt, so 



'-^ 117 ^ 

giebt es in derselben oratorischen Gattung Werke, die 

fiir den Gebrauch in der Charwoche bestimmt waren, 

obwohl sie auf die Leidensgesofaichte nur einen indirecten 

Bezug nehmen. Die einen kniipfen im Text, z. B. die 

von vielen nambaften Tonsetzern componirte Dichtung 

»la deposizione della croce<, noch unmittelbar an die 

Vorgange der Passion an. In anderen handelt es sich 

um Vorgange, die von dem grossen Ereigniss des Kreuzes- 

todes Jesu Christi durch Jahrhunderte getrennt sind. 

Im Wesentlichen besteht, gerade 'so wie im wTod Jesu« 

Ramler's, ihr Inhalt in Passionsbetrachtungen. Nur sind 

sie in der Form einer Geschichte geflochten und dra- 

matisirt. Die beiden beriihmtesten Werke aus dieser 

zweiten Classe sind Hasse^s »Sant' Elena al Calvarion J. A. Hasse, 

und »I Pellegrini al sepolcro di nostro Salvatore« des- SanV Elena ai 

selben Componisten. Die Dichtung in beiden Werken ist Caiyano nnd 

von Metastasio. Die »Sant' Elena« ist die Dramatisirung ^ peWegrini. 

der Legende von der Kaiserin Helena, die bei dem Be- 

suche von Jerusalem auf wunderbare Weise das Kreuz 

entdeckt, an welches der Heiland geschlagen war. Der 

Schluss der Dichtung preist di^ Monarchen. Schon friiher 

ist diese Geschichte bearbeitet und componirt worden. 

So von L. Leo. Die » Pellegrini al sepolcro « schildern 

die Ankunft von vier Pilgem in der heiligen Stadt und 

ihren Aufenthalt daselbst in Gesprachen und Betrach- 

tungen, die das Passionsdrama zum Gegenstand haben. 

Beide Werke, fiir Dresden geschrieben, waren am Wiener * 

Hofe und anderen Residenzen italienischer Richtung ein 

beliebter Bestandtheil der Charfreitagsmusik; die »Pil- 

grimmea wurden auch ins Deutsche iibersetzt und von J. 

A. Hiller im Clavierauszug verofifentlicht. An ihrer Musik 

fesselten die schonen ausdrucksvollen Recitative mit Be- 

gleitung, und noch mehr als etwas Neues und Ungewohn- 

liches die Wechselgesfinge, in welchen in den Ensemble- 

nummern die Frauen- und die Mannerstimmen sich ab- 

Idsten. Der Amtsnachfolger Hasse's, J. G. Naumann, J. G. Nanmann, 

componirte die »Pilgrimme« ebenfalls. Aus seiner Com- Die Piiger. 

position hat sich der traulich fromme Chor: »Zagt nicht 



auf dunklen Wegene, in welchem die Knabenstimmen 
gleichfalls mil den Tenoren und Bassen wechseln, bis 
nahe an die Gegenwart im Repertoir einzelner Kirchen- 
J. &. Sohioht, chore erhalten. Auch Schicht hat ein Oratorium: i>Die 
Die Feier der Feier der Christen auf Golgatha« geschrieben, welches 
Christen anf die Passion in Form stimmmungsvoller, mitleidender und 
Goigatha. entziickter Ruckblicke darstellt. Von der Musik, die mehr 
veraltet ist, als in dem »£nde des Gerechten«, hat der 
Schlusschor des ersten Theils: »Vor deinem Angesicht, 
Erloser, stehen wir« seiner Zeit besonderen Erfolg davon- 
getragen. Da in dem Werke keine dramatischen Per- 
sonen auftreten, wird man es besser der Gattung der 
Cantate zuweisen. In dieselbe Kategorie fallt »Die Grab- 
8. Henkomm, legung Christi« von S. Neukomm, nach einem Abschnitt 
Die Grabiegnng aus Klopstock's Messiade componirt. Ein gehaltvolles 
Christi. Werk: namentHch in der Instrumentalpartie die be- 
deutendste Leistung, welche wir von dem einst sehr ge- 
feierten Componisten besitzen; jedenfalls reicher als sein 
viel gesungener »Ostermorgen«. 
J. Hayda, Auch »Die sieben Worte« von J. Haydn oder 

Die siebenWorte. wie der vollstandige Titel heisst: »Die Worte des Erlosers 
am Kreuz«, sind von dem Componisten selbst als Ora- 
_ torium bezeichnet worden. Sie gehoren zu der Gattung 

nur dann, wenn man den Begriff des Wortes in jenem 
allgemeinsten Sinne zulasst, wie wir ihn in der ersten 
Halfte des achtzehnten Jahrhunderts hier und da brauch- 
* lich gefunden haben. Man nannte da jede Art der geist- 

lichen Andachten, bei der die Musik, gleichviel in welchen 
Formen, einen wesentlichen Bestandtheil bildete, ein 
Oratorium; darunter finden sich auch Werke, welche die 
Passion als Melodram behandein, z. B. eins von Baron 
Dalberg. Die sieben Worte des Erlosers am Kreuze sind 
als besondere Episode der Leidensgeschichte oft com- 
ponirt worden; aber in der Kegel nur im Zusammenhange 
mit dem Text des Evangelisten. So behandelt sie Schiitz, 
so sind sie von Vorgangern dieses Meisters wie Senfl und 
auch von spateren Componisten aller Ltlnder (Lutz, Mer- 
cadante, Gounod) in Musik gesetzt worden. Die Form, in 



I 



-^ 149 ^ 

welcher sie Haydn bringt, hat ihre eigenthiimliche Ent- 
stefaungsgeschichte. Bin Domherr in Gadix bestellte bei 
Haydn sieben langsame Instrumentalsatze mit Vorspiel 
and Schloss zur Verwendung in der Passionsandacht der 
dortigen Cathedrale. Den Gang der Passionsandacht, 
Oratorium genannt, beschreibt Haydn selbst in dem Vor- 
bericht der i. J. 4 801 veroffentlichten Partitur folgender- 
massen: »Nach einem zweckm3,ssigen Vorspiel bestieg 
der Bischof die Kanzel, sprach eins der sieben Worte 
aus und stellte eine Betrachtung darUber an. So wie 
sie geendigt war, stieg er von der Kanzel herab und fiel 
knieend vor dem Altare nieder. Diese Pause wurde von 
der Musik ausgefiillt. Der Bischof betrat und verliess 
zum zweiten, drittenmale u. s. w. die Kanzel und jedes- 
mal fiel das Orchester nach dem Schlusse der Rede 
wieder ein.«( Im Jahre 4 785 waren die Adagios fertig. 
Der Componist nannte sie Sonaten und hat sie mit dieser 
Bezeichnung in einem Arrangement fur Streichinstrumente 
bekanntlich auch unter seine Originalquartette aufgenom- 
men. In dieser Gestalt, als reine Instrumentalmusik, — 
nur ein gesungenes Bassrecitativ, welches das betrefifende 
Wort enthielt, ging jedem Satze voraus — drangen bald 
die »Sieben Worte« von Wien aus, wo sie im Jahre 4 787 
zuerst aufgeftihrt wurden, hinaus ins Reich und ins Aus- 
land: nach Bonn, Breslau, Berlin, London, Paris und 
Neapel. Die Umarbeitung in ein Chorwerk erfolgte, nach- 
dem Haydn (4 794) auf der Reise nach London begrififen, 
in Passau einer Auffiihrung seiner »Sieben Wortea beige- 
wohnt hatte, zu welcher der dortige Capellmeister Sing- 
stimmen hinzucomponirt hatte. Haydn fuhlte, dass er 
das selbst besser machen konnte, scheint aber den Text 
des Passauer CoUegen bei dieser Umarbeitung, nachdem 
van Swieten denselben einer Redaction unterzogen, bei- 
behalten zu haben. Ausserdem iibertrug Haydn die Solo- 
recitative auf den Chor, fiigte nach dem vierten Worte 
einen neuen selbst9,ndigen Orchestersatz ein und ^nderte 
an einzelnen Stellen die Instrumentirung. Clarinetten und 
Posaunen sind durchaus neu. In dieser neuen Form 



420 ^ 

kamen die »Sieben Worte« zuerst i. J. 4 796 in Wien zu 
Gehor und erwarben sich bald zahlreiche Freunde und 
Bewunderer. In Concert und Kirche ist das Werk bis 
heute eine der angesehensten Passionsmusiken geblieben. 
Die Methode, aus der »Die sieben Worte« hervorgingen, 
ist weiter verfolgt worden: Chr. Schulz veroffentlichte 
i. J. 1842 ein Passionsoratorium : »Der Versohnungstod*', 
welches mit Hinzufugung von Choralen aus Haydn'schen 
Adagios componirt war. 

Die Introduction der »Sieben Worteu ist eine kurze Fan- 
tasie liber ji , ^^^^^^^^ , , - f . Mitleid, Klage, Trauer, 
das Motiv ff '' " J Cla i^ ^^ Dank werden nur kurz 
gestreift. Der Hauptinhalt dieses gedrungenen Prologs ist 
ehrfurchsvolles Staunen. 

In der Construction der einzelnen Chorsatze leuchtet 
der instrumentale Ursprung noch deutlich durch. Sie sind 
in der Grundform sammtlich langsame Rondos : Injedem 
herrscht ein regelmassig und symmetrisch gebautes Haupt- 
thema, dessen Wiederkehr durch selbstandige, unter ein- 
ander verschiedene Zwischensatze unterbrochen wird. Der 
nach dem ersten Worte: »Vater, vergieb ihnen etc.« ein- 
tretende Satz hat folgendes Hauptthema: 

Largo 




welches die Orchesterstimmen mit Betonung des Anfangs- 
motivs mannigfach variiren. Die Chorstimmen iiberdecken 
in der Kegel gerade dieses bezeichnende Motiv oder 
pausiren, wahrend es in kleinen Satzchen durchgefuhrt 
wird. Mit dem milden Gesammtcharakter des Satzes stim- 
men die Episoden mit ihren sanft klagenden und bitten- 
den Melodien iiberein. Einer der gewaltigsten Zwischen- 
satze tritt mit den Worten auf: »Das Blut des Lammes 
schreit nicht um Racha. Das chromatische Motiv der 
mittleren und unteren Instrumente und die uberraschende 
Modulation von F nach Des heben ihn heraus. Der 
zweite Satz : »Ganz Erbarmen, Gnad und Liebe etc.« ruht 




-* 121 ^ 

auf eincr breiten, wehmiithig freundlichen Liedmelo- 
die , deren . , 

Hauptglieder Alr>H f ' f I Q^ f und 
die Motive 

bilden. Aus dem elegischen Gesammtton treten die beiden 
mit Fennaten gekennzeichneten G dur-Schlusse bei den 
Worten »Kommst du in mein Reich, so denkemeina und 
uheute wirst du mit mir im Paradiese sein« hervor. Die 
feierliche Hoheit der Musik geht hier mit den Worten so 
schon zusammen, dass man die nachtrHgliche Enstehung 
des Textes kaum glauben mag. Der zweite Teil des 
Satzes vertauscht das Cmoll mit Cdur und bringt an 
der Stelle: »Gieb uns auch zur letzten Stunde« einen 
melodischen Gang, der Slusserlich wenigstens mit: »Gott 
erhalte Franz den Kaisers genau iibereinstimmt. Den- 
selben Anklang hat auch ein noch frtiheres Werk Haydn's: 
seine achte Messe. Das Hauptthema im dritten Satze: 

»Mutter Jesu, Grave 

die du| trost- ^MIhJ J... | J K.. |j ,|JJ ||j J ,V" | . 
los etc.« ist ~^ '"^'' ^ — ^ ^ 

Seine ersten beiden Noten durchklingen den Satz wie 
freundHche Zurufe, die zwischen Mutter und Sohn ge- 
wechselt werden. Wunderbar ergreifend ist namentlich 
die Stelle, wo der Satz nach dem in Grabesstille be- 
ginnenden Zwischensatze : »Wenn wir mit dem Tode rin- 
gen« diesem freundlichen Motive wieder zustrebt. Die 
schone Idylle der Passion, in der der sterbende Christus 
die Mutter unter den Schutz seines Lieblingsjiingers stellt, 
hat in diesem riihrenden Tonbilde Haydn's eine Wie- 
dergabe gefnnden, deren Einfachheit und Herzlichkeit 
kaum ubertroflen werden kann. Der Satz ist einer der 
geliebtesten in der ganzen Litteratur der Passionsmusik ; 
er ist zugleich in den »Sieben Worten« einer derjenigen, 
welche in der Behandlung der Ghorstimmen voranstehen. 
Sie machen durchaus nicht den Eindruck nachcomponir- 
ter, und auf den fertigen Satz aufgelegter Partien, son- 
dem einen natiirlichen und selbstllndigen. Der melo- 
dische Segen hat sich nicht bios auf die Oberstimme; 



sondem iiber alle vier ziemlich gleichmassig ergossen. 
Der vierte Satz » Warum hast du mich verlassen « schliesst 
sich an das »Eli, £li«, die Hauptstelle der Passionsmusiken 
von Alters her, an. Er ist dunkler gefHrbt als die vor- 
hergehenden und schl&gt einen lauteren Klageton an. 
Aber auch ihn beherrscht der Grundgedanke, in welchem 
Haydn die ganze Leidensgeschichte in diesem Werke zur 
Darstellung bringen wollte : Dankgefuhl fUr die Erl5sungs- 
that. Nur in einem Zwischenspiele, welches (vor dem 
Abschnitt in Gesdur) die Instrumente allein haben, kommt 
der Schmerz auf einen Augenblick zu einem leidenschaft- 
licheren Ausdruck. Moglicherweise fehlt an dieser Stelle 
(S. 50 der Partitur) vor dem{Quartsextaccord auf des ein 
Tact. Der von Haydn erst bei der Bearbeitung eingefiigte 
Instrumentalsatz (furBlasinstrumente), welcher dasWerk 
in zwei Theile zu scheiden bestimmt erscheint, ist eine 
ernste Trauermusik fiber das zuerst von Posaunen vorge- 
tragene, dann von Gruppe zu Gruppe wandernde Thema: 
^ Largo. , . I ^ r ■ I 1 Starker als aus irgend 

ff ^ J ^ ^ i \]^ ^^ '^ ' ^iii®'^ anderen Satze der 

"^ » Sieben Worte « spricht 

aus ihm eine tief schmerzliche Passionsstimmung. Den funf- 
ten Satz, der sich an diese Instrumentalnummer unmittel- 
baranschliesst: »Jesusrufet: Ach, mich dursteto durchklingt 

wie ein grosser ^\ ,t ^^^^^SISl^ Dieser Satz ist der 

Seufzer das j A *r " pp * =j - erregteste des gan- 



kurze Motiv: ^^ zen Werkes: Der 

Unwille spricht namentlich von den Worten ab: »Kann 
Grausamkeit noch weiter gehn ?« in dramatischer Deutlich- 
keit und in mannigfaltigen lebendigen und anschaulichen 
Melodiegebarden. Besonders eindrucksvoll sind die chro- 
matischen GUnge an der Stelle: »Ihm reicht man Wein, 
den man mit Galle mischtc Der sechste Satz »Es ist voll- 
brachta will dem Gefuhle der Freude Ausdruck geben, dass 
nun das Leiden des Heilands beendet und die Erldsung 
der Menschheit voUzogen ist. Seine Musik mischt desshalb 
zwischen schwere und ernst sinnende auch solche Motive, 
die eine edle Heiterkeit ausdriicken. Aber fiir diese letz- 



-* 123 ^ 

teren sind die Worte nicht immer gliicklich untergelegt, 
namentlich nicht an derStelle: »Weh euch Bosen«. Wer 
den Zusammenhang, das Verh§,ltniss von Text and Musik 
nicht kennt und seine Auffassung von ersterem aus be- 
stimmt, wird hier dem Componisten leicht den Vorwurf der 
Trivialitat machen. Selbst C. F. Pohl, der verdienstliche 
Biograph Haydn's, hat sich zu dieser Ungerechtigkeit ver- 
leiten lassen. Aus derselben milden und verkl^enden Auf- 
fassung heraus, die Haydn in den meisten S&tzen des ersten 
Theils leitete, die ihm auch die friedlich freudigen Motive 
des Chors dEs ist vollbrachta an die Hand gab, ist auch 
die Musik zu dem letzten der sieben Worte »In deine 
Hand o Herr, befehP ich meinen Geista geschrieben. Sie 
ist aus dem Grund einer Seele heraus empfunden, die 
ihren Frieden mit Gott gemacht hat. Daher das beweg- 
Uche kosende Figurenleben in der ersten Violine und 
daher die unschuldig pastorale Hornmelodie, die den Ein- 
gang und den Schluss des Satzes bildet. Als Finale brin- 
gen die »Sieben Worte« eine Schilderung des Erdbebens, 
wie wir sie in.vielen Passionen und in manchen viel 
besser finden. Den Text zu diesem Satze »Er Jst nicht 
mehr«, der nicht recht passt, nahm Haydn kurzer Hand 
aus Ramler's »Tod Jesu«. 

Schneider's »Golgatha und Gethsemane« war fiir lange 
Zeit die letzte Passionsmusik von Bedeutung. Unsere 
protestantische Liturgie wenigstens hat ihre musikalischen 
Bedurfnisse auf das Geringste eingeschrHnkt, und unser 
modernes Concert, auch das geistliche, vermeidet die Be- 
riihrung wenn nicht mit der Rehgion, so doch die mit dem 
Dogma. Mendelssohn und Liszt haben einen »Christus« 
componirt, aber bei ihnen bildet wie in HandeFs »Messias« 
die Leidensgeschichte nur einen Theil im Ganzen. Ein- 
zelne Werke, wie die Passionen von Eisner und von 
Fr. V. Roda, sind nicht uber die Entstehmigsorte hinaus- 
gekommen und Manuscript gebheben. Die einzige wirk- 
liche Passionsmusik, die in Deutschland jtingst in Druck 
und in Umlauf bei den Chorvereinen gekommen, ist der F. Kiel, 
»Christus« von F. Kiel. ChriBtns. 



-^ 124 

Dieses Oratorittms eigentliche musikalische Originali- 
t&t beschrankt sich auf einzelne Nummem und einzelne 
Stellen. In den Motiven liegt oft ein Mendelssohn'scher 
Zng, in ihrer DurchfUhrung wechselt Reichthnm mit 
Trockenheit, und selbst in der ftusseren Form mancher 
Stiicke, in der Art der gemeinschaftlichen Bewegung der 
Stimmen lehnt sich der Componist an bekannte Vorbilder, 
besonders gem an Bach. Gleichwohl ist aber der »Chris- 
tus« KiePs durch den Geist in Anlage und Aufbau, durch 
die Feinheit und Schtlrfe der Auffassung, das Tempera- 
ment in der Declamation ein Werk von Bedeutung: eine 
Passionsmusik die nicht einen Musiker ersten Ranges, 
aber eine vornehme, reiche und fesselnde Kiinstlerseele 
zum Verfasser hat. 

Kiel's »Christus« geh5rt zur dramatischen Gattung. 
Er stellt ohne Evangelisten die Handlung dar; unter- 
scheidet sich aber von frfiheren Werken derselben Classe 
dadurch^ dass der dramatische Dialog ganz mit dem 
Evangelientext tibereinstimmt. Auch die lyrischen Ein- 
lagen, die der Componist in den Mund.eines Mezzoso- 
prans und des Chors gelegt hat, sind der heiligen Schrift 
entnommen. Kiel selbst hat sie aus den Psalmen, den 
Episteln und der Offenbarung sehr treffend ausgesucht. 
Die Eintheilung des Werks besteht in einer Reihe Scenen. 
Die erste tragt die Ueberschrift: »Christi Einzug in Jeru- 
salem «. Ein sehr glucklicher Gedanke: der Darstellung 
der Passion das helle und grelle Gegenbild, den Empfang 
des Heilands am Palmsonntag, vorauszuschicken ! Die 
Scene beginnt mit Kl&ngen, die unbestimmt von der 
Tiefe heranwogen; man lauscht erwartungsvoU und 
hort in AbstS,nden und noch wie aus der Feme mild 
festliche Weisen. Sie klingen n&her und rticken mit 
dem Auftreten des Solotenors, der wie ein Herold der 
wartenden Menge zuruft: »Bereitet dem Herm den 
Weg«, zum geschlossenen Gesang zusammen. Da mit einem 
Male wendet sich die Harmonie von A nach Gdur: der 
festliche Zug ist alien sichtbar auf den freien Platz ein- 
geschwenkt und'wird von hier, von dort, immer lauter 



und stUrker, je mehr ihn sehen, mit »Hosianna« begriisst, 
bis endlich zwei Chore zu je 4 Stimmen feierlich »Gelobt 
sei der da kommt im Namen des Herrna anstimmen. Es 
geht ein hoher Schwung durch die Seele der Menge, der 
in dem breiten Chor natUrlich und anschaulich zum Aus- 
druck kommt. Mit den Weisen der frommen Ehrfurcht 
wechseln die frohlichen lustigen Motive des Volksfestes. 
Eine Solostimme (Mezzosopran : »Das zerstossene Rohr etc.«) 
spricht die Erwartungen aus, die das Yolk auf den Mes- 
sias als den Retter aus Elend setzt. Der Chor schliesst 
sich mit dem milden Satze »Wenn der Herr die Gefan- 
genen«, der auf »Traumen« prilchtig malt, diesem Aus- 
druck von Hoffnung und Bitte an und leitet in ein be- 
wegtes Bild von Friede, Gltick und Freude fiber, welches 
schliesslich zu dem Ausgangspunkt der Scene, dem »Hosi- 
annaa, zuriickkommt und, hier angelangt, dem Jubel und 
der Freude einen neuen energischen Ausdruck in der 
Doppelfuge »Singet dem Herrn ein neues Lied« giebt. 
Eine kurze Episode, in welcher die Interpellation eines 
PhRris^ers die Existenz einer feindlichen Partei ahnen 
lUsst, hebt die Wirkung dieses hochgestimmten Schluss- 
theils wesentlich. Jetzt ergreift Christus wieder das Wort 
und zwar zum ersten Male zu einer 13,ngeren ernsten 
Rede, die auf eine triibe Zukunft hinweist. Der Chor 
antwortet mit »Unser Reigen ist in Wehklagen verkehret«, 
einer Nummer, die die festlich und jubelnd begonnene 
Einzugsscene mit einem eigenthiimlich traurigen Tone 
abschliesst. Es ist eine grosse Macht der Stimmung in 
diesem Chore, der einfach melodisch dahinfliesst. In den 
ruhigen Gang der Klage schlagen die Accente bei »0 
Wehe« aufschreckend hinein. Kaum eine andere Nummer 
des » Christus « pr&gt sich dem Gemiithe so tief ein wie 
dieser umfiorte Gesang. Kenner werden bemerken, dass 
die Erfindung darin etwas von Graun's »Tod Jesu« 
(»Unsere Seele ist gebeuget«) beeinflusst ist. 

Die zweite Scene »Christi Abendmahl mit seinen 
Jungernn geht iiber den Inhalt ihres Titels hinaus bis 
zum Verrathe des Judas und zur Gefangennahme des 



Herrn. Einen l&Dgeren musikalischen Rnhepunkt findet 
sie erst in dem alterthumlich gef&rbten, sechstimmung 
fugirenden Schlusschor: »Wir gingen Alle in der Irre«. 
An Umfang ihm nachstehend, an Gehalt und Entschie- 
denheit der Tonsprache aber tiberragend ist der Chor 
»Wehe, wehe, sie haben ein Bubenstuck etc.«f zu be- 
zeichnen. Die Scene wechselt sehr lebendig zwischen 
dramatischen und betrachtenden S&tzen. Die biblischen 
Reden der Jiinger sind in ausdrucksvoller Kurze einge- 
reibt. Unter den knapperen betrachtenden Nummem 
ist die eigenthumlicbste der Chor »Siehe, ich stehe vor 
der Thiir etc.a, den die Altsimmen allein vortragen. 

Mit der folgenden Scene »Petrus verleugnet Chris- 
tum « beginnt Kiel die zweite Abtheilung seines Oratori- 
ums. Die Scene der Verleugnung ist nur kurz ausge- 
fiihrt aber sehr geistvoU. Nach dem Chor: »Wahrlich etc.« 
spielen die Instrumente eine Reihe von Motiven, mit 
welchen die Jiinger in der vorhergehenden Abendmahl- 
scene die Versicherung der Treue und des Todesmuths — 
»Und wenn ich mit dir sterben miisste«, »Herr, soUen wir 
mit dem Schwert dreinschlagen?« — gaben. In der 
nachsten Scene »Christus vor dem Hohenpnester« hat 
Kiel zwei Priesterchore : »Er ist des Todes schuldig« 
und »Weissage, wer ist es, der dich schlug« in einen Satz 
zusammengefasst und in einer eigenthUmlichen Combi- 
nation diesen in den Mannerstimmen spielenden Aus- 
brtichen der Wuth und des rohen Spottes in dem Uni- 
sono von Sopran und Alt einen choralartigen Gesang 
gegeniibergestellt, welcher diese Scene der Grausamkeit 
mit einem heiligen verkl3xenden Licht iiberstrahlt. Die 
nun folgende Scene »Christus vor Pilato« ist die impo- 
santeste des ganzen Werkes und muss als Meisterstiick 
mbderner musikalischer Dramatik angesehen werden. 
Nur bei Schicht ist ein ahnlicher Aufbau der langen 
Gerichtsscene versucht worden: Es ist ein einziger 
grosser Satz, der in den eroffnenden Accorden der Bla- 
ser die Feierlichkeit des Hochgerichts kurz andeutet und 
dann in einer wahren FJuth von leidenschaftlicher Er- 



-^ 127 ^ 

regung in einem gewaltigen imaufhaltsamen Zage da- 
hin stiinnt. Kiel folgt hier nicht dem MS.tth&us oder 
Johannes allein; alle die ZUge, welche diese beiden 
Evangelisten, und die anderen dazu, von dem Fanatis- 
mus des Volks mittheilen, sind von dem Componisten in 
sein Bild aufgenommen. Aber er hat sie nicht in ge- 
sonderten Nummern der Reihe nach ausgefiihrt, sondem 
genial zusammengedr&ngt, hier kurz skizzirend, dort einen 
Augenblick verweilend. Die Einheit der Scene sichert 
der Hauptsatz, das »Kreuzige, kreuzige«, zu welchem die 
Menge in alien Lagen der Verhandlungen, im Uebermuth 
wie in der Verlegenheit, immer wieder zuriickkehrt wie 
zu dem ausgegebenen Losungswort. Den Hdhepunkt bildet 
der Satz : »Sein Blut komme fiber unsv,- der mit einer da- 
monischen Entschiedenheit gegeben ist. Von da ah be- 
ruhigt sich der Ton der Scene; der Spott und die Wuth 
flackert nach dem Arioso von Christus nur noch einmal 
auf in »Der du den Tempel Gottes zerbrichst«. Fiir 
lyrische Einlagen war diese Scene nicht der Ort; nur ein 
kurzer Chorsatz, der wie von Eccard klingt: »Siehe, das 
ist Gottes Lamm «, taucht in der zWeiten H§.lfte auf. Erst 
ganz am Schlusse kommt die hochgeschwillte Stimmung 
des christlichen Herzens zum Wort. Es ist in dem Cho- 
ral : »Mein Jesu stirbt, die Felsen bebena nach der Stelle 
mcs ist voUbrachtw. Wahrend die Stimmen die Weise in 
ihrer schlichtesten Form hinsingen, grollt in dem Or- 
chester ein Nachklag des Erdbebens, welches nach der 
Bibel das Scheiden des Herrn begleitete. Dann wird der 
Choral zum zweiten Male zu einem kunstvoUeren Satze 
mit fugirenden Stimmen, in Bach'scher Weise, aufge- 
nommen. Die Originalmelodie des Chorals ist die alte 
Neumark'sche von »Wer nur den lieben Gott lasst 
waltena. 

Wie Kiel der Passion als Vorgeschichte den Einzug 
am Palmsonntag vorausgeschickt hat, so lasst er zu ihr 
auch als Epilog eine Skizze der ihr nachstfolgenden 
wunderbaren Ereignisse hinzutreten: Auferstehung und 
Himmelfahrt. Aus diesem dritten Theile des »Christus« 



sind besonders das Duett der beiden Marien hervorzuheben 
und der nachcomponirte an innigen Wendungen reiche 
Dialog zwischen Christus und Petrus. Kurz ehe das Werk 
mit dem »Hallelujah« und der auf ein seltsam weit aus- 
schreitendes Thema »Das ist der Stein« aufgebauten Fuge 
abschliesst, klingen nochmals die friedlichen Motive seiner 
Einleitung an. 

Der Inhalt des Schlusstheils von KiePs »Christusa ist 
in jtingster Zeit in einem selbstandigen Oratorium aus- 
ausgefuhrt worden. Es ist »Christus, der Auferstandene« 
von GustavSchreck nach einer Dichtung von Emmy S., 
der kunstreichen Gattin des Componisten. Auch ktinst- 
lerisch nimmt dieses Werk eine lUmliche Stufe ein wie 
das Riel'sche. Es seien desshalb leistungsfahige Chor- 
institute darauf hingewiesen. 





Zweites Capitel. 

Messen. 



Tiefer als die Passion wurzelt die Messe im litur- 
gischen Boden. Sie geh5rt zu demjenigen Theile des 
Gottesdienstes, welchen die katholische Kirche mil der 
Bezeichnung »Hochamt« hervorhebt. Sie ist dazu be- 
stimmt den wichtigsten, erhabendsten und geheimniss- 
vollsten Akt der christlichen Religions&usserung, die Feier 
des Abendmahls bei den Protestanten, die Darbringung 
des Opfers bei den Katholiken, vorzubereiten und zu be- 
gleiten. Die Trennung der Messmusik von den heiligen 
Ceremonien, zu welchen sie gehort, begann am Ende des 
achtzehnten Jahrhunderts auf protestantischer Seite. In 
katholischen Landem hat man sich erst spater ent- 
schlossen Messen ganz oder in Bruchstiicken im Concert 
zuzulassen. Als Beethoven im Jahre 4 808 in einer Aca- 
demie zwei Satze seiner Cdur-Messe, und noch 1824, 
als er drei Stiicke seiner »Missa solemnis« auffiihrte, musste 
er sie hinter den Titel i)Hymnen im kirchlichen Style « 
verstecken. Auch in Norddeutschland haben sich am Be- 
ginn unseres Jahrhunderts Stimmen erhoben, welche die 
AufFuhrung von Messen ausserhalb des Gottesdienstes 
als eine »Entweihung« verurteilten. *) Diese Auffassung 



*) Allgemeine Musikal. Zeitnng, Jahrgang 1814: Alte und 
neue Klrchenmusik. 

II, 1. 9 



-^ 130 

ist wohl zu streng. Gewiss wird ein »Agnus dei« den glslu- 
bigen Christen in dem Augenblick am machtigsten er- 
greifen, in welchem er zur Communion am Altare nieder- 
kniet. Wenn er aber zu einer anderen Zeit denselben 
Satz wieder hort und sich durch ihn an die Stunde ver- 
setzt und ermahnt fiihlt, da er zum letzten Mai an der 
heiligen Ceremonie Theil genommen — ist das Entweihung? 
Das »Agnus dei« und wie dieses alle Messsatze haben einen 
selbstandigen Inhalt, der auch dann noch erhebend, die 
Frommigkeit erweckend^ die Menschengedanken auf die 
gottliche Gnade und Herrlichkeit, aufs Ewige fiihrend wir- 
ken wird, wenn der liturgische Zusammenhang dieser Satze 
ganz vergessen sein sollte. Dieses »Kyrie«, »Gloria«, wCredo", 
»Sanctus« und » Agnus deio enthalten nur solche Gedanken, 
welche der Christ zu jeder Zeit und an jedem Orte ver- 
steht. Das »Kyrie« bringt in spruchartiger Kiirze ein Gebet 
um die Hiilfe Gottes und seines Sohnes. Wie die des 
))Sanctus« und »Agnus dei«, kehren seine Worte ausser in 
der Messe auch in anderen liturgischen Stiicken wieder. 
Das »Gloria«, urspriinghch zur Morgenhymne bestimmt und 
beim Aufgang der Sonne angestimmt, ist ein Lobgesang. 
Sein jubelnder und dankender Grundcharakter erhalt nur 
in dem Abschnitt: »Qui tollis peccata mundi etc.« einen 
Gegensatz demiithig bittender Art: »miserere nobis« und 
)>suscipe deprecationem nostram«. Das »Credo« ist der wort- 
reichste und langste, fur die Composition der schwierigste 
der Messsatze. Seinen Inhalt bildet das christliche Glau- 
bensbekenntniss in der Fassung des Nicaischen Concils. 
Die Tonsetzer gaben ihm in der Kegel eine feste, feier- 
liche und schwungvolle Musik; besonders tritt in ihr der 
Abschnitt hervor, welcher Christi Menschwerdung und sein 
Leiden und Sterben behandelt. An den Stellen: »et in- 
carnatus est«, »et homo factus est«, »crucifixus est« darf 
man in der besten Zeit der musikalischen Messe das Er- 
habenste suchen, was sich musikalisch denken lasst. Das 
»Sanctus«, welches den Eingang zur eigentlichen Com- 
munion, zur heiligen Handlung bildet, ist das dreimalige 
»Heilig«, der bekannte Gesang, welchen Jesaias aus dem 



-fr 131 

Munde der den Thron Gottes umschwebenden Seraphim 
hdrte. Angefugt sind die Jubelrufe, mit welchem die Juden 
Christum am Palmsonntage bei seinem Einzuge in Jerusa> 
lem begrussten: das »Benedictus<( und»Osanna«. DasvAgnus 
dei« war in der altesten Zeit der eigentliche Communion- 
gesang. Es enthsllt in wenigen schUchten Worten den 
Ausdruck demlithigster, liebevollster Hingebung zu dem 
Heiland, der sich fur die Menschheit geopfert hat, und 
die Bitte um Gnade und Friede. In S,lteren Messen wird 
der Satz in dreifach verschiedener Musik wiederholt Das 
»Dona nobis pacemo ist erst im spS,teren Mittelalter hin> 
eingekommen und heute noch nicht als allgemein gultig 
anerkannt, z. B. nicht im Lateran, wo noch dreimal 
»miserere nobisa gesungen wird. Die einzehien Satze des 
Messentextes sind zu verschiedenen Zeiten entstanden, 
aber alle sehr alt; der alteste ist das nSanctusc Erst spater 
fasste man sie zu einem zusammenhangenden Ganzen 
zusammen, welches als das Ordinarium der Messe, d. h- 
der im Text stets gleichbleibende Theil derselben, be- 
zeichnet wird. Die liturgische Messe wird noch vervoll- 
standigt durch Introitus, Graduale, Alleluja, Tractus, 
Sequenz und Communio, Gesange, welche im Text je 
nach den Festzeiten wechseln. 

Im katholischen Gottesdienste begegnen wir heute 
nebeneinander drei Stylarten der musikalischen Messe: 
der Messe im gregorianischen Choralton, der Vocalmesse 
und der Instrumentalmesse. Sie sind hier so aufgestellt, 
wie sie geschichtlich auf einander folgen. Der gregoria- 
nische Choral hat das Schonste und Reichste, was seine 
Melodik bietet, in den Recitationen der Messtexte; die 
Instrumentalmesse besitzt einige Werke, welche wir unter 
die hochsten und erstaunlichsten Leistungen der musi- 
kahschen Kunst zahlen. Aber die anerkannte Glanzpartie 
der Messenlitteratur wird von der Vocalmesse gebildet; 
im engeren Sinne von den ftir den a capella-Chor ge- 
schriebenen Messen, welche in der grossen Vocalperiod^ 
des sechzehnten Jahrhunderts entstanden sind. Eine durch 
den fortwahrenden Wettbewerb auf engem Gebiete immer 

9* 



-^ 132 ^ 

wieder erg^nzte Reihe grosser Meister, eine Fantasie und 
gestaltende Hand fast ausschliesslich im kirchlichen Dienst 
festhaltende Schulung, eine gluckliche Uebereinstimmung 
im Grundwesen der musikalischen Mittel und der dich- 
terischen Ideen kommen zusammen, um den Werken 
dieser Periode einen Vorsprung zu geben, welcher von 
der spateren Zeit noch nicht wieder hat eingeholt werden 
konnen. Der Kenner dieser Zeit wird einem Bach und 
Beethoven seine Bewunderung nicht versagen; aber er 
wird von ihren Messen immer wieder mit Liebe und 
Sehnsucht zu seinem Palestrina zuriickkehren. Nur in 
dieser Periode erscheint ihm kirchliches und kunstlerisches 
Ideal vollst&ndig sich deckend. Ihre Musik scheint aus 
dem Himmel zu kommen; in den Werken der spfiteren 
Meister drangt sich fiir ihn das Menschliche, der irdische 
Jammer und die irdische Leidenschaft, zu stark vor. 

Die Menge der in jener grossen Vocalperiode ent- 
standenen Messen ist erstaunlich bedeutend. Wir haben 
Anecdoten, welche die Fruchtbarkeit der alten Meister 
auf diesem Gebiete beleuchten, wir sehen sie thatsachlich 
bestatigt, wenn wir in den Bibliotheken Umschau halten 
nach den Notendrucken aus jener Periode. Die Petrucci in 
Venedig, die Petrejus in Numberg, Moderne in Lyon, die 
Druckerpressen in alien L3.ndem waren unablassig be- 
schaftigt, in . gross Folio Stimmbiicher von Messen her- 
zustellen. Daneben her ging aber auch noch das Ab- 
schreiben mit der Feder, das Malen jener fast finger- 
grossen Noten, deren Tintenreichthum im Laufe der 
Zeit nicht selten das Papier zerfressen hat. Die Messe 
gait den Tonsetzern als Hauptziel ihres Ergeizes; die 
Meister ver5ffentUchten die Werke dieser Gattung bande- 
weise, und unternehmende Verleger stellten aus den 
Ban den verschiedener Meister wieder neue als Muster- 
sammlungen her. Wir iibersehen heute den Reichthum 
noch nicht vollstandig; erst eine Durchforschung sammt- 
licher Archive in den Culturlandern kann ein genaues 
statistisches Bild ergeben. Sie sowohl als der weitere 
Theil der Aufgabe: die Uebertragung der alten Vorlagen 



-^ 433 ^ 

aus der Mensuralnote in die neue, aus den Stimmen in 
Partitur, setzt eine Arbeitstheilung nach gemeinsamem 
Plane voraus. Was bis jetzt erreicht worden, danken 
wir dem Vorgehen Einzelner. Es kann aber bei diesem 
Verfahren nicht ausbleiben, dass sich Missstande ergeben. 
Wir haben, um nur ein Beispiel anzufiibren, die herrlicbe 
Messe: »Assumpta est Mariaa von Palesthna, seit 1850 
von drei verschiedenen Herausgebern dreimal neugedruckt. 
Dagegen ist ein Meister wie Clemens non papa, welcher 
in den Mustersammlungen des sechzehnten Jahrhunderts 
eine erste Stelle einnimmt und wegen seiner frischen, 
kecken Tbemen verdient, als Componist von Messen bis- 
her in keiner Sammlung vertreten; ja selbst Ambros 
scheint ihn als solcben nur wenig zu kennen. Nicht besser 
verh&lt es sich mit Morales und anderen Lieblingscom- 
ponisten der alten Sammelwerke von Messen. 

Der gemeinsame Plan wiirde auch die innere Giite 
der Neuausgaben fordern. Nach den Grundsatzen, die 
heute als Richtschnur gelten, wird in der neuen Partitur- 
form manches alte Stiick ganz oder theilweise rhythmisch, 
wenn nicht formell falsch, so doch unpraktisch wieder- 
gegeben. 

Was von alten Messen in neuerer Zeit in Partitur 
tibertragen und veroffentlicht worden ist, geniigt indess, 
um die Entwickelung, die Art und Schonheit der Gattung 
zu zeigen. Den Anstoss fur. diese Neuausgaben haben 
die musikalischen Geschichtsschreiber gegeben: Forkel, 
Burney, Kiesewetter, denen Neuere, wie Ambros und 
Schlecht gefolgt sind. Auch Theoretiker, wie H. Beller- 
mann, schlossen sich dem Vorgang der alteren Fach- 
genossen: Glarean und L. Heyden getreu, dieser Ver- 
offentlichung von Bruchstiicken aus alten Messen an. 
Die Hauptquellen fur das bequeme Studium dieser Werke 
bilden indess die fiir den praktischen Gebrauch ange- 
legten Sammelwerke. England besitzt solche schon seit 
dem vorigen Jahrhundert. Italien, Frankreich, Spanien, 
Holland sind erst in neuerer Zeit gefolgt. In Deutschland 
sind die wichtigsten die von Rochlitz, Braune, Commer 



-•^ 434 ^ 

und Proske. Rochlitz geht in seiner »SammIung vorzlig- 
licher Gesangstucke der anerkannt grossten .... Meister« 
bis auf Dufay zuriick. Leider giebt er vorwiegend nur 
Bruchstucke und diese noch dazu in den meisten Fallen 
ohne Angabe der Werke, zu welchen sie gehdren. Aber 
es gebtihrt ihm das Verdienst, die Bewegung fur die 
praktische Wiedergewinnung der alten Gesangkunst zuerst 
mit Entschiedenheit und sogleich in einem gewissen 
grossen Style eingeleitet zu haben. Braune's »Cacilia«, die 
leider nicht liber einige Jabrg3,nge hinausgekommen ist, 
enthalt Messen von A. Scarlatti, von F. Gasparini und 
von Caldara. Commer pflegt in seiner »Musica sacra« als 
Messencomponist den Orlando di Lasso, neben ihm noch 
den Cordans, Durante, Lotti und Leo ; desselben Heraus- 
gebers Collectio operum musicorum Batavorum bringt 
tiberhaupt keine Messen. Als das weitest angelegte und 
praktisch ntitzUchste und meist benutzte Untemehmen 
der in Rede stehenden Art muss Proske's »Musica diyina« 
bezeichnet werden. Sie vertritt verhaltnissmalssig die 
grosste Anzahl bedeutender Namen mit vollstandigen 
Messen. Die italienische Schule ist allerdings stark be- 
vorzugt, von deutschen Namen ist nur Hassler, von 
Niederlandischen nur Orlando die Lasso aufgenommen. 
In dieser Richtung kann als Erganzung der fiinfte (von 
Kade herausgegebene) Band der Musikgeschichte von Am- 
bros'dienen, welcher zum ersten Male eine Reihe von 
beachtenswerthen Meistem dieser beiden Volker und 
neben ihnen auch Franzosen in wurdiger Weise, auch 
mit ganzen Messen oder mehreren Satzen aus solchen, 
zu Worte kbmmen lasst. Die Messen von Palestrina 
liegen jetzt vollstandig in modemer Partitur vor. Sie 
bilden in der von F. X. Haberl redigirten Gesammt- 
ausgabe der Firma Breitkopf und ^ Hartel i 5 Bande. 
Ihre Gesammtzahl 96 vertheilt sich auf 39 vierstim- 
mige, 31 fiinfstimmige, 22 sechsstimmige und 4 acht- 
stimmige. 

Die Geschichte der Vocalmesse d. h. der fiir unbegleite- 
ten Chor geschriebenen Messe beginnt mit dem funfzehnten 



-<fr 435 ^ 

Jahrhundert. Dufay (der, nachHaberl*} 4 474 gestorben, Dufay, 
also nicht, wie bisher ins H. Jahrhundert zu setzen ist) Ockeghem, 
Ockeghem, Obrecht, die Haupter der Ulteren Niederl&n^ Obreoht, 
dischen Schule, sind ihre ersten Vertreter. Bisher lagen 
von den Arbeiten dieser Tonsetzer in lesbarer Form nur 
wenige BruchstUcke vor, die Rochhtz und andere Sammler 
herausgegeben hatten, und dieses Wenige blieb unbenutzt. 
£s bewies ein starkes poetisches, gem ans Volksttimliche 
ankniipfendes Vermdgen in herzlichen Gesangwendungen, 
aber man stiess sich an die scheinbar leeren und un- 
gelenkten Harmonien. Seit Forkel wurden die Leistungen 
der ersten Niederiandischen Periode in den Handbiichem 
dieMusikgeschichte alsVorstufe derKunst,alsabschrecken- 
des Beispiel einer in blossen Kiinsteleien steckengebliebenen 
Richtung behandelt. Auch die begeisterten Darstellungen, 
in denen Kiesewetter und aein Neffe Ambros fiir die 
Bedeutung dieser Werke eintraten, vermochten das Vor- 
urtheil nicht zu brechen. Selbst Carl Riedel, dessen 
bahnbrechende Verdienste um die Wiedereinftihrung alter 
Werke in die Chorprogramme auch von den beschrank- 
testen Verkleinern nicht aus der Welt geschafift werden 
k5nnen, ging an Dufay und Genossen vorbei. 

Dieses Verhaltniss hat sich seit kurzem geandert. Die 
»Vereeniging voor Nord-Nederlands Muziekgeschiedenis« 
veranstaltete grossere Publicationen von Werken jener 
ersten Meister und ein von Daniel de Lange in Amster- 
dam aus wirklichen Sohsten und KunstsS,ngern gebildeter 
Elitechor trug sie stylgerecht vor. Die Leistungen dieses 
Amsterdamer Kirchenchors haben v/ohl iiberall, wo sie 
in deutschen Stadten gehort wurden, den Schleier wegge- 
zogen und die Niederl&ndische Musik des 1 5. Jahrhunderts 
in ihrem wahren Lichte gezeigt, — in dem Lichte einer vollen 
Kunst, einer Kunst, in der keine Spur von Archaismus, 
von Anfangerschaft, von unfertiger Entwickelung und 



*) F. X. Haberl, Bausteine fur MusikgescMchte, I, Wil- 
helm da Fay. 



-^ 436 ^ 

Experiment zu bemerken ist. Im Gegentheil, diese Werke and 
diese Meister bedeuten, so weit es natiirliche und wirk- 
same Ausnutzung der Menschenstimme, Macht, Freiheit 
und Schonheit der Melodik betrifft, die hdchste Bluthezeit 
der mehrstimmigen Vocalmusik. Nach dieser Richtung 
ist die erste niederl3,ndische Zeit niemals iibertroffen, nur 
hie und da von Einzelnen, wie von Seb. Bach in »Komm 
Jesu, komm« ann&hernd erreicht worden. Dieser ihr 
Vorzug hangt eng zusammen mit der Natur der sogenannten 
»Ch5reff, fiir welche diese Compositionen geschrieben worden 
sind. Componisten wie Dufay, Ockeghem waren Silnger 
in diesen Choren. Fiir Bach'sche Motetten, Beethovensche 
Messen, ftir die Mehrzahl der neueren Chorwerke mochten 
wir unsere starken Dilettantenvereine nicht missen, sie 
sind ausserdem ftir die musikalische Volkserziehung un- 
ersetzlich. Aber wollen wir die a capella-Musik der 
friihesten Perioden nicht bios gelegentlich kosten, sondern 
wirklich wieder aufleben und den musikalischen Geist 
unsrer Zeit von ihr befruchten sehen, so miissen wir 
wieder nach Gh5ren streben, die den Amsterdamer 
Kirchenchor zum Muster haben. 

Von dem heutigen Gebrauchswerth der Werke dieser 
echten NiederlUnder abgesehen, haben sie geschichtlich 
bedeutend gewirkt. Sie beherrschten noch auf hundert Jahre 
hinaus fast ausschliesshch die Gestaltuug des kunst- 
massigen Tonsatzes mit dem Gesetze, welches sie fur die 
Gedankenentwickelung ausgebildet hatten. Dieses Gesetz 
hiess: Einheit in der Mehrheit, Festhalten am gegebenen 
Thema, grUndliche Ausnutzung seiner wesentlichen Ztige. 
Von diesem Gesichtspunkte aus miissen die sogenannten 
Kunsteleien, die ausgekliigelten und getiiftelten Nach- 
ahmungen beurtheilt werden, welche auch in den Messen 
Dufay's, mehr noch der Ockeghem und Obrecht vorkom- 
men. Es scheint zuweilen, als sei es ihnen der hdchste 
Triumph ihrer Kunst gewesen, mit einer einzigen Noten- 
zeile sUmmtliche mit einander singende Stimmen ver- 
sorgen zu konnen. Die erste singt das Thema wie es 
geschrieben steht, die zweite schneller oder langsamer 



-^ 137 ^ 

in einem ganz anderen Rhythmus, eine dritte lasst alle 
Pausen weg, f§,ngt das Thema beim Ende an, die vierte 
kehrt vom Anfang aus alle Intervalle um n. s. w. Zur 
Andeutung dieser Kunstgriffe bildete man ein verwickeltes 
Zeichensystem aus, welches die Notenlehre dieser Zeit 
mit den Schwierigkeiten einer raffinirten Geheimschrift 
umgiebt. Wir haben es bei dieser Satzweise mit einer 
Uebertreibung eines an nnd fiir sich vorzuglichen Princips 
zu thun. Die Auswiichse schwinden im Laufe des sech- 
zehnten Jahrhunderts immer mehr. Aber auf dem Grunde 
des Systems, welchen jene Niederlander des ftinf zehnten 
Jahrhunderts gelegt haben, stehen auch Orlando di Lasso 
und ebenfalls Palestrina. Es ist bekannt genug, dass 
den Messen der hier in Rede stehenden Vocalperiode 
Gesangmelodien zu Grunde gelegt wurden, welche offen 
Oder versteckt alle einzelnen Satze des Werkes durch- 
Ziehen. Diese Merkmelodien — cantus firmus ist ihr 
Name — waren urspriinglich dem gregorianischen Choral 
entnommen. Bald aber trat, bis zum Trienter Concil, 
neben diese Quelle das Volkslied, dessen einfachere 
und bekanntere Weisen den Horern mehr entgegenkamen 
und auch den Sangem die Entzifferung der Notenrftthsel 
erleichterten. Gerade die unscheinbarsten und leichtesten 
Weisen aus der letzteren Classe wurden am h&ufigsten 
benutzt. Ueber das Thema des Liedes: nlhomme arm^« 
^ B I I „ „ I -■ I ' I I ' haben fast alle 

ft- g • *> I " r I ■" I ■" i Q- I ! Componistenihre 
Messe geschrieben; einzelne mehrere. Aehnlich beliebt 
waren auch die sogenannten voces musicales, die sechs 
ersten T6ne unserer heutigen Durtonleiter (das Hexachord) 
als cantus firmus. Von diesem cantus firmus bekamen 
die Messen ihre Namen. In alten Sammlungen sind oft 
nur diese Titeln Si bona suscepimus «, uMortma' priv^« etc. 
angegeben und die Namen der Tonsetzer nicht. Es 
leuchtet ein, wie das Festhalten an einem solchen Grund- 
thema dem einheitlichen Gharakter eines vielslitzigen 
Werkes zu Gute kommen konnte. Die Weise, in welcher 
der cantus firmus in den Messen behandelt wurde, ist 



^ 138 ^ 

ausserordentlich mannigfaltig. In der friiheren Zeit vor- 
wiegend dem Tenor zugewiesen, ruckt er sp&ter auch 
in andere Stimmen vor. Den einen dient der cantus 
firmus nor als mechanischer Anhalt. Die Notenreihe wird 
so ins Breite gezogen, dass von einer melodischen Wirkung 
derselben keine Rede sein kann. Von anderen wird das 
Grundthema geistig ausgenutzt: bald in der Art der 
Bach^schen Choralfigurationen, bald in dem Style unserer 
neuesten Motiventwickelung und thematischen Umge- 
staltung, welcher gerade in den Messen unserer Vocal- 
periode einen bedeutenden VorlS,ufer hat. 

Man trifft da Arbeiten in reicher Anzahl, die den 
Uneingeweihten durch die vollige Uebereinstimmung mit 
der neuesten Instrumentalperiode Beethoven-Liszt in der 
Gedankentechnik iiberraschen. Kaum unterliegt es auch 
dem Zweifel, dass die ganze Satzkunst der spHteren 
Niederlander, vor allem die Sweeli nek's, von instrumen- 
talen Einfliissen mitbeherrscht worden ist. Die in grossen 
und kleinen Ziigen in vielen Werken der ganzen Periode 
hervortretende Glelchgultigkeit gegen Wort und Text, 
die Hinneigung zu compacteren, massigen und derberen 
Wirkungen, das Vordringen des accordischen Elements, 
hUngt mit jenen instrumentalen Einflussen zusammen. 
Die Unterlegung des Textes war Sache der Sanger, denen 
nur der liturgische Anfangswortlaut hingeschrieben wurde. 
Von ihm lenkten sie dann oft in Improvisationen ab, die 
profan und unpassend waren. Dass in das »Gloria« an 
Marientagen eine Stanze an die heihge Jungfrau hinein- 
gesungen wurde, an anderen Heiligenfesten Entsprechen- 
des, erregte kaum Anstoss. Den gewahlten cantus firmus, 
wenn er aus dem Volkslied entnommen war, mit seinen 
eigenen Worten zu geben, war allgemein gebrauchlich: 
Das kommt auch in den friiheren Werken Palestrina's 
noch vor: z. B. in seiner Messe: tEcce sacerdos«. Das 
Wesentliche an der beriibmten Reform der Kirchenmusik 
durch das Trienter Concil war, dass diesem Missbrauch 
bin derTextbehandlung, soweit die Componisten dazu durch 
die Benutzung von Volksliedern Veranlassung gaben. 



-fr 139 *- 

Wandel geschafft wurde. Trotzdem kam die Einmischung 
fremder Worte in den Messtext, wie der Aufbau der 
Satze iiber Volkslieder, auch nachher noch, wie Ambros 
in seiner »Geschichte der Musik« belegt, vereinzelt vor. 

Der contrapunktische Ueberschwang im Satzbatt 
schwand im gleichen Schritte, als die S&tze l&nger und 
voUstimmiger wurden. Die Verwendung einer grosseren 
Stimmenzahl fiihrte zur Gruppenbildung und damit zur 
Verwendung und zur Pflege des harmonischen Klang- 
elementes in der kirchlichen Vocalmusik tiberhaupt und 
in den Messen besonders. Letzteren musste bei der 
Lange des Textes dieses Mittel formeller Belebung be- 
sonders willkommen sein, und es ist in ihnen thatsslchlich 
auch AUes, was der Ghorklang an natiirlichen, sinnlichen 
Reizen hat, zur Bliithe und Entwickelung gebracht worden. 
In der innigsten sachlichen Verbindung mit dem Wesen 
des heiligen Textes wohl von Palestrina, der in dem 
Chorsatz seiner Messen, mit dem Wechsel von hoch und 
tief, von licht und dunkel, von durchsichtig und zusammen- 
gedrangt, die Himmelsbilder wie ein Zauberer verwandelt. 
Nach ihm, und namentlich in der Schule der Venetianer, 
sind die Effecte der wechselnden Chorgruppen zu auf- 
einandergethtirmten ChSren gesteigert und nicht selten 
ausserlich missbraucht worden. 

Auf unseren Chorprogrammen war bisher der alteste 
Meister der Vocalperiode der schon der spateren Nieder- 
landischen Schule angehorige Josquin de Pr6s. Eingefiihrt Josquin de Pr^a. 
hat ihn der Riedel-Verein in Leipzig mit seinem grossen 
»Stabat matera, das in Berlin und Dresden namentlich 
einen grossen Eindruck hinterliess. Ein solcher lasst sich 
auch der Messe »Pange lingua« versprechen, der einzigen 
Messe Josquin's, welche im Neudruck vollstandig vor- 
liegt (Ambros, Gesch,, 5. Bd.). Sie gilt bei Kennern ftir 
eine der bedeutendsten unter den ungefahr zwanzig 
Messen, welche von dem Tonsetzer bekannt geworden 
sind (alte Drucke: Petrucci, Junta, Petrejus) und bringt 
die eigenthtimlichen Ziige des Meisters zu deutlicher An- 
schauung, dessen Kunst Dr. Martin Luther dem Lerchen- 



140 *- 

schlag zu vergleichen pflegte. Es ist eine herzliche Naive- 
tat in dieser Musik, eine Neigung zum Genre und zur 
Naturidylle, die dieser Tonsetzer vor anderen Nieder- 
l^ndern mil den Malem seiner Heimath theilt. Im 
zweiten »Kyrie« und auch im »Gloria« dieser Messe kommen 
wir an Stellen, wo die Musik pl6tzlich, wider den ublichen 
Branch jener Zeit, sich.auf einem freundlichen Motive 
festsetzt und in seligem Behagen die liebe Wendung, 
stehen bleibend, auf- und absteigend, wiederholt. Es 
wirkt wie ein Anklang von Wiegengesang und fernem 
Glockengelaute: Viele wird diese trauliche Einmischung 
einfach menschlicher Poesie riihren und an die vor- 
raphaelischen Maler der heiligen Geschichte erinnern, 
welche gelegentlich dem Christkind droUige und harm- 
lose Kinderstreiche anzudichten pflegen. Dass aber ein 
solcher Abfall vom strengsten Style mit sehr scharfen 

I Augen angesehen und hart verdammt werden kann, hat 

uns ein Blick in den Artikel gelehrt, welchen das eng- 
lische Musiklexikon von Grove tiber »Mass« bringt. Diese 
freundlichen Episoden in den Messen Josquin's sind doch 
etwas ganz anderes als die frohliche Kirchenmusik 

j Haydn's. Dann wirft aber Josquin in den munteren 

Fluss seiner Chorstimmen wieder Satze von einer schauer- 

! lich erhabenen, ruhigen und dunklen Feierlichkeit, wie 

! das »Incarnatus est« im »Credo« von »Pange lingua«. 

I Rochlitz hat dieses bereits seiner obenerw&hnten Samm- 

lung eingefiigt. Dasselbe ist im Zusammenhang zugleich 
ein Beispiel ftir die Meisterschaft, mit welcher Josquin 
die Mittel des Chores zu grossen Wirkungen verwendet. 
Er ist wohl der erste, der von dem System des immer 
gleichstimmigen Satzes sich grunds3.tzlich abwendet. 
Seine zweistimmigen und dreistimmigen Satze sind, wie 
in dem »Agnus« seiner Messe wThomme arm4«*) nicht 



*) In Partitnr veroffentlicht als 6. Bd. der Publicationen 
der Gesellschaft fiir Musikforschung. Das »Agnus del« allein bei 
R. Schlecbt a. a. 0. 



141 -»^ 

immer fonnell voUendet, aber der Eintritt seiner Chor- 
register ist stets sinnreich und wirft schlagende Lichter 
auf den Text. Die Messe »Pange lingua« kann noch dazu 
dienen, das Verfahren in seinen Hauptziigen zu zeigen, 
in welchem die Tonsetzer der grossen Vocalperiode den 
cantus firmus ausnutz- ^ ^-^ '-y^ 

ten. Der Anfang der Ri- \§i g J I J J 'J J i ^^^ ^^ 
tualmelodie der Hymne Pan.fe ta.gn gb-xL. o . s» 

steht am Eingang aller Hauptsatze, melodisch und rhyth- 
misch jedesmal frei behandelt, um von den vier Stimmen 
des Chores in Nachahmungen durchgefuhrt zu werden. 
In einer grossen Reihe von Themen zu NebensStzen 
klingen aber auch die unter a und b eingezeichneten 
Motive an. Der Hymnus giebt somit der ganzen Messe 
ihre bestimmte Signatur. Bis zu welchem Grade geistiger 
Einheit ein genialer Meister alle Theile eines so grossen, 
vielsatzigen Werkes durch die Ausbeutung des cantus 
firmus verbinden kann, das zeigt am vollkommensten 
die schon erwahnte Messe: »Assumpta est Maria « von 
Palestrina. 

Die Praxis der katholischen Kirchenchore, denen der 
Regensburger Domchor das Muster giebt, fusst bei der 
Wahl von Messen auf der »Musica divina« von Proske, in 
welcher natiirlich Orlando di Lasso und Palestrina Orlando di 
den Hauptstamm bilden. Orlando's Werke, unter welchen Lasso, 
die Magnificats und die Busspsalmen die hervorragendsten 
sind, gelten als die Spitzen der niederlandischen Kunst, 
und wenn erst die soeben (ebenfalls von Breitkopf und 
Hartel) in Angriff genommene colossale Gesammtausgabe 
seiner Compositionen vorliegt, wird des Staunens iiber 
die Vielseitigkeit, den Reichthum und die fast schroffe 
Originalitat dieser Kiinstlernatur kein Ende sein. Nament- 
lich in der weltlichen Vocalmusik wird es Ueberraschungen 
genug geben. In seinen Messen jedoch ist er, der tech- 
nisch vielseitig und frei uber die Stylarten aller Schulen 
schaltet, geistig ausserordentlich ungleich. Der Hang 
zum Naiven, welchen er mit seinem Landsmann Josquin 
theilt, artet bier oft zur Bequemlichkeit aus. Wenn wir 



-^ 142 

im Allgemeinen mit der Thatsache zu rechnen haben, 
dass unter den Meisterwerken der Vocalperiode, besonders 
unter den Messen, auch viele handwerksmftssige Arbeiten 
unterlaufen, so bleibt uns diese Erfahrung auch in den 
Messen Orlando*s nicht erspart. £r pflegt allzuh&ufig 
den tr&gen Styl der sogenannten »missae familiaresa, nnd 
auf solche Unterlagen gestiitzt, mag Baini, Palestrina's 
Biography dazu gekommen sein, den genialen Orlando als 
»arm an schonen Gedanken, ohne Seele, ohne Feuer« 
abzuthun. Seine vierstimmige Messe octavi toni (im 4 . Bd. 
d. »M. d.«) ist in ihren ersten drei SS.tzen ein solcher 
durftiger Misswachs: kunstlos in der Form^ leblos: alle 
vier Stimmen immer Note gegen Note hindeclamirt, im 
Ausdruck auf das Allernothwendigste beschrankt, nur 
hier und da an Stellen wie »Domine Jesu Christe« und 
»et homo f actus est« von dem Blitze einer grossen Fan- 
tasie durchleuchtct. Erst von dem »Sanctus« an, in wel- 
chem die Stimmen auf Senfl'schen Leitem neben ein- 
ander hinauf- und hinuntergleiten, verrfith dieses Werk 
seinen Meister. Bedeutender ist die Messe fiber »Puisque 
j*ai perdu ", und das bedeutendste Sttick, welches die 
Proske'sche Sammlung von Messen Orlando's bringt, die 
liber das Thema : » Qual donna attende etc. « (5 st.). Aus den 
von Commer veroffentlichten Messen Orlando's werden 
ungef&hr sechs regelmassiger gesungen, an erster Stelle : 
»Credidi«, «Doulce memoir «, »I1 me suffiU, »Je ne mangea. 
0. F. da Pale- Unter G. P. da Palestrina's Messen, von denen (nach 
strina. Baini's Angabe) zu Lebzeiten des Componisten 1 3 Blicher 
in Stimmb§.nden gedruckt erschienen, zwei ungedruckt 
blieben, nimmt die wiederholt erw^hnte Messe »Assumpta 
est Maria « die erste Stelle ein. Diese herrliche, von 
RaphaePscher Milde, Lieblichkeit und Klarheit erfiillte 
Composition vereinigt stylistische Vorziige — Baini, der 
das Schaffen P.'s in nicht weniger als 10 Stylperioden 
zerlegt, weist die »Assumpta est« der achten zu — ver- 
schiedener Meisterwerke P.'s in sich: die Lebendigkeit 
des Ausdrucks, welche das »Hohelieda auszeichnet, und die 
Grossartigkeit und Einfachheit der Farbengebung, welche 



L 



U3 *- 

der beriihmten Preismesse »Papae Marcelli« eigen ist. 
Baini, der langjahrige Director der papstlichen Capelle, 
theilt mit, wie das Werk, welches bei Maria Himmelfahrt 
4 585 zum ersten Male zum Gehor. kam, allemal, so oft 
er es bei dem gleichen Feste selbst wieder zur Aufftth- 
rung brachte, unter ununterrichteten Zuhorem die Nach- 
frage nach dem Componisten rege machte. Es bleibt 
immer unverwiistlich frisch und neu. Eineu Theil dieser 
unversieglichen Jugendkraft dankt es dem eignen musi- 
kalischen Grundgehalt seiner Leitmelodie, der sch5nen 
lebendigen Antiphone: »Assumpta esta, derselben Melodie, 
welche wahrscheinlich auch Mendelssohn vorgeschwebt 
hat, als er die anmnthige Motette: »Laudate pueri« ftir 
die Nonnen zu St. Trinity de' Monti schrieb. Neben 
dieser Messe stehen als gleichberiihmt und durch die 
Bewunderung der Zeitgenossen ausgezeichnet die Missa 
»Papae Marcelli« vom Jahre 1565, die Missa « super voces 
musicales« vom Jahre 1 562 und »Ecce Johannes« (zwischen 
1585 und 4 590 entstanden). Die Missa »Papae Marcellir^, 
die dritte von drei Werken, welche Palestrina auf Ver- 
anlassung der zur Abstellung von Missbrauchen in der 
Kirchenmusik vom Trienter Concil eingesetzten Com- 
mission verfasste, geh5rt in ihrem Gedankenfluge zu 
den bescheideneren Messen des Tonsetzers. Mit Aus- 
nahme des »Kyrie«, welches in klarer Weise dem nach- 
ahmenden Styl der Niederlander folgt, wiegt in ihren 
sammtlichen Satzen eine ahnlich einfach declamatorische 
Behandlung der Worte vor, wie wir sie in einem anderen, 
wohl dem bekanntesten Hauptwerke des Meisters finden : 
seinem »Stabat materc. Nur die mit wenigen Stimmen be- 
setzten kiirzeren Zwischensatze (»Crucifixus« und »Benedic- 
tus«) greifen melodisch weiter aus. Aber diese thematische 
Zurlickhaltung Iglsst das neue stylistische Mittel, welches 
Palestrina in dieser Messe zum ersten Male mit prin- 
cipieller Entschiedenheit angewendet, um so wirksamer 
und machtiger hervortreten : den Klangwechsel und die 
Gruppirung der sechs Chorstimmen. Durch sie erhalten 
die Tonbilder der Messe eine Scharfe des Umrisses, wie sie 



kaum Yorher gekannt war: die Deutlichkeit, mitwelcher 
die Worte in dem einfach declamirenden Style hdrbar 
waren, liess den Messtext selbst eindringlicher als je zrnn 
Gemiith dringen und rnngab das ganze Werk mit dem 
Schimmer eines feierlichen Emstes. Die Gruppirung der 
Stimmen jfu antiphonirenden Theilchoren war vor der 
Missa Marcelli sowohl von anderen Tonsetzern als auch 
von Palestrina selbst schon, wenn auch nicht in diesem 
Grade verwendet worden. In der Missa » super voces 
musicalesc, die den Improperien vom Jahre 4560 als das 
zeitlich nachste Hauptwerk folgte, ist es ein Chor von 
vier hohen Stimmen im nCrucifixus's der mit seinem sera- 
phischen Klang das Entziicken des Papstes und der Car- 
dinslle bildete. Dieses »Crucifixusff, neben welchem die 
anderen SMze mit bedeutenden Gedanken und mannig- 
faltiger sinnlicher Wirkung als gleich fesselnd stehen, 
war die Hauptveranlassung mit, dass Palestrina von der 
• oben erwahnten Commission zu dem wichtigen Auftrage 
auserlesen wurde. Als gleichbedeutend mit diesen ge- 
nannten Hauptmessen P.'s ist vor Allem noch die Messe 
wl'homme arm6« aus der Ausgabe von 4 570, welche Ha- 
berl im zwolften Band der Gesammtausgabe der Werke 
Palestrina's bringt, zu nennen. Bedeutend sind wohl alle 
Messen dieses Meisters: eine Fiille heiliger Klange, das 
hochste Ideal kirchlicher Tonkunst! Die Zahl der von 
ihm heute in den katholischen Kirchenchoren gesungenen 
Messen ist verhaltnissmassig bedeutend. Es sind ausser 
den von Proske gebrachten, folgende: »Tu es Petrus«, 
»Ecce ego Joannes«, »Alma redemptoris«, »Viri Galilaei«, 
»0 magnum mysterium«, »0 admirabile commercium«, 
»0 sacrum convivium«, »Beatus Laurentius», femer die 
durch die abfftUige Kritik Sixtus' V. bedeutungsvoll ge- 
wordene »Tu es pastor ovium«, sowie die zwei vier- 
stimmigen Messen »sine nomine « und »Quem dicunt ho- 
mines «. 

Von den Componisten, die in die spatere Zeit ge- 

horen, ist im Proske und in dem Repertoir der Kirchen- 

L. Vittoria. chore hervorragend L. Vittoria vertreten. Von den in 



-^ 145 



die »Musica divina« aufgenommenen Messen dieses ernsten 
Meisters ist die sechsstimmige »Vidi speciosam« die be- 
deutendste, eines der klangvollsten Werke des Palestrina- 
styls, melodisch etwas sprode, aber durch die Lebendig- 
keit und Kraft der harmonischen Declamation und des 
Registerwechsels im Chor sich tief eindriickend. Eine 
besondere Hoheit liegt fiber dem >»Sanctus«*). Eine der 
schonsten, kvinstreichsten Nummern ist die Messe »super 
voces musicales« des im vorhergehenden Capitel als Pas- 
sionscomponist erwahnten Fr. Suriano. Als Beispiel 
dessen, was sich auf einem technisch so schwierigen 
Grunde an eigenthiimlicher Poesie entwickeln lasst, sind 
besonders das »Sanctus« und noch mehr der mit dem 
Motto: uJustitia et pax osculatae sunt« bezeichnete, in 
Gegenbewegung gehaltene Canon des »Agnus« beachtens- 
werth. Eine fiir die Zeit der Entstehung ganz seltene 
Kuhnheit bringt der Schluss des »Gloria« in dem gegen die 
Fdur- und Ddur-Harmonie anliegenden g des \. Soprans. 
F. Anerio, der Nachfolger Palestrina's im Amte, ist mit 
einer Messe »sine nomine^ vertreten, welche im Style der 
friihromischen Schule gehalten ist. Eins der interessan- 
testen Werke, mit welchen unser Landsmann H. L. 
Hassler eingefiihrt wird**), ist die achtstimmige Messe 
iiber folgen- ^ — ^ 

des Grund- . iji «« " " [f T f P f |f f f ^ . 
thema: 

In ihr tritt besonders das »Qui tollis« (im » Gloria «) und 
das »Et ex patre natum« (im »Gredo«) durch die in Messen 
hochst seltene Anwendung des psalmodirenden Styls 
hervor. Als regelndes Princip der Gestaltung erscheint 
in dem Werke der Wechsel der Chore 5 welcher in der 
venetianischen Schule, in der Hassler gebildet wurde, 
seit Willaert iiblich war. Lange Zeit ging er auch hier 
als gleichberechtigt neben den Nachahmungen Stimme 

*) Eine grossere Anzahl von Messen V.'s bringt Eslava*s 
Sammlung spanischer Tonsetzer (Lira .... Madrid 1869). 

**) Andere Messen H.'s gaben F. Witt und Schrems heraus. 

II, 1. VO 



F« Sarlano. 



F. Anerio. 



L. Hassler. 



U6 



A. Oabrieli. 
0. Oabrieli. 



0. idenoToli. 



A. Lotti. 



fiir Stimme einher, wie an den kurzen Messen des A. 
Gahrieli und Anderer zu ersehen. Erst vom Nefifen 
des Letztgenannten ab, von Giov. Gabrieli, begann er 
bevorzugt zu werden und die Schreibart so lippig zu 
beberrschen, wie wir an den von Rochlitz und anderen 
neueren Herausgebern mitgetheilten Messenbruchstiicken 
des 0. Benevoli und seiner Nachfolger bemerken k5nnen. 
Eines besonderen Beifalls und Eifers erfreute sich die 
Vielstimmigkeit der Messen und anderer grossen Kirchen- 
stiicke in England, wo ahnlicb wie in Venedig reiche 
Geldmittel zur Besetzung solcher Foliochore vorhanden 
waren. In diesen Werken liegen Aufgaben fiir unsere 
vielhundertk5pfigen Singakademien ! 

Die Stimmenvermehrung selbst in den Ubertriebenen 
Fallen vertrug sich noch mit dem Wesen der kirchlichen 
Musik, wie es in den Werken Palestrina*s niedergelegt 
ist. Bedenkliche Stosse erhielt dasselbe erst mit dem Ein- 
dringen der neuen Musikformen, welche aus der Monodie 
und der Oper am Beginn des il. Jahrhunderts heriiber- 
kamen. Mit ibnen zog auch der dramatische Geist in die 
Messe ein und drangte die Fantasie der Componisten 
von der Grundlinie frommer verklarter Andacht nach 
recbts und links ab : Auf der einen Seite zu einer bis zum 
Erschrecken aufgeregten Wiedergabe der Textstellen, auf 
der anderen zu einer bis ans SelbstgefUllige streifenden 
Ausbreitung der subjectiven Gefiihls- und Empfindungs- 
kraft. Als Beispiel fiir die erste Classe kircblich unge- 
rathener Musik kann das bekannte sechsstimmige »Cruci- 
fixus« von A. Lotti mit dem anfangenden verminderten 
Septimenaccord gelten. Dieser Tonsetzer, welcher aucb 
Messen im alten, den Niederlandem gleichenden Style 
geschrieben, hat die dramatische Kraft, mit welcher die 
ersten Tacte dieses »Crucifixus« das Bild einer unter dem 
Eintreffen einer Schreckensnachricht aufschreienden Menge 
wiedergeben, in keiner seiner Opern auch nur annahemd 
erreicht. An sich ist diese Stelle und das ganze Stiick 
als plastisches Tonbild ein Treflfer ersten Ranges; als 
Theil eines »Credo« und im kirchlichen Zusammenhang so 



L 



-fr 147 *- 

passend, wie ein Pistolenschussvon der Kanzel. Fiir die 
zweite, die im empfindsamen Gebiete sich ausbreitende 
Classe von Messen, bieten die Tonsetzer der neapolita- 
nischen Schule von Durante und Leo ab zahlreiche 
Beispiele. Ihre Schule gab sich den Einfliissen des Musik- 
dramas auch nach anderen Richtungen zremhch unbe- 
schr&nkt bin und schrieb Messs&tze, in denen an Stelle 
des kirehlichen Geistes der Cultus der Melodic und des 
reinen &usserlichen Tonvergnugens getreten ist. Die In- 
strumentalbegleitung , welche vom 47. Jahrhundert ab in 
alien Landern auch Mr die kirehlichen Werke Platz griff, 
tr&gt hieran nicht die Hauptschuld. Denn in diesen be- 
gleiteten Messen stehen verfehlte und gelungene Satze 
neben einander, wie in den S&tzen, die Rochlitz aus 
diesem Componistenkreise mittheilt, zu ersehen. Neben 
dem neuen Style pflegten die neapolitanischen und 
venetianischen Tonsetzer des 4 7. Jahrhunderts die alte 
a-capella-Messe nur noch spSlrlich weiter; einzelne mit 
Gliick, wie A. Scarlatti. Doch ist von den Werken 
dieser Art nur wenig neu veroffentlicht worden*). 

Die Bestrebungen fiir die Wiederbelebung des echt 
kirehlichen Styls in der Musik, welche gegenw&rtig ihren 
5ffentlichen Ausdruck in dem CUcilienverein finden, sind 
zunachst darauf gerichtet, den Kirchench5ren die Meister- 
werke des 16. Jahrhunderts allein wieder zug^nglich zu 
machen, und diese Bestrebungen sind vom Gluck be- 
gleitet gewesen. Auch ffir die geistlichen Concerte unserer 
Chorvereine ist hierdurch eine Reihe schSner TonsMze 
wiedergewonnen worden. Die Aufftihrung ganzer Messen 
aus dem 4 6. Jahrhundert ist allerdings in Concerten nicht 
iiblich und wohl auch nur ausnahmsweise zu erwarten. 



*) Dor Schnle nach gehort die (bei Peters gedruckte) 
bekannte nMlssa oanonica« (& 4 vocl) Ton J. J. Fux in diese 
Oroppe. Sie ist neuerdings auch in den nDenkm^lern der Ton- 
kanst in Oesteneicha (I. Bd.) yeroffentlicht worden. Derselbe 
Band bringt noch eine zweite a capella-Messe von Fux; »Qaadra- 
ge8ima1is« ist sie betitelt. 

4 0* 



-^ 148 ♦» 

Die Hindernisse liegen theils in dem liturgischen Grund- 
chaxakter der Messen, theils in dem augenblicklichen 
Zustande unserer Chorvereine. Aber Bruchstticke alter 
Messen finden wir in den Kirchenconcerten der besseren 
Vereine haufig. Voranzustellen und zum Studium zu 
empfehlen sind in dieser Hinsicht die Programme des 
Riedel-Vereins in Leipzig. Auch das Repertoir der Sing- 
akademie in Berlin und das des C^lcilienvereins in Frank- 
furt a. M. zeigt in den friiheren Jahrgangen manchen 
Satz aus Messen der grossen Vocalperiode. Unsere 
MUnnergesangvereine finden in Palestrina namentlich 
manche schone Nummer fiir kirchliche Auffiihrungen : 
Wir nennen das »Pleni sunt coeli« fiir drei Stimmen, 
welches die Rochlitz'sche Sammlung im zweiten Buche 
mittheilt, ferner aus der Ausgabe Haberrs: die gleichen 
Satze in den Messen »Ecce sacerdos«, »Virtute magna", 
»Ad coenam agni«, »Ad fugamo, die GrucifixussStze, 
ebenfalls dreistimmig aus uO regem coeli« und »Spem 
in aliumff, das »Benedictusa aus der »Missa de feria^. 
Proske hat ein dreistimmiges »Benedictus« fiir Manner- 
stimmen in Palestrina's »Iste confessor^. Ein Theil dieser 
kurzen, gut gesungen wunderschSn wirkenden Satze muss 
allerdings tiefer transponirt werden, als sie die genannten 
Ausgaben mittheilen. In den neugedruckten Messen von- 
Josquin, Brumel, auch von Orlando di Lasso finden sich 
auch zweistimmige Satze fiir Mannerstimmen, sogenannte 
bicinia, die jedoch nur bei sehr durchdachtem Vortrag 
wirken. Eine vollstandige Messe fiir Mannerstimmen 
von G. B. Martini hat Commer herausgegeben. Der zweite 
Band seiner »Musica sacra* bringt Bruchstiicke fiir Manner- 
chor aus Messen. Die bekannte Sammlung J. Meier's, 
enthalt nur arrangirte Satze. 

Auch in der Zeit, welcher wir am Eingang dieses 
Abschnitts gedachten, der Zeit, wo die Messen zuerst ins 
Concert iibergefiihrt wurden, nahm man von der Vocal- 
messe Abstand, schon darum, weil sie damals noch 
weniger bekannt war als heute. Die Instrumentalmesse 
war vorwiegend durch die Werke solcher zeitgenossischer 



-^ 149 ^ 

Componisten vertreten, welche zum Theil iiberhaupt nur 
eine lokale Bedeutung besessen haben, zum Theil eine 
weitere, sofern sie ihnen zukam, heute wieder verloren 
haben. Die Tonsetzer der ersteren Classe wiegen nament- 
lich in den Auffuhrungen der alten Wiener Concerts spi- 
rituels vor, derjenigen Gesellschaft , welche, von alien 
bekannten, den grSssten Vorrath von Messen verbraucht 
hat. Dasjenige Werk, welches in unseren Concerten als 
das erste die Periode der Instrumentalmesse vertritt, ragt 
zagleich tkber die ganze Gattung als ein anvergleichlicher 
und wundervoller Baa hinweg. £s ist die »Hohe Messe« 
von Seb. Bach. 

In der Hauptsache h^lt sich auch die Bach'sche &• Bach, 
HmoU- Oder Hohe Messe an die bekannten fttnf Ab- Hmoii-MesBe. 
theilungen, an das sogenannle Ordinarium des Hochamtes. 
Was sie aber von alien bekannten Compositionen des 
nralten Kirchentextes unterscheidet, das ist die colossale 
Breite in der Anlage fast aller Abtheilungen, welche mit 
den in der Vocalmesse iiblichen Maassen jeden Vergleich 
ausschliesst und auch Alles das weit hinter sich lasst, 
was die sich schon mehr ausbreitenden neapolitanischen 
Vertreter der Instrumentalmesse geboten haben. An die 
praktische Verwendung bei der Liturgie, welche die 
Letzteren doch immer im Auge batten, ist bei dieser 
Hmoll-Messe gar nicht zu denken. Eine oder zwei ihrer 
Abtheilungen an einem Sonntage, wie sie Bach that- 
sS,chlich auch in Leipzig zu Gehor brachte, nehmen die 
musikahsche Tragf3,higkeit eines Gottesdienstes schon 
voUstandig in Anspruch. Die Form, welche Bach bei der 
Composition der einzelnen Satze dieser Messe zu Grunde 
legte, war die ihm gelS.ufige der aus Solo- und Chor- 
gesangen zusammengesetzten Cantate. Aber jede der 
einzelnen Abtheilungen wurde ihm zu einer Cantate im 
Riesenformate. Das »GloriaA und «Credo« mit ihren Je acht 
Nummerniibersteigen alle bekannten CantatenverhSltnisse. 
Ganz kurze Textgruppen, oft blosse NebensStze, sind^hier 
zu selbst&ndigen und abgeschlossenen Tonbildern ent- 
wickelt: zu Sologesangen in ausgefiihrter Arienform oder 



_j 



150 

zu Choren, die ihre Themata wiederholt durchfugiren. 
In keinem anderen Werke hat Bach wieder so sich selbst 
zur Lust, aller praktischen Rticksichten ledig, fUr die 
Kirche componirt: In der Erschopfung der musikalischen 
Grundgedanken kann er sich zuweilen gar nicht Geniige 
thun. Wenn wir glauben, nun sei er der ganzen Aus- 
drucksf&higkeit der Worte bis in ihre letzten Spitzen und 
Tiefen nachgegangen, da nimmt er sie frisch weg von 
einer anderen Seite und entwirft ein neues, ergM,nzendes 
und packendes Bild, welches in der Kegel als ein Meister- 
sttick von Fantasie und Kunst den ersten Eindruck noch 
tiberbietet. 

Die naheliegende Vermuthung, dass Bach mit dieser 
Messe etwas Ausserordentliches babe leisten wollen, wird 
durch ihre Entstehungsgeschichte bestd,tigt. Er schrieb 
das »Kyrie« und »Gloria«, die zu Bach's Zeiten, wie an ein- 
zelnen Orten noch heute, auch in der protest antischen 
Liturgie Sachsens, als sogenannte Missa brevis h§,ufigere 
Verwendung fanden, fur die Capelle in Dresden und tiber- 
reichte sie dem Churfursten mit der Bitte, ihm, der »in 
Leipzig beim Directorium der Musik ein und andere Be- 
krankung empfinden mussen« — wie es im Dedications- 
schreiben heisst — »ein Pradicat von Dero Hofcapelle 
conferiren zu woUeno. Dies war im Jahre 4733, das 
»Pradicata eines Hofcompositeurs liess n)och lange auf 
sich warten. Bis 4738 wurden dann die anderen Satze 
vollendet und, mit Ausnahme des »Agnus Dei«, in dem 
grandiosen Style der ersten beiden Abtheilungen weiter- 
gefiihrt. 

Neben der breiten Anlage, welche die Hmoll-Messe 
ganz ungewohnlich erscheinen lasst, ist es eine zweite 
Eigenschaft, welche die Hmoll-Messe so bedeutend und 
ergreifend macht. Das ist die eindringliche und anschau- 
liche Beredtsamkeit ihrer Tonsprache, welche in erster 
Linie auf der gliicklichen Gestaltung der Grundthemen 
der Satze beruht. Auch wer vom Texte keine Notiz 
nimmt, kann nicht missverstehen, was die Seufzerketten 
des ersten »Kyrie«, was der friedliche und kindliche Weih- 



nachtston des »Et in terra pax «, was der Jabel des 
» Gloria «, des »cuin sancto spiritu*, des •£! resurrexit«, 
des zweiten »Et vitam venturi saeculi« und des »PIeni 
sunt coeli« sagen woUen. Das sind MusikstUcke, welche 
bei all ihrer kanstreichen Ausfiihrung einen vollst&ndig 
volksthumlichen Zuschnitt besitzen, und in Orten, wo, 
wie in Leipzig, die Hmoll-Messe eingedrungen ist, haben 
diese Chore auch ihre populftre Kraft drastisch bewiesen. 
Aber auch die Arien mit ihren breiten, herzlichen und 
naiven Melodien theilen diesen Zug edler Gemeinver- 
st&ndlichkeit, und wenn er an ihnen schwerer heraus- 
gefunden wird, so liegt das an verschiedenen Ursachen, 
fiir welche Bach nicht haftbar ist. Wir wollen nur im 
Vorbeigehen auf die platten und miserablen Bearbeitungen 
hindeuten, in welchen die vorhandenen Clavierauszlige 
der Hmoll-Messe die von Bach nur skizzirte Begleitung 
der bekannten Arien: »Benedictus« und >» Agnus Deia 
wiedergeben. Sogar an durchaus falschen Harmonien 
fehlt es da nicht. 

Der hassliche Begriff der -gelehrten Musik« — wenn 
tiberhaupt jemals bei Bach zutreffend — ist auf diese 
Hohe Messe nirgends anzuwenden. Wohl aber verlangt 
das Werk, wie alle Musik, in der grosse Strecken aus 
demselben Grundgedanken entwickelt sind, eine gewisse 
Fertigkeit im H6ren. Doch beschrfinkt sich diese Fertig- 
keit auf ein Geringes: darauf, dass man ein Thema 
merken und verfolgen kann, und diese Aufgabe wird 
durch den packenden und verstslndlichen Charakter der 
Themen selbst wesentlich erleichtert. 

Den Zusammenhang und die Einheitlichkeit der 
2i Nummern, -in die wir die Hmoll-Messe theilen, hat 
Bach im Sinn und Branch seiner Zeit nicht ausserlich 
markirt, etwa so wie es die Meister der Vocalperiode 
mit dem durchgehenden Gantus firmus, neuere Tonsetzer 
durch An wen dung von Leitmotiven versucht haben. War 
aber dem Gedankengang genauer folgt, wird das Band, 
das sich durch das Innere der Satze durchzieht, wohl 
finden. 



152 



Die erste Abtheilung, das »Kyrie«, besteht aus drei 
Nummern, ven denen die erste und dritte Chorfugen sind 
tiber den Text: »Kyrie eleison«. Vor dem Anfang des ersten 
Cbors stehen vier Tacte Adagio: eine lapidare Ueber- 
schrift, aus welcher der Hiilferuf zum Herrn wie der Noth- 
schrei eines schwerbelasteten Volkes klingt. Dann beginnt 
zun&chst im Orchester das sprechende Thema: 

Larg'o ed Wpoco piano. 




eine Klagescene einzuleiten, wie sie in der gesammten 
musikalischen Litteratur in gleich gewaltiger Anlage wohl 
nur noch einmal und da xn anderen Formen vorkommt, 
namlich: im Eingang von H^ndePs »Israelc. Was das 
Bach'sche Bild schwerster Seelenbetrubniss so eigen- 
thiimlich macht, das ist der durchaus active Zug, in der 
sie der Gomponist aufgefasst und dargestellt hat: das 
miihsame und verzweifelte Ringen und Aufraffen, welches 
die in kleinen chromatischen Schritten aufsteigenden und 
mit den Seufzern der Oboenarie der Matthauspassion 
zuriickfallenden Urmotive des Themas schon andeuten. 
Dieses Verhaltniss wiederholen die Satzgruppen der rie- 
sigen Fuge nur in grosseren Proportionen. Der unauf- 
haltsame Zug, mit dem die Klage zum Ausdruck dringt, 
findet erst nach einer doppelten Durchfiihrung des Themas 
in den fiinf Stimmen seinen Halt in einem grossen Cis- 
moU-Schluss. Er fiihrt zu einer in der Stimmung heller 
beginnenden » ^ -^ die jedoch schon 

Episode iiber wh p ij J) T [ J I ^iJ ^ bald wieder, nach 
das Thema : t . w . . . .. Mn, einer aufregenden 

Begegnung mit dem chromatischen Motiv des Hauptthemas, 
in das letztere zuriicklenkt. Mit Tonen der Resignation 
endet der Satz. Der zweite Chor der ersten Abtheilung 
liber denselben Text »Kyrie eleison« und iiber das Thema : 

Andante. 




153 



klingt trotz der kleinlauten verminderten Terz im Einsatz 
doch ruhiger und gefasster und wirft namentlich an den 
Stellen, wo ♦---->./- -c — *v^ dieFiihrung 

dasNeben- m& ^ T | *0 T I" l'^^^ f I f = hat, einige 
thema: Ky.ri.*. • . m . .ma, hoffnungs- 

voUere Blicke in die Zukunft. Die Vermittelung zwischen 
den beiden Choren biidet das »Christe eleison«, ein Duett 
zwischen Sopran und Alt, dem Bach den zutraulichen, 
der ErhSrung gewissen Ton gegeben hat, in welchem 
Kinder sich von einem lieben Freunde etwas Besonderes 
erbitten. Von hervorragender SchSnheit ist in dieser 
Nummer auch die lange Melodie, welche Bach den ein- 
leitenden und zwischen spielenden Violinen (I und II im 
unisono) gegeben hat. 

Das »Gloriaa hat acht Nummern. Die erste ist einer 
der freudevollsten Chore, die wir haben. Er beginnt unter 
Trompetengeschmetter, wie eine schwung voile Volksscene 
liber das Thema: 

Vivace. 



({""LJTfrrr^^^'^^^^^'^''^^^^^'^^''' 



rfff ff 'f I B welches Bach auch in anderen Werken, 
•=■■■■■■■■ " z. B. im »Gloria« seiner kleinen Fdur-Messe, 
anklingen lasst. Der Chor endigt mit einer Doppelfuge, in 
welcher das beschauliche, friedlich dahingleitende , bei 

seinem ersten ADeg^ro modento. unddasauf- 

Einsatz unend- ^ ^^ t-^^ j- pf l^fj ff ^= jauchzende 
lich riihrende: 




sinnreich und wirkuftgsvoll in einander gewoben sind. 
Darauf folgt in einer Sopranarie das »Laudamus te« — 
eine musikalische Naturstudie, zu welcher Vogelgesang 
das Modell gegeben zu haben scheint. Nach einer Richtung 
kann sie als Typus fiir die meisten Sologesange der H ihoU- 
Messe dienen. Sie haben in derMehrzahl etwas Idylhsches 



I 



-^ 154 ^- 

und erscheinen den Choren gegeniiber, zwischen welche 
sie gesetzt sind, in einem Verhftltnisse, wie die freund- 
lichen Thaler im Hochgebirge. Der an die Arie an- 
kniipfende Chor: uGratias agimusn weicht von dem Style, 
in welchem diese Worte in der Instrumentalmesse pflegen 
wiedergegeben zu werden, merkbar ab. Von den Zeit- 
genossen leicht und anmuthig behandelt, trftgt der Satz 
bei Bach einen zuruckhaltenderen, ernsteren Charakter 
frommer Demuth. Wir haben Anzeichen daftir, dass gerade 
dieses Stiick, welches auch die H moll-Messe auf die Worte 
des »Dona nobis pacem« abschliesst, dem Componisten be- 
sonders lieb war. Die vierte Nummer des »Gloria<( ist das 
Duett : (Sopran und Tenor) uDomine, rex coelestis, domine, 
fili unigenite!« Ein lieb- Ap^ante^ 

Uches Flotensolo mit dem J < F^Tf^f "^l^ f} f} f} \f'^ _ 
bedeutungsvollen Motiv: V * i*i=fc=s6iB-kil«-'-l r~ 

einsetzend, fiihrt den Chor der Instrumente; die Sing- 

stimmen tragen dicht hintereinander dieselbe Melodie (im 

Canon) vor. Der Begriff der Einheit von Gott Vater und 

Gott Sohn, den die Worte »fili unigenite« enthalten, hat 

ersichtlich zu dieser Form des Gesangsatzes die Veran- 

lassung gegeben. Von Kennern ist es bereits haufig be- 

merkt worden, dass gerade die H moll-Messe von Bach 

an ahnlichen Ztigen musikalischer Symbolik reich ist. 

Einen der sch^rfsten bringt das »Credo« in dem Duett: 

»Et in unum«. Der hier im i>Gloria« zur Rede stehende 

Zweigesang: »Domine, rex etc.« besteht im Text nur aus 

Titulaturen. Zum Satze ergftnzt werden sie erst durch 

den unmittelbar anschliessenden Chor: »Qui toUis peccata 

mundi«, welcher, in tiefer Ergriffenheit liber den Ver- 

sohnungstod Christi, die Bitte um Erbarmen ausspricht. 

Die nicht von Bach herruhrende, aus praktischen Griinden 

aber kaum zu entbehrende Nummerirung der einzelnen 

Chore und Sologesslnge der Messe darf namentlich an dieser 

Stelle nicht dazu verfiihren, durch Pausen zu trennen, 

was zusammengehort. Das Duett: »Domine« (No. 7) 

wird erst durch den Chor »Qui tollis« (No. 8) zu einem 

Ganzen. Die Altarie: »Qui sedes ad dexteram Patris« und 



-^ 155 ♦- 

die Bassarie: »Quoniama setzen die Darstellung desWesens 
Christi fort. Die erstere, im Klange durch die obligate Oboe 
besonders gezeichnet, legt den Nachdruck mehr auf eine 
rastig freudige Schilderung der Wiirde des zur Rechten des 
Vaters sitzenden Christus, als auf die Bitte. Das »Miserere 
nobis« wird mehr nebens&chlich behandelt. In der Bass- 
arie, welcher Bach durch das durchgefiihrte Hornsolo und 
die mitgehenden obligaten Fagotte ebenfalls einen eigen- 
thiimlichen Beiklang gegeben hat, ist ein stolzerZug unver- 
kennbar. Sie ist das feierlichere Seitenstiick zu der be- 
kannten Arie des Weihnachtsoratoriums: » Grosser Herr 
und starker Konig«, setzt aber fUr ihre Wirkung noch 
entschiedener als diese eine schwere, in der Mittellage 
namentlich m^chtige und voile Bassstimme voraus. Auch 
das Accompagnement der Blasinstrumente macht diese 
Arie zu einem Sttick schwerer Sorge fiir den Dirigenten. 
Ohne eine gute erganzende Orgelstimme wird es immer 
befremdend, unverstandhch bleiben. Wer den Charakter 
der Musik in den drei letztgenannten Satzen auf sein Ver- 
haitniss zu den Textworten priift, wird mit Bewunderung 
gewahren, wie diese Nummern doch und mit grosster 
Feinheit in dem Hinblick auf den Zusammenhang unter- 
einander und als Theile einer grosseren Gruppe von 
Satzen entworfen sind. Das schliessende Glied bringt 
Gipfel und Krone. Diesen Abschluss der Gruppe und zu- 
gleich auch des ganzen »Gloria« bildet der fiinfstimmige Chor : 
)iCum sancto spiritu", einer der machtig'sten und schwung- 
vollsten Satze der ganzen Messe: jauchzend, lachend und 
zugleich erhaben ; iiberaus kunstvoll und doch auch vollig 
gemeinverstandlich und fortreissend. Nach einer pralu- 
direnden, die sp&teren Hauptmotive, jetzt aus dem Granit 
sqjrwerer Accordmassen, jetzt aus den machtigen Fluthen 
mehrstimmiger Figuren auftauchen lassenden Einleitung, 
lenkt der Satz mit dem Einsatz der Tenore 






Com san.eto ipi - . ri . tn Ja glo . 



156 




P in die Form der Fuge ein. 
ri-i ieA Fk.trU, A . umbi Er wahrt aber innerhalb 
derselben die Freiheit in ganz ausserordentlicher Weise. 
Wenn das Motiv a iiber die Tonmassen hinwegjauchzt, 
wenn mit dem anderen (b; die Stimmen in die hochsten 
Regionen steigen, nimmt der Satz den Charakter einer 
iibermuthig kraftigen und grandiosen, zwanglosen Freude 
an. Niemand denkt bier an musikalische Form und an 
die Strenge des Styls. 

In den Vocalmessen des 4 6., auch noch in vielen 
Instrumentalmessen des 18. Jahrhunderts, bei Mozart z. 6. 
in der Kegel, wird die Anfangszeile vom »Gloriaa und vom 
»Credo« dem Liturgen am Altar allein iiberlassen ; der Chor 
setzt in dem ersten Satz mit wEt in terra«, in dem anderen 
mit »Patrem« ein. Bach hat diese liturgische Intonation 
mit in den Kunstsatz hineingezogen und beide Male dem 
Chore iibergeben, — beim wCredow aber in einer sehr eignen 
Weise; denn das Thema, welches zu den Worten »Credo in 
unum deum« gesetzt ist, stammt aus dem Gregorianischen 
Choral. Es hat namentlich in dem breiten Rhythmus, 
welchen ihm Bach gegeben hat, einen sehr ehrwiirdigen, 
alterthiimlichen Charakter, der durch die strenge Art der 
Durchfiihrung, an welcher sich ausser den fiinf Sing- 
stimmen auch noch die beiden Violinen betheiligen, noch 
erhoht wird. Das Gewebe dieses Satzes ist nach niederlan- 
dischem Recept mit einigen Kunststiicken: Verlangerungen, 
und mehrfachen Engfiihrungen des Themas, versehen. 
Der Instrumentalbass pendelt in unveranderten gleich- 
massigen Schlagen darunter bin. Die starre Feierlichkeit 
des Satzes will daran erinnern, wie das Bekenntniss seit 
ewigen Zeiten gilt und weiter gelten soil. In einem un- 
mittelbar anschliessenden Chore, der in riistigen, ent- 
schiedenen Rhythmen einsetzt, nimmt Bach die Worte 
des »Credo in unum deum« noch einmal auf, bringt die 
Fortsetzung des j)Patrem« gleich mit und foiert den Schopfer 
Himmels und der Erden mit der voUen Freudigkeit, welche 
das glaubige Bekenntniss einem echt christlichen Herzen 



^ 457 ^ 

giebt. Hieran schliesst sich das oben schon erwUhnte Duett : 
»Etinunum<r. Die Symbolik Aadinte. zwischen 

des »unuma giebt Bach damit i J j ^ J) J*] BlUsern 
wieder, dass er das Motiv H? ^ (staccato) 

und Geigern (legato) und zwischen den beiden Duettstimmen 
Sopran und Alt) in der denkbar engsten Nachahmung, 
namlich in der Entfernung eines einzigen Vierlels, ab- 
wechseln lasst. Auch andere Theile der Gesangthemen 
werden in Imitationen durchgefiihrt. Zuweilen treten die 
Singstimmen zusammen und Hand in Hand den Instru- 
menten gegeniiber. An dem Schlusse der sehr sinnreichen 
Nummer, bei den Worten «descendit de coelis« legen sich 
iiberraschende Schatten iiber die Harmonien und bereiten 
die Mystik der folgenden Nummer vor, d. i. des Chors: 
»Et incarnatus est«. Dieser, in welch em die Mensch- 
werdung Christi geschildert wird, gehort mit dem »Qui 
tollis« des » Gloria « und mit dem unmittelbar folgenden 
»Crucifixusff zu den einfachsten Choren der Messe, was 
den Styl betrifft; Vorwiegend Declamation, aus der kleine 
Melodiebiegungen herausragen, in den Singstimmen; das 
Orchester bildet einen Schleier dariiber, der aus einer 
in Dissonanzen schillernden und immer nach der Tiefe 
suchenden Figur gewoben ist: AUe vier Tacte Perioden- 
schluss! Aber was fiir ein Reichthum an Ausdruck und 
Stimmung unter dieser einfachen Hiille! AUes, was der 
Gegenstand einer tiefen Seele entlocken kann, das ist 
in diesem kurzen Stiicke zusammengedrangt und ver- 
schmolzen. Und nun folgt der vielleicht bewunderns- 
wertheste Satz der Hmoll-Messe, das »Crucifixusa. Starr 
— das kurze Bassthema 



Lar^o. 




von Bach auch in anderen Werken gebraucht, bei anderen 
Componisten in der chromatischen Zeit um 1600 — 4 650 
ebenfalls, kehrt 4 3mal wieder — das Auge auf das halb- 
verschleierte Bild des Gekreuzigten gerichtet, klagt die 



-fr 158 *- 

Gemeinde in Wendungen, welche das Unerhorte fiihlen 
lassen, ohne die Leidenschaft zu streifen, welche Schmerz 
und tiefe Trauer in die edle Form eines Gebets fassen. 
Am Schlusse stirbt der Gesang, der sich erst allm^hlich 
aus der Vorstufe von einzelnen Interjektionen entwickelt 
hat, wieder hin; der Mund versagt: unhorbares piano! 

Da mit einem ^ ^ vit>c6. ^^'i""^. ^ . . 

Male das: | ' ' H -^ [ ^ P I f TfrPPPpif ^ 

tiber die Worte: «Et resurrexit tertia die« im hellsten 
Glanze von vollem Chor und Orchester. Es ist der 
sch^rfste Gegensatz, der sich denken l£lsst, um Charfreitag 
und Ostern zu sondern. Die Auferstehung wird hier in 
einem Chore gefeiert, welcher reinste Volksmusik genannt 
werden kann und dessen Freudigkeit, in der Triole ge- 
hSrig gekennzeichnet, die Ausgelassenheit zuweilen be- 
riihrt. Auch in der Instrumentation sind Elemente, deren 
popuiare Herkunft sich nachweisen lasst, — so das der 
alten franzosischen Instrumentalmusik eigene Trio von 
Floten, Hoboen und Viohnen (letztere als Bass), welches 
Bach den Ritornellen dieses Satzes wiederholt auf einen 
fliichtigen Augenblick einschaltet. Der naive Zug, welcher 
der kirchlichen Kunst der Bach'schen Zeit eigen war, in 
welchem sich aber Bach wie auch Handel von Hasse 
und anderen musikalischen Zeitgenossen dadurch unter- 
scheidet, dass er nie gew5hnlich wird, — dieser Zug 
kommt in der Schlussnummer des »Credo« noch einmal 
und zwar nach einem ganz ahnlichen Plane, wie er hier 
zwischen ))Crucifixus« und dem »Et resurrexit« vorher 
zwischen den beiden Credosatzen besteht, zum Ausdruck. 
Es handelt sich bei diesem Schlusse um die Worte: »Et 
exspecto vitam venturi saeculi«, welche Bach zuerst von 
dem Standpunkte des vor dem Tode bangenden Menschen 
in einem schwermiithigen , thematisch strengen Adagio 
behandelt. Dann aber nimmt er sie als der glaubige 
Christ, der den Freuden des besseren Lebens entgegen- 
geht, in einem liberwaltigenden zuversichtlichen Vivace 
auf. Zwischen diesen beiden Hauptchoren, dem »Et re- 



-♦ 159 ^ 

surrexitff und dem »Et exspecto« steht die Bassarie: »Et 
in spiritum sanctumn, welche in kindlich gliicklichen 
Melodien schwelgt — Beim »Sanctus« roUt uns eine Ton- 
fluth entgegen, die man sich kaum erklaren kann. Die 
Tonsetzer des achtzehnten Jahrhunderts verstanden dnrch 
rhythmische Mischungen und andere einfache Mittel dem 
Chorsatze mehrere Wirkungen zu entlocken, welche heute 
nicht so zur Hand liegen. Bei dem Entwurfe der Stimmen- 
vertheilung mag Bach die Stelle aus dem Jesaias vorge- 
schwebt haben, in der es von den Seraphim heisst: 
»Und einer rief zum andenrn. Selig dahinschwebend 
tragen die Gruppen einander das »Sanctus« entgegen, um 
sich dann auf langen, pr&chtigen und glslnzenden Voll- 
klftngen zu vereinen. Dieselbe Grundidee hat Bach auch 
in dem »PIeni sunt« und dem »Osanna« festgehalten. Letz- 
teres ist ein sehr stattlicher, nicht gerade kirchlich, aber 
festlich wirksamer Doppelchor. In dem vollen Glanze 
des wPlenia bilden kleine dreistimmige S&tzchen, die iiber 
die Sechzehntelmotive des Hauptthemas dahintrillern, 
freundliche Idyllen. Das »Benedictus«, eine Tenorarie, 
deren poetische Begriindung weniger in der Singstimme 
als in den dieselbe umschwebenden, zarten und hohen 
Klangen der Solovioline zu suchen ist, steht, abweichend, 
nach dem »»Osanna«. Bach gruppirte iiberhaupt die.Schluss- 
theile der Messe voUst^lndig gegen den katholischen Brauch. 
Aus »Sanctus« und »Pleni« bildete er eine Gruppe; ihre Musik 
wurde zur Einleitung der Abendmahlsfeier verwendet. Zu 
eigentlicher Abendmahlsmusik benutzte er die folgenden 
S&tze, stellte aber das ))Osanna« an die Spitze dieser 
Gruppe, weil es den freudig danksagenden Charakter, 
welcher der letzteren nach ihrem liturgischen Zwecke eigen 
sein sollte, entschiedener hinstellt, als das »Benedictus«r. 
Die Altarie, in welcher Bach die Worte des aAgnus dei« 
wiedergiebt, ist eins der klassischen Zeugnisse fUr die 
Moglichkeit, dass auch in den Formen der neuen Musik 
dem reinen Geist der alten Messe Gerechtigkeit wieder- 
fahren kann. Bach hat diese Moglichkeit durchschnittlich 
in alien Nummern seiner »Hohen Messe« bewiesen; unter 



-♦ 160 ^ 

denjenigen, welche sich in dieser Hinsicht noch besonders 
auszeichnen, ist aber das nAgnus deia eine der ersten. £r- 
freulicherweise ist diese Arie auch ein popularer Solo- 
gesang geworden und dies trotz des schweren Styls, in 
welchem in ihr, ebenso wie in den anderen Sologes&ngen, 
die Singstimme mit den Instrumenten zusammengekoppelt 
ist. Den Umstand, aus einer friiheren Composition fur 
die Verwendung in der Messe umgearbeitet zu seinv theilt 
das »Agnus« mit einer Reihe der hervorragendsten Partien 
des Werkes: mit dem »Gratias agimu&s dem »Qui tollis's 
dem zweiten »Credoff, dem »Cracirixus« und dem nOsannac. 
Bach hat seine HmoU-Messe stiickweise beim Leip- 
ziger Gottesdienste verwendet. Dass das Werk in der 
Dresdner Hofcapelle oder sonst wo in einer katholischen 
Kirche aufgefiihrt worden sei, ist nicht bekannt geworden 
und ist auch nicht anzunehmen. Unserer Zeit ist das 
unvergleichliche, durch die Macht und Universahtat der 
religiosen Empfindung, der poetisch kunstlerischen Durch- 
fuhrung iiber Jahrhunderte hinweg leuchtende Werk un- 
gefahr ein Jahrzehnt nach der neuen Bekanntwerdung der 
Matthauspassion wiedergewonnen worden. Schelble in 
Frankfurt, Mendelsohn, nach ihm Hauptmann in Leipzig 
waren die Ersten, welche einzelne Satze des ungeheuer 
schwierigen Werkes zu Gehor brachten. Erst in den 
fiinfzigern Jahren folgen voUstandige Auffuhrungen der 
ganzen Messe ; durch regebnassige Wiederholungen solcher 
hat sich der Riedel-Verein in Leipzig ein ganz besonderes 
Verdienst erworben. 
B. Bach, Wir besitzen von S. Bach noch vier sogenannte kleine 

Kieine Messes. Messen, die nur aus »Kyrie« und »Gloriau bestehen: Ihre 
Tonarten sind F dur, Gdur, Gmoll und A dur; ihre 
Entstehungszeit liegt in der Nahe der Hmoll-Messe. Der 
achte Band der Bachgesellschaft bringt sie zusammen; 
die in Gdur und A dur sind bereits in den zwanziger 
Jahren einzeln bei Simrock veroffentHcht worden. Die 
einzige von ihnen, welche uns haufiger in Kirchencon- 
certen begegnet, ist die in A dur. Von besonderer Be- 
deutung ist ihr »Christe eleisonc, eines der altesten und 



161 -»- 

machtigsten Chorrecitative, welche wir besitzen. An- 
nahrend originell und ungemein zart, riihrend wiriLen ia 
dem Chorsatze, welcher das » Gloria « eroffnet, die das 
brausende Allegro unterbrecbenden langsamen Episoden 
(Adagio 3/4). Unter der sanften Musik zweier Floten 
declamiren die Chorstimmen, in jedem Abschnitt immer 
nur eine. Es ist nur ein sparlicbes Singen in ihnen, 
mehr ein verzucktes und ergrififenes Lauschen und Auf- 
blicken. Kaum wird Jemand auf die Idee kommen, dass 
diese Musik nicht zu dem Texte entworfen sei. Und doch 
ist der Satz nur eine fast wortliche Uebertragung aus 
der Cantate: oHalt im Gedacbtniss Jesum Christa, in 
welcher allerdings die originelle Idee Baches noch ur- 
sprtinglicber zum Ausdruck kommt. Auch in den anderen 
drei kleinen Messen ist der grosste Theil der Musik Ar- 
rangement aus Bach'schen Cantaten. Unter den Satzen^ 
die eigens fiir die Messtexte componirt sind, ist das 
»Kyrie« der F dur-Messe der interessanteste. Er bildet eine 
Choralfuge. Die fugirenden Stimmen sind Sopran, Alt 
und Tenor, der Bass hat sein Thema fiir sich: die Schluss- 
zeilen der Litanei; der Choral, welcher der Fuge (in Hor- 
nern und Oboen) gegenuber gestellt wird, ist: >Christe, 
du Lamm Gottes«. Der Gedanke, das evangelische 
Kirchenlied in die grosseren Kunstformen der protestan- 
tischen Kirchenmusik hereinzuziehen, den Bach in seinen 
Cantaten am glS^nzendsten durchgefiihrt hat, lasst sich 
bis auf Hammerschmidt zuriickverfolgen. Die Namen der 
Manner, welche fiir die Messe speciell den Choral vor Bach 
benutzt haben, woUe man in Chrysander's »Handel« und 
Spitta's >Bach« nachlesen. 

Von Bach geht das heutige Concert in der Auswahl 
der aufgefiihrten Messen sogleich zu Beethoven iiber. 
Und es thut mit diesem Sprunge Recht. Will man in 
Zukunft auf diesem Gebiete den Kreis der Tonsetzer des 
achtzehnten Jahrhunderts mehr erweitern, so wird das 
in der (Hauptsache nur mit Werken geschehen konnen, 
deren Schopfer der ersten Halfte dieses Zeitabschnittes 
angehoren, mit kritisch ausgewahlten Messen von Leo, 

II, 1. 1 i 



^ 162 ^ 

Durante, Caldara, Perti vielleicht. Nach <750 bilden 
Messen in einem guten, heute ertrftglichen Style nur 
Ausnahmserscheinungen. Solche Ausnahmserscheinungen 
F. Tuma. sind F. Tuma, Michael Haydn, der Bruder des 
M. Haydn. Sinfonienmeisters, und C. G. Naumann. Den Bbhmen 
0. 0. NanmBim. F. Tuma zeichnet Strenge der Arbeit und Ernst in den 
Gedanken, letztere beide vor ihren Zeitgenossen das 
Maasshalten in der Redefreiheit der Instrumente aus. 
Den Salzburger noch mehr als den Dresdner, welcher 
dem herrschenden Geschmack in, wenn auch kurzen und 
meist sinnvollen Soli der Holzblaser, vor allem der 
Floten, kleine Opfer bringt. Auch spiegelt Naumann in 
dem weichen Grundtone seiner Messen, von denen die 
schone klargeformte in As als die bedeutendste gelten 
kann, den empfindsamen Geist des achtzehnten Jahr- 
hunderts in ahnlicher, aber reinerer Weise wieder, wie 
auf dem Gebiete der Passionen dies Graun's »Tod Jesu« 
thut. Naumann's Vorganger im Amte, der fruchtbare Opern- 
A. Hasse componist A. Hesse, steht an der Spitze einer Richtung 
der Instrumentalmesse, welche in der gesammten Kunst- 
geschichte die Stellung einer der grossten Verirrungen 
einnimmt. Der ganze geistige Kreis dieser in zahllosen 
Einzelwerken vertretenen musikalischen Messe ist so text- 
widrig als moglich: die Anlage der Satze auf ausserliche 
Wirkungen, namentlich auf Sologesang und Solospiel, 
gerichtet. Die Erfindung in den Themen nimmt hglufig 
gar keine Rucksicht auf den Charakter der Worte und 
erscheint formell durchschnittlich ebenso einseitig wie 
billig. Die Singstimmen arbeiten mit kurzen Motiven 
vorwiegend munterer Art; werden sie breiter, so sind es 
in der Mehrzahl schmachtende Phrasen oder handwerks- 
massige, nichtssagende Fugenleisten. In dem Orchester 
hort man mehr Eingebungen der komischen Oper und 
wohl auch des Tanzsaals, als solche einer kirchlichen 
Fantasie. Der Gesammteindruck der Messen dieser 
Schule erinnert an die Wechslertische im Tempel und 
an die korbbeladenen, auf Victualien sinnenden Weiber, 
die den Weg nach dem Markte durch den Dom nehmen. 



^ 463 ^ 

um schnell auch ein wenig zu beten. Heute, wo diese 
Richtung, in Deutschland wenigstens, fttr uberwunden 
gelten kann und nur noch in obscuren Landmessen nach- 
spuckt, konnen wir kaum begreifen, wie sie moglich ge- 
wesen. £s ist fehl gegangen, wenn man die Ursachen 
dieser grossen Verirrung nur auf geistigem Felde sucht. 
Ganz gew5hnliche akustische GrUnde: die Voranstellung 
der in der Kirche bei ruhigem Rhythmus schwer durch- 
klingenden Violinen im Orchester iind ahnliche, haben 
sicher viel dazu beigetragen. Es ist nicht zof&llig und 
nicht unbegriindet, dass gerade die Geigen so hHufig von 
den Kircbenbehdrden verfolgt und verboten worden sind. 
Leider gehoren dieser scblechten Richtung in der Messe 
neben anderen Wienern Musikem auch die ersten beiden 
unserer Classiker an: Joseph Haydn und W. A. Mo- 
zart. Ersterer in hervorragendem Grade und fast ganz 
und gar. Unter den vierzehn Messen, welche wir von 
J. Haydn kennen, ist die filnfte (der Ausgabe von Breit- J. Haycb. 
kopf und H&*tel) in Cdur vielleicht die einzige, welche 
wir — das ganze Werk betrachtet — als eine des Gegen- 
standes wtirdige Composition bezeichnen konnen. Und 
da noch miissen wir die Coloraturarie, welche der Sopran 
auf das »Quoniam« singt, in'Abzug bringem Die anderen 
haben "nichts von dem schonen declamatorischen Pathos, 
welches den Grundzug dieser Messe bildet. Ihr Naturell 
ist epikureisch. Besten Falls sticht in ihnen eine gewisse 
madrigalische Wiirde hervor, ein reizender Ausdruck von 
Stimmungen, wie sie den Menschen in gehobenen Stunden 
des Alltagslebens und des Naturgenusses uberkommen. 
Aber die erhabenen Empfindungen, welche das Heilige 
erregen soil, sind in diesen Messen nur ganz vereinzelt 
geftussert: Eine Stelle, wie das »Et invisibiliumff im »Credo« 
der B dur-Messe (Nr. 6), die wirklich geheimnissvoU klingt, 
Oder wie das »Kyrie« in derselben Messe, welches endlich 
einmal einen angstlichen und demiithig gedriickten Seelen- 
zustand ausdrtickt, gehoren zu den Seltenheiten. Dagegen 
stehen die argsten MissgrifTe in dichter Reihe : schablonen- 
mllssiges Verfahren in derAnlage der S^tze: Das »Kyriea der 



164 ^ 

siebenten Messe (C dar) und anderer ist ganz einfach nach 
dem Schema des ersten Sonatensatzes: kurzes Adagio und 
danu frohliches Allegro, entworfen : Schablone in der Er- 
findung der Themen : So hat das nKyrieu der zweiten Messe 
(C dur) die entschiedenete Verwandtschaft mit dem lustigen 
Hauptthema des Finale der ersten Sinfonie (in £s). Was 
im Hauptgedanken gut ist, wird haufig durch das Beiwerk 
zu nichte gemacht. So ist im uCredo« der letztgenannten 
Messe das »Confiteora und ebenso das »Sanctus« in den 
Singstimmen wlirdig erfunden, aber die Instrumente mit 
ihren kleinlich witzigen Figuren sprechem dem Gesange 
Hohn. Ein ganz ^hnlicher aber noch abstossenderer 
Fall findet sich im »Et incarnatus est« der vierten Messe, 
wo die Orgel in den feierlichen Chorsatz unbegreiflicher 
Weise mit kindlich zwitschernden Figuren hineinspielt. 
Kurz, wir miissen es dem ehrwiirdigen Haydn aufs Wort 
glauben, wenn er seinem Griesinger*) versichert, dass ihm 
die Messe zu schreiben nahe gehe und das Hochste sei. 
Wir miissen uns iiber das Gelungene und Geniale freuen, 
was auch diese Werke enthalten. Aber wir miissen auch 
dem Erzbischof von Hohenwarth Recht geben und ihn da- 
fiir loben, dass er kurzer Hand seiner Zeit fiir die Wiener 
Kirchen die AufTiihrung Haydn'scher Messen verbot ! Haydn, 
den wir auch in kirchlichen Compositionen, in den »Sieben 
Worten«, in den Motetten (vor alien unter ihnen in 
ainsanae vanae curae«) so gross sehen — in der Messe 
so klein! Die Macht des bosen Beispiels! Bekannt ist, 
dass die Messen J. Haydn's am Anfang unserers Jahr- 
hunderts, wo sie aufgefiihrt wurden, auch in Norddeutsch- 
land, sehr beliebt waren. Heute wurden sie der Ableh- 
nung sicher sein; denn was ihnen fehlt, ist nicht bios 
der sogenannte kirchliche Styl, sondem eine des Textes 
wiirdige Musik. Unter die Wenigen, welche gegen die 
Wende unseres Jahrhunderts die Nichtigkeit der Messen 
Haydn's und der ganzen Hasse'schen Schule erkannten. 



*) Griesinger, A: Biographische Notizeii, S. 116, 118. 



-* i65 -»- 

gehort Tieck, welcher im zweiten Theile des »Phantasusff 
alle zeitgenossische Kirchenmusik verwirft und (vor Thi- 
baut) die alien Italiener als Vorbild aufstellt. 

Mozart^s Messen, welche jetzt, 4 6 an der Zahl, W. A. Moaart. 
in der Gesammtausgabe von Breitkopf und HS,Ttel vor- 
liegen, sind sammtlich Jugendarbeiten. Nimmt man 
das biographische Interesse hinzu, so bieten namentlich 
die Werke, welche aus der Knabenzeit des Meisters 
stammen, ungemein viel RUhrendes. Wird aber ibr 
Styl streng gegen die Hoheit des Textes gehalten, so 
kann er durcbschnittlich nicht anders als klein befunden 
werden. Die personliche und culturgeschichtliche Be- 
deutung der Messen Mozart's ist gross; ihr rein sachlicber 
Werth gering. Wenn die in Fdur (Nr. 6) von einzelnen 
Musikern h5hergestellt wird, so griindet sich dieses Ur- 
theil auf den hoheren Grad contrapunktischer Kunst, den 
sie zeigt. Wie weit auch in ihr Mozart von der richtigen 
Texterfassung entfemt ist, kann man am >Kyrie(r sehen. 

Beethoven hat zwei Messen geschrieben, von Beethoven, 
welchen die erste (Cdur, op. 80) zwar nicht von den Mease in c. 
Chorvereinen, aber von der Kritik in einem ghnlichen 
Grade hintangesetzt zu werden pflegt, wie des Meisters 
zwei erste Sinfonien und andere Jugendwerke. Diese 
Cdur-Messe hat allerdings an Beethoven's »Missa solem- 
nise einen uniiberwindlichen Nebenbuhler; aber sie ist 
keineswegs ein unbedeutendes, sondem vielmehr ein in 
der Geschichte der Instrumentalmesse vollgiiltiges und 
merkwtirdiges Werk. In den Einzelheiten lasst diese 
Messe berechtigte Wiinsche offen, aber in der musika- 
lischen Stimmung der einzelnen Satze, in der Wahl der 
meisten ihnen zu Grande gelegten Tongedanken darf sie 
ein wiirdiges und herrliches Werk genannt werden. Die 
Messe in C ist Beethoven's erste Arbeit in dem eigentlich 
grossen Style geistlicher Chorcomposition. Wir wissen 
nicht, ob Beethoven, sei es durch die Praxis der Bonner 
Hofcapelle, sei es durch den weiten Blick seines hoch- 
gebildeten Lehrers Neefe, in diesem Style auf bessere 
Muster als die in der Zeit herrschenden hingefiihrt 



-<^ 466 -»- 

wurde. Oder war es die Kraft des eignen Geistes, welche 
ihn hier, &hnlich wie in der »Trauercantate auf den Tod 
Josephs des Zweitena und in den geistlichen Liedern auf 
einen hoheren Weg hob? Thatsache ist es, dass sich 
Beethoven mit dieser Cdur-Messe auf einen ganz anderen 
Boden stellte, als der war, auf welchem die Messen seiner 
Zeit, auch die Haydn's und Mozart's, zu entstehen pflegten. 
Diese Abweichung von dem Hasse-Wienerischen Kirchen- 
style ist dem Werke lange Zeit iibel vermerkt worden. 
Der FUrst Esterhazy, in dessen Capelle Beethoven die 
Messe zum Geburtstage der Furstin, am 4 3. September 
4 807, zum erstenMale auffiihrte, empfing den Componisten 
nach beendigtem Gottesdienst mit der Frage : »Aber, lieber 
Beethoven, was haben sie denn da wieder gemachtPa 
und den zur Seite dabei stehenden furstlichen Capell- 
meister (Hummel) sah Beethoven, nach Schindler's Bericht,. 
lachen. Noch viel sp^er war es Branch, den kirchlichen 
Charakter dieser Messe, und zwar immer im Hinblick auf 
die Werke Haydn's, zu bemUngeln. Der Erste, welcher unter 
den musikalischen Schriftstellern entschieden fiir die ab- 
solute und relative geistige und religi5se Ueberlegenheit 
dieser Cdur-Messe eingetreten ist, verdient ruhmend hier 
angefiihrt zu werden. Es ist Dr. F. P. Graf Laurencin*), 
Wie an einem Geiste, der in der Messe lange nicht 
so nachdrucklich gesprochen, so ist die Cdur- Messe 
Beethoven's auch an neuen Formen reich. Am meisten 
tritt unter ihnen die enge Verbindung von Chor und Solo 
hervor, welche Beethoven hier angewendet hat. Ein 
Wechsel von Chorsatzen und Solopartien, bald in l^lngeren^ 
bald in kiirzeren Abstanden, war in der Instrumentalmesse 
von Anfang an iiblich, aber das Ineinandergreifen und 
Zusammenwirken beider Gruppen, wie es Beethoven hat^ 
ist eine taktisch viel reichere und belebtere Form, deren 
Vorbilder auf dramatischem Boden, wenn auf dem geist- 



*) Dr. F. P. Graf Laurencin, Zur Geschichte der Kircben- 
musik. Leipzig 1866. 



-fr 167 ^ 

licher Musik: in welter zuriickliegenden Zeiten zu suchen 
sind: den antiphonischen Chorbauten der venetianischen 
Schule. Das durchgehende Soloquartett, welches mit 
dem Chor addirt, den Vocalsatz der Cdur-Messe als 
einen achtstimmigen erscheinen lasst, hat die letztere 
mit der »Missa solemnisa gemein. 

Das »Kyrie« hat die Anlage einer dreitheiligen Arie. 
Die Sonderung dieses Theils in drei getrennte, selbst- 
standige und thematisch verschiedene Satze, wie sie in 
der alten Vocalmesse tiblich war und wie wir sie noch 
in c^en Messen Bach's trafen, war in der Instrumentalmesse 
schon lange vor Haydn aufgegeben. Sie kommt noch vor, 
z. B. bei Cherubini, aber nicht als Kegel. Der Hauptsatz 
und die mit ihm gleichlautende Wiederholungspartie des 
dritten Theils im »Kyrie« der Cdur-Messe beginnen mit 
einem liedartigen viertactigen Thema von frommem; hofif- 
nungsvollem Ausdruck. £s schliesst mit einer Wendung 
ins hohere Pathos und bringt am Ende eine schone und 
kiihne Modu- Andante. taucht in der Orchester- 

lation. Sein f j fi j J J") | J = partie der Messe wieder- 

0i*QtAd: Mrktiv «r v-i»' Virklt oiif iin/1 /lionf im 



erstes Motiv *^ ^^ holt auf und dient im 

Hauptsatze des ))Kyrie« den Singstimmen noch weiter dazu, 
die angeschlagene Gebetsstimmung weiter zu entwickeln. 
Sie wird unruhiger und triiber, bis die Biaser das Wort 
ergreifen und mit einigen wenigen Tacten in den schSnen 
warmen M itteltheil des »Christe eleison« (E dur) einlenken. 
Er ist einfach, innig und kurz. Nach wenigen Perioden, an 
deren Schluss die Zuversicht auf die Hiilfe des Gottes- 
sohnes mit echt Beethoven'scher Entschiedenheit und Dring- 
lichkeit ausgesprochen ist, steigt das oben mitgetheilte 
Anfangsmotiv des Kyriesatzes aus der Tiefe, zunachst 
aus den Fagotten und nach ihnen den Mannerstimmen, 
wieder auf und fiihrt uns bald in den Hauptsatz zuriick, 
der — bis auf eine dunkle Accordnuance am Schluss 
und ein sehr schSn gedachtes Unisono der still vor sich 
hinbetenden Singstimmen — worthch wiederholt wird. 
Das »Gloriaa hat ebenfalls dreitheilige Anlage. Der erste 
Theil, vor dem »Qui tollis« abschliessend, ist ein Allegro 



-«^ 168 -B^ 

im raschen C-Tacte. Seine erste Halfte rauscht in freu- 
digem Drange voruber; Aufenthalt wird nur bei »bonae 
voluntatis « genommen und beim »Glorificamus te«. Die 
Musik des Chors hat den Charakter eines schwungvollen, 
feierlichen Anrufens der Gottheit, durch kurze Stellen 
frommer Demuth sehr packend unterbrochen : Die be- 
deutendste letzterer Art ist die von den Hornern ein- 
geleitete bei »Et in terra pax«. Die Einheit des ganzen 
Abschnitts wird formell durch ^ . i . " i i j 

das immer wiederkehrende Motiv ir " i^ ^ Jj J ' ^ - ^^ 
ausgepragt. Die zweite Halfte des ersten Theils besteht 
aus einem innig und ruhig gehaltenen Tenorsolo auf 
die Worte: »Gratias agimus tibi«, in dessen.Satzendungen 
der Chor bekrslftigend einfallt. Der zweite Theil des 
» Gloria* ist ein Andante mosso im 8y4Tact (Fmoll), vom 
Soloqiiartett mit herrlichen Gebetsmelodien , aus denen 
Hingebung und auch ein leises Zagen spricht, ausgefiihrt. 
Der Chor schliesst sich nur einmal psalmodirend an und 
tritt erst in der zweiten Halfte, von dem feierlich er- 
staunten »Qui sedes« an, in Wirksamkeit. Nachdem er 
zuerst das » Miserere « in angstvoller Steigerung ausge- 
sprochen hat, fiihrt er es in dem vertrauensvollen kind- 
lichen Tone weiter, mit welchem das »Kyrie« begann, auch 
mit Benutzung des Hauptmotivs desselben. Den dritten 

Theil, d. i. den Schluss des 

»Gloria« bildet ein kraf tiger ^ w [» p | J P | f t^ und 
Satz, in welchem die Motive Qno.ol.ui t« to.iiu 

I h I ir I II I 1 I I'll r I I I 7m I 

Com ian.eto spi . rl . tn b Kio.rf .a Oe.i P!a.fris« A . . mei 



men. 



in engen contrapunktischen Verbindungen , in einzelnen 
Abschnitten fugenartig, durchgefiihrt werden. Das »Amena 
erhalt eine besondere Auszeichnung durch Harmonien, 
Declamation und eigenen thematischen Nachgesang. 

Im »Credo«, dem gefiirchtetsten Text, den die geistliche 
Vocalcomposition uberhaupt bietet, tritt das Beethoven 
von seinen Vorgangerji unterscheidende Princip des musi- 



-«- 169 -»- 

kalischen Entwurfs der Messe am klarsten hervor. Es 
ist die Beachtung des Sinns aller einzelnen Satze, Satz- 
theile und bedeutungsvoller Einzelworte. Wahrend Andere 
sich darauf beschrHnken, die Hauptstimmung eines ganzen 
Abschnitts wiederzugeben und auch diese Aufgabe wohl der 
Bequemlichkeit des formellen Entwurfs unterordnen, geht 
Beethoven an keinem Begriffe vorbei, welcher eine eigene 
Oeltung hat. Die Folge davon ist, dass der Chorsatz im 
ersten Theile des » Credo «, den wir vor dem »Et incar- 
liatus est« abschliessen , dem H5rer keinen thematischen 
Anhalt bietet. Soviel Motive, als der Text Begriffe bietet. 
Doch ist der Empfindungsgrund, aus welchem sie ge- 
schopft sind, der gemeinsame einer des Staunens voUen, 
manchmal in scheuem Tone sich aussernden Bewun- 
derung. Im Orchester hat Beethoven die Zusammenge- 
horigkeit dieser vielzahligen Declamationsabschnittchen 
durch das All agro. auszudrticken gesucht. In 

Festhalten 'j | ft} ^jJ'N^lft ^^^ Biographien des Ton- 
des Motivs *^ 'J- T~ setzers wird iiber den Ur- 

sprung dieses Motivs eine Anecdote erzahlt. Mit dem 
Eintritt der Worte: »Qui propter nos homines « wird 
der etwas starre Declamationston des Satzes weicher, 
und leitet sehr schon in den Mitteltheil des »Cre- 
do«, den Abschnitt von »Et incarnatus« bis zum »Et 
sepultus est« uber. Die ganze Partie, an der das 
Soloquartett wieder hervorragend betheiligt ist, klingt 
wie in Andacht getaucht. Besonders treten die schmerz- 
lichen Rufe beim »passus« hervor; ferner die ein- 
geschalteten Klagemotive der Instrumente und der mit 
einer stechenden Dissonanz der Altstimme gefarbte, hin- 
sterbende Schluss des Chors. Mit dem wEt resurrexitw, 
welches den Schlusstheil des »Credo« beginnt, wird der Aus- 
druck wieder freudig, zuweilen bis zu einem stiirmischen 
Grade. Die Declamation hat stellenweise einen geradezu 
streitbaren Charakter. Ruhiger gehalten, breiter aus- 
Singend, ist fast nur der Abschnitt des Soloquartetts : »>Et 
in spiritum sanctum«. Auch in diesem dritten Theile des 
»Credo« bleibt die Genialitat wieder zu bewundern, mit 



-^ 470 -^ 

welcher Beethoven die Einzelheiten im Text mit einem 
einzigen Strich eindringlich veranschaulicht. Man ver- 
gleiche die Tone und Farben beim Erscheinen der Pro- 
pheten (nQui locutas est etc.«) und dann wieder an der 
Stelle, wo der Todten gedacht wird. Die herkommliche 
Fuge beim »Et vitam venturi saeculi« besetzt Beethoven 
mit einem rollenden Thema und bedient sich in seiner 
Ausfiihrung verschiedener Mittel der Spannung; nament- 
lich am Schlusse des Ganzen. 

Das »Sanctus« ist ein sehr kurzer Satz. Die BlUser 
erdffnen ihn mit einer erwartungsvollen zarten Musik, 
welche von den Singstimmen aufgenommen und mit 
feierlich fremdartigen Modulationen weitergefiihrt wird. 
Das »Pleni« ist festlich mit schmettemdem Ausklang, eben- 
falls sehr kurz; das »Osanna« ein fugirender Satz iiber 
ein Thema, welches Gliick und Dankbarkeit zu athmen 
scheint. Wahrend in diesem Theile alle Weisen rasch 
abbrechen, hat das »Benedictus« eine ausserordentlich 
breite Anlage. Es beginnt im Soloquartett in sehr ein- 
facher, froh frommer Stimmung, die allm£Lhlich in ein 
Schwelgen von Sehnen und Begriissen ubergeht. Der 
Chor summt erst leise nach, ger^th dann aber in Be- 
geisterung und Verztickung. Beethoven fiihrt ihn in 
diesem Satze vorwiegend in Unisonos. Die Wiederholung 
des »Osanna« schliesst die Abtheilung. 

Das »Agnu6 dei« beginnt mit zittemdem Orchester, der 
Chor ruft in heftiger Angst: die Stimmung des Satzes ist 
ausserordentlich unruhig und gedriickt; fast das einzige 
freundliche Element in ihm die Achtelfigur der Instru- 
ments. Mit letzterer leitet die Oboe den Uebergang ein 
zu dem »Dona nobisa. Der Einsatz des unbegleiteten Solo- 
quartetts, der ruhige Ton sicherer Hoffnung, der daraus 
klingt, lasst dieses einfache Satzchen wirken wie reinen 
Himmel nach schwarzen Wolken. Lang bin breiten sich 
die Accorde auf das »pacem« aus; der Chor wiederholt den 
Friedensklang, zuweilen heftig, wie von einem Rest der 
Beklommenheit getrieben. Sie bricht auch wirklich noch- 
mals hervor und aussert sich bei der Wiederholung des 



-^ 171 ^ 

»Agnus« noch einmal kurz in dem Schreckenscharakter, 
mit dem der Satz anfing. 

Im Jahie 4 84 3 erschien eine Partiturausgabe der 
Cdur-Messe (bei Breitkopf und Hartel) mit dem Neben- 
titel »Dr6i Hymnen etc.«. Diese Bezeichnung, ersichtlich 
auf die Verwendung des Werkes im Concert berechnet, 
lasst sich, beziiglich der Dreitheilung wenigstens aus dem 
liturgischen VerhS,ltniss der Satze rechtfertigen. Denn im 
Hochamte bilden »Kyrie« und DGloria", und ebenso »Sanctus« 
und »Agnus dei« geschlossene und zusammenhUngende 
Acte. Die dieser Ausgabe beigegebene deutsche Ueber- 
setzung — »Tief im Staub anbeten wir dich, den ew'gen 
Weltenherrscher etc.« — wird den Declamationseigen- 
thumlichkeiten der Beethoven^schen Musik sehr wenig 
gerecht und ist glucklicherweise gegenw&rtig wieder 
ausser Branch gesetzt. 

Die zweite Messe Beethovens, seine ebenso bewun- L. v. Beethoven, 
derte als gefiirchtete »Missa solemnisu (Ddur, op. 423, Missa soiemnig. 
ist das Werk des in doppelter Schule von Leben und 
Kunst zu vollster Eigenthiimlichkeit ausgereiften Meisters. 
ZeiUich und geistig eine Art Nachbarin der neunten Sin- 
fonie (op. 4 23), steht sie iiber der Vorgangerin in C durch 
die Freiheit und Bestimmtheit, mit welcher Beethoven in 
dem neuen Weike seine Individuahtat walten lasst, durch 
die Grosjse und Fiille der musikalischen Formen. Aber 
im technischen Plane und in den geistigen Anschauungen 
zeigen sich beide Werke als Schwestern. Gemeinsam ist 
ihnen der hohe Ernst in der Erfassung des Textes im 
Ganzen, gemeinsam die Richtung auf anschauliche Aus- 
gestaltung aller einzelnen Worte von Bedeutung. Die 
verwandtschaftliche Aehnlichkeit lasst sich bis auf die 
ziemlich wortliche Uebereinstimmung in der Wiedergabe 
bestimmter Zuge verfolgen. Beim Vergleich der Stelle 
»passus« in beiden Megsen diirfte sie am klarsten hervor- 
treten. 

Beethoven's Messe in D gehort unter den auf Er- 
neuerung der Kunst gerichteten Werken seiner dritten 
Periode zu denjenigen, bei welchen es sich der so wie 



-fr 179 ^ 

so kritischste aller Tonsetzer ganz besonders hat sauer 
werden lassen. Schindler, dem wir in diesem Punkte 
Glauben schenken dtirfen, schildert drastisch den Zu- 
stand der Aufregung, in welchem sich der Meister zu 
wiederholten Malen wahrend der Zeit befunden hat, in 
welchem das neue Hochamt in seinem Innern nach Ge- 
staltung rang. Die Skizzen zu dem Werke, wie sie uns 
neuerdings aus Nottebohm's Nachlasse*) vorgelegt worden 
sind, bilden klassische Zeugnisse fiir die einzelnen Sta- 
tionen dieses heissen Miihens und bestatigen neuerdings 
wieder die ganz eigenthiimliche Art, in welcher Beet- 
hoven die Form dem Geist unterzwang. Wie in einer 
poetischen Vision leuchtete ihm der Punkt voraus, welcher 
der geistige Mittelpunkt eines grossen Gebildes werden 
sollte. Ihn festhaltend, steuerte er sein Schiff in tausend 
Wendungen, kreuzte und kSlmpfte wie ein Columbus, bis 
der sichere Weg gefunden war. Eine Stelle, die dieses 
Verfahren in ahnlicher Deutlichkeit und Besonderheit, 
wie die beriihmte Stelle des Horns in der wEroica-* veran- 
schaulicht, ist in der Ddur-Messe die Einfiihrung der 
Kriegsmusik im »Agnus dei«. Sie wurde zur fixen Idee bei 
dem Entwurf dieses Satzes, der Pol, um den die Fan- 
tasie des Meisters in immer neuen Versuchen kreiste. 
Die Skizzen zu der »Missa solemnis* umfassen die Jahre 
4 818 bis 4 822, eine Zeit, die in der ausseren Geschichte 
des Meisters sich ziemlich schmerzlich auszeichnet. Beet- 
hofen begann die Composition, als die Ernennung des 
Erzherzogs Rudolf, seines Schfilers, zum Erzbischof von 
Olmiitz bekannt wurde. Sie sollte als Festmesse bei der 
Einfiihrung im nachsten Jahre- dienen, wurde aber erst 
Ende des Jahres 4 822 fertig. Von der Auffiihrung ein- 
zelner Satze des Werkes i. J. 4 823 ist oben schon die 
Rede gewesen. Vollstandig kam die Messe zuerst im Jahre 
4 824 zu Gehor und zwar in Petersburg, wo Fiirst Galitzin 
das Werk fiir ein Concert der Musikerwittwenkasse er- 



*) Nottebohm, G., Zweite Beethoveniana, Leipzig 1887. 



-0- 173 *- 

worben hatte, — ein Ereigniss, welches aber, abgesehen 
voQ einem kurzen, entzuckten Bericht in der Allgemeinen 
musikalischen Zeitung fur jene Zeit spurlos vorliberging ! 
Die nachste nachweisbare Auffiihrung faiid iu einem 
jener stillen, musikalisch aber schwungvollen und reicheu 
Wink el statt, an denen Deutschland auch jetzt, in der 
Zeit der hereinbrechenden Centralisation gliicklicherweise 
noch nicht ganz verwaist ist: in der bohmischen Lausitz 
zu Warnsdorf, i. J. 4 830 unter Leitung des Cantors J. V. 
Richter. Die Aufmerksamkeit grSsserer Kreise und die 
Popularitat, welche Beethoven, trotz der hohen Meinung, 
die er von seiner j»Missa solemnis« hegte, selbst erst von 
einer spateren Generation erwartete, kam, nachdem das 
Werk i. J. 4 844 auf einem rheinischen Musikfeste durch 
H. Dorn vorgefiihrt worden. Gleich im folgenden Jahre, 
4845, brachte sie E. F. Richter, der spsltere Thomascantor, 
einer der treff lichsten unter den Musikern, welche prunklos 
in dieser Stadt gewirkt haben, in Leipzig zu Geh5r. Es 
kann nicht die Aufgabe sein, hier die langsamen Schritte 
in der Statistik der praktischen Einfiihrung der »Missa 
solemnis« alle nachzuzeichnen. Einen Wendepunkt, von 
dem aus es rascher ging, bildet das Jahr 4 860. Es er-* 
scheint als eine einfache Pflicht der Gerechtigkeit , hier 
abermals des schon wiederholt erwahnten Riedel-Vereins 
und der Verdienste zu gedenken, welche sich derselbe 
von dem gedachten Zeitpunkt ab um die Einbiirgerung 
des ausserordentlichen Werkes durch regelmassige Auf- 
fiihrungen erworben hat. 

Dem Vergleich von Beethoven's »Missa solemnis« mit 
Bach's »Hoher Messe« ist wohl jeder Leser schon begegnet. 
Die beiden Werke haben Aeusserlichkeiten gemein: die 
Schwierigkeit der Ausfiihrung und, in verschiedenem 
Grade, auch des Verstandnisses, die grosse Lalnge, welche 
sie fiir die Liturgie ungeeignet macht. Aber die inneren 
Beriihrungspunkte sind nicht zahlreich. Schon der Ent- 
wurf der Form, das musikalische Gewebe beider Werke, 
zeigt auf einen ganz verschiedenen Geistesgrund : Bach 
vertieft sich ruhig in breiten Einzelbildern, die er zu 



-^ 174 *- 

grossen Cyclen aneinanderreiht^ Beethoven drangt Er- 
eignisse und Figuren in grosse Gemalde zusammen und 
sucht die Massen durch scharfe Charakteristik aller ein^ 
zelnen Erscheinungen und Gruppen zu sondern und zu 
klaren. Die Methode des Entwurfs unterscheidet sich bei 
beiden Meistern wie Stollen und Schacht. Der Vortrag 
der Gedanken ist bei Bach durchaus melodisch-contra- 
punktisch, bei Beethoven zur guten Halfte declamatorisch. 
Beethoven's Messe macht nach Anschauung und Ausdruck 
an die geistige Mitarbeit des Zuhorers grossere Anspriiche 
als die Bach's und setzt namenthch in den grossen Satzen : 
»Gloria« und »Credo«, einen schnellen und beweglichen Geist 
und ein scharfes Tonverst^ndniss yoraus. 

Diejenigen Satze, welche die wenigsten Schwierig- 
keiten bieten, sind »Kyrie« und »Sanctus«. 

Das »)Kyrie« ist, wie in der Cdur-Messe, dreitheihg; 
erster und dritter Theil sind nahezu gleichlautend. Der 
Satz, welchem Beethoven die Vortragsbezeichnung »Mit 
Andachttt gegeben hat, beginnt mit einem Vorspiel des 
Orchesters, in welchem die Blasinstrumente das Haupt- 
thema des Kyriesatzes vortragen. Beethoven hat in 
seiner Ddur-Messe den Blasinstrumenten eine besondere 
Aufmerksamkeit geschenkt; hier im >»Kyrie« beruht ein 
Theil der feierlichen Wirkung des Satzes auf der Ver- 
wendung ihrer Klange. In dem Band von Skizzen- 
heften, welche den Jahren 4 84 9 bis -1822 angehoren, 
befindet sich eine Bemerkung: »Das Kyrie in der Neuen 
Messe bios mit blasenden Instrumenten und Orgel«. Wir 
wissen nicht, ob sich dieselbe auf das »Kyrie« einer etwaigen, 
geplanten dritten Messe oder auf das »Kyrie« der »solemnis« 
bezieht. In letzterem Falle miisste dieses spater entstanden 
sein als die ihm folgenden Satze. Jedenfalls beweist sie, 
dass Beethoven den Blasinstrumenten in der Kirchenmusik 
eine ausserordentliche Bedeutung beilegte. 

Nachdem das Orchester so den Grundton fur die 
Stimmung des »Kyrie« gegeben hat, naht sich die Sanger- 
schaar, Chor und Soli, in ehrfurchtsvollem Schritt 
Dreimal wird der Name des Herrn, wie unter langen 



-^ 475 *- 

Verbeugungen, angerufen, sie treten dem Throne in ge- 
messenen Absatzen naher and nun erst spricht der 
Fiihrer die Bitte aus: >eleisona. Es ist ein Gnadenruf aus 
frommen guten Herzen, aus reiner, aber demtithiger 
Seele. Das ganze Thema sieht folgendermassen aus: 

kSBBi sosteBvto 
Ch., 




. . ri . 0. Char Ky . . ri . • o . l«t . - tml 

HI 



-'^''"iJl'-t'f ^ ''' '' ''" r i 'j:-'"-' 



ri . e, 



Es ist wieder in ganz eigner, lebendiger Art aus dem 
Zusammenwirken von Chor und Soli entwickelt. Fiir den 
thematischen Auf bau des Satzes ist das eingehakte Motiv 

wichtig, namentlich die Quar- /^^'^■^^ V^ 

tenwendung. Aus ihr ist auch ^ H f^\ I f T ' r ^ 
das herzliche Zwischenspiel ir ' 
gezogen, mit welchem die BlUser der auf einem gemein- 
schaftlichen Ton schlicht hinbetenden Chorgemeinde 
wiederholt im Satze Vertrauen und freudige Zuversicht 
zuzusingen scheinen. Und thatsachlich beherrschen diese 
den ganzen Gebetsact und heben sich zum Ausdruck einer 
unverhohlenen naiven Freude, als sich der Gebetsact 
mit dem »Christe eleison* dem Sohne Gottes zuwendet. 
Es liegt in diesem mit dem frischen, muntern Rhythmus 
einsetzenden Theil des »Kyrie«, in diesen unaufhorlichen, 
freundlich lebendigen Zurufen, in diesen kosenden Figuren 
etwas vom Reize einer Kinderscene. Doch bleibt der 
ehrftirchtige Charakter gewahrt und kommt namentUch 
in dem leisen, auch den Abschiedsschmerz andeutenden 
Schlusse zum bestimmten Ausdruck. 

Das »Gloria« hat vier Haupttheile: die mittleren sind 
kiirzer, der anfangende und schliessende sehr ausgedehnt 
und gliederreich. Der erste Theil, dessen letztes Glied 



-♦ 176 ^ 

das vDomine deus rex Christe« bildet, rubt auf dem jubeln- 
den Thema, mit welchem Allegro vtvMe. ^, ^ ♦<'^^ 
die Anfangsworte dps it^l l f p p |p P f P | T ^^ 
rtGloria« selbsteinsetzen : •^ oio.ri.a iB«.Mi.tto Oe . . •! 
£s gleicht in seiner einfacben Fassung mancber altkirch- 
licben Intonation und bat vielleicht eine wirklicbe litur- 
giscbe Quelle. Beetboven bat ibm eine elementar fort- 
reissende Kraft entlockt and verwendet es oft wie einen 
unwiderstehlicben Lockruf der Begeisterung. Mit ibm 
schwingen sicb die Gborstimmen von Hohe zu Hdhe, 
mit ibm rufen die Stimmen des Orcbesters, die es zu- 
gleicb baufig erweitern und umspielen, von den Stellen 
andS,cbtiger Sammlung wieder binweg zu macbtigen Aus- 
briicben der Freude an Gott. Die Episoden, welcbe von 
diesem Grundcharakter des ersten Tbeils des »Gloria« sicb 
absondern, sind das freundlicb rubige: ȣt in terra paxa, 
das auf festem Motiv fugirende »Glorificamus te<( und 
das »Gratias agimus tibia. Letzteres bildet den langsten 
Zwicbensatz in diesem Theile. Es ist eine langsamer 
einsetzende Musik, mit dem Cbarakter zarter Anmutb, 
wie er in den Messen der Beetboven'scben Zeit fiir diese 
Worte iiblicb geworden war. Die Alten, denen sicb auch 
S. Bach in der j»Hoben Messe« angescblossen bat, gaben 
diese Stelle des Dankes in einer ausgesprocben feierlicben 
Weise wieder. Den bocbsten Grad von Weibe zeigt an 
dieser Stelle Palestrina's »Assumpta est Maria «. £in 
lieblicber, dem neueren Braucb sicb nahernder Ausdruck 
fiir die Dankesworte lindet sicb nur ausnabmsweise in 
der alten Yocalmesse. Eine solcbe Ausnabme ist die 
fiinfstimmige Fdur-Messe des Orlando di Lasso. Beim 
»Domine deus« nimmt das Orcbester das Gloriatbema wieder 
auf, der Chor declamirt die Anreden des H5cbsten mit 
nacbdriicklicbster Betonung dazwischen, namentlich von 
dem Begriffe des »omnipotens« aufs Hochste ergriffen. 
Eine kurze Wendung weicherer Art tritt wieder ein, als 
sicb die Soli dem Sobne Gottes mit: i)Domine fili uni- 
genite« zuwenden. — Den zweiten Haupttheil des »Gloriaa 
bildet das »Qui toUis peccata mundi«, ein Satz, der durcb 



-^ Ml -^ 

Tempo und Tonart (Larghetto ^/^, Fdur) sich scharf von 
dem Vorhergehenden abhebt. Der Verstoss gegen Gram- 
matik und Sinn, welcher darin liegt, dass der Relativsatz 
ganz vom Subject getrennt. ist, war allem Anscheine nach 
durch die Tradition selbst fur den scharfen Kopf Beet- 
hoven's geheiligt. Mit schwerem Herzen wird hier des 
Leidens Christi und der Siinden der Menschheit gedacht, 
um Erbarmen und Erh5rung gebeten. Instrumente und 
Singstimmen fangen beklommen an, die T5ne fallen wie 
Lasten, die Melodien theilen sich zwischen Zagen und 
Inbrunst, und der Chor steht oft wie scheu und mit ge- 
l&hmter Zunge in der Feme und stammelt nach, was 
die Solos timmen fUr ihn gesprochen. Besonders rfihrend 
sind die Stellen des »suscipe deprecationem nostrama. 
Merkwdrdig, ja absichtlich gewaltsam sticht gegen dlesen 
Ton der Zerknirschung und des Kleinmuthes der kr£Lftig 
imposante Aufruf ab: »qui sedes ad dexteram patrisv. 
Die Scene verklingt wie eine ungeloste Frage, die Pauken 
geben noch einige Tropfen Schauer hinzu, dann richtet 
sich das Orchester plotzlich fest auf: der dritte Haupt- 
theil, das »Quoniam«, beginnt. Es ist ein kurzer Satz, mehr 
declamirt als gesungen, technisch interessant durch die 
scharf berechnete Vertheilung der Accente, von denen 
die harmonisch ausgedriickte Betonung des »tu« schon 
hllufig erwahnt worden ist. Der vierte Haupttheil enth^lt 
nur die Worte »in gloria dei patris, Amen!« Er zerfailt 
wieder in drei Abschnitte. Der erste ist eine Fuge liber 
das Thema: 



AIlegTo ma non troppo 




glo ri.» De.i pa trit, a . 

das in seinem Achteltheil und in dem aus Vierteln ge- 
bildeten Motiv gesondert durchgefiihrt wird. Der zweite 
Abschnitt ist im Wesentlichen nur eine Fortsetzung des 
ersten, gesteigert durch schnelleres Tempo und das Zu- 
sammenwirken von Soloquartett und Chor, im Inhalt da- 
durch erweitert, dass das Thema des »Quoniam« rhythmisch 

II, 1. 42 



-^ 178 

mil anklingt. Yon besonderer Gewalt sind die wenigen 
Tacte, wo die sllmmtlichen Stimmen das Achtelmotiv 
unisoao singen. Beethoven liess sich mil diesem m&chtigen 
Ausdruck himmlischer Freude noch nicht geniigen und 
nahm noch einen frischen Aufschwung zu einem dritten 
Abschnitt. Dieser bringt die Worte und das Thema vom 
Anfang des ganzen Gloriasatzes, aber im Presto, wie in 
einem Rausche des Entziickens, ebenso kurz als kUhn 
und fast verbliiffend. Die Aehnlichkeit mit dem Ende 
des Finale der neunten und fUnften Sinfonie ist nicht zu 
verkennen. Das ganze »Gloria« verlangt von den Aus- 
fiihrenden sehr viel. Im Chor hohe T5ne ohne Zahl, 
im Orchester namentlich fiir die Posaunen Figuren, die 
fast unerh5rt sind. 

Noch schwieriger ist aber das »Credo«. Dem Chor muthet 
es grosse Anstrengung zu; die Soprane sind geradezu 
rucksichtslos behandelt. Aber auch dem H5rer wird es 
wenigstens in der ersten Halfte des Satzes nicht leicht ge- 
macht, da dieMotive sehr viel wechseln. DasEingangsthema 

Am ma non tropp». beherrscht den Satz nur bis zu der 
*f i} /> I r I ' r ~ Stelle aante omnia saecula« und tritt 
Gn.do. «co-do. dann erst nahe am Schlusstheile 
wieder hervor. Es spricht den festen und freudigen Ton 
des Bekenners. Marx hat aber wo hi etwas hineingehort, 
was nicht darin liegt: ein »Mussa, einen Kampf und Trotz 
gegen den Zweifel. Weder der Aufbau dieser vier Noten, 
noch ihre Durchfiihrung ist so ganz und gar ohne Vor- 
bild, wie dieser Erklarer meint. Wir werden in beiden 
Beziehungen unmittelbar an das »Credoa in Mozart^s oben 
schon beriihrter Bdur-Messe (Nr. 6) erinnert, in welcher 
das — auch aus dem Finale der Jupitersinfonie bekannte 
— Hauptthema eine ahnliche Behandlung erfahrt. Festig- 
keit, Kraft und Entschiedenheit kennzeichnet die ganze 
Eingangspartie von Beethoven's »Credo«. An der Stelle, 
wo Gott als Vater betrachtet wird, sftnftigt sich der 
Ton auf einen Augenblick und wir horen aus dem Or- 
chester einige Tacte lang liebliche Motive. Der erste 
tiefere Einschnitt in dem Strom des Bekenntnisses wird 



-^ 179 ^ 

bei der Stelle »et invisibiliuma gemacht. Ein piano — 
das oft gebrauchte coloristische Mittel zur Auszeichnung 
des Wunderbaren und Geheimnissvollen — hebt diesen 
Schluss noch deutlicher hervor. Ein zweiter, ahnlich ge- 
haltener, kommt an der Stelle nante omnia saeculaw. 
Nun bringt Beethoven die Haupteigenschaften des Gottes- 
sohns mit besonderen Motiven, freudig staunend nDeum 
de deo« und »non factum « aber kurz; langer und mit 
breitem Nachdruck auseinandersetzend das vconsubstan- 
tialem per quern omnia facta sunt«. Wie in der Cdur- 
Messe ist der Gedanke, dass Christus fiir uns vom Himmel 
herabgekommen : »qui propter nos homines etc.« mit 
einer riihrenden Musik wiedergegeben, in der jedoch auch 
die Wortmalerei hervortritt (auf »descendit«). Sie ist noch 
einfacher und inniger als in dem Schwesterwerke und 
leitet zu dem schonen Mitteltheile des »Credo« Uber, der 
die Menschwerdung des Gottessohnes , sein Leiden und 
Sterben behandelt. Die beiden Abschnitte desselben, das * 
so fremdartig und leer begleitete »et incarnatus est^ und 
das aus echtesten und edelsten Schmerzenstonen zu- 
sammengesetzte »Crucifixus« gehoren zu den ergreifendsten 
Leistungen der Tonkunst. Der Chor giebt auch wirklich 
an mehreren Stellen dieses Mitteltheils das Bild der 
schmerzergriffenen und in Trauer stumm gewordenen 
Gemeinde wieder: Er flustert in kaum bewegtem Ton- 
satz. Den grossen Gegensatz der Auferstehung: »et re- 
surrexit« leitet Beethoven wie eine Verkiindigung aus 
Priestersmunde ein. Die Stelle wird a-capella und in den 
alterthiimlichen Harmonien des a-capella-Styls gesungen. 
Erst mit dem »ascendita tritt das Orchester wieder seine 
schwungvoUen Gauge an und streut freudige Motive aus. 
Zu den Besonderheiten Beethoven'scher Declamation ge- 
hSrt die Stelle, wo der Sopran am Schlusse des Aufer- 
stehungstheils nochmals ffir sich das »cum gloria« hinaus- 
jauchzt. Furchtbar, ernst und hart ist die Erscheinung 
des jiingsten Gerichts, des »judicare«, in Instrumentirung 
und Harmonie hingestellt. An letzterer hat Beethoven, 
laut Skizze, mit einem kaum zu verstehenden Eifer sich 

12* 



-^ 480 ^ 

gemiiht. Nach diesem Abschnitt kehrt das Credothema 
wieder. Der Satz wendet sich nun dem Gedanken an 
das ewige Leben zu. Als er zum ersten Male auftritt, 
unterbrechen vielsagende Pausen zwischen >et« und »et« 
die Declamation. Die himmlische Herrlicbkeit schilderi 
Beethoven auf Grund des Thema: 

AllegT'etto ma bob troppo 




Et H.Um *«D . tv.rt tmm . . av.li. • . . meii, a . oiea. 

£s athmet die fromme Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, 
in deren Ausdruck Bach der grosste Meister ist; der Fugen- 
satz, welcher dariiber gebaut ist, fiihrt das schone Bild 
eines leidenschaftslosen Gliicks aus. £s sind aber auch leise 
AnklUnge der Traurigkeit hineingemischt; angesichts deren 
es sehr zu verwundern ist, dass sich Ausleger*) dieses 
Satzes haben verleiten lassen, diese Musik heiter scher- 
zend und ein Allegretto aus »lachendem Munde« zu 
nennen. Die Schuld an diesem Missverst&ndniss tr&gt 
wohl Beethoven's unleserliche Handschrift. Der Drucker 
hat an einer Stelle, wo Beethoven den Einsatz des Altes 
mit »sforzando« sehr deutlich wiinschte, »scherzando« ge- 
lesen und gesetzt. Nach ein em solchen elegischen Ab- 
schluss der Fuge ist es, wo Beethoven den Ton seiner 
Schilderung Sndert: Alio, con moto tritt ein, das Thema 
kommt in der Verkiirzung und der Satz wird zum Ge- 
malde einer iibermenschlichen , gewaltigen Himmelslust. 
So klingt er aus; nur ganz kurz vor dem Schluss blinken 
aus der Hohe noch einmal mildere Sterne. 

In der alteren Messe bildet das »Benedictusct nur einen 
kurzen Zwischensatz im »Sanctus«; in der weiteren Ent- 
wickelung der lustrum entalmesse wurde es aber mehr 
und mehr der Haupttheil. Mit den Wienern hat Beet- 
hoven schon in seiner Cdur-Messe das »Benedictus« so weit 



*) Heimsoeth: L. v. Beethoven's Missa solemnis, Bonn 
1845. 



^ 481 *- 

ausgefuhrt, dass die eigentlichsten Haupts&tze des Textes 
nur wie kleine EingangssHulen vor demselben stehen. In 
der »Missa solemnisa aber hat er nicht nur ein sehr langes, 
vielleicht das lUngste »Benedictus« unter alien vorhandenen, 
geschrieben, sondern auch das anerkannt und denkbar 
schonste. Dieser Satz hat einen eigenthUmlich erhebenden 
und fesselnden Klang, als tonte er in der Nacht aus den 
Hinimelsh5hen herab. Palestrina hat manchmal Hhnliche 
Wirkungen durch Sopranensembles. Die Solovioline, 
welche aus den h5chsten Lagen sich in ruhigen Schritten 
herabsenkt, strahlt einen sanften Glanz aus; wieder 
spielen in der Begleitung die Blasinstrumente eine be- 
sondere Rolle. Die Melodie, welche die Geige singt, ist 
von einer Einfachheit und Anmuth, welche unmittelbar 
zum Herzen dringt und Echos weckt. Wir finden nichts 
nattirlicher, als dass die anderen Instrumente, die S&nger 
im Quartett und im Chbr diese sUdSe Tonerscheinung mit 
verhaltenem Athem nur in leisen, murmelnden Lauten 
wie ein Wunder begrtissen und wenn sie singen, nichts 
thun, als die Weisen dieses wunderbaren YioUnspiels in 
immer neuen Wendungen zu wiederholen. Besonders 
hervorzuheben ist aus dem Yocalsatz die Stelle, wo das 
Soloquartett auf dem Fermate ausruht. Von da beginnt 
ein begeisterter Ton, der in den kurzen parlando-Stellen 
des Chors — forte vorgezeichnet! - den starksten Aus- 
druck findet; und ferner eine andere dem Schlusse n&her 
stehende, in welcher der Chor von der sanften Macht 
der Violinmelodie gebannt, in ihr das »Osanna« intonirt, 
Ausdruck eines h5chsten Entziickens, dass der Verwirrung 
die Hand reicht. Zum Beweise, wie Beethoven das 
Schonste und scheinbar Nattirlichste nicht iiber Nacht 
kam, sei mitgetheilt, dass den Skizzen nach das »Bene- 
dictus« mit einem concertirenden Satz von vier Solo- 
instrumenten ausgestattet werden sollte. Ein dem Grund- 
motiv der Violinmelodie ahnliches war urspriinglich der 
F15te im »et incarnatus est<c gegeben. In dem sehr 
kurzen »Sanctus«, welches durch die Posaunen seine Klang- 
farbe erh3,lt, ist eine eigenthiimliche Stelle am Schlusse. 



-^ 482 -»- 

Die Solostimmen, welche das Sfttzchen allein zu singen 
haben, fangen hier auf einmal an za zittern und zu 
stocken: eine drastische Andeutung der iiberfallenden 
Scheu und Angst vor dem Heiligen. Das »Pleni<i und 
»Osanna«( weichen gar nicht von dem lauten und kr&ftigen 
Styl ab, der in Uebereinstimmung mit dem Text in diesen 
S^tzen bei alien Instrumentalmessen der Periode Beet- 
hoven^s iiblich ist. Er schliesst die Mdglichkeit, das »Pleni« 
von den Solostimmen allein singen zu lassen — wie die 
Partitur und wohl nur auf Grund eines Schreibfehlers 
verlangt — vollkommen aus. Wie im Eingang des »Sanc- 
tusa schlagt Beethoven auch nach dem energisch ab- 
brechenden »Osanna« den Ton ritueller Feierlichkeit an: 
Es ist ein besonderer Instrumentalsatz von tiberleitendem 
Charakter. 

Das »Agnus dei« beginnt Beethoven mit einer ergreif en- 
den Bitte um Erbarmen. Sie kliftgt schlicht aus einem 
gnadenbediirftigen Herzen heraus und wirkt doppelt ernst, 
weil sie zuerst aus dem Munde des Basses uns entgegen- 
tritt. Ihm secundirt der Mannerchor. Die anderen Solisten 
fiihren das Thema, vom vollen gemischten Chor gefolgt, 
zu einem weihevollen Satze aus. Es ist eins jener 
scheinbar einfachen Adagios, wie sie nur ein Meister 
schreibt. Die Stimmung gleicht der einer Beichtscene; 
der ganze Vortrag ist gesammelt und verhalten: Erst 
gegen den Schluss hin geht die rhythmische Bewegung 
in die Achtel, und die letzten Tacte sind von einer freund- 
lichen, schimmemden Figur geziert, welche ihren Ausgang 
aus den BlS^sern nimmt. Als der Sopran das »Dona nobis 
pacema angestimmt hat, §,ndert sich die Scene. Das 
Adagio geht in ein Allegretto (%-Tact) iiber und Beet- 
hoven entwirft in diesem ein Bild des Friedens, welches 
uns mit seinen kindlich glucklichen, volksthiimlichen 
Melodien, mit seinem unschuldigen Spiel auf- und ab- 
steigender Scalengange, in die Gefilde der Seligen fiihren 
zu wollen scheint. Nun kommt aber ein Einfall Beet- 
hoven's in die Composition, der entschieden das schnelle 
Verstandniss Manchem erschwert und vielfach zur Ab- 



183 ^ 

lehnung des » Agnus dei« Veranlassung gegeben hat. Nach- 
dem die B§,sse des Orchesters eben das Thema eines 
himmlischen Reigens durchgefiihrt haben, wird in fremder 
Tonart abgebrochen : Pause, Paukenwirbel, erregte Violin- 
phrasen. Dann eine leibhaftige Kriegsmusik in den Trom- 
peten, zuerst pp, noch wie aus der Feme ; hierauf angst- 
voUe Recitative im Soloquartett! Beethoven will dem 
Frieden sein Gegenbild zur Seite stellen: die St5rung 
des Husseren Friedens, den Krieg. Ganz dasselbe hatte 
J. Haydn in einer F dur-Messe (vom Jahre '< 796) gethan. 
So entwirft er denn in diesem Mitteltheil des »Agnus« ein 
dramatisches Stuck , in welchem Frieden und Krieg ihre 
Sache zum Austrag bringen. Der Frieden wird durch 
den c/tj-Tact wieder vertreten, mit dem er in der Com- 
position eingefiihrt wurde. Verlangert ist dieser Satz 
durch eine Fuge iiber »dona nobisc, deren Thema mit dem 
im aHallelujahtf des Handerschen »Messias« zu den Worten 
»denn er regiert etc.a. vSUig iibereinstimmt. Dass Beet- 
hoven zur Zeit, wo er am »Agnus dei«f arbeitete, den »Mes- 
sias« studirte, zeigen die Skizzenbiicher. Es ist daher 
wohl moglich, dass die Entlehnung absichtlich ist und 
ein sinnreiches Citat bedeuten soil. Der Krieg und der 
Kampf wird durch einen IHngeren Instrumentalsatz (Presto, 
D dur) veranschaulicht, an dessen Ende der Chor entsetzt 
mit xAgnus dei« aufschreit. Mit dem Eintritt des flehent- 
lich lange auf dem hohen as bitten den Solosoprans und 
des Soloquartetts ist die Wendung zu Gunsteh des Friedens 
entschieden und das nAgnus dei« geht mit den sehgen 
Weisen des %-Tacts und in Farbenwendungen, die eben 
so eigen als tiefsinnig sind, zu Ende. 

In dem Falle der »Missa solemnis« hat die Geschichte 
einmal gerecht gerichtet. Dieses Werk verdient es, seine 
Epoche allein zu vertreten. Keine einzige der vielen 
Messen, welche, wahrend Beethoven noch lebte und in 
den nachsten Jahrzehnten nach seinem Tode gedruckt 
und geschrieben wurden, kann sich mit der »Missa so- 
lemnisa messen. Das Urtheil, welches M. Hauptmann 
in seinem Briefen an Hauser iiber die kirchliche 



-^ 184 ^' 

Composition vom Anfang des 49. Jahrhunderts bb zu Men- 
delssohn, mit Betonung von Hummel und Reissiger fftUt, 
ist hart, aber nicht unbillig. Von der Mehrzahl aller in 
diese Periode fallenden Messen kann man sagen, dass 
ihre Musik auch einen anderen Text vertragen wiirde; )e 
nichtssagender, desto besser! Es ist keine zofUllige, son- 
dern eine dieser Thatsache entsprechende Erscheinung, 
wenn Haslinger in Wien unter dem Titel »Aus Domes- 
hallenn ein Sammelwerk herausgab, welches beliebte und« 
angesehene Messen aus den ersten Jahrzehnten in einem 
Arrangement fur Clavier allein herausgab. Der Text blieb 
weg, die Chorstimmen waren eingearbeitet. Da passte 
Beethoven freilich nicht hinein. Die zweifelhafte Ehre, 
in diesem Museum aufgestellt zu werden, genossen als 
die Ersten C. M. v. Weber mit seiner ersten Messe in G 
und Cherubini mit der vierten Messe (Cdur;. Einige Ton- 
setzer ragen mit einzelnen Werken Uber die philistrOse 
Musikantenanschauung dieser Claviermessen empor. Mit 
besonderer Auszeichnuug ist unter diesen besseren Messen 

C. M. y. Webei, die in Esdur von C. M. v. Weber zu nennen. Sie ist 

Esdur- Messe. ein wurdiges Werk, eines seiner bedeutendsten iiberhaupt 

und zeigt uns den Componisten des »FreischUtz« auch 

auf dem Gebiete der Gottesverehrung als eine grosse, 

dem Profanen abholde Persdnlichkeit. Aus dem kirch- 

lichen Dienst ist diese Messe gliicklicherweise noch nicht 

ganzlich verbannt. Als ein &hnlich gelungenes Einzel- 

werk eines flelssigen Messencomponisten w&re dem eben 

8. Moliqnei genannten vielleicht die FmoU-Messe von S. Molique 

F moll -Messe. an die Seite zu stellen. Einige wenige Componisten 

schlagen in alien ihren Messen bewusstvoll eine h5here 

Richtung ein. Zu ihnen geh5rt als einer der Ersten 

Tomaschek, der leider uber Prag nicht nachhaltig hinaus- 

Abt Voglei. gedrungen ist. Zu ihnen gehdrt auch Abt V o g 1 e r , der 

sich jedoch den guten Eindruck durch musikalische Effect- 

haschereien immer wieder verdirbt. Schliesslich sind in 

K. Ettnnd dieser Classe die beiden Munchener Ett und Aiblinger 

J. K. Aiblinger. z^ nennen. Sie wurden die praktischen Fiihrer einer 
heilsamen Reaction, welche endlich zur Ruckkehr zur 



-* 185 *>- 

alien Vocalmesse gefiihrt hat. Ihnen haben wir es in 
erster Linie zu danken, dass die Messe in Deutschland 
nicht so tief sank wie in Italien, wo man allm&hlich 
dahin gelangte, die heilige Handlung mil aus den neuesten 
Modeopern genommener Schmacht- und Tanzmusik zu 
begleiten. Als die Bestrebungen dieser M&nner zur Grun- 
dung eines besonderen Vereins, 'des C^cilienvereins, ge- 
fuhrt batten, siegte ihre Sache scbneller. Es vergingen 
aber viele Jahre, ehe sie nur eine kleine Partei urn 
sich sammeln konnten. Ihre Gesinnangsgenossen waren 
Bisch5fe schon frUher gewesen; die musikalische Welt 
batten sie lange gegen sich. Als man im Anfang der 
dreissiger Jahre sich von Miinchen aus entschieden gegen 
die Haydn'sche Richtung der Instrumentalmesse und ihren 
immer Hiichtemer gewordenen Nachtrab wendete, da 
passirte es denn, dass in der Hitze des Aufraumens auch 
Beethoven mit in den Bann gethan wurde. Uns fslllt es 
sehr auf, in jener Proscriptionsliste Gherubini in gleicbe 
Linie mit Beethoven gestellt und mit denselben Urteln 
nfantastisch, traumerisch<c belegt zu sehen. Wir achten 
Gherubini sehr hoch und bedauern, dass ihn unsere Zeit 
vorwiegend nur platonisch bewundert. Aber wir theilen 
die Ueberschatzung nicht mehr, die er in Deutschland am 
Anfang unseres Jahrhunderts genoss. Speciell seine Messen 
halten mit der Beethoven^schen nMissa solemnisa, ja auch 
mit der G dur-Messe keinen Vergleich aus, soweit es sich 
um Yertiefung und um den hingebenden Ernst handelt. 
Was sie in den Augen der Zeitgenossen so hoch hob, war 
die h&ufig auftretende Originalit&t im musikalischen Aus- 
druck. In der geistigen Stellung zum Messtext erreicht 
Gherubini oft nicht die unterste Schicht der Beethoven- 
schen SphHre. Er bleibt in dieser Beziehung ein Kind 
seiner Zeit und ein, allerdings tactvoller, Anh&nger der- 
selben neapolitanischen Schule, aus welcher am letzten 
Ende auch die Landmessen und noch schlimmere Dinge 
hervorgegangen sind. Um Gherubini nicht Unrecht zu 
thun, muss man beriicksichtigen, dass die Mehrzahl seiner 
Messen Gelegenheitswerke sind, M,hnlich wie M^htil's 



neu aufgefundene Kronungsmesse, wie Berlioz^ »Requiem«, 
wie ein grosser Theil der bekannten franzosischen Kirchen- 
musik tiberhaupt, im Hof- oder Staatsauftrag componirt. 
Aus ihrem Festcharakter erkl^rt es sich, dass in den 
Kyries verschiedener Messen Cherubini's sich die auf- 
schlagenden Marsch- und Einzugsmotive vordrHngen. 
Aber sein eignes Unrecht war es, dass er die Gelegen- 
heit iiber den Hauptzweck setzte. Wenn Heinse in seiner 
bosen »Hildegard von Hohenthal« in einer Zeit, wo es 
noch gar keine gab, die Concerte fiir Museen des sittlicb 
und technisch Besten ansab, was in der Tonknnst zu 
Tage gefdrdert wird, so hat sich diese Prophezeihung an 
Cherubini's Messen bewahrt. Aber negativ: Sie sind von 
der Tagesordnung abgesetzt worden. Von alien elf 
(fiinf gedruckt), die sa,mmtlich an einfach grossen Ziigen 
und an Beispielen genialer Verwendung auch bescheidener 
Tonmittel reich sind, erscheint nur die D moll-Messe, und 
auch diese nur selten, auf den Programmen. 
L. Cherubini, Diese D moll-Messe Cherubini's, ein Werk vom Jahre 

D moll-Messe. 4 821, aus der besten Periode des Meisters, steht hoch 
uber dem oben gezeichneten Durchschnitt der iibrigen 
und darf in ihrem geistigen^ und in ihrem musikalischen 
Gehalt den beiden beruhmten Todtenamtern des Ton- 
setzers gleichgestellt werden. 

Fiir den Eindruck des »Kyrie« ist das kurze Orchester- 
vorspiel, welches dem Einsatz des Chores vorangeht, 
bestimmend. Es kiindet einen dramatischen Gebetsact: 
ein iinsterer Zug beherrscht ihn und schreitet mit leisen 
Motiven schauerlicher Feierlichkeit, mit Klagerufen und 
mit chromatischen Gangen der Verzagtheit fiber die Tone 
des innigen Bittens und des freundlichen Hoffens hinweg. 
Die vom Chore einfach repetirte Skizze ist in ihrer Kiirze, 
in ihrer Strenge, in ihrem hochgespannten Pathos ein 
Meisterstiick, welches Hand und Geist des Componisten 
der »Medea« so deutlich zeigt, dass man auch ohne Titel- 
angabe nur auf Cherubini rathen wiirde. Im dritten 
Theiie der Nummer, einer in dem leisen Anf ang sehr schdn 
wirkenden Fuge iiber das Thema: 



187 

AUegpro moderato. 




kehrt die dumpf erwartungsvolle Anfangspartie der Ein- 
leitung als Anfang und als Schluss wieder. Aus dem 
breiten Fluss dieser Fuge ragen die Stellen machtig ein- 
drucksvoll hervor, wo die Musik unvermulhet zagend ab- 
bricht Die eine ist durch Fermate und unvoUkommnen 
Schluss auf dem Dominantseptaccord, eine andere, gleich 
bedeutungsvoUe durch einen einsamen dahin irrenden 
Gang der Violinen gekennzeichnet. Das »Christe eleison« ist 
den Solostimmen ubergeben, welche in dieser Messe eine 
grossere Reihe von Satzen allein durchfiihren. In der 
Stimmung geht dieses Quartett von Regungen des Ver-' 
trauens und der Zuversicht aus und beriihrt nur an ein- 
zelnen Stellen — mit machtig ausgreifender Melodik an 
den einen, mit in rathloser Kurze sich verlierjenden Mo- 
tiven an den an der en — das Gebiet einer diisteren 
Fantasie. Die Entwickelung der Gedanken ist sehr be- 
wegt; die Form trotz der nachahmenden Fiihrung der 
Stimmen italienisch klar. Die innere Empiindung und die 
harmonische Modulation sind reich an entschiedenen Ab- 
s^tzen und Einschnitten. 

Das »Gloria<( der Dmoll-Messe hat drei Haupttheile. 
Der erste umfasst den Text bis zu den Wbrten »glori- 
ficamus ie«. Der Eingang ist enthusiastisch, nicht gerade 
im kirchlichen Tone: aber die elementare Kraft, mit 
welcher die Violinen heranrauschen, die Gewalt der ein- 
fachen Gesangsmotive, der grosse Zug, in dem die Har- 
monic sich auf dem klarsten Grunde aufbaut, reissen 
alle Bedenken mit fort. Diese erste Intonation hat den 
Charakter einer grossartigen Fanfare. Das »laudamus« 
bildet einen Anhang dazu, fliissiger in der Melodik und 
mit kiihnen Harmonien den Ausdruck noch steigernd. 
Beim »et in terra pax« bricht Cherubini, der Freund 
scharfer Gliederung, plotzlich ab. Ueber die fried- 
liche Stille des Orchesters gleitet von Instrument zu 



-<♦ 1 88 ^■ 

Instrument Alto gre^ dahin. Man wird un- 

das beschau- i^i ^ J .TJ J t I i willkttrlich an Beet- 
liche Motiv «■"'•■ ^ ■•■" J hoven's erste Sinfonie 
und an den Eintritt des zweiten Themas im Haupt- 
satze erinnert. Auch. Haydn giattet mit diesen fttnf 
Noten so oft die hohen Wogen des Gefiihls. Die 
Singstimmen declamiren dazu ruhig freundlich ihre Frie- 
denswiinsche. Dann erscheint das »laudamus« wieder 
mit seinen Achtelg&ngen. Ganz eigen ist der Gedanke 

derAnbetung AUegro. ^ Das kind- 

.usgedrtckt, i'lipfill r ppilt \\T. ■ Uch heitere 
nftmhch mit:^^^ ■ fe n mit. ^^ ^ «« "^^^ Motiv ist 
der unbefangene und starkste Ausfluss der im »et in terra« 
angeschlagenen Stimmung. Cherubini bat nicht vers&umt, 
ibm unmittelbar Tone von hoherem Pathos nachzusenden. 
Mit ibnen ieitet er in die Eingangsworte »gloria in ex- 
celsis deo« zuriick imd daniit in eine Wiederbolung der 
ganzen Jubelscene uber. Die Reihenfolge ihrer Abschnitte 
ist jedoch frei geandert. 

Der zweite Haupttheil des »Gloria« besteht aus dem 
»Gratiasa und dem »Qui tollisa. Das »Gratias<( gleicbt dem 
Andante einer Haydn'schen Sinfonie: es liesse sich zur 
Noth ohne Singstimmen auffiihren. Die Instrumente tau- 
schen Motive frommer Anmuth aus, das Soloterzett de- 
clamirt dazwischen; bier und da vereinigen sich Sanger 
und Spieler zu l&ngeren Melodien voll warmen Aus- 
drucks. Das »Qui tollis« (HmoU, Largo), der bedeutendste 
Satz im »Gloria«, ist ungef^hr gedacht: als ob die siindige 
Menschheit das Strafgericht nahen s&he: Es naht in 
rollenden, tief dumpfen Figuren der Violinen, zu denen 
andere Instrumente schwere Accorde lang lastend aus- 
halten. Man glaubt den drohenden Ton eines fernen 
Gewitters zu horen. Ein feierlich modulirender Tact 
endet die Spannung und nun stimmen aus der Leere 
heraus die Menschenstimmen zagend ihr » miserere « an. 

Der dritte Haupttheil enthS.lt das »Quoniam« und das 
»Cum sancto spiritu«. Alles ist hell in der Stimmung; 
die Form fugirend, aber leicht, weil reich gegliedert. Eine 



-fr 189 ^>- 

sehr grosse Wirkung macht der erste Eintritt des »Cum 
sancto spiritua in den breiten Rhythmen und der fast 
geisterhaften Instrumentirung. Man denkt, wenn nach 
dem feierlich langen H moll -Accord auf ^inmal unter 
pldtzlicher Todesstille die beiden Solostimmen (Tenor und 
Bass) das steinerne Thema hineinrufen, unwillkurlich an 
die Bibelstelle: »Denn der Geist spricht etc.«. Die Schluss- 
steigerungen des »Amen« haben auf Beethoven's Behand- 
lung dieser Worte in der »Missa solemnisa vielleicht ein- 
gewirkt. 

Einen Beriihrungspunkt mit dem letztgenannten Werke 
bietet auch das »Gredo«. Dieses und das »Gloria« Beetho ven^s 
haben die«hinstTirmende Begleitungsfigur der Violinen fast 
wortlich gleich. In der Ablegung des Glaubensbekennt- 
nisses selbst ist aber zwischen beiden Gomponisten ein 
himmelweiter Unterschied. Gherubini thut dies mit einer 
wahren Bravour, die von jeder Vertiefung entfernt ist 
und auch kaum den richtigen Ton trifft. Aber die Kraft 
und die Naivitslt in dies em Bekenntniss sind doch so 
stark, dass sie die Verwunderung verstummen machen. 
Ueber Skrupel und Bedenken ist dieser Glauben niemals 
gestrauchelt. Es kommen Stellen vor, welche die Ge- 
dankenlosigkeit und die Trivialit&t streifen; aber der 
ahnungslose Eifer, mit dem auch sie hinausgepredigt 
werden, macht sie wieder liebenswiirdig. Eine solche 
Stelle ist das »patrem omnipotentem«, welches nament- 
lich beim ersten Male vom Sopran — es sind unver- 
kennbar Knabenstimmen gedacht — auf dem hohen~g 
hingeschmettert , ganz merkwurdig klingt. Bis zu den 
Worten »descendit de coelis« ist der ganze Textvorrath 
in einem festen und um Details unbekiimmerten Zuge 
iibertiincht; erst bei dem BUde des vom Himmel herab- 
steigenden Gottessohnes erinnert sich Gherubini, dass die 
Musik nicht bios f&rben, sondern auch malen und zeich- 
nen kann. — Bei dem »et incamatus est« haben Gheru- 
bini vielleicht Jugendeindriicke wiedergeklungen, Tone aus 
der besseren Zeit der italienischen Dome. Palestrina, 
die einfachen Melodien dieses Meisters, die seraphischen 



490 ^ 

Kl singe seiner Knabenchore, seine Kunst, die Gruppen des 
Chores wechseln zu lassen, zu trennen und zu verbinden, 
leben in diesem klassisch schdnen S&tzchen wieder auf! 
Cherubini's Fantasie ist hier in einer eignen Weise er- 
grififen, ganz unzweifelhaft durch persdnliche Erinnerungen 
gefesselt worden. Im gewissen Sinne ist er nur halb bei 
der Sache, als er des Herrn Kreuzigung, Leiden, Sterben 
und Begrabniss schildert. Das ist wie im Traume er- 
zfthlt, wie eine verschleierte Vision; aber so eigen und 
schon, dass man es mit Nichts vergleichen kann. Unter 
einem Gewinde von dankbaren und bewundernden Ge- 
danken, die alle leise wie nur nach innen gesprochen vor- 
beiziehen, steht der Chor und declamirt ebenfallsim pp die 
ganze Passionshistorie auf einen Ton hin. Alle vier Stimmen 
etliche fiinfzig Tacte lang nichts als ihr C. Das ist unter 
den vielen magischen Effecten, die von neueren Meistem 
mit dem Kunstmittel der sogenannten liegenden Stimme 
in grossen und kleinern Tonbildern (Beethoven, Schubert, 
Nicolai, Curschmann, Cornelius, Boito) erzielt worden 
sind, einer der bedeutendsten und einer, den man als 
solchen gar nicht zu bemerken braucht. Cherubini! 
Grosser, sublimer Meister! — Die Scene der Auferstehung 
ist wieder in dem Style gesetzt, in welchem das »Credo« 
begann: das »ascenditc< mit der Umkehrung desselben 
Motivs wiedergegeben , welches dort am Schluss das 
»descendit« aufnahm. Mit Beethoven'scher Entschieden- 
heit und Schwungkraft declamirt Cherubini das »cujus 
regni non erit finis«. Den ganzen Schlusstheil, das »et 
vitam venturi saeculi« inbegriffen, hat Cherubini aus dem 
Sinne einer Seele heraus gefasst, welche ihren Frieden 
gefunden. Es ist eine sanfte Arie, deren Hauptthema die 
einzelnen Stimmen des Soloquartetts nach einander auf- 
nehmen. • Wie, als ob es nun genug der Riihrung sei, 
packt dann der Meister das »Amen« fur sich mit gewal- 
tiger Faust und treibt es durch eine Doppelfuge, deren 
kraftig kurzer, ungestiimer Ton fast bedrohlich wirkt. 

Das «Sanctus« zeichnet sich durch grosse Knappheit 
aus. In Anlage und Erfindung hat sich Cherubini hier. 



wie er manchmal thut, auf das N5thigste beschrankt. 
Das »Pleni sunt* ist mit dem vSanctus dominus deus 
Sabbaotha in einen Satz zusammengezogen, dessen 
Charakter getragen und feierlich ist. Das Eigenthumliche 
an dem, wie iiblich, in froher Bewegung vortiberziehenden 
»Osanna« ist der Einsatz in fremder Tonart: Cdur in A! 
Im »6enedictus« gebraucht Cherubini ein in seinen Messen 
haufig vorkommendes Mittel vocaler Instrumentation: 
recitativische Intonationen einzelner Solostimmen, denen 
das vierstimmige Ensemble dann nachfolgt, wie der Ge- 
meinderespons dem liturgischen Rufe des Altarpriesters. 
Das »Agnus deiu besteht aus zwei Tbeilen: einem 
langsamen Satz (Andante moderato) und einem Allegro. 
Der erste setzt im Tone des ruhigen Gliickes, des seligsten 
Vertrauens ein. Man kann an ein Kind denken, welches 
im Arm der Mutter eingewiegt wird. AUmahlich wird aber 
der Ausdruck unruhiger und triiber; am Schluss, wo das 
Orchester an j^ _n ^g -j — festhait, sogar leidenschaftlich 
dem Motive w "' ^^^ und aufregend. Der Chor schreit 
angstlich auf in langen Accorden, nachdem er eben 
vorher noch leise, wie im Innem, lange einem freund- 
lichen Bilde nachgesonnen. Schnell, wie die schrecklichen 
Gedanken gekommen, verschwinden sie auch wieder. 
Die Stelle, wo Cherubini aus dem tumultuarischen Ab- 
schnitt in den liebenswiirdigen Anfang des Satzes zu- 
riickmodulirt und schliesst, ist eine der schonsten in 
dieser an Schonheiten ersten Ranges reichen Messe. 
In dem zweiten Theile, welcher das feierliche Thema: 
^^^U^gro. zur Hauptgrund- 

f^' i t* ,, I e I ^ I ^ I «» iJiJ L. IJ ■ I lagehat, sinddie 

Do . Oft no . bis» no . bis pa. osm Rolleu ZWischen 

Soloquartett und Chor dramatisch vertheilt: Das erstere 
singt Frieden und Seligkeit; der Chor haftet noch im 
Zweifel. Den herrlichen Augenblick, wo auch in ihm der 
Glaube gesiegt hat, bezeichnet in der Musik der durch 
eine zweitactige Pause der Masse vorbereitete, leise Ein- 
satz des »Dona nobis« auf dem iibermassigen Dreiklang 
von D. 



-^ 192 ^ 

W&hrend diese DmoU-Messe Gherubini's in der Praxis 
nicht in dem VerhUltnisse ber&cksichtigt wird, wie sie es 
ihrer Bedeutung nach verdient, erscheint eine andere 
Messcomposition desselben Tonsetzers in neaerer Zeit 
hM,ufiger auf den Repertoiren, als sie nach ihrem Gehalt 

L. Gherabini, beanspruchen kann. Es ist dies das i>achtsiimmige« Credo 
Credo (achtstim- (a-capella), eins der vieien Messenfragmente, zu welchen 

mig a-capella). Cherubini. durch die eigenthUmliche Liturgie am fran- 
z5sischen Hofe veranlasst worde. Wir haben dieses Werk 
als eine Studie im alten Vocalstyle zu betrachten. Sie 
unterscheidet sich als solche von den &hnlichen nennens- 
werthen Arbeiten gleichzeitiger, friiherer*) und sp&terer 
Musiker dadurch, dass sie in erster Linie technische 
Zwecke verfolgt. Man k5nnte sie fiir die Nebenfrucht einer 
grdsseren theoretischen Arbeit, vielleicht des bekannten 
Lehrbuchs vom Gontrapunkt halten, w&re das Entstehungs- 
jahr nicht schon 4 806. Cherubini nahm den Credotext, um 
an ihm ein Beispiel fiir die Anwendung des achtstimmigen 
Satzes (a-capella) zu geben. Und er gab dies ohne einen 
grossen Aufwand von Geist und hoherem Fleiss. Eine Ver- 
tiefung in den heiligen Text, ein BemUhen, die Geheim- 
nisse des Glaubens in ergreifende und machtige Tonbilder 
zu f assen, spricht aus diesem »Credo(( ebenso wenig, als eine 
iiberlegene Kenntniss der Meister des 46. Jahrhunderts und 
eine fruchtbar gewordene Vertrautheit mit ihren Formen. 
Wir k5nnen sogar nicht umhin, Cherubini den Vorwurf 
zu machen, dass er die alten Muster in manchem Punkte 
nur halb verstanden hat. Dahin gehort die Behandlung 
des cantus firmus, aus welchem er ein blindes Fenster 
macht; dahin gehort zweitens auch die ubermassige Be- 
deutung, welche er, dem Beispiel der friiheren Nieder- 
lander folgend, den contrapunktischen Kunststiicken 
beilegt. Der achtstimmige Satz ist vorwiegend compact 
behandelt und der geisti^e Gehalt der Erfindung und 



*) Unter ilinen auch G. Sarti, Gberubini's Lebrer, mit 
einem »Fiiga« betitelten acbtstlmmigen »Kyrieff. 



-fr 193 ^ 

Ausfiihrung libersteigt nicht ein gew5hnliches Mittelmaass. 
Ueber diese Durchschnittsstufe treten einzelne Partien 
allerdings hinaus: Es ist dies der kleine Abschnitt: »yi- 
i^ibilium omnium et invisibiliam «. Ferner die ganze Par- 
tie, welche die Geschichte des Gottessohnes umfasst: das 
»Et incarnatus esta und das »Crucifixus« bis zu seinem 
Schlusse: »et sepultus ester. Sie finden wir wiederholt 
auch allein auf den Concertprogrammen. Endlich ist 
noch als ausserordentlich hervorragend der Schlusstheil: 
uEt vitam venturi saeculi« zu bezeichnen. WM,hrend alle 
iibrigen Abschnitte des >'Credo« bei dem Vergleich mit den 
Originalwerken der grossen Vocalperiode eine niedere 
Censur erhalten, miissen wir diesem contrapunktiscben 
MeisterstUck eine Ueberlegenheit zuerkennen. Nirgends 
im i 6. Jabrhundert begegnen wir tiber diese Worte einem 
kunstvoUen Gemalde von so grosser und colossaler Form- 
anlage. Aber wir konnen auch nicbt verkennen, dass 
mit der LUnge auch zugleich geistiger Schwung diese 
ausserordentliche Fuge auszeichnet. Es ist darin etwas 
von dem unerschopflichen Geist der Beethoven'schen 
nMissa solemnis*. In einer Zeit, wo Palestrina und seine 
Neben- und Vormanner ungekannt waren, musste dieses 
i)Credo« als ein Wunderwerk wirken; denn es bringt die 
Naturreize der Gattung, wenn auch nur einseitig und nur 
massig belebt, doch immer noch stark genug zur Geltung. 
Einer der liebenswiirdigsten Vertreter der Instrumen- 
talmesse ist Franz Schubert. Seine sieben Messen, F. Bohnbert, 
welche jetzt in der stattlichen Gesammtausgabe der MeBseMn G. 
Werke F. Schubert's*) zwei Bande der 13. Serie aus- 
fuUen, sind zur Zeit ihrer Entstehung wenig bekannt ge- 
worden. Schubert schrieb auch diese Werke, wie seine 
Sinfonien unddieanderen, imsorglosestenSchaffensdrange. 
Die drei ersten wurden in der Zeit von zwolf Monaten 
{1814 — 15) fertig und der Componist war vollstandig zu- 
frieden, wenn eine der Wiener Vorstadtkirchen Gelegenheit 



*) Breitkopf und Hartel. 
II, 1. 13 



-*■ 194 ^ 

zu einer Auffuhrung bot. Wir schreiben diese Bescheiden- 
heit mit auf das pers5nliche Gonto Schubert's — wir 
sollten aber nicht vergessen, dass in der Zeit des un- 
entwickelten Musikalienhandels die Wirkung im engsten 
Kreise das Loos der meisten Tonsetzer war. Ueber 
einen Localerfolg hinauszudringen, bedurfte es eines 
bereits fertigen Namens oder eines Werkes von iiber- 
ragender Bedeutung. Unter diese Gattung aber die Jugend- 
messen Schubert's einzureihen, dUrfte auch den eifrigsten 
Schw&rmem kaum ein fallen. Einen interessanten und 
individuellen Zug der ersten vier Messen (F, B, G, C, 
48U— 4 84 6) erbhcken wir in ihrer Hinneigung zum Lied- 
ton. Die reifste unter ihnen ist die in G, welche wir auch 
heute noch im katholischen Gottesdienste h&ufiger benutzt 
sehen. Sie hat den kurzen, alle Wortwiederholungen und 
alles Verweilen und Eingehen vermeidenden Styl, welchen 
G. K. Reutter, der Lehrer Haydn's, in Aufnahme brachte, 
und den spater namentlich Gansbacher zu dem seinigen 
machte. Wahrend aber diese Tonsetzer und ihre Schule 
die in dem Style liegende Gefahr eines geschaftsmassigen 
und niichternen Ausdrucks zeigen, dient die Ktirze fur 
Schubert zum Ansporn genialer Ideen. In dieser Hin- 
sicht ist das choralartige »Credoa der G dur-Messe beson- 
ders merkwiirdig und in diesem wieder hervorragend der 
Abschnitt: »in unum dominum etc.« und der mit ihm 
gleichlautende: >qui cum patre et filio etc.« 

Das Concert beschrankt sich auf zwei von den spa- 
teren Messen Schubert's, die in As (1822) und die in Es 
(4 828), imd pflegt und kennt die eine erst seit zwei Jahr- 
zehnten, die andere ungefahr eine Mandel Jahr langer. 
Es hat aber in diesen Compositionen der musikalischen 
Welt zwei Werke zugefiihrt, die wir ohne Bedenken den 
Spitzen der Gattung zuzahlen und welche fiir die ganze 
Eigenart, Tiefe und Kraft der Schubert'schen Natur die 
glS^nzendsten Zeugnisse bilden. In keiner seiner Sin- 
fonien, — mit Ausnahme des DmoU-Quartetts konnen wir 
sagen : in keinem seiner Instrumentalwerke — hat Schubert 
die geistige Grosse wieder erreicht, in welcher er in 



-fr 195 «- 

diesen zwei Messen vor uns steht. Man darf ruhig be- 
haupten: wer die Asdur-Messe nicht kennt, kennt die 
voile Bedeutung Schubert's iiberhaupt nicht. Nur das 
Eine bleibt an dem Werke zu bedaaem, dass nicht alle 
Abschnitte desselben von gleicher Gute sind. 

Das »Kyriea dieser Asdur-Messe ist ein sehr einfacher Ft Schubert, 
Satz von echt Schubert'schem Ton. Beide Abtheilungen, Meise in As. 
die Anrufung Gottes des Vaters und die Gottes des 
Sohnes, sind kurz ausgefUhrt und eng verbunden. Nach 
dem »Christe eIeison« beginnt der Satz von vom, wird 
ziemlich w5rtlich wiederholt and mit einem im Anfang 
etwas dunkel ausbiegenden Anhang versehen. Der Cha- 
rakter der Musik ist der des kindlichen Vertrauens. Als 
belebendesGegenelement kommen wiederholte Wendungen 
derWehmuth vor, zuweilen starker accentuirt. Nament- 
lich ist dies im »Christe eleisonc der Fall. Sie scheinen 
aber nur da zu sein, um den freundlichen Refrain 

^>h>< f ifTT^, \T~ z hervorzuheben. 

Das »Gloria«r, in den Abschnitten des Lobens und Prei- 
sens sehr wuchtig und energisch gef&hrt, hat seinen ge- 
nialsten Theil im sGratiasa. Duftige von einem Gefuhl 
des Glfickes durchhauchte Melodien der Solostimmen ; der 
Chor schliesst sie kurz geheimnissvoU ab! Das »Domine 
deus, domine fili etc.« ist in den zarten Bau der Dank- 
sagung originell hineingezogen. Das »Qui toUisa und das 
»Quoniama sind thematisch gleichlautend und bilden geistig 
eine Art Fortsetzung der Danksagungsscene, gleichsam 
ihren zweiten, weiter ins Innere des Heiligthums hinein- 
verlegten Abschnitt. Dieser Abschnitt hat einen mach- 
tigen Schluss. Wie aus dem leisen Ton der Bitte die 
Stimmen im Unisono zusammentreten und, wie der £r- 
horung und des Sieges gewiss, ihr »Quoniam« in allem 
Glanz in die Welt hinausrufen, das ist eine der gewal- 
tigsten Ideen und einer der gewaltigsten Efifecte, welche 
in der gesammten Messenlitteratur an dieser Stelle 
vorkommen. Auch im Detail der Declamation w&chst 

4 3* 



-«. <96 -^ 

Schubert's Geist an dieser Stelle auf einmal ins Grossartige. 
Das »te« vor der letzten Periode ist Beethoven'sch. In 
seiner Stellung auf dem p]6tzlich und im ff eintretenden, 
verminderten Septaccord erinnert es unwillkiirlich an das 
»Barrabam« der Bach'schen Matth&uspassion. Das »Gloriaff 
schliesst mit einer kr&ftigen und gl&nzenden Fuge iiber: 
»cum santo spirituer. Als Eybler, selbst ein sehr frucht- 
barer und noch heute ein viel geflegter Componist von 
Messen, die Auffuhrung von Schubert's Asdur-Messe in 
der Hofcapelle wegen zu grosser L&nge ablehnte (siehe 
Kreisle), mochte er wohl Satze wie dieses ncum santo 
spiritux im Auge haben. Das Thema dieser Fuge ist eines 
der leichtesten. Es scheint Schubert nicht gefallen zu 
haben. In einer vorhandenen zweiten Fassung dieses Ab- 
schnitts, die in der Gesammtwirkung hinter der ersten steht, 
ist es etwas veredelt worden. Das »Credo« hat eine einfache 
dreitheilige Anlage. Der erste Theil geht bis zum »per quern 
omnia facta sunt« (Cdur, Allegro maestoso). Der zweite, 
kurze (Asdur, 3/2 Grave) behandelt die Menschwerdung 
Ghristi und seine Passion; der dritte (Cdur, Tempo I) ist 
Wiederholung des ersten mit einem kurzen Anhang. Der 
erste Theil stellt das Bekenntniss ausserordentlich ernst 
und streng hin. Das Thema mitseinenalterthiimlichenHar- 
monien hat Choralcharakter, ahnlich wie der gleiche Satz 
in der Gdur-Messe, und wird spater auch so wie dort mit 
den straffen Vierteln der Orchesterbasse contrapunktirt. 
Nur ist es in viel finstereren Farben gehalten. Von ge- 
waltiger Wirkung ist es, wenn nach j^ maestoso e 
jedem Abschnitt des Bekennt- ^ ^ ^ ^^ 
nisses, welches die Stimmen zu m ^ » * 
zwei unter einander vertheilen, das = 

Orchester mit aller Kraft das Moliv > 

hinsetzt. Das failt immer wie ein bekraftigender Schwert- 
schlag darein. Das »Et incarnatus est« und das nCru- 
cifixuscc sind von grosser Einfachheit. Das erstere erreicht 
die hochfeierliche Wirkung durch die Theilung der Chore 
und die Instrumentirung, das letztere greift mit knappen 
aber sicheren Biegungen der Melodie ins Herz. Nur selten 




-^ 197 ^ 

trifft man Schubert in dieser vielsagenden, m£lnnlichen 
Wortkargheit, mit welcher er hier einen Palestrinensischen 
Eindruck erreicht. Der dritte Theil, immer noch wirkungs- 
YoU und an grossen Stellen reich, ist nicht mit derselben 
Inspiration geschrieben, wie die vorhergehenden. Be- 
fremdend ist die Zurlickhaltung , mit welcher das »et 
vitam etc.« und das »Amen« ausgefiihrt sind. 

Dem »Sanctus« der Messe liegt im ersten Theile (An- 
dante, ^/s F dur) die Absicht zu Grande, die Erscheinung 
des Wunderbaren zu versinnbildlichen. Daher die flat- 
temden Rhythmen, der langsame Aufbau des Accords; 
daher der fremdartige Eintritt des uberm3,ssigen Drei- 
klangs und zum Schluss der im langen Staunen hinge- 
haltene machtige Aufschrei des Chors ! Das »Pleniff, in den 
Hauptsatz eingezogen, bietet ein hebliches Gegenbild. Das 
»Osanna«, auch ganz abweichend von der gew5hnlichen 
Wiedergabe dieses Abschnittes, steht unter der gleich- 
zeitigen Wirkung der beiden beruhrten Fantasiegebiete : 
Es schwebt dem Gesalbten mit zarten Grussen entgegen 
und steht dann vor der MajestUt wie festgebannt. Auch 
von ihm existirt eine zweite Fassung, welche keine Ver- 
besserung bedeutet. Die Stimmung kommt erst im »6ene- 
dictus* zur ruhigen Sammlung. An und fiir sich wiirde der 
einfach friedliche Satz unbedeutend sein; der Zusammen- 
hang giebt ihm seine Wirkung. Das »Agnus deia ist im 
zweiten Theile, dem »dona nobis pacem« (Allegretto, (J^ 
As dur),* dem Style nach dem »Benedictus« sehr ahnlich. 
Es ist der liedmassige Schlussgesang einer der ErhSrung 
sicheren, durch das eigene Gebet beruhigten Gemeinde. 
Der erste Theil (Andante, 3/^ F moll) ist dem Soloquartett 
iibergeben, welches eine einfache, Himmelssehnsucht und 
Erdenmudigkeit streifende Melodie durchfiihrt. Der Chor 
stimmt, wie auf den Knieen liegend, sein »miserere« an. 
Der Anfang ist leise psalmodirend, der Schluss des 
kurzen Chorabschnittes melodisch warm. 

Schubert's Messe in Es, einer seiner SchwanengesS^nge, F. Sohnbert, 
tr^gt ein starkes pers5nliches Geprage. Eigenthiimlich £s-dur Messe. 
ist ihr eine grosse Erregtheit, der zufolge sich das 



-fr 198 ^ 

Gemiith der Musik ebenso der Weichheit, wie ein andermal 
der Leidenschaftlichkeit hingiebt, da wo wir es dem Text 
nach nicht erwarten. Um ein Beispiel anzufuhren: Was 
soil dieser wehmiithig schmerzliche Ausdruck bei dem 
Bekenntniss: »Ich glaube an die heilige Taufe?a Und 
doch ist er sch5n and aus dem Grundton, in welchem 
dieses ganze Werk gestimmt ist, wohl zu verstehen. Sehr 
viel haben in dieser Messe die Instrumente zu sagen. 
Diese Neigung, aus dem Munde des Orchesters wesent- 
liche Gedanken in der Messe sprechen zu lassen, zeigt 
Schubert schon in der Asdur-Messe; er theilt sie mit 
Beethoven. Im »Kyrie« sind es die Blasinstrumente, welche 
die freundlichen Gedanken des Satzes dem Chore souf- 
fliren. In der Gesangpartie lebt eine miihsam versteckte 
Aufregung der Empfindung. Sie Eussert sich in den 
fiebrisch wechselnden Modulationen, in der mehr accor- 
disch declamirenden als wirklich singenden Fiihrung der 
Stimmen. Kommen dann die melodischen Ziige, so er- 
greifen sie mit doppelter Kraft. 

Auch in der Esdur-Messe wird man das >»Gloria« fiir 
den bedeutendsten Satz halten miissen. Wie in der Asdur- 
Messe ist auch hier der §,ussere Vortrag der preisenden 
und jubelnden Abschnitte ausserordentlich energisch; in 
der sttlrmenden Triolenfigur der Violinen kommt diese 
Energie zum sch&rfsten Ausdruck. Aber gerade in ihnen 
ist der subjective Grundzug der ganzen Messe sehr deut- 
lich ersichtlich. Ein Tropfen Zagen und Traurigkeit hSngt 
in jeder Periode: hier in dem iibermassigen Sextaccord 
auf dem zweiten »excelsisa, dann in den verminderten Sep- 
timenaccorden , welche die ersten Nachahmungen des 
Gloria -Thema schliessen. Wie niedergeschlagen klingt 
das »Adoramus ten. Beim »Gratias« beginnen wieder die 
Instrumente hold zu spielen und darauf wird der Satz 
mit Wiederholung des Eingangs abgerundet. Das »Qui 
tollis« hat eben falls die Hauptged^nken im Orchester. 
Die Blasinstrumente spielen den ganzen Abschnitt hin- 
durch eine liturgische Melodie von tief traurigem Cha- 
rakter. Das Streichorchester tremolirt in absetzenden 



-fr 199 ^ 

Rhythmen; die Singstimmen singen ausdracksvoU in 
kurzen Motiven. Der Theil gleicht einem grossartigen 
Recitativ. Das »cain sancto spiritaa and das vAmenv ist 
in Form einer Fuge wiedergegeben, die wiederholt zn 
einem zweiten Thema ansetzt. 

Im ersten Theile des » Credo « herrscht eine rUhrend 
weiche Stimmung vor. Das anf » Credo in nnnm do- 
minum« einsetzende, feste und durch Nachahmungen noch 
mehr gehartete Thema vermag nicht dieselbe zu dorch- 
brechen. Das »et incamatns esi« drlickt das Wunder der 
Menschwerdung in Melodien von sich ausbreitender An- 
muth ans. Das •Crucifixas« bildet einen starken Gegensatz 
dazu. Es schildert finster, manchmal wie mil einer Art von 
Abscheu. An einer Stelle scheint die Fantasie des Ton- 
setzers aufs Leidenschaftlichste in das Bild der Kreuzigung 
vertieft zu sein. Der Chor declamirt nicht »etiam pro no- 
bis«, wie der Text lautet, sondem nach dem »etiam« schreit 
er ohne Weiteres noch einmal mit aller Kraft: »cnicifixas«. 
Nach der Passion sind die weiteren Textabschnitte anf die 
Musik des ersten Theils vom »Credo« gesetzt. Die Worte : 
»et vitam venturin bilden einen fugirten Anhang. 

Im »Sanctus« greift Schubert mit Ausnahme des im 
conventionellen Fugenstyle componirten »Osannaff auf ' 

dieselbe Auffassung und Behandlung zurtick, die wir in 
der Asdur-Messe als eine eigenthUmliche kennen gelemt 
haben. Nur die formellen Mittel sind theilweise andere. 

Das »Agnus dei« ist wieder ein Satz von grosser Er- 
regung. Das Hauptthema der ersten Anrufung hat litur- 
gischen Charakter; seine Stimmung ist trub und schwer. 
Die Instrumente verzieren den Gesangsatz mit leiden- 
schaftlichen Motiven. Das »dona nobis« tritt naiv, ver- 
trauensvoU und unschuldig dagegen. Seine breite Durch- 
fuhrung wird einmal durch die Ruckkehr des dUsteren 
nAgnus dei« gewaltig wirkungsvoll unterbrochen. 

Im kirchlichen Dienste und bei geistlichen Concerten 
kleinerer Chorvereine begegnen wir h&ufiger einer »deut- F. Sehnbert, 
schen Messe« F. Schubert's. Der Text (von J. P. Neu- Dentsciie Messe. 
mann verfasst) ist keine eigentliche Uebersetzung des 



200 -ft- 

lateinischen Originals, sondern ein freier, etwas ratio- 
nalistisch gehaltener Ersatz. Die Musik, welche Schubert 
i. J. 4 827 fiir das Polytechnicum in Wien geschrieben hat, 
schlagt den Ton gehaltvoller Anmuth an und beschrftnkt 
sich auf liedmassige Formen. Von der Gresangpartie 
existirt eine doppelte Bearbeitung, die eine fiir Manner- 
chor, eine zweite, welche von Ferdinand Schubert her- 
rUhrt, fiir dreistimmigen Knabenchor. Das Or Chester kann 
durch Orgel ersetzt werden. Aehnlicher »deutscher Messen« 
Oder ndeutscher Aemter« haben wir aus den ersten De- 
cennien unseres Jahrhunderts sehr viele. Besonders be- 
liebt waren die des melodisch sehr deutlichen J. Preindl. 
Nach Schubert haben wir diejenigen Messen, welche 
eine hohere kiinstlerische Bedeutung beanspruchen kdnnen 
und welche demzufolge im Concert, wenn auch nur vor- 
iibergehend, Beachtung gefunden haben, merkwurdiger 
Weise — ziehen wir die wenig bekannten Arbeiten des Bres- 
lauer Brosigab — fast ausschliesslich auf protestantischem 
Boden zu suchen. Es kommen hier zunachst die Messen 

B. Klein. B. Klein's in Betracht: ernste, wiirdige Werke, denen 
nur etwas mehr musikalische Sonne zu wiinschen ware. 
Unter den Meistern von hervorragenderem Namen ist 

L. 8pohr. ' L. Spohr zu nennen, dessen Vocalmesse in alien den 
Satzen, wo die Wehmuth herrschen darf, einen tieferen 
U. HanptmaniL. Eindruck hinterlasst. Moritz Hauptmann's Instru- 
mentalmesse (Gmoll) ist unter den Compositionen des 
musikalischen Hochamtes, welche aus der Mitte des 
4 9. Jahrhunderts stammen, diejenige, welche nach Zahl 
der Auffiihrungen obenansteht. Das Werk ist ausser- 
ordentlich fliessend geschrieben und hat viele feine und 
besondere Ziige in seiner Form. So iiberrascht uns im 
ersten Satze, ahnlich wie in dem ersten Satze des »Re- 
quiem« von Brahms, ein Orchester ohne Violinen. Geistig 
wurzelt es, wie auch die Vocalmesse (Fmoll) desselben 
Tonsetzers, in der weichen und gleichmassigen An- 
schauung einer aiteren Periode. Fiir die bedeutendste 
Messe des ganzen in Rede stehenden Zeitabschnittes 
H. Schamann. halten wir die Instrumentalmesse (G moll) R.Schumann's. 



-* 201 -0^ 

Das Werk geht durchweg auf feierliche und erhabene 
Wirkung aus und sucht diese mit einfachen, immer 
geradeaus steuemden Mitteln zu erreichen. Wir bleibeii 
dabei manchmal UDter dem Eindruck einer etwas trotzigen 
Gottesverehrung stehen; wir werden aber auch durch 
Stellen einer gewaltigen Grosse und Kraft aufgeruttelt. 
Derjenige Abschnitt, in welchem Schumann seinem Ideale 
einer musikalischen Messe am nftchsten gekommen zu 
sein scheint, ist das i>Sanctus«: ein ahnungsvoll und ge- 
heimnissvoll gedachter, von sehnender und schwelgender 
Empfindung umrankter, dabei aber doch fest und einfach 
gebauter Satz. Im »Kyrie« ist das edle, kummervoUe erste 
Thema hervorzuheben ; im »Gloria« der interessanten Anlage 
wegen das: »Domine deus« und das »cum sancto spiritu«. 
Im »Credo« beriihrt der Abschnitt von »qui propter nos« 
bis wsepultus est« sehr eigenthiimlich. Per Chor recitirt 
hier ohne Aufhalten, mit bedeutenden Accenten, aller- 
dings aber das Meiste wie in dem Streben, Uber diese 
schauerlichen Bilder hinwegzukommen. Das Wunderbare 
in dem Textberichte deuten die Orchesterbasse mit einer 
ihre kleinen Kreise immer wieder zuriicklegenden und in 
Dissonanzen schillernden Figur an. 

Die riicklaufige Bewegung zur Vocalmesse, deren wir 
oben mit den Namen Aiblinger und Ett gedacht haben, 
fand auch auf der protestantischen Seite fleissige An- 
hanger. Aus der Menge der seit dem zweiten Jahrzehnt 
unseres Jahrhunderts fiir gemischten Chor gesetzten, un- 
begleiteten Messen geniigt es die sechzehnstimmigen 
Messen von C. F. Fasch und namentlich die von E. 
Grell zu nennen. Letztere ist durch die Berliner Sing- e. (hell, 
akademie beriihmt geworden, welche das ausserordent- Sechzehnstimm. 
liche Werk des eignen Dirigenten von der ersten Auf- Messe a-capeiia. 
fiihrung i. J. 4 860 ab regelmslssig zu Gehor brachte. In 
neuerer Zeit hat sich der Riedel-Verein in Leipzig der 
Aufgabe mit unterzogen. Grell's Messe ist ein Werk von 
ungesuchter Originalitat. Auf den glatten und natiirUchen 
Fluss dieser Composition passen Goethe's Worte: »Es 
tragt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich 



-♦ 202 ♦- 

selber vor« wie auf wenig neue Kunstwerke. An und f(ir 
sich ist ja die Aufgabe, fiir 4 6 reale Stimmen zu schrei- 
ben, in der alien Vocalmusik schon oft geldst worden 
und wird in den Gompositionen ftir Orchester tagtftglich, 
auf eine leichte fiusserliche Art wenigstens, gel5st. Man 
muss aber die vier Ch5re (oder Soloensembles), welche 
Grell aus seinen 46 Stimmen bildet, einzeln nnd in diesen 
vier Gruppen wieder die einzelnen Stimmen jede ftir sich 
durchgehen, nm das Eigene in derLeistung GrelPs wiir- 
digen zu konnen. Da ist keine Spur von FUUstimmen im 
gewdhnlichen Sinne. Auch die begleitenden und unter- 
geordneten declamiren und singen immer in sinnvoUen 
und formell selbstS,ndigen Tonreihen. Die ganze Erfin- 
dung ist der Natur der menschlichen Sprache und dem 
Wesen des Gesanges in einer so ausgezeichneten Weise 
angepasst, wie sie selbst bei den Alten nicht besser ge- 
funden wird. Der Ausgang von diesen natiirlichen Grund- 
lagen giebt der Messe GrelFs eine unbestreitbare formelle 
Ursprtinglichkeit. Sie darf in dieser Beziehung als ein 
Muster ersten Ranges dienen. Die Farben sind reich 
und mannigfach gemischt. Grell kennt die Kunstgriffe 
der Alten alle und formt mit spielender Leichtigkeit ein 
neues Klangbild nach dem anderen. Wo es der Text 
nicht geradezu fordert, geht er aber den scharfen Gegen- 
ssltzen von Licht und Schatten lieber aus dem Wege und 
wirkt mit milderen Uebergangen. In der Farbengebung 
des ganzen Werkes herrscht das weiche Element vor. In 
Uebereinstimmung damit liebt die Empfindung das ruhige 
Ausbreiten. Satze, welche auf wenige Worte gebaut sind, 
vereinen diese drei Elemente : Betonung der Sangbarkeit, 
Weichheit der Farbengebung und Gleichmftssigkeit der 
Empfindung, zu einer Uebermacht, welche den geistigen 
Gehalt und die Gedankenbewegung der Composition etwas 
niederdriickt. Bei dem nach alter Art: in drei selbstan- 
digen Satzen gehaltenen »Kyrie« und beim »Osanna«( tritt 
diese Erscjieinung wohl am deutlichsten zu Tage. Wo 
die Dichtung schneller von Vorstellung zu Vorstellung 
weiter schreitet, blitzt dagegen die Fantasie hfiufig mit 



-♦ 203 -ft- 

iiberraschender Energie dramatisch auf. Auch in die 
rein musikalische Erfindung kommt dann mehr Leben 
und Dentlichkeit. Das »Gloria« enth&lt solche Beispiele an- 
schaulicheren Aosdracks schon beim »et in terra* and 
beim »gratias«. Die Auffassnng des »Qaoniam« mil dem 
lieblichen Anfang ist abweichend, aber mil der erhabenen 
Wendung durch die Tntti-Eins&tze, da wo Chnstos als 
«Herr«i angerufen wird, ftnsserst wirksam. An solch eigen- 
thftmlich poetischer Anschannng ist die Messe reich. Am 
imposantesten wirkt durch dieselbe das »CredO(', dem in 
einzelnen Abschnitten durch die einfache Verwendung 
Ton plotzlichen Tutti-Eintritten eine geradezu scenische 
Lebendigkeit gegeben wird. Besonders genial erscheint 
in diesem Satze die Einfilhrung des »Crucifixus(r. Eine ein- 
zehie Chorstimme ruft die Schreckensnachricht uner- 
wartet herein und die Massen fahren in Bewegung 
durcheinander. Nebenbei sei bemerkt, dass das Credo^ 
Thema dieselbe liturgische Melodie ist, die auch S. Bach 
in seiner HmoU-Messe verwendet hat. 

In der Stimmenzahl bescheidener, im geistigen Gehalt 
aber keineswegs geringer als die Grell'sche Messe, sind 
die Vocalmessen von E. F. Richter der Beobachtung sehr 
werth. Die achtstimmige sowohl wie die vierstimmige 
geh5ren zu den fanta^ievoUsten und abgekllUrtesten 
Compositionen des Messtextes, welche wir aus neuerer 
Zeit haben. Dir Vocalsatz ist modern, aber schon, natur- 
lich und an stimmungsvollen Klangen reich. In den 
Kirchenchdren sind von neueren Vocalmessen die von 
J. Rheinberger am bekanntesten. Unter den aller- 
neuesten Erscheinungen der — bis heute von den Kirchen- 
musikdirectoren fleissig bestellten — Gattung nennen 
wir als eine an Wohlklang reiche Arbeit die CmoU-Messe 
(fiir zwei Ghdre und Solostimmen) von 0. Wermann. 

Ziemlich vergessen scheint es zu sein, dass auch der 
M&nnergesang in seiner von hohem Streben erftillten 
Jugendzeit kr&ftig in die Bewegung mit eintrat, welche 
sich auf den Neubau der Vocalmesse richtete. Die Lehrer 
der Volksschulen Deutschlands waren es besonders, welche 



-fr 204 ♦- 

bei ihren periodischen ZusammenkUnften sich and Andere 
mil der Ausfuhrung solcher (h5her angelegter Werke er- 
bauten. Die Composition der Messen fur M&nnerstimmen 
hat von d^r schon erw&hnten Messe des Padre Martini 
ab — einem sehr kurzgegliederten, aber geistreichen Werke 
— ihre ununterbrochene Geschichte. In ihr treten neben 
B. Klein: Hasslinger und Diabelli hervor. Ueber letz- 
teren beiden stehenF. Schneider, A. Zollner und J. Otto. 
Als den bedeutendsten Auslftufer dieser Reihe konnen wir 
RobertVolkmann betrachten. Bekanntlich ging er aus 
den Kreisen, welche wir genannt haben, hervor und empfing 
in ihnen die ersten st^lrkeren musikahschen Eindriicke. 
Seine beiden Messen (op. 26 und 29) stehen einander in 
der Zeit der Ver5ffentlichung sehr nahe : im inneren Style 
jedoch bedeutend feme. Die erstere ist eine Art Clavier- 
messe: die vier Stimmen immer zusammengekoppelt und 
umfrei und damit auch meistens die Gedanken. Nur das 
•Credoff erhebt sich wesentlicher iiber die Stufe von Klang 
und Geist, welche wir mit dem Namen Liedertafelmusik 
zu belegen pflegen. Die zweite Messe hat noch einige 
ungesangliche Stellen im Kleinen. Aber uber den Styl, 
der fur einen Chor von Menschenstimmen naturlich ist, 
scheint inzwischen dem Componisten das Licht aufge- 
gangen zu sein. Diese Messe hat die Freiheit der Be- 
wegung, die namentlich fur den Md,nnerchor ganz wesent- 
lich ist, in den Stimmen. Sie wirkt farbenreich und ist 
ideenreich. Unter diesen Ideen sind sehr feine und eigen- 
artige Einfalle. Im »Gloria« woUen wir auf das »Miserereu 
hinweisen, welches erste Tenore und zweite Basse in 
Octavengangen singen. Diese zweite (Asdur-)Messe Volk- 
mann's ist ttichtigen Mannerchoren warm zu empfehlen. 
Auch fiir Franz Liszt lasst sich an dieser Stelle 
der Anschluss an die Geschichte der Messe suchen. Eine 
seiner ersten Messen war die Missa (Cmoll) fiir M&nner- 
chor und Orgel. Liszt ist mit bestimmtem reformatorischen 
Plane in die kirchliche Composition einge treten. Im Aus- 
gangspunkte stimmt dieser Plan mit denjenigen An- 
schauungen tiberein, aus welchen der katholische C&cilien- 



-fr 205 ♦- 

verein hervorging. Der kiinstlerische Unwille iiber die 
Instrumentalmesse der Haydn'schen Schule, iiber die 
Landmessen und die sonstigen Arten musikalischen Miss- 
brauchs mit dem heiligen Texte hat auch Liszt an die 
Arbeit getrieben. Auch in den Endzielen begegnet sich 
Liszt mit jeuer Partei: die Musik soil Dienerin des Wortes 
sein, soil sich unterordnen, nicht den eignen Glanz er- 
streben, sondern ihre Kraft und ihre Kunst dem klaren, 
leuchtenden und massvollen Ausdruck der erhabenen 
Ideen des Hochamts widmen und sich bescheiden, sobald 
dieses Ziel erreicht ist. In den Mitteln aber gehen die 
Grundsatze des Gacilienvereins und die F. Liszt's ganz 
auseinander. Wahrend die Messen von Mich. Halle r, M. Haller, 
Ignaz Mitterer, Fr. Witt im Grossen und Ganzen sich I. Mitterer, 
eng an die Satzformen, an die 'contrapunktischen Gesetze F. Witt. 
und die Harmoniegrundlagen der Palestrina-Zeit halten, 
wahrt sich Liszt alle Freiheiten und Rechte des modemen 
Musikers. Auch Liszt bedient sich liturgischer Anleihen 
fiir den cantus firmus; aber ziemlich ungebunden. Sein 
«Gloria« hat einen anderen als das »Credo«r. Auch Liszt de- 
clamirt in den Formeln der Harmonik des sechzehnten 
Jahrhunderts; aber in benachbarten Perioden desselben 
Satzes spricht er mit den scharf dissonirenden Accenten 
der neuesten Zeit. Die Componisten des Gacilienvereins 
suchen die grosse Vocalperiode in Geist und Styl nach- 
zubilden in ahnlicher Weise, wie die Nazarener von Veit 
bis Gebhardt die Zeit der Holbein und Diirer mit der 
Farbe und der Linienfiihrung wieder zum Leben zu er- 
wecken trachten. Will man den Vergleich bis ans Ende 
durchhinken lassen, so wird man das malerische Seiten- 
stiick zu den Messen, iiberhaupt zu den kirchlichen 
Compositionen Liszt's, vielleicht in der Methode suchen 
kSnnen, in welcher Kaulbach alte biblische Historien be- 
handelt hat. 

Unter denjenigen katholischen Componisten, welche, 
wie Liszt, etwas freier stehen, ist als einer der bedeutend- 
sten J. E. Habert zu nennen^ Seine Werke erscheinen J. E. Habert. 
soeben (bei Breitkopf und Hartel) in Gesammtausgabe. 



-♦ 206 

Damnter sind 23 Messen fast alle mit Instrumentalbe- 
gleitong. — Zuweilen kommt noch eine Messe in Dnick, 
welche den heiligen Text im hannlosesten Liederstyle 
erledigt. Aber auch unter den Choralmessen , welche 
sich an das Gregorianische Material halten, ist die Zahl 
abstossender Arbeiten nicht gering. Der Familienfehler 
auf letzterer Seite ist Trockenheit und Mangel an 
Schwung. 

Wir haben jedoch keine Yeranlassung, auf die inneren 

Parteiverh&ltnisse unter den katholiscben Kirchencompo- 

nisten hier n&her einzugehen. Der Einzige, welcher das 

Concert nachhaltig beriihrt hat, ist F. Liszt. Alle Messen 

F. Liszt's sind im Hinblick auf den Gottesdienst ent- 

F. Liait, worfen. Dies gilt namentlich von der oben bereits an- 

M6SM f&r Tier- gef Jihrten Messe fur M&nnerchor. Sie ist ein sehr 

stimm. Mftnner- knappes Werk, zum grossen Theil mehr stimmungsvoll 

chor and Orgei. declamirt als gesungen. Die Art , in welcher aber beide 

Stylarten gemischt sind, macht den einen Theil ihrer 

unleugbaren GenialitUt aus. Man braucht hierfur nur 

auf den Schluss des »Christe eleisonn zu verweisen, eine 

• Stelle, an der eine lange Steigerung inbrunstiger Zurufe 

mir ein paar Tacten einfachster Melodie gekront wird. 

Der andere Theil des genialen Werthes, welchen wir 

dies^ Messe zuschreiben miissen, liegt in der Sch&rfe, 

mit welcher die Textbegriffe musikalisch ausgedruckt 

sind. Gleichviel mit welchen Mitteln und gleichviel, ob 

wir die Auffassung allemal billigen; aber diese Schftrfe 

ist immer da. Derjenige Satz der Messe, welcher sich 

den iiberkommenen musikalischen Formen am getreuesten 

fugt, ist das »Gloria«. Sein durchgefuhrtes leitendes Thema 

^•g ^ ^ stammt aus der Gregorianischen 

i, ^ ^>'J ' '^ Pt' P r Quelle. Der in der Stimmbehand- 
«o . . - ri - 1 ^^^8 eigenthiimlichste, dabei sehr 
eindringliche Abschnitt ist das » Miserere «. Befremdend 
ist das »Credo< und zwar befremdend durch seine Ein- 
fachheit. Es geht im Style entschieden hinter die Zeit 
des ausgebildeten Kunstgesanges zuruck und trSlgt den 
grossten Theil des Textes in der primitiven Form der 



-^ 207 ♦- 

^Iteren priesterlichen Intonationen vor: in einem har- 
monisirten und harmonisch nur aufs Nothigste ausge- 
zierten Lectionenton. Helufig ist in dieser Messe der 
Effect einer singenden und von den drei anderen nur 
accordisch begleiteten Chorstimme angewendet; am aus- 
gedehntesten im » Agnus dei<. In diesem Satze ist auch 
die Orgelbegleitung, welche in dem grdssten Theile der 
Messe entbehrt werden kann, wesentlich. Sie leitet hier 
sehr schon selbst&ndig die friedlichen Weisen des » dona 
nobis* ein. 

Die Missa choralis Liszt's fUr gemischten Ghor F. Liuti 
beginnt mit einem »Kyrie« von sehr strengem Charakter. Miasa choralis. 
Der herbe Zug, der schon im Thema und in seiner Tonik 
Uegt, wird durch die fugirende Durchfiihrung noch scharfer 
ausgedriickt Es sind in dem Tonbilde Augenblicke der 
Verlegenheit (in den Basscantilenen) und der Verzweif- 
lung (bei dem steigenden Auf bau des kurzen Motivs) an- 
gedeutet und iiber den Wendungen der Hoffnung im 
»Ghriste€ (bei dem wiederholten Schluss auf der Dominant- 
septime) liegt der'Druck einer miiden Seele. Im »Gloriaa 
wird die erste Intonation (der in der Messe fUr M&nner- 
stimmen verwandt) an den Stellen des Lobgesangs the- 
matisch durchgefiihrt. Von eigenem gebrochenen Aus- 
druck im Bitten ist das »Miserere<. Das >Gredo< beginnt 
wieder mit dem aus Bach's Hmoll -Messe bekannten 
Gregorianischen Thema. Ein grosser Theil der Abschnitte 
des Satzes ruht auf contrapunktischen Bildungen aus 
dieser Melodie gewonnen. Von horvorragender Origina- 
lit&t, mit ahnhchem Schauder declamirt wie in H&nders 
»Messiasa, ist die Leidensgeschichte. Ganz wie in Erstaunen 
getaucht beginnt das »Sanctus«. Der Satz beh^llt bis ans 
Ende einen visionaren Ton, welchen nur das »Benedictusi» 
ein wenig variirt. Der Schluss verklingt in der H5he. 
Nach einem sehr schwermuthigen Anfang des ffAgnus Dei« 
lenkt das »dona nobis « in das uKyriea zuriick und geht 
in dem Tone der Ruhe im freudigen Aufschwung zu 
Ende. Die beigegebene, viel aussetzende Orgelbegleitung 
kann einem ungeiibten Chore leicht gefahrlich werden. 



-^ 208 ^^ 

Fiir Liszt's Stellung zur Messe, als Kirchencomponist 
tiberhaupt, kann nichts Besseres in die Wagschale ge- 
worfen werden als die vorhin erw3,hnte, in ihrer kleinen 
Form vol! und gesund ausgewachsene, geistig bedeutende 
und musikalisch gediegene Messe fiir Mslnnerchor. Sie. 
ist aber fUr den betreffenden Maassstab jederzeit wenig 
benutzt worden, weit weniger als seine beiden grossen 
ungarischen Instnunentalmessen. Die erste derselben, 
F.Liszt, die sogenannte Graner Messe, entstand zur Feier der 
Graner Messe. Einweihung des Graner Doms und wurde in diesem i. J. 
4 856 zuerst aufgefiihrt. Die Partitur dieses Werkes ist 
infolge schlechter Oekonomie in der Aufzeichnung der 
Stimmen und der Zugabe eines ganz iiberfliissigen Clavier- 
auszugs zu einem so colossalen Format angelangt, dass 
man sie bei Tage nicht gem iiber die Strasse tragt. Man 
glaubt beim ersten Anblick vor einem Werke zu stehen, 
in welchem, wie zur Zeit der Venetianer und Engiander, 
die Chore zu einer maasslosen Polyphonie aufgethiinnt 
sind. Thatsachlich hat aber die Graner Messe eine Reihe 
ganz einfacher Satze, welche sich ebenso leicht horen 
als lesen lassen. Darunter gehOW gleich das »Kyrie«, eine 
schlichte zweitheilige Composition. In ihrem ersten Theile 
steht die Andacht unter dem Banne einer schaudernden 
Ehrfurcht: Die Farbe des Orchesters ist dammernd; in 
Harmonie und Dynamik ruckt und zuckt es heftig. Das 
))Christe« singt in lieblichen und innigen melodischen Wei- 
sen, die von Stimme zu Stimme wandern. Dem »Gloria« 
wohnt eine machtige malerische Kraft in seiner Instru- 
mentation inne. Es flimmert im Orchester wie durch 
die Glasfenster einer Cathedrale. Zuweilen, beim »Lau- 
damus« und beim wQuoniama, horen wir Motive, wie 
wenn Glocken lauteten, und der Wechsel der Instrumenten* 
chore erweckt die Vorstellung von grossen, hohen, weiten 
Raumen. Ein Ton, als wollte ein glanzend festlicher Tag 
anbrechen, geht durch den grossten Theil dieses Satzes, 
und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als 
habe Liszt an die alteste Bestimmung des » Gloria « ge- 
dacht ; an die Zeiten, wo es als Morgenhymne den Sonnen- 



^ 209 ♦- 

aufgang zu begriissen pflegte. Die musikalische Form 
entwickelt sich iiberwiegend instrumental und neben dem 
schonberiihrtenGlocken- AUogro. ^ 

motiv (in halben Noten) 3f=lf=y,| a f^ \ s k k ff l?= 
ist der muntere Weckru ffr "* * "^ ^' ' f ' ' ^' ^^, 
der Haupttrftger dieser Entwickelung. Ein breit gefuhrter 
and sehr tief empfundener Gesang zeichnet namentlich 
den Abschnitt aus, dessen Mittelpunkt das sQui tollis etc.« 
bildet. Die Gesangmelodie kennen wir aus dem »Christe 
eleison<r, welches das ganzeWerk als wesentliches Merk- 
mal seiner Physiognomie durchzieht. Das »Cum sancto 
spiritu* hat die Gestalt einer Fuge Uber ein einfach 
freudiges Them a. 

Das » Credo « besteht aus einer grossen Reihe kurzer 
Bilder: durch Verwendung von Leitthemen wird die Einheit 
des Ganzen gewahrt. Andante mM«toM,ri8oiBto. Liszt ge- 
Das wichtigste unter ^ ^ J , r I J J I "^ ^ - braucht 
diesenistdas folgende: « ^>w^^ "iS^^ ^^-^^ es in- 
strumental wie vocal; vorzugsweise fiir die feierlichen 
und pathetischen Abschnitte des Textes und in rhyth- 
mischen Umbildungen , welche seinen Charakter ins Ge- 
waltige erweitem. In dieser Beziehung erscheint es beim 
»Et in unam sanctam etc.or. Doch hat er ihm auch eine 
intime Seite abgewonnen. Ganz auf die letztere gestellt, 
tritt es uns als Glarinettenmelodie (Fisdur) bei dem Ab- 
schnitte entgegen, welcher der irdischen Geschichte des 
Heilands gewidmet ist. Man wird geneigt sein, diesen 
Theil als die Krone des ganzen Satzes zu bezeichnen. 
Von einfach voUer Empfindung durchstromt, bietet er 
namentlich declamatorische Wenduugen von genialster 
Bedeutung. Die hervorstechendste ist bei »Et homo fac- 
tus est«. Sein Ende geht in einen naturalistisch wirk- 
samen Styl iiber, welcher Interjectionen steigernd anein- 
ander kniipft. Nach den schneidendsten Wehrufen beim 
»Crucifixus« haucht die Gemeinde die letzten Worte von 
Tod und Begrabniss ins Leere bin. — Neben dem oben 
in erster Linie angefuhrten Leitthema erscheint noch das 
Glockenmotiv aus dem »Gloria«. Zun&chst nur versteckt ; 

II, 1. \ 4 



breiter, wenn auch nur leise gegeben zum ersten Male: 
beim >»Deiim de deo, lumen de lumine«. Die Solostimmen 
singen daruber ruhig edle Melodien, in welche der Chor 
bescheiden einf&Ut. Ein anderes Them a, der kurz rhyth- 
misirte Weckruf des »Gloria« (siehe oben), tritt beim »Re- 
surrexita wieder auf. Eine der grandiosesten Orchester- 
wirkungen des Werkes dient zur Schilderung des jungsten 
Gerichts. Sie klingt noch einmal wieder an, als der 
Auferstehung der Todten gedacht wird. Berlioz's »Dies 
irae« im »Requiem» hat das Vorbild geliefert. Mit eigen- 
thUmlich kurzen, grossen Strichen endet der Satz. 

Sehr sch5n und leicht ubersichthch iM das »Sanctus« 
behandelt: Eine weiche, in feierlich stiller Erwartung 
hinschwebende Hauptmelodie fiir den ersten Abschnitt: 
»Sanctusa. Ein geheimnissvoll leises Wechseln hoher und 
tiefer Accorde fiir das »Pleni«, fiir das oOsanna* Zuriick- 
greifen auf den Weckruf des i>Gloria« einmal, das andere 
Mai auf die (den blasenden Instrumenten iibertragene; 
Hauptmelodie des »Sanctus« selbst. Das »Benedictus« 
ist eine Paraphrase liber das eingangliche Thema des 
»Christe eleison«. Das Soloquartett singt allein; der Chor 
schweigt und das Orchester ist in der zartesten Weise 
behandelt. Auch das » Agnus dei« ruht wieder auf dem 
JiChriste eleison«, welches nach ein em von Angst erfiillten 
Eingang den Horizont fiir die Beter aufhellt. Das »Dona 
nobistt wird schlicht hingesungen; darauf kehrt das Ende 
des Werkes zu dem Weckruf des » Gloria* zuriick und 
wendet sich von ihm weiter dem Anfang der Messe zu, 
Thema nach Thema benihrend und das Ganze sinnig 
abrundend. 

In der quantitativ sehr starken, heute glucklicher- 
weise wieder vergessenen Litteratur von Flugschrifteri 
und Zeitungsartikeln , welche sich vor 30 Jahren um die 
Graner Messe entspann, wurde mit besonderem Eifer 
fiber eine Frage gestritten: Die Frage: Ist dieses Werk 
Beethoven'schen Geistes oder nicht? Man kann darauf 
ohne Bedenken bej abend antworten. Nicht bios die 
Graner Messe, sondern die ganze Methode der Liszt'schen 



Composition ist eine Frucht des Beethoven der dritten 
Periode. Ihr Ziel ist: Aufgehen der kunstlerischen Form en 
und Mittel in dem unmittelbaren Natureindruck. Das 
fertige, planvoU gestaltete Werk soil mit der Ungebunden- 
heit, Freiheit und Lebendigkeit einer begeisterten Impro- 
visation wirken. Darin aber: wie sie dies Ziel zu er- 
reichen suchen, unterscheiden sich die beiden Tonsetzer 
ganz wesentlich. Beethoven hat nirgends mehr versucht, 
intensiver gearbeitet, kritischer gepruft und gefeilt, als 
in den Werken der dritten Periode. Wen davon die tech- 
nische Analyse nicht schon Uberzeugt, der kann es aus 
den SkizzenbUchem ersehen, wie gerade diese so selbst- 
verstslndlich klingenden Themen, diese scheinbar leicht 
hingeworfenen und improvisirten Satzchen in den meisten 
Fallen im harten geistigen Ringen gewonnen wurden und 
wie diesen scheinbar lockeren Formgebilden der durch- 
dachteste und strengste Plan zu Grunde lag. Anders 
Liszt, der wirklich improvisirend componirt. Im 'Gloriaw 
und » Credo « seiner Graner Messe treffen wir Stellen, 
welche mit einer erstaunlich grossen geistigen Geniig- 
samkeit hingeschrieben sind: Stellen, in denen ein un- 
bedeutendes Orcbestermotiv end- und ziellos wiederholt 
und transponirt wird. Es ist das ein Freskostyl, welcher 
beim einmaligen H5ren seinen Zweck verrichtet, aber 
einem eingehenderen Studium nicht Stand halt. 

Dieselbe Erscheinung begegnet uns, jedoch in einem 
bedeutend gesteigerten Grade in der anderen Instrumental- 
messe Franz Liszt's : in seiner ungarischenKronungs- F. Lisit, 
messe vom Jahre 4 867. In ihr herrscht eine gewisse Ungarische Kro- 
Coulissenmalerei im musikalischen Style, welche ebenso nnngsmesse. 
sehr auf die Lust an grossen Effecten und lapidaren 
Wendungen, wie auf ein iibermuthiges Genialitatsgefiihl 
zuriickzufiihren ist*). Man braucht kaum zu fiirchten, 



*) Diese Yennuthung wild duich die inzvischeii veroffent- 
lichten »Briefe F. L.*5 an eine Freandinw (S. 80) frappant be- 
statlgt. 

U* 



dass diese Messe Muster wird and Schule macht. Nach- 
ahmen iSlsst sich die Fliichtigkeit in ihrem Entwurf ; aber 
den Geist, der trotzdem die Hauptwege richtig tri£Et, muss 
Einer selbst besitzen. Es bleibt in dieser Messe noch 
genug, was genial und der Bewunderung werth ist, wenn 
es vorwiegend auch nur einzelne Stellen sind. Dahin 
rechnen wir die Them en des »Kyrie<r und seines Mittel- 
satzes: des »Cbriste eleisonc, die in einer eignen Nacb- 
drucklichkeit und Reumtltbigkeit bitten ; auch den in immer 
stillerem Grollen ausgehenden Schluss des ganzen Satzes. 
Fortreissend durch den fast wild freudigen Naturklang 
der auf einen langen Triller vereinigten Geigen ist der 
Anfang des nGlorian. Die mit leichtem Material gebauten 
Steigerungen von »laudamus« ab, finden in dem »Domine 
deuscc mit seinen machtigen Accorden einen grossartigen 
Abschluss. Einer S,hnlich wuchtigen Harmoniewirkung, 
wie an dieser Stelle, begegnen wir dann wieder kurz vor 
dem Ende des » Gloria «, bei den Worten: »cum sancto 
spirituff. Wie Schumann schon seiner Cmoll-Messe, und 
wie viele andere Componisten vorher, hat auch Liszt 
seiner Kronungsmesse die Composition des »Graduale« und 
»Offertorium« beigegeben. Letzteres ist ein Instrumental- 
satz. Ihm, wie dem »Graduale« liegen Weisen aus dem 
Schatze des katholischen Kirchenliedes zu Grunde. Das 
» Credo* ist durch weg Gregorianisch; ein Unisonogesang 
sammtlicher Stimmen, voll Wiirde und Schwung in an- 
tiker Gangart. Die Orgel begleitet Das »Sanctus« ist in 
seinen vorderen Abschnitten nur Vorbereitung auf das 
»Benedictus« und sammelt mit Motiven, die spannend in 
die Hdhe zeigen, einmal auch, beim »)Pleni«, mit freund- 
lich mild hinziehenden Melodien die Stimmung bis zur 
Dichtigkeit der feierlichen Erwartung. An diesem Punkte 
setzt das »BenedictuSff, 3,hnlich wie in Beethoven's »Missa 
solemnise! mit einem Violinsolo ein. Nur bis auf diese 
ausserliche Ueberein stimmung in der Instrumentirung 
geht die Aehnlichkeit der beiden Satze. Die Motive der 
Liszfschen »Benedictus«-Violine, welche nachher vom 
Cello und dann von alien Instrumenten der Reihe nach 



-^ 213 ^ 

aufgenommen werden, haben ein ganz eignes Gepr&ge: 
einen unverkennbaren Anklang an die angarische Na- 
tionalmusik. Das nAgnus deia setzt mit demselben Thema 
eiD, welches im »Gloria« die Worte »Qui tollis« trug, und 
kehrt dann fthnlich, wie dies in der Graner Messe der 
Fall war, schrittweise bis znin ersten Kyrie-Einsatz, also 
bis zum Anfangspunkt der Messe, zuriick. 

Eigen\hfimlich ist beiden Instrumentalmessen Liszt's 
die Menge von Stellen, an denen die Singstimmen uni- 
sono gef&hrt sind. Es entspringen aus dieser Manier 
•hdchst gewaltige Wirkungen. Ihren Grand mag sie aber 
in &asseren Verh&ltnissen gehabt haben. Wir denken nns, 
dass einem pomp5sen Orchester eine nur mittelmS.ssige 
Gresangbesetzung (im Chor) gegeniiberstand, und erkl&ren 
aus diesem VerbS,ltnisse viele Styleigenthiimlichkeiten 
des Werkes. 

Im Jahre i 869 kam im Th^&tre Italien zu Paris eine 
»Missa solemniso von Rossini zur Auffiihrung. Man €^. Eoaaini, 
hat in Deutschland diesem einige Jahre vor dieser offent- "** Boiemms. 
lichen Auffiihrang bereits entstandenen Werke wenig Be- 
achtung geschenkt. Ganz im Gegensatz zu den ItaUenem, 
bei welchen die Wortfuhrer der komischen Oper, die Conti, 
Galuppi, Gasparini und deren Nachfolger bis auf Doni- 
zetti, sehr fleissig und erfolgreich auf dem Gebiete der 
Messencomposition th&tig waren, pflegen wir denjenigen 
kirchlichen Werken mit Misstrauen zu begegnen, welche 
aus den H&nden dramatischer Gomponisten hervorgehen. 
Dieses, durch manche frivole Anecdote belegte Vorurtheil, 
ist durch Rossini's »Stabat mater« bis zu einem gewissen 
Grade gutgeheissen worden. Das »Stabat mater« hat der 
Messe den Weg verlegt. Wer sie studirt, wird von 
dem Ernst ergriffen sein, mit welchem der melodien- 
reiche Meister an die erhabene Auf gab e herangetreten 
ist. Eine der sch5nsten Stellen in dem Werke ist das 
»Et in terra pax« im »Gloria«, eine Art L. Richter- 
sches Weihnachtsbild in T6nen: Tiefklingende Glocken 
hoch vom Thurm herab in die dunkele Nacht hinein 
Iftutend! 



Unter den neueren Messen, welche wenig beachtet 

worden sind, obwohl sie von namhaften Tonsetzern her- 

riihren, nennen wir welter: die »Missa solemnis« von F. 

E.Kiel, Kiel. In diesem Werke hat der geistvolle Componist 

MisBa soiemnis. den Begriff der SolemnitS,t besonders auszupragen ge* 
sucht. Die Satze, welche im Texte einen frohen, freu- 
digen Charakter entgegenbringen, sind reich an kurzen: 
signalartigen Motiven, wie sie das grosse VolK als Aus- 
druck seiner festlichen Stimmung liebt. Namentlich im 
»Gloria« reden die Trompeten diese popul&re Sprache. Der 
Verbreitung dieser Messe mag es hinderlich gewesen sein, 
dass der Verfasser den Schwerpunkt der Composition 
allzu fest in die contrapunktische Arbeit gelegt hat. ' Im 
Allgemeinen hat dabei die Freiheit und der Gehalt der 
geistigen Bewegung etwas gelitten. Aber einzelne Satze 
sind trotz der strengen Form eindringliche und reizende 
Tonstiicke: In erster Linie ist aus dieser Gattung »Domine 
deustt zu erwahnen. Der Einfluss grosserer Vorbilder 
zeigt sich hier und da: Bach ist im »Qui toUisa und im 
»Osanna«, Beethoven im »Et vitam venturi« deutlich 
durchzumerken. Auf der anderen Seite begegnen uns 
aber auch wieder Satze von ganz selbstandiger und in 
ihrer Neuheit bedeutender Auffassung. Das »Quoniam« 
gehort dahin ; auch das »Agnus dei« verdient wegen seiner 
dramatischen Entwickelung und wegen der sinnigen Ver- 
kniipfung mit dem »Kyrie« in dieser Gruppe einen hervor- 
tretenden Platz. 

Einzelne Messensatze sind in der neueren Periode 
verhaltnissmassig nur wenige verofifentlicht worden und 
noch weniger in Umlauf gekommen. Als die hervor- 
ragendsten Arbeiten dieser Art aus j lingerer Zeit sind zu 
nennen: »Kyriew, »Sanctus« und » Agnus dei« von Max 
M. Bruoh, Bruch. Sie gehoren zu den gediegensten Arbeiten, 

Kyrie, Sanctus, welche wir von diesem Tonsetzer kennen. 

Agnus dei. Elne der wenigen vollstslndigen InstrumentalmesBen 

aus neuerer Zeit, die praktische Bedeutung fiir das geist- 

liche Concert erlangt haben, ist die Grosse Messe in 

Bmoll fur achtstimmigen Chor, Soloquartett, Orchester 



^ 215 ^ 

und Orgel von Albert Becker (op). 46. Die erste Auf- A. Beokeri 
I fiihrung dieser Messe — i. J. 4 879 durch den Riedel- grosse MeBie in 

Verein in Leipzig — hat die Folge gehabt, dass der Bmoii. 
deutschen Musik ein sehr geistvoUer Tonsetzer gewonnen 
worden ist, welcher bis dahin ziemlich unbeachtet ge- 
strebt hatte. Noch weniger als Kiel zeigt Becker eigent- 
liche Originalit£lt in der musikalischen Erflndung und die 
Ftlhrung der manchmal zerstiickelten , manchmal zu 
breiten Formen entbehrt noch der vollen Reife und Frei- 
heit. Aber Becker besitzt als Musiker einen starken Sinn 
fiir Wohlklang, fur eingfingliche Motive und versteht sich 
mit einer Sicherheit, die auf das Theater hinweist, auf 
scharfe und klare Effecte. Als Ktinstler liebt er vor Allem 
poetische Beziehungen. Eine gltickliche Folge dieser 
Neigung ist in Becker's B moll-Messe die Verwendung des 
evangelischen Kirchenliedes. Becker scheint — nach der 
Schlussbemerkung, die der Composition angefugt ist, zu 
urtheilen — nicht gewusst zu haben, dass schon S. Bach 
I und noch frtihere Meister den lutherischen Choral fiir 

ihre Messen benutzt haben. Fiir die neuere Messe hat 
aber Becker das Verfahren wieder entdeckt, §.hnlich wie 
P. Cornelius in seinen »Weihnachtsliedem« den Choral 
wieder der kunstmassigen Hausmusik zugefiihrt hat. Fiir 
den Erfolg der Becker'schen Messe ist die Verwendung 
der Chorale wesentlich entscheidend geworden. Was den 
Messen eines Cherubini, Schubert, Weber, Schumann, 
Liszt versagt blieb, das hat die Becker'sche erreicht. Sie 
ist ins Volk gedrungen, wenigstens ins protestantische, 
fiir das sie bestimmt ist. Durch die Chorale wird sie 
fiir alle Grade musikalischer Bildung gleichmassig ver- 
st§.ndlich, den Geistlichen besonders lieb. Es ist bekannt, 
dass Luther fast sammtliche Satze der lateinischen Messe 
in die Form des Kirchenliedes iibertragen liess, ganz 
ahnlich, wie dieses auch die Passionsgeschichte sich an- 
geeignet hat. Da hat z. B. das » Gloria « seinen lied- 
m§j3sigen Ersatz in »Allein Gott in der Hob' sei Ehra, das 
»Credo« in »Wir glauben All an einen Gott«r, das »Agnus 
dei« in »0 Gottes Lamm unschuldig« erhalten. Nicht 



-^ 216 ^ 

diese eigentlichen Messenchor&le sind es, wejche Becker 
in sein Kunstwerk einflicht, -sondern er hat den Choral 
anklingen lassen, um gelegentlich den Begriffsgehalt 
einzelner Textbilder zu bereichern und zu schlUrfen. So 
setzt im » Credo « nach der Stelle »descendit de coelis< 
der Passionschoral »Ein L&mmlein geht und tr&gt die 
Schuld < ein, bei der Schilderong des zuktlnftlgen Lebens 
»Et vitam venturi saeculi« spricht der Choral » Jesus, 
meine Zuyersicht« die freudige Hoffnung aus, xnit welcher 
die Gemeinde dieses Bild der kiinftigen Seligkeit be- 
trachtet. Das »Osanna in excelsis« erh&lt eine volksthum- 
liche Bekr&ftigung durch »Allein Gott in der HOh' sei Ehr". 
In der Kegel treten die Chor&le, wo sie erscheinen, in 
den Vordergrund der musikalischen Form. Im Munde 
von Orchester und Orgel bilden sie einen cantus firmus, 
den die Singstimmen fugirend, zuweilend auch frei bis 
zum recitativischen Ton, umkreisen. In der Kegel fiihrt 
der Componist die Melodien in regelrechter Vollst&n- 
digkeit durch. Nur an einer Stelle, beim »cujus regni 
non erit finis« ist der Choral — es ist hier »Wachet auf, 
ruft uns die Stimme« — auf ein kurzes Citat der Orgel 
beschrankt. 

Das erste »Kyrie« spricht eine gedriickte Stimmung in 
zusammengedrangter Form aus. Die beiden Themen: 

^ajT- ri.e • . lei . . ftQik, e . • le . i • son 

und ft) i'>"^\\^ J) Jl^J J li ^i J, J J) I 4 

welche zu diesem Zwecke sich vereinigen, haben einen 
Bach'schen Zug und setzen ein fiir die Symbolik chro- 
matischer Melodieflihrung eingeschultes Ohr voraus. Er- 
leichtert wird aber die Aufgabe, den Gehalt des Satzes 
zu erfassen, durch eine scharfe Eintheilung in nicht zu 
grosse Perioden. Der Eintritt des »Christe eleison« ist 
eigen durch seine Einfachheit. Die zwei halben Noten, 



in denen Ghristus angenifen wird, wirken sehr tief. Wie 
ein freundliches Signal durchklingen sie den Satz. £s ist 
eins der Kennzeichen der Kunst Becker ^s, so ganz nahe- 
liegende nnd gewohnliche Mittel an einem Punkt einzu- 
setzen, wo sie ins hellste Licht fallen. Den Glanzpunkt 
der ganzen ersten Abtheilung bildet der Schlusssatz : das 
zweite »KYrie«. Die Instrumente ftihren hier den Choral: 
»Aus tiefer Noth schrei' ich zu dir« durch. Die Sing- 
stimmen werfen die Gebetsworte beweglich drein, bald 
frei declamatorisch, bald im gebundenen Gesangsstyl. 

Der erste, rauschende Theil des »Gloriaa wird von fol- 
gendem in seinem Anfangsworten ganz leicht an Beethoven 
und seine »Missa solemnise erinnernden Thema beherrscht: 

Allegro. a» Dasselbe kehrt am 

inv\-^7-ii-i)\f J ^r f l^f r ■ Schluss der ganzen 
<Ho.fi.» ii «x. eel. lis De.o Abtheilung im »cum 
sancto spirituK wieder. Eine l§.ngere Episode von ruhigem 
Gharakter bildet in diesem anfangenden Abschnitt das »Et 
in terra pax«. Das AufhSren der harmonischen Be- 
wegung kennzeichnet ihren Ausdruck des Friedens eigen- 
thiimlich. Das »Gratias agimus tibia setzt im Liedton ein, 
fast wie ein anmuthiges StS,ndchen, und geht bei den 
Worten »propter magnam gloriam tuam« aus dem zutrau- 
lichen Ton in einen ehrfurchtsvoUen uber. Hauptsach- 
lich vollzieht sich dieser Uebergang mit coloristischen 
Mitteln: in neuen Farben aufrauschenden Tonfiguren! 
Der Gebetsabschnitt im » Gloria « ist wohl die in der Er- 
findung bedeutendste Partie der ganzen Abtheilung. 
Besonders ragen aus ihr hervor das durch alle Gruppen 
tdnende mitleidige »Agnus dei« und das zweite »Miserere«. 
Dieses ist durch die Harmonie in machtiger Spannung 
gefesselt und aus ihr streben die Stimmen im innigen 
eifrigen Ringen heraus. Nach einem kurzen, stolzen 
nQuoniama beginnt die Schlussabtheilung mit einer 
knappen Fuge Uber »Cum sancto spiritu«. Jauchzend 
setzt das sehr eindringliche Thema ein. Bald mischt sich 
das Thema des »Quoniam«( mit drein, und auf einem 
weiteren Hohepunkt angelangt, nimmt die Fuge einen 



^ 218 ^ 

dritten Arm in ihren Freudenstrom mit auf: das oben 
aufgezeichnete Anfangsthema der Abtheilang. Becker 
waltet maassYoll mit diesen Mitteln; statt sich allzulange 
auszubreiten, markirt er seinen Schluss mit einigen be- 
deutungsvollen Einbiegungen und der Entwickelung m&ch- 
tiger Klangwirkungen. 

Im » Credo « ist bis zu der Stelle uQui propter nosa 
das wunderbare Element der Bekenntnissartikel voran- 
gestellt. Die Motive sind kurz, im Kern oder in der Um- 
kleidung fliichtig und fantastisch gehalten. Die einzig 
feste Stutze scheint das breite langsame Thema zu bil- 
den, welches die ersten Tacte bringen. Es kehrt in der 
Abtheilung h&ufig wieder. Das »Qui propter nos« selbst 
theilt sich noch zwischen mystischen Andeutungen (bei 
wdescenditci) und Ausdruck eines warmen menschlichen 
Dankgefiihls. Die Schilderung der Incarnation Christi 
ruht auf dem Choral »Ein L^mmlein geht etc.*. Die Sing- 
stimmen fiihren dariiber ihr eigenes in tiefe Trauer ge- 
tauchtes Thema durch. Die instrumentalen wie die vo- 
calen Grundideen des Abschnitts sind vortreff lich , ihre 
Ausfiihrung wirkt aber etwas matt. Die Kreuzigung be- 
gleitet das Orchester mit schwer lastendem Motiv, die 
Stimmen rufen wie in Schmerz und Staunen festgebannt 
ihr »Crucifixus« hinein. Auch beim >passus« bleiben sie in 
einer vielsagenden Kargheit von Ton und Wort. Vor dem 
»sub Pontio Pilato<c erklingen in den Instrumenten ganz 
ahnliche Seufzer, wie sie Jedermann aus dem »Parsifal« 
Wagner's unvergesslich sind. Es ist eine der modernsten 
und ergreifendsten Stellen in B.'s Messe. Die weiteren 
Glaubenszeugnisse sind kurz gegeben ; aber mit bedeuten- 
den Themen. Am meisten fesselt der mystisch spannende, 
visionSre Ausdruck bei der Stelle »Ei exspecto resurrec- 
tionem mortuorumn. Alarmirend, taucht dieses Bild aus 
dem Nichts auf und ins Nichts verschwindet es, begleitet 
von den kurz erregten Recitativzeilen der Sanger. Einen 
IftngiBren Satz bildet nur das fugirende »Et vitam ven- 
turi saeculi'^, getragen vom Choral: nJesus, meine Zuver- 
siclit". 



Wenn Becker's Messe im Allgemeinen zuweilen auch 
an Beethoven 'sche Mittel erinnert, so thut dies das »Sanc- 
tus« besonders in der Mischung des colorirenden Gesang- 
styls mil einfacher Melodik und Declamation. Wie schon 
eignen sich hier die einander kreuzenden zarten Figuren 
der Singstimmen zum Ausdruck einer in Gottesfreude 
schwelgenden Empfindung! Ganz abweichend ist die 
Wiedergabe des ersten »Osanna« in dem ruhigen Tone, 
mit welchem man ein Gliick betrachtet, das stille halt. 
W&hrend dieser Satz in anderen Messen das »Benedictus« 
aus einem scharfen Abschnitt herausspringen l^sst, leitet 
Becker^s »Osanna'( zum letzteren mild hiniiber. Ueber 
beide Satze breitet der Wechsel und die Vereinigung von 
Chor und Soli grossen sinnHchen Reiz. Die zweite 6e- 
handlung des »Osanna«, von der ersten grundverschieden, 
fesselt durch Hervorkehrung eines ernsten, tiefsinnigen 
Elements. In diesem zweiten Osannasatz ist es, wo 
auch der Choral: »Allein Gott in der H5h'« angespielt 
wird. 

Das » Agnus dei« beginnt in einem drohenden, fast 
unheimlichen Ton: schwtll in Klang und Harmonie; tief 
unten grollen kurze erregte Figuren, der breite Gesang 
der Solostimmen wird von dem angstvoll naturalistisch 
psalmodirenden Chor unterbrochen. Die Scene beginnt 
mehrere Male von vom und steigert den Ausdruck der 
diisteren Gedanken, schmerzliche Klagen erheben sich im 
Orchester; an anderer Stelle vernehmen wir wahre 
H511ent5ne. Eine LSsung vom Druck versucht das erste 
Andante ("/4-Tact). Aber in seiner Melodik liegt die voile 
Rathlosigkeit noch ausgesprochen. Erst ein selbst&ndiger 
Orchestersatz (Allegretto, ^U) lost die Spannung und fuhrt 
zum »Dona nobis a fiber, welches den Frieden bringt. 
Seine vorwiegend idyllischen Weisen werden durch freund- 
lich mystische und durch hochpathetische Streiflichter 
gehoben. 

An Selbst&ndigkeit und Charakter wird die Arbeit 
Becker's von der jUngst veroffentlichsten »Grossen Messe« 
(in Fismoll) von Felix Draeseke (op. no) iibertroffen. 



^ 220 ^ 

Es ist eine Musik Cherubini'schen Geistes, die oft ver- 
schlossen und in sich gekehrt, nfther gekannt sein will, 
um verstanden zu werden. Nach keiner Seite leicht, hat 
sie bisher wenig Verbreitung gefunden; wir wissen nur 
von zwei Aufflihrungen: in Leipzig und Dresden. Wer 
aber in dieser Messe die Darstellung der Passion, des 
»Benedictus« und namentlich des »Agnus dei« studirt, wird 
dartiber nicht in Zweifel sein, dass hier die Arbeit eines 
Meisters vorliegt. 



Die romische Kirche theilt die Messen in vier Haupt- 
gruppen : Missae de tempore (Messen fur die gew5hn- 
lichen Sonn- und Festtage des Kirchenjahrs), missae 
de Sanctis (Marienmessen, Mftrtyrermessen , Heiligen- 
messen), missae votivae (Messen, die in ihrem Titel 
und wohl auch in einer Variante des Textes einem be- 
stimmten localen Ereignisse freudiger oder trauriger 
Natur — einer Ffirstenkronung, einer Ueberschwemmung 
etc. — Rechnung tragen)*j. Die hervorragendste und 
letzte Gruppe bilden die Todtenmessen, die missae pro 
defunctis. Der Volksmund nennt sie kurzweg Re- 
quiems, nach den Anfangsworten ihres sogenannten 
Introitus, »Requiem aetemamdonaeis domine«. DieTodten- 
messe hat unter alien Classen der Messe die bedeutend- 
sten als gultig anerkannten Abweichungen vom Teste 
des allgemeinen Hochamts. Sie ersetzt das »Gloria« und 
» Credo « durch zwei vdllig verschiedene Abtheilungen: 
durch das »Dies irae« und das Offertorium »Domine Jesu 
Christe« und dem »Kyrie« schickt sie eine Einleitung 
Yoraus: das schon erwahnte » Requiem aeternam«, die 
Bitte um Frieden fiir die Todten , das Gebet um ewige 
Ruhe, welches den Kern aller S§.tze der Todtenmesse 



*) Die bedeutendste nenere Messe des Aaslandes, die von 
Ch. Gounod zu Ehren der Jungfrau von Orleans geschrieben, 
In Deutschland bisber nicbt aufgefdhrt, geb5rt unter diese 
Gruppe. 



bildet. Die Dichtung des »Dies irae« wird dem Thomas 
a Gelano (4250) zugeschrieben. Sie ist eine der wenigen 
Sequenzen, welche aus dem ungeheuren Schatze, den 
das Mittelalter von dieser Gattung besass, heute von 
der Kirche noch geduldet werden. Ihre Stellung im »Re* 
quiemn hat sich diese Dichtung nur allmahlich erobert. 
Dass sie von den neueren Componisten bevorzugt und 
in den Mittelpunkt der Messe gestellt wird, ist ein Branch, 
welcher dem Z week des »Requiems« eigentlich widerspricht. 
Denn das Ganze ist dichterisch weder auf Trauer- und 
Klagescenen, noch weniger auf ausgefiihrte Schilderungen 
von den Schrecken der Holle und des Fegefeuers ange- 
legt. Es soil in erster Linie nur die FUrbitte urn die 
ewige Ruhe aussprechen und es soil sich alien Bildem 
nur zuwenden, um mit gesteigerter Innigkeit immer 
wieder zu dieser FUrbitte zuruckzukehren. 

Di^ &ltere Zeit, die Zeit des sechzehnten Jahrhun- 
derts ist, wie an kirchlichen Compositionen jeglicher Art, 
so auch an Requiemcompositionen reich. Doch nicht in 
dem Grade, welchen man erwarten soUte, wenn man den 
Maassstab ndch der Fruchtbarkeit bildet, welche heute 
auf diesem Zweiggebiete der geistlichen Tonkunst herrscht* 
Unsere neueren Componisten erscheinen von keinem an- 
deren christlichen Text so stark angezogen, wie von dem 
der Todtenmesse. In der alteren Periode ist das Ver- 
hUltniss der musikalischen Seelenamter zu der allgemeinen 
Messe ungef&hr wie i :iO. Am reichsten ist die fran- 
zosische und niederlandische Schule mit Todtenmessen 
vertreten; in zweiter Linie steht die italienische. Ganz 
zu fehlen scheinen sie in der deutschen, in welcher im Pierre de la Bae, 
Allgemeinen die Messe wenig gepflegt wurde. Aus den joh. Prioris» 
» Requiems « der Zeit vor Palestrina, welche von den Ant de Fevin, 
Kennem hervorgehoben werden, ftihren wir die an von Jao. de Kerle, 
Pierre de la Rue, Joh. Prioris, Ant. de Fevin, Chr. Morales, * 
Jac. de Kerle, C. Morales und F. Guerrero*). Fr, Guerrero. 



♦) Derselbe F. Guerrero, von welckem die Sammlung 
Eslava^s zwei Passionen enthalt. 



-e^ 222 *- 



Namentlich die Todtenmesse des Morales ist durch die 
strenge Durchfiihrung eines hochernsten, diisteren und 
schaurigen Charakters ausgezeichnet. Die Form der 
M^lteren »Requiems« ist scheinbar sehr zerstuckelt. In dem 
grosseren Theile der sogenannten temporellen Stucke, 
im Introitus (»Requiein«), in der Communio (»Lux aetema 
luceattf), namentlich aber in der Sequenz (»Dies irae«) 
wechseln die Chorsatze mit den Intonationen des Priesters. 
In der Sequenz geschieht dies mit der Regelmassigkeit 
der Antiphonie: zwei Zeilen singt der Liturg im Grego- 
rianischen Choralton, zwei Zeilen der Chor im figurirten 
Styl. Diese musikalische Anordnung, welche mit dem 
bei der Todtenmesse gebr^uchlichen liturgischen Cere- 
moniell zusammenhing , hat 5rtlich verschiedene Neben- 
G. P. da Pale- formen. So hat Palestrina in seiner Todtenmesse 



Btrina, 

Requiem 

(von 1591). 



0. di Lasso, 

Beqniem 

(von 1589). 



vom Jahre 4 591 jene nach unserer heutigen Auffassung 
fur das » Requiem « entscheidenden StUcke einfach weg- 
gelassen. Sie bleiben dem Liturgen und dem Gregoria- 
nischen Choral allein. Nur beim Offertorium und beim 
Schluss des » Agnus deia erinnert der Chorsatz im Text 
an eine Todtenfeier. Auch Orlando di Lasso's herr- 
•liches, wundervoU melodisches »Requiem« vom Jahre 1589 
hat keine Sequenz. Erst in der zweiten HUlfte des 
47. Jahrhunderts wird die musikalische Form der Todten- 
messen breiter und in den einzelnen Gliedern wuchtiger. 
Der Liturg scheidet aus. Den Uebergang zeigt uns sehr 
G. A. Pitoni. eigenthiimlich das »Requiem« des G. A. Pitoni vom Jahre 
1688. In demselben sind die friiher liturgischen Ab- 
schnitte in die Form dreistimmiger SUtze iibertragen: 
reihum Knabenterzett, der nachste: Terzett von Manner- 
stimmen. Was friiher Chorsatz war, ist dem vierstimmigen 
Chor geblieben und hat den Styl, den hierfiir die fruheren 
Meister festgestellt batten. Die Terzette hingegen zeigen 
die Beweglichkeit in Rhythmus und Ausdruck, welche 
eben erst in Folge von Monodie und Musikdrama sich 
entwickelte. Pitoni folgte den neueren Bestrebungen in 
der Vocalmusik bekanntlich eifrig und mitthatig. Unter 
anderem hat er die Skizze zu einer zwolfchorigen 



-* SISI3 *- 

Messe entworfen. (Inter den Todtenmessen, welche sich 

enger als das Pitoni'sche » Requiem « dem sogenannten 

Palestrinastyl anschliessen , sind als hervorragende die 

von Or. Vecchi, Giov. Fr. Anerio, G. Cavaccio 

und L. Vittoria bekannt. Der allererste Platz in dieser 

Gruppe gebtihrt jedoch dem achtstimmigen »Requiem« von 

Fr. Cavalli, dem eigentlichen Sch5pfer der venetia- Pr. Cavalli. 

nischen Oper. Dieser grosse Meister schheb dieses zwei- 

chorige Werk fiir sein eignes Begrftbniss (f 4 706) und 

bestimmte testamentarisch und durch Legate regelmS^sige 

Auffiihrungen desselben zu seinem Ged^chtniss. Es ist 

die feierlichste Todtenmesse, welche existirt, und wenn 

jemals von einem alten nur handschriftlich vorhandenen 

Tonwerke die Drucklegung wiinschenswerth gewesen ist, 

so von diesem. Ein Theil seiner erhabenen Gr5sse be- 

ruht auf der Beibehaltung der gregorianischen Motive 

und der liturgischen Intonationen. Doch hat Cavalli 

letztere dem neueren Chorsatz stylgemS^ss angeschlossen, 

meist in Form eines zweistimmigen Satzes fiir die Basse 

b eider Chore. Die Sequenz ist textlich voUstandig auf- 

genommen und in dem aufgeregten Style behandelt, der 

bis auf die Gegenwart fiir die Composition dieses Satzes 

typisch geblieben ist. 

»Requiems« mit Instrumentalbegleitung begegnen wir 
bereits in der Mitte des 4 7. Jahrhunderts. Unter die 
friihesten unter den bekannteren gehdren die von G. P. 
Colo una und G. B. Bassani. In beiden ist aber die G. F. Golonna, 
Erfindung noch wesentlich rein vocal und auch die Satz- G. B. Bassani. 
formen gehdren mehr der &lteren Periode an. Wie eine 
grosse Ueberschrift fiir^s Ganze bringt Bassini vor dem 
Introitus das erste Wort »Requiem« in den breiten Rhyth- 
men der alten Ritualformel. Auch A. Lotti setzt mit A. Lotti. 
dem Unisono der drei tiefen Stimmen seine Todtenmesse 
noch so ein und fiihrt auch den Satz in der alten Art 
iiber kleine Abschnitte fort: I die Basse vorwiegend starr 
auf langen T5nen liegend, die iibrigen Stimmen mit Be- 
vorzugung choralartiger Wendungen. Das »Dies irae« 
beginnt mit einem breiten mysteriosen Instrumentalsatze, 



224 



F. Durante. 



N Jomelli. 



A. Hasse. 



in welchem Trompetenklang, venninderte Septaccorde, 
Generalpausen und feierliche Fugatos einen Hauptbestand- 
theil bilden. Das Tempo ist Adagio^ Das »Requiem« des 
Fr. Durante lasst sich schon bei Weitem modemer an* 
Ein traumerischer Zug kommt besonders im Introitus 
zum Ausdruck. Rochlitz hat diesen Theil des Werkes 
und das Graduale, welches in einer bedeutend verlan- 
gerten Form erscheint, in seine Sammlung aufgenommen. 

Die alteste unter den begleiteten Todtenmessen, welche 
noch bis jiingst zuweilen zu horen war, ist die von Nic. 
Jomelli. Sie ist wiederholt gedruckt worden; den 
jungsten Clavierauszug des Werkes veroffentlichte Julius 
Stern im Jahre 1866. Die Composition, aus der letzten, 
ungliicklichen Periode des Tonsetzers stammend, gait fiir 
seine bedeutendste Schopfung. Bei grosser Einfachheit 
ist sie reich an Eigenart der Auffassung. Wie sch5n ist 
der kurze Introitus, in welchem die wiegenden Figuren 
der Instrumentalbslsse, sich mit den Violinen die Hand 
reichend, den Tod in dem freundlichen Bild des Schlum- 
mers zeigen. Die Mangel des Werkes beruhen auf einem 
Familienfehler der neapolitanischen Schule : Vorherrschen 
einer weichlichen Empfindung. Damit kam es aber den 
Neigungen des 4 8. Jahrhunderts entgegen. Auch durch 
die Verwendung von Solostimmen ubte es seinen Reiz. 
Doch sind diese nur selten ausserlich virtuos behandelt. 
Im Durchschnitt ist ihre Fuhrung wurdig. In ihnen und 
in den Ghorpartien liegt ein Reichthum natiirlicher Ge- 
sangwirkung, wie er in neueren Werken nur selten vor- 
kommt. Die von Miiller in Stuttgart vorgenommene Zu- 
setzung von Blasinstrumenten hat den Charakter des 
Werkes geschadigt. Ein a capella »Requiema (in Es) von 
Jomelli gehort ebenfalls zu den bedeutendsten Compo- 
sitionen des Textes. 

An Verbreitung hinter dem Jomelli'schen vRequiema 
weit zuriickstehend , sind auch die Todtenmessen A. 
H a s se ^ s der Beachtung werth. Das erste »Requiem« (in Es) 
hat noch alte liturgische Intonationen sowohl in ein- 
facher, wie in eingearbeiteter Form. Unter seinen her- 



I 



^ 825 ♦- 

Yorragenden'Stellen ist der Eingang des »Dies irae<< wegen 
der malerischen Kraft seines Orchesters besonders be- 
senders bemerkenswerth. Stechend klingt aus dem 
Violinen der Schrecken. In dem zweiten (in C) ist der 
Introitus tief eindringlich. Ihm liegt die Idee eines glan- 
zenden Trauermarsches zu Grunde, aus dem man oft 
^ockenartige Motive heraushort. Beide Todtenmessen 
sind reich an dankbaren Solonummern. 

Im Allgemeinen drangt sich die Beobachtung auf, 
dass die Todtenmesse vor dem Verfall, welcher von der 
zweiten Halfte des achtzehnten Jahrhunderts ab auf 
mehrere Jahrzehnte hinaus die Composition der anderen 
drei Gruppen der Messe ergriff, bewahrt blieb. Der 
Grundgedanke des »Requiems« lag menschlich zu nahe und 
erfiillte auch die geringeren Geister unter den Ton- 
setzern mit demjenigen Ernste, welchen leider auch die 
Besten jener Zeit vermissen lassen, wenn sie eine ge* 
w5hnliche Messe zu componireu batten. Nur die Sequenz, 
das »Dies irae« mit seinem Bilderreichthum , verfiihrte 
h§.ufiger zu Spielereien, von denen etliche geradezu zu 
stehenden Typen wurden. Dass bei den Worten »Tuba 
mirum spargens sonum« die Posaune im Singular oder 
Plural einsetzt, erscheint allmahlich selbstverstslndlich. 
Es kommen auch viel ausserordenthchere Einf&lle vor: 
G. v. Pasterwitz z. B., dessen wiirdiges, aber doch nur G, ▼. Pagterwlt?. 
mittelmslssiges »Requiem« Rochhtz in seine Mustersamm- 
lung aufgenommen hat, I3.sst an der Stelle »Quantus 
tremor est futurus« den ganzen Singechor in einem 
grotesken Tremolo starren und beben. 

Jenen Unterschied im Gehalt zwischen »Requiem« und 
den einfachen Messen auch bei W. A. Mozart nach- W. A. Mosart. 
weisen zu wollen, ware ein ziemlich trivales Unternehmen. 
Zwischen Mozart's letzter Messe und seinem »Requiem« 
liegt ein gauzes Leben; der seelische und kiinstlerische 
Reichthum, wie ihn nur das Genie im Laufe zweier 
Jahrzehnte erwirbt, macht jeden naheren Vergleich 
zwischen der Todtenmesse Mozart's und seinem anderen 
unm5glich. Ausserdem wissen wir, dass Mozart die 

II, 1. 15 



Gedanken an den eignen Tod in die Feder drangen, als er 
das »Requiem« schrieb. Es kamen viele Umst&nde zu- 
sammen, um dieses Werk aus seiner Zeit herauszoheben 
und ihm eine ausserordentliche Lebenskraft einzufl5ssen. 
Auch der romantische Reiz wirkte mit. Das i»Requiem« 
Mozart's wird im Anfang dieses Jahrhunderts selten er- 
wS,hnt, ohne dass zugleich des geheimnissvollen Boten 
gedacht wurde, welcher das Werk bestellte: der langen 
schwarzen Lakaienfigur, welche wie ein Grespenst das 
Fortschreiten der Partitur umsp&hte. Auch die unsinnigen 
Vergiftungsgeschichten, die angeblichen Intriguen Salieri's 
und der Italiener, werden bei dieser Gelegenheit mit auf- 
getischt. Als man spater erfuhr, dass Graf Walsegg der 
geheime Besteller gewesen, dass dieser Mann, der an der 
Manie litt, als Gomponist gl^nzen zu wollen, dieses Werk 
fiir sein eignes ausgegeben, erhielt jenes romantische 
Interesse nur neue Nahrung. Endlich erreichte es bei 
vielen Verehrem des Meisters einen geradezu leidenschaft- 
lichen Grad durch den Streit, welcher sich um die Echt- 
heit des »Requiems« erhob. Dieser Streit darf seit dem 
Jahre 4 829 als erledigt gelten. Die neuen Untersuchungen 
von Brahms'*') haben die Resultate best§,tigt, welche da- 
mals A. Andr6 in Offenbach veroffentlichte. Die Partitur 
des »Requiem9«, welche dieser Vater der Mozartforschung 
herausgab, zeigt das Werk genau in dem Zustand, in 
welchem es Mozart bei seinem Tode hinterlassen. Danach 
war kein einziger Satz der Todtenmesse wirklich vollendet, 
als des Meisters Hand erkaltete. Aber der grossere Theil 
war doch so weit fertig, dass ein geschickter Musiker das 
Fehlende wohl im Sinne Mozart's erganzen konnte. Von 
den 4 2 Nummern, in welche Mozart das »Requiem« eigen- 
thiimlicher Weise zerlegte, waren Introitus und Offer- 
torium in den Singstimmen und im Harmoniebass voll- 
standig ausgearbeitet, fiir die Instrumentirung dieser S&tze 



*) In der Oesammtausgabe der Werke Mozart^s von Breit- 
kopf und Hartel mitgetheilt. 



^ 227 ♦- 

die wesentlichen Motive unci Gesichtspunkte gegeben. 
Desgleichen auch in der Sequenz; doch horen in dieser 
mit dem 9. Tacte des »Lacryn)osa« Mozart's Aufzeichnungen 
plotzlich auf. Vollst&ndig fehlen das ASanctust^, »Bene- 
dictusft und * Agnus dei«. Mit der Erganznng wurde von 
Mozart^s Wittwe der Wiener Capellmeister F. X. Siiss- 
mayer beauftragt. Dieser Musiker genoss in der Fach- 
welt ein ehren voiles Ansehen: Sein »Soliman II. « und 
sein » Spiegel von Arkadien« waren als Lieblingsopern 
Jabrzehnte lang uber alle deutschen Btihnen verbreitet 
und gehorten in dem grossen Kreis von Werken, welche 
Wir als Absenker der »Zauberfl5te(c zu betracbten haben, 
zu den selbst§,ndigsten und talentvollsten. Ueberdies 
konnte Sussmeyer als ein Scbiiler Mozart's angeseben 
werden. Mit dem Intentionen, die Mozart in Bezug auf 
auf das » Requiem « gehabt, war er speciell vertraut und 
was nicht zuletzt in Betracbt kam: seine Handscbrift 
glicb der Mozart'schen so genau, dass Walsegg und noch 
Andere sie dafUr bielten. Mag man nun aus dem Um- 
stande auf die Bedeutung Siissmayer's schliessen oder 
auf die Kritiklosigkeit der Zeit; jedenfalls muss es als 
Thatsache bervorgehoben werden, dass die Satze, welcbe 
Siissmayer ganz und gar selbst componirt batte, ftir ecbte 
Mozart'scbe Leistungen befunden wurden. Das «>Bene- 
dictus« wurde sogar nocb im Jabre 4 802 als eine Perle 
des ganzen »Requiem« besonders ausgezeicbnet*). 

Dass Mozart bestrebt war, in seiner Todtenmesse den 
kirchlicben Cbarakter streng und deutlicb auszupragen, 
zeigt namentlich der Introitus des Werkes. Das in seinem 
maassvollen Ausdruck der Freude so eigentbiimliche 
Tbema, mit welchem der Solosopran bier das »Te decet 
bymnusa einsetzt, ist die Melodic des alten Chorals 
•Meine Seer erbebt den Herrn«. Michael Haydn hat sie 
an derselben Stelle seines B dur-»Requiems« gebracht. Sie 
war als Grablied bekannt. Neuerdings bat F. Kiel in 



*) Allg. Mutslkal. Zeitnng. 

13* 



^ 228 ^ 

seinem zweiten »Requiem« diesen cantus lirmus wieder auf- 
gegriffen. Aus einer ahnlichen Quelle stammt auch das 
Them a, iiber welches die Singstimmen die Worte »Requiem 
aeternam** in Nachahmungen durchfuhren. Mit einer ge- 
ringen Abweichung findet sich dasselbe am Eingang von 
Hftndels's Begrfibnissanthem, dass Mozart wahrschein- 
lich gekannt hat. Auch die refrainartige Verwen- 
dung des zuerst in den Fagotten auftretenden Motivs 

Adagio ^^ ferner die colorirte Fiihrung 

jy^ 4^^^^Uiiiijiij\^ ' der Nebenthemen, die Wahl 
des Haupt- Aflegro* endlich die grosse Auss 

themasder .y^ ( i ( T .lnJi ^^ , dehnung dieses letztge- 
Kyriefuge Kr-»i-« . • . !•- i.wn nannten Stiickes selbst 

diirfen wir auf das Streben Mozart's zuriickfiihren, seiner 
Todtenfeier einen objectiven Charakter zu geben und das 
Web der Trauer durch die von Alters her erprobte und 
geheiligte Sprache der Kirche zu lindern. Es finden sich 
nur wenige Stellen , an welchen sich die subjective 
Empfindung einzumischen versucht: Die ersten Einsatze 
von »et lux perpetua« und vom >exaudi« sind es, Aber 
sie gelangen mit ihrem dramatischen Ton nicht einmal 
bis ans Ende. Das Eigenthiimliche dieses ganzen ersten 
Satzes ist es: dass er in seinem thematischen Material 
so einfach, fast auf Gemeinplatze gestellt ist und doch 
so tief wirkt. Als ungeschriebener cantus firmus klingt 
der tiefe Ernst der Stimmung durch. Die Instrumentation 
tragt auch mit dazu bei, uns die Farben der Trauer fest 
vor dem Auge zu halten : den Bassethornern und Fagotten 
ist ihre Rolle mit genialer Berechnung zugewiesen; ebenso 
den Posaunen am Schluss der Einleitung. Doch hat diese 
Siissmeyer wohl kaum in Mozart's Sinne weitergefiihrt. 

Die Sequenz, das »Dies irae«, hat Mozart in sechs 
gesonderten Nummern behandelt. Die erste, das eigent- 
liche »Dies irae«, ein Chorsatz — hart und erschreckt in 
der Vocalpartie, aufgeregt und gahrend im Orchester — 
hat die Hauptstelle bei der Repetition des »Quantus tre- 
mor". Das einfache Achtelmotiv der Singbasse ist von 



grausiger Wirkung. Die Textesworte des if Tuba mirum« 
tragen die Solostimmen , eine nach der anderen, in fra- 
genden, bangen Weisen vor. Am Schlusse erfabrt der 
zagende Ton durch den Choreintritt eine ergreifende 
Steigerung. Der beruhigte Schluss (in Bdur) erregt Be- 
denken; noch mehr der Anfang wegen der Posaune. 
Nach den ersten Tacten ger^th sie in Figuren, welche 
der Natur des Instrumentes widerstreben. Man darf hier 
der buchstablichen Genauigkeit der Mozart'schen Skizze 
misstrauen. M5glicherweise fehlt beim Beginn der Achtel 
die Angabe eines anderen Instrumentes (Fagott?). Unter 
den kleinen abgeschlossenen Satzen, durch welche das 
»Requiem« Mozart's an die friihesten Formen der Todten- 
messe erinnert, ist das »Rex tremendae majestatisi einer 
der knappsten. Bis wenige Tacte vor dem Schlusse ist 
das Tonbild die musikalische Umschreibung der im Sub- 
ject gegebenen BegrifTe von der Hoheit und Gewalt der 
gottlichen Majest^t. Sehr schon bezeichnen die ersten, 
wie zagend auf dem schlechten Tacttheil beschrankten 
Anrufe der Singstimmen ihnen gegeniiber das Verhaltniss 
menschlicher Ohnmacht. Die Bitte »salva mea kommt 
in den vier letzten Tacten kurz, aber eindringlich zu 
einem demlithigen Ausdruck. Mehr als in anderen 
Nummern f§,llt hier die Behandlung der Blasinstrumente, 
welche sinnlos die Singstimmen verdoppeln, auf. Sie 
kommt ausschliesslich auf Siissmayer's Conto. Das »Re- 
cordarew ist einer der gehaltreichsten Satze des Werkes. 
Seine Form ist die der dreitheiligen Arie: erster und 
dritter Theil gleichlautend, zwischen beiden ein selb- 
standiger contrastirender Mittel theil. Letzterer, sehr kurz, 
umfasst den Textabschnitt von: »Ingemisco« bis »spem 
dedisti «. Im Hauptsatz ist die kurze Periode, zu welcher 
beim ersten Male die Worte »ne me perdasa gesungen 
werden, besonders ergreifend. Mit dem Introitus hat 
dieses »Recordare« den strengen kirchlichen Gharakter 
gemein und auch in den formellen Mitteln besteht Aehn- 
lichkeit. Das »Gonfutatis« malt in erschreckten , aufge- 
regten Figuren des Streichorchesters den Zustand der 



-* 230 *- 

Verdammten ; die Mfinnerstimmen veranschaulichen das 
Angstgeschrei der den HSllenflammen preisgegebenen 
Seelen. In Satzchen von gr5sster Einfachheit treten 
dieser Gruppe die ruhigen, in Dur gehaltenen Bittgesange 
der Frauenstimmen gegenliber. Der zweite Theil der nur 
kurzen Nummervereinigt den gesammten Chor in frommem 
aus zitternder Seele kommenden Ausdruck des Gnaden- 
bedurfnisses. Dieser Schlusstheil gehort zu den genialsten 
Stellen des »Requiemsff. Das »Lacrymosa« hat Mozart zu 
einem der ergreifendsten Satze angelegt. In seinen ersten 
Tacten waltet eine Tonsprache von machtigster Anschau- 
lichkeit: Schluchzend klingt die Sexte des ersten Motivs: 
aijo. in die hSchste Spannung versetzt 

^^ p f ^ uns der Aufmarsch der Stimmen in 




La - cry-mo . sa zagenden, abgebrochenen, leise ge- 
hauchten Achteln bei den Worten »qua resurget etc.*-. 
Mit erschiitternder Gewalt endigt er im Aufschrei auf 
den hohen Tonen, wo der Schuld der Menschheit ge- 
dacht wird: »homo reus«. Hier bricht Mozart ab. Siiss- 
mayer hat sich redlich bemuht, etwas von dieser hoch- 
gespannten Stimmung festzuhalten. Einigermaassen ist 
ihm dies bei dem zweiten Einsatz des »Dona nobis pacema 
gelungen. In Mozart's Autograph sind leere Blatter, aus 
denen man schhessen kann, dass er dem Satze eine 
massige Lange (2i — 30 Tacte) bestimmt hatte. Diese hat 
der Bearbeiter eingehalten. Das Offertorium »Domine 
Jesu Christe<c besteht in seinem ersten Theile aus einer 
Reihe kleiner Bilder, in denen die dunkeln Farben des 
Entsetzens und Grauens dramatisch kurz aufgetragen 
sind. Der zweite, knappe Theil (Soloquartett) »Sed sig- 
nifer sanctus Michael « steht dazu in einem freundlichen 
Gegensatz. Die Schlussfuge »Quam olim Abrahae« hat 
ein kirchlich viel gebrauchtes Thema. Mit besonderer 
Liebe sind in ihr die Worte »et semini ejus« bedacht. 
Sie ist nur kurz und die leeren Blatter im Autograph 
scheinen anzudeuten, dass ihr Mozart noch einen Theil 
zufugen Oder hier noch eine neue Einlage geben wollte. 
Siissmayer hat, diese Liicke libergehend, unmittelbar das 



uHostiastt folgen lassen, den letzten Satz des Werkes, 
welcher von Mozart selbst herriihrt. Er tragt die eigen- 
thumlichen Ziige des kurzen, inhaltschweren Aufbaues, 
welcher einen grossen Theil der kirchlichen Compositionen 
Mozart's auszeichnet. Die von Siissmayer selbst com- 
ponirten Nummern des »Sanctus«, »Osannaa, »Benedictas«) 
des »Agnus(( (bis zum »lux aeterna«) reprHsentiren einen 
wiirdigen Typus der katholischen Kirchenmusik in jener 
Periode. Mit Gliick sind ihnen echt Mozart Vbe Wen- 
dungen eingefQgt. Nnr der Sopraneinsatz im »Benedic- 
tus« verrath eine geringere Stufe von Styl und Fan- 
tasie. 

Das Mozart'sche »Requiem« errang in seiner Gattung 
eine Hhnlich beherrschende Stellung, wie die Beethoven'- 
schen Sinfonien auf dem Gebiete der grossen Instrumen- 
talcomposition. Es verbreitete sich schnell durch ganz 
Deutschland und drang uber dessen Grenzen weiter nach 
alien Himmelsrichtungen : hinunter nach Turin, Florenz, 
Neapel, Lissabon, hinauf nach Warschau, Petersburg, 
Lemberg, Stockholm. In Paris machte es einen solchen 
Eindruck, dass man im Jahre 4 840 bei der Leichenfeier 
Napoleon *s ihm zu Liebe die einheimischen Gomponisten 
liberging. Es tiberschritt den Ocean und wurde selbst 
in Rio Janeiro aufgefiihrt. In dieser Glanzzeit des Mo- 
zart'schen »Requiems« — die drei Jahrzehnte von 1798 bis 
1828 bilden dieselbe — war jede Todtenmesse eines 
neuen Tonsetzers den stillen oder offenen Vergleichen 
mit dem Schwanengesang des Salzburgischen Meisters 
ausgesetzt. Kritik und Publikum gin gen kiihl an manchem 
Werke voriiber, welches zu anderen Zeiten iim seiner 
Selbst&ndigkeit willen laute Anerkennung gefunden haben 
wtirde. Wir denken dabei in erster Linie des unvoUen- 
deten )»Requiem« von Michael Haydn (in Bdur), welches 
mit dem von Mozart auch in seiner Geschichte Beriih- 
rungspunkte zeigt. Auch Haydn rief der Tod ab, ehe er 
dies Work voUendet. Das friihere » Requiem « desselben 
Gomponisten (Cmoll) schliesst sich mehr an die aitere 
Form an und erreicht mit dem Choralgesang ergreifende 



-^ 232 ^ 

Wirknng. Das -Dies irae« darin ist ruhig feierlich. Wir 
denken ferner der Todtenmessen von Ett, Fasch, Neu- 
komm*, Tomaschek, Abt Vogler, G. Weber, Wit- 
tasek. In zweiter Linie sind auch die Requiemcompo- 
sitionen von Bochsa, Drechsler, Drobisch, Eisner, 
Eybler, Gftnsbacher, Hftser, Hellwig, Henkel 
{deutsche Seelenmessen), Htittenbrenner, S. Mayer, 
Moralt, Morlacchi, Salieri, Sechter, Stadler, 
Zelter, Zingarelli zu erwfthnen. Die Fruchtbarkeit 
der Periode wird durcb diese grosse Anzahl Nam en, 
welcbe nur eine Auslese bedeutet, bewiesen. Sie tritt in 
ihr voiles Licht, wenn man die Thatsache beriicksichtigt, 
dass viele der bier gar nicht genannten Tonsetzer ihre 
Todtenmessen gleich serienweise veroffentlichten : in Serien 
zu sechs und acbt Exemplaren. Ein Franz Schneider ist 
mit 15 »Requiems« vertrelen. Auch Ferdinand Cauer, der 
Componist des »Donauweibchens«, warf drei »Reqmems« auf 
einmal hinaus. Den Bann einer relativen Gleichgiiltigkeit, 
welchem diese Compositionen ohne Ansehen ihres ver- 
schiedenen Werthes unterlagen, durchbrach nur Einer: 
L. Cherub ini, und zwar mit seinen beiden "Requiemsw, 
dem in C moll fiir gemischten Chor sowohl, wie mit dem 
fiir Mannerchor geschriebenen D moll -» Requiem «. 
L. Cherabini, Auch das Cmoll-»Requiem« Cherubini's, im Jahre 1816 

c moll- Requiem. componirt und 1818 zur Todtenfeier M^huFs zum ersten 
Male aufgefuhrt, vielleicht die bedeutendste Todtenmesse, 
die nach der von Gossec in Frankreich wieder geschrieben 
wurde, und die einzige, welche die Landesgrenzen seit 
langem iiljerschritten hatte, — auch dieses wurde in 
Deutschland dem Vergleich mit Mozart unterzogen. 
Das oberste musikalische Reichsgericht in Deutschland 
jener Zeit: die Allgemeine Musikalische Zeitung, entschied 
(t J. 1820) gegen Cherubini. Der breite Artikel, welcher 
den philistrSsen gespreizten Geist der Fink'schen Redac- 



*) Zum Gcdachtniss der Briider J. und M. Haydn. 



-^ 233 ^ 

tionsperiode athmet, wirft dem Componisten der »Medea<', 
dem Tohsetzer, der die Figur des Micheli geschaffen, 
Mangel an Gemtith vor. Mit diesem Vorwurf war man 
gegen alle Tonwerke schnell bei der Hand, welche aus 
Frankreiph kamen. Auch M^hul's Sinfonien wareii damit 
zu Tode geschrieben worden. Das masikalische Deutscb- 
land war damals nabe daran, das Sentimentale nar 
dann zu versteben, wenn dasselbe in einer etwas band- 
greiflicben Form geboten wurde. In der Tbat ist das 
C moll-»Requiema Cberubini's reicb an Gemiitb und Empfin- 
dung. Aber ein grosser Tbeil dieser Regungen ist von 
zarter und subtiler Natur und iiberdies mit einer ausser- 
ordentlicben Knappbeit des Ausdrucks bingesteilt. Kurze, 
Scblicbtbeit undBestimmtbeit kennzeicbnet im Allgemeinen 
den Styl dieses Werkes. Sie ist ein Grundzug im kiinst- 
leriscben Wesen Cberubini's iiberbaupt und sie £lussert 
sich ebenso sebr, wie in den Abscbnitten, welcbe vom 
Gefiibl zum Gefubl geben, in den anderen Tbeilen dieser 
Todtenmesse: in den macbtigen Bildern, welcbe sicb an 
die Fantasie wenden sollen. Wer in die Kunst bis 
zu dem Punkte eingedrungen ist, wo die Bescbaftigung 
mit ibr auf Denkungsart und Cbarakter beilsam einzu- 
wirken beginnt, wird sicb iiberbaupt dawider str&uben, 
wirklicbe Individualitaten mit Censuren gegen einander 
zu bringen. Sollte der Versucb aber trotzdem fur unseren 
Fall notbwendig sein, so werden sicb unter den bier in 
Frage kommenden Mannern wobl nur Wenige finden, 
welcbe im Stande sind, Cberubini's »Requiem« in Cmoll 
binter die Mozart'scbe Trauermesse zu stellen. 

Es giebt in der neueren Cborlitteratur keine zweite 
Todtenmesse, welcbe sicb mit dem Cmoll-»Requiem« von 
Cberubini in der Bestimmtbeit und Starke des Totalein- 
drucks messen kann. Die Auffassung dieser Todtenfeier 
ist . ganz eigen durcb das Vorberrscben einer resignirten 
Stimmung. Es ist, als ob der Componist alien den Mit- 
teln, mit welcben der trauernde Menscb sein Herz zu er- 
leichtern pflegt, sein voiles Vertrauen nicbt zu scbenken 
vermoge. Die Klage 16st seinen Scbmerz nicbt ganz, der 



-fr 234 ^ 

Hinblick auf die seligen Bilder vom himmlischen Leben 
kann ihn nicht von dem Druck des einen Gedankens be- 
freien: von dem Gedanken an das unabanderliche Schick- 
sal, welches der Menschheit das Sterben als Ziel gesetzt 
hat. Dieser Gedanke wirft seinen finsteren Schatten iiber 
alle Theile des meister lichen Werkes und mit einem uber- 
legenen Kunstverstand ist er in dem Plan der Com- 
position durchgefiihrt , aus Zeichnung und Farbe bald 
offen, bald versteckt herauszufiihlen. Besonders stark ist 
der Ton einer Trauer, die mannlich an sich hMt, aber 
auf einen eigentlichen Trost verzichtet, im ersten Satze 
dieses vRequiema ausgedruckt: im Introitus und »Kyrie«. 
Die Instrumentation ist darauf gerichtet; der dunkle Klang 
herrscht vor: wie im Graduale und im »Pie Jesu« spielen 
die Violen die erste Stimme, die Violinen schweigen. Das 
Hauptthema der Soprane: kurz, einfach, aber in seinem 
Quintenfalle so leidvoU! Das durchgehende Begleitungs- 
motiv des Satzes, von den Fagotten zuerst gebracht, so 
schwer fragend: die ganze rhythmische Bewegung ver- 
halten, der Aufbau immer wieder auf Fermaten ein- 
haltend! Die aufhellenden Stellen des Textes, die Worte 
vom ewigen Licht, welches den Seligen leuchtet, von 
der Herrlichkeit Gottes, die in Hymnen gefeiert wird, 
sind auf trauemde und kleinlaute Motive gestellt. An 
einer einzigen Stelle, bei den Worten wad te omnis caro 
veniet«, leuchtet ein fluchtiger Schimmer von Hoffnung 
auf. Der liturgische Haupttheil des Satzes, das »Kyrie«, 
das Gebet zum Herrn, ist fast nur wie ein pflichtmassiger 
Anhang angefangen. In dem Graduale fliesst die Melodie 
der Klage etwas starker. Wie fest aber Cherubini an der 
Gruhdstimmung festhalt, zeigt sowohl der in die Entsagung 
zurticklenkende Schluss, als namentlich auch die Wieder- 
gabe der Stelle »in memoria aeterna erit justus«, fiir 
welche ohne Zweifel die iiberwiegende Mehrheit der 
Tonsetzer eine freudevoUere Einlage sich nicht versagt 
batten. 

Aeusserlich bildetauchin Cherubini*sCmoll-»Requiem« 
den Mittelpunkt der Messe: das »Dies iraetr. Von der 



235 -ft- 

Mehrzahl der anderen Tonsetzer unterscheidet sich Cheru- 
bini in der Behandlung dieses Theils dadurch, dass er die 
ganze Sequenz, vne in einem Zuge, d. i. in einem Tempo, 
dnrchnimmt bis zum »Lacrymosa«. Erst bei diesem Schluss- 
abschnitte tritt eine neue Bewegung ein: ein feierliches 
Largo. Der Wehruf, mit welchem es einsetzt, erscheint 
wie die moralische Frucht der vorhergehenden erregenden 
Schilderung des Gerichts. Die schwere Wehmuth dieses 
wLacrymosaw, die einfache Innigkeit, mit welcher in ihm 
»Pie Jesu« gerufen wird, entscheiden den Schlusseindruck 
des Satzes. Die Bilder, welche Cherubini vom jiingsten 
Tage und seinen Schrecken entwirft, sind in einem grossen 
StYl^ ausgefiihrt, welcher die Einzelheiten nur leicht an- 
deutet. Im Haupttheil ruht die Darstellung auf dem 
Orchester. Die Posaunen deuten das Gewaltig-Unheim- 
liche der Situation mit einem starren rhythmischen Motiv 
an; ein einziger Schlag des Tamtam geniigt, ihren uner- 
hort entsetzlichen Charakter anszusprechen. Die leiden- 
schaftlich wilde Bewegung der Scene bringen die Geigen 
mit einem einfachen Achtelthema zum Ausdruck, welches 
von unten nach oben steigt und, auf der H6he ange- 
langt, die Blasinstrumente mit aufnimmt und auch die 
Singstimmen. Letztere sind an vielen Stellen in den 
Instrumentalsatz hineincomponirt mit canonisch repe- 
tirenden Phrasen einer aufgeregten Declamation. Mit 
einfachen Mitteln ist eine schauerliche Wirkung erreicht, 
welche nur vortibergehend an geeigneten Satzschlussen 
sich etwas mildert. Diejenigen Stellen, welche in das 
furchtbare Wogen des grossen Tongemaldes das Oel des 
Friedens hineinzaubern, sind »Salva me« und »voca me«. 
Der Gebetstheil von »Recordare etc.« bis »preces meae 
non sunt dignae« schillert in einem merkwiirdigen Doppel- 
licht: die Singstimmen ziehen einzeln oder zu zweien 
im Unisono gepaart, kunstvoU im Canon und doppelten 
Contrapunkt gefuhrt, wie durch eine grosse Leere dahin, 
in breiten Rhythmen zwischen Sin gen und Sprechen 
schwankend. In dem Violinchor zlingeln die kleinen 
Fl&mmchen des Fegefeuers fort. 



-%■ 236 ^ 

Im Offertorium »Domme Jesu Christe« tauchen die 
Schrecken des »Dies irae« noch einmal auf, als der Text 
die Strafen der H511e, als er den tiefen See, den Lowen- 
rachen und die grosse Finsterniss erwfthnt. Diese Vor- 
stellungen hat Cherubini in kurzen, abgeschlossenen 
Bildern niedergelegt. Bestimmend HSlt den Satz ist der 
Anklang freundlicher Erscheinungen : Urn den heiligen 
Michael hat der Meister eine Scene von Licht und GUte 
gewoben, in deren Anblick Jedermann schwelgt. Ihr Grund- 
motiv, eine einfache Achtelfigur, tritt scbon in der Ein- 
leitung des Satzes, in seinem zweiten Tacte auf. In der 
Durchfiihrung desselben zeigt sich Cherubini wieder als der 
geniale Beherrscher der Chromatik. Den zweiten Theil 
des Offertoriums nimmt eine etwas frei gehaltene Fuge ein, 
welche die Worte uQuam olim Abrahae promisisti et 
semini ejusn in drei Themen ausfUhrt. Ihr Ton ist ein 
zutrauensvoller, der Aufschwung aus ihm zum Enthusias- 
mus etwas gewaltsam. Den Schlusstheil bildet ein Ada- 
gio p/4-Tact) fiber die Worte »Hostias et preces tibi do- 
mine laudis offerimus«. In die Form seiner Melodien 
theilen sich verschiedene Principien, die langhin fliessende 
Weise und der stiickweise Aufbau: in seinem Inhalt wech- 
selt frommes, dankbares Vertrauen mit leisen Regnngen 
des Zagens. Der Grundton des Werkes klingt verdeckt 
wieder durch. Am Schlusse horen wir Mozart. Eigen- 
thfimlicher als das sehr kurz durchgenommene "Sanctnsa 
erscheint das »Pie Jesu«. Gedriickt und tief wehmuthig 
schleicht es voriiber. Besonders riihrend ist das Zwischen- 
spiel mit der eindringlichen Viertelfigur der ersten Clari- 
nette. Der Satz wirft einen geistigen Blick auf den In- 
troitus zuriick. Das »Agnus dei« beginnt leidenschaftlich, 
wie in der Abwehr gegen die grRssliche Idee vom Tode. 
Nachdem der Chor dreimal laut zum Lamm Gottes auf- 
geschrien und gebetet hat, fallt das Wort nsempiternamv. 
Ewige Rube? Dieser Begriff wird zum Anker fur die 
erregte Fantasie: Bedeckte Pauken erklingen, die Har- 
monien streifen an fremdartigen Gebilden vorbei. Das 
Reich des Geheimnissvollen thut sich auf und bietet 



-♦ ?37 

der gequalten Seele eine Zu- sos teimfo. seine sanf!> 

flucht: Immer fester win- T jfa ^ ,, r^r' b _ ^^ tenSchleier 
det das holdemste Motiv ^^ ' Lif * " uber des 
Tondichters Augen. In Traumestonen, welche mis an das 
• Credoa der Dmoll-Messe erinnern, Tonen, wie sie nur 
Cherubini in dieser Art hat, entschlummert die Musik. 
Kirchlich ist der Schluss nicht ganz geniigend; poetisch 
unendlich fein! 

Das zweite »Requiem« Cherubini's (in D moll, nach dem L. Cherabini, 
eigenen Verzeichniss des Verfassers i. J. 4 836 componirt) Requiem(Dmoil). 
gilt heute Vielen deshalb als ein Unicum, weil es aus- 
schliesslich fiir M^nnerstimmen geschrieben ist. Ueber 
das Alter des M&nnergesangs im Allgemeinen und seine 
Litteratur sind neuerdings manche falsche Nachrichten 
in Umlauf gesetzt worden. Einer dieser eigenthttm lichen 
Geschichtsschreiber hat die Einfiihrung des MRnnergesangs 
in die Oper vor Jahresfrist in ausfiihrlichen Zeitungsauf* 
satzen als ein wesentliches Verdienst Marschrier's geschil- 
dert; ein Zweiter, der das Thema in Broschiirenform 
behandelt, besann sich wenigstens auf Gluck. In Wirklich- 
keit verwendet ihn aber schon die Peri'sche »Euridice« 
vom Jahre 4 COO selbstandig, und auch in der franzosi- 
schen Oper des M. Jahrhunderts kommt er haufig vor. 
Ebenso verhalt es sich mit der Kirchenmusik der alteren 
Periode. Speciell unter den Todtenmessen steht Cheru- 
bini's D moll-»Requiem«keineswegs vereinzelt da : Um einige 
der bekannteren Requiemcompositionen fiir Manner- 
stimmen zu nennen, ftthren wir aus der alteren Periode 
das oRequiema von A sol a an: Es ist zuerst in Venedig 
i. J. 4586 gedruckt und gehdrt unter die bedeutenderen 
Werke der grossen Vocalperiode. Proske hat es in Par- 
titur neu herausgegeben. Ferner das dreistimmige von 
M. Scomparin. Als annahernde Altersgenossen des 
Cherubini'schen Dmoll-»Requiem« kennen wir die fur 
Mannerstimmen geschriebenen Todtenmessen von Abt 
Vogler, G. Weber, Eisner, Sey fried und Haser. Freilich 
aufgefuhrt hort man diese Werke heute nicht! 

Das zweite » Requiem « Cherubini's hat mit seiriem 



-^ 838 ^ 

Vorgftnger etliche masikalische Beriibrungspunkte) die sich 
namentlich in der Auffassung des Introitus und des »Die8( 
sehr deutlich zeigen. In diesem letztgenannten Satze be- 
gegnen uns sogar bei gleichen Worten: »flammis acribus 
addictis« z. B. ziemlich dieselben Notenmotive. Man kann 
aber trotzdem die zweite Todtenmesse der ersten an Be- 
deutung nicht gleich stellen. Der innere Antheil, mit dem 
der Gbmponist geschrieben hat, war bei dem spateren 
Werk ein geringerer. Der erste Satz, Introitus und 
»Kyrie«, erscheint wie ein Niederschlag des gleichen Ab- 
schnittes im Cmoll-»Requiem". Der Ton der Trauer erstreckt 
sich auch hier auf die Bilder des Textes mit, welche der 
Fantasie Aniass geben woUen, sich aufzurichten. Die 
Motive sind sogar ausserlich breiter, aber sie haben nicht 
mehr die zwingende Kraft, wie in dem ersten »Requiem«: 
Doch aber immer noch so, dass sie bei einem ausdrucks- 
vollen Vortrag die Idee veranschaulichen. Die Anlage 
ist: Hauptsatz (bis »luceat eis«), Mittelsatz (bis »veniet<>). Re- 
petition des Hauptsatzes. Das »Kyrie« hat mehr selb- 
st&ndigen Gehalt, als im ersten )iRequiem<f. Das Graduate 
ist ein scharf und kurzgegliedeter, schon gestimmter, aber 
in der Ausfuhrung schwieriger a-capella-Satz. Das »Dies 
iraea ist mit einer gewissen Harte declamirt. Imposant 
ist die Stelle, wo der Thron des hochsten Richters ge- 
zeichnet wird (»Iudex ergo« etc.). Wie in Quadern bauen 
sich die Perioden der unisono vorgetragenen Melodie dort 
auf. Der Gegensatz, in welchem der arme Mensch zu 
dieser Macht und Herrlichkeit tritt, kommt deutlicher als 
in dem anderen »Requiem« zum Ausdruck. Von diesem 
Punkt ab richtet Cherubini grundsa,tzlich sein Augenmerk 
auf scharfe Auspragung der textlichen Contraste. Dieses 
Verfahren ergiebt eine grossere Reihe bedeutender Einzel- 
bilder. Ein zusammenfassender Zug herrscht wieder vom 
»Lacrymosa« ab, welches in hinreissender italienischer 
Melodik durchgefuhrt ist. Dieser Abschnitt und das fromm 
demiithige Gebet des »Pie Jesu«, welches die Sequenz 
im warmen Ddur zu Ende fiihrt, sind hervorragende 
Partien im Werke. 



-^ 239 ♦^ 

Im Offertorium tritt der Abschniti »Sed signifer sanc- 
tus Michael « durch die malerische Kraft der Instrumen- 
tation besonders hervor. Der Satz »Quam olim Abrahae« 
verld.s8t die Fugenform sehr bald and giebt der Erwar- 
tung Uber die himmlischen Freuden einen freieren und 
nngebundenen Ausdruck. Das »Sanctu8« steht mit seiner 
YoUen, gl&nzenden Orchesterrizstung auffallend ausser- 
halb des Kreises der Todtenmesse. Ganz am Ende erst 
d3,mpft es seinen Feiertagston. Um so klarer ist das »Pie 
Jesu« aus einem trauernden Gemiithe herausgebetet. Das 
Motiv der langsamen Viertel beherrscht seinen Ausdruck. 
Das » Agnus dei«, in seinem ersten Theile ganz ahnlich 
aufgebaut und gestimmt, wie der gleiche Satz im CmoU- 
•Requiem", schliesst mit starkerer logischer Betonung des 
»lux perpetuav. Beantworten in jenem die letzten Tacte 
die Frage nach dem ewigen Leben und dem ewigen 
Lichte mit einem »Viel]eicbt« — so spricht bier Cherubini 
ein freudiges »Gewiss«! 

Das nachste » Requiem ''j welches nach diesem letzt- 
genannten Werke die allgemeinere Beachtung, zustim- 
mend oder abweisend, auf sich zog, kam gleichfalls von 
Paris. Es ist H. Berlioz' Todtenmesse, im Jahre 4 8S7 H. Berlioz, 
fur die bei der Beisetzung des Generals Damr6mont im Reqniem. 
Invalidendom von der Regierung veranstalteten Trauer- 
feierlichkeiten componirt. Das Werk, von welchem Ber- 
lioz selbst auch in verschiedenen St&dten Deutschlands 
seiner Zeit AuffUhrungen veranstaltete, hat erst in den 
letzten Jahren begonnen sich einzubiirgern. Die Grtinde, 
welche ihm entgegen waren und immer entgegen bleiben 
werden, sind leicht zu linden. Dieses »Requiem« macht 
an die Ausfiihrung nach verschiedenen Richtungen bin 
ungew5hnliche Anspruche. Die Einleitung zum »Tuba 
mirum spargens sonum« z. B. ist fur vier selbstandige 
Bl§,serchdre geschrieben, welche, jeder in einer anderen 
Ecke des Auffuhrungsraumes placirt, ihre Fanfaren nach 
den verschiedenen Himmelsgegenden hinausschmettern. 
Es sind die Engelsboten, die wir von alten Bildem des 
jikngsten Gerichts her kennen. Dazu verlangt aber die 



-^ 240 ^ 

Originalpartitur — C. G5tze in Weimar hat sie sehr ge- 
schickt vereinfacht — eine Besetzung von 16 Posaunen, 
ebenso viel Trompeten, die anderen MessingblHser in ent* 
sprechenden Zahlen und eine kleine Armee von Schlag- 
zeug. Ebenso viele Schwierigkeiten bietet Berlioz durcb 
seine Bebandlung der Singstimmen. Der Componist hat 
ihnen Intonationen zugemuthet, welche nur nach langer 
MUhe und bei peinlichster Sorgfalt aller an der Ausfuh- 
rung betheiligten SS,nger Uberwunden werden konnen. 
Schliesslich kann auch nicht geleugnet werden, dass der 
kUnstlerische Werth der Composition, ihr Ideengehalt ein 
gleichm§,ssiger nicht ist. Sie hat ihre barocken, gewal- 
samen und renommistischen Momente. Nach alien diesen 
Abzttgen bleibt aber das » Requiem «> von Berlioz immer 
noch seine reifste Arbeit und erne originelle Composition 
von wirklicher und ungew5hnlicher Bedeutung. Sie ist 
ein Werk von innerlich grossem Style, mit einer inbriin- 
stigen Versenkung in den erhabenen Stoff, mit einer 
Fantasie geschrieben, welche immer dramatisch lebendig 
auffasst und ihre Auffassung oft in grossartigen, zuweilen 
in eminent urspiirnglichen Gestaltungen aussert. Der 
musikgeschichtliche Boden, auf welchem dieses Werk 
reifte, ist hauptsachlich der der Beethoven'schen Kunst. 
Aber auch seinem Antipoden Cherubini, namentlich dessen 
C moll-»Requiemo mit dem Tamtamschlage, verdankt Ber- 
lioz ersichtliche Anregungen. 

Berlioz hat den Text der Todtenmesse iu zehn 
Nummern getheilt. Zum Verstandniss des ersten Satzes 
(» Requiem «) sind drei Hauptmotive zu beachten: Das' 
erste ist die breite, schwermiithige Melodie, mit wel- 
cher die Chorbasse ^p^. joco^to. _ _ 

am Anfang des '»ir''tP PP|' P^T I ("Tf"T("l[* ^ 
Werkes eintreten: lu.qoi.em .ae.t«r. , .nam 

Ihre Grundstimmung variirt der Componist im Verlaufe 
des Satzes verschiedenfach und ftihrt sie bis zum gliihend 
leidenschaftlichen Ausbruch der Todessehnsucht. Das 
zweite Hauptmotiv ist der eine gemischte Scala in ge- 
brochenen Achteln hinabsteigende Gang, in welchem die 




Ten5re gleich nach dem Einsatz der B&sse neben diesen 
herschreiten 

M . 4iii . em •« . Ur . nam do . a* - e . b 

£r ruft das Bild eines in schweren Schritten auf- 
w&rts steigenden Tranerzuges vor die Fantasie. Das 
dritte wesentliche Motiv ist das chromatische Them a 
, j» ereMc — =r ^=a^ j» des Orchesters, das 

wie eine schmerz- 
liche Frage klingt. 
Besonders reich ist aber dieser erste Satz an riihrenden 
and lieblichen Episoden, welche das aus jenem Material 
anfgebaute Arsenal des Emstes traulich und wohnlich 
machen. Auch in der Form zeichnen sich diese Epi- 
soden als originell aus. Hierher gehdrt die wie ein 
Wiegengesang klingende Stelle, mit welcher die Soprane 
(auf das Wort »)dona« in Achtelfiguren) die fromm und 
innig um Ruhe bittenden Tenore umspielen. Da ist jene 
abwechselnd von Tenoren und B&ssen getragene Melodie 
zu den Worten »Te decet hymnusw, welche, in der Idee 
mit Cherubini ubereinstimmend , aber in eigenartiger 
Form, den Beisatz von Traurigkeit so schrill in die hoflf- 
nungsvollen Tonwendungen einmischt. Der kleine Ab- 
schnitt enthalt ausserordentlich viel Fantasie, nament- 
lich auch in der fahlen Farbe des Orchesters und der 
monoton hinpendelnden , das Grabgel&ute vor die Fan- 
tasie rufenden Cellofigur. Da ist femer die Stelle bei 
»lux perpetua luceat«, wo die ganze Musik wie ein ver- 
gliihendes L&mpchen dem v511igen Erloschen nahe 
scheint. Auch die psalmodirende Behandlung des »Kyrie 
eIeison«, welche ganz das Bild einer dem Vorbeter eifrig 
und mechanisch nachsprechenden Kirchenversammlung 
hervorruft, ist als ein origineller Zug realistischer Natur 
bemerkenswerth. 

Die zweite Nummer (der Anfang des uDies irae« bis 
mit den Worten »judicanti responsura«) zerfallt in vier 

II, 1. 16 



Unterabtheilungen. Die erste (A moll) beginnt schwul 
und unheimlich ruhig. Die Soprane singen allein. Durch 
solche Vereinzelungen der Stimmen and durch den alter- 
thumlichen Bau der Motive sucht Berlioz wiederholt in 
seinem »Requiem« an die alten liturgischen Intonationen 
zu erinnern. Ebenso sehr wie durch den Text selbst 
scheint seine Fantasie durch die Romantik der kirch- 
lichen Ceremonie gefesselt gewesen zu sein. Die Anspie- 
lungen auf bezeichnende Einzelheiten des kirchlichen 
Dienstes und die Scenerie der alten Feier gehen immer 
neben her. Bald (B moll) horen wir die Angstschreie der 
Tenbre »Dies irae«, welche die Frauenstimmen aus ihrem 
Traumen wecken. Vom starren Schrecken gefasst, ant- 
worten diese jetzt: »Dies irae« in erstaunten und ent- 
setztem Ausdruck. GrSsser und grosser wird die Auf- 
regung, lebhafter die allgemeine Bewegung (D moll). Nur 
die Basse des Chores bleiben bei der feierlich ernsten 
Kirchenmelodie, mit welcher die Instrumente die Sequenz 
eroffneten : 



Koaeravo. 



rM Mr^ I -^ J ^^ 



Berlioz scheint sie als 
musikalisches Motto 
des ganzen Satzes gedacht zu haben. Und nun kommen 
wir vor die Glanzstelle des Satzes, vor das^wTuba mirum 
spargens sonum« (Esdur) mit der allarmirenden und 
prunkenden Orchestereinleitung und dem grandiosen Uni- 
sonogesang der Mannerstimmen. Dieser in hochste Pracht 
getauchten Scene vom jiingsten Gericht und Auferstehung 
sind innig, eindringlich und kurz die Worte »judicanti 
responsura« entgegengestellt, ein meisterhafter Ausdruck 
der bangen Frage »Wer wird bestehen?« 

Der dritte Satz »Quid sum miser « (GismoU) ist ein 
Tenorsolo. Aus dem in absichtlicher Diirftigkeit gefiihrten 
Orchester tauchen die drohenden Motive des vorigen 
Satzes, des . »Dies irae«, wieder auf. Die Singstimme klagt 



-^ 243 ^ 

and bittet wie in einer grossen Oede vereinsamt and 
verloren. Man muss von der fesselnden poetischen In- 
tention des Satzes beim Anhoren ausgehen, da er, als 
absolutes Musikstuck genommen, kaum verstandlicb ist. 

Der vierte Satz »Rex tremendae majestatis« (Edur) 
ist derjenige des Werkes, welcher den realistischen Zug 
der Berlioz'scben Romantik am ausgepr§,gtesten auf- 
weist. Die Furcht vor dem Fegefeuer und den Hollen- 
qualen ist mit einer fast platten Naturtreue geschildert. 
Diese Tonbilder sind die musikaliscben Photographien 
einer in Verzweiflung aufschreienden Masse, als solche 
grosse Leistungen des Componisten. Aber Berlioz ent- 
warf diese machtigen Bilder des Schreckens. und der 
Majestat nur als den Hintergrund fiir die Figur des armen 
ohnmachtigen Menscben, der mit seinem »Salva me« vor 
den Richter tritt, ganz auf Gnade angewiesen. Die ein- 
fache reine Schonheit der Gebetstellen des Satzes ent- 
scbeidet den Endeindruck. Die zarten Tone, mit denen 
die Worte »salva me« und »fons pietatis« erklingen, 
dringen doppelt tief und friedlich in die durcb die gran- 
diosen Bilder des Gericbts erregte Seele. 

Der fiinfte Satz »Quaerens me« (Adur) ist eine fugen- 
artige Composition fiir secbsstimmigen Chor a-capella. 
In der eigenthumlichen Klangwirkung dieses absichtlicb 
archaisirenden Satzes zeigt aber Berlioz die Starke seines 
angeborenen Tontalentes auch auf einem ihm fremderen 
Felde. Der secbste Satz »Lacrymosa« (A moll) hat zu 
seiner Grundstimmung eine an dieser Stelle von vielen 
Componisten gewahlten Mischung von Webmuth und Freu- 
digkeit. Er schwelgt zuweilen in dem Sehnen nach detn 
Tage der Auferstehung und bittet mit der froben Herz- 
licbkeit eines Kindes um die ewige Rube. Ein formell 
hervortretendes Merkmal dieses Satzes ist, dass er sicb 
fester aiif die Mittel der Melodik stiitzt, als dies bei Ber- 
lioz sonst iiblich ist. Er wirkt im Durchscbnitt auch in 
diesem ))Requiem« vorwiegend mit rhythmischen und har- 
monischen Bildungen. Ueber den Melodien dieses »Lacry- 
mosa«, die man als im edlen Sinne popul3,re bezeichnen 

1G* 



-^ 844 ^ 

kann, liegt ein Hauch von warmer, italienischer Musik- 
laft. Die ganze F&hning des Satzes ist — mit Ausnahme 
einer einzigen Ungstlich spannungsvoUen Stelle — von 
einer ruhigen Breite und Grdsse. Ganz apart ist die An- 
lage des Offertoriums sDomini Jesa Christet^ der siebenten 
Nummer des »Reqaiemsa. Der Chor singt mit Ansnahme 
der Schlusstacte Xoderato. immer im miisooo 

den ganzen Text j£» J r • JT i } J~ = aller Stimmen leicht 
•auf das Motiv '*^\kf 't V hinein declamirt. Es 

macht den Eindruck eines Citats aus dem diirftigen Musik- 
schatz jener V5Ikerschaften, in deren Besiegung der Held 
dieses »Requiem«r, der General Damr^mont, sich die Lor- 
beeren der Geschichte erwarb. Das Orchester antwortet 
jenem stereotypen Chorsignal mit einem ebenso regel- 
m&ssig wiederholten, mysteridsen einzigen Ton aus dem 
Munde der BlUser. Das Hauptbild, welchem dieses sym- 
boHsche Bruchsttick primitiver Natormusik eingewoben 
ist, besteht aus einer Fuge der StreichinsWumente. 
;Rhythmus und Charakter ihres Themas, ihr Aufbau, der 
nach kurzen Anlaufen immer wieder von vom ansetzt, 
erinnern lebhaft an eine Sisyphusarbeit. Nach Berlioz' 
eigener Angabe soil der Satz den Chor der Seelen im 
Fegefeuer verbildlichen. Das »Hostias« (Nr. 8) ist mehr 
eine Nachbildung alter liturgischer Formen, als der Aus- 
dmck der eigenen Empfindungen , welche Berlioz den 
Worten gegeniiber fand. Alles in Allem ein sinnreicher 
Nothbehelf ! Die Psalmodien sind dem M^nnerchor allein 
iibergeben. Das »Sauctus« (Nr. 9, Desdur) ist von den 
Satzen des zweiten Theils des Werkes vielleicht der 
fesselndste, derjenige, in dem die poetische Absicht mu- 
sikalisch am vollkommensten ausgefUhrt worden ist. Er 
besteht aus zwei Theilen: einem freien Wechselgesang 
zwischen Solotenor und Frauenchor iiber die Worte 
»Sanctus deus Sabaoth, Pleni sunt coeli gloria tua«r, und 
einer Chorfuge fiber das »Osanna«. Beide werden repetirt. 
Die Fuge uber »Osannaa erfiillt den Zweck eines kraftigen 
Lobgesanges; beim zweiten Male leistet sie noch mehr 
und setzt mit einer glucklichen Steigerung die Seele des 



-^ 345 ^ 

Hdrers in Schwong. Das »Sanctas« aber hat in der 
neueren geisthchen Musik im Ausdruck yision&ren Ent- 
ztickens nicht seines Gleichen. Klangfarben, Rhythmen, 
Modulationen and Melodien stehen alle unter dem Zauber 
einer grossen stillen Schdnheit, wie von dem Anblick einer 
wunderbaren Himmelserscheinung zugleich geblendet und 
erhoben. Der zebnte Satz » Agnus dei« (Anfang Adnr, 
Sehlnss Gdur), mit einfachen, aber wie aus hdheren 
Sph&ren herabklingenden Accorden eingeleitet, kehrt mit 
dem Eintritt der Singstimmen zu dem »Hostiasff zurilck 
and wendet sicb dann, Hhnlich wie Sussmayer in Mozart's 
>Reqaiem« gethan, mit dem Schlusstbeil dem Introitus 
wieder zu. So ist Anfang and Ende des bedeutenden 
Werkes in einander gescblungen. 

Der Zeit nacb ist als die n&chste Todtenmesse, welche 
von dem Trager eines bedeutenden Namens berrUhrt, das 
•Requiem* von R. Schumann zu erw&hnen: eins der B. Bohnmaim, 
nacbgelassenen Werke dieses Gomponisten (op. i 48). Auch Beqniem. 
die stark Schumann*sche Stromung, welche die letzten 
zwanzig Jahre des deutschen Musiklebens beherrscht hat, 
war nicht im Stande, diese Composition flott zu machen. 
Es sind nur vereinzelte Aufflihrungen zu verzeichnen. 
AUe Versuche der liebevoUen Piet&t scheitem an dem 
Mangel eines einheitlichen Styls. Man kann dem »Requiem<c 
dasselbe Streben nach Einfachheit der kirchlichen Ton- 
sprache nachriihmen, welche wir an der Messe Schu- 
mann's anerkennen mtissen. Aber die Ausfiihrung tragt 
die Spuren der Fluchtigkeit und Hast. Die Idiome sind 
wunderlich durcheinander gerathen: auf streng und 
emst dnrchgearbeitete Theile folgen Fortsetzungen , die 
wie italienische Waaren aus der beruchtigten Periode 
des Guitarrenorchesters aussehen. Doch ist auch in den 
S&tzen, welche polyphon gehalten sind, die Erfindung . 
und geistige Richtung zuweilen trivial ; z. B. in »Te decet 
hymnus«. Man muss diese Sachlage um so mehr be- 
dauern, als einzelne Partien des Werkes gelungen sind: 
so der Introitus; andere konnen als genial bezeichnet 
werden. Das gilt namentlich von dem ersten Satze des 



»Dies irae«, der mit sehr einfachen Mitteln — hauptsach- 
lich durch ein Motiv aus zwei Accorden gebildet — den 
Druck einer eigenthiimlich schwtilen und zum unheD- 
vollen Entladen reifen Situation veranschaulicht. 

Ein Altersgenosse des Schumann'schen i»Requiems« ist 
F. Laolmer, das von Franz Lachner. Am Anfang der siebziger 
Requiem. Jahre einer Umarbeitung unterzogen, hat es von da ab 
eine langere Zeit die Concertsale durchzogen und eine 
sympathische Aufnahme gefunden. Es ist eine ausser- 
ordentlich schlichte und einfache Composition, welche fiir 
den Geist des Textes iiberall die richtigen musikalischen 
Grundlinien findet. Die Richtung und auch der Styl 
einer alteren Periode lebt in ihr noch einmal auf : haupt- 
sachlich nur mit seinem Vorziigen: einer verstandlichen 
Melodik und mit anmuthsvollen Gesangformen. Die So- 
listen wirken in hervortretender Weise ; manchmal in gut 
• angelegten, aber nur zu breiten Satzen. Die Stelle, wo 
im Introitus das »Et lux perpetua« zum zweiten Male 
eintritt, nnd der Anfang des )>Dies'« mit dem iibermassigen 
Sextaccord sind die hervorragendsten Erfindungen des 
Werkes. Sie hinterlassen einen bleibenden und tieferen 
Eindruck. 

Wir begegnen zuweilen die Klage, dass unsere Zeit 
neuen Tonwerken von ernster Richtung nicht giinstig sei. 
Mit dieser Behauptung steht die Thatsache im Wider- 
spruche, dass einige unserer hervorragendsten neueren 
Tonsetzer ihren Ruf mit Messen begrundet haben. Das 
war der Fall mit A. Becker und seiner Bmoll-Messe. 
Auch J. Brahms trat aus einem engeren Kreise erst mit 
seinem »Deutschen Requiems heraus. Das dritte leuch- 
F, Kiel, tende Beispiel bildet F. Kiel, welcher im Jahre 1860 mil 
Beqmem(r moll.) seinem ersten »Requiem« (op. 2o) die grossere Beachtung 
zunS-chst seiner Fachgenossen errang. Kiel's »Christus« 
ist popularer geworden als dieses •> Requiem «. Der Vor- 
sprung beruht da in erster Linie auf dem Gegenstand 
und der dramatischen Form des Werkes. Auch wird 
man der Musik dieses Passionsoratoriums einen selbst- 
standigeren und durchsichtigeren Charakter zugestehen 



i 



247 

mtissen. Aber von dem technischen Konnea Kiel's, von 
seiner rejnen und edlen klinstlerischen Natur, von der 
Besonderheit seiner schopferischen Fahigkeiten, giebt 
dieses » Requiem « einen genaueren Begriff. 

Nach einer Orchestereinleitung, welche zur Halfte 
Bachisch ist, setzt der Chor im Introitus sein » Requiem 
aeternam« im Tone eines friedlich frommen Trauer- 
gesangs ein. Schon das »dona eis domine« verlasst aber 
in seiner ausbiegenden Schlusscadenz diesen Grundton. 
Der Charakter, in welchem Kiel dieses Todtenamt er- 
5ffnen wollte, ist der einer schwankenden Stimmung. 
Diese MusiX tont aus ein em Herzen, welches nicht dar- 
tiber entscheiden kann, ob der Tod ein Verlust oder ein 
Gewinn sei, und die Fantasie scheint sich zwischen den 
Bildern der Holle und des Himmels noch bin- und her- 
zubewegen. Dass die Wagschale zu Gunsten des ver- 
trauenden Glaubens gestellt werden wird, lassen Ab- 
schnitte wie wte decet hymnusw, die Einfiihrung und 
der Ausdruck des wexaudi etc.« schliessen. Das »Kyrie<f 
besteht aus zwei Abschnitten. Der erstere in gefasster 
Stimmung gehalten, ruht hauptsachlich auf dem Motive 

Andante cbn motcj^ ^^ Seine Spitze, auch in der dem 

*Ji^ nj' p p p 1?°^ p [ p Ausdruck gegebenenRichtung, 



Ky.ri.e e . lei . . to» bildet das erstc »Christe elei- 
son!« Nachdem dies geschlossen, greift ein aufgeregterer 
Ton Platz. In den OrchesterlDassen erhebt sich ein 
wiihlendes Motiv. Die Blaser gehen liber scharf accen- 
tuirte Hiilferufe in ein chromatisch abwarts gleitendes 
Thema liber, das auch fiir die Singstimmen der Trager 
der Gedanken des zweiten Abschnitts wird. Eine schone 
Beruhigungsstelle bildet auch hier wieder das wChriste 
eleisonw- 

Die erste Nummer des »Dies irae« geht bis zu den 
Worten »Salva me, fons pietatis«. Sie besteht aus einer 
Reihe kleinerer Tonbilder, in denen durch selbstandige 
Motive die verschiedenen Begriffe der Textzeilen aus- 
gemalt werden. Ihnen alien ist ein spannendes und auf- 
regendes Element gemeinsam, welches von Bild zu Bild 



in einer neuen Verwandlung seine damonische Kraft er- 
probt und steigert. Den h5cbsten 6rad malerischen Aus- 
drucks erreicht dabei Kiel an der Stelle «coget omnes« 
mit eiiier aus Weber's »Freischfitz« bekannten Accord- 
Modulation. Auch ^usserlich sind diese einzelnen Bilder 
zusammengehalten, und zwar durch die Wiederkehr eines 
fest von den BlechblM,sern gegebenen, auf einem einzigen 
Ton gebauten Weckrufes. Cherubini's G moll-»Requiem« 
benutzt dasselbe Mittel, um die Fantasie auf die »Po- 
saunen des Gerichts« zu lenken. Das logiscbe Ziel aller 
dieser Bilder enth^lt der demiithig fragende Satz: »Quid 
sum miser etc.a, dessen Musik am Schlusse der Nummer 
auf die zwei Worte : »Salva me« wiederkehrt. Die zweite 
Nummer ist das »Recordare<c, ein Bittgesang in getra- 
genen Tdnen, dessen grosseren Theil die Solostimmen, 
gruppenweise abwechselnd, ausfuhren. Mit dem Einsetzen 
der Chore zieht in das Tongemalde eine starkere Erregung 
ein. Hier erhebt das Orchester schneidend accentuirte 
Klagerufe; die sanften Melodien der Solisten umspielt es 
nur mit Motiven romantiscber Unruhe. 

Das »Confutatisc(, die dritte Nummer, zeichnet sich 
durch die originelle Auffassung und die einfach packende 
Ausfiihrung des Textbildes aus. Kiel l&sst diese Scene 
der Verwirrung und Verzweiflung von einem allerdings 
dunkeln, aber zun&chst ziemlich ruhigen Grunde aus- 
gehen. Es sind grosse Wogen, die sich in den Nach- 
ahmungen des breiten C moll-Motivs anfangs nur streifen. 
Allmahlich rollen die Harmonien heftiger. Mit dem plotz- 
lichen leisen Eintritt des Edur tritt die Krisis ein. Sie 
entfesselt den ganzen Sturm der Seelenangst bis zur 
voUen Erschopfung. In die eingetretene Leere und Stille 
wird dann das »Voca me« hineingesungen. Bei derWieder- 
holung der Scene erfahrt der bittende Theil eine Ver- 
langerung durch das »oro supplex«, die in ihrer Einfach- 
heit und durch die kurz entschlossene Wendung in das 
leise Cdur einen sehr schonen Abschluss des Satzes 
giebt. Das »Lacrymosa«, die vierte Nummer der Sequenz, 
singt der Chor in breiten Melodien. Aus ihrem accor- 



-* 249 ♦- 

discheti GefUge klingen noch die Schrecken der vorher- 
gegangenen Scene nach. Das Orchester colorirt mit 
einem Bach'schen Motiv. Kiel's Tonbau verschmilzt in 
der Kegel Neues und Altes, eigene IndividualitUt und 
Anregungen grosser Vorbilder. So ist im Offertorium 
»Domine Jesus Christe« das weiche, friedliche Violinen- 
motiv, welches das Erscheinen des heiligen Michael be- 
gleitet und sehr hiibsch schon beim ersten Tacte des 
Satzes ankiindet, mit der gleichen Cherubini'schen Stelle 
verwandt. Der Satz ist aber mit eigenen Ideen Kiel's 
reich ausgestattet. Hervorragend sind besonders die 
Declamation des Chores beim Anruf des Herrn und die 
kleinen Illustrationen , mit denen das oLowenmaula, der 
»Tartarus<( und das »grosse Dunkel« skizzirt werden. Die 
Fuge liber »Quam olim Abrahaen, weiche den Satz 
schliesst, ist geistvoU durch den mit neuen Themen 
steigemden Auf bau, eigenthiimlich durch die Behandlung 
des »promisisti«. Kurz vor dem Ende kommt dieses im 
fragenden Ton. Das einfach aussehende, doch kunst- 
voile »Hostias« verbindet sehr wirkungsvoll das Haupt- 
thema des »Quam ohm Abrahae« mit einer im ruhigen 
Dankgefiihl dahingleitenden, grossgespannten Melodie, 
weiche die Stimmen des Soloquartetts nacheinander vor- 
tragen. 

Das »Sanctus« ist in einer hdchst einfachen Feierlich- 
keit gehalten, in deren erhabenen Kreis auch die Worte 
»Pleni suntn hineingezogen werden. Das vOsannaa (Fuge) 
driickt das Gefuhl einer fortreissenden Freude mit einem 
Thema aus, welches in seinen springenden Intervallen dem 
des Schlusschores im »Christus« ahnlich ist. Die Wirkung 
des »Benedictus« ruht auf wesenthch coloristischen Mit- 
teln: dem Ineinandergreifen von Soloquartett und Chor. 
Ueber Melodien und Motiven liegt ein zarter Glanz, der 
aber im Schlusstheile , wo das vOsannaa in einer neuen 
musikalischen Variante erscheint, krslftigeren Farben 
weicht. 

Das » Agnus dei« erreicht wohl unter alien Satzen 
dieses » Requiems « die eindringlichste Wirkung. Es ist 



-^ 250 *- 

ganz kurz und einfach, aber von ausserordentlicher 
Pragnanz in den Hauptmotiven. Die drei Accorde, auf 
welchen der Chor sein » Agnus dei« wiederholt intonirt, 
setzen diesen Anruf in der Empfindung machtig fest. 
Ebenso schon ist auch die Modulation des ndona nobis 
etc.« geleitet. Erst mit dem dritten Male kommt das 
Asdur, und mit ihm kommt Ruhe ins Gemiith. Das 
Werk klingt mit dem »quia pius es" fromm und friedlich 
aus. Das Orchester streut mit der immer wiederkehren- 
den Sechzehntelfigur fiber die ganze Scene einen ge- 
heimnissvoUen zum Traumen und Schlummern laden den 
Zauber. 

Einige Jahre vor dem Tode des Componisten kam 
F. Kiel, ein zweites »Requiem<c (op. 80, As dur) von F. Kiel in Um- 
Eequiem in As. lauf. Will man den -Unterschied der beiden Todtenmessen 
KieFs kurz feststellen, so hat man der ersten grossere 
Beweglicbkeit der Fantasie, der zweiten aber ein starkeres 
Pathos zuzusprechen. Die letztere ist sparsamer an Ideen, 
halt aber Stimmungen " und Motive fester und fiihrt sie 
in weitem Bogen aus: zuweilen allerdings nur formal. 
Das neue » Requiem « bevorzugt breitere Bilder und ent- 
wickelt in ihrem Aufbau zuweilen eine Energie und 
Kuhnheit, welche an Beethoven erinnern. Im Introitus 
und »Kyrie« zeichnet sich die Wiedergabe des ))Te decet 
hymnus« durch den altkirchlichen Ton aus. Derselbe be- 
ruht auf der Verwendung des alten Grabchorals: »Meine 
Seele erhebt etc.«, desselben, welchen auch Mozart und 
M. Haydn (im Bdur-'>Requiem«) an dieser Stelle eingefiihrt 
haben. Im Eingang der Sequenz zeigt das erste Bild 
vom »Dies irae« weniger Aufregung, als in dem friiheren 
»Requiem« KieFs. Aber der Hintergrund ist dunkler und 
spielt verdeckt in unheimlichen Farben. Auch der Ernst 
der Scene kommt mit schwererem Druck zum Bewusstsein. 
Das durchgehende Viertelmotiv der Instrumentalbasse 
und die breiten Posaunenstellen bilden die entscheiden- 
den Ziige in dem Bilde. In der ganzen Auffassung der 
Sequenz sind die Stellen, wo die Empfindung des Indi- 
viduums den Bildern der Fantasie gegeniiber zum Worte 



kommt, mehr in den Vordergrund gerilckt, als im ersten 
» Requiem <>. Das »Quid sum miser « macht Kiel in dem 
neuen Werke zur Spitze eines besonderen Satzes, wie es 
Berlioz in anderer Weise thut. Das »Recordare« und das 
»Lacrymosa« fliessen in beweglicher , warmer Melodik 
dahin. Derjenige Satz, in welchem die beiden Messen 
die Herkunft von demselben Verfasser am deutlicbsten 
zeigen, ist das Offertorium. Den Vergleichungspunkt 
bildet die Cberubini'sche Achtelfigur, welche dem heiligen 
Michael gilt. Einen der sch5nsten Abschnitte des neuen 
»Requiems« bildet die Einleitungspartie (Sostenuto, 2/4) des 
»Sanctus«, welche an die feierliche Weise der alten Vo- 
calperiode anklingt. 

Die Todtenmessen von Kiel spiegeln weder eine be- 
stimmte musikalische Individualitat wieder, noch eine 
bestimmte Musikperiode. Nur ihr allgemein kiinstlerischer 
Werth hat sie vor dem Loos bewahrt, welches in der 
Regel Tonwerken beschieden ist, die ihren Verfasser und 
ihre Zeit nicht in deutlicbsten Zugen ktinden. Aus dieser 
Gruppe der unbeacbtet gebliebenen und schnell ver- 
gessenen Werke lohnt es sich eines der neueren »Re- 
quiemsc herauszuheben. Es ist das von B. Scbolz (op. 4 6, B. Sokoli, 
Dmoll), eine Composition, welche besonders durch die R®q^ie™(Dmoii). 
Knappheit und Bestimmtheit hervorragt, welche ihren 
ersten Satzen in Ausdruck und Anlage eigen ist. In 
dem poetisch besonders bedeutenden Schlusssatze dieser 
Todtenmesse: im » Agnus «, wirkt am Ende eine in D ge- 
stimmte Glocke mit. 

Die gegenw^rtige Generation hat auf dem Gebiete 
der Todtenmesse Werke von entschiedener Originalitat 
entstehen sehen. In diese Gruppe ist auch das fiir Manner- 
stimmen und Orgel (— stellenweise treten auch Trom- 
peten, Posaunen und Pauken mit in die Begleitung ein — ) 
geschriebene » Requiem « von F. Liszt mit einzureihen. F.Liszt, 
Nut verwischt es vielfach die Grenzlinie, welche die Requiem far 
Origirialitat von der Absonderlichkeit scheiden soil. Im M&nner- 
liber^egenden Theile gehort diese Composition mit ihren stimmen. 
declamatorischen Aphorismen, ihren Interjectionen und 



skizzenhaften Andeatangen gar nicht zur Musik, sondern 
in die Vorhalle dieser Ktinst. Unter den schdnen und 
eindrncksYollen Abschnitten des Werkes, welche auch in 
der Form eine h5here Stufe einhalten, verdient das »Re- 
cordare« hervorgehoben zu werden. 

Dagegen ist die Todtenmesse von J. Brahms nicht 
bios original gedacht, sondern sie fikhrt die geistigen In- 
tentionen auch mit den Ausdrucksmitteln der entwickelten 
musikalischen Kunst aus. 

Brahms hat seine Composition »Ein dentsches Re- 
quiem« genannt. Ks giebt deutsche »Requiems« auch aus 
ftlterer Zeit, z. B. eins von Ferdinand Schubert, dem 
Bruder des grossen Franz Schubert, von Henkel, Moralt 
und anderen Tonsetzern. Wahrend aber diese den Zu- 
sammenhang mit der liturgischen Todtenmesse au&echt 
erhalten, hat Brahms eine Trauerfeier in einem ganz 
eigenen und neuen Style gebildet, die in ihren Formen 
gar keine, in ihrem Wortinhalt nur ganz allgemeine Be- 
rUhrungspunkte mit dem alten » Requiem « theilt. Das 
katholische Todtenamt ist in seinem Ziele eine Fiirbitte 
fiir die Ruhe der Entschlafenen. Das nRequiem*, wie es 
Brahms gestaltet hat, gleicht einer Predigt. Die Worte, 
frei vom Componisten aus der Schrift gewahlt, bilden 
eine Reihe feierlicher, gemtithreicher und fantasievoUer 
Betrachtungen uber Diesseits und Jenseits, iiber Menschen- 
loos und himmlisches Leben. Dieses Thema, mit seinem 
ans Herz greifenden Gegensatz, hat Brahms sich wieder- 
holt zum Gegenstand der musikalischen Ausfiihrung in 
Ghorwerken gewahlt. Es bildet die Grundlage seines 
» Schicksalsliedes « , der uNanie« und des »Gesang der 
Parzen«. In seinem »Requiema ist es in besonders breiten 
Formen und mit dem ganzen Aufgebot der seelischen 
und kiinstlerischen Kraft des Tonsetzers behandelt. Soil 
es doch der trauernde Sohn der heimgegangenen Mutter 
geschrieben haben. Wie dieses Werk seinem Schopfer 
von den ersten Auffuhrungen ah (in Zurich und 4868 
im Dom zu Bremen) seine Stellung in der Musikwelt ent- 
schied, so wird auch fiir sp^tere Zeiten der Name J. 



-fr 253 *- 

Brahms in erster Linie mit dem Gedanken an das 
•Deutsche Requiem* verkniipft hleiben. 

Die siehen Abtheilungen des »Deutschen Requiemsa J* Brahms, 
sind s&mmtlich Ghorsfttze; nur in drei von ihnen linden Bin deutsclieg 
sich Solopartien eingefiigt. Direm Inhalte nach bilden B«quiera. 
die S&tze eins bis drei die erste, diejenigen vom vierten 
bis zum letzten die andere Gruppe des Werkes. Die 
erste enth^t die Klage, die andere den Trost. 

Der erste Satz : vSelig sind, die da Leid tragen, denn 
sie soUen getr5stet werdeno hat die Bestimmung einer 
Art Einleitung, eines Introitns. Seine Worte sollen die 
Richtung der ganzen Trauerfeier im Sinne eines Motto 
feststellen. Dazu sind aber die Herzen — das scheint 
die Idee der Composition zu sein — wohl bereit, aber 
noch nicht fahig. Die Botschaft begegnet noch dem 
Zweifel und das Gefuhl des Leidens macht gegen den 
zuversichthchen Ausdruck der frohen Kunde sein Recht 
alle Augenbiicke geltend. An einer Stelle, in der zwei- 
mal vorkommenden Des dur -Episode: »Die mit Thr&nen 
saen, werden mit Freuden ernten«, feiert der freudige 
Glaube einen kurzen gewaltigen Sieg; an den anderen 
iiberwiegen und unterbrechen die Tone des Leids in ein- 
dringlichen und eigen geformten Wendungen. 

Die zweite und dritte Abtheilung des Werkes sind, 
auf den Text bin angesehen, verschiedene Ausfuhrungen 
desselben Grundgedankens. Sie behandeln auf beschrank- 
tern Raume denselben Gegensatz, welcher die General- 
idee des ganzen Werkes bildet: den Gegensatz zwischen 
bier und dort. Gemeinsam ist beiden in der Behandlung 
des Vordersatzes der Ton der Klage. Nur hat die Klage 
in der zweiten Abtheilung das Wesen einer starren ins 
Unvermeidliche sich fiigenden Resignation; in <^er fol- 
genden aber einen tief erregten und leidenschaftlichen 
Gharakter. In der Haltung der Nachs9,tze findet das ent- 
gegengesetzte Verhaltniss statt: der der zweiten Abthei- 
lung ist ein niiancenreiches bewegtes Bild, den des dritten 
Satzes kennzeichnet eine grossartige Gleichmassigkeit. 
Diese beiden Abtheilungen und namentlich ihre Yorder- 




-^ 254 ^ 

satze — tief greifende, diistere Ergiessungen eines mftnn- 
lich echten und wahren Weltschmerzes — sind diejenigen 
Partien des "Requiems', auf welchen in erster Linie der 
eigenthumliche Werth dieses Werkes beruht. Die zweite 
Abtheilung »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras etc.« ist 
in *ihrer musikalischen Form die eingSnglichste des ganzen 
wRequiems'. Dieselbe ruht in der ersten Halfte auf einem 
Thema, welches trotz des Dreivierteltactes eine Art 
Marschcha- Luigsam. 

rakter be- Jfliir \\ jj \ \\ "j \ W MiQl I 

sitzt: ^ ^ ^ ^^^:=^ . 

Von dumpfen Basssignalen eingeleitet, klingt es aus der 
Feme heran und ruft das Bild eines gemessenen Schirittes 
sich nahernden Trauerzugs vor die Fantasie. Der harte, 
resignirte Ton dieses Tbe- 
mas geht mit dem beweg- 
teren Motiv des Nachspiels 
in einen weicheren, mild wehmiithigen tiber. So spiegelt 
sich im ersten Thema der romantische Grundzug des 
ganzen Satzes. Die Melodie des Chores, dem Orchester- 
satz aufgeschrieben, klingt doch wie eigens fur die Worte 
erfunden: mM.chtig ernst und alterthiimlich. Dass sie von 
dem Unisono der Stimmen vorgetragen wird, hebt noch 
ihren Charakter. Lieblich klingt die kleine Episode: »Das 
Gras ist verdorret« dagegen. Der von dem Marschthema 
getragene Satz wird in mehrfachen Wendungen wieder- 
holt und liber gewaltige Crescendi zur vollen Grosse von 
Klang und Inhalt aufgerollt. Die Mitte der langen Ent- 
wickelung nimmt der zarte , wie von oben herab sanft 
zusprechende Chorsatz: »So seid nun geduldig etc.« ein, 
dessen Schlusshalfte wunderbar hiibsche und einfache 
Anspielungen auf den »Regen« enthalt. Der Achtelrhyth- 
mus der Harfe und Flote und das pizzicato der Violinen 
fiihrt sie aus. Der Chor lauscht in ruhigen, wohligen 
Harmonien. Das Horn ruft mit leisen ernsten Tonen aiis 
dieser Idylle hinweg. Den Uebergang zum zweiten Haupt- 
abschnitt des Satzes hat Brahms sehr gewichtig hinge- 
stellt. Das ^Aberw, welches den kurzen Satz einleitet, 



-^ 255 *- 

ist mit der Entschiedenheit befont, mit welcher Seb. Bacb 
die Bindeworter auszuzeichnen pflegt. Den wichtigsten 
Trager des zweiten Hauptabschnittes bildet das Thema: 

Allege non troppo. 




Di« Er . 15 . se.toB deft Herrn wsr.dan vie.decJkommeii vnd gen Zi . on. 

K^f n I r 1 n ' ifl r II Seinen Abschluss und Nach- 
r ^ ' P IlT P ^P ' J 3 satz bildet eine frei constru- 
«iuig«.zi.<» iamu>i«.»itj«uiueii. irte Periode uber die Worte: 

wFreude, ewige Freude wird fiber ihrem Haupte sein«. 
Sie holt machtig aus und tragt das Hauptwort von Accord 
zu Accord, in der Melodie kiihn ansteigend. Als die 
Spitze erreicht ist, thun Modulationen und Dynamik 
einen kiihnen Ruck, wie das Beethoven zuweileu liebt. 
Aus dem hochsten Jauchzen geht der Ton in den ruhigen 
und zarten Ausdruck innerer, stiller Seligkeit iiber. Die 
St^lle pragt sich unausloschlich ein, sie bleibt fiir Jeden 
mit dem Begriffe Brahms'scher Musik untrennbar ver- 
bunden. Der Mittelsatz, welcher auf die Worte »Freude 
und Wonne werden sie ergreifen« ein neues Them£^ frei 
durchfuhrt, ist an gliicklicheu, romantischen Contrasten, 
welche dem eben geschilderten ahnhch sind, reich. Der 
Componist hat sich in ihm dem Ausdruck der einzelnen 
Worte zugewandt: die Freude, der Schmerz, das Seufzen 
bilden eine lebendig bewegte Gruppe selbstandiger musi- 
kalischer Figuren. Mit Naturtreue ist die Vertreibung der 
truben Elemente geschildert; das »weg<r und das »miissen« 
in dem Satzchen »und Schmerz und Seufzen wird weg 
miissenw ist mit der Entschiedenheit der Geberdensprache 
wiedergegeben. Bei der Repetition des Hauptsatzes »Die 
Erloseten etc.« nimmt der Ausdruck der Freude fiir Augen- 
blicke einen formlich trotzigen Ausdruck an. Nachdem 
er mit einer gewaltigen Steigerung und in jener originellen 
Wendung der Extase geschlossen, welcher wir bereits ge- 
dachten, kommt noch ein Anhang. Seine traumerich 
beschwichtigende Natur , sein Einlenken in ein letztes 
. voiles Bekenntniss gliicklichen Hoffens sind von hin- 
reissender Schonheit. In den musikalischen Mitteln 



-^ 856 *- 

scheint er von Beethoven's vMissa solemnis* (»Credo«) be- 
einflusst. 

Die dritte Abtheilpng sHerr, lehre mich doch etc.cc 
steht zu dem vorausgehenden zweiten Satze in dem 
logischen Verh&ltniss der Steigerang. Es ist, als ob hier 
die Glieder einer Gemeinde einen in der Predigt allgemein 
hingestellten Spruch auf das eigene Loos anwendeten. 
Der Satz von der Vergfinglichkeit des Menschen gilt auch 
Dir. Auch mit Dir hat es ein Ende! Und da wird das 
Herz von Angst ergriffen. Es liegt eine starke Beklom- 
menheit der Seele in dem Gesang, mit welchem der Solo- 
bariton den ersten Hauptabschnitt (Dmoll) dieses dritten 
Satzes erSffnet. Der Rhythmus hat in seiner Vertheilung 
der Accente etwas Unsicheres, die Melodie in ihrem ab- 
setzenden Aufbau, in ihrem jS.hen Wechsel von Auf- und 
Abgehen ein unstates Element. Und wenn der Chor die 
Worte des Vors^ngers aufnimmt, so giebt er die T5ne 
der Niedergeschlagenheit bios noch schwerer wieder. 
Besonders aufregend spricht der Zug der Seelenangst aus 
dem Mittelsatzchen (Bdur) nSiehe, meine Tage etc.«. An 
seinem Schlusse kommt eine erschuttemde Stelle vor: 
da wo das Tutti, schrittweise zu einem elementaren Auf- 
schrei (Sopran a) gedrangt, plotzlich in die Tiefe sinkend 
leise abbricht. Dar Orchester bringt in dieser Partie die 

Erregung , >A n<iL.,.,j^ ..--r^^ ^ z^^ eigenen Aus- 

mit dem p^ a^^ f^^fi^ = drucke. Noch oft 



Motive * ^ — *' zuckt dieses echt 

Brahms'sche Signal der Leidenschaft im Satze schmerz- 
lich auf. Der zweite Abschnitt: »Ach, wie gar nichts sind 
alle Menschen etc.« (Ddur, 3/2) lenkt aus der Angst ums 
eigene Ich wieder zuruck in den trostenden Kreis der all- 
gemeinen Betrachtung. Nun fliesst die Klage breit dahin: 
wehmiithig ernst und ergreifend. Mit dem Eintritt der 
Frage: »Nun, Herr, wess soil ich mich tr6sten« kommt in 
die Stimmen mit ihrem weit ausholenden Thema wieder 
ein aufgeregter Geist, eine unheimliche Energie, die am 
Ende sich dem Tone der rathlosen Verzweiflung noch ein- 
mal nahert. Die Stimmen rufen es mit aller Gewalt 



i 



-^ 257 ^ 

hinaus. Dann scheinen sie zu lauschen, und als keine 
Antwort kommt, fragen sie noch einmal kleinlaut und 
leise »Wess soil ich mich trosten?*. Im Orchester zittert 
der ungeloste Accord noch lange fort. Dann setzt der 
entscheidende und erldsende Gedanke »Ich harre auf 
dich« wie eine plotzliche Eingebung in Form einer Cadenz 
ein. Die Stimmung schwingt sich auf und ergreift von 
den Verheissungen des Glaubens einen festen Besitz. 
Eine Fuge iiber das Thema: 



^'jB- fj j.j)f M Cri7r[i I J rr i r^rt fpi^i 



i 



D«r OeMehUB Saclen siad in OotJes Handnnd keine Qual rlih . ret tie an. 

bildet diesen dritten Hauptabschnitt, den Schluss des 
Satzes. In der Litteratur der contrapunktischen Specia- 
litaten hat diese Fuge bereits eine Beriihmtheit erlangt. 
So lange sie dauert (36 Doppeltacte) tout in den Bassen 
derselbe Ton: das tiefe D als sogenannter Orgelpunkt. 
Seiner Zeit viel bestritten, belobt und commentirt, hat 
dieser Orgelpunkt im Laufe der Zeit das Schicksal 
anderer ausserordentlicher Kunslerscheinungen erfahren: 
Niemand kann sich das »Requiem« mehr ohne^dieses eigen- 
thlimliche Tonsymbol der Ruhe und Stetigkeit des gott- 
lichen Thrones denken. Nur soil der Pauker bei der Aus- 
fUhrung daran denken, dass hinter dem f ein p steht! 

Mit dem vierten Satze: »Wie lieblich sind deine 
Wohnungen« ist die eine Seite der Trauerfeier erledigt: 
Klage und Schmerz sind bezwungen und die Fantasie 
wendet sich nun dem Gewinn zu, welchen der Tod den 
Menschen bringt. Der vierte Satz (nachcomponirt) bildet 
den Uebergang nach dieser Seite. Er spricht in zarten 
Tonbildern von dem lieblichen Leben beim Herrn Ze- 
baoth. In dem mittleren Theile, bei den Worten wMeine 
Seele verlanget und sehnetw, noch mehr bei dem Ab- 
schnitte »Die loben dich immerdar« wird der Ton ein 
begeisterter. Auch bier finden wir jene eigenthiimUchen 
Ziige der Darstellung wieder, wie in dem Schlusstheile 
des zweiten Satzes: Der hochste Enthusiasmus geht in 
den Ton einer seligen Ruhe uber. Der fiinfte Satz 

II, 1. 17 



-^ 258 ♦>- 

verbindet mit dem Chor ein Sopransolo. Es ist gedaclil 
wie die Stimme einer abgeschiedenen Seele und spricht 
in himmlischen Klftngen vom Wiedersehen und von Freu- 
den, welche Niemand nimmt. Ein ungemein herzHcher 
Ton lebt in dieser Melodik, namentlich in dem Mittel- 
satze »Sehet mich an^. Das ist der Ton »wie Binen 
seine Matter trdstets, von dem der Chor im leisen Fid- 
stern spricht. Dabei ist die Declamation an bedentenden 
Einziigen reich. Wir machen nur auf die Betonung 
des »Aber« und auf die Tonfiguren aufmerksam, in 
welchen der Begriff »Traurigkeit«t wiedergegeben ist. Der 
Hauptsatz hat Stellen von sehr kunstvoller Arbeit: (Be- 
gleitungsmotiv und Gesangsthemen sind von demselben 
Stoff] und doch ist die Wirkung eine sehr einfache. 

Der sechste Satz: »Denn wir haben hier etc.« ist der 
Anlage nach der bedeutendste. £r beginnnt mit einem 
kurzen Satzchen in Dreiklangen, welches zwischen Dur 
und Moll umherirrend den Begriff des »Suchens« zu 
veranschaulichen scheint. Es ist, als ob der Chor trotz 
Allem wieder in den Toft der Klage zur&ckfallen wollle, 
welcher den ersten S&tzen des )>Requiems« eigen ist Da 
mischt sich der Solobariton drein: »Siehe, ich sage Euch 
ein Geheimniss*. In Weisen, deren mystischer Charakter 
namentlich durch die Figuren der Blaser Nachdruck er- 
h^lt, verkundet er das Wunder der Auferstehung. Der 
Chor spricht die Worte zunachst nur mechanisch, wie 
tr^umend, nach. Erst als der Solist genau >»die Zeit der 
letzten Posaune« nennt, wird der Ton mit einem Male 
ein lebendiger. Dieses Wort hat eingeschlagen und jetzt 
kommt der Abschnitt, in welchem das »Deutsche Requiem* 
der alten kathoHschen Todtenmesse auf einen Augenblick 
naher tritt. Die Scene kSnnte im Anfang einen Abschnitt 
des »Dies irae« bilden. Mit einer Kraft, welche zuweilen 
die Wildheit streift, versenkt sich der Chor in das Bild 
des errungenen Sieges fiber Tod und Grab. Trotzig und 
kiihn herausfordemd klingen seine Fragen: »Wo ist dein 
Stachel etc.Pa Schliesslich fallen die Posaunen mit ein in 
die donnernden Anreden an Tod und Holle. In Rhythmen, 



-^ 359 ^- 

die wie Stein und Erz in die Herzen schlagen, geht der 
Satz majest^tisch iiber nach G dur und in die das Ganze 
kronende Fuge fiber das Thema: 




Herr, dtf bitt wfir.diff, in Bdumen Preis und Eh re and Kraft 

Wundert man sich schon, dass nach einem so colossalen 
Anlanf noch eine Steigerung mdglich war, so giebt uns der 
Aufbau dieser Fuge in seinen Steigerungen, in der Menge 
vom Frischen anregender Contrapunkte immer neuen An- 
lass zur Bewunderung. Das Schdnste in ihr sind aber doch 
die einfachen Episoden fromm getragenen Gharakters bei 
den Worten: »Denn du hast alle Dinge erschaffen etc.« 

Nach diesem Lobgesang stehen wir am Ende der 
Trauerfeier. Der letzte Satz des » Requiems « zieht die 
Gonsequenz der vorausgehenden mit den Worten »Selig 
sind die Todten« und an der Seligkeit der Todten konnen 
• die da Leid tragen«, diejenigen also, von denen der 
erste Satz der »Requiems« ausging, ihren Trost, ihre eigene 
Seligkeit finden. Das » Requiem* schliesst auch in der 
Musik in der Zirkelform eines mathematischen Beweises. 
Der Schluss des siebenten Satzes und einige seiner Neben- 
themen sind aus dem Introitus des Werkes genommen. 
Der Mittelsatz und einige Episoden enthalten neue Ton- 
gedanken, in welchen die Fantasie die aus dem Vorher- 
gehenden aufgenommenen Eindrficke mit ihren Ahnungen 
verknupft, zuweilen in einer Weise, deren Erregung sich 
technisch in scharfen Modulationen und drastischen Mit- 
teln der Rhythmik aussert. Die bedeutendste der ange- 
dduteten kurzen Episoden ist die mystische Posaunen- 
stelle bei den Worten: »Ja der Geist spricht«. 

Im Jahre 4 874, am ersten Jahrestage des Todes von 
A. Manzoni wurde im Dom zu Mail and fur den grossen 
Dichter die officielle Todtenfeier gehalten. Mit der Gom- 
position des »Reqniem« war (von Seiten der Stadt) Italiens 
grosster Musiker: G. Verdi beauftragt. In Deutschland Q. Verdi, 
wird zur Zeit nicht nach neuer itailienischer Kirchenmusik Requiem, 
gefragt. Wenn man in diesem Falle eine Ausnahme 



-* 260 ^ 

machte, so war sie haupts&chlich dadurch begrundet, dass 
die unl&ngst bekannt gewordene i>Aida« Verdi anf einer 
neuen und einer hoheren geistigen Stufe gezeigt hatte* 
Das »Reqniem« kam in Deutschland schnell in Umlauf 
und erfuhr die verschiedensten Beurtheilungen. Mittler- 
weile hat scheinbar das Geschick zu Gunsten der Wieder- 
sacher dieses »Requiems« entschieden : Wir hdren nur. noch 
selten von ihm und sehen es nur ausnahmweise auf den 
Programmen unserer Cborvereine. Die ungeheuren Kosten 
des Auffuhrungsrechts sind daran zum Theil schuld. Denn 
an und fur sich verdient das Werk sehr wohl gekannt 
zu werden. Es ist eine leichtgefiigte, durchsichtige Com- 
position, welche den Gharakter der italienischen Kunst 
fast nur von seiner vortheilhaften und beneidenswerthen 
Seite veranschaulicht. Die Ueberlegenheit, welche die 
Italiener in der Kraft, Schonheit und Bestimmtheit des 
melodischen Ausdrucks vor anderen Musiknationen vor- 
aus haben, ihre grosse Begabung in der Wirkung mit 
einfachen Formen spricht aus diesem »Requiem« mit neuer 
Deutlichkeit und ohne dass wir durch trivalen Miss- 
brauch dieser Gaben gestdrt werden. Ein milder, wenn 
auch nicht im deutschen Sinne immer kirchlicher, jeden- 
falls aber durchaus frommer und ernster Geist beherrscht 
das Werk. Dabei ist es auch entschieden modem: ohne 
Effectsucht, aber mit schoner poetischer Wirkung sind in 
seiner Architektur und seiner Instrumentirung musikalische 
Ausdrucksmittel verwendet, welche erst die neue Zeit, 
R. Wagner folgend, systematisch zu gebrauchen be- 
gonnen hat. 

Unter denjenigen Abschnitten dieser Todtenmesse, 
welche von der in Deutschland herrschenden Auffassung 
am ersichtUchsten abweichen, zeichnet sich der erste 
Satz am meisten aus. Der Ton, in welchem hier vom 
Tode gesungen wird, entspricht ganz dem liebenswtirdigen 
kindlich glaubigen Zug, welcher dem italienischen Volke 
eigen ist. Von jeher finden wir in dem italienischen 
Musikdrama die Sterbescenen in einer riihrenden Mischung 
von Wehmuth und verklarter Freundlichkeit gehalten. 



-* 261 ^- 

Man denke an den Schluss von Monteverdi^s benihrntem 
»CombattimentOff, man denke an Verdi selbst, an den 
letzten Gesang seiner »Acuzena«, an den fiinften Act der 
>»Aida«r. Aber auch Palestrina und die FUrsten der alt- 
italienischen Kirchenmusik singen in diesem Ton vom 
Himmel und vom ewigen Leben, grundverschieden von 
Lasso und von deutschen Zeitgenossen. So ist auch 
dieser Introitus des »Requiemsc( behandelt: ein freundlich 
elegisches Bild des Todes, wie wir es an dieser Stelle in 
der deutschen Litteretur nicht gewohnt sind. Jomelli 
bietet das n&chste geschichtliche Seitenstiick. Wie wun- 
derbar schon theilen sich hier die Klage und ein zartes 
Himmelsschw&rmen in die Aufgabe und reichen einander 
die Hand. Erst kommt in den einsetzenden Motiven der 
Basse, in dem resignirten Hinsprechen der Singstimmen, 
in der Melodie der Oboe der Schmerz zu maassvoUem 
Ausdrucke. Dann lost ihn mit den Durtonen des »et 
lux etc.« der Trost sanft ab. Im »Te decet« scheinen die 
Rollen getauscht zu sein. Beim »in Jerusalem« biegt der 
Lobgesang traurig zur Seite. Die Stimmung des »Kyrie« 
ist eine hoffnungsvoll bewegte. Von einem kirchlich ge- 
setzten Eingang wendet sich seine Weise bald leichteren 
Formen zu und gelangt zu einer grosseren Erregung, in 
welcher auf einen Augenblick (die DmoU-Stelle) auch das 
leidenschaftliche Gebiet gestreift wird. In rasch wechseln- 
den Lichtern, wie ein Traumbild, verklingt der merk- 
wiirdig sch5ne Satz. 

In der Sequenz von Verdi's Todtenmesse sind aller- 
dings das »Quid sum miser «, das »Rex tremendaet^, das 
»Recordare«, das »Ingemisco«, das »Gonfutatis« als kurze, 
selbstandige Nummern bezeichnet und behandelt. Doch 
sind sie als zusammenhangendes Ganzes gedacht. Bald in 
erschreckten, bald in klagendem und zagendem Ton lasst 
Verdi zwischen alle einzelnen Bilder des Textes wieder 
den Ausruf: »Dies irae« hineinklingen und am Schlusse 
des »Gonfutatis« wiederholt er den AnfangS' und Haupt* 
satz der Sequenz. Das »Lacrymosaa wird somit ahnlich 
wie in Cherubini's C moll ->» Requiem « der Anhang des 



268 ^ 

Satzes, seine ideelle Spitze. Dsr erste Gedanke an den 
Tag des Gerichts hat in der Musik einen Sturm von Aaf- 
regung veranlasst, welcher henlende, stechende, znckende 
und harte Motive zu Tage fdrdert. Bald aber gewinnt 
die klagende Empfindung die Oberhand und beherrscht 
mit Idem , AU9>giuio welches schon im Introitus 

kurzen i t ^^ i jjj J jiJ J | angeklungen hat, den Ab- 
Thema ^ '^i-^-" -^ schnitt. Das »Tuba mirum« 
giebt die Blftserchore des Berlioz'schen » Requiems « in 
einer vereinfachten Nachbildung wieder. Das »Mors 
stupebitv ruht auf einem kurzen Motiv der Instrumental- 
b&sse von bedeu tender malerischer Kraft. Im » Liber 
scriptust lebt wieder die Erregung auf, mit der die Se- 
quenz begann. Zum Theil in verl&ngerten Rhythmen, 
wie aus der Feme drohende Gestalten, Ziehen die cha- 
rakteristischen Motive des ersten Abschnittes des oDies 
irae« durch das dunkle Gewebe des Satzes hindurch. 
Dynamik und Modulation wirken mit schauerUchen Con- 
trasten. Am Ende kommt die Fantasie wieder bei dem 
oben angefiihrten Klagemotiv an und leitet mit ihm in 
den schonen Bittgesang uber, welchen das Soloquartett 
in vQuid sum miser « ausfiihrt. Seine einfachen Weisen 
sprechen fromme Ergebung und leise Hoffnung aus. 
Gegen den Schluss bin erklingen Seufzer und die aller- 
letzte Periode druckt die verzagende Stimmung in ganz 
ungesttitzten Soli der Sanger aus. Im »Rex tremendaeo 
hat Verdi die beiden treffend gezeichneten Tonbilder von 
der Majestat des ewigen Richters und der gnadenbe- 
durftigen Menschheit ganz nahe an einander gestellt und 
in enge Reibung gebracht. Nachdem das erstere gegen 
den Schluss bin im hochsten Glanze erstrahlt (G dur- 
Cadenz), entfaltet auch das bittende Motiv »Salva me« 
in verlangerten Rhythmen die ganze Fiille seiner Demuth 
und Innigkeit. Das »Recordarea und das »Ingemisco« 
sind diejenigen Abschnitte, in welchen mehr als sonst 
der religidse Ausdruck dieses »Requiems« sich den Formen 
der Oper zuneigt. Jenes, ein Frauenduett mit ganz 
specifisch italienischen Melodieschliissen und einem un- 



k 



-» 263 

widerstehlich lieblichen Charakter, erinnert an Pergolese, 
dieses, ein Tenoxsolo mit orientaliscben Harmoniewen- 
dungen, an Verdi's eigene »Aida«. Das »Confatatis« (Bass- 
solo) steht in der Erfindung binter alien anderen Satzen- 
Seine lebendigsten Ztlge befinden sich am Eingang; her- 
vorragend ist der Ausdruck des Entsetzens in den her- 
unter rauschenden Instrumenten. Um eine gewisse Ver- 
wirmng auszudrUcken , begleitet darauf der Componist 
das Gebet des S&ngers »Oro supplex« in Quintenparallelen. 
Das »LacrYmosa«, welchem die Schreckensbilder des 6e- 
richts nocb einmal kurz vorangehen, wendet sicb gegen 
diese als mit dem besten Mittel, mit 'dem schlichtesten 
volksthiimlichen Vortrag frommen Gebets. In dieser 
Weise sehr schon gedacht, kann ^der Satz doch den Ein- 
druck vollst&ndiger Banalit&t binterlassen , wenn seiner 
Wiedergabe nicht ein sebr hohes Maass von Ausdruck zu 
Hiilfe kommt Das Ofifertorium »Domine Jesu Christea will 
die Gedanken an Gericht und Fegefeuer mit Kl&ngen para- 
diesischer Musik verscheuchen. Sein Hauptsatz ist ein 
friedlich rubiges Spiel mit zart schw^rmeriscben Ton- 
ideen. Der Mittelsatz »Quam olim Abrabae« bringt aus- 
nabmsweise keine Fuge. Eine solcbe und nocb dazu eine 
mit doppeltem Tbema bildet erst das >*Sanctus«. Die Be- 
geisterung, welcbe der Componist mit diesem Satze 
scbildem woUte, muss der H5rer baupts&cblicb aus Tempo 
und Rbytbmus entnebmen. Der Entwickelung feblt der 
Scbwung. Das » Agnus dei« beginnt mit einer breiten 
Melodie des Solosoprans, welcbe der Alt in der Octave 
mitsingt. Diese eigentbiimlicbe Instrumentation erhebt 
die an und fiir sicb einfacbe und bescbaulicbe Melodie 
in eine bobere, romantiscbe Spb&re. Der Satz besteht 
in der Hauptsacbe nur aus neuen Klangbildern iiber das 
Eingangstbema. Das j»Lux aeterna« scbillert in fremd- 
artigem Licbte. Mit Quintsextaccord und schattenartig 
wandelnden Harmonien einsetzend, scbeint es Stimmung 
und Fantasie von jedem gewobnten irdiscben Grund 
binweg fQbren zu woUen. Es scbliesst in verkl&rten 
Kl&ngen. Der eigentbiimlicbste Satz des » Requiems « 



-* 264 ^ 

ist das »Libera me<c durch die grosse Ausdehnung, welche 
ihm der Componist gegeben hat. Bedeutend ist in ihm 
der Eindruck der psalmodirenden Stellen, bedeutend auch 
der Eindrnck der Beminiscenzen aus dem Introitus und 
dem »Dies irae«. Auch das Them a zu seiner Ian gen Fuge 
ist der Sequenz entnommen. 

Das nS,chste vRequiemc, welches nach dem von Verdi 
Beachtung verdient und gefunden hat, ist das von Felix 
F. Draeseoke. Draesecke (op. 22). In Intention und Arbeit durchweg 
interessant, hat dieses Werk in einigen Sfttzen auch in 
Bezug auf Erfindung und Wirkung die Bedeutung einer 
Originalleistung hoheren Ranges. Der hervorragendste 
in dieser Gruppe ist das »Dies iraea, ein Tongemalde, 
welches ebenso sehr durch die Grosse und Frische von 
Fantasia und Empfindung fesselt, als es durch die Kiihn- 
heit und Sicherheit der Ausfiihrung imponirt. In der 
Behandlung einzelner Textstellen speciell, in der Breite 
des Pinsels und dem Ueberschwang des Ausdrucks im 
AUgemeinen zeigt sich dieser Satz mit Berlioz und Beet- 
hoven verwandt. Als eine besonders gelungene Idee 
wird man die Trompetenstelle des »Tuba mirum« hervor- 
zuheben haben. In Bezug auf gliickliche Ausbeutung 
formeller Kunst nimmt das »Domine Jesu Christe« den 
ersten Platz ein: Es ist eine Ghoralbearbeitung. Zu den 
erst iigurirten, dann fugirten Satzen, welche der Chor 
mit immer hSherem Ton durchfiihrt, spielt das Orchester 
den alten Grab- und Sterbechoral: » Jesus, meine Zuver- 
sicht«. Die popularste Wirkung ubt das »Sanctus« aus, 
namenUich das »Benedictus« in ihm: Es ist darin ein 
Wohlklang eigner Art: Schltisse in den hochsten Re- 
gionen von Menschen- und Orchesterstimmen und eine 
viel auf verminderte Septimenaccorde gestiitzte, weiche 
Stimmung. Im Uebrigen ist das Werk von alien Con- 
cessionen frei. Das Element einer schonen Sinnlichkeit 
tritt in ihm vielmehr hlnter den hochernsten und schwer- 
miithigen Grundton der Composition zuriick. Am deut- 
lichsten zeigt den letzteren das » Agnus dei« in seinem 
Haupttheile. Erst am Ende 15st sich seine bange Stim- 



-0- 265 ^ 

mung in ein kurzes, hoffendes Gebet. Die Musik, bis 
dahin accordisch, wird jetzt Melodie mil riihrenden, kind* 
lichen Zflgen. Das letzte Wort beh^lt aber doch die ban- 
gende Ehrfurcbt: Accorde ohne Terz. 

Weniger bekannt, aber werthvoll sind unter den 
neuesten Compositionen des » Requiems « die von Th. Th. Gouvy. 
Gouvy und J. Rheinberger. Das » Requiem « von J. Rheinberger. 
Gouvy (mit Orchester) trifft namentlich im Introitus den 
wiirdigen Styl der alten Todtenmesse sehr gut. Rhein- 
berger's Composition »dem Gedachtniss der im Deutschen 
Kriege von 4 870— 74" gefallenen Helden gewidmet^ erscheint 
wie ein practischer Protest gegen die moderne Richtung 
der Todtenmessen , wie sie von Berlioz und Verdi bei- 
spielsweise eingeschlagen ist. Es nimmt den Ton und den 
Styl des alten a-capella-»Requiems«, wie wir ihm zuletzt 
bei Cavalli begegnet sind, wieder auf. Es hftlt Stimmung 
und Fantasie in den kircblich gezogenen Grenzen, will 
mit freundlichen, weichen Klftngen nur die Andacht tragen, 
den Schmerz lindern und trosten, und weicht AUem aus, 
was die trauernde Seele erregen muss. Zu diesem Zweck 
hat Rheinberger seine Mittel mit grosser Folgerichtigkeit 
gewahlt, ihm zu Liebe nicht bios auf die Instrumente ver- 
zichtet, sondem auch auf den Theil der Dichtung, der 
seit dem 18. Jahrhundert von den Componisten in der 
Todtenmesse bevorzugt worden ist: die Sequenz »Dies 
irae<'. Dass in ihr der Ausgangspunkt fiir den Ueber- 
schwang der Dramatik und Tonmalerei liegt, l^sst sich 
nicht verkennen. Die kiinstlerischen Ziele des geistlichen 
Concerts gehen iiber die der Liturgie hinaus. Desshalb 
diirfen wir uns nicht wundern, dass Arbeitnn wie das 
»Requiem« Rheinberger's dem Concert ziemlich unbekannt 
bleiben. Aber es ist wohl moglich, dass die von ihm an- 
gebahnte Reaction in der Behandlung der Todtenmesse 
auf die katholischen Componisten im Allgemeinen einen 
Einfluss llussert, der sich mit der Zeit auch in den Wer- 
ken ftihlbar machen wird, die nicht bios fiir die Liturgie, 
sondern auch fiir die Verwendung im Concert ge- 
schrieben sind. 



266 



Von diesem Gesichtspunkt aus ist das »Requiem«( fiir 
H. von yierstimmigen Chor und Orchester von Heinrich von 
Heraogenberg. Herzogenberg (op. 72) beachtenswerth. Herzogenberg 
verwirft zwar weder die Instrumente , noch die Seqaenz, 
wie Rheinberger; er theilt aber mit ihm die Einfachheit 
und Zuriickhaltung im Ausdruck. Die S&tze der Com- 
position, die origineller beriihren, sind das »Osannaa, in 
dem ein frohlich naiver Ton, der die Jugendarbeiten dieses 
Kiinstlers so liebenswiirdig machte, anklingt, und das 
» Agnus dei«. Dieses verschmilzt Gregorianische Intonatio- 
nen und antiphonischen Aufbau sehr gliicklich mit selb- 
stS^ndiger Instrumentalmusik, die in fahlen trtlben Kl&ngen 
eine Art Trauermarsch markirt. 

Ziemlich zu derselben Zeit, wo bei den katholischen 
Componisten sich das Bestreben zeigt den liturgischen 
Gharakter des » Requiems « starker zu betonen, suchen 
auch die protestantischen Tonsetzer der musikalischen 
Trauerfeier einen entschiedener confessionellen Gharakter 
zu geben. Brahms that den ersten Schritt, indem er den 
alten lateinischen Text durch einen deutschen ersetzte, 
der vom Fegefeuer, von verdammten Seelen und anderen 
katholischen Vorstellungen nichts weiss. Draesecke evan- 
gelisirte am Geiste der Requiemmusik durch Einfiigung 
des evangelischen Chorals, wohl angeregt durch A. Becker's 
Bmoli-Messe. Und nun folgte Becker selbst mit einem 
Werke, das die alte Todtenmesse ganz ins Protestantische 
umarbeitet. Die Arbeit fuhrt den Titel »Selig aus 
Gnadott und ist vom Componisten als »Kirchenoratorium« 
bezeichnet, durch diese Bezeichnung also in Zusammen- 
hang gebracht mit den Bestrebungen jenes Kreises von 
neuen Kirchenmusikem , die unserem Gottesdienste die 
musikalische Darstellung biblischer Ereignisse in einer 
Form wieder einfugen wollen, bei der auch die Gemeinde 
sich mit betheiligen kann. Sie soil Chorale singen. Das 
Muster, das zu dem Unternehmen angeregt hat, ist die 
Bach'sche Passion. Da^s solche Kirchenoratorien w&hrend 
des 4 8. Jahrhunderts in Hamburg, Liibeck und anderen 
norddeutschen Stadten zahlreich geschrieben und auf- 



A. Becker, 

Seligf SU8 
Gnsde. 



^ 267 ^- 

gefiihrt worden sind, weiss heute Niemand. Becker's 
Arbeit weicht im Grunde von der Gattung voUig ab: ihr 
Text bringt keine Handlung, sondern besteht aus Be- 
trachtungen. Mit dem Oratorium theilt sie nur die mu- 
sikalischen Formen, mit dem i»Kirchenoratorium« im be- 
sondem hat sie die Zuziehung von Gemeindegesang 
gemein. Dieser kann aber auch wegbleiben, wenn das 
Werk im Concert aufgefiihrt wird, ohne dass dadurch 
sein Cherakter wesentlich einbtisst. Der Text ist aus 
Bibelstellen und Gesangbuchversen zusammengestellt und 
in drei Theile gruppirt, von denen jeder den Umfang und 
wohl auch den Inhalt einer Bach*schen Trauercantate 
etwa hat. Die Entwickelung der Gedanken bewegt sich 
in einer Minlich aufsteigenden Linie wie im »Deutschen 
Requiems von Brahms. Auch Becker beginnt mit einer 
Einleitung : »Selig sind die Todten etc." die dem Introitus 
der katholischen Todtenmesse entspricht. Dann folgt 
von dem Satze )>des Menschen Geist muss davon und er 
muss wieder zur Erde werden« aus eine Reihe ernster 
Worte iiber das Loos der Menschheit, die durch die Siinde 
den Tod in die Welt gebracht hat, iiber die Erlosungs- 
that des Heilands, iiber die Macht und die Liebe Gottes. 
Die Furcht vor dem Tode wandelt sich in Todesfreudig- 
keit. Mit einem Sehnsuchtsgruss an den »Tag, da ich mit 
Lust die Seele gab von mir«, schliesst das Werk. — Die 
Musik steht an Freiheit des Aufbaues iiber der zu Becker's 
BmoU-Messe und spricht fast immer lebendig und wirksam, 
in einzelnen Nummern mit vernehmlicher Inspiration. 
Ein Nachtheil der Composition ist, dass sie in zuviel 
kleine Stiicke zerf&Ilt. 




Drittes Capitel. 

Hymnen, Psalmen, Motetten, Cantaten. 




jit den Passionen und Messen verglichen, bilden die 
tibrigen Tonwerke, welche das Concert aus der 
Kirche entlehnt, nur einen Resttheil. Er ver- 
theilt sich iiber die vier oben genannten Gattungen. 

Aus der Familie der Hymnen, welche wir neben den 
Psalmen als die alteste Classe kirchlicher Tondichtung 
und jedenfalls als die reichste und weitverzweigteste an- 
zusehen haben, begegnen wir im Concerte in erster Reihe 
dem »Stabat mater«, dem »Te deum« und dem »Magnificat« 
als Hauptstiicken. 

Der wStabat mater « gehort einer Seitenlinie der 
Hymnen an: dem wunderlichen Geschlecht der Sequenzen, 
welches von unscheinbarem Anfang — Notker Balbulus 
fiihrte sie als Textunterlagen fiir Coloraturen des »Halle- 
lujah« ein — sich allmShlich zu der ersten Macht in der 
christlichen Poesie des Mittelalters entwickelte. Zum 
Schutze der alteren Formen sah sich die Kirche schliess- 
lich genothigt, die Sequenzen zuriickzudrangen. Ihre 
&ahl ist heute auf fiinf beschrankt, von denen neben dem 
»Dies irae« das »Stabat mater« die bekannteste sein diirfte. 
Seine liturgische Stellung hat es am Tage der sieben 
Schmerzen Mariae vor dem Evangelium. Das Gedicht, 
welches dem Minoriten Jacoponus de Benedictis aus Todi 
(f 1306) zugeschrieben wird, ist ein inbriinstiger Erguss 



-fr 269 -•- 

des Mitleidens mil der unterm Kreuze stehenden Mutter 
Jesu. Es hat zwei Theile. Der erste ist betrachtend und 
beschreibend; der zweite (von dem Verse »Eja mater etc.a 
ab) geht ins Gebet fiber. Der schwarmerische and fromme 
Monch hat sich tief und innig in die Seele der Maria 
hineingefUhlt und diesen Empfindungen einen nihrenden, 
kindlichen und naiven Ausdruck gegeben. Die Herzhch- 
keit und der Eifer der Hingabe klingt bis in die Form 
der Verse hinein : ihre Doppehreime sind die Frucht einer 
leidenschaftlichen Erregung von Gemuth und Fantasie. 
Desshalb hat das »Stabat matera die kfinstlerischen Geister 
von jeher stark angezogen. Es ist in alle Sprachen 
immer von Neuem wieder ubersetzt worden ; im Deutschen 
allein hat man an die hundert Male versucht, seinen 
Sinn und seinen eigenthumlichen Ton wiederzugeben. 
Ebenso ist die Zahl seiner musikalischen Bearbeitungen 
ausserordentlich gross. Sie umfasst das ganze Gebiet 
und die ganze Geschichte der Vocalcomposition von den 
Ritualmelodien des Gregorianischen Styls, von einfachen 
Liedweisen und Ghoralsatzen (im protestantischen Sinne) 
an bis zu den grossartigsten Formen der neueren Cantate. 
Die Siteste Composition des »Stabat mater«, welche 
das Concert sich neuerdings angeeignet hat (siehe S. 4 39 : 
RiedeFs Auffuhrung i. J. 4 880) ist die von Josquin d e Josqain de Pr^s, 
Pr^s. Dieses »Stabat mater « liegt in zwei neuen Par- stabat mater. 
titurausgaben vor: von Maldeghem (4 867) und von Ambros 
(4 882). Die &lteste bis jetzt aufgefundene Notirung des 
Werkes datirt vom Jahre 4 480. Ihr folgten in der ersten 
H&lfte des sechzehnten Jahrhunderts eine ganze Reihe von 
gedruckten Stimmausgaben*): der beite Beweis, dass die 
Composition unter die beriihmtesten z§,hlte. Auch die 
Hinweise alterer Theoretiker bestS^tigen es, dass das 
nStabat mater« Josquin's fur ein Hauptwerk der grossen 
Vocalperiode in dieser selbst noch gehalten wurde. Der 
Chorsatz ist fiinfstimmig, die Anlageim genauen Anschlusse 



*) Die Numberger vom Jahie 4 538 ist unter denselbeii 
interessant daroh die protestantischen Varianten im Te\t. 



-^ 270 1^ 

an die der Dichtung zweitheilig. Der erste Theil ist bewegt 
und erregt; im zweiten Theile, da wo das Gebet beginnt, 
giebt Josquin den Rhythmen einen ruhigeren, breiten 
Grundcharakter. Da setzen die eigenthtimlichen feier- 
lichen Largos ein, welche wir schon aus dem »Incar- 
natus etc.« von Josquin^s Messe »Pange lingua « kennen. 
Da begegnen wir aucb wieder jenen anmuthigen, an- 
heimelnden Idyllen, in denen Josquin 'sMusik mit wie- 
genden und l&utenden Motiven aus dem Munde der 
Chorstimmen den Ton der lebendigen Natur so stark an- 
klingen l&sst. Der zweite Theil des »Stabat mater« ist der 
reichhaltigste und originellste. Der grosse Zug der Be- 
geisterung, welcher ihn erf&llt, kommt am mftcbtigsten 
an zwei Stellen zum Vorschein: beim Eintritt des »in- 
flammatus et accensus«, wo die Stimmen. eine leiden- 
schaftliche Bewegung zu ergreifen scheint, und in der 
lapidaren Einfachbeit und Bestimmtheit, mit welcher die 
beiden Schlusstacte das »Amen« sagen. Doch ist aucb der 
erste Theil durchaus gehaltvoll und interessant. Seinem 
Entwurfe liegt dieselbe Methode zu Grunde, wie dem des 
zweiten Theils: Jeder Vers des Gedichts wird zu einem 
selbstandigen Tonbild mit eigenem melodischen Motiv. 
Dieses Hauptmotiv der Verse singt die eine Stimme der 
anderen nach. Dass die Wiederholung dieses Verfahrens 
nicht ermUdet, dafiir sorgt Josquin durch immer neue dem 
Gharakter des Texte folgendes Zusammenstellungen und 
FS,rbungen der Stimmen, dafiir sorgt er aber namentlich 
auch durch die Kraft des Ausdrucks, welche er den lei- 
tenden Themen selbst eingehaucht hat. Besonders ein- 
dringlich zeichnen sich die Motive von »0 quam tristis etc.« 
und von »Quis est h6mo« aus. Der Styl des Satzes ist 
derselbe wie in den Messen und in alien kirchlichen Ton- 
werken jener Zeit. Der Gantus firmus, den der mittlere 
Tenor fiihrt, wird in Josquin's »Stabat mater« in jener 
einfachsten Weise als rein mechanisches Mittel behandelt, 
in welcher er an der geistigen Entwickelung der Com- 
position keinen Antheil nimmt. Fiir den ersten Theil ist 
er dem alten lustigen franzosischen Liede »comme femmew 



^ 



271 



*- 



(achtstinuaig). 



entnommenj dessen flotte Melodie natiirlich, in Pfund- 
noten verkleidet und verzerrt, nur noch dem Auge des 
Eingeweihten kenntlich bleibt. 

Das zweite »Stabat mater« aus der Vocalperiode, wel- 
ches im heutigen Concert eingeburgert erscheint, ist das 
im 6. Band der Gesammtaosgabe der Werke Palestrina's *) 
unter den Moletten mitgetheilte zweichSrig^ von G. P. da 
Palestrina. Dieses Werk, dessen genaue Entstehungs- a. P. da Pale- 
zeit nicht feststeht, ist eine der verhaltnissmftssig wenigen strins, 
achtstimmigen Compositionen, welche Palestrina geschrie- stabat mater 
ben hat. Auch dem Style nach vertritt es keineswegs 
den Typus Palestrina'scher Musik, sondern es nimmt 
unter den Compositionen dieses Meisters eine Ausnahme- 
stellung ein. Es bevorzugt die accordische Schreibart, 
die sogenannte homophone Stimmfuhrung , die in den 
iibrigen Werken Palestrina's vorwiegend nur episodisch 
verwendet wird, in einer sehr umfassenden Weise. Fiir 
die geniale Art, in der die Harmonien von dem Tonsetzer 
als Declamationsmittel in diesem » Stabat mater « ver- 
wendet sind, kann der Anfang der Composition als Bei- 

/ n J J I i J i j^j i\ i I J - ^P^®^ dienen. Wie 
lF"f| I'll ^ I § ' li eigenthumlich fremd 
sta.bst a*. tor do - lo.ro . sa uud traurig ist das 
(mit Aenderungen im ersten Theile mehrmals wiederholte) 
kleine Tonbild, welches die ersten drei Dreikl&nge geben ; 
wie trifft der G moll- Accord mit dem logischen Accent 
der Verszeile zusammen und wie schmerzlich klingt er! 
Man darf aber von dieser einen Stelle nicht auf eine 
durchgefiihrte Detailmalerei des Tonstiicks schliessen. 
Die Musik steht im Gegentheile zu dem Textc in einem 
VerhS,ltniss bescheidener Zuriickhaltung. In ihm begniigt 
sie sich das Colorit seiner Stimmungen durch die melo- 
dischen Linien deutlicher hervorzuheben und die Haupt- 
begriffe des Wortbaues gewissermassen mit Accord imd 
Rhythmus zu unterstreichen. Kaum ein zweiter Compo- 
nist ist der eigenthtimlichen Schonheit der Dichtung des 



♦) Leiprfg, Breitkopf u, Haitel. 



nStabat materff, welche in vielen Abschnitten selbst schon 
Musik zu sein scheint, so gerecht geworden, als Palestrina. 
Am deutlichsten wird man das wohl an derBehandlung des 
Verses »Quae moefebat et dolebata ersehen konnen. Das 
Feuer, welches bier die Fantasie des Dichters erw§,rmt, 
ihm Bilder und Worte drftngend eifrig auf die Zunge legte 

— in der Palestrina'schen Musik mit den kurzen, schwer 
betonten Motiven, mit dem fast ungestumen Wechsel der 
beiden Ch6re, lodert es in hellen Flammen auf. Wie emst 
und riihrend ruft nach diesem Excess der Fantasie der 
breite Periodenbau des folgenden Abschnitts »Quis est 
homo« die glUubige Seele zur inneren Einkebr! Es ist 
schon in der Architectur dieser Composition eine geistige 
Kraft, die eine Beschaftigung mit dem Werke allein 
geniigend lohnt. Der eigenthiimUphen Milde seiner kla- 
genden Melodien aber lasst sich kaum eine andere Com- 
position vergleichen. .Auch bei Palestrina finden wir 
dieselbe Zweitheilung wie bei Josquin. Mit dem oEja 
mater etc. « lenkt er den Fluss in ein neues Bett: Drei- 
vierteltact setzt fur eine Weile ein, die Gliederung der 
Scenen wird scharfer und der Styl des Chorsatzes mehr 
polyphon. Wenn im Ganzen dieser zweite Theil des Pale- 
strina'schen »Stabatmater«hinter dem ersten etwas zuriick- 
bleibt, so ist er doch immer noch reich an glanzenden 
Stellen. Eine der anmuthigsten ist der Abschnitt »Juxta 
crucem etc.«, welcher eine der von Palestrina geliebten 
Episoden fiir die oberen Stimmen allein bildet. Erst bei 
nflammis ne urar etc.« ergreifen die B&sse wieder von ihrer 
Stellung festen Besitz. Meisterlich and packend ist auch 
die Schlusspartie vom »Quando corpus « ab. Das ist ein 
unendlich reiches und schones Bild vom seligen Sterben 
und vom Einziehen ins himmlische Paradies. In aller 
Kurze sind da die Begun gen der Seele hineingezeichnet, 
welche diesen Gedanken lebendig machen: die Trauer, der 
Ernst, die freudige Kraft und das zarte, demtithige Hoffeh. 

— Von diesem »Stabat mater « Palestrina^s besitzen wir 
schon seit illi eine Partiturausgabe durch Burney, wel- 
cher viele andere Drucke gefolgt sind. Zuletzt hat 



273 



R. Wagner, der in seiner Dresdener Zeit die Composition 
kennen lernte und in der Hofkirche auffiihrte, eine Ein- 
richtung des Werkes veroffentlicht , welche die vierstim- 
migen Ssltze der beiden Chore in Soli, Halb- und Ganz-^ 
tutti theilt und den Vortrag mit dynamischen Zeichen 
regelt. Sie istDirigenten, welche einer derartigen Anregung 
benothigt sind, zu empfehlen. Doch bedarf sie einer 
selbstandigen Revision, da an einigen Stellen die vorge- 
schriebene Dynamik mehr Rticksicht auf den akustischen 
Effect als auf Sinn und Logik der Satzglieder nimmt. 

Ein dreichoriges »Stabat mater* vonPalestrina, welches 
Alfieri und Espagne (im 7. Bande der Gesammtausgabe 
von Palestrina's Werken) auf Bainis' Gewahrschaft hin 
in Partitur mittheilen, wird von anderen Kennern, darunter 
Ambros, fiir F. Anerio in Anspruch genommen. Der 
32. Band der Gesammtausgabe bringt unter den zweifel- 
haften Werken noch ein zweites »Stabat« zu 8 Stimmen. 
Als weitere in neuem Partiturdruck vorliegende Compo- 
sitionen des »Stabat mater « aus der Vocalperiode sind 
zu nennen die Werke von Orlando di Lasso (Commer), 
Agazzari, Aichinger (beide in Proske's Mus. div.) und 
G. M. Nanini (Rochlitz, Tucher u. a.). Letzterem, wel- 
ches den Text in zwanzigmaliger Wiederholung einer 
einfachen, lieblichen Liedstrophe durchnimmt, begegnen 
wir zuweilen (gekiirzt) in geistlichen Concerten. Das 
»Stabat mater « des Orlando, ein Cyclus von wechselnden 
vierstimmigen, im Schlusssatz zusammentretendenKnaben- 
und Mannerchoren, gehort zu den genialsten und wirkungs- 
vollsten Compositionen dieses grossen Meisters. 

Aus der friiheren Zeit der begleiteten Vocalmusik sind 
als bedeutende Compositionen des »Stabat matera die von 
Colonna, Steffani, Clari und Caldara zu nennen. 
Die letzten beiden scheinen in ihrer und in der nachsten 
Zeit auch ziemlich verbreitet gewesen zu sein. Das »Stabat 
matera von A. Steffani, auf welches Chrysander zum 
ersten Male und nachdriicklich aufmerksam gemacht hat*). 



Fi Anerio, 
Stabat mater. 



Agazzari. 

Aichinger. 

Qt, M. Nanini. 



•0. di Lasso. 



A. Steffani, 
Stabat mater. 



♦) Chrysander: HSndel, I 350. 
11,1. 



48 



ist eine der ersten unter alien den grossenuCantatenc, welche 
iiber das Gedicht des Jacoponus componirt worden sind, 
Man darf es unter den kirchlichen Vocal compositionen des 
i 7. Jahrhunderts, welche dem neuen Style folgten, ruhig mit 
den Schutz'schen zusammenstellen. Es ist ein Meister- 
werk, welches in der Yerwendung der neuen Formen, in der 
Verschmelzung von Chor- und Sologesang seiner Periode 
weit voran ist. Nur einige kleine colorirende Naivetaten, 
seltsame Wortmalereien auf »tremebat«, auf »inflammatus« 
etc., die kurze Anlage einer Reihe von Ch5ren und En- 
sembles erinnern an den Styl jener venetianischen und 
romischen Gomponisten , welche SteiTani's Zeitgenossen 
waren. An andern Abschnitten verbliifft sein ixStabat 
mater « geradezu durch die kiihnen, weiten Bogen, in wel- 
chen diese Composition gegliedert ist. Im zweiten Theile 
haben wir es mit einer Art modernen Finale zu thun. 
Der grosse 3/2-Tact, mit welchem zunachst das »Eja mater« 
einsetzt, kehrt immer wieder und nimmt alle die kleinen 
Satzchen, welche episodisch herantreten, unter seine 
schiitzenden Fittiche. Unter letzteren sind auch einige 
der beriihmten canonischen Duette, welche ihrer Zeit als 
eine Specialitat SteiTani's bewundert wurden. Die Th^men 
sind schlicht im Ausdruck, aber voll empfunden. Ihren 
ganzen Gehalt zeigen sie in der Entwickelung des Satzes, 
von Contrapunkten gekreuzt und angeregt. Der Beglei- 
tungsapparat der Streichinstrumente fungirt mit Bach- 
scher Gediegenheit. Immer ist der Text tieferfasst und 
nicht selten mit aufregender Genialitat Zwei solche 
Stellen offenbarer hohererer Inspiration bezeichnen den 
Anfang und den Schluss des Werkes. Dort, in der kurzen 
Instrumentaleinleitung, knapp vor dem Einsatz des Solo- 
soprans, sind es die Harmonien, welche sich gleich den 
Lasten in Maria's Seele wahrhaft beanstigend aufthiirmen 
— hier die zaghaften Pausen, welche den feierlichen Ton 
des Ghors zwischen »Quando corpus « und »morietur« 
unterbrechen. Mochte das bedeutende Werk*) bald durch 

'^] Dem Verfasser nach dem handschriftlichen Exemplar 
des Herrn Dr. Fr. Chrysander-Bergedorf bekannt. 



t 



-<^ 275 ♦- 

den Druck zuganglich werden. Das »Stabat mater« G. M. 

Clari's hat in dem kurzen ausdrucksvollen Gbor der Bin- Qt, K. Clari. 

leitung, dem breiten, fugirenden und sehr schon zu Ende 

gefubrten Schlusschor iiber »Quando corpus morieturtf und 

in der im Orcbester sebr geflissentlicb malenden und 

cbarakterisirenden Tenorarie : »Cujus animam gementem« 

seine Hauptsatze. Ab und zu begegnen wir ihm in geist- 

lichen Goncerten. Ganzlich unbenutzt ist in Deutschland 

das von Eslava mitgetheilte »Stabat« des Spaniers A. Rip a A, Bipa. 

geblieben (achtstimmig mit Orgelbegleitung). 

In der Praxis des Concerts ist die Periode Scarlatti- 
Handel in erster Linie mit den Compositionen des vStabat 
mater« von Emanuel Astorga und von 6. B. Pergolese 
vertreten. Beide Tonsetzer gehoren der besseren Zeit 
der neapolitanischen Scbule an. Sonderbarer Weise 
verdankt die friibere der beiden Compositionen, die von 
Astorga, ihre augenblickliche Popularitat der jungeren 
Verwandten. Es war im Verlauf eines lalngeren Streites, 
welcher von Kunstrichtern aus dem Kreise der Kirnberger 
und Forkel gegen das anmuthige Sterbelied des jung ver- 
scbiedenen Pergolese erhoben worden war, dass Rochlitz 
ihm gegentiber das »Stabat« von Astorga auf den Schild 
erhob. Seitdem ist sein Lob von Tag zu Tag gewachsen, 
bis endlich der Yerleger einer neuen Bearbeitung dieser 
Composition die Zeit fiir gekommen hielt, Astorga »un- 
bedenklich den edelsten Meistern der Kunst beizuzahlen«. £. Aatorga. 
Vergleichen wir Astorga's »Stabat« mit seiner Oper »Dafnea 
und mit seinen in ihrer Zeit von Freunden der Haus- 
und Kammermusik viel benutzten Solocantaten, so linden 
wir die gleichen Schwachen der Scbule und der Indi- 
vidualit&t: Einformigkeit, zuweilen Mattheit der Stimmung 
und Formalismus. Aber sie storen uns doch seltner. Seine 
Vorziige dagegen, die interessanten Kleinigkeiten, welche 
das Gewebe seiner Satze zieren, erscheinen bier in eine 
hohere Region iibertragen: als feine; aus erregter Fan- 
tasie und ergriffenem Gemiithe hervorgegangene Eigen- 
heiten der Auffassung. Selbst von dem dusteren Pathos 
und der erhabenen Traurigkeif, welches schwarmerische 

<8* 



-* 276 ^ 

Romanschreiber aus dem dunklen Lebenslauf des aristo- 
kratischen Dulders unbesehen auf seine Gompositionen 
iibertragen wollen, finden sich in diesem «Stabat« wirklich 
einzelne Ziige. £s ist Astorga^s bedeutendstes nnd indi- 
viduellstes Tonwerk und eine auch ohne jeden pers5n- 
lichen Bezug sinnreiche Composition. 

Der Form nach der Glasse der Gantaten angehdTig,ver- 
theilt sie den Text auf 9 Nummern. Bin Ghor beginnt, welcher 
die bedeutende formelle Fertigkeit Astorga^s, eine Hauptur- 
sache fiir die Erfolge seines sStabatcjSogleich in belles Licht 
setzt. Fastalle seine Perioden sindfliessendim doppeltenund 
dreifachen Gontrapunkt gearbeitet (d.h. dieThemen sindso 
erfunden, dass die zugleich singenden Stimmen ihre Partien 

tauschen konnen). Den . , Lam. , — ^ 

ersten Theil des Satzes pbHJJ^iJ J pTrlfrfr ^^ 
tragt ein Hauptthema sm.bKtmk. . . .m 

von sanft klagendem Ausdruck. Das Motiv zu »juxta 
crucem« besteht aus Scalentheilen ; besser, poetischer er- 
funden ist ein anderes Nebenthema, welches den Begriff des 
»pendebat«, sinnreich von der Harmonie untersttitzt, mit 
leichten melodischen Ketten aus einem Achtelmotiv gewun- 
den, andeutet. Der in kurzen Abschnitten und sehr markirt 
absetzende Aufbau dieses Theils trelgt sehr viel dazu bei 
den Eindruck zu vertiefen. Der Vortrag kommt wie aus 
beklommenem Herzen. Im zweiten Theile der Nummer 
tritt besonders das chromatische Motiv hervor, welches zu 
den Worten »pertransivit gladius« in die Hohe steigt. Die 
chromatischen und enharmonischen Tongeschlechter er- 
lebten im siebzehnten Jahrhundert eine neue Periode der 
Bluthe. Astorga (in seinen Gantaten) befand sich unter 
ihren eifrigsten Anhangern. Das Terzett (Nro. 2) »0 quam 
tristisu ist einer der schonsten S^tze der Composition. 
Trotz der kunstvollen Durchfiihrung durch die Stimmen 
fliesst die wehmuthige Hauptmelodie leicht und anmuthig 
dahin, bis plotzlich die Fantasie dem regelmHssigen 
Gauge der Form gewaltsam Einhalt gebietet: Fermate, 
stockender Rhythmus, schneidende Dissonanz: In dieser 
Schreckgestalt bricht pl5tzlich das Bild der armen Mutter 



-^ 277 ^ 

durch: (bei den Worten »inater unigenitia). Eine andere 
gleicherweise bedeutsam declamirte Stelle bietet das 
Wort »videbat«. Astorga wiederholt es wie gramvoll ge- 
fesselt In der nachsten Nummer, dem Doppelduett: 
»Quis est homo« begegnen wir demselben sinnvoU spie- 
lerischen Zuge bei den Coloraturen auf die Worte »in 
tan to supplicio« und »dolentema. Doch muss hier der 
Vortrag sehr viel nacbhelfen. Die nUchste Nummer ist 
eine Doppelfuge, aus deren Flusse einige merkwiirdig 
nachdriicklich betonte Stellen heraustreten: Es sind das 
»fac« vor der Fermate und das »ut sibiv. Fur den Cha- 
rakter der Themen und fiir die Entwickelung ihres Ge- 
lialtes sind die Begriffe der Mutter Jesu als »fons amo- 
ris«^ und das »complaceam« bestimmend gewesen. Na- 
mentlich das erste Thema entspricht der wesentlichsten 
Bedingung der Fugenform. Es hat in seinen breiten 
Eingangsnoten ein eignes und anziehendes Element, wel- 
chem tiefer nachzuspiiren den Componisten ebenso reizen 
muss, wie es den Horer verlangt und erfreut einer solchen 
charaktervollen Tontype immer von Neuem wieder zu 
begegnen und sie auf ihren kunstvollen GM,ngen durch 
Stimmen und Harmonien zu verfolgen. Die folgende 
Sopranarie j»Sancta matera hat einen eigenthiimlichen 
Periodenbau. Diese Perioden bestehen alle aus einer Reihe 
durch Pausen getrennter kurzer Abschnitte. Es ist ein 
schiichternes kindUches Bitten in stossweisen Abs§,tzen, 
welches immer erst am Ende den Muth gewinnt zu ein em 
langeren Abschluss. Der liebenswiirdige , kindliche, an 
Hast, Yerlegenheit und Hiilflosigkeit gemahnende Zug der 
Composition wird auch melodisch, namentlich durch die 
aufschlagenden Sechzehntel verst^rkt. Endhch ist auch 
die Instrumentirung der Gesangstellen, welche ohne Bass 
dahin schweben, auf ihn gerichtet. Der n3,chste Satz: 
»Fac me tecum pie flere« ist eins jener canonischen 
Duette, von welchen bereits friiher die Rede gewesen ist. 
Das Princip dieser durch die venetianische Schule be- 
sonders in Umlauf gebrachten, auch bei HUndel und Bach 
hS,ufig verwendeten Form ist ein fthnliches, wie das der 



278 ^ 

Fuge: Die zweite Stimine singt der ersten mehr oder 
weniger genau nach. Der Charakterder gemeinschaftlichen 
Melodie ist hier innig und mild traurig. Mit dem Chore 
»Virgo virginum praeclara* kommt in den Farbeneffect 
von Astorga's »Stabata eine helle und krUftige Wen dung. 
Die heilige Maria wird beim Anfang der Nummer in 
lautem und preisendem Hymnenton gefeiert, sie erscheint 
im Glanze der Himmelskonigin. Nach der ersten Fermate 
kehrt eber die Musik dem Text entsprechend in den mit- 
leidigen und trauernden Charakter zuriick. Die Bassarie 
»Fac me plagis vulnerari* (Nr. 8) ist derjenige Theil der 
Composition, welcher den meisten Anlass zu Bedenkeh 
gegeben hat. Ihre muntren Themen, ihre colorirten G&nge 
machen leicht den Eindruck vollst&ndiger Trivialit&t. 
Gedacht ist diese zun£lchst befremdende Musik aus einem 
GemQthe, welches durch die Idee, mit dem Heiland zu 
leiden und Opfer zu bringen, in freudige Begeisterung 
versetzt wird. Der Schlusschor »Christe cum jam sit 
exire« bringt fur die erste Halfte vom letzten Vers der 
Sequenz eine Variante. Erst beim »Quando corpus* lenkt 
er in die iibliche Lesart ein. Seiner musikalischen Anlage 
liegt ein Schema zu Grande, welches mit den Opera der 
Cavalli und Cesti in Aufnahme kam: die Verbindung 
eines feierlich ruhigen und eineslebendig bewegten Tempos. 
Handel hat von demselben haufig, u. a. in seinem »Messias« 
bei dem Abschnitt »Wie durch Einen der Tod etc.« sehr 
wirkungsvoll Gebrauch gemacht. Die Stimmung des Allegro 
mit seinen tUnzelnden Motiven, wie auch die der am Ende 
einsetzenden Fuge auf »Amen« geht von dem Gedanken 
an nparadisi gloria« aus. Josquin und Palestrina streifen 
das Bild von den Freuden des ewigen Lebens, Steffani, 
Astorga und die meisten Tonsetzer, welche nach ihnen 
das uStabata componirt haben, fiihren es uns zur langen 
Betrachtung vor die Augen und geben dadurch dem Werke 
einen glanzenden Abschluss. — Die alteste Partitur des 
Werkes stammt aus London. Neue Ausgaben desselben 
erschienen in den Sammlungen von Rochlitz (drei Num- 
mera), Kiimmel ; ferner bei Bote und Bock und bei Kamrodt 



I 



^ 279 ^ 

(Bearbeitung von R. Franz, welcher die Continuostimme 
fur 2 Clarinetten und Fagott ausgeschrieben hat). 

Das »Stabat mater« von Pergolese, welches sich die &. B. Pergolese, 
Bruderschaft des heiligen Ludwig da Palazzo bei dem stabat mater. 
Gomponisten als Abl5sung fiir ein langgedientes »Stabat« 
von A. Scarlatti bestellte und dessen Originalpartitur 
noch heute auf Monte Cassino wie eine Reliquie bewahrt 
und verehrt wird, hat Jahrzehnte lang in dem Repertoir 
eine ahnliche bevorzugte Stellung eingenommen, wie sie 
in anderen Zeiten sich nur fQr Graun's »Tod Jesuu und 
fiir Mozart's »Requiema nachweisen lasst. Erschienen 
doch nicht lange, nachdem das Werk im Gefolge der 
)'Serva padrona« sich verbreitete, in Paris fiinf verschiedene 
Clavierausziige hinter einander. Des Widerspruchs, 
welcher sich gegen das Ende des achtzehnten Jahr- 
hunderts gegen die geniale und bestrickende Composition 
erhob, haben wir schon gedacht. Er floss zum Theil mit 
aus der Nothlage, in welcher sich die deutsche Musik im 
eigenen Lande gegeniiber dem iiberschwanglichen Cultus 
der italienischen Kunst befand. Unter den Mtnnern, 
welche trotzdem fiir die Schonheit des »Stabat« Porgolese's 
eintraten, bemerken wir Wieland, Dittersdorf, Reichardt 
und J. A. Killer. Letzterer thut es mit geharnischten 
Worten. In der Vorrede zu dem ersten Clavierauszuge, 
welchen er von dem Werke veroffentlichte, erklarte Killer 
halb in der Sprache des spateren Schikaneder-Sarastro;: 
(derjenige, welcher bei diesen Tonen Pergolese's kalt und 
ungeriihrt bleiben kann, »verdiente nicht ein Mensch zu 
seinff. Gleichwohl hat neuerdings wieder ein katholischer 
Musikgelehrter im Eifer fiir die Rechte des Gregorianischen 
Chorals das »Stabat mater« Pergolese's als ein »Musik fiir 
Badecapellen« erkiart. Der eine Kauptvorwurf, welcher 
dieser Composition von den friiheren Gegnern gemacht 
wurde, der der unrichtigen Declamation, ist zum Theil 
begrlindet. Denn aus rein musikalischem Wohlgefallen 
an bestimmten Motiven wiederholt sie Pergolese zuweilen 
auch aCn T6xtstellen, wo sie nicht mehr passen. Zum 
anderen Theile beruht er aber auf einer falschen Idee 



280 ^ 

von dem Zwecke des ganzen »Stabat<<. Das ist keine eigent- 
liche Passionsmusik^ wie mit Klopstock mehrere deutsche 
Uebersetzer des lateinischen Textes angenommen zu 
haben scheinen, sondern eine Marienklage. Auf den 
milderen Ton der letzteren hat Pergolese seine Saiten 
gestimmt; ihm entspricht auch das ^ussere Golorit des 
Werkes mit^ namentlich die Besetzung der Gesangpartien 
durch ein blosses Duett zweier hohen Stimmen. Clari 
hat allerdings auch eine ganze Messe bios fiir Sopran- 
und Altsolo geschrieben; aber dieser Vocalapparat 
war in dem Falle des »Stabat( doch mehr an seinem 
eigentlichen Platze. Wenn unter den verschiedenen Be- 
arbeitern der Composition Pergolese's (Paisiello, Salieri, 
Hiller, Lwo£fj einige diesen zweistimmigen Chorsatz in 
einen gemischten vierstimmigen Chor umwandelten, wozu 
einige anscheinend fugirende Satze — das »Fac ut ar- 
deat« und das »Amen« — allerdings verlocken, so haben 
sie ihn damit eines inneren Gharakterzuges beraubt. 
Freilich als einfaches Soloduett zweier Frauenstimmen 
l£lsst sich dieses »Stabat matera auch nicht durchweg zur 
Wirkung bringen. In dieser Besetzung klingen einige 
der machtigsten Stellen: — das 6 Tacte lange Unisono 
auf g zu dem Worte »videt« in »Pro peccatis etc.«, der 
Perle des Werks, und S.hnliche — geradezu sinnlos. Das 
ist fiir jene Mannersoprane der Zeit Pergolese's ge- 
schrieben, welche aus ihrer breiten Brust anschwellende 
Tone von der Gewalt der Posaunen hervorzuziehen ver- 
standen. Will man der Absicht des Componisten mit 
unseren heutigen Mitteln entsprechen, so bleibt nichts 
besseres iibrig, als die zwei Stimmen chorweise zu be- 
setzen. Bei einer gliickenden Ausfiihrung wird dann das 
Werk aber noch heute und immer so wirken , wie es 
J. A. Hiller in seiner Begeisterung gesagt hat, wenn auch 
nicht in alien Satzen. In erster Linie stehen das Duett 
(Nro. 4) mit dem secundenmassig dissonirenden Thema, 
welches in der F dur-Messe Pergolese's (der ersten seiner 
vier Messen) ahnlich im »Kyrie« vorkommt; ferner der 
Sopransatz »Cujus aninama mit dem so charakteristisch 



^ 281 ^ 

verwertheten italienischen Rhythmus, das Duett »0 quam 
tristis« , die Altarie »Quae moerebat« mit dem riihrenden 
Terzengang, der zum ersten Male nach dem Worte: »in- 
cliti« auftritt, und den schluchzeDd aufschlagenden Sexten, 
das Duett: kQuIs est homo« und das unmittelbar an- 
schliessende, als eine Fortsetzung gedachte »Pro peccatis«, 
schliesslich noch die Nummer U (wFac ut portem«). An 
die Kunst der Gedankenausfiihrung darf man auch in 
diesen Satzen keine grossen Anspriiche stellen. Die 
musikalische Architectur war Pergolese's starke Seite 
nicht: in der Mehrzahl seiner Arien sind die einfachen 
grossen Ziige der alten Gattung durch eine Vielheit und 
durch einen Reichthum kleinerer Ideen ersetzt. Aber 
jeder dieser Einf§,lle zeigt melodisch oder auch in der 
Harmonie einen Genieblitz. 

Vor und nach der Arbeit Pergolese's hat das acht- 
zehnte Jahrhundert noch eine betrachtliche Zahl in ihrer 
Zeit vie! geltender Compositionen des i»Stabat mater« ge- 
bracht. Wir nennen als die bekanntesten die von Fux, 
Gasparini, Gassmann, Hasse, Traetta, Wagen- 
seil) Rodewald, J. Haydn. Das letztere ist in der J.Haydn, 
Geschichte des grossen Tonsetzers desshalb bemerkens- stabat mater 
werth, weil es zuerst Haydn's Ruf als Gesangscomponist 
verbreitete. Es ging schnell iiber Deutschland hinaus, 
erschien in Paris und London in eigenen Ausgaben und 
hat sich fast bis in die Mitte unseres Jahrhundert immer 
einmal wieder auf den Auffuhrungslisten gezeigt. Wie 
man das ganze Werk im Allgemeinen als eine Studie 
im italienischea Style bezeichnen kann, bei welchem auch 
alle Untugenden des Yorbildes eifrig und blindlings nach- 
geschaffen wurden, so verrath es noch ganz speciell den 
Einfluss Pergolese's in dem traumerisch eigensinnigen 
Festhalten und Wiederholen kurzer Motive. Zwei seiner 
6 Solonummern, die Altarie »0 quam tristis« und die 
Bassarie oPro peccatisa, sind in neuerer Zeit in Einzel- 
ausgaben veroffentlicht worden. Obwohl die Chore von 
dem veralteten und unnatiirlichen Yirtuosenputz, den 
die Arien tragen, frei sind, entstellt doch auch sie ein 



-<«- 282 *>- 



Li Baini| 

Stabat f&r 

Manerstimmen 

(a-capella). 

G. Sosaini, 
Stabat mater. 



ausserlicher und gewaltsamer Zug der Declamation. Haydn 
ist aus dieser merkwiirdigen Composition schwer heraus 
zu erkennen. Dass sie wahrend der Herrschaft des nea- 
politanischen Styls ihren Kreis von Bewunderern fand. 
ist von selbst erklftrlich. Wie aber in der Kegel die 
schwachen Partien solcher Tonwerke, welche wir heute 
als veraltet erklaren, schon in der Jugendzeit derselben 
bemerkt und beanstandet worden sind, so hat auch das 
»Stabat mater« J. Haydn's schon im vorigen Jahrhundert 
starken Widerspruch erfahren. Die scharfste Kritik an 
ihm libte J. F. Reichardt. Diejenige Nummer, welche in 
ihrem Wohlklang und in ihrem Aufbau einen Zeit und 
MSlngel iiberragenden Vorzug besitzt, ist das Quartett 
mit Chor: »Virgo virginum praeclara«. 

Haydn ist nicht der einzige deutsche Componist, 
welcher bei der Arbeit am »Stabat matera unter italieni- 
nischen Bann trat. Einer ganzen Reihe von Landsleuten, 
die nach ihm kamen, geschah es ahnlich, unter ihnen 
Schuster, P. von Winter — von ihm sind 3 »Stabat« 
vorhanden — , Seyfried, Neukomm. Am auffailigsten 
ist die Erscheinung bei Bernhard Klein. Unter den ge- 
biirtigen Italienern, welche die Sequenz weiter in Musik 
setzten, ist N. Zingarelli zu bemerken, welchem 28 ver- 
schiedene Compositionen desTextes zugeschriebenwerden, 
und L. Baini, von welchem wir ein »Stabat« fiir 3 stim- 
migen Mannerchor {a capella) besitzen. Das nachste 
»Stabat«, welches zuerst wieder nach der H-eydn'schen 
Composition die Schranken von Lslndem und Nationen 
iiberwand, war wiederum italienischer Abkunft. Es ist 
das »Stabat mater« von G. Rossini (4 832 erste, 4 841 
zweite Fassung), ein vielleicht durchaus fromm gemeintes, 
aber streckenweise vollstandig frivol ausgefallenes Werk. 
Als glanzendes, theilweise geniales Denkmal einer Periode 
unglaublichsten Verfalles religioser Tonkunst in romani- 
schen Landen, bleibt es von dauerndem Interesse. Man 
konnte es in alien Musikschulen aufstellen als warnendes 
Beispiel dafiir, wohin eine falsche Richtung zu fiihren 
vermag. Denn reihen wir dieses Werk geschichtlich ein, 



-* 283 ^ 

so ist es die letzte Spitze einer Gruppe, zu welcher auch 
Pergolese gehort. Freilich zvischen Pergolese's »Stabat 
matera und dem von Rossini ist noch ein weiter Weg. 
Aber das Princip theilen die beiden Tonsetzer — das fiir 
die Vocalcomposition unselige Princip der schon oft 
citirten neapolitanischen Schule: die Musik zur freien 
Herrin zu machen. Bei Rossini hat es zu einer voll- 
standigen Auflosung von Sinn und Wesen des Wortes 
gefiihrt, zur Gemeinheit gegen den Geist des Textes, zur 
Roheit und Stumpfheit der Form und Grammatik gegen- 
tiber. Aus einer Reihe der Nummern dieses »Stabat« kann 
man TUnze machen: andere kommen in der Wiedergabe 
der Stimmung nicht hoher als bis zum Niveau der be- 
liebten Preghieren in den Opern der Rossini'schen Periode 
Oder zu dem der chorischen Gespensterballaden. Diejenigen 
Nummern, welche man .ungetriibter geniessen, zum Theil 
bewundern kann, sind »Eja mater« (Chor mit Recitativ), 
wSancta mater« (Quartett), »Inflammatus« (Sopransolo mit 
Chor, in den Violinen das Begleitungsmotiv aus dem 
»Agnus« des »Cmoll-Requiems« von Cherubini), »Quando 
corpustt (Quartett), Hauptthema des ersten Abschnitts mit 
Haydn iibereinstimmend) und das »Amen«. In Deutschland 
kann das Werk seit zwanzig Jahren als praktisch iiber- 
wunden angesehen werden. In anderen Landern, auch 
in England, begegnen wir ihm noch auf den Programmen. 
Schon im Jahre 1845, zur Zeit, wo die Composition ihren 
Triumphzug begann, hat unter anderen R. Wagner voile 
Schalen des Spottes fiber dieselbe ausgegossen. 

Unter den Compositionen des »Stabat« aus der 
neuesten Zeit ist zunftchst das von F. Kiel bemerkens- F. Kiel, 
werth. Kiel folgt Pergolese, indem er nur Frauenstimmen stabat mat^r. 
verwendet (3stimmigen Chor und Solo). In den Soli ist 
etwas zu viel an Ausdruck gethan. Unter den Chor- 
satzen ragt der die Traurigkeit in strenge Formen giessende 
erste Vers »Stabat etc.a und der achte »Virgo viriginum« 
hervor. Letztere ist eine der trefflichsten Nummern in 
der ganzen Litteratur des »Stabat matera, ein inbriinstiger, 
aber echt weiblich gedachter, schSner Hymnus auf die 



^ 284 ^ 



F. Laohner, Mutler Jesu. Auch Franz Lachner hat in seinem 
stabat mater, op. i 68 das »Stabat matera fur zwei Frauenstimmen com- 
ponirt (mit Begleitnng von Orgel und Streichorchester — 
ohne Violinen). Dieses Werk ist eine der stimmungs- 
YoUsten Compositionen dieses Tonsetzers: in der Fuhrung 
der Singstimmen musterhaft, in den Formen schlicht und 
knapp. Seine hervorragendsten Nummern sind die ca- 
nonischen Duette. Einige Jahre vorher hat Lachner die 
Sequenz in einer grossen doppelchorigen Composition 
(op. 164) ausgefiihrt. Die bedeutendste Stelle in dieser 
bildet die Behandlung der Worte »dum emisit spiritunitf. 
Die neuere Zeit hat auch einige bedeutende Compositionen 
des » Stabat materc< in a capella-Style zu verzeichnen, 
welche zwar nicht in Umlauf gekommen, aber doch an 
einzelnen Orten mit Erfolg aufgefiihrt worden sind. Es 
sind die von E. F. Richter (6stimmig\ Franz Wiillner 
(Sstimmig) und M. Zenger (2chorig, Manuscript). Unter 
den neueren Bearbeitungen der Sequenz fiir Chor mit 
Orchester sind hervorzuheben die von Th. Gouvy, 
welche tiichtige Leistungen im mehrstimmigen Satze auf- 
weist, und die von J. Rheinberger. Letztere, nur mit 
Streichorchester und Orgel, nimmt Riicksichten auf leichte 
Ausfiihrbarkeit und bescheidet sich auch im Ausdruck 
auf die kirchlichen Erfordernisse. In diesen engen 
Grenzen doch gehaltvolle Tonbilder entworfen zu haben, 
ist ein bedeutendes Verdienst Rheinberger's. Besonders 
wirken die Abschnitte anmuthigen Inhalts; unter ihnen 
in erster Linie das »Eja matera. Die durch Selbst3,ndigkeit 
der Affassung bedeutendste unter den jiingsten Compo- 
sitionen grossen Styls ist das »Stabat mater« von Anton 
Dvofak. Dieses Werk scheint einer grossen Verbreitung 
sicher zu sein und hat bereits die Aufmerksamkeit nach- 
haltiger erregt. Namentlich auf enghschen Programmen 
begegnet man ihm verhaltnissmassig oft. Der tiefere 
und nachhaltige Eindruck dieses Werkes ruht in erster 
Linie auf dem ersten und letzten Satze. Dvofak hat den 
ersten Vers der Sequenz zu einem Tonbilde von so 
machtiger Breite und von solchem Reichthum in der 



A. DTcrak, 

stabat mater. 



-^ 285 ^ 

Gruppirung und Bewegung ausgefiihrt, wie er vor ihm 
noch kein Tonsetzer versucht hat. Die Dichtung erlaubt 
und vertragt diese Anlage, wenn man sie, wie Dvofak ge- 
than hat, vom romantisch-modernen Gesichtspunkte aus 
auffasst. Seine Musik beginnt, als woUte die Fantasia 
vorerst den Nebel der Zeiten durchdringen , mit einem 
immer wieder nach einer Richtung zeigenden, rufenden 
und suchenden Octavenmotiv. Dann setzt die chromatisch 
bewegfe Andante eon moto^ ^^s Satzes erst 

Klage- I J I ^ ip |l|(^ f M If ^ leise, in mysti- 



melodie ^^ """'''■'' scher H6he und 

von anderen Stimmen noch verhiillt, ein. Sie verkSrpert 
musikalisCh die Schmerzensgestalt der Mutter Jesu und wird 
zum Trager eines bald ruhrenden, bald leidenschaftlich 
erschiitternden Gemaldes der seelischen Leiden, welches 
der Componist vom Eintritt des Chores ab meisterhaft, mit 
dramatischer Kraft und Lebendigkeit ausgefiihrt hat. Der 
zweite Theil der Eingangsnummer fiihrt von der Leiden s- 
scene hinweg. Der Tonsetzer nimmt von dem Seufzen, dem 
Trauern, dem Klagen, von dem die Seele durchdringenden 
Schwert, von alien den triiben Bildern des Textes nur 
geringe Notiz und giebt eine Musik, welche dem lieblichen 
Wesen der Mutter des Heilands zu gelten scheint. Eine 
etwas freie aber durch den gliicklichen Contrast sehr schone 
und wirkungsvoUe Auffassung ! Das kindhchkosende Them a 
dieser trSumerischen j j , , , ^ 

Partieist instrumental, JM i I J j j }- 1 g ^ - 
und zwar folgendes: *^ ' " T ' f f f f *~ P ^"^ 

E§ verbindet sich bald mit einfach ausdrucksvollen 
Weisen zu den Worten »0 quam tristis et acclini^«, in 
deren Durchfiihrung sich Solo- und Chorstimmen in 
steigerndem Wechsel ablosen. Der dritte Theil der Nummer 
ist im Wesenthchen eine Wiederholung des ersten. Die 
zweite Nummer umfasst ebenfalls wieder zwei Verse der 
Dichtung. Ausgefiihrt wird sie vom Soloquartett, welches 
fiir den dritten Vers »Quis est homo« ein And.Bost. 
schwermiithigesThema durchflihrt, dessen ft ^ 8 J)< J) L J J 
entscheidender Theil auf das kurze Motiv : qiHb est 'ho.mo 



-^ 286 ^ 

aufgebaut ist. Den zweiten Theil zu den Worten »Pro pec- 
catis« tragt auf breiteren ruhigeren Rhythmen die Melodie 

Q _ t i ■ L r, . '**• ^^^ ^®° Stimmen in Nach- 

^ ^ [>";). Jl l f /) Jjp Up ^ ahmungen fortgefuhrt und 
Pro peo.ca.tu s«,m gen.tto an den Schlussen der Ab- 
schnitte schmerzvoU modulirt. Sehr interessant ist die 
pathetische, recitativartige Einleitung dieses zweiten oder 
Mitteltheils. Der dritte, der Schlusstheil, giebt mit Ver- 
anderungen eine Wiederholung des ersten. Ganz ergreifend 
in der Kiirze ist die Behandlung der Worte »dum emisit 
etc.ff. Die Singstimmen stammeln auf einem Ton. Die Instru- 
mente malen mit Harmonie und Rhythmus den Yorgang. 
Die erste Halfte des fiinften Verses »Eja mater« hat die 
musikalische Basis eines Trauermarsches. Sein Hauptmotiv 
And. c o n moto. liegt in den Bassen. Aeusserst packend 
*/^^L ^ I Cl/f fiibrt der Tonsetzer von diesem starren 
IV Grunde aus schnell wie hingerissen und 

gepackt in die Sprache des Herzens uber. Diese ge- 
waltige melodische Bewegung beschrllnkt sich vorwiegend 
auf die Basse, an einzelnen Stellen ergreift sie aber auch 
raachtig die Oberstimmen. Der Mitteltheil, ganz dem ruhren- 
den Gesang gewidmet, ist nur kurz. Die n&chste, vierte 
Nummer der Composition umfasst die zweite Halfte des 
fiinften und die erste des sQchsten Verses. Wie diese for- 
melle Anordnung von dem Gewohnten abweicht, so hat 
Dvofak ersichthch auch in dem Charakter der Musik eine 
eigene Auffassung erstrebt. Seine Behandlung der Worte 
»fac ut ardeatff, ^elche dem Solobass iibertragen sind, 
bildet in ihrer diisteren, angstvoll unruhigen Weise gerade- 
zu einen Protest gegen die weiche Musik, mit welcher die 
Italieher diese Bitte wiederzugeben pflegen. Verstosse 
gegen die lateinische Prosodie, wie sie am Anfang des 
Basssolo vorkommen, thut man gut zu iibersehen. Sie 
begegnen uns auch noch an anderen Stellen dieses 
»Stabatff. Auch die Franzosen pflegen sich in ihren Com- 
positionen lateinischer Texte um die natiirliche Lange 
und Ktirze der Silben nicht zu bekummern. Eine Stelle 
von hervorragender Schonheit ist der Einsatz des Frauen- 



-e- 287 ^ 

chors, welcher die Worte )>Sancta inater« kirchlich lied- 
artig durchfiihrt. Schon der Wechsel der Tonart allein 
aus Moll und Dur wirkt hier freundlich. Die funfte 
Nummer, welcher die zweite Halfte des sechsten Verses 
als Text zugewiesen ist, scheint an diesen freudigen 
Augenblick anzukniipfen. Sie ist ein liebliches Chor- 
pastorale im 6/3- Tact. Nur der Begriff des »poenae« 
wirft einige Schatten hinein. Die Stimmen heben das 
Wort wiederholt in harten Accenten heraus und fiihren 
in der erregten Stimraung dieser Episoden den Text in 
einem eigenen Mittelsatz aus. Ganz ahnlich hat Dvofak 
in dem folgenden Satze (Tenorsolo mit Chor), welchem 
der siebente Vers: wFac me vere tecum flere« zu Grunde 
liegt, die Worte »in planctu desidero« zum Anlass eines 
dramatischen Allarms benutzt. Der Hauptsatz dieser 
Nummer nahert sich mit seiner einfachen, liebenswiirdi- 
gen Melodie ganz dem Typus des modernen katholischen 
Kirchenliedes. Auch der nachste Chor »Virgo virginum« 
kniipft kiinstlerisch verzierend und bildend an Reminis- 
cenzen aus dem Style an, in welchem das »Stabat« in der 
Praxis der Kirchenchore erscheint. Der bedeutendste unter 
den noch ubrigen Satzen der Composition ist der zehnte, 
der Schlusssatz: Seine Themen greifen vorwiegend auf 
den ersten Satz zuriick. Es ist aber Manches poetisch fiir 
den neuen Text gewendet und zugefugt, Schon beriihrt 
namentlich die sanfte traumerische Weise, in welcher 
der Gedanke an den Tod (wQuando corpus morietur«) 
vorgefiihrt wird. Der letzte Theil mit dem »Amen« ist 
kunstvoU im doppelten Contrapunkt gearbeitet und unter- 
stiitzt den Ausdruck der aufs Paradies gerichteten Stim- 
mung durch bedeutende Wirkungen im Klang. 



Das »Te deum«, der sogenannte Ambrosianische 
Lobgesang, ist die officielle Festhymne, mit welcher die 
Kirche Gott dem Vater und Gott dem Sohne ihrenDank 
fur ausserordentliche Gnadenacte darzubringen pflegt. 
Seit dem vierten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung 



-^ 288 -o=«- 

bis heute wird das »Te deum« bei hohen Feiertagen der 
Kirche und dann angestimmt , wenn ausserordentliche 
freudige Ereignisse im staatlichen Leben einen kirchlichen 
Ausdruck heischen. Das »Te deunrn ist eins der festesten 
Bander, welches die Kirche mit dem allgemeinen Volks- 
leben, ohne Riicksicht auf Parteien und Confessionen, 
verkniipft, unter den Hymnen eine der fantisievollsten 
und schwunghaftesten Dichtungen. Sie bringt der Ton- 
kunst schone und dankbare Aufgaben entgegen wie kaum 
eine zweite. Welcher Kiinstlergeist wiirde nicht ent- 
flammt, wenn er in den einzelnen Versen die Chore der 
Engel, der Cherubim und Seraphim, die Ch6re der Pro- 
pheten, der Apostel nach einander herschreiten sieht, vor 
dem Thron des Vaters und des Sohnes Jubel, Dank und 
Bitte vorzusingen! Wie greifbar stehen diese Bilder vor 
der Fantasie und wie natiirlich setzen sie die musika- 
lischenMittelinBewegung! Naich den neuerenForschungen 
stammt der Hymnus aus antiker Quelle. Ambrosius fand 
ihn in der musikalischen Form vor, welche im Wesent- 
lichen noch der Fassung der neuesten Liturgien zu Grunde 
liegt: als Wechselgesang. Aber wahrscheinlich hat der 
Bischof von Mailand an der lateinischen Uebersetzung 
des Lobgesanges und an seiner Einfiihrung in die abend- 
landische Kirche personlichen Antheil gehabt. Die Melo- 
dien, in welche er zu jener Zeit gekleidet war, kennen 
wir nur in Gregorianischer Umpragung. Die Kirche hat 
sich mit ihnen lange allein begnugt. In der Zeit, wo die 
kunstvolle Zurichtung der Messgesange bereits in hoher 
Bliithe stand, sang man das »Te deum« vorwiegend ein- 
stimmig weiter. Die Zahl bedeutender Chorwerke auf 
Grund des Ambrosianischen Lobgesanges, welche aus der 
grossen Vocalperiode bekannt sind, ist verhaltnissmassig 
eine geringe, und nur sehr wenige sind davon neu und 
in Partitur gedruckt. Unter ihnen nimmt nach Alter, 
Grosse der Aniage und innerem Werth das achtstimmige 
)>Te deum« von Jacob Vaet, welches Commer in der 
»Collectio operum musicorum batavorum« mittheilt, die 
erste Stelle ein. Nach ihm ware das von demselben 



289 



Herausgeber in seiner »Masica sacra« veroffentlichte »Te 
deum« des Orlandodi Lasso anzufuhren. Weiter sind 
in den Sammelwerken von Proske, Liick, Alfieri, Eslava 
Compositionen von beiden Anerio's, G. Festa, Gallus, Ortiz, 
zu nennen. Deutsche Compositionen in verschiedenen 
deutschen IJebersetzungen von Hassler, Praetorius, Schein 
u. a. theilen Teschner, Tucher und Becker mit. Die- 
selben sind durchschnittlich kurz ohne Ausftihrung der 
einzelnen Versbilder. Das bekannte »Te deum« in dem 
Satze des Calvisius kann fiir sie als Muster gelten. 
Am zahlreichsten sind die neuen Partiturdrucke vou 
»Te deums« englischer Componisten des 16. und 47. Jahr- 
hunderts. Von Byrd und Gibbons ab sind die namhaften 
Tonsetzer En glands einer nach dem an dem in Novello's 
patriotisch praktiscber Sammlung: »Services, Anthems 
etc.« in erster Linie mit Compositionen des Ambrosiani- 
schen Lobgesanges vertreten. Diese englischen »Te deumsa 
pflegen an derSpitze einer Reihe von Messs^tzen zu stehen. 
Henry PurcelTs Composition ist davon die bedeu- 
tendste undwurde die beriihmteste. Vom Jahre 4 694 ab 
wurde es wenigstens in London an jedem CficiUentag 
aufgefiihrt und lebt noch heute in der Praxis der eng- 
lischen Kirchenchore. Kein Weihnachten ohne Purcell's 
»Te deumec wenigstens in einer der musikalischen Kirchen 
der Hauptstadt! 

Unter den grossen Tonsetzern der nachsten Zeit, 
deren »Te deumsa besonders angesehen waren und Ver- xe Denms von 
breitung fanden, sind zu nennen Lully , Fux, Caldara, Lnlly,Fiix, Gal- 
Durante, Leo. Die von Fux und Durante sind im dare, Durante. 
a capella-Style und in einem Zuge fugirend durchge- 
fiihrt. Das von Caldara hat Orgelbegleitung. Zu denen 
von Lully und Leo begleitet das Orchester. Sie stehen 
in D dur wie die Mehrzahl der weiteren »Te deums« der 
Instrumentalperiode. Denn D dur war die Leibtonart der 
alten Trompeten, welche fortan beim Ambrosianischen 
Lobgesang im Chor der Instrumente eine Hauptstimme 
erhielten. Derjenige Tonsetzer, welcher in dieser Period e 
das »Te deum« am herrlichsten zu singen verstand, war 

II, 1. 49 



H. Fnrcell, 
Te Deum. 



Leo. 



i 



-^ 2190 ^ 

Q. F. Hftndel, unser G. F. HUndel. Er nahm von diesem Felde, auf 
utrechter Te welchem er bis zur Gegenwart als der Erste hervorragt, 
^®^™- zaerst i. J. 4 74 3 Besitz und zwar mit der Composition des 
sogenannten Utrechter »Te deums«. Dieses Werk hat fiir 
dieLebensgeschichteH&nders vorubergehend unangenehme 
Bedeutung gebabt. Handel's damaliger Brpdherr, der 
Kurfiirst von Hannover, gegen dessen Interesse die Be- 
schlUsse des Utrechter Congresses gingen, nahm es seinem 
Capellmeister iibel. Die Ungnade des nachmaligen Konigs 
Georg I. war die Folge dieser Composition; erst die 
»Wassermusik<( i. J. 474 5 brachte das Verh^ltniss wieder 
ins Gleiche. H3,ndel hat, wie Chrysander aus dem Ver- 
gleiche der beiden Werke schliesst, bei der Composition 
dieses »Te deums« das eben angefiihrte von Pur cell ab- 
sichtlich zum Modell genommen und ist ihm in der An- 
lage und Auffassung einzelnerTextabschnitte genaugefolgt. 
Der Schnitt ist aber grosser, und namentlich ein Punkt 
unterscheidet H&ndel in dieser und in alien folgenden 
Vocalcompositionen mit Begleitung immer starker von 
diesem und von anderen Vorgangern, — wir diirfen sagen, 
auch von Zeitgenossen und Nachfolgern: das ist der 
Glanz und der Ideenreichthum in seinem Orchester. Steht 
das Utrechter »Te deum« in dieser Beziehung auch noch 
nicht durchaus auf der hochsten Stufe, so entfaltet es 
doch in der Mehrzahl seiner Satze diesen Vorzug der 
HlUidelschen Kunst deutlich genug. Er kommt in der 
Wahl der Instrumentalfarben zum Ausdruck, in der Wahl 
der begleitenden Motive und in der Anlage der Vor- und 
Nachspiele. Meisterhaft weiss Hslndel den geistigen 
Strahl eines dichterischen Gedankens zu gleicher Zeit nach 
zwei Seiten bin leuchten zu lassen durch ein scheinbar 
ganz einfaches Mittel: Er theilt die Vocalpartie und die 
Instrumentalpartie in die Aufgabe. So sehen wir im ersten 
Satze dieses «Te deums« mit dem schmetternden und 
rauschenden Ausdruck des Jubels auf Grand desMotivs: 
^m^^Q das Orchester betraut, wahrend 

JLjinff r ^ r r r fl f CLT r - ^^^ ^^^^ zunachst das Lob des 
^ 11" " u ^ I r I J ' ' ^ W' Herrn nur in feierlich gemes- 



-^ 291 ^ 

senem Satze vortragt, aus welchem lange Tone einzelner 
Stimmen zuweilen wie der Ruf des begeisterten Herolds 
heraustreten. Erst spater stimmt er auf eine Weile in die 
frShliche Weise der Instrumente mit ein. Schon ist be- 
sonders das mehr und mehr verklingende selbstandige 
Nachspiel des Orchesters. Es gleicht in der Idee ganz 
dem zu dem Engelchor im »Messias«: i>Ehre sei Gott«. 
Nach demselben Princip: mit gegensatzlichen Mitteln 
nach dem gleichen Ziele zu steuern, ist auch die Doppel- 
fuge : «Te aetemum patrem« (»A11 the earth doth worship 
thee«) entworfen. Das eine Thema spricht, das andere 
jubilirt. Als dann die Instrumente in die Achtelg&nge 
des letzteren einfallen, richtet sich der Chor zu gewaltiger 
Entschiedenheit auf und declamirt, in Pausen absetzend, 
machtig bedeutungsvoll ein dreimaliges »te« (»thee«). Von 
dieser Doppelfuge ab, die auch nicht umfangreich ist, 
lauft das Utrechter »Te deum« auf eine lange Strecke in 
lauter kurzen Satzchen weiter. Entschiedener als andere 
Componisten dieser Hymne hat in ihnen Handel sich dem 
Dichter angeschlossen. Es diinkte ihm eine besondere 
und herrliche Aufgabe, die Gestalten, welche zum Lob- 
gesange antreten, klar musikalisch zu personificiren. So 
kommt der Chor der Engel im Duett zweier Altstimmen, in 
welches Tenor und Bass im Einklange wie eifrig staunend 
hineinrufen und begleitet von jenem bekannten Rhythmus 
• aff 9ff( des Streichorchesters, welchen Handel so oft 
>■ ■ ' ■ ■ f zum Hintergrtindpathetischer Situationen ver- 
wendet. Die Cherubim und Seraphim werden durch zwei 
Solosoprane angekundigt. Das »Sanctus« selbst singt ein 
funfstimmiger Chor in einem einfach ergreifenden, kirch- 
lich und voll klingenden Satz. So ziehen, jeder von einem 
eigenen Lichte beschienen, weiter noch die .Chore der 
Propheten, der Apostel und der Martyrer voriiber. Die 
Gestalt der heiligen Kirche vereint wieder alle singenden 
Krafte, und in einem ausdrucksvoUen Adagio verbeugen 
sie sich gegen die hier zuerst in den Gesichtskreis des 
Dichters tretende Dreieinigkeit von Vater, Sohn und 
h. Geist. In dem Chor »tu rex gloriae« (wThou art the 

4 9* 



-^ 292 ^ 

King of Gloryo) bilden die zwei Tacte Adagio auf das 
Wort »Ghriste« (»0 Christ*) einen eindringlichen Hohe- 
punkt. Der n&chste Satz beginnt ernst mit der 6e- 
trachtung Uber die Menschwerdung Christi: >When thou 
tookest upon thee« (»Tu ad liberandum etc«). Beim Ein- 
tritt der Worte »thou didst open« (»tu aperuistiu) schlagt 
im hellen Gegensatz Moll nacb Dur um, Adagio wird 
Allegro, die Soli lost das Tutti ab. Das alte venetianische 
Stylmotiv des Tempowechsels ist hier mit besonderem 
GlQck verwendet und bestimmt den Eindruck der Stelle. 
Sucht man nacb verwandten Wirkungen, so liegt der 
Vergleich mit dem »Et resurrexit« der grossen Messe S. 
Bacb's und anderer Hocb§,mter aus der Instrumental- 
periode am n&cbsten. Kam dieser Einfall wie ein ziin- 
dender Funke, so bildet die anschliessende Fuge »tbou 
sittest at the right handa (»tu ad dexteram del patris>) das 
entfachte grosse Feuer. Unter den knappen Satzen dieses 
»Te deums« bildet sie einen der imposantesten. In der 
folgenden Nummer »We believe that thou shall come« 
(»Iudex crederisn) ist der Eintritt des vollen Chors, der 
ernst und in ganz einfachen Wendungen zu beten beginnt 
machtig ergreifend. Den festlich volksthiimlichen Gha- 
rakter des Utrechter »Te deumsa bringt der Satz: »Day by 
day« (»Per singulos diesa] besonders treffend zum Ausdruck. 
Handel hat den sechsstimmigen Chor in zwei Gruppen 
getheilt, welche die munteren Motive der Themen in 
unaufhorlichem Wechsel nach alien Richtungen des Ton- 
gebietes tragen. Im Orchester sind die HUndelschen 
Originaltrompeten sehr wichtig. Mit den Holzblasern con- 
certirend, sich ablosend und vereinend, vervoUstandigen 
sie das bunt und krRftig bewegte Festbild, welches der 
Satz enthalt, mit den Reizen allgemein verstandlicher 
kiinstlerischer Spiele. Der Satz »Youch safe o Lord« 
(»Dignare dominea) hat durch das Festhalten an dem Motiv 
Ada gio. einen eigenthiimlich besorgten Zug. Er 

A .9 f'ff f bleibt auch noch in dem Schlussabschnitt, 
*^ wo der eintretende Chor in neuen musi- 

kalischen Weisen der Hoffnung auf Gottes Gnade Aus- 



-^ 293 ♦- 

druck geben soil. Dem Schlusschor »0 Lord in thee have 
J trasted« >In te do- ADeyro. >^ 

mine») hat Handel das / J f | f T' P If '^ ' jl* T I '" I'f' 
altliturgische Motiv ™* 

— es kommt bei H&ndel haufig vor — als Motto voran- 
gestellt. In der Verwendung der frohlichen kurzen Gegen- 
themen, welche es bald umschwS,rmen , in der kiihnen 
Mischung kirchlich feierlicher und kr^ftig ungebundener 
popularer Elemente spricht schon der SchSpfer des Lob- 
gesangs im »Israel<r, des »Hallelujah« im »Messias«*. Das 
Utrechter »Tedeum« war eins der friihesten Werke Hfindel's, 
welche sich in Deutschland verbreiteten. J. A. Hiller 
brachte es im Jahre 1779 im Concert spirituel zu Leipzig 
zur Aiiiffuhrung und verdffentlichte es bald darauf in einer 
Partiturausgabe. In ihr ist der englische Text durch den 
lateinischen ersetzt. Aus den Aenderungen, welche Hiller 
in der Instrumentirung vornahm, ersieht man mitlnteresse, 
dass wenigstens in dem Gesichtskreis, welchen Hiller iiber- 
sah, die Kunst des Clarinblasens bereits erloschen war; 
denn der Herausgeber anderte die Handelschen Trompeten 
durchweg mid nahm damit dem Werke einen Theil seiner 
bezeichnendsten Effecte. Heute kann das Princip nur 
sein, auf das Original zuruckzugehen mid zwar nicht 
bios diesem »Te deum« gegeniiber, sondern bei alien 
Werken Handel's und seiner Zeitgenossen. Wollen wir 
den Geist der alten Kunst, so konnen wir ihre Mittel 
nicht entbehren. Es ist ein besonderes Verdienst der 
Berliner Hochschule und der Joachim'schen Bachauf- 
fuhrungen, diesem Grundsatz in neuerer Zeit consequent 
Geltung verschafft zu haben. 

Was den kUnstlerischen Charakter von Handel's 
Utrechter »Te deum« betrifft , so besteht seine Eigenthiim- 
lichkeit darin, dass es die Motive des Gedichts im An- 
schluss an die Vorlagen der englischen Tonkunst in einer 
Knappheit ausfiihrt, welcher dem Geiste der musikali- 
schen Grundgedanken nicht gerecht wird. Diese Satze 
gleichen vorlaufigen Skizzen, und als solche scheint sie 
Handel selbst betrachtet zu haben. In den weiteren drei 



»Te deumsw (Bdur, Adur, Ddur), welche er in den Jahren 
4718—1720 in Cannons schrieb, kommt er auf ganze 
Satze und auf einzelne Ideen seines Utrechter »Te deums« 
fortwahrend erweiternd und umgestaltend zuriick. Das 
G. F. H&ndel, erste in B dur ist unter diesen das Yollkommenste. In 
Te deum in B. der Anlage und dem Umfang der Satze steht es uber 
jedem Vergleich mit dem Utrechter. Es enthait einen 
einzigen reinen Solosatz : »When thou tookest upon theea 
(»Als Du auf dich genommen«), eine sanfte Arie, welche 
H§,ndel spater fiir das Dettinger »Te deum< benutzte. Alle 
tibrigen Nummern sind Chore von merkwiirdiger Besetzung : 
einfacher Sopran, drei Tenore und Bass. Zum Theil 
Ziehen sich Soli in diese Chorsatze hinein. Wenn man 
irgendwo die Freiheit und Unbefangenheit von Erfindung 
und Haltung bewundem kann, so in diesem Bdttr-»Te 
deum«. Weltfrohliche und andachtig erhabene Gedanken 
treten nahe aneinander, Volksfest und Gottesdienst schei- 
nen vermischt — und doch: ein Ganzes, welches hoch 
iiber der Sphare des Gewohnlichen steht. Nirgends spricht , 
die Kraft Handel's starker als aus dieser Ungezwungen- 
heit. Leider ist das Werk bisher ziemlich unbenutzt 
geblieben. An Reichthum und Glanz der Instrumentation 
wird es von dem weltbekannten Dettinger »Te deum« iiber- 
troffen, an innerem Tonleben wohl kaum. Das Dettin ge r 
G, F.Handel, »Te deum« schrieb Handel in seiner Stellung als Hof- 
Dettinger Te componist zuT Feier des Sieges bei Dettingen, an welchem 
deum. ^gjn Konig von England, Georg II., personliche Verdienste 
zugeschrieben wurden. Alle »Te deums« HandePs stammen 
aus Perioden, in welchen auch das aussere Leben des Com- 
ponisten unter gliicklichen Sternen stand. Die Zeit, in 
der das Dettinger »Te deum« entstand, war unter diesen 
sonnigen Abschnitten in Handel's Leben einer der er- 
quickendsten , die Zeit der Ruhe nach rauhen Stiirmen, 
die Zeit, wo Handel sich der eigenen Meisterthaten, der 
VoUendung von »Israel«, »Messias«, »Samsona und »Judas 
Maccabaus« freuen durfte. Die personliche Stimmung des 
Meisters mag wohl den grossen und auch flotten Zug, 
der durch das Dettinger »Te deum« geht, mit begiinstigt 



-^ 295 ^ 

haben. In einzelnen Partien dieses Werkes ist die Auf- 
gabe, den Jubel nnd die fromme Dankbarkeit eines ganzen 
Yolkes zmn Ausdruck zu bringen, mit einer Kraft und 
Anschaulichkeit gel5st, welche ohne Vergleich und einzig 
colossal dasteht. In vorderster Linie steht unter diesen 
Partien der Eingang des ersten Satzes. Wir wissen von 
»Te deanis«, in welchen die Componisten (Sarti, Neu- 
komm) Kanonen nnd Glocken znr Mithilfe riefen, von 
anderen (Paisiello), in welchen MUrsche fiir Massencorps 
von MUitarmnsikem eingelegt waren. Handel hat hier 
solche ersch^tternde Wirkungen, ohne Theatercoup und 
ohne den Styl der hoheren Kunst zu durchbrechen , er- 
reicht. Trompeten und Pauken — bei der ersten Londoner 
Handelfeier im Jahre 4 784 waren die ersteren zu vierzehn 
besetzt — mit den HolzblHsern und mit den Violinen 
abwechselnd und zusammentretend, geben ein glanzendes, 
ein berauschendes Bild vom Jubel eines begeisterten 
Volkes — nebenbei in den Motiven mit der Einleitung zu 
Bach's i»Weihnachtsoratorium« ziemlich iibereinstimmend. 
— Da rauschen breite T5ne im Chore auf und mit einem 
Hauch ist das laute Treiben der naiven profanen Freude 
in die hdhere Stromung religiSser, weihevoller Andacht 
eingeleitet. Kein spHterer Musiker hat den zwingenden 
Eindruck dieser Stelle iiberboten. Unter denen, welche 
ihm nahe zu kommen gestrebt haben, ist Brahms mit der 
Einleitung seines »Triumphliedes« zu nennen. Vieles im 
Dettinger »Te deum« erinnert uns an andere Werke Han- 
del's: Der erste Dreivierteltakt — zu den Worten: »A11 
the eartha (»Alle Welt etc.«; — an eine Arie des »Israelcr, 
eine ganze Periodengruppe in »To the Cherubim « (»Stimmt 
an Cherubim« etc.) ist gleichlautend mit einer im »HalIe- 
lujahci. H&ndel fragte nicht nach der Originalitat der ein- 
zelnen Ideen, sondem nach ihrer Zweckmassigkeit. In 
diesem Sinne hat er fiir dieses Dettinger »Te deum« auch 
die Arbeit eines anderen Componisten, das »Te deum« 
des F. A. Urio mit benutzt. Ein besonderes Kennzeichen, 
welches aber das Dettinger »Te deumv von den anderen 
Compositionen des Ambrosianischen Lobgesanges aus 



-^ 296 ^ 

Handel's eigener Feder noch mit unterscheidet, liegt 
darin, dass dem jubelnden Ton ein emst sinnender, ge- 
fasster, ehrfurchtsvoller die Wage halt. Seinen Ausdruck 
findet er in feierlichen Episoden einzelner Stimmen, in 
liturgischen Citaten, namenilich aber in dem ruhig fromm 
ausklingenden Schlusssatze und in der diesem vorher- 
gehenden herrlichen Bassarie »Youcb safe o Lord« (»Be- 
wahre uns Herr«, im lateinischen Text »Dignare«], einem 
Meisterstuck des Handelschen Ariosostyls. 

Nach HS^ndel waren es unter den namhaften Ton- 
setzern, welcbe mit Gompositionen des Ambrosianischen 
Hymnus vertreten sind, namentlich Graun und Hasse, 
deren Arbeiten weiter verbreitet waren. Auch ein »Te deum« 
N. Jomelli's, »das r6mische« genannt, wird mit Aus- 
zeichnung erw&hnt, scheint aber nur selten aufgefuhrt 
C. H. Graun, zu sein. Von Graun existiren zwei. Das zweite (in D dur), 
Zwei Te deums. welches nach dem Tode des Componisten in der Schloss- 
kapelle zu Charlottenburg i. J. 4 763 zur Feier des Hubertus- 
burger Friedens aufgefiihrt wurde, hat sich bis in die 
dreissiger Jahre unseres Jahrhunderts in Chorauffiihrungen 
behauptet. Die Chorstimmen, die concertirenden Horner 
und Flo ten und die tibrigen Orchesterinstrumente iiber- 
decken die vorwiegend weichen Grundgedanken dieser 
Composition mit einer Fiille liebenswiirdigen Schmuck- 
A. HasBe, werks. A. Hasse werden ftinf »Te deums« zugeschrieben. 
Te deum. Das eine in D dur, aus der mittleren Periode des Tonsetzers 
stammend, — noch i. J. -1846 bei Peters mit deutschem 
Text yon G. W. Fink neu gedruckt -^ erlangte eine ausser- 
ordentliche Beruhmtheit. In Dresden war es das st§.ndige 
Feststiick, die Cantoren in den Provinzen strebten nach 
ihm als der denkbar hochsten Zierde ihrer Feiertags- 
musiken. In der Kirche hat es bis auf den heutigen Tag 
seinen Platz noch nicht ganz verloren. Wenn es aus 
dem Concert verschwunden ist, so liegt das an der etwas 
zu alltaglichen Frohlichkeit, mit welcher in dem Ein- 
gangssatz (»Te deum laudamusa) und in dem fugirten 
Schlusssatz (»In te domine speravi«) der Chor sich mit Lob, 
Dank und Bekenntniss zu Gott dem Herrn wendet. In den 



-^ 297 ^ 

Ubrigen Partien geht der Ton glanzender Lebendigkeit, 
welcher tins die Messen Hasse's verleidete, nicht Uber 
das beim »Te deuma zul3,ssige Maass. Bei diesem Stiicke 
hat die Kirche fast immer der profanen Tonkunst erlaubt, 
mit einzustimmen. In dem Hasseschen i>Te deumx macht 
letztere von diesem Rechte mit der flotten Orchesterphrase 
AHe^o Ms ai. ,,^ Gebrauch, welche in der Form 

j|!ii'»plt.rrprr'T] " von Zwischenspielen und Be- 
^^ ^ *■■!« I ' ri' gleitungsmotiven die ganze 
Composition durchzieht. Sie klingt in die vorwiegend ein- 
fachen, oft sehr eigenthiimlich gruppirten und machtig 
ergreifenden SUtze des Sangerchors hinein, so wie der 
Larm der jubelnden Menge draussen vom Platze her ins 
Innere der Kirchenhallen schallt. Das ganze )>Te deum« 
erhait durch die Durchfiihrung dieses leitenden Motivs 
den Charakter einer einzigen grossen Scene, seine Form 
einen Reiz, welcher Basse's geistiges Eigenthum allein 
war. Die Mitte des »Te deums« wird von einer maassvollen 
und passenden Arie tiber die Worte »Salvum fac populum 
tuums gebildet. 

Aus der grossen Menge hausbackener Gelegenheits- 
compositionen , welche in dem letzten Drittel des acht- 
zehnten Jahrhunderts von bekannten Tonsetzern wie 
Brixi, Ciampi, Gazzaniga iiber das »Te deum« ge- 
schrieben wurden, erhebt sich das kleine »Te deum« 
Mozart's vom Jahre 4770. Es entstand auf Bestellung W. A. Moaart, 
der Kaiserin Maria Theresia. Merkwiirdiger Weise hat die Te denm. 
Begleitung keine Blasinstrumente. Den HShepunkt des 
Werks bildet die Doppelfuge iiber »In te domine speravi«. 
Ein interessantes »Te deuma jener Periode ist auch das 
von Ferradini. Es besteht, wie die alten englischen, 
aus einer Menge kleiner Satze. Alle diese einzelnen 
Bilder sind aber mit ausgezeichneter Sorgfalt ausgefuhrt. 
Als ein )>Te deum«, welches sich auf den Programmen des 
letzten Jahrzehntes des vergangenen Jahrhunderts haufiger 
findet, ist das von Ehregott Weinlig zunennen. Die 
durch Kunstwerth und Verbreitung bedeutendste Com- j. Haydn, 
position der Periode ist das zweite ))Tedeum«J.Haydn's Te denm. 



-fr 298 

(vom Jahre 4800), welches mit dem — auch vielen anderen 
Compositionen der Hymne untergelegten — deutschen 
Texte von Clodius : »Sieh die V51ker auf den Knieen« noch 
heute bei Kirchenauffiihrungen viel benutzt wird. In der 
Behandlung einzelner Textstellen (»Sanctus«i z. 6.) stimmt 
es mit dem Hasse'schen »Te deuma uberein, nimmt aber 
den Festton im Ganzen um einige Grade feierlicher. Durch 
die Einfiigung hochernster, pathetischer Episoden (»Te ergo 
quaesumuscc, »sine peccato« und »non confundar in aeter- 
num«) ist ihm ein Zug von Schonheit gegeben, welcher 
es dem Dettinger »Te deum« Handel's geistig naher 
bringt. 

Von den vielen Compositionen des »Te deuma, zu 
welchen die Kriegsperiode Napoleon's I. Veranlassung 
gab, ist keins zu bleibender Bedeutung gelangt. Als 
solche, welche wenigstens in der Zeit ihrer Entstehung 
und in den nachsten Jahren einen grosseren Erfolg ern- 
teten, sind das erste von J. v. Seyfried (C dur) zum Ein- 
zug des Kaisers von Oesterreich i. i. iSii componirte, das 
von G. Weber und das von F. Him m el zu erwahnen. 
Das letztere ist vielleicht die ausfiihrlichste Composition 
der Ambrosianischen Hymne. Auch die drei ))Tedeums«von 
dem bis zur Mitte dieses Jahrhunderts als Kirchenmusiker 
noch sehr geschatzten Aug. Bergt, welche in diese Zeit 
fallen, genossen ein allgemeines Ansehen. Wie die 
anderen Werke dieses Tonsetzers, zeigen auch diese 
»Te deums« in den Themen und ihrer Ausfiihrung Mozart- 
schen Einfluss; aber in ihrer Anlage herrscht eine er- 
freuliche Urspriinglichkeit, Einfachheit und GrSsse des 
Styls. Namentlich das dritte (op. 4 9) wirkt mit der Gegen- 
iiberstellung von recitativartigen Solosatzen und Chor- 
stellen sehr gliicklich. Mit den Bergt'schen Compositionen 
des Lobgesangs concurrirten die von J. G. Schicht, der 
das »Te deum« dreimal componirte, einmal nach dem 
Text von Klopstock. Gedrackt sind nur ein lateinisches 
vom Jahre i 824 , welches sich an die Handel'sche kurz- 
satzige Form anschliesst und neben wirklich erhabenen 
Stellen auch einige schwachliche in Naumann's Weise 



Ik 



-fr 299 ^ 

enthalt, und das »Te deum« (nach der Parodie Witschers) • 

vom Jahre 4 822. Dasselbe (dem Universitatssangerverein 

zu St. Pauli gewidmet) gehort mit den }>Te deums« von 

F. A. Haser und B. Klein zu den bedeutenderen Com- 

positionen fiir Mannerchor, welche wir aus jener Periode 

besitzen. Nach Bergtund Schicht haben Abt V ogle r und 

W. Tomaschek Compositionen des »Te deums« geliefert, 

welche sich durch Selbstandigkeit auszeichneten. Eine 

praktische Bedeutung gewannen jedoch dieseArbeiten nicht. 

In Frankreich sind in der Periode von Bergt und Schicht 

die drei »Te deumsc< von J. F. Lesueur, dem Componisten 

der »Barden«, einem auch auf dem Gebiete der Kirchen- 

musik originellen Tonsetzer (5 Messen, 2 Passionen, i »Sta- 

bat' etc.) hervorzuheben. Das »Te deum« von Berlioz, H, Berlioz, 

welcher in neuerer Zeit haufig mit Lesueur in Zusammen- Te deum. 

hang gebracht wird, ist als Theil einer unausgeflihrt ge- 

bliebenen grossen musikalischen Epopoe auf Napoleon I. 

entworfen. Berlioz, dachte sich dieses "Te deum« in dem 

Augenblicke angestimmt, wo der Consul, vom italienischen 

Feldzug zuriickgekehrt, Notre Dame betritt. Fiir diesen 

gewaltigen Dom sind die Wechselaccorde von Orchester 

und Orgel, sind die drei Chore (zwei dreistimmige und 

ein einstimmiger, mit Mannern und 300 Kindern zu be- 

setzender) und eine Menge anderer Effecte des Werkes 

berechnet. Die Fantasie des Tonsetzers war mehr von 

dem Bilde einer grossartigen kirchlichen Cermonie erfiillt, 

als von den Worten des Textes selbst. Dieses »Te deum« 

ist noch viel theatralischer als das »Requiem« von Berlioz 

und voU von der kiinstlichen Monotonie liturgischer 

Motive, colossaler Psalmodien und der Steifheit tenden- 

zioser Contrapunktik. Bei alien Eigenheiten wird man 

ihm aber einen hochfeierlichen und fesselnden Grundton 

nicht absprechen konnen. Der musikalisch schonste 

Satz ist wTibi omnes angeli«, ein Stiick von der besonderen 

fast gewaltsamen Innigkeit Berlioz's. Im Jahre 4 835 ge- 

schrieben, ist das Werk erst 1853 (zu London), von da 

ab bis 4 883 (Bordeaux) nicht wieder aufgefiihrt worden. 

Seit 4 884 hat es in Deutschland die Aufmerksamkeit 



-fr 300 ■»>- 

erregt. Die Partitur ist schwer zu haben, dagegen darf der 
englische Clavierauszug auf Verbreitung rechnen. 

Aensserst schwacb ist die jiingste Generation der 

Tonsetzer mit Compositionen des »Te deums« im Concert- 

J. Kiets, repertoir vertreten. Ausser dem ftir Mfinnerstimmen 

Te deum ffir geschriebenen »Te deum« von J. Rietz, einer tuchtigen, 
fur das [Dresdener Sangerfest (i. J. 4 865) bestimmten 

A. Bruckner, Gelegenkeitsarbeit, hat nur das von Anton Bruckner 
Te deum in c. jf^y gemischten Chor , Soli und Orchester) componirte 
ausserhalb des Ortes der Entstehung und ersten Auffuhrung 
das Interesse bestimmter Kreise gefunden. Den Text be- 
handelt diese Composition mit einer in der Geschichte 
des »Te deums« einzigen Subjectivitat: Die Elemente des 
Zagens und Bangens stehen dermaassen im Vordergrund 
der Bruckner'schen Musik, dass der Charakter und Zweck 
eines Lobgesanges ernstlich gefahrdet erscheinen. Auch 
der innere musikalische Ausbau dieses »Te deums« erregt 
viele Bedenken und lasst in der Wahl von einzelnen The- 
men , in der Durchfiihrung barocker Begleitungsmotive, 
in der unmotivirten Hingabe an rein musikalische Ideen, 
welche zum Theil auch noch Reminiscenzen aus Werken 
Wagner's sind, den durchgebildeten Geschmack und 
die Reife des kiinstlerischen Wesens empfindlich vermis- 
sen. Kein Zweiter unter den neueren Tonsetzern zeigt 
die fatale Aehnlichkeit mit der zwiespaltigen Natur des 
iiberbildeten Abt Vogler so stark wie Bruckner. Aber 
Grosse der Intentionen und der Stimmung wird man 
diesem »Te deum« nicht absprechen konnen. Namentlich in 
den kurzen, breit rhythmisirten Schlusswendungen seiner 
kurzgestalteten Satze riihrt und ergreift das Werk oft 
tief. Dem Schlusssatz, in welchem ein Motiv aus dem 
Adagio von Bruckner's eigner E dur-Sinfonie eine hervor- 
tretende Stelle einnimmt, darf dieses Zeugniss im ganzen 
Umfang ausgestellt werden. 



Der grosste Theil der frei gedichteten kirchlichen 
Hymnen, zu welcher Gruppe »Stabat« und »Te deum« ge- 



-^ 301 

horen, fand seine Verwendung beim Gr ad a ale und beim 
Offertorium. Graduale und Offertohum sind Einlage- 
stiicke in der Messe. Das erstere steht zwiscben »Gloria« 
und »Credo«, das letztere zwiscben diesem und dem »Sanc- 
tus«. Das Graduale wurde gesungen, wahrend der Lector 
die Stufen (gradus) zu dem Lesepult binaufstieg, das Offer- 
torium wahrend die Gemeindeglieder ibre Gaben und 
Opfer vor dem Altar niederlegten (offere). Der fromme 
Braucb der friiberen Gbristenzeit ist l&ngst erloscben, 
das begleitende Musikstuck aber und sein Name sind im 
Hocbamt erbalten geblieben. In der Kegel sind Graduale 
und Offertorium kurz, im Inbalte je nacb der kircblichen 
Festzeit bald ernst, bald freudig. Einzelne besonders be- 
liebteTexte sindunz^blbar oft componirt worden: »Tantum 
ergov, »0 salutaris bostiaa, »Ave Maria« und andere Marien- 
byninen in erster Linie. AUe Stylarten sind an der 
Gescbicbte dieser Gompositionen betbeiligt, seit dem Be- 
stehen der Instrumentalmesse jedecb sind Graduale und 
Offertorium in der iiberwiegenden Mebrzabl der Falle als 
Gesangsoli componirt worden, sehr baufig bravourmassig 
auf ausserliche Musikwirkung und Concerteffecte gericb- 
tet. Beim Graduale und Offertorium bat die Kirche nur 
zu oft beide Augen zugedriickt. Es giebt beute nocb 
grosse, gebildete Stadte, in deren Zeitungen man Sonn- 
abend lesen kann, welche Cradualen und Offertorien am 
nacbsten Tage in den einzelnen Kirchen aufgefiibrt 
werden, wer dabei das Solo singt, wer das obligate 
Soloinstrument dazu und wer die Or gel spielt. Docb 
linden wir in beiden Gattungen aucb mancbe Kleinode 
der kircblicben Tonkunst. Um Bekanntes zu nennen: 
Palestrinas's »0 bone Jesu«, »Adoramus tea, Haydn*s «In- 
sanae vanae curae«, Mozart's »Ave verum corpus« sind 
als Gradualen und Offertorien entstanden. Soweit aus 
der Gattung Cborwerke in Betracbt kommen, welcbe im 
beutigen Concert eingebiirgert sind, sollen sie in der Ru- 
brik Motetten ibren Platz mit erbalten. 

Der Gruppe der frei gedicbteten Hymnen stebt eine 
andere gegenuber: die der bibliscben Hymnen. Uir Tex 



4 



-* 302 *- 

ist Wort der heiligen Schrift. Die Psalmen (cantica Da- 
vidis) bilden den grossten Theil dieser Gattung. Im Rang 
stehen ihnen die dem neuen Testament entnommenen 
Hymnen: die sogenannten cantica majora: der Lobge- 
sang der Maria, der Lobgesang des Zacharias und der Lob- 
gesang des Simeon jedoch voran. Der >rste dieser drei 
cantica majora, das sogenannte «Magnificat«, gehort mit 
dem »Te deum« und dem »Stabat mater« zu den grossten 
Hymnen compositionen und ist unter den biblischen Hymnen 
am meisten in Musik gesetzt worden. Da das »Magnificat« 
liturgisch nur eine Nebenstellung einnimmt, so wird 
man die Griinde fiir diese Bevorzugung in der Natur 
seiner Poesie suchen diirfen. Das Wunder der Engels- 
erscheinung, aus welcher er hervorgegangen, der Grund- 
ton schlichter kindlicher Demuth in den Worten der durch 
die Verkiindigung so plotzlich zu unvergleichlichen Ehren 
berufenen Jungfrau, machen diesen Lobgesang zu einem 
der eigenthiimlichsten 'und schonsten unter den Hymnen 
aller Litteraturen. Die musikalische Fantasie wird noch 
dazu durch den Reichthum anschaulicher und zu einander 
contrastirender Einzelbilder in Bewegung gesetzt, welche 
der Lobgesang einfach zusammenstellt. Da stehen die 
Schicksale der Armen und der Hoffartigen dicht neben 
einander. Bei den Tonsetzern des sechzehnten und sieb- 
zehnten Jahrhunderts kamen noch zwei weitere Eigen- 
schaften des »Magnificat« wesentlich in Betracht. Die for- 
melle Eintheilung der Hymne, welche die Anlage in einer 
Reihe kurzer Satze, die dem damaligen Stand der Kunst 
natiirlichste Stylgattung, an die Hand gab, war die eine. 
Die andere war die VolksthlimUchkeit des Mariencultus 
iiberhaupt. So sehen wir denn die Componisten der Vocal- 
periode immer wieder zum »Magnificat« zuriickkehren und 
die acht Psalmentone (Ritualmelodien , welche die Gre- 
gorianische Liturgie fiir die verschiedenen Festzeiten, in 
welchen der Lobgesang gesungen werden konnte, hot) von 
Neuem bearbeiten. Viele veroffentlichten ihre »Magnificats« 
in Folgen von BGchern, eine nach der anderen. Von 
Orlando di Lasso wurden in Stimmen hundert »)Magni- 



-♦ 303 *^ 

ficats« gedruckt, von Palestrina drei Biicher. Verhait- 
nissmfissig viele dieser » Magnificats « der Vocalperiode 
liegen heute in Partiturausgaben vor. Wir nennen nach 
dem Alphabet F. Anerio, J. Fuchs, G. Gabrieli (ein 
8st. und ein 4 2 stimmiges), 0. di Lasso (etiiche fdnfzig in 
Proske undCommer), Lotti, Lemaistre, L. Marenzio, 
G. B. Martini, C. Morales, M. Navarro, D. Ortiz, 
G. P. da Palestrina (fiinfunddreissig*)), G. Pitoni, R. 
de Pareja, B. Ribera, F. Suriano, A. deTorren- 
tes, H. de Vargas, A. Willaert, C. de Zaccariis. 
Aus Novello's bereits beriihrter Sammlung wiirde sich 
diese Liste mit einer Reihe von »Magnificats« englischer 
Tonsetzer, unter denen auch H. Purcell, vervoUstandi- 
gen lassen. » Magnificats « deutscher Tonsetzer und auf 
den deutschen Text componirt, besitzen wir in neuer Par- 
titurform von L. Hassler und J. H. Schein. Die Zahl 
von aiten Stimmenausgaben ist auch bei uns bedeutend 
gross. Als historisch interessante Werke nennen wir aus 
ihnen die »Magnificats« von J. Walther, Luther's Freund. 
Wie beliebt auch in Deutschland die >Magnificats« waren, 
das beweist die Thatsache, dass der Augsburger Speth 
noch im Jahre 4 693 acht solcher Compositionen auf die 
Orgel iibertragen herausgab. R. Schlecht (a. a. S. 265) 
theilt ein altes deutsches »Magnificata eines unbekannten 
Verfassers mit, welches die volksthiimliche Stellung, welche 
dieser Lobgesang in Deutschland einnahm, ebenfalls sehr 
anschaulich kennzeichnet. Dieses »Magnificat«, zur Auf- 
fiihrung in der Weihnachtszeit bestimmt, geht auf den 
sogenannten fiinften Ton. 

AUeg^ro. 

P r r ir r r ir r 'f" r I " 




gni-fi.cat a . ni.ma me - a Do . mi . num. 

Dieses Grundthema (cantus firmus) eroffnet das »Exulta- 
vit«, das j»Quia fecit«, das »Fecit potentiamw, MEsurientes", 
das »Sicut locutus esta und das dem Lobgesang wie auch 



♦) In der Qesammtausgabe von Breltkopf u. Hartel. 



304 



Orlando di 

Lasso, 
Magnificats. 



den Psalmen in iiblicher Weise mit vorausgehendem 
»GIoria« angebangte »Sicut eratir, — also jeden der sechs 
Satze, in welche das nMagniiicata getheilt zu werden pflegt. 
Es wird am Anfang in der bekannten nachahmenden 
Weise durch alle vier Stimmen gefiihrt, aber schon nach 
der ersten Durchftihrung einer von ihnen allein tiber- 
lassen, welche es in grosser rhythmischer Dehnung me- 
lodisch todt bis zum Ende des Satzes durchzieht. Die 
anderen drei singen wahrend dem bekannte Weihnachts- 
lieder, im »Et exultayit« das »Resonet in laudibus*, im 
zweiten Saiz: i>In dulci jubilo, nun singet und seid froh« 
und so weiter: lateinisch und deutsch durcheinander. 
Ja die Naivetat geht, ahnlich wie in der Malerei des 
Mittelalters, welche selbst die Passionsbilder mit Storch- 
nestern und anderen Volksspassen belebte, wiederholt 
bis zu Citaten aus der Goupletmusik jener Zeit: Tacte 
lang erklingen in alien drei oder in nur einer Siimme 
die wohlbekannten Refrains »6ombon Gucu« und andere. 
Die Krankheitserscheinungen der ganzen kirchlichen Com- 
position der Vocalperiode ! Das »Magnificat« hat mit den 
Messen und Motetten aber auch die legitimen Stylgesetze 
gemein. Es entwickelt sich iiber einen cantus firmus 
d. i. eine rituale Gfundmelodie, welche in alien Satzen 
mehr oder weniger rein oder umgeformt wiederkehrt, ganz 
ahnlich wie das bei den Messen auseinandergesetzt wor- 
den ist. Dass zum cantus firmus statt des einen der so* 
genannten acht Magnificattone (Psalmtone) ein weltliches 
Lied gewahlt wurde, wie man in der Messe h§,ufig that, 
kam beim »Magnificatc< nur ausnahmsweise vor. Einen sehr 
haufigen Gebrauch von dieser Ausnahme hat Orlando 
di Lasso gemacht, dessen Composition en des Marianl- 
schen Lobgesanges zu den reizvoUsten Tonwerken ge- 
horen, welche wir im a capella-Style besitzen. Eigen ist 
ihnen ein [freier Styl, der sich an den kirchlichen Ton 
nicht bindet, eine freie Mischung von tiefsinnigem und 
kindlichem; Wesen und ein Reichthum an fantasievollen 
Motiven, welche die einzelnen Textbegriffe naturlich und 
hochst anschaulich beleben. Diese i>Magnificats« sind eine 



-<♦ 305 ♦- 

Fundgrube von treffenden Ziigen musikalischen Klein- 
lebens, und manche Wendungen, welche bei spateren 
Componisten bei der Wiedergabe des »dispersit« und des 
»dimisit« als typische wiederkehren, kSnnen direct auf 
den Miinchener Meister znruckgefuhrt werden. Der frische 
angeregte Zug, welcher diese Compositionen von Grund 
aus erfiillt, erstreckt sich auch auf einen grossen Theil 
der Bicinia mit, der in anderen Chorwerken jener Pe- 
riode oft seltsam beriihrenden Duette, durch welche die 
Tonsetzer ihren kirchlichen Bauten klangliche Abwechse- 
lung zu geben suchten. In den katholischen Kirchen des 
Cacilienbereichs sind diese »Magniiicats« des Orlando 
heute nicht fremd. Auch im Concert wiirden sie sich be- 
wahren. Als zur Einfiihrung in dieses Kunstgebiet des 
Munchner Meisters besonders geeignetes Stuck kann das 
»Magnificat Quarti Toni« genannt werden, das Commer 
als 24. Nummer des II. Bandes seiner »Musica sacra« ver- 
ofFentlicht hat. Der phanomenale Wechsel zwischen Moll 
CDur an der Stelle »spiritus meus« im ersten Satz giebt 
von dem kiihnen Harmoniegebrauch des Lasso, durch 
den er sich in erster Linie von Palestrina und den Ita- 
lienern unterscheidet, einen hellen BegrifF und pragt das 
Bild dieses wunderbar kraftvoUen Tonsetzers ein fiir alle- 
mal ein. Bemerkt sei, dass fiir Concertauffiihrungen dem 
»Exultavit« die liturgische Intonation des »Magnificata vor- 
auszuschicken ist. Man tibertragt sie am besten dem 
Unisono sammtlicher Mannerstimmen. Eins von den 
»Magnificats« Lasso's, deren Wirkung keinem Zweifel 
unterliegt, ist ferner das iiber »Beau le Cristal«. Es ist 
eins von den mehreren "Magnificatsw, in welchen Orlando 
tiefe Lagen der unteren Stimmen vermieden hat. Auch 
andere Tonsetzer der Vocalperiode haben "Magnificats « 
ohne eigentliche Basse geschrieben. Man kann in diesem 
Punkte vielleicht eine Riicksicht auf die geschichtliche 
Persdnlichkeit der SSngerin dieses Lobgesanges erblicken. 
Sie war, wenn diese Auffassung iiberhaupt gelten soil, 
jedenfalls weit davon entfernt, eine Kegel zu sein. Es 
stehen diesen hochliegenden »Magnificats« auch solche fiir 

II, 1. 20 



-^ 306 



A. Lotti, 

Magnificat 
(Cdur). 



A. Galdara, 
Magnificat. 



Mannerstimmen gegeniiber. Selbst in der Zeit des be- 
gleiteten Sologesangs haben die Componisten ihre »Mag- 
nificats" nur sehr selten personlich oder, wenn man so 
will, dramatisch gehalten. Die kleine Gruppe von Com- 
positionen, welche den Lobgesang der Maria in Form 
von reinen oder vom Chor unterstiitzten Solocantaten 
(fiir Sopran oder Alt) behandeln, besteht vorwiegend aus 
Arbeiten des neunzehnten Jahrhunderts. Morlacchi, Neu- 
komm, Frohlich, Klein sind die bekanntesten unter den 
betreffenden Tonsetzern. Unter den alteren Meistern wird 
S. Bach ein kleines »Magnificat« fiir eine Solostimme zu- 
geschrieben, Es ist jedoch neuerdings verschollen. Die 
Soloform tritt beim »Magnificat« viel mehr zuruck als beim 
»Stabat<«, Von den liturgischen Riicksichten abgesehen, 
waren es die kraftigen Bilder im Texte und die ausser- 
ordentliche Schonheit der Ritualmelodien, welche die 
Componisten bei der Bearbeitung dieses Lobgesangs ganz 
unwillkiirlich zum Chore drangten. 

Von den Compositionen des »Magnificats«, welche wir 
aus der Vocalperiode besitzen, sind nur ausserst wenige 
im Concert vertreten. In friiheren Jahrzehnten wurde 
verbal tnissmassig am haufigsten das vierstimmige von 
A. Lotti aufgefiihrt, ein Werk, welches der Poesie und 
Plastik im Ausdruck zwar entbehrt, aber durch formelle 
Vorzlige, Verbindung von Anfang und Endsatz, feine, 
geist- und kunstvolle, dabei fliessende Verkniipfung der 
Stimmen sehr schon wirkt. Besonders gelungen ist in 
dieser Arbeit die Einfiigung der schon en Gregorianischen 
Grundmelodie. (Es ist der sogenannte fiinfte Ton des. 
»Magnificat«, derselbe, welcher oben citirt worden ist.) 
Die dem Chorsatz in der Breitkopfschen Ausgabe bei- 
gegebene Orgelstimme ist entbehrlich, wie bei vielen 
Chorwerken des 4 7. Jahrhunderts. 

Unter den ersten »Magnificats« aus der Instrumental- 
periode sind die von A. Caldara und Fr. Durante 
hervorzuheben. Caldara brachte zwei »Magnificats« in 
Umlauf, von denen namentlich das zweite (in D mit 
grossem Orchester) bedeutendes Ansehen erlangte. Auch 



-♦ 307 ^ 

Seb. Bach hat dasselbe eigenhandig abgeschrieben. Das 
Werk ist heute noch auf vielen Bibhotheken handschrift- 
lich zu finden, aus der Praxis aber verschwunden, — wir 
miissen sagen: leider, und wir dehnen dieses Bedauern 
auf Caldara als Componist kirchlicher Musik im Allge- 
meinen aus. Er ist auf diesem Gebiete eine der bedeu- 
tendsten Kr^fte, eine hoheits voile Erscheinung namentlich 
in der Behandlung des alten antiphonischen Styls. 

Das »Magnificat« von Fr. Durante liegt in ver- Fr. Durante, 
schiedenen neueren Partiturausgaben . vor und erscheint Magnificat. 
in der Bearbeitung von R. Franz, welche das nur aus 
zwei Violin en bestehende Originalorchester an der Hand 
der Orgelstimme zweckmassig erweitert, nicht selten auf 
den heutigen Programmen. Das Werk steht in seinem 
Style noch vorwiegend auf dem vocalen Boden; die In- 
strumente tragen keine wesentlichen Ideen hinzu und der 
Einfluss der neuen Periode aussert sich im Chorsatz 
hauptsachlich nur durch eine grossere rhythmische Be- 
weglichkeit. Das »Magnificattt Durante's ist aber eins der 
liebenswiirdigsten ; im gewissen Sinne darf es als das 
Ideal einer Composition des Lobgesanges betrachtet 
werden. Die Verschmelzung eines brSutlich frohen, hei- 
tern naiven Tons mit einer gehobenen kirchlich heiligen 
Stimmung giebt dem ))Magnificat« von Durante eine Eigen- 
art, die es von alien anderenunterscheidet. Formell ist 
es ausgezeichnet durch die Plastik der Themen, die zum 
Theil sofort wie Volkslieder in Ohr und Herzen haften, 
und durch die meisterhafte Ausnutzung des thematischen 
Materials. Die schonen Weisen kommen alien Stimmen 
zu Gute. Dem ersten sehr breit ausgefiihrten und dem 
letzten Satze liegt als Grundthema der sogenannte erste 
Ton des »Magnificats« unter: 



Mft * - gni r ii.eat a . ni.miL me . a JDo^ ml . num. 

Nach Immer anderen und immer froh bewegten Seiten- 
blicken, welche die Stimmen einander nachthun, kehren 
sie immer wieder freudig pathetisch zu dieser Haupt- 

20* 



--* 308 -»- 

melodie zuriick. Namentlich den ersten Satz gruppirt und 
beherrscht sie in einer grossartigen Entschiedenheit. Wenn 
Durante mit einer bezwingenden und eignen Meisterschaft 
den Ton des Lobgesaages festhalt, so ist er doch von Ein- 
tonigkeit weit entfernt. Das Bild hat die frappantesten 
Schatten; aber sie sind mit einer iiberlegenen Kiirze 
punktirt. Wir finden solche belebende Contraste bei der 
Erw^lhnung der »humilitasa (im ersten Satz), der »Miseri- 
cordiae« im zweiten u. s. w. Dasjenige der aus dem Ganzen 
hervortretenden Einzelbilder, welches der Componist am 
ausfiihrhchsten und mit besonderer Hingabe ausgefiihrt 
hat, ist die Stelle »dispersit superbos^. Die stolz weg- 
streifende Bassfigur, die klagliche Harmonie (cis es g) mit 
der das Tutti darauf antwortet, wirken ungemein male- 
risch. Solosatze hat das »Magnificat« Durante's nur zwei 
und zwar in Gestalt von Duetten: den ersten kurz, aber 
in einem eignen Ausdruck von Ernst bei den Worten: 
»et misericordiae ejus«, der andere au^gefuhrtere zu den 
Worten »suscepit Israel « vertritt in dem Hauptthema 

„ ft ■ J - ■ ■. K ft . a -I - \. am starksten die 

711 P|P p p J^ r ^ nP P PCJ^ volksthiimliche 



Su-fce.plt !•,«.. 1, w-sce-pit gej^g ^^j, Qq^. 

position. Die Anlage von Durante's wMagnificatw ist im 
Wesentlichen eine dreitheilige. Das »Magnificata und 
das »Sicut erat« bilden grosse, einander entsprechende 
Seitenfliigel: der Mittelbau umfasst klargegliedert, aber 
ohne trennende Einschnitte, den ganzen Texttheil von »et 
misericordiae« bis zum » Gloria patri«. 

Die heute bekannteste und am haufigsten zur Auf- 
fiihrung gelangende Composition des Lobgesangs Mariae 
J. 8. Bach, ist das sogenannte grosse »Magnificat« von J. S. Bach. 
Magnificat (in D). Wir besitzen das Werk, welches Spitta in das Jahr 4 723 
setzt, in einer ersten und einer zweiten Bearbeitung. Jene 
hat Polchau schon i. J. iSW im Druck herausgegeben, die 
letztere wurde von der Bachgesellschaft im Jahre 4 862 
veroffentlicht und sie wird neueren Auffiihrungen (haufig 
mit Einrichtung des in den Trompeten schweren Or- 
chesters) in der Kegel zu Grunde gelegt. Das »Magnificat« 



309 ^ 

Bach's, welches als Ganzes schon wegen der Kiirze seiner 
Formen nicht mit den Passionen, der HmoU-Messe oder 
den ersten Cantaten in eine Reihe gestellt werden kann 
und uns als eine Arbeit erscheint, bei der Bach, so wie 
es Handel und die Componisten des il. Jahrhunderts so 
oft thaten, die Vorlagen anderer (italienischer) Compo- 
nisten benutzt hat, nimmt doch unter den Werken des 
Tonsetzers einen eignen Platz ein durch die Kraft seiner 
knappen Chore. Unter den Arien ist die fiir Alt gesetzte : 
aEsurlentes implevit bonis« von hervorragender Schonheit. 
Der erste Chor ist wie ein festlicher Reigen, zu dem 
die Instrumente (das Bach'sche Feiertagsorchester: Orgel, 
Streichquintett: Floten, Oboen, 3 Trompeten und Pauken) 
ein Wettspiel vollfiihren. Die Singstiriimen rufen nur die 
Erklarung in die rauschende und concertirende Sinfonie 
hinein: In unaufhorlicher Wiederholung, als sei des Jubelns 
kein Ende, erschallt von alien Seiten ihr : »Magnificat, mag- 
nificat". Sie singen es auf dieselben Motive, aus welchen 
die Instrumente ihre Freudenkranze winden. Die beiden 
Hauptthemen dieses stiirmischen Praludiums sind die 
Figuren : 



^'lH Jlffrf^^J^ l J^JlJi nnH 




Ma . _ - . gnLfi.eat ma . . . gni.h-oat 

In dem ersteren ist besonders das Quartenintervall wirk- 
sam. Bach ist einer der ersten deutschen Componisten, 
welcher das »Magnificat« in der italienischen Cantatenform 
componirt und den Sologesang zur Ausfiihrung dieser 
Hymne beigezogen hat. Die erste dieser Soloarien tritt 
schon beim («Et exultavit« ein. Der Sopran singt sie. 
Der Bau der Nummer zeichnet sich durch kurze Glie- 
derung aus. Zum Ausdruck des »exultarea, des Jauchzens 
der Seele, dient ein Zweiunddreissigstel-Rhythmus, der 
wie eine Schaumflocke fcBf ■ ii wfTf f/ , ■ zuweilen auch 
den Begleitungsfiguren: i*^'! H l^ ^^^g^^ denOangender 
Singstimme selbst entsteigt. Ein ahnliches Motiv bei 
denselben Worten gebraucht von den Friiheren Lotti (im 
Chorsatze), von den Spateren Fischietti im Solo. Ein 



zweiter Solosopran nimmt die Worte: »Qmsi respexit« auf. 
Das Ritornell zu dieser Nummer ist eine jener aus Se- 
quenzen kiihii aufgethiirmten langathmigen und tief ge- 
schopften Melodien, wie sie Bach eigenthiimlich sind. In 
der Declamation des Textes hat Bach den Begriff der »hu- 
mihtas« doppelt hervorgehoben durch das dunkle Colorit 
der Modulationen sowohl, als auch durch Wiederholungen 
des Wortes. Die Componisten der Vocalperiode gaben 
diesem Begriff schon, wenigstens einzelne, einen beson- 
deren Ausdruck; die der ersten Instrumentalzeit thaten 
dies in der Kegel. Manche, wie Geremia, entwickeln an 
dieser Stelle eine ganz ungewohnliche Weichheit der Mo- 
dulation. Aach dass Bach die Schlussworte des Satzes: 
»omnes generationes« dem Solosopran durch das Tutti 
abnehmen lasst, kommt bei anderen Tonsetzem in der 
friihen Instrumentalperiode vor: So bei Ruggiero Fedeli 
und namentlich bei Albinoni, Bach's Lieblingsitaliener, 
dessen »Magnificat<( dem unsrigen fiir die Anlage hochst 
wahrscheinlich als Vorbild gedient hat. Was aber bei 
dieser Behandlung der Stelle »omnes generationes« be- 
sonders auffallt, das ist der declamatorisah prunkende 
Charakter, mit welchem dieses Thema selbst einsetzt: 

r ''I'f"l«ll|l^'l - dts« be" hLS 

onmes, omne. ge . ne . ra . & . on « ^ haufig VOrkom- 

menden Weise eine Melodie baut, so hat er seine symbo- 
lischen Absichten, welche in diesem Falle keiner weiteren 
Erklaruug bedurfen. In dem wiederholt vom Neuen und 
von anderen Seiten beginnenden Aufmarsch, den die 
Stimmen auf dem Grund jenes Themas vollziehen, ist die 
Stelle (kurz vor dem Schlusse) sehr merkwiirdig, wo der 
ganze Zug bei Trugcadenz und Fermate plotzlich Halt 
macht. Diese Wirkung ist bei Albinoni (durch einen 
verminderten Septimenaccord) leicht angedeutet; in der 
Form, wie sie hier zum Ausdruck kommt; muss sie als 
das eigenste Product der genialen, grossartigen Melan- 
cholie der Bach'schen Natur gelten. Das »Quia fecit « 
ist als Bassarie behandelt. Das Stuck, eben falls wieder 





-* 344 ^ 

sehr kurzgliederig, hat einen kraftig freudigen Charakter: 
technisch ruht es in erster 
Linie auf dem mit Colo- 
raturen umwobenen Motive: Qui* fc-«u ni- 

Die Worte: »Et misericordiae ejus« werden in einem 
liebenswiirdig nachdenklichen Siciliano ausgefuhrt, dessen 
Hannonien, im Wesentlichen mit denselben Bassnoten, 
(basso ostinato), alle fiinf oder sechs Tacte repe- 
tiren. Der Zwiegesang, welchen Alt und Tenor dar- 
iiber anstimmen, 
ruht auf der an- 
muthigen Melodie: 
Aehnlich wie beim »Esurientes« die Floten, gehen hier erste 
und zweite Violinen im Vortrage dieser volksthumlichen 
Weise, wie Arm in Arm, vorwiegend in Terzen einher. 
Das Wort »timentibus eum« hebt Bach auf alle Weise 
hervor: einmal indem er es zwischen bedeutende Pausen 
stellt, das anderemal durch melodische und harmonische 
Accente. Das »Fecit potentiama giebt Bach mit jenem 
alten Kunstgriff der Kraftetheilung wieder, der vielen 
seiner Chorsatze und denen seiner Zeitgenossen eine so 
erstaunliche Wirkung verleiht. Die Mehrheit des Chors 
declamirt die Worte in energisch frischen Rhythm en, 
eine der Stimmen jubilirt dazu in breiten Coloraturen. 
Bei diem Worte »dispersit« bedient sich Bach des Motivs 
fl I , welches seit dem Orlando di Lasso fiir die 

jjl P p ^ ^^ meisten »Magnificats« ublich war. Das Bild 
disperilt. von der Vertreibung der Hoffartigen hat wie 
kein zweites im » Magnificat « die Componisten gefesselt. 
Sie halten sich manchmal ungebiihrlich lange bei dem- 
selben auf, am auffalligsten Samuel Fr. Heine. Auch 
Seb. Bach verweilt einen Augenblick, aber maassvoll bei 
dieser Stelle. Wodurch er sie aber auszeichnet, dass ist 
die letzte Intonation des Wortes »superbos<(. Der Trug- 
schluss und die Pause darnach machen einen Eindruck, 
als wenn ein Windstoss die stolzen vertrieben hatte. Dann 
setzt der Abschnitt »mente cordis sui« ein, durch das 
tiefernste Adagio von dem Vorhergehenden scharf und 



342 ^ 

fast schauerlich gesondert. Bach bezog ersichtlich die 
betreffenden Textesworte nicHt auf »superbos«, sondern, 
wie es das »sui« der Vulgata erlaubt, auf den »dominus 
qui dispersita, den Herrn, welcher die Hoffarligen ver- 
trieben hat. Bach folgt mit dieser Auffassung einem her- 
kommlichen Brauche. Die Mehrzahl der Componisten, 
schon in der Vocalperiode , geht bei den Worten »mente 
etc.« in eine feierliche pathetische Wendung iiber. Die 
besondere Form aber, in der sie Bach ausdriickt, stimmt 
wieder mit der aparten Fassung des Albinoni uberein. 
Von den Spateren ist Ferradini als derjenige zu nennen, 
welcher die Auffassung, von welcher sich Bach und seine 
Vorganger an dieser Stelle leiten liessen, am glanzend- 
sten zum Ausdruck gebracht hat. Bei ihm wirkt nach 
einem trotzigen Chorsatz zu den Worten »dispersit etc.« 
der Eintritt einer von oben herab in majestetischen 
Rhythmen »mente cordis sui« singenden Solostimme be- 
sonders schon. Die fplgende Tenorarie »Deposuit potentes« 
ist eins der schwierigsten Vortragsstucke. Die Seele ihrer 
Tonreihen bildet eine eigenthiimliche Mischung von Be- 
dauern, triumphirender Freude und auch Hohn. Mitleid 
(mit den arm gewordenen Reichen) tief und kurz, Freude 
(iiber die Sattigung der Hungrigen) weich und liebens- 
wiirdig ausgesprochen, hegen auch der schonen Altarie : 
»Esurientes« zu Grunde. Der populare Zug, welchen diese 
Nummer in der Melodik der Singstimme sowohl als in dem 
naiven Concertiren der beiden Floten tragt, war bei der 
Wiedergabe dieser Worte althergebracht. Durante hat 
in dem entsprechenden Chorsatze dieselben Neapolita- 
nischen Sexten- und Terzenparallelen, welche uns hier 
in den Floten so charakteristisch vorkommen. Am wei- 
testen geht in diesem Anspielen auf Bilder aus dem Volks- 
leben bei den Worten »Esu- j ^ ^ ^ ^ i ^ f ^^ r. a. _ i . f <■ 
rientes« Leo, der sie mit fol- ^^^ P P P lu^ i W"faf ^."CJ ^ 
gender Melodie wiedergiebt: •-»*-»* - •"»-*" ^-pie-nt ha. ni. 
Das »Suscepit Israel* hat Bach ahnlich wie das >Et in- 
carnatus« der Hmoll-Messe in den Linien und Farben 
des Wunderbaren gehalten. Die drei oberen Stimmen, 



-^ 313 *- 

welche den Satz ausfuhren, kreuzen und streifen einander 
so eng und eifrig, dass ihre unscheinbaren Melodien unter 
dem feierlich und zart wogenden Klange die bestimmte 
Gestalt verlieren. Der eigentliche Basston fehlt, wie 
ziemlich oft, wenn Bach Gebilde des GeheimnissvoUen und 
Vision aren vor die Fantasia treten lasst. Den letzten 
Strich, um den mystischen und prophetischen Charakter 
des kleinen Tonbildes auszupragen, thun die Oboen, welche 
in hoher Lage zwei Zeilen einer alten Magnificatmelodie 
anstimmen, derselben, welche Bach in der Cantate 
»Meine Seel' erhebt« bringt. Die Instrumente singen also 
Segen und Dank, wahrend die Singstimmen von der 
Menschenwerdung Christi in Passionsstimmung berichten. 
Durch diese tiefsinnige, romantische Auffassung der 
Worte zeichnet sich das »Suscepit« des Bach'schen »Mag- 
nificat« besonders aus. Es ist derjenige Satz, welcher 
den personlichen Stempel seines Tonsetzers am ausge- 
pragtesten tragi Bach's Magnificatintonation ist von 
dem (bei Durante citirten) ersten Psalmenton abgeleitet. 
Auch andere deutsche Componisten, Pachelbel und der 
Zittauer Krieger variiren in ihren » Magnificats « die Me- 
lodien der romischen Liturgie. Wie in anderen Werken 
Bach's auf ein liturgisches Citat ein strenger Satz, so folgt 
auch hier auf die Magnificatmelodie im »Suscepit« das 
»Sicut locutus est« in den^ Formen einer alteren Zeit: 
im a capella-Style. Dem Schweigen aller Instrumente — 
mit Ausnahme des Continue — liegt in diesem Satze 
ohne Zweifel eine symbolische Absicht unter. Beide Satze 
bilden ein Gauzes und als solches eine der vielen Hul- 
digungen, welche Bach in seinen geistlichen Composi- 
tionen in mittelbarer, sinnvoller Beziehung dem ehr- 
wurdigen und ewigen Charakter von Kirche und Glauben 
dargebracht hat. Um so glanzender wirkt der Chor der 
Instrumente bei seinem Wiedereintritt im »Gloria«, wel- 
ches mit seinen Triolengangen und dem machtigen 
Schwunge seiner kurzen Perioden an das »Sanctus< der 
HmoU-Messe erinnert. Den Schlusssatz »Sicut erat in 
principio «, welchem das »Gloria« als Einleitung dient, lasst 



314 



Hi JomelUi 
Magnificat. 



Ph. E. Bach, 
Magnificat. 



Bach im Anschluss an den allgemeinen Brauch auf die 
Themen des ersten Satzes zuriickgreifen. Wie das oben 
angefiihrte, von Schlecht mitgetheilte »Magnificat« des 
Anonymus mit allerlei Weihnachtsliedem durchsetzt war, 
so gehdren auch zu dem Bach'schen »Magnificat« noch 
einige Weihnachtsstiicke. Doch treten dieselben als selb- 
standige S&tze zwischen die einzelnen Nummern des 
»Magnificat». Der alte deutsche Brauch war zu Bach's Zei ten 
noch erhalten, doch aus den Formen naiver Willkiir in die- 
jenigen der kiinstlerischen Ordnung ubergeleitet worden. 
Als ein »Magnificat« aus der Bach'schen Zeit, welches 
hervorragende Bedeutung besitzt, ist das von Nic. To- 
rn ell i hervorzuheben. Aniage und Satz sind hochst ein- 
fach, die Composition geht ohne Aufenthalt in einem Zuge 
vortiber; ein und dasselbe bewegte Begleitungsmotiv der 
Violinen verbindet seine sammtlichen Abschnitte. Was 
aber das Werk auszeichnet, ist seine ernste gemessene 
Stimmung. Nur bei der Schlussfuge auf das Wort »Amen« 
lasst Jomelli das Antlitz der Madonna in begeisterter 
Freude aufleuchten. Das letzte Wort bleibt aber dem 
Moll, dem gedampften Ton. Haben dem Componisten die 
Worte vorgeschwebt, welche Simeon zu Maria spricht: 
»Siehe, es wird ein Schwert durch deine Seele dringen«? 
Eine der beliebtesten und verbreitetsten Compositionen 
des »Magnificat« war die von Ph. E. Bach, welches mit 
seinem zweichorigen »Heilig« zu den beruhmtesten Vocal- 
werken des Hamburger Tonsetzers gehorte. Das Werk 
ist ausserordentlich breit angelegt: einzelne Vor- und 
Zwischenspiele scheinen gar nicht enden zu wollen. Den 
Zeitgenossen gefiel es besonders wegen der dankbaren 
Solonummern, unter welchen das Duett liber »Deposuit 
potentescc die gehaltvollste ist. Seinen dositiven Werth 
besitzt es in der brillant durchgefiihrten Doppelfuge zu 
den Worten »Sicut erat« und in der liebevollen Ausfiih- 
rung einzelner kleiner Textbilder. Unter den Compo- 
nisten vom Ende des 4 8. Jahrhunderts, welche im Con- 
cert haufig mit ihren »Magnificats« vertreten waren, sind 
noch J. Schuster und F. Seydelmann zu nennen. 



Ausserordentlich frische und einfach lebendig aufgefasste 
Gompositionen des »Magniiicat« hat G. A. Homilius im 
a capella-Styl geschrieben. Leider sind sie nicht ge- 
druckt. Von neueren Bearbeitungen des Marianischen 
Lobgesangs ist nur die von F. Mendelssohn zuweilenF. Mendelssohn, 
auf den Concertprogrammen zu linden , und zwar unter Mein Herz er- 
dem Titel der Motette » Mein Herz erhebet Gott den 
Herrn«. Dieses » Magnificat « ist eine der bedeutendsten 
Chorcompositionen Mendelssohn's, eine der bedeutendsten 
Leistungen der neueren Zeit im a capella-Style* tiber- 
haupt. Durch kunstvolle Arbeit ragen unter seinen 
(ohne Pause auf einander folgenden) Satzen besonders 
hervor der erste: »Mein Herz erhebet « und der sechste: 
»Er gedenket der Barmherzigkeit«. In dem ersteren ist 
eine dem feierlichem Charakter der alten liturgischen In- 
tonation nachgebildete Melodie als Hauptthema eingelegt. 
Der andere entwickelt von den Worten ab: »Wie er zu- 
gesagta einen hohen Grad contrapunktischer Virtuositat: 
Die Fuge wird aus einer einfachen zur doppelten, zum 
Hauptthema tritt ein zweites, erst gerade, dann umgekehrt. 
Dieses Leben und dieser Reichthum der Form entfaltet 
sich in schlich tester Naturlichkeit; dem, der nicht Fach- 
mann, wird nur eine Steigerung des Ausdrucks fiihlbar. 
Der Anlage dieses »Magnificats« als Ganzes ist eine grosse 
Mannigfaltigkeit der Stimmung eigen. Die beherrschende 
Spielart, welche namentlich durch den einfachen Schluss 
nachdriicklich besiegelt wird, ist die frommer Demuth. 
Mendelssohn schrieb dieses schone Werk fur England. 
Wie die englischen Componisten des il. und 4 8. Jahr- 
hunderts in der Kegel alle drei Lohgesange des neuen 
Testaments zusammen in Musik setzten, so hat Men- 
delssohn dem Hefte (op. 69), welches dieses )>Magnificat« 
enthalt, wenigstens noch den Lobgesang des Simeon bei- F. Mendelssohn, 
gegeben: »Herr, nun lassest du deinen Diener in FriedenHerr, nuniiaseBt 
fahrena, eine Composition, die in der Form einer ere- ^^' 

scendo-decrescendo aufgebaut ist. Sie hebt mild, ganz 
im Charakter der Rede eines wurdigen Greises an und 
klingt auch friedlich und freudig ergeben wieder aus. In 



-» 346 *- 

der Mitte aber bei den Worten: >dass er ein Licht sei« 
schlagt sie in einfachem Satze den kr&ftigen Ton der 
Begeisterung an. 

In der &Iteren Zeit wurde das »Magnificat« mit in die 
Psalmenmosik eingereiht. Seine liturgischen Intonationen, 
von welchen einige oben mitgetheilt wurden, waren den 
Psalmentonen entnommen und die einzelnen Satze des 
Lobgesangs wurden noch lange nach Palestrina ohne alle 
Wortwiederholung in der Kiirze gehalten, in welcher man 
die Psalmenverse zu componiren pflegte. Nur der innere 
Styl dieser Satze, ihre Melodik und Harmonik ward friih- 
zeitig eine reichere. 

Der P s a I m ist das musikalische Hauptstiick der Neben- 
gottesdienste und ein wichtiges Einleitungs- und Zwischen- 
stuck im Hauptgottesdienst. Gleichwohl besitzen wir aus 
der alteren Zeit der Vocalmusik verhaltnissmassig nur 
eine bescheidenere Anzahl kunstmassig ausgefiihrter Com- 
positionen tiber Psalmentexte. Die Kegel blieb bis weit 
ins 4 7. Jabrhuodert binein, die Psalmen in jenem ein- 
fachen Mischstyle von Sprechton und Gesang vorzutragen, 
der uns bereits bei den Passionslectionen begegnet ist. 
Die melodischen Hauptlinien dieses Psalmengesanges sind 
ahnliche wie in unserem Collectengesang. Als man diesen 
bescheidenen Tonreihen Harmonien unterlegte, tbat man 
dies in der rohen Form der Falsobordone, d. i. in diesem 
Fall: einer Form des mehrstimmigen Satzes, bei welcher 
auf eine ganze Reihe von Worten ein und derselbe Accord 
wiederholt wird, eine Form, die ja auch die protestan- 
tische Liturgie in den Responsen der Intonationen pflegt. 
Diese Psalmodien sind die Tonbildungen einer Zeit, in 
welcher die Musik mit dem geistigen Ausdruck des Wortes 
noch wenig zu thun hatte und darauf beschrankt war, 
der ausserlichen akustischen Deutlichkeit des Wortes zu 
Hiilfe zu kommen. Fiir die kirchlichen Zwecke ist jedoch 
diese Weise des Psalmen vortrags sehr wirkungsvoU, wie 
man sich in England, wo sie noch heute in Branch, 
tiberzeugen kann. Eins kam und kommt hinzu, diesen 
halbmusikalischen, halb recitirenden Vortrag der Psalmen- 



^ 317 ♦- 

texle zu beleben, d. i. die Vertheilung der einzelnen Verse 
unter verschiedene Sangergruppen , welche sich ablosen 
Auch dieses sogenannteantiphonischePrincip, derWechsel- 
gesang zwischen zwei Choren oder zwischen Liturg und 
Chor, beruhte auf ehrwiirdigen Ueberlieferungen und gait, 
wie die declamatorische Form der Tonreihen, selbst fur 
eine Erbschaft aus David's Zeiten. Von dem Psalmen- 
gesang aus wurde die antiphonische Anlage auch auf 
andere liturgische Texte, z. B. auf das »Te deum«, liber- 
tragen. 

Namentlich in Proske's »Musica divina« ist die Psal- 
mencomposition mit einer grossen Zahl von Beispielen 
aus der Perioden der Falsobordoni vertreten. Diese Bei- 
spiele sehen sich sehr ahnhch. Man wiirde kaum be- 
greifen, warum Tonsetzer von Rang solchen Arbeiten 
ihre Namen beifiigten, wenn nicht die Schliisse wSren. 
Diese gestatteten den Componisten, dem Satze ein in- 
dividuelles Siegel in der Harmonie aufzuriicken. Man 
kann gerade an der Geschichte der Psalmencomposition 
sehr deutlich verfolgen, wie sich die ganze Harmoniekunst 
allmahlich aus den Falsobordonen heraus bildete. Die 
nachste Stufe in der Weiterentwicklung vertritt die so- 
genannte Psalmodia modulata. In dieser behalt die Ober- 
stimme die aus der alten Zeit iiberlieferten declamato- 
rischen Tonreihen, die unteren Stimmen sind melodisch, 
zuweilen einander nachahmend gefiihrt. Die Arbeiten 
dieser Gattungen bilden den Uebergang zu dem contra- 
punktischen Style der Messen und Motetten. Die Form 
der Psalmodia modulata hot hinreichende Mittel, dem 
geistigen Sondergehalt der einzelnen Psalmen und auch 
den Einzelbegriffen des musikalischen Textes gerecht zu 
werden. Deshalb wandten ihr auch die Meister aller Lan- 
der sehr fleissig ihre Krafte zu. Bei Proske sind in der 
Psalmodia modulata Deutsche, Italiener und Spanier 
vertreten. Man wird an den in diesem Werke mitge- 
theilten Beispielen beobachten konnen, wie auch die 
Oberstimme mehr und mehr aus dem declamatorischen 
in den musikalisch melodisch beweglichen Ton 



-^ 348 ^ 

hiniibergezogen wird, bis endlich von dem alten Psal- 
menstyl nichts mehr iibrig ist. Die fugirende Form 
btirgerte sich wie in Messen, Motetten und Hymnen, so 
auch in die Psalm encomposition ganz naturgemS,ss mit 
ein, aber die alten Falsobordoni und die aus ihnen ent- 
wickelte Psalmodia modulata bestanden noch lange neben 
ihr. Wir haben eine Psalmencomposition, welche uns 
die genannten drei Stylartrn verschmolzen zeigt: ein 
Werk von klassischer Beriihmtheit, welches auch in 
unseren heutigen geistlichen Concerten heimisch und ein 
Gegenstand immer neuer Bewunderung ist. Es ist das 
G. Allegri, >Miserere« von G. Allegri. Ein fiinfstimmiger und ein 
' Miserere. vierstimmiger Chor losen sich im Vortrage der einzelnen 
Verse ab: Jeder Vers beginnt mit Falsobordonen, beriihrt 
an deren Ende nur kurz, mit einem einzigen Tacte, den 
modulirten Psalmenstyl und lenkt dann in die Form der 
der musikaUschen Kunstsprache ein. Die melodischen 
und harmonischen Wendungen dieses Schlussabschnitts, 
welche den Choren beim ersten Einsatz zugewiesen sind, 
bleiben ihnen auch bei den anderen Versen. Man wird aber 
nicht miide, diese Tone zu horen, so riihrend spricht aus 
ihnen das Herz und das Gewissen dieses von Bussstimmung 
vollgetrankten Psalmes. Namentlich der erste Chor wirkt mit 
dem vom Alt intonirten, vom Sopran nachgeahmten Motive: 
A. ^ ■ ■ . I , I ( ' 1 I ' Kiachtig auf die Empfin- 

Jl^r^J^gJ J ji__jjj>' ^ i- fe dung; aber auch der 
ad . , ••-» tm . . di . ta» zweite Chor schlagt mit 
seinem, einem Gnadenblicke gleichenden Durschlusse 
das Gemiith in gewaltige Fesseln. Diese Mischung von 
Declamation, schlichtester Declamation und herzwarmem 
Gesang, die geniale Verbindung einfacher alter Weisen 
mit neueren hochentwickelten Kunstformen ist das Ent- 
scheidendein diesem »Miserere«. Bekannt ist, dass Allegri 
bei der Sixtinischen Cap'elle mit dieser Arbeit die im 
fugirenden Style gehaltenen Compositionen desselben 
Psalms aller seiner VorgSnger verdrangte. Darunter 
waren Meister wie Guerrero, Palestrina und F. Anerio. 
Das AUegri'sche wurde des papstlichen Chores standiges 



-^ 319 ♦- 

Charfreitagsmiserere, und die Compositionen von Bai und 
von Baini, welche endlich mit ihm abwechseln durften, 
folgten seinem Style. Es giebt vielleicht keine zweite 
Form, in welcher die Grundstimmung dieses 54. Psalms, 
das Gefiihl derTtiefsten Zerknirschung, so iiberwaltigend 
hervortreten konnte, als die von Allegh gewahlte. Als 
Charfreitagsmusik ist diese Composition unubertrefflich. 
Fur andere Zeit erlaubt dieser Psalm eine andere Be- 
bandlung und hat thatsachlich in verschiedenen Perioden 
und von verschiedenen Meistern derselben Epochen immer 
andere Auffassungen erfahren. Eine principielle Verall- 
gemeinerung, eine Uebertragung auf die Psalmencom- 
position im Allgemeinen lag nicht im Wesen des Sty Is, 
welchen Allegri fur sein >Miserere« erfand. Aber das fiir 
einen Fall gegebene Beispiel hat doch die Wirkung ge- 
habt, dass die Componisten der spatern Zeit die Falso- 
bordoni nicht mehr schlechtweg zu den abgethanen Din- 
gen rechneten. Sie werden gelegentlich wieder einmal 
fiir einen einzelnen Vers einer grosseren Psalmcompo- 
sition verwendet. So bei den Venetianern, so auch bei 
unserm Heinrich Schiitz und bei A. Gaidar a. Schiitz H. Schntz, 
ist einer der Ersten, welche auf die Psalmen den neuen psaimen. 
mit dem Musikdrama ziir Entwicklung gelangten Styl 
anwendeten. Orchesterbegleitung und Einmischung von 
Sologesang kennzeichnen diesen Styl ausserlich. Zwei 
B&nde dieser begleiteten Psalmen Schiitzens liegen jetzt 
in der Spitta'schen Gesammtausgabe der Werke des 
Meisters vor und barren der regelmassigen Verwendung 
bei unseren Chorauffiihrungen , in denen Schiitz als 
Psalmencomponist bisher nur ausnahmsweise vertreten 
war. Sie werden dem Schatze der gegenwartig in Ge- 
brauch befindlichen Vocalmusik eine ausserordentliche 
Bereicherung bringen, denn als Chorwerke betrachtet, 
gehoren diese Psalmen zu dem Bedeutendsten , was wir 
haben. Sie zeigen Schiitzens Grosse und Reichthum als 
Musiker in der ganzen Fiille. Untibertrefflich ist die An- 
schaulichkeit der Motive; Lebendigkeit und Bestimmtheit 
der Fantasie vereinigen sich, uns mit immer neuen und 



^ 320 ♦- 

immer schonen Bildern zu uberschiitten. Ein Uebermaass 
von Erfindung ist vor uns ausgebreitet. Der Horer be- 
darf des festen Anhalts am Wort, um alles zu iibersehen; 
der Componist erleichtert ihm die Aufgabe durch festes 
Geprage der Grundstimmung. Ab und zu giebt er der 
inneren Einheit der Composition auch formellen Ausdruck, 
indem er alte Motive auf neue Worte wiederholt und am 
Ende auf den Anfang zuriickgreift. Wie im Grossen und 
Ganzen zeigt sich der kiihne, Monteverdi'sche Geist des 
Meisters auch in Einzelheiten , namentlich in einer Fiih- 
rung der Stimmen, welche die Consequenz iiber den 
Wohlklang setzt und ohne Bedenken ungewohnte Disso- 
nanzen der Harmonie streift. Als Paradigma heben wir 
hervor: »Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu dir« und »Die 
mit Thranen sRen*. Der erste kann mit kleinen Aende- 
rungen a capella gesungen werden und gehort, nur mit 
4 Stimmen besetzt, zu den leichtesten. Die andere ver- 
langt zwei Chore von je funf Stimmen; in jedem Chore 
sind aber drei Stimmen den Posaunen ubertragen. Diese 
bei Schiitz in ahnhche Art haufiger wiederkehrende Be- 
setzung war urspriinglich ein Nothbehelf, durch den sich 
kleinere Chore die iiber ihre Krafte stimmreichen Com- 
positionen der Venetianiscben Schule zuganglich zu 
machen suchten. Sie erlangte aber bald selbstandige 
stylistische Bedeutung, schon durch die eigenthiimhche 
Klangmischung. Ausser den Posaunen geht auch die 
Orgel mit. Man steht also vor einem heute fremd ge- 
wordenen Ensemble und thut deshalb gut, im Interesse 
reiner Intonation eine Probe mehr zu veranstalten. 

Ein anderes Ideal der Psalmencomposition als Schutz 
A. Oaldara, verfolgte Caldara. Der Styl Schiitzens ist in seinen 
Psaimen. Psalmen, sieht man von den wenigen eingestreuten Fal- 
sobordonen und einer consequenteren Durchfiihruug des 
Wechselgesanges ab, kein anderer als in seinen fibrigen 
Chorsatzen. Dieser Styl ist vorwiegend modern. Caldara 
dagegen erstrebt einen alterthiimlichen Eindruck. Die 
Falsoljordone erhalten bei ihm einen bereiteren Platz, und 
das erste Gebot, dem seine Melodien und Harmonien 



-^ 324 ♦- 

folgen, ist das der Wurde und der Feierlichkeit. So sehr 
seine Motive an Charakter und an Treue gegen das 
Wort hervorragen, die voile Freiheit der Erfindung hat 
sich Caldara versagt und diese Eigenschaften dem oberen 
Gesetze unterstellt. Seine Psalmen sind nicht in dem 
Geiste beweglicher Harfengesange , wie sie David an- 
stimmen konnte, gedacht, sondern als eine Musik, welche 
die erhabenen Hallen des Salomonischen Tempels zu 
fiillen hatte. Von diesem Standpunkt aus wird man 
Caldara's Psalmen als das Ideal der Psalmencomposition 
uberhaupt betrachten konnen. Ein ganz besonderer Mei- 
ster ist Gaidar^ in der Behandlung der Antiphonie. Die 
Mannigfaltigkeit, mit welcher er den Wechsel bestellt, 
bald die Gruppen naher zusammenzieht, bald weiter von 
einander riickt, trennt und eint, die Rhythmen und die 
melodischen Linien der Motive nach dem Geist des Textes 
bildet, das Alles zeigt einen hdchsten Grad von Kunst- 
beherrschung. Man wird die Zeit begrussen diirfen, wo 
diese Psalmen Caldara's in Druck gebracht und der Praxis 
der Chore zugefuhrt werden. Hoffentlich unterziehen sich 
die >Denkmaler der Tonkunst in Oesterreichc bald dieser 
Aufgabe. In einem begleiteten >Misererec hat Caldara 
einmal den ihm eigenen Psalmenstyl verlassen und sich 
der modernen Weise, der Psalmencomposition mit Solo- 
gesang und Orchester zugewendet. Das Werk ist gut, 
aber nicht hervorragen d, kaum besser als die bekannte 
neapolitanische Composition dieses Psalms von Sarti. 

Auf den Motettenstyl hat die Psalmencomposition 
einen sehr belebenden Einfluss ausgeiibt. Wenn Psalmen- 
dichtungen zu Grunde liegen, schlagen die Tonsetzer 
haufig Tdne an, welche in den Messen und anderen Com- 
positionen der Vocalperiode selten oder gar nicht gehort 
werden: Tdne der Leidenschaft. Eins der bedeutendsten 
Beispiele fur die dramatische Erregung von Fantasie 
und Empfindung, welche mit dem Psalm in die Motetten- 
form einzog, bildet der Schlusssatz inF. Anerio's Psalm F. Anerio, 
>Beatus virc, der das Schicksal des Siinders in Ton- Beatus vir. 
zugen von schauerlicher Realistik schildert. 

II, 1. 21 



-^ 328 ♦- 

Die beruhmtesten unter den Weren Psalmencompo- 
sitionen im Motettenstyle sind die sieben David'schen 
0. di Lassoi Busspsalmen in der Musik des Orlando di Lasso, 
Busspgaimen. welche vor dem Jahre 1563 componirt wurden. Diese 
Jahresangabe muss gegenUber der noch heute immer 
wieder gedruckten Anecdote, welche diese Werke mit der 
Pariser Bartholomilusnacht in Zusammenhang bringt, be- 
tont werden. Des Anecdotenschmucks bediirfen Orlando^s 
Busspsalmen nicht. Sie gehdren unter die bedeutendsten 
Denkm&ler der Vocalperiode : in eine Reihe mit dem 
»Stabatc, mit der Messe »Assumpta est« Palestrina's, mit 
dem >Requiemc des Orlando selbst und ^em des Gavalli. 
Man kann nur dariiber in Zweifel sein, ob man diesen 
Psalmen nicht den allerersten Platz anzuweisen hat. 
Der ganze Reichthum an Farbe, iiber welchen der Styl 
verfiigt, ist hier entfaltet, an Ausdruck, soweit es der 
Geist der Dichtungen zulasst. Fest ausgepr&gter Gharakter 
in alien Satzen, in ihrer Folge eine geniale Oekonomie, 
die mit den Mitteln der Steigerung oder des Gontrastes 
das Gemiith und die Fantasie des Horers ' immer vom 
Frischen und immer starker fesselt. Die Melodik, Or- 
lando's Hauptst&rke iiberall, wirkt hier doppelt gewaltig, 
namentlich da, wo er die einfachen Motive der Sequenzen 
weiter fiihrt. Zuweilen setzt sie mit wahren Herzens- 
tonen ein: Stellen wie der Eintritt des »Laboravi« in 
dem ersten Psalm ergreifen auch vom Texte losgelost. 
In der Auffassung des Textes Eingebungen von wahrhaft 
heiliger Weihe. Feierlich, als wenn ein geheimes Wunder 
verkiindet wird, tritt in demselben Psalm das ȣxaudivit< 
ein. Wie eine Stimme in der Wiiste, in der Oede klingt 
das >Discedite€. Daneben wieder Abschnitte, in denen 
eine wahrhaft Josquin'sche Naivetat waltet. AUes ist in 
diesen Psalmen von lebendiger Anschauung durchtrankt. 
Ihre hochste Macht liegt aber in dem Ausdruck der 
Grundstimmung. Nicht die Zerknirschung und das Fla- 
gellantengefiihl beherrscht diese Musik, sondern die ruh- 
renden und demiithigen Klagen des reuigen Sunders 
werden von Tonen des Gottvertrauens und der der Gnade 



■^ 323 ^ 

sichemHoffnung umrahmt und aufgenommen. Am klarsten 
zeigt sich diese Tendenz im Anfang der beiden Psalmen- 
» Miserere « und >De profandis«. Fiir die Auffiihrung 
bieten diese klassischen Composition en verhftltnissmHssig 
nur geringe Schwierigkeiten. Der Satz iibersteigt die 
Sechsstimmigkeit nicbt, die contrapunktischen Formen 
drUngen sich nirgends auf und sind kurz und gedrangt 
behandelt. Die Bekanntscbaft mil diesen Meisterwerken zu 
vermitteln, eigne! sich am besten der zweite Psalm : >Beati 
quorum remissae sunt iniquitates< und zwar um etliche 
Satze verkiirzt. Wenn im ersten Abschnitt auf >remissae« 
die Harmonie von Es- nach Adur wechselt, wird Jeder- 
mann klar, mit welcher Gewalt und Freiheit dieser 
Kunstler uber die Tonmittel herrscht. Aus den demii- 
thigen Bitten des »Delictum meum cognitum tibi feci« 
spricht riihrend und ergreifend die ganze Fiille seines 
melodischen Verm5gens, und das canonische Bicinium der 
B&sse und TenSre auf die Worte der Stimme Gottes: 
>Intellectum tibi dabo« zeigt die wunderbaren poetischen 
Eingebungen, iiber die Fantasie und Geist unseres grossen 
Landsmanns verftigten. 

An der Psalmencomposition im Motettenstyle waren 
alle hervorragenden italienischen Tonsetzer und die Ton- 
setzer italienischer Schule in anderen L&ndern mit 
betheiligt. Von unseren deutschen Componisten ragt 
besonders J. J, Fux hervor. Ein Kennzeichen dieser 
Psalmenmotetten ist die Ktirze in der Ausfiihrung der 
thematischen Ideen ; reiche Wortwiederholungen und brei- 
tere Formen der Nachahmungen sind wie Canons und 
Fugen vermieden. Einigermaassen ist dadurch noch der 
Zusammenhang mit der declamatorischen Ausgangsnatur 
der Psalmenmusik gewahrt. Sinige unserer Landsleute, 
welche Psalmen in deutscher Sprache componirt haben, 
lassen darin auch noch das antiphonische System er- 
kennen. So Thomas Stoltzer {»HilfHerr, die Heiligen 
etc«.) und Thomas Walliser (»Ein feste Burg«). Nur 
wechselt die Zusammensetzung der antiphonirenden Grup- 
pen bei ihnen frei von Vers zu Vers. 

21* 



-♦ 324 ♦>- 

Unter den weiteren Stylarten, welchen die Psalmea- 
composition im Laufe der Zeit angepasst wurde, ist die 
Fonn des evangelischen Riichenliedes eine der verbrei- 
testen. Bekanntlich wurden auf Luther's eigene Veran- 
lassong Psalmen dem Schatze des protestantischen Chorals 
eingefiigt. Der bekann teste ist: >Aas tiefer Noth schrei 
ich zu drr<. Bei den Calvinisten unterzog sich der be- 
ruhmte franzdsische Tonsetzer C. Goudimel der Auf- 
gabe, 16 Psalmen (in der Uebersetzung von Marot und 
Beza) mit Liedmelodien , die Volksweisen entnommen 
waren, zu versehen und diese in einen kunstmassigen 
aber vorwiegend einfachen vierstimmigen Satz zu bringen. 
Die Hauptstimme liegt im Sopran. In Deutschland gingen 
am Anfang des 47. Jahrhunderts J. H. Schein und andere 
an ^.hnliche Arbeiten. Besonders verbreitet wurde eine 
i 684 zu Eisleben verdffentlichte Composition der 7 Buss- 
psalmen, der Text von Frenzel Ubersetzt und commentirt, 
der Chorsatz von Uthdrecerus hergestellt. Als Haupt- 
stimme liegt im Tenor eine protestantische Kirchenmelodie; 
fiir Psalm 6: »Wo Gott, der Herr«, flir Psalm 32: >Allein 
zu dire, Psalm 402: >£s istdasHeil* etc. Spater wurden 
die Choralmelodien uber den Psalmentext in kunstvoUerer 
Form, als strenge Fugen z. B. durchgefiihrt. Ein be- 
kanntes Hauptwerk dieser Classe bilden die > Palme n 
etc. von Hans Leo Hasslere (Niirnberg 4 607. Stimmen- 
ausgabe, eine nach dieser hergestellte Partiturausgabe : 
Leipzig 4 774). 

Eine weitere Form der Psalmencomposition, welche 
sehr gepflegt worden ist, entstand mit der Einfiihrung 
des Sologesanges. Von der Mitte des siebzehnten Jahr- 
hunderts ab werden die Psalmen haufiger fiir ein, zwei, 
seltener fiir mehr Solostimmen mit Begleitung von Cem- 
balo, Orgel und Orchesterinstrumenten gesetzt. Die archi- 
tectonische Anlage dieser Solopsalmen folgt der Cantate : 
Recitative wechseln mit geschlossenen SS.tzen. In den 
letzteren erscheint zuweilen auch der Chor abwechselnd 
B. Marcello ^^^ ^^^ Solisten. Der Classiker dieses Psalmenstyls 
Psalmen. wurde Benedetto M arcello. Seine 50 Psalmen, denen 



-^ 325 ♦- 

Paraphrasen des italienischen Dichters G. A. Giustiniani 
unterlagen, Nachdichtungen der biblischen Texte im Zeit- 
geschmack, wie sie in Italien und in anderen L&ndern 
vielfach auftauchten, waren iiberall verbreitet. Die erste 
Halfte (1724 verftffentlicht) wie die zweite (1726-27 her- 
ausgegeben] erlebten mehrfache Auflagen, Nachdrucke, 
Uebersetzungen und Bearbeitungen und standen lange 
im Weltrufe fest. Noch i 865 verftffentlichte Lindpaintner 
in Stuttgart eine Neuinstrumentirung von 42 dieser 
Psalmen, und der letzte franzdsische Auszug aus dem acht 
splendide Foliob^nde umfassenden Werke ist erst wenige 
Jabre alt. Marcello ging an seine Aufgabe mit dem dop- 
pelten Rustzeug des Forscbers und Musikers. In der 
mit Lobgedichten seiner Bewunderer, mit Begliick- 
wiinschungsschreiben angesehener Collegen gescbmiickten 
Vorrede des ersten Bandes stellt er in dem unfeblbaren 
Tone, welchen wir an theoretisirenden Kiinstlern gewobnt 
sind, die Grundsfttze fest, nach welchen nicht bios seine, 
nach welchen ^ie Psalmen iiberhaupt und immerdar 
componirt werden sollen. In der alten Musik, der der 
HebrHer und Griechen, suchte Marcello das Colorit, in 
dem Musikdrama seiner Zeit aber Seele und Leib seiner 
Psalmenmusik. In der That hat Marcello mit grossem 
Geschick in seine Psalmen alterthtimliche Tonelemente 
eingeflochten , lydische und andere griechische Weisen, 
namentlich aher viele Synagogengesange, welche er bei 
spanischen und deutschen Juden sammelte. In dieser 
Hinsicht sind die Psalmen Marcello's geschichtlich sehr 
merkwtirdig: einer der ersten Versuche archaifeirender 
Composition. Im Effect ist dieser Versuch vigrschieden 
ausgefallen: hie und da — z. B. im 9. Psalm, wo die 
drei Stimmen bei den alten hebraischen Intonationen in 
breiten Unisonos zusammentreten — grossartig, an anderen 
Orten noch opernhafter als die ahnlichen Versuche in 
Verdi's •Aida* oder in Meyerbeer's >Prophet€. Der Werth 
der einzelnen Psalmen ist nicht gleich. Wenn die neuere 
deutsche Kritik jedoch die Psalmen Marcello's im Allge- 
nieinen etwas geringschatzig zu behandeln begonnen und 



-^ 326 ^ 

sogar versucht hat — verleitet durch die bUrgerhcfae 
Stellung des Componisten — diese Werke als entschieden 
dilettantische Producte hinzustellen, so schlagt sie einen 
bedauerlichen Irrweg ein. Eine gewisse Unruhe in der 
Gesammthaltung , ein beim Vergleich mit den Meister- 
werken der Vocalperiode hervortre tender Mangel an Har- 
monie, und, wenn man will, auch an kirchlichem Geiste 
ist von dem Style dieser Psalmen unzertrennlich. Aber 
die contrapunktische Geschicklichkeit ist keineswegs ge- 
ring. Und die Erfindung zeigt in den Psalmen, welche 
fur mehrere Solostimmen (gewdhnlich mit hinzutretendem 
Chore) geschrieben sind, einen mehr als gewohnlichen, 
einen fantasievollen , dichterischen Musikgeist. tlnter 
den Duetten namentlich finden sich liebenswlirdig und 
freundlich feine Abschnitte in Menge. Besonders ragen 
in dieser Classe der 22. (fur zwei Altstimmen), der 24. 
(Bass and Tenor) und der 25. (Bass und Alt) Psalm her- 
Yor. Die fUr eine Solostimme geschriebenen sind alle 
schwacher. In ihnen fallt Marcello's Melodik sehr haufig 
in den kurzen tanzelnden Tontrab, welchen die vene* 
tianische Oper fiir ihre Ariette, die theatralische Schwester 
des Gassenhauers, liebte. Auf der anderen Seite sucht 
er apart zu sein und verunziert seinen sonst musterhaft 
gesangUchen Styl durch unnothige Ausnahmsintervalle 
und barocke Wendungen. Bei alledem bleibt auch in 
diesen einstimmigen Psalmen noch viel zu bewundem: 
die geistvolle Anlage, der Anschluss an die Poesie, die 
vorziigliche Declamation und der bedeutende Ausdruck 
der Recitative. Der Begleitungsapparat dieser Psalmen 
beschr^nkt sich bei den meisten auf ein Generalbass^ 
instrument {Orgel, Cembalo, Clavier), so dass sie sich 
gut zur geistlichen Hausmusik eignen. An obligaten con- 
certirenden Instrumenten finden sich beigegeben Cello im 
4 5., zwei Bratschen im 21. Psalm. Von spS,teren Com- 
ponisten, welche auf dem Felde der Psalmenmusik Mar- 
cello als Muster nahmen, ist vor Allen der Abb6 Stadler 
zu nennen. 

In unserem heutigen Concerte ist die altere Periode 



327 



nor mil wenigen Psalmenwerken vertreten. Es sind aus- 
schliesslich Compositionen von Meistern ersten Ranges. 
Aus der Psalmenmotette der Vocalzeit haben wir neben 
den frUher angefuhrten Meistern G. Gabriel! mit einem 
sechsstimmigen »Miserere€ (vom Jahre 4 597) zu verzeich- 
nen. Dieses Werk ist sehr einfach in einem einzigen Satze 
dnrcbgefOhrt, welcher den Ban der Dichtung mit beschei- 
denen Modulationseinschnitten wiedergiebt. Mit der an- 
spruchslosen Form vereint sich ein zuriickbaltender, de- 
miithiger Ausdruck. Es ist ein Bnssgebet von vollendeter 
Zartbeit nnd Feinheit, anf alles Dramatische, auf jede 
Wirkung nach aussen verzicbtend und gerade darum tief 
eindringlicb. Unscheinbar sind die musikaliscben Mittel 
gew&hlt, aber wie geben sie die Wallungen des Gemiiths 
wieder! Eine Pause und ein voller breiter Accord beim 
Einsatz des >Dele iniquitatem«, und welche Flille von 
Inbrnnst, die daraus spncht! Ein einf aches chromatisches 
Motiv beim »quoniam iniquitatem ego cognosco«, und 
wie viel Reue und Scham liegt darin! Welcher Ernst in 
der einfachen Edurstelle: >tibi soli peccavilc Jeder Zug 
in diesem kleinen Werke ist meisterlich. A. Scarlatti 
war friiher mit einem » Dixit dominusc und >Laudate 
pueric, Lotti mit den Compositionen derselben Favor it- 
psalmen und einem ^Misererec vertreten. E. Bernabei's 
und Colonna's Psalmen wurden ebenfalls viel gesungen. 
Heute kommen wir von Gabrieli iiber Schiitz direct zu 
HM,ndel. Handel nimmt unter den Psalmencomponisten 
einen sehr hervorragenden Platz ein. Aus seinen Knaben- 
jahren bereits besitzen wir eine Composition des 4 4 2. 
Psalms (wLaudate pueri«) fiir Solosopran, welche erstaun- 
lich schwierig und ebenso interessant ist, da sie fur die 
musikalische und personliche Friihreife des Componisten 
ein sprechendes Zeugniss ablegt. W&hrend seines ersten 
rdmischen Aufenthalts hat er diesen Psalm umgearbeitet 
und noch zwei dazu geschrieben, von denen der eine > Dixit 
dominusc schon Hinders ganze Eigenthiimlichkeit : — 
die bertihmten Unisonos in breiten Noten, die kurzen 
schmetternden Jubelmotive — zeigt. Dann benutJste 



Qt. Gabrieli, 
Miserere. 



A. Scarlatti. 



Lotti, 

E. Bemabei 

mid Golonna, 
Psalmen. 



a. F. H&ndel, 

Psalmen und 
Anthems. 



-^ 328 ♦- 

er das »Laudate pueri< wieder fiir die Composition des 
4 00. Psalms »Jubilatec, welcher mit dem Utrechter >Te 
deumc zugleich aufgefiihrt wurde. In diesen drei Be* 
arbeitungen derselben Grundideen thut man einen tiefen 
Blick in Handel's Studiengang, in seine Entwickelung und 
in die ganz wunderbare Beanlagung dieser gesegneten 
Ktinstlernatur. £in so reichas Maass von Bildangsf£lhig- 
keit, gesundem Gefuhl und Tact, wie uns bei dem Ver- 
gleiche dieser drei Arbeiten entgegentritt, wird in der 
Kunstgeschichte nicht zu uberbieten sein. Dann kommen 
die viel geriihmten, aber — wenigstens in Deutschland — 
wenig aufgefiihrten An tb em s. Die erste Reibe bilden die 
sogenannten Cbandos-Anthems, welche HS.ndel wah- 
rend seiner Gapellmeisterzeit beim Herzog James von 
Cbandos fiir den Gottesdienst zu Cannons in den Jahren 
4 74 6 — 48 schrieb. Diese Anthems sind Cantaten gtossen 
Styls fiir Soli, Chor, Orchester und Orgel uber Psalmen- 
worte componirt. Ihre Gesammtzahl betragt — abziiglich 
der doppelten Bearbeitungen einzelner und des ersten 
Anthems, welches nur ein Arrangement des »Jubilate« vom 
Jahre 4713 ist -:- zehn. Davon sind die ersten sechs fiir 
dreistimmigen, die folgenden fiir vierstimmigen Chor ge- 
setzt. Auf die Zeit des antiphonischen Kirchengesangs 
zuriickdeutend, war der Name Anthem zu Handers Zeit 
in England Allgemeinbegriff fiir jede Art kunstvoUer Kir- 
chenmusik geworden, welche wirklich fiir die Ausfiihrung 
im Gottesdienst bestimmt war. Handel's Cbandos-Anthems 
sind ausserordentlich breit angelegt; einzelne bestehen 
: — die Ouverturen nicht mitgezahlt — aus acht und mehr 
Satzen. Die einzelnen Satze sind umfangreich, nament- 
lich unter den Chorsatzen haben viele eine Ausdehnung 
und Lange, wie sie bisher bei HSndel noch nicht vorge* 
kommen war und spater sich nur selten wiederfindet; 
Sicher hat sich Handel in diesen Anthems neue Aufgaiben 
gestellt und in ihnen zuerst mit Entschiedenheit den 
grossen Styl betreten, welcher das Merkmal seiner Orat 
torien bildet. In letztere ist mancher Satz aus den 
Chandos- Anthems wortlich oder umgebildet ubergegangen. 



-^ 329 ♦>- 

Ftir beriihrnte Partien des >Messias und des >Israel« ent- 
halten die Chandos-Anthems die ersten Skizzen. Nament- 
lich zu den grossen Tonmalereien des letztgenannten 
Oratoriums bieten die Anthems Nr. 4 und Nr. 4 mit 
ihren Schildeningen von Meeresbrausen , von Blitz und 
Donner, vom Beben und Schuttem der Erde, eigtnthum- 
liche Seitensiucke. Diesen und anderen grossen Leistungen 
einer ebenso ktihnen und machtigen als sichem Fan- 
tasie treten in den Anthems einzelne Werke der Empfindung 
ebenbOrtig entgegen. Die bedeutendste Arbeit in letzterer 
Classe ist das dritte Anthem »Have mercy upon me<, eine 
Composition des bekannten Busspsalms von ergreifender 
Innigkeit und Schonheit und zwar auch in den Solo- 
gesangen, welche im Allgemeinen die Hohe der Chore 
und Emsembles in diesen Anthems nicht erreichen. Dem 
dritten steht das sechste nah: >Wie der Hirsch schreitc, 
von welchem drei Bearbeitungen vorhanden sind, deren 
dritte in die Zeit vor Chandos zu gehoren scheint. Durch 
Originalitat der Anlage und der Stimmung ist das neunte 
Anthem >0 praise the Lord* (Psalm 4 35} besonders aus- 
gezeichnet. Sein erster Satz hat eine eigene Verbindung 
von choralartigen Motiven mit concertirenden; der grosse 
3/2-Tact iiber >With cheerful notes* auf dieselbe Mischung 
frommer und hell jubelnderGefiihle gebaut, hat ganz eigene 
Ausklangseffecte in den breiten Unisonos, zu welcheh die 
Stimmen an vielen PeriodenschlUssen zusammentreten. 
Die zweite Reihe der Handerschen Anthems bilden 
die Eronungs anthems. Handel schrieb sie, vier an 
Zahl, im Jahre 4 727 zur Kronung Georgs XL, welche im 
Westminster mit besonderer Pracht vor sich ging. Auch 
fiir den musikalischen Theil wurde Ausserordentliches 
aufgewendet. Handel liess ein neues Podium errichten 
und eine besondere Orgel bauen. Ein sechzehn Fuss 
langes Riesenfagott, welches, ebenfalls nach Handel's An- 
gabe, fiir diese Gelegenheit hergestellt wurde, konnte 
Niemand spielen. Dasselbe blieb bis zu der grossen Ge- 
dachtnissfeier , welche im Jahre 4 784 zu Ehren des ver- 
storbenen Componisten stattfand, unbenutzt. 



-* 330 ♦- 

Es giebt in diesen Kronungsanthems einzelne 
Satze, welche welter nichts als ihre musikalische Schul- 
digkeit thun. Von dem Anthem »Let Thy hand< gilt das 
fast durchaus. Der iiberwiegend grossere Theil dieser 
Anthems ist aber von einer wunderbaren Inspiration 
durchz(^en, hier fortreissend und rauschend, wie das 
ganze knappe Anthem »Zadock, der Priester«, dort Heblich 
kindlich und innig, wie der erste Satz von >My heart is 
inditing «. Letzteres ist fur die Kronung der K&nigin be- 
stimmt. Dass H£lndel sich die Kronungsfeierlichkeit als 
einen Act dachte, bei welchem das ganze Volk dabei 
sein miisste, ist gar nicht zu verkennen. Namentlich 
das Anthem »The king will rejoice* tragt diesem Stempel 
einer — im besten Sinne des Wortes — fur alle Welt 
passenden Musik. Man kann es fiir das vorzuglichste 
halten. Der Zweck, fiir welchen die Anthems geschrieben 
warden, kommt auch in der pomposen Besetzung des 
Orchesters, in welchem die Trompetenfarbe hervorsticht, 
zum Ausdruck. In diesem Punkte unterscheiden sie sich 
zunachst von den Chandos-Anthems. Fur Musikfeste 
eignen sie sich besonders und sind auch in neuerer Zeit 
wiederholt fiir solche benutzt worden. H&ndel selbst 
beutete auch diese Anthems spater fur grossere Werke 
aus, z. B. fiir das »Gelegenheitsoratorium< und fiir 
»DebGrah«. 

Eine dritte Reihe Handel'scher Anthems besteht aus 
Gelegenheitsarbeiten , welche HUndel fiir Hochzeiten im 
koniglichen Hause und andere offentliche Zwecke fertigte. 
Die Ausgabe der Deutschen Hslndelgesellschaft bringt 
diese letzten, im Gehalte zuriickstehenden und von der 
Praxis der Concerto bis heute ganzlich iibergangenen 
Anthems in der 36. Lieferung. 
G. P. Hfindel, Es darf an dieser Stelle gleich der >Trauerhymne€ 

Trauerhymne. mitgedacht werden, welche Handel im Jahre 4737 als eine 
Art »Re.quiem« fiir die Beisetzung (4 7. December) der 
Konigin Karoline schrieb da der Text dieses Werkes zum 
iiberwiegenden Theile aus Psalmenstellen besteht. Diese 
Composition, welche Burney in seiner Geschichte der 



-^ 334 ^ 

Musik etwas ttbertreibend an der Spitze aller Werke 
Handel's stellt, ist eine durch Weichheit, Zartheit und edle 
Herzlichkeit ausgezeichnete Nanie, ganz dem Charakter 
der guten, milden, wohlthatigen Frau entsprechend , zu 
deren Ehren sie gesungen wurde. In keinem anderen 
von den grosseren Vocalwerken des Tonsetzers stehen 
so viel rUhrende Stiicke. Handel scheint bei der Arbeit 
eine gewisse persdnliche Ergriffenheit nicht iiberwunden 
zu haben. Er flocht Erinnerungen hinein, welche in 
seine eigene Jugend zuriickreichen : einen Anklang an 
das >Ecce quomodo« seines Namensvetters Handl [Jacob 
Gallus) in den Satz: »Their bodies« (»Ihr Leib kommt im 
Grabe zur Ruh«), den in Halle und in ganz Sachsen al& 
Grabgesang gebrauchlichen Choral: >Herr Jesu Christ, 
du hochstes Gut« in den grossen Eingangssatz >The ways 
of Zionc (>Ganz Zion trauert etc.«). Er bildet in diesem 
Satze das Fundament eines der reichsten und voUen- 
detsten Kunstbauten, die wir besitzen. Das kirchliche 
Element, welches hier unbestritten herrscht, tritt in den 
anderen S§,tzen vermittelnd und erhebend dazwischen. 
Die knappe, eine iibervolle Stimmung hinter Wortkarg- 
heit bergende Ouverture der ))Trauerhymne« entstand erst, 
als Handel das Werk zur Einleitung seines Oratoriums 
»Israel« umarbeitete. Ueber die Besetzung bei der Auf- 
flihrung berichten die Zeitungen: achtzig Sanger und 
hundert Instrumentalisten. 

Die > Trauerhymne « war eines der ersten Werke, 
welches sich von den Handel'schen grossen Chorcompo- 
sitionen in Deutschland verbreitete, leider in entstellter 
Form. Man machte so unpassend als moglich ein Ora- 
torium : >Empfindungen am Grabe Jesu« daraus ; der erste 
herrhche Satz wurde dabei grausam zerschnitten und 
biisste seine eigenthiimliche Schonheit voUstandig ein. 

Von Handel's Zeitgenossen waren es fruher F e o und Peo. 
J. F. Fas c h , welche in kirchlichen Auffiihrungen haufiger j, p. Paach. 
als Psalmencomponisten vertreten waren. Das heutige j. , 
Concert bringt zuweilen die Cantate, welche L. Leo fiber t.. . * '. 
»Dixit dommus« componirt hat, und sem achtstimmiges und Miserere. 



-^ 332 -*- 

>Misererec. Beide sind ausgezeichnet durch breites Maass. 
LUngere Psalmencompositionen giebt esnicht. Das > Dixit 
do minus* (in der Kummel'schen Sammlung gednickt) 
prftgt sich schon durch die Fasslichkeit der Themen ein ; 
der Eindruck wird noch durch die an vielen Stellen her- 
vortretende Originaht&t der Auffassung und des Aus- 
drucks befestigt. Die Wiederkehr des Schlussmotivs vom 
Ritornell des ersten Satzes, die gewaltige Declamation 
der Worte: >sede a dextris* durch die Bftsse an dem- 
selben Orte sind solche subjective, aber wirkungsvolle 
Eigenthfimlichkeiten. Das achtstimmige »Miserere< 
Leo's gehdrte zu den beriihmtesten Tonwerken seiner Zeit 
und ist heute noch eines der geschichtlich interessan- 
testen. Der Charakter einer Uebergangsepochie mit ihren 
fremdartigen Versuchen und merkwiirdigen Bildungen ist 
kaum einem zweiten Tonwerke schS,rfer aufgeprHgt als 
diesem nMisererec Seiner Form nach ist es eine beglei- 
tete Motette, sein geistiger Organismus ist aber auf dem 
Boden des Musikdramas erwachsen; es ist in der Con- 
ception verwiegend theatralisch, — theatralisch in jenem 
(neuerdings an Berlioz wiederholt erorterten) Sinne ge- 
nommen, in welchem die Fantasie sich mehr in das 
Ceremoniell des Gebets versenkt, als in den Sinn der 
Gebetsworte selbst. Daher die von Stimme zu Stimme 
wandemden einstimmigen Episoden, welche die Intona- 
tionen des Liturgen nachahmen, daher die Wiederkehr 
derselben Formeln und Manieren in den meist kurzen 
vielstimmigen Satzchen. Wenn es auch nicht immer die 
richtige ist, so ist doch die Stimmung und Begeisterung 
in der Composition bedeutend. In Bezug auf musikalische 
Besonderheit ist das >Miserere« reich an genialen Einzel- 
heiten. Eine der merkwUrdigsten dieser Stellen, voll- 
standig romantisch geartet, ist der Anfang des »Averte 
faciem* mit dem in den unteren j t ; . ^^ , , . 

Stimmen durchgeftthrten Motive : ff^'^ "^ j) J^J) "^^ ^^ U ' 
Lotti nnd Lotti und Jomelli, welche in friiherer Zeit als 

Jomelli. Psalmencomponisten — jener mit »Dixit dominus*, >Lau- 
date pueri«, »Miserere«, dieser mit >Miserere* — allent- 



-^ 333 

halben vertreten waren, kommen anf dem Repertoir 

der Ghorvereine als solche nicht mehr vor. Dagegen 

wird noch haufig Gluck's >Deprofundis« gesungen. C. W. ▼. Glaok, 

Diese Composition markirt den Ernst der Stimmung Da profandis. 

mehr, als dass sie ihn ausfuhrt. Einzelne Stellen treten 

aus dem Geist der Skizze heraus, namentlich das 

einfach .herzliche >Quia apud tec. Oft glauben wir Mozart 

zu horen, so in dem Abschnitt: >Misericordia<. Voll- 

standig eigen mid Gluckisch ist das Colorit des Orchesters: 

der Yorwiegende Klang der Posaunen und tiefen Horner. 

Von den Streichinstrumenten fehlen die Violinen. Die 

Gesammtwirkmig der kleinen Composition, der einzigen, 

mit welcher der Reformator der Oper heute auf dem 

kirchlichen Gebiete erscheint, ist eine hochfeierliche. 

Zu den gegenw&rtig Ubergegangenen Psalmencompo- 
nisten, welche in friiherer Zeit geschatzt wurden, gehort 
ferner A. Hasse, von welchem vier Bearbeitungen des A. Ebsbb. 
>Miserere« vorhanden sind, darmiter eine fiir Manner- 
stimmen, eine andere fur Knabenstimmen allein. Es ge- 
horen ferner in diese Gruppe Gasparini, J. Haydn, Gaspsrini, 
Sarti, Naumann und Ph. E. Bach mit Psalmencan- J. Haydn, Barti, 
taten, welche fast alle eine Neigung zur UmstandUchkeit KamnaiLii, 
kennzeichnet. Von Mozart besitzen wir Psalmen in der Pk. E. Baoh, 
Biindelf orm der Vespern. Zur musikalischen Ausstattung Moiart, 
der Vesper gehoren fiinf Psalmen und das » Magnificat* VeBpem. 
als Schluss. Diese Bestimmung bedingt eine kurze Aus- 
fiihrung der einzelnen Psalmen. Die Mozart'schen sind 
einsatzig. Die schon langere Zeit (durch Peters) heraus- 
gegebene Vesper vom Jahre 1779 hat in den Nummern 2 
(»Confitebora) und 4 (»Laudate pueri«) Nummern von hervor- 
ragender geistiger Bedeutung. Die letztere ist im strengen 
fugirenden Style und alterthumlichen Tone gehalten. In Siid* 
deutschlandkommtzuweilen noch eine einzelne Mozart'sche 
Bearbeitung des >De profundisc zu Gehor, eine knappe, 
haufig bios declamirende Composition. Von den Wiener 
Classikem erscheint merkwlirdiger Weise ziemhch oft 
Franz Schubert in den Auffiihrungen der Chorvereine F. Bohubert, 
mit einer Composition des 23. Psalms fiir vier aequale Der 23. Psaim. 



-^ 334 ♦>^ 

Stimmen (Quartett oder Ghor von Frauenstimmen oder 
Mannerstimmen) mit Clavierbegleitung. Das liebem- 
wurdige, aber sebr harmlose Werk verdankt diese Be- 
vorzugang seiner einfachen Form, welche liber das Lied 
nicht weit hinausgeht, seiner leichten Ausfuhrbarkeit und 
seinem Wohlklang. Als weitere Tonsetzer, welche vor 
einigen Generationen auf dem Gebiete der Psalmencom- 
Abt Vogler, position Ansehen genossen, sind zu nennen Abt Vogler, 
A. Bomberg, welcher in Marcello^s Wegen schritt, AndreasRomberg, 
P. Winter, der Componist der »Glocke«, und Peter Winter, von 
welchem fiinfzig Psalmen vorhanden sind. Die Mehrzahl 
der Compositionen dieser und verwandter Tonsetzer der- 
selben Epoche verl^uft ungemein breit, ermangelt aber 
aller Merkmale eines besonderen Psalm ensty Is, wie er in 
friiheren Perioden, wenn auch in verschiedenen Spiel- 
arten, hervortrat. 

Der erste Componist im neunzehnten Jabrhundert, 
dessen Psalmen einen tieferen und nachhaltigeren Ein- 
F. Mendelssohn, druck erreichten, war Felix Mendelssohn. Verschie- 
dentlich ist in der Zeit, wo seine Psalmen zuerst erschienen, 
die Meinung ausgesprochen worden, ob nicht auf dem 
Gebiete der kirchlichen Composition Mendelssohn's gr5sste 
Starke zu such en sei. Und diese Meinung mag wohl die 
richtige sein. Wir stehen, ermiidet durch den Eifer einer 
maasslosen Nachahmerschaft , auch ihnen heute etwas 
kuhler gegeniiber als die Musikwelt, welche vor fQnfzig 
Jahren lebte. Eine kurze Zeit der Ruhe wird sie wieder 
in ihrer ganzen Frische erstehen lassen. Sie sind einer 
langen Zukunft gewiss, wie alle Kunstwerke, in welchen 
sich eine wirkliche Individualitat, sei es auch eine be- 
schrankte, meisterlich aussert. In Mendelssohn's Psalmen 
dringt der weiche Grundton vielleicht allzu stark hervor, 
ihre Andacht bedient sich etwas h&ufig derselben Wen- 
dungen, und im Ausdruck der erhabensten, der diisteren 
und schauerlichen Ideen erscheinen ihre Tone etwas 
matt. Aber Mendelssohn's Bitten und Beten, sein Be- 
kenntniss des Gottvertrauens ruht nicht auf kalten Musik- 
formeln; ein warmer Strom herzlichen Geftihls und 



k 



^ 335 ^ 

gl&ubiger Hingebung durchdringt seine musikalischen 
Grebete und wenn er Gott lobt und dankt, schwingt sich 
seine Musik za einer Kraft und Begeisterung auf, welche 
uns erhebt und einzustimmen zwingt. Mendelssohn^s 
Jugend fiel in eine Zeit, in welcher auf alien Gebieten 
ein Aufleben des religidsen Gefiihls bemerkbar wurde. 
Von den Kunstlern folgten die einen, unter ihnen viele 
Maler, dieser Bewegung mit der Fantasie, die anderen, 
von Schleiermacher angeregt, mit dem Herzen. Auf 
letzterer Seite fand der junge Mendelssohn seine Stellung. 
Die directen musikalischen Quellen ftir Mendelssohn's 
Psalmenstyl liegen viel weniger in den Werken und der 
Weise von Bach und Handel, als hanfig behauptet wird. 
Von Letzterem hat sich Mendelssohn allerdings beein- 
flussen lassen. Aber seine Hauptyorbilder sind bei den 
Italienem zu suchen: in Marcello ftir die Cantaten, in 
den Meistern der Vocalperiode fiir die Psalmenmotetten. 
Unter den Psalmencantaten des Tonsetzers ist die 
bekannteste und am haufigsten aufgefiihrte die Compo- 
sition des 42. Psalms: »Wie der Hirsch schreit*. DieseF. MendelsBohn, 
Arbeit (op. 42), auf der Hochzeitsreise entstanden , ist Wie der Hirscii 
unter den grSsseren Vocalwerken Mendelssohn's diejenige, schreit. 
welche den sentimental-romantischen Grundzug seines 
Wesens am. stftrksten zum Ausdruck bringt. In alle 
Farben dieser MuSik ist ein gemeinsamer Beiklang milder 
Schw&rmerei gemischt und der leidenschafthche, ausserste 
Seelennoth kiindende Ton des Textes ist zu einem empfm- 
dungsvoll elegischen gedampft. Das Dichterwort von der 
•Wonne der Wehmuth« ist wie geschaffen fiir diese Com- 
position. Die Unterschiede in den Aeusserungen der ver- 
schiedenen Empfindungen : Sehnsucht, Bussgeftihl und 
•Hoffnung sind ausserordentlich feine. Sie wiirden unbe- 
merkt bleiben, wenn nicht die Form der musikalischen 
Mittheilung in ihrer Lebendigkeit und in ihrem Reich- 
thum ein Gegengewicht bote, welches Eindruck und Wir- 
kung sichert. In der Gestaltung dieser Form verrath sich 
jene Fiille von kunstgeschichtlichem Wissen und kunst- 
geschichtlicher Bildung, welche an der hervorragenden 



-^ 336 ♦- 

Stellung Mendelssohn's keinen geringen Antheil hat. Der 
Bekanntschaft Mendelssohn's mit der alten Psalmen- 
composition verdankt sein »4i. Psalm« einige seiner schdn- 
sten poetischen Yorziige: die Einschaltung von Recita-. 
tiven, den das antiphonische Verfahren nachbildenden 
Wechsel von Frauen- and M&nnerchoren, die Yereinigung 
von Solo- und Ghorgesang in sogenannten Ensemble- 
s&tzen, die durch Wiederholung des Thema ^Harre auf 
Gotta herbeigefiihrte Abrundung der zweiten H&lfte. Auch 
die Erweiterang des Textes durch den Schlossabschnitt 
Dpreis sei dem Herrn« ist auf eine Nachbildung der alten 
Tradition zurUckzufUhren , welche die meisten Psalmen 
durch Zufiigung dee kleinen »Gioria«, desselben, welches 
auch dem »Magnificata angeh&ngt wurde, abschloss. Unter 
den ChorsHtzen des Psalms ist der erste »Wie der Hirsch 
schreitf der bedeutendste. Ihn zeichnet ein grosser und 
freier Ton im Ausdruck der Sehnsucht nach Gott aus, 
sein Aufbau gelangt zu bedeutenden H5hepunkten. Der 
zweite dieser Hohepunkte, der Schluss des Mitteltheils, ist 
musikalisch durch eine geniale Wendung, die kiihne und 
feine Riickkehr in die Haupttonart F dur, gekennzeichnet. 
Der Schlusschor schl^gt energisch voile Saiten der Freude 
an, so dass der Horer durch einen frischen und festlichen 
Eindruck gehoben von dem Werke scheidet. 

Der nicht lange Zeit nach dieser Composition ent- 
F. Mendelssohn, standene 95. Psalm »Kommt, lasst uns anbeten« (op. 46) 
95. Psalm, verweudet den Solisten (Tenor) als geistigen Fuhrer der 
Menge. Dadurch, dass der Ghor seine Worte nachsingt, 
erhalten sie eine verdoppelte und verstarkte Bedeutung. 
Aus der Anlage der Composition spricht ein hohes Pathos. 
Sie beginnt im Gharakter demiithig frommer Andacht (Nr. 4 , 

Tenorsolo mit Ghor), ^ AUegro. durchsogenen 

gehtdannmitdem von :j£:fa!j P F T ^ ^^^^ ^° ^^^ 
dem festlichen Signale '^ ' KL-nJet her.iui Ton drangen- 

der Begeisterung Uber und endet nach zwei, denselben 
Stimmungskreis nochmals durchkreuzenden Zwischen- 
nummern, dem lieblichen, dankbar ergebenen Duett: 
»Denn in seiner Handu und dem kraftvollen Ghor »Denn 



-^ 337 ^ 

sein ist das Meera mil ernster Mahnung: die Schluss- 
nummer »Heute, so ihr seine Stimme h6ret« (Tenorsolo 
und Chor) ist eins der schonsten Ensemblestiicke, welche 
Mendelssohn erfunden hat. Im Ausdruck eines tiefen 
Ernstes, einer edel wehmUthigen und besorgten Stimmung, 
ist es eine ideale Leistung. Hoheit und Traurigkeit theilen 
sich in seinen Eindruck so eigenartig, dass man zum 
Vergleich nur Seitenstucke von Mendelssohn selbst heran- 
ziehen kann. Die Sopranarie »»Jerusalem , die du tod- 
test etc.tt aus »Paulus« steht in gieistiger Verwandtschaft 
am nachsten. Doch ist in diesem Finale des 95. Psalms 
die ahnliche Empfindung in eine viel grossere und mach- 
tiger erregte Form geleitet. Die Chorsatze des Psalms 
kennzeichnet eine grosse Einfachheit und Entschiedenheit 
der Melodik. Das Bild, welches Mendelssohn von der 
Psalmencomposition vorschwebte, trug den Wahlspruch: 
kernig und wurdig. Auf diesen Eindruck bin arbeitet die 
Behandlung der Vocalpartie, sie erreicht ihn namentlich 
mit den wohlberechneten Unisonostellen. Daneben linden 
sich aber Einzelheiten von grosster Feinheit der Auf- 
fassung. Besonders schon ist die Pianostelle im ersten 
Chor zu den Worten »und niederfallen <'. Es ist auch 
unbeschadet des Strebens nach grossem und einfachem 
Styl viele kunstvolle Arbeit eingesetzt. Den Schluss des 
zweiten Ghors bildet ein Canon zwischen Frauen- und 
Mannerstimmen iiber die Worte »Denn der Herr ist ein 
grosser Gotta. Am Schluss der Nr. 4 kehrt die Musik des 
Eingangs wieder. 

Von den Psalmencantaten Mendelssohn's erscheinen F. HendelsBohn. 
die beiden genannten im heutigen Concerte am haufig- Nisi dominus 
sten. Sein »Nisi dominuso (op. 34), der Erstling Mendels- ^nd 
sohn's in der Gattung, wahrend des ersten romischen ^* ^^^^^ *°^ 
Aufenthalts geschrieben,'ist eine durch die in den Satzen ^syp^^"^ zog. 
herrschenden Gegensatze machtige Composition. In seiner 
erregten Grundstimmung, welche mit der der Hauptarien 
der Glaubenshelden Paulus und Elias verwandt ist, mag 
er aber den Ideen, welche sich Mendelssohn spater selbst 
von der Psalmenmusik gebildet hatte, nur wenig 

II, 1. 22 



-* 338 «- 

entsprochen haben. Unter den Vorbildern, welchen Men- 
delssohn in diesem Werke nachfolgte, ist S. Bach zu be- 
merken. Von ihm riihrt die wiederholt versuchte An- 
n&herung an den Ton des Choralliedes her. 

Wenn dieser Psalm von dem Concert mit einigem 
Rechte ubergangen wird, so bleibt dies bei der grossen 
Psalmencantate, welche Mendelssohn liber »Da Israel aus 
Egypten zog« (op. 51) geschrieben hat, sehr zu bedauem. 
Das einzige Bedenken, welches man dieser, namentlich 
auch duTch auf Handel's Styl fussende Tonmalereien im- 
posanten Composition gegeniiber ^ussern kann, ist ein 
Lob: die Bemerkung, dass ein Uberreicher Musikinhalt 
etwas zu gleichm&ssig gedrangt zum Vortrag gelangt. 
Die Form dieses Vortrags war aber fiir Mendelssohn sicht- 
lich eine Principienfrage. £s gait ihm die starken Ein- 
schnitte der Gantate zu vermeiden. Auf die Componisten 
hat dieses Mendelssohn'sche Werk ein en bedeutenden 
Einfluss ausgeiibt, welcher auch darin sichtbar wird, dass 
in der Periode nach Mendelssohn dieser in der alteren 
Litteratur fast vernachlassigte Text eine Lieblingsvorlage 
der kirchlichen Tonsetzer geworden ist. 
F. Mendelssohn, Auf dem Gebiete der unbegleiteten Psalmenmotette 
Psaimen- hat Mendelssohn sehr nachdriicklich wieder das alte anti- 
motetten. phonische Stylprincip, den Wechselgesang der Chore, zur 
Geltung gebracht. Unter den Compositionen dieser Gat- 
tung ist das Hauptwerk die grosse achtstimmige Motette 
wRichte mich, Gott«. Die vierstimmige Motette »Aus tiefer 
Noth«, welche nicht selten in geistlichen Concerten vor- 
kommt, hat Mendelssohn ersichtlich nicht als Psalm be- 
trachtet, sondern als Chor allied. Sie besteht aus einer 
Reihe Chor -Variation en uber die Luther'sche Kirchen- 
melodie, welche an einer Stelle von einem freien und 
begleiteten Tenorsolo unterbrochen werden. 

Mit seinen Psalmencompositionen hat Mendelssohn 
eine Schule gegriindet, deren BlUthe heute noch fort- 
dauert. Auch auf die Anhanger aiterer Richtung wirkten 
die Arbeiten, welche Mendelssohn auf diesem Gebiete 
aufgestellt hatte, anregend. Sehr deuUich l&sst sich diese 



339 *- 



Thatsache in der Litteratur der fiir Mannerchor geschrie- 
benen Psalmen verfolgen, auf welchem Gebiete vorher 
B. Klein mit seiner kurz und geradeweg gehaltenen B. Klein. 
Composition die Fiihrung hatte. Schon in den vierziger 
Jahren wird hier das Mendelssohn'sche Muster maass- 
gebend, und ihm folgend und doch eigene Freiheit wah- 
rend, schrieben Manner; wie F. Schneider, J. Otto, F. F. Bclineider, 
Lachner,F. Hiller und J. Faisst sehr schone Psalmen- J. Otto, 
cantaten fiir Mannerstimmen, von vielen anderen Ton- F. Laohner, 
setzern (Adam, Erfurt, Stade etc.) begleitet und nachgeeifert. F. Hiller, 
Die Mehrzahl der bisher genannten Tonsetzer hat bei J, Faisat. 
der Composition der Psalmen nicht an den Konig David, 
sondern an die betende Tempelgemeinde gedacht und die 
Worte und Gefuhle der Dichtungen von der Lage und 
Stimmung der Einzelperson losgelost und auf das allge- 
meine Verhaitniss der Menschheit zu Gott Ubertragen. 
Nur eine kleinere Gruppe von Musikern hat dieser kirch- 
lichen, fiir den Allgemeingebrauch zurecht gelegten Auf- 
fassung gegenliber an dem subjektiven, personlichen Ur- 
sprung dieser Dichtungen festgehalten und demselben 
Ausdruck gegeben. Dies geschah in der Kegel durch 
einen starkeren Auftrag der Elemente, welche das Colorit 
und die Stimmung behandeln. Die Hauptvertreter dieser 
Richtung sind B. Marcello und A. Stadler. In neuerer 
Zeit hat mit besonderer Entschiedenheit Fr. Liszt diesen 
Standpunkt vertreten. Seine Psalmencompositionen — Fr. Liszt, 
fiinf sind veroffentlicht — haben aus diesem Grunde und Psalmen. 
weil sie in einem auf kirchlichem Gebiete ungebrauch- 
lichen Grade moderne Musikmittel verwenden, die offent- 
liche Aufmerksamheit in hervorragender Weise erregt. 
Das Concert hat von vier derselben Notiz genommen. 
Am seltensten erscheint der 18. Psalm »Die Himmel er- 
zahlen*, eine kraftig gehaltene Composition fiir Manner- 
stimmen, in welcher von dem Unisonosatz sehr geistvoU 
und wirksam reicher Gebrauch gemacht wird. Der 
23. Psalm ist in der erweiterten Form des dreitheiligen 
Sololiedes (Sopran oder Tenor) gehalten. Der Textabschnitt 
von »Und auch im Thai der Nacht« ab — Herder's gereimte 

22* 



-^ 340 ^ 

Paraphrase liegt zu Grunde — bis »Gut Heil wird stets rnn 
mich sein« bildet den erregten, pathetisch declamirten 
Mittelsatz. Der Haupttheil, der durch einige feierlich pr&- 
ludirende Tacte eingeleitet wird, verl&uft im Tone einer Be- 
geisterung, die sich im Ausdruck zarter Schwftrmerei kaum 
genug than kann. Das Golorit der Composition wird durch 
die Mitwirkung der Harfe stark mitbestimmt. Als im 
Concert ziemUch eingebiirgert diirfen Liszt's Compositionen 
des 4 37. und des 43. Psalms betrachtet werden. Jener, 
fiir eine Solostimme (Sopran oder Tenor) und Frauenchor 
mit Begleitung von Violine, Harfe und Pianoforte (Orgel) 
geschrieben, h&lt ebenso wie der 23. eine einfache drei- 
theilige Form ein. Der erste Theil erzahlt ohne Verweilen 
von den Leiden der Gefangenschaft und thut dies in 
einem Tone, welcher durch seine romantische Mischung 
merkwUrdig fesselt. Das klingt resignirt, miide und zu- 
gleich kraftvoU und stolz, apathisch traurig und auch 
zornig erregt. In den Gang schlichter Declamation fliessen 
ausdrucksvoUe Accente, gefiihl voile Gesangsstellen und 
Wendungen, welche orientalisch gef&rbt sind. £s erhebt 
sich vor uns eine Gestalt, vom Alter halb gebrochen, 
aber mit dem Adel und der Wtirde des Prophetenthums 
angethan, eine musikalische Uebertragung Bendemann- 
scher Figuren. Technisch ruht diese Einleitungsscene des 
4 37. Psalms hauptsach- ^ Der zweite, nur 

lich auf dem von Liszt m » j ^j I jjJ J I I . kurze Theil des 



unzertrennlichen Motive Psalms lenkt 

plotzlich ins Dramatische hiniiber. Mit Bitterkeit und 
parodirender Ironie fuhrt der Sanger die Scene vor, in 
welcher die Babylonier die heiligen Lieder Zions als Unter- 
haltung zu horen begehrten. Grimm und tiefste Trauer 
15st er dann in einen Ausbruch von Sehnsucht und Liebe 
auf, in den gewaltigen Ruf : » Jerusalem*. Dieses Wort in 
diesem Augenblick reisst die Genossen mit fort: Der Chor 
stimmt heissen Herzens mit ein in das Wort »Jerusalem«. 
Ein begeistertes und inniges Gedenken an die Stadt der 
Vater, in welches Solo und Chor sich theilen, ftillt den 
dritten Theil der Composition. 



Der 43. Psalm »Herr, wie lange willst du memer ver- 
gessenff, f(ir Tenorsolo, Chor und Orchester geschrieben, 
geht fiber die einfacbe Anlage der beiden geschilderten 
Psalmen weit hinaus. Schliessen sich jene dem Liszt- 
schen Liede n&her an, so ist dieser 4 3. Psalm formell 
mit den sinfonischen Dichtungen des Tonsetzers verwandt. 
Die thematische Erfindung, zum Theil sehr charakteri- 
stisch, folgt zu einem andern Theile rein musikalischen 
Zielen der Wirkung durch den Contrast. An Einzelstellen 
von genialer Eingebung ist auch diese Composition reich ; 
unter ihren geschlossenen Partien ragt durch Geist und 
voUendete Form das Andante con moto % hervor. 

Liszt ist mit seiner Behandlung der Psalmen ohne 
eigentliche Nachfolge geblieben. Es sei denn, dass einer 
Oder der andere der spateren Tonsetzer von diesen Ar- 
beiten eine coloristische Anregung entnommen bat. So 
scheint durch ihn die Aufmerksamkeit auf die Harfe ge- 
lenkt worden zu sein. Sehr wirksam hat dieses geschicht- 
liche Psalmenin strum ent Miiller-Hartung in seiner MfUler-Hartangi 
kr^ftigen und wirksamen Composition des 90. Psalms 90 Psalm, 
verwendet. In den wesentlichen stylistischen Punkten 
stehen die bervortretenden neueren Psalmencomponisten 
(E. Grell, E. F. Richter, R. Franz, W. Rust, W. Stade, B. Orell. 
S. Jadassohn) auf der Seite Mendelssohn's. Auch E. F. Biohter. 
H. Gotz (4 37. Psalm) ist dieser Gruppe beizuzahlen. E. Franz. 
Selbstandig erscheinen Moritz Hauptmann, dessen W. Bust, 
wohlklingende, andachtsvolle a capella-Compositionen die W. Btade. 
Kirchen chore nicht vergessen soUten, und JoachimR af f. 8. Jadassohn. 
Seine sehr umfangreiche, fiir achtstimmigen Chor und H. Gfitz. 
grosses Orchesters bestimmte Bearbeitung des »De pro- M. Hauptmann. 
fundis« wird selten aufgefuhrt. Ihre wirksamste Partie J. Baff, 
hat die Composition in der Sopranarie mit Frauenchor De profundis. 
»Quia apud te«, welche reich ist an bedeutenden De- 
clamationsstellen. Zwei schlichte, aber bemerkenswerthe 
Arbeiten auf dem Psalmenf elde besitzen wir von J.Brahms. J. Brahms, 
Sein 4 3. Psalm ist ahnhch wie der Psalm von Franz 13. Psalm. 
Schubert, dem viele Neuere gefolgt sind, fiir aequale 
Stimmen geschrieben : ftir dreistimmigen Frauenchor mit 



348 ^ 

Begleitung der Orgel. Die Anlage ist die der alien ita- 
lienischen Cantate: eine Folge von knapp gehaltenen 
Satzen, die sich ohne Unterbrechung aneinanderschliessen. 
Der Ausdruck ist einfach aber reich, namentlich durch 
ungesuchte Energie ausgezeichnet. Die Composition 
(op. 27) gehort zu der Reihe von Vorarbeiten auf geist- 
lichem Gebiete, durch welche Brahms zu dem Schopfer 
des »Deutschen Requiems« heranreifte. Einzelne Partien 
des Psalms erinnern formell und geistig direct an den 
vierten Satz jenes grossen Werkes. Wenn wir der Com- 
position im Concert so selten begegnen, so liegt ein 
Grund dafiir mit in der anstrengenden Fiihrung der 
oberen Sopranstimme. In grosseren Verhaltnissen mit 
mehrfacher Benutzung der Fugenform hat Brahms den 
51. Psalm »Schaffe in mir Gott« (fiir gemischten Chor 
a capella) angelegt. Im Mittelpunkt der Composition steht 
der leidenschaftlich diistere Satz: »Verwirf mich nicht«. 



Unter den Kirchenstiicken auf biblischen Text, welche 
von den alteren Tonsetzern fast standig componirt zu 
werden pflegen, sind noch die Litaneien und die La- 
mentationen zu nennen. Die Litaneien sind Bittge- 
sange, welche mit den Anfangsworten der Messe, dem 
»Kyrie eleison« beginnen und mit ihren Schlussworten 
»Agnus dei, miserere nobis<« enden. Der dazwischen lie- 
gende Text wechselt nach den Veranlassungen, fiir welche 
die Litanei angestimmt wird. Nimmt die Litanei die 
Stelle des allgemeinen Kirchengebets ein, so kehrt das 
volksthtimliche »Kyrie eleison« in vielfachen Wieder- 
holungen wieder. Wird sie bei Wallfahrten und Pro- 
cessionen angestimmt, so ruft man der Mutter Maria oder 
anderen Heiligen zahlreiche »Ora pro nobisw zu. In der 
Composition wurden die Litaneien in der Kegel fiir 
Wechselchore gesetzt, aber in einem einfachen und 
knappen Style. Die Lamentationen haben Klagelieder 
des Jeremias zum Text und gehoren im katholischen 



-fr 343 ♦- 

Cultus zu dem musikalischen Bestand der Charwoche. 
Mit den Passionen theilen sie ausser dieser Bestimmung 
auch manche formelle Eigenschaften. Auch bei den La- 
mentationen ist die Ueberschrift als feierlicher Introitus 
mitcomponirt. Noch befremdlicher sind aber die bei 
einigen Tonsetzern gebrSuchlichen Zwischensatze zwi- 
schen den einzelnen Versen. Ihren Text bilden Buch- 
staben des hebraischen Alphabets. Aleph nach dem ersten, 
Beta nach dem zweiten, Ghimel nach dem dritten Vers 
u. s. w. Musikalisch sind diese Zwischensatze in der 
Kegel die Kernstellen der Composition, von den Ton- 
setzern in concentrirtester Stimmung und mit der grossten 
Anspannung der kiinstlerischen Kraft entworfen, ein merk- 
wiirdiges Surrogat einer ausdrucksvollen Instrumental- 1 
masik. 

Ihr Text macht die Litaneien wie die Lamentationen 
fiir das Concert wenig geeignet. Es erscheinen hier des- 
halb auch nur ganz wenige von ihnen. Bekannt sind 
die Lamentationen von G. Allegri (mit Schluss von G.Allegri(Biordi) 
Biordi), seltener kommen die von Fr. Durante vor. Mit Lamentationen. 
Begleitung sind die Lamentationen uberhaupt wenig com- Fr. Durante, 
ponirt worden. Dagegen wurden die Litaneien auch in Lamentationen 
der Zeit und in dem Style der Cantate noch haufig in ^^* Litanei. 
Musik gesetzt. Das Concert kennt als Litaneien letzterer 
Art die von Fr. Durante und von W. A. Mozart. W. A. Mozart, 

Litanei. 



Wenn bisher vom Motettenstyle die Rede gev/esen, 
ist, so war das Wort Motette in dem Sinne gemeint, 
welcher heute der allgemein gebrauchlichste ist, in dem 
Sinne, in welchem man unter Motette unbegleitete kirch- 
liche Chorsatze jeder Art versteht, welche nicht zur 
Messe, zum Lied und zum Chorale gehoren. Diese Be- 
* stimmung, welche von dem musikalischen Style ausgeht, 
reicht fiir den grossten Theil der Motettenlitteratur aus 
und scheint zu jeder Zeit der anderen gegeniiber, welche 
die Tonsatze nach Text und liturgischer Verwendung 



-^ 344 ♦- 

ordnet und benennt, gleichberechtigt oder bevorzugt ge- 
wesen zu sein. So hat Palestrina z. B. sein beriihintes 
• Stabat inater« nicht unter dem Titel Hymne, sondem 
als Motette ver5ffentlicht und ist mit seinen Psalmen- 
compositionen ebenso verfahren. Ja die Liturgik selbst 
hat sich dem musikalischen Gesichtspunkte mit einem 
wahren Uebereifer untergeordnet und ihn dahin erweitert, 
dass alle kirchlichen Tons^tze, welche nicht zu dem 
Ordinarium derMesse gehorten, Motetten genannt wurden, 
schliesshch sogar ohne Riicksicht darauf, wess musika- 
lischen Styls sie waren. So ist es mit diesem letzten 
Schritte dahingekommen , dass auch Offertorien, Gra- 
dualien und andere Satze, welche mit Orchesterbegleitung 
componirt waren, wie z. B. Haydn's »Insanae vanae curae«, 
doch unter der Benennung Motetten in Umlaiif kommen 
konnten. 

Urspriinglich scheint die Motette der weltlichen Musik 
angehort zu haben. Sie war ein Satz iiber einen kurzen 
Spruch (franzosisch : mot). Die Niederlander ubertrugen 
sie auf Bibelspruche und andere geistliche Texte und 
fiihrten sie in dem auf cantus firmus ruhenden contra- 
punktischen Style aus, welcher ihn en eigen war. 

Dieltaliener iibernahmen einfach den niederlandischen 
Styl der Motette und errichteten in ihm einen Schatz 
von Tonwerken, dessen Umfang unermesslich gross ist. 
In unseren neueren Sammelwerken liegt ein achtbarer 
Bruchtheil jener alten niederlandischen und italienischen 
Motettenarbeit im bequemen Partiturdruck vor, welche 
auch fur den Kirchendienst mehr und mehr nutzbar ge- 
macht wird. Was davon als standige Erscheinung in das 
Repertoir der Concerte aufgenommen ist, beschrankt sich 
G. P. da Pale- bis heute auf wenige Werke und Namen. Palestrina 
strina, ist vertretenmit wAdoramus te Christe«, »0 crux ave«, 
Motetten. »Sicut cervus« (1. Theil), »Gaudent in coelis« und 
den Improperien. Jene drei gehSren nicht eigentlich 
zu Palestrina's bedeutendsten Motettenwerken. Sie ver- 
anschaiilichen aber in ihrem Verhaltniss zum Text sehr 
gut die milde feine Natur des grossen Meisters und 



-«^ 345 

empfehlen sich einer, an den langausgesponnenen Styl 

der alten italienischen Motette nicht gewohnten ZuhSrer- 

schaft gegeniiber durch ihre kurze Fassung. Die Impro- 

perien gehoren weniger in den Motettenstyl, als in einen 

Psalmenstyl, wie ihn ahnlich Allegri fiir seine »Miserere« 

verwendete. Palestrina benutzte, wie der genannte Ton- 

setzer, zu diesem merkwurdigen Charfreitagsdialog, welcher 

gebetsartig schliesst, ebenfalls absichtlich die einfachsten 

Tonformen und erzielte mit ihnen einen alterthumlichen, 

fremdartigen und halb schauerlichen Eindruck. Die kleine 

Arbeit half Palestrina's Bedeutung erkennen und hat bis 

zur Gegenwart zum eisernen Bestand der Charwochen- 

musik in der Sixtina geh6rt. Neuerdings bringen die 

Chorvereine in ihren geistlichen Concerten aus dem Mo- 

tettenschatz auch haufiger eine oder die andere Nummer 

aus den 29 Satzen, welche Palestrina fiber Verse -aus 

dem »Hohen Lied« des Salomon geschrieben hat. Leider 

erschwert die Natur des Textes den Genuss dieser herr- 

lichen schwarmerischen Compositionen , die wegen der 

Warme ihrer Empfindung und wegen ihrer Annaherung 

an die Stimmung des Madrigals zu den gefeiertsten, be- 

liebtesten und verbreitetsten Arbeiten des Meisters ge- 

horten. Die Improperien sind in unseren Concerten auch 

in der Composition von L. Vittoria vertreten. Die Be- L. Vittoria, 

arbeitung dieses Tonsetzers beruht auf einem kiirzeren Motetten. 

Text. Mit Palestrina's Auffassung stimmt sie principiell, 

d. h. in der Verwendung psalmodirender Elemente, iiber- 

ein, weicht aber an einzelnen Satzschliissen durch eine 

bewegtere Melodik ab. Ihr Charakter ist heller. 2wei 

andere Motetten des Vittoria, welche ebenfalls auf dem 

Repertoir der Chorvereine als eingebiirgert betrachtet 

werden'konnen, sein »0 vos omnes« und sein »Jesu 

dulcis memoria« gehoren ebenfalls jener Classe kurzer 

und sinniger Motetten an, welche in Form und Geist sich 

dem Liede nahern. Unsere Mannerchore haben aus 

dieser Gattung ihr Repertoir mit Originalcompositionen 

und Arrangements aus der Vocalperiode ebenfalls zu be- 

reichern begonnen. Als einer der noch wenig ausgenutzten 



-^ 346 ^ 

H. L. Hassler. Meister ist hier H. L. Hassler zu nennen. Diejenigen 

unter den zur Zeit allgemein gelHufigeii Motettencompo- 

sitionen des 16. Jahrhunderts, welche die Verbindung, in 

welche die Motette mil dem Liede trat, am deatlichsten 

J. Arcadelt, zeigen, sind das »Ave Maria« von J. Arcadelt und das 

Ave Maria. »Ecce quomodoa von Jacob Gallus. Beide Tonsetzer 

J. GallnB, haben viel grossere Motetten geschrieben — von Arcadelt 

Ecce quomodo. war namentlich das achtstimmige »Pater noster« beriihmt 
— aber diese schonen Kleinigkeiten sind von einem be- 
sonderen geschichtlichen Interesse. Diese Werke fliessen 
melodisch in lauter kleinen, reizenden Wellen einher, 
Arcadelt — dessen Autorschaft allerdings angezweifelt 
wird — setzt in choralartigen Strophen ab: Gallus aber 
wird mit der Wiederholung des riihrenden Refrains »Et 
erit in pacea ganz volksthiimlich. Dass in der letzteren 
Composition Blut vom deutschen Volksliede fliesst, ist 
schon haufig ausgesprocben worden. Wie sehr iiber alle 
Motetten des 4 6. Jahrhunderts hinweg dieses »Ecce quo- 
modo moritur« bekannt und beliebt war, das beweisen 
die friiher citirten Falle von Verwendung dieser Com- 
position durch andere Tonsetzer. 

Orlando di Lasso hat den streng contrapunktirenden 
Motettenstyl mit cantus firmus nur in einzelnen Satzen. 
Sein sechsstimmiges » P a t e r n o s t e r « in F ist eine Meister- 
arbeit dieser Gattung: die liturgische Grundmelodie im 
unteren Tenor, die iibrigen Stimmen nachahmend oder 
in freier Anmuth neue Ideen der Andacht hinzutragend. 
Die Mehrzahl der Motetten Orlando's hat einen beschei- 
denen Umfang, zeigt uns aber in demselben Stuck den 
Motettenstyl mit madrigalischen Elementen stark ver- 
mischt. In der Kegel wird durch die letzteren der gei- 
stige Charakter der Composition bestimmt, wi6 in der 
bekannten Weihnachtsmotette »Angelus ad pastores« 
mit dem kraftig frohlichen Hallelujahschluss oder in dem 
vierstimmigen »Regina coeli«, welches heitere Figuren 
durchroUen. Das Recht der Motette wahren Nachahmungen 
kleinerer Form. Die in Styl und Gedanken reichste unter 
den heute im Concert vorkommenden Motetten des 



347 



Orlando ist sein vierstimmiges »Salve reginac, eine 
Composition, in welcher erbabene, ruhrende und naive 
Ztige zu einer wunderbaren Einheit verschmolzen sind. 
Formell ist in dem kieinen Meisterwerke besonders die 
Benutzung von Pausen und Synkopen an der Stelle »ad 
te suspiramusa interessant. Auch die durch die Anecdoten 
uber ihre erste Auffuhrung besonders beruhmte Motette 
nGustate et videte« geb5rt zu den wirkungsvollsten 
Arbeiten Lasso's. 

Die Motette wurde viel tiefer und fortgesetzt in den 
Entwickelungsprocess der Tonkunst bineingezogen als die 
Messe. Wahrend sich die letztere gegen eine ganze Reibe 
unbedeutenderer formeller Durchgangserscbeinungen ibre 
Abgeschlossenheit wahrte, hinterlassen die letzteren fast 
alle in der Motette ibre Spuren. So kann man z. B. 
die voriibergebende Herrscbaft der Ghromatik in der 
Motettenlitteratur des ausgehenden 4 6. Jabrbunderts ziem- 
lich genau verfolgen. Die dramatiscbe Ricbtung, welcbe 
endlicb aucb in die Messe siegend eindrang, nabm von 
der Motette viel friiber scbon Beschlag. Das bekannte 
»Salve reginan des alteren Bernabei z. B. verdankt 
seine scbonen Declamationsstellen dieser Tbatsacbe. In 
Italien fubrte diese Wendung zunacbst zu einer voll- 
standigen Verweltlicbung der Motet tenmusik, von welcber 
wir an dem »Exultate deoa des A. Scarlatti, ferner 
an den Motetten Legrenzi's und Rovetta's — um in 
Deutscbland bekannte Stiicke zu nennen — bereits An- 
fange beobachten konnen. Noch wabrend des 17. Jabr- 
bunderts ging in Italien die Motette als a capella-Com- 
position zu Grunde. 

In Deutscbland batte die Motette scbon seit dem 
Anfang des 4 6. Jabrbunderts einen Theil ibres Gebiets 
an Lied und Cboral abtreten mussen. Bedeutende und 
durcbgebildete Tonsetzer ricbteten alte und bekannte 
weltlicbe und geistlicbe Melodien fiir einen mebrstim- 
migen Tonsatz ein. Der gemeine Mann borte seine eignen 
lieben Weisen in der Kirche in einer Form, welcbe ihm 
einzustimmen eriaubte, deren sinnvolle und kunstvolle 



Bernabei, 
Salve regina. 



A. Scarlatti, 

Exnltate deo. 

Legrenzi nnd 

Bovetta, 

Motetten. 



348 



F. Leisring, 

Trotz sei dem 

Teufel. 

H. Franok, 

In den Armen 
dein. 

A. Hammer- 

Bohmidti 

H. Sohfltz. 



Harmonie aber sein Denken und Ftkhlen hoher trugen 
Yereinzelte und verwandte Ersckeinangen einer solchen 
auf volksthiimlichem Grand aufgerichteten kirchlichen Ton- 
kunst kommen auch in anderen Lftndem vor. Aber wir 
dttrfen nns dieses deutscben Scbatzes als eines besonders 
reichen und systematisch ausgebildeten freuen. Das beu- 
tige geistliche Concert thut Recht daran, wenn es die lie- 
benswiirdigen Sfttze der Hassler, Gumpoltzsbaimer. 
Scbrdter, der beiden Pr^torius, Galvisius, Boden- 
scbatz, der Eccard und Stob&us immer wieder in 
Erinnerang bringt. Die Spitze dieser Entwickelung bilden . 
die preussischen Festlieder von Eccard, welche sicb 
bereits der Motette wieder nftbern. Aucb auf die con- 
trapunktirende Motette der Deutscben bat die Berlibrung 
mit den volksthiimlicben Formen einen Einfluss geslussert. 
Mit der italieniscben verglichen, ist der deutscben Mo- 
tette eine lebhaftere Haltung, ein rascberes Wesen eigen. 
Motive, Chore und Chorgruppen wechseln scbnell. Ein 
bewegter Zug geht durcb die Form. Der Ausdruck iiber- 
rascbt durcb Kraft einerseits, andererseits durcb Herz- 
lichkeit. Fiir den ersteren Fall bietet das Concert einen 
Beleg in F. Leisring's »Trotz sei dem Teufeh, ffir den 
anderen in Milcbior Franck's berrlicber Motette: »In 
den Armein dein«. Andreas Hammerscbmidt, einer 
der gefeiertsten Motettencomponisten des 17. Jabrbunderts, 
zeigt uns in den beute nocb von ihm gesungenen Werken 
»Scbaffe in mir Gott« und »Sei gegrlisst Jesu« dieselben 
Eigenschaften, allerdings durcb einen Zug von Trocken- 
heit beeintrachtigt. Aucb in der Motette ist Heinricb 
Scbutz der hervorragendste unter den deutscben Ton- 
setzern des 17. Jabrbunderts. Was von Schiitzens Mo- 
tettenwerken im Concert beute gesungen wird, bescbrankt 
sicb allerdings nur auf wenige Nummem : Nur seine Mo- 
tette: »Cantate domino«, sein begleitetes »Pater noster«, 
der Dialog zwischen dem Engel und Maria und die Scene 
»Saul, Saul, was verfolgst du mich« kommen regel- 
massiger auf dem Programm vor. Aber diese kleine An- 
zabl Werke geniigt, um einen Begriff von dem zu geben, 



-t- 349 ^ 

was Schutz als Motettencomponist geleistet hat, und die 
wesenilichsteQ Eigenschaften seines Geistes und seiner 
Kunst zu veranschaulichen. Die Motette »Cantate« 
stimmt mil dem alien Style noch ziemlich eng uberrein : 
FUr jeden neuen Gedanken des Textes wird ein neues 
Tonmotiv aufgestellt und in den betheiligten Stimmen zu 
einem selbstS,ndigen Abschnitt ausgefiihxt. Schiitzens be- 
sondere Art spricht sich in der Einfachheit und Be- 
stimmtheit dieser Motive aus. Sie haben eine bildliche 
Kraft und Anschaulichkeit, welche naturfrisch auf die 
Fantasie des Zuh5rers einwirkt und zur Mitarbeit fort- 
reisst. .Von welcher Gewalt ist der Einsatz dieses »Can- 
tate«, und doch besteht das ganze Thema nur aus den 
Dreiklangsnoten. Mit gleicher Kraft und Natiirlichkeit 
giebt das Motiv bei «in tympano^ den Glanz und die 
Wucht einer stolzen Festmusik wieder. Das neue for- 
melle Element dieser Motette besteht nur in der Hinzu- 
fugung einer Viadana'schen Generalbassstimme. In den 
anderen der genannten Motettenwerke Schiitzens macht 
sich der Einfluss der neuen italienischen Musikentwickelung 
tiefer geltend. Sie enthalten concertirende und drama- 
tisirende Bestandtheile und sind auf die Mitwirkung der 
Instrumente, auf den Wechsel von einzelnen Stimmen 
und Chorgesang bin gleich entworfen. Wie die Mehr- 
zahl der grossen Tonsetzer in der Zeit des 46. und 47. 
Jahrhunderts hat auch Schiitz das »Pater noster<t mehr 
als einmal componirt. Die von Rochlitz und anderen 
neueren Sammlem mitgetheilte Bearbeitung, welche in 
unseren Chorauffuhrungen zuweilen zu Gehor gebracht 
wird, behandelt das Gebet des Herm in einer sehr brei- 
ten und durch sch5ne OhginalitSlt ausgezeichneten Form. 
Der hervorstechendste Zug ist die Durchftihrung des 
kurzen, zweit5nig breiten Anrufmotivs »Vatera. Vor den 
einzelnen Bitten immer wieder von Stimme zu Stimme 
getragen, giebt es der Composition eine besondere In- 
brunst. Die einzelnen Bitten haben nach alter Motetten- 
art jede ihr eignes Thema. Der grOsste Theil dieser 
Themen ist aber modem geformt und sehr eingehend 



-<«. 350 ^ 

durchgefiihrt. Erst am Schlnsse beim »Denn dein ist das 
Reich « lenkt Schiitz in den antiphonischen Chorstyl ein, 
in welchem die Venetianer — nach ihnen auch Hassler — 
das »Pater riosler« durchaus zu behandeln pflegten. Die 
gewaltigste unter den heute bekannten dramatischen Mo- 
tetten nicht bios Schiitzens ist dessen vierzehnstimmiger 
Satz (ausserdem noch Orchesterbegleitung : 2 Violinen und 
Continue) »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« 
Schiitz hat in diesem Stiick den Versuch gemacht, die 
Stimme Gottes, welche den Saulus auf seinem Wege 
nach Damaskus zum Paulus machte, musikalisch darzu- 
stellen und diesen Versuch in einer gewaltigen genialen 
Art durchgefiihrt. Das einfache, aber durch Pausen und 
durch den dreimaligen Namensruf Saul sehr ausdrucks- 
voll, fast bedrohlich wirkende Fragethema: »Saul, Saul, 
Saul, was verfolgst du mich« setzt in den tiefsten Bassen 
wie in der Feme und im Dunkeln ein, wandert leise 
nach der Hohe durch den Cher, klingt im Orchester 
magisch an, ruckt plotzlich im erschreckenden Forte der 
drei Chore mit den Instrumenten wie eine Riesengestalt 
in leibhaftige Nahe, verliert sich wieder, kehrt zuriick, 
wechselt aus dem Unheimlichen und Grandiosen ins Zu- 
sprechende und Riihrende, behauptet den Platz dann 
lange fest, bald flehend, bald drohend, und schwindet 
endlich so plotzlich, wie es gekommen. Gegen das Ende 
hin hat Schiitz mit einem von ihm oft beliebten Satz- 
mittel, dem der liegenden Stimme, eine gewaltige Wirkung 
erreicht. Es ist unheimlich und beangstigend, wie die 
Jangen Noten des Haupttenors die bewegte Rhythmik 
der anderen Stimmen durchdrShnen. Das Tonbild als 
Ganzes erreicht die erschiitternde Wirkung einer Vision. 
Die formelle Anlage ist dreitheilig. Den Mitteltheil nimmt 
die den Solostimmen gegebene Durchfiihrung des im 
ruhigen Ernste warn en den Themas »Es wird dir schwer 
werdenw ein. Nebenbei sei bemerkt, dass sich unter den 
SologesM,ngen Schiitzens ein Seitenstiick zum » Saul a in 
der grossen Klage David's »Absalon, fili mei|« findet. 
Auch diese Composition (furBasssolo, Orgelund Posaunen) 



^ 35< ♦- 

ist nach dem Princip des Crescendo und Decrescendo an- 
gelegt und erschtitternd durchgeflihrt. 

Solche von der alten Motettenform abweichende Er- 
satzstiicke der Motette batten auch neue Gattnngsbe- 
zeichnungen. Schiitz nannte derartige Werke ganz all- 
gemein »Cantiones sacraeo und anders, andere Tonsetzer 
erfanden entsprechende Titel: Stobaeus: Dialoge, Hammer- 
Schmidt: musikalische Gesprftche etc. 

Wenn in Deutschland die dramatisirte und begleitete 
Motette die alte a-capella-Motette nicht so vollig ver- 
drUngte wie in Italien, so verdanken wir diesen Umstand 
der Existenz der Currenden, welche bei ihren Umziigen 
und bei ihren Auffuhrungen auf der Strasse und vor den 
H&usern die unbegleiteten Chorsfitze nicht entbehren 
konnten. Besonders in Sachsen und Thiiringen' batten 
die Currenden eine tief ins Volksleben eingreifende Be- 
deutung. Dort sind auch im il. und 18. Jabrbundert die 
meisten a-capella-Motetten geschrieben worden: im 
Durchschnitt Werke, an welche man einen streng kirch- 
lichen Maassstab nicht anlegen darf. Sie spiegeln aber 
ein riihmlicbes Stuck deutscher Musikgeschichte wieder. 
Man siebt, wie viel musikalische Tuchtigkeit und Eifer 
in diesen Landem herrschte, man siebt die Naivetat des 
blossen Handwerks, man hort den Pulsschlag des froh- 
lichen deutschen Herzens und man bemerkt auch in 
ihnen besondere Stromungen des religiosen Lebens 
und der Entwickelung der Tonkunst. Von dem neuen 
dramatischen Musikwesen, welches aus den Residenzen 
zu den Cantoren und Organisten hindrang, eignete sich 
die Currendenmotette etwas Sinn fiir Effect, Contrast 
und Declamation an. Tiefer ward sie nicht bertihrt. Die 
Neigung zu rhythmischer Lebhaftigkeit besass sie von 
allein als ein Geschenk, zu welchem die heimathliche 
Volksmusik und zum grosseren Theil die Orgelmusik bei- 
gesteuert batten. Die reiche Einmischung von Orgel- 
figuren in den Vocalsatz ist bis auf Schicht's Zeit ein 
Kennzeicben der deutschen Motette geblieben. Erst 
durch Mendelssohn trat eine grundliche Aenderung ein. 



352 ^ 

Ein Hauptvertreter der hochsten Art Thtiringer Mo- 
ll. Baoh. tettenkunst ist Michael Bach, von dessen Werken 
vor einigen Jahrzehnten noch die Stiicke »Nun hab' 
ich iiberwundenw, wUnser Leben ist«, »Herr, wenn ich 
dich nur habe^, »Ich weiss, dass mein £rl5ser lebt« in 
Chorconcerten anzutreffen waren. Auch die Motetten 
J. S. Bach, seines grossen Neffen J. S. Bach, diejenigen Motetten, 
an welche wir denken, sobald von der Gattung tiber- 
haupt gesprochen wird, haben zum Theil einen Zug der 
thuringischen Currendenmotette. Das ist die Freude am 
Singen und Klingen, die SeIbstS,ndigkeit des musikalischen 
Elements im Chorsatz. Bach ging allerdings iiber den 
Durchschnitt der heimathlichen Vorbilder schon darin 
iiberlegen hinaus, dass er seine Motetten fur Begleitung 
schrieb. Diese Thatsache steht durch das Zeugniss von 
Ph. E. Bach fest, sie ergiebt sich aus den harmonischen 
Verhaltnissen vieler Stellen, deren Accorde nur dann 
richtig sind, wenn man den Bass als einen sechzehnfiissigen 
Orgelbass auffasst. Mit kleinen Aenderungen kann man 
sie jedoch auch a-capella singen. Bach fasste in seinen 
Motetten, man kann fast sagen, Alles zu einer hoheren 
Einheit zusammen, was in den sammthchen Styler- 
scheinungen der Motettengeschichte bis dahin Schones 
und Berechtigtes zum Vorschein gekommen war: das 
vollendete gesangliche Wesen der friihen Vocalperiode, 
die Bestimmtheit und den Reichthum des Ausdrucks, 
welcher die dramatische Periode kennzeichnet , die Frei- 
heit der musikalischen Bewegung, den Schmuck und die 
grosse Anlage des Formenbaues, welche sich mit dem 
Concertstyl entwickelten. Und er fiihrte alle diese Vor- 
ziige noch auf eine hohere Stufe. Es wird auch von den 
Sangern, von den Mitgliedern der Chorvereine empfunden, 
dass diese Bach'schen Motetten eine Krone der Gattung 
sind. Sie setzen ihren besonderen Stolz darein, die 
Schwierigkeiten, welche in dem hSufig orgelartigen Style 
dieserWerke liegen, zu Uberwinden, und es giebt Nichts 
in dem grossen Bereiche der Chorlitteratur, was schliess- 
lich mit grosserer Lust und Freude gesungen wird. 



i 



353 

Obwohl nach seiner amtlichen Stellung angenommen 
werden kann, dass Bach sehr viele Motetten geschrieben 
hat, besitzen wir doch nur fiinf, bei denen die Echtheit 
genugend verbiirgt ist. Ihre Textanfange heissen : »Singet 
dem Herrn«, »Komm, Jesu, komm«, wFiirchte dich nicht«j 
»Der Geist hilft«, »Jesu, meine Freudecr. Diese Motetten 
sind beilaufig die einzigen unter den Vocalwerken Baches, 
welche den grossen Schlaf, in welchem Jahrzehnte lang 
die ganze Gesangcomposition des Meisters lag, nicht mit- 
geschlafen haben. Sowohl bei den Thomanern als auch 
bei anderen sachsischen Schulerchoren blieben die Mo- 
tetten bestandig in Uebung und wirkten als Ansporn des 
Ehrgeizes. Sie sind es, welche Mozart bei Doles kennen 
lernte. Vier unter diesen Motetten sind achtstimmig, 
doppelchorig; eine, »Jesu, meine Freude«, die langste von 
alien, ist funfstimmig. Es sind sammtlich Choralmotetten, 
doch ist die Stellung, welche der Choral in den einzelnen 
Stiicken einnimmt, eine verschiedene. Im grossen Ganzen 
tritt er mehr als Schmuck und Beigabe auf, denn als 
Grundstutze der Erfindung, als welche ihn die alteren 
Tonsetzer in der Motette gem handhabten. 

Unter den achtstimmigen Motetten des Bandes sind 
die bedeutendsten die Nr i »Singet dem Herrn« und die 
Nr. 4 »Komm, Jesu, komm«. Sie tragen am starksten die 
Ztige des Bach'schen Geistes, die Kraft und Tiefe der 
Empfindung, die Kiihnheit und Macht des Ausdrucks und 
die subtile Feinheit der Auffassung. In der Behandlung 
und Wirkung des Klangwerkes, in der Giite der soge- 
nannten Factur stehen die anderen ihnen ziemlich gleich. 

Die Motette »Singetdem Herrn« gehSrt textlich 
zum grossen Theil der Psalmencomposition an. Es sind 
die bekannten Anfangsverse des 4 U. Psalms, welche ihrem 
ersten Satze zu Grande liegen. Bach lasst sie uns wie 
aus dem Munde einer von Freude machtig erregten 
Menge horen. Ohne alle Einleitung und Vorbereitung 
fiihrt er uns Mitten hinein in das bereits im vollen 
Schwunge begriffene Jubiliren und Concertiren der be- 
geisterten Massen. Obwohl es des Anfeuerns nicht bedarf, 

n, 1. 23 



^ 354 ^ 

horen wir doch All?modert*o. Dieses freudige Signal 
durch den ganzen 'jf^l'ff | j : belebt die wunderbar 
Satz den einen Chor - W ^ ' y=- fliessende und voile 
dem andern zurufen : sin.grt Composition mit sce- 

nischer Anschaulichkeit. Der formellen Anlage nach be- 
steht dieser grosse erste Satz aus zwei Theilen. Der 
erste folgt dem herkdmmlichen Branch derMotette, dass 
jeder selbstandige Textgedanke sein eigenes musikaliscbes 
Thema hat. Wir haben drei Spniche; a) »Singet dem 
Herrn ein neues Lied«, b) »Die Gemeinde der HeiUgen sollen 
ihn loben«, c) »Israel freue sich des, der ihn gemacht hat« 
— infolgedessen auch drei in der Musik dieses ersten 
Theils sich sondernde Abschnitte. Das Thema a) »Singet 
etc.« und seine Durchflihrung ist concertirender Natur. In 
den einzelnen Stimmen treten gleichsam die Kiinstler des 
Volkshervor und erfreuen die lauschende und zustimmende 
Menge mit den herrlich hinklingenden Figuren, in welche 
sie das Lob Gottes kleiden. Und die RoUen wechseln 
zwischen den Choren. Das zweite Thema b) »Die Gemeine 
der Heiligena und seine Gruppe ist ruhigerer, ernster, zu- 
redender Natur, das dritte »Israel freue sicha wieder leb- 
hafter, entschieden und feurig. Es treibt zu einer Spitze 
und an dieser setzt der zweite Theil des Satzes ein : eine 
grossartige Fuge fiber das Thema: 



jip pp i jyppr7i^pp^-Jin i fi'rf i | i |i nffl[i 



Dio Kinder Zi. Musebfiroh . lich iUber Oi.re RBnLgfl sie ■oUea lo .ben 

welches die acht Stimmen nach und nach s^mmtlich 
aufnehmen. Der Schluss dieser Fuge verlauft in roUende 
Sechzehntelfiguren, welchen Bach in Durchfuhrungen und 
Episoden eine grosse Fiille jauchzenden, trillernden und 
lachenden Naturklangs entnimmt. Gewiss ist die Kunst 
in diesem zweiten Theil des Satzes eine bewunderns- 
werthe, unvergleichlich grosse, aber noch grosser ist die 
Freiheit, Macht und Naivetat des freudigen Ausdrucks, 
hinter welchen alles Technische verschwindet. Im zweiten 
Satze der Motette »Wie Vater mit Erbarmen« tritt der 
Choral (»Nun lob mein Seel den Herrn « ist die Melodie) 



-^ 355 ^ 

ein. Der zweite Chor singt ihn, der erste Chor (Solo- 
quartett) unterbricht die einzelneu Zeilen mit freien 
Zwische'ngesangen, die vorwiegend nur eine massige 
Lange haben und alle sehr schon ausdruckvoll schliessen. 
Der dritte Satz ist eine von den beiden Choren im regel- 
massigen Wechsel durchgefiihrte Fantasie iiber dasThema: 

Poco Alleg^ro. 

jl^'' l ,H ^ fflp J) fl p p P i P p P p p p p p |J> Ji J) p ^ 

Lo . betdeuHerrn m s«inen Thateii,lo-bet iha in seiner grossen HerruehkeU. 

Ihrem mehr anmuthigen Charakter und ihrem Umfang 
nach ist sie von Bach weniger als selbstandiger Satz, denn 
als Einleitung zu dem Finale der Motette gedacht: einer 
Fuge uber das Thema: 

All? Tivace. jl ml m m, 

Al 10SWM O. . 

ft ■ n tT f r fl I r Dasselbe hat die Handel'sche Art 

■ F P M LLT F 1 1 = . des langen Ausholens uad die regel- 
denhatio-be den Hcrrn massigc Figuration, die Bach in 
seinen Chorfugen liebt; die Ausfiihrung ist verhaltniss- 
m^ssig kurz. Am Schlusse thun sich die Soprane durch 
einige energische Ausrufe des Entziickens hervor. 

Die Motette »Komm, Jesu, komm« (Nr. 4) ist ein vo- 
cales SeitenstUck zu jenen zahlreichen Cantaten Bach's, 
in welchem dieser Tonsetzer einer erdenmtiden, nach Tod 
und himmlischem Leben sehnsuchtsvoll verlangenden 
Stimmung Ausdruck giebt. Es gehoren diese Arbeiten 
zu den gewaltigsten Aeusserungen des Bach'schen Ge- 
miithes, welches in seiner tiefen, edlen Melancholic eine 
seiner eigenthiimlichsten und ergreifendsteu Eigenschaften 
besitzt. Aehnlich dem Gang in den ^htsprechenden Can- 
taten entwickelt sich auch die Motette nKomm, Jesu, 
komm<( vom Klagen und Sehnen zum Ausdruck einer 
ruhigen, die himmlischen Wonnen vorausnehmenden 
frommen Heiterkeit. Dieses Ende kommt hier in der 
Form eines leicht bewegten, von bescheidenen Coloraturen 
durchzogenen ^'/g-Tactes (»Du hist der rechte Weg«), dessen 
Perioden die Chore einander in sehr regelmassigem 

23* 



356 



Wechsel nachsingen. Nur selten treten sich die Gruppen 

naher; erst bei dem kraftigen Schlasse zusammen. Den 

Durchgangspunkt zu diesem Abschluss bildet ein kurzes 

Satzchen: »Komin, komm, ich will mich dir ergebenv, in 

welchem dem Verlangen nach Erlosung von diesem Leben 

in einem enthusiastischen, fast gebieterischen, troizigen 

Tone Ausdruck gegeben wird. Eine Energie, die der 

Wildheit nahekommt, beherrscht den Geist dieses Ab- 

schnittes, die Form zeigt eine bedentungsvolle Gedrangt- 

heit in der Fuhning der Themen und Motive. Der eine 

Chor, welcher das einfache, fast declamirende Haupt- 

thema durchfubrt, thnt dies von vornherein in soge- 

nannten Engfuhrungen, d. h. ehe die eine Stimme axis- 

gesungen, setzt schon die andere mit demselben Thema 

ein. Der zweite Chor verstarkt den Eifer, welcher die 

Hauptgruppe beseelt, noch durch kurze sturmische Za- 

mfe. Die Perle dieser Motette, eine Hauptperle im musi- 

kalischen Kunstschatze uberhaupt, ist der erste Satz 

»Komm, Jesa, komm« durch seinen Auf bau, seine Gewalt 

und seinen Reichthum des Ausdrucks und durch die 

wunderbar schone gesangliche Natur, welche in dem viel- 

faltig wechselnden, immer bedeutend beseelten Leben der 

einzelnen Stimmen herrscht. Die Anlage dieses Satzes 

folgt dem alten Gesetze fiber Text und Themen in der 

Motette. Die Fiille von Geist und von Stimmung, in 

welcher die Themen aber erfunden sind, welche in der 

Fortschreitung des Satzes, in seinen kleinen und grossen 

Proportionen liegt, klarzulegen wiirde eine ganze Studie 

erfordern. Sie fiihlt sich auch unbewusst, und wenn der 

Zuhorer die einzelnen Motive und Themen mit dem Texte 

vergleicht, wird sie leicht klar. Wie stark in Bach die, 

Empfindung wogte, , als er an diesen Meistersatz ging, 

wird sofort an den ersten Tacten ersichtlich. Der Ueber- 

gang aus den sogenannten Weckaccorden, mit welchen 

die Chore sich anmelden und die Tonart feststellen, in 

die bittende Melodie ist der erste Meisterzug. Der Choral 

kommt am Schlusse der Motette in der verwandten Ge- 

stalt einer geistlichen Arie. 



-^ 357 ^ 

Unter den ubrigen achtstimmigen Motetten zeichnet 
sich die als Nr. 2 in dem Breitkopf und HartePschen 
Bande enthaltene »Furchte dich nicht« formell da- 
durch aus, dass sie in einem Satze ohne Unterbrechung 
aufgebaut ist. Diesem Umstand, welcher eine erhohte An- 
strengung fur die ausfiihrenden Krafte verursacht, ist es 
zuzuschreiben, dass sie sehr selten aufgefiihrt wird. An 
geistigem Gehalt und an Eigenthumlichkeit des Ausdrucks 
steht sie den in erster Linie vorher genannten sehr nahe. 
Namentlich in der ersten Abtheilung, die einen Trostge- 
sang einziger Art bildet. Der Ton, mit welchem man einer 
bangenden Seele den Zuspruch bringt, kann freundlicher 
und aufrichtender wohl kaum gedacht werden, als ihn 
hier Bach anstimmt. Dieses »Fiirchte dich nicht« stellt 
der Furcht eitel Freude, Festigkeit und Kraft gegeniiber 
und thut dies in Tonen, welche ebenso kindlich und 
herzlich als entschieden klingen und in deuen sich Weich- 
heit und Kiihnheit der Empfindung wunderbar romantisch 
mischen. Der ganze formelle Apparat dieses Satzes ist 
mit einem Schwunge aufgestellt, den man nicht genug 
bewundern kann. Die Motive zu den neuen Textgedanken 
— a) »>weiche nicht«, b) »ich starke dicha, c) »ich helfe dir 
auch«, d) »ich erhalte dicha — sind alle verwandt, aber 
alle vol! Eigenart, einzelne, wie «weiche nicht «, voU 
malischer Elemente, und sie bringen die Grundidee zu 
immer steigerndem Ausdruck, ziehen das Gemiith, das 
der Furcht entrissen werden soil, immer hoher in die 
Kreise der Freude. Die Frische der Erfindung spricht 
sich auch in einzelnen formellen Zugen aus, unter denen 
wir die freien Nonenaccorde beilaufig hervorheben wollen. 
Der zweite Theil der Motette — er beginnt mit den Worten : 
)>Ich habe dich bei deinem Namen gerufen« — ist geistig 
hinter das erreichte Ziel gelegt: alle Furcht verschwunden. 
Ein ungemein inniger Ton beherrscht diese zweite Halfte. 
Der Chorsatz ist vierstimmig geworden, der Sopran singt 
in langen Zwischenraumen die kurzen Zeilen des Chorals 
(»Komm, heiliger Geist«) auf die Worte »Herr, mein Hirt«. 
Die tibrigen drei Stimmen fugiren sehr kunstvoll mit drei 



-<^ 358 ^ 

verschiedenen Themen. Die Motette »Furchte dich nicht« 
ist die einzige, von welch er die Entstehungszeit sicher , 
bekannt ist. Sie wurde zum Begrabniss des Rectors 
Ernesti componirt {4 720). 

Die Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit 
auf« besteht aus vier Abtheilungen. Die erste hat die flb- 
liche Motetteneinrichtung : soviel Themen als Gedanken. 
Der letztern sind foJgende : a) »'Der Geist hilft«, b) »Wir wissen 
nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebtihret«. Fiir das 
erstere hat Bach ein toccatenartiges Them a gewahlt, dessen 
rollende Sechzehntelgange durch die Stimmen wechseln. 
Die Anlage weicht von der in den ersten Satzen der 
iibrigen achtsimmigen Motetten darin ab, dass die Ch6re 
meistens zusammensingen und dass die beiden Themen 
vielfach in einander gezogen sind. Die Fortsetzung dieses 
kraftig schwungvollen Eingangsatzes bildet eine, sofort 
mit Engfahrungen AU?^ntanto. 

beginnende Fuge 




Uber das Thema: con.dem der Geist stlbstentriU una aafisBe.ste 

in welcher sich ein sinnendes und etwas zogerndes Pathos 
ausbreitet. Der Schlus nimmt malende Beziige auf die 
nunaussprechlichen Seufzer< des Textes. Aus dieser 
ernsten und das Triibe streifenden Stimmung fiihrt eine 
zweite Fuge heraus liber das kraftig bestimmte Thema 
»Der eben die Herzen erforschet, der weiss, was des Geistes 
Sinn sei«. Sie ist nur vierstimmig, wird aber mit Eintritt 
der Worte »Denn er vertritt die Heiligen« zur Doppelfuge. 
Ein einfacher Choral schliesst. 

Die Motette wJesu, meineFreude« unterscheidet 
sich von den anderen vier in mehreren formellen Punkten. 
Sie ist fiinfstimmig (2 Soprane), sie hat nicht weniger 
als 41 Satze und diese sind in der Mehrzahl freie 
Variationen des Chorals. Der Eingangssatz ist nichts 
weiter als das bekannte Kirchenlied in Bach'scher 
Harmonisirung (vierstimmig). Der zweite Satz bringt die 
Worte: »Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die 
in Christo Jesu sindw, schlicht aber bedeutungsvoll de- 
clamirend. Mit besonderem Nachdruck wird das »Nichts« 



-^ 359 ^ 



hingestelt. Dann ^ Pqco Adagio. „ 

fiihrt der Tenor j f B [ > f |> f f f If^J J f If T f 



das neue Thema dlB noeh nadi den FleLsdM wan ... dein 

ein, welches die ubrigen bald nachsingend im Sinne 
einer missbilligenden Betrachtung ausfiihren, um ihr in 
dem bestimmt und fest hingestellten Abschlusse: »sondern 
nach dem Geist« das bessere Ziel entgegenzuhalten. Der 
dritte Satz ist wieder der Choral in einfacher Gestalt 
(ftinfstimmig). In der vierten Nummer begegnet uns das 
erste jener Soloensembles, welche eine besondere Schwie- 
rigkeit in dieser Mote tie bilden. Mil ihrem an sich un- 
gewohnten und diinnen Klange haben sie inmitten der 
vollbesetzten Chdre eine ungunstige Stellung. Auch im 
Ideengehalt treten sie zuriick; nur eine vollendete, aus- 
drucksvolle und virtuose Ausfiihrung hilft ihnen zu ihrem 
Recht. Das einganglichste dieser drei Ensemblesatzchen 
ist das letzte: »Gute Nacht, o Wesen«, ein Quartett, bei 
welchem den Choral (als cantus firmus im Alt) die iibri- 
gen Stimmen mit elegischen Contrapunkten umschweben. 
Ihre hochste Spitze erreicht die ausserordentlich frei und 
lebendig geformte Motette in den beiden Satzen »Trotz 
der Gruft der Erden« und dem darauf folgenden »Ihr 
aber seid nicht fleischlich*. Hier fiihrt die Glaubens- 
kraft eine triumphirende Sprache. In dem ersten spricht 
eine ebenso streitbare als riihrend gemiithvolle Stimmung 
in ursprunglichen, immer neuen Formen : der Einsatz auf 
dem Septimenaccord, die machtigen Unisonostellen, der 
Orgelpunkt mit den sanft hinabgleitenden Oberstimmen 
bei »in ganz sichrer Ruh« sind lauter Wendungen, die 
aus erster Quelle geflossen scheinen. Der andere Satz, 
eine Fuge iiber das Thema: 

Alleg'ro non tanto. 




Ihr a.berteidmc]it fleiseh. Uch, sondern geist . .... lidli 

fiihrt in rauschender Begeisterung von alien Erden- 
gedanken hinweg. Sinnig und fein ist der Abschluss, 
welchen Bach dieser Hauptgruppe mit dem Andante »Wer 
aber Ghristi Geist nicht hat, der ist nicht sein« gegeben 



-fr 360 ^ 

hat. Bin barter abweisender Ton lag hier nahe, Bach 
aber wahlte einen klagenden. In den Druck kamen diese 
funf Motetten S. Bach's erst im Jahre 1802 durch Schicht 
(Leipzig, Breitkopf u. H^rtel). Seine Ansgabe, die ver- 
schiednen weitern Abdrucken als Vorlage gedient hat, ist 
im Allgemeinen nicht ganz fehlerfrei, im besondern fiigt 
sie den fiinf ersten Bach's, noch eine sechste hinzu »Ich 
lasse dich nicht«, deren Autorschaft mindestens zweifel- 
haft ist. Neuerdings wird sie immer entschiedner dem 
Onkel J. Christoph Bach zugewiesen,*) Nach Styl und 
Geist ist sie des grossen Sebastian Bach wiirdig. In der 
Stimmung zeigt sie grosse Verwandtschaft mit »Komm, 
Jesu, komme, in Melodie und Declamation die gewaltigen 
Ziige des grossen Meisters. Ihr zweiter Satz, eine Choral- 
fuge, hat im Fugenthema dasselbe Motiv, welches im 
ersten Satz von »Fiirchte dich nicht « zu breiter Ver- 
wendung kommt. 

Wenn wir den Begriff der Motette in dem erweiterten 
Sinne nehmen, welchen die Liturgie damit zeitweilig ver- 
bunden hat, so haben wir aus der Zeit nach Bach eine 
grossere Anzahl motettenartiger Compositionen im heu- 
tigen Concerte noch erhalten. Auch unsere Classiker sind 
J. Haydn, mit vertreten. Joseph Haydn mit dem nnbegleiteten 
Motetten. Offertorium »Du bist's, dem Ruhm und Ehre ge- 
b iz h r t « und mit der Instrumentalmotette : »DesStaubes 
eitle Sorgen« (im Originaltext »Insanae vanae curae«). 
Das Offertorium gleicht in seinem milden Geist und in 
der frommen Fiihrung den religi6sen Choren der »Jahres- 
zeiten«. Die Augen und die Seele der Composition bilden die 
zwei Tone, mit AiKmoderato. Die grosse Wirkung der 

welchen ein- ()£ Mi tfl q | J Motette »Des Staubes 
gesetzt wird: Du bbA eitle Sorgen« beruht 

wesentlich mit auf dem elementaren Gegensatz von Dur 
und Moll, welcher in den beiden Theilen der Composition 



*) Vgl. Franz Wiillner'fl Vorrede zu Jahrgang 39 der 
Bachausgabe, S. XI. 



-<^ 361 -0- 

mit einer unubertrefflichen Genialitat ausgenutzt ist. In 
dem Zusammengehen von Tonideen und Textideen und 
in der Einfachheit der Darstellung ist diese Composition 
ein Muster, eine jener wenigen Compositionen hochsten 
Ranges, in welchen die Kunst ohne Rest in der Natur 
der Sache aufzugehen scheint. Und doch ist diese Mo- 
tette nichts als eine geistliche Parodie des Sturmchores 
aus Haydn's Oratorium : »I1 ritorno di Tobia« ! Ein Seiten- 
stiick zu diesem prachtvoUen Werke bietet Haydn's 
»Schopfung« in dem Chor »Verzweiflung, Wuth und 
Schreckena mit dem Alternativ: »Und eine neue Welt«. 

Von Haydn's Bruder Michael ist die edel und ruhig M. Haydn, 
gefiihrte, kurze a capella-Motette »Tenebrae factae Tenebrae. 
sunt« zu nennen, eine Gharfreitagscomposition , welche 
ihren Ruhm namentlich den in Mozart'sche Schonheit 
getauchten Wendungen verdankt, mit welchen sie an 
den beiden Schlussstellen des Satzes »dum emisit« dem 
Schmerze Ausdruck giebt. Von Mozart selbst sind hier "W. A. Mozart, 
drei Werke anzufiihren, das »Ave verum corpus « (vom Motetten. 
Componisten Motette betitelt), das Offertprium »Miseri- 
cordias domini cantabo« und die Hymne »0b fiirchterlich 
tobend«. Das weltbekannte »Ave verum» gehSrt zu 
Mozart's letzten Werken und tragt als solches den sub- 
jectiven Zug sanfter Wehmuth, welcher den meisten dieser 
Compositionen eigen ist. Das kurze Stuck, zu welchem 
Orchesterbegleitung gehort, ist wahrscheinlich ftir das 
Frohnleichnamsfest des Sommers 4 794 bestimmt gewesen 
und setzt in dem einfachen, liedartigen Style ein, welchen 
die Einlagen fiir diese volksthiimliche FeierHchkeit in der 
Regel tragen. In dem kurzen Rahmen hat ihnen aber 
Mozart einen grossen Zug gegeben. Bei der zweiten 
Halfte »esto nobis« tritt er ein. Das Offertorium »Mise- 
ricordias etc.a, welches Mozart in seinem neunzehnten 
Jahre schrieb, ist dadurch in erster Linie eigenthtimlich, 
dass es die zwei Seiten, von denen aus sich das Leiden 
des Herrn auffassen lasst, in der Musik streng und for- 
mell aufs Deutlichste auseinanderhalt und diese Scheidung 
durch alle Variationen bis ans Ende festhait. Die Trauer 



362 



etc. 



Beethoven, 

Die Himmel 
rfihmen. 

L. Gherabinii 
Pater noster. 



Himmel, Fesca, 
Spohr. 

Fr. Liszt. 



F. Bchabert, 
Salve Eegina. 



klingt in dem schwermiithigen Rhythmus durch, mit 
welchem das »Misericordias« immer wiederkehrt, die Be- 
geisterung und die Dankbarkeit iiber das Heil, welches 
den Menschen durch Christi Tod gewonnen ist, in 
den Motiven, iiber welche der Tonsetzer das »can- 
tabow durchfiihrt. Das wichtigste unter diesen in Nach- 
ahmungen un d kleineren Moder«*o. . . • 

Fugensatzen weiterge- j y ^ H p f TfliM^ *" fcJ" T *^n I f ^ 
bildeten Motiven ist das ckn.u / lo b S.ter . - 

Die Hymne »0b ffirchterlich tobend« wirkt durch 
den Gegensatz zwischen dem drohend aufgeregten An- 
fang and dem freundlichen Gebetston des Schlusssatzes. 
Der ganze Charakter der Composition hat etwas Sceni- 
sches und erscheint mehr vom Geist der Biihne als dem 
der Kirche erfullt. Beethoven ist in der im Concert 
verwendeten Litteratur der motettenartigen Composition 
mit der grossartig declamirten, pathetischen Hymne »Die 
Himmel riihmen« vertreten, Cherubini mit einem 
»Pater noster «, welches bis zur sechsten Bitte im Style 
des Mozart'schen »Ave verum« gehalten ist. Dann aber 
beginnt ein merkwiirdig aufgeregtes Allegro, in dem die 
Stimmen aus leisem Stammeln in eine ungeberdige Extase 
libergehen. Das wVater unser« kehrt unter den als Mo- 
tetten und OfFertorien in Ansehen stehenden Compositionen 
der Folgezeit noch haufig wieder, sowohl in seiner ein- 
fachen Bibelform, als in Paraphrasen, unter denen die 
Mahlmann'sche (»Du hast deine Saulen dir aufgebaut«) 
am haufigsten benutzt worden ist. Die zu ihrer Zeit be- 
kanntesten Compositionen des Textes waren die von 
Himmel, Fesca (a capella achtstimmig) , Spohr. Aus 
neuerer Zeit haben wir eine stimmungsvolle und durch 
formelle Einfachheit gewinnende Wiedergabe (des latei- 
nischen Textes) fiir Mannerchor durch Fr. Liszt zu ver- 
zeichnen. — Unter den Offertorien aus dem Kreise der 
Glassiker, welche heute noch im Concert zuweilen auf- 
tauchen, ist noch des "Salve Regina« (fiir Solosopran 
und kleines Orch ester) von F. Schubert als einer 
weichen, liebenswurdigen Composition zu gedenken. 



^* 363 ^^ 

Ein grosses Ansehen als Componist wirklicher a ca- 
pella- Motetten genoss J. G. Schicht, einer der Nach- J. &. Sohioht, 
folger in Bach's Leipziger Amte. Die Zahl seiner Mo- Motetten. 
tetten ist erstaunlich gross, ihre Art ziemlich mannigfaltig. 
Ein leichter formeller Zusammenhang besteht zwischen 
den Motetten Bach's und denen Schicht's. Den Zeit- 
genossen Schicht^s standen aber diese Werke besonders 
durch ihr intimes Verhaltniss zur geisthchen Arie nahe, 
der sie den Kern und die Schale des Gemiithslebens ent- 
nahmen. Zu dem weichen Ton und den bequemen For- 
men, welche in dieser Gattung herrschten, kehrt Schicht 
namentlich in seinen kleineren Motetten rasch und gem 
zuriick, nachdem er eine Weile im grosseren Style und 
im polyphonen Satze sich bewegt hat. Die in derartigen 
Abschnitten untergebrachten Fugen mit ihren Ian gen 
Themen .und ihrer peinlichen Regelmassigkeit galten lange 
als Muster. Ein anderer und ein bedeutender Kiinstler ist 
Schicht in seinen grosseren Motetten; in den Psalmen- 
und Choralmotetten, von weichen letzteren namentlich 
die beiden i>Meine Lebenszeit verstreicht« und 
»Nach einer Priifung kurzer T a g e « wirklich volks- 
thiimlich und bis in die Nahe der heutigen Generation 
allgemein beliebt waren. Hier ist die Kraft und Grosse 
der Empfindung, Freiheit und Mannigfaltigkeit des Styls 
zu finden. Was aber auch sie dem Loose der Vergang- 
lichkeit geweiht hat, ist das Entgegenkommen gegen den 
Geschmack der Entstehungszeit, welcher sich zuweilen in 
geradezu trivialen Einfallen aussert. Begegnen wir doch 
in der Motette »Die mit Thr^nen saen« einen Sopransolo 
mit Brummstimmen. Schicht's Schtiler nahmen den Mo- 
tettenstyl ihres Lehrers auf und bildeten namentlich gern 
seine Eigenthiimlichkeiten in Klang, Satz- und Stimm- 
behandlung nach. So beginnt die Motette der zwanziger 
Jahre unseres Jahrhunderts nach Efifecten zu suchen und 
sehr ausseriich zu werden. Stiicke, in denen die vier 
Stimmen das Meeresbrausen und andre Naturerscheinun- 
gen malen wollen, in denen iiber den leise von Sopran, 
Alt und Tenor gesungenen Choral die Basse Fanfarenmotive 



-0- 364 ^ 

hinschmettern, werden sehr beliebt. Unter clen Musikern, 
welche zu jener Zeit in der Motette eine edlere Richtung 
mit hoherer Bildung und bedeutenderem Konnen vertreten, 

H. Hauptmann, ist mit besonderer Auszeichnung Moritz Hauptmann 
Salve Segina. ZU nennen, dessen uSalve Regina« den Namen des 
Componisten schnell und weit bekannt machte. Von 
seinen ausserordentlich stimmgerechten Compositionen, 
die der schwarmerische Geist der Friihromantik beseelte, 
begegnen wir im heutigen Concert am haufigsten noch 
dem einen oder andren seiner begleiteten Stttcke, wie 
z. B. dem schonen, weichen fromm resignirten: »Nicht 
wirst meiner du vergessen«. Die Mannerchore 
bringen oft sein »Ehre sei Gott in der H6he«, eine 
der mildesten aber einheitlichsten Compositionen des 
verdeutscbten » Gloria «. Durch Mendelssohn, der in 
Rom an den Idealen der alten Vocalperiode seine Schule 
gemacht hatte, wurde dann der von Hauptmann be- 
tretene bessere Weg auch der allgemeine. 

Der Motetten Mendelssohn's ist schon in dem 
Abschnitt iiber die Psalmencomposition gedacht worden. 

F. Mendelssolm, Unter seinen iibrigen Motetten ist die Choralmotette 
Mitten wir. »Mitten wir im Leben sind« (achtstimmig a capella) 
als die im Concert am haufigsten vorkommende hervor- 
zuheben. Sie ist in 3 Strophen gegliedert, von weichen 
die ersten beiden in der Musik iibereinstimmen und nur 
im Text verschieden sind. Die erste Halfte bringt ernst 
und hochfeierlich den Choral. Von dem Abschnitt: »Hei- 
liger Herr, Gott« ab gerath der Vortrag in eine leiden- 
schaftliche Bewegung, die stellenweise jenen stiirmischen, 
dlisteren Charakter annimmt, der uns die mittelalterliche 
Zeit vor die Fantasie ruft, wo diese gewaltige Notker- 
sche Sequenz das Schlacht- und Sterbelied der trotzigen 
Landknechtsschaaren war. Die dritte Strophe halt den 
Choralton wieder durchweg ein. Von den begleiteten 
Mendelssohn 'schen Chorwerken, welche Motettencharakter 

P. Mendelsaolm, besitzen, ist im Concert namentlich die Hymne (fiir So- 

Hor' mein Bitten, pran- oder Altsolo, Chor und Orgel) »H6r' mein Bitten« 
eingebiirgert. In dem formell interessanten und ausserst 



365 

wohlklingenden Werke lebt dramatischer Geist. NebenF. Mendelssolm, 
ihr kommt noch haufig die kleine Hymne »Verleih' uns Verieiv uns. 
Frieden« (Text von Luther) vor, ein Werk einfachen, 
natiirlichen Ausdrucks, in welchem sich Intrumente und 
Singstimmen in Innigkeit und Herzlichkeit des Gesanges 
zu iiberbieten scheinen. Die Composition, welche Mendels- 
sohn liber »Tu es Petrus« fiir Ghor und Orchester ge- 
schrieben hat, ist ziemlich unbenutzt geblieben. Sie folgt 
auch stylistisch den alteren Bearbeitungen des alten be- 
ruhmten Motettentextes. Unter den motettenartigen Satzen, 
welche Mendelssohn fiir den Mannerchor geschrieben hat F. Mendelssolm, 
sind nur die beiden Stlicke »Beati mortui« (unbegleitet) Motetten fur 
und der feurige Vespergesang »Qui regis Israel, in- M&nnerchor. 
ten dec auf dem Repertoir. Unter den Motettencompo- 
nisten, welche von der Mendelssohn'schen Schule aus- 
gingen, ist im Concert namentlich E. F. Richter gepflegt E. F. Eichter. 
worden. 

Mit einer neuen und eigenartigen Leistung bereicherte 
R. Schumann das Gebiet in seiner fiir doppelten Manner- 
chor geschriebenen Motette »Verzweifle nicht im R. Schnmann, 
Schmerzensthal«. Die Composition ist so wenig eigent- Verzweifie niciit. 
lich kirchlich, als es der ihr zu Grunde liegende Riickert- 
sche Text ist, aber sie ist ein kiihner Ausdruck einer 
vollen Empfindung, vielfach ergreifend, durchweg fesselnd- 
Die allgemeine Beachtung verdient sie schon um ihres 
Versuchs willen, in die kirchlichen Compositionen des 
Mannerchors die Formen des grossen Styls einzufiihren. 
Noch weniger von der Praxis beachtet als diese Motette 
ist eine andere verwandte Composition R. Schumann's, R. Soliuinann, 
sein ))Adventlied« fiir Sob, Chor und Orchester (nach Adventiied. 
Riickert's Evangelienparaphrase) . Die Musik ist melodien- 
reich und einganglich, sie erstrebt in der die Mitte der An-. 
lage bildenden choralartigen Episode sogar volksthiimliches 
Wesen. Ihren Gesammteindruck schadigt hauptsachlich 
der Mangel an Einheit, die Zusammensetzung aus einer 
grossen Anzahl selbstandiger Abschnitte. Die Dichtung 
selbst veranlasst diese Entwickelung der Musik: die im 
Grunde kraftige, oft kiihne Composition, welche in neuerer 



366 



F. Draeaeke, 
Adventlied. 



F. Liszt. 



A. Becker. 

J. BrahmSf 

B. Volkmann, 

Weihnachtslied. 



Zeit F. Draeseke iiber dieselbe Compositioa geschheben^ 
theilt mit der Schumann'schen diese Eigenschaft. 

Fur den Gebrauch der Kirchenchore werden von den 
gegenwS,rtigen Tonsetzern viele Motetten geschrieben; 
auch die bedeuteren Componisten betheiligen sich an 
dieser Arbeit. Wenn unsere Zeit keinen eigenen Motetten- 
styl besitzt und die Summe der heute componirten Werke 
eine richtungslose HSufung geistiger Stromungen und tech- 
nischer Formen, eine willkiirliche Mischung von Altem 
und Neuem bietet, so liegt der Grund mit daran, dass 
das Interesse an kirchlicher Musik iiberhaupt geringer ist 
und dass der Production auf diesem Gebiete die regelnde 
Theilnahme einer breitern Oeffentlichkeit fehlt. Es hangt 
damit zusammen, dass in das Concert nur ein verschwin- 
dender Theil dieser Production iibernommen worden ist. 
Sehen wir von einigen Kleinigkeiten F. Liszt's ( — die 
kleine Hymne »Ave maris stella«, ein einfach frommes 
Stiick in der Weise des alterthiimlichen Kirchenliedes, ist 
darunter die der allgemeinsten Zustimmung sicherste — ) 
und A. Becker's ab, so bleiben nur einige Werke von 
R. Volkmann und von Job. Brahms iibrig. Von Er- 
sterem ist es das Weihnachtslied )>Er ist gewaltig 
und starkff, eine Composition fiir Chor und Solostimmen, 
welcher eine Dichtung aus dem \ 2. Jahrhundert zu Grunde 
liegt. Auch Volkmann's Musik geht alten Spuren nach. 
Sie lenkt in den naiven, wilde Kraft und Zartheit ver- 
einenden, auf kleine reizende Malereien bedachten Ton 
ein, welcher dem deiitschen geistlichen Volkslied im 
Mittelalter eigen war, und die episodenreiche, die Baulinie 
mit allerlei Nischen und Erkern durchbrechende Archi- 
tektonik dieser Composition beruht hochst wahrscheinlich 
auf dem Studium des Orlando di Lasso. Unsere Zeit 
hat aber auf alien Gebieten der Kunst eine Vorliebe fiir 
diesen archaistischen Zug, wenn er gegliickt ist. Beim 
ruhigen, stillen Studium dieser Motette, wo man bei Einzel- 
heiten kritisch verweilen darf, kann man sich einer Reihe 
Bedenken nicht erwehren. Die Composition wurzelt viel- 
fach im Intrumentalen — daher auch ihre grosse Schwie- 



-^ 367 *- 

rigkeit — und die Entwickelung ist bunt und sprunghaft. 
Wenn der Gesammteindruck einer lebendigen Auffiihrung 
trotzdem ein positiver und starker ist, so verdankt sie 
das der grossen geistigen Kraft, welche das Ganze zu- 
sammenhalt, und dem lebendigen eigenartigen Ausdruck, 
welcher die Mehrzahl ihrer kleinen Bilder erfullt. In den 
anheimelnden, wie in den fremdartigen lebt etwas vom 
Kindergeist und der raschen Fantasie der friihen Jugend, 
welche schaurige Eindriicke ebenso schnell wieder ab- 
schiittelt, als sie dieselben aufnimmt. Der bedeutendste, 
durch einheitliche und erhabene Stimmung hervorragende 
Satz der Composition ist der dritte: »Ich habe lange, 
lange«, welcher Soli und Ghor dramatisch zusammen- 
wirken lasst. Das Ende des ausserordentlich malerischen 
zweiten Satzes: »Ein hohes Haus« bereitet ihn vor. 

Brahms hat auf dem Felde der Motette anhaltend 
und mit bestimmten Absichten gearbeitet. Er begegnet 
sich mit Mendelssohn im kiinstlerischen Ziele in soweit, 
als auch ihm in der Riickkehr zu den alteren Musterh 
fiir Geist und Styl der Gattung das Heil liegt. Aber wah- 
rend Mendelssohn seine Vorbilder in den verwandten 
milderen Naturen der alten romischen und venetianischen 
Schule suchte, wendet sich Brahms mehr an die Meister 
der Kraft und Entschiedenheit, welche in der altdeutschen 
und niederlandischen Schule die Formen zu zwingen 
suchten. Den meisten seiner Motetten ist ein gewisser 
Holzschnittcharakter, ein rauher und herber Zug eigeu. 

Aus den alteren Motettenwerken, welche wir von 
J. Brahms besitzen, hat sich das Concert nur die Com- j. Brahms, 
position des Flemming'schen Liedes: »Lass dich nur Lass dich nur 
nichtsnichtdauren« (fiir vierstimmigen Chor und Orgel) nichts. 
angeeignet. Es ist wie die anderen geistlichen Compo- 
sitionen, welche der friiheren Periode dieses Tonsetzers 
angehoren, ein Studienwerk im strengen Style : die Stim- 
men fiihren einen Doppelcanon durch. Es enthalt aber 
dabei ebenfalls eine Fiille warmer Empfindung, einen 
eigen verschleierten Ausdruck bittender Zuversicht. Hau- 
figer gelangen die beiden Motetten des op. 74 zur 



-^ 368 ♦- 

J. Brahms, Ausfiihrung: »Warum ist dasLicht gegeben denMflh- 
Zwei Motetten seligen?« und »0 Heiland, reiss die Himmel auf!« 
(op. 74). Djg letztere ist eine Choralmotette von ahnlicher Anlage 
wie die im Opus 29 gegebene Composition von »Es ist 
das Heil uns kommen her«. Die Choralmelodie wird in 
vier weiteren Versen variirt. Sie erscheint nacheinander 
im Sopran, im Tenor und im Bass, als cantus firmus in 
der urspriinglichen Form ; die contrapunktirenden Stimmen 
umsingen sie mit Motiven, welche zum Theil aus ihr selbst 
abgeleitet sind. Erst das Finale stellt die Grundmelodie 
in einer leicht erkennbaren Umbildung auf. Die Stim- 
mung des Werkes setzt mit barter Klage ein und mildert 
sich von Abscbnitt zu Abschnitt mehr zu einem trost- 
lichen und hoffnungsvollen f'on. Im Finale, beim Ein- 
tritt des »Amen«, entspringt aus ihm ganz plotzlich ein 
kraftig energischer Ausbruch der Glaubensfreude. — Die 
andere Motette des Heftes »Warum«, eine im Allgemeinen 
zuglanglichere und moderner gehaltene Composition, hat 
in dem Eingangssatze ihre geistige Spitze. Die geniale 
Art, in welcher dieses schwermtithige fragende »Warum« 
declamirt ist und immer wiederkehrt, ergreift mSchtig. 
Seit etlichen Jahren ist dieser Motettenschatz von Brahms 
um ein weiteres werthvoUes Heft bereichert worden: die 
drei »Fest- und Gedenkspriiche« des op. 409. In 
der verschleierten Sprache der Offenbarung Joh. preisen 
und mahnen diese Motetten unser deutsches Volk; ihre 
Tone sind ein dreifaches Ruhmeszeugniss fur die patrio- 
tische Empfindung des Componisten, fiir die Kraft seiner 
musikalischen Seele und fur di'e Meisterschaft, mit der er 
die schwierigsten Formen des gebundenen Styles be- 
herrscht. 



Der Cant ate als musikalischer Satzform sind wir 
wiederholt begegnet. Sie hat als solche die Bedeutung eines 
vocalen Gegenstiicks zur Suite : sie ist eine Folge von text- 
lich zusammengehorenden und ein Ganzes bildenden Ge- 
sangstiicken. Ihre Erfindung und Entwickelung verdankt sie 



369 



A^- 



den ItalienerD, den ersten bedeutenden Abschluss dieser 
Entwickelung dem Carissimi, welcher in seinen Cantaten 
den langen Streit zwischen dem jungen begleiteten Solo- 
gesang und der alten contrapunktischen Kunst zu Ende 
brachte und beide Satzweisen zu friedlichem Zusammen- 
wirken einte. Der Sologesang gab dem Bunde den 
Namen und fiihrte zunachst auch die Hauptstimme. Mit 
dem Eintritt der Cantate in den kirchlichen Dienst glich 
sich aber das Verhaltniss ihrer beiden Factoren allmah- 
lich aus. In den Messsatzen, in den Hymnen und Psal- 
men, welche wir vom Ende des siebzehnten Jahr- 
hunderts ab in der Cantatenform gehalten saben, steben 
neben der Arie und den sparlichen Recitativen soge- 
nannte Ensembles und Cbore als ebenbtirtige, sogar als 
bevorzugte Glieder, und selbst die Arie erschliesst sich 
dem vertiefenden Einfluss der polyphonen Satzweise- 
In Deutschland nahm die Entwickelung der kirchlichen 
Cantate ihren besonderen Gang. Der Unterschied zwischen 
der deutschen und italienischen Kirchencantate bewegt 
sich um Arie und Choral. Als die Cantatenform mit 
dem Anfang des \S. Jahrhunderts bei uns in die Kirche 
eindrang, war der Boden fiir die Arie noch nicht fertig. 
Wir hatten in unserer geistlichen Dichtung nicht die 
zweigliedrigen, scharf pointirten Verse, welche die Arie 
verlangt. Auch unsere Componisten beherrschten den 
musikalischen Styl dieser Kunstform erst mangelhaft. 
Dagegen war. das evangelische Kirchenlied durch die Be- 
strebungen Eccard's und der Tonsetzer, welche sich um 
ihn gruppirten, kunstfsLhig und zu einem Erkennungs- 
zeichen der protestantischen Kirchenmusik geworden, 
welches Musiker und Laien gleichmassig liebten. So wie 
dies bei der ersten Bekanntschaft mit der oratorischen 
Passion geschah, setzte man auch in der Cantate den 
Choral, einfach oder hoher stylisirt, an die Stelle der 
Arie oder liess ihn mit den Versuchen abwechseln, welche 
man in der Arienform anbrachte. Die meisten Cantaten, 
welche in Deutschland am Anfang des 18. Jahrhunderts 
entstanden, rSumen dem Chorale einen breiten Platz ein. 

II, 1. 24 



-^ 370 *- 



Formell bedurfte dies Verfahren keiner weiteren Mo- 
tivirung: denn die Mehrzahl dieser Cantaten batten Gesang- 
buchlieder zum Texte, welcbe hie und da mit Bibelstellen 
untermischt waren. Nur selten kommt es vor, dass eine 
solche Gesangbuchcantate auf die Kircbenmelodie ver- 
zichtet, nach welcher das Lied ging. Einen solchen 
seltenen Fall bietet Buxtehude's Cantate uber oNun 
danket alle Gott«. In Bezug auf Auspragung eigener Art 
hat diese deutsche protestantische kirchliche Cantaten- 
composition ihren eignen Werth. Sie enthait auch eine 
SummegedankenreicherundstimmungsvollerErfindungen. 
Telemann. Besonders Telemann's Cantaten sind reich an kurzen, 
aber formvollendeten Meistersatzen, in welchen eine milde 
Poesie sich eigenartig aussert. Aber als Ganzes genom- 
men stehen diese deutschen Kirchen cantaten hinter den 
Cantaten zuruck, in welchen die italienischen Tonsetzer 
derselben Zeit ihre Kirchenhymnen und andere liturgische 
Texte formten. Mit ihnen verglichen, ergeben sie den 
Eindruck, dass ein reicherer Vorrath von Stoff und Idee 
noch mit der Form ringt: Eine Kette von Choren, Reci- 
tativen, Choraien und Sologesangen, welche unter ein- 
•ander ein disparates Gliederverhaltniss bilden: Wieder- 
holungen, wo der Ideengang Weiteren twickelung verlangt, 
Anfange ohne Abschluss, musikalischer Volkston und 
Kunstton durch einander geworfen. Es giebt Kirchen- 
cantaten, welche sich iiber diese Stufe erheben, und 
■Tonsetzer, welche den Weg zu hoheren Leistungen 
wenigstens bei einzelnen Punkten betreten. Als ein 
D. Buxtehnde. solcher Componist ist D. Buxtehude zu bemerken, 
desseUi Kirchencantaten , abgesehen von bedeutenden 
Merkmalen kiinstlerischer Individualitat , ein ziemlich 
grosses Maass formeller Vollendung besitzen. Sie sind 
so abgerundet, wie die Italiener ihre Cantaten, Hymnen 
und Cantatenpsalmen abzurunden pflegen : durch Zuriick- 
greifen des Schlusses auf den ersten Satz. Sie zeigen 
in den meisten Choren weitere Verhaltnisse, und sie 
riicken in diese auch den Choral ein, welcher von den 
Chorstimmen oder von den Solosangern in den erwei- 



-^ 371 ^fc- 

terten Formen der Choralfantasie und der C4horalvaria- 
tionen gesungen wird, wie sie in der Orgelcomposition 
ausgebildet waren. Die Instrumentalmusik hat zu ver- 
schiedenen Malen in der Geschichte der Tonkunst der 
Vocalmusik -Hiilfe geleistet und tausendfaltig das zuriick- 
gezahlt, was sie in der Kinderzeit von jener empfangen. 
Die selbstandigen Instrumentalsatze , welche als Ein- 
leitungen oder als Zwischennummern in den Cantaten 
der Telemann und Buxtehude vorkommen, zeigen das 
venetianische Muster Gabrieli's. 

Derjenige Tonsetzer, welcher die deutsche Kirch en- 
cantate iiber Buxtehude hinausfuhrte und ihre Umwand- 
lung aus bios eigenartigen zu eigenartigen und fertigen 
Kunstgebilden vollzog, war Joh. Sebastian Bach. J. S. Bach. 
Er ist der Hanptvertreter dieser Gattung geworden und 
er vertritt sie im heutigen Musikleben so gut wie allein. 
Die Zeit hatte in Neumeister und den Mannern, welche 
sich ihm anschlossen, inzwischen die lange vermissten 
Dichter bescheert. Bach gab der deutschen Kirchencan- 
tate die Arie, er hob ihre Sologesange und Recitative 
auf einen Punkt, welcher mit den entsprechenden Formen 
der italienischen Kunst den Vergleich wohl aushielt, er 
stattete sie mit Choren aus, welchen in den Werken Jener 
wenig zur Seite gesetzt werden kann. Er machte die 
deutsche Kirchencantate in den Theilen, welche ihr mit 
der alteren Schwester gemeinsam waren, mehr als eben- 
biirtig, und das ihr eigene Element, das Choralelement, 
bildete er zu einem Lebenselement aus, welches den 
ganzen Organismus der deutschen Kirchencantate leuch- 
tend durchdrang. Bach hat auch Kirch encantaten oder 
wenigstens Cantaten mit geisthch kirchlichem Text ge- 
schrieben, in welchen der Choral nicht vorkommt, und 
welche doch hinter den anderen nicht zuriicktreten. Das 
historische Verdienst, welches Bach sich um die formelle 
Vollendung der Kirchencantate erworben, ist gross und 
greift auch in den Geist der Kunstwerke hinein. Aber 
es bestimmt ihren Werth nicht. Auch in einer geringeren 
Form niedergelegt, wiirde die Fiille der geistigen Person- 

24* 



372 

• 

lichkeit, aus welcher die Musik dieser Kirchencantaten 
geflossen ist, ihre bezwingende Macht aussern, wie auf 
der anderen Seite die Bewunderung dieser Werke die 
Schranken der Confessionen langst durchbrochen hat. 
Seit der Leipziger Thomascantor Mtiller diese Cantaten 
wieder aus dem Archive hervorsuchte, Rochlitz dieses 
Ereigniss begeistert verkiindete und Marx die erste kleine 
Folge in den Druck gab, ist der Ruhm dieser Werke 
hundertmal beredt angestimmt worden. Oft ist es ge- 
sagt: wer diese Cantaten nicht kennt, dem entgeht einer 
der schonsten und eigensten Abschnitte deutscher Kunst. 
Das Gesammtbild Bach's entbehrt ohne diese Cantaten 
einige wesentliche Zuge. Sie sind die Raritatenkammer, 
in welcher seine gestaltende Hand ihre feinsten Griffe 
iibte. Von den Passionen und Messen aus ahnt man 
doch noch nicht die Wunderdinge formeller Bildung, an 
denen nur wenige dieser Cantaten ganz leer ausgehen. 
Namentlich ist Jedermann uberrascht fiber die coloristi- 
schen Mittel, welche Bach in diesen Werken entfaltet, 
liber die feinen und fesselnden Farbenmischungen, welche 
er fiir viele seiner Cantatenarien erdacht und ausgefiihrt 
hat. Wer voll Bewunderung iiber die Fruchtbarkeit, 
welche unsere neueste Musikperiode auf diesem Special- 
gebiete entwickelt, zum ersten Male die ganz eigenartigen 
und charakteristischen Orchesterbilder vor sich sieht, 
welche Bach z. B. der Arie »Wie zittern und schwanken« 
in der Cantate: »Herr, gehe nicht ins Gericht« und dem 
Altrecitativ in der »Trauerode« beigegeben hat, wird ge- 
neigt sein, in den Ausruf jenes Enthusiasten mit ein- 
zustimmen: »Es giebt nichts Neues, was nicht Bach schon 
gebracht hat«. Und sehr Vieles, darf man hinzufiigen, 
was Bach in den Cantaten bringt, hat noch Keiner wieder 
gebracht. In geistiger Beziehung entrollen die Cantaten 
einen eigenthiimlichen Zug der Bach'schen Natur zu 
grosser, zu halbschauerlicher Deutlichkeit. Dies ist die 
Sehnsucht nach Sterben, Tod und Leben bei dem Herrn. 
Dieses Thema schlagt er in seinen Cantaten haufiger an 
als irgend ein andres. Als Kraftnatur kennen wir ihn in 



373 ^ 

alien Situationen, gross und grandios ist auch seine 
Freude und Heiterkeit. Aber niemals, glauben wir, 
arbeitet seine Empfindung und seine Kunst mit vollerer 
Energie und Hingabe , als wenn seine Texte der Erden- 
mlidigkeit, der Sehnsucht nach dem letzten Stiindlein 
Ausdruck geben. Die Inbrunst, welche sich dann in 
immer andern Registern, in zarten und stiirmischen Re- 
gungen aussert, hat etwas Damonisches. 

Das Ziel, welches der Griindung des Leipziger Bach- 
Vereins, — nicht zu verwechseln mit der Bach-Gesell- 
schaft — zu Grunde lag: ausschliesslich der Auffiihrung 
dieser Cantaten zu leben, ist eins des besten Strebens 
werth. Jeder grosseren Stadt ware ein Verein zu wunschen, 
welcher die praktische Bekanntmachung dieser Cantaten 
zu seiner einzigen, besonderen Aufgabe machte. Denn 
die Summe von Kunst, welche in diesen Werken nieder- 
gelegt wurde, ist quantitativ und qualitativ zu gross, als 
dass ihr die Chorvereine nebenbei gerecht werden 
k5nnten. Immerhin bleiben aber die Verdienste, welche 
sich einzelne dieser Institute seither um die systematische 
Pflege der Bach'schen Kirchencantaten erworben haben, 
hoch anzuerkennen. Es sei hier speciell der Breslauer 
Singakademie gedacht, welche in der Zeit, wo diese 
Werke neu und fremdwaren, mit besonderer Consequenz 
fiir dieselben eintrat. Kein zweiter Chorverein hat so 
viele Bach'sche Cantaten zur Auffiihrung gebracht als 
dieses Institut unter Mosewius. Seiner Begeisterung fiir 
diesen Kunstzweig hat dieser eifrige Mann in einem be- 
sonderen Werke*) Ausdruck gegeben, welches seiner Zeit 
sehr anregend gewirkt hat. Mit einer heute fast unbe- 
greiflichen, in der Zeit des Meisters und speciell in der 
Kirchencantatekeineswegs vereinzelt dastehenden Frucht- 
barkeit hat Bach das Gebiet bearbeitet. Er hinterliess 
fiinf Jahrgange von ICirchenstiicken auf alle Sonn- und 



*) »J. S. Bach in seinen Eirchencantaten und Ghoial- 
ges'angena, Berlin 1895. 



-^ 374 ♦^ 

Festtage, wie Spitta berechnet, eine Summe von 295 Can- 
taten. 

Nur ein sehr geringer Bruchtheil dieser Leislung ist 
bis heute im Concert Allgemeingut der musikalischen 
Welt geworden. Die zu ihm gehorigen Stiicke mogen 
hier nach der Reihenfolge ihrer Entstehung kurz vor- 
gefiihrt sein. 

Eine der popularsten und bekanntesten der Cantaten 
S. Baoh, Bach's »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« ist zu- 
Gottes Zeit gleich eine der ersten Arbeiten Bach's auf diesem Gebiete. 
(Actus tragicus). gp schrieb sie in seinem 26. Jahre zu Weimar fiir die Bei- 
setzung eines angesehenen Burgers. Das war der »Actus 
tragicus«, von welch em sie ihren Nebentitel und fiir 
welchen sie die sanften, weichen Klageweisen ihrer 
Instrumentaleinleitung (Sonata benannt) hat. Der Text, 
mit einer dichterischen Umschreibung des Bibelspruchs 
»Im Herren leben wir, im Herren sterben wir« beginnend, 
geht darauf aus uns Schritt vor Schritt das Drama des 
Todes vorzufiihren: Es nahen die Sterbegedanken , wir 
horen die Botschaft des Todesengels. Bald aber lost 
ihn die Stimme des Herrn und Heilands ab, die Stimme 
Jesu Christi, der dem Tod seinen Schrecken genommen 
und ihn zum Eingang ins himmlische Paradies gemacht 
hat. Den Bibelspruch des Eingangs hat Bach in einem 
Chor von allgemein feierlichem Charakter componirt. 
Mendelssohn sagt mit Recht von dieser Nummer, dass 
sie auch von einem anderen Componisten herriihren 
konnte. Nur das Adagio, welches von den Worten ab: 
»In ihm sterben wir« beginnt, hat Satze, welche wir fiir 
Bach beanspruchen mochten. Die drei letzten tiefen ge- 
deckten Noten > wenn er will« hatte schwerlich ein Zweiter 
gefunden. Die Sterbegedanken kommen in einem Tenor- 
solo »Ach Herr, lehre uns bedenken«, zu welchem die 
Flote eine nachdenkliche Melodie spielt, welche wie ein 
Verhangniss nicht vom Platze weichen will. Immer kehrt 
sie wieder und bildet musikalisch den Haupttrager der Num- 
mer. Die Botschaft vom Tode wBestelle dein Haus' tragen 
die Basse in einem rauhen, gewaltthatigen Tone vor. Sie 



^ 375 ^ 

entlockt dem Chore in dem Satze »Es ist der alte Bun da eine 
ernste Klage, deren resignationsvoUer Charakter ausser 
in der Melodik des Fugenthemas noch besonders nach- 
driicklich durch die tiefe Lage zum Ausdruck kommt, 
in welch er Bass, Alt und Tenor einsetzen. Es klingen 
die Stimmen in einem Register, welches Grauen erregt. 
Die Soprane bringen mit dem freudig aufheiternden 
Gegenthema »Ja, komm', Herr Jesu Christ« die Wendung- 
Der neue Bund tritt mit dem von den Instrumenten an- 
gespielten Choral »Ich hah' mein' Sach' Gott heimgestellt« 
dem alten entgegen. Am Schlusse der Nummer erhebt 
sich im Orchester eine mysteries flatternde Figur, welche 
auch zu dem nun folgenden Duett zwischen der ab- 
geschiedenen Seele und dem Herrn selbst einen nicht 
unwichtigen Theil des motivischen Materials beitragt. 
Hat Bach an das Bild von der hinabschwebenden Taube 
gedacht? Dieses Duett gehort unter die in der prote- 
stantischen Kirchenmusik, auch in Bach's Cantaten speciell, 
reich vertretene Gattung der geistlichen Dialoge zwischen 
der ))glaubigen Seele« und dem »Brautigama. Der freund- 
lich zusprechende Ton des letzteren (Bass) »Heute wirst 
du mit mir« verscheucht die letzten Sorgen um den Tod. 
In Choraltonen versichert die Altstimme »der Tod ist 
mein Schlaf worden«. Der Chor steigert diesen Gedanken, 
ebenfalls an das Kirchenlied ankniipfend, zum Preis 
und Lob, zuletzt in Fugen jubelnd. 

Die Cantate »Ich hatte viel Bekummerniss«, S. Bach, 
gleichfalls eine der durch die Marx'sche Ausgabe bekannt ich hatte viel 
gewordenen, ist fiir den dritten Trinitatissonntag im Jahre Bekummemiss. 
4 7U zu Weimar geschrieben. Da ihr Text aber an diesen 
Tag nicht weiter ankniipft, schrieb Bach selbst iiber das 
Werk »per ogni tempore «. Es ist moglich, dass es Bach 
ebenfalls zu gelegenthcher Verwendung als Begrabniss- 
musik, von welcher in jener Zeit noch viel gebraucht 
wurde, bestimmt hatte. Das Them a, mit welchem er die 
Worte »lch hatte viel Bekiimmerniss« wiedergiebt, wird 
unter dieser Voraussetzung erst ganz verstandlich. Es 
entspricht mit seinem halb marschartigen Rhythmus 



A 



376 

durchaus nicht dem Tone, welcher flir solche Worte der 
nachstliegende war. Es hat aber in dieser Form die ent- 
schiedenste Aehnlichkeit mit Grab- und Trauerliedern, wie 
sie die Currenden in. jener Zeit und noch spS,ter sangen. 
Auch der Gedankengang im Texte in unserer Cantate ist 
dem » Actus tragicus« sehr verwandt: Kurz wird er im 
ersten Chor in den Satz zusammengefasst: »Ich hatte viel 
Bekummerniss — aber deine Trostungen erquicken meine 
Seele«. Bach hat — nach Vorausschickung einer von 
fliessender Klage und grosser Erregung (Trugschlusse, 
Fermaten) erfullten Sinfonie — dieses Thema in einem 
grossen Eingangschore componirt, der den Gegensatz im 
Texte aufs scharfte auspragt. Das »Aber« steht im be- 
deutungsvollen Adagio, von Pausen umgeben, ganz allein. 
Dann rollt die Erquickimg, die der Trost des Herrn bringt, 
in einem feurigen Vivace, auf gesungenen Orgelmotiven, 
wie eine gewaltige Fluth herein. Ihre Segnungen werden 
erst zuletzt in einem kurzen Andante ruhig, aber nicht 
ohne dass Freudentone hell herausschlagen, betrachtet. 
Es beginnt nun der Weg wieder von vorn: das Thema 
des Textes wird musikalisch ausgelegt. Die Bekiimmer- 
nisse werden in zwei Arien geschildert, welche zu den 
schonsten gehoren, die wir von Bach besitzen. Noch 
hoher als die erste (Sopran) steht die zweite (Tenor) mit 
dem wunderbar ausdrucksvollen Recitativo accompagnato: 
»Wie hast du dich, mein Gott« und der malerischen, 
merkwiirdig reibenden und stechenden Begleitung des 
eigentlichen Ariensatzes : (»Bache von gesalzenen Zahreno). 
In der Mitte geht der letztere einmal aus schmerzlichem 
Sinnen in eine wilde Erregtheit iiber. Der Schlusschor 
des ersten Theils stellt diesem zerknirschten Seelenzu- 
stand Hoffnung und Aussicht auf Heilung gegeniiber. 
Die wunderbar fein eingefuhrten Worte »Harre auf Gott« 
bilden den Kernpunkt dieses ausserordentlich reich und 
lebendig entwickelten Satzes. Die ganz frappant decla- 
mirte Stelle »in mira ist fast identisch mit dem »wenn er 
willot im »Actus tragicus«. Der Schlussabschnitt dieses 
Chores greift sichtlich auf Stimmung und Rhythmus des 



-^ 377 *- 

Eingangssatzes zuriick. Der zweite Theil der nummern- 
reichen Cantate schildert die Erquickung des geHngsteten 
Gemiiths durch die Hiilfe des Herrn. Es ist wieder ein 
Dialog (Sopran und 6ass.\ der ihn beginnt. Der zweite 
Satz desselben »Komm') mein Jesu, und erquicke« ist fiir 
die Kirche etwas zu zS.rtlich und stiss, eins der wenigen 
Beispiele, mit denen man die falsche Ansicht von dem 
Pietismus Bach's allenfalls belegen konnte. Auch die 
Tenorarie failt im Ausdruck der wiederkehrenden Freude 
in einen weltlichen Ton, welcher dem spateren Bach 
nicht untergelaufen sein wiirde. Ganz gross sind aber 
die Chore dieses zweiten Theils, der erste »Sei nun 
wieder zufrieden« auch bezuglich der Form: Choral mit 
Fuge. Der Choral, welcher von Stimme zu Stimme 
wandert, ist: nWer nur den lieben Gott lasst walten«. 
Der Schlusschor des Werkes hat Handel'schen Charakter. 
Der melodische Zuschnitt des Fugenthemas »Lob und Ehr' 
und Preis« kommt in spateren Werken Bach*s nur selten 
wieder; am nachsten unter den bekannten Cantatensatzen 
steht ihm das beriihmte Thema des gewaltigen Cantaten- 
torso: »Nun ist das Heil und die Kraftc 

Die Cantate »Ein' feste Burg« ist unter den im Con- 8. Bach, 
certe eingebiirgerten die erste, in welcher der Choral Ein* feste Burg, 
mehrere Satze durchzieht. In der heute bekannten Fassung 
ist das Werk erst i 739 voUendet worden. Dem ersten Ent- 
wurf vom Jahre 174 7, in welchem sie als Cantate »Alles, 
was von Gott geboren« zum Sonntag Oculi bestimmt war, 
fehlten zwei Hauptstiicke, die Ch6re Nr. i und 5. Beide 
sind Choralbearbeitungen, der erste eine solche grossten 
Styls. Die vier Stimmen fiihren die melodisch variirten 
Zeilen des Liedes in Fugenform durch. Auf die Sing- 
stimmen thiirmt der kiihne Bauherr noch einen Canon 
zwischen Oboen und Orchesterbassen. Schmetternde 
Trompetenfanfaren, welche leider nur selten originalgetreu 
zur Ausfiihrung kommen, bilden die glanzenden Spitzen 
dieser gewaltigen gothischen Musikburg. In dem anderen 
dieser zugesetzten Chore, der Nr. 5, singen die sammt- 
lichen Stimmen den Choral einfach, aber in ein em 



-* 378 ♦- 

wuchtigen Unisono. Das Orchester, thematisch von der ersten 
Strophe ausgehend, breitet eine Fluth von Kraft und Trotz 
dariiber aus, deren Wirkung elementar ist. Die Nr. 2, ein 
Duett zwischen Sopran und Bass, bereitet den stiirmischen 
Charakter dieser einem Abschnitt aus der Volkerwanderung 
gleichenden Scene vor. Besonders beach ten swerth sind 
in diesem Duett die im Stolze aufpochenden Motive der 
Violinen. Von den duettirenden Singstimmen, welche am 
besten chorweise besetzt werden, bringt der Sopran den 
Choral. Die Basse umkleiden den Choral mit einem 
Triumphgesang, dessen Accente wie eherne Keile fallen, 
dessen begeisterte Figuren der menschlichen Athemkraft 
fast spotten. Den beiden noch ubrigen Sologesangen 
der Cantate gehen recitativartige Einleitungen voraus, 
deren Schliisse ausserordentlich schon in den Gesang 
ijberleiten. Der letzte dieser Sologesange, das Duett: »Wie 
selig sind doch die« (Alt und Tenor) ist eine von Bach's 
einfachsten und zugleich innigsten Arbeiten dieser Gattung. 
Bekanntlich war Bach's Leipziger Zeit die ergiebigste 
fiir seine Bestellung der Kirchencantate. Das erste Werk, 
welches uns aus dieser Periode im Concert begegnet, ist die 
J. S. Bach, Ostercantate vom Jahre 1724 »Christ lag in Todes- 
Christ lag in ban den". Sie entspricht keinem der Haupttypen der 
Todesbanden. Kirchencantate, welche Bach wahrend seines Gantorats 
ausbildete, und ist als ein Versuch fiir sich zu betrachten, 
als ein Versuch, in welchem Bach ein Bild von derEnt- 
wickelung gab, welche die deutsche Kirchencantate, in 
ihrer Eigenart gelassen, hatte nehmen k6nnen. Alle 
italienischen Elemente fehlen diesem Werke: nirgends 
Arie oder Recitativ. Die Cantate ist durchaus in alien 
ihren sieben Nummern auf den Choral gestellt. Das ur- 
alte Osterlied kehrt in sieben, der Art nach ganz ver- 
schiedenen, Bearbeitungsformen wieder und in diese Be- 
arbeitung sind absichtlich vielerlei alterthiimliche Elemente 
auch in der Instrumentirung eingewoben. Einzelnekniipfen 
— wie Spitta mittheilt — direct an eine Cantate von 
Kuhnau, Bach's AmtsvorgSnger, an. Beim ersten H6ren 
etwas einformig und keine von den leichten, ergreift diese 



-^ 379 -&- 

Cantate beim Eindringen, eben wegen ihrer Einheitlich- 
keit ganz besonders. Die Kunst, welche demselben 
Grundstamm immer neue Ideen abgewinnt, scheint un- 
erschopflich. 

Erst in neuerer Zeit begegnen wir zuweilen einer in 
demselben Jahre aufgefiihrten aber noch in Cothen com- 
ponirten Cantate »Du wahrer Gott und Davids Sohn«. J. 8. Bach, 
Der Choral, welcher ihr zu Grunde liegt, ist — zuerst mit Du wahrer Gott. 
dem Tenorrecitativ einsetzend — : »Christe, du Lamm 
Gottes«; der schonste Satz der Cantate das Adagio mit 
den herrlichen Zwischenspielen, welches nach dem Chore 
»Aller Augen warten auf dich« beginnt. Die Dichtung 
kniipft an das Evangelium vom Sonntage Estomihi an, 
in welchem erzahlt wird, wie ein Blinder am Wege durch 
den nach Jerusalem ziehenden Heiland das Augenlicht 
wieder erhalt. 

Von einer grossen Reihe Bach'scher Cantaten lasst 
sich nur die Periode der Entstehung, nicht aber das ge- 
naue Jahr bestimmen. Von den bekannteren gehoren J. S. Bach, 
ausser der oben erwahnten »Herr gehe nicht i n s Herr gehe nicht; 
Gerichtc hierher: «Halt im Gedachtniss Jesum Halt hn Ge- 

d &Clltlll8 8 * 

Christw, »Es ist dir gesagt« und »Liebster Gott, Egjat^jj ggg^gt. 

wann werd' ich sterben«. Sie fallen in den Zeit- 

raum i 723— 27. Systematisch gemeinsame Ziige tragen sie 

nicht. Die herrlichste Partie in »Halt im Gedachtniss« ist in 

dem mit »Arie« iiberschriebenen Satze die Stelle, wo die 

Basse das »Friede sei mit euch« anstimmen. Der Ort, an 

welchem Bach ganz dasselbe Motiv in seiner A dur-Messe 

anbrachte, ferner die Verwendung des Chorals »Erschienen 

ist der herrlich' Tag« weisen darauf bin, wie seine Fan- 

tasie bei dieser Composition mit Weihnachtsgedanken 

erfiillt war. In der Cantate »Es ist dir gesagt« erregt 

der harte feste Charakter des ersten Chores ebenso sehr ** 

unser Interesse wie seine merkwiirdige Disposition. Was 

dem Menschen gesagt ist, erfahren wir die ganze Halfte 

des Satzes hindurch nicht. Da mit einem male kommt 

das (von Bach eingeschobene) »namlich« in lapidarer Form. 

Kein zweiter Componist hat ein Colon so in seine Rechte 



-e- 380 

eingesetzt. Die Wichtigkeit und Strenge des Gebots zu 
betonen ist die geniale, zunachst aber etwas befremdende 
Eintheilung der Musik allerdings wie nichts anderes ge- 
eignet. Der Choral der Cantale ist die Melodie »0 Gott, 
du frommer Gott«. Unter der grossen Zahl von Can- 
J. 8. Bach, taten, welche den Tod als Gliick preisen, nimmt die 
Liebster Gott, Cantate »Liebster Gott« eine sehr abweichende Stel- 
wann. j^j^g ^^^ g^g yiSii wenig oder gar nichts von der dii stern 
Melancholie, welche sonst iiberwaltigend aus diesen Com- 
positionen spricht. Ja ihre Freude liber die Vereinigung 
mit Jesu (in der Bassarie) klingt fast zu hell uud zu 
profan. Dieser liebliche Grundton mag wohl damit in 
Verbindung stehen, dass die Cantate fiir den Sonntag 
bestimmt war, an welchem das Evangelium von dem 
Jiingling von Nain verlesen wurde. Ein Sterben in der 
Jugendzeit, Begrabenwerden im Friihling, wenn die Vogel 
in das TrauergelS.ut hineinsingen — das sind die Vor- 
stellungen, welche namentlich den ersten Chor zu er- 
fiillen scheinen, in welchen das von Bach oft copirte 
Gelaute der Trauerglocken so merkwiirdig hoch und 
lebendig, fast anmuthig und wie von Lerchenschlag be- 
gleitet, klingt. Die Cantate hat keinen eigentlichen 
Choral, sondern statt dessen eine in einfacher Form ge- 
haltene geistliche Arie von der Composition des Leipziger 
Organisten Vetter. 
J. S. Bach, In das Jahr i728 gehort die Cantate »Wer nur den 

Wer nur den lieben Gott lasst walten«, welcher das bekannte 
lieben Gott. Gedicht und die dazugehorige Melodie von G. Neumark 
zu Grunde liegen. Wenn allgemein bekannt, wird diese 
Composition wahrscheinlich unter der Zahl der popularen 
Kirchencan taten Bach's einen der ersten Platze ein- 
nehmen. Ihr Text, eine von Picander zugerichtete milde 
• Geduldspredigt, ist allgemein zuganglich, ihre Musik, 
im Grundwesen mehr sinnig als gewaltig, sagt dem 
modernen Geschmack namentlich durch die grosse 
Freiheit des Ausdrucks zu. Die Cantate hat formell mit 
der oben erwahnten »Christ lag« eine gewisse Verwandt- 
schaft, insofern als sie ebenfalls fiir alle Nummern den 



381 ^ 

Choral benutzt. Aber wahrend jene ihre Formen streng 
durchbildet, treibt hier Bach mit denselben ein anmuthig 
fantastisches Spiel, nimmt bald ganze Theile, bald nur 
kleine Anklange aus seinem cantus firmus, fiihrt eine 
Strecke genau durch, schlagt dann wieder ganz iiber- 
raschende recitativische Wege ein: kurz der Componist 
bewegt sich in dieser Cantate wie in einer leichtgefiigten, 
geistreichen Improvisation , in einer Freiheit von Form und 
Ausdruck, dass man zuweilen eher an Philipp Emanuel 
als an Sebastian Bach denken mochte. Der weitest an- 
gelegte Satz ist der erste Chor. Seine Maasse schweifen 
aus. Schon ist die Doppelwirkung des Chorals in ihm, 
der zum Geriist und gleichzeitig zur Arabeske benutzt wird. 

Aus dem Jahre i 735 begegnen wir in unsern Concert- J. S. Bach, 
auffiihrungen zwei Cantaten: »Wer da glaubet und wer da^iautet; 
getauft wird« und »Wir dank en dir«. Jene feiert^" danken dir. 
in lauter hellen Farben die Segnungen des Glaubens. 
Wunderschon verbindet der erste Chor die Schilderung 
des Friedens und der Weihe im Herzen des Glaubigen 
und der begeisterten Kraft, die ihm vom gottlichen Worte 
zustromt. In mehr fliessender und im Schwunge um 
sich greifender Form durchlebt das letztere Element auch 
die Bassarie: »Der Glaube schafft der Seele Fliigel«, eines 
der schonsten Stiicke der Gattung. In den Choralsatzen 
handelt es sich um die Melodie »Wie schon leuchtet der 
Morgensternw. Die andere jener beiden Cantaten »Wir 
danken dir« ist eine der vielen Rathswahlcantaten, 
zu deren Composition Bach durch seine Amtspflichten 
als stadtischer Musikdirector verbunden war. Auch seine 
zweite nachweisbare Cantate, die einzige, welche zu des 
Componisten Lebzeiten in Druck kam, die Miihlhauser 
Cantate »Gott ist mein Koniga, ist eine Rathswechsel- 
cantate. Als echte Festmusik steht die Leipziger Cantate 
»Wir danken dir« in Ddur. Den ersten Satz muss man 
sich zum Einzug der Rathsherrn gespielt denken. Er ist 
ein Orgelconcert mit Orchester: Motive, welche uns aus 
der bekannten D moll-Toccata gelaufig sind, tragen die 
musikalische Idee. Der erste Chor »Wir danken dir« ist 



1 



-^ 382 ♦- 

iiber dasselbe altliturgische Them a aufgebaut, welches in 
der Hmoll-Messe dem Chore »Gratias agimus« zu Grunde 
liegt. Einen drastischen Effect, wie sich ihn Bach selten 
erlaubt, zeigt der Schluss des ersten Recitativs, indem 
der Chor plotzlich mit »Ainen« einfailt. 
J, S. Bach, Aus derselben Zeit wie diese Chorcantaten begegnen 

ich habe genug; uns zwei Solocantaten : die eine fiir Bass: »Ich habe 
Schiage doch genug«, die andere fiir Alt: nSchlage doch, ge- 

(Soiocantaten). ^iins ch t e S tunde«. Die Gattung der Solocantate, von 
Bach ziemlich fleissig gepflegt, kam mehr den Zwecken 
haushcher Andacht zu Gute als dem kirchlichen Dienst. 
Alle die hierhin gehorigen Werke sind Meisterstiicke des 
melodischen Ausdrucks. Die Cantate »Ich habe genug« 
verrath namentlich in ihrem zweiten Satze die Nahe der 
Matthauspassion. Zu der Spielerei mit den Glockchen- 
schlagen, welche in der Altarie — die wohl nur ein 
Fragment einer mehrsatzigen Cantate ist — die Sing- 
stimme begleiten, mag Bach durch irgend ein Orgelwerk 
veranlasst worden sein, welches wohl eben mit einem 
Glockenspiel — einem beliebten Prasent musikalischer 
Kirchenfreunde in jener Zeit — ausgestattet worden war. 
Bach hat dem kindlichen Effecte eine poetische Seite 
abzugewinnen verstanden. 

Aus Bach's letzter Periode, welche wir von der Mitte 

der dreissiger Jahre ab rechnen diirfen, zahlen nur 

J. S. Bach, wenige Cantaten zu den heute bekannteren. Die erste ist 

Ach Gott, wie die Choralcautate »Ach Gott, wie manches Herze- 

manches. leid«, ein schwermiithiges Werk, welches sich nur am 

Schluss ein wenig aufhellt. Bezeichnender Weise hat 

sich in ihm Bach der Chromatik in der Melodiebildung 

sehr nachdriicklich bedient. Die Hauptnoten in dem 

durchfugirten Them a des ersten Ghors (Choral im Bass) 

bilden ein Stiick der chromatischen Scala. Geradezu 

ans Qualerische streift die Stimmung in der anderen 

chromatischen Nummer der Cantate, in der schweren 

Bassarie »Empfind ich Hollenangst etc.« Die zweite 

J.S.Bach, ist die in das Jahr i736 fallende Cantate »Bleibe bei 

Bieibe bei uns. uns, denn es will Abend werden^. Der Text dieser 



tjA 



i 



383 

Composition kniipft an das Evangelium von den Jiingern 
an, welche auf dem Wege nach Emmaus dem aufer- 
standenen Heiland begegnen. Die Musik gehOrt unter 
das Schonste, was wir von Bach'scher Kunst besitzen. 
Ein tiefer milder Geist tritt in diesem Werke in beson- 
derer Klarheit und in einer gewissen patriarchalischen 
Hoheit hervor. Alles in warmster Empfmdung ohne 
Leidenschaft , in bildlicher Anschaulichkeit ohne jede 
Aeusserlichkeit. Das Hauptstiick ist der erste Chor, aus dem 
in Anfang etwas von den Weisen erklingt, welche in den 
beiden grossen Passionen die Grablegung Ghristi begleiten. 
Ein frommer, liebevoller, herzlicher Ton spricht ans den 
lebendigen Zureden der Jiinger; in ihrem Klang und in 
ihrer Bewegung liegt iiberdies etwas von dem Charakter 
der Abendstunde. Dramatisch ist das Bild weiter gefiihrt, 
wie sie mit ihren Bitten beginnen einzudringen, zu eifern 
Tind fast zu drohen. Und dann klingt aus dem bewegt 
gewordenen Satz das »Bleibe« in langen Noten bald aus 
dieser, bald aus jener Stimme,- wie ein Hilf- und Mahn- 
ruf in der Finsterniss. 

Die Cantaten dieser letzten Periode verbindet ein 
gemeinsamer Zug in der Behandluug des Chorals, den 
Bach in seiner Originalform so deutlich als moglich 
sprechen lassen mochte. Was diese beeintrachtigen kann, 
vermeidet er. Das sprechendste Beispiel fur dieses Be- 
streben bietet die Cantate »Ach wie fluchtig« in ihrem J. S. Bach, 
ersten Satz. Wie aus Stein gebildet tritt uns hier die Ach wie fluchtig. 
Kirchenmelodie aus dem Munde des Soprans entgegen. 
Die ubrigen Stimmen kreuzen sie nicht, sie fugiren nicht, 
sondern declamiren: der Charakter ihrer Motive spiegelt 
die stete Klage der Hauptstimme verkleinert und verviel- 
faltigt wieder. Obwohl an sich von grosser malerischer 
Kraft, stimmen doch die iibrigen Satze der Cantate nicht 
mit dem strengen Ton des Eingangs iiberein. 

Zwei seiner Cantatenwerke hat Bach Oratorien be- 
nannt: die Himmelfahrtscantate »Lobet Gott in seinen 
Reichen« und den »Cyclus von Weihnachtscantaten«, 
welcher mit »>Jauchzet, frohlocktff beginnt. Mit ein em 



oratorium. 



^ 384 ^ 

dritten Oratorium Bach's, dem Osteroratorium , hat es 
eine andere Bewandniss. Es gehSrt zu einer ahnlichen, 
wirklich dramatischen Formengruppe, wie sie friiher in 
den Auferstehungshistorien der Scandellus, Bessler, Schiitz 
und anderer Tonsetzer des siebzehnten Jahrhunderts, 
Oder in den Dialogen Hammerschmidt's vertreten ist. Die 
Oratorien zur Himmelfahrt und zu Weihnachten sind aber 
Cantaten, welche sich von den iibrigen Kirchencantaten 
formell nur im Recitativtext unterscheiden. Dort aus- 
schliesslich betrachtender und lyrischer Natur, nimmt er 
in diesen sogenannten Oratorien erzahlende Elemente in 
S. 8. Bach, sich auf. Das Weihnachtsoratorium (i. J. i734 ge- 
Weihnachtfc-- schrieben und seit Bach's Tode zum ersten Male wieder 
i. J. i844 durch Mosewius aufgefiihrt) besteht aus sechs 
Cantaten: je eine fiir den ersten, zweiten, dritten Weih- 
nachtsfeiertag, fiir Neujahr, fiir Sonntag nach Neujahr 
und fiir das Hoheneujahrsfest. Der Versuch, diese sechs 
Cantaten als Ganzes zur Auffiihrung zu bringen, ist ge- 
macht worden. Wenn er ein befriedigendes Resultat nicht 
gehabt hat, so liegt dies darin, dass die Disposition der 
Theile des Weihnachtsoratoriums eine zu gleichmassige 
ist und dass dem Texte selbst alle Bedingungen des dra- 
matischen Aufbaues fehlen. In den Passionen ist dieser 
dramatische Auf bau vorhanden : sie entwickeln eine Kata- 
strophe, deren Endpunkt, der Tod des Herrn, den Schluss 
der Werke bildet. In dem Weihnachtsoratorium aber 
steht der wichtigste Theil der Geschichte am Anfang: 
was nach der zweiten Cantate noch kommt, ist drama- 
tisch nur nebensachlich und dient nur dazu, die Em- 
pfindung der Weihnachtsfreude zu immer neuem Aus- 
klang zu bringen. Eine in neuerer Zeit veranstaltete 
(eingerichtete) Ausgabe des Weihnachtsoratoriums hat sich 
in Beriicksichtigung dieser Umstande darauf beschrankt, 
nur die erste und zweite Cantate zu bringen. Musi- 
kalisch ist das Weihnachtsoratorium durch einen grossen 
Reichthum kostlicher, einganglicher Melodien in den Solo- 
gesangen ausgezeichnet. Auf das Alt- und das Basssolo 
entfallt davon der Haupttheil. Ein volksthiimlicher Ton 



385 

ist auch in den meisten Choren durchgefiihrt, ihre Form 
und ihr Charakter ist durchschnittlich einfach und leicht 
zu verstehen. Dringt doch Weihnachten in das burger- 
liche Leben tiefer ein als irgend ein anderes Fest der 
christlichen Kirche. Von diesem Gesichtspnnkte aus 
trug Bach kein Bedenken in sein Weihnachtsoratorium 
eine grossere Anzahl von SM,tzen aus weltlichen Ge- 
legenheitscantaten seiner Feder heriiberzunehmen. Es 
sind nicht weniger als sechzehn Nummern. Manches in 
der musikalischen Disposition nimmt sinnigen Bezug auf 
volksthtimliche Weihnacbtsbrauche, welche zur Zeit, da 
das Werk entstand, noch den lebendigen Zusammenhang. 
mit den alten Krippenspielen, die ja in den katholischen 
Landen heute noch existiren, bildeten. Selbstverstandlich 
sind die bekannten Weihnachtschorale in dem Oratorium 
an hervorragende Stellen gesetzt und theilweise mit aller 
Poesie der Bach*schen Kunst geziert worden. Der Choral 
»Vom Himmel lioch« nimmt unter ihnen einen bevor- 
zugten Platz ein. Es ist aber bei Bach's tiefsinniger Auf- 
fassung des christlichen Festlebens sehr naturlich, dass 
auch »0 Haupt voU Blut und Wunden« in die Weihnachts- 
stimmung seine Schatten hineinwirft. 

Mit Ausnahme der zweiten Gantate sind alle Theile 
durch grossc Chore eingeleitet, deren Form auf die drei- 
theilige italienische Arie zuruckgeht. Freude und Dank 
ist der geistige Inhalt dieser Chorbilder, in der Mitte 
bringt Bach einen sanften Schatten an, um die Haupt- 
idee zu heben. Der Eingangschor der ersten Cantate 
»Jauchzet, frohlocket« mit seinem Trompetengeschmetter 
und dem Paukenallarm ist als ein Beispiel volksfestlichen 
Anklangs in kirchlicher Musik schon friiher erwahnt 
worden. Die Motive seines ersten Theils stehen zu ein- 
ander im Verhaltniss der Steigerung und Vertiefung. AU- 
gemeines Jauchzen und Freudenrufen hat die Massen 
erfasst. Dann kommen erst die Gedanken und die Be- 
trachtungen. Der zweite Theil geht in den ruhigen Ton 
frommer Andacht iiber. Mit den Worten »Dienet dem 
H6chsten« setzt er nach der Fermate ein. Die bedeutendste 

II, 1. 25 



-» 386 *- 

unter den iibrigen Nummern der ersten Cantate ist das 
Duett: »Er ist auf Erden kommen anna, eine hochst geist- 
reiche, geniale Verschmelzung von Lied, Recitativ und 
Choral (sGelobet seist du, Jesu Ghristcc). Das Tonbild ist 
scenisch gedacht und entwickelt. In gedampfterer Farbe 
kehrt in den Ritornellen des Schlusschorals noch einmal 
der Trompetenklang wieder, welcher den Eingang der 
Cantate so scharf belebte. 

In der zweiten Cantate zeichnen sich die Recitative 
des Engels jind des Basses durch den Ausdruck stillseliger 
Empfindung aus. Die Hauptstlicke dieses Theils sind 
aber die wunderbare, romantische, ruhig schwarmerische 
Pastoralsinfonie, welche die Cantate erSfifnet, die Schlum- 
merarie des Altes, ein idealisirtes Wiegenlied, und der 
die Cantate schliessende Gesang der Engel, der Chor: 
»Ehre sei GoiU. Namentlich der Einsatz des 'Friede auf 
Erden« im letzteren gehort zu den tiefsinnigsten Ein- 
gebungen Bach's. Die iibrigen madrigalischen Chore des 
Oratoriums haben mit Ausnahme des feurigen Eroff- 
nungschores zum fiinften Theil »Ehre sei dir, Gott, ge- 
sungen« nur wenig von dem Wesen und der Grosse des 
Bach'schen Chorstyls. Dagegen sind die dramatischen 
Ch6re der Hirten und der Weisen aus dem Morgenlande 
ausgezeichnete Charakterstucke. Von den guten Arien 
der letzten Theile des Oratoriums entfallt auch eine auf 
den Tenor; es ist die Nummer: »So moget ihr stolzen 
Feinde« der sechsten Cantate. Die Satze, welche dem 
Sopran zugetheilt sind, wechseln im Werthe: Eine: 
vFlosst mein Heiland« ist eine historische Curiosit^t. Sie 
bringt den im siebzehnten Jahrhundert in alien Gattungen 
damaliger Musik beliebten Effect des Echo noch einmal 
zur Verwendung. 

Mit Bach, dem VoUender der Kirchencantate, schliesst 

ihre Geschichte, wenigstens soweit, als sie im Concert ver- 

folgt werden kann. Die im Text und Musikcharakter 

kirchlich gehaltenen Cantaten, welche nach ihm ge- 

J. &. Haumann, schrieben worden sind, wie die von J. G. Naumann und 

Th. Weinlig. Th. Weinlig, haben sifihim Concert nur voriibergehend 



-• 387 .*- 

behaoptet. Eine Ausnahme bildel in diesei Beziehung 
C. M. V. Weber'a .In seiner Ordnnng scJiafrt der Heiro 
mit dem Choral >>Befieh] du deine Wege°. Einen grSsseren 
Nachdruck auf dem Gebiete der Cantatenarbeit hat das 
LutherjubilSum Tera&lasst. Das JaJir ISS3 brachte eine 
grossereAnzahlkirchlicberRetormationscantateninDrnck, 
Ton deneti wir die von 0. Wermann und A. Becker C 
anfiihren. Letztere, eine sehr geistvolle Composition, 
welcbe namentlich in der EinfUhrung des Chorals 'Ein' 
feste Burg« hochpoetiscbe und eindringliche Momente auf- 
weist, hat auch bereits vielfache praktische Beacbtang 
von Seiten der Chorvereine gefunden. 




t1 

• i 
I 

i 






Berichtigangen : 

Seite i6, Zeile 9 von unten und Seite 22 Zeile 10 liess statt 
Walter: Walther. 
» i 9, erstes Notenbeispiel, ist im I. Tenor des letzten Tactes 

f statt e zu lesen. 
» 144 ist in dem Notenbelspiel lingua statt tinga zu lesen. 
» 4 62, Zeile 19 lies statt Hesse: Hasse. 
» 262, » 3 lies statt welcher: welches 
» 303, » 4 lies statt Fuchs: Fax. 



REGISTER. 



Abkurzangen: C= Csntaten , H = Hymnen , Ln = Lamentationen, 
Li = Litaneien, M = Messen, Mt = Motetten, P = Passionen, Ps = Psalmen. 



Agazzari 273 (H). 
Aiblinger, J. K. i84 (M). 
AicMnger 273 (H). 
AUegrl, G. 3i8 (Ps); 343 (Ln). 
Anerlo, F. 445, 223 (M); 273 

289, 303 (H); 321 (Ps). 
Arcadelt, J. 346 (Mt). 
Asola 237 (M). 
Astorga, E. 275, 278 (H). 

Bach, J. S. 20, 44, 64— i04, 
416, 424 (P); 149—464, 
4 73, 203, 24 4 (M); 308— 
34 4 (H); 352—360 (Mt); 
374—385 (C). 

Bach, Mich. 352 (Mt). 

Bach, Ph. E. 4 08 (P); 34 4 (H); 
333 (Pb). 

Baini, L. 282 (H). 

Bassani, G. B. 223 (M). 

Becker, A. 24 5—24 9, 267 (M)j 
366 (Mt); 387 (C). 

Beethoren, L. v. 4 4 0—4 4 4, 4 4 6 



(P); 429, 465—183, 485, 

214, 217, 240, 256 (M); 

362 (Mt). 
Benevoli, 0., 4 46 (M). 
Bergt, A. 298 (H). 
Berlioz, H. 239—245, 251 

(M); 299' (H). 
Bernabei, E. 327 (Ps); 347 

(Mt). 
Besler, S. 16, 17, 22 (P). 
Biordi 343 (Ln). 
Bochsa 232 (M). 
Bodenschatz 348 (Mt). 
Brahms, J. 252—259 (M); 

344 (Ps); 366—368 (Mt). 
Brixi 297 (H). 
Brosig 200 (M). 
Bruch, M. 214 (M). 
Bruckner, A. 300 (H). 
Bramel 4 48 (M). 
Burgk, J. V. 4 4 (P). 
Buxtehnde, D. 370 (C). 
Byrd 289 (H). 



390 



Caldara 434, i62 (M); 289, 
306 (H); 3<9, 320 (Ps). 

Calvisius 348 (Mt). 

Carissimi 57 369 (C). 

Cauer, F. 232. 

Cavaccio, G. 223 (M). 

Cavalli, Fr. 223 (M). 

Chembini, L. i67, 4 85—4 93, 
220, 232—239 (M); 362 (Mt). 

Clampi 297 (H). 

Clari, G. M. 275 (H). 

Clemens non papa 4 33 (M). 

Colonna, G. P. 223 (M) ; 327 
(Ps). 

Cordans 4 34 (M). 

Cornelius, P. 24 5. 

Daser, L. 4 4 (P). 
Demantius, Chr. 4 4 (P). 
Diabelli, A. 204 (M). 
Draeseke, F. 24 9, 264 (M); 

366 (Mt). 
Drechsler 232 (M). 
DroWscli 232 (M). 
Dufay 4 35, 436 (M). 
Durante, Fr. 4 34, 4 47, 4 62, 

224 (M); 289, 307 (H); 

343 (Li und La). 
Dvoi^ak, A. 284—287 (H). 

Eccard 348 (Mt). 
Eisner 423 (P)j 232 (M). 
Ett, K. 4 84, 282 (M). 
Eybler 232 (M). 



Faisst, J. 339 (Ps). 
Fasch, C. F. 204, 232 (Ml. 
Fasoh, J. F. 834 (Ps). 
Feo, F. 334 (Ps). 
Ferradini 297 (H). 
Fesoa 362 (Mt). 
Festa, C. 289 (H). 
Fevin, A. 224 (M). 
Franck, M. 348 (Mt). 
Franz, R. 307 344 (Ps). 
Fux J. J. 44 (P); 447 (M); 
281,289, 303 (H); 223 (Ps). 

Gabrieli, A. 4 46 (M). 
Gabrleli, G. 4 46 (M); 303 (H); 

327 (Ps). 
Gallus, J. 4 4 (P); 289 (H); 

346 (Mt). 
Gansbacber 232 (M). 
Gasparini 4 34 (M); 284 (H); 

333 (Ps). 
Gassmann 284 (H). 
Gazzaniga 297 (H). 
Geslus, B. 4 4 (P). 
Gibbons 289 (H). 
Gluck, Chr. W. v. 338 (Ps). 
Gotz, H. 344 (Ps). 
Gotze, 0. 240. 
Goudimel, C. 324 (Ps). 
Gounod, Ch. 418 (P); 220 

(M). 
Gouvy, Tb. 265 (M); 284 (H). 
Graun, C. H. 4 02—4 08 (P); 

296 (H). 



394 



Grell, E. 201—203 (M); 34< 

(Ps). 
Guerrero, Fr. 224 (P u. M). 
Gumpoltzhalmer 348 (Mt). 

Habert, J. E. 205 (M). 
Haller, M. 205 (M). 
Hammersclimidt , A. 49 (P)} 

348 (Mt). 
HSndel, G. F. 58—60 (P); 

483 (M); 290—296 (H); 

327—334 (Ps). 
Hasei, F. A. 232 (M); 299 (H). 
Hasse, J. A. 447 (P); 462, 224 

(M); 284, 296(H); 333 (Ps). 
Hassler, H. L. 446 (M); 303 

(H); 324 (Ps); 846, 348 

(Mt). 
Hasslinger 204 (M). 
Hauptmann, M. 200 (M); 344 

(Ps); 364 (Mt). 
Haydn, J, 448—423 (P); 463 

—4 64, 485 (M); 284, 297, 

304 (H); 333 (Ps); 344, 

360 (Mt). 
Haydn, M. 4 62, 234, 250 (M); 

364 (Mt). 
Heine, S. F. 34 4 (H). 
Hellwig 232 (M). 
Henkel 232 (M). 
Herzogenberg, H. v. 266 (M). 
HiUer, F. 339 (Ps). 
HiUer, J. A. 277. 
Himmel, F. 298 (H); 362 (Mt). 



Homilias, G. A. 4 08 (P); 345 

(H). 
Hummel, J. N. 484. 
Hattenbrenner 232 (M). 

Jadassohn, S. 344 (Ps). 
Jomelli, N. 44 (P); 224 (M); 

296, 34 4 (H); 332 (Ps). 
Josquin de Pres 4 39 — 144, 

4 48 (M); 269 (H). 

Kafer, J. Ph. 57 (P). 
Reiser, R. 56, 64 (P). 
Kerle, J. de 224 (M). 
Keuchenthal 47 (P). 
Kiel, F. 423—428 (P); 244, 

246—254 (M); 283 (H). 
Klein, B. 200, 204 (M); 282, 

299 (H); 339 (Ps). 
Knefel, J. 46 (P). 
Kramer, Chr. 4 4 (P). 

Lachner, F. 246 (M); 284 

(H); 339 (Ps). 
Lasso, 0. di4 6(P); 434, 4 37, 

4 44, 4 48, 222 (IdQi; 273,302, 

303, 304 (H); 322 (Ps); 

346 (Mt). 
Legrenzi 347 (Mt). 
Leisring, F. 348 (Mt). 
Lemaistre 303 (H). 
Lee, L. 427 (P); 434, 4 47, 

464 (M); 289(H); 334 (Ps). 
Lesuenr, J. F. 299 (H). 



i 



392 



i 



Liazt, Ft. 204, 206—24 3, 251 
(M); 339—344 (Ps); 362, 
366 (Mt). 

LossiuB, L. 9, 22 (P). 

Lotti, A. 4 34, 4 46, 223 (M); 
308, 306(H); 327, 332 (Ps). 

Lowe, K. 446 (P). 

Ludeous, M. 9 (P). 

Lully 289 (H). 

Lutz 44 9 (P). 

Machold, J. 4 4 (P). 
Mancinns, Th. 40 (P). 
MarceUo, B. 324—326, 339 (Ps). 
Marenzio, L. 303 (H). 
Martini, G. B. 4 48, 204 (M); 

303 (H). 
Mattheson, J. 62 (P). 
Mayer, S. 232 (M). 
Mendelssohn-Bartholdy, F. 34 5 

(H); 334— 338 (Ps); 364— 

365 (Mt). 
Mercadante 4 48 (P). 
Mitterer, J. 206 (M). 
Molique, S. 4 84 (M). 
Monteverdi (Einflass auf H. 

Schiitz) 46, 230 u. 6. 
Morales, C. 224 (M); 303 (H). 
Moralt 232 (M). 
Morlacchi 232 (M). 
Mozart, W. A. 456, 4 63, 4 65, 

225—234, 250 (M); 297, 

304 (H); 333 (Ps); 343 (Li); 
364 (Mt). 



Miiller, Ph. 56 (P). 
Mttller-Hartung 344 (Ps). 

Naoini, G. M. 273 (H). 
Naumann, C. G. 4 62 (M). 
Naumann, J. G. 4 47 (P); 333 

(Ps); 386 (C). 
Navarro, M. 308 (H). 
Neukomm, S. 4 48 (P); 232 

(M); 282 (H). 
Notker Balbulus 268 (H). 

Obrecht, J. 4 4 (P); 4 35, 456 

(M). 
Ockeghem 4 35, 4 36 (M). 
Orti 289 (H). 
Ortiz, D. 303 (H). 
Otto, J. 204 (M); 339 (Ps). 

Paisiello 4 40 (P). 

Palestrina, G. P. da 4 32, 4 33, 
434, 437, 439, 442—444, 
4 48, 222, 264 (M); 274, 
304, 303 (H); 344 (Mt). 

Pareja, R. de 303 (H). 

Pasterwitz, G. v. 225 (M). 

Pergolese, G. B. 275, 279— 
284 (H). 

Pertl 4 62 (M). 

Pitoni, G. A. 222 (M); 303 (H). 

Praetorius 348 (Mt). 

Preindl, J. 200 (M). 

Prioris, J. 224 (M). 

ParceU, H. 289, 303 (H). 



393 



Baff, J. 341 (Ps). 
Reiner, J. 4 6 (P). 
Reissiger, 0. G. '1 84. 
Reutter, G. K. 194. 
Rheinberger, J! 203, 265 (M); 

284 (H). 
Ribera, B. 303 (H). 
Ricbter, E. F. 203 (M); 284 

(H); 341 (Ps); 365 (Mt). 
Rietz, J. 300 (H). 
Ripa, A. 297 (H). 
Roda, Fr. v. 123 (P). 
Rodewald 281 (H). 
Rolle, J. H. 109 (P). 
Romberg, A. 334 (Ps). 
Rore, Cyprian de 14 (P). 
Rossini, G. 213 (M); 282 (H). 
Rovetta 347 (Mt). 
Rue, P. de la 222 (M). 
Rust, W. 341 (Ps). 

Salieri 232 (M). 
Sarti 192 (M); 321, 333 (Ps). 
Scandelli, A. 16 (P). 
Scarlatti, A. 109 (P)j 134, 

147(M);327(Ps);347(Mt). 
Schein, J. H. 303 (H); 324 

(Ps). 
Schicht, J. G. 114, 116, 118, 

126 (P); 298(H); 363 (Mt). 
Schneider, Friedr. 115, 116, 

123 (P); 204 (M); 339 (Ps). 
Scholz, B. 251 (M). 
Schreck, G. 128 (P). 



Schroter, 348 (Mt). 
Schubert, Ferd. 252 (M). 
Schubert, Franz, 1 93 — 208 (M); 

333 (Ps); 362 (Mt). 
Schultz, Chr. 17, 23 (P). 
Schulz, Chr. 120 (P). 
Schumann, R. 200, 212, 245 

(M); 365 (Mt). 
Schuster, J. 282, 314 (H). 
Scbiitz, H. 23—48, 118 (P); 

274 ([H]); 319 (Ps); 348— 

351 (Mt). 
Schweitzer 109 (P). 
Scomparin, S. 237 (M). 
Sebastian!, J. 50 (P). 
Sechter 232 (M). 
Seifert 109 (P). 
Selneccer, N. 9 (P). 
Senfl 188. 

Seydelmann, F. 314 (H). 
Seyfried, J. v. 282, 298 (H). 
Spohr, L. 115, 116 (P) ; 200 

(M); 362 (Mt). 
Stade, W. 341 (Ps). 
Stadler 232 (M)'; 326, 339 (Ps). 
Steffani, A. 273 (H). 
Stephani, C. 9 (P). 
Stobaeus 348 (Mt). 
Stolzel, G. H. 63 (P). 
Stoltzer, Th. 323 (Ps). 
Suriano, Fr. 145 (M); 303 (H). 
Siissmayer, F. X. 227, 245 

(M). 
SweeUnck 138 (M). 



394 



Telemann, G. P. 55, 6S, 63 

(P); 370 (C). 
Tomaschek, W. 83S (M); 399 

(H). 
Torrentes, A. de 303 (H). 
TraetU S84 (H). 
Toma, F. 462 (M). 

Urio, F. A. 295 (H). 
Uthdreeeras 324 (Ps). 

Yaet 288 (H). 
Vargas, H. de 303 (H). 
Vecchi, O. 223 (M). 
Verdi, G. 259—263 (M). 
Vittoria, L. da 444, 223 (M); 

344 (Mt). 
Vogler, Abt, 484, 232 (M); 

299 (H); 334 (Ps). 
Volkmann, R. 204 (M); 366 

(Mt). 
VopeUus 9, 47 (P). 
Vulpius, M. 23 (P). 



Wagenseil 284 (H). 
WaUiser, Th. 323 (Ps). 
Walther, J. 4 6, 22 (P) ; 303 (H). 
Weber, C. M. ▼. 484 (M); 387 

(C). 
Weber, G. 232 (M); 298 (H). 
Weigl 440 (P). 
Weinlig, E. 297 (H). 
Weinlig, Tb. 386 (C). 
Welak 9 (P). 

Wermann, O. 203 (M) ; 387 (C). 
WUIaert, A. 303 (H). 
Winter, P. v. 282 (H) ; 334 (Ps). 
Witt, F. 205 (M). 
Wittasek 232 (M). 
Wolf 409 (P). 
Wolff, Chr. 66 (P). 
WQllner, F. 284 (H). 

Zaccariis, C. de 303 (H). 
Zelter 232 (M). 
Zenger, M. 284 (H). 
ZingareUi 232 (M); 282 (H). 
ZoUner, A. 204 (M). 




Dniek Ton Braitkopf A H&rtel in Leipsig. 



L 



Z 



RETURN 
TO« 



1 


2 : 


3 


4 


5 ( 


b 


ALL BCX>KS MAY BE RECALLED AFTER 7 DAYS 


PUE AS STAMPED BELOW 


^y^ 






1. nAA^ 






SEP 1 9 ^^ 





























































FORM NO. DD 19 



UNIVERSITY OF CALIFORNIA, BERKELEY 
BERKELEY, CA 94720 



«i 



U. C. BERKELEY LIBRARIES 




ca^a7■1S5aa